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German Pages 789 [790] Year 2018
Max Nordau Reden und Schriften zum Zionismus
Europäisch-jüdische Studien Editionen
Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam Redaktion: Werner Treß
Band 4
Max Nordau
Reden und Schriften zum Zionismus Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Karin Tebben Unter Mitarbeit von Friederike Mayer-Lindenberg und Ralf Mende
Die Arbeit an diesem Buch wurde durch großzügige Zuwendungen der Fritz-Thyssen-Stiftung unterstützt.
ISBN 978-3-11-056186-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056458-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-056198-2 Library of Congress Control Number: 2018934565 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Reden und Schriften in chronologischer Reihenfolge VII Editorische Notiz XV Teil I: Dokumente 1 Teil II: Kommentar 421 Teil III: Anhang 707 Nachwort 709 Abbildungsnachweis 764 Personenregister 767
Verzeichnis der Reden und Schriften in chronologischer Reihenfolge Teil I: Dokumente 1
Ein Tempelstreit 3
2
Ein Brief Nordaus 13
3
I. Kongressrede 15
4
„Arabische Märchen“ 26
5
Ein Brief Nordaus 28
6
[Zuschrift von Dr. Max Nordau] 29
7
Ein unterschlagener Brief 30
8
Ein berichtigtes Interview 32
9
Brief an die Juden Italiens 33
10
Der Zionismus und seine Gegner 35
11
II. Kongressrede 50
12
Das unentbehrliche Ideal 61
13
Die Aufgaben des Zionismus 65
14
Ein Brief Nordaus 70
15
[Schreiben Nordaus an die Wochenschrift Hapisgah] 74
16
Die Juden sind Ausbeuter 75
17
Vortrag, gehalten in Amsterdam, 17. April 1899 78
18
[Nordau über die Judenfrage] 91
VIII Verzeichnis der Reden und Schriften 19
Zionismus und Antisemitismus 93
20
III. Kongressrede 98
21
Renner Eindrücke 107
22
Heloten und Spartaner 114
23
Ein Brief an den Herausgeber der Hatechijah 117
24
Der Zionismus und die Kolonien in Palästina 119
25
Rede, gehalten im Haag, 10. April 1900 125
26
Muskeljudentum 136
27
Rede, gehalten in London, 11. August 1900 138
28
IV. Kongressrede 147
29
Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 1 von 3] 158
30
Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 2 von 3] 162
31
Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 3 von 3] 168
32
Eine Conférence Max Nordaus 177
33
Israel unter den Völkern [Teil 1 von 4] 179
34
Israel unter den Völkern [Teil 2 von 4] 184
35
Israel unter den Völkern [Teil 3 von 4] 189
36
Israel unter den Völkern [Teil 4 von 4] 192
37
Grand Rabbin Zadoc Kahn und Dr. Max Nordau über die Kolonisten und Arbeiter in Palästina 196
38
Eine „Geschichte der Israeliten“ 200
39
Der Zionismus der westlichen Juden 204
Verzeichnis der Reden und Schriften
IX
40
Das Heine-Denkmal. Rede, gehalten auf dem Montmartre-Friedhofe am 24. November 1901 209
41
V. Kongressrede 213
42
Was bedeutet das Turnen für uns Juden? 229
43
Der Zionismus 233
44
Achad-Haam über „Altneuland“ 245
45
Zionismus und jüdischer Nationalismus 254
46
Blutmärchen 256
47
VI. Kongressrede 261
48
[Rede über das britische Landangebot, gehalten auf dem VI. Zionistenkongress am 26.8.1903] 270
49
Patriotismus und Zionismus 279
50
Theodor Herzl 285
51
Trauerrede auf Herzl 289
52
VII. Kongressrede 296
53
Gehet hin und tuet desgleichen… 301
54
VIII. Kongressrede 308
55
Reden Dr. Nordaus und Dr. Marmoreks 316
56
Epigramme 320
57
Fernbeben 321
58
Den Manen Theodor Herzls 325
59
Vorwort [zur ersten Auflage] 326
60
Theodor Herzl 328
X Verzeichnis der Reden und Schriften 61
Meine Selbstbiographie 329
62
Ein Nachtrag zu Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“ 331
63
Die psychologischen Ursachen des Antisemitismus 334
64
[Widmung zur ersten Auflage] 339
65
Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert 340
66
IX. Kongressrede 355
67
Über den Gegensatz zwischen Ost und West im Zionismus 365
68
Was Herzl uns bedeutet 368
69
Der erste Kongress 373
70
X. Kongressrede 376
71
Max Nordau über die russisch-amerikanische Passfrage 386
72
Jews and the Balkan Settlement. Dr. Nordau’s Views 387
73
Die Reden Dr. Marmoreks und Dr. Nordaus 392
74
[Brief Nordaus an den XI. Zionistenkongress] 401
75
Eine Entdeckung Dr. Nordaus 402
76
Max Nordaus Stellungnahme. Ein Briefwechsel mit Nahum Sokolow 403
77
„Judenstaat“ und Zionismus 408
78
David Wolffsohn 411
79
Die Tragödie der Assimilation 415
80
Vorbemerkung zur zweiten Auflage 420
Verzeichnis der Reden und Schriften
Teil II: Kommentar 1
Ein Tempelstreit 423
2
Ein Brief Nordaus 437
3
I. Kongressrede 438
4
„Arabische Märchen“ 449
5
Ein Brief Nordaus 450
6
[Zuschrift von Dr. Max Nordau] 451
7
Ein unterschlagener Brief 452
8
Ein berichtigtes Interview 453
9
Brief an die Juden Italiens 455
10
Der Zionismus und seine Gegner 458
11
II. Kongressrede 470
12
Das unentbehrliche Ideal 482
13
Die Aufgaben des Zionismus 486
14
Ein Brief Nordaus 489
15
[Schreiben Nordaus an die Wochenschrift Hapisgah] 491
16
Die Juden sind Ausbeuter 492
17
Vortrag, gehalten in Amsterdam, 17. April 1899. 495
18
[Nordau über die Judenfrage] 506
19
Zionismus und Antisemitismus 507
20
III. Kongressrede 510
21
Renner Eindrücke 515
XI
XII Verzeichnis der Reden und Schriften 22
Heloten und Spartaner 522
23
Brief an den Herausgeber der Hatechijah 524
24
Der Zionismus und die Kolonien in Palästina 525
25
Rede, gehalten im Haag, 10. April 1900 527
26
Muskeljudentum 533
27
Rede, gehalten in London, 11. August 1900 534
28
IV. Kongressrede 538
29
Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 1 von 3] 544
30
Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 2 von 3] 545
31
Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 3 von 3] 548
32
Eine Conférence Max Nordaus 552
33
Israel unter den Völkern [Teil 1 von 4] 554
34
Israel unter den Völkern [Teil 2 von 4] 557
35
Israel unter den Völkern [Teil 3 von 4] 563
36
Israel unter den Völkern [Teil 4 von 4] 566
37
Grand Rabbin Zadoc Kahn und Dr. Max Nordau über die Kolonisten und Arbeiter in Palästina 572
38
Eine „Geschichte der Israeliten“ 573
39
Der Zionismus der westlichen Juden 577
40
Das Heine-Denkmal. Rede, gehalten auf dem Montmartre-Friedhofe am 24. November 1901 581
41
V. Kongressrede 584
42
Was bedeutet das Turnen für uns Juden? 591
Verzeichnis der Reden und Schriften
XIII
43
Der Zionismus 593
44
Achad-Haam über „Altneuland“ 599
45
Zionismus und jüdischer Nationalismus 604
46
Blutmärchen 606
47
VI. Kongressrede 608
48
[Rede über das britische Landangebot, gehalten auf dem VI. Zionistenkongress am 26.8.1903] 612
49
Patriotismus und Zionismus 616
50
Theodor Herzl 618
51
Trauerrede auf Herzl 619
52
VII. Kongressrede 622
53
Gehet hin und tuet desgleichen… 624
54
VIII. Kongressrede 631
55
Reden Dr. Nordaus und Dr. Marmoreks 635
56
Epigramme 637
57
Fernbeben 638
58
Den Manen Theodor Herzls 642
59
Vorwort [zur ersten Auflage] 643
60
Theodor Herzl 644
61
Meine Selbstbiographie 645
62
Ein Nachtrag zu Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“ 649
63
Die psychologischen Ursachen des Antisemitismus 650
64
[Widmung zur ersten Auflage] 653
XIV Verzeichnis der Reden und Schriften 65
Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert 654
66
IX. Kongressrede 664
67
Über den Gegensatz zwischen Ost und West im Zionismus 668
68
Was Herzl uns bedeutet 670
69
Der erste Kongress 674
70
X. Kongressrede 677
71
Max Nordau über die russisch-amerikanische Passfrage 683
72
Jews and the Balkan Settlement. Dr. Nordau’s Views 684
73
Die Reden Dr. Marmoreks und Dr. Nordaus 689
74
[Brief von Dr. Nordau an den XI. Zionistenkongress] 695
75
Eine Entdeckung Dr. Nordaus 696
76
Max Nordaus Stellungnahme. Ein Briefwechsel mit Nahum Sokolow 697
77
„Judenstaat“ und Zionismus 699
78
David Wolffsohn 701
79
Die Tragödie der Assimilation 703
80
Vorbemerkung zur zweiten Auflage 705
Editorische Notiz Die vorliegende Edition umfasst folgende Reden und Schriften Max Nordaus zum Zionismus: – Max Nordau’s zionistische Schriften. Hg. vom Zionistischen Aktionskomitee. Jüdischer Verlag, Köln, Leipzig 1909 (= ZS1). – Max Nordau. Zionistische Schriften. 2., vermehrte Auflage. Jüdischer Verlag, Berlin 1923 (= ZS2). – relevante Reden und Schriften, die überwiegend, aber nicht ausschließlich in der Wochenzeitung Die Welt. Zentralorgan der zionistischen Bewegung publiziert wurden. Ein Anspruch auf Vollständigkeit besteht nicht. Die Reden und Schriften zum Zionismus sind chronologisch angeordnet. Dabei sind sowohl das Publikationsdatum als auch Datierungen in den Texten selbst entscheidend. (Texte ohne genaues Datum sind am Ende des möglichen Publikationszeitraums eingeordnet.) Auf diese Weise werden die Schriften in ihrem Entstehungskontext belassen. Von den Texten Vortrag, gehalten in Amsterdam, 17. April 1899 und Der Zionismus liegt jeweils eine weitere, abweichende Version vor, die keine Aufnahme in das Korpus fand. Die maßgeblichen Abweichungen sind im Kommentar nachgewiesen. Die Reden und Schriften zum Zionismus weisen aufgrund verschiedener Publikationsorgane und -zeitpunkte unterschiedliche Orthographiestände auf. Um das Schriftbild zu vereinheitlichen und eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, wurde die Orthografie der Originaltexte behutsam nach folgenden Maßstäben vereinheitlicht: – Die Rechtschreibung wurde im Allgemeinen an die moderaten Regelungen der neueren Rechtschreibung angepasst: „Process“ → Prozess, „Ueberschuß“ → Überschuss, „Vertheidiger“ → Verteidiger, „tötlich“ → tödlich, „schrieen“ → schrien, „daß“ → dass, „äusserste“ → äußerste etc. Dies bezieht sich auch auf Konsonantenhäufungen („Volleben“ → Vollleben) und Groß- und Kleinschreibung („Lyria lehrte Luther hebräisch“ → Lyria lehrte Luther Hebräisch). – Einmalige orthografische Fehler wurden korrigiert: „Vormiltage“ → Vormittage, „bliblisch“ → biblisch, „Zivisilation“ → Zivilisation etc. Fehlende oder unleserliche Buchstaben wurden ergänzt. – Unterschiedliche Schreibformen von Substantivkomposita (mit oder ohne Bindestrich) wurden belassen: „Regierungs-Zustimmungen“/„Regierungszustimmungen“, „Aktions-Komitee“/„Aktionskomitee“ etc. – Unterschiedliche Schreibweisen von Personennamen wurden belassen: „Sabbatai Zewi“/„Sabbathai Zewi“; fehlerhafte Personennamen wurden nicht korrigiert: Julian Vogel (statt Julius Vogel), Hruza (statt Hrůzová) etc. Der korrekte
https://doi.org/10.1515/9783110564587-202
XVI Editorische Notiz
–
– –
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Name ist jeweils im Kommentar verzeichnet. Lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert: „Wollfsohn“ → Wolffsohn. Synkopierte unbetonte Endungen wurden ausgeschrieben: „besondern“ → besonderen, „reichern“ → reicheren, „unserm“ → unserem etc. Heute übliche Apokopierungen wurden vorgenommen: „die Unserigen“ → die Unsrigen etc. Veraltete Adjektivflexionen wurden korrigiert: „edeln“ → edlen, „teuern“ → teuren etc. Fehlende Fugen-s wurden ergänzt: „Sittengeschichtschreiber“ → Sittengeschichtsschreiber, „Zufluchtstätte“ → Zufluchtsstätte etc. Heute unübliche Fugen-s wurden entfernt: „Heimatsrechte“ → Heimatrechte etc. Die Großschreibung von Anreden in der 2. Person Singular und Plural als Höflichkeitsform wurde beseitigt: „Dir“ → dir, „Euch“ → euch, „und Ihr“ → und ihr etc. Veraltete Getrennt- und Zusammenschreibung von Wörtern wurde bereinigt: „genau so“ → genauso, „um so“ → umso, „irgend einer“ → irgendeiner, „so lange“ → solange, „allzusehr“ → allzusehr, „zum erstenmal“ → zum ersten Mal etc. Weiterhin zulässige Schreibungen wurden belassen, z. B. so dass. Das Initialwort vollständiger Sätze nach Doppelpunkt wurde großgeschrieben. Nominalisierungen wurden i. d. R. großgeschrieben: „im folgenden“ → im Folgenden, „im voraus“ → im Voraus, „aufs neue“ → aufs Neue. Unzulässige Kombinationen von Adjektiven wurden durch Bindestrich verbunden: „einer derartig naiv unverschämten Sehnsucht“ → einer derartig naiv-unverschämten Sehnsucht etc. Spezifika des österreichischen Idioms wurden nivelliert: „gleichgiltig“ → gleichgültig, „hiemit“ → hiermit etc. Wie bei Zeitungsartikeln üblich, wurde im Untertitel der Autor benannt, in der Edition ist dieser Zusatz getilgt. Offenkundige grammatikalische Fehler wurden korrigiert: „um ihnen den Abzug aus dem Geburtslande und der Niederlassung in Palästina zu erleichtern“ → um ihnen den Abzug aus dem Geburtslande und die Niederlassung in Palästina zu erleichtern etc. War dazu die Ergänzung eines Wortes notwendig, wurde dieses in eckigen Klammern eingefügt: „was die Türkei auch nur im Entferntesten hätte verletzen oder als einen Appell an die Mächte aufgefasst werden können“ → was die Türkei auch nur im Entferntesten hätte verletzen oder [was] als ein Appell an die Mächte [hätte] aufgefasst werden können etc. Irrtümlich eingefügte Wörter wurden getilgt: „Vier Mächte […], die sich in die Herrschaft über den Erdball teilen […]“ → Vier Mächte […], die sich die Herrschaft über den Erdball teilen […]. Die Zeichensetzung wurde ebenfalls behutsam an die neuere Rechtschreibung angeglichen. Fehlende Satzzeichen wurden ergänzt, überzählige getilgt. Offenkundig falsche Zeichensetzung wurde korrigiert: „Das Gesetz, das öffentliche
Editorische Notiz
– – – –
XVII
Leben, kennen allerdings keinen Judenhass.“ → Das Gesetz, das öffentliche Leben kennen allerdings keinen Judenhass. Hervorgehobene Wörter oder Textpassagen (durch Sperrung, Unterstreichung, geänderte Schriftart, Fettdruck o. Ä.) wurden kursiv gesetzt. Namen von Zeitungen, Zeitschriften und Periodika wurden kursiv gesetzt. Die Darstellung von Zahlen wurde vereinheitlicht: „10 000“ / „10.000“ → 10 000. Überflüssige Spatien wurden entfernt, fehlende eingefügt.
Die Bibel wurde im Kommentar nach der revidierten Fassung der Lutherbibel von 1984 zitiert: Die Bibel. Mit Apokryphen. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 2013.
Teil I: Dokumente
1 Ein Tempelstreit
3
1 Ein → Tempelstreit Der Oberrabbiner in Wien, Herr → Dr. M. Güdemann, hat sich gedrängt gefühlt, in einer Broschüre, → „Nationaljudentum“ betitelt, der Bewegung entgegenzutreten, die tiefe Schichten der Bevölkerung ergriffen hat, der sich entwickeltere Geister unter den Juden in tagtäglich wachsender Zahl anschließen, deren Ziel die Gewinnung eines lebenssichernden Wurzelbodens für den Volksorganismus ist, der bis jetzt einer → Jerichorose gleich mit ewigem Wechsel von kurzen Augenblicken der Entfaltung und langen Zeiträumen des Welkens und Schrumpfens umgetrieben wurde. Ich habe diese Broschüre mit einer Art Beschämung gelesen. Mein jüdisches Zusammengehörigkeitsgefühl leidet positiv unter der geistigen Minderwertigkeit dieser Arbeit, von der ihr Verfasser sich doch mit dem geringsten Maß von vordenkender Klugheit sagen konnte, dass sie ernste Prüfung und schonungslose Zurückweisung herausfordere, die er also doch wenigstens einigermaßen zum unausbleiblichen Kampf um ihr Dasein hätte waffnen müssen. Die Widersprüche sind in der Broschüre so häufig und erstaunlich, sie stehen räumlich so nahe beieinander, dass ich mich frage: Hat Herr Dr. Güdemann, als er sie schrieb, jeden Augenblick den Faden seiner Beweisführung verloren? Oder hat er unter dem → Einfluss jäh schwankender entgegengesetzter Stimmungen gearbeitet? Oder hat er darauf gerechnet, dass niemand die 43 Seiten mit Aufmerksamkeit im Zusammenhange lesen werde? Seite 24 hat er dargetan, „dass die moderne Betonung des → Nationalen dem Geiste der → Thora, der → Propheten und Psalmen … durchaus widerstrebt“, während er Seite 41 feststellt, den → Juden in Babylon sei „bedeutet worden, sich in allen Stücken, bis auf ihren Glauben, als Babylonier zu betrachten, und an diese Weisung haben sich die Juden in der → Diaspora immer gehalten. Die in Spanien nannten sich Spanier, die in Frankreich Franzosen, die in Deutschland Deutsche“. Herr Dr. Güdemann gibt also den Juden Recht, wenn sie ein Nationales betonen, und er versichert zugleich, dass diese Betonung des Nationalen dem Geiste der Schrift widerspricht. Es ist für die Juden löblich, ein nationaler Babylonier, Spanier, Franzose, Deutscher zu sein, die einzige Nationalität, zu der er sich nicht bekennen darf, ohne den Geist der Thora, Propheten und Psalmen zu verstoßen, ist die jüdische. Seite 41 führt er wider das Bestreben, die Juden durch Erkämpfung ihrer nationalen Selbstständigkeit der Verfolgung zu entziehen, das fabelhafte Argument ins Feld: „Das wäre als ein Eingriff in die Führung Gottes erschienen, in dessen weisem Plane auch die Diaspora ihre vorbestimmte Stelle einnimmt“, und schon Seite 42 bemerkt er: „Jeder Mann muss wissen, was seine Pflicht und sein Recht ist. Wird ihm das letztere verwehrt, so muss er es erkämpfen, erstreiten. Das gilt auch für die Juden.“ Welche seiner beiden Empfehlungen wünscht Herr Dr. Güdemann nun befolgt zu sehen? Soll man „das verwehrte Recht erkämpfen, erstreiten“, oder ist dieser „Kampf“ und „Streit“ „ein Eingriff in die Führung Gottes“, „in dessen weisem Plan“ auch die Rechtsverweigerung „ihre vorbestimmte Stelle einnimmt“? https://doi.org/10.1515/9783110564587-001
4 Teil I: Dokumente
Seite 39 macht er dieses gütige Geständnis: „Wenn man denjenigen Juden, welchen in ihrer bisherigen Heimat der → Kampf ums Dasein allzu sehr erschwert wird, Gelegenheit bietet, sich anderwärts anzusiedeln, so ist dies in hohem Grade löblich und verdienstlich.“ Aber schon Seite 42 tut ihm diese Nachgiebigkeit leid und er ruft: „Die armen Juden, denen die nationale Bewegung zu Hilfe kommen will, sind gerade die stärksten und dauerhaftesten, die dieser Hilfe, selbst wenn sie eine wäre, am allerwenigsten bedürfen.“ Also die national-jüdische Bewegung, die den armen Juden Gelegenheit bieten will, sich anderwärts anzusiedeln, ist „in hohem Grade löblich und verdienstlich“, aber die Armen bedürfen dieser Hilfe, das heißt der → Ansiedlung im Lande ihrer Vorfahren, „am allerwenigsten“. (Auf diesen Widerspruch hat schon → Dr. Theodor Herzl in → Dr. Bloch's „Oesterr. Wochenschrift“ hingewiesen.) Doch es widerstrebt mir, mich in Wortklauberei zu verlieren und den wunderlichen Verschlingungen der Gedankengänge des Herrn Dr. Güdemann Schritt für Schritt zu folgen. Der Ernst der Sache erfordert, und meinen geistigen Gewohnheiten entspricht es, die Streitschrift des Herrn Dr. Güdemann aus größerer Höhe und mit weiter umblickenden Augen zu betrachten. Herr Dr. Güdemann bemerkt mit Unmut, dass in der letzten Zeit der Gedanke, sie seien ein besonderer Volksstamm, unter den Juden zahlreiche Anhänger gefunden hat, die ihn folgerichtig zu der Forderung weiterentwickelt haben, der besondere Volksstamm müsse auch sein eigenes Land und eine nationale Gliederung erlangen, in der er sich staatlich ausleben könne. „Die Geburtshelferin dieser Bewegung war die Entrüstung …. Zur Entrüstung gesellte sich dann, wie dies natürlich ist, der Trotz.“ Aber diese Bewegung widerspricht dem Wesen des Judentums. Mit einem großen Aufwand von → Anführungen aus den kanonischen und auslegenden Schriften sucht Herr Güdemann zu beweisen, dass die Juden kein Volk sind, ja kein Volk bilden dürfen. Der Geist ihres Glaubens, der Gang ihrer Geschichte seit der → Zerstörung des zweiten Tempels verbietet ihnen geradezu, sich als Volk zu fühlen, sich zu einem geeinten Volke zusammenzuschließen. Ihre Mission ist gerade die Überwindung des nationalen Gedankens, die Hinausführung der Menschheit aus der Enge des selbstsüchtigen Nationalismus in die Weite und Freiheit des Menschentums. Die Verbrüderung, nicht die Sonderung der Völker ist die Aufgabe des Judentums. Das → Zion, das den Juden verheißen ist und nach dem ihre Sehnsucht seit zwei Jahrtausenden seufzt, ist sinnbildlich zu verstehen. Es ist ein anderes Wort für das Gottesreich auf Erden. Wenn man das Judentum zu einem Volke sammelt, es zu einem eigenen Staatswesen gliedert, so verhindert man es an der Vollbringung seiner Mission und sündigt an den Satzungen seines Glaubens. Ich hoffe, Herr Dr. Güdemann wird finden, dass ich die führenden Linien seiner Broschüre ehrlich wiedergegeben habe und mit gutem Gewissen die vorstehende Zusammenfassung ihres wesentlichsten Inhaltes zur Grundlage der Erörterung nehmen kann.
1 Ein Tempelstreit
5
Der Herr Oberrabbiner in Wien möchte den Kampf gegen den → Zionismus auf theologischem Gelände führen. Es wäre kindlich, wenn wir einwilligten, ihm dorthin zu folgen. Der Zionismus hat nicht das Geringste mit der Theologie zu tun. Er ist keine religiöse Bewegung, sondern eine politische, wirtschaftliche, sittengeschichtliche und soziologische. Herr Dr. Güdemann macht sich kleinlicher Wortspielerei schuldig, wenn er den äußerlichen Umstand, dass der Name der Bewegung biblische Erinnerungen wachruft, dazu benützt – oder missbraucht –, um wegen der Bezeichnung „Zion“ mit Thora und → Mischna einzuhaken. Wenn die Juden vom Wunsche entflammt sind, ein neues Zionsreich aufzurichten, so schöpfen sie die Anregung dazu weder aus der Thora noch aus der Mischna, sondern aus der Not der Zeit, aus ihren unmittelbaren, lebendigen Gefühlen, aus ihrem Entschluss, die ihnen inmitten der Völker bereitete Lage nicht länger zu ertragen. Der Name Zion hat sich nicht aus religiösen, sondern aus geschichtlichen Gründen aufgedrängt. Er erzeugt das zionistische Verlangen nicht, er rechtfertigt es nicht, er weist ihm nur eine bestimmte Richtung, er fügt ihm durch die Erinnerung, die er erweckt, eine mächtig → dynamogene Emotion hinzu. Dies ist immer noch eine sehr große Rolle; eine religiöse Rolle ist es nicht. Ich kann ruhig annehmen – zuzugeben brauche ich es vorläufig nicht –, dass Herr Dr. Güdemanns theologische Ausführungen richtig sind. Gesetzt, der Zionismus lasse sich aus → Bibel und → Talmud nicht begründen; das würde an der Bewegung nicht das Geringste ändern, denn es ist für sie vollkommen unerheblich. Der → Antisemitismus erschwert das nackte, körperliche Dasein der unbemittelten Juden, bedroht es mancherorten sogar mit Vernichtung; er kränkt die gutgestellten Juden in ihren Gefühlen und lässt sie ihres Lebens nicht froh werden; er nimmt den besten, vorbildlichsten Juden die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten bis zu deren natürlichen Grenzen zu entfalten, da allseitig freie Betätigung und das Streben nach den höchsten Zielen organische Bedingungen der vollen Entwicklung aller Kräfte sind. Aus diesem unleidlichen Zustande streben die Juden mit leidenschaftlichem Drange heraus. Die energischen unter ihnen sehen das einzige Heil in der → Gründung eines Judenstaates; die sentimentalen, die frommen, die diplomatisch klugen wollen, dass der geographische Rahmen dieses Judenstaates → Palästina sei; aber das wesentliche → Postulat ist Palästina nicht; sollte die Erwerbung Palästinas für die Juden sich als durchaus unmöglich erweisen, sollte es viel leichter sein, ein anderes Land von genügender Ausdehnung und geeigneter Beschaffenheit des Bodens und Klimas zu finden, so würden wohl die meisten, vielleicht alle Zionisten ohne Zögern bereit sein, dieses andere Land zu besiedeln. Von → Argentinien steht nichts in Thora und → Midrasch. Trotzdem waren Hunderttausende von streng gesetzestreuen, fanatisch an der Überlieferung festhaltenden russischen und rumänischen Juden gierig, nach Argentinien zu wandern, als vor ihren Augen der erste schwache Hoffnungsschimmer aufdämmerte, dass ihr Erdenlos in Argentinien freundlicher sein würde als in dem Land ihrer Geburt. Was bedeutet also Herrn Dr. Güdemanns Argument, dass Thora und Midrasch die Rückkehr nach Zion weder vorschreiben
6 Teil I: Dokumente
noch rechtfertigen? Was die tiefen Massen des Judentums jetzt in Bewegung setzt, das ist die → vis a tergo, die ich grimmig mit „Fußtritt ans Rückenende“ übersetze, das ist die Verfolgung im Land ihrer Geburt; der Zionsgedanke wirkt als Vorspann, als Zugkraft von vorne; er färbt das Ziel mit dem schönen Blau des → Ideals; er nimmt dem Unbekannten, das vor jedem großartigen → politisch-ethnografischen Experimente dunkelt, einen Teil seiner Schrecken, indem er es mit Verheißungsbildern belebt; er hilft den gläubigen Juden über das Bangen vor einer unsicheren Zukunft hinweg. Aber auch ohne dieses Element von Ideal, das der Zionsgedanke der jüdisch-nationalistischen Bewegung hinzufügt, würde die bloße vis a tergo genügen, um diese hervorzurufen. Schriftgelehrte, die viel freie Zeit haben, mögen sich in den behaglichen Verdauungsstunden der Sonnabendnachmittage damit vergnügen, einander kluggewählte Bibel- und Talmudstellen für und gegen den Zionismus entgegenzuhalten. Liebhaber finden solchen → Pilpul kurzweilig. Irgendeinen sachlichen Wert kann ich ihm nicht beimessen. Aber Herr Dr. Güdemann bekämpft nicht nur den Gedanken der Aufrichtung eines Zionsreiches, er leugnet auch, dass die Juden ein Volk sind. Nur aus „Entrüstung und Trotz“ fühlen sie sich jetzt als besonderes Volk ihren antisemitischen Verfolgern gegenüber. Und wenn das wäre? Eine Erscheinung wird doch dadurch nicht aus der Wirklichkeit gestrichen, dass man ihre Ursachen aufdeckt! Die Feststellung ihrer Ursachen ist im Gegenteil eine Anerkennung der Erscheinung. Entrüstung und Trotz sind gute Gefühle. Ich beklage den Waschlappen, der ihrer nicht fähig ist. Sie sind eine gesunde Reaktion gegen Herausforderung und Bosheit. Die Lebenskraft eines Organismus misst sich nach der Stärke seiner Reaktionen gegen feindliche Reize. Trotz und Entrüstung wurzeln in Selbstachtung, in Ehrgefühl, in Kraftbewusstsein. Das sind drei ausreichende Quellen nationaler Empfindung. Die Juden sollen kein Volk sein? Um diesen Punkt gründlich zu behandeln, müsste man die ganze → Anthropologie und → Philosophie der Geschichte erschöpfen und die unabsehbaren Fragen des Ursprunges und Wesens der Rassen, der Kennzeichen und Grundlagen der Nationalität aufrollen. Darauf verzichte ich hier, weil ich auf kürzerem Wege zum Ziele kommen kann. Herr Dr. Güdemann versichert, dass die Juden kein Volk sind. Nun denn: Er begebe sich in eine → Berliner Antisemitenversammlung, er trete in Wien auf die Straße hinaus, wenn die → weißen Nelken von ihr Besitz ergriffen haben; dann wird er ja sehen, ob die Antisemiten auch nur einen Augenblick lang zögern werden, in ihm den Vertreter eines sehr bestimmten, von dem ihrigen verschiedenen Volksstammes zu erkennen und ihn dieser Erkenntnis entsprechend zu behandeln. Doch ich will Herrn Dr. Güdemann bis zum Äußersten entgegenkommen; ich will sogar auf seine Annahme eingehen, dass die Juden aufgehört haben, ein Volk zu sein. Denn dass sie es nie gewesen sind, wagt auch er nicht zu behaupten. Die Juden sind also kein Volk mehr; setzen wir dies sogar dem Zustande gleich, wie wenn sie nie ein Volk gewesen wären, obschon diese Gleichstellung von Nichtmehrsein und Niegewesensein falsch wäre, da eine noch so weit zurückliegende, gemein-
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same geschichtliche Erinnerung ein sehr starkes Gemütsband zwischen Menschen ist und die Erneuerung ihrer Beziehungen zueinander sehr erleichtert. Auch dann wäre nicht das Geringste dagegen bewiesen, dass die Juden ein Volk sein, sagen wir: ein Volk werden können. Es sei zugegeben, dass die Juden heute kein Volk, sondern ausgezeichnete, echte Deutsche, Engländer, Russen usw. und in nichts von allen anderen Deutschen, Engländern, Russen usw. unterschieden sind. Echtere Engländer sind aber doch wohl auch nach Herrn Dr. Güdemanns Annahme die englischen Juden nicht, als es die englischen → „Pilgerväter“ waren, die auf der „Mayflower“ nach Amerika segelten, um dem Gewissensdruck zu entgehen, den sie in der englischen Heimat erlitten. Diese unanzweifelbaren Engländer haben ein neues Volk aus sich heraus entwickelt, das sich zu den Engländern viel gegensätzlicher fühlt, als ich wünschen möchte, dass das palästinische Judenvolk sich jemals zu irgendeinem europäischen Christenvolke fühle. So haben echte Spanier in Argentinien, Mexiko, Chile usw. neue Völker mit stark ausgesprochenem unspanischem, ja → spanierfeindlichem Volksbewusstsein, so echte → Portugiesen das den Portugiesen sehr wenig holde brasilianische Volkstum gebildet. Das macht: Völker entstehen nicht allein aus unbekannten, in der Urzeit wirksam gewesenen → biologischen, sondern auch aus geschichtlichen Gründen, die manchmal auf frischer Tat ertappt werden können. Wenn eine ungeheure Volksmehrheit einer genau definierten Volksminderheit erklärt: „Ihr gehört nicht zu uns, ihr seid Fremde unter uns“, so bleibt dieser Minderheit nichts übrig, als sich auf diese Kündigung der Gemeinschaft einzurichten; und wenn die ausgestoßene Minderheit diese Ächtung im Gemüte unleidlich schmerzhaft empfindet, so rechtfertigt ihr Selbsterhaltungstrieb das Bestreben, sich schmerzfreiere Daseinsbedingungen zu schaffen. Also: Selbst wenn es wahr wäre, dass die Juden heute kein Volk sind, so würde der Antisemitismus ein ausreichender Grund für sie sein, ein Volk zu werden. Die Wiederbelebung des jüdischen Volkstums „widerspricht dem Geiste der jüdischen Religion, fälscht diese, ist → Quacksalberei“. „Über der Absicht, dem Judentum zu helfen, kann das Judentum zugrunde gehen.“ Herr Dr. Güdemann weist also den Zionismus zurück, damit das Judentum nicht zu Schaden komme. Als das Mittel, es zu erhalten, empfiehlt er die → Assimilation. Er deckt diese Empfehlung mit einigen Namen von Autorität; neben → Philo und → Maimonides, die sehr gute Juden waren und deren Wesen, Leben, Schriften gegen die Verwendung ihres Namens zur Stützung der These des Herrn Dr. Güdemann den schärfsten Einspruch erheben, nennt er auch → Mendelssohn. Mit dieser Anführung hat er Glück! Mendelssohn war ein so erfolgreicher Assimilator, dass alle seine Nachkommen heute gute Christen und → Stützen der evangelischen Landeskirche in Preußen sind. Das ist wenigstens folgerichtig. Will Herr Dr. Güdemann diese → Assimilierung? Dann hat er den geeigneten Standpunkt gewählt. Er steht auf diesem Standpunkte nicht allein. Der Pole → Frank hat ihn im vorigen Jahrhundert eingenommen. Seine Anhänger sind in erfrischender Logik bis zum Schlusse gegangen. Die → Frankisten haben sich tat-
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sächlich assimiliert, von ihren Nachkommen haben die meisten heute, nach vier bis fünf Geschlechtern, ihren jüdischen Ursprung vergessen und sind → katholische Nationalpolen mit nur manchmal etwas → verräterisch gebogener Nase. Dieses Ergebnis ließe sich vermutlich auch in Deutschland und den anderen Ländern erreichen. Es ist nur seltsam, dass gerade ein → Großrabbiner es als wünschenswert bezeichnet. Und noch seltsamer, dass er, während er den Weg empfiehlt, der unfehlbar zum Untergang des Judentums führt und geschichtlich in allen Fällen zu diesem Ziele geführt hat, gleichzeitig vorgibt, für die Erhaltung des Judentums einzutreten. Ein anderer jener unbegreiflichen Widersprüche im innersten Wesen des Gedankens, die es so schwer machen, die Streitschrift des Herrn Dr. Güdemann als die ernste Arbeit eines ernsten Mannes anzusehen, ist der, dass Herr Dr. Güdemann zuerst leugnet, dass die Juden ein Volk seien, dann aber wohlgemut von der → Mission des jüdischen Volkes spricht. Etwas gar nicht Vorhandenes kann doch wohl keine Mission haben! Doch nehmen wir an, dass Herr Dr. Güdemann diese Mission nicht dem jüdischen Volke, sondern dem jüdischen Glauben zuschreibt und dass der jüdische Glaube die von Herrn Dr. Güdemann empfohlene Assimilation nach Mendelssohn'schem Beispiel überleben würde. Was soll das für Mission sein? „Die sittliche Vollendung aller, die Verbrüderung der ganzen Menschheit.“ Wie kann Herr Dr. Güdemann diese Verbrüderung uns predigen? Wir haben es an Bruderliebe für alle Nebenmenschen niemals fehlen lassen. Er predige sie doch den Antisemiten! → „Que messieurs les antisémites commencent!“ Wir wollen abwarten, welche Aufnahme man seiner Predigt bereiten wird. Eine kleine Minderheit, die gerade darunter leidet, dass eine große Mehrheit sie nicht als Brüder anerkennen will, kann doch unmöglich dieser Mehrheit zurufen: → „Seien wir Freunde, Cinna!“ Diese Bewegung ist edel und großherzig, wenn der Stärkere sie vollzieht. Spricht der Schwache, der Verfolgte, dem Feinde von Verbrüderung, so hat diese Haltung einen anderen Namen. Eine solche Mission ist zugleich unwürdig und undurchführbar, und zu verlangen, dass die Juden um ihretwillen darauf verzichten sollen, das Land ihrer Väter wiederzugewinnen, heißt geradezu sie verhöhnen. Aber was soll überhaupt dieses Gerede von einer Mission des jüdischen Volkes? Die nebelige Phrase von der Mission der Völker ist die → mystische Form, in der die durch nachträgliche Betrachtung der Geschichte gewonnene Erkenntnis oder Ahnung ausgedrückt wird, dass ein gegebenes Volk in einer gegebenen Weise auf den Entwicklungsgang der menschlichen Gesittung eingewirkt hat. Diese Ausdrucksweise verwechselt → Kausalität und Finalität. Sie unterstellt, dass einem Volke bestimmte Aufgaben von vornherein zugewiesen sind und dass es im Hinblick auf die Lösung dieser Aufgaben lebt und wirkt. Die Wahrheit ist, dass es bestimmte kulturgeschichtliche Erscheinungen schafft, indem es lebt und wirkt, wie es kraft seiner natürlichen Anlage und des Einflusses aller äußeren Verhältnisse kann und muss. Ein Volk hat keine andere Mission, als zu leben und alle seine in ihm keimenden Fähigkeiten voll zu entwickeln. Ohne Absicht und Bewusstsein erfüllt es dann ganz von selbst menschheitliche Geschichtsaufgaben. Ein gedrücktes, verfolgtes, verach-
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tetes Judentum inmitten antisemitischer Völker ist ohne Wert für die Menschheit; ein freies, starkes, lebensfreudiges Judentum wird zu einem nützlichen Mitarbeiter an dem Werke des Fortschrittes der Gesamtmenschheit. Die Mitarbeit an diesem Werk mag man meinetwegen eine Mission nennen. Jedenfalls wird diese Mission vom antisemitisch gehetzten Judentum sicher nicht, dagegen von einem national selbstständigen Judentum vielleicht, ja wahrscheinlich erfüllt werden können. Wie viele → schwachmütige und ängstliche Juden, so fürchtet auch Herr Dr. Güdemann sichtlich, der Zionismus, der zur Voraussetzung hat, dass die Juden sich als besonderes Volk bekennen, werde den Antisemiten gestatten, uns triumphierend → der Vaterlandslosigkeit zu beschuldigen. Schwachmut und Angst sind schlechte Berater. Die Antisemiten haben nicht auf den Zionismus gewartet, um uns als vaterlandslos zu brandmarken. Die christlichen Volksgenossen aber, bei denen wir Gerechtigkeitsgefühl voraussetzen dürfen, werden uns glauben, wenn wir so zu ihnen sprechen: „Wir Juden sind treue Bürger des Staates, dem wir angehören. Alle Interessen des Vaterlandes sind auch die unsrigen. Wir haben kein einziges Interesse, das irgendeinem Interesse unseres Vaterlandes entgegengesetzt ist. Wir sind stark und tief fühlende Menschen und hängen darum mit mehr als durchschnittlicher Liebe an der Stätte, wo unsere Wiege stand und wo die Leichen unserer Väter modern; denn diese Stätte bedeutet für uns, wie für jeden Menschen, die Erinnerung an unsere Kinderzeit, sie ist auch für uns mit unseren teuersten Emotionen verknüpft, und diese Erinnerung ist bei uns lebhafter, alle Emotionen sind bei uns heftiger als bei Menschen von minder sentimentaler und leidenschaftlicher Gemütsart. So innig schließen wir uns an die Heimat an, dass wir unsere Seele von ihr auch dann nicht losreißen können, wenn wir sie ohne unsere Schuld verloren haben. Diejenigen unter uns, die spanischer Abkunft sind, denken noch heute mit Zärtlichkeit an Spanien, obschon die schauerlichsten Misshandlungen und Gräuel zwischen uns und der Erinnerung an das ehemalige Vaterland stehen. Ebenso bewahrten die französischen Juden nach ihrer → Vertreibung durch Philipp den Schönen, die englischen nach der durch → Richard Löwenherz dem verlorenen Vaterland eine Liebe und Treue, die keine Grausamkeit aus ihrem Herzen reißen konnte. Die Anhänglichkeit an unser Land übertragen wir auf unsere christlichen Volksgenossen. Dass wir die Antisemiten nicht lieben, ist natürlich. Wir geben dies offen zu. Aber das macht uns so wenig vaterlandslos, wie es etwa die → ostelbischen Feudalen vaterlandslos macht, dass sie bestimmte Gruppen ihrer Landsleute, z. B. → Sozialisten oder Freihändler, nicht lieben. Wir erfüllen alle unsere gesetzlichen Pflichten wie unsere christlichen Mitbürger. Das ist nicht einmal ein besonderes Verdienst, denn wenn wir es nicht täten, so wüsste die Staatsgewalt uns dazu zu zwingen. Man messe uns mit welchem Maßstabe man will, man wird nicht finden, dass wir schlechtere Söhne des Vaterlandes sind als alle anderen Volksglieder. Dafür fordern wir dieselbe Behandlung wie diese. Verweigert man sie uns, drückt man uns im Vaterlande, das wir treu lieben und dem wir ehrlich dienen, zu Bürgern zweiter Klasse oder gar zu
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→ rechtlosen Heloten hinab, so wird man uns billig nicht vaterlandsloser Gesinnung zeihen dürfen, wenn wir ein Land suchen, wo wir Liebe um Liebe und Treue um Treue finden. Die → Hugenotten waren mit die besten Söhne ihres französischen Vaterlandes. Sie schüttelten dennoch dessen Staub von den Füßen, als es sie mit → Dragonaden bedrohte. Wir sind keine schlechteren Patrioten, als es die Hugenotten waren. Bessere brauchen wir nicht zu sein. Unser Herzensverhältnis zum Vaterlande ist so echt, dass seine Lösung der bitter schmerzlichste, der tödlich schwierigste Teil der Arbeit zur Verwirklichung des zionistischen Gedankens sein wird. Aber wenn unsere Liebe zur Heimat auch tief und stark ist, so bleibt sie doch die Liebe von Männern, die das Gefühl ihrer Würde haben und sich schämen würden, den → Ritter Toggenburg zum Vorbilde zu nehmen.“ So sprechen wir mit der Offenheit, die Männern ansteht. Die Antisemiten wird unsere Darlegung natürlich nicht verhindern, uns auch weiter wie bisher vaterlandslos zu nennen. Allein diese Gesellschaft zu überzeugen, kann weder unsere Absicht noch unsere Hoffnung sein. Die wohlwollenden oder selbst nur gleichgültigen Christen dagegen werden unser Gefühl verstehen und billigen und uns darum höher achten, dass wir uns dazu bekennen. Jedenfalls wird ein → Patriotismus, den der einzige Vorbehalt der Gegenliebe einschränkt, ihnen unvergleichlich sympathischer sein als der → Kosmopolitismus, den Herr Güdemann mit einer unheimlichen Blindheit als die „Mission des Judentums“ hinstellt. Die Leisetreter, die jämmerliche Menschenfurcht bis ins Knochenmark durchfröstelt, blinzeln uns flehentlich zu, doch um des Himmels willen nicht zu sagen, dass wir ein Volk sind, damit unsere Feinde sich nicht auf uns selbst berufen können, wenn sie uns der Vaterlandslosigkeit zeihen und uns als Fremde in unserem Geburtslande behandeln. Aber ein Volk, das sich als solches bekennt, wird ihnen immer sympathischer sein als ein solches, das vom Volksgedanken überhaupt nichts wissen will. Haben sich denn jene Ängstlichen nicht gefragt, wie es auf unsere Feinde wohl wirken wird, wenn sie in der Broschüre des Herrn Dr. Güdemann (S. 33) lesen werden, dass Vaterlandslosigkeit „der Kerngedanke oder Gedankenkern der jüdischen Religion“ und deren Ziel ein Reich ist, „in welchem es keine Nationalitäten mehr, sondern nur noch Menschen gibt“! Dass der Verwirklichung des Zionismus ungeheure Schwierigkeiten entgegenstehen, wissen wir alle; dass diese Schwierigkeiten sich als unüberwindlich erweisen werden, ist möglich, obschon wir es erst glauben werden, wenn uns die Tatsachen dazu zwingen. An der Erörterung über die Mittel und Wege zur Verwirklichung des Gedankens teilzunehmen, ist das Recht eines jeden Juden, da die Sache jeden Juden angehen kann, wenn er selbst es will, und es ist vielleicht die Pflicht der Juden in leitender Stellung, von denen die Stammgenossen die Richtung zu nehmen gewohnt sind. Dagegen glaubte ich wirklich nicht, dass ein Jude, er sei Großrabbiner einer Hauptgemeinde oder → Hausierer im kleinsten Dorfe, berufen ist, mit verworrenen, doch heftigen Redensarten eine Bewegung grundsätzlich zu bekämpfen, die keinen Juden berührt, der ihr nicht aus eigenem Drange in freier Entschließung
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folgen will, und deren allernächstes Ziel, die Ansiedelung armer Juden in Palästina, doch der Angreifer selbst als wünschenswert und löblich bezeichnet. Der Zionismus wird mit der Sicherheit und Kraft eines mechanisch wirkenden Naturgesetzes eine Gruppierung der Juden in Klassen herbeiführen. Wer des Druckes überdrüssig ist und unüberwindliche Sehnsucht nach dem staatsbürgerlichen Dasein eines Vollfreien, ohne feige Flucht aus dem Judentum, empfindet, der wird sich ohne Vorbehalt für den Judenstaat erklären und an seinem Aufbau persönlich mitarbeiten. Wer es ertragen kann, in seinem Vaterlande von den staatlichen Gewalten als Bürger zweiter Klasse, von vielen Volksgenossen als Fremder, von einigen als Ungeziefer behandelt zu werden, wer das Leben in dieser Lage immer noch als lebenswert empfindet, jedoch sich das Zusammengehörigkeitsgefühl mit seinen jüdischen Stammgenossen bewahrt hat, der wird zwar selbst an der Stelle bleiben, an der er steht, aber er wird von seiner Stelle aus den Pionieren, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit für den zionistischen Gedanken eintreten, zu helfen suchen, wenn auch vielleicht zaghaft, heimlich, unter Vermeidung jedes lauten Wortes. Wer auch nicht mehr so viel jüdisches Zusammengehörigkeitsgefühl hat, dass der Gedanke einer, staatlichen Einigung des Judenvolkes in ihm eine Regung des Beifalls, der Anteilnahme oder selbst nur der bloßen Neugierde erweckt, jedoch das Durchschnittsmaß von menschlicher Nächstenliebe, Mitleid und Mildtätigkeit besitzt, der wird den Zionismus wenigstens nach seiner Nebenwirkung als Siedelungsunternehmen würdigen, welches den Ärmsten und Elendsten unter den Juden, jenen, die schlechterdings nichts zu verlieren und durch jeden Wechsel ihrer Verhältnisse immer nur zu gewinnen haben, neue Heimstätten bereiten will, und er wird den Zionismus unterstützen, nicht weil dieser einen Judenstaat zu gründen, sondern weil er an armen, elenden Menschen durchgreifende Wohltätigkeit zu üben sucht. Wer nicht nur jedes jüdischen Gefühls, sondern selbst der durchschnittlichen Menschenliebe entbehrt, wer weder als Jude an einer Erlösung der Juden von staatlicher und gesellschaftlicher Ächtung noch als Mensch an der Befreiung von Nebenmenschen aus bitterster Not Anteil nimmt, den geht die ganze Sache nichts an, der Zionismus ist für ihn nicht vorhanden, er wird ihn sicherlich nicht unterstützen, aber seine Kaltherzigkeit, seine Gleichgültigkeit wird ihn immer davor bewahren, ihn anzugreifen. Feindlich wird dem Zionismus nur eine Kategorie von Juden entgegentreten: die der → Selbstlinge, die für sich irgendeine entfernte üble Folge der zionistischen Bewegung fürchten, die sich als Verachtete und Beschimpfte wohlfühlen und den Unzufriedenen, Ungeduldigen nicht verzeihen, dass sie eine Anstrengung wagen wollen, ohne auf das ruhige Behagen der Satten und Vergnügten Rücksicht zu nehmen, kurz, die Insassen des Bootes, die mit der Axt nach der Hand der den Bootsrand erfassenden Schiffbrüchigen hauen, weil sie besorgen, das Fahrzeug könne durch Überfüllung für sie selbst unsicher werden.
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Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, Herrn Oberrabbiner Dr. M. Güdemann in eine dieser Klassen einzuordnen. Quelle: ZS1, S. 1–17, dort mit Verweis auf die Quelle: Die Welt, Nr. 2, 1897 (= Die Welt, 11.6.1897, H. 2, S. 1–4).
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2 Ein Brief Nordaus Dr. Max Nordau hat an den Herausgeber der → New-Yorker Zeitschrift „Toleranz“ folgenden offenen Brief gerichtet: Paris, 20. Mai 1897. Herrn → Dr. Michael Singer, New-York. Sehr geehrter Herr! Empfangen Sie meinen herzlichen Dank für Ihre Zuschrift und den Ausschnitt aus der → „New-Yorker Staats-Zeitung“ und meinen Glückwunsch zu dem Geiste, von dem die mir freundlichst gesandten Nummern Ihrer „Toleranz“ erfüllt sind. In eine Polemik mit dem → Herrn Kohler und dem niedrigen Verleumder, der Dr. Herzl und mir ich weiß nicht welche verächtliche Reklamesucht unterstellt, kann ich mich aber nicht einlassen. Ich habe Besseres zu tun. Ich lebe nicht vom Judentum, wie Herr Kohler, obschon ich gern bereit bin, für das Judentum zu leben. Ich opfere der zionistischen Bewegung meine Zeit und meine Kraft, doch darf man von mir nicht über das notwendige Maß hinaus Opfer verlangen. Eine Notwendigkeit, Herrn Kohler und seinesgleichen zu widerlegen, kann ich aber nicht zugeben. Der zionistische Gedanke ist nicht von Dr. Herzl und den Freunden, die sich ihm anschlossen, erfunden worden. Er ist im Geiste von Hunderttausenden gedrückter und verfolgter Juden entstanden. Er ist eine Form, die die Sehnsucht der Leidenden nach Erlösung vom Leid angenommen hat. Dr. Herzl hat nur deutlich gestaltet und in klare Formeln gefasst, was unklar und undeutlich Hunderttausenden vorschwebte. Es heißt das innerste Wesen des Zionismus vollständig verkennen, wenn man glaubt, für ihn Stimmung machen zu müssen. Wir wollen niemand zum Zionismus bekehren, wir wollen nur denen, die Zionisten sind und sich als Zionisten bekennen, den Weg zeigen, auf dem sie zu einer Organisation und durch diese zur Verwirklichung ihrer Wünsche gelangen können. Die Juden, die sich in ihren gegenwärtigen Verhältnissen wohlfühlen, mögen in ihren Verhältnissen bleiben. Niemand denkt daran, sie aus ihnen herauszulocken oder herauszureißen. Wir können dies weder, noch wollen wir es. Wenn Herr Kohler in New-York glücklich ist, umso besser für ihn. Wir werden sein Glück nicht stören. Wir verlangen nicht, dass er am → Aufbau Zions mitarbeite. Wir verlangen nicht einmal, dass er uns zum Bau Arbeiter schicke. Wie kommt er aber dazu, Juden, die nicht so glücklich sind wie er und die von der Errichtung eines Judenstaates eine Besserung ihrer Lage erwarten, mit Schmähungen zu überschütten und die Männer schnöde zu verdächtigen, die ohne die leiseste Spur eines Vorteils für sich, ja vielfach zu ihrem schweren Schaden, aus reinem Mitleid mit dem Elend ihrer Stammesgenossen diesen ihre Kraft zur Verfügung stellen? Da Herr Kohler nicht zionistisch fühlt und an den Zionismus nicht glaubt, so geht ihn der Zionismus doch nichts an. Es ist anmaßend von ihm und seinesglei-
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chen, tadelnd und abmahnend in eine Bewegung eingreifen zu wollen, die an ihn nicht herantritt und der sich nur jene anschließen, die von ihr das Heil für sich und ihre Nächsten erwarten. Natürlich steht es Ihnen frei, von diesem Briefe jeden Gebrauch zu machen, der Ihnen beliebt. Seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem hochachtungsvoll ergebenen Dr. Max Nordau. Quelle: Die Welt, 25.6.1897, H. 4, S. 3
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3 → I. Kongressrede Die → Sonderberichterstatter für die einzelnen Länder werden Ihnen die Lage unserer Brüder in den verschiedenen Staaten eingehend schildern. Einige ihrer Berichte haben mir vorgelegen, andere nicht. Aber auch von den Ländern, über die ich von meinen Mitarbeitern nichts erfuhr, habe ich teils aus eigener Anschauung, teils aus anderen Quellen einige Kenntnis, so dass ich es vielleicht ohne Selbstüberhebung unternehmen darf, ein Gesamtbild von der Verfassung der Judenheit am Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts zu entwerfen. Dieses Bild kann ungefähr aus einem einzigen Farbenton gemalt werden. Überall, wo Juden in einigermaßen größerer Zahl unter den Völkern siedeln, herrscht Judennot. Es ist nicht die Durchschnittsnot, die das wahrscheinlich unabänderliche Erdengeschick unserer Gattung ist. Es ist eine besondere Not, die die Juden nicht als Menschen, sondern als Juden erleiden und von der sie frei sein würden, wenn sie keine Juden wären. Die Judennot hat zwei Formen, eine sachliche und eine sittliche. In Osteuropa, in Nordafrika, in Westasien, gerade in den Gebieten, die die ungeheure Mehrheit, wahrscheinlich neun Zehntel, aller Juden beherbergen, ist die Judennot buchstäblich zu verstehen. Es ist ein tägliches Drangsal des Leibes; ein Bangen vor jedem folgenden Tage; ein qualvolles Ringen um die Erhaltung des nackten Lebens. Im europäischen Westen ist den Juden der → Kampf ums Dasein etwas leichter gemacht, obschon neuerdings die Neigung sichtbar wird, ihn ihnen auch hier wieder zu erschweren. Die Brot- und Obdachfrage, die Frage der Sicherheit von Leib und Leben martert sie weniger. Hier ist die Not eine sittliche. Sie besteht in täglichen Kränkungen des Selbst- und Ehrgefühles. Sie besteht in der rauen Unterdrückung ihres Dranges nach seelischen Befriedigungen, nach denen zu streben kein Nichtjude sich zu versagen braucht. In Russland, dessen jüdische Bevölkerung über fünf Millionen beträgt und das die Heimat von mehr als der Hälfte aller Juden ist, sind unsere Brüder manchen gesetzlichen Beschränkungen unterworfen. Nur eine wenig zahlreiche jüdische Sekte, die der → Karaiten, genießt dieselben Rechte wie die christlichen Untertanen des Zaren. Den übrigen Juden ist der Aufenthalt in einem großen Teile des Staates untersagt. Der Freizügigkeit erfreuen sich nur gewisse Kategorien von Juden, z. B. → Kaufleute der ersten Gilde, Besitzer akademischer Titel usw. Aber um zur ersten Kaufmannsgilde zu gehören, muss man reich sein, und das sind nur wenige russische Juden, und akademische Titel können auch nicht viele Juden in Russland erwerben, denn die staatlichen Mittel- und Hochschulen lassen jüdische Schüler nur in sehr beschränkter Zahl zu, ausländische Diplome aber gewähren keine gesetzlichen Rechte. Es ist den Juden untersagt, manche Gewerbe zu betreiben, deren Betrieb allen christlichen Russen freisteht. Diese unglücklichen Menschen sind in einigen → Gouvernements zusammengepfercht, wo es für sie keine Gelegenheit gibt, ihre Fähigkeiten und ihren guten Willen zu betätigen. Die Bildungsquellen des Staates
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fließen spärlich für sie, eigene können sie sich nicht erschließen, weil sie zu arm sind. Wer irgend kann, der wandert aus, um in der Fremde Luft und Licht zu finden, die ihm in der Heimat versagt sind. Wer dazu nicht jung oder mutig genug ist, der bleibt in seinem Elend und verkommt darin geistig, sittlich, leiblich. Von → Rumänien mit seiner Viertelmillion Juden hören wir, dass unsere Brüder auch dort rechtlos sind. Sie dürfen nur in den Städten wohnen, sind jeder Willkür der Behörden und selbst der niedrigen Beamten preisgegeben, von Zeit zu Zeit den blutigen Gewalttaten des Pöbels ausgesetzt und in den schlechtesten wirtschaftlichen Verhältnissen. Unser rumänischer Sonderberichterstatter schätzt die Zahl der völlig mittellosen auf die Hälfte aller rumänischen Juden. Grauenhaft sind die Zustände, die unser → galizischer Berichterstatter uns enthüllt. Von den 772 000 Juden Galiziens sind nach den Angaben des → Herrn Dr. Salz 70 Prozent buchstäblich Bettler, Berufsarme, die Almosen verlangen, freilich meist ohne es zu empfangen. Die übrigen Einzelheiten seines Berichtes will ich nicht vorwegnehmen. Sie sollen nicht zweimal das Grauen empfinden, das er in Ihnen erregen wird. Für die Verhältnisse Westösterreichs mit seinen rund 400 000 Juden ist die Angabe des → Herrn Dr. Mintz kennzeichnend, dass in Wien von 25 000 jüdischen Haushaltungen 15 000 wegen Armut zur Kultussteuer gar nicht herangezogen werden können. Von den 10 000 Besteuerten sind 90 Prozent zum niedrigsten Steuersatz veranlagt. Aber auch von dieser Kategorie der Niedrigstbesteuerten sind drei Viertel nicht imstande, ihre Steuerpflicht zu erfüllen. Das geschriebene Gesetz kennt in Österreich, anders als in Russland und Rumänien, keinen Unterschied zwischen Juden und Christen. Aber die öffentlichen Gewalten behandeln das Gesetz kühl als toten Buchstaben und die Sitte richtet den Judenbann wieder auf, den der Gesetzgeber niedergelegt hat. Die gesellschaftliche Ächtung erschwert den Juden den Broterwerb und wird ihn in naher Zukunft vielfach ganz unmöglich machen. Aus Bulgarien tönt uns derselbe Klageschrei entgegen: ein heuchlerisches Gesetz, das keinen Unterschied des Rechtes wegen Verschiedenheit des Glaubens kennt, über das die Behörden sich jedoch hinwegsetzen; eine Feindseligkeit in allen Kreisen, die den Juden überall zurückscheucht; Not und Elend ohne Hoffnung auf Besserung bei der weitaus überwiegenden Mehrheit der Juden. In Ungarn klagen die Juden nicht. Sie sind im Vollbesitze aller Bürgerrechte; sie dürfen arbeiten und erwerben und ihre wirtschaftliche Lage wird günstiger. Freilich dauert dieser glückliche Zustand noch nicht lange genug, um der Mehrheit der Juden ermöglicht zu haben, sich aus der tiefsten Armut herauszuarbeiten, und so sind die meisten Juden auch in Ungarn noch nicht selbst zu einem Anfang von Wohlstand gelangt. Überdies versichern Kenner der Verhältnisse, dass auch in Ungarn der Judenhass unter der Decke fortglimmt und bei erster Gelegenheit verheerend ausbrechen wird. Die 150 000 Juden von Marokko, → die Juden von Persien, deren Zahl mir nicht bekannt ist, muss ich vernachlässigen. Die Ärmsten haben nicht einmal mehr die
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Kraft, sich gegen ihr Elend aufzulehnen. Sie tragen es in stumpfer Ergebung, klagen nicht und rufen unsere Aufmerksamkeit nur an, wenn der Pöbel in ihr → Ghetto einbricht und unter ihnen plündert, schändet und mordet. Die Länder, die ich angeführt habe, bestimmen die Geschicke von weit über sieben Millionen Juden. Sie alle, mit Ausnahme von Ungarn, drücken durch Rechtsbeschränkung und amtliche oder gesellschaftliche Ungunst die Juden zum Stande der Proletarier und Berufsarmen hinab, ohne ihnen auch nur die Hoffnung zu lassen, durch noch so große Einzel- oder Gesamt-Anstrengung sich über diese wirtschaftliche Stufe zu erheben. Die gewissen → „praktischen“ Leute, die sich jede „unfruchtbare Träumerei“ versagen und ihr Streben auf Nächstliegendes, Erreichbares richten, sind der Meinung, dass die Aufhebung der gesetzlichen Rechtsbeschränkungen dem Elend der Juden in Osteuropa abhelfen würde. Galizien übernimmt es, die Kritik dieser Meinung zu liefern. Und nicht Galizien allein. Das Heilmittel der gesetzlichen → Emanzipation ist in allen Staaten der obersten Gesittungsstufe versucht worden. Sehen wir, was das Experiment lehrt. Die Juden Westeuropas sind keiner Rechtsbeschränkung unterworfen. Sie dürfen sich frei bewegen und entwickeln, genau wie ihre christlichen Landgenossen. Die wirtschaftlichen Folgen dieser Bewegungsfreiheit waren denn auch unzweifelhaft die günstigsten. Die jüdischen Rasseneigenschaften des Fleißes, der Ausdauer, der Nüchternheit, der Sparsamkeit bewirkten die rasche Abnahme des jüdischen Proletariats, das in manchen Ländern vollständig verschwunden wäre, wenn es nicht durch jüdische Einwanderung aus dem Osten genährt würde. Die emanzipierten Juden des Westens gelangen verhältnismäßig rasch zu mäßigem Wohlstand. Jedenfalls nimmt das Ringen um das tägliche Brot bei ihnen nicht die schauerlichen Formen an, die in Russland, Rumänien und Galizien beschrieben werden. Aber unter diesen Juden wächst die andere Judennot empor: die sittliche. Der Jude des Westens hat Brot, aber man lebt nicht von Brot allein. Der Jude des Westens sieht Leib und Leben kaum mehr vom Pöbelhass gefährdet, aber die Wunden des Fleisches sind nicht die einzigen, die schmerzen und an denen man sich verblutet. Der Jude des Westens hat die Emanzipation als wirkliche Befreiung gedeutet und sich beeilt, aus ihr die letzten Folgerungen zu ziehen. Die Völker bedeuten ihm, dass er Unrecht habe, so unbefangen logisch zu sein. Das Gesetz richtet großmütig die Theorie der Gleichberechtigung auf. Regierung und Gesellschaft üben eine Praxis der Gleichberechtigung, die aus dieser einen Hohn macht, wie die → Ernennung Sancho Panzas zum glänzenden Posten eines Vizekönigs der Insel Barataria. Der Jude sagt naiv: → „Ich bin ein Mensch, und nichts Menschliches erachte ich als mir fremd.“ Ihm tönt die Antwort entgegen: „Gemach, dein Menschentum ist mit Vorsicht zu gebrauchen; dir fehlen der richtige Ehrbegriff, das Pflichtgefühl, die → Sittlichkeit, die Vaterlandsliebe, der Idealismus, und wir müssen dich deshalb von allen Verrichtungen fernhalten, die diese Eigenschaften voraussetzen.“
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Durch Tatsachen hat man diese furchtbaren Beschuldigungen niemals zu begründen versucht. Höchstens wird ab und zu das Beispiel eines einzelnen Juden, eines Auswurfes seines Stammes und der Menschheit, triumphierend angeführt und allen Gesetzen des richtigen Denkens und Schließens entgegen kühn verallgemeinert. Aber das ist psychologisch wohlbegründet. Es ist die Gewohnheit des menschlichen Bewusstseins, für die Vorurteile, die das Gefühl in ihm wachruft, nachträglich vernünftig scheinende Begründungen hinzu zu erfinden. Die Volksweisheit hat dieses psychologische Gesetz längst erkannt und in ihrer anschaulichen Weise in ausdrucksvolle Formeln gefasst. → „Wenn man einen Hund ersäufen will“, sagt das Sprichwort, „so behauptet man, er sei toll“. Man dichtet den Juden alle Laster an, weil man sich selbst beweisen will, dass man recht hat, sie zu verabscheuen. Aber das Vorbestehende ist eben, dass man die Juden verabscheut. Ich muss das schmerzliche Wort aussprechen: die Völker, die die Juden emanzipierten, haben sich einer Selbsttäuschung über ihre Gefühle hingegeben. Um ihre volle Wirkung zu üben, musste die Emanzipation im Gefühl vollzogen sein, ehe sie im Gesetz ausgesprochen wurde. Das war aber nicht der Fall. Das Gegenteil war der Fall. Die Geschichte der → Judenemanzipation ist eins der merkwürdigsten Hauptstücke der Geschichte des europäischen Denkens. Die Judenemanzipation ist nicht die Folge der Einsicht, dass man sich an einem Stamme schwer vergangen, dass man ihm Entsetzliches zugefügt habe und dass es Zeit sei, tausendjähriges Unrecht zu sühnen; sie ist einzig die Folge der → geradlinig geometrischen Denkweise des französischen Rationalismus im 18. Jahrhundert. Dieser Rationalismus konstruierte sich mit der bloßen Logik, ohne Rücksicht auf das lebendige Gefühl, Grundsätze von der Bestimmtheit eines → mathematischen Axioms und bestand darauf, diese Gebilde der reinen Vernunft in der Welt der Wirklichkeiten zur Geltung zu bringen. „Eher sollen die Kolonien umkommen als ein Grundsatz!“, lautet der bekannte Ausruf, der die Anwendung der → rationalistischen Methode auf die Politik zeigt. Die Judenemanzipation stellt eine andere, gleichsam automatische Anwendung der rationalistischen Methode dar. Die → Philosophie Rousseaus und der → Enzyklopädisten hatte zur Erklärung der → Menschenrechte geführt. Aus der Erklärung der Menschenrechte leitete die starre Logik der Männer der großen Umwälzung die Judenemanzipation ab. Sie stellten eine regelrechte Gleichung auf: Jeder Mensch hat von Natur bestimmte Rechte; die Juden sind Menschen; folglich haben die Juden von Natur die Menschenrechte. Und so wurde in Frankreich die Gleichberechtigung der Juden verkündet, nicht aus brüderlichem Gefühle für die Juden, sondern weil die Logik es erforderte. Das Volksgefühl sträubte sich sogar dagegen, aber die Philosophie der Umwälzung gebot, die Grundsätze über die Gefühle zu stellen. Man verzeihe mir den Ausdruck, der keine Undankbarkeit in sich schließt: → Die Männer von 1792 emanzipierten uns aus Prinzipienreiterei. Das übrige Westeuropa ahmte das Beispiel Frankreichs nach, wieder nicht unter dem Drange des Gefühls, sondern weil die gesitteten Völker eine Art sittlicher Nötigung empfanden, sich die Errungenschaften der großen Umwälzung anzueignen.
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Wie das Frankreich der Revolution der Welt das → metrische System der Maße und Gewichte gab, so schuf es eine Art geistigen → Urmeters, den die übrigen Länder widerstrebend oder bereitwillig als Normalmaß ihres Gesittungsstandes annahmen. Ein Land, das den Anspruch erhob, auf der Höhe der Gesittung zu stehen, musste gewisse, von der großen Umwälzung geschaffene, übernommene oder entwickelte Einrichtungen besitzen, z. B. Volksvertretung, → Pressfreiheit, Schwurgericht, Trennung der Gewalten usw. Die Judenemanzipation nun war auch eins dieser unerlässlichen Einrichtungsstücke eines hochgesitteten staatlichen Hauswesens, etwa wie das Piano, das im Salon nicht fehlen darf, auch wenn kein Familienmitglied Klavier spielt. So wurden in Westeuropa die Juden emanzipiert, nicht aus einem inneren Drange, sondern in Nachahmung einer politischen Zeitmode, nicht weil die Völker sich im Gemüte entschlossen hatten, den Juden die Bruderhand zu reichen, sondern weil die führenden Geister ein gewisses europäisches Gesittungsideal anerkannt hatten, das auch erforderte, dass im Gesetzbuch die Judenemanzipation stehe. Nur auf ein Land findet all das keine Anwendung. Das ist England. Das englische Volk lässt sich seine Fortschritte nicht von außen aufnötigen. Es entwickelt sie aus sich heraus. In England ist die Judenemanzipation eine Wahrheit. Sie ist nicht bloß geschrieben, sie wird gelebt. Sie war im Gemüte längst vollzogen, als sie vom Gesetzgeber ausdrücklich bestätigt wurde. Aus Achtung vor dem Hergebrachten scheute man sich in England noch, die gesetzlichen Rechtsbeschränkungen der → Non-Konformisten förmlich aufzuheben, als die Engländer schon reichlich seit einem Menschenalter gesellschaftlich keinen Unterschied mehr zwischen Christen und Juden machten. Natürlich lässt ein großes Volk mit intensivstem Geistesleben sich aus keiner geistigen Strömung, auch aus keiner geistigen Verirrung der Zeit ausschalten, und so wird auch in England Antisemitismus vereinzelt beobachtet. Aber er hat dort nur die Bedeutung der Nachahmung einer festländischen Mode, die von → Einfaltspinseln aus Zierbengelei und Geckenhaftigkeit als das Neueste aus der Fremde, als etwas vermeintlich Vornehmes zur Schau getragen wird. Im Ganzen werden Sie finden, dass der an Tatsachen und Zahlenangaben so reiche Bericht des → Mr. de Haas über die Lage der Juden in England der tröstlichste von allen ist, die Ihnen vorgelegt werden. Die Emanzipation hat die Natur des Juden vollständig umgewandelt und aus ihm ein anderes Wesen gemacht. Der rechtlose Jude der Voremanzipationszeit war ein Fremder unter den Völkern, aber er dachte keinen Augenblick daran, sich gegen dieses Verhältnis aufzulehnen. Er fühlte sich durchaus als Angehörigen eines besonderen Stammes, der mit den übrigen → Landsassen nichts gemein hat. Er liebte das vorgeschriebene → gelbe Judenrad am Mantel nicht, weil es eine amtliche Aufforderung an den Pöbel zu Rohheiten war und sie im Voraus obrigkeitlich rechtfertigte, aber freiwillig hob er seine Sonderart viel stärker hervor, als es der gelbe Fleck tun konnte. Wo ihn nicht die Behörden in ein Ghetto einmauerten, da richtete er sich selbst ein Ghetto ein. Er wollte mit den Seinigen hausen und mit den christlichen Landsassen keine anderen als geschäftliche Berührungen haben. In das Wort
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Ghetto schwirren heute Obertöne von Schmach und Erniedrigung herein. Der → Völkerpsychologe und Sittengeschichtsschreiber aber erkennt, dass das Ghetto, was immer es auch in der Absicht der Völker gewesen sein mag, von den Juden der Vergangenheit nicht als Gefängnis, sondern als Zufluchtsstätte empfunden wurde. Es entspricht der geschichtlichen Wahrheit, wenn man sagt, dass nur das Ghetto den Juden die Möglichkeit bot, → die entsetzlichen Verfolgungen des Mittelalters zu überdauern. Im Ghetto hatte der Jude seine eigene Welt, sie war ihm die sichere Heimstätte, die für ihn die geistige und sittliche Bedeutung eines Vaterlandes hatte; hier waren die Genossen, bei denen man gelten wollte, aber auch gelten konnte; hier bestand die öffentliche Meinung, deren Anerkennung das Ziel des Ehrgeizes, deren Geringschätzung oder Unwille die Strafe der Unwürdigkeit war; hier wurden alle spezifisch jüdischen Eigenschaften geschätzt, und durch ihre besondere Entwicklung war die Bewunderung zu erlangen, die der → scharfe Sporn der Menschenseele ist. Was lag daran, dass außerhalb des Ghettos verachtet wurde, was man im Ghetto pries? An der Meinung des Außenstehenden lag nichts, denn es war die Meinung unwissender Feinde. Man strebte, den Brüdern zu gefallen, und das Gefallen der Brüder war ein würdiger Lebensinhalt. So lebten die Ghettojuden in sittlicher Hinsicht ein Vollleben. Ihre äußere Lage war unsicher, oft schwer gefährdet, innerlich aber gelangten sie zur allseitigen Ausgestaltung ihrer Eigenart und sie hatten nichts Fragmentarisches an sich. Sie waren harmonische Menschen, denen keins der Elemente des Normaldaseins eines Gesellschaftsmenschen fehlte. Sie fühlten auch triebhaft die ganze Bedeutung des Ghettos für ihr Innenleben, und sie hatten nur die eine Sorge, seinen Bestand durch eine unsichtbare Umwallung zu sichern, die noch viel dicker und höher war als die Steinmauern, die es greifbar einschlossen. Alle jüdischen Bräuche und Gewohnheiten verfolgten unbewusst nur den einen Zweck, das Judentum durch Absonderung von den Völkern zu erhalten, die jüdische Gemeinschaft zu pflegen, dem einzelnen Juden fortwährend gegenwärtig zu halten, dass er sich verlor und unterging, wenn er seine Eigenart aufgab. Dieser Absonderungsdrang war die Quelle der meisten Ritualgesetze, die sich für den Durchschnittsjuden mit dem Begriff des Glaubens selbst deckten, und auch andere, rein äußerliche, oft zufällige Unterscheidungsmerkmale in Tracht und Gehaben erhielten, sowie sie erst bei den Juden recht eingebürgert waren, religiöse Weihe, damit sie umso sicherer bewahrt würden. → Kaftan, Schläfenlocken, Pelzmütze, Jargon haben offenbar nichts mit Religion gemein. Die Juden des Ostens aber betrachten es misstrauisch schon als Beginn der Abtrünnigkeit vom Glauben, wenn der Stammgenosse sich europäisch kleidet und irgendeine Sprache richtig spricht. Denn er hat die Bande zwischen sich und den Stammgenossen durchschnitten, sie aber fühlen, dass diese Bande allein ihnen jenen Zusammenhang mit einer Gemeinschaft gewährleisten, ohne den das Individuum sich auf die Dauer sittlich, seelisch, zuletzt auch stofflich nicht zu behaupten vermag. Das war die Psychologie des Ghettojuden. Nun kam die Emanzipation. Das Gesetz versicherte den Juden, dass sie Vollbürger ihres Geburtslandes seien. Es übte
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auch eine gewisse Suggestion auf diejenigen, die es gaben, und veranlasste in seinen Flitterwochen auf christlicher Seite Gemütsäußerungen, die das Gesetz herzerwärmend erläuterten. Der Jude beeilte sich in einer Art Rausch, alle Brücken sofort hinter sich abzubrechen. Er hatte nun eine andere Heimat, er bedurfte des Ghettos nicht mehr; er hatte einen anderen Anschluss, er brauchte sich nicht mehr an die Glaubensgenossen zu nesteln. Sein Trieb der Selbsterhaltung passte sich sofort und vollständig den neuen Daseinsbedingungen an. Früher war dieser Trieb auf schroffste Absonderung gerichtet gewesen, jetzt strebte er nach äußerster Annäherung und → Anähnlichung. An die Stelle der rettenden Gegensätzlichkeit trat förderliche → Mimikry. Ein oder zwei Menschenalter lang, je nach dem Lande, mit überraschend gutem Erfolg. Der Jude durfte glauben, er sei nur noch Deutscher, Franzose, Italiener usw. wie jeder andere seiner Landsleute und schöpfe aus derselben Volksquelle wie sie das Maß von Gemeinleben, das zur vollen Entwicklung des Individuums unentbehrlich ist. Da brach nach einem Schlummer von 30 bis 60 Jahren, vor etwa zwei Jahrzehnten, der Antisemitismus in Westeuropa von Neuem aus den Tiefen der Volksseele hervor und enthüllte vor dem Auge des entsetzten Juden seine wirkliche Lage, die er nicht mehr gesehen hatte. Er durfte noch immer bei der Wahl der Volksvertreter mitstimmen, aber er sah sich aus den Vereinen und Versammlungen seiner christlichen Landsleute sanft oder barsch ausgeschlossen. Er hatte noch immer das Recht der Freizügigkeit, aber allerorten stieß er auf Aufschriften, die ihm bedeuteten: „Juden ist der Eintritt verboten.“ Er hatte noch immer das Recht, alle Pflichten des Staatsbürgers zu erfüllen, aber die Rechte, die über das allgemeine Stimmrecht hinausgehen, die edleren Rechte, die der Begabung und Tüchtigkeit zugestanden werden, diese Rechte wurden ihm schroff verweigert. Das ist die heutige Lage des emanzipierten Juden in Westeuropa. Seine jüdische Sonderart hat er aufgegeben, die Völker erklären ihm, dass er ihre Sonderart nicht gewonnen hat. Seine Stammgenossen flieht er, weil der Antisemitismus sie ihm selbst verekelt hat, seine Landsleute stoßen ihn zurück, wenn er sich zu ihnen halten möchte. Die Heimat des Ghettos hat er verloren, das Geburtsland versagt sich ihm als Heimat. Er hat keinen Boden unter den Füßen und er hat keinen Anschluss an eine Gesamtheit, in die er sich als willkommenes, vollberechtigtes Mitglied einfügen könnte. Bei den christlichen Landsleuten haben weder sein Wesen noch seine Leistungen auf Gerechtigkeit, geschweige denn auf Wohlwollen zu rechnen, mit den jüdischen Landsleuten hat er den Zusammenhang verloren. Er hat das Gefühl, dass die Welt ihm gram ist, und er sieht keine Stelle, an der er Gemütswärme finden kann, wenn er sie sucht und sich nach ihr sehnt. Das ist die sittliche Judennot, die bitterer ist als die leibliche, weil sie höher differenzierte, stolzere, feiner fühlende Menschen heimsucht. Der emanzipierte Jude ist haltlos, unsicher in seinen Beziehungen zu den Nebenmenschen, ängstlich in der Berührung mit Unbekannten, misstrauisch gegen die geheimen Gefühle selbst der Freunde. Seine besten Kräfte verbraucht er in der Unterdrückung und Ausrot-
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tung oder mindestens in der mühsamen Verhüllung seines eigensten Wesens, denn er besorgt, dass dieses Wesen als jüdisch erkannt werden möchte, und er hat nie das Lustgefühl, sich ganz zu geben, wie er ist, er selbst zu sein, wie in jedem Gedanken und Gefühle, so in jedem Ton der Stimme, in jedem Augenlidschlag, in jedem Fingerspiel. Innerlich wird er verkrüppelt, äußerlich wird er unecht und dadurch immer lächerlich und für den höher gestimmten, ästhetischen Menschen abstoßend wie alles Unwahre. Alle besseren Juden Westeuropas stöhnen unter dieser Not und suchen Rettung und Linderung. Sie haben nicht mehr den Glauben, der die Geduld gibt, jedes Leid zu ertragen, weil er darin eine Schickung des strafenden, aber dennoch liebenden Gottes erkennt. Sie haben nicht mehr die Hoffnung, dass der → Messias kommen und an einem Tage des Wunders sie zur Herrlichkeit erhöhen werde. Manche suchen sich durch Flucht aus dem Judentume zu retten. Freilich lässt der → Rassenantisemitismus, der die Umwandlungskraft der Taufe leugnet, diesen Rettungsplan wenig aussichtsvoll erscheinen. Es ist ja auch nicht gerade eine Empfehlung für die Betreffenden, die doch meist ungläubig sind – von der Minderheit der wirklich Gläubigen spreche ich natürlich nicht –, dass sie mit einer gotteslästerlichen Lüge in die christliche Gemeinschaft eintreten. Jedenfalls entsteht auf diese Weise ein neues → Marranentum, das ungleich schlimmer ist als das alte. Dieses hatte einen idealistischen Zug von geheimer Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, von herzbrechender Gewissensnot und Reue, und es suchte oft genug seine eigene Sühne und Reinigung in wohlerwogener, gewollter → Blutzeugenschaft. Die neuen Marranen scheiden aus dem Judentum mit Grimm und Erbitterung, aber im innersten Herzen, wenngleich vor ihnen selbst uneingestanden, tragen sie ihre eigene Erniedrigung, ihre eigene Unehrlichkeit, den Hass, der sie zu ihrer Lüge gezwungen, auch dem Christentum nach. Mir graut vor der zukünftigen Entwicklung dieses Geschlechtes der neuen Marranen, das sittlich nicht gehalten wird von irgendeiner Überlieferung, dessen Gemüt vergiftet ist durch Feindlichkeit gegen das eigene wie das fremde Blut, dessen Selbstachtung zerstört ist durch das immer gegenwärtige Bewusstsein einer fundamentalen Lüge. Andere erhoffen das Heil vom Zionismus, der ihnen nicht die Erfüllung einer mythischen Verheißung der Schrift ist, sondern der Weg zu einem Dasein, in welchem der Jude endlich jene allereinfachsten, allerursprünglichsten Lebensbedingungen vorfindet, die für jeden Nichtjuden beider Welten das Selbstverständliche sind: nämlich einen sicheren gesellschaftlichen Halt, eine wohlwollende Gemeinschaft, die Möglichkeit, alle seine organischen Kräfte zur Entwicklung seines wirklichen Wesens zu verwenden, statt sie zu dessen Unterdrückung, Fälschung oder Verkleidung selbstzerstörend zu missbrauchen. Noch andere endlich, die sich gegen die Lüge des Marranentums empören und die mit ihrem Vaterlande zu innig verwachsen sind, um den Verzicht, den der Zionismus in letzter Folge in sich schließt, nicht als zu hart und grausam zu empfinden, werfen sich dem wildesten Umsturz in die Arme, mit dem unbestimmten Hintergedanken, dass bei der Vernichtung alles Bestehenden und dem Aufbau einer neuen Welt der Juden-
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hass vielleicht doch nicht eines der Wertstücke sein möchte, die man aus den Trümmern der alten Verhältnisse in die neuen hinüberretten würde. Das ist das Gesicht, das → Israel am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts zeigt. Um es mit einem Worte zu sagen: Die Juden sind in ihrer Mehrheit ein Stamm von geächteten Bettlern. Fleißiger und → anschlägiger als der Durchschnitt der europäischen Menschen, von trägen Asiaten und Afrikanern nicht zu sprechen, ist der Jude → zum äußersten Proletarierelend verurteilt, weil ihm nicht gestattet wird, seine Kräfte frei zu gebrauchen. Von einem nicht zu bändigenden Bildungshunger, Bildungsheißhunger durchfiebert, sieht er sich von den Stätten, wo Wissen gereicht wird, zurückgestoßen, ein wirklicher → Bildungstantalus unserer unmythischen Zeit. Mit einem ungeheuren Auftrieb begabt, dessen Kraft ihn immer wieder aus den schlammigen Tiefen emporschnellt, in die man ihn hinabdrückt und zu begraben sucht, zerschellt er sich den Schädel an der dicken Eisdecke von Hass und Verachtung, die über seinem Haupte ausgespannt ist. Ein Gesellschaftswesen wie kaum ein anderes, ein Gesellschaftswesen, dem sogar sein Glaube als verdienstliche und gottgefällige Handlung empfiehlt, → zu dreien zu essen und in → Gemeinschaft von zehn zu beten, ist er von der normalen Gesellschaft, der landsmännischen, ausgeschlossen und zu tragischer Vereinsamung verurteilt. Man klagt ihn der Vordringlichkeit an und er strebt doch nach Überlegenheit nur, weil man ihm die Gleichheit versagt. Man wirft ihm Zusammengehörigkeitsgefühl mit allen Juden der Erde vor und sein Unglück ist doch, dass er beim ersten Liebeswort der Emanzipation alle jüdische Solidarität bis auf die letzte Spur aus seinem Herzen gerissen hat, um für die Alleinherrschaft der Liebe zu seinen Landgenossen Raum zu gewinnen. Betäubt von dem Hagel antisemitischer Beschuldigungen wird er an sich selbst irre und ist oft nahe daran, sich tatsächlich für das leibliche und geistige Scheusal zu halten, als das ihn seine Todfeinde darstellen. Man hört ihn nicht selten murmeln, er müsse vom Feinde lernen und sich von den Gebrechen zu heilen suchen, die man ihm vorhält, und er bedenkt nicht, dass die antisemitischen Anklagen für ihn gänzlich unfruchtbar und wertlos sind, weil sie nicht eine Kritik wirklich beobachteter Fehler, sondern die Wirkung jenes psychologischen Gesetzes sind, nach welchem Kinder, Wilde und boshafte Toren für ihre Leiden Wesen oder Dinge verantwortlich machen, gegen die sie Widerwillen empfinden. Zur Zeit des → schwarzen Todes beschuldigte man die Juden der → Brunnenvergiftung; heute beschuldigen die Agrarier sie, den → Getreidepreis zu drücken; die Handwerker beschuldigen sie, das Kleingewerbe zu vernichten; die Konservativen beschuldigen sie, grundsätzliche Regierungsgegner zu sein. Wo es keine Juden gibt, da bezeichnet man als Urheber derselben Übelstände andere Bevölkerungsgruppen, die man hasst, meistens Fremde, manchmal einheimische Minderheiten, Sekten oder Gesellschaften. Dieser → Anthropomorphismus der Unlustgefühle beweist nichts gegen die Beschuldigten, er beweist nur, dass ihre Ankläger sie schon hassten, als sie zu leiden begannen und sich nach einem Sündenbock umsahen.
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Das Bild wäre nicht vollständig, wenn ich nicht noch einen Zug hinzufügte. Eine → Sage, an die selbst ernste und gebildete Menschen glauben, die nicht einmal Antisemiten zu sein brauchen, behauptet, dass die Juden alle Macht und Herrschaft haben, dass die Juden alle Reichtümer der Erde besitzen. Sie die unheimlichen Handhaber der Gewalt, diese Juden, die nicht einmal imstande sind, ihre Stammgenossen gegen die Mordlust elenden arabischen, marokkanischen und persischen Gesindels zu schützen! Sie die Verkörperung des → Mammons, diese Juden, von denen reichlich die Hälfte keinen Stein besitzt, wo sie ihr Haupt hinlege, und keinen Fetzen, mit dem sie die Blöße ihres Leibes bedecke! Das ist der Hohn, der hinzutritt und Gift einträufelt, nachdem der Hass die Wunde geschlagen hat. Gewiss, es gibt einige hundert überreiche Juden, deren lärmende Millionen weithin bemerkt werden. Aber was hat Israel mit diesen Leuten gemein? Die meisten von ihnen – eine Minderheit nehme ich gern aus – gehören zu den niedrigsten Naturen der Judenheit, die eine natürliche Auslese zu den Berufen bestimmt hat, in denen man rasch Millionen und manchmal Milliarden gewinnt – fragt mich nur nicht wie! In einer normalen und vollständigen jüdischen Gesellschaft würden diese Menschen infolge ihrer organischen Eigenschaften in der Volksachtung die allerunterste Stufe einnehmen und jedenfalls niemals die Adelstitel und hohen Orden erhalten, mit denen die christliche Gesellschaft sie auszeichnet. Das → Judentum der Propheten und Tanaim, das Judentum → Hillels, Philos, → Ibn Gabirols, → Jehuda Halevys, Ben Maimons, → Spinozas, → Heines kennt diese Geldprotzen nicht, die alles geringschätzen, was wir verehren, und die hochhalten, was wir verachten. Diese Leute sind der Hauptvorwand des neuen Judenhasses, der mehr wirtschaftliche als religiöse Gründe hat. Für das Judentum, das um ihretwillen leidet, haben sie nie etwas getan, als dass sie Almosen hinwarfen, die für sie keine Opfer sind, und dass sie einen spezifisch jüdischen Krebsschaden unterhalten, das → Schnorrertum. Für ideale Zwecke ist ihre Hilfe nie zu haben gewesen und wird sie wohl nie zu haben sein. Viele verlassen denn auch das Judentum, und wir wünschen ihnen Glück auf die Reise und beklagen nur, dass sie denn doch aus jüdischem Blute sind, wenn auch aus dessen Bodensatze. Die Judennot darf niemand gleichgültig lassen, die christlichen Völker ebenso wenig wie uns Juden. Es ist eine große Sünde, einen Stamm in geistiger und leiblicher Not verkommen zu lassen, dem selbst seine schlimmsten Feinde Begabung nicht abgesprochen haben; es ist eine Sünde an ihm und es ist eine Sünde an dem Werke der Gesittung, an dem der jüdische Stamm ein nicht gleichgültiger Mitarbeiter sein möchte und sein könnte. Und es kann zu einer großen Gefahr für die Völker werden, willensstarke Menschen, deren Maß im Guten wie im Schlechten über den Durchschnitt hinausreicht, durch unwürdige Behandlung zu verbittern und durch Verbitterung zu Feinden der bestehenden Ordnung zu machen. Die → Mikrobiologie lehrt uns, dass kleine Lebewesen, die harmlos sind, solange sie in der freien Luft leben, zu furchtbaren Krankheitserregern werden, wenn man ihnen den Sauerstoff entzieht, wenn man sie, wie der Fachausdruck lautet, in → anaërobische Wesen ver-
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wandelt. Die Regierungen und Völker sollten Bedenken tragen, aus dem Juden ein anaërobisches Wesen zu machen! Sie könnten es schwer mitzubüßen haben, was immer sie dann auch unternehmen würden, um den durch ihre Schuld zum Schädling gewordenen Juden auszurotten. Dass die Judennot nach Abhilfe schreit, haben wir gesehen. Die Abhilfe zu finden, wird die große Aufgabe des Kongresses sein. Ich trete nun das Wort an meine Mitberichterstatter ab, die das von mir in großen Umrissen entworfene Bild ausführen und vervollständigen und bei deren Vorträgen Sie meist die Empfindung haben werden, → „Kinnoth“ anzuhören. Quelle: ZS1, S. 39–5, dort mit Datierung: Basel, 29. August 1897. Ferner in: Die Welt, 3.9.1897, H. 14, S. 5–9.
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4 „Arabische Märchen“ Wir Zionisten würden die Bezeichnung → „Zionstrunkene“, „Schwärmer“, „Träumer“, „Phantasten“ usw., mit denen Herr → Dr. Eduard Glaser uns freigebig beehrt, vollauf verdienen, wenn wir den politischen → Kannegießer-Roman, den er in der Dienstag-Morgennummer Ihres Blattes zum besten gegeben hat, einer ernsten Erörterung unterziehen würden. Herr Dr. Glaser hat lange im Morgenlande gelebt und sicher den Märchenerzählern in den türkischen Cafés und → arabischen Bazaren gelauscht. Offenbar hat er an ihren hübschen Geistesspielen Geschmack gefunden und etwas von ihnen in seine Denkweise aufgenommen. In seinen Betrachtungen über die politische Seite des Zionismus ist mehr von → „Tausend und einer Nacht“, als der Gegenstand rechtfertigt und gestattet. Wir, die „Schwärmer“, „Träumer“ usw. – siehe oben – würden über die Hirngespinste des nüchternen, mit der Wirklichkeit rechnenden Herrn Dr. Glaser lediglich lächeln, wenn er sich darauf beschränkt hätte, seine Schachpartie ohne Gegner mit den Großmachtfiguren harmlos vor der belustigten Öffentlichkeit zu spielen. Aber er hat sich Unterstellungen erlaubt, gegen die sofort und nachdrücklich Einspruch erhoben werden muss. Er stellt uns als Marionetten hin, deren Drähte von England gezogen werden. Er deutet auch an, dass dies vielleicht nicht einmal unbewusst geschieht, sondern dass wir mit vollem Bewusstsein nach geheimen Abmachungen handeln, dass wir die uns vertrauenden, die uns folgenden Juden mit Absicht und Berechnung irreführen, um sie zu Werkzeugen – und in naher Zukunft zu Opfern – selbstsüchtiger englischer Anschläge zu machen. Weshalb wir solche teuflischen Ränke unternommen haben sollten, spricht Herr Dr. Glaser wohlweislich nicht aus. Der einzig mögliche Grund liegt nahe genug, dass er es auch dem kurzsichtigsten Leser ruhig überlassen kann, ihn selbst zu entdecken. Wir können nur in britischem Solde stehen und unsere jüdischen Stammgenossen um Gold verkaufen, wenn wir nicht etwa Toren sind, die nicht wissen, was sie tun. Wir sind an Verleumdungen gewöhnt. Unsere Ziele und unsere Beweggründe sind von allem Anfang an verdächtigt worden; niemals von Christen, nicht einmal Antisemiten, das sei gleich bemerkt; immer nur von der Sorte Juden, die ihre Abstammung als Schande empfinden, welche sie töricht verheimlichen zu können oder feige entschuldigen zu müssen glauben, und die es den anderen Juden nicht verzeihen können, dass sie mehrtausendjähriges Unrecht nicht länger ertragen, dass sie nicht länger schweigen und sich ducken wollen, dass sie den Kopf und die Stimme erheben, dass sie entschlossen sind, ihre Kraft und ihr Leben an die Durchsetzung ihrer vollen materiellen und idealen → Menschenrechte zu wagen und lieber unterzugehen, als noch länger die Verkennung dieser Rechte zu dulden. Gegen die Verleumdung schützen uns aber unser Charakter und unsere Handlungen. Wir haben die Zuversicht, dass sie verstummen wird, wenn erst ein längerer Abschnitt unserer Tätigkeit vor den Augen der Welt daliegt. Einstweilen können wir sie nur festnageln, um sie später zu unseren Trophäen zu hängen.
4 „Arabische Märchen“
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Wir kennen die Schwierigkeiten des begonnenen Werkes besser als Herr Dr. Glaser, denn er denkt sie sich nur aus, wir aber sind schon → im Raume hart mit ihnen zusammengestoßen. Sein politischer Roman ist eine Kinderstubengeschichte neben den Möglichkeiten, die wir bekümmerten Gemütes vor uns sehen und mit verantwortlichen Männern an entscheidenden Stellen in allen ihren denkbaren Entwicklungen durchgesprochen haben. Wenn uns diese Möglichkeiten, deren Gewaltigkeit Herr Dr. Glaser nicht einmal ahnt, trotzdem nicht erschreckt und gelähmt haben, so ist es, weil wir bei wirklichen Staatsmännern – nicht morgenländischen Märchenerzählern – immer die eine Überzeugung und Anerkennung vorgefunden haben, dass unsere Bewegung nicht das kleinste Element von „Anti“-dies oder „Anti“-jenes in sich schließt, dass wir „gegen“ niemand, nur „für“ den jüdischen Stamm arbeiten und dass wir niemals einen Schritt tun wollen, ohne der Zustimmung Europas, und mit in erster Reihe Russlands, das in jeder Hinsicht am nächsten dazu ist, vollkommen sicher zu sein. Das möge Herr Dr. Glaser sich gesagt sein lassen. Mehr zu sagen habe ich nicht die Pflicht. Herr Dr. Glaser hatte nicht das Recht, auch nur so viel zu erfahren. Quelle: ZS1, S. 329–33, dort mit Verweis auf die Quelle: Berliner Tageblatt, 1898. Ferner in: Die Welt, 7.1.1898, H. 1, S. 3.
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5 Ein Brief Nordaus Die in Jerusalem erscheinende hebräische Zeitschrift → „Haschkafa“ veröffentlicht folgendes Schreiben unseres berühmten Parteigenossen: „Ich bin schon ein altes Schlachtross auf dem literarischen Kriegsschauplatz. Und doch, wenn ich jetzt diesen Brief schreibe, den ganz neue, unbekannte Menschen lesen werden, und wenn ich mir denke, dass dieser Brief in der Nähe der → „Tempelwand“ gedruckt und gelesen werden wird, da empfinde ich ein eigenartiges Gefühl, das ich weder schildern noch beschreiben kann. Aber dieses Gefühl, das mich bei der Erinnerung an Jerusalem erfasst, ist für mich das beste Zeichen, wie sehr alle Juden, mögen sie auch noch so weit vom lebendigen Judentum entfernt sein, ihr Volk und ihr Vaterland lieben. Und ich, der darauf stolz war, ein deutscher Schriftsteller zu sein, der die deutsche Sprache seiner Mutter so liebgewann, ich bin tief beschämt, dass ich diesen Brief erst ins Hebräische muss übersetzen lassen, während → mein Vater ein guter Hebräer war und Schillers „Glocke“ ins Hebräische übersetzte, die ich als zehnjähriger Knabe mit Entzücken las. Die Ursache liegt darin, dass die Antisemiten zu spät kamen, dass in uns jedes jüdische Gefühl erstarb, weil man uns in Ruhe ließ. Ich schäme mich, gestehen zu müssen, dass es mir leichter ist, meine Gedanken in lateinischer, als in hebräischer Sprache auszudrücken…. Wenn ich nun die ungewöhnliche Tatsache betrachte, dass die Juden, trotz aller Leiden und Verfolgungen, denen andere Völker erlegen sind, leben; wenn ich sehe, dass hervorragende Juden auf ihre Abstammung und Geschichte stolz zu werden beginnen, da frage ich oft: Wieso ist das gekommen? Jetzt begreife ich die Ursache. Sie liegt in dem einzigen Balsam, den uns unsere Ahnen hinterlassen haben, der alle unsere Wunden heilt, der alle unsere Glieder zusammenzieht; ein Balsam, der die Juden nicht sterben lässt, und das ist die → Hoffnung auf den Messias, die Hoffnung auf die Wiedergewinnung ihres Landes. Das ist das Geheimnis der Unsterblichkeit des jüdischen Volkes.“ Quelle: Die Welt, 7.1.1898, H. 1, S. 9.
6 [Zuschrift von Dr. Max Nordau]
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6 [Zuschrift von Dr. Max Nordau] Herr Dr. Max Nordau ersucht uns um die Aufnahme folgender Zuschrift: „Die → letzte Nummer der „Welt“ brachte unter der Überschrift „Ein Brief Nordaus“ eine Mitteilung über eine Arbeit von mir, die in der Jerusalemer hebräischen Zeitschrift → „Haschkafa“ abgedruckt war, und ließ den einleitenden Zeilen zwei Absätze folgen, die zwischen Gänsefüßen stehen, also notwendig die Vorstellung erwecken müssen, dass sie den Wortlaut meines Aufsatzes wiedergeben. Eine derartige Vorstellung wäre jedoch ein Irrtum. Meine Arbeit, die mehrere Spalten lang ist, war von mir französisch geschrieben und von der Redaktion der „Haschkafa“ ins Hebräische übersetzt. Aus der mehr oder minder getreuen hebräischen Übersetzung ist der ganz kurze Auszug, den die „Welt“ brachte, ins Deutsche zurückübersetzt worden. Dass bei einer solchen zweimaligen Übertragung in weit auseinanderliegende Sprachen, verbunden mit äußerst energischer Zusammenziehung, sehr wenig vom Gedankengange und nichts von der Form der Urschrift übrigbleibt, bedarf keines Beweises. Ich übernehme also nur eine sehr stark verminderte Verantwortlichkeit für den „Brief“, den die „Welt“ mir zuschreibt.“ Quelle: Die Welt, 14.1.1898, H. 2, S. 7.
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7 Ein unterschlagener Brief Der → Herausgeber der „Oesterreichischen Wochenschrift“ hatte nach der Publizierung des Artikels „Quittung“ von Dr. Glaser einen Brief von Dr. Max Nordau erhalten, mit der strikten Aufforderung, den Brief entweder ganz zu publizieren oder sonst überhaupt nichts daraus zu veröffentlichen. Der Herausgeber der genannten Wochenschrift hat aber trotzdem nur Bruchstücke des Nordau'schen Briefes veröffentlicht, die den Anschein erwecken konnten, als ob sich Dr. Nordau beeile, eine Entschuldigung vorzubringen. Wir veröffentlichen daher, zur Vermeidung aller Missverständnisse, den Brief Dr. Nordaus hiermit vollinhaltlich. Die Redaktion. Herr Dr. Max Nordau hat an den Herausgeber der „Oesterreichischen Wochenschrift“, Dr. Bloch, folgende Zuschrift gerichtet: Herr Redakteur! Von unbekannter Hand empfing ich heute aus Wien die Nummer 2 Ihrer „Oesterreichischen Wochenschrift“ vom 14. Jänner mit dem Aufsatze „Quittung“ des Herrn Glaser, den zu kennzeichnen tief unter meiner Würde ist. Für diejenigen, die mich kennen, ist eine Erwiderung auf diesen Aufsatz unnötig. Ich habe aber kein Recht zur Annahme, dass die Leser Ihrer „Oesterreichischen Wochenschrift“ mich kennen, und aus Rücksicht auf sie gebe ich hier folgende Erklärungen ab: Den mit → „Spectator“ unterzeichneten Aufsatz in der „Welt“ vom 7. Jänner habe ich weder verfasst noch eingegeben, noch vor Eintreffen der betreffenden Nummer der „Welt“ in Paris gekannt; es ist in der „Welt“ nie auch nur ein Wort von mir erschienen, das nicht mit meinem vollen Vor- und Zunamen unterzeichnet war; ich nehme auf die Redaktion der „Welt“ nicht den geringsten unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss. Und nun, nach diesen tatsächlichen Feststellungen, möchte ich auf die besondere Gesinnungsniedrigkeit und Feigheit eines Verfahrens aufmerksam machen, das in Folgendem besteht: Man „vermutet“, dass der Verfasser des „Spectator“-Artikels Nordau ist. Man „behauptet“ es beileibe nicht, man „vermutet“ es nur. Es kann sein. Es kann auch nicht sein. Dann überhäuft man, durchaus nicht Nordau, o nein, sondern „Spectator“, mit den niederträchtigsten Schimpfreden, wirft ihm vor, dass er sich verstecke, bezweifelt seine Tapferkeit, nennt ihn, mit Anwendung einer dummschlauen unpersönlichen Mehrzahl „die literarischen Seichtbeutel von Paris“ u. s. w. Man richtet das Banditenstückchen so ein, dass zwar kein Leser im Zweifel sein kann, gegen wen alle die Beschimpfungen gerichtet sind, dass indes dennoch keines der feigen
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Schimpfworte geradezu Nordau ins Gesicht gesagt wird. Auf diese Weise hält man sich die Rückzugslinie für das Ausreißen offen. Kommt dann Nordau und erklärt: „Ich bin nicht „Spectator““, so wird mit listigem Augenblinzeln gegen den Leser gepiepst: „Nun, dann habe ich doch nicht Nordau gemeint und meine Beschimpfungen „Spectators“ gehen ihn nichts an.“ Der Leser aber weiß Bescheid, und der schlaue Ehrabschneider lacht sich ins Fäustchen, denn er hat dem Gegner hinterrücks eins versetzt, ohne seine Ohren zu gefährden. Das Urteil über Gesellen, die eines derartigen Verfahrens fähig sind, überlasse ich den Lesern dieser Wochenschrift. Hochachtungsvoll Paris, 18. Jänner 1898. Dr. Max Nordau. Quelle: Die Welt, 4.2.1898, H. 5, S. 3–4.
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8 Ein berichtigtes Interview Das → „New-York Journal“ hatte ein Interview mit Nordau publiziert, von dem wir keine Notiz nahmen, weil es uns unwahrscheinlich erschien, dass Dr. Nordau sich in solcher Weise geäußert habe. Tatsächlich erhebt Dr. Nordau Einspruch gegen diese Mitteilungen und sendet dem Herausgeber des „N.-Y. J.“ folgende Berichtigung zu: „Ich bedauere, die in Ihrem Blatte abgedruckte Unterredung bezüglich der → Affaire Dreyfus als vollständig aus der Luft gegriffen bezeichnen zu müssen. Dieselbe gibt weder meine Worte noch meine Gedanken wieder. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, der katholischen Kirche die Ungeheuerlichkeit zuzumuten, dass sie eine Massenabschlachtung der Juden befehle oder vorbereite; dagegen habe ich allerdings gesagt, dass die Macher der antisemitischen Bewegung in Frankreich → katholische Fanatiker sind. Ich habe nie gesagt, dass → Paty du Clam die Dokumente gefälscht hat, auf Grund derer Dreyfus verurteilt worden ist; ich habe nur auf seine ausgesprochene Voreingenommenheit in der Leitung der ganzen Untersuchung hingewiesen. Ich habe nie gesagt, ich wisse, dass → Eszterhazy der eigentlich Schuldige sei; ich habe nur gesagt, dass nach der Aussage des Herrn → von Bülow Dreyfus unschuldig ist. Ich habe nie ein Wort von dem gesagt, was → Baron E. von Rothschild und dem → Groß-Rabbiner Zadoc Kahn in den Mund gelegt wird; es ist nicht meine Gewohnheit, Privatgespräche auszuplaudern, und ich habe Ihren Vertretern nur meine Worte mitgeteilt, nicht aber ein Wort von dem, was zu mir gesagt wurde. Überhaupt lehne ich jede Verantwortlichkeit für das Interview in seiner jetzigen Gestalt ab; nur fünf Zeilen, die ich geschrieben und eigenhändig unterzeichnet habe, sind von mir, und darin drücke ich meine Überzeugung von der Unschuld des Dreyfus aus. Indem ich Sie um den Abdruck dieses Briefes bitte, bin ich ergebenst Paris, 15. Februar 1898. Dr. Max Nordau.“ Quelle: Die Welt, 25.2.1898, H. 8, S. 8.
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9 Brief an die Juden Italiens Kein Jude der Welt ist ein so erstaunliches Beispiel von der wunderbaren Anpassungsfähigkeit der jüdischen Rasse wie der italienische Jude. Nach Kämpfen, die unser ewiger Ruhm sein werden, von den Römern bezwungen, drangen die Juden beherzt in das Land ihrer Besieger ein, und noch vor der → Zerstörung des zweiten Tempels hatte die römische Gemeinde eine der ersten, wenn nicht die erste, der → Diaspora werden können. Der Jude vergaß sofort das Böse, das ihm das römische Schwert zugefügt hatte, um überall die → „pax romana“ zu genießen. → Der furchtbare römische Adler, den er in wildem Schlachtengetümmel auf dem heiligen Boden Palästinas sich gegenüber hatte dräuen sehen, wurde sein Führer, dem er vertrauensvoll überallhin folgte, und wir finden den Juden in allen Provinzen, im Norden Afrikas, in Spanien, in Gallien, in Germanien unter dem → Schirme der Kastelle, als den Schützling des Vexillums, als unzertrennlichen Begleiter der Legionen. Erst Römer aus Zwang, wurde der Jude des Kaiserreichs ohne Zögern Römer seiner Sprache, seinem Empfinden und seiner Überzeugung nach, und er ist es geblieben im Wechsel der Zeiten. Italien war das Land derer, die ihn endgültig aus seiner Heimat vertrieben hatten. Auf seinem Boden erhob sich der → Triumphbogen des Titus. Die Reliefs dieses Triumphbogens bewahrten das → Bildnis der heiligen Gefäße, die durch die tempelschänderische Hand seiner Zerstörer dem Heiligtume entrissen worden waren. → Italien erfand das Ghetto, das Wort und die Sache; es legte den Juden die grausame Zwangspredigt und die ungeheure → Schmach des Karnevalrennens längs des Korso auf. Und trotz all der Schmach und Schmerzen liebten die Juden Italiens dieses Land der Sonne und der Schönheit aufs zärtlichste und betrachteten sich als seine Kinder, als misshandelte zwar, wie → Aschenbrödel, aber doch als seine Kinder. Die → Emanzipation der Juden war in Italien nicht wie in gewissen anderen Ländern ein Akt der Adoption, sondern ein Akt der Legitimation. Ich habe es wohl nicht nötig, auf diesen Unterschied genauer einzugehen. Das Gesetz, das den Juden die politischen Rechte verlieh, änderte wohl ihre Stellung im Staate, nicht aber ihre Gefühle. Sie hatten sich seit fast zwei Jahrtausenden als die Söhne des italienischen Bodens betrachtet, sie sahen sich nunmehr auch als solche anerkannt. Das war alles. Und ganz natürlich, ohne Pose und ohne Geste, nahmen sie ihren Platz in der Familie ein und erfüllten ihre Pflichten, alle ihre Pflichten, als Söhne des Hauses. Auf jedem Blatte der Geschichte des → Risorgimento* leuchten jüdische Namen, unter den Märtyrern sowohl wie unter den Heroen. In einer Nation, wo jeder, oder fast jeder, Talent hat, haben sie es verstanden, sich einen ehrenvollen Platz unter ihren
* Der Auferstehung Italiens. → Zur Feier des 50. Jahrestages der → Emanzipation der Juden in Sardinien.
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Mitbürgern zu erringen und nicht die letzten zu sein in der Literatur und den Künsten, in der Wissenschaft und im politischen Leben. Bis zum Jahre → 1848, ihr Juden Italiens, wart ihr italienische Juden. Von da ab seid ihr jüdische Italiener. Was werdet ihr morgen sein? Kurzweg „Italiener“, selbst ohne das Beiwort „jüdisch“, das noch immer eure Vergangenheit in Erinnerung bringt? Es gibt Leute, die mich dessen versichern. Man sagt mir, dass die Mehrzahl der italienischen Juden – Pardon! der jüdischen Italiener – selbst ihre Abstammung vergessen haben, kein jüdisches Interesse mehr hegen, nicht mehr die Geschichte ihres Volkes kennen, sie nicht kennen wollen, unberührt bleiben von den Leiden und Hoffnungen ihrer Brüder in anderen Ländern, diese Brüderlichkeit überhaupt nicht mehr gelten und kein Band mehr bestehen lassen wollen zwischen sich und denen ihres Blutes, die unter einem weniger blauen Himmel und unter einer minder strahlenden Sonne leben. Ist das wahr? Ich will es nicht glauben. Da ihr frei seid, müsst ihr stolz sein. Ihr könnt eine Abstammung nicht vergessen haben, die in ihrer Art ebenso ruhmvoll ist wie selbst die der → Quiriten! Und wenn ihr euch eurer Ahnen erinnert, müsst ihr ein wenig Liebe, ein wenig Achtung für ihre Überlieferungen, ein wenig Familienzärtlichkeit für die große jüdische Familie bewahrt haben. Italiener seid ihr bis ins innerste Mark – wer würde wagen, es zu bestreiten? Dennoch habe ich die Überzeugung, dass ihr im Grunde eures Herzens euch jüdische Empfindungen bewahrt habt, welche im Gleichklang mit der Judenheit der anderen Länder zu schwingen wissen werden. Und wenn eure verstreuten Brüder eines Tages große Anstrengungen machen werden, um wieder einen Ehrenplatz auf dieser Erde zu gewinnen, wo sie so lange verachtete → Vaterlandslose gewesen, dann, hoffe ich, werdet auch ihr, glückliche italienische Juden, euer Herz freudig und stolz schlagen fühlen und ergriffen vom Schauspiel ihrer Mannhaftigkeit auch herbeieilen, um ihnen zu helfen – nach Römerart! Quelle: ZS1, S. 371–373, dort mit dem Hinweis: April 1898 (= Die Welt, 15.4.1898, H. 15, S. 1–2).
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10 Der Zionismus und seine Gegner Die Männer, deren Namen man mit dem neuen Abschnitt der zionistischen Bewegung zu verknüpfen gewohnt ist, wurden durch die Not ihres Stammes zum Zionismus bekehrt. Sie alle hatten persönlich kaum unter dieser Not zu leiden. Sie hatten sich durch ihre Geistesarbeit einen europäischen, teilweise sogar einen Weltruf errungen, der ihrem Ehrgeiz genügen konnte. Sie hatten durch ihr Eintreten für ihre verfolgten Stammesgenossen viel zu verlieren und nichts zu gewinnen. Obschon sie sich bewusst waren, dass sie niemand zuleide, nur den Juden zum Heile arbeiten wollten, machten sie sich natürlich dennoch auf Kämpfe gefasst. Aber sie glaubten, sie würden nur zu kämpfen haben gegen die Reibungswiderstände, die jeder Gedanke bei seiner Verkörperung in der Welt des Stofflichen erfährt, gegen die schiefen Urteile der ungenügend Unterrichteten, die besser unterrichtet werden können, und allenfalls gegen die Bosheiten der blind hassenden und sich deshalb gegen jedes Verständnis absichtlich verschließenden Judenfeinde. Es war nun eine ihrer großen Überraschungen, dass ihnen bisher grimmig verzerrte Feindesantlitze nur aus der Mitte des Judentums entgegengrinsten, dass sie bisher nur von jüdischer Seite Angriffe erfuhren, und zwar Angriffe so niedriger Art, dass sie mitunter buchstäblich fassungslos wurden und sich die zahlreichen Beispiele selbstloser Begeisterung und edlen Idealismus in ihren eigenen Reihen vorrechnen mussten, um nicht zur antisemitischen Lehre von der Erbärmlichkeit der jüdischen Rasse bekehrt zu werden. Wir wissen jetzt, aus welchen Hinterhalten uns Überfälle drohen. Wir wissen jetzt, wer unsere einzigen Feinde sind, wo sie lauern und wessen wir uns von ihnen zu versehen haben. Kenntnis der Gefahr ist halbe Abwehr. Wir werden mit den Elenden, die uns in den Rücken gefallen sind und weitere feige Anschläge gegen uns im Sinne führen, zur rechten Zeit abrechnen. Heute und hier möchte ich mich nur mit jenen Gegnern der zionistischen Bewegung auseinandersetzen, die nicht verleumden und verdächtigen, sondern Gründe anführen, die guten Glaubens sind und mit denen ein anständiger und ernster Mensch sich in eine Erörterung einlassen kann, ohne sich etwas zu vergeben. Ich schicke eine Bemerkung voraus. In der christlichen Welt hat der Zionismus bis jetzt keinen Widersacher gefunden. Es gibt viele Christen, die den Gedanken einer Wiedervereinigung der heimatlosen Juden im Lande ihrer Väter für sehr schwer, manche, die ihn für gar nicht ausführbar halten; aber es gibt keinen, der den Gedanken an sich für falsch und verwerflich erklärt hätte. Sollte jemand so unvorsichtig sein, mir entgegenzuhalten: „Kein Wunder! Die christliche Welt möchte uns natürlich gern los werden!“, so würde ich sofort erwidern: „Wenn wirklich die ganze christliche Welt nur den einen Wunsch hat, uns abziehen zu sehen, und nur daran zweifelt, dass sich ihr Wunsch verwirklichen lasse, so ist dies der stärkste Grund, der sich für die Berechtigung und Notwendigkeit des Zionismus anführen lässt.“
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Ich wiederhole es: Grundsätzliche Gegner hat der zionistische Gedanke bisher nur unter den Juden gefunden, und wir haben ihn nur gegen jüdische Angriffe zu verteidigen. Die Juden teilen sich heute in zwei Lager: Die einen wollen Juden bleiben, die anderen wollen dies nicht. Mit diesen Juden, die ihres Judentums überdrüssig sind und nur die eine Sehnsucht haben, spurlos, unkenntlich unter ihren christlichen Volksgenossen zu verschwinden, können wir rasch fertig werden. Wir geben ihnen nämlich ohne weiteres zu, dass sie von ihrem Standpunkte aus vollständig recht haben, den Zionismus abzulehnen. Sie sind folgerichtig. Sie wollen den Tod des Judentums, sie müssen also ihren natürlichen Feind im Zionismus erkennen, der dem Judentum ein neues Leben verbürgt. Aber nachdem wir in dieser Weise ihren Standpunkt anerkannt haben, sagen wir ihnen: „Ihr habt kein Recht, in zionistischen Fragen mitzureden. Der Zionismus wendet sich nicht an euch, die ihr keine Juden bleiben wollt, sondern an diejenigen, die Juden bleiben wollen. Er ist unsere innere Angelegenheit, die euch nichts angeht. Aus der Anschauungsweise des → „homo sum, humani nihil a me alienum puto“ heraus mögt ihr euch für unsere Bewegung wie für irgendeine andere zeitgeschichtliche Erscheinung interessieren, etwa für den → norwegisch-schwedischen Verfassungsstreit oder für die → irische Home Rule, ihr mögt sie beobachten und zu verstehen suchen, ihr mögt sie studieren und kritisieren, aber immer nur als Außenstehende; euch in unsere Bewegung einzumischen steht euch nicht zu. Uns zu bekämpfen habt ihr so wenig ein sittliches Recht, wie etwa der Home Rule in tätiger Feindschaft entgegenzutreten. Uns einen Rat zu geben seid ihr so wenig berufen, wie etwa den → Storthingsparteien in Christiania euren Rat anzubieten.“ Das antworten wir jenen Juden, deren Programm kurz lautet: „Verschwinden!“ Und wir wollen ihnen auch ein Beispiel geben, um dessen Nachahmung wir bitten. Wir bekämpfen sie nicht, solange sie uns zufriedenlassen. Wir suchen sie nicht von der Falschheit und Verwerflichkeit ihrer Richtung zu überzeugen. Wir wollen ihrem Abfall vom Judentum kein Hindernis in den Weg legen. Und doch haben wir ein ungleich besseres Recht, uns mit ihnen, als sie, sich mit uns zu beschäftigen. Denn wir fühlen uns als Juden, was sie nicht tun, und uns ist darum nichts Jüdisches gleichgültig, während das bei ihnen wohl der Fall ist. Nicht als ob wir keine Meinung über ihr Programm hätten. O ja, wir haben eine Meinung darüber. Wir sind überzeugt, dass ihre Methode die → Judenfrage nicht löst. Der Einzelne, der durch die → Taufe oder in irgendeiner anderen Form das Judentum von sich schüttelt, erreicht vielleicht seinen Zweck des spurlosen Untergehens in der Menge der christlichen Volksgenossen. Ich sage: vielleicht, denn damit dies gelinge, sind eine ganze Anzahl Voraussetzungen erforderlich, die sich nicht allzu häufig vereinigt finden. Der Flüchtling aus dem Judentum darf nicht in einem kleinen Orte wohnen, wo die Nachbarschaft ihn und seine Familie seit Geschlechtsaltern kennt; denn in dieser Umgebung wird er, werden seine Nachkommen, wenigstens mehrere Menschenalter lang, immer die getauften Juden bleiben und von den → echten, vollwichtigen Ariern genau
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unterschieden werden. Er muss also entweder schon von den Eltern oder Großeltern her ein Zugvogel sein oder selbst ein Zugvogel werden, er muss ein Flüchtling nicht nur aus seinem Stamme, sondern auch aus seiner gewohnten menschlichen Umgebung werden, sonst folgt ihm der Steckbrief des Judentums auch in sein neues Dasein hinüber. Ferner muss er auf jeden persönlichen Ehrgeiz verzichten, er muss es sich streng versagen, auf irgendeinem Gebiete menschlicher, bürgerlicher Tätigkeit nach Entfaltung seiner Fähigkeiten, nach Erfolg und Ruhm zu streben. Denn tut er sich im geringsten hervor und erweckt dadurch den unvermeidlichen Neid überflügelter Mitstrebender, so kann er mit tödlicher Sicherheit darauf rechnen, dass man ihm seine jüdische Herkunft zwischen die Beine werfen und dass er darüber genauso straucheln wird, wie wenn er ein stolzer Bekenner seines Judentums geblieben wäre, vielleicht nicht mehr, aber sicherlich auch nicht weniger. Also, um nach der Methode des Verschwindens, des Untertauchens ein → Adoptivarier werden zu können, muss der einzelne judenscheue → Semite eine vollständig dunkle Persönlichkeit sein und mit eiserner Standhaftigkeit sein Leben lang auch bleiben. Er selbst kann nicht hoffen, zu seinen Lebzeiten den Vorteil einzuheimsen, den er sich von der Verleugnung seines Stammes und seiner selbst verspricht. Dieser Vorteil kommt höchstens seinen Kindern oder Kindeskindern zugute; die Methode schließt also tatsächlich sehr viel Zukunftsmusik in sich, mindestens ebenso viel wie der Zionismus, wahrscheinlich erheblich mehr als dieser. Und bemerken Sie, dass alles, was ich bisher gesagt habe, nur vom einzelnen gilt. Sowie man versucht, die Methode des Untergehens und Verschwindens im Großen anzuwenden, steht man vor einer baren Unmöglichkeit, die eigentlich gar nicht erörtert zu werden verdient. Einmal will die große Masse der Juden von ihrem Judentum durchaus nicht lassen und würde auch in dieser Zeit der Glaubenslauheit immer noch lieber Verfolgung und Tod erleiden als von ihrem Glauben, ihren Überlieferungen, ihrem eigenartigen Volkstum abfallen. Aber zweitens, selbst wenn das Unglaubliche geschähe, wenn die Juden sich → stoisch zu einem Volksselbstmord entschließen wollten, so würde ihnen diese äußerste Verzweiflungstat nichts nützen. Es würde sich herausstellen, dass sie im Ariertum unlöslich sind. Sie würden nicht mehr Juden, aber sie würden → Judenchristen sein, und der Antisemitismus würde sich gegen die als Christen verkleideten Juden genauso wenden wie jetzt gegen die Juden in ehrlicher Eigentracht. Doch wir brauchen uns gar nicht bedingt und vermutungsweise auszudrücken. Wir können uns auf greifbare geschichtliche Tatsachen berufen. Die Nachkommen der → Anhänger Sabbatai Zewis, die → vor 250 Jahren in Saloniki zum Islam übergetreten sind, bilden noch heute eine Gemeinde für sich, die von den Türken scharf geschieden ist. Die polnischen → Frankisten, die vor mehr als vier Menschenaltern Katholiken wurden, haben bis heute ihre semitische → Sonderphysiognomie bewahrt, und kein Nationalpole verwechselt sie mit → Sarmaten. Wo immer Juden in größerer Zahl sich gleichzeitig zu einem anderen Glauben bekehrten, da blieben sie eine besondere Gruppe, die inmitten ihrer neuen Glaubensgenossen so leicht und sicher kenntlich ist wie das Wasser der gro-
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ßen südamerikanischen Ströme inmitten der Wasser des atlantischen Ozeans. An den Rändern findet allmählich eine geringe Abbröckelung statt, die zur langsamen Verwischung der Scheidelinien führt. Die Mitte aber bleibt unabsehbar lang unvermischt. Erfahrungen dieser Art rechtfertigen die Behauptung, dass das Programm des Untergehens und Verschwindens unvergleichlich fabelhafter ist als das des Zionismus. Das Judenvolk auf der festen Grundlage eigenen Landbesitzes unter Bürgschaft der Großmächte zu staatlichem Dasein wiederzubeleben mag schwierig sein, ist gewiss schwierig. Das Judenvolk aber bis zur Unwahrnehmbarkeit in den europäischen Völkern aufzulösen, ist unmöglich. Das ist also unsere Antwort an diejenigen Kritiker und Gegner des Zionismus, die das Verschwinden des Judenvolkes wünschen. Wir sagen ihnen: „Erstens ist eure Lösung unvergleichlich → chimärischer als die zionistische, denn neun Zehntel der Juden wollen Juden bleiben, und selbst wenn sie aufhören wollten, Juden zu sein, würde der Antisemitismus sie hinter jeder Massenverkleidung erkennen und weiter verfolgen. Zweitens aber ist es wirklich zu freundlich von uns, dass wir uns auf eine Erörterung mit euch und auf eine Widerlegung eurer sonderbaren Ansichten einlassen. Euer Programm schließt euch aus dem Judentum aus. Der Zionismus aber ist eine innere Frage der Judenheit. Also bitte, kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten und überlassen Sie es gefälligst uns, die unsrigen selbst zu besorgen.“ Nun kommen wir zu jenen Gegnern des Zionismus, die wirklich oder angeblich die Erhaltung des Judentums wünschen. Ihre Einwände lassen sich in diese drei Sätze von abschwellender Heftigkeit zusammenfassen: Der Zionismus ist eine unausführbare → Tollheit. Der Zionismus ist eine Gefahr für das Judentum. Der Zionismus ist unnötig und das Judentum wird ohne ihn weiterbestehen, wie es achtzehn Jahrhunderte lang bestanden hat. Man hört wohl auch noch zwei andere → Einwände, die ich die mystischen nennen möchte. Es heißt in die Pläne der Vorsehung eingreifen, wenn die Juden sich zur Selbsterlösung aufraffen, statt ergeben auf das Erscheinen des verheißenen → Messias zu warten. Auf diese Kritik kann ich nicht antworten, weil sie eine Sprache spricht, die ich nicht verstehe und nicht spreche. Vielleicht finden sich Schriftgelehrte, die den salbungsvollen Frommen aus allerlei Kapiteln und Versen beweisen können, dass sie die → Verheißungen der Propheten falsch verstehen. Und wenn es nicht gelingt, sie zu überzeugen, so soll es uns auch recht sein. Denn ehrlich gesagt, diese demütig Duldenden und Hoffenden, die die Hand in den Schoß legen und warten, bis eine Faust aus den Wolken sie am Wickel nimmt und durch die Luft in das Land der Verheißung trägt, sind kein in erster Reihe wünschenswertes Element in einem Volke, das sich kräftig rühren muss, um mit entschlossener Selbsthilfe ein neues lebensfähiges Gemeinwesen aufzubauen. Der zweite mystische Einwand ist, dass die Juden die Mission haben sollen, Vorbilder und Lehrer der übrigen Völker zu sein, und dass der Zionismus sie an der Erfüllung dieser Mission verhindert, da er sie von ihren Lehrstühlen und Modelltischen inmitten der Völker abberuft. Diesen Einwand zu widerlegen, verzichte ich vollständig. Ich könnte es wirklich nicht in parlamentarischen Ausdrücken tun. Ich überlasse es
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den Antisemiten, die größenwahnsinnige Selbstüberhebung der armen Tröpfe zu verspotten, die unter dem Gelächter und den Fußtritten der Völker sich mit → Kotillonorden und Papierkronen herausputzen und dem johlenden Haufen zurufen: „Seht, ich bin euer Lehrer und Vorbild!“ Wir leiden nicht an einem derartigen → Delirium, Wir wollen in aller Bescheidenheit vor allem leben und dann uns selbst zu einem Mustervolk erziehen. Wollen die anderen Völker das wiedergeborene Judenvolk sich später zum Beispiel nehmen, so wird uns das eine große Ehre sein, die zu verdienen wir alle Anstrengungen machen werden. Aber uns den Völkern, die von uns nichts wissen wollen, als Lehrer aufzudrängen, das ist ein Gedanke, für den in unserem Kopfe kein Platz ist. Die beiden mystischen Einwände, dass der Zionismus der Vorsehung vorgreift und dass er die Mission der Juden stört, können wir also vernachlässigen. Nur die drei anderen Einwände: der Zionismus ist unausführbar, er ist eine Gefahr für das Judentum, er ist unnötig, dürfen den Anspruch erheben, dass wir uns ernst mit ihnen auseinandersetzen. Ich will nicht die Vorfrage aufwerfen, ob diejenigen, die uns diese Einwände entgegenhalten, guten Glaubens sind. Ich bin bereit, dies von allen unseren Gegnern anzunehmen. Es sei also zugegeben, dass die jüdischen Antizionisten tatsächlich Juden bleiben, das Judentum erhalten wollen, dass sie nicht im Geheimen das allmähliche Versickern des Judentums im europäischen und amerikanischen Erdreich wünschen und erhoffen und sich nur darum gegen den Zionismus auflehnen, weil er den ihrer Meinung nach im besten Zuge befindlichen Aufsaugungsvorgang unterbricht. Ich wende mich nun zu diesen gutgläubigen Gegnern und beleuchte zunächst ihren dritten Einwand, der der leidenschaftsloseste zu sein scheint und tatsächlich der wichtigste ist. Sie sagen: Das Judentum bedarf zu seinem Bestande des Zionismus nicht. Die Juden leben seit zwei Jahrtausenden in der → Zerstreuung, sie werden es auch noch weiter tun. Sie haben zwanzig Jahrhunderte lang der Verfolgung widerstanden, dies ist eine genügende Bürgschaft dafür, dass die Verfolgung ihnen auch künftig nichts anhaben wird, besonders da sie dank der höheren sittlichen Entwicklung der Völker nicht wieder die grausamen Formen wird annehmen können, die sie so häufig in der Vergangenheit hatte. Also lassen wir → Zion Zion sein, und bleiben wir getrost, wo wir sind. Die so sprechen, sind beklagenswert kurzsichtig oder schließen eigensinnig die Augen vor den sinnfälligen Tatsachen. Sie glauben, dass die Verfolgungen künftig nicht mehr dieselben grausamen Formen annehmen werden wie in der Vergangenheit? Ich würde Ihnen nicht raten, darauf allzu sehr zu bauen. Ich komme aus einer Stadt, wo vor wenigen Wochen der Schrei: → „Tod den Juden!“ durch die Straßen hallte. „Ein bloßer Schrei“, sagen Sie? In → Algier wurde ein Jude tatsächlich auf offener Straße bei hellem Tage niedergemetzelt, der arme → Dr. Schebat, den einige meiner Freunde persönlich gekannt haben. Einige tausend friedliche Bürger standen dabei und sahen lächelnd zu, wie eine Mörderrotte den wehrlosen Mann unter Martern tötete. „Was geht uns das an, was im fernen Algier oder selbst im näheren
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Paris geschieht!“ Wiegen Sie sich nicht in Sicherheit. Das Beispiel, das ein großes Volk gibt, wird leicht von anderen Völkern nachgeahmt, und politische Grenzen haben nie als Schutzwehr gegen das Eindringen von Seuchen gewirkt. Auf der Reise hierher fuhr ich eine Strecke weit mit einem jüdischen Herrn zusammen, der mich und meine Bestrebungen kannte. Er meinte lächelnd: „Sie werden in Berlin mit ihrem Zionismus keine Gegenliebe finden. Sie kommen um einige Jahre zu spät. Eine lange Zeit war es für die Juden auch bei uns ungemütlich genug. Aber es ist sehr viel besser geworden. Der Antisemitismus hat stark abgenommen, und wir fühlen ihn in Deutschland kaum mehr.“ Sehr richtig. Der Antisemitismus hat stark abgenommen. Ruhig, methodisch, höflich, doch unwiderstehlich haben Regierung und Gesellschaft den Juden auf den Platz zurückgestellt, der ihm nach ihrer Auffassung gebührt, und nun haben sie keinen Grund mehr, sich gegen ihn zu ereifern. Die anständigen und vernünftigen Leute haben in einem wohlgeordneten, kräftig regierten, hochgesitteten Rechtsstaate wie Deutschland niemals gewollt, dass die Juden beraubt und totgeschlagen werden. Man gönnt ihnen gerne das bisschen Leben, wenn sie sich demütig in ihrer Ecke halten wollen, und hat nichts dagegen, dass sie sich im Handel mit alten Hosen sogar Wohlstand erwerben. Als den Juden die Gleichberechtigung wie süßer Wein zu Kopfe gestiegen war, da hatten sie in trunkenem Übermute die unzulässigsten Ansprüche erhoben. Drängten sie sich nicht in die Wissenschaft, die Dichtung, die Kunst ein? Legten sie nicht die Hand auf die Universitäten, die Presse, die Theater? Forderten sie nicht Richter- und Beamtenstellen? Verstiegen sie sich nicht bis zur unglaublichen Vermessenheit, Offiziere werden zu wollen? Solcher Anmaßung musste mit allem Nachdruck entgegengetreten werden. Eine kurze, aber scharfe Anstrengung und die gute Ordnung war wiederhergestellt. Die Juden erwachten aus ihrem Rausche zur gewohnten löblichen Nüchternheit und überwanden selbst das bisschen Kater bald, das sie noch eine kleine Weile belästigte. Sie verlangten nicht mehr, was ihnen nicht gebührt. Sie sahen ein, dass ein Jude auf ein → Portepee, eine → Richterrobe, einen → Geheimratsfrack keinen Anspruch habe. Sie versuchten nicht mehr, in → Freimaurerlogen, in → Verbindungen, in → Vereine einzudringen, wo christliche Deutsche unter sich sein wollen, und waren schon dankbar, wenn arische Gönner einem → Konzessions-Moses gestatteten, in gemeinnützigen Gesellschaften als Schatzmeister zu figurieren. Und als auf diese Weise jeder seinen richtigen Platz wiedergefunden hatte, nahm der Antisemitismus in der Tat sehr rasch ab. Ein bekannter Vers im → „Cid“ von Corneille sagt: → „Et le combat cessait faute de combattants“, → „Der Kampf hörte auf, da es keine Kämpfer mehr gab.“ Da die Juden gelehrig in ihr → Ghetto zurückkehrten, brauchte das christliche Gemeinwesen sich über sie nicht länger aufzuregen. Wenn die Juden sich bescheiden, Staatsbürger zweiter Klasse – nein, das ist ein wenig zu viel: dritter oder vierter Klasse – zu sein, dann vermindert sich der Antisemitismus, weil er gegenstandslos wird. Dann können sie auf ein allseitiges Wohlwollen rechnen, das freilich mit etwas Verach-
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tung gemischt ist – aber du lieber Himmel! Diese Erde ist nun einmal ein Jammertal, und der Verständige weiß sich damit abzufinden. Doch ich will nicht spotten, denn es ist mir im Grunde gar nicht so ums Herz. Ich bin betrübt über die Verblendung der Juden, die sich über die Übel der Gegenwart damit trösten, dass der Antisemitismus eine Tagesmode ist und bald vorübergehen wird. Geben Sie diese Hoffnung auf: In absehbarer Zeit wird der Antisemitismus nicht verschwinden. Er ist zu tief in der Menschenseele gegründet. Er hängt zu innig mit einigen der ursprünglichsten Eigentümlichkeiten des menschlichen Denkens und Fühlens zusammen. Wir alle, Juden wie Christen, Wilde wie Gesittungsmenschen, empfinden feindlich, was in Wesen und Gewohnheiten von uns abweicht. Es genügt, dass jemand anders sei wie wir, um uns unangenehm zu sein. Sind die von uns verschiedenen eine verschwindend kleine schwache Minderheit, so fühlen wir uns nicht gezwungen, unsere Abneigung zu unterdrücken oder auch nur zu verschleiern, und ihre Ungehemmtheit begünstigt ihre Entwicklung. Zu diesem allgemein menschlichen Grunde der Feindseligkeit jeder Mehrheit gegen jede in ihrer Mitte lebende Minderheit, die durch besondere Züge kenntlich ist, tritt in unserem Falle ein Überbleibsel von altem → Glaubenshass gegen die Gottesmörder und ein Nachhall → abergläubischer Fabeln des Mittelalters von allerlei jüdischen Untaten hinzu. Die Abneigung gegen die abweichende Minderheit bezeichnet diese mit psychologischer Gesetzmäßigkeit als die Prügelknaben und Sündenböcke für alle Missgeschicke der Mehrheit. Wenn die stammes- und glaubenseinheitlichen Völker des Altertums von irgendeinem Ungemach heimgesucht wurden, wofür sie keine ausreichende Erklärung in eigenem Verschulden fanden oder finden wollten, so vermuteten sie, dass die Stammesgötter ihnen zürnten, und suchten sie zu versöhnen. In allen Fällen, wo diese Völker die Schuld an ihren Leiden den Göttern beimaßen, da machen moderne, aufgeklärte Völker die unter ihnen wohnenden Juden für sie verantwortlich. Es ist derselbe Aberglaube, nur zeitgemäß umgestaltet. Und das wird nicht anders werden, solange die Menschennatur sich nicht geändert haben wird. Wie lange das dauern wird, weiß ich nicht zu sagen, jedenfalls viel zu lange, als dass das Judentum es abwarten könnte. Denn das ist das Wesentlichste, worauf ich hinauskommen wollte. Das Judentum kann nicht warten, bis der Antisemitismus versiegt ist und in seinem ausgetrockneten Bette eine üppige Saat von Nächstenliebe und Gerechtigkeit emporsprießt. Stellen Sie keine → Regeldetri-Berechnung an, in der Sie aus den zwei Jahrtausenden der jüdischen Leidensvergangenheit eine Zahl für das X der jüdischen Leidenszukunft gewinnen wollen. Die Verhältnisse sind nicht mehr dieselben wie in der Vergangenheit, die Rechnung würde deshalb nicht stimmen. Der gebildete und selbstbewusste Jude des Westens fühlt sich als einen Vollmenschen und will als solcher von aller Welt anerkannt sein. Er hat nicht mehr den undurchdringlichen Glaubenspanzer, der früher, wenn nicht seinen Leib, doch seine Seele gegen Bosheit und Herabsetzung schützte. Seiner gesteigerten Empfindlichkeit sind Verfolgung und Beschimpfung unleidlich geworden. Blicken Sie doch um sich! Wie können Sie
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die Zeichen der Zeit verkennen, wenn Sie nicht mit Blindheit geschlagen sind? Im Herbst 1896 wurde ich von der Berliner „Allgemeinen Israelitischen Wochenschrift“ aufgefordert, meine Meinung über die Zukunft des Judentums abzugeben. Ich schrieb dem Blatte: → „Das Judentum erleidet gegenwärtig einen Vorgang, der einer Verdampfung des Geistes und Eindickung des Charakters gleichkommt. Die Klugen. die Geistvollen, die Begabten unter den Juden, die aber nur diese Geistesfähigkeiten und nicht auch entsprechende Charaktereigenschaften besitzen, wenden ihrem Stamme den Rücken; nur die bleiben zurück, die entweder zu stumpf sind, um die Verfolgung und Beschimpfung schmerzlich wahrzunehmen, oder die charakterfest bis zur Hartnäckigkeit sind und der heftigeren Feindschaft stärkeren Trotz entgegensetzen. Wenn diese doppelte Auslese noch ein oder zwei Menschenalter dauert, so wird das dann übrig bleibende Judentum voraussichtlich eine Sammlung geistig wenig bedeutender, vielleicht geradezu beschränkter, aber unbeugsam eigensinniger, jeder äußeren Einwirkung unzulänglicher Menschen sein, und ob solche Wesen noch das Maß von Anpassungsfähigkeit besitzen, das zur Selbsterhaltung inmitten zahlreicher und stärkerer Gegner unentbehrlich ist, das scheint mir fraglich.“ Im Oktober 1896, als ich dies schrieb, war ich noch nicht Zionist. Ich wusste nichts von der Sache und kannte nicht einmal das Wort. Ich war sehr positiv in meiner Prognose, doch sehr unsicher in der Therapie. Heute bin ich auch über die Behandlung nicht im Zweifel. Der Abfall des gebildeten westlichen Judentums ist nicht zu verhindern, wenn es weiter den Angriffen des Antisemitismus ausgesetzt bleibt, der, ich wiederhole es, keine vorübergehende Erscheinung ist. Wer die gebildeten Juden dem Judentume erhalten will, der muss ihnen die Möglichkeit eröffnen, als Juden sich frei zu entwickeln, sich voll auszuleben, sich von allgemeiner Achtung und Liebe umgeben und getragen zu fühlen, jeden berechtigten Ehrgeiz zu befriedigen, und diese Bedingungen kann ihnen einzig ein eigenes jüdisches Gemeinwesen gewähren. Ich habe jetzt bloß den Fall der gebildeten Juden des Westens, Ihren Fall im Auge gehabt. Ich sage es Ihnen ruhig ins Gesicht: Ihr alter Judentrotz ist vermorscht und wird dem nie abrüstenden Antisemitismus nicht mehr lange standhalten. Und Sie haben doch nur unter einem seelischen Unbehagen zu leiden, das derbere Naturen gar nicht empfinden. Der deutsche Antisemitismus unternimmt nichts gegen die Leiber. Seinetwegen mag der Jude sich ruhig den Bauch mit → Schalet und selbst mit Trüffeln vollschlagen, und wer aus dem Stoffe geknetet ist, dem köstliche Mahlzeiten ein ausreichender Lebenszweck sind, der kann sich unter dieser Form des Antisemitismus ganz wohl befinden. Aber im europäischen Osten handelt es sich um das leibliche Dasein der Juden. Dort verlangen die Juden keine Ehrenrechte, sondern mindestens eine Mahlzeit von trockenem Brote täglich. Dort ist der Antisemitismus keine pseudowissenschaftliche Theorie, die die geistige und sittliche Minderwertigkeit einer Rasse zur größeren Ehre einer anderen Rasse beweisen will, sondern eine harte Waffe in der Hand der Staatsgewalt, mit der diese erbarmungslos an der Ausrottung der Juden arbeitet. Solange die Völker des Ostens ein schwach orga-
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nisierter loser Menschenhaufe waren, konnte das Judentum trotz ihrer Feindseligkeit sich unter ihnen behaupten. In dem Maße, wie die Völker zu höherer Gesittung erzogen werden, wird ihre Feindseligkeit wirksamer. Ihr sich festigendes Gefüge zermalmt und stößt aus, was sie nur widerwillig unter sich dulden. Die Juden des Ostens kommen in den Ketten der sie umschnürenden Gesetze buchstäblich um, wenn ihnen nicht schleunigst geholfen wird. Sie leiden Hunger und Kälte, sie → vertieren in Obdachlosigkeit, Nacktheit und Nahrungsmangel, ihre Kinder sterben als Säuglinge oder erwachsen zu → rhachitischen Zwergen, der ganze Stamm ist zu Krankheit, Unwissenheit, Laster und Wahnsinn verurteilt und seine vollständige Zerstörung nur eine Frage weniger Menschenalter. Wie wollen Sie diesen Unglücklichen helfen? Hoffen Sie etwa auf die Abschaffung der Gesetze oder Sitten, unter denen die Juden in den östlichen Ländern zugrunde gehen? Eine solche Hoffnung hat nicht die geringste vernünftige Berechtigung. Es mag ja sehr schwierig sein, sechs Millionen Juden in → Palästina, dem Hauran und Syrien mit Selbstverwaltung und staatlichen Rechten anzusiedeln, aber tausendmal schwieriger wäre es, von der russischen und rumänischen Regierung die Aufhebung ihrer Judengesetze zu erlangen. Ich will gar nicht an die Möglichkeit glauben, dass mir ein nichtzionistischer Jude etwa entgegenhält: „Die russischen und rumänischen Juden sind nicht unsere Sorge. Wir haben nichts mit ihnen gemein.“ Das wäre nicht nur eine himmelschreiende Unmenschlichkeit und ein ruchloser Verrat an allen natürlichen und geschichtlichen Pflichten, es wäre auch vor allen Dingen eine klägliche Torheit. Denn wir mögen tun, was wir wollen, in den Augen unserer Feinde ist das Judentum der ganzen Welt eins. Wir mögen noch so grimmig den letzten Rest von jüdischem Zusammengehörigkeitsgefühl aus dem Herzen reißen, die Feinde schmieden um uns alle eine eiserne Klammer von Solidarität, die wir nicht zerbrechen können. Das gesamte Judentum wird immer nur so stark sein wie sein schwächster Punkt, und den Maßstab, mit dem man es misst, wird immer der niedrigststehende Jude liefern. Sie können den → Kaftanjuden nicht von den Schößen Ihres feinen Fracks abschütteln! Ihre Anstrengungen zu diesem Zwecke machen Sie in den Augen der Nichtjuden nur lächerlich und verächtlich. Die Verachtung, die der hündisch kriechende Bettler in schmierigem Kaftan und mit den → fettigen Schläfenringeln einflößt, fällt auf uns alle zurück. Der reisende Antisemit, der auf die Lumpen unseres → vogelfreien, unglücklichen Bruders im Osten gefahr- und straflos spucken darf, denkt bei dieser Beschimpfung an den jüdischen Baron, Geheimrat und Professor seiner Heimat, dem er wegen seines staatlichen Titels und Ranges äußere Achtung bezeigen muss, und jeder Fußtritt, der seine Dreckspur auf dem Kaftan zurücklässt, schließt eine Absicht in sich, die sittlich auch die Amtsrobe des jüdischen Richters und Hochschullehrers und die Seidenrobe der jüdischen Baronin trifft. Wenn also nicht aus Brüderlichkeit, müssen wir schon im wohlverstandenen eigenen Interesse das Mögliche tun, um den verkommenden oder bereits verkommenen Juden des Ostens auf eine höhere wirtschaftliche, sittliche und geistige Stufe zu heben.
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Das ist meine Antwort auf den Einwand, dass das Judentum zu seinem Bestande des Zionismus nicht bedarf. Die höher gebildeten Juden des Westens wollen nicht länger verachtet sein und werden abfallen; diejenigen, die gegen Verachtung unempfindlich sind, werden in einen abstoßenden Materialismus versinken und die Verachtung wirklich verdienen; die Juden des Ostens aber werden mit Leib und Seele untergehen. In einer neblicht fernen Zukunft wird ja freilich auch der Antisemitismus aufhören. Aber wenn das Judentum bis dahin dem Hass und der Verachtung ausgeliefert bleiben soll, so wird → das goldene Zeitalter des reinen Menschentums und der allgemeinen Brüderlichkeit keine Juden mehr vorfinden, die sich seines Sonnenscheins erfreuen könnten. Nun zum zweiten Einwand gegen den Zionismus. Er könnte den nichtzionistischen Juden schaden. Dieser Einwand geht aus einer derartig naiv-unverschämten Selbstsucht hervor, dass man Mühe hat, ihn mit Gleichmut zu erörtern. Er läuft darauf hinaus, dass etwa eine Fünftel-Minderheit von behäbigen und satten Juden der Vierfünftel-Mehrheit von verzweifelten und zu äußersten Taten der Selbsthilfe entschlossenen Juden sagt: „Wie könnt ihr es wagen, durch eure wilde Anrufung Zions unsere Verdauung zu stören? Warum verwürgt ihr eure Leiden nicht? Warum verhungert ihr nicht stumm? Seht ihr nicht, dass ihr den bösen Antisemiten, die allein noch unser Behagen ein wenig trüben, ein Argument gegen uns liefert, die wir doch von Zion nichts wissen wollen?“ Eine Minderheit, die zu einer ungeheuren Mehrheit so spricht, hat eigentlich jeden Anspruch auf Rücksicht verwirkt und würde verdienen, dass man ihr antwortete: „Ihr opfert uns leichten Herzens und hofft doch, dass wir auf euch Rücksicht nehmen? Wenn der Zionismus nichts anderes täte, als unter eurem wohlgepolsterten Armstuhle ein Feuerchen anzuzünden, so wäre das allein schon eine genügende Rechtfertigung für ihn.“ Diese Antwort wäre verdient, aber wir geben sie nicht. Denn anders als die nichtzionistischen Juden sind wir keine Antisemiten und freuen uns nicht, wenn irgendeinem Juden, und wäre er ein noch so schlechter, etwas Böses widerfährt. Ich habe vorhin das Wort „naiv“ ausgesprochen. In der Tat, ich glaube, dass diejenigen, die den Einwand der Gefahr erheben, sich der Bedeutung ihres Standpunktes gar nicht bewusst sind und nicht aus eiskalter Rücksichtslosigkeit gegen die anderen, sondern aus reiner Gedankenlosigkeit auf ihr Argument verfallen sind. Das gestattet uns, auch über diesen Punkt uns mit ihnen ruhig und freundlich auszusprechen. Die Gefährlichkeit des Zionismus soll darin bestehen, dass er den Vorwurf zu rechtfertigen scheine, die Juden hätten keine Vaterlandsliebe. Wer soll diesen Vorwurf erheben? Die Antisemiten? Die haben nicht auf den Zionismus gewartet, um uns in jedem Lande für → vaterlandslose Fremdlinge zu erklären, und die werden immer bei ihrer Behauptung bleiben, auch wenn Sie mit noch so edler Entrüstung den Zionismus von sich weisen. Es gibt keine aussichtslosere Politik, als so handeln zu wollen, dass man dem Feinde gefällt. Diese unwürdig ängstliche Politik ist nicht die unsrige. Wir sagen: Tue recht und scheue niemand. Wir haben nicht den Ehrgeiz, die Antisemiten durch Demut und Unterwürfigkeit zu entwaffnen. Sie sollen
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weiter schimpfen. Das darf und wird uns niemals hindern, alles zu tun, was uns für das Wohl der Juden zuträglich scheint. Was die Antisemiten dazu sagen, ob sie es zum Vorwand neuer Beschimpfungen und Verleumdungen nehmen, das ist uns vollkommen gleich. Bleiben die christlichen Landsleute, die nicht unsere unversöhnlichen Feinde und die guten Glaubens sind. Dass diese uns wegen des Zionismus die Vaterlandsliebe absprechen werden, ist nicht zu erwarten. Wem sollen sie denn diesen Vorwurf machen? Den Juden, die nach Zion gehen? Diese Juden behaupten nicht, in ihrem Geburtsorte ein Vaterland gefunden zu haben. Sie heucheln nicht. Sie bekennen sich offen zu ihren Gefühlen. Sie wollen Bürger Palästinas sein und ihre echte, glühende Vaterlandsliebe hat das heilige Land ihrer Vorfahren zum Gegenstande. Oder wird man den Vorwurf den Juden machen, die in ihrem Geburtslande bleiben? Diese beweisen ja ihre Anhänglichkeit an das Geburtsland dadurch, dass sie bleiben. Sie haben zwischen Zion und ihrem Heimatslande zu wählen und sie entscheiden sich für ihr Heimatsland. Genügt das nicht, um sie gegen hämische Missdeutungen sicherzustellen, wenn sie jenen Juden, die sich für Zion entscheiden, brüderlich die helfende Hand reichen, um ihnen den Abzug aus dem Geburtslande und die Niederlassung in Palästina zu erleichtern? Lassen Sie uns einmal diesem Vorwurf der Vaterlandslosigkeit ins Gesicht leuchten, ehrlich und offen, wie es Männern geziemt, die vor einem großen Vorhaben stehen. Im Munde derjenigen, die uns diesen Vorwurf machen, ist er ein besonders grausamer Hohn. Sind denn wir es, die uns in unserer Heimat als Fremde bezeichnen? Sind nicht sie es? Waren wir nicht jahrhundertelang bereit, zwischen unseren Landsleuten und uns nur einen religiösen, keinen nationalen Unterschied gelten zu lassen, und waren nicht sie es, die uns bis zum heutigen Tage in jeder amtlichen Statistik nicht als Religionsgemeinschaft, sondern als besondere Nationalität, als besondere Nation anführten? Haben wir uns von allen Ehrenrechten des Vollbürgers ausgeschlossen oder haben sie es getan? Viele von uns sind Zionisten geworden, weil unsere Landsleute uns erklärt haben, dass sie uns nicht als Landsleute anerkennen. Es wäre die äußerste Treulosigkeit, wenn sie nun den Spieß umdrehen und sagen würden: „Wir erkennen euch nicht als Landsleute an, weil ihr Zionisten seid.“ Ich verschmähe es, denen, die uns Mangel an Vaterlandsliebe vorwerfen, die banale Antwort entgegenzusetzen: Wir erfüllen alle unsere staatsbürgerlichen Pflichten wie unsere christlichen Landsleute; wir entrichten unsere → Geld- und Blutsteuer wie sie. Das ist wirklich ein schwacher Beweisgrund. Bloße Pflichterfüllung leuchtet nicht in Gemütstiefen hinab. Sie kann erzwungen werden. Ihr entzieht sich auch der Fremde nicht, der nur zum Zwecke des Gewerbes ohne jede Gefühlsbeziehung in einem Lande wohnt. Das Verhältnis des Juden zu seinem Geburtslande ist, seinem Temperament entsprechend, innig bis zur Leidenschaftlichkeit. Die Vaterlandsliebe ist bei ihm heftiger als bei anderen, ruhigeren Naturen. Es gibt keine Misshandlung, die sie ihm aus dem Herzen reißen könnte. Als Spanien seine Juden unter Gräueln verjagte, die in der Geschichte ohne Vorbild sind, da weinten die Ver-
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triebenen um ihre sonnige Heimat ebenso sehr wie um ihre niedergemetzelten Kinder und Eltern und mehr als um die ihnen geraubte Habe. Und noch heute, vier Jahrhunderte später, pflegen die Nachkommen jener Hinausgestoßenen ihre spanische Muttersprache als ein teures Vermächtnis des verlorenen Vaterlandes. Von einer ganz einzigen Innigkeit ist das Gemütsverhältnis des deutschen Juden zu seinem Vaterlande. Nirgendwo hat er sich alle köstlichen Adelseigenschaften seiner christlichen Landsleute so vollständig zu eigen gemacht wie hier. Er ist mit der deutschen Sprache so zusammengewachsen, dass sie ein Stück seines geistigen Organismus geworden ist. Wenn dem deutschen Reisenden tausende Meilen von der Heimat, in der unwahrscheinlichsten asiatischen Barbarei, in → Kamtschatka, am Fuße der chinesischen Mauer, in → Chiwa oder Bochara, plötzlich deutsche Laute entgegenklingen, so ist es neun- unter zehnmal aus dem Munde eines dorthin verschlagenen polnischen oder russischen Juden. Diese Laute sind entstellt und anstößig fehlerhaft, es ist ein Deutsch, das auf seiner mittelalterlichen Entwicklungsstufe stehen geblieben ist und seitdem durch hebräische und slawische Eindringlinge verunstaltet wurde. Aber es ist immer noch Deutsch, das Deutsch, das die im 14. Jahrhundert aus ihrem Vaterlande verbannten Juden in das sich ihnen gastlich öffnende → Reich Kasimirs des Großen mitgenommen und bis zum heutigen Tage, fast sechs Jahrhunderte lang, treu bewahrt haben. An den Großtaten des deutschen Schwertes teilzunehmen war den Juden bis zum Beginn dieses Jahrhunderts meist versagt. Aber an der deutschen Gesittung haben sie redlich mitgearbeitet, weit über ihr Pflichtteil hinaus. Wenn man das herrlich strahlende Licht des deutschen Geistes → spektralanalytisch untersucht, so findet man in jedem Teil des Spektrums die jüdischen Linien, im Rot der Politik wie im Grün des Gewerbefleißes, im Purpur der Kunst wie im Violett der Wissenschaft. Von jenem mittelalterlichen jüdischen Minnesänger → Süßkind, dessen Lieder uns die → Manesse'sche Handschrift zum Teil bewahrt hat, bis zu Heinrich Heine und zu späteren, heute wirkenden Talenten haben die Juden nicht aufgehört, auf jeder Seite der Geschichte deutscher Dichtung zu glänzen, und nennt man die Namen deutscher Dichter und Schriftsteller, solcher, die dem deutschen Schrifttum die größte Ehre gemacht haben und noch machen, so werden auch jüdische Namen genannt. Der → Jude Jacoby hat den Anstoß zur verfassungmäßigen Entwicklung Preußens gegeben. Die Juden → Simson und Rießer haben am → ersten deutschen Parlament in der Paulskirche leitend mitgewirkt. Der Jude Simson hat die Abordnung des → Norddeutschen Reichstages zum → ersten Deutschen Kaiser aus dem Hause Hohenzollern geführt. Der Jude → Lasker war beim Ausbau des neuen Deutschen Reiches in erster Reihe tätig, von vielen anderen, kaum minder verdienstvollen Juden nicht zu sprechen. Dem deutschen Juden ist Germania die angebetete Mutter. Er weiß, dass er das → Aschenbrödel unter ihren Kindern ist, aber er ist doch auch ihr Kind; er gehört doch auch zur Familie; er hat immer in der Küche gesessen, aber doch unter dem gemeinsamen Obdach; und bei den großen Familienereignissen, an den Tagen des großen Kummers und der großen Freude, vergaß man den harten Brauch,
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der ihn für gewöhnlich in die Küche bannte, und er fand sich in der guten Stube, bei der Mutter, mit den bevorzugten Geschwistern, mit ihnen zu jubeln, mit ihnen zu weinen, eine gottgesegnete Stunde lang, die er dann auf seinem Schemel beim Herde nie wieder vergaß. Wenn der Sammelruf an die Juden ergehen wird, nach Zion zu wandern, so werden sich in der Seele deutscher Zionisten erschütternde Tragödien abspielen. Vielen, und wahrlich nicht den schlechtesten, wird es unmöglich sein, sich für das eine oder das andere Dasein zu entscheiden. Es wird ein Riss durch ihr Herz gehen und sie werden sich an der geheimen Wunde still verbluten. Ihr Schmerz im Augenblicke der Wahl wird das Maß ihrer Liebe zum deutschen Vaterlande geben. Auch die sich werden losreißen können, werden in Palästina bis zu den fernsten Kindeskindern an Deutschland denken wie an eine verlorene Jugendgeliebte. Die → Nibelungenstadt Worms, → Straßburg, die wunderschöne Stadt, werden von Sehnsuchtspoesie umdämmert in ihren Sagen und Liedern leben. Sie werden sich erinnern, dass in der Erde dieser und mancher anderen für sie heiligen Städte die Asche ihrer verbrannten Vorfahren ruht; den Verfolgern und Peinigern werden sie im neuen Dasein der Freiheit längst verziehen haben und nur noch mit stolzer Rührung der Ahnen gedenken, die so heldenmütig zu sterben wussten. Viele deutsche Juden endlich, auch gute Juden, werden sich von der Heimat überhaupt nicht losreißen können und werden bleiben. Sie sollen auch bleiben. Der Zionismus erwartet und verlangt gar nicht, dass alle Juden beider Welten nach Palästina zurückkehren. Er soll das Heil sein für diejenigen, die leiden und um Hilfe rufen. Die sich wohlfühlen, sollen an ihren Verhältnissen nichts ändern. Wir wollen nur, dass sie sich noch besser fühlen. Das werden sie, wenn ein jüdisches Gemeinwesen in Palästina entsteht und gedeiht. Es wird eine Stärke dieses Gemeinwesens sein, dass es zu dem zurückbleibenden Judentum in beiden Welten innige Beziehungen unterhalten wird, noch innigere als Rom zu den Katholiken aller Länder, dass es gleichsam mit einem höchst entwickelten Nervengeflecht die ganze Erde umspannen und in seinem Gehirn zu Zion jede leise Gedankenströmung, jede Gefühlsbewegung der gesitteten Menschheit sofort wahrnehmen wird. Und umgekehrt wird dieses jüdische Gemeinwesen in Palästina jeden Juden der Welt in seiner Stellung und seinem Werte inmitten seiner Landsleute erhöhen. Sie sind mit Recht stolz → auf den Engländer Disraeli, die Italiener → Luzzatti und → Ottolenghi, den Franzosen → Crémieux. Sie werfen sich in die Brust, wenn diese Generale, diese Minister genannt werden. Nun denn: Das Mittel, viele Crémieux, viele Ottolenghis und Luzzattis, viele Disraelis zu haben, ist die Schaffung eines jüdischen Gemeinwesens. Wir Zionisten haben die Zuversicht, dass die nach Palästina zurückkehrenden Juden den in ihrem Vaterlande bleibenden Juden Ehre machen werden. Wie wir alle uns heute schämen müssen, wenn man uns den versklavten Juden des Ostens vorrückt, so werden sie alle den Kopf höher tragen dürfen, wenn das neue Zionsland die Welt zur Achtung vor jüdischer Tüchtigkeit gezwungen haben wird. Weit entfernt, eine Gefahr für das Judentum zu sein, bedeutet der Zionismus die einzige Rettung für die Juden, die ohne ihn verkommen würden, und eine Rangerhöhung für die Juden, die
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einer Rettung nicht zu bedürfen glauben. Und wer den → Peterspfennig nicht als eine Verleugnung der Vaterlandsliebe → denunziert, der wird folgerichtig auch den Juden nicht der Vaterlandslosigkeit beschuldigen können, wenn er, ohne selbst die Heimat aufzugeben, den Brüdern, die ein neues Dasein träumen, bei der Verwirklichung ihres Traumes hilft. Bleibt der letzte Einwand: Der Zionismus ist ein unausführbares Hirngespinst. Darauf sei nur ganz kurz geantwortet. Solange ein Plan erst auf dem Papier steht, können seine Gegner immer behaupten, er sei unausführbar. Mit bloßen Worten kann man sie niemals zwingen, die Segel zu streichen. Das einzige Mittel, ihnen kategorisch zu beweisen, dass sie sich irren, ist die Verwirklichung des Planes. Diesen Beweis hoffen wir führen zu können. Worauf wir unsere Hoffnung stützen? Auf die Überzeugung, dass alle Voraussetzungen der Kritiker, die den Zionismus ein Hirngespinst nennen, falsch sind. „Es gibt kein jüdisches Volk!“, sagte man uns. In Basel waren → 204 Männer aus allen Teilen der Welt versammelt, die sich begeistert als Glieder, als Vertreter eines einzigen Volkes bekannten. „Die Juden wollen gar nicht nach Palästina zurückkehren!“ Diese 204 Juden in Basel versicherten, dass hinter ihnen mehrere hunderttausend Juden stehen, die schon heute bereit sind, auf den ersten Wink ihre Lenden zu gürten und gen Zion zu wandern. „Die Juden sind ein Krämervolk geworden und werden nie wieder den Pflug führen lernen!“ Alle Juden, die in den → Ackerbaukolonien Palästinas angesiedelt wurden, haben sich unter den ungünstigsten Verhältnissen als unvergleichlich zähe, fleißige und geschickte Pflüger der Scholle bewährt. „Palästina kann die Juden gar nicht aufnehmen!“ Palästina – mit den angrenzenden Provinzen – bietet reichlichen Raum für 12 bis 15 Millionen Einwohner, die neben Ackerbau auch Gewerbe treiben und einem zu entwickelnden Durchgangsverkehr und Welthandel dienen wollen. „Palästina ist ja nicht unbewohnt und die Bevölkerung wird sich nicht verdrängen lassen wollen!“ Wir wollen niemand verdrängen und wir haben schon jetzt Beweise, dass die sechsmalhunderttausend Araber, die heute im heiligen Lande hausen, mit den einziehenden Juden gute Nachbarschaft halten werden. „Die Sprachenfrage wird ein unüberwindliches Hindernis bilden!“ Für Leute, die bloß mit ihrem → Jargon ausgerüstet nach London kommen und in drei Monaten leidlich, in zwei Jahren wie Eingeborene Englisch sprechen, die in → Argentinien landen und nach einem halben Jahre mit den → Gauchos fließend Spanisch plaudern, gibt es eine Sprachschwierigkeit einfach nicht. „Die Mächte werden niemals einwilligen, dass Palästina jüdisch werde!“ Welche Mächte? Die Türkei? Sie ist bereit, die Juden aufzunehmen, wenn ihr dafür Vorteile geboten werden. Die anderen Mächte? Diejenigen, die sich mit der Judenfrage quälen, heißen jede Lösung der Schwierigkeit willkommen und die zionistische am meisten, weil sie die gründlichste ist. „Die Christenheit wird den Juden niemals die Hut der heiligen Stätten überlassen!“ Das verlangen wir auch gar nicht. Es soll vorläufig alles bleiben, wie es ist. Solange die christlichen Mächte uns der Ehre nicht würdig glauben, die Wache am heiligen Grabe zu beziehen, möge am Eingange der Grabkirche weiter der türkische Posten sein Gewehr schultern. Aber die
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Christenheit wird bald erkennen, dass wir auf ihr Vertrauen mindestens ebenso viel Anspruch haben wie der Islam, und sie wird es uns nicht vorenthalten. Diejenigen, die die Schwierigkeiten des Zionismus für unüberwindlich halten, leiden an Gespensterfurcht. Die Sache ist, zwar nicht ausschließlich, doch wesentlich, eine Geldfrage. Sie sagen: „Der Zionismus ist unausführbar, darum halten wir uns von ihm ferne.“ Ich antworte ihnen: „Sie halten sich vom Zionismus fern, darum ist er unausführbar.“ Wenn die wohlhabenden, die reichen Juden den armen, die die ersten Bürger des jüdischen Gemeinwesens in Zion werden wollen, mit Geld – nicht mit Almosen! nur mit einem wohlgesicherten, anständig verzinsten Darlehen – zu Hilfe kommen wollten, so wäre Zion in kürzester Zeit kein Dichterwort, sondern eine politische Wirklichkeit. Die Gelegenheit, mit ihrem Gelde an der Verwirklichung des zionistischen Gedankens mitzuarbeiten, wird Ihnen geboten werden, wenn der Aufruf an Sie ergeht, für die → jüdische Kolonialbank Beiträge zu zeichnen. Und nun fasse ich meine allzu lange Beweisführung ganz kurz zusammen. Den Zionismus abzulehnen haben nur diejenigen Juden ein Recht, die das Verschwinden des Judentums wollen. Aber diese Gegner dürfen anständigerweise in der Sache nicht mitreden, da der Zionismus nicht ihre Angelegenheit ist, sondern die Angelegenheit der Juden, die die Erhaltung des Judentums wünschen. Die Erhaltung des Judentums ist bei der Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes unmöglich. Die gebildeten Juden werden abfallen, die ungebildeten verkommen, wenn ihnen keine besseren sittlichen und wirtschaftlichen Daseinsbedingungen geschaffen werden. Der Zionismus ist für viele Juden das Heil, für keinen Juden eine Gefahr. Die Unausführbarkeit des Zionismus ist eine Fabel von Kleinmütigen, die sich kein Haus vorstellen können, solange es nicht ganz fertig gebaut, ja sogar trocken gewohnt ist. Und mein letztes Wort ist: Das Judentum wird zionistisch sein oder es wird nicht sein! Quelle: ZS1, S. 188–214, dort mit dem Hinweis: Ein Vortrag (Berlin, 26. April 1898.). Ferner in: Die Welt, 13.5.1898, H. 19, S. 1–3 und 20.5.1898, H. 20, S. 1–5.
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11 → II. Kongressrede Geehrte Versammlung! Wieder ist mir die Aufgabe geworden, eine zusammenfassende Darstellung der allgemeinen Lage des jüdischen Volkes zu geben. Es ist eine undankbare Aufgabe, denn sie verurteilt mich zu Wiederholungen. Ich habe heute nichts wesentlich anderes zu sagen als im vergangenen Jahre. Es ist nirgendwo besser und es ist an manchen Stellen schlimmer geworden. In Russland hat sich kaum etwas geändert. Die Wirkungen des → Gesetzes, das die Juden aus dem Schankwirtsgewerbe ausschließt, machen sich stärker geltend. Der → Zugang zu den höheren Bildungsanstalten wurde den Juden noch mehr verengt und erschwert. → Einer der höchsten Würdenträger des Reiches hatte eine berühmt gewordene Unterredung mit der Abordnung einer jüdischen WohltätigkeitsGesellschaft. In dieser Unterredung erkannte er die ausgezeichneten Eigenschaften unseres Stammes in schmeichelhaften Ausdrücken an. Er gab die entsetzliche Lage der Juden im Siedelungsbezirke zu und beklagte sie mit rührenden Gefühlstönen. Er drückte auch tief betrübt die Überzeugung aus, dass das Elend mit jedem Jahre zunehmen werde, fügte jedoch mit ergreifendem Schmerze hinzu, die Rücksicht auf das arme, wehrlose rechtgläubige Russenvolk verbiete bei aller christlichen Nächstenliebe, den allzu gefährlich überlegenen Juden in Russland Freizügigkeit und das Recht auf Bildung zuzugestehen. In Rumänien verschloss die Regierung den Juden die Staatsschulen. Nicht nur ihrem Leib, auch ihrem Geiste soll die Nahrung vorenthalten sein. Das Volk, eines Herzens und einer Seele mit seiner Regierung, plünderte und verwüstete in → Bukarest und Galatz Judenläden. Ich sage: das Volk, und nicht: der Pöbel. Denn die Angreifer waren zum guten Teil Hochschüler und gebildete Bürger, die bei den Juden – den Fremden! – aus edler Vaterlandsliebe einbrachen, unter den Augen der wohlwollend zusehenden Behörden, die auf die hochherzige, begeisterte Jugend ihres Landes stolz waren. In → Galizien brach eine weitverbreitete Volksbewegung aus, die das Einschreiten der Truppen, die Anwendung von Waffengewalt, die Verhängung des Standrechtes nötig machte. An vielen Orten wurden unsere Brüder an Leib und Leben bedroht, Dutzende verwundet, Hunderte ihrer ganzen Habe beraubt und zu hilflosen Bettlern gemacht. Ähnliche Ausschreitungen, wenn auch geringeren Umfanges, hatten Böhmen zum Schauplatz. Russland, Rumänien, Galizien – nun ja, das sind ja die klassischen Länder der Judennot. Es ist doch selbstverständlich, dass unsere Brüder dort verfolgt, bedroht, unterdrückt werden. Es ist überflüssig, das besonders zu erwähnen. Es ist langweilig, darüber Einzelheiten anzuführen. Das ist eben der zurückgebliebene Osten, dem die Sonne der gesegneten → Aufklärung noch nicht tagt. Aber siehe da – auch der vorgeschrittene Westen bietet uns ja einen ganz ähnlichen Anblick! In den Ländern der höchsten Freiheit und Bildung, wo milde philo-
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sophische Duldung den Glaubenshass, wo Brüderlichkeit das Vorurteil gegen eine bestimmte Abstammung überwunden hat, ertönt ja gleichfalls lustig der Ruf: → „Tod den Juden!“ Frankreich, das Frankreich der großen Umwälzung und der → Erklärung der Menschenrechte, das Land, das zuerst Europa das → Beispiel der gesetzlichen Gleichstellung der Juden gegeben, marschiert heute an der Spitze der antisemitischen Bewegung. Noch nicht in seinen amtlichen Handlungen und Reden, die Gerechtigkeit erfordert, dies festzustellen, noch uneingestanden, doch darum nicht minder tatsächlich. Die Arbeit der langsamen, doch sicheren und unwiderstehlichen Ausschließung der Juden aus den Ehrenstellen und höheren Berufen, die beispielsweise in Deutschland bereits so schöne Ergebnisse geliefert hat, ist in vollem Zuge. Die Zurückdrängung der Juden in eine abgesonderte Stellung, die Wiederaufrichtung unsichtbarer, doch sehr wirklicher → Ghettomauern um die aus der Volksgemeinschaft Ausgestoßenen ist mit Eifer in Angriff genommen. Dies gilt vom festländischen Frankreich. In Algerien ist die Judenverfolgung schon erheblich weiter gediehen. Dort ist es nicht bei der tätlichen Beleidigung einzelner Juden, bei lärmenden Straßenaufzügen unter dem Rufe: „Tod den Juden!“, beim Einwerfen einzelner Ladenschaufenster wie in Paris, Nancy, Nantes usw. geblieben; dort wurde durchgreifend geplündert und auch ein wenig gemordet. Vielfach wird die Aufhebung der → Crémieux'schen Verordnung gefordert, die den algerischen Juden französische Bürgerrechte verlieh, und die Angebereien der Hetzpresse, die der Wut des antisemitischen Pöbels jede Person mit Namen und Wohnung bezeichnet, die jüdische Arbeiter beschäftigt oder in jüdischen Läden einkauft, haben Tausende von jüdischen Proletariern, Hunderte von kleinen jüdischen Geschäftsleuten des täglichen Brotes beraubt. Den Anlass des Ausbruches der Judenfeindschaft in Frankreich kennen Sie alle. Es ist der → Fall Dreyfus. Dieser Kongress, der das jüdische Volk in seiner Gesamtheit vertritt, hat keine Ursache, sich mit dem Falle selbst zu beschäftigen. Er ist keine Angelegenheit des jüdischen Volkes; er ist eine solche des französischen Volkes. Nur die ihn begleitenden Nebenumstände berühren ein jüdisches Volksinteresse, und nur bei diesen Nebenumständen will ich mit Ihrer Erlaubnis kurz verweilen. Die französischen Judenfeinde haben ein einfältiges → Märchen von einem sogenannten jüdischen Syndikat erfunden, das unbeschränkte Geldmittel aufwenden soll, um eine teuflische Verschwörung gegen den französischen Staat zu zetteln. Die Albernheit einer Beschuldigung ist leider kein genügender Grund, dass sie keinen Glauben finde. Das Syndikatsmärchen wird von der Mehrheit der Franzosen tatsächlich geglaubt. Es ist deshalb nicht überflüssig, dass wir es ausdrücklich als das bezeichnen, was es ist: als eine ebenso törichte wie boshafte Erfindung. Es ist ein würdiges Seitenstück zum → Blutmärchen. Mit den antisemitischen Lügnern polemisieren wir nicht. Wo sie physisch stärker sind als wir, da können sie uns unter Umständen ermorden, aber unsere Verachtung überwinden können sie nicht. Den anständigen, nur leichtgläubigen und irregeführten Franzosen aber sagen wir: „Seid versi-
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chert, dass kein Jude der Welt einen Grund hat, euch Böses zu wünschen oder zuzufügen. Die Juden der meisten Länder bewahren euch Dankbarkeit und Liebe. Und selbst die deutschen Juden, die nicht vergessen können, dass ihr ihrem Vaterlande, dem sie hingebende Söhne und treue Bürger sind, feindlich gesinnt seid, selbst die deutschen Juden übersehen nicht, dass ihr in ruhmreichen Zeitabschnitten eurer Geschichte Leuchten der Menschheit, Führer ihres Fortschrittes wart, und sie gönnen euch von Herzen Gedeihen und Wohlergehen, solange ihr mit ihrem Vaterlande Frieden haltet!“ Wenn man die Franzosen, die an das Märchen vom jüdischen Syndikate glauben, fragt, wie sie sich das eigentlich vorstellen, weshalb die Juden denn ein Syndikat bilden sollten, um Dreyfus zu verteidigen, so antworten sie: „Man weiß doch, welches Zusammengehörigkeitsgefühl alle Juden miteinander verknüpft. Sie lassen auf keinen der Ihrigen das Geringste kommen.“ Sagen wir auch über dieses berühmte Zusammengehörigkeitsgefühl einige Worte. Wo hat man es jemals erlebt, dass die Juden in ihrer Gesamtheit oder auch nur in großer Zahl für einen jüdischen Verbrecher eingetreten wären? Niemand beurteilt jüdische Sünden härter als der Jude. Keine Herde stößt räudige Schafe unerbittlicher aus als die jüdische. Wir beschönigen niemals die Missetat eines der Unsrigen; wir empören uns nur gegen die Methode unserer treulosen Feinde, die jeden einzelnen Fehler eines Juden sofort zum Fehler jedes einzelnen Juden verallgemeinern. Auch im Falle Dreyfus ist es anfangs keinem Juden in der weiten Welt in den Sinn gekommen, für den des niederträchtigsten Verbrechens beschuldigten Mann Partei zu nehmen, weil er Jude ist. Die Judenheit begann erst aufzuhorchen, als sie beobachtete, dass der Fall eine ganz andere → Physiognomie zeigte als jede andere der leider nicht allzu seltenen Strafsachen wegen Landesverrates. Die Presse, die zuerst allein Einzelheiten über den Fall veröffentlichen konnte, war die antisemitische. Sie zog lange, ehe ein Urteil vorlag, aus dem Falle weitgehende Folgerungen. Sie sagte: „Es geschieht Frankreich recht, wenn es von einem jüdischen Offizier verraten wird. Man weiß ja, dass der Jude von Natur ein Verräter ist. An uns war es also, ihn nicht zu den Offiziersstellen zuzulassen, in denen er seinem Verräterhang mit verheerender Wirkung folgen kann.“ Die Antisemiten zeigten also von vornherein die feste Absicht, den Fall zu einer Angriffswaffe gegen das Gesamtjudentum zu machen und mit dieser Waffe zunächst die französischen Juden aus den Offiziersstellen zu vertreiben. Das hätte den Bedrohten eigentlich ihre Mannespflicht vorschreiben sollen. Da das Judentum in seiner Gesamtheit angegriffen wurde, hätte es sich in seiner Gesamtheit wehren müssen. Da den französischen Juden ein glücklich erworbenes Ehrenrecht entrissen werden sollte, hätten sie wie ein Mann für die Wahrung ihres Besitzes eintreten müssen. Aber es geschah nichts von alledem. Mit Verblüffung noch mehr als mit Schmerz, Beschämung, Entrüstung sage ich es: Das Gesamtjudentum ließ sich sagen: „Alle Juden sind von Natur Verräter!“ – und es fand kein Wort der Erwiderung. Das französische Judentum ließ sich sagen: „Das kommt davon, wenn man Juden Offiziere werden lässt!“ – und es blieb stumm. Das
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Judentum sah, dass man nicht Dreyfus allein, sondern auch dem Judentum den Prozess machte, und es tat den Mund nicht auf, um wenigstens die Verteidigungsrechte eines Angeklagten für sich zu fordern. Ja noch mehr: Als bereits vollständig erwiesen war, dass in dem Falle Dreyfus die ursprünglichsten Bürgschaften der Gerechtigkeit missachtet worden waren, dass der Angeklagte verurteilt worden war, ohne dass ihm gesagt wurde, weshalb, selbst dann waren keine jüdischen Stimmen zu hören, die sich gegen die Beugung des Rechtes erhoben und Gerechtigkeit gefordert hätten. Christen erfüllten diese Ehrenpflicht. Christen gebührt der Ruhm, für das Recht eingetreten zu sein; auf uns Juden aber lastet die Schmach, müßig dabeigestanden und zugesehen zu haben, wie die anderen im Kampfe für eins der heiligsten Menschengüter, vielleicht für das heiligste, die Gerechtigkeit, ihre Haut zu Markte trugen. Einzelne Juden haben ja ihre Schuldigkeit getan, ich kann dies glücklicherweise zu unserer Gewissenserleichterung feststellen. → Bernard Lazare, ein Guter, ein Starker, → Jacques Bahar, unser tapferer Mitstreiter, → Josef Reinach, der mannhaft in die Vorderreihe trat, retten einigermaßen die Ehre des Judentums. Aber wie viele sind dieser Wackeren? Eine Handvoll. Ein verschwindendes Häuflein in der Gesamtheit des Judentums, selbst nur des französischen Judentums. Wir müssen schamrot werden, wenn wir mit diesen wenigen Unerschrockenen die lange Reihe der christlichen Helden vergleichen, die Vermögen, Freiheit, bürgerliche Ehre und Leben im Kampfe um das Recht einsetzten, das nur in einem sehr hohen, sehr idealen Sinne ihr Recht war. → Emil Zola, → Picquart, → Scheurer-Kestner, → Trarieux, → Georges Clemenceau, → Yves Guyot, → Jaurès, → Labori, → Björnson, → Conybeare, das sind einige der Namen, die sich in dieser tragischen Angelegenheit unvergänglichen Ruhm erworben haben. Es sind christliche Namen, arische Namen. Judennamen dagegen, die ich nicht über die Lippen bringen will, obschon sie mir wie → Scheidewasser und → Galle auf der Zunge brennen, Judennamen finden wir in entsetzlich großer Zahl unter den schriftstellerischen Banditen, die Zola und seine Kampfgenossen anfielen, und ein Jude war es, der das scheußliche Wort gesprochen hat: „Dreyfus mag unschuldig oder schuldig sein, wir wollen nichts von ihm wissen, wir lassen das Wiederaufnahmeverfahren nicht zu.“ Da haben Sie das berühmte jüdische Zusammengehörigkeitsgefühl! Das Volk, das zuerst in der Menschheit den Schrei: Gerechtigkeit! ausgestoßen hat, dessen ewiger Ruhm in der Weltgeschichte es bleiben wird, dass es zuerst seinen Gott als einen gerechten Gott, als einen gerechten Richter begriffen und gepriesen hat, dieses Volk hielt sich fern von einem Kampf um das Recht, einzig weil das Opfer einer Rechtsbeugung ein Jude war. Ich habe einen genügenden Glauben an meinen Stamm, um sicher zu sein, dass Zehntausende, dass Hunderttausende von Juden in heiligem Zorn entflammt wären, geschrieben, gesprochen, gestimmt, gehandelt, Geld und Blut geopfert hätten, wenn das, was Dreyfus widerfahren ist, einem → Zigeuner, → Lappen, → Botokuden zugefügt worden wäre. Aber da es einem Juden zugefügt worden ist, begnügten die Juden sich damit, zu seufzen und den Kopf zu schütteln, und überließen es Christen, die → Lorbeeren Voltaires zu pflücken.
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Die Antisemiten haben von uns uneingestanden eine bessere Meinung, als wir verdienen. Sie glaubten keinen Augenblick lang, dass wir wirklich dem Kampf ums Recht untätig zusehen konnten, und da sie unter den Streitern kaum zwei oder drei Judennamen fanden, so nahmen sie ohne weiteres an, dass der jüdische Anteil an dem Kampfe ein geheimer und darum umso wirksamerer sein müsse. So erklärt es sich, dass so viele durchaus gutgläubige Christen, nicht bloß in Frankreich, sondern auch außerhalb dieses Landes, von dem Bestande des berühmten Syndikates fest überzeugt sind. Dieses von antisemitischen Verleumdern sehr geschickt erfundene Märchen kommt ihrem Bedürfnis entgegen, an jüdische Leidenschaft für Gerechtigkeit, an jüdische Kraft und Klugheit, an jüdisches Zusammengehörigkeitsgefühl zu glauben. Das Märchen unserer Feinde zeigt, was sogar diese bestimmt von uns erwartet haben. Wir aber sind selbst hinter den Erwartungen derjenigen, die uns am meisten hassen und verachten, weit zurückgeblieben, und so ist dieser tragische Fall Dreyfus zu einem entsetzlich genauen Maße des Grades geworden, den unsere Schwäche, Zaghaftigkeit, Stumpfheit und gegenseitige Entfremdung erreicht haben. Nach dem, was ich auseinandergesetzt habe, wird hoffentlich niemand mehr die Lüge wiederholen, in Frankreich sei der Antisemitismus ausgebrochen, weil die Juden für Dreyfus eingetreten sind. Die Wahrheit ist, dass die Juden eben nicht für Dreyfus eingetreten sind, sondern dass Christen dies getan haben; dass die Juden, zwei oder drei tapfere Männer ausgenommen, keinen Finger zur Notwehr rührten, obschon der Fall als Mordwaffe gegen ihre Ehre verwendet wurde. Der französische Antisemitismus ist nicht die Folge des Falles Dreyfus, sondern dessen Ursache. Wäre der Antisemitismus nicht das Vorbestehende gewesen, so hätte höchstwahrscheinlich der Verdacht des Landesverrates niemals Dreyfus getroffen, und jedenfalls wäre weder die ihm zur Last gelegte Schuld zu einer konstitutionellen Schuld aller Juden verallgemeinert worden, noch hätte das Bestreben, eine Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen, so wütende Volksleidenschaften erregt. Der Fall Dreyfus hat einen Schleier weggezogen und verheimlicht gewesene Gesinnungen enthüllt. Er richtet sich als eine Mahnung und Lehre an diejenigen Juden auf, die durchaus noch immer an ihre endgültige, vorbehaltlose Aufnahme in die Volksgemeinschaft wenigstens der vorgeschrittensten Staaten des Westens glauben wollen. Das gibt ihm Bedeutung in der Geschichte des Judentums und sogar den ernsten erziehlichen Wert einer Warnung, Aufklärung und Strafe, einen Wert, der es uns möglich macht, mit unserem unausrottbaren jüdischen Optimismus sogar angesichts des Falles Dreyfus auszurufen: → „Gam su letoba! Auch das ist zum Guten!“ Frankreich ist nicht das einzige Land der Freiheit und Aufklärung, wo das alte Gespenst des Judenhasses im vollen Tageslichte der vorgeschrittensten Gesittung umgeht. In England, das ich noch im vergangenen Jahre begeistert pries, hat die Regierung bereits die Zustimmung des Hauses der Lords zu einem Gesetzentwurf erlangt, der den mittellosen Ausländern den Einlass in das Land versagt. „Mittellose Ausländer“ ist das ehrbare Feigenblatt auf das Wort „Jude“, das die englischen Staatsmänner in ihrer Schamhaftigkeit gebildeter Söhne des neunzehnten Jahrhun-
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derts zu nackt fanden. Das England, das immer seinen Stolz darein gesetzt hat, die Zufluchtsstätte aller Verfolgten, die natürliche Heimat aller Heimatlosen zu sein, das in früheren Jahrhunderten → Vlamen und → Hugenotten, unter → Cromwell die von → Manasse ben Israel geführten → Sephardim, unter → Georg III. die französischen Emigranten, zur → Zeit der heiligen Allianz → Mazzini, nach → 1848 die Flüchtlinge aus allen Ländern Europas, in unseren Tagen die → überall gehetzten und geächteten Anarchisten gastlich aufgenommen hat, dieses → heilige Asyl der Menschheit verschließt sich mit einem Male vor einer Gruppe Menschen: vor Juden. Man sucht diese allen englischen Überlieferungen hohnsprechende Grausamkeit mit Gründen zu beschönigen. Die fremden Juden sollen der englischen Armenpflege zur Last fallen. Sie sollen englischen Arbeitern ihr Brot nehmen. Diese beiden Gründe widersprechen einander und schließen einander aus. Sind die Juden Bettler, so nehmen sie englischen Arbeitern nicht ihr Brot. Arbeiten sie dagegen so erfolgreich, dass sie englischen Arbeitern ihr Brot nehmen, so sind sie keine Bettler und können der Armenpflege nicht zur Last fallen. Es ist übrigens nachgewiesen worden, dass beide Gründe bloße Vorwände sind. Die fremden Juden, die in England landen, sind keine Bettler, sondern fleißige, strebsame Arbeiter, die sich selbst erhalten und häufig in verhältnismäßig gute Verhältnisse aufsteigen. Diejenigen unter ihnen, die zeitweilig der Unterstützung bedürfen, empfangen diese von ihren Stammesgenossen und werden den christlichen Engländern nicht über das Maß hinaus lästig, wozu ihr Anteil an der Armensteuer sie berechtigt. Sie nehmen auch den englischen Arbeitern nicht ihr Brot, sondern schaffen neue Gewerbe, die früher in England nicht heimisch waren, und vermehren den Wohlstand des Landes. Das Gesetz gegen die mittellosen Ausländer ist also auch wieder nichts anderes als ein → Symptom von larviertem Antisemitismus. Selbst die Vereinigten Staaten sind von dieser Krankheit nicht frei geblieben. Das Gesetz, das öffentliche Leben kennen allerdings keinen Judenhass. Wohl aber züchtet ihn die Gesellschaft, und die Zahl der Gasthöfe und Erziehungsanstalten, die ausdrücklich den → Juden die Aufnahme verweigern, ist ansehnlich und zeigt eine Neigung zu beständiger Zunahme. Das ist also die Lage. In den Ländern des Ostens, die sich eben erst aus der Barbarei entrungen haben oder entringen, hasst und verfolgt man die Juden ohne Beschönigung; in den Ländern des Westens, die an der Spitze der Gesittung einherschreiten, hasst und verfolgt man die Juden unter heuchlerischen Vorwänden, überall aber, im Osten wie im Westen, hasst und verfolgt man die Juden. Damit man uns nicht des Undankes zeihe, wollen wir ausdrücklich die wenigen Länder Europas anführen, wo die Juden nicht zu klagen haben. In Holland, Belgien, Italien, in den skandinavischen Staaten, in der freien Schweiz, deren köstliche Luft uns heute die Brust weitet, deren mannhafte Söhne, wie vorhin schon unser Vorsitzender Dr. Herzl dankbar erwähnte, uns vorgestern Abend hier durch brüderliche Zurufe geehrt haben, die uns bis an den Grund unserer Seele bewegten, werden die Juden als Vollmenschen, als Vollbürger behandelt, und nur ein misstönender Schrei aus dem
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ungewaschenen Munde eines Gassenjungen erinnert sie vielleicht noch ab und zu daran, dass man auch in diesen Ländern noch nicht ganz aufgehört hat, sie als eine Sondergruppe innerhalb der Bevölkerung zu empfinden. Aber diese Staaten, glückliche Inseln des Friedens im Ozean des Antisemitismus, beherbergen im Ganzen noch lange keine 200 000 Juden, und ich möchte ihnen nicht nahetreten, indem ich die bange Ahnung ausspreche, dass auch ihre Gerechtigkeit gegen die Juden einer harten Probe ausgesetzt sein würde, wenn ihnen die verfolgten Juden der anderen Länder in größerer, in großer Zahl zuströmen würden. Die jüdischen Gegner des Zionismus, denen wir dieses Bild der Weltlage des Judentums vor die Augen halten, können nicht leugnen, dass es die Wirklichkeit getreu wiedergibt, aber sie machen mit Kopf und Händen die bekannten beschwichtigenden Bewegungen und säuseln voll Salbung: „Einzelne betrübende Erscheinungen dürfen nicht verallgemeinert werden. Der Antisemitismus ist eine hässliche Tagesmode und wird vorübergehen.“ Wie! Ihr seht, dass die Seuche des Judenhasses von ihren altbekannten Herden in immer neue Länder einbricht, dass sie an Stellen verheerend aufflackert, wo sie seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten für erloschen galt oder wo sie, wie in Nordamerika, vorher nie aufgetreten war, und ihr sprecht von „einzelnen Erscheinungen“? Ihr wagt es, das rasche Verschwinden des Antisemitismus zu weissagen, obschon der bisherige Verlauf der jüdischen Geschichte euch mit den → Stimmen von siebenzig Generationen grollender oder stöhnender Juden die Lügenhaftigkeit eurer Weissagung ins Ohr schreit? Eure Prophezeiung ist nichts anderes als eine Form des betrügerischen → Bankerotts. Da ihr eure Schulden nicht in der Gegenwart bezahlen wollt, stellt ihr großzifferige Anweisungen auf die Zukunft aus, die euch nichts kosten und von denen ihr wohl wisst, dass sie niemals werden eingelöst werden. Seid doch ehrlich! Habt doch den Mut eurer Kaltherzigkeit! Sagt dem jüdischen Volke doch geradeheraus: „Uns geht es leidlich. Wir haben nicht zu klagen und wünschen keine Änderung dessen, was ist. Ihr aber, die Verfolgten, die Gedemütigten, die Gemarterten, ihr geht uns nichts an.“ Hättet ihr wenigstens die verhältnismäßige Anständigkeit, die wirklichen Beweggründe eurer Haltung zu bekennen, so würden wir euch diese Haltung beinahe verzeihen können. Das jüdische Volk würde euch dann einfach aus seiner Rechnung streichen und diese Rechnung würde dadurch klarer, genauer, zuverlässiger werden. Ihr würdet nicht länger die armen Unwissenden unter uns verwirren und den Zaghaften eine fertige Ausrede liefern, sich vor der notwendigen Anstrengung zu verkriechen. Das Judentum würde wissen, wer wirklich an der Heilung oder mindestens an der Besserung seiner tausendjährigen Leiden arbeitet, dass ihr aber pflichtvergessene Scheinärzte seid, die sich damit begnügen, einen Schlaftrunk zu reichen, damit die Schmerzensschreie aus der Krankenstube ihre Nachtruhe nicht stören. Diese Behandlungsweise mag ihre Berechtigung bei einem Sterbenden haben, der doch nicht zu retten ist und dem man mindestens die Qualen des Todeskampfes erleichtern will. Wir jedoch geben das Judentum durchaus nicht auf. Wir glauben an seine Lebenskraft und hoffen, es wieder in
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blühender Gesundheit einherwandeln zu sehen. Bei einem solchen Kranken aber ist eine Therapie der Betäubung, die das Ende beschleunigt, ein Verbrechen. Diese Darstellung der Lage des Judentums wäre äußerst einseitig und unvollständig, wenn sie sich darauf beschränken würde, zu zeigen, wie die verschiedenen Völker sich zu unseren in ihrer Mitte wohnenden Brüdern stellen. Ebenso wichtig wie das Verhältnis der Völker zu den Juden, nach meiner Empfindung sogar wichtiger, ist die innere Verfassung des Judentums, sind die Gedankenströmungen, Gefühlsrichtungen und Strebungen, die innerhalb unseres Stammes zutage treten. Der Anblick ist unerfreulich und könnte Kleinmütigen allen Glauben an unsere Zukunft rauben. Die erste Wirkung des Zionismus auf das jüdische Volk erweckt in meinem Geiste die Erinnerung an gewisse Anblicke der Natur, die Ihnen allen geläufig sind. Eine Winterlandschaft hat ihre Schönheit. Der Eispanzer der Ströme, die Schneedecke der Gefilde geben ein düsteres Bild von Grabesruhe, von weihevoller Trauerstimmung um den → großen Pan, der tot ist. Die Frühlingslandschaft hat eine andere, fröhlichere Schönheit. Die Wasser murmeln und glitzern, die Felder grünen und blühen, neues Leben waltet und webt überall. Nun aber der Übergang von dem einen Bilde zum anderen! Die erste Wirkung der Frühlingssonne ist, dass sie die Winterlandschaft zerstört, ohne sie jedoch sofort durch die Frühlingslandschaft ersetzen zu können. Zwischen den beiden liegt ein hässlicher Zwischenraum, der unleidlich wäre, wenn die Gewissheit, dass er zu neuer Schönheit hinüberleitet, seine Hässlichkeit nicht erträglich machen würde. Die blanke Eisdecke der Ströme zerbröckelt in einen grauen, lehmbeschmutzten Eisbrei, das reine, glatte Schneelaken schmilzt und lässt bodenlosen Schlamm zurück, eine Weile scheint die Landschaft eine einzige Kotpfütze, bis sie sich allmählich mit glorreichem Grün überzieht und mit den bunten Farben der Blumen schmückt. Etwas ganz Ähnliches erleben wir gegenwärtig im Judentum. Es glich bisher einer Winterlandschaft. Alles war starr, alles war bleich und kalt. Aber die reglosen Formen waren monumental. Das Bild hatte Majestät: die Majestät des Todes. Es gab unter uns Juden selbst, aber noch mehr unter den Christen, Liebhaber romantischer Anblicke, die die Poesie dieses Bildes intensiv empfanden und denen es eine Entweihung schien, dass die Strenge dieser unbeweglichen Linien gelöst, die Einförmigkeit dieser reinen Schneedecke durch hervortauchende Erdflecke unterbrochen werden sollte. Und nun kam der Zionismus wie eine Frühlingssonne und begann, diese feierliche Eiswüste anzuglühen. In günstig gelegenen Winkeln, in geschützten Mulden brachen sofort die Spitzen der ersten Grashälmchen und die frühesten Schneeglöckchen hervor. Aber sonst war weit und breit nichts zu sehen als ein einziger großer Morast. In diesem Kotmeer waten wir jetzt. In diesem aufgeweichten Schlammboden versinken wir gegenwärtig bei jedem Schritt bis ans Knie, bis an die Hüfte. Welche Widerwärtigkeit! Welche Mühsal! Alles Niederträchtige, alles Gemeine, was das Judentum in sich schließt, was aber hinter der bisherigen Festgefrorenheit verborgen blieb, treibt jetzt auf der Oberfläche. Allein ein einziger Blick auf den Kalender muss genügen, um uns über diesen leidigen Zeitabschnitt
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hinwegzuhelfen und in uns keinen Augenblick lang Entmutigung aufkommen zu lassen. Denn wir wissen, dass der Frühling ganz nahe ist, dass er immer damit beginnt, die reinliche Winterwelt zu versumpfen, dass er aber nicht säumt, den Sumpf in blühende Gefilde umzuzaubern. Der Zionismus erweckt das Judentum zu neuem Leben. Das ist meine Zuversicht. Er bewirkt dies sittlich durch Auffrischung der Volksideale, körperlich durch die physische Erziehung des Nachwuchses, der uns wieder das verloren gegangene → Muskeljudentum schaffen soll. Aber der Zionismus vollzieht auch die scharfe Scheidung zwischen dem Lebenden und dem Abgestorbenen. Erst jetzt können wir uns Rechenschaft darüber geben, welche furchtbaren Verwüstungen die → achtzehn Jahrhunderte des Galuth unter uns angerichtet haben. Zum ersten Mal seit dem Verzweiflungskampfe des großen → Bar-Kochba, den nur niedrige Erfolgsanbeterei geringer schätzen darf als den glänzenden → Hasmonäer, tritt an das Judentum wieder die Forderung heran, eine Gesamtanstrengung zu machen, sich selbst und der Welt zu zeigen, wie viel es noch an Lebenskraft, an Lebenshoffnung, an Lebensverlangen in sich birgt. Und da müssen wir uns denn überzeugen, dass vieles, was noch lebendig schien, solange man davon keine Lebensbeweise verlangte, tatsächlich tot ist. Zahlreiche Juden sind vom Judentum auch äußerlich abgefallen. Dieser Abbröckelungsprozess hat seit der → Zerstörung des zweiten Tempels niemals ganz stille gestanden, er ist in den letzten Jahren in den Ländern des Westens besonders lebhaft geworden. Eine ungleich größere Anzahl Juden aber ist sich bisher über ihren inneren Abfall vom Judentum nicht klar geworden, obschon dieser Abfall tatsächlich stattgefunden hat. Sie hielten sich selbst und die Welt hielt sie für Juden, sie waren aber Juden nur aus Gewohnheit, aus Bequemlichkeit, aus Geistesträgheit. Ihr Judentum setzte sie zwar der Verfolgung aus, aber teils hatten sie nicht mehr Ehrgefühl genug, um unter der Verfolgung zu leiden, teils fühlten sie sich als interessante Opfer, was kein unangenehmer Seelenzustand ist. In Stunden der Schwärmerei glaubten sie Dichtern wie → Disraeli, → George Eliot, → Alexander Dumas Sohn, die vom Judentum, seiner Sendung, seiner Macht, seiner herrlichen Zukunft ein schmeichelhaftes Bild entwarfen, und schwelgten in diesem Traume, der die Schönheit und die Unwirklichkeit von Träumen hatte. Positive Leistungen forderte ihr Judentum von ihnen nicht. Die → 613 Gebote und Verbote des Schulchan Aruch belächelten sie. Die → Gemeindesteuer drückte sie nicht schwer. Den Weg zur → Synagoge brachte ihnen häufig nur der → Versöhnungstag in Erinnerung. Sie überredeten sich dennoch selbst, dass sie gute Juden seien, weil sie Heine liebten, sich an → Daniel Deronda erbauten und auf den → Ruhm von Kugel und Schalet nichts kommen ließen. Da tritt mit einem Male der Zionismus auf und ruft diesen Juden zu: „Auf! Ermannt euch! Tut eine Tat! Erarbeitet euch und eurem Volk einen Platz unter der Sonne! Ruhet nicht, rastet nicht eher, als bis ihr die gleichgültige und selbst die feindliche Welt überzeugt habt, dass ihr ein Recht besitzt, als Volk wie die anderen
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Völker zu leben und euch eures Lebens zu freuen!“ Plötzlich hat es mit dem faulen Auch-Judentum und Bauch-Judentum, mit dem passiven Hindämmern, Hinschlurren in überlieferten Gewohnheiten ein Ende. Da wehren sich denn diese Scheinjuden mit einer Kraft der Empörung, die uns eigentlich humoristisch berühren sollte. „Ja, wenn die Freude an den → Sabbat-Gerichten nicht länger eine ausreichende Betätigung unserer jüdischen Gesinnung sein soll, dann tun wir nicht mehr mit“, erklären sie entrüstet und verkünden uns bösen Störern den Vernichtungskrieg. Hier streichen die Rabbiner den für sie in der Tat bedeutungslos gewordenen Hoffnungsund Verheißungsruf: → „Im nächsten Jahre zu Jerusalem!“ aus dem Gebetbuche. Dort protestieren die Rabbiner gegen den Zionismus als gegen eine von der jüdischen Religion verbotene Neuerung. Ein von mir hochgeschätzter → jüdischer Geschichtsschreiber, der im Auftrag eines jüdischen Vereines ein Jahrbuch der jüdischen Geschichte verfasst, bringt es fertig, die Geschichte der Juden im Jahre 1897 zu schreiben und des → ersten zionistischen Kongresses zu Basel nicht mit einer Silbe Erwähnung zu tun. → Ein anderer Jude hat die Stirne, von uns zu behaupten, wir hätten im vergangenen Jahre auf unserem Kongress gewinselt, wir wollten feige die Flucht vor unseren Verfolgern ergreifen, während er, der Held, zu den hageldicht auf ihn niederklatschenden → Maulschellen tapfer seine Backe hinreicht und den Fußtritten der antisemitischen Regierungen und Völker mutig seine Kehrseite darbietet. Diese Erscheinungen sind schmerzlich, aber sie sind natürlich und sie sollen uns nicht anfechten. Wir sind eine so uralte Gesellschaft, dass in unserer vieltausendjährigen Geschichte alles schon dagewesen ist. Neues kann sich bei uns eigentlich gar nicht mehr zutragen. Als → Moses sein Volk aus der ägyptischen Knechtschaft befreien wollte, da waren es zuerst Juden, die sich wider ihn empörten und ihm drohten, sie würden ihn den ägyptischen Behörden anzeigen. Als → Esra und Nehemia nach → Zion heimkehrten, da blieben die reichen, die gebildeten Juden, die → Schaletliebhaber und Heineleser jener Zeit, in Babylon und ließen die hirnverbrannten Schwärmer, die wieder ein Volk sein wollten, mit Hohn und wahrscheinlich mit Herzenserleichterung ziehen. Es wird auch jetzt nicht anders sein. Sei es denn so. Die Schar des Esra und Nehemia war eine kleine Minderheit unter den damaligen Juden, wir alle aber sind die Nachkommen jener Minderheit, die große Mehrheit dagegen hat sich im Völkermeer Vorderasiens spurlos aufgelöst. Auch die Zionisten sind vielleicht noch eine Minderheit unter den heutigen Juden. Aber aus ihnen heraus wird das Judentum sich verjüngen, durch sie wird es weiterleben und in eine ferne Zukunft hinübergerettet werden. Die jüdischen Gegner des Zionismus aber, und wären sie heute noch so zahlreich, sind bestimmt, als Juden zu verschwinden. Wahrscheinlich ist dies ihr geheimer Herzenswunsch. Er wird sicher erfüllt werden. Darum ist es unzulässig, dass man von einer zionistischen Partei im Judentum spricht. Wir weisen diese Bezeichnung mit Spott und Verachtung zurück. Die Zionisten sind keine Partei, sie sind das Judentum selbst. Ihre Zahl, ihre heutige Zahl, tut nichts zur Sache. Der Same der gewaltigsten Linde ist ein ganz kleines Ge-
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bilde, aber er ist die Zusammenfassung der ganzen Lebenskraft des Baumes, das Ziel aller seiner organischen Anstrengungen. Die Linde lebt in ihrem Samen, nicht in ihrer Holz- und Bastmasse weiter. Alles, was im Judentum lebendig ist, was ein jüdisches Ideal, was Manneswürde, was Entwicklungsfreudigkeit hat, das ist zionistisch. Was sich dagegen in der Sklaverei wohlfühlt, was in der Verachtung sühlt oder was auf einen nahen natürlichen Tod des Judentums hofft, das steht gleichgültig beiseite oder kämpft grimmig gegen uns. Mit Anknüpfung an einen bekannten Vers des österreichischen Dichters → Grillparzer können die Zionisten rufen: „In unserm Lager ist → Israel! Ihr andern seid einzelne Trümmer.“ Quelle: ZS1, S. 58–76, dort mit Datierung: Basel, 28. August 1898.
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12 Das unentbehrliche Ideal Ich bin ein altes Schlachtross der Literatur. Ich schreibe für die Öffentlichkeit seit dem skandalösen Alter von 14 Jahren, d. h. seit bereits 34 Jahren. Nie aber empfand ich ein solches Gefühl der Beklommenheit wie heute, da ich mich zum ersten Mal an einen neuen Leserkreis wende. Der Gedanke, dass diese Zeilen in Jerusalem, in der Nähe der Tempelmauer, gedruckt und gelesen werden sollen, erregt bei mir förmlich Herzklopfen. Vergebens wappne ich mich mit meinem ganzen Skeptizismus und selbst der → „Blague“ des Boulevards. Vergebens sage ich mir immer wieder, dass Jerusalem schließlich doch nichts anderes ist als eine kleine türkische Provinzstadt, wo einige Konsuln, eine → hübsche Anzahl Mönche und zahlreiche Arme leben. Es will mir trotzdem nicht gelingen, ein Gefühl unaussprechlicher Ehrfurcht und Zärtlichkeit zu überwinden. Und dass der bloße Gedanke an Jerusalem bei einem Manne diese Wirkung hervorzurufen vermag, dessen ganzes Leben ein einziges langes Bemühen nach Befreiung von allen Vorurteilen und von allen unbewiesenen und unbeweisbaren Überlieferungen gewesen ist, beweist aufs Neue sieghaft, wie sehr wir im Grunde des Herzens Juden geblieben sind, selbst diejenigen unter uns, die während des größten Teils ihres Daseins jegliche Fühlung mit dem lebendigen Judentum verloren haben. Ich aber, der ich stets darauf stolz war, ein deutscher Schriftsteller zu sein, der ich stets meine deutsche Muttersprache leidenschaftlich geliebt und gepflegt habe, empfinde heute Schmerz und Demütigung, eines Übersetzers zu bedürfen, um zu den Lesern des → „Hazewi“ sprechen zu können. Und doch beherrschte mein ehrwürdiger Vater die heilige Sprache fürstlich, und ich selbst las im Alter von 10 Jahren → Schillers „Glocke“ in der wunderschönen hebräischen Übersetzung meines Vaters, einer außerordentlichen Kraftleistung, worin der Rhythmus und die Reime des deutschen Textes mit peinlicher Genauigkeit wiedergegeben sind. Das macht: Für die Juden meiner Altersklasse ist der Antisemitismus zu spät aufgetreten. Unser jüdisches Gefühl konnte einschlafen, da es nicht durch das wilde Geschrei der Feinde stets wach gehalten wurde. Die hebräische Sprache schien uns nicht der Pflege wert, da wir weder Theologen noch Philologen waren. So ist es denn gekommen, dass ich mich heute zu meiner Schande unendlich leichter auf Lateinisch als in der Sprache meiner Väter ausdrücken kann. Meine Zeitgenossen, wenigstens in Westeuropa, waren mittelmäßige, ja schlechte Juden. Aber unter den antisemitischen Beschimpfungen haben sie sich wiedergefunden, wie ich mich wiedergefunden habe, und ich konstatiere mit Freude, dass hinter uns ein neues Geschlecht heraufkommt, das, ein tiefes jüdisches Gefühl mit ganz modernen, ganz europäischen Anschauungen, einem freien und starken Geist verbindend, im Zuge ist, das Judentum zu erneuern und zu verjüngen. Indem ich die überraschende Erscheinung beobachtete, dass junge Doktoren aller Fakultäten, die mit der gesamten westlichen Philosophie und Wissenschaft vertraut sind, den Stolz ihrer Rasse und ihrer Überlieferungen wiederfinden, fragte ich
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mich: Wie erklärt sich die ans Wunderbare streifende Tatsache, dass ein Volk von einem fast erschreckend hohen Alter nach 18 Jahrhunderten der Vaterlandsberaubtheit, der → Zerstreuung, der unerbittlichen und allgemeinen Verfolgungen dennoch so kräftig, so lebendig bleibt? Wie kommt es, dass eine unermüdlich tätige Feindschaft, der allen geschichtlichen und psychologischen Gesetzen zufolge die endgültige Zermalmung und Ausrottung des Judentums hätte gelingen müssen, es vielmehr gekräftigt, widerstandsfähiger, unbezwinglicher gemacht hat? Und da ging mir ein Licht auf über die tiefe, beinahe übermenschliche Weisheit unserer großen Vorfahren, der Gesetzgeber unserer Rasse, die das Ziel verfolgten, ihr Volk mitten unter den Feinden und allen natürlichen Ursachen einer langsamen oder raschen Zerstörung zu erhalten, und die es auch verstanden haben, ihm ein unfehlbares Mittel zur dauernden Erhaltung des Daseins und selbst der Jugendlichkeit an die Hand zu geben, einen Zaubertrank, der seit bereits nahezu zweitausend Jahren seine Schutzkraft gegen den Tod bewährt hat und dessen lebensbewahrende Tugend noch lange nicht erschöpft ist. Welches ist dieser Zaubertrank? Es ist ganz einfach eine Hoffnung, ein Ideal; es ist mit einem Worte → das messianische Versprechen. Das ist das Geheimnis der Unsterblichkeit des jüdischen Volkes. Ohne Ideal kann kein Volk leben und dauern. Braucht man das erst zu beweisen? Blicket auf die → Italiener des „Risorgimento“-Zeitalters. Jedes Kind, das in Italien während dieser herrlichen Morgendämmerung, die zwischen → 1815 und 1866 liegt, zum Leben erwachte, wusste genau, was es wollte und was es sollte. Sobald es zu klarem Denken herangereift war, sagte es sich: „Ich bin dazu da, um für die Wiedergeburt Italiens zu kämpfen; mit allen Mitteln; ich werde Verschwörer werden, werde den → Spitzhut und den Dolch des Carbonaro tragen; eines Tages werde ich gegen die fremden und die einheimischen Bedrücker zu Felde ziehen; ich werde → Dantes erhabene Träume verwirklichen; und wenn nicht ich, so meine Söhne, meine Enkel. Und wenn es sein muss, werde ich zum Märtyrer werden; und wenn ich im → Kerker Silvio Pellicos verfaule oder → vom Henker zum Galgen Morellis geschleift werde, so werde ich wissen, dass ich nicht umsonst gelebt habe.“ Diese Überzeugung verlieh der ganzen Generation von Italienern jenes Zeitalters ein Selbstvertrauen und eine Energie, die wunderbar waren. Damals kannte man keinen Zweifel, keinen Weichmut, keine Schlaffheit. → Leopardi war eine den Zeitgenossen unverständliche Ausnahme. Pessimismus und Niedergeschlagenheit waren ihnen unbekannt. Sie wussten wohl, was Groll und Zorn ist, Kopfhängen und Händeringen waren Gebärden, an die sie nicht gewöhnt waren. Und Deutschland – wann sprudelte sein Geistesleben kräftiger, entfalteten sich seine heldischen Dränge mächtiger, war seine Lebensfreude jugendfrischer als im Zeitraum zwischen dem → Wartburger Fest und der → Verkündigung des Kaiserreichs zu Versailles? Damals war wirklich jeder Durchschnittsdeutsche → „ein Sänger und ein Held“; es war eine Weite in den Seelen, eine Größe in den Hoffnungen
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und Bestrebungen, dass man selbst die entsetzlich erstickende Enge der Kleinstaaten nicht mehr als ein tragisches Elend, sondern gerade des Gegensatzes wegen humoristisch empfand. Das ist wohl auch der Grund, weshalb jenes Elend so lange lächelnd ertragen wurde. Dies ist die große Wirkung eines sicheren Ideals. Es erhält ein Volk lebendig und gibt ihm Kraft. Die Völker wachsen mit ihren höheren Zwecken. Eine Sehnsucht, eine Hoffnung, das Bewusstsein einer zu erfüllenden Sendung weisen den Weg in die Zukunft und verbürgen sie. Um jedoch seine ganze erhaltende Kraft offenbaren zu können, darf das Ideal nicht allzu leicht erreichbar sein. Denn einmal verwirklicht, ist es erschöpft und büßt seine Tugend ein. Darum ist die großartigste und tiefste Lösung des Problems eines dauerbaren Volksideals eben dieses → Versprechen eines Messias, womit die → Propheten Israels ihrem Volke die Dauer für Jahrtausende gesichert haben. Die Juden sind nicht zugrunde gegangen, weil sie an einen Messias glaubten und auf sein Kommen hofften. Das gab ihnen die Kraft, ihr Erdengeschick zu ertragen. Sie hatten ein Ideal, das sie von Jahrhundert zu Jahrhundert leitete, und sie folgten ihm ekstatisch, ohne nur der Dornen ihres Leidensweges gewahr zu werden. Das messianische Ideal ist keiner Änderung und keiner Zerstörung ausgesetzt, da es ewig der Verwirklichung unfähig bleibt. Ein Volk, das sich einredet, sein Messias sei gekommen, hat eben den feinsten Sinn und Wert seines messianischen Glaubens nicht begriffen, und beweist dadurch, dass es eines so erhabenen Symbols nicht würdig ist. Man darf die Frage aufwerfen, ob die übermäßig lange Erhaltung eines Volksorganismus berechtigt und wünschenswert ist. Ein Volk ist eine Individualität höherer Ordnung, und es könnte wohl sein, dass alle Argumente, mit denen die → Weismann und Goette den → biologischen Nutzen des Todes, d. h. der Vergänglichkeit des individuellen Trägers der ewigen Lebenskraft beweisen, nicht nur auf Individuen, sondern auch auf Gesamtorganismen anwendbar wären. Man kann der Vorstellung Raum geben, dass die Menschheit aus der allzu langen Fortdauer → ethnischer Individualitäten keinen großen Nutzen zieht und dass die Weltgeschichte, als Entwicklungsgang der Menschheit zu immer höheren Geschicken aufgefasst, sich nur durch den Tod und die Geburt von Völkern erfüllen kann. Man kann jedoch billig von einem gegebenen Volke nicht verlangen, dass es seine eigene Überflüssigkeit und die Nützlichkeit seines Verschwindens zugebe. Wenn ein Volk, von seinem Selbsterhaltungstrieb gedrängt, ausruft: „Ich muss doch aber leben!“ – so ist es nicht Sache seiner Führer und Gesetzgeber, ihm die → wohlbekannte grausame Antwort Napoleons zu geben: „Ich sehe die Notwendigkeit nicht ein.“ Wenn man also diese Vorfrage: „Liegt die Fortdauer eines Volkes im Interesse der Gattung?“ zurückweist und nur noch diese andere Frage zulässt: „Welches ist das Mittel, das ihm am sichersten die Fortdauer verbürgt?“ – dann ist die einzige Antwort: „Das messianische Ideal.“
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→ Ein kalibanischer Kritiker könnte einwenden, jenes Mittel laufe einfach auf eine → transzendentale Nasführung eines Volkes hinaus, auf die Anwendung im Großen des wohlbekannten Marktschreierkniffs: „Morgen wird hier unentgeltlich rasiert!“ Indes rechtfertigt sich diese Methode der frommen Täuschung durch ihre Wirksamkeit. Das → römische Volk beherrschte die Welt. Seine Führer gaben ihm damals als Ideal: → „Panem et circenses!“ („Brot und Schauspiele!“), das heißt unmittelbare praktische Befriedigungen. Daran ist es jämmerlich zugrunde gegangen. Zu gleicher Zeit gaben seine Propheten einem unterjochten kleinen Volk in Vorderasien zum Ideal ein in weite Ferne gerücktes, unfassbares Versprechen – und dieses Volk lebt noch zu dieser Stunde. Der große Fehler von Volksidealen, die verwirklicht werden können, ist, dass sie verwirklicht werden. Nun gibt es aber für ein Volk keine schwerere, keine gefährlichere Krise als das Verschwinden eines Ideals durch dessen Verwirklichung. Gelingt es diesem Volke nicht, rasch ein neues Ideal zu finden, so verfällt es in ein Siechtum, in dem jeder ihm zustoßende geschichtliche Unfall leicht für es tödlich werden kann. Italien und Deutschland haben es nicht verstanden, nach der ruhmreichen Aufrichtung ihrer nationalen Einheit ein neues Volksideal auszuarbeiten; daher das schwere politische Missbehagen der beiden Völker. Wir Juden aber sind dieser Gefahr nicht ausgesetzt. Unser messianisches Ideal ist hoch und fern wie ein Stern. Es ist ewig wie ein Stern. Für den Gläubigen ist es eine lebendige Hoffnung. Für den, der nicht glaubt, aber versteht, ist es ein stolzes Symbol, dessen Stärke gerade seine Unerreichbarkeit ist. Und das, so scheint es mir, ist das Geheimnis der Lebenszähigkeit des jüdischen Volkes. Quelle: ZS1, S. 282–288, dort mit Verweis auf die Quelle: Hazewi, 1898.
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13 Die Aufgaben des Zionismus Das → Baseler Programm der zionistischen Bewegung verlangt, aufmerksam gelesen und richtig verstanden zu werden. Das Ziel ist, dem jüdischen Volke eine durch Völkerrecht gesicherte Heimat in Palästina zu erwerben. Das ist klar genug, um keiner Deutung zu bedürfen. Unter den Mitteln, mit deren Hilfe wir das große Ziel zu erreichen hoffen, wird auch die Stärkung des jüdischen Selbstgefühls und Volksbewusstseins angeführt. Über diesen Punkt möchte ich hier etwas Licht verbreiten. Die große Masse unserer Brüder, namentlich in Osteuropa, die vom Zionismus gehört haben und in deren Seele dieses Wort freudige Ahnungen und Erwartungen erweckt, stellt sich vor, die Bewegung bestehe darin, dass in Wien oder anderswo einige berühmte und bedeutende Juden leben, die eifrig, doch geheimnisvoll mit Botschaftern, Ministern, ja gekrönten Häuptern über die Abtretung Palästinas an das jüdische Volk verhandeln und im Augenblicke, wo diese Verhandlungen zum glücklichen Ende geführt sind, einen ungeheuren Geldbetrag aus der Erde stampfen, sich zum jüdischen Volke wenden und sprechen werden: „Brüder! Hier sind die Verträge, wohlgezeichnet und wohlbesiegelt, die uns Palästina zum Eigentum geben. Hier ist das Geld, das zur Beförderung der Juden nach der alten Heimat, zu ihrer ersten Einrichtung und zu ihrer Ernährung bis zur ersten Ernte nötig ist. Und nun auf, nehmt von eurem Lande Besitz → und macht B'racha!“ Das ist eine schwere und gefährliche Selbsttäuschung, die wir zerstören müssen. So werden die Ereignisse sich nicht abspielen. Die Juden, die sich den Verlauf der Dinge so vorstellen, stehen einerseits unter dem Einfluss des alten → messianischen Glaubens, der die Erlösung durch ein Wunder lehrt, andererseits unter der Wirkung des → Galuth, das durch achtzehnhundertjährige, häufig das Maß des Erträglichen weit überschreitende Leiden den Juden zum passiven → Fatalisten gemacht, ihn von der Nutzlosigkeit des Widerstandes und der eigenen Anstrengung überzeugt und gelehrt hat, gefasst und demütig abzuwarten, was die übermächtigen höheren Gewalten über ihn verhängen werden. Die Führer der zionistischen Bewegung erheben nicht den gotteslästerlichen Anspruch, der Messias oder die kleine Münze des Messias zu sein. Sie fühlen sich durchaus unfähig, Wunder zu wirken, und sie versprechen dies nicht. Sie haben keine andere Gewalt als die, die das jüdische Volk ihnen verleiht. Überraschungen hat das jüdische Volk von ihnen nicht zu erwarten, denn sie werden nichts vollziehen, was das jüdische Volk nicht vorher bestimmt gewollt und ihnen ausdrücklich aufgetragen hat. Geschenke haben sie dem jüdischen Volke nicht zu bieten, denn sie besitzen nichts, als was das jüdische Volk ihnen in die Hände legt, damit sie es zur Verwirklichung des zionistischen Ideals verwenden. Der Zionismus hat zwei Aufgaben, die in entgegengesetzten Richtungen liegen. Er hat Palästina für das jüdische Volk zu erwerben und er hat das jüdische Volk für Palästina vorzubereiten. Die zweite Aufgabe scheint mir aber unvergleichlich wichtiger als die erste. Sie muss gelöst sein, ehe man die andere überhaupt unternehmen
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kann. Denn wie stellen unsere jüdischen Brüder sich wohl die Erwerbung Palästinas vor? Glauben sie etwa, dass wir von der Türkei, von den Großmächten einfach ein Land fordern können? Solange wir nicht das jüdische Volk hinter uns haben und dies mit Zahlen und Tatsachen beweisen können, sind wir einfache Privatleute, und Regierungen haben nicht die Gewohnheit, sich mit Privatleuten in amtliche Unterhandlungen über Staatsangelegenheiten von hoher Wichtigkeit einzulassen. Diejenigen von uns, die mit Staatsmännern in verantwortlichen Stellungen persönlich bekannt sind, können mit diesen Herren natürlich über den Zionismus, unsere Wünsche, unsere Hoffnungen plaudern, aber das sind Salongespräche, die keine größere praktische Bedeutung haben als Unterhaltungen über das neueste → Lustspiel oder den Sieger des letzten Derby-Rennens. Regierungen haben auch nicht die Gewohnheit, Länder und Rechte zu verschenken. Wohltätigkeit, Mitgefühl, Gerechtigkeitsliebe, Idealismus spielen in der Politik keine Rolle. → „Do ut des“ heißt die Regel, nach der Politik gemacht wird. Wenn eine Regierung etwas geben soll, so muss sie wissen, was sie dafür empfängt. Wir, als einzelne private Juden, haben aber den Regierungen nichts zu bieten, und wenn wir so leichtfertig wären, im Namen des jüdischen Volkes heute etwas zu versprechen, so würde man – auch nur aus persönlicher Höflichkeit gegen uns – erwidern: „Sehr schön. Aber wo ist das jüdische Volk, in dessen Namen ihr sprecht? Wo, wann, in welcher Form hat es euch die Vollmacht erteilt, in seinem Namen zu sprechen? Wo ist die Organisation, die uns dafür bürgt, dass eure Versprechen auch gehalten werden, dass ihr imstande seid, sie zu halten?“ Wenn man diese Fragen heute an uns richtete, so müssten wir einfach stumm bleiben. Denn so fest überzeugt wir sind, dass die ungeheure Mehrheit des jüdischen Volkes im Herzensgrunde zionistisch ist, so müssen wir doch feststellen, dass erst eine kleine Minderheit dies durch Taten bewiesen hat. Doch ich gehe weiter. Wenn das heute noch Unwahrscheinliche geschähe, wenn die Türkei, wenn die Großmächte uns sagen würden: „Wir öffnen euch Palästina. Wir geben euch das Recht, eure inneren Angelegenheiten selbst zu verwalten. Geht und richtet euch in der alten Heimat häuslich ein“, so könnten wir das Geschenk heute gar nicht annehmen, denn das jüdische Volk ist noch nicht darauf vorbereitet, einen geschlossenen Wirtschaftskörper mit allen Organen zu bilden und alle → ökonomischen, staatlichen und sittlichen Aufgaben eines vollständigen, in Klassen gegliederten und sich selbst genügenden Volkes zu erfüllen. Das Galuth hat ein Chaos aus uns gemacht. Wir sind ein loser Haufe von Individuen ohne organischen Zusammenhang. Diesen müssen wir erst wieder finden. Wenn wir als Menschenstaub, nicht als lebendes, einheitliches Wesen nach Palästina zurückkehren, so müssten wir fürchten, der Welt das Schauspiel einer kläglichen Anarchie zu bieten, die unsere Feinde als endgültigen Beweis dafür hinstellen würden, dass wir Juden zu schöpferischer Arbeit völlig unbrauchbar sind. Das → Zionsunternehmen darf keinen → Bankbruch erleiden, denn der Schaden, den ein solcher anrichten würde, wäre unermesslich. Wir dürfen deshalb nur mit äußerster Vorsicht Schritt vor Schritt vorgehen und keine Aufgabe auf unsere Schulter nehmen, ehe wir völlig
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sicher sind, dass wir stark genug sind, sie spielend zu bewältigen. Wenn wir uns in Palästina einrichten, so müssen wir die Gewissheit haben, dass wir uns als Volk mit eigenem Bauern- und Bürgerstand, mit eigener Polizei, Rechtspflege, Steuerverwaltung, Post-, Bauten-, Unterrichtswesen in Ehren sehen lassen können. Ehe wir diese Gewissheit haben, würde ich es für ein Unglück, für ein Verbrechen halten, Palästina selbst als Geschenk aus der Hand der Mächte anzunehmen, geschweige denn, es zu verlangen. Wie sollen wir aber diese Gewissheit erlangen? Hier kommen wir zur zweiten Aufgabe des Zionismus: zur Vorbereitung des jüdischen Volkes für seine palästinensischen Aufgaben. Jeder einzelne Jude muss sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass er in einen entscheidenden Abschnitt seiner Geschichte eingetreten ist, dass die Welt eine große Anstrengung von ihm erwartet und dass er vor seinen fernsten Nachkommen dafür verantwortlich ist, wie er diesen Erwartungen der Welt genügt. Jeder einzelne Jude muss vor allem zwei Dinge lernen: die Angelegenheiten des ganzen jüdischen Volkes als seine eigenen, persönlichen zu empfinden und Führern eisern zu gehorchen, die er sich selbst setzt. Also: lebhaftester Anteil an den Volksangelegenheiten und Mannszucht. Das sind die Mittel, mit denen aus unserem Menschenstaub wieder ein Volk geschaffen werden kann. Wo immer drei Juden beisammen sind, um ein → Mesuman, wo zehn beisammen sind, um ein → Minian zu bilden, da gibt es für sie keine Entschuldigung, wenn sie nicht einen zionistischen Verein von drei, von zehn Mitgliedern bilden, der dann an den nächsten Verein Anschluss sucht. Die Bildung eines jeden solchen Vereines hat einen augenblicklichen unschätzbaren Wert. Jeder einzelne Jud, der einem derartigen Verein angehört, fühlt sofort, dass er nicht allein in der Welt steht, nur von Todfeinden umgeben, ohne einen einzigen Freund. Er sieht Brüder um sich. Er erkennt, dass er einer Gemeinschaft angehört, die nur stark zu werden braucht, um ihn zu schützen, zu verteidigen, zu erheben, ihm Achtung und Ehre zu erwerben. Er überzeugt sich davon, dass → Israel sich nicht aufgibt, sondern entschlossenen Willen zum Leben hat und ernst daran arbeitet, ein neues Leben zu beginnen. Damit, dass ein Jude einem zionistischen Verein beitritt, verbessert er natürlich nicht sofort seine Vermögenslage, er verdient nicht sofort mehr Geld, um es platt auszudrücken, obschon das brüderliche Zusammenwirken von Leuten, die bis dahin gegeneinander gleichgültig oder gar brotneidische, feindliche Konkurrenten waren, selbst diese Wirkung haben kann; aber er schöpft wieder Hoffnung, während er bis dahin vielleicht verzweifelte, seine Lage jemals sich bessern zu sehen, und die Aussicht auf frohere Tage lässt ihn viel leichter Verhältnisse ertragen, die unleidlich sind, wenn man glauben muss, dass sie sich niemals ändern werden. Und noch eine Wirkung hat der Eintritt in einen Zionsverein: Der Jude lernt wieder, sich in die Geschichte, die Bräuche, das Wesen seines Volkes zu vertiefen, ihren Wert, ihre Schönheit zu empfinden, an jüdische Dinge zu denken, von jüdischen Dingen zu sprechen und unter dem Worte „jüdische Dinge“ nicht nur Sonnabendnachmittag-→ Synagogenhofklatsch und → Kehillaintrigen zu verstehen, sondern Größeres, Würdigeres,
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Schöneres, die geistigen und materiellen Aufgaben eines Volkes, das groß ist durch seine Vergangenheit, seine heiligen Bücher, seine Leiden und seine Ideale. Im Zionsverein wird der Jude dazu erzogen, wieder ein vollberechtigter Bürger seines eigenen Volkes zu werden, sich auch noch um etwas anderes als um sein tägliches Brot zu bekümmern, in seinen Volksangelegenheiten mitzureden und mitzustimmen, seinen Willen auszudrücken und sich den Mehrheitsbeschlüssen zu unterwerfen. Hat er dies alles gelernt, dann ist er für die Volksaufgaben reif und darf ernstlich an die Heimkehr nach Palästina denken. Dann können seine Führer vor die Mächte hintreten und ihnen sagen: „Genau soundso viele Juden, die Mitglieder von soundso vielen Zionsvereinen in soundso vielen Ortschaften sind, haben uns nach sorgfältigen Beratungen und unanfechtbaren Abstimmungen durch ihre Abgeordneten auf unseren Kongressen diesen und diesen Auftrag gegeben. Wir versprechen euch im Namen dieser Auftraggeber das und das. Erwägt, ob ihr unser Gesuch gewähren könnt.“ Die Führer können dann auch sicher sein, dass kein zionistischer Jude sich rührt, ehe die Führer ihm sagen: „Kommt!“, dass kein einzelner Jude ungeduldige, überstürzte, → anarchistisch-chaotische Bewegungen auf eigene Faust ausführt, sondern wie ein guter Soldat das vollbringt, was ihm von den verantwortlichen Führern aufgetragen wird. Dann ist Einheit und Harmonie in der Arbeit verbürgt. Dann können zuerst die Brauchbarsten und Tüchtigsten ausgewählt und als Vorhut nach Palästina geschickt werden, um zunächst Straßen und Häuser zu bauen und Werkstätten zur Herstellung von allem, was zur Einrichtung von Ansiedlern nötig ist, zu öffnen. Auf diese Vorhut folgen Pioniere der Landwirtschaft, die einen festen Rahmen für eine Bevölkerung bilden können, die rasch von diesen ersten Meistern lernen soll, den Boden zu bearbeiten und Vieh zu züchten. Auf diese Weise kann Palästina vor einer tumultuösen und verheerenden Überschwemmung mit Juden bewahrt, dagegen planmäßig, methodisch mit Juden überrieselt werden. Die Organisation, die Mannszucht haben den Wert einer → Irrigationsanlage. Man öffnet die Schleuse, lässt so viel Wasser laufen, wie für den Zweck nötig und nützlich ist, und schließt die Schleuse wieder, so oft und so lang es der Zweck erfordert. Ist das Judentum im Galuth stramm organisiert und gehorcht es den Berufenen, die es mit dem großen Werke betraut hat, so kann seine Überleitung nach Palästina in großen, geregelten Güssen rasch und gefahrlos erfolgen. Dass es zu arbeiten weiß, wenn man ihm genau zeigt, wie es arbeiten soll, wenn es einen festen Rahmen, Lehrmeister und einen Plan vorfindet, davon bin ich so sicher überzeugt wie von meinem eigenen Leben. → Moses hat zur Erziehung seines Volkes vierzig Jahre für nötig gehalten. Die heutigen Verhältnisse gestatten, glaube ich, eine Abkürzung dieser Frist. Denn wir haben in den 1800 Jahren des Galuth mehr zu lernen Gelegenheit gehabt als unsere Väter → in den wenigen Geschlechtsaltern der Pharaonischen Knechtschaft, und unser Galuth bietet uns nicht genug Fleischtöpfe, nach denen wir uns zu sehnen hätten und die wir erst vergessen müssten, ehe wir brauchbare Bürger Palästinas werden können. Wir können schon nach kurzem Wüstendrill zu dem Heere von Ge-
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waltigen werden, das → unter Josuas Führung die kanaanitischen Großtaten vollführte. Aber ganz kann dem jüdischen Volke der Wüstendrill natürlich nicht erspart werden. Also gehe jeder einzelne Jude ans Werk. Er sage sich, dass er sein Heil nicht von außen, von oben, sondern nur von sich selbst, von seiner eigenen Anstrengung zu erwarten hat. Das Ziel wird ihm nicht geschenkt werden, sondern er muss es nach seinem vollen Werte mit der Kraft seiner Arme, mit dem Schweiße seiner Stirne, mit dem Ernst seiner Seele erkaufen und bezahlen. Er muss zuerst Zion in seinem eigenen Herzen aufrichten, damit es im heiligen Lande aufgerichtet werden könne. Er darf nicht fragen: „Was geschieht in Wien für den Zionismus?“, sondern er muss sich sagen: „Gestern war ich kein Zionist, heute bin ich Zionist, folglich hat der Zionismus seit gestern einen Fortschritt gemacht, das ist für mich die große zionistische Neuigkeit des Tages.“ Die Juden haben nicht darauf zu warten, dass in Wien ein Wunder geschieht, Wien wartet darauf, dass sich unter den Juden das → Wunder Ezechiels vollzieht, die → Wiederversammlung der zerstreuten dürren Knochen, ihre Bekleidung mit Fleisch, ihre Belebung durch den Hauch. Werdet ein Volk, jüdische Brüder! Beweist, dass ihr lebt, indem ihr euch in Vereinen zu Kompanien und Regimentern ordnet! Zählt euch, erhebt eure Stimme, sprecht euren Willen aus! Dann braucht ihr keinen Augenblick daran zu zweifeln, dass ihr in eurer Mitte Männer finden werdet, die ihr getrost an eure Spitze stellen könnt, denen ihr mit Vertrauen folgen dürft und die euch zum Siege führen werden. Quelle: ZS1, S. 320–328, dort mit Verweis auf die Quelle: → Achiassaf, 1898.
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14 Ein Brief Nordaus Dr. Max Nordau hat an den → Herausgeber des „Haschiloach“, Herrn U. Ginzberg, folgenden Brief gerichtet: Sehr verehrter Herr Kollege! Ich danke Ihnen, dass Sie mir den „offenen Brief“ eines → Herrn Lubitzki an mich zugänglich gemacht haben. Nachdem ich ihn gelesen habe, verhehle ich Ihnen meine Verwunderung nicht, dass Sie einen derartigen Aufsatz des Abdruckes im „Haschiloach“ für würdig gehalten und dass Sie geglaubt haben, meine Aufmerksamkeit auf ihn lenken zu sollen. Wenn ich ihn kurz beantworte, so geschieht es, seien Sie dessen überzeugt, ausschließlich aus Achtung für Sie und für die Leser der Zeitschrift, in der er hat erscheinen können. Ich habe mich redlich bemüht, dem verworrenen Gerede etwas wie einen Sinn abzugewinnen. Dieser Sinn, soweit das Zeug einen solchen überhaupt etwa hat, wäre anscheinend dieser: Es gibt Juden, denen das Leben Selbstzweck ist, die nur leben wollen, ohne sich um ein Lebensziel, um eine Lebensaufgabe, ein Lebensideal zu kümmern, die sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, was der folgende Tag bringen mag, sondern an jedem Tage nur für diesen Tag selbst sorgen; die als Sklaven, als Hunde leben wollen, wenn sie nur leben. Dann gibt es Juden, die eine Hoffnung und ein Ideal haben und die Leiden der Gegenwart nur ertragen, weil sie bestimmt darauf rechnen, dass sie sich durch ihre Ausdauer im Dulden und durch ihre aktiven Anstrengungen eine hellere Zukunft bereiten. Ich nehme mit der größten Zuversicht an, dass dieser Herr Lubitzki nur für sich allein spricht und nicht im Namen eines auch nur irgendwie nennenswerten Bruchteils des jüdischen Volkes. Denn ich achte meinen Stamm und möchte fortfahren, ihn achten zu dürfen. Es ist ganz klar, dass ich, der ich ein Jude der Hoffnung und des Ideals bin, nicht das Geringste mit einem Juden gemein habe, der nur leben will, als ein Sklave, als ein Hund, aber nur leben. Für diesen Sklaven- und Hunde-Juden ist tatsächlich kein Platz im Zionismus. Denn der Zionismus ist eine Bewegung jener Juden, die nicht als Sklaven, sondern als Freie, nicht als Hunde, sondern als Menschen leben wollen. Wir verzichten darauf, solche Gegner zu bekehren, die → zynisch (ohne Wortspiel!) erklären, dass sie Sklaven und Hunde bleiben wollen. Es ist uns eine Beruhigung, dass sie unsere Gegner sind. Es würde uns ängstlich machen, wenn sie aufhören würden, unsere Gegner zu sein. Den Sklaven- und Hunde-Juden haben wir nichts zu sagen. Hätten wir ihnen noch etwas zu sagen, so wäre es höchstens dieses: „Ihr seid nicht nur, wie Ihr Euch rühmt, Sklaven und Hunde, Ihr seid auch vor allen Dingen Esel, die größten Esel der Welt. Ihr wollt nur leben, nichts als leben, ohne Hoffnung, ohne Ideal, ohne Zukunft, ohne Zweck? Nun, dann könnt Ihr es nicht törichter anfangen, als Ihr es tut. Mit Eurer Sklaven- und Hunde-Theorie werdet Ihr nicht leben, sondern sterben. Je-
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der höher gesinnte Jude, den der erste Strahl der → Aufklärung erreicht, wird sich beeilen, dem zukunfts-, zweck- und hoffnungslosen Sklaven- und Hunde-Judentum den Rücken zu wenden. Kann er lateinisch, wird er schamrot werden, wenn er → Juvenals Vers liest: Et propter vitam vivendi perdere causas.* Versteht er Deutsch, wird ihm → Schillers Vers: Das Leben ist der Güter höchstes nicht – das Blut in die Wangen treiben. Und er wird einen Ekel bekommen vor Euch Feiglingen, die Ihr Euch an ein Leben ohne Ehre und Ideal klammert, wenn er Euch mit den Völkern vergleicht, denen das Leben nur um seines geistig-sittlichen Inhalts willen Wert hat.“ Der zweite halbwegs fassbare Gedanke, den der Wortschwall des Aufsatzes mühselig auszudrücken sucht, scheint dieser zu sein: Die Zionisten „versprechen“ dem jüdischen Volke allerlei. Wenn sie nun aber diese „Versprechungen“ nicht halten? Die Geschichte lehrt uns, gegen derartige „Versprechungen“ äußerst misstrauisch zu sein. Denn wenn das Unternehmen misslingt, so ist unsere Lage noch viel schlimmer, als sie vorher war. Darum bleiben wir ruhig, wie wir sind, und tun wir um Gotteswillen nichts, was neues Unheil über uns bringen könnte! Nun wohl. Hier meine Antwort auf diesen Einwand. Woher nimmt der Sklaven- und Hunde-Jude das Recht, von „Versprechungen“ der Zionisten zu reden? Wo und wann haben wir dem Judenvolke etwas anderes versprochen, als dass wir ihm alle unsere Kräfte und wenn nötig auch unser Leben widmen wollen, dass wir für es arbeiten wollen, bei Tag und Nacht? Das haben wir versprochen und das werden wir halten. Etwas anderes haben wir nicht versprochen und konnten wir nicht versprechen. Wie oft sollen wir dies noch wiederholen? → Zion ist kein Geschenk, das wir dem Judenvolke machen können. Das Judenvolk muss selbst arbeiten, muss sich selbst anstrengen, um Zion zu erringen. Wir geben ihm nur ein Beispiel. Wir zeigen ihm nur die Richtung. Wir schlagen ihm nur ein Arbeitsprogramm vor. Der Verfasser des Aufsatzes spielt auf das „Beispiel der Geschichte an, das die Juden misstrauisch machen muss“. Er ist nicht der erste, der diese Anspielung macht. Einige → Protestrabbiner haben es vor ihm getan. Reden wir deutlich. Mit diesem „Beispiel der Geschichte“ sind offenbar Sabbathai Zewi und sein entfernter Schüler Frank (Jankiew Leibowitz) gemeint. Es gehört aber ein ungewöhnliches Maß von Unverstand oder schlechtem Glauben dazu, den modernen Zionismus mit der Sabbathai Zewi- oder → Frankisten-Bewegung zu vergleichen. Sabbathai Zewi und Frank behaupteten, der → Messias zu sein, sie versprachen dem Judenvolke Wunder des Himmels und gaben vor, übernatürliche Gewalt zu besitzen. Wir aber haben nie ein einziges Wort gesagt, das an diese frechen Schwindler oder unheimlichen Wahnsinnigen erinnern könnte. In unserer Bewegung ist nicht die leiseste Spur von → Mystik. Wir sind nüchterne Rechner. Allerdings stellen wir in unsere Rechnung den Wunsch des Judenvolkes, sich als Volk zu erhalten und zu diesem * Um des Lebens willen den Zweck des Lebens aufgeben!
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Zwecke eine Anstrengung zu machen, als eine der Zahlen ein. Wir behaupten nicht, Messias oder die kleine Münze des Messias zu sein. Wir wissen, dass wir keine übernatürliche Gewalt haben, und glauben an keine Wunder des Himmels. Wie darf man sich also erdreisten, dem heutigen Zionismus das Beispiel Sabbathai Zewis und Franks zwischen die Beine zu werfen? „Und wenn der Zionismus misslingt, was dann?“ Meinetwegen. Sprechen wir auch von diesem Falle. Wir glauben an das Misslingen nicht. Wir leugnen indes nicht, dass ein Misslingen denkbar ist. Ein Element von Wagnis, von Ungewissheit ist ja in jedem Unternehmen enthalten. Jedes Mal, wenn man etwas beginnt, besteht die Möglichkeit, dass es fehlschlägt. Aber man würde niemals das Geringste tun, wenn man immer nur an die Möglichkeit des Fehlschlagens denken würde, an diese eine Möglichkeit, der vielleicht zehn oder hundert Wahrscheinlichkeiten des Gelingens gegenüberstehen. Das einzige, was man von einem verständigen Menschen fordern und erwarten darf, ist, dass er sich auf kein Unternehmen einlässt, bei dem das mögliche Risiko größer ist als der wahrscheinliche Nutzen. Was ist das Risiko des Zionismus? Stellen wir einmal die Rechnung auf. Der Zionismus verlangt vorläufig vom jüdischen Volke nur zwei Leistungen: eine kleine materielle, eine große moralische. Erstens die materielle. Von den Ärmsten verlangt man überhaupt nichts; von den Armen verlangt man jährlich einen → Schekel, von den Wohlhabenderen verlangt man, dass sie → Aktien der jüdischen Kolonialbank zeichnen. Zweitens die moralische Leistung. Von den Juden, die dem Judentum entfremdet sind, verlangt man die Rückkehr zu ihrem Stamme. Von allen verlangt man Studium der hebräischen Sprache, Pflege der jüdischen Überlieferung, Vertiefung in die jüdische Geschichte, Beschäftigung mit den Angelegenheiten des jüdischen Volkes. Nehmen wir nun an, der Zionismus schlägt fehl; das heißt, wir müssen uns nach fünf, nach zehn Jahren überzeugen, dass wir nicht imstande sind, das Wohlwollen des → Sultans und die Unterstützung der Großmächte zu erlangen und Rechte in Palästina zu erwerben, oder dass das jüdische Volk in seiner ungeheuren Mehrheit gegen unsere Bemühungen gleichgültig, für unsere Weckrufe taub bleibt und nicht mit uns geht. Wer wird bei diesem Ausgang der Besiegte sein? Wir allein, die Arbeiter der ersten Stunde. Wir werden unsere besten Lebensjahre und unsere Lebenskraft verloren haben, wir werden gebrochene Männer sein, wir werden verhöhnt, verleumdet, verachtet werden, unsere Gegner werden uns jubelnd den Fuß auf den Hals setzen, und die Sklaven- und Hunde-Juden am wildesten, am unversöhnlichsten; uns wird nur der einzige Trost bleiben, dass wir das Gute gewollt, an unser Volk geglaubt und unseren Irrtum mit unserem Lebensglück bezahlt haben. Was aber wird das jüdische Volk verloren haben? Fünf oder zehn Schekel, das heißt einen Geldbetrag, den der einzelne Schekelzahler nicht fühlen wird. Das Geld für die Kolonialbank-Aktien wird auch dann, wenn der Zionismus fehlschlägt, in kei-
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nem Falle verloren sein. Es wird sorgsam gehütet und ängstlich verwaltet werden. Dafür bürgen uns die treuen und geschäftskundigen Männer, die wir zur Leitung der Bank berufen werden. Und die moralischen Leistungen der Zionisten werden doch wohl den Zionisten nicht geschadet haben. Das brauche ich hoffentlich nicht zu beweisen. Selbstverständlich ist, dass wir keinem einzigen Juden zurufen werden: „Verlasse Dein Geburtsland und folge uns nach Palästina!“ – ehe wir ganz sicher sind, dass wir ihm in Palästina sofort mindestens ebenso gute Daseinsbedingungen bieten können wie in seinem Geburtslande, und in absehbarer Zeit erheblich bessere. Solange wir diese Sicherheit nicht haben, werden wir uns sorgfältig hüten, auch nur einen einzigen Juden zur Auswanderung nach Palästina zu bewegen. Diese Sicherheit werden uns gewähren: 1. die genaue wirtschaftliche Erforschung Palästinas, die unsere nächste Aufgabe ist; 2. das Recht, an dessen Erwerbung wir jetzt arbeiten; 3. das Geld, das unsere Bank besitzen wird. Haben wir die Kenntnis, das Recht und das Geld, so bedeutet das den Erfolg des Zionismus. Erlangen wir diese drei Dinge nicht, so bedeutet dies den Misserfolg des Zionismus, aber dann wird kein Jude davon den geringsten materiellen und moralischen Schaden haben, kein Jude, ausgenommen – wir, die unsere Kraft und unseren Ruf in den Vorarbeiten aufbrauchen. Das ist meine Antwort auf die unerhörte Frage: „Wie, wenn der Zionismus misslingt?“ Wenn mir die Sache nicht so heilig wäre, würde ich an → eine lustige Anekdote erinnern. Einem schmutzigen und krätzigen Judenjüngling wurde eine Brautschau vorgeschlagen. Nur verlangte der → Schadchen, dass der junge Mann, ehe er sich seiner Zukünftigen vorstelle, ein Bad nehme und die Krätze heilen lasse. Da protestierte der Jüngling: „So? Wie aber, wenn aus der Heirat nichts wird?“ „Wie, wenn aus dem Zionismus nichts wird?“ Dann werden einige Juden ein Bad genommen und ihre Krätze geheilt haben. Das ist ja freilich ein schweres Opfer, aber dieses Opfer müssen wir dem Jüngling schon zumuten, wenn er eine Braut gewinnen will. Ich könnte noch auf den Widerspruch hinweisen, den der Verfasser des Aufsatzes begeht, wenn er zuerst erklärt, der Jude dürfe niemals in die Zukunft blicken, dann aber sehr weit in die Zukunft blickt, um dort ein Argument gegen den Zionismus zu entdecken, das er in der Gegenwart vergebens sucht; aber für solche → pilpulistische Spielereien habe ich wirklich nicht genug freie Zeit. Seien Sie brüderlich gegrüßt von Ihrem ergebensten Dr. Max Nordau. Paris, 8. November 1898. Quelle: Die Welt, 20.1.1899, H. 3, S. 2–4.
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15 [Schreiben Nordaus an die Wochenschrift Hapisgah] Chicago. Max Nordau hat vor kurzer Zeit an die Redaktion der in Chicago erscheinenden → hebräischen Wochenschrift „Hapisgah“ ein Schreiben gerichtet, das wir hier auszugsweise wiedergeben: „Eine Menge von Lumpenproletariern und → Schnorrern werden wir nicht haben und werden wir auch niemals aufkommen lassen. Wir werden alle arbeiten, und wenn auch nach meiner Berechnung einstweilen unser Kohl nicht allzu fett sein dürfte, so werden doch wenigstens keine Ausbeuter und Blutsauger im Judenstaate zu finden sein. Dies verbürgt uns sowohl die Lehre Mosis als auch die national-→ ökonomische Schulung, die wir aus Europa hinüberbringen werden. Das jüdische Volk wird sich sowohl mit dem Ackerbau als auch mit der Industrie beschäftigen, denn ein gesunder, natürlich gearteter Stamm kann sich nur durch beide Erwerbszweige ernähren. Irgendeinen Menschen zu zwingen, diese oder jene Arbeit zu wählen, das kann niemandem beifallen und dazu hat auch niemand die Macht. Jedermann wird sich seinen Lebensweg selber ausersehen. Wer Lust hat, in einem → Gewerkshaus zu arbeiten und einer Maschine vorzustehen, der kann nicht genötigt werden, den Pflug oder den Dreschflegel zu handhaben. Wir können für das Volk bloß durch Gesetze Vorsorge treffen, durch eine Wohlfahrtsgesetzgebung, welche beispielsweise bestimmt, dass die Fabriken hygienisch eingerichtet seien, dass der Arbeiter nicht überbürdet und ausgesaugt werde.“ In den weiteren Ausführungen seines Briefes sagt Nordau: „Wir werden in der Bibel ein weises und verständiges Volk genannt. Wenn ich aber das Verhältnis vieler Juden zur zionistischen Frage betrachte, muss ich mich gramerfüllt fragen, ob wir auch wirklich recht haben, uns diesen Namen beizulegen.“ Quelle: Die Welt, 24.2.1899, H. 8, S. 10.
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16 Die Juden sind Ausbeuter Der Jude ist ein Ausbeuter. Das ist ein Dogma. Das Grunddogma des Antisemitismus. Man erweitert es durch liebevoll gewählte Synonyme: Der Jude ist ein → Schmarotzer; er lebt von der Arbeit der anderen usw. Man hat diese Behauptung so oft wiederholt, dass auch die seltenen → „Arier“, die von allem Judenhasse frei sind, ehrlich an sie glauben und sich darauf beschränken, mildernde Umstände geltend zu machen. „Wenn die Juden Ausbeuter sind, so ist es, weil sie begabter sind als andere Völker und weil für sie die Versuchung stärker ist, ihre geistige Überlegenheit zu missbrauchen. Wenn sie Schmarotzer sind, so ist es, weil wir sie gezwungen haben, es zu werden“ usw. Diese Entschuldigungen sind freundlich. Wir sind von ihnen gerührt. Aber wir lehnen sie mit Dank ab. Ehe man gegen uns eine Nachsicht übt, die wir nicht verdienen würden, wenn wir sie anzurufen hätten, wolle man sich gütigst herbeilassen, die Versicherungen unserer Feinde zu prüfen. Wenn eine Verleumdung erst Gemeinplatz geworden ist, untersucht man sie nicht mehr, sondern nimmt sie an und gibt sie weiter wie → geltende Scheidemünze. Unterbrechen wir diese bequeme Gewohnheit. Viele ganz wackere Leute sind überzeugt, eine nie bestrittene, unbestreitbare Wahrheit auszusprechen, wenn sie einander nachschwatzen: „Der, Jude ist ein Ausbeuter.“ Halten wir den schmierigen, abgegriffenen Pfennig auf. Betrachten wir ihn uns etwas aufmerksamer. Wir werden sofort entdecken, dass er falsch ist und, nach französischem Brauch, auf das Ladenpult genagelt zu werden verdient. Ein Wort zunächst vom „jüdischen Ausbeuter“ in der Geschichte. An seinen Anfängen treffen wir ihn in Ägypten. Was treibt er dort? Er tut Sklavenarbeit. Er ächzt in den Ziegelgruben und Steinbrüchen Pharaos. → Er streicht Backsteine, schleppt Lasten und empfängt als Lohn Peitschenhiebe. Sehen Sie diesen nichtswürdigen Ausbeuter? Er zwingt die armen ägyptischen Sklavenvögte, die Nilpferdpeitsche heftig über ihn zu schwingen, eine peinliche Anstrengung in einem so heißen Lande wie dem Niltale. Im Mittelalter ist der Jude der → allgemeine Pfandleiher, der Bankier der Könige, Herren und Kirchenfürsten. Wie kam das? Die Mächtigen, die allein Bargeld, wie überhaupt alle Reichtümer besaßen, wollten nicht selbst um Zinsen leihen, da die Kirche diese Art Geschäfte verbot. Sie beriefen also Juden zu sich und zwangen sie, Vermittler zwischen ihnen und den Borgern zu sein. Die Herren lieferten das erste Kapital, der Jude besorgte seine Verwendung. Er nahm die Mühsal der Überwachung, die Verantwortlichkeit für die Eingänge auf sich; er lenkte auf sein Haupt den Hass des Borgers, der immer vergnügt einsackt und immer mit Schmerz bezahlt; und wenn er es durch diese undankbare Arbeit fertiggebracht hatte, das Kapital mit einigermaßen ansehnlichen Zinsen abzurunden, beeilten die Herren sich, ihm alles zu entreißen und den Juden der Volkswut auszuliefern. Auf diese Weise verwerteten die Herren ihr Geld, ohne das → Kirchenverbot des Wuchers zu übertreten, und schunden das Volk, ohne ihre Beliebtheit zu gefährden. Wäre der Jude
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nicht gewesen, das Feudalsystem hätte um fünf Jahrhunderte früher verschwinden müssen. Aber die regelmäßigen Judengemetzel wendeten durch sehr lange Zeit den Hass der Menge von den Herren ab und diese konnten ungestraft Schweiß und Blut des Volkes an sich pumpen, indem sie sich des Juden wie einer → Hohlnadel bedienten, deren Stich schmerzt. Die christlichen Chroniken des Mittelalters erwähnen des Juden immer nur, wenn sie zu erzählen haben, dass er ermordet oder in den Rechtsformen verbrannt, gehängt oder nach gewissenhafter Plünderung vertrieben wurde. Die einzige Rolle, die er spielt, ist die eines Gefolterten oder eines geschändeten Leichnams. Sonderbarer Geschmack bei einem Ausbeuter! In der Dichtung erstaunt uns der Ausbeuter durch die nämliche Seltsamkeit seiner Gewohnheiten. Nehmen wir das bekannteste Beispiel: → Shylock. Dieser sprichwörtliche Bösewicht wird von einem edlen „Arier“ bestohlen, der ihm sein Geld, seine Juwelen und noch obendrein seine Tochter, das einzige Wesen auf Erden, das er liebt, abgaunert. Und → Shakespeare ist sichtlich überzeugt, uns das vollendete Urbild des Ausbeuters gezeigt zu haben! Wahrhaftig, das Ausbeutergeschäft ist in Shakespeares Stück nicht einträglicher als im feudalen → Ghetto. Doch lassen wir Geschichte und Theater und blicken wir um uns in die gesegnete Wirklichkeit, die wir erleben und kennen. Man weiß, wie sehr wir überall geliebt werden und welche Empfehlung unsere Eigenschaft als Juden für uns ist. Auf jedem Gebiete menschlicher Tätigkeit ist der Jude, der sich einen Platz erobern will, gezwungen, Hindernisse zu überwinden, die sein „arischer“ Wettbewerber niemals kennt. Er hat gegen sich Vorurteile und Hass, die er nur mit weit mehr als durchschnittlichen Anstrengungen besiegen kann. Die Summe von Arbeit, die dem „Arier“ den Erfolg sichert, ist durchaus ungenügend, um dem Juden Würdigung zu verschaffen. In jedem Wettbewerbe vermindert persönliche Voreingenommenheit der Richter unbewusst (übrigens nicht einmal immer unbewusst) die Anzahl der Punkte des Juden auf die Hälfte und weist diesem seinen Rang neben solchen „arischen“ Wettbewerbern an, denen er tatsächlich um das Doppelte überlegen ist. Das Maß von Begabung, das dem „Arier“ die Pforten der Akademie öffnet, hat einem Juden noch niemals einen Lehrstuhl verschafft. Um einen solchen zu erobern, müsste er ein Genie sein. Und selbst dann ist er ihm keineswegs gewiss. So viel steht fest: Auch wenn Deutschland eine Akademie für Dichter und Schriftsteller gehabt hätte, die – doch getauften! – Juden Heine und → Börne wären niemals deutsche Akademiker geworden. Das gleiche Missverhältnis zwischen Anstrengung und Lohn beobachtet man in der Wissenschaft, Kunst, Politik. Überall wird bei gleichem Verdienste mit Selbstverständlichkeit der „Arier“ vorgezogen. Dem Juden gegenüber besteht die Gerechtigkeit darin, dass man ihm alle amtlichen und gesellschaftlichen Preise ungefähr viermal so hoch anrechnet wie seinem „arischen“ Wettbewerber. Dasselbe gilt vom jüdischen Gewerbetreibenden und Kaufmann. Wann wendet man sich an den jüdischen Makler? Wenn man ihn als eifriger, gewandter, zuverlässiger, fähiger, tätiger kennt als seinen „arischen“ Wettbewerber. Der jüdische Geschäftsmann, der jüdische Gewerbetreibende muss, um Kunden zu gewinnen und
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zu bewahren, billiger verkaufen und Besseres liefern als der „Arier“ nebenan. Warum gibt es keinen jüdischen → Felix Potin (großes Pariser Kolonialwarenhaus), keine jüdische → Frau Boucicault (Gründerin des bekannten „Bon Marché“)? Ist etwa der jüdische Geist zu beschränkt, um den lichtvollen Gedanken dieser beiden Schöpfer zu fassen? Das glaubt niemand ernstlich. Aber um den Erfolg dieser Unternehmer zu erringen, hätte der Jude größere Vorteile bieten müssen, was nicht gut möglich war, bei gleichen Vorteilen aber geht der Käufer in das „arische“ Kolonialund Modewarenhaus und verschmäht die Geschäfte von Cahen, Lévy oder Bloch. In der „arischen“ Gesellschaft ist also der Jude überall und immer gezwungen – er möge nun einen Hochschul-Lehrstuhl oder eine Hühneraugenoperateur-Kundschaft erstreben, eine Salonmedaille erringen oder im Opernglashandel Seide spinnen wollen –, doppelte Arbeit zu halbem Preis zu liefern. Derjenige aber, der viermal so viel gibt, als er empfängt, heißt in allen Sprachen ein Ausgebeuteter. Der, Jude, der in einer feindseligen Umgebung leben muss, ist → in der Lage des Fremden in Trouville während der Rennwoche. In Winkelgasthäusern, für Speisereste, bezahlt er → Café-Anglais-Rechnungen und schläft auf einem Billard für den Preis eines Bettes im → Hotel Continental zur Grand Prix-Zeit. Wer hat den Vorteil von dieser Sachlage? Einzig die „arische“ Gesellschaft. Sie erhält Judenarbeit zu unsittlich billigem Preise. Sie übt gegen den Juden das → „Sweating“-(Schwitz-)System, das man mit so erbaulicher Entrüstung anklagt, wenn es auf einige tausend jüdische Schneider in London und Leeds angewandt wird. Aber der „Sweater“, der Unternehmer, der seine jüdischen Opfer achtzehn Stunden lang für 60 Centimes arbeiten lässt, schreit wenigstens nicht über Ausbeutung und beschuldigt diejenigen, die er auffrisst, nicht noch, ihn auszubeuten. Die Antisemiten haben mehr Humor. Sie machen sich ruhig den Umstand zunutze, dass der Jude gezwungen ist, seine Arbeit überall und immer um ein Viertel ihres Wertes herzugeben, und nennen gleichzeitig mit einer → Antiphrasis, die ihnen sehr geistreich und besonders drollig vorkommen muss, denjenigen einen Ausbeuter, der ihnen alles gibt und fast nichts dafür empfängt. Die Wahrheit ist, dass der einzige, der ewige Ausgebeutete der Jude ist. Und er wird niemals den gerechten Gegenwert seiner Leistungen erlangen können, solange der ihn umgebende Hass in den Augen der ungeheuren Mehrheit der „Arier“ seine Arbeit, seine Fähigkeiten, alles, was er tut und schafft, entwertet. Quelle: ZS1, S. 332–337, dort mit Verweisen auf die Quelle und Übersetzung: → Le Flambeau, 1899. Aus dem Französischen. Ferner in: Die Welt, 17.3.1899, H. 11, S. 1–2.
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17 → Vortrag, gehalten in Amsterdam, 17. April 1899 Meine Damen, meine Herren! Es widerfährt uns oft, dass Wissbegierige, meist Christen, die Frage an uns richten: „Was will der Zionismus?“ Wir antworten: „Jenen in beide Welten verstreuten Juden, die in ihrer Volksumgebung nicht aufgehen können oder nicht aufgehen wollen und die darunter leiden, dass sie von ihren Landgenossen in Glauben und Art verschieden sind, will der Zionismus eine rechtlich gesicherte Heimstätte in Palästina schaffen, wo sie sich individuell und national ausleben können.“ Wir sehen dann häufig, wie die Frager den Kopf schütteln und erwidern: „Von dem amtlichen Judentum, den Rabbinern und Gemeindevorstehern, werden Sie verleugnet. Von den reichen, den gesellschaftlich angesehenen Juden werden Sie bekämpft. Selbst unter den armen Juden sehen wir noch nicht den großen, allgemeinen Zug zu Ihnen hin. Wo sind denn also die zionistischen Juden? Für welche Juden arbeiten Sie eigentlich?“ Für welche Juden arbeiten wir eigentlich? Das ist eine Frage, die wir uns in Stunden bangen Zweifels selbst vorlegen. Eine Antwort finden wir sofort, die uns beruhigt und aufrichtet. Wir arbeiten für uns selbst. Wir haben ein Ideal und bekennen uns stolz dazu. Wir haben ein Lebensziel und schreiten zuversichtlich darauf los. Wir haben mit der überlieferten leidenden Haltung unseres Stammes gebrochen und uns entschlossen, mit Anspannung aller unserer Kräfte unser Erdenschicksal selbst zu schmieden. Das Endergebnis mag sein, welches es wolle, wir spüren schon jetzt an uns den Segen der Tat. Wir fühlen, dass wir der Nacht den Rücken wenden und dem Licht entgegengehen. Das Morgenrot der Zukunft bestrahlt unsere Stirne. Wir haben in der Betätigung unseres Willens zu menschenwürdigem Dasein Selbstachtung gewonnen und schöpfen aus dieser Selbstachtung die Kraft und das Recht, die Verachtung anderer, vorausgesetzt, dass es überhaupt noch jemand geben sollte, der uns, die lauten und offenen Bekenner des Zionismus, zu verachten heuchelt, als einfache Dummheit zu belächeln. Diese Gehobenheit in unseren eigenen Augen, diese sittliche Befriedigung über unsere Diensttreue gegen → unseren kategorischen Imperativ gewährt uns seelische Genugtuungen, welche freilich jenseits des Begriffsvermögens unserer persönlichen Feinde und Verleumder liegen, die in ihren eigenen sumpfigen Sklaven- und Hundeseelen nach den möglichen Beweggründen unseres Tuns suchen und in solchen Schlammpfützen natürlich nichts Reinlicheres finden als Eitelkeit. Wir arbeiten also in erster Reihe für uns selbst. Doch nicht „für uns“ – das heißt für das kleine Häuflein von Zionisten der ersten Stunde, allein auch nicht bloß für diejenigen Juden, die sich bereits ausdrücklich für uns erklärt haben, indem sie einem zionistischen Verbande beigetreten sind und die freiwillige Volksabgabe, den → Schekel, bezahlen. Wir haben die Überzeugung, auch für die schweigenden Millionen von Stammgenossen zu arbeiten, die, wie die große Menge dies ja immer zu
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tun gewohnt ist, noch gleichgültig bleiben, noch abwarten und ihre schwerfälligen Massen erst in Bewegung setzen werden, wenn die Regsameren, die Entschlosseneren Wege gebahnt und erste, einladende Haltestellen angelegt haben werden. Unsere Berechtigung, im Namen des ganzen jüdischen Volkes zu sprechen, Zukunftspläne auszuarbeiten und an Regierungen mit Gesuchen heranzutreten, schöpfen wir aus der geschichtlichen und sittlichen Kraft unseres Gedankens, aus dem förmlichen Auftrage der Wähler zu den beiden Baseler Kongressen und sogar aus dem eine Zustimmung in sich schließenden Schweigen der jüdischen Millionen, die man vergebens mit allen Mitteln gegen uns aufzuhetzen sucht. Nachzuweisen haben wir unsere Berechtigung bloß jenen gegenüber, die uns laut verleugnen und die den Anspruch erheben, dass man ihre Absage als die Absage des jüdischen Volkes an uns betrachte. Vor allem kommen hier die finanziellen Größen unseres Stammes in Betracht. → Die jüdischen Millionäre und Milliardäre, wenn es solche gibt, haben zwar nicht durchweg, doch großenteils gegen den Zionismus Partei genommen. Sie verspotten uns entweder von der Höhe ihrer Geldsäcke herab oder sie gebrauchen gegen uns und unsere Bewegung Ausdrücke des Zornes. Diese Haltung der Reichen kann uns natürlich nicht gleichgültig sein. Einmal beraubt sie uns der Geldmittel, auf die wir in unserer Herzenseinfalt beim Beginn unserer Anstrengungen bestimmt rechnen zu dürfen glaubten und ohne die eine große, friedliche, zugleich wirtschaftliche und politische Volksbewegung in unseren Tagen nun einmal nicht durchzuführen ist. Wir werden das erforderliche Geld dennoch finden, teils bei den mittleren und kleinen Leuten unseres Stammes, teils, wenn dies nötig sein sollte, in der christlichen Welt, die wir zu überzeugen suchen werden, dass sie bei uns eine sichere und einträgliche Geldanlage findet und zugleich ohne Opfer ein ideales Sühnewerk zu vollbringen hilft. Wir hätten es lieber vermieden, die christliche Teilnahme und Unterstützung anzurufen. Wir werden es aber tun, wenn die Feindschaft oder Gleichgültigkeit der jüdischen Reichen uns dazu zwingt. Wir haben dafür Entschuldigungen genug vor unserem eigenen Gewissen. Es wäre schließlich falscher Stolz, das nötige Geld zur Wiederbelebung eines Landes, das durch den Fleiß und die Kraft unseres Volkes zu neuer Blüte gebracht werden soll, nicht aus jeder anständigen Hand anzunehmen, die es uns anbieten will. Kein Volk bedenkt sich, bei anderen Völkern Anleihen zu machen, und ich sehe nicht ein, weshalb das arme Judenvolk wählerischer und schwieriger sein soll als das gewaltige und mächtige Russland oder als die hochgemuten neuen Völker Amerikas und Australiens. Aber selbst wenn unsere Eigenliebe darunter leiden sollte, so müssen wir eben leiden. Wo es sich um das Wohl des jüdischen Volkes handelt, da haben wir kein Recht, uns in unseren persönlichen Stolz zu hüllen. Werden uns Demütigungen zugefügt, so werden wir auch Demütigungen ertragen und sie in den Schornstein zu den anderen Opfern schreiben, die der Zionismus uns auferlegt. Unsere Schamröte komme über das Haupt der Reichen, durch deren Schuld wir dem Erröten ausgesetzt werden!
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Aber auch aus einem zweiten Grund ist uns die Haltung der jüdischen Millionäre nicht gleichgültig. Die maßgebenden christlichen Kreise, diejenigen, an deren Meinung uns liegen muss, wissen von den inneren Verhältnissen des Judentums nichts. Die einzigen Juden, die sie kennen und mit denen sie verkehren, sind die großen → Geldjuden. Teils drängen sich diese bei ihnen ein, teils ziehen die christlichen Kreise sie mit habsüchtigen Hintergedanken zu sich heran. Im jüdischen Millionär sieht der Christ, selbst der vornehme Christ, gleichsam die Blüte des jüdischen Stammes, die ideale Verkörperung seiner Eigenschaften. Und er muss glauben, dass das jüdische Volk selbst diese Anschauung teilt, denn er findet den jüdischen Millionär nicht nur an der Spitze des Verwaltungsrates der Banken und Aktiengesellschaften, er findet ihn auch an der Spitze der jüdischen Gemeinden und aller jüdischen Organisationen. Die freie Wahl des jüdischen Volkes scheint die Auffassung des Christen zu bestätigen, dass der jüdische Millionär, mit dem er gesellschaftliche Beziehungen unterhält, der Vertrauensmann und berufene Vertreter des jüdischen Volkes ist. Der Staatsmann, der Aristokrat, der hohe Offizier, der Professor, der vom Zionismus gehört hat – denn das haben unsere Feinde mit allen ihren Künsten nicht verhindern können! –, fragt die jüdischen Millionäre, mit denen er persönlichen Umgang hat: „Was ist denn das mit dem Zionismus?“, und erhält als Antwort entweder ein verächtliches Achselzucken oder die lächelnde Auskunft: „Eine Narrheit einiger → obskurer Skribler, die von sich reden machen wollen, und einiger russischer Juden, die nichts anderes sind als verkappte Nihilisten.“ Was Wunder, dass der Frager sich mit dieser Aufklärung bescheidet und uns dann in dem Lichte sieht, in dem die jüdischen Millionäre uns ihm gezeigt haben! Es ist uns nicht oft Gelegenheit geboten, die gefälschte Meinung zu berichtigen, und es ist unserer Bewegung, namentlich auf ihren ersten Wegstrecken, natürlich sehr hinderlich, dass sie von der christlichen Welt nicht recht gewürdigt wird, deren Wohlwollen für sie überaus wichtig ist und auf deren Wohlwollen der Zionismus bestimmt rechnen könnte, wenn die maßgebende christliche Welt über ihn besser unterrichtet wäre. Die Feindschaft der meisten großen Geldjuden schadet also dem Zionismus doppelt: materiell, indem sie ihn der Mittel beraubt, auf die er rechnen zu dürfen glaubte, moralisch, indem sie in der christlichen Welt die Meinung erweckt, der Zionismus könne keine ernst zu nehmende jüdische Volksbewegung sein, da die staatlich und gesellschaftlich allein anerkannten Vertreter des Judentums ihn geringschätzig oder entrüstet ablehnen. Den Widerstand der jüdischen Millionäre zu brechen, sie für unsere Sache zu gewinnen, darauf müssen wir vorerst verzichten. Wir haben zuzusehen, wie wir uns ohne ihr Geld behelfen können. Dagegen dürfen wir nicht unterlassen, die christliche Welt darüber aufzuklären, dass die jüdischen Millionäre weder die Verkörperung der jüdischen Eigenschaften noch die berufenen Vertreter des jüdischen Volkes sind, und weshalb es nichts gegen den Zionismus beweist, wenn sie von ihm nichts wissen wollen.
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Die jüdischen Millionäre – um dies nicht immer wiederholen zu müssen, betone ich es ein für alle Male: Ich spreche von ihrer großen Mehrheit, vom Durchschnitt der Gattung, weiß aber sehr wohl, dass es unter ihnen eine kleine Minderheit von achtunggebietenden Ausnahmen gibt – die jüdischen Millionäre haben kein Recht, im Namen des jüdischen Volkes zu sprechen, denn sie kennen es nicht und haben keine Fühlung mit ihm. Ihre Äußerungen über den Zionismus sind rein persönliche Meinungen, die nur die Gefühle der Sprecher selbst und ihrer eigenen Gesellschaftsklasse ausdrücken. Dass die jüdischen Millionäre aber keine Zionisten, dass sie Feinde des Zionismus sind, ist verständlich. Ihr Reichtum gewährt ihnen alle Befriedigungen, die man sich für Geld verschaffen kann, und es gibt heutzutage wenig Befriedigungen, die nicht ihren Marktpreis haben. Warum sollten sie Zionisten sein? Um ihre materielle Lage zu verbessern? Das haben sie nicht nötig. Um einem geschichtlichen und sittlichen Ideal zu dienen? Sie haben kein Ideal und schon das bloße Wort erregt ihre Heiterkeit oder ihr Mitleid. Um der Verfolgung und Beschimpfung zu entgehen? Sie leiden nicht darunter. Für sie besteht der Antisemitismus tatsächlich nicht. Sie gehören zu den bevorrechteten Ständen. Der Staat zeichnet sie durch Orden, Adelstitel, Berufungen ins Herrenhaus aus. Sie betrachten sich als Mitglieder der Aristokratie und diese lässt den Anspruch gelten. Dem christlichen Aristokraten ist der jüdische Millionär ein Vermögen, eine Ziffer auf zwei Beinen, und vor Ziffern hat jeder Realist Achtung. In Geldsachen hört, wie die Gemütlichkeit, so das Rassenvorurteil auf. Noch mehr. Der christliche Aristokrat findet trotz seines grundsätzlichen Antisemitismus den jüdischen Millionär seines Umganges sogar als Menschen ganz nett und lässt ihn dies häufig durch ausgesprochen sympathische Behandlung fühlen. Das ist psychologisch leicht zu erklären. Der Aristokrat wirbt um eine Stelle im Verwaltungsrat der Bank seines jüdischen Freundes und um die wohlgefüllte Hand seiner Tochter. Aus einem natürlichen Bedürfnis der Selbstachtung überredet er sich, dass der Mann, dessen Geld er unter verschiedenen Rechtstiteln annimmt, ja eifrig sucht, auch an sich und abgesehen von seinem Vermögen ein wünschenswerter Umgang für ihn sei. Denn er müsste sich vor sich selbst schämen, wenn er sich zu gestehen hätte, dass er im umschmeichelten Vorsitzenden der großen Bank, im Vater der heiratsfähigen Millionenerbin nur den → Bündeljuden in Salonausgabe sieht und ihm im Grunde alle die Gefühle widmet, von denen sein antisemitisches Herz voll ist. Man muss schon → ein Cäsar wie → Vespasian sein, um zu sagen: „Non olet!“, „Es riecht nicht.“ Dieser Egoismus großen Stils in der Geldgier ist zu imperatorisch für gewöhnliche Edelleute. Der christliche Aristokrat, der nach Judengeld strebt, hält sich vor der Welt und vor sich selbst verpflichtet, dieses Geld vorher durch ein Achtungsbad für die → Großjuden zu reinigen. Ich bin darum zu glauben geneigt, dass die jüdischen Millionäre ganz aufrichtig sind, wenn sie sagen: „Antisemitismus? Was ist das? Das gibt es ja gar nicht!“ Das ist höchstwahrscheinlich in vielen Fällen keine gespielte Naivität, sondern echte. Sie fühlen keinen Antisemitismus. Wenn andere Juden versichern, dass sie den An-
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tisemitismus wohl fühlen, so wissen sie ein unanfechtbares Mittel, ihm zu entgehen: Die Verfolgten brauchen nur Millionäre und Barone zu werden, dann hört die Verfolgung sofort auf. Das ist ihre Lösung der → Judenfrage. Ich muss zugeben, dass diese Lösung auf den ersten Blick eleganter, angenehmer und wünschenswerter scheint als die zionistische. Es wird die jüdischen Millionäre aber vielleicht in Erstaunen setzen, wenn man ihnen sagt, dass ihre Lösung erstens nicht allen verfolgten Juden zugänglich, zweitens nicht so endgültig ist, wie sie scheint. Ich habe bisher zu erklären gesucht, weshalb die jüdischen Millionäre keine Zionisten sind. Es bleibt mir aber noch zu erklären, weshalb viele von ihnen nicht bloß gleichgültig gegen uns sind, sondern uns mit tätigem Hasse verfolgen. Sie fühlen dunkel, dass wir ihre Kreise stören, und dieses Gefühl, über dessen einzelne Quellen sie sich wahrscheinlich selbst nicht klar sind, ist wohlberechtigt. Das Judentum war in den westlichen Ländern im Absterben begriffen. → Mischehen, → Taufen, → Freidenkertum lichteten seine Reihen und man konnte ungefähr den Zeitpunkt voraussehen, wo es sich vollständig würde aufgelöst haben. Das hätte zwar noch nicht sofort den Tod des Judentums selbst bedeutet, denn im Osten stirbt es nicht ganz so leicht und die Gefahr bestand immerhin, dass der Auflösungsvorgang durch Einströmen frischen jüdischen Blutes aus dem Osten aufgehalten worden wäre. Gegen diese Gefahr konnte man sich indes schützen. Ein gutes kleines Verbot der Einwanderung ausländischer Juden hätten die Großjuden mit ihrem Einfluss wohl schon durchsetzen können; sie hätten die Regierungen nicht einmal lange darum bitten müssen. Unter dem Schutz einer strengen Grenzsperre, über deren unerbittliche Durchführung die Großjuden scharfäugig gewacht hätten, wäre dann das Übel des Judentums allmählich erloschen. Es ist die Methode, die sich auch gegen Seuchen bewährt hat. Der Antisemitismus widersetzt sich zwar auch der Schmelze und Versickerung des Judentums, aber die Großjuden glauben ja entweder gar nicht an ihn oder halten ihn für eine vorübergehende Erscheinung. Der Zionismus macht diesen klugen Plan zunichte. Lebende fremde Juden kann man aus den Ländern des Westens ausschließen, Gedanken nicht. Dringt aber der Zionismus erst in eine Judenschaft ein, so will sie nicht mehr sterben, sondern verjüngt sich von innen heraus, auch ohne fremden Zufluss. Es gibt dann wieder Juden, sie werden wieder bemerkt, selbst am Großjuden fällt wieder seine Eigenschaft als Jude auf, man glaubt ihm nicht mehr, dass er ein → Arier ist wie jeder andere Arier, und das ist widerwärtig. Hier haben Sie das Verbrechen des Zionismus. Die jüdischen Millionäre hatten geduldig, leise, schlau das Kabel, das sie mit dem Judentum verbindet, fast ganz durchgesägt. Sie hingen nur noch an einem schwachen jüdischen Faden, den eine letzte, geringe Anstrengung abgerissen hätte. Und nun schreit der Zionismus über alle Dächer: „Es gibt ein Judentum! Wir sind eine Rasse! Es gibt freilich auch einen Auswurf des Judentums, aber auch dieser Auswurf ist jüdisch; das ist zwar unser Schmerz, wir können es indes leider nicht ändern.“ Wir werfen, ohne es zu wollen, Angeln mit Widerhaken ins Fleisch der feigen Ausreißer und binden sie wieder an
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das Judentum, wovon sie in aller Stille loszukommen hofften. Sie wollten untertauchen und der Zionismus legt sich ihnen als eine sonderbare Verbindung von Schwimmgürtel und Zwangsjacke um den wohlgenährten Leib. Der Zionismus unterbricht die Verjährung der → Rechtsansprüche Abrahams auf alle seine Nachkommen. Wie soll ein jüdischer Millionär, der so nahe daran war, dieses schmückende Beiwort abzuwerfen, hierüber nicht empört sein? Ich sehe aber auch noch einen zweiten Grund des Hasses, mit dem so viele jüdische Millionäre den Zionismus verfolgen. So protzig und hochnäsig sie scheinen, sie haben eine → atavistische Ängstlichkeit nicht ganz überwinden können. In Stunden der Gedrücktheit kommt etwas wie eine Ahnung über sie, dass ihre Stellung in der Welt vielleicht doch nicht ganz so gesichert sei, wie sie sich selbst weismachen möchten. Sie kennen zwar die jüdische Geschichte nicht, aber sie haben doch einmal etwas läuten hören, dass es auch → in England unter Richard Löwenherz, → in Frankreich unter Philipp dem Schönen, → in Spanien unter Ferdinand und Isabella jüdische Millionäre gab, die in Palästen wohnten, Hof- und Staatsämter bekleideten, den Adel des Landes mit → Trüffelgastmählern bewirteten, und dass dann plötzlich, ohne Warnung, ein furchtbarer Tag anbrach, der diese lächelnden Millionäre in verstümmelte Leichen und die glücklicheren unter ihnen in landfahrende Bettler verwandelte, deren Nachkommen heute in den → Judengassen Polens und Rumäniens verhungern und verkommen. Da quillt aus dem tiefsten Grund ihrer bangen Seele die Frage empor: „Wie, wenn dieser Marmorpalast, dieses Stahlspind mein Geld doch nicht genügend schirmen sollten, wenn selbst ein gräflicher → Kavallerieleutnant als Schwiegersohn kein ausreichender persönlicher Schutz wäre?“ Und diese unheimliche Vorstellung träufelt → Wermut in ihren Kelch voll Roederer Extra dry. Im Direktionskabinett ihrer stolzen Bank erhebt sich der → Geist Bankos vor ihnen – ich wollte beileibe keinen → Kalauer machen – ich verabscheue die Gattung! Schwarze Gedanken dieser Art suchen sie öfter heim, als sie vor anderen merken lassen. Sie machen die größten Anstrengungen, um sie zu unterdrücken. Sie belohnen mit der Freigebigkeit morgenländischer Herrscher ihre → Leibastrologen und Hofnarren, die ihnen die → dunklen Nachtfalter von der Stirne scheuchen und sie mit fröhlichen Weissagungen und schmeichelnden Witzchen in Sicherheit lullen. Dagegen wenden sie ihre ganze Wut, die → Wut jedes Troervolkes gegen jede Kassandra, gegen die Zionisten, die laut aussprechen, was sie sich selbst nicht gestehen wollen, und ihnen zwischen den → präraffaelitischen und impressionistischen Gemälden an der Wand ihres blendenden Salons das → flammende „Mene Tekel!“ zeigen. Das ist das Geheimnis der feindseligen Haltung so vieler Geldjuden gegen den Zionismus. In der Gegenwart spüren sie vom Antisemitismus nicht viel, vielleicht gar nichts; vor der Zukunft verschließen sie gewaltsam die Augen oder sie hoffen, dass neue Katastrophen, die etwa über das Judentum hereinbrechen mögen, sie nicht mehr als Juden antreffen werden. Die Zusammengehörigkeit mit dem Gesamtjudentum haben sie gelöst und sie sträuben sich wütend dagegen, dass wir wieder
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ein Band um alle Nachkommen Abrahams zu schlingen unternehmen. Sie meinen, dass der Antisemitismus, wenigstens soweit er sie treffen könnte, von selbst aufhören werde, wenn der letzte Jude des Westens sich getauft hat und dem Juden des Ostens der Einlass in die judenrein gewordenen Länder des Westens verboten wird, und sie behaupten, dass wir es sind, die den guten, harmlosen Antisemiten böse Gedanken einflüstern, wenn wir sagen: „Es genügt, dass irgendwo in der Welt unterdrückte, rechtlose Juden leben, um den Antisemitismus nicht nur dort, sondern überall zu unterhalten, und es genügt, dass der Antisemitismus lebendig bleibt, um die bloße Taufe, wenigstens für die ersten Geschlechtsfolgen, zu einer unzulänglichen Judenschutzmaßregel zu machen.“ Und selbst der kleine Teil der antizionistischen Millionäre, den ich nicht beschuldigen darf, die feige Flucht aus dem Judentum vorzubereiten, der tatsächlich noch einen Funken jüdischen Gefühls unter dicken Aschenschichten bewahrt, diese besseren Leute sind entrüstet über den Zionismus. Warum diese? Aus einem menschlichen Grunde, den wir verstehen können und deshalb nicht brandmarken, sondern mitleidig, nachsichtig belächeln wollen. Der Zionismus verlangt von ihnen eine Anstrengung, und weshalb sollen sie denn eine Anstrengung machen? Das haben sie doch gar nicht nötig! Der Zionismus stört sie im Behagen ihrer Denkgewohnheiten, und das brauchen sich doch reiche, zufriedene Menschen nicht gefallen zu lassen! Wir entschuldigen das Attentat auf ihre Lebensidylle mit dem Hinweis auf das Elend unserer Brüder im Osten. Ja, → in drei Teufels Namen, warum leiden denn diese unglücklichen Brüder nicht weiter ergeben und namentlich schweigend wie alle die Zeit her, damit ihre glücklichen Stammgenossen ebenfalls weiter gute Juden bleiben können, ohne von den zionistischen Quälgeistern gestachelt und gespornt zu werden? Ach, die armen Reichen dieser Kategorie ahnen gar nicht, welche geheime Charaktereigentümlichkeit sie durch ihre Haltung offenbaren. Sie leiden an der gräulichen jüdischen Erbkrankheit, die das → Galuth in unserem Stamm erzeugt hat und unterhält: an der → Schnorrsucht. Sie, die Millionäre, verlangen von den Hungerleidern des Ostens das Almosen ihrer eigenen Ruhe. Sie, die Überreichen, betteln bei den Ärmsten der Armen: „Schenke mir den ungetrübten Genuss meiner Renten, indem du auf deine Hoffnung verzichtest!“ Der arme Jude hat ein bekanntes gutes Herz. Aber die Sammelbüchse der jüdischen Millionäre muss er vorübergehen lassen, ohne die milde Gabe hineinzuwerfen, die man von ihm verlangt, nämlich seine Erlösung. Tatsachen kann man nicht wegargumentieren. Man hat sie lediglich festzustellen. Die Großjuden verleugnen und bekämpfen uns tatsächlich, sie sehen tatsächlich nicht ein, dass wir, obschon ihnen zurzeit nichts zu fehlen scheint und sie unser nicht zu bedürfen glauben, auch für sie arbeiten, wenigstens für ihre Zukunft. Damit müssen wir uns abfinden. Aber unseren christlichen Freunden und Gönnern und einigen Irregeführten unseres eigenen Stammes haben wir zeigen müssen, dass und weshalb die jüdischen Millionäre keine berechtigten Vertreter des jüdischen Volkes sind. Selbst wenn alle jüdischen Millionäre ohne Ausnahme, wie ein Mann,
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sich gegen den Zionismus erheben würden, was ja erfreulicherweise nicht der Fall ist, würde dies nicht entfernt beweisen, dass der Zionismus nicht der Gedanke, das Bedürfnis, das Verlangen des jüdischen Volkes ist. Wir haben auch die → Protestrabbiner gegen uns. Soll ich diese Leute gleichfalls eines Wortes würdigen? Meinetwegen. Ich will es im Vorübergehen tun, der Vollständigkeit halber. Was diese ehrenwerten Gemeindebediensteten sagen oder nicht sagen, hat genau den nämlichen Wert. Ihre Bedeutung im Judentum ist gleich null. Lehrer und Führer des Volkes sind sie längst nicht mehr. Den Aufgeklärten sind sie ein Spott, den Rechtgläubigen ein Ärgernis. Ob sie selbst an irgendetwas, ausgenommen ihr Gehalt, glauben, weiß ich nicht; ich habe auch kein Recht, es zu untersuchen, und es geht mich schließlich nichts an. Aber dass sie es nicht verstanden haben, in ihren Gemeinden den Glauben zu pflegen und zu bewahren, das lehrt ein Blick in ihre verödeten → Synagogen, wo das → Minian zum täglichen Gebet in der Regel besoldet werden muss. In der jüdischen Menge haben sie die Kenntnis der hebräischen Sprache und der jüdischen Geschichte, Bräuche und Sitten nicht zu erhalten gewusst, so dass sie der jüdischen Überlieferung ungefähr vollständig entfremdet ist. Die jüdischen Reichen, die ihnen ihr Amt und Gehalt geben, zeigen ihnen ironisch, was sie von einem Judentum halten, dessen Verkörperung die Protestrabbiner sind, indem sie sich oder ihre Kinder der Reihe nach taufen lassen. Jetzt machen diese wackeren Protestrabbiner den jüdischen Reichen dadurch den Hof, dass sie ihre salbungsvolle Stimme im Namen der jüdischen Religion gegen den Zionismus erheben. Berufenere als ich haben die jüdische Religion gegen diese unvermuteten Verteidiger in Schutz genommen. Von meinem → Standpunkt eines jüdischen Freidenkers aus kann ich nur sagen: Dieser Zug, die Feindschaft gegen die echteste und tiefste Bewegung, die das jüdische Volk je gekannt hat, fehlte bisher im Charakterbilde der Protestrabbiner. Jetzt ist das Bild vollständig. Wir haben ihnen für die Befriedigung unserer ästhetischen Anforderungen an Einheitlichkeit des Charakters und unseres Bedürfnisses nach Folgerichtigkeit lediglich zu danken. Aber wenn wir die Gegnerschaft der Protestrabbiner vernachlässigen können, wenn die Gleichgültigkeit oder Feindschaft der jüdischen Millionäre uns nur insofern bekümmert, als sie uns die Aufbringung der Geldmittel zur Verwirklichung des zionistischen Gedankens erschwert, so gibt es eine Ablehnung, eine Verleugnung des Zionismus, die uns ins Herz trifft. Das ist die der jüdischen Arbeiter, der → jüdischen Proletarier. Wenn auch diese sich wider uns erheben, wenn auch sie erklären, dass sie vom Zionismus nichts wissen wollen, dann ist unsere Aufgabe in der Tat zu Ende. Dann würde uns nichts übrig bleiben, als das Haupt sinken zu lassen, uns für besiegt zu erklären und zuzusehen, wie wir nach einer tragischen Enttäuschung für den Rest unserer Tage ein neues Ideal finden, das uns das Leben lebenswert macht. Denn wenn wir auch für das jüdische Proletariat nicht arbeiten sollten, dann sähe ich wirklich nicht ein, für wen der Zionismus eigentlich noch arbeiten würde und aus welchen Elementen wir das jüdische Volk im Lande seiner Väter wieder sammeln sollten. Die paar jüdischen → Klausner können es nicht sein, die allerdings
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gern nach Palästina gehen, aber nicht, um dort zu arbeiten und Gesittung in ein wüst gewordenes Land zu tragen, sondern um sich von den frommen Juden des Auslandes erhalten zu lassen und ihr Leben lang über den → Folianten des Talmuds zu brüten. Wir haben auch gegen diese Leute nichts, denn wir lassen gern → jeden nach seiner Fasson selig werden, aber → die jüdischen Mystiker bedürfen des Zionismus nicht, um nach Jerusalem zu gelangen. Sie wissen unter jedem Gesetze den Weg dahin zu finden und dort → nach Art der lateinischen Mönche und orthodoxen Kaluger ein Leben ebenso frommer wie arbeitsloser Beschaulichkeit zu führen. Es ist nun auch wieder eine Tatsache, vor der wir die Augen nicht verschließen dürfen, dass uns aus dem jüdischen Proletariat heraus gleichfalls heftige Absagen entgegengeschleudert worden sind. Ein Teil der jüdischen Arbeiterschaft stößt den Zionismus zurück und wirft sich leidenschaftlich, wie es dem jüdischen Temperament entspricht, dem Sozialismus in die Arme, von dem er allein sein Heil zu erwarten erklärt. Auf die jüdischen Proletarier können wir in keinem Falle verzichten. Nicht einmal auf einen Teil derselben. Verleugnen sie uns, so spielen wir ihnen gegenüber nicht die Stolzen, sondern gehen ihnen geduldig nach und suchen sie zu überzeugen, dass uns nur ein Missverständnis trennt. Wir wünschen und hoffen aufs Innigste, dass uns dies gelingen möge. Die jüdischen Proletarier, die Sozialisten geworden sind, bilden sich anscheinend ein, dass sie deshalb den Zionismus verwerfen müssen, dass → Sozialismus und Zionismus einander grundsätzlich ausschließen. Das ist ein schwerer Irrtum. Wohl hat der Sozialismus als entferntes Ideal die Verbrüderung aller Menschen ohne Unterschied der Abstammung, aber genau dasselbe Ideal hat der Zionismus auch. Einstweilen, bis zur Erreichung dieses sehr entfernten Ideals, erstrebt der Sozialismus die Organisation des Proletariats aller Länder als eine einheitliche Klasse, die, ohne sich an politische Grenzen zu kehren, den Kampf gegen andere Klassen der heutigen Gesellschaft führt. Aber der Sozialist, in dem das Klassenbewusstsein voll entwickelt ist, hört deshalb keineswegs auf, sich als Angehörigen eines bestimmten Volkes zu fühlen, und die berufenen Wortführer des Sozialismus haben sich immer unwillig dagegen verwahrt, wenn man sie → vaterlandslose Gesellen genannt hat. Es ist also durchaus nicht einzusehen, weshalb nur der jüdische Sozialist seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volke verleugnen muss, während alle anderen Sozialisten sich stolz als Deutsche, Engländer, Amerikaner, Franzosen bekennen. Der Sozialismus schließt materielle und moralische Strebungen in sich. Seine materiellen Strebungen sind auf Verbesserung der Lage des Lohnarbeiters gerichtet. Wo entdecken Sie nun im Zionismus das leiseste Hindernis, an diesen Strebungen teilzunehmen? Mögen die jüdischen Proletarier sich doch organisieren, mögen sie doch aus allen Kräften daran arbeiten, höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit, größere Sicherheit, Bürgschaften gegen Arbeitslosigkeit, Unfall- und Altersversicherung zu erlangen. Mögen sie doch für alle Rechte kämpfen, die dem Lohnarbeiter die Möglichkeit gewähren, sich einigermaßen gegen die Übermacht des Unternehmers zu
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behaupten. Die jüdischen Proletarier sind unter allen Ausgebeuteten weitaus die ausgebeutetsten, unter allen wirtschaftlich Schwachen die weitaus schwächsten. Wo sie am zahlreichsten sind, da haben sie keine Freizügigkeit und können ihre Kraft nicht im vorteilhaftesten Arbeitsmarkt ausbieten. Christliche Unternehmer verwenden sie ungern und nur, wenn sie billiger zu haben sind als christliche Arbeiter. Selbst jüdische Unternehmer ziehen diese vor, weil ihnen die jüdische → Sabbathfeier, die Intelligenz und der Gleichheitsstolz jüdischer Tagelöhner unbequem sind. Alles, was die jüdischen Proletarier tun, um sich zu verteidigen, hat unseren vorbehaltlosen Beifall. Sie sollen zu diesem Zwecke jedes Bündnis eingehen, das vom Gesetze nicht verboten ist, sie sollen in jedem Lohnkampf, bei jedem Ausstand fest zu ihren christlichen Genossen stehen und ihnen ein Beispiel jüdischer Treue, jüdischer Zähigkeit geben. Sie sollen überall, wohin ihr Schicksal sie gestellt hat, stramme Klassensolidarität üben, bis sie auf dem Boden Palästinas sich frei organisieren können, wie es ihnen für ihre Interessen vorteilhaft scheint. Und ich frage nochmals: Warum sollen sie all das nicht als gute Zionisten tun können? Ebenso wichtig aber wie die materiellen sind die moralischen Strebungen des Sozialismus. Diese moralischen Strebungen stehen erst recht nicht im Gegensatze zum Zionismus. Was sage ich? Nicht im Gegensatze? Sie sind im Zionismus geradezu verwirklicht. Alles, was im Sozialismus Zukunftsideal ist, das ist im Judentum geschichtliche Realität gewesen und kann dies sofort wieder werden, wenn das jüdische Volk sein Selbstbestimmungsrecht von Neuem erlangt. Was sind die wesentlichsten Punkte der sozialistischen Weltanschauung? Ehrung der Menschenwürde in jedem Individuum, ohne Rücksicht auf Stand und Beruf; gleichmäßige Schätzung jeder Arbeit, die ein Bedürfnis der Gesamtheit befriedigt; Anerkennung des Rechtes jedes arbeitswilligen Menschen auf einen Mindestanteil an den Lebensgütern und auf ein billiges Maß von Glück; Einfügung des arbeitenden, werteschaffenden Individuums in den höheren Gesamt-Arbeitsplan des Gesellschafts-Organismus, um das Chaotischwerden seiner Einzelanstrengungen zu vermeiden, bei gleichzeitiger voller Achtung seiner geistlich-sittlichen Selbstständigkeit. Das ist der philosophische Kern des Sozialismus, zu dem dann noch eine Gefühlsbeimischung von etwas Bruderliebe für alle Menschen, von etwas Glauben an die Entwicklungsfähigkeit der Menschheit, von etwas Hoffnung auf eine bessere Zukunft tritt. Nun denn: Alle diese Punkte sind alte jüdische Ideale, deren Wiederbelebung gerade das Ziel des Zionismus ist. Wer hat die Menschenwürde höher bewertet als das Volk, das zuerst den Begriff der → Gotteskindschaft, das heißt, → aus dem Mystischen ins Rationalistische übersetzt, der souveränen sittlichen Persönlichkeit schuf, das sich feierlich ein Volk von Priestern, das heißt Dienern des Ideals, nannte und sich als in einem persönlichen Vertragsverhältnis zu Gott, das heißt zur höchsten → Sittlichkeit, stehend empfand? Wer hat den Gedanken der Rechtsgleichheit tiefer erfasst als das Volk, das laut verkündete: Alle → Israeliten sind Brüder!, das die gleiche Leistung an das Gemeinwesen vom Reichen wie vom Armen verlangte
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und das keine andere Vornehmheit gelten ließ als die des reicheren Wissens und der höheren Tugend? Wo finden Sie anderwärts annähernd die soziale Gerechtigkeit des Gesetzes Mosis, → das im regelmäßig wiederkehrenden Jubeljahre die Vereinigung des Besitzes in den Händen einiger wirtschaftlich Überlegenen rückgängig macht und das die Fürsorge für die Armen, die Witwen, die Waisen, selbst die Fremden zu einem Glaubensgebot erhebt? Wer achtet die Freiheit so wie das jüdische Gesetz, das den Sklaven zur → Festnagelung seines Ohrs an einen Türpfosten verurteilt, wenn er erbärmlich genug ist, die ihm nach sieben Jahren von Rechts wegen wiedergegebene Freiheit abzulehnen? Wo wird die Handarbeit, jede ehrliche Arbeit höher geschätzt als in dem Judentum, dessen größte Lehrer und Weise in der Blütezeit des jüdischen Geistes Schuster, Zimmerleute und Maurer waren und ausdrücklich lehrten, es gezieme dem → Geistesadligen, sein Leben durch Handarbeit zu erwerben und daneben die Wissenschaft um ihrer selbst willen, nicht um Lohn, zu pflegen? Glauben Sie denn, es ist ein Zufall, dass an der Wiege des heutigen Sozialismus → die Juden Marx und → Lassalle stehen, dass noch jetzt unter den Theoretikern des Sozialismus Juden einen ersten Platz einnehmen? Diese Männer haben gut ihr Judentum verleugnen, in ihnen waltet, ihnen unbewusst, → ein jüdischer Atavismus. Ihnen war aus den latenten Volksüberlieferungen, aus denen sich die Uranlagen jedes Individuums zum großen Teil zusammensetzen, jene Begeisterung für soziale Gerechtigkeit überkommen, die bei ihnen die Form der Auflehnung gegen eine ungerechte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und der Entwicklung des sozialistischen Programms annahm. Ich glaube nun gezeigt zu haben, dass die jüdischen Proletarier ebenso wie die jüdischen Theoretiker des Sozialismus für alle ihre berechtigten Bestrebungen im Zionismus weiten, freien Raum finden. Aber ich möchte ihnen auch zeigen, dass sie diesen Raum auf die Dauer nur im Zionismus und nicht außerhalb des Zionismus finden können. Beherzigen Sie die Lehren der Geschichte, die als eine drohende Warnerin zu Ihnen spricht! Seit die → Nacht der Diaspora über das Judenvolk hereingebrochen ist, halten seine besten Geister unausgesetzt den angestrengtesten Auslug nach einem Strahle der Hoffnung. → Lynkeus, der Türmer, steht unbeweglich hinter seiner Zinne und wendet das Auge nicht vom schwarzen Horizonte ab. Sooft er den leisesten Schimmer in der Finsternis aufglimmen sah, schmetterte er jedes Mal jubelnd hinunter: → „Der Morgen graut!“, und das Judenvolk fuhr jedes Mal mit Tumult empor und jauchzte dem neuen Tag entgegen, aber es fand jedes Mal, wenn es Mittag wurde, dass es ein Tag der Enttäuschung war. Die Juden wissen, dass die einzigen Quellen ihrer Not und Leiden → Fanatismus, Unwissenheit, Rohheit und Despotismus sind. Sooft sie deshalb zu bemerken glaubten, dass eine dieser vier unholden Gewalten in der Welt schwächer wurde, erwachte in ihnen auch die Hoffnung, dass ihre Not nun ein Ende haben werde, aber diese Hoffnung erwies sich bisher noch immer als eitel.
17 Vortrag, gehalten in Amsterdam, 17. April 1899
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Als die → Reformation die christliche Welt von Geistesdruck zu befreien versprach, da begrüßte das Judentum diese Bewegung, die auch ihm Gerechtigkeit in Aussicht stellte. → Lyria lehrte Luther Hebräisch, die → Rabbiner weihten die Reformatoren in alle Geheimnisse der jüdischen Überlieferung ein und gaben ihnen die Waffen der Bibelauslegung in die Hand. Das alte Testament kam auch im Christentum wieder zu Ehren, aber als die Reformation gesiegt hatte, bewies sie mit ihrer neuen Kenntnis der Schrift, dass die Juden von Gott verflucht sind, und behandelte sie schlechter als vorher der Katholizismus. Die → Enzyklopädisten erheben sich gegen das Dogma. Die → Aufklärung beginnt ihren Kampf gegen den Kirchenglauben. Die Juden sind sofort ihre begeistertsten → Apostel. Der Fanatismus war der Todfeind, folglich muss die Aufklärung das Heil sein. Die Aufklärung hat gesiegt, der dogmatische Fanatismus ist überwunden und liefert nur noch Rückzugsgefechte, aber die Juden haben nichts dabei gewonnen; man verfolgt sie jetzt zwar nicht mehr um ihres Glaubens willen, dagegen aber im Namen eines wissenschaftlichen, → anthropologischen Grundsatzes, wie es sich für aufgeklärte Söhne des 19. Jahrhunderts geziemt, man verfolgt sie wegen ihrer Rasse. → Die französische Revolution bricht den Despotismus, verkündet die Menschenrechte und bringt der Welt die Freiheit. Das ist doch wohl endlich die Erlösung! Die Juden wiederholen es selig, sie glauben es, sie tragen die Bewegung in die weiter zurückgebliebenen Länder hinüber, sie nehmen an den Volkskämpfen um die Freiheit überall den leidenschaftlichsten Anteil, so dass man den → Aufstand von 1848 geradezu als eine jüdische Bewegung bezeichnet hat. Und heute dulden → die Liberalen ihre jüdischen Mitstreiter nur noch verlegen und unmutig in ihren Reihen oder sie weisen sie ohne Umschweif ab, weil sie für eine Judenschutztruppe zu gelten und das Volk sich zu entfremden fürchten. Nach solchen Erfahrungen haben wir das Recht, den jüdischen Sozialisten zu sagen: Die Reformation hat manche Ketten gesprengt, die der Juden hat sie fester geschmiedet; die Aufklärung hat die Geister befreit, den Hass gegen die Juden – pardon: gegen die → Semiten hat sie eher gesteigert als gemildert; die → Grundsätze der französischen Revolution haben die Welt erobert, doch die heutigen Liberalen bedeuten den Juden höflich oder rau, dass man ihre Mitarbeit am Werke der politischen Freiheit nicht wünscht. Der Sozialismus wird Ihnen dieselbe Enttäuschung bereiten wie die Reformation, wie die Aufklärung, wie die politische Freiheitsbewegung. Sollten wir es erleben, dass die sozialistische Theorie Praxis wird, so werden Sie erstaunt sein, in der neuen Ordnung Ihren alten Bekannten wiederzufinden: den Antisemitismus. Es wird Ihnen nichts helfen, dass Marx und Lassalle Juden waren. Wenn mir gestattet ist, Kleines mit Großem, mit Größtem zu vergleichen: Der Stifter der christlichen Religion war auch ein Jude; es ist mir aber nicht bekannt, dass die Christenheit sich den Juden dafür zu Danke verpflichtet glaubte. Ich zweifle nicht daran, dass die Theoretiker des Sozialismus immer ihren Lehren treu bleiben, nie eine Rassenfrage aufwerfen werden. Aber die praktischen Führer werden mit
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der Wirklichkeit zu rechnen haben und die Gefühle der Menge werden auch ihnen in absehbarer Zeit eine antisemitische, oder sagen wir → asemitische Politik aufnötigen, wie sie sie den Leitern der freisinnigen Bürgerparteien aufgezwungen haben. Man wird dann etwa sagen: Die sozialistische Solidarität erstreckt sich nur auf die höhere Rasse, nicht auch auf die niedrigere, und man wird die jüdische Rasse kurzweg in die → Menschheit zweiter Klasse, zu Negern und gelben Kulis zurückstellen. Möge das jüdische Proletariat, mögen die theoretischen Sozialisten unter den gebildeten Juden unsere Stimme hören und beherzigen. Der Zionismus arbeitet für sie und er kann ihre Mitwirkung nicht entbehren. An den → kernfaulen jüdischen Dekadenten, an diesen → verworfenen Nachäffern einer teils blödsinnig, teils toll gewordenen Zeitmode liegt uns nichts. Sie mögen verwesen, wo sie sind. Wohl aber liegt uns an den → sozialistischen Enthusiasten. Sie haben ein Ideal. Sie haben Glauben an Entwicklung und Zukunft. Sie haben Sittlichkeit und Tatkraft, gerade das, was für einen Zionisten nötig ist. Nun denn: Alles, was Sie sind, können Sie im Zionismus sein, und so gewiss, wie Ihnen Ihre Verleugnung des Judentums, die Sie missverständlich für eine Vorbedingung Ihres Sozialismus halten, bittere Enttäuschungen bereiten wird, so gewiss bietet Ihnen der Zionismus die Möglichkeit, allen Ihren Idealen nachzuleben, Ihnen zur Befriedigung, Ihrer Weltanschauung zur Ehre und Ihrem proletarisierten rechtlosen Volke zum Heile. Quelle: ZS1, S. 249–271. Ferner mit dem Titel: Strömungen im Judentum auch in: Die Welt, 3.2.1899, H. 5, S. 2–6.
18 [Nordau über die Judenfrage]
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18 [Nordau über die Judenfrage] Im jüngsten Hefte der → „North American Review“ entwickelt Max Nordau seine Gedanken über die → Judenfrage. Im Nachstehenden eine beiläufige Wiedergabe des Gedankenganges: An der Neige das neunzehnten Jahrhunderts – so beginnt der Aufsatz – begegnen wir in jedem zivilisierten Lande dem leidigen Judenproblem, das durch die eine oder andere Form des sogenannten Antisemitismus in die Erscheinung tritt. Die Feinde der Juden behaupten immer wieder, sie hassen das jüdische Volk bloß wegen der ihm in seiner Gesamtheit innewohnenden sittlichen Gebrechen, um es kurz zu fassen: wegen seiner moralischen → Inferiorität. Aber abgesehen davon, dass ein ausgedehntes statistisches Datenmaterial, durchwegs von Nichtjuden zusammengetragen, diesen Pauschalvorwurf gegen die jüdische Rasse als gänzlich ungerechtfertigt erscheinen lässt, könnten doch die angeborenen oder anerzogenen sittlichen Mängel der Juden höchstens den unterschiedlichen Clubs und geselligen Vereinigungen einen Grund abgeben, die Juden von ihrer Mitgliedschaft auszuschließen. Was haben jedoch die vorgeblichen Fehler der jüdischen Rasse mit dem Vorenthalten der selbstverständlichsten → Menschenrechte, mit den grausamen Verfolgungen und unerträglichen Bedrückungen zu schaffen, wie sie da und dort gegen die Angehörigen des jüdischen Volkes methodisch geübt werden? Die Judenhasser weisen ferner darauf hin, dass der Antisemitismus so alt sei wie die jüdische Nation. Zugegeben. Aber was beweist das? Nichts anderes, als dass man an den Juden allezeit gemäkelt hat, wobei es vorkam, dass man ihnen – den Kursveränderungen der ethischen Werte entsprechend – heute dasjenige als das besondere → Stigma ihrer Rasse vorrückte, was man morgen als den ausschließlichen Vorzug der nichtjüdischen Völkerschaften in Anspruch nahm, dessen Fehlen für die ethische Minderwertigkeit des jüdischen Stammes kennzeichnend ist. Das kleine Häuflein reicher Juden hat gut prophezeien, der Antisemitismus werde alsbald vorübergehen; die überwältigende Mehrzahl der Juden, die aus → dürftigen Parias besteht, kann mit derartigen billigen Vertröstungen nichts anfangen. Aus dem Wirrsal des Hasses, der Bedrückung und Rechtsberaubung gibt es für die Juden nur einen Ausweg: Sie müssen sich irgendwo räumlich vereinigen und zu einer in sich geschlossenen, festgefügten → Majorität werden. Die Leute, die das anstreben und zu diesem Zwecke das jüdische Volk nach Palästina, der Heimat seiner Ahnen und dem Lande seiner Sehnsucht verpflanzen wollen, nennt man Zionisten. Andere Juden preisen ein ganz andersartiges Heilmittel gegen den Antisemitismus an. Sie predigen die → Assimilation, die → Anähnlichung der Juden an ihre nichtjüdische Umgebung, die Ablegung der Besonderheiten in Sitten und Gebräuchen, die vollkommene Anschmiegung und Anpassung an die Wirtsvölker. Diese Heilmethode führt, wenn sie konsequent und ohne Halbheiten angewandt wird, unfehlbar zum Ziele. Deutlicher gesprochen, ist die → Taufe zweifelsohne ein erfolgreiches Mittel zur Lösung der Judenfrage. Einzelne → Apostel der Assimilation haben
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dies denn auch klar erkannt und durch ihren Anschluss an eine der christlichen Kirchen die letzten Schlüsse ihres Systems gezogen. Eines aber scheinen die Herren nicht in Anschlag zu bringen. Ich meine den Umstand, dass mit dem Übertritte eines verschwindenden Bruchteiles der Juden zum Christentum der Allgemeinheit nicht im mindesten gedient ist. Nun ist es aber Tatsache, dass das jüdische Volk in seiner Gänze den Weg, der zum Taufbecken führt, nicht betreten will. Anderseits drängt die Judenfrage gebieterisch nach einer befriedigenden Lösung. Es bleibt also nichts anderes übrig als die territoriale Vereinigung des jüdischen Stammes, die Schaffung einer gesicherten Heimstätte für ihn, wo der Fluch der → Zerstreuung und der → Minorität von seinen Söhnen genommen sein wird und sie sich, des giftigen Hasses und der ewigen Beschränkungen ledig, frei werden ausleben können. Die Lebensbedingungen spielen dabei eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle. Wir können nicht hoffen, dass alle Juden in Palästina → Milch und Honig schlürfen werden; aber wir glauben, dass sie dort ihr Haupt friedlich zur Ruhe werden betten können, dem Übelwollen ihrer Hasser und der Missgunst ihrer Neider weltenweit entrückt. Quelle: Die Welt, 30.6.1899, H. 26, S. 14–15.
19 Zionismus und Antisemitismus
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19 Zionismus und Antisemitismus Ein jüdischer Schriftsteller namens → Alfred Berl hatte in der → Pariser „Grande Revue“ eine → Studie über den Zionismus veröffentlicht, welche – ohne einen neuen Gedanken – die altbekannten Gemeinplätze der → Assimilationsjuden gegen die jung-jüdische Bewegung wiederholt, einschließlich des beliebten Hauptschlagers, dass die Zionisten das gleiche Ziel wie die Antisemiten erstreben und deren Alliierte seien. Diese Studie bildete die Unterlage für einen Leitartikel unter dem Titel, der diesen Zeilen als Überschrift dient, welchen der ehemalige französische Minister Yves Guyot in seinem Blatte → „Le Siècle“ publizierte. Die Antwort auf diesen Leitartikel war folgende Zuschrift an Herrn Yves Guyot: In Ihrer Nummer vom 4. Juli beschäftigen Sie sich mit dem Zionismus. Der gute Wille, die edle Gesinnung und das Wohlwollen treten in dem Artikel deutlich zutage, aber ebenso der Umstand, dass Sie nicht genügend und nicht richtig informiert waren. Da Sie aber in gutem Glauben handelten – was Sie von unseren jüdischen Gegnern unterscheidet –, kann man mit Ihnen diskutieren. Ich will es im Folgenden tun und mich bestreben, so kurz als möglich zu sein, da das Interesse der Welt heute anderswohin gerichtet ist. Doch muss ich Sie schon im Vorhinein um Entschuldigung bitten, wenn ich hierbei zeitweilig dogmatisieren muss: Das ist eine unvermeidliche Klippe, wenn man auf → Lakonismen einen Gegenstand beschränken muss, der von allen, die sich mit ihm ernstlich und eingehend beschäftigt haben, als überaus vielfältig und umfassend erkannt worden ist. Die fast überall unterdrückten, verleumdeten, misshandelten Juden in normale Lebensbedingungen zu versetzen – das ist das Ziel des Zionismus. Ihre Übersicht der Lage der Angehörigen meiner Rasse in den verschiedenen Ländern ist weit davon entfernt, der traurigen Wirklichkeit vollkommen gerecht zu werden. Sie nennen das, vor den Antisemiten, vor dem Feinde die Flucht ergreifen; das schließt also die Beschuldigung der Feigheit in sich. Also: Wenn eine Volksgruppe, bedroht von der unabänderlichen Feindseligkeit einer ungnädigen Natur oder tyrannischer politischer oder sozialer Einrichtungen oder übelwollender Gefühle einer ungeheuren Mehrheit, die männliche, wahrhaft heroische Anstrengung macht, um sich unerträglichen Daseinsbedingungen zu entziehen und in schwerem Kampfe jenes Mindestmaß von Wohlergehen sich zu erringen, welches die armen Menschenkinder vernünftigerweise beanspruchen dürfen – so hieße das feige fliehen. Die → „Pilgrimfathers“, die Pilgerväter, jene erhabenen Wanderer, die auf der „May Flower“ auszogen, um in den jungfräulichen Wäldern Amerikas die Gewissensfreiheit zu suchen, welche ihnen ihr englisches Vaterland verweigerte, wären also Ausreißer gewesen; die → französischen Hugenotten, die infolge der → Widerrufung des Ediktes von Nantes ausgewandert sind, diese große Rasse, deren Nachkommen noch heute → das Salz des brandenburgischen Bodens bilden, Feiglinge;
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die → Holländer, welche die Zivilisation nach Südafrika getragen haben, → die Deutschen, welche, sich an den Ufern des Neckar unbehaglich fühlend, die Stammväter der Riesen von Kentucky geworden sind, die → Söhne der Normandie, die Kanada bevölkert haben, die → Waldenser, die sich nach Piemont geflüchtet haben, mit einem Worte, alle Idealisten, welche mehr auf ihre Überzeugung als auf ihr Land und Gut gehalten haben, alle diese Pioniere, die ein unbekanntes Geschick dem sicheren und hoffnungslosen Elend vorgezogen haben – sie alle waren Hasenfüße, Feiglinge. In solcher Gesellschaft der Feigheit geziehen zu werden, ist nicht das Schlimmste. Ich glaube, dass Sie nach Überlegung selbst bedauern werden, diesen Ausdruck gebraucht zu haben. Doch weiter. Wer ergreift, um Ihr Wort zu gebrauchen, die Flucht vor dem Antisemitismus? Sind es wir Juden der vorgeschrittenen Länder, denen – wenigstens in der Theorie – die → Menschenrechte, die bürgerlichen Rechte und die Gleichheit vor dem Gesetze zugestanden sind? Wir denken nicht daran. Wir bekämpfen manche unserer fanatischen Feinde, wir verachten andere, aber wir verteidigen unsere Stellung gegen alle. Wir verlangen von keinem Juden, der das Glück hat, ein Vaterland zu besitzen, es zu verlassen. Der Zionismus will in erster Reihe für jene Juden wirken, welche dieses Glückes nicht teilhaftig sind, für die das Geburtsland kein Vaterland, sondern ein Gefängnis oder ein Verbannungsort ist, und für die diese Bewegung, wenn sie Erfolg haben wird, die Befreiung und das Heil bedeutet. Von den zwölf Millionen Juden, die man gegenwärtig in der ganzen Welt zählt, sind nun mehr als sieben und einhalb Millionen in dieser Lage. Ja, sie sind → vaterlandslos, sie sind es, weil man ihnen grausam und unbarmherzig das Vaterland verweigerte, trotz ihrer unendlichen Sehnsucht, eines zu besitzen, um es anzubeten, wie nur je ein Patriot sein Vaterland angebetet hat. Wir Zionisten wollen ihnen helfen, das Ziel ihres heißen Sehnens zu erreichen, und Sie tadeln uns und beschuldigen uns der Feigheit?! Wenden Sie doch Ihren Blick den sechs Millionen Juden in Russland zu, die verurteilt sind, in einigen → Gouvernements, eingepfercht wie die Verbrecher, sich gegenseitig aufzureiben, in einem endlosen Elend an Körper und Seele verderben und verkommen; sehen Sie doch die 300 000 Juden in → Rumänien an, denen man verbietet, auf dem Lande zu leben und ihre Kinder in die Schule zu schicken, und die man – wenn sie auch seit Generationen im Lande leben – offiziell als Fremdlinge bezeichnet, um sie – falls sie das Missfallen der Regierung oder auch nur eines untergeordneten Organes derselben aus irgendeinem Grunde erregen – binnen 24 Stunden über die Grenze jagen zu können; blicken Sie endlich auf die 780 000 Juden → Galiziens, die von denselben Polen gemartert werden, welche vor dem Auslande die süßen Worte von der Freiheit, Brüderlichkeit und den unverjährbaren Völkerrechten so schön zu flöten verstehen.
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Sagen Sie doch diesen unter verächtlichen Lebensbedingungen erniedrigten Nachkommen einer edlen Rasse, diesen Bettlern, denen man verbietet, sich zu bewegen, sich zu unterrichten, zu arbeiten und ihre natürlichen Fähigkeiten zu gebrauchen und zu entwickeln – und die Menschenwürde zu erreichen –, sagen Sie ihnen doch, sie sollen nicht vor dem Antisemitismus fliehen, sie sollen standhalten den 130 Millionen Russen, den 5 Millionen Rumänen, den 7 Millionen galizischen Polen, sie sollen in mutigem Kampfe die Gleichheit vor dem Gesetz anstreben oder geduldig die freiwillige Großmut ihrer unverhältnismäßig mächtigeren Feinde abwarten, sagen Sie es ihnen doch! Sie riskieren nichts, denn sie werden Ihnen nicht antworten, da sie überzeugt sein werden, dass Sie einen grausamen Spott mit ihnen treiben. Dass diese Millionen von unterdrückten Juden elend zugrunde gehen werden, wenn ihre Lebensbedingungen nicht unverzüglich sich ändern; dass keine Wahrscheinlichkeit einer baldigen Änderung in ihrem Geburtslande vorhanden ist; dass die Auswanderung ihr einziges Heil ist; dass diese Massenauswanderung nicht nach dem Westen sich richten kann, der sie nicht aufnehmen würde; dass die Rückkehr nach Palästina die einzig mögliche Lösung dieses fürchterlichen Problems ist, das ist außer Zweifel. Die einzige Frage ist: Wie soll die Haltung der freien, unterrichteten und glücklicheren Juden des Westens gegenüber ihren Brüdern sein, deren Unglück weit größer ist, als die menschliche Sprache es auszudrücken vermag? Unzweifelhaft können die privilegierten Juden sich von ihrer Rasse loslösen, sie verleugnen, jede Gemeinschaft mit ihren gemarterten Brüdern zurückweisen und hohnlächelnd ausrufen: „Was schiert mich ein polnischer, rumänischer, marokkanischer Jude, mich stolzen Franzosen, hochmütigen Deutschen, vornehmen Engländer! Ich kenne diese barbarischen Vagabunden nicht!“ So beiläufig sprechen ja auch in seltener Übereinstimmung die hohen und mächtigen jüdischen Finanzbarone und die ästhetischen Schöngeister, → die Symbolisten und Mystiker meiner Rasse. Das ist ihre Sache. Aber es gibt doch eine gewisse Zahl von Juden der Kategorie, die ich die privilegierte nannte, die wie wir eine andere Auffassung unserer Pflichten haben. Wir verleugnen unsere Väter nicht, und das erlegt uns die Pflicht auf, alle Nachkommen unserer gemeinsamen Ahnen als Brüder anzuerkennen. Das schließt aber auch in sich, dass wir noch andere Verpflichtungen gegen sie anerkennen. Die zionistische Bewegung ist nicht von uns erfunden worden. Sie entstand im Kreise der Juden der zurückgebliebenen Länder. Unsere Brüder da unten leiden und rufen: „Zu Hilfe!“ Wir eilen herbei. Sie sind eine chaotische Masse. Wir organisieren sie. Sie stammeln ihre Klagen in einem den kultivierten Menschen unverständlichen → Kauderwelsch. Wir leihen ihnen die zivilisierten Sprachen.
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Sie drängen sich ungestüm, ohne Orientierung. Wir zeigen ihnen den Weg, den sie gehen müssen. Sie haben ein unbestimmtes Sehnen. Wir formulieren es. Sie sind von einem fast rasenden Enthusiasmus ergriffen. Wir mäßigen ihn. Dann wieder, wenn ihre Begeisterung nicht sofort zum Ziele führt, ergreift sie neue Verzweiflung. Wir trösten sie und heben ihren Mut. Ich frage Sie nun, ob Sie in der Tat unsere Haltung, die Haltung der westländischen Zionisten für weniger würdig, weniger empfehlenswert halten als diejenige der → jüdischen Millionäre und → Dekadenten? Sie zweifeln, ob die Juden eine Rasse, und bestreiten, dass sie ein Volk sind. Man kann über diesen Punkt akademisch endlos streiten. Der → Anthropologe zögert sehr lange, bis er den Begriff der Rasse wissenschaftlich definiert. Aber der Gassenjunge auf den äußeren Boulevards, welcher unter der Nase des von ihm als Juden erkannten Vorübergehenden sein „Nieder mit den Juden“ ruft, bezeugt, dass für ihn diese Schwierigkeit nicht besteht. Und seine → ethnographische Diagnose, wenn sie nicht unfehlbar ist – die der Gelehrten ist es wohl auch nicht immer –, täuscht ihn doch nur äußerst selten. Die Sicherheit des Blickes der Gassenjungen genügt allein, um festzustellen, dass die Juden wohl eine Rasse oder wenigstens eine Varietät oder, wenn Sie wollen, meinetwegen eine → ethnographische Unter-Varietät sind. Sind sie ein Volk? Wenigstens acht Millionen der Juden werden Ihnen entschlossen mit „Ja“ antworten. Das ist entscheidend. Ich gebe Ihnen zu, dass bei vielen westländischen Juden das jüdisch-nationale Gefühl sehr abgeschwächt ist, dass es bei anderen bis auf die letzte Spur verschwunden ist und dass es bei einigen anderen in einen wilden und unedlen Hass gegen alles, was jüdisch ist, sich verkehrt hat. Aber die → Abgestumpftheit, die Entartung oder die Abwesenheit des jüdisch-nationalen Geistes bei einer kleinen Minderzahl entnationalisierter Hebräer kann doch nicht ein Argument sein angesichts des lebendigen, selbst exaltierten Nationalismus der ungeheuren Mehrheit des → Volkes Israel. Ein letztes Wort. Wenn die Juden nach Palästina zurückkehren wollen, so soll das nicht geschehen, um in asiatische Barbarei unterzutauchen, sondern um sich aus der → Barbarei des Ghetto zu befreien. Erlöst von den Fesseln, aufatmend in einer Atmosphäre von Wohlwollen und Gerechtigkeit werden sie sich geistig, sittlich und selbst körperlich mit einer Energie entwickeln, welche die Welt in Erstaunen setzen wird. Sie würdigen uns als Mitarbeiter am allgemeinen Fortschritt. Wir werden niemals aufhören, es zu sein. Aber sind Sie nicht auch der Meinung, dass unterrichtete, ihrer Menschenwürde bewusste, glückliche Juden viel wirksamer an dem Werke des menschlichen Fortschrittes werden mitarbeiten können, als die in tiefer Unwissenheit zurückgehaltenen, erniedrigten, mit Füßen getretenen und in hässlichster Armut steckenden Juden?
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Wenn Ihre Antwort zustimmend ist, müssen Sie dem Zionismus Beifall spenden, sei es aus dem Mitgefühl für Millionen fleißiger Arbeiter, die auf künstliche Weise in Armut gehalten werden, sei es aus Mitleid für ungerecht gequälte Menschen, oder wenigstens aus Liebe zum Fortschritt der Zivilisation. Quelle: ZS1, S. 299–306, dort mit Verweisen auf Quelle und Übersetzung: Le Siècle, 1899. Aus dem Französischen. Ferner in: Die Welt, 28.7.1899, H. 30, S. 2–4.
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20 → III. Kongressrede Geehrte Versammlung! Die Vertreter des jüdischen Volkes versammeln sich heute zum dritten Male im gastlichen Basel. Die Stimmung, in der wir uns begegnen, muss nun eine andere werden, wie unsere Aufgaben andere geworden sind. Vor zwei Jahren, auch noch im vergangenen Jahre, haben wir hier etwas wie einen wachen Traum gelebt. Uns schien, wir seien Zeugen eines Wunders, das sich um uns und an uns begebe. Wir zweifelten fast an seiner Wirklichkeit, die wir doch mit allen Sinnen feststellen konnten. Uns war märchenhaft zumute, wie Brüdern, die seit tausend Jahren im Grabe gelegen hätten und nun plötzlich wieder im Fleische voreinander ständen, einander lebendig in die Augen blickten und die Hand drückten. Unser erster Drang war, uns des Wiedersehens, der Wiedervereinigung zu freuen, die Weihe der einzigen Stunde voll zu empfinden und einander zu sagen und zu klagen, was wir als Scheintote, als lebendig Eingesargte all die Jahrhunderte in unserem Grab ohne Grabesruhe erlitten hatten. Dann bemühten wir uns, über unsere Lage einen vollen Überblick zu gewinnen, uns über unsere Verfassung, unsere Beziehungen zu den Völkern, unsere Hoffnungen, Wünsche, Gefahren und Aufgaben Rechenschaft zu geben, klar zu erkennen, wer unsere Freunde, wer unsere Feinde, welches unsere Hilfsmittel, welches unsere Schwächen und Gebrechen sind. Dieses allgemeine Inventar des jüdischen Volkes ist nunmehr aufgenommen. Wir haben es nur noch auf dem Laufenden zu halten. Wir haben nur noch die Änderungen einzutragen, die in unseren Verhältnissen etwa eintreten mögen. Im vergangenen Jahre sind derartige Änderungen nicht eingetreten. Es werden auch in absehbarer Zeit keine eintreten, wenn wir sie nicht mit eigener Anstrengung selbst herbeiführen, wir, die Zionisten. Wir haben die Stellung des jüdischen Volkes inmitten der übrigen Völker beleuchtet. Wir haben gezeigt, dass es trotz der Bemühungen vieler seiner Söhne, ihr Volkstum wirklich zu vergessen oder mindestens zu verleugnen und unkennbar in ihrer Umgebung aufzugehen, überall als fremd empfunden, vielfach als Eindringling angefeindet wird. Wir haben bewiesen, dass es Verleumdung ist, wenn man den Hass, der uns in den meisten Ländern grausam verfolgt, die zurückscheuchende Kälte, die uns überall umgibt, mit angeblichen schlechten Eigenschaften des jüdischen Volkes zu begründen sucht. Unsere Fehler sind die Fehler aller Menschen, die in den gleichen gesellschaftlichen und geschichtlichen Verhältnissen leben würden, und neben diesen Fehlern, die wir nicht zu leugnen brauchen, dürfen wir uns mancher Vorzüge rühmen, die nicht jedem anderen Volke in demselben Maße eigentümlich sind. Wir haben aus alledem den Schluss gezogen, dass man uns hasst und verfolgt, weil wir eine leicht zu erkennende Minderheit und überdies → von den finsteren Zeiten des Mittelalters her mit fanatischen Überlieferungen belastet sind, dass unser
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Los das Los jeder leicht kenntlichen Minderheit ohne Macht und Prestige ist und dass es nur drei Mittel gibt, es anders zu gestalten: Erstens eine grundstürzende Änderung der menschlichen Natur, wie sie in der Haltung jeder Mehrheit gegenüber jeder ihr wehrlos ausgelieferten Minderheit zutage tritt. Urteilen Sie, ob eine derartige Änderung in absehbarer Zeit wahrscheinlich ist! Zweitens die Unkenntlichmachung der Minderheit, d, h. in unserem Falle die Abstreifung aller unserer Besonderheiten, unseres Glaubens, unserer Bräuche, unserer Überlieferungen, sogar unserer Gesichtsbildung. Urteilen Sie, ob dies möglich, und zugleich, ob es wünschenswert ist! Drittens die Sammlung der Juden auf dem geschichtlichen Boden ihrer Urheimat in genügender Zahl, um dort nicht länger eine widerwillig geduldete Minderheit mit schlechterem Rechte, sondern eine menschlich, bürgerlich vollwertige Mehrheit zu sein. Sie haben geurteilt, dass dieses dritte Mittel das allein würdige, das allein Erfolg verheißende ist, und Sie haben sich dem Zionismus angeschlossen, der sich eben die Anwendung dieses einen Heilmittels für die Leiden des jüdischen Volkes zur Aufgabe gesetzt hat. Das Bild der Zustände des jüdischen Volkes ist von uns in seinen großen, allein wesentlichen Zügen festgelegt worden; die kleinen Zwischenfälle des Tages können daran nichts ändern und haben deshalb keine besondere Bedeutung. Es ist unser nicht länger würdig, bei derartigen kleinlichen Einzelzügen wehleidig und ächzend zu verweilen. Gestern verwüsteten Arbeiter in einer → böhmischen Fabrikstadt Judenläden. Heute plündert und steinigt man in → Jassy unsere Brüder. An einem dritten Tage erleiden Juden in → Nikolajew Grausamkeiten. An einem vierten misshandelt man in → Chicago einzelne arme → Hausierer unseres Stammes. Was beweisen diese Ausschreitungen? Dass uns überall Hass umlauert? Dass uns überall nur die dünne Mauer der gesetzlichen Ordnung und Polizeiregel gegen die stets zum Ausbruche bereiten bösen Volksleidenschaften schützt? Wir wissen dies auch ohne die Einzelbeweise. Und selbst wenn diese einmal ein ganzes Jahr lang fehlen würden, so wäre dies ohne Einfluss auf unser Urteil über die allgemeine Lage des jüdischen Volkes. Das ist es ja, was uns Zionisten von den kindischen, kurzsichtigen Kleinigkeitskrämern unseres Stammes unterscheidet, die aus der Hand in den Mund wirtschaften, nicht über den Tag hinaus denken und zu einer vorausblickenden Volkspolitik größeren Stils unfähig sind. Wenn einmal einige Monate vergehen, ohne dass Juden an ihrem Leibe und an ihrer Habe durch rohe Gewalttat geschädigt werden, dann können diese greisenhaften Kindsköpfe sich mit vergnügtem Händereiben und dankbarem Augenverdrehen gar nicht genug tun; dann hört man sie mit ihrer armen meckernden Stimme jauchzen: „Gott sei Dank! Nun geht es den Juden gut! Nun hat ihre alte Not ein Ende!“ Wenn dagegen da und dort, an einem städtischen Gesittungsmittelpunkt oder in einem weltfernen Dorfe, Fensterscheiben unter Steinwürfen klirren und jüdische Gliedmaßen gebrochen werden, dann ist das ein Gezeter! Dann ist das ein Händezusammenschlagen! Dann tun diese sonderbaren
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Geschöpfe mit den Maulwurfsaugen und den Sperlingsgehirnen verblüfft bis zur Fassungslosigkeit, als wäre etwas völlig Unerwartetes geschehen, worauf man unmöglich vorbereitet sein konnte. „Ist es denkbar! Eine derartige Barbarei in unserer Zeit! Das ist ja himmelschreiend!“ Wir Zionisten halten es damit anders. Wir wiegen uns nicht in Hoffnungsfreudigkeit, wenn einmal ein ganzes Jahr lang an keiner Stelle des Erdballs Juden gehetzt, misshandelt und geplündert worden sind; wir stoßen aber auch keine Schreie der Überraschung aus, wenn an unseren Brüdern Gewalttaten verübt werden. Unterbleiben diese, so ist dies ein Wunder, wofür wir von ganzem Herzen dankbar sind; denn uns geht das Leid eines jeden einzelnen Juden nahe, wenn wir unseren Schmerz auch nicht in Szene setzen. Ereignen sich aber Gewalttaten, so verzeichnen wir sie mit Bitterkeit, jedoch ohne Verwunderung, als die notwendige Folge der Lage, die wir klar erkannt und, ohne länger Selbsttäuschung zu dulden, aufgedeckt haben. Das ist ein Punkt, den ein Bericht über die allgemeine Lage des jüdischen Volkes immer wieder berühren muss. Es scheint mir deshalb geboten, ihn einmal gründlich zu beleuchten, damit in künftigen Jahren ich oder mein Nachfolger in der Berichterstattung dabei nicht mehr länger zu verweilen genötigt seien. Sie wissen, dass die → Geologie die Bildung der Erdoberfläche durch zwei entgegengesetzte Theorien zu erklären versucht hat, die man kurz als → die vulkanische und die neptunische bezeichnet. Nach der vulkanischen Theorie verdanken Meere und Festländer, Gebirge und Gesteinsschichten ihre Entstehung furchtbaren Umwälzungen, Erdbeben, vulkanischen Ausbrüchen, dem jähen Versinken und Auftauchen von Erdteilen, Katastrophen, die in Abständen von Hunderttausenden oder Millionen Jahren plötzlich eintreten und mit einem Schlage das Antlitz der Erde verändern. Die neptunische Theorie dagegen nimmt an, Länder und Seen und alle ihre Einzelheiten seien das Werk dauernder Naturkräfte, die geräuschlos, doch unablässig an der Arbeit sind, jeden Augenblick nur ganz winzige Veränderungen setzen, jedoch nach Jahrtausenden ruhig und gleichmäßig Festländer und Gebirge aufgebaut und abgetragen, Meere vertieft und ausgefüllt haben. Die vulkanische Theorie ist melodramatischer; sie macht aus der Erdgeschichte ein ungeheures Spektakelstück, und ein solches ist des Beifalls der Galerie immer sicher. Die neptunische Theorie ist minder theatralisch, aber sie ist überzeugender für die ernsten Geister, die geübt sind, das gewöhnliche Verfahren der Natur zu beobachten. Unter denen, die über die jüdische Geschichte in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein Urteil abzugeben haben, finden Sie nun gleichfalls Vertreter der vulkanischen und neptunischen Theorie. Jene, die Vulkanisten, legen nur den zeitweiligen großen Gewalttätigkeiten gegen die Juden Bedeutung bei. Für sie erschöpft sich die Geschichte des jüdischen Volkes in der Geschichte der jüdischen Katastrophen. Für sie schreitet sie von der → Zerstörung des Tempels zu den → Metzeleien der Kreuzzüge, von der → Austreibung aus England und Frankreich zu der Verjagung aus Spanien, von den → Schlächtereien Chmielnickys zu den → blutigen Ver-
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folgungen der ersten 80er Jahre. Die Neptunisten dagegen – und zu dieser Gattung zähle ich mich – schreiben den Katastrophen, und wenn sie noch so furchtbar wären, nicht dieselbe Wichtigkeit zu und erkennen sie nicht als die einzigen oder auch nur als die hauptsächlichen Kräfte an, die die neuere jüdische Geschichte bilden. Für uns sind die gewöhnlichen Verhältnisse, die uns gleichmäßig und dauernd umgeben, die Einflüsse, die das Schicksal des jüdischen Volkes gestalten. Alle Völker, auch die ruhmreichsten und mächtigsten, haben in ihrer Vergangenheit schwere Unglücksfälle, Umwälzungen, Bürgerkriege, zermalmende Niederlagen, die mitunter so furchtbar waren, dass eine Erholung von ihnen unmöglich schien. Sie haben ihnen auf die Dauer dennoch nicht geschadet und den aufsteigenden Gang ihrer glänzenden Geschicke nicht gehemmt. Warum? Weil zwischen den Schicksalsschlägen immer Jahrhunderte oder wenigstens Jahrzehnte ruhigen Gedeihens lagen, in denen alle Wunden heilen konnten; weil zwischen den heimgesuchten Geschlechtern andere Geschlechter lebten, die sich eines glücklich-sorglosen Daseins erfreuten. Das ist das Entscheidende. Über seine Katastrophen, auch über die furchtbarsten, wäre das jüdische Volk, dank seiner unverwüstlichen Lebenskraft, immer weggekommen, wenn es zwischendurch die Daseinsbedingungen aller anderen Völker gehabt hätte. Die hat es aber nicht gehabt. Die hat es auch heute nicht. Wir leben wie die Höhlentiere in ewiger Finsternis – uns leuchtet die Sonne der Gerechtigkeit nicht. Wir leben wie die Tiefseegeschöpfe unter einem ungeheuren Druck – auf uns lasten mit → Tausendatmosphären-Wucht Misstrauen und Geringschätzung. Wir leben seit Jahrhunderten in einer Eiszeit – uns umgibt die bittere Kälte des Hasses. Das sind die Dauerkräfte, die auf uns beständig einwirken, ohne Getöse, ohne Zwischenfälle, die zu sensationeller Berichterstattung Anlass geben können, unter denen wir aber langsam, allmählich, doch unfehlbar organisch zurückgehen. Ich erkläre offen, dass ich an eine Wiederholung der Schauerdramen unserer Vergangenheit in der Zukunft nicht recht glaube, obschon Ereignisse von gestern die Möglichkeit der Abschlachtung eines ganzen Volksstammes auch in unserer Zeit zu beweisen scheinen. Es ist nicht wahrscheinlich, dass man Zehntausende unseres Stammes in einem Anfalle von Massenmordgier niedermetzeln wird, wenn auch örtliche Ausbrüche von Rohheit möglich sind. Es ist nicht wahrscheinlich, dass man alle Juden aus einem Lande austreiben wird, wenn auch Tausende oder Hunderttausende durch unerträgliche Behandlung zu sogenannter „freiwilliger“ Auswanderung genötigt werden mögen. Es gibt heute ein europäisches Gewissen, ein Menschheitsgewissen, das zwar immer noch weit genug ist, aber dennoch wenigstens eine gewisse äußerliche Ehrbarkeit vorschreibt und nicht leicht tobende Massenverbrechen duldet. Aber wenn ich an kein allgemeines Blutbad unter den Juden, an keine allgemeine Judenverjagung glaube, so bin ich andererseits überzeugt, dass unsere Eiszeit noch sehr lange dauern wird, auf alle Fälle länger, als wir sie trotz unserer eben von mir gerühmten unerschöpflichen Lebenskraft ertragen können. Man stirbt unter dem → Mordstahl und auf dem Scheiterhaufen, doch wer erfriert, ist gleichfalls tot, und wer in Rechtlosigkeit und Verachtung nach und nach verkommt, der
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ist nicht viel besser daran. Es ist ein Untergang → ohne bengalische Flammen; für den Untergehenden aber ist er nicht minder tragisch. Das jüdische Volk von diesem dauernden, gleichmäßigen, zermalmenden Druck zu befreien ist die Aufgabe, die der Zionismus sich gestellt hat. Wie will er diese Aufgabe erfüllen? Einen Volksstamm mit gewährleistetem Rechte der Selbstverwaltung, wenn auch ohne staatliche Unabhängigkeit, auf eigenem Boden anzusiedeln, das ist in hervorragendstem Maße ein politisches Werk, und um ein solches aufzubauen, dazu sind Machtmittel unentbehrlich. Welches sind nun unsere Machtmittel? Wir haben für uns die geschichtliche Größe und sittliche Schönheit des zionistischen Gedankens. Wir, deren Lebensberuf die Pflege des Gedankens und seiner Veräußerlichung in Schrift und Wort ist, wir werden sicher die letzten sein, die die Bedeutung des Gedankens unterschätzen. Aber wir wären unpraktische Schwärmer und Träumer, wenn wir nicht erkennen würden, dass die Macht des Gedankens, um kinetisch zu werden, das heißt, um auf verantwortliche Staatsmänner einzuwirken und sie zu Handlungen zu bestimmen, Umwandlungen und Übertragungen erfordert. Ein anderes Machtmittel, das allerunentbehrlichste, ist das Geld. Wie es damit bestellt ist, darüber haben Sie schon Andeutungen vernommen, und das → AktionsKomitee wird Gelegenheit haben, Ihnen in verschiedenen Berichten hierüber Weiteres zu sagen. Ich lasse deshalb diesen Punkt unerörtert. Ein Machtmittel aber haben wir unzweifelhaft auch heute, und das ist der Volkswille. Dass niemand so leichtfertig und verständnislos sei, hierüber zu lächeln! Der Wille eines, wenn auch über die ganze Erde verstreuten, Volkes von zehn Millionen ist eine positive Kraft, mit der auch die realistischsten Staatsmänner als mit einem durchaus ernsten Machtfaktor rechnen. Aber die erste Voraussetzung ist natürlich, dass der Volkswille auch wirklich vorhanden sei und dass er sich unzweideutig äußere. Um von aller Welt ernst genommen zu werden, braucht das jüdische Volk sich nur selbst ernst zu nehmen. Um, bald oder später, zu erlangen, wonach es strebt, muss es zunächst seine Forderungen anmelden. Das Wohlwollen der mächtigsten Persönlichkeiten und edelsten Geister der christlichen Welt ist einer unserer allerwertvollsten Aktivposten. Wir haben da einen großen Kredit, auf den wir für den gegebenen Augenblick rechnen. Aber um auf diesen Kredit ziehen zu können, müssen wir eine authentische Unterschrift haben, deren Rechtsgültigkeit der Kassierer nicht anzweifelt. Diese Unterschrift zu schaffen, ihr eine unanfechtbare Repräsentativ-Bedeutung zu sichern, ist seit zwei Jahren der Gegenstand unserer unablässigen, angestrengten Arbeit. Zurzeit hat das jüdische Volk keine dringlichere, keine wichtigere Aufgabe, als diese Arbeit mit allen Kräften fortzusetzen. Wie können wir erwarten, dass die Welt uns Volksrechte und ein Volksgebiet zugesteht, ehe sie völlig überzeugt ist, dass wir wirklich ein Volk sind und es auch bleiben wollen? Wir Zionisten wissen es, aber die Welt braucht es uns nicht zu glauben, solange beides von zahlreichen wild kreischenden Stimmen in den Reihen der
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Juden selbst giftig geleugnet wird. Es ist deshalb unsere unaufschiebbare Pflicht, uns zunächst mit unseren inneren Feinden auseinanderzusetzen – denn andere Gegner als jüdische hat der Zionismus überhaupt nicht –, um der Welt keinen Zweifel darüber zu lassen, wer berechtigt ist, im Namen des jüdischen Volkes zu sprechen. Vielfach hat man bisher bloß die Stimme unserer Gegner gehört, und da bekanntlich ein Mann, der schreit, mehr Lärm macht als tausend Leute, die schweigen, so haben selbst gutgläubige Beobachter schwer den Irrtum vermeiden können, die Bedeutung unserer Gegner im jüdischen Volke zu überschätzen. Wir müssen deshalb ununterbrochen daran arbeiten, die Welt immer wieder darüber aufzuklären, dass nicht die Gegner des Zionismus, sondern die Zionisten das jüdische Volk verkörpern. In der → jüdischen Überlieferung tritt beständig in mannigfachen Formen der Gedanke zutage, dass eine winzige Minderheit der lebendige, der wesentliche, der allein ausschlaggebende Teil des Volkes ist. Nicht den 22 000, auch nicht den 10 000, sondern den → 300 Kriegern Gideons wird die Aufgabe zugeteilt, die → Amalekiter zu schlagen. Unsere Rabbiner sind noch ausschließlicher und behaupten, das Los des ganzen Volkes sei auf 36 Gerechte gestellt. Es könnte dem höchsten Ehrgeiz der Zionisten genügen, die → 36 Gerechten zu sein, durch die allein das ganze Volk lebt, die 300 Gideons-Streiter zu sein, die allein für das ganze Volk kämpfen und siegen. Aber wir müssen damit rechnen, dass dieser stolze Aristokratismus unserer Ahnen, der nur die Minderheit anerkennt, vielen zu fein und zu vornehm ist und dass dem gröberen Sinne nur die Mehrheitsbrutalität imponiert. Zeigen wir daher, dass wir nicht bloß die wenigen Auserlesenen für uns haben, die gewogen werden und mit denen unsere Weisen sich begnügten, sondern auch die vielen, die gezählt werden und an die allein das Zeitalter des allgemeinen Stimmrechts glaubt. Befriedigen wir zugleich die aristokratische und die demokratische Anschauung. Wir können es, wenn wir nur wollen. Ich habe gesagt: Unser großes Machtmittel ist heute der Volkswille. Halten wir nun einen Maitag mit unserem Volke ab, prüfen wir in einer allgemeinen Heerschau seine Gliederung, seine Bewaffnung, seinen Geist, damit wir genau wissen, mit welchen Streitkräften wir zu Felde ziehen. Es muss auf den ersten Blick befremden, dass die Millionen des jüdischen Volkes sich noch nicht ausdrücklich für den Zionismus erklärt haben. Unsere Gegner deuten diese Enthaltung als Absage. Wir könnten sie wohl mit besserem Rechte als Zustimmung deuten. Es ist aber tief betrübend, dass wir überhaupt auf Deutungen angewiesen sind. Warum erheben diese Millionen nicht ihre Stimme? Warum sagen sie nicht laut: „Wir sind Zionisten“ – da sie es doch im Herzen zweifellos sind? Warum? Ich kenne den Grund und will ihn angeben, obschon mich dies schwere Überwindung kostet; denn der Grund ist tief beschämend. Es scheint unglaublich, ist aber dennoch wahr: Es gibt noch Millionen Juden, die von der ganzen zionistischen Bewegung nichts wissen. Sie sehnen sich nach dem Zionismus und haben nicht erfahren, dass ihre Sehnsucht die Form eines positiven politischen Pro-
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gramms angenommen hat. Sie beten jeden Tag für die → Rückkehr nach Jerusalem und ahnen nicht, dass wir mit dem Einsatz unserer ganzen Persönlichkeit daran arbeiten, diese Rückkehr vorzubereiten. Und das Tragische ist, dass sie an ihrer Unwissenheit nicht schuld sind. Unser Wort erreicht sie nicht. Sie lesen keine Zeitung. Sie gehen in keine Versammlung. Der furchtbarste → Kampf ums Dasein nimmt jeden ihrer Augenblicke so vollständig in Anspruch, dass ihnen für nichts Zeit und Sinn übrig bleibt, was sich nicht auf die unmittelbare Erbeutung eines Bissens Brot bezieht. Aber diese Millionen gehen in die → Synagoge; die meisten von ihnen täglich, alle am → Sabbat und an den Festtagen. Sie blicken zu ihren Rabbinern als zu ihren bestellten Lehrern auf. Die Rabbiner haben ihr Ohr – sie hatten die Pflicht, ihnen die frohe Botschaft des neuen Zionismus zu verkünden. Warum haben sie diese Pflicht nicht erfüllt? Wohlverstanden: Ich denke hier nicht an die sogenannten → Protestrabbiner des Westens. Mit diesen sind wir fertig und hoffen, dass auch das jüdische Volk bald mit ihnen fertig sein wird. Ich habe die → glaubenstreuen Rabbiner des Ostens im Auge, an deren gut jüdischer Gesinnung billig niemand zweifeln wird. Diese Rabbiner fragen wir: „Weshalb steht ihr abseits? Weshalb schweigt ihr? Weshalb führt ihr eure Gemeinde, die euch folgt, nicht → mit entfalteter Davidsfahne ins zionistische Heerlager?“ Man sagt uns, dass Sie uns misstrauen, dass Sie von uns ich weiß nicht welchen Anschlag auf den Glauben befürchten. Wie ist das möglich? Wir haben ja wiederholt öffentlich erklärt, dass wir den Glauben nicht antasten, dass innerhalb des Zionismus jedem die volle Freiheit gewährleistet wird, seiner religiösen Überzeugung nachzuleben! Und wenn Ihnen diese Erklärung nicht genügen sollte, so bedenken Sie doch dieses: Sie haben ja Ihr Schicksal in der eigenen Hand! Wir haben ja gar nicht die Möglichkeit, Ihnen unseren Willen aufzunötigen, wenn er von dem Ihrigen verschieden sein sollte! Kommen Sie alle zu uns, Sie, die Frommen, Sie, die Misstrauischen. Wir sind bisher Hunderttausende, Sie werden dann Millionen sein, und der Wille dieser Millionen, nicht der unsrige, wird geschehen. Sie können in einem Tage, mit einem Schlage, neun Zehntel des jüdischen Volkes aus Zionisten des Gemüts, die sie heute schon sind, in Zionisten des lauten Wortes und der Tat verwandeln. Wir können dies mit unseren Mitteln der weltlichen Propaganda, der Presse, den Wanderrednern, den Vereinsvorträgen, nur viel mühseliger und langsamer. Wir werden es zuletzt dennoch fertigbringen, während Sie es gleich tun könnten. Aber wenn wir es fertiggebracht haben werden, dann wird das endlich unterrichtete jüdische Volk strenge Rechenschaft von seinen Rabbinern fordern, die heute schweigen! Die gebildete Judenschaft des Westens fährt fort, uns großenteils feindlich oder mindestens gleichgültig gegenüberzustehen und grimmig zu leugnen, dass die Juden ein Volk sind. Sie sind die einzigen, die dies noch leugnen. In negativer Form,
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im Wege der Ausschließung, erkennen alle Völker es an, indem sie uns Juden sagen: „Zu unserem Volke gehört ihr nicht, wenn ihr auch bei uns Staatsbürgerrechte besitzt.“ Wie schwach muss es mit der Mathematik und Logik der Leugner bestellt sein, wenn sie nicht begreifen, dass alle diese Verneinungen vereint die stärkste Bejahung des jüdischen Volkstums sind! Wir waren anfangs gegen diese Widersacher sehr erbittert. Wir sind ruhiger, vielleicht auch gerechter geworden. Wir verstehen sie, und alles verstehen heißt alles verzeihen. Es ist ihnen sauer genug geworden, ein Vaterland und Staatsbürgerrechte zu erringen, und sie haben nun eine gewisse nervöse Angst, sie wieder zu verlieren. Was sie haben, das wissen sie, was der Zionismus ihnen bieten wird, das sehen sie noch nicht, weil ihnen die Fähigkeit des Ausblicks in die Zukunft und der Vorstellung des erst Geplanten, noch nicht Ausgeführten fehlt. Heute sehen sie im Zionismus nur eine Besitzstörung und wehren ihn empört ab. Aber gerade ihre Geistes- und Charakter-Eigentümlichkeiten bürgen mir dafür, dass sie ihren Widerstand aufgeben werden, wenn wir erst einen Anfang von greifbaren Ergebnissen aufzuweisen haben werden. Im Kampfe haben wir auf diese Juden nicht zu rechnen. Manche von ihnen werden uns sogar in den Rücken fallen. Im Siege aber werden voraussichtlich viele von ihnen zu uns kommen. Nun, sie sollen uns auch dann willkommen sein. Sie sind ja für ihre kurzsichtige Seele und für ihre Kleinmütigkeit nicht verantwortlich. Ich werde Sie vielleicht in Erstaunen setzen, wenn ich Ihnen sage, dass ich selbst die → Renegaten, die jüdischen Antisemiten, die → Speichellecker der adligen Salons milder zu beurteilen gelernt habe. Ich habe sie bei frommen christlichen Veranstaltungen in aristokratischer, größtenteils schroff antisemitischer Gesellschaft verbrennen sehen. Ich habe in den Büchern ausgezeichneter Beobachter wie → Anatole France und anderer gelesen, was sie alles zu erdulden haben, um sich in antisemitischen Adelskreisen einzuschleichen, mit welcher Schmach sie sich tränken lassen müssen, um auf einem gräflichen Balle zu tanzen oder einem herzoglichen Pumpbruder Geld leihen zu dürfen. Da begriff ich erst diese Leute und ihr Wesen. Da erwachte erst in mir die Erkenntnis, dass sie die echten Söhne der großen Vorfahren sind, die auf der Folterbank und dem Scheiterhaufen ihr edles Leben aushauchten. Auch sie erleiden freiwillig alle Martern und selbst den Feuertod. Auch sie entfalten ebenso viel Heldentum, um ihr Judentum zu verleugnen, wie ihre großen Väter, um dem Judentum treu zu bleiben. Grollen wir diesen armen → Blutzeugen der → Assimilation nicht. Begnügen wir uns damit, uns von ihnen loszusagen, wie sie sich von uns lossagen. Rechnen wir auch auf → die Praktischen nicht, die uns anheimgeben, uns im Kampfe die Knochen zerbrechen zu lassen, und die sich vorbehalten, zu uns zu kommen, wenn der Sieg errungen ist. Dagegen dürfen wir nichts unversucht lassen, um zu der jüdischen Menge zu gelangen, die vom Zionismus noch nichts oder nicht das Richtige gehört hat. Wenn unsere natürlichen Mitarbeiter, die Rabbiner, uns im Stiche lassen, nun, so wird es ohne sie gehen müssen. Wir müssen und werden es erreichen, dass die ungeheure Mehrheit des jüdischen Volkes ihre zionistische Gesinnung, ih-
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ren Willen zu nationalem Dasein laut vor aller Welt bekennt. Aber dazu ist erforderlich, dass jeder einzelne Zionist sich immer und überall → seines Apostelamtes bewusst bleibe. Passive, beschauliche Zionisten, Rentner des Zionismus, Zionisten des Ruhestandes darf es noch nicht geben. Wir müssen unausgesetzt predigen, lehren, werben. Das Flaggensignal, das wir für unsere ganze heilige Kämpferschar hissen, ist dasjenige → Nelsons am Tage von Trafalgar: → → „Israel expects everybody to do his duty!“, „Israel erwartet, dass jeder seine Schuldigkeit tut!“ Quelle: ZS1, S. 77–92, dort mit Datierung: Basel, 15. August 1899. Ferner als: Der dritte ZionistenCongress. Die Rede Dr. Max Nordaus, in: Die Welt, 25.8.1899, H. 34, S. 1–5.
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21 Renner Eindrücke Während der dreißig Vormittage, die ich im → Lyzeum-Saale zu Rennes verbrachte, hatte ich keine Zeit, zu träumen, wohl aber zu schauen. In dem Maße, wie das Drama, dessen Zeuge ich war, in die Vergangenheit zurückrückt, ordnen sich in meiner Erinnerung die empfangenen Gesichtseindrücke zu einem Gesamtbilde und gewinnen einen geistigen Ausdruck, den sie nicht haben konnten, solange sie Bruchstücke waren. Seit der → „Begnadigung“ von Dreyfus – welche Schmach, sich einem Unschuldigen gegenüber dieses Wortes bedienen zu müssen! – ist dem → Verbrechen, das kaltblütig und vorbedacht in Rennes begangen wurde, wenigstens ein schlimmer Teil seiner sachlichen Wirkung genommen worden. Man kann mit geringerer Empörung daran denken und mit größerem Gleichmute von jenen sprechen, die es verübt haben. Ich war gegen die Richter nicht voreingenommen. Heute beklage ich sie mehr, als ich sie verachte und verabscheue, denn sie waren ohnmächtig, ihre teuflischen Absichten zu verwirklichen, und ihre Missetat schändet für alle Zeiten nur sie und nicht den Mann, der ihr Opfer werden sollte. Kein Hass verzerrte mir ihr Bild, als ich sie täglich fünf Stunden lang vor Augen hatte. Kein nachtragender Grimm entstellt es mir jetzt in der Erinnerung. Ich bin sicher, dass ich sie nicht mit meiner Empfindung sah. Ich bin sicher, dass meine Empfindung auch jetzt dem Bilde keine subjektiven Züge hinzufügt. Die vollkommen gegenständliche Wahrheit ist aber, dass man sich schwer eine beunruhigendere, unheimlichere Sammlung von Köpfen vorstellen kann als die des Renner Gerichtshofes. Nach Haltung und Miene war es eine Mischung von Ketzertribunal und → Prisengericht in einem Piratenlager. Von den Beisitzern zeigten die einen den eisigen, finsteren → Fanatismus der Inquisitoren, die anderen die Galgenstrick-Hartgesottenheit von Freibeutern, einer oder der andere beide Charaktere zugleich oder die niedrige Aufgeblasenheit des → Büttels, der von seinem → Stockprivileg durchdrungen ist. Den Hauptmann → Beauvais nehme ich aus. Nicht weil er einer der beiden Rechtschaffenen ist, die gerecht geurteilt haben, sondern weil ich ihn von meinem Platze im Saale nur beim Kommen und Gehen flüchtig sehen, doch niemals genau beobachten konnte. Als der jüngste Offizier war er der → Flügelmann am Richtertische, und die Gruppe der Verteidiger des Angeklagten und des ihn bewachenden → Gendarmerie-Hauptmannes entzog mir dauernd seinen Anblick. Der Vorsitzende, → Oberst Jouaust, konnte eine ganz oberflächliche Beobachtung eine kleine Weile täuschen. Man sah dann nur einen gewaltigen weißen Schnauzbart, einen Kneifer und dunkel gebliebenes, über der Stirn noch ziemlich dichtes Haupthaar, alles in allem die → Physiognomie eines Militär-Bürokraten, der umso → eisenfresserischer aussehen will, je weniger er mit dem eigentlichen Kriegsdienste zu schaffen hat. Aufmerksamere Betrachtung führte jedoch bald zu anderen Wahrnehmungen. Alles an diesem Manne war unecht und auf Täuschung berechnet. Sein Gesicht war eine Karnevalsmaske, sein → grimmiger Schnurrbart à la Vic-
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tor Emanuel ein Theater-Requisit, der Behelf eines gleichgültigen temperamentlosen Routineschauspielers, der einen alten → Haudegen darzustellen hat. Hinter diesem einschüchternden Borstengestrüpp verbarg sich unvollkommen ein schlappes, jämmerliches Schwächlingsantlitz, das eine → muftige, finstere Seele und Livreebedientengefühle erraten ließ. Eine schwammige, kleine Nase, kaum groß genug, um dem Kneifer einen Reitsitz zu gewähren, ein formloser, ewig schmollend und maulend verkniffener Mund, eine wetternd krausgezogene enge Stirn, kleine Augen, die in 150 Verhandlungsrunden nicht zwei Minuten lang gerade auf Dreyfus oder Labori blickten, auch nicht, besonders nicht, wenn der Mann zu dem einen oder anderen sprach, eine keifende oder knurrende Stimme, die sich nur in den beiden Lagen des grollenden Brummens oder zänkischen Kreischens bewegte und nicht ein einziges Mal den kurzen, klaren Manneston des ruhigen Befehles fand, ungeduldiges Achselzucken, zufahrende symbolische Handbewegungen eines galligen Rechthabers, der sich über Widerspruch ärgert, das waren die sinnfälligen Züge in der Erscheinung des Mannes, der den weltgeschichtlichen Prozess zu leiten hatte. In der Würde eines Richters fand er sich keinen Augenblick lang zurecht. Er war immer Partei, und zwar niedrige, jeden Vorteil der Stellung treulos missbrauchende und ausbeutende, beinstellende und tückische, Rückenstöße versetzende Partei. Er suchte den Angeklagten zu verderben; aber mehr als ihn, mehr als seine Verteidiger, mehr als die militärischen Entlastungszeugen hasste er uns, den → antiken Chor der Tragödie, die dreihundert halbamtlichen Abgesandten Europas und Amerikas im Saale, die unerbittlich scharfen Seh- und Hörwerkzeuge, durch die vierhundert Millionen weißer Menschen in den Lyzeumssaal von Rennes hineinlugten und hineinhorchten. Wenn er den Gendarmen, die uns all die Zeit mit Mörderaugen anblickten, hätte befehlen dürfen, uns allesamt, selbst die → Vertreter der nationalistischen Presse nicht ausgenommen, unter ein Salvenfeuer zu nehmen und keinen einzigen Zeitungsschreiberschädel heil zu lassen, er hätte vielleicht Dreyfus freigesprochen. Ich habe die sichere Empfindung, dass in seine Verurteilung des Unschuldigen ein Bedürfnis von Rache an den dreihundert Pressleuten, den Verkündern seines Ruhmes, mit hineinspielte: „Das wäre zu dumm!“ wird nur der ausrufen, der nie den scheuen, hinterhältigen Blick der kleinen Augen dieses Mannes hinter seinem Kneifer überrascht hat. Alles an ihm war erbärmlich kleinstädtisch und philiströs, selbst der Beweggrund seiner Missetat. Er handelte nicht aus großer, wenn auch verbrecherischer Leidenschaft, nicht aus einem jener tiefwurzelnden Triebe, die das ganze Wesen eines Menschen durchsetzen und ihn gegen alle Gebote von Gesetz und Sitte blind und taub machen. Er misshandelte den Angeklagten, vergewaltigte die Verteidigung und die Entlastungszeugen und verurteilte zuletzt den Unschuldigen aus → Pickwickier-Gründen; aus platter, feiger Liebedienerei, um den fälschenden und lügenden Generälen zu gefallen, um mit seinem Umgange von zehn oder zwölf Offizieren, Geistlichen und bretonischen Krautjunkern im Einklange zu bleiben, vielleicht um eine häusliche Gardinenpredigt zu vermeiden. Man würde staunen, dass dieser kleine Mensch so große Schmach auf sich und eine Gesamtheit häufen konn-
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te, wenn man sich nicht erinnerte, dass der → Fingerdruck eines kleinen Mädchens das Höllentor im Hafen von New-York sprengte, als alles dazu vorgekehrt war. Der rangnächste Beisitzer, Oberstleutnant → Brogniart, war die einzige Physiognomie von höherer Geistigkeit im Gerichtshofe. Ein unsymmetrisches Gesicht, das von einer hohen Denkerstirn beherrscht war, harte, braune Augen, die den Angeklagten fortwährend wie mit Dolchstichen durchbohrten, ein bitterer Mund, eine stolze, ragende Haltung des Kopfes gaben zusammen ein eindrucksvolles Bild. Das war kein livreetragender Scherge, sondern ein Herr, ein Übeltäter in eigenem Rechte, ein verspäteter Vertreter der Gattung, die in früheren Jahrhunderten häufiger war, ein Inquisitor, ein → Ligueur, ein → Weißbindenträger der Bartholomäusnacht. So zwingend ist die Überlegenheit des Gedankens, dass er trotz seines offenbaren Fanatismus um seines klugen Aussehens willen dennoch sympathisch gewirkt hätte; aber die Stimme zerstörte diesen Eindruck. Es war eine raue, polternde Stimme ohne Vornehmheit, die den felsigen Untergrund und die → finsteren Molchhöhlen seines Wesens verriet. Sein Nachbar, Major → Merle, hatte ein weiches, wohlwollendes Professorengesicht mit Brillen, hochgezogenen Brauen und einem semmelblonden, anspruchslosen Schnurrbart. Im Aufsichtsrate eines Waisenhauses oder in einer Prüfungs-Kommission hätte man ihn schwerlich bemerkt. In diese wüste Gruppe eingesprengt, fiel er stark auf. Vom ersten Tage an sagte ich zu meiner Umgebung: „Dieser Richter spricht frei: wenn nicht aus Einsicht, dann aus Güte und Mitleid.“ Es überrascht mich nicht, dass man ihn als den anderen der beiden bezeichnet, die dem Urteile der fünf widerstanden. Noch einer der Offiziere, → Oberstleutnant de Bréon, sah gutmütig, doch schwächlich aus. Auch von ihm versah ich mich auf die Miene hin eines Urteils der Milde, wenn nicht der Gerechtigkeit. Es scheint, dass ich mich nur halb getäuscht habe. Er soll sich lange gewehrt und zuletzt nur gegen das Zugeständnis mildernder Umstände nachgegeben haben. Die beiden übrigen Beisitzer, die ich noch beobachten konnte, → ein alter Major und ein junger Hauptmann, waren dagegen einfach unheimlich. Der Graubart glich mit seinem eckigen, knochigen Gesichte, seinen gekniffenen Lippen und seinen gesträubten Brauen dem → Rottmeister der Landsknechte auf einem Callot'schen Stiche, den ich besitze und wo er das Rösten und Schinden einiger eingebrachter Bauern leitet. Der Hauptmann war das vollendetste → Modell eines Alba'schen Offiziers, das ich je gesehen habe: stechende, glänzende Schwarzaugen ohne Erbarmen, deren Blick zu Foltern lacht, eine gerade, weitnüstrige Nase, von jähen Zornwallungen häufig gebläht, eine niedrige, unter dem dichten, pechschwarzen, bürstenartig geschorenen Kopfhaare beinahe nur angedeutete Stirne, ein verwegener, natürlich oder kosmetisch glänzender schwarzer Schnurrbart. Diese Erscheinung war wenigstens ästhetisch, wenn nicht moralisch zulässig. Der Mann täuschte nicht. Er schien, was er war: ein schwarzer Panther. Er verheimlichte auch seine Gefühle nicht. Den Entlastungszeugen hörte er nicht zu. Während sie sprachen, spielte er
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mit allerlei Dingen, starrte auf die Decke, gähnte oder zeigte in Haltung und Miene unverkennbar Gedankenflucht. Eine Ausnahme machte er nur bei Picquart und → Major Hartmann. Sooft diese beiden Helden erschienen, schoss ihm das Blut in Wangen und Augen und er duckte sich wie ein Raubtier vor dem Ansprunge zusammen. Er war der eine, der triumphierend dreinschaute, als Oberst Jouaust das Urteil verlas. In jenem Augenblick legte er seine schöne Seele dar. Merkwürdiger als der merkwürdige Gerichtshof waren die Belastungszeugen, die in einem Rudel beisammen saßen, feindlich geschieden von den anderen, der winzigen Minderheit, die in der rechten Saalhälfte ein verlorenes Häuflein bildete. Als ich diese Generäle und Stabsoffiziere und gewesenen Minister betrachtete, musste ich mit bitterem Lächeln an einen der großen Einwände denken, die alle Amtsperücken und Schlendrianpriester → der Lehre Lombrosos vom geborenen Verbrecher bei ihrem ersten Auftreten entgegenhielten: „Wie können die → anatomischen Eigentümlichkeiten, die das Merkmal des geborenen Verbrechers sein sollen, diese Bedeutung haben? Man findet sie ja fast ebenso häufig bei anständigen Menschen wie bei Zuchthäuslern!“ Unsere Antwort war immer: „Unter anständigen Menschen verstehen Sie wohl unbestrafte Menschen. Was wissen Sie aber von ihren Trieben und Drängen? Wer sagt Ihnen, dass diese anatomisch gekennzeichneten Individuen nicht lediglich das Glück hatten, nicht ertappt zu werden?“ Die Meister und Gesellen des Lügengewebes, das Dreyfus erwürgen sollte, waren, mit einer einzigen Ausnahme, aus dem Verbrecheralbum gestiegen. Drollig genug diese eine Ausnahme, der ehemalige Stallknecht und jetzige → Pferdehändler Germain, der mehrfach vorbestrafte falsche Zeuge, der Dreyfus 1886 in Mülhausen an der Seite eines deutschen Generals zu Pferde einer Feldübung deutscher Truppen beiwohnen gesehen haben wollte. Dieser Mann hatte ein einnehmendes, beinahe vornehmes, höchstens etwas zu geschniegeltes Gesicht. Er allein konnte über seinen Charakter täuschen, gerade der eine Sträfling inmitten all dieser unbescholtenen Gefährten! Aber diese anderen – welche Köpfe! Welche Augen! Welche Hände! Und sie trugen den Rock und die Abzeichen der Ehre. Titel, vor denen Ordnungsfreunde sich zu verneigen gewohnt sind, sie gehörten einem Stande an, der sie zu den Hauptstützen des Gesellschaftsbaues macht. Welch ein Triumph, wenn Gegner Lombrosos ihnen vor fünf Jahren in einem Salon begegnet wären! „Da haben wir die vollkommensten Beispiele des Uomo delinquente, wie Lombroso ihn beschreibt. Und wer sind die Träger dieser Galeeren- und Galgen-Physiognomien? Die Verkörperung der Ehre! Die fleischgewordene Würde! Die angesehensten Männer des Staates.“ Im Lyzeums-Saale zu Rennes konnten diese Kritiker Lombrosos feststellen, was ihr Argument wert ist. Den abstoßendsten Kopf hatte → General Mercier: eine unwahrscheinlich verrunzelte, verwitterte, zerknüllte Maske eines alten Weibes, trotz des kurzen, an den herabgezogenen Mundwinkeln niederstreichenden Schnurrbartes, der im Gegenteile durchaus zu diesem Gesichte einer bösen Sieben zu gehören schien; eine lange, dünne, an der Spitze wie ein Geierschnabel jäh gekrümmte Nase und kleine, bleiern
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glanzlose, starre Augen eines lauernden Krokodils. Die Stimme stand in merkwürdigem Einklange mit der Physiognomie. Sie war eine Folge schwacher Gähnlaute, und wenn Mercier eine Anstrengung machte, sie zu erheben, so quoll sie farblos, schmalzig und fauchend hervor, immer salbungsvoll, doch geärgert und von verhaltener grausamster Drohung bebend. Einen anderen, nicht minder unheimlichen Typus vertrat → General Roget. Glatter Kopf, scharf gekrümmte, weiße Nase, zu einer fletschenden Grimasse verzerrter Mund, gläserner Blick, die stärkste Annäherung an einen Tigerkopf, die Menschenbildung gestattet. Dazu fortwährende plötzliche, geschmeidig runde Bewegungen einer in kurzen Sätzen vorwärts eilenden und zurückweichenden, geduckten und lauernden Katze. Ein Blick genügte, um in diesen beiden die geistigen Urheber des Anschlages gegen Recht und Wahrheit zu erkennen. Sie waren die treibende Kraft, der Gedanke und die Leidenschaft des Dreyfus-Handels. Alle anderen waren untergeordnete Helfer; dieser → Boisdeffre mit der seitlich verdrückten → roten Pontacnase, den ungeheuerlichen Würger- und Schlächterhänden, der belegten, polternden Schnapsgurgelstimme, dieser feiste → Billot mit der falschen Biedermannsmiene, dem listigen, jedem Auge ausweichenden Blick und den Tremolos eines Provinz-Kulissenreißers in der Stimme, dieser niedrig-tückische → Gonse, der, wenn er auf frischer Tat des schmachvollsten Lügens ertappt, vor dem Richtertische dicke Tropfen schwitzt, beim Herabsteigen von der Bühne seinen Kumpanen mit dem Grinsen einer verkommenen Schulrange zulächelte, die sich eben aus einem ängstlichen Verhöre herausgelogen hat, und der ganze Tross der kleineren Helfershelfer, bei dem schildernd zu verweilen zu unerquicklich ist, obschon der → Gleisner Chamoin und besonders der Artillerie-Direktor → General Deloya mit seinem vollendeten Chinesenkopfe, seiner übertreibenden → Deklamation und dem karikaturalen Gebärdenspiele bald eines rasselnden Heldenvaters, bald eines komischen Alten der vornaturalistischen Schule eigentlich Erwähnung verdienen würden. Als ich diese → Auslese konfiszierter Gesichter vor mir sah, da erwachte in mir eine Vorstellung, bei der es mich kalt überlief. Hier, im Lyzeums-Saale, spielten sie keine glänzende Rolle. Sie redeten hochnäsig, klagten an und gebrauchten Ausdrücke der Verachtung, aber sie wussten sehr gut, dass sie die Angeklagten waren, sie fühlten sehr gut, dass die zermalmende Verachtung der dreihundert Zuhörer auf ihnen lastete, und das hinderte die Entfaltung ihres eigentlichen Wesens. Nun dachte ich mir jedoch alle diese Generäle und Stabsoffiziere in triumphierender Ausübung ihres Berufes, in der Allgewalt von Siegern, an der Spitze eines Riesenheeres, worüber sie unbeschränkt verfügten, als unverantwortliche Gebieter eines überwundenen Landes, einer eroberten Stadt, als Herren über das Leben und Vermögen eines niedergeworfenen Volkes, über die Ehre der Frauen und Mädchen, und eine schwarze Wolke zog mir an den Augen vorbei. Welche unaussprechlichen und nicht auszudenkenden Gräuel, welche Folge von Raub, Mord und Schändung, von Höllentaten und Grausamkeit und des ruchlosen Übermutes, wenn diese Tiger und Schakale
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nach ihres Herzens Gelüsten schalten konnten und auf einen Wink ihres Fingers zweitausend Kanonen und eine Million Gewehre und → Bajonette jeden Einfall ihres Verbrechergehirnes verwirklichten! Und wer sagt uns, dass ganz ähnliche Naturen nicht wirklich in derartigen Lagen waren? Und → Bazaine in Mexiko, und → Weyler auf Kuba, und → Haynau in Ober-Italien, und gewisse Generäle des → ersten Kaiserreiches und des → dreißigjährigen Krieges, um nicht weiter zurückzugehen? Die Köpfe, die ich vor mir hatte, fügten sich als bedeutsame Randglossen zur ganzen Kriegsgeschichte, zur ganzen Weltgeschichte hinzu und erklärten sie mit brutaler Deutlichkeit. Wahrlich, zum → Friedenskongresse von Haag konnte ein ausdrucksvolleres Nachwort nicht gefunden werden als die Verhandlungen von Rennes. Über einen Punkt bin ich mir nicht ganz klar geworden. Zur Feststellung des erschreckenden Unterschiedes der Physiognomien auf der Seite der Ankläger und der Verteidiger genügt ein Blick. Die Frage ist nur: Hat erst die mehrjährige, geheime und öffentliche Mitarbeit an dem gemeinsamen Verbrechen diesen zwanzig Männern, die unter dem Anstoße von zwei oder drei geborenen Verbrechern handelten, die Brandmarke sittlicher Verwüstung und Erniedrigung aufgedrückt oder hat sich von vorneherein der Auswurf eines Standes wahlverwandt um diese aasige Angelegenheit gesammelt, wie in den → Landsknechtszeiten der Abschaum der Stadt und des Landes zusammenlief, wenn die Werbetrommel dröhnte? Auch die erste Möglichkeit ist nicht kurzerhand abzuweisen, denn beim heutigen Stande der Naturerkenntnis leugnet nur der Unwissende die plastische Kraft des Gedankens nach der Schönheit wie nach der Hässlichkeit hin. So viel ist sicher: Ungefähr alle, die in der Dreyfus-Sache auf der Seite der Verfolger eine nennenswerte Rolle gespielt haben, sind auffällig gezeichnet und müssen selbst unbekannt, selbst auf der Straße bemerkt werden, namentlich wenn ihrer zwei oder drei beisammen sind. Hieraus geht aber auch der tröstliche Schlusseindruck hervor, den ich denn doch im Ganzen aus dem Lyzeums-Saale zu Rennes mitgenommen habe. Die Gruppe von Missetätern, die man da am Werke gesehen hat, ist keine durchschnittliche Menschheit. Sie vertritt normaltypisch weder einen Stand noch ein Volk noch die Gattung. Jeder Schluss, der, von ihr ausgehend, über sie selbst hinausgreifen würde, wäre deshalb notwendig ein Fehlschluss. Diese Männer sind Ausnahmswesen; sie sind wie sittlich so anatomisch als solche gekennzeichnet. Sie tragen die Warnung vor sich selbst im Gesichte. Ihr Anblick bringt uns zum Bewusstsein, um wie viel schöner, anheimelnder, harmonischer die gewöhnliche Menschenbildung, diejenige der ungeheuren Mehrheit der uns umgebenden Artgenossen ist. Diese Männer sind → Monstra im teratologischen Sinne des Wortes. Sie sind eine Untergattung für sich, eine verhältnismäßig winzige Abart, und von der Hauptgattung durch innere und äußere Merkmale grob, sinnfällig geschieden. Und diese Tatsache, dass die Verbrecher schon als körperliche Erscheinung außerhalb der Menschheit ste-
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hen, bewirkt, dass man den Renner Gerichtssaal nicht als Verächter, sondern als Schätzer der Menschheit verlässt. Quelle: Die Welt, 3.11.1899, H. 44, S. 1–4.
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22 → Heloten und Spartaner Seit der frühesten Zeit, da ich mit der hellenischen Geschichte bekannt wurde, zogen die lakedämonischen Heloten mich seltsam geheimnisvoll an. Wir wissen nicht viel von diesem dunklen, unglücklichen Volke, nichts Sicheres über seine Herkunft, überhaupt nichts von seinem Geistes- und Gefühlsleben. Unsere wenigen spärlichen Nachrichten über die Heloten stammen von ihren Bedrückern und Verächtern, den Spartanern. Sie selbst sind stumm. Bei ihren Lebzeiten durften sie sich nicht in den hohen Formen der historischen Aussprache, im Erz und Stein des Denkmals, im ewig tönenden Vers des Dichters, vernehmbar machen. Als sie dahinschwanden, wurden sie ins namenlose Armengrab der Geschichte eingescharrt. Sie mögen wie jede leidende Kreatur ihre Seufzer und Schreie gehabt haben, Märchen und Sagen, in denen sie die Herren, die Spartaner ihre Diener waren, Sprichwörter und → Fabeln, in denen sie sich an ihren Peinigern für Qualen mit Witzen rächten, todestraurige Lieder, in denen sich ihre Verzweiflung ausweinte. Aber diese Regungen der Volksseele sind nicht zu uns gelangt. Sie wurden vielleicht nur in Kellern und Hinterhäusern, im Zwielicht, wenn kein spartanischer Lauscher in der Nähe war, verstohlen geraunt. Die Heloten sind Angeklagte, denen in ihrer Abwesenheit der Prozess gemacht wird und die sich nicht verteidigen. Das war es vielleicht, was mich für die Heloten einnahm. Ich hätte gewünscht, der Pflichtanwalt dieser unverteidigten Angeklagten zu sein. An eine Ähnlichkeit ihres Schicksals mit dem meines eigenen Stammes dachte ich nicht, wenigstens nicht im hellen Bewusstsein. Meine Knabenzeit, meine Gymnasiastenzeit fällt in die sechziger Jahre. Es gab damals keinen offenen Antisemitismus, es bereitete sich im Gegenteil überall die → Judenemanzipation vor, und es wäre mir niemals eingefallen, mich für einen Heloten, mein Schicksal für ein Helotenverhängnis zu halten. Andere Jungen träumen auf der Schulbank ein Römerdrama. Ich träumte beim ersten Erwachen meines schriftstellerischen Dranges eine → Helotentragödie. Ich lebte mich bis zur Weltvergessenheit in die Helotenverhältnisse ein. Ich hasste die → Mothaken, die hochnäsigen Sprösslinge helotischer Mütter und lakedämonischer Väter, die von der mütterlichen Sippe nichts wissen wollten, ich verachtete die → Neodamoden, die zu Spartanern → assimilierten Heloten, die sich etwas Besseres dünkten als die Stammgenossen, denen sie den Rücken gewandt hatten; ich weinte Tränen ohnmächtiger Wut bei der → Krypteia, der jährlichen Helotenhetze mit etwas Verwüstung, Misshandlung und Mord, die von Staats wegen veranstaltet wurde, damit Spartaner und Heloten stets ihres gegenseitigen Verhältnisses eingedenk blieben; ich schämte mich tödlich über die Schmach der viehischen Betrunkenheit, in die man Heloten versetzte, um die Spartaner an ihrem Beispiele die Völlerei verachten zu lehren. Aber indem ich mich in diese verschiedenen Seelenzustände versenkte, gelangte ich eines Tages zu einer Vorstellung, die so unheimlich war, dass sie mich selbst erschreckte.
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Wer weiß – vielleicht gab es Heloten, die sich mit ihrem Schicksal vollständig abgefunden hatten und ihm Freuden abgewannen; Heloten, die den Wein liebten und ein Gratisräuschchen für einen Gottessegen hielten. Wenn die große pädagogische Vorstellung zugerüstet wurde, bei der Heloten zur unflätigen Bestie entehrt werden sollten, um durch ihre Erniedrigung den jungen Lakedämoniern ihre eigene adelige Hoheit zum Bewusstsein zu bringen, dann drängten sie sich vielleicht dazu, als Lehrmittel gewählt zu werden, dann soffen sie den ihnen gereichten Wein vielleicht mit Behagen und Schmatzen, dann reichten sie vielleicht grinsend den Becher zu neuer Füllung hin, dann war vielleicht ihr letzter Gedanke, ehe die Trunkenheit sie sinnlos machte: „Ihr dummen Spartaner! Bin ich nicht schlauer als ihr? Verachtet mich immerhin, ich trinke inzwischen mein Gratisweinchen und lasse mir's schmecken!“ In dieser Fähigkeit, die eigene äußerste Erniedrigung als persönlichen Vorteil zu empfinden und an der letzten Schmach einen Genuss zu schätzen, sah ich die schauerlichste Steigerung des Trauerspiels der Heloten. Ich habe die Helotentragödie nie geschrieben. Ich wuchs heran, andere Pläne verdrängten diesen frühen Plan, bis er zu einem blassen Knabentraum verdämmerte. Ich nahm an den Geisteskämpfen der Zeit teil, ohne viel an meine Herkunft zu denken, stolz auf meine Menschenwürde, stolz auf die deutsch-nationale Gesittung, von der ich durchtränkt und erfüllt war. Da drang eines Tages das Kriegsgeheul des Antisemitismus auch in meine Arbeitsstube, rohe Schmähungen gegen die Juden gellten mir in die Ohren, ich fuhr auf und stürzte hinaus, bestimmt hoffend, mein gekränktes Volk auf allen seinen Sammelplätzen in Waffen zu finden, bereit und entschlossen zu starken Taten blutig beleidigter Männer. Mir ward aber ein ganz anderer Anblick. Einige vereinzelte Kämpfer wehrten sich mit schöner Verwegenheit. Die Menge jedoch schlich die Wände entlang und duckte sich und hatte zaghaftes Flehen in den Blicken. Mit einem Male stand die ganze Helotentragödie meiner Gymnasiastenzeit in packender Lebendigkeit vor mir. Ich sah die Krypteia, die Judenhetze, an allen Enden Europas; ich sah die Mothaken, das Judenhalbblut, das für → Arierdoppelblut gelten will; ich sah die Neodamoden, die Assimilationsprotzen, die ihre Assimilation bis zum giftigsten, gemeinsten Antisemitismus treiben; und ich sah sogar – o Schmach, die nicht zu ertragen ist! – die jüdischen Heloten, die schlau mit den Augen zwinkern und lächeln, wenn sie zum entehrenden Schausaufen gepeitscht werden. Jawohl, ich habe das Schauspiel von Juden gehabt, die auf ihre Tasche klopfen und sagen: „Die Arier halten sich für etwas Besseres und sprechen uns die Menschenwürde ab. Was liegt uns daran? Wir sind doch die Klügeren, denn wir verdienen Geld unter ihnen.“ Schmach mit Profitchen, eine Erniedrigung, in der man noch immer gründen und → Millionär werden kann, scheint ihnen ein annehmbares Verhältnis, ja sogar ein versteckter Witz des Geschickes! Ich hätte es nicht ertragen, ein Verwandter dieser vermögenbauenden Heloten zu sein. Zum Glück erhob sich da der Zionismus in meinem Gesichtskreis und verdeckte mir ihren Anblick. Der zionistische Gedanke trat mir in stolzen Verkörperungen entgegen, deren stolzeste mein Freund Herzl ist. Auf den Baseler Kongressen
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lernte ich ein anderes Judentum kennen, das mich wieder mit mir und meinem Stamme versöhnte. Seit ich dieses Judentum vor Augen habe, denke ich nie wieder an meine Helotentragödie. Die zionistischen Juden sind keine Heloten. Sie sind Spartaner. „Mit dem Schilde oder auf ihm.“ Das ist heute zionistisch-jüdisch, wie es einst spartanisch war. In den Zionisten ist die stolze Erkenntnis lebendig: Es ist eine hohe Ehre, Jude zu sein, denn es schließt hohe Pflichten in sich, das Maß für den sittlichen Wert eines Mannes aber gibt die Pflicht, die er auf sich zu nehmen bereit ist. → Goethe weiß für den Menschen keine ruhmvollere Grabschrift als: „Denn er ist ein Mensch gewesen, Und das heißt ein Kämpfer sein.“
Wie müsste er erst den modernsten, den zionistischen Juden preisen? Denn Zionist sein heißt doppelt und dreifach ein Kämpfer sein … Quelle: ZS1, S. 374–378, dort mit dem Hinweis: → Kommers Wiener jüdischer Hochschüler 1899.
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23 → Ein Brief an den Herausgeber der → Hatechijah Paris, 12. März 1900. Hochgeehrter Herr → Schur! Herr → Dr. Hirsch lehnt den Zionismus ab, weil ich Zionist bin: Einen anderen, triftigeren Einwand findet er gegen den Zionismus nicht! Darauf gibt es keine andere Antwort als die jedem Juden bekannte Anekdote von dem undelikaten Zyniker, der bei einer Brautschau darauf bestand, dass das Mädchen sich vor ihm völlig entkleide, und dann ruhig erklärte: „Ihre Nase gefällt mir nicht.“ Das mag ein guter Witz sein – ich halte es nicht einmal dafür –, es ist aber jedenfalls eine faule Ausrede. Was gehe ich den Zionismus an? Der Zionismus bestand, ehe ich geboren war. Er wird bestehen, wenn ich längst vergessen sein werde. Ich mag tun und schreiben, was ich will, das berührt den Zionismus so wenig, wie es das Judentum berührt, wenn ein einzelner Jude Verrat an seinem Volk übt oder sich durch Torheit, Inkonsequenz, Heuchelei oder Kaltherzigkeit unangenehm bemerkbar macht. Herr Dr. Hirsch will mit einer Bewegung, in der auch ich stehe, nichts gemein haben, weil meine Gesellschaft ihm nicht würdig genug scheint. Ich kenne Herrn Dr. Hirsch nicht und weiß nicht, ob ich seine Gesellschaft als eine Ehre anzusehen haben würde oder nicht. Ich kann ihm aber versichern, dass es mir in keinem Falle den Zionismus verleiden würde, wenn auch er sich als Zionist bekennen, wenn auch er an dem Heile des jüdischen Volkes mitarbeiten wollte. Herr Dr. Hirsch will mit mir wegen meiner Haltung in Glaubenssachen anbinden. Aber warum hat er den Zionismus zum Vorwand genommen? Ich habe nie behauptet, dass der Zionismus mir eine Glaubenssache ist. Ich habe immer das Gegenteil ausdrücklich gesagt. Ich habe immer erklärt, ich sehe in der zionistischen Bewegung eine national-jüdische Bewegung, der ich mich anschließen darf, weil ich der jüdischen Rasse, dem jüdischen Volke angehöre. Das jüdische Volk schließt frommgläubige Pfleger der Überlieferung und → Freidenker in sich. Sie erkennen einander trotz dieser Verschiedenheit als Brüder an. Sie vermeiden, von dem zu sprechen, was sie trennt, und sie verweilen freudig bei dem, was sie eint. Wenn Herr Dr. Hirsch das Gegenteil tun will, so beweist dies nicht die Stärke seines Glaubens, sondern die Schwäche seines jüdischen Gefühls. Nun zur anderen Frage. Seien Sie wegen der nichtjüdischen Kolonisation des heiligen Landes ganz ruhig. Sie wird immer nur eine Treibhauspflanze bleiben, die aus eigener Kraft nicht dauern kann. Reiche Unterstützung wird vielleicht kleine Gruppen christlicher Auswanderer verlocken, ihr Heim in Palästina aufzuschlagen. Wirkliche Anziehungskraft wird das Land aber nur für Juden haben, und solange
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wir nicht in großer Zahl hingehen, wird es immer wüst und menschenleer bleiben wie → seit 1500 Jahren. Mit zionistischem Gruße bin ich stets Ihr hochachtungsvoll ergebener Dr. M. Nordau. Quelle: ZS1, S. 368–370, Paris, 12. März 1900.
24 Der Zionismus und die Kolonien in Palästina
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24 Der Zionismus und die → Kolonien in Palästina Dutzende von Besuchern, Hunderte von Briefen sagten mir in den letzten drei Monaten mit wachsender Angst: „Die Kolonien in Palästina gehen zugrunde! Was will der Zionismus für sie tun? Wie will der Zionismus ihnen helfen, sie retten? Denn das muss der Zionismus. Wenn er die Kolonien untergehen lässt, oder wenn er auch nur ihrem → Kampf ums Dasein untätig zusieht, so ist er verloren. Das jüdische Volk würde ihm nie verzeihen, dass er den kämpfenden Kolonien nicht wirksam beigestanden hat.“ Die Antwort, die ich nicht jedem einzelnen Besucher oder Korrespondenten geben konnte, will ich hier öffentlich erteilen. Ich protestiere auf das Schroffste und Entschiedenste gegen jeden Versuch, den Zionismus mit den bestehenden Kolonien in Palästina zusammenzuwerfen und sie als etwas Zusammenhängendes, Zusammengehöriges hinzustellen. Dieser Versuch kann nur entweder von offenen und verhüllten Feinden des Zionismus oder von denkunfähigen, verworrenen Gehirnen gemacht werden, denen es unmöglich ist, die Dinge klar und scharf zu sehen, wie sie sind. Der Zionismus trägt in der Angelegenheit der palästinensischen Kolonien keinerlei Verantwortlichkeit. Wenn sie bestehen und gedeihen würden, wäre es nicht sein Verdienst. Wenn sie untergehen würden, wäre es nicht seine Schuld. Der heutige politische Zionismus war noch nicht geboren, als die Kolonien entstanden. Er hat auf ihre Entwicklung keinen Einfluss gehabt. Es ist eine zugleich törichte und ungerechte Forderung, dass er nun gutmachen soll, was andere gesündigt haben. Das ist nicht seine Aufgabe. Dazu hat er zurzeit noch nicht die Kraft. Ich frage mich sogar, ob er ein Recht dazu hätte, wenn er die Kraft hätte. Die Kolonien sind das Werk einiger hundert begeisterter Zionisten der Tat, die vor etwa zwanzig Jahren nach Palästina hinausstürmten, um sofort einen teuren Traum ihres Lebens zu verwirklichen. Sie gingen ohne Vorbereitung, zum Teil ohne Mittel, alle ohne Fachbildung, ohne bestimmten Plan, ins Unbekannte, ins Blaue; nicht wie kühl rechnende, nüchterne Menschen, sondern wie Nachtwandler oder wie Träumer. Ich habe nicht das Herz, diese edlen Schwärmer zu tadeln. Ich habe im Gegenteil Bewunderung für sie, aber eine Bewunderung, in die sich tiefes Mitleid mischt. Weit entfernt, sie als Vorbilder anzusehen, betrachte ich sie als abschreckende Beispiele. Sie haben dem jüdischen Volke nicht gezeigt, wie man es machen soll; sie haben es gelehrt, wie man es nicht machen soll. „Wenn der Zionismus unseren Kolonisten nicht beisteht, wird das jüdische Volk vom Zionismus abfallen.“ Wirklich? Warum? Ist das jüdische Volk zionistisch, um einige hundert Familien in Palästina zu erhalten, oder ist es zionistisch, weil es sich selbst erlösen soll?
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Wenn es nur zionistisch ist, um zwanzig kleine Kolonien in Palästina zu erhalten, dann ist es überhaupt nicht zionistisch. Dann wird es nicht vom Zionismus abfallen, sondern es kennt den Zionismus gar nicht und hat ihn nie verstanden. Denn ein paar Kolonien in Palästina erlösen das jüdische Volk nicht, verbessern sein Los nicht, haben überhaupt nicht den geringsten Einfluss auf sein Schicksal. Wenn das jüdische Volk aber zionistisch ist, um sich selbst zu erlösen, so hat es gar keinen Grund, vom Zionismus abzufallen, weil der Zionismus die Kolonien nicht mit Geld unterstützt. Denn es muss begreifen, dass die Erhaltung der Kolonien nicht die Erlösung des jüdischen Volkes bedeutet. Der Untergang der Kolonien wäre nur in einem Falle für den Zionismus unheilvoll: wenn er beweisen würde, dass in Palästina jüdische Ackerbaukolonien sich unter keinen Umständen erhalten können, dass der Boden des heiligen Landes sich zu wirtschaftlich unabhängiger Kolonisation überhaupt nicht eignet. Das ist aber nicht die Lehre, die aus der Geschichte der Kolonien hervorgeht. Die Kolonien sind dem Untergange nahe: erstens weil die ersten Kolonisten gänzlich unerfahren waren und wie die Kinder an ihre neue Beschäftigung mit dem Ackerbau herangingen; zweitens weil sie ohne Rechte in Palästina einwanderten und ungefähr alles, was sie selbst in günstigen Jahren verdienten, für → Bakschisch und → wucherische Regierungs-Abgaben aufwenden mussten; drittens weil sie zum Teil über ihre Verhältnisse lebten; viertens und hauptsächlich, weil sie in die Hände sogenannter Wohltäter gerieten, die sie eines Tages infolge einer Milliardärslaune plötzlich im Stiche ließen. Zu diesem vierten Punkte möchte ich einige erklärende Worte hinzufügen. Man kann die Landwirtschaft wie ein Kleinbauer oder wie ein Großkapitalist betreiben. Der Kleinbauer lebt aus der Hand in den Mund. Sein Grundstück muss ihm jeden Tag die Nahrung liefern, die er jeden Tag braucht, und jedes Jahr die Ernte, mit der er die Ausgaben des Jahres decken kann. Der Großkapitalist kann jahrelang auf den Ertrag warten, er kann deshalb Kulturen unternehmen, die mehrere Jahre lang keinen Pfennig einbringen, dagegen große Geldbeträge erfordern, und er ist zufrieden, wenn er nach Jahren sein Kapital mit Zinsen wiederbekommt. Unsere Kolonisten fingen ganz richtig und ganz natürlich als Kleinbauern an, denn sie waren arm, ja teilweise gänzlich mittellos. Selbst die Kleinbauerwirtschaft ernährte sie anfangs nicht, weil sie unerfahren waren. So gerieten sie in große Not. Es wäre ihnen geholfen gewesen, wenn Wohltäter sie einige Jahre lang mäßig unterstützt hätten, bis sie gelernt hätten, als Kleinbauern unabhängig, wenn auch ärmlich zu leben. → Der berühmte große Wohltäter hat ihnen anders geholfen. Er veranlasste sie – was sage ich? – er befahl ihnen herrisch, die Kleinkultur aufzugeben und zur großkapitalistischen Kultur überzugehen. Sie sollten nicht mehr Gemüse, Weizen, Gerste bauen und Vieh züchten, sondern Reben, Obst und Ölbäume pflanzen, die vier, sechs, zehn Jahre lang keinen Pfennig Ertrag abwarfen.
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Die Kolonisten gehorchten dem Befehl des großen Wohltäters. Sie pflanzten wohlgemut Reben und Bäume, warteten, dass die Pflanzungen einen Ertrag abwarfen, und nahmen inzwischen aus der Hand des großen Wohltäters den Arbeitslohn, von dem sie lebten. Plötzlich erklärt der große Wohltäter, dass er von ihnen nichts mehr wissen will und dass er kein Geld mehr gibt. Was sollen die Kolonisten tun? Ihre Baumpflanzungen bringen ihnen noch einige Jahre lang nichts ein und sie haben kein Geld, um bis zum Ertrag zu leben. Ihre Weinberge tragen schon jetzt Trauben, aber die Trauben haben als Tafelfrucht (Tischobst) in Palästina keinen Wert und Weine können sie nicht machen, weil die Keltern, Pressen, Keller dem großen Wohltäter gehören, der sie ihnen verschließt, und sie selbst kein Geld haben, um sich die Geräte zu kaufen und eigene Keller zu graben. Aber noch mehr: Das Geld, das sie jahrelang als Arbeitslohn bekommen zu haben glaubten, soll jetzt mit einem Male ein bloßer Vorschuss gewesen sein, ein Darlehen, das sie jetzt zurückzahlen sollen. Sie stehen also nicht nur plötzlich als Bettler inmitten von Pflanzungen, die erst in einigen Jahren etwas abwerfen werden, und inmitten von Weinbergen, aus deren Trauben sie keinen Wein machen können, sie haben auch schwere Schulden, an deren Abzahlung sie gar nicht denken können. Der große Wohltäter, der so an unseren Kolonisten gehandelt, hat eine furchtbare Verantwortlichkeit auf sich genommen. Möge er sie tragen, er allein. Wir, die Zionisten, sind nicht dazu da, sie ihm abzunehmen. Was er an unerfahrenen, blind vertrauenden Juden gesündigt hat, das können wir Zionisten nicht gut machen. Das ist nicht unser Beruf. Wir Zionisten haben immer vor einer solchen Kolonisation gewarnt, wie sie seit zwanzig Jahren geübt wurde. Wir haben immer das genaue Gegenteil von dem gelehrt und verkündet, was bisher in Palästina geschehen ist: keine rechtlose Einschleichung, die die Einwanderer den Erpressungen und der Willkür der türkischen Beamten ohne Schutz ausliefert; keine blinde Geratewohl-Kolonisation mit Leuten, die keine Ahnung von Landwirtschaft haben; keine Erniedrigung unserer Brüder zu willenlosen Sklaven des Großkapitals, das sie mitten in der Periode der ertraglosen Vorbereitung künftiger Erträge gewissenlos im Stiche lässt. Wie kommen wir jetzt dazu, das zu unterstützen und zu erhalten, was wir immer als unvernünftig, als schädlich, als unmöglich verurteilt haben? Mögen die Kolonisten ihre mit Füßen getretenen moralischen Rechte, ihre niederträchtig misshandelte Menschenwürde gegen die großen Wohltäter vor der ganzen Welt, der jüdischen wie der christlichen, geltend machen. Ich meine nicht, dass sie Prozesse führen sollen. Die sind völlig aussichtslos. Ich meine, dass sie ihre Not in alle Winde hinausschreien sollen. Ihr Schrei wird gehört werden. Vielleicht wird das ihnen kein Geld bringen. Aber es wird die Elenden brandmarken, die sich an
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ihnen so schwer vergangen haben. Es wird die Welt darüber aufklären, wie die große Wohltätigkeit der großen Wohltäter in Wirklichkeit aussieht.* Mögen die → „Chowewi Zion“ den Kolonien zu Hilfe kommen. Ein Teil der „Chowewi Zion“ hat uns politische Zionisten grimmig bekämpft oder höhnisch verlacht. Sie behaupteten, sie seien die → praktischen Zionisten, wir seien die Träumer; sie schafften etwas Sichtbares, etwas Nützliches, wir wüssten bloß zu schwatzen. Nun gut. So sollen diese „praktischen“ Zionisten doch jetzt praktisch eingreifen! So sollen sie doch zeigen, dass sie wirklich etwas leisten und nicht bloß schwatzen, nicht bloß uns politische Zionisten bekämpfen, verleumden und verhöhnen können! Auch das jüdische Volk hat eine große moralische Pflicht gegen die Kolonisten zu erfüllen, ich erkläre das laut und nachdrücklich. Die Kolonien sind gänzlich ohne Bedeutung für die Erlösung des jüdischen Volkes, aber die Kolonisten haben einen heiligen Anspruch auf unser Mitleid, unsere Liebe, unsere Achtung. Sie waren Träumer, aber edle, rühmliche Träumer. Sie handelten wie arme, unerfahrene Kinder, aber sie handelten so im dunklen Vertrauen, dass das jüdische Volk sie nicht verlassen würde, wenn sie in dem wilden Abenteuer, in das sie sich blindlings stürzten, zu Schaden kommen sollten. Das jüdische Volk würde sich entehren, wenn es das Vertrauen dieser guten, tapferen Juden jetzt nicht rechtfertigen würde. Wir müssen ihnen helfen. Aber nicht als politische Zionisten, denn mit dem politischen Zionismus hat der Fall nichts zu tun; sondern als Juden, die voll Rührung auf Juden blicken, deren heiße → Zionsliebe die einzige Ursache ihrer heutigen Not ist; sondern als Menschen, die idealistischen, charaktervollen Menschen aus Bruderliebe beispringen. Ich habe für die Kolonien in einer Versammlung der → Pariser Dorsche Zion eine Sammlung eingeleitet, die → 138 Fr. ergeben hat. Das ist nicht viel, ich weiß es; aber die Zahl der Spender war auch nicht groß und es waren unter uns viele sehr arme Leute, kaum zwei oder drei leidlich Wohlhabende und kein einziger reicher Mann. Wenn alle guten Juden der ganzen Welt in demselben Verhältnisse beisteuern wollten, so würden wir ohne Mühe mehrere Millionen Franken aufbringen. Wir hier sind bereit, diese 138 Fr., und vielleicht noch mehr, jährlich aufzubringen. Wenn alle guten Juden dasselbe tun wollen, so würden jährlich mehrere Millionen zusammenkommen. Den Kolonisten wäre reichlich geholfen, es bliebe noch viel für andere jüdische Zwecke übrig und das jüdische Volk hätte gezeigt, dass es Ehrgefühl, Würde und gesunden Menschenverstand hat. „Der Zionismus soll helfen! Wenn er nicht hilft, so fallen wir von ihm ab!“ Euch allen, die ihr diese törichten und ruchlosen Worte auszusprechen die Dreistigkeit habt, sage ich dieses: * Die Gerechtigkeit erfordert, festzustellen, dass der große Wohltäter die Kolonien nach einem Augenblick übler Laune tatsächlich nicht im Stiche gelassen hat. Er erließ ihnen einen Teil ihrer Schulden, schenkte ihnen die Keller und Keltereien, die Millionen gekostet hatten, und vertraute sie → der ICA zur Weiterverwaltung an, der er gleichzeitig eine große Anzahl Millionen für sie zur Verfügung stellte. So machte er glänzend gut, was seine Vertreter verschuldet hatten.
24 Der Zionismus und die Kolonien in Palästina
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Der Zionismus hat keine anderen Mittel als die, welche das jüdische Volk ihm zur Verfügung stellt. Er hat keinen einzigen Pfennig, den ihr ihm nicht gebt. Welche Mittel habt ihr dem Zionismus zur Verfügung gestellt? Welche Opfer habt ihr bisher für ihn gebracht? Wir sind eine Anzahl verlorener Posten, die ohne zu zählen unsere Kraft, unsere Gesundheit, unsere Zeit, unser bescheidenes Vermögen für die heilige Sache der Erlösung unseres Volkes hingeben. Aber ihr, die Gesamtheit des Volkes, welche Anstrengung habt ihr denn bisher gemacht? Ihr gebt bestenfalls jährlich einen → Schekel, und von diesem einen Franken kommt noch nicht die Hälfte in die Hände des → Aktionskomitees, das daraus alle Verwaltungs-, Propaganda- und Kongresskosten zu decken hat. Wenn nicht so viele Juden gratis arbeiten würden, würde euer halber Frank nicht entfernt zur Deckung der knappsten, unentbehrlichsten Ausgaben hinreichen. Woher soll der Zionismus nun das Geld nehmen, um Hunderttausende oder Millionen für die Kolonisten aufzuwenden? Man hat von euch 50 Millionen Franken für eine jüdische Bank verlangt, die das Instrument der Verhandlungen mit der türkischen Regierung werden soll. Seit zwei Jahren wird an alle Türen geklopft, wird zu allen jüdischen Gewissen gesprochen. Ihr wisst, dass wir ein kleines Häuflein sind, das, weit über seine Mittel, 50 bis 2000 Aktien gezeichnet und sofort bar ausgezahlt hat. Aber ihr? Was habt ihr getan, um die Bank auf die Beine zu bringen? Nach zwei Jahren sind noch keine 6¼ Millionen bar eingezahlt und die Bank kann ihre Tätigkeit noch nicht beginnen. Und ihr wagt es, dem Zionismus vorzuwerfen, dass er den Kolonien nicht hilft? Der Zionismus ist kein Zauberer. Und der Zionismus ist auch keine Goldgrube. Der Zionismus seid ihr. Er hat, was ihr ihm gebt, er tut, was ihr zu tun imstande und gewillt seid. Bringt der Bank das Geld, das ihr noch fehlt, und sie wird ihre Tätigkeit beginnen und den Kongressauftrag vollziehen, mit der türkischen Regierung die Unterhandlungen wegen Erschließung Palästinas für die rechtlich geregelte jüdische Einwanderung zu beginnen. Haben diese Unterhandlungen Erfolg, so wird auch den Kolonisten und den Arbeitern ohne Almosen geholfen werden können. Liegt euch das Schicksal unserer Brüder in Palästina wirklich am Herzen, so kauft Bankaktien in genügender Zahl. Dann helft ihr ihnen sicherer und dauernder als durch ein, selbst mehrere Jahre hindurch wiederholtes, Geldgeschenk. Scheint euch aber dieser Weg zu lang, wollt ihr den Kolonisten sofort und durch milde Gaben helfen, so braucht ihr den Zionismus nicht dazu. Greift in die Tasche, gebt, so viel ihr geben könnt, und schickt das Geld nach Palästina. Der Zionismus wird euch gern seine Organisation zur Verfügung stellen, um eure kleinen Spenden zu sammeln, nach Palästina zu schicken und dort zu verteilen. Wollt ihr aber nicht in die eigene Tasche greifen, so seid ihr → bloße Maulmacher und nichts anderes. Denn ich wiederhole: Ihr wisst sehr gut, dass der Zionismus nur das Geld hat, das ihr ihm gebt, und ihr könnt nicht ernstlich glauben, dass euer Schekel hinreicht, um die zionistische Organisation zu erhalten und zugleich den Kolonisten einige hunderttausend Franken jährlich zu schenken.
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Entweder wollt ihr die Kolonien erhalten, so gebt das nötige Geld dazu her; oder ihr wollt das nötige Geld dazu nicht hergeben, dann ist es nicht wahr, dass ihr die Kolonien erhalten wollt. Das ist die Wahrheit, und ich habe als Jude und Zionist die Pflicht, sie meinem Volke brutal ins Gesicht zu sagen. Wer aber sagt, dass er vom Zionismus abfallen wird, wenn der Zionismus nicht tut, was nicht seines Amtes ist und wozu er keine Mittel hat, der hat nie begriffen, was der Zionismus ist und will, und der ist vielleicht ein → platonischer Liebhaber von Zion, aber nie ein wirklicher Zionist gewesen. Quelle: ZS1, S. 272–28, dort mit dem Hinweis: Rede, gehalten in Paris, März 1900.
25 Rede, gehalten im Haag, 10. April 1900
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25 Rede, gehalten → im Haag, 10. April 1900 Meine Damen, meine Herren! Halten Sie es dem Selbstgefühl eines Schriftstellers zu Gute, wenn er mit einem Geständnis beginnt. Vielleicht das schmerzlichste Opfer, das ich bringen muss, seit ich in die zionistische Bewegung eingetreten bin, ist die Notwendigkeit, mich fortwährend zu wiederholen, wenn ich mit Wort und Schrift für die große Sache der Erlösung des jüdischen Volkes aus Schmach und Elend zu wirken suche. Aber wie soll ich das vermeiden? Der Irrtum ist vielfältig, die Wahrheit einfach. Der Irrtum lässt Variationen und Spiele der Phantasie zu, die Wahrheit verlangt schlicht und immer sich selbst gleich dargestellt zu werden. Sie hier in Holland sind große Kenner der französischen Literatur. Sie erinnern sich also wohl alle des Ausspruchs → jener Figur aus Molière: → „Je dis toujours la même chose, parce que c'est toujours la même chose. Si ce n'était pas toujours la même chose, je ne dirais pas toujours la même chose.“ Wenn ich vom Zionismus sprechen soll, so kann ich es immer nur auf eine Weise tun, so demütigend es auch für mich sein mag, auf überraschende Neuheit, gefällige Originalität, unterhaltliche Mannigfaltigkeit zu verzichten. Ich kann immer nur sagen, was der Zionismus ist, was er will, weshalb er eine Notwendigkeit ist und mit welchen Gründen er sich gegen seine Angreifer verteidigt. Was ist der Zionismus? Der Zionismus ist eine zugleich politische, geschichtliche, wirtschaftliche und sittliche Bewegung, die die tiefen Massen des jüdischen Volkes erfasst hat, unter ihnen immer größere Ausbreitung gewinnt und sehr bald nicht bloß theoretisch, sondern auch statistisch meinen Ausspruch rechtfertigen wird, dass Zionismus und Judentum identische Begriffe sind. Der Zionismus organisiert sich mit wunderbarer Schnelligkeit. Noch vor drei Jahren war er ein bloßer Traum einiger jüdischer Idealisten. → Im August 1897 konnte ein erster zionistischer Weltkongress in Basel stattfinden, an dem 204 Vertreter der Judenschaft nicht aller, doch der meisten Länder teilnahmen. Dieser Kongress hat sich → im August 1898 und 1899 wiederholt. Die Zahl der Teilnehmer wuchs von Jahr zu Jahr und die Wahlvorschriften wurden immer ernster und strenger, so dass auf dem dritten Kongress die Teilnehmer wirklich ein unanfechtbares Recht hatten, im Namen der in Hundertschaften gegliederten jüdischen Wähler zu sprechen und zu stimmen. Mehrere hundert zionistische Vereine, die zum Teil bis tausend Mitglieder zählen, bestehen in der alten und neuen Welt. Fortwährend werden neue Vereine gebildet, die sich die → Pflege der hebräischen Sprache, die Erweckung und Stärkung der jüdischen Gesinnung und das Studium der jüdischen Geschichte zur Aufgabe machen. Jedes Mitglied leistet eine freiwillige jährliche Abgabe, → Schekel genannt, die in jedem Lande ungefähr die örtliche Münzeinheit beträgt, also in Deutschland eine → Mark, in Frankreich einen → Franken usw. Diese freiwillige Abgabe dient zur Bestreitung der Kosten der zionistischen Bewegung. Geleitet wird sie von einem → Aktionskomitee, das vom Baseler
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Kongress gewählt wurde und worin alle Länder im Verhältnis der Zahl ihrer Zionisten vertreten sind. Der Sitz des Aktionskomitees ist Wien. An seiner Spitze steht mein lieber Freund Dr. Theodor Herzl, der mit seinem Buche → „Der Judenstaat“, das 1896 erschien, den Anstoß zur Bewegung in ihrer gegenwärtigen Form gegeben hat. Das publizistische Hauptorgan des Zionismus ist die → Wochenschrift „Die Welt“, die in Wien erscheint. Außerdem dienen aber der Bewegung vorbehaltlos etwa dreißig andere Blätter in deutscher, hebräischer, französischer, englischer, rumänischer, russischer und griechischer Sprache und im → jüdisch-polnischen und jüdisch-spanischen Jargon. Eine immer mehr anschwellende Literatur in denselben Sprachen erörtert den Gegenstand teils → apologetisch, teils polemisch, doch immer leidenschaftlich, und sie lässt erkennen, wie sehr der Zionismus die große, die eine Angelegenheit der jüdischen Menge geworden ist. Was will der Zionismus? Auf diese Frage antwortet das → Programm, das auf dem ersten Baseler Zionistenkongresse einstimmig angenommen wurde und dessen erster Absatz lautet: „Der Zionismus erstrebt für diejenigen Juden, die sich in ihrem Geburtslande nicht → assimilieren können oder nicht assimilieren wollen, eine → öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte in Palästina.“ An diese Definition müssen Sie sich halten, wenn Sie sich über die Bewegung ein richtiges Urteil bilden wollen, nicht an die Phantastereien, die unwissende oder unehrliche Gegner uns ganz geläufig zuzuschreiben pflegen. Wir sind keine Träumer und wir sind nicht verrückt. Wir erwarten und verlangen nicht, dass alle Juden beider Welten sich die Lenden gürten, den → Osterstab in die Hand nehmen und morgen früh mit uns hinter der → Davidsfahne her nach Jerusalem ziehen, vielleicht gar, um es mit stürmender Hand zu erobern und das → Königreich oder die Republik Judäa aufzurichten. Das sind Erfindungen unserer Feinde, nicht unsere Gedanken. Der Zionismus wendet sich nicht an diejenigen Juden, die sich in ihren heutigen Verhältnissen wohlfühlen und keine Änderung wünschen. Diese Juden sollen und werden bleiben, wo sie sind und was sie sind, und wir wünschen ihnen von ganzem Herzen, dass es ihnen immer gut gehe. Zum Auszug rüstet der Zionismus nur diejenigen Juden, die in ihrer heutigen Volksumgebung nicht aufgehen können oder nicht aufgehen wollen und die darunter leiden, zum Teil furchtbar hart darunter leiden, dass sie von ihren Landgenossen an Glauben, Abstammung, Sitten, Bräuchen und Aussehen verschieden sind. Diese Juden allein sollen die Länder verlassen, die für sie ein Geburtsland, doch keine Heimat, beinahe ein Gefängnis oder Strafaufenthalt sind, und sie sollen im alten Land ihrer Väter eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte finden, wo sie keine Verfolgung mehr kennen, wo sie sich frei entwickeln dürfen, wo sie sich und der Welt zeigen können, welche Stufe der Gesittung und Bildung, welchen Wohlstand, ja welche körperliche Regeneration sie zu erreichen vermögen, wenn kein Druck sie niederhält und kein Hass, keine Verachtung sie verschüchtert und verbittert.
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Ich habe eben die Worte „öffentlich-rechtlich“ besonders betont. Das ist nicht ohne Absicht geschehen. Unsere Forderung, dass die Heimstätte, die wir dem jüdischen Volk in Palästina bereiten wollen, öffentlich-rechtlich gesichert sei, unterscheidet uns nämlich von den → sogenannten praktischen Zionisten, die unter verschiedenen Benennungen als → Esra-Verein, als → Chowewi-Zion-Gesellschaften, als → Bne-Brith-Logen seit Jahren an der Gründung → jüdischer Kolonien in Palästina arbeiten. Die praktischen Zionisten wollen einfach Wohltätigkeit üben. Sie nehmen eine Anzahl armer Juden, und statt ihnen ein Bar-Almosen in die Hand zu drücken, senden sie sie nach Palästina, siedeln sie dort als Landwirte oder Winzer an und unterstützen sie weiter, bis sie sich durch ihre Arbeit selbst erhalten können, was in den meisten Fällen noch nach vielen Jahren nicht erreicht wird. Wir verkennen die Verdienste der praktischen Zionisten nicht. Sie haben, freilich mit unverhältnismäßigen Opfern, immerhin die Lage einiger tausend erbarmungswürdiger Juden verbessert. Sie haben auf dem Boden Palästinas eine Saat ausgestreut, die vielleicht in die Halme schießen wird. Sie waren von einem nicht immer klar bewussten jüdischen Ideal geleitet. Sie wollten, dass wenigstens einige Juden wieder den Boden der alten Heimat des Judenvolkes pflügen, dass wenigstens an einigen Beispielen der geschichtliche Zusammenhang zwischen dem jüdischen Volk und dem heiligen Lande lebendig bewiesen werde. Darum gründen sie die Wohltätigkeitskolonien gerade in Palästina und nicht anderwärts, obschon die Kleinkolonisation dort viel kostspieliger ist und mit viel ungünstigeren Verhältnissen zu kämpfen hat als etwa in Amerika und Australien. Wir, → die politischen Zionisten, erfassen unsere Aufgabe anders. Wir wollen keine Kleinkolonisation, sondern eine große Einwanderung. Wir wollen keine kümmerlichen Ansiedelungen von Almosenempfängern, sondern dauernde Befreiung aller verfolgten Juden durch Selbsthilfe. Dieses Ziel ist mit den Methoden der praktischen Zionisten nicht zu erreichen. Es hilft uns nichts, durch reichliche Verteilung von → Bakschisch einen immer recht zweifelhaften Rechtstitel an einigen Hektaren Landes zu erlangen und einige Ansiedler dem Verbote der türkischen Behörden zum Trotz einzuschmuggeln, um sie dann → türkischer Paschawillkür zu überlassen. Wir wollen, dass die Türken uns das gegenwärtig wüst und herrenlos daliegende Land oder das Land, das der Krone gehört, jedoch zurzeit keinen Wert hat, weil es nicht kultiviert wird, unter ähnlichen Bedingungen überlasse, wie man in Amerika Staatsländereien den Kolonisten überlässt: gegen eine jährliche Abgabe, die zugleich den natürlich entsprechend mäßigen Kaufpreis allmählich tilgt. Und wir wollen, dass die Hunderttausende, hoffentlich sogar Millionen Juden, die von den verfügbaren Teilen des Landes Besitz ergreifen und den heute toten Boden im Schweiß ihres Angesichts, mit liebevoller Arbeit wieder beleben, wir wollen, dass diese Juden keiner Willkür türkischer Behörden ausgeliefert seien, dass ihnen die Selbstständigkeit der inneren Verwaltung → von der hohen Pforte zugestanden und von den Großmächten gewährleistet werde, und ehe wir diese Zugeständnisse der Türkei, diese Bürgschaft der Mächte nicht erlangt haben, begünstigen wir die Einschlei-
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chung kleiner Gruppen jüdischer Zionisten in Palästina nicht nur nicht, sondern warnen ausdrücklich davor und beschwören die praktischen Zionisten, auf ihren Kolonien nicht fremde, sondern nur palästinensische Juden anzusiedeln. Hier liegt ein erster Einwand der nüchternen Praktiker auf der Hand, gleichsam die Vorfrage, die man dem Zionismus schon an der Schwelle entgegensetzt: „Warum soll denn die Türkei den Juden Land und Selbstverwaltung geben? Sie sagten ja eben selbst, dass die Türkei den Juden die Ansiedlung in Palästina, ja sogar das Betreten des Landes verboten hat? Und welches Interesse haben die Großmächte, den Juden den Selbstverwaltungsvertrag, den Sie mit der Türkei abschließen wollen, zu gewährleisten?“ Darauf will ich kurz, doch hoffentlich ausreichend antworten. Die Türkei hat an der Einwanderung der Juden ein finanzielles Interesse, wofür sie das größte Verständnis an den Tag legt. Das heilige Land liegt heute zu vier Fünfteln wüst und zählt nur 600 000 Bewohner, von denen reichlich 450 000 bettelarme, meist → nomadische Beduinen sind. Es bringt der Pforte so gut wie nichts ein. Wenn wir zuerst einige Hunderttausende und in rascher Folge einige Millionen Juden in Palästina ansiedeln, die dort einen blühenden Acker-, Wein- und Gartenbau, Groß- und Kleinindustrien und einen entsprechenden lokalen und Durchgangshandel schaffen, so sind wir in der Lage, der türkischen Regierung eine jährliche Abgabe zu garantieren, die in demselben Verhältnis steigen soll wie die Zahl der jüdischen Einwohner Palästinas. Wenn die Türkei es vorzieht, unsere Abgabe sofort zu kapitalisieren, so können wir eine Anleihe aufnehmen, deren Verzinsung und Tilgung durch unsere Abgabe garantiert wäre. Ich glaube, es würde uns nicht schwer werden, eine derartige Anleihe zu sehr gutem Kurse zu platzieren, denn die Welt hat zu jüdischem Fleiß und jüdischer Erwerbsfähigkeit Vertrauen und würde das nach Palästina zurückgekehrte, mit sicherem Recht auf dem Boden der Väter wieder angesiedelte Judenvolk für sehr kreditwürdig halten. Das → Verbot der jüdischen Einwanderung ist nicht, wie von unehrlichen oder ungenügend unterrichteten Gegnern verbreitet wird, gegen den Zionismus erlassen worden; es ist nicht die Antwort der Türkei auf das Programm des ersten zionistischen Kongresses in Basel. Das Verbot erfolgte schon 1891, volle sechs Jahre vor diesem Kongresse, fünf Jahre vor dem Erscheinen des „Judenstaats“ von Dr. Herzl, zu einer Zeit, als vom Zionismus noch nirgendwo die Rede war. Es richtete seine Spitze eigentümlicherweise auch gar nicht gegen die Juden, sondern gegen Russland. Das Zarenreich, das bei sich zu Hause die Juden nicht eben verwöhnt, zeigte nämlich in Palästina für seine jüdischen Untertanen eine wahrhaft rührende väterliche Fürsorge. Bei der geringsten Beschwerde eines jüdischen Jerusalemspilgers aus Russland setzte dieser Staat seinen großen diplomatischen Apparat vom Generalkonsul bis zum Botschafter in Bewegung und machte den türkischen Behörden die Hölle heiß. Das wurde der Pforte unheimlich. Sie sah in der russisch-jüdischen Einwanderung einen ewigen Anlass zu russischer Einmischung in die türkischen Angelegenheiten und entschloss sich kurz, die ganze jüdisch-russische Einwanderung zu verbieten
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und der russischen Einmischung wenigstens diese Pforte zu verbauen. Um aber nicht Russland geradezu vor den Kopf zu stoßen, verallgemeinerte die Pforte die Maßregel und erließ ein Einwanderungsverbot, das die Juden aller Länder traf. Das ist die wirkliche Geschichte dieses Verbotes, wofür man gern den Zionismus verantwortlich macht. Dieselben Gegner, die die Geschichte des Einwanderungsverbotes fälschen, verbreiten auch, die türkische Regierung habe ausdrücklich erklärt, sie werde Palästina nie und nimmer den Juden überlassen. Auch das ist ein frei erfundenes Märchen. Die türkische Regierung hat niemals eine derartige Erklärung abgegeben. Sie hat zur Frage der jüdischen Besiedelung Palästinas und der Gewährung des Selbstverwaltungsrechtes an die jüdischen Ansiedler überhaupt noch nicht amtlich Stellung genommen. Sie begnügt sich damit, die zionistische Bewegung mit großer Aufmerksamkeit zu verfolgen und sich unter der Hand Elemente zu verschaffen, die ihr gestatten, sich ein sicheres Urteil über die Loyalität unserer Gesinnungen und über die Aufrichtigkeit unserer Beteuerung zu bilden, dass wir ohne alle Hintergedanken an der Verwirklichung des zionistischen Programms arbeiten, dass wir nicht daran denken, Palästina von der Türkei loszureißen und für einen unabhängigen Staat zu erklären. Damit ist es uns nämlich heiliger Ernst. Wir wollen die → Suzeränität des → Sultans ehrlich respektieren und das zuverlässigste Element der Ordnung, der Gesittung, des wirtschaftlichen Gedeihens im türkischen Staatswesen werden. Um die wirkliche Gesinnung der türkischen Regierung gegen die Juden zu beurteilen, halten Sie sich diese eine Tatsache aus den allerjüngsten Tagen vor Augen: Sie hat die Masseneinwanderung der Juden aus Bulgarien und → Rumelien in derselben Weise gestattet wie die ihrer ehemaligen mohammedanischen Untertanen, die die selbstständig gewordenen Fürstentümer verlassen wollen, um wieder unter dem Zepter des Sultans zu leben; sie behandelt die jüdischen Einwanderer aus den Balkanländern genauso wie die mohammedanischen: Sie weist ihnen unentgeltlich Land zur Ansiedelung an und gewährt ihnen sogar Obdach und Nahrung bis zu ihrer Einrichtung auf dem ihnen geschenkten Besitze. Sie sehen, es ist noch immer dieselbe Türkei, die den aus Spanien verjagten Juden → unter den Sultanen Bajazid II., Selim und Soliman sich so gastlich öffnete. So viel über die Stellung der Türkei zum Zionismus. Weshalb aber sollen die europäischen Großmächte die jüdische Selbstverwaltung in Palästina garantieren? Weshalb? Weil wir ohne ihre Garantie die Masseneinwanderung nicht begünstigen wollen und weil sie ein großes und unmittelbares Interesse daran haben, dass ihre ärmsten, unglücklichsten und missvergnügtesten Juden in möglichst großer Zahl aus ihrem Lande abströmen. In erster Reihe kommt hier Russland in Betracht. Sechs Millionen Juden – Sie hören wohl: sechs Millionen! Erheblich mehr als die ganze Bevölkerung Ihrer reichen und edlen Niederlande! – leben da in einige → Gouvernements eingepfercht und vermehren sich trotz namenlosen Elends in erstaunlicher, in unheimlicher Weise. Die russischen Behörden stehen vor einer Frage von äußerster Schwierigkeit und die ihnen die schwersten Sorgen bereitet. Den Ju-
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den einfach das ganze russische Reich zu öffnen, ihnen Freizügigkeit zu gewähren wollen oder können sie sich nicht entschließen. Die Juden müssen innerhalb des ihnen eingeräumten viel zu engen Bezirkes bleiben. Hier fehlt es ihnen an jeder Arbeits- und Erwerbsgelegenheit. Mehrere Millionen Menschen, wenn es auch Juden sind, einfach Hungers sterben zu lassen, das geht doch nicht an. Das kann eine christliche Regierung im 20. Jahrhundert vor sich und vor der Welt nicht verantworten. Überdies lassen sich sechs Millionen Menschen nicht widerstandslos vernichten. Wenn ihr Elend unerträglich wird, so entstehen unter ihnen moralische und physische Gärungen, die sich dann nicht auf sie allein beschränken, sondern auch auf ihre christlichen Nachbarn übergreifen und in großen Teilen des Reiches Zustände schaffen, die einer voraussichtigen Regierung wohl Angst einflößen können. Von diesem Alpdruck kann der Zionismus die russische Regierung befreien, indem er ihr die Juden abnimmt, mit denen sie nichts anzufangen weiß und die für sie heute eine Verlegenheit sind und morgen eine Gefahr werden können. Es ist wohl von der Weisheit und Billigkeit Russlands nicht zu viel vorausgesetzt, wenn wir hoffen, es werde uns für den Dienst, den wir ihm leisten wollen, den Gegendienst der Garantie jüdischer Selbstverwaltung in Palästina nicht verweigern. In Österreich liegen die Verhältnisse ähnlich, wenn auch vielleicht nicht ganz so schlimm. Die nahe an 800 000 Juden → Galiziens werden von ihren christlichen Landsleuten, den Polen und → Ruthenen, systematisch aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet und stehen vor dem leiblichen, sittlichen und geistigen Untergange. Der größte Teil von ihnen will auswandern, denn er sieht nur in der Auswanderung das Heil. Auch die österreichische Regierung hat alle Ursache, die Auswanderung mindestens der galizischen Juden, und wahrscheinlich nicht dieser allein, zu fördern, indem sie ihre Unterschrift unter einen Garantievertrag setzt. Deutschland, England, die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben nicht denselben Grund, die Auswanderung ihrer Juden zu begünstigen, denn sie verlangen nicht, sich ihrer zu entledigen. Wohl aber haben sie ein Interesse daran, die jüdische Einwanderung aus Russland, Galizien und → Rumänien von ihren Grenzen fernzuhalten, was sie in der menschlichsten Form tun, indem sie die jüdische Besiedelung Palästinas durch Erfüllung der Vorbedingung erleichtern. Dazu tritt bei einigen Großmächten ein ideales persönliches Interesse der entscheidenden Persönlichkeiten an einem Gedanken, den sie als schön und edel erkennen. Ich muss mich auf diese kurzen Andeutungen beschränken. Sie genügen hoffentlich, um Ihnen zu zeigen, dass es keine → Chimäre ist, wenn wir mit dem Entgegenkommen der Türkei und mit der Garantie der Großmächte als mit Dingen rechnen, die durchaus im Bereiche der Möglichkeit liegen. Nun zur Frage: Ist der Zionismus eine Notwendigkeit, und weshalb? Wir sind tief überzeugt, dass der Zionismus eine unabweisbare Notwendigkeit ist. Hätten wir diese Überzeugung nicht, so wären wir ja die größten Toren, die unter Gottes Himmel frei umherlaufen. Denn wir opfern unsere Zeit, unsere Kraft, unser Vermögen, unseren Ruf einem Unternehmen, dessen übermenschliche Schwie-
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rigkeit wir ebenso gut erkennen wie nur irgendeiner unserer behaglichen Kritiker. Wir wissen, was es heißt, ein Volk, dessen Söhne seit Jahrhunderten fast jeden Zusammenhang, ja das Zusammengehörigkeitsgefühl, vielfach auch alles Volksbewusstsein verloren haben, wieder zu einem lebendigen → ethnischen Organismus zusammenzufassen. Wir wissen, was es heißt, eine Proletariermasse, die fast seit Jahrtausenden dem Boden entfremdet ist, wieder dem Landbau zuzuführen. Wenn wir es trotzdem wagen, den Kampf auf Leben und Tod mit diesen ungeheuren Schwierigkeiten aufzunehmen und ein Werk zu versuchen, wofür es in der ganzen Weltgeschichte kein Beispiel gibt, so ist es, weil die Not des jüdischen Volkes heroische Anstrengungen unabwendbar macht und kein anderes Mittel sie heilen kann als der Zionismus. In welcher Lage die sechs Millionen Juden Russlands, die 775 000 Juden Galiziens sind, das habe ich Ihnen vorhin kurz gezeigt. In Rumänien sterben 250 000 Juden buchstäblich Hungers. Auf dem Lande zu leben verbietet man ihnen. In der Stadt gibt es für sie keinen Erwerb. Ihrer Jugend verschließt man die öffentlichen Schulen und neuestens verhindert man sie mit den schlauesten Tücken, aus eigenen Mitteln Privatschulen zu unterhalten. Die rumänische Regierung hat es systematisch darauf angelegt, die Viertelmillion Juden ihres Landes zu vernichten oder auf die Kulturstufe → nomadischer wilder Zigeuner hinunterzudrücken. Das ist die Verfassung von sieben Millionen Juden. Was soll mit diesen Unglücklichen geschehen? Sollen wir sie Hungers sterben lassen? Ich möchte den sehen, der diese Frage zu bejahen wagt! Ihre einzige Rettung ist die Auswanderung. Aber wohin sollen sie wandern? Welches gesittete Land nimmt denn sieben Millionen völlig mittelloser Fremder auf? Schon jetzt, wo doch nur Tausende der energischsten, wagemutigsten Juden in die Länder des Westens eindringen, schleppen sie überall den Antisemitismus mit sich. Wo sie sich in dichteren Massen niederlassen, da flammt der Judenhass rings um sie auf, auch wenn er dort früher unbekannt war. Lassen Sie ihre Zahl noch größer werden, und sie werden alsbald im neuen Lande dieselben Verfolgungen zu erleiden haben, vor denen sie sich aus dem alten Lande geflüchtet haben. Es wird aber gar nicht dazu kommen, denn man verschließt den zuwandernden Juden einfach die Grenzen. Deutschland hat es praktisch schon getan. Größeren Gruppen russischer Juden gestattet man nur in → plombierten Eisenbahnzügen die Durchfahrt durch das Reich von der Ostgrenze bis zu einem Einschiffungshafen. In England beabsichtigt die Regierung, durch ein Gesetz, die → bekannte Fremden-Bill, armen Ausländern, d. h. östlichen Juden, die Landung zu untersagen. In Nordamerika wird von einer einflussreichen Partei eine ähnliche Maßregel geplant. Ebenso in Österreich und selbst in dem Ungarn, das fälschlich für judenfreundlich gilt. Und bemerken Sie, dass es vielfach die einheimischen Juden sind, die mit → zynischer Offenheit oder feig versteckt darauf hinarbeiten, dass den fremden Juden die Einwanderung verboten werde. Edel ist diese Handlungsweise gewiss nicht, aber ich kann sie den Juden des Westens wirklich nicht allzu sehr verargen, denn sie kämpfen um ihr Dasein und das geschieht immer rücksichtslos, ja grausam. Sie wissen sehr
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wohl, dass die Anwesenheit ausländischer armer Juden in großer Zahl den überall unter der Asche glimmenden Antisemitismus zu mächtiger → Lohe entfacht und dass der Brand dann auch sie verzehrt. Um die Gefahr abzuwehren, sind sie beinahe gezwungen, die ausländischen Juden von ihren Grenzen fernzuhalten. Die strengste Logik zwingt Sie zu dem Schlusse, dass das einzige Land der Welt, welches Millionen Juden aufnehmen kann, Palästina ist, vorausgesetzt, dass der Sultan ihnen unter der Garantie der Großmächte die Selbstverwaltung gewährt, was zu erlangen eben die Aufgabe des Zionismus ist. Glied an Glied fügt sich die Kette eiserner → Deduktionen. In ihrem Geburtslande gehen sieben Millionen östlicher Juden zugrunde. Um sich zu retten, müssen sie auswandern. Sie können aber nirgendwohin wandern, denn entweder werden sie nicht eingelassen, oder wenn sie sich einschleichen können, so erwecken sie rings um sich Antisemitismus und sind aus dem Regen in die Traufe gelangt. Das einzige → Asyl, an das man für sie denken kann, ist Palästina, auf das die Juden ein unverjährbares geschichtliches Recht haben und an dem noch heute das Herz von Millionen Juden hängt. Aber dieses Asyl muss den Juden erst erworben und öffentlich-rechtlich gesichert werden, und dazu ist eine Organisation, eine Leitung, eine zielbewusste Volkspolitik, mit einem Worte: Dazu ist der Zionismus notwendig. Ich kenne den Einwand, den kalte Herzen unserer Beweisführung entgegenzusetzen pflegen. Sie sagen: „Ihre Schlüsse sind unanfechtbar, aber Ihr Vordersatz ist schwach. Solange der Antisemitismus so heftig ist wie gerade jetzt, stimmt in der Tat alles: Die Juden des Ostens können nicht in ihrer Heimat bleiben, weil sie dort zugrunde gehen, und sie können nicht auswandern, weil sie nirgendwo zugelassen werden. Sie müssen nach Palästina zurückkehren, aber sie dürfen es nicht tun, solange sie keine verbrieften Rechte erlangt haben. Ganz richtig. Aber der Antisemitismus ist eine hässliche Tagesmode und wird bald vorübergehen. Gibt es aber keinen Antisemitismus, so fällt der ganze Bau Ihrer logischen Folgerungen zusammen.“ Wir können diese Hoffnungsseligkeit nicht teilen. Wir glauben nicht, dass der Antisemitismus in absehbarer Zeit verschwinden wird. Er ist zu tief in der Menschenseele gegründet. Er hängt zu innig mit einigen der ursprünglichsten Eigentümlichkeiten des menschlichen Denkens und Fühlens zusammen. Wir alle empfinden feindlich, was in Wesen und Gewohnheiten von uns verschieden ist. Zu diesem allgemein menschlichen Grunde der Abneigung jeder Mehrheit gegen jede in ihrer Mitte lebende Minderheit, die leicht kenntlich und durch keine Adelsprivilegien, durch kein Prestige zum Gegenstande der Achtung, Bewunderung oder Furcht gemacht ist, tritt in unserem Falle noch ein → Überlebsel von altem Glaubenshass gegen die → Gottesmörder und ein → Nachhall abergläubischer Fabeln des Mittelalters von allerlei jüdischen Untaten hinzu. Die Abneigung gegen die abweichende Minderheit bezeichnet diese mit psychologischer Gesetzmäßigkeit als die Prügelknaben und Sündenböcke für alle Fehler und Missgeschicke der Mehrheit. Über irgendetwas wird diese Mehrheit immer zu klagen haben und sie wird für alles, was sie drückt, immer die Minderheit verantwortlich machen. So schließt der fehlerhafte Kreis sich
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immer wieder von Neuem. Der vorbestehende Hass klagt die Minderheit an, an allen Missständen schuld zu sein, und diese angebliche Schuld nährt den Hass gegen die Minderheit. Diesmal, erwidert man uns, ist der Vordersatz richtig, aber die Folgerung ist falsch. Die Mehrheit hat immer gegen die leicht kenntliche Minderheit Abneigung. Nun gut. So soll die Minderheit die Besonderheiten aufgeben, die sie leicht kenntlich machen, sie soll in allen Stücken werden wie die Mehrheit, kurz, sie soll sich assimilieren. Ah! Die Assimilation! Sprechen wir davon! Welcher Jude der letzten drei Geschlechtsalter, der dem → Ghetto entronnen war und aus den Quellen europäischer Kultur getrunken hatte, ist denn nicht für die Assimilation begeistert gewesen? War sie denn nicht lange Zeit der Traum der meisten von uns? Sind denn unsere Väter nicht freudetrunken aus ihrer vielhundertjährigen Abgeschiedenheit in die weite, freie Welt hinausgestürmt, die ihre gesetzliche Gleichstellung vor ihnen öffnete? Als die → Emanzipation den Juden des Westens ein wirkliches Vaterland gab, da schlossen sie sich ihm ohne Vorbehalt an. Sie fühlten sich nur noch als Bürger, nicht mehr als Juden – oder so wenig! Viele zogen die letzten Konsequenzen aus ihrem neuen Verhältnis und ließen sich taufen. Andere gingen nicht gleich so weit, bemühten sich aber, durch die → sogenannte Reform die Unterschiede zwischen ihrem Glauben und dem ihrer christlichen Landsleute auf das kleinste Maß zurückzuführen. Sie unterdrückten das hebräische Gebet, sie merzten alle Äußerungen der Sehnsucht nach → Zion, der Hoffnung auf die Wiederkehr in das heilige Land aus dem Gebetbuch aus, sie verlegten den Ruhetag auf den Sonntag. Sie suchten mit ängstlicher Beflissenheit, ihren christlichen Nachbarn ähnlich zu werden. Sie ahmten einige ihrer Tugenden, ganz besonders aber alle ihre Laster nach. Sie wurden sogar Antisemiten, die giftigsten, ruchlosesten, niederträchtigsten Antisemiten, um nur vollständig ihren jüdischen Ursprung vergessen zu machen. Und was hat ihnen, was hat uns diese Assimilationswut genützt? Haben unsere christlichen Landsleute wirklich den Unterschied zwischen ihnen und uns vergessen? Erkennen sie uns wirklich als ihr eigen Fleisch und Blut an? Blicken Sie um sich und finden Sie selbst die Antwort auf diese Frage. Ich spreche hier von uns, die wir die Assimilation ehrlich gewollt haben. Sie ist uns nicht gelungen. Nicht durch unsere Schuld, sondern durch die schroffe oder höfliche Ablehnung der anderen. Wir haben jedes Opfer an Würde, an Treue, an geschichtlichem Bewusstsein gebracht, wir haben alle Brücken hinter uns abgebrochen, aber wo immer wir uns dem arischen Ufer näherten, da hallte uns ein grimmiges oder höhnisches → „Hepp! Hepp!“ entgegen. Wir sind indes nicht die einzigen Juden. Wir sind sogar nur der kleinste Teil des jüdischen Volkes. Wir paarmal hunderttausend westliche Juden können es vielleicht fertig bringen, im Laufe einiger Generationen den schmerzlichen Selbstmord eines alten und vornehmen Volksstammes zu vollziehen. Aber im Osten leben viele Millionen Juden, die mitten in der lebendigen Tradition des Judentums stehen, sich vom Scheitel bis zur Sohle als Ju-
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den fühlen und mit äußerster Energie den Gedanken des Aufgehens in einem anderen Volkstum von sich stoßen. Diese Juden, der Kern des jüdischen Volkes, sind noch heute bereit, lieber zu sterben, als von ihrem Glauben und ihren überlieferten Idealen zu lassen. Predigen Sie doch diesen Millionen Juden das Dogma der Assimilation! Sie werden ja sehen, welchen Empfang man Ihnen bereiten wird! Aber Sie selbst werden ja gar nicht daran denken, den Juden Russlands, Galiziens, Rumäniens die Assimilation zu empfehlen. Wie! Sie sollen werden wie der russische → Muschik, wie der galizische Bauer, wie der → Walache und → Kutzowalache? Aber selbst der zurückgebliebenste Jude jener Länder steht ja noch turmhoch über diesen Leuten, denen die Assimilation ihn ähnlich machen soll! In seinem Fall ist die Assimilation ein schauerlicher Kulturrückschritt, ein Sprung in den Abgrund der Barbarei! Nein, meine Damen und Herren, die Assimilation ist nicht das Heilmittel für die Judennot. Die Assimilation einzelner Juden ist möglich. Die der jüdischen Massen des Ostens, die des jüdischen Volkes in seiner Gesamtheit ist in absehbarer Zeit unmöglich und auch nicht wünschenswert. Und da wir den Gedanken an die Assimilation aufgeben müssen, die gegenwärtige Lage aber unleidlich und nicht ohne schwerste Gefahr fortdauern kann, so müssen wir eben ein anderes Mittel suchen, um dieser Lage ein Ende zu machen. Ich sehe aber kein anderes Mittel, die Juden aus einer überallhin verstreuten, überall gehassten und verfolgten Minderheit in eine gesammelte, sich frei und glücklich entwickelnde Mehrheit zu verwandeln, als eben den Zionismus. Kalte Herzen können wieder entgegnen: Zugegeben. Die Assimilation der östlichen Juden ist unmöglich. Nun gut. Gehen Sie zu den östlichen Juden und predigen Sie diesen den Zionismus, da er nach Ihrer Meinung ihre einzige Erlösung ist. Aber was geht das uns an? Was erzählen Sie uns vom Zionismus, die wir uns assimilieren können und wollen? In der Tat. Auf diesen Einwand hätte ich nichts zu antworten. Denn hier hören die Verstandesgründe auf und wir gelangen ins Gebiet der Gefühle. Wer kein Fünkchen jüdischen Gefühls mehr im Herzen hat, wem das Judentum und das jüdische Volk völlig fremd geworden sind, den werden wir mit keiner Beweisführung der Welt zum Zionismus bekehren können. Er wird den Zionismus immer ablehnen, und wir können es ihm nicht übel nehmen, denn der Zionismus hat wirklich kein Interesse für ihn. Wer aber, obschon er auf dem Wege zur Assimilation ist, noch eine → atavistische Erinnerung an seine jüdischen Vorfahren bewahrt hat, wer sich seiner Väter im Grabe nicht schämt, sondern ihr Andenken geehrt wissen will, wer den edlen Stolz hat, seine Rasse nicht als → Parias in der Welt umherirren, sondern wieder zu einem geachteten Mitgliede der Völkerfamilie werden zu sehen, der wird die zionistischen Bestrebungen unterstützen, der wird erkennen, dass eine Erlösung der jüdischen Masse des Ostens aus Not und Schmach mittelbar auch den Juden des Westens zugutekommt, dass ein helles Los der nach Palästina zurückgekehrten Ju-
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den seinen Abglanz auch auf diejenigen Juden werfen wird, die keine Ursache und keinen Wunsch haben, ihr Vaterland zu verlassen. Verschließen wir doch nicht gewaltsam die Augen vor der Tatsache, dass die Solidarität zwischen allen Juden, die wir selbst leider durchaus nicht mehr empfinden, in der Anschauung unserer Feinde noch voll besteht. Diesen Feinden gilt als einziger Maßstab, mit dem sie das ganze Judentum messen, immer nur der tiefststehende Jude. Wir haben deshalb alle das größte persönliche Interesse daran, dass das Niveau des tiefstehenden Juden möglichst erhöht werde. Wir arbeiten für den guten Ruf des Gesamtjudentums, also mittelbar auch für uns selbst, wenn wir für die verfolgten Juden des Ostens arbeiten. An dieser Arbeit teilzunehmen hat jeder Jude die sittliche Pflicht, auch derjenige, der für sich selbst an keine Rückkehr nach Palästina denkt. Das Erlösungswerk des Zionismus ist aber ein so gewaltiges und schwieriges, dass alle geistigen Kräfte des Judentums, besonders auch des gebildeten und geistig freien westlichen Judentums, nicht zu viel sind, um es zu einem guten Ende zu führen. Quelle: ZS1, S. 215–233.
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26 Muskeljudentum Vor zwei Jahren sagte ich in einer Ausschuss-Beratung des Baseler Kongresses: „Wir müssen trachten, wieder ein Muskeljudentum zu schaffen.“ Wieder! Denn die Geschichte bezeugt, dass es einst ein solches gegeben hat. Lange, allzu lange haben wir die → Fleischabtötung geübt. Ich drücke mich eigentlich ungenau aus. Die anderen haben die Fleischabtötung an uns geübt, mit dem reichsten Erfolge, den Hunderttausende von → Judenleichen in den Ghettos, auf den Kirchenplätzen, an den Landstraßen des mittelalterlichen Europa bezeugen. Wir selbst hätten auf diese Tugend recht gern verzichtet. Wir hätten unseren Leib lieber gepflegt als abgetötet oder – bildlich und unbildlich – abtöten lassen. Wir wissen von unserem Leben einen vernünftigen Gebrauch zu machen und schätzen es nach seinem Werte. Wohl ist es uns weniger als den meisten anderen der Güter höchstes, aber es ist uns ein hohes Gut und wir umgeben es gern mit Sorgfalt. Jahrhundertelang konnten wir es nicht tun. → Alle Elemente der aristotelischen Physik waren uns knickerig zugemessen: Licht und Luft, Wasser und Boden. In der Enge der Judenstraße verlernten unsere armen Glieder, sich fröhlich zu regen; im Dämmer ihrer sonnenlosen Häuser gewöhnten unsere Augen sich ein scheues Blinzeln an; in der Angst der beständigen Verfolgung erlosch die Kraft unserer Stimme zu einem bangen Flüstern, das nur dann zu einem mächtigen Jauchzen anzuschwellen pflegte, wenn unsere → Blutzeugen auf dem Scheiterhaufen das Sterbegebet ihren Henkern ins Gesicht schrien. Aber jetzt ist ja der Zwang gebrochen, man gönnt uns den Raum, uns wenigstens körperlich auszuleben. Knüpfen wir wieder an unseren ältesten Überlieferungen an: Werden wir wieder tiefbrüstige, strammgliedrige, kühnblickende Männer. Diese Absicht des Zurückgreifens auf eine stolze Vergangenheit findet in dem Namen, den → der jüdische Turnverein in Berlin gewählt hat, einen starken Ausdruck. „Bar Kochba“ war ein Held, der keine Niederlage kennen wollte. Als der Sieg ihn verließ, wusste er zu sterben. Bar Kochba ist die letzte weltgeschichtliche Verkörperung des kriegsharten, waffenfrohen Judentums. Sich unter Bar Kochbas Anrufung zu stellen, verrät Ehrgeiz. Aber Ehrgeiz steht Turnern, die nach höchster Entwicklung streben, wohl an. Bei keinem Volksstamme hat das Turnen eine so wichtige erzieherische Aufgabe wie bei uns Juden. Es soll uns körperlich und im Charakter aufrichten. Es soll uns Selbstbewusstsein geben. Unsere Feinde behaupten, wir hätten dessen ohnehin schon viel zu viel. Wir aber wissen am besten, wie falsch diese Unterstellung ist. An ruhigem Vertrauen zu eigener Kraft fehlt es uns vollständig. Unsere neuen Muskeljuden haben noch nicht die Heldenhaftigkeit der Vorfahren wiedererlangt, die sich massenhaft in die Arena drängten, um an den Kampfspielen teilzunehmen und sich mit den geschulten hellenischen Athleten und den kraftvollen nordischen Barbaren zu messen. Aber sittlich stehen sie schon heute höher als jene, denn die alten jüdischen Zirkuskämpfer schämten sich ihres Juden-
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tums und suchten → mittels eines chirurgischen Kniffes das Zeichen des Bundes zu verheimlichen, wie wir aus den Strafreden der empörten Rabbinen wissen, während die Mitglieder des Vereins „Bar Kochba“ sich laut und frei zu ihrem Stamme bekennen. Möge der jüdische Turnverein blühen und gedeihen und zu einem an allen Mittelpunkten jüdischen Lebens eifrig nachgeahmten Vorbilde werden! Quelle: ZS1, S. 379–381, dort mit Verweis auf die Quelle: → Jüdische Turnzeitung, Juni 1900. Ferner in: Die Welt, 15.6.1900, H. 24, S. 2–3.
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27 Rede, gehalten in London, 11. August 1900 Meine Brüder, meine Schwestern! Was der Zionismus ist, das brauche ich gerade in dieser Versammlung nicht auseinanderzusetzen. Sie wissen es alle. Sie finden die Erklärung des Zionismus in Ihrem eigenen Herzen und in Ihrer eigenen Seele. Sie sind sich darüber klar, dass der Zionismus die Zusammenfassung Ihrer Hoffnungen, Ihrer Sehnsucht, Ihrer persönlichen und Ihrer Volksideale ist. Sie wollen aufhören, heimatlose Wanderer zu sein – der Zionismus ist das Bestreben, dem jüdischen Volk eine sichere Heimat zu geben. Sie wollen aufhören, überall eine gehasste und verfolgte, im besten Falle ohne Wohlwollen als notwendiges Übel geduldete Minderheit zu sein – der Zionismus ist das Bestreben, Sie an einer Stelle des Erdballs, an der Stelle, die Ihnen teuer und geheiligt ist durch das Andenken der Väter, zu einer ausschlaggebenden Mehrheit zu machen. Sie halten in Glauben und Bräuchen an den Überlieferungen des Judentums fest und wollen von den alten geistigen und sittlichen Gütern unseres Stammes nicht lassen – der Zionismus ist das Bestreben, den lebenden, den entwicklungsfähigen, den unvergänglichen Kern der von den Ahnen überkommenen Satzungen in verfassungsmäßige oder gesetzliche Einrichtungen eines verjüngten, leidenschaftlich fortschrittlichen jüdischen Volkes umzuwandeln. Sie wollen in Ihrem Einzelleben und in der Welt mehr Glück, mehr Schönheit, mehr Nächstenliebe, mehr Gerechtigkeit – der Zionismus ist das Bestreben, nicht nur das jüdische Volk wieder zu einem lebendigen, alle staatlichen Arbeiten verrichtenden Volke, zu einem gleichberechtigten Mitglied der Völkerfamilie zu machen, sondern auch der Welt das Beispiel eines wirklichen Volkes von Priestern zu geben, das sich dem Dienste der Wahrheit, der Liebe, der Gerechtigkeit und Erleuchtung weiht, das in der inneren Verwaltung und in seinen Beziehungen zur ganzen Menschheit eine Politik der zehn Gebote befolgt. Das alles wollen Sie, das alles will der Zionismus. Und wenn schlecht unterrichtete oder fanatische Gegner dem Zionismus allerlei Torheiten oder Phantastereien andichten, so lächeln Sie und wissen, was Sie davon zu denken haben. Sie kennen gewiss alle den Unsinn, den man dem Zionismus teils verleumderisch nachsagt, teils mit seichter Klügelei entgegenhält. Der Zionismus soll fordern, dass alle Juden beider Welten sich die Lenden gürten, den → Osterstab in die Hand nehmen und morgen früh hinter der → Davidsfahne her mit uns nach Jerusalem ziehen, womöglich, um es mit stürmender Hand zu erobern und das → Königreich oder die Republik Judäa aufzurichten. Sie wissen sehr gut, dass der Zionismus nichts Derartiges verlangt und erwartet. Er wendet sich nicht an diejenigen Juden, die sich in ihren heutigen Verhältnissen wohlfühlen und keine Änderung wünschen. Diese Juden sollen und werden bleiben, wo und was sie sind, und wir wünschen ihnen von ganzem Herzen, dass es ihnen immer gut gehen möge. Zum Auszug rüstet der Zionismus nur diejenigen Juden, die in ihrer heutigen Volksumgebung nicht aufgehen können oder nicht aufgehen wollen und die darunter leiden, zum Teil furchtbar hart
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darunter leiden, dass sie von ihren Landgenossen an Glauben, Abstammung, Sitten, Bräuchen und Aussehen verschieden sind. Diese Juden allein sollen die Länder verlassen, die für sie ein Geburtsland, doch keine Heimat, beinahe ein Gefängnis oder Strafaufenthalt sind, und sie sollen nicht, wie jetzt, planlos wie eine verscheuchte Herde in der Welt umherirren, sondern im alten Land ihrer Väter eine → öffentlichrechtlich gesicherte Heimstätte finden, wo sie keine Verfolgung mehr kennen, wo sie sich frei entwickeln dürfen, wo sie sich und der Welt zeigen können, welche Stufe der Gesittung und Bildung, welchen Wohlstand, ja welche körperliche Regeneration sie zu erreichen vermögen, wenn kein Druck sie niederhält und kein Hass, keine Verachtung sie verschüchtert und verbittert. Auch die Einwände gegen den Zionismus kennen Sie. Es sind immer dieselben. Was Unverstand, Kleinmut, → jüdischer Antisemitismus und Misoneismus oder Hass gegen neue Gedanken an kritischen Bemerkungen auszusinnen vermochten, das ist alles gleich beim frühesten Auftreten des Zionismus mit triumphierenden Mienen vorgetragen worden, und seit Jahr und Tag hat die giftigste Feindschaft kein neues Argument mehr gegen uns gefunden. Aus allen Regionen des Denkens hat man Gründe gegen uns hergeholt. Da ist zuerst der → ethnographische Einwand: Die Juden sind kein Volk. Ich gebe zu, dass bei vielen Juden des Westens das jüdische Volksbewusstsein völlig erstorben ist. Aber diese Juden bilden kaum ein Zehntel der jüdischen Gesamtheit, und die übrigen neun Zehntel sind sich ihrer jüdischen Volksangehörigkeit so klar und sicher bewusst, dass sie in ein Gelächter ausbrechen, wenn man ihnen ernstlich versichert, dass es kein jüdisches Volk gibt. Dieses Gefühl, diese unmittelbare, lebendige Überzeugung der östlichen Juden, dass sie ein Volk sind, überhebt mich der Notwendigkeit jeder weiteren Beweisführung. Dann der politische Einwand: Die Türkei wird niemals einwilligen, dass das jüdische Volk mit dem Rechte der Selbstverwaltung Palästina wieder besiedle. Und wenn die Türkei selbst einwilligen würde, so könnte sich das jüdische Volk in Palästina im Wettstreit der Großmächte, die auf das heilige Land Absichten haben, nicht halten. Die freundlichen Kritiker, die so zuversichtlich im Namen der Türkei sprechen, werden uns die Erwiderung gestatten, dass wir es achtungsvoll und dankend ablehnen, den Bescheid des → Sultans aus ihrem Munde entgegenzunehmen. Wir ziehen vor, diesen Bescheid von der türkischen Regierung selbst zu empfangen. Wenn sie uns erklärt, dass sie uns Palästina unter keiner Bedingung öffnen will, dann werden wir es glauben. Bisher hat sie uns aber etwas Ähnliches noch nicht erklärt. Und was die Rivalität der Großmächte betrifft, so möchte ich nur dieses bemerken: → Belgien ist auch der Gegenstand eifersüchtigster Bewachung mindestens dreier benachbarter Großmächte. Seit 70 Jahren aber hat gerade diese gegenseitige Eifersucht sich als die beste Bürgschaft der Unabhängigkeit des belgischen Volkes bewährt, das nicht stärker ist, als das Judenvolk es in Palästina nach dem Abschluss des Besiedelungswerkes sein würde. Nun der soziologische Einwand: Es ist unmöglich, ein Städtervolk, ein Volk von Händlern, Krämern und Kopfarbeitern in ein Bauernvolk zu verwandeln. Wir geben
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zu, dass es schwierig ist. Wir erkennen nicht an, dass es unmöglich ist. Im Kleinen ist diese Umwandlung in Russland, Palästina, → Argentinien, → Kanada tatsächlich gelungen. Wenn einige tausend → Talmudstudenten, Makler, Handwerker tüchtige Ackerbauern und Winzer werden konnten, so ist es nicht unvernünftig, zu schließen, dass auch Millionen es werden können. Der geschichtsphilosophische und sentimentale Einwand: Der Fluch und die Schande des Jahrhunderts ist der Nationalismus; wollt ihr einen jüdischen Nationalismus schaffen? Die → Evolution der Menschheit führt zum Verschwinden der kleinen Nationalitäten und zu ihrer Verschmelzung in wenige große Nationen; wollt ihr dieser Evolution entgegenarbeiten und ein kleines Natiönchen mehr in die Welt setzen? Soll das das Ende unserer viertausendjährigen Geschichte sein? Sollen unsere Väter zweitausend Jahre lang glorreiche → Blutzeugen ihres Glaubens und ihrer Ethik gewesen sein, damit ihre späten Nachkommen schließlich als winziges Völkchen in einem abgelegenen Erdwinkel landen und dort → obskur weitervegetieren? Das klingt sehr schön und sehr tiefsinnig. Ich möchte, dass die Philosophen und Idealisten diesen Einwand den wandernden → rumänischen Juden und den Millionen Russen und → Galiziern, die ihnen bald auf dem Leidensweg folgen werden, entgegenhielten. Ich höre die Antwort der Heimatlosen: „Lieber Herr, wir sind tief gerührt von der hohen Meinung, die Sie von uns haben. Wir sind stolz darauf, dass Sie für uns großartigere Geschicke fordern als ein bescheidenes Volksleben in Palästina. Aber ehe wir darangehen, diese großartigen Geschicke zu verwirklichen, müssen wir eine kleine Förmlichkeit erfüllen. Wir müssen nämlich essen. Das ist ja sehr prosaisch, aber wenn wir diese Formalität vernachlässigen, würde es uns sehr schwer werden, die großen Erwartungen zu rechtfertigen, die Sie so gütig sind, von uns zu hegen. Und da wir die Erfahrung haben, dass wir anderswo niemals lange regelmäßig essen können, so müssen Sie uns schon verzeihen, dass wir nach Palästina zurückkehren, um dort bei täglichen Mahlzeiten in Ergebung abzuwarten, dass es Gott gefalle, unserem zweitausendjährigen Martyrium den glänzenden Abschluss zu geben, der allein Ihr ästhetisches Bedürfnis befriedigen kann.“ Doch wozu weiter diese Einwände beleuchten und widerlegen? Das ist ein müßiges Beginnen. Das ist Zeitvergeudung. Ein jüdisches Sprichwort, das Ihnen allen bekannt ist, sagt: → Um einen Terez geht man nicht in den Wald. Wenn man fest entschlossen ist, einen Gedanken, einen Vorschlag, ein Unternehmen schroff abzulehnen, so ist man nie um Gründe der Ablehnung verlegen. → Wer seinen Hund ersäufen will, der nennt ihn toll und wirft ihn wohlgemut ins Wasser. Zuerst besteht der Wunsch, das arme Tier zu töten. Dann stellt die Ausrede, dass er toll ist, zur rechten Zeit sich ein. Weitaus die meisten jüdischen Gegner des Zionismus fühlen nicht mit der jüdischen Menge und fühlen nichts für das jüdische Volk. Da keinerlei Gemütsregung sie die heutige Lage der Juden als unleidlich empfinden lässt, da keinerlei Gemütsregung in ihnen den Wunsch nach Änderung, nach Besserung der Lage erweckt, so muss ihnen der Zionismus mit psychologischer Notwendigkeit als etwas Unbegründetes, Unnötiges und Ungereimtes erscheinen, und es bleibt ihnen
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nur noch übrig, diesen ersten, unmittelbaren, vom Gefühle gegebenen Eindruck nachträglich verstandesmäßig zu begründen zu suchen. Auf denselben psychologischen Wegen, auf denen die jüdischen Gegner des Zionismus zu ihren Einwänden gegen diese große Volksbewegung gelangen, kommen ihre Anhänger zu ihrer felsenfesten Überzeugung von der Unentbehrlichkeit und von der Durchführbarkeit des Zionismus. Sie fühlen, dass → Israel Todesqualen leidet und dass es erlöst sein will und sein muss, und darum leuchtet ihnen der Erlösungsplan des Zionismus mit Sonnenklarheit ein. Der Wunsch ist eben der Vater des Gedankens, und Wunsch ist nur ein anderer Ausdruck für Gefühl, er ist Gefühl in Tätigkeit. Eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegen den Zionismus hat gar keine Berechtigung. Sie beweist nur, dass im Herzen der Gegner jeder Funke jüdischen Gefühls erloschen ist. Etwas anderes ist es natürlich mit jenen, die ihre Kritik in die ebenfalls wohlbekannten hundertmal gehörten Worte zusammenfassen: „Gewiss, der Zionismus ist ein großer Gedanke. Es wäre sehr schön, ihn verwirklichen zu können. Aber die Schwierigkeiten sind unglücklicherweise so gewaltig, dass nicht recht zu erkennen ist, wie sie überwunden werden sollen.“ Mit denen, die so sprechen, lässt sich reden. Wir sind im Grunde gar nicht weit auseinander. Auch wir verkennen die ungeheuren Schwierigkeiten nicht, die sich dem Zionismus bei jedem Schritt vorwärts entgegentürmen. Aber wir halten diese Schwierigkeiten nicht für unüberwindlich. Sie sind nämlich von einer Ordnung, die der Ausdauer und Entschlossenheit nicht widersteht. Sie sind nicht in der Natur, in natürlichen Hindernissen begründet, sondern in menschlichen Widerständen. Die Bergketten, die unseren Weg verrammeln, heißen Gleichgültigkeit und Unwissenheit der jüdischen Menge, Böswilligkeit gewisser jüdischer Gemeindeführer, Kaltherzigkeit vieler jüdischer Kapitalisten, Feigheit mancher anderer Juden in verantwortlicher Stellung oder ohne Amt und Würden, spöttische Indifferenz eines Teils der Regierungen, vorurteilsvolle Abneigung eines anderen Teils. All das kann gleichzeitig oder nacheinander, rasch oder allmählich überwunden werden. Wo Menschen gegen Menschen stehen, wo Wille sich gegen Willen misst, da braucht man nicht bange zu sein. Wer sich nicht für besiegt erklärt, der ist nicht besiegt. Und ich sage: Es gibt keinen Einzelmenschen und keinen Interessentenkreis, der ebenso leidenschaftlich, ebenso unerschütterlich wünschen würde, das jüdische Volk von Palästina fernzuhalten, wie der zionistische Teil des jüdischen Volkes wünscht, nach Palästina zurückzukehren. Der stärkere, der zähere, der leidenschaftlichere Wille wird notwendig den schwächeren, den weniger ausdauernden, den kühleren niederringen und überleben. Diese sehr einfache Erwägung, die aus der allgemeinsten menschlichen Erfahrung abgeleitet ist, gibt mir den zuversichtlichen Glauben an den schließlichen Sieg des Zionismus. Ein großer Teil des jüdischen Volkes will wieder als einiges Volk im Lande seiner Väter leben, und → where there is a will, there is a way. Was mich in meinem Glauben bestärkt, das ist die Wahrnehmung, dass wir ununterbrochene und rasche Fortschritte machen. Dem zionistischen Gedanken wohnt
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eine ungeahnte Werbekraft inne. Die jüdische Menge bekennt sich laut zum Zionismus, sowie sie von der Bewegung und ihren Zielen etwas erfahren hat. Hier ist die Schwierigkeit nur, überhaupt zu dieser Menge zu gelangen, zu ihr zu sprechen, sich ihr verständlich zu machen und ihr zu hellem Bewusstsein zu bringen, was dunkel in ihrem Herzen und in ihrer Seele webt und waltet. Die gebildete Jugend des jüdischen Volkes strömt uns mit herzerwärmender Begeisterung zu, denn der Zionismus bietet ihr das Ideal, ohne das jedes Leben arm und elend ist, ein Ideal für jede Weltanschauung und für jedes Temperament, für den Träumer und Dichter – den → dreamer of the Ghetto – wie für den Kraft- und Tatmenschen, für den frommen Gottgläubigen wie für den → Agnostiker, der nur an die Menschheit glaubt, für den geschichtlich empfindenden Aristokraten wie für den Soziologen, der nach Gesellschaftserneuerung strebt. Und selbst an den → assimilierten Juden, die im Gemüte dem Judentum völlig entfremdet waren, ist der Zionismus nicht spurlos vorübergegangen. Das ist das größte Wunder, was er bisher bewirkt hat. Das ist sein stolzester Triumph, den ich, das bekenne ich offen, nicht für möglich gehalten hätte. Wohl ist unter den Leuten, an die ich denke, schwerlich auch nur eine einzige Bekehrung zum Zionismus vorgekommen, aber die meisten begreifen schon den Ernst der Bewegung und die unabweisliche Notwendigkeit für jeden Juden, zu ihr Stellung zu nehmen. Viele wenden ihr eine Aufmerksamkeit zu, die ja meist nur Neugierde sein dürfte, aber doch hier und da mit einer deutlichen Nuance von Wohlwollen gefärbt ist, und alle erkennen an, was sie meist hartnäckig geleugnet hatten: dass es eine → Judenfrage gibt. Mit dieser Anerkennung ist tatsächlich alles gewonnen. Denn es ist vollkommen undenkbar, dass ein Mensch, der nicht ganz stumpf und einfältig ist, das Vorhandensein einer irritierenden Frage erkennt, ohne wenigstens schattenhaft, obenhin, dilettantisch eine Lösung zu suchen. Denkt der Jude aber erst darüber nach, wie die Judenfrage gelöst sein will, so wird er, und mag er sich noch so heftig dagegen sträuben, von der Logik mit eisernem Zwange zur Einsicht gebracht, dass nur der Zionismus eine wirkliche und endgültige Lösung der Judenfrage zu bieten vermag. → Mein lieber Freund Zangwill hat sich mit diesem Gegenstande eingehend beschäftigt und in seiner unnachahmlich klugen, durchdringenden Weise alle Lösungen aufgezählt und geprüft, die sich ihm als denkbar darstellten. Er fand, dass im Ganzen vier Lösungen theoretisch möglich sind. Erstens der Zionismus. Darin stimme ich zu sehr mit ihm überein, um auch nur ein Wort hinzuzufügen. Zweitens die Assimilation. Drittens eine Mission, die Israel unter den Völkern erfüllen soll. Viertens der → Status quo. Sehen wir uns die drei Lösungen, die meines Erachtens keine sind, näher an. Zuerst die Assimilation. Die Juden sollen als Juden verschwinden. Sie sollen in den Völkern, unter denen sie wohnen, aufgehen. Wenn das etwas bedeuten soll, so kann es nur heißen, dass die Juden in den christlichen Ländern sich taufen lassen sollen, dass sie in den mohammedanischen Ländern Mohammedaner werden sollen – ich kann es mir ersparen, den Gedanken weiter auszuspinnen. Für diese Lö-
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sung ist die ungeheure Mehrheit des jüdischen Volkes nicht zu haben. Sie hängt an dem Glauben ihrer Väter und lebt und stirbt mit dem Bekenntnis: → Schema Israel adonai elohenu adonai echad. Doch ich will das Glaubensargument ruhen lassen. Der Assimilationsvorschlag hat nämlich auch andere als religiöse Seiten. Wir müssen uns fragen: Kann das jüdische Volk, soll das jüdische Volk sich spurlos im Völkermeer auflösen? Ich bin kein → Fanatiker. Ich wünsche manchmal, ich wäre es, wenigstens ein wenig, denn Fanatismus ist eine große Kraft. Ich gebe zu, dass das jüdische Volk, wie jedes andere, von dem die Weltgeschichte meldet, eine begrenzte Lebensdauer hat, dass es bestimmt ist, wie jeder → ethnische Organismus eines Tages zu sterben. Aber ich glaube nicht, dass seine Todesstunde schon geschlagen hat oder nahe ist. Das jüdische Volk ist noch voller Lebenskraft und Lebenslust. Man kann es vielleicht Mann für Mann totschlagen, aber zum natürlichen Tode an Altersschwäche und Entkräftung ist es noch lange nicht reif und einen freiwilligen Selbstmord begeht kein Volk, dessen jedes kleinste Äderchen heißes Lebensverlangen schwellt. Und noch eins: Haben denn diejenigen, die die Assimilation predigen, auch bedacht, was sie eigentlich empfehlen? Sie haben immer nur die vorgeschrittensten Länder des Westens im Auge. Da vergibt der Jude sich nichts, wenn er sich assimiliert. Er verzichtet wohl auf das Erbteil einer unabsehbaren Volksvergangenheit und einer ruhmreichen Geschichte, aber er gewinnt wenigstens Bildung und Gesittung, er wird wenigstens Mitglied eines kulturell hochstehenden Volkes. Aber welcher Bruchteil des jüdischen Volkes lebt denn in den Kulturländern des Westens? Schwerlich ein Achtel. Sieben Achtel des jüdischen Volkes dagegen leben in den zurückgebliebensten Ländern des Ostens. Wollen Sie auch diesen Juden das allein seligmachende Dogma von der Assimilation predigen? Nein, das wollen Sie nicht, das werden Sie nicht. Wie! Die Juden Russlands, Galiziens, Rumäniens sollen werden wie der → russische Muschik, wie der galizische Bauer, wie der → Walache und Kutzowalache? Aber der zurückgebliebenste Jude jener Länder steht ja noch turmhoch über diesen Leuten, denen die Assimilation ihn ähnlich machen soll! In seinem Fall ist die Assimilation ein schauerlicher Kulturrückschritt, ein Sprung in den Abgrund der Barbarei! Eine Lösung aber, die höchstens für ein Achtel eines Volkes ein leidlich empfehlenswertes Auskunftsmittel, für sieben Achtel aber eine Grausamkeit, beinahe ein Verbrechen ist, kann unmöglich die wirkliche Lösung sein. Nun die Mission. Wir kennen das Lied. Wir kennen die Weise. Israel soll unter den Völkern leben, um ihnen ein Vorbild und ein Lehrer zu sein, um sie durch Unterweisung und Beispiel auf den Pfaden der Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Sittenreinheit zur Vollkommenheit zu führen. Würde ich alles sagen, was ich über diesen Gegenstand auf dem Herzen habe, ich müsste stundenlang sprechen, und ich fürchte, ich würde nicht immer einen parlamentarischen Ton beibehalten können. Ich will deshalb nur einige ganz kurze Bemerkungen machen und kühl zu bleiben suchen. Ich leugne unbedingt, dass ein Volk überhaupt eine Mission hat. Das ist ein papierner Professorengedanke. Ein Stubengelehrter überblickt die geschichtliche
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Vergangenheit eines Volkes, glaubt zu erkennen, dass dieses Volk gewisse Verrichtungen in der → Ökonomie der Gesamtmenschheit besorgt hat, und statt dies als → empirische Tatsache schlicht und bescheiden festzustellen, gibt er seiner vielleicht richtigen, vielleicht ganz falschen Wahrnehmung diese prätentiöse Form: „Dieses Volk hatte die weltgeschichtliche Mission, das und jenes zu tun.“ Das sieht so aus, als hätte jemand das Volk im Hinblick auf einen bestimmten Zweck geschaffen, ihm einen festen Auftrag auf den Lebensweg mitgegeben, und als hätte dieses Volk im Laufe seines geschichtlichen Daseins immer bewusst an der Erfüllung der ihm zugewiesenen Aufgabe gearbeitet. Es scheint mir unnötig, die Kinderei einer derartigen Geschichtsauffassung und Weltanschauung nachzuweisen. Sie springt in die Augen. Völker wie Individuen haben keine andere Mission als zu leben, möglichst lange, möglichst intensiv zu leben. Sie handeln unter dem Ansporn unmittelbarer Bedürfnisse. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse macht Kämpfe nötig, deren Ergebnis der Untergang der einen, die Umgestaltung und Anpassung der anderen, das triumphierende Gedeihen der dritten, wahrscheinlich der Fortschritt aller ist. Für den künstlich hineingezwängten Gedanken einer Mission ist in diesem Bilde des allgemeinen geschichtlichen Werdens, Seins und Vergehens nicht der kleinste Platz. Und wer sind die Leute, die uns salbungsvoll von der Mission des jüdischen Volkes predigen? Es sind in vielen Fällen → heuchlerische Sybariten, die sich in ihrer heutigen Lage mollig fühlen und für ihr gemein selbstsüchtiges Behagen einen schönen Namen und eine edel klingende Ausrede erfinden. Sie wollen die Völker Brüderlichkeit lehren und sie beginnen ihre Unterweisung damit, dass sie gegen ihre eigenen jüdischen Brüder Hass, Verachtung oder mindestens Gleichgültigkeit an den Tag legen. Sie wollen das Beispiel höherer → Sittlichkeit geben und entehren den jüdischen Namen durch ihre sprichwörtliche Genusssucht und Protzigkeit im übertriebenen Luxus. Doch lassen wir diese Leute und lassen wir die philosophische Kritik des Missionsgedankens. Es genügt, ihn an der platten alltäglichen Praxis zu messen. Die Juden haben die Mission, in der → Zerstreuung unter den Völkern zu leben, um ihnen Lehre und Beispiel zu geben. Schön. Wie sollen nun zum Beispiel die 260 000 rumänischen Juden diese Mission erfüllen? Wenn sie im Lande bleiben, so werden sie den Rumänen das Beispiel des Verhungerns geben. Ich glaube nicht, dass dieses Beispiel die Rumänen zur Nachahmung reizen wird. Wenn sie aber, um ihr Leben zu retten, das Land verlassen, wie steht es dann mit der Lehre? Sollen sie die Rumänen vielleicht aus der Ferne unterweisen? Etwa brieflich? Nach der → Langenscheidt'schen Methode? Gut. Aber dann ist es doch wohl besser, sie schreiben ihre Unterrichtsbriefe an die Rumänen aus Palästina als aus zwanzig anderen Ländern. Nein. Dieses tiefsinnig klingende Geschwätz von der Mission des jüdischen Volkes ist eine Albernheit, die nicht wert ist, die Aufmerksamkeit eines ernsten Menschen eine Minute lang zu fesseln. Ich komme zur letzten von Zangwills Lösungen: zum Status quo. Es ist nichts zu tun. Es soll alles bleiben, wie es ist. Die Juden, die dem Judenschicksal individuell entgehen wollen, sollen sich taufen lassen. Die Juden, denen es gut geht, sol-
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len vergnügt weiter leben, weiter handeln, weiter gründen. Die Juden, die gequält werden, sollen ihr Elend weiter tragen, wie sie es 1800 Jahre lang getragen haben, und sich mit der Hoffnung trösten, dass auf schlechte Zeiten vielleicht bessere folgen werden. Diese Lösung scheint höchst praktisch; das reine → Ei des Kolumbus. Sie empfiehlt sich durch ihre Einfachheit und Eleganz. Sie hat den unschätzbaren Vorteil, dass sie von niemand eine Anstrengung fordert, nur von den Armen und Elenden übermenschliche Ergebung und Geduld. Sie appelliert mächtig an den gesunden Menschenverstand, der immer ein Feind der Träumerei, des Projektemachens, des verstiegenen Idealismus ist. Nun, der geschulte Philosoph weiß, dass der berühmte → common sense in der Regel common non-sense ist, dass der angebliche gesunde Menschenverstand krankhaft verblendeter Unverstand ist. Er ist es auch in diesem Falle. Der Status quo ist einfach unmöglich. Für die wenigen zufriedenen → Mastjuden mag er bequem sein. Für die ungeheure Mehrheit der Juden, die unter ihren Qualen aufstöhnen, ist er das Schlimmste, was sie sich denken können, ist er einfach die Hölle. Aber noch mehr. Der Status quo setzt sich aus zwei Elementen zusammen; aus den Leiden der Juden, die unter den Völkern leben, und aus den Gesinnungen der Völker, unter denen die Juden leben. Ich will jetzt ganz davon absehen, welche kalte Grausamkeit es wäre, den acht bis neun Millionen gehasster und verfolgter Juden zu sagen: „Es ist euch nicht zu helfen, ihr müsst weiter dulden.“ Ich will einmal annehmen, dass diese acht bis neun Millionen gequälter Menschen bereit und imstande sind, ihr → Heloten- und Pariadasein weiterzuleben wie bisher. Das andere Element des Problems will aber auch berücksichtigt werden: die Völker, unter denen die Juden leben. Sind Sie gewiss, dass die Völker einwilligen, den Status quo weiter zu dulden? Statt aller Antwort möchte ich eine kleine Anekdote erzählen, die mein Freund Zangwill, ein großer Freund guter Geschichten, hoffentlich würdigen wird. → Ein Amerikaner reiste neulich auf einem überfüllten Schiffe von San Francisco nach Alaska. Auf hoher See, am vierten Abend nach der Abfahrt, trat er vor den Kapitän hin und sagte: „Captain, will you give me a berth for the night, please?“ Der Kapitän sah ihn erstaunt an und erwiderte: „Why, you will sleep this night where you have slept these last three nights.“ „Impossible, Captain“, gab der Yankee prompt zurück, „these last three nights I slept on the top of a sick man. But now he's got all right and won't stand it any longer.“ Die Nutzanwendung liegt auf der Hand. Solange die Völker wenig gebildet und wirtschaftlich wenig entwickelt sind, können die Juden sich unter ihnen behaupten, auch wenn sie sie hassen, misshandeln und zeitweilig sogar berauben und morden. Allein mit der zunehmenden Bildung der Völker tritt eine Phase ein, wo ihr Nationalbewusstsein und ihr Nationalstolz schärfer ausgeprägt werden, dann empfinden sie den Gegensatz zwischen sich und der jüdischen Minderheit stärker und ihre Abneigung gegen die Juden wird tiefer, dauernder, gleichmäßiger und klarer bewusst. Und mit der zunehmenden wirtschaftlichen Entwicklung der Völker werden sie immer fähiger, selbst die → ökonomischen Aufgaben zu erfüllen, die bis dahin von den Juden hauptsächlich oder ausschließlich besorgt wurden, und die Juden sehen sich all-
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mählich, doch unerbittlich aus dem ganzen wirtschaftlichen Leben ausgeschaltet. Man verzichtet auf ihre Dienste als Unternehmer, Händler, Vermittler, → Hausierer, selbst Handwerker, es gibt für sie nichts mehr zu tun und sie sind in absehbarer Zeit zum Hungertode verurteilt, wenn sie nicht eine grundstürzende Umwandlung erleiden können, die aus ihnen landwirtschaftliche und industrielle Proletarier machen würde, für die fast in allen Ländern noch notdürftig Platz ist. Soll aber die jüdische Menge eine so tiefe Umwandlung erleiden, so geschieht dies wirklich leichter in Palästina als etwa in Russland, Rumänien und Galizien. Sie sehen: Drei von den angeblichen Lösungen, die Zangwill aufzählt, sind keine und es bleibt wirklich nur die vierte: der Zionismus. Das Gefühl hat uns dies gleich gesagt. Der Verstand bestätigt es uns mit seinen langsameren Methoden. Das jüdische Volk hat keine Wahl. Oder richtiger: Es hat die Wahl zwischen dem Zionismus und dem Tode. Der Status quo bedeutet den Untergang, der Zionismus bedeutet das Leben. Mühe und Kampf kostet der Zionismus gewiss, wie das Leben auch. Aber er ist genauso viel Anstrengung wert wie das Leben selbst. Quelle: ZS1, S. 234–248.
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28 → IV. Kongressrede Geehrte Versammlung! Seit wir die Einrichtung geschaffen haben, die Erlebnisse des jüdischen Volkes jährlich auf unserem Kongress in eine kurze Übersicht zusammenzufassen, entrollt sich seine Geschichte vor unseren Augen wie → eine antike Tragödie, wo von Akt zu Akt das Grauen wächst und die Katastrophen einander übergipfeln. Von Jahr zu Jahr erfährt das Elend unseres Stammes eine schauerliche Steigerung, und ohne dass wir es wussten, sicherlich ohne dass wir es wollten, ist das → Buch Hiob mit seiner alttestamentarischen düsteren Großartigkeit das Vorbild für unsere jährlichen Berichte über die Lage des jüdischen Volkes geworden. Das Jahr seit dem letzten Zionistenkongress ist das schlimmste, worüber ich bisher zu berichten hatte. Der Antisemitismus, der nach der lächelnden Versicherung der Gemeindehäupter des jüdischen Volkes eine hässliche, aber vorübergehende Tagesmode sein sollte, verbreitet sich über den ganzen Erdball wie ein Waldbrand, der umso rasender wütet, je größere Ausdehnung er gewinnt. Er verheert ein Land nach dem anderen und gefährdet die Juden auch dort, wo sie sich am sichersten wähnten. Er nimmt Formen an, die die vergrämteste Schwarzseherei nicht für möglich gehalten hätte. Alle → Gespenster des Mittelalters steigen aus ihrem Grabe und spuken am helllichten Tage. Selbst das scheußliche → Blutmärchen wird wieder von weiten Volkskreisen geglaubt und hetzt sie in eine Erregung, die Eigentum und Leben der Juden schwer gefährdet. Die Fälle von → TiszaEszlar und → Xanten waren Warnungen, die man wieder vergessen hatte. → Polna und → Konitz sind markerschütternde Mahnrufe, vor denen das jüdische Volk die Ohren nicht verschließen darf. In Böhmen wurde ein Jude tatsächlich wegen Ritualmordes zum Tode verurteilt wie vor 400 Jahren und in tschechischen Gegenden begegnet man den Juden auf der Straße mit der Gebärde des Halsabschneidens. In Westpreußen und Pommern sehen Juden sich genötigt, aus Orten zu verziehen, wo ihre Vorfahren seit Menschenaltern ansässig gewesen sind, weil ihre Mitbürger sie als Angehörige einer Mördersekte mit Beschimpfungen und Tätlichkeiten verfolgen. In Österreich wurde das Polnaer Todesurteil aufgehoben und eine neue Verhandlung anberaumt. In Preußen traten die öffentlichen Gewalten den Ausschreitungen der Menge scharf entgegen und hielten mit eiserner Faust die Ordnung aufrecht. In beiden Staaten haben die Regierungen voll ihre Pflicht getan und nicht geduldet, dass an ihren jüdischen Untertanen Gewalttaten verübt wurden. Namentlich in Preußen wurde an höchster Stelle eine so stolze, so großartige Auffassung landesväterlicher Aufgaben entfaltet, dass das jüdische Volk dadurch zum tiefsten Danke bewegt ist. Aber dieses Eintreten der Behörden für die schwer bedrohten Juden hat deren Stellung nicht verbessert, eher verschlimmert. Die Menge durfte ihrem Hasse nicht die Zügel schießen lassen. Sie musste ihre Wut verhalten. Aber im Herzen rechnet sie diesen Zwang den Juden als neue Schuld an und lechzt nach Gelegenheit, sie ihnen mit allem Übrigen zu vergelten. In diesen Gegenden sind die
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Juden buchstäblich wieder → Schutzjuden der Regierung geworden und hängen vom Wohlwollen der Behörden in einem Maße ab wie kein anderer Teil der Bevölkerung. Man erschrickt bei dem Gedanken, was geschehen würde, wenn sie durch irgendeine Handlung oder Unterlassung die Gunst der Obrigkeit verscherzen würden oder wenn eine Partei ans Ruder käme, der mehr an Volkstümlichkeit als an Gerechtigkeit läge. An dem Tage, wo die Behörden von den Juden die Hand abziehen würden, wären diese → vogelfrei. Das ist die Lage der Juden in hochstehenden Gesittungsländern, wo sie sich des Vollbesitzes der Bürgerrechte rühmen. Doch was sind selbst diese Demütigungen und Gefahren neben den → Ereignissen, die sich in Rumänien entwickelt haben? Dort ist eine Katastrophe eingetreten, wie sie das jüdische Volk seit vier Jahrhunderten nicht erlebt hat. In der Tat, wir müssen bis → zum Jahre 1492, bis zur Vertreibung der Juden aus Spanien zurückgehen, um etwas Ähnliches zu finden. Wohl hat auch zwischen dieser Jahreszahl und der Gegenwart einzelne Judenschaften Unglück getroffen, wohl wurden einzelne Gemeinden zersprengt, verjagt, wohl auch ausgeschlachtet. Aber alle diese Teilverhängnisse verschwinden bis zur Unwahrnehmbarkeit neben der tragischen Größe der rumänischen Heimsuchung. An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts ist Europa wieder Augenzeuge von Auftritten, die es zum letzten Male → im Jahre 1730 sah, als 30 000 Salzburger Protestanten wegen ihres Glaubens von Haus und Hof verjagt wurden. Wieder sieht man auf allen Straßen unseres Erdteils lange Züge unglücklicher Menschen umherirren, hinter sich den Tod, vor sich das Unbekannte mit all seinem Grauen, Greise, die am Wegesrande liegen bleiben, Mütter, die vor Müdigkeit und Erschöpfung zusammenbrechen und ihren wimmernden Säuglingen nur eine verdorrte Brust reichen können, Männer in der Vollkraft der Jahre, die noch immer hoffen möchten, weil sie im Bewusstsein, im Gefühle ihrer Stärke sich allen Gefahren und Kämpfen gewachsen fühlen, die aber, wenn sie durch den glücklichen Frieden freundlicher Dörfer wandern, mit Bitterkeit fragen: „Warum dürfen diese sich mit Behagen ihres Daseins freuen und wir nicht? Sind wir nicht Menschen wie sie? Sind wir uns etwa einer Schuld bewusst? Wollen wir denn etwas anderes als in Ruhe arbeiten, unsere Eltern ehren, unsere Frauen und Kinder lieben und pflegen?“ Vor 170 Jahren machte der Anblick der unglücklichen Wanderer ohne Brot und Heim auf die Augenzeugen einen so tiefen Eindruck, dass er noch nach einem Menschenalter in den Nerven der Zeitgenossen nachbebte und in die → Kindheit Goethes hineinklang, der davon die Anregung zu → „Hermann und Dorothea“ empfing. Und doch war der Auszug der salzburgischen Protestanten eine harmlose Idylle neben dem Auszuge der Juden aus Rumänien. Die Salzburger Protestanten, die zwischen 1729 und 1731 das furchtbare Geschick der Verjagung aus der Heimat traf, waren 30 000 an der Zahl. In Rumänien handelt es sich um 270 000 Juden, von denen 18 000 bis 20 000 schon über die Grenze gezogen sind, über 50 000, nach anderen, hoffentlich übertriebenen Schätzungen 100 000, sich zum Aufbruch rüsten und alle übrigen, mit Ausnahme weniger tausend reicher und stumpfer Geldmacher, den Bo-
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den unter den Füßen brennen fühlen. Die salzburgischen Protestanten mussten allerdings ihre Häuser und Äcker zurücklassen, aber sie führten reichlichen Hausrat und Vorräte in bequemen Zeltwagen mit sich, wo ihre Frauen und Kinder, ihre Greise und Kranken vom schlimmsten Ungemache der Wanderung verschont blieben, und sie trieben Viehherden vor sich her, die immer noch Wohlstand bedeuteten. Die rumänischen Juden besitzen meist nichts als die paar Lumpen, die sie am Leibe tragen. Die ärmsten unter ihnen reisen nicht in Wagen oder zu Schiffe, sondern schleppen sich auf wundgescheuerten Füßen von einer Grenze zur anderen. Daheim haben sie nichts zurückgelassen als die Gebeine der Väter in den Gräbern, die ihren einzigen Anteil am Boden ihres Geburtslandes darstellten. Mitzunehmen hatten sie nichts als ihren Wanderstab und die unerträgliche Bürde ihrer Erinnerungen und Befürchtungen. Die salzburgischen Protestanten erfuhren unterwegs von ihren Glaubensgenossen und an vielen Orten auch von Katholiken viel Liebe. Überall begrüßten die Gemeinden die Heranziehenden mit Glockengeläute und dem Gesange von Kirchenliedern, überall verpflegte, beschenkte, befreundete man sie, überall gaben die Prediger ihnen ein gutes Wort zur Erbauung und Herzstärkung mit und begleiteten sie mit den Gläubigen ein Stück Weges. Die rumänischen Juden werden unterwegs mit Gleichgültigkeit, vielfach mit Misstrauen und Scheu, nicht selten mit offener Feindseligkeit betrachtet, nur ganz ausnahmsweise strecken ihnen Andersgläubige die Hände hilfreich entgegen und selbst unter ihren Glaubensgenossen finden sich neben Biedermännern, die ihre Bruderpflicht in Treue und vielfach über ihre Kräfte erfüllen und die dafür gesegnet seien bis in ihre fernsten Nachkommen, selbst unter ihren Glaubensgenossen – und das ist der herzbrechendste Zug in diesem Bilde – finden sich nicht nur → eisige Pfahlbürger, die nach der tragischen Schar der Wandernden nicht den Kopf umwenden, sondern auch, und ach! in allzu großer Zahl, Verbrechernaturen, die die Wegemüden von ihrer Schwelle scheuchen und, bildlich oder buchstäblich, Bluthunde auf sie hetzen. Und nun der letzte und wichtigste Unterschied: Die salzburgischen Protestanten wussten, wohin sie gingen. Protestantische Herrscher wetteiferten miteinander, ihnen in ihren Staaten eine neue Heimat mit Vorrechten und Auszeichnungen anzubieten. → König Friedrich Wilhelm I. von Preußen glorreichen Andenkens, → andere deutsche Reichsfürsten schenkten ihnen Land und erbauten ihnen Wohnhäuser, ihre neuen Nachbarn nahmen sie mit offenen Armen auf und waren ihnen nach Kräften behilflich, sich in die neuen Verhältnisse einzuleben. Die rumänischen Wanderer haben kein Ziel. Sie wandern planlos vor sich hin wie ein → Zug nordischer Lemminge, über dem Raubvögel schweben, um den Raubtiere schweifen, die sich nach Belieben ihre Opfer aus dem Zuge herausholen. Niemand will sie bei sich haben, jeder scheucht sie aus dem eigenen Gebiete weiter, und wenn sie verzweifelt fragen: „Wohin mit uns? Was soll aus uns werden?“ – so ist die einzige Antwort, die sie erhalten, ein Achselzucken und eine Handbewegung, die gebieterisch in die Ferne weist: Immer weiter, ins Unbekannte, ins Blaue, nur weg, weit weg!
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Ich habe vorhin die → rumänische Katastrophe mit der Vertreibung der Juden aus Spanien verglichen. Die Gerechtigkeit erfordert, festzustellen, dass die rumänische Regierung die Juden nicht förmlich aus dem Lande gejagt hat. Im Gegenteil. Sie macht sogar gewisse Anstrengungen, die Aufbrechenden zurückzuhalten. Ausgewiesen werden nur jene Juden, die in Wort und Schrift, ganz besonders in der Schrift, die entsetzliche Lage unserer Brüder der Wahrheit gemäß darstellen, das Mitleid ihrer Hörer oder Leser für die Verfolgten anrufen und die Missetaten → denunzieren, die unausgesetzt an ihnen begangen werden. Diejenigen Juden, die jede Schmach und jede Gewalttat ohne ein Wort der Klage, ohne eine Gebärde der Ungeduld ertragen, werden nicht von → Gendarmen mit Kolbenstößen an die Grenze gebracht. Sie dürfen in ihrem Geburtslande bleiben. Die rumänische Regierung hat also ganz recht, entrüstet gegen die Beschuldigung zu protestieren, als ob sie ihre Juden verjagte. Nein, das tut sie nicht. Sie zieht vor, oder zog vor – denn ich mache einen Unterschied zwischen einer früheren Regierung und einer solchen, die ihr gefolgt ist –, sie zog vor, ihre Juden im eigenen Lande zu vernichten. Urteilen Sie, ob das Wort, das ich gewählt habe, zu stark ist. Die Juden in Rumänien dürfen nur in den wenigen großen Städten leben. Der → Hausierhandel ist ihnen untersagt. Die meisten Laufbahnen sind ihnen verschlossen. Ein wohlorganisierter Boykott sorgt dafür, dass die wenigen Berufe, die sie ausüben dürfen, sie nicht ernähren. In den öffentlichen Schulen ist für sie kein Platz. Für ihre eigenen Privatschulen werden Vorschriften erlassen, die einer heuchlerischen Form der Unterdrückung dieser Schulen gleichkommen. Im Rechtsstreite zwischen einem Juden und einem Nichtjuden ist in der Regel – selbstverständlich gibt es viele Ausnahmen – der Jude von vornherein verurteilt. Dass es gegen wörtliche Beleidigungen durch Ausdrücke des bestialischsten Hasses und der tiefsten Verachtung im täglichen Umgang und in der Presse weder Schutz noch Sühne gibt, ist selbstverständlich. Ich will mich nicht in Einzelheiten verlieren. Sie werden ja überdies einen Sonderbericht über die Verhältnisse in Rumänien empfangen. Kurz gesagt ist die Lage diese: Die eingeborenen Juden werden in Rumänien als Fremde betrachtet und der fremdenfeindlichsten Gesetzgebung unterworfen, die Europa kennt. Der Zweck dieser Gesetzgebung ist, ihnen zunächst das tägliche Brot und dann jede Bildungsmöglichkeit zu nehmen. Sie sollen in die letzten Tiefen der Unwissenheit und Bettelarmut gestürzt und in diesem schwarzen Abgrunde endgültig begraben werden. Sie sollen in eine Verfassung gebracht werden, neben der die Verfassung der → Zigeuner, ja sogar die der → Aussätzigen im Mittelalter glänzend ist. Man hofft vergnügt, dass in dieser Verfassung selbst die zähen Juden in einigen Generationen bis auf wenige Reste leiblich und geistig vernichtet sein werden. Die rumänischen Juden erkennen, welches Schicksal ihnen bereitet werden soll, und suchen sich beizeiten durch Auswanderung zu retten. Die rumänischen Antisemiten sahen mit Bedauern ihre ausersehenen Opfer ihnen durch die Flucht entgehen. Sie fürchteten auch den peinlichen Eindruck, den die Aufdeckung derartiger
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Verhältnisse auf die öffentliche Meinung beider Welten hervorbringen musste. Sie handhaben also mit großer Gewandtheit den zu ihrer Verfügung stehenden Pressapparat, um in die ausländischen Blätter Mitteilungen gelangen zu lassen, in denen buchstäblich jedes Wort eine atemraubend dreiste Unwahrheit ist. Man setzt die absurde → Fabel in die Welt, die Auswanderung der Juden sei das Werk einiger Schwindler und Volksverführer. Man behauptet, dass bloß einige hundert Juden die Grenze überschritten haben, obschon doch die Statistiken der Grenznachbarn, der westlichen Unterstützungsvereine, der Auswanderungshäfen diese grobe und alberne Fälschung alsbald richtigstellen. Man verfasst Erklärungen, wonach es den Juden in Rumänien glänzend geht, und lässt sie durch einige unglückliche jüdische Verräter und Feiglinge unterschreiben, um sie den Verzweiflungsschreien der über die Grenze entkommenen Juden entgegenzuhalten. Man findet keine Schwierigkeit, diesen Mitteilungen in der antisemitischen Presse Aufnahme zu verschaffen, die gegenwärtig in allen „gesitteten“ Ländern blüht, und wenn die unabhängige Presse die Maske abreißt und die Wahrheit aufdeckt, dann hat man eine Erwiderung zur Hand, die bei der heutigen Gemütsverfassung der Mehrheit aller Völker ihre Wirkung nie verfehlt: „Das sind Judenblätter, die Rumänien beschimpfen wollen, weil es sich gegen jüdische Ausbeutung und gegen jüdische Herrschsucht zu wehren sucht.“ In den Hunderten von Briefen, die ich von rumänischen Juden empfange, wird nach einer herzbrechenden Schilderung ihrer Leiden in der Regel am Schlusse die Erwartung ausgesprochen, ich würde hier die rumänische Regierung erbarmungslos brandmarken und mit meiner lautesten Stimme das Gewissen Europas, die öffentliche Meinung der gesitteten Welt wachschreien. Ich fürchte, ich werde diese Erwartung unverwirklicht lassen müssen. Es passt nicht zu meinem Begriffe von persönlicher Würde, meinen Gefühlen die Zügel schießen zu lassen, wenn es gilt, einem kleinen Staate seine Sünden vorzuhalten, während ich immer jedes meiner Worte sorgfältig auf die Goldwaage legte und vorsichtigste Selbstbeherrschung übte, sooft ich auf ganz ähnliche Handlungen mächtiger Großstaaten hinzuweisen hatte. Diese Großstaaten waren das Vorbild der kleinen, ihr Beispiel hat die kleinen ermutigt, an ihren Juden ihr Mütchen zu kühlen. Meine Selbstachtung verbietet mir, stärkere Worte gegen die kleinen zu gebrauchen, als ich gegen die Weltmächte gebraucht habe. Ich werde mich deshalb darauf beschränken, die nackten Tatsachen darzustellen, ohne sie mit einem Affektworte zu erläutern. Aber das ist ja auch nicht nötig. Die Tatsachen sprechen eine Sprache, die durch hinzugefügte Verwünschungen und Schimpfworte nicht verstärkt wird. Und ebenso wenig denke ich daran, pathetisch Europa anzurufen. Nirgendwo in Europa besteht für uns ein Wohlwollen, das über den notdürftigen oder ausreichenden Schutz der eigenen Juden hinausgeht. Keine Regierung hat so viel für uns übrig, dass sie unseretwegen der rumänischen Regierung Vorstellungen machen würde. Alles, was wir erwarten könnten, wäre, dass die Staaten ihre Grenzen gegen die rumänischen Einwanderer versperren würden, um auf diese Weise die rumänische
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Regierung zu zwingen, ihre eigenen Juden im Lande zu behalten. Ich zittere, wenn ich daran denke, dass man den rumänischen Juden diesen Gefallen erweisen könnte. Und dann – wir müssen uns bemühen, objektiv zu sein. Europa hat zurzeit wirklich andere Sorgen, als sich um die Lage des jüdischen Volkes zu kümmern. In → Bessarabien haben 12 000 Juden seit der letzten Ernte alle Qualen einer schrecklichen Hungersnot erlitten? → In Indien waren 6 Millionen Menschen in ganz derselben Lage, und Europa hat für Hindus mehr Sympathien als für uns Juden. In Rumänien sehen die Juden sich durch schlechte Behandlung zur Auswanderung gezwungen? China behandelt seine europäischen Gäste noch schlechter und muss zuerst zur Vernunft gebracht werden, ehe man die Aufmerksamkeit den Verhältnissen der Juden in Rumänien zuwenden kann. Geehrte Versammlung! Ich hatte in England einen teuren Freund, den der Tod im vergangenen Jahre den Seinen und mir entrissen hat, → Dr. G. W. Leitner. In einem Werke meines verewigten Freundes über die Volksstämme der Nordwestgrenze Indiens finde ich → folgende afghanische Fabel: Ein Fuchs fiel in einen Wildbach. In der Todesangst des Ertrinkens rief er gellend: „Wehe, die Welt geht unter!“ Ein Bauer am Ufer, der ihn hörte, erwiderte lächelnd: „Du irrst, Freund, die Welt geht nicht unter, ich sehe nur ein Füchslein, das ersäuft!“ Hüten wir uns, die Rolle des Fuchses in dieser Fabel zu spielen. Es wäre zu grausam, wenn die spöttischen Worte des Bauers die einzige Antwort auf unsere Hilferufe wären. Wer einem anderen mit dem subjektiven Argumente kommt: „Ich muss doch leben!“, der setzt sich immer der Antwort aus: „Ich sehe die Notwendigkeit nicht ein.“ Kein anderer sieht jemals diese Notwendigkeit ein. Aber selbst muss man sie begreifen und danach handeln. Hilferufe sind ein unzulängliches Lebenserhaltungsmittel. Man muss eigene Anstrengungen machen, um sich des Todes zu erwehren, sonst wird man seine Beute. So spreche ich denn auch hier nicht so sehr zu den europäischen Regierungen und Völkern, obschon es uns natürlich die höchste Genugtuung gewähren würde, wenn man uns hören wollte. Ich spreche hier vielmehr in erster Reihe zum jüdischen Volke. Das jüdische Volk soll wissen, wie es heute um die Judenheit bestellt ist, welche neuen Schicksalsschläge sie getroffen haben. Das jüdische Volk soll wissen, dass niemand ihm helfen wird, wenn es sich nicht selbst hilft. Da müssen wir uns denn vor allem fragen: Wie stellt das jüdische Volk sich zur rumänischen Katastrophe? Was hat es getan, was tut es, um ihre schlimmsten Folgen abzuwehren? Wie springt es den unglücklichen Brüdern bei, die ohne eigene Schuld aus dem europäischen Gesellschaftsvertrage, aus dem schützenden Gehege der Zivilisation ausgestoßen worden sind und nun rechtlos umherirren wie die Tiere der Wildnis? Ich will nicht bei den abscheulichsten Zügen jüdischer Verworfenheit verweilen, auf die ich schon vorhin angespielt habe. Scham, Ekel, Empörung würden mich überwältigen, und es ist doch unbedingt notwendig, dass wir kaltes Blut behalten. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass die Elenden, die ihre vertriebenen rumäni-
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schen Brüder bei der Polizei denunzieren und ausweisen lassen, wo ihr Einfluss dies bewirken kann, eine kleine Minderheit sind, und ich will meine Augen lieber tröstlicheren Anblicken zuwenden. An gutem Willen fehlt es tatsächlich nicht. Man will den rumänischen Opfern helfen. Woran es fehlt, das ist eine Organisation, die die zerstreuten Kräfte sammeln und einheitlich zu einem bestimmten Ziele verwenden würde. Ohne Organisation, ohne Zusammenfassung, ohne Einheitlichkeit in der Verwendung dieser zerstreuten Kräfte sind diese aber wertlos und bei allen Einzelanstrengungen kommt im Ganzen so gut wie nichts heraus. Auch an Geld fehlt es nicht. Viele Juden haben dem alten Rufe jüdischer Wohltätigkeit wieder Ehre gemacht. Die armen Juden geben über ihre Kräfte. Die wohlhabenden Juden geben nach Kräften. Selbst viele millionenreiche Juden haben ihre Hand nicht vollständig verschlossen. Wohl spenden einzelne bereitwilliger 20 000 → Franken für die Vergnügungsreise eines antisemitischen Gesangsvereins als den fünften Teil dieses Betrages für die rumänischen Wanderer, die nicht zu ihrem Vergnügen reisen und auch noch keine Antisemiten sind, obschon Züge dieser Art mit der Zeit auch sie dazu machen könnten. Wohl kaufen Einzelne sich lieber um 600 000 Franken → alte Gobelins für ihren Salon, als dass sie mit dem hundertsten Teil dieser Summe den rumänischen Wanderern zu Hilfe kämen. Aber im Ganzen wurde doch an die Tür der → Millionäre nicht vergebens geklopft. Das Unglück ist nur, dass die sehr ansehnlichen Summen, die zusammenfließen, nicht in der richtigen Weise verwendet werden und darum auch keinen dauernden Nutzen stiften können. Sie dienen nämlich nicht zur Verwirklichung eines bestimmten Planes. Kein einheitlicher Gedanke, überhaupt kein Gedanke bestimmt ihre Verwendung. Wie wird das Geld ausgegeben? In der primitivsten, unorganischsten Weise: durch Almosendarreichung von Hand zu Hand. Dazu ist allerdings keine besondere Geistesanstrengung nötig. Hier sind zurückgelassene Frauen und Kinder ausgewanderter rumänischer Familienväter: Man kauft ihnen Brot, damit sie nicht Hungers sterben. Hier sind Gruppen von Wanderern, die das eine Land nicht dulden, das andere nicht aufnehmen will und die an irgendeiner Grenze, → eingehegt von starrenden Bajonetten, jämmerlich daliegen: Man kauft ihnen Fahrkarten bis in das nächste Land, bis an den nächsten Einschiffungshafen, bis nach Amerika. Ich will nicht untersuchen, ob diese Fahrkartenspenden nicht in vielen Fällen eher eine Art der Wohltätigkeit darstellen, die die Spender sich selbst erweisen, als eine Wohltätigkeit, die sie den rumänischen Juden erweisen. Ich habe kein Recht, Herz und Nieren zu prüfen, und muss mich an die sichtbaren Tatsachen halten. Die sichtbare Tatsache aber ist, dass die Not augenblickliche Linderung erfordert und dass ein Almosen in der Tat für den Augenblick die schlimmste Not einigermaßen lindert. Damit ist aber auch die Wirkung eines bloßen Almosens völlig erschöpft. Über den Augenblick hilft es mit Ach und Krach hinweg, an die nächste Stunde scheint niemand zu denken.
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Man schickt die rumänischen Auswanderer nach Amerika. Auf diese Weise ist man sie losgeworden. Man sieht sie nicht mehr vor sich. Man ist durch die ganze Breite des Weltmeers von ihren Hilferufen getrennt. Aber was soll in Amerika aus ihnen werden? Wird man sie da untergehen lassen? Sollen sie da einzeln umkommen? Ist ein Mann, der in Amerika verhungert, etwa weniger tot als ein Mann, der in Rumänien oder zwischen der rumänischen Grenze und Rotterdam Hungers stirbt? Wird man ihnen auch in Amerika weiter Almosen reichen? Dann würde man die schwachen Charaktere sofort in Berufsbettler verwandeln und auch die tüchtigeren würden bald der Versuchung unterliegen, sich als patentierte Arme dauernd erhalten zu lassen. Oder besteht die Absicht, in Amerika den Ankömmlingen geeignete Orte zur Ansiedelung nachzuweisen, sie in feste Berufe hinüberzuführen, sie zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu fördern? Das würde eine mächtige Organisation erfordern, und ich sehe noch nicht die leisesten Anfänge einer derartigen Organisation. Bloße planlose Gelegenheitswohltätigkeit ist lächerlich ungenügend, oder richtiger, ist erschreckend ungenügend für die Anforderungen, welche die Lage gegenwärtig an das jüdische Volk stellt. Und selbst diese kopflose, automatische Almosenverteilung wird ja eines Tages plötzlich aufhören. Hat man denn berechnet, welche Summe sie erfordert? In Amerika darf kein rumänischer Jude landen, der nicht den Besitz von 125 Franken nachweist. Mit dem Fahrpreise und den Kosten des Lebensunterhaltes bis zum Einschiffungshafen erfordert das für jeden Einzelnen mindestens 300 Franken. Wenn nur 100 000 von den 270 000 rumänischen Juden diese Wohltätigkeit in Anspruch nehmen, so kommen wir schon zu einem Mindestbetrage von 30 Millionen Franken, wozu noch die Verwaltungskosten und andere unfruchtbare, doch unvermeidliche Auslagen hinzukommen. Und was erreicht man mit diesen 30 Millionen, die das Mindestmaß des Erfordernisses darstellen? Damit ist einfach erreicht, dass die rumänischen Juden drei Monate später in Amerika verhungern statt drei Monate früher in Europa. Und wo sollen selbst diese 30 Millionen herkommen? Durch Aufrufe und Sammlungen ist ein solcher Betrag nicht annähernd zu beschaffen. Die ständigen Wohltätigkeitseinrichtungen der jüdischen Gemeinden haben keine Überschüsse und genügen in der Regel kaum den täglichen Anforderungen, die an sie herantreten. Die → Alliance Israélite Universelle hat keine Millionen zu verteilen. Die → Jewish Colonization Association, die ICA, wie man sie kurz nennt, hat diese 30 Millionen, wohl auch noch acht- oder neunmal mehr, aber sie ist der Meinung, dass sie kein Recht hat, ihr Vermögen anzugreifen, sondern dass sie nur einen Teil ihrer jährlichen Zinsen verteilen darf, und grundsätzlich kann ich dem nur beipflichten, obschon es allerdings Katastrophen gibt, die alle Grundsätze wegfegen. Also was weiter? Ich sehe es kommen. Man wird zuerst Franken, dann → Centimes verteilen, solange es reicht, dann wird man eines Tages achselzuckend erklären: „Wir haben nichts mehr, wir können nichts mehr für euch tun, seht, wo ihr bleibt.“ Mein Freund, der Vorsitzende Dr. Herzl, hat es soeben gesagt, und ich kann es nur wiederholen, wie denn in den Berichten über die Lage des jüdischen Volkes
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Wiederholungen unvermeidlich sein werden: Wir treiben mit → Niagara-Schnelligkeit einem → Bankerotte des amtlichen Judentums entgegen, der so schrecklich sein wird, dass ich entsetzt die Augen verschließe, um ihn nicht einen Augenblick früher zu sehen, als ich unbedingt muss. Dass die jüdischen Gemeindegrößen uns nicht etwa mit der elenden Ausrede kommen: „Die rumänische Katastrophe findet uns unvorbereitet, weil wir sie nicht vorhersehen konnten.“ Wir müssten ihnen sonst brutal antworten, wie es Dr. Herzl vorher getan hat: Das ist nicht wahr! Seit drei Jahren warnen wir euch unausgesetzt, seit drei Jahren töten wir uns mit Anstrengungen, euch die Lage des jüdischen Volkes begreiflich zu machen, euch die Gefahren zu zeigen, die es bedrohen, euch das einzige Mittel zu predigen, das eine wirksame Abwehr dieser Gefahr möglich macht. Ihr aber habt uns nicht gehört oder nicht hören wollen. Welchen Namen verdient ihr, wenn ihr, in deren Hände das jüdische Volk vertrauensvoll die Wahrung seiner Interessen, ja die Verteidigung seines Lebens gelegt hat, wenn ihr die Reden und Schriften der Zionisten eurer hohen Aufmerksamkeit nicht gewürdigt habt? Und welchen Namen verdient ihr, wenn ihr sie kennt und trotzdem unsere Warnungen verlacht und in den Wind geschlagen habt? Eure blinde, fanatische Feindschaft gegen den Zionismus hat die gegenwärtige Lage verschuldet. Weshalb sind wir denn Zionisten geworden? Etwa aus → mystischem Verlangen nach Zion? Davon wissen die meisten von uns sich frei. Wir sind Zionisten geworden, weil die Not des jüdischen Volkes uns ans Herz greift, weil wir tiefbekümmert sehen, dass die Logik der Verhältnisse unabwendbar zu einer raschen Verschlimmerung dieser Not, ja zu plötzlichen, gewaltsamen Katastrophen führen muss, und weil das angestrengteste, schmerzlichste Nachdenken uns immer wieder nur einen Ausweg aus der Bedrängnis erkennen ließ: die Erwerbung einer → öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für die verfolgten jüdischen Millionen. Wie ganz anders wäre die Lage heute, wenn wir unseren rumänischen Brüdern sagen könnten: „Kommt! Hier ist das Land, das euch erwartet, wie eine Mutter ihre heimkehrenden Söhne.“ Kein verzweifeltes Umherirren, kein aussichtsloses, angstvolles Suchen, sondern ein freudiges Losschreiten dem sicheren Ziele entgegen! Und wie ganz anders wäre die Lage heute, wenn die wandernden rumänischen Juden überall eine feste jüdische Volksorganisation vorfänden, die sie daheim zum Aufbruche rüsten, unterwegs beraten und führen, im neuen Lande empfangen und unterweisen würde! Weshalb haben wir dieses Land nicht, weshalb haben wir diese Organisation nicht? Durch wessen Schuld? Durch eure, einzig und allein durch eure! Hättet ihr die Millionen, die ihr jetzt ausgebt – ich kann nicht anders sagen: hinauswerft – seit drei Jahren nach unserem Rate verwendet, ihr hättet heute das Land, das bereit wäre, die wandernden Juden aufzunehmen. Und hättet ihr mit eurer alten, kräftigen, aber unzusammenhängenden, aber verknöcherten GemeindeOrganisation die von uns unter den entsetzlichsten Schwierigkeiten geschaffenen Anfänge einer allgemeinen Organisation des jüdischen Volkes verstärkt, so wäre das jüdische Volk heute ein lebendiger Organismus, der jedes einzelne seiner ge-
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fährdeten Glieder aus eigener Kraft wirksam verteidigen könnte. Ihr aber habt es vorgezogen, mit euren Millionen die Bestrebungen zur Verleumdung, wenn möglich zur Erwürgung des Zionismus zu begünstigen und unser eigenes mühseliges Organisationswerk zu vereiteln. Darum trifft euch die rumänische Katastrophe heute unvorbereitet, darum bietet ihr jetzt das erbärmliche Schauspiel kindisch gewordener Greise, die angesichts einer Feuersbrunst oder Überschwemmung gelähmt und flennend in die auf sie eindringenden Schrecknisse starren. Allen Juden aber, die noch ein jüdisches Herz haben, sich jedoch gegen den Zionismus haben aufhetzen lassen und ihm aus Missverständnis oder aus anderen Beweggründen, die ich hier nicht erörtern will, den Rücken wenden, allen Juden rufe ich zu: „Besinnt euch! Beherzigt die Lehre der rumänischen Katastrophe! Wir sagen euch mit blutendem Herzen: Das ist nur ein Anfang! Es wird schlimmer kommen! Viel schlimmer! Was werdet ihr tun, wenn sich nach den 270 000 rumänischen Juden die 780 000 → galizischen Juden auf die Wanderung begeben, und nun gar, wenn die russischen Millionen sich in Bewegung setzen? Wenn ein Meer von heulenden und verhungernden Menschen an eure eigenen Schwellen branden wird? Ich weiß, es gibt ein Mittel, diese Gefahr von euren Wohnungen abzuwenden: Absperrung der Landesgrenzen gegen die Einwanderung fremder Juden, Einwirkung auf die fremden Regierungen, damit sie ihre Juden im Lande gewaltsam zurückhalten. Ich nehme zu eurer Ehre an, dass ihr eure Hoffnung nicht auf dieses Mittel setzt. Wenn aber dieses Mittel nicht angewendet werden soll, was habt ihr außerdem noch? Welchen Plan? Welchen Gedanken? Ihr habt nichts, nichts. Darum rufen wir euch nochmals in Liebe zu: Öffnet eure Augen für eure Verantwortlichkeit! Seid Männer! Ein verzweifeltes Volk, auch wenn es sich selbst nicht helfen kann, hat immer noch Kraft genug, um Einzelnen gefährlich zu werden! Verdient euch wieder das Vertrauen und die Liebe des jüdischen Volkes und die Achtung der christlichen Völker, die euch nicht aus dem Auge verlieren. Arbeitet mit uns an der Erwerbung einer Heimstätte für das jüdische Volk. Ihr könnt es! Ihr müsst nur wollen. Ihr habt die Millionen, ihr habt die Beziehungen, ihr habt den Einfluss, ihr habt die Gewohnheit großer Unternehmungen. Tut für euer eigenes Volk ein Hundertstel dessen, was ihr für alle anderen Völker getan habt, denen jüdisches Kapital und jüdische Geistesarbeit Eisenbahnnetze und Kanäle gebaut, Bergwerke erschlossen, → Kolonial-Banken errichtet, weite Gebiete besiedelt und urbar gemacht, rettende oder fördernde Anleihen aufgebracht haben. Aber um Gottes willen, tut etwas, was mehr ist als die Verteilung von Bettelpfennigen, was die Zukunft des jüdischen Volkes vor Not und Verderben sichert. Wollt ihr nicht mit uns arbeiten, so überlassen wir euch ja gern die Führerschaft, denn wir haben keinen anderen Ehrgeiz als den, dem jüdischen Volke zu dienen. Und wenn die rumänische Katastrophe euch überzeugen kann, dass nur die Erwerbung einer sicheren Heimstätte für das jüdische Volk – das heißt der Zionismus – das Heil ist, dann werden wir unsere unglücklichen rumänischen Brüder, deren Elend uns den Schlaf der Nächte raubt, als heilige Sühnopfer
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preisen, die ausersehen sind, durch ihre Leiden das Heil des ganzen Volkes vorzubereiten.“ Quelle: ZS1, S. 93–111, dort mit Datierung: London, 13. August 1900. Ferner in: Die Welt, 24.8.1900, H. 34, S. 1–6.
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29 Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 1 von 3] Ich habe versprochen, nach der Heimkehr von meiner Reise die Leser der „Welt“ über eine Angelegenheit zu unterrichten, die einen → Teil der rumänischen Juden gegen mich und sonderbarerweise sogar gegen den Zionismus aufgebracht haben soll. Ich löse nunmehr mein Versprechen ein.
I. Vor einiger Zeit erhielt ich – gleichzeitig mit einer Anzahl anderer Männer der europäischen Öffentlichkeit – folgende Zuschrift: (Übersetzung aus dem Französischen.) „Bukarest, 1. August 1900. Mein Herr! Die → Judenfrage steht in Rumänien auf der Tagesordnung. Die Verhältnisse sind derartig, dass man am Vorabend einer Änderung in Betreff der Gesetzgebung in Betreff der jüdischen Nation zu sein glaubt, die bis jetzt von den politischen Rechten und der → Fähigkeit, Landbesitz zu erwerben, ausgeschlossen war. Wenn man für diese Änderung nur der Vernunft Gehör schenken würde! Aber Sie wissen sehr wohl, wie schwierig es ist, bei einem jungen Volk ohne Überlieferungen mit Voraussicht zu handeln. Die wahren rumänischen Patrioten bemühen sich nach Kräften, eine Lösung zu erlangen, die zugleich den Landesinteressen entspreche und für eine fremde Rasse menschlich sei. Zum Zwecke der Erleichterung einer derartigen Lösung erbittet sich die → „Noua Revista Româna“, die verbreitetste Zeitschrift Rumäniens, abgesehen von ihren eigenen Kräften, die wertvolle Mitwirkung aller hervorragenden Denker Europas. Mein Herr! In Anbetracht des Ansehens Ihres Geistes sind wir überzeugt, dass Ihre Meinung, wenn sie erst in Rumänien bekannt ist, ein mächtiger Beitrag zur Erlangung der gewünschten Lösung sein wird. Ganz Europa ist immer gewohnt, Ihren großen Geist sich mit allen bedeutenden Tagesfragen beschäftigen zu sehen: Deshalb richten wir heute einen warmen Aufruf an Ihre aufrichtige Meinung. Würden Sie den Rumänen raten, den Juden eine vollständige Gleichheit der bürgerlichen und politischen Rechte zu gewähren?
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Genehmigen Sie gütigst, mein Herr, den Ausdruck meiner ausgezeichneten Gefühle und meiner hohen Dankbarkeit. Der Leiter der Revue: → Dr. C. R. Motru, Professor an der Bukarester Universität.“ Auf diese Zuschrift, deren stellenweise recht unbeholfene Fassung auf die mangelnde Gewohnheit des Verfassers, französisch zu schreiben, zurückzuführen ist, gab ich folgende, in der „Revue“ abgedruckte Antwort: (Übersetzung aus dem Französischen.) „Herr Direktor! Sie haben die Güte, mich zu fragen, ob „ich den Rumänen raten würde, den Juden die vollständige Gleichheit der bürgerlichen und politischen Rechte zu gewähren?“ Nun denn, ich antworte Ihnen ohne Zögern: Nein, ich würde es Ihnen nicht raten, wenigstens für den Augenblick, und zwar in Ihrem Interesse, ebenso wie in dem der Juden, meiner Brüder. Man muss zwischen den bürgerlichen und politischen Rechten scharf unterscheiden. Es ist klar: Die bürgerlichen Rechte Einwohnern zu verweigern, die im Lande geboren sind, dort alle ihre Interessen haben, alle ihre Freuden und Heimsuchungen teilen, alle Steuern, die → Blutsteuer inbegriffen, entrichten, mit allen ihren Kräften an seinem Gedeihen arbeiten, ihm glänzende Dichter und ausgezeichnete Gelehrte geben, die bürgerlichen Rechte einem solchen Bestandteile der Bevölkerung zu verweigern, ist ganz einfach – ich nehme kein Blatt vor den Mund – eine Niederträchtigkeit; es ist eine Barbarei, die Ihrer Gesittung eine Schmach zufügt und in keinem anderen Lande Europas ihresgleichen hat: Es ist ein Verbrechen an der Menschheit, das schon vor mehr als 2400 Jahren die Athener nicht begehen wollten, da sie das Recht der → Metöken, der μέτοιϰοι, schufen, deren gesetzliche Stellung ungleich höher war als die der unglücklichen Juden Rumäniens. Mit den politischen Rechten dagegen verhält es sich anders. Wenn Sie sie Ihren Juden heute zusprechen würden, so würden Sie ihnen ein verhängnisvolles Geschenk machen. Das Land ist für diese letzte Gerechtigkeit nicht vorbereitet. Damit sie wirklich heilsam sei, muss sie von der christlichen Bevölkerung als eine Notwendigkeit begriffen und gefühlt werden, muss der angriffslüsterne Antisemitismus das ausschließliche Sonderfach einer bloßen Minderheit von Strolchen als Anführern und Dummköpfen als Angeführten geworden sein, darf der Rumäne seinen jüdischen Nachbar nicht mehr als Fremden und Eindringling betrachten, dessen Teilnahme an seinem eigenen Volksleben, an seiner Verwaltung, an seiner Rechtspflege, an seiner Truppenführung, an seiner Regierung ihm als eine unerträgliche Beleidigung erscheinen würde.
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Solange diese Vorbedingung nicht erfüllt ist, solange ist die politische Gleichberechtigung der Juden ein Selbstbetrug und eine Gefahr. Denn wenn ihr nicht das Erlöschen oder mindestens Einschlummern des Erbhasses voraufgeht, so tritt unfehlbar dieses ein: Entweder bleibt die Gleichberechtigung eine Theorie, die von der Praxis Lügen gestraft wird, die in das Gesetzbuch eingeschrieben ist, von der aber das Leben nichts weiß, dann hat sie keinen Wert für die ernsten Juden und gewährt höchstens einigen wenig interessanten Wichtigtuern eine Eitelkeitsbefriedigung. Oder die Gleichberechtigung wird ehrlich durchgeführt, die Juden können wirklich alle Staatsbürgerrechte ausüben, sich in die Politik stürzen, an der Wahlagitation teilnehmen, in die Landesvertretung eintreten, öffentliche Laufbahnen einschlagen, dann erhält der Antisemitismus eine so reiche Nahrung, dass er sich ungeheuerlich entwickelt. Man kann keine konkrete Politik treiben, ohne sich einer Partei anzuschließen. Nun denn: ein Kandidat bei den Parlamentswahlen, der einen Juden zum Wettbewerber hätte oder dessen Wettbewerber mehr jüdische Wähler für sich hätte als er; ein Ministerium, das von jüdischen oder mit Judenstimmen gewählten Abgeordneten bekämpft werden würde; eine Opposition, die eine sich auf ein Judenvotum stützende Regierung anzugreifen hätte, würde sicher nicht unterlassen, sofort mit der Kriegsmaschine des Antisemitismus herauszurücken. Sie ist so bequem zu handhaben und von so sicherer Wirksamkeit! Bedenkenfreie Berufspolitiker würden dann mehr als je den Hass des Volkes gegen den Juden aufpeitschen, der Jude hätte ganz allein die Kosten von Lumpen-Volkstümlichkeiten und schmachvollen politischen Erfolgen zu bestreiten; er würde mehr als je beschimpft, verleumdet und gehetzt werden, denn es hätten ja mehr und einflussreichere Leute ein Interesse, es zu tun; der Antisemitismus würde der eine große Hebel der Politik werden und die Parteien und Regierungen jeder Notwendigkeit eines Programmes entheben, da er für sich allein genügen würde, um ihnen die Menge zuzuführen. Endergebnis: für Sie Vergiftung des politischen Lebens, Stillstand jeder ernsten Entwicklung, eine Prämie für die allerniedrigsten und verbrecherischsten Aufwiegler, intensive Erziehung der schlimmsten Triebe des Volkes, → Bankbruch des Fortschrittes und der Ehrlichkeit im öffentlichen und unabwendbar auch im privaten Leben; für die Juden eine Lage, deren Grauenhaftigkeit im Einzelnen auszumalen unnötig ist. Ich fasse das Gesagte zusammen. Geben Sie den Juden unverzüglich die bürgerlichen Rechte, denn indem Sie sie ihnen verweigern, können Sie wohl die Juden in Rumänien zu → Parias machen, aber Sie machen zugleich die Rumänen zu den geistigen und sittlichen Parias der ganzen Menschheit. Geben Sie den Juden die politischen Rechte so lange nicht, als der Hass gegen sie bei Ihnen noch wild genug ist, dass Strolche hoffen können, eine fruchtbare Operation zu machen, wenn sie auf dieses Volksgefühl spekulieren. Warten Sie mit
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der → Emanzipation, bis das rumänische Volk begriffen hat, dass Langfinger es unterjochen und ausplündern wollen, indem sie es gegen die Juden hetzen. Entschuldigen Sie die Offenheit meiner Sprache und empfangen Sie, Herr Direktor, den Ausdruck meiner Hochachtung.“ Das ist der Wortlaut meiner Antwort, die mir von einem Teile der Juden Rumäniens übelgenommen wurde. Sie haben sich in ihrem Ärger auch gegen den Zionismus aufgebäumt und ihn beschuldigt, sie in einem entscheidenden Augenblicke verraten zu haben. Über diesen Punkt habe ich mich schon ausgesprochen und darf es mir wohl ersparen, das einmal Gesagte zu wiederholen. Dagegen ist es nicht überflüssig, mich mit meinen rumänischen Brüdern, die ihr ganzes Heil von der politischen Gleichberechtigung erwarten, über die Emanzipationsfrage auseinanderzusetzen und ihnen an der Hand einer nunmehr hundertjährigen Geschichte zu zeigen, dass die politische Emanzipation in all den Fällen, wo ihr nicht eine vollständige Überwindung des Judenhasses wenigstens bei der führenden Minderheit der geistig Vornehmen voraufgegangen war, den Juden zum schlimmsten Fluche wurde, da sie sie zur verbrecherisch leichtfertigen, törichten Preisgebung ihres ganzen Besitzes an geistigen und sittlichen Erbgütern verleitete, ohne ihnen für dieses erschreckende Opfer auch nur den allergeringsten Ersatz zu bieten. Das nachzuweisen, sei die Aufgabe des folgenden Aufsatzes. (Fortsetzung in nächster Nummer.) Quelle: Die Welt, 23.11.1900, H. 47, S. 5–7.
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30 Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 2 von 3] II. Wir hören oft von → Assimilationsjuden uns mit geheuchelt oder aufrichtig wutbebender Stimme die Frage ins Gesicht schreien: „Sollen wir etwa feige aufgeben, was unsere Väter mit solcher Anstrengung erkämpft haben?“ Diese Frage schließt eine freche Geschichtsfälschung in sich, und es ist Zeit, dieser Lüge die → Maulschelle zu versetzen, die sie reichlich verdient. Es ist nicht wahr, dass unsere Väter die politische Gleichberechtigung erkämpft haben. Sie haben sie erschlichen und erkrochen, und ich, der Nachkomme, für den sie es getan zu haben glaubten, werfe es ihnen, ohne mich für undankbar zu halten, bitter vor und werde schamrot, wenn ich diesen Abschnitt unserer neuen Geschichte lese. Ich habe die → Psychologie der Judenemanzipation in meiner → Rede auf dem ersten Baseler Kongress studiert und brauche wohl hier nicht zu wiederholen, was ich damals gesagt habe. Diesmal will ich über die konkrete Geschichte der Judenemanzipation einige Worte hinzufügen. Am würdigsten benahmen sich die → Pariser Juden, die 1791 von der Nationalversammlung ihre politischen Rechte forderten. Sie taten es kurz und mannhaft, unter Berufung auf die → Grundsätze der Revolution, wie sie in der → „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ ausgedrückt worden waren, auf ihre eigene Bürgergesinnung, die sie durch die Teilnahme an dem → Sturme auf die Bastille und an allen Kämpfen der Revolution betätigt hatten, und auf das Zeugnis ihrer christlichen Nachbarn, die mit ihnen an der → Barre der Nationalversammlung erschienen und ihr Gesuch nachdrücklich befürworteten, indem sie sich für ihre Freiheits- und Vaterlandsliebe verbürgten. Sie verlangten ein Recht und keine Gnade. Sie versprachen nichts anderes, als das Gesetz zu achten und treue Bürger des Vaterlandes zu sein, und man verlangte von ihnen kein anderes Versprechen. Eine Gabe, die unter solchen Bedingungen gereicht und empfangen wird, ehrt den Geber wie den Empfänger. Schon dem großen Napoleon tat die an den Juden ohne demütigende Einschränkung geübte Gerechtigkeit leid, und er forderte von dem → Synedrion, das er 1806 nach Paris berief, dass es die Ehe zwischen Juden und Christen freigebe und alle → Hinweise auf Zion und nationale Wiedervereinigung aus den Gebeten und Bräuchen entferne, anders gesagt, dass die Juden ihren → Messiasglauben aufgeben, auf ihre nationale Hoffnung verzichten, ihre Sonderart zerstören, kurz nationalen Selbstmord begehen. Er tat nichts anderes, als was all die mittelalterlichen Päpste und Könige getan hatten, die den Juden den Übertritt zum Christentum zumuteten. Der einzige Unterschied ist, dass Napoleon in der Form weniger brutal,
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freilich auch weniger offen war. Sein Befehl lautete nicht: → „Taufe oder Tod!“, sondern milder: „Opferung alles Wesentlichen im Judentum oder Entrechtung!“ Ihm, dem Sohne der Revolution, dem ehernen Zentralisator, lag eben weniger an der Religion als an der Vereinheitlichung aller seiner Untertanen. Das Synedrion benahm sich verächtlich. Es wagte nicht, dem Kaiser zu sagen: „Wir können uns weder grundsätzlich zur → Mischehe verpflichten, die zu unserer Auflösung in der Mehrheit unserer christlichen Landgenossen führen muss, noch wollen wir aus unserem Herzen die Hoffnung auf nationale Wiedergeburt reißen, die uns in Knechtschaft und Verfolgung durch die Jahrhunderte aufrechterhalten hat.“ Es wagte aber auch nicht, dem jüdischen Volke in Frankreich zu sagen: „Wirf dein Judentum von dir, die französische Freiheit, die du dafür eintauschest, ist besser.“ Es diplomatisierte also nach beiden Seiten und betrog beide. Es gab Napoleon zweideutige Antworten, die der Kaiser als Verzicht auf Messiasglauben, → Zionshoffnung und Eigenart verstehen konnte, obschon sie wohl nicht so gemeint waren, und es suchte in der französischen Judenschaft die Vorstellung zu unterhalten, dass es ihr Judentum gewahrt hatte, während es dieses tatsächlich preisgab. Die Väter waren vor der Folterbank und dem Scheiterhaufen freudige Bekenner gewesen. Die Söhne wagten nicht mehr, es vor der Aussicht auf eine leichte Einschränkung ihrer seit fünfzehn Jahren geübten Bürgerrechte zu sein, die höchstens ihre Eitelkeit oder sagen wir ihr Selbstgefühl etwas gekränkt hätte. Waren die → 71 Synedristen morsche Charaktere? Das darf man nicht ohne weiteres behaupten. Man muss eher glauben, dass sie innerlich vom Judentum schon abgefallen waren und für das bloße bequemere Verharren in äußerlichen ererbten Gewohnheiten keine Opfer mehr bringen mochten, auch geringe nicht. Das Verhalten des napoleonischen Synedrions ist für das westliche Judentum vorbildlich geworden. Es strebte von da ab nach der politischen Gleichberechtigung, nicht um sich in der besseren Rechtslage als Juden freier entwickeln und behaupten zu können, sondern um sich ihres Judentums zu entäußern. Napoleon I. wusste ganz genau, wohin er zielte, als er dem Synedrion seine Bedingungen stellte. Sein Scharfblick sah, dass der Übertritt der Juden zur Staatsreligion nur eine Frage der Zeit war, wenn sie keine nationale Auferstehung mehr erwarteten und ihr Blut mit dem Blute ihrer christlichen Nachbarn vermischten. Das Synedrion ermaß anscheinend diese unabwendbare Folge des Verlassens der sturmfreien Schanzen des Judentums nicht, entweder weil es kurzsichtig war oder weil es absichtlich von seinen logischen Fähigkeiten keinen Gebrauch machte. Vielleicht aber sah das Synedrion die Folgen seiner Beschlüsse ebenso wie Napoleon und wollte sie ebenso wie dieser. Die menschliche Seele ist ein verwickeltes Gebilde, dessen fließende Formen sich nicht leicht in klare mathematische Formeln fassen lassen. Es würde scheinen, dass es für einen Juden, dem an seinem Judentum nichts liegt, das Einfachste wäre, sich taufen zu lassen. Aber gerade das Einfachste tut der Mensch am seltensten, und der innerlich abgefallene Jude will trotz seiner Gleichgültigkeit gegen das Judentum aus Bequemlichkeit, Geistesträgheit, Willensschwä-
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che, vielleicht auch einem Reste von Pietät für das Andenken der Väter und eigene Jugendeindrücke, lieber ganz allmählich, gleichsam unmerklich und schmerzlos, das Judentum von sich streifen, als es mit einem Ruck abwerfen. Die deutschen, die österreichischen, die ungarischen Juden standen bewusst oder unbewusst auf dem Standpunkte des napoleonischen Synedrions, als sie in demütig-winselnden Gesuchen an Fürsten, Ministerien und Volksvertretungen um ihre politische Emanzipation flehten. Der Gedankengang all dieser der Geschichte angehörenden Schriftstücke, die ich nicht lesen kann, ohne dass sich mir alles im Leibe herumdreht, ist ungefähr dieser: Wir Juden sind keine Nationalität, wir sind genau dasselbe, was ihr seid; wir wünschen und hoffen nicht, je wieder ein Volk zu werden; wir wollen unsere Fehler ablegen, uns bemühen, auch an Bildung gleich, an Sitten ähnlich zu werden, wir bitten euch nur, uns noch das Verharren bei unserem Glauben zu gestatten und uns im Übrigen als Staatsbürger anzuerkennen; ihr sollt sehen, dass wir uns dieser hohen Auszeichnung würdig erweisen werden. Keines dieser Emanzipationsgesuche, soweit sie mir zugänglich waren, enthält auch nur den leisesten Hinweis auf unsere tausendjährige Leidensgeschichte; aus keinem tönt der schwächste Widerhall der Sterbegebete unserer → Blutzeugen. Die Juden verlangten nicht mannhaft, dass man altes furchtbares Unrecht an ihnen einigermaßen gutmache; sie gaben durch ihr vorsichtiges Stillschweigen über diesen Punkt, durch ihr unterwürfiges Hervorheben ihrer „ehrlichen Bildungsbestrebungen“, ihrer „Fortschritte“, ihres Entschlusses, die „betretene Bahn eifrig zu verfolgen“, → implizite zu, dass die Anklagen der Judenfeinde eine gewisse Begründung hatten, und das deutliche Versprechen, sich zu bessern, schloss das Zugeständnis in sich, dass sie die Misshandlungen in der Vergangenheit verdient hatten. „Das war Diplomatie.“ Nein. Das war Würdelosigkeit. Das war erbärmliche Bettelei. „Hätten die Juden etwa trotzig aufpochen sollen? Dann hätte man sie bloß unverschämt genannt und nichts bewilligt.“ Trotz war nicht nötig. Ruhiger Stolz genügte. Stolz mussten sie sagen: „Glaubt ihr nicht, dass die Schmach der Verfolgung und Unterdrückung einer schuldlosen Minderheit lang genug gedauert hat? Seht ihr noch nicht ein, dass ihr euch selbst das Zeugnis der Barbarei ausstellt, wenn ihr uns um unseres Glaubens und unserer Abstammung willen unsere natürlichen Rechte vorenthaltet? Regt euer Gewissen sich noch nicht? Gebietet es euch nicht, die Missetaten zu sühnen, die eure Väter an den unseren begangen haben? Seid ihr nicht weise genug, um einzusehen, dass ihr euren öffentlichen Angelegenheiten starke, kluge, eifrige, fördersame, selbstlose Mitarbeiter zuführt, wenn ihr uns zur Teilnahme an ihnen heranzieht?“ Es ist möglich, dass die Juden mit einer solchen Sprache nichts erlangt hätten. Aber das kann ich nicht als ein Unglück betrachten. Es hätte bloß bewiesen, dass die Völker – nicht wir! – für die Judenemanzipation noch nicht reif waren. Wenn sie
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dies aber noch nicht waren, so konnte auch die Emanzipation weder ihnen noch uns zum Heile gereichen. Wenn sie tatsächlich vor sich ging, war die politische Emanzipation eine Zweideutigkeit oder ein Missverständnis. Die Staatsregierungen fassen sie als einen Pakt auf, den sie mit den Juden schlossen und der den Juden eine Pflicht auferlegte, welche sie in ihren Gesuchen auf sich zu nehmen schienen, die Pflicht, in absehbarer Zeit im christlichen Volke aufzugehen. Die Emanzipation sollte ihnen die Erfüllung dieser Pflicht angenehmer und leichter machen. Den Staatsregierungen ist diese Anschauungsweise nicht zu verargen. Die zogen einfach die Folgerungen aus der Beteuerung der jüdischen Bittsteller, dass sie keine Nationalität seien und sein wollten und jeden Gedanken an eine nationale Zukunft des Judentums aufgegeben hatten. War diese Beteuerung ehrlich, so hatten die Juden keine Ursache mehr, Mischehen zu scheuen, sie mussten aus ihrem Glauben alle Vorschriften entfernen, die einzig die nationale Absonderung bezweckten. Ein von allen nationalen Elementen entleertes Judentum aber ist nur noch ein → rationalistischer, kühler Deismus, der vom → Unitarismus nicht mehr zu unterscheiden ist und ganz von selbst in ein → rationalistisches Christentum, etwa in das des Protestantenvereines hinübermünden muss. Es fehlte nicht an Juden, die die Emanzipation ebenso auffassten wie die Regierungen und an der Auflösung des jüdischen Volkes arbeiteten. Die einen ließen sich schlankweg taufen. Das waren die logischsten und ehrlichsten. Man darf gegen sie nicht einmal bitter sein, denn es ist ein Unterschied zwischen dem Übertritt in einer Zeit, wo die Juden völlig frei sind und sich sogar von einer gewissen Sympathie umgeben fühlen, und der Fahnenflucht mitten im Verzweiflungskampfe um Ehre und Leben. Die anderen bahnten die → Reformbewegung an, mit Abschaffung der hebräischen Gebete, dem Sonntagsgottesdienste, der Ausmerzung aller Anspielungen auf Zion, die den → prozessionellen Auszug aus dem Judentum mit Banner und Fahne darstellte. Aber die Mehrheit der Juden blieb auch nach der Emanzipation das → Volk des harten Nackens und wollte nicht verstehen, was ihre Führer mit ihr vorhatten und was ihre christlichen Gönner von ihr erwarteten. Sie blieb jüdisch. Sie heiratete unter sich. Sie betete hebräisch. Sie hielt am → Sabbath fest. Sie ging nicht im christlichen Volke auf. Die Regierungen waren enttäuscht. Sie hatten etwas wie eine dunkle Empfindung, dass die Juden den Emanzipationsvertrag an ihrem Teile nicht erfüllt hatten, und entzogen ihnen wieder das Interesse, das sie ihnen einen Augenblick lang auf eine irrige Voraussetzung hin zugewendet hatten. Die Menge aber, die nie aufgehört hatte, antisemitisch zu fühlen, konnte sich nun von Neuem allen Orgien des Judenhasses hingeben. Eine jüdische Minderheit, in der neben wohlmeinenden Skeptikern und kurzsichtigen Opportunisten eitle Streber besonders häufig waren, hatte die Emanzipation mit dem halbdeutlichen Versprechen des nationalen Selbstmordes erschlichen. Die jüdische Mehrheit löste in der Folge dieses Versprechen nur unvollkommen
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oder gar nicht ein. Die öffentlichen Gewalten fühlen sich nun ihrerseits der eingegangenen Verpflichtungen ledig. Die Emanzipation steht noch auf dem Papiere, aber sie ist tatsächlich zurückgenommen. In der Tat, was ist von der politischen Emanzipation übrig geblieben? Der Jude hat noch das Wahlrecht, aber jede Partei gibt ihm zu verstehen, dass sie seine Stimmen höchstens duldet, jedoch nicht wünscht. Er hat das Recht, gewählt zu werden, aber er findet keinen Wahlkreis, mit Ausnahme eines sozialistischen. (Ich denke hier an Deutschland.) Alle öffentlichen Laufbahnen stehen ihm nach der Verfassung offen, aber es wachsen ihm eher Flügel an den Schultern, als dass er auch nur zum Briefträger, Schutzmann oder Schaffner ernannt würde. Und nun frage ich: Was würde sich ändern, wenn man dem Juden das aktive und passive Wahlrecht nähme oder den Verfassungsparagraphen aufhöbe, der allen Staatsbürgern ohne Unterschied des Glaubens den Eintritt in den Staatsdienst gestattet? Wenn wir weiter fragen: Welchen Nutzen hat die politische Emanzipation den Juden gebracht?, so wird die Antwort nur so lauten können: Die Überlieferungen der Vergangenheit rissen jäh ab. Das Band der jüdischen Zusammengehörigkeit wurde gelöst. Das Geschlecht, das in die Emanzipation hineinwuchs, hat kein jüdisches Gefühl und Bewusstsein, ja empfindet häufig scharf antisemitisch. Einige jüdische Streber warfen sich auf die Politik, taten sich durch Rassentemperament, Redegewandtheit und wohl auch bedenkenfreie Geschicklichkeit im Ränkespiele hervor, wurden Führer von Parteien und brachten es zuwege, dass die Parteien, in denen sie marschierten und stritten, in den Augen des Volkes → bis in die Knubben diskreditiert wurden. Es genügte, dass die Juden sich für eine Partei interessierten, sie unterstützten, um sie rasch und unheilbar zugrunde zu richten. Die Reaktion hat den Freisinn und Fortschritt überwinden können, weil das gebildete Bürgertum ebenso wie die Menge sich vom Fortschritt und Freisinn abwandten, und sie wandten sich von diesen Richtungen nur ab, weil die jüdische Wählerschaft und die jüdischen Politiker sich ihr anschlossen. Schlussergebnis: Die Emanzipation hat einige jüdische Parlamentarier großgezogen, die nie einen Gedanken, ein Wort für jüdische Interessen übrig hatten und deren temperamentvolles, nicht selten vordringliches Auftreten → den glostenden Judenhass zu wilder Flamme anfachte; sie hat den Freisinn auf lange Zeit hinaus entkräftet und der Reaktion aus bloßem Judenhasse weite Volkskreise zugeführt; sie hat die gebildeten Juden gelehrt, ihr Bedürfnis nach öffentlicher Betätigung überall anders als innerhalb des jüdischen Gemeinwesens zu befriedigen; sie hat → alle altruistischen Talente den jüdischen Volksinteressen entfremdet; sie hat zu den alten Bedrückungen die neue Demütigung der brutalen Abweisung an allen Amtstüren hinzugefügt; sie hat dem Antisemitismus frische Vorwände geliefert und überlässt den Juden vereinzelt und mitten in der Friedensmenge ihrer Wut, während er vor der Emanzipation in geschlossener Reihe, inmitten der Seinigen mit Seiten- und Rückendeckung Widerstand leisten konnte.
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In den Ländern, wo die Emanzipation erkrochen werden musste, weil der Antisemitismus noch zu lebendig war, um Gerechtigkeit zuzulassen, hat sie der Judenschaft in ihrer Gesamtheit gar keinen Nutzen, dagegen schweren, vielfach unheilbaren Schaden zugefügt. Sie ist in diesen Ländern überdies heute keine Wirklichkeit, kaum ein Schein mehr. Ihre Erlangung war, ihre formelle Erhaltung ist nicht das kleinste Opfer wert. Das ist das Ergebnis einer hundertjährigen Geschichte. An der Hand ihrer Lehren gelangen wir notwendig zu einer anderen jüdischen Volkspolitik, die in einem Schlussartikel dargelegt werden soll. Quelle: Die Welt, 30.11.1900, H. 48, S. 4–7.
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31 Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 3 von 3] III. Während der → entsetzlichen Zeiten des Mittelalters gab es keine bewusste jüdische Volkspolitik und konnte es keine geben. Jede Gemeinde, jeder einzelne Jude war nur darauf bedacht, den Tag zu überleben, und die Verteidigung des nackten Daseins gegen Bedrohung und Gewalttat nahm alle Kräfte unserer Vorfahren derart in Anspruch, dass sie nicht dazu gelangten, weitere Zeit- und Raumstrecken zu überblicken, Zukunftspläne zu ersinnen und gemeinsam ihre Verwirklichung zu versuchen. Als jedoch nach der langen Nacht die neue Zeit zu tagen begann, da erwachte in den Besten des jüdischen Volkes auch sofort das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aller versprengten Volksteile, und sie arbeiteten an der Besserung der Rechtslage ihres ganzen Stammes, das heißt, sie entwickelten die Anfänge einer zielbewussten jüdischen Volkspolitik. → Die portugiesischen und spanischen Juden, die sich im 16. Jahrhundert in Bordeaux ansiedeln wollten, verhandelten mit dem → Statthalter der Guienne und dann mit dem Könige selbst, und ihre Niederlassung erfolgte auf Grund verbriefter Rechte, nicht für Einzelne, sondern für die Gesamtheit. → Die holländischen Sephardim, die sich im 17. Jahrhundert in England ansässig machen wollten, suchten sich nicht einzeln einzuschleichen, sondern sandten Manasse ben Israel zu Cromwell hinüber, um Zugeständnisse für die Gesamtheit zu erwirken. Die Lage der Juden, die von außen Einlass in ein Land begehrten, war vergleichsweise günstig; sie konnten über Bedingungen verhandeln und hatten theoretisch die Wahl, sie entweder anzunehmen und einzuwandern oder sie als unannehmbar abzulehnen und auf die Einwanderung zu verzichten. Die Juden in Deutschland und im europäischen Osten waren schlechter gestellt. Sie lebten schon im Lande und konnten der Obrigkeit nicht sagen: „Wir verlangen diese und jene Rechte: Gesteht ihr sie uns zu, so bleiben wir; bewilligt ihr sie nicht, so gehen wir.“ Sie hatten keine Bedingungen zu stellen, sondern mussten sich ergeben in die Lage schicken, die ihnen zu bereiten der Obrigkeit gefiel. Ihre Volkspolitik musste sich diesen Verhältnissen anpassen, aber auch sie hatten eine Volkspolitik. Sie war auf die → Erlangung der Menschen- und Bürgerrechte gerichtet. → Bis an das Ende des 18. Jahrhunderts war der Jude in Mittel- und Osteuropa tatsächlich geächtet und → vogelfrei. Heimatrechte hatte er nirgendwo. Seine Ansässigkeit war überall „prekär“, „precario“, das heißt kein gesetzlich begründeter Anspruch, sondern eine gnädige Duldung, die von Fall zu Fall erbeten werden musste und bewilligt oder verweigert werden konnte. Das → Damoklesschwert der Einzel- oder Massenausweisung hing fortwährend über seinem Scheitel. Er weilte an seinem Wohn-
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ort auf Grund eines Schutzbriefes, der im günstigsten Fall auf eine bestimmte Zeit lautete, selten auf mehr als 20 Jahre, oft nur auf zehn. Lief die Frist ab, ohne dass die Erneuerung des Schutzbriefes erlangt wurde, so hieß es zum Wanderstab greifen, etwa unter den Bedingungen der heutigen rumänischen Auswanderung: Hinter dem Verjagten schloss sich donnernd eine eherne Tür und vor ihm öffnete sich keine Pforte. Während der Schutzfrist durfte der Jude nur einen Gedanken, nur ein Streben haben: genug Geld zu verdienen, um sich eine neue Schutzfrist erkaufen zu können. Er arbeitete unablässig für die Behörden, die gegen möglichst hohe Summen den Schutzbrief auszustellen hatten. Erwarb er Reichtum, so war es nicht für ihn, sondern für die Obrigkeit, die ihn geduldig und hohnlachend am Ende seiner Schutzfrist erwartete und dann ihre Bedingungen stellte. Je mehr er hatte, desto mehr musste er sich abpressen lassen, und der Ablauf der Schutzfrist wurde so zu einer Schicksalswende, an der der arme wie der reiche Jude sich in derselben Lage fanden: ausgeplündert, zugrunde gerichtet, doch mit der gnädigen Erlaubnis, die tödliche Arbeit in der wirtschaftlichen Tretmühle für die Erpresser von Neuem zu beginnen und bis zur nächsten Plünderung fortzusetzen. Daher kommt es, dass es bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts in den mittel- und osteuropäischen Ländern mitunter reiche Juden, aber niemals reiche Judenfamilien gab. Ein Emporkömmling konnte rasch ein großes Vermögen erwerben, aber es gibt schwerlich ein Beispiel, dass er es auf seine Kinder oder gar auf seine Enkel zu vererben vermochte. Eine derartige Rechts- und Wirtschaftslage war unleidlich, und es ist verständlich, dass unsere Vorfahren die äußersten Anstrengungen machten, um ein sicheres Wohnrecht zu erlangen. Die → „Hoffaktoren“, „Schtadlanim“ oder Armeelieferanten stützten sich auf die Gunst ihnen wohlgesinnter Herrscher, um die Unduldsamkeit judenfeindlicher Stadtverwaltungen zu brechen und sich in den ihnen verschlossenen Städten das Ansiedlungsrecht zu erzwingen. Ich erinnere an die → Kämpfe Wertheimers, des Hoffaktors Karls VI., mit Pressburg und den Zipser Städten und an die noch berühmteren → Cerfbeers, des Heerlieferanten Ludwigs XVI., mit Strassburg. Seltener suchten sie durch den Einfluss von Grundherrschaften der Krone Zugeständnisse abzuringen, wie in dem Falle der nach ihrer Vertreibung aus Wien → vom Fürsten Dietrichstein und vom Grafen Johann Pálffy aufgenommenen Juden. (1670.) Das Ringen aller Judengemeinden um Ansiedlungsrechte hatte verschiedene Ergebnisse geliefert, als die → französische Revolution ausbrach. Hier durften die Juden in gewissen Städten wohnen, doch war ihnen der Aufenthalt in anderen Städten und auf dem flachen Lande untersagt. Dort durften sie überall wohnen, doch nirgendwo Grundbesitz erwerben. In einem Staate waren ihnen die Mittel- und Hochschulen, die Zünfte, gewisse Handelsgebiete verschlossen, in einem anderen durften sie wenigstens Medizin und Philosophie studieren, Handwerk betreiben und mit allen Waren handeln. Die Revolution änderte diese Verhältnisse mit einem Schlage. Sie stellte die → Rechtsgleichheit aller Landesbewohner her, und wohin die Franzosen kamen, da → warfen sie die Ghettomauern nieder und erhoben die
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Juden, die sie vorfanden, zum Range von Vollbürgern. Als aber Napoleon von den vereinigten Rückschrittskräften Europas überwunden war, da suchte man überall, außer in Frankreich, die alten Verhältnisse wieder herzustellen. Ganz war dies freilich nicht möglich, denn die Franzosenzeit hatte eine moralische Atmosphäre geschaffen, der niemand in Europa sich entziehen konnte und die vollkommene Entrechtung eines Bevölkerungselementes, dem man keine bestimmten Vergehen vorwerfen konnte, nicht gestattete. Man tat indes, was man irgend konnte, um die Juden wieder in ihre vorrevolutionäre Rechtslage hinabzudrücken. Zwei Jahrzehnte verhältnismäßiger Freiheit und Gleichheit und das Beispiel der französischen Judenschaft hatten tiefe Wandlungen in der jüdischen Seele bewirkt. Der Jude wollte nicht länger ein Paria sein. Er gab seine → alten mystischen Ideale der messianischen Erlösung ohne Schmerz auf und ersetzte sie durch ein verständliches, greifbareres Ideal, die gesetzliche Gleichstellung mit seinem christlichen Nachbar. Seine Volkspolitik war nun auf die Erlangung der Emanzipation gerichtet, die zu erwirken ihm kein Mittel zu unwürdig, keine Selbstdemütigung zu unerträglich schien. Zwischen den Bestrebungen der Juden des XVIII. Jahrhunderts, die Aufhebung der gesetzlichen Beschränkungen ihrer Bewegungs- und Berufsfreiheit zu erlangen, und den Bemühungen der Juden des XIX. Jahrhunderts, die politische Gleichberechtigung zu erbetteln, besteht unter einem oberflächlichen Anschein von Ähnlichkeit ein schroffer und durchaus unversöhnlicher Gegensatz. Die Juden des XVIII. Jahrhunderts verlangten das Recht, in Sicherheit und Freiheit Juden sein zu dürfen, die Juden des XIX. Jahrhunderts erbaten sich die Gunst, ihr Judentum bequem und ohne Aufsehen abstreifen zu können. Aus diesem Gegensatz erklären sich alle Entwicklungen der jüdischen Geschichte in den letzten Geschlechtsaltern. Die Emanzipation gab den Juden nicht bloß die bürgerlichen Rechte der Freizügigkeit, den Grundbesitz, die Fähigkeit der freien Berufswahl, der freien Mitbenutzung aller Staats- und Gemeindeeinrichtungen, sie gab ihnen auch die politischen Rechte, das heißt einen Anteil an der Staatsgewalt, die das Volk in einem Verfassungsstaat ausübt. Für die Juden, die Juden bleiben und sich als Juden zu freien, zu gebildeten, wohlhabenden Menschen entwickeln wollten, waren nur die bürgerlichen Rechte wichtig, denn sie strebten nicht nach Herrschaft, sondern nach Ruhe. Für die Juden dagegen, denen an ihrem Judentum wenig oder nichts lag, hatten die politischen Rechte die größere Bedeutung, denn sie gestatteten ihnen, aus dem Kreise des Judentums und der jüdischen Interessen herauszutreten, sich in die Angelegenheiten des Staates, das heißt der christlichen Mehrheit, bestimmend einzumischen und nach Staatsämtern und Würden, das heißt nach einem Anteil an der Staatsgewalt, zu streben. Dieses Streben kam und kommt in keiner Weise dem jüdischen Volk in seiner Gesamtheit, sondern höchstens dem einzelnen Streber selbst zugute. Es zwingt den jüdischen Staatspolitiker, alles an sich zu unterdrücken, was ihn als Juden, das heißt als von der Volksmehrheit verschiedenen Typus, kennzeichnet, also sich sei-
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nes Judentums mit verzweifelter Anstrengung zu entäußern, und es stachelt den Antisemitismus der Mehrheit heftig auf, da sie sich wohl herbeilässt, den Juden als Nachbar zu ertragen, ihn jedoch nicht als Herrn über sich dulden will. Gewiss, als Herrn. Denn nach monarchistischer Anschauung, die auch in den sogenannten Republiken nicht überwunden ist, vertritt jeder Staatsbeamte, er sei in der Verwaltung, dem Heere oder der Rechtspflege tätig, den Herrscher und übt einen ihm anvertrauten Teil der höchsten Gewalt über die Untertanen aus. Er befiehlt und die Untertanen müssen gehorchen. Die geschichtliche Erfahrung lehrt aber, dass die Völker sich niemals willig von Menschen regieren lassen, die sie nicht als ihr eigen Fleisch und Blut anerkennen. Selbst Eroberer können das Schwert erst aus der Hand legen, wenn die Regierten sie nicht mehr als Eindringlinge empfinden, sie gewissermaßen naturalisiert und adoptiert haben. Die Juden sind keine Eroberer und sie sind nirgendwo von der Mehrheit als ihr eigen Fleisch und Blut anerkannt. Sie müssen also unfehlbar die heftigsten Widerstände gegen sich erregen, wenn sie den Anspruch erheben, über die Mehrheit Regierungsgewalt auszuüben, es sei denn, es gelänge ihnen, die Mehrheit über ihre jüdische Herkunft zu täuschen. Der Jude, der von seinen politischen Rechten den vollen Gebrauch machen will, muss damit beginnen, den Juden in sich zu verheimlichen und, wo möglich, zu erwürgen. Eine jüdische Volkspolitik, die auf die Erlangung der politischen Rechte hinarbeitet, ist also eine Politik des Volksunterganges, des Volksselbstmordes, eine Leugnung und Aufhebung ihrer selbst. Die verächtlichen jüdischen Gemeindeblättchen, die so treue Spiegel der Erniedrigung und Charakterlosigkeit des Verfalls-Judentums sind, verzeichnen mit Rührung jede Ernennung eines Juden zu einem Staatsamt. Die Schwachköpfe, die diese Notizen schreiben, wissen nicht, dass sie jedes Mal einen Abfall vom Judentum hocherfreut begrüßen. Denn jeder Jude, der unter den heutigen Verhältnissen nach einer staatlichen Laufbahn strebt und zu ihr zugelassen wird, ist notwendig für das Judentum verloren. Ich habe zu zeigen gesucht, wie die jüdische Volkspolitik nicht beschaffen sein soll. Ich habe nun zu zeigen, welche Volkspolitik an die Stelle der bisher geübten gesetzt werden sollte. Eine Volkspolitik setzt voraus, dass es ein Volk gibt und dass dieses Volk leben will. Denn zum Untergang bedarf es keiner besonderen Politik. Der kommt ganz von selbst, wenn man keine Anstrengung macht, um ihm zu entgehen. Zur Vorfrage muss man zunächst Stellung nehmen. Bewusst oder unbewusst, ausdrücklich oder stillschweigend tut dies auch jeder Jude. Man kann, von Halbheiten, Unklarheiten und Übergängen abgesehen, vier Haltungen gegenüber der größten und wichtigsten Frage des Judentums unterscheiden, der Frage: „Soll das jüdische Volk erhalten werden oder soll es verschwinden?“ Eine Minderheit der emanzipierten Juden will, dass das jüdische Volk untergehe und verschwinde. Sie leugnet sogar, dass es überhaupt noch ein jüdisches Volk gebe, aber bei dieser Leugnung braucht man nicht widersprechend und beweisend zu
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verweilen. Sie ist eine bloße Torheit. Die Leugner nehmen einfach ihren Wunsch für eine Tatsache. An diesen Juden ist nichts zu halten. Sie sind für das Judentum endgültig verloren, auch wenn sie noch nicht getauft sein sollten. Man mag sie verstehen und ihnen verzeihen, man mag sie verachten und hassen, aber jedenfalls ist es klar, dass man sich von ihnen, die das Ende des Judentums wollen und die zunächst ihrem eigenen Judentum ein Ende machen, keine jüdische Volkspolitik vorschreiben lassen darf. Eine andere Minderheit wünscht, jüdisch zu bleiben, glaubt auch, dass das jüdische Volk eine Zukunft hat, erwartet aber das → Heil von einem übernatürlichen Messias und begnügt sich bis zu seiner Erscheinung mit der → Beobachtung des Zeremonialgesetzes. Die Volkspolitik dieses Teiles der Judenschaft ist formale Frömmigkeit und äußerste Passivität. Auch diese Volkspolitik ist meines Erachtens keine, denn sie führt ebenso sicher zum Volksuntergang wie die der jüdischen Antisemiten, nur um eine Generation später. In den Ländern der Emanzipation treten nämlich die Kinder in der Regel nicht in die Fußstapfen der frommjüdischen Eltern. Mit ihrem Glauben an das Zeremonialgesetz wird die → Aufklärung rasch und gründlich fertig, und da sie von den gläubigen Eltern nie gelernt haben, im Judentum etwas anderes zu sehen als ein Zeremonialgesetz, so hören sie in dem Augenblicke, wo ihr Glaube an dieses schwindet, auch auf, an dem Judentum das geringste Interesse zu nehmen, und sie wenden ihm ohne Zögern und Bedauern den Rücken. Die dritte Kategorie ist die große Mehrheit der Gedankenlosen, die in den Tag hineinlebt, ohne sich wegen der Zukunft Sorgen zu machen. Diese Mehrheit will jüdisch bleiben. Aber sie hat sich nie gefragt, ob sie sich unter den ungünstigen Verhältnissen, in denen sie lebt, auch wird erhalten können. Sie fühlt ihre Leiden, aber sie weiß nicht, wie sie sich von ihnen befreien soll. Sie ist unfähig, sich einen Rat zu geben, aber sie ist fähig und bereit, einem fasslichen guten Rat zu folgen. Auf diese Mehrheit wird jede jüdische Volkspolitik die größte Rücksicht zu nehmen haben. Endlich gibt es eine vierte, ebenfalls in einer vorläufig noch kleinen Minderheit eingeschlagene Richtung. Die Vertreter dieser Richtung wollen, dass das jüdische Volk weiter lebe. Sie glauben felsenfest daran, dass dieses Weiterleben durchaus möglich ist, wenn das jüdische Volk nur einige Anstrengung macht, um die es bedrohenden inneren Schäden und äußeren Gefahren zu bekämpfen, und sie halten sich durch ihr reges Volksbewusstsein und durch ihren Glauben an die Zukunft ihres Volkes für berufen, diesem eine allgemeine Politik vorzuschlagen, von der sie allein das Heil erwarten. Ob sie ihre jüdische Volkspolitik werden durchführen können oder nicht, das hängt nicht von äußeren Widerständen ab, denn die sollen durch die jüdische Volkspolitik eben besiegt werden, sondern einzig davon, ob es ihnen gelingt, die gedanken- und planlose, doch dem Judentum triebhaft anhängende große Mehrheit des jüdischen Volkes für sie zu gewinnen. Die abfallslüsternen Noch-Juden können als quantité négligeable behandelt werden. Ihr Spott wie
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ihr Grimm verdienen kaum ein Achselzucken. Verneinendes Geschwätz hat auch der kleinsten positiven Tat niemals geschadet. Die positive Volkspolitik der treuen Juden aber ist diese: In den hochgesitteten Ländern, wo die Juden die politischen Rechte besitzen, da sollen sie diese mit weiser und geschmackvoller Zurückhaltung üben. Vor allen Dingen sollen sie grundsätzlich darauf verzichten, an der Handhabung der Herrschergewalt des Staates über die Untertanen, die sich lieber Staatsbürger nennen hören, einen Anteil zu fordern, solange auch nur eine kleine Minderheit ihrer christlichen Landsleute an der Ausübung der Staatsgewalt durch Juden Anstoß nimmt. Will man ein besonders hervorragendes jüdisches Verdienst ehren, eine besonders überlegene jüdische Weisheit dem allgemeinen Interesse dienstbar machen, so lasse der betreffende Jude sich um seine Mitwirkung an der Verwaltung der Staatsangelegenheiten bitten, aber er biete sich nie an; und wenn er einwilligt, dem Staate seine Kräfte zu widmen, so geschehe es unter besonderer Betonung seines Judentums. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, dass die Juden immer und überall, wo der Staat von seinen Bürgern eine Anstrengung fordert, ihren Mann stellen müssen. Das tun sie selbst dort, wo man sie als Parias behandelt, geschweige denn in Ländern, wo man ihre natürlichen Menschen- und Bürgerrechte voll anerkennt. Mit einem Worte: Sie sollen alle vom vaterländischen Gefühl vorgeschriebenen Opfer mit besonderer Freudigkeit bringen, dagegen auf jeden politischen Lohn für ihre Opfer verzichten und sich mit der Freiheit, sich als Juden zu entwickeln, begnügen. Wir müssen es uns abgewöhnen, um Richter-, Offiziers- und Beamtenstellen zu jammern. Wer ein Amt will, der suche es in der jüdischen Gemeinde-Organisation. Wir müssen es uns namentlich abgewöhnen, mit Erscheinungen wie Eduard von Simson oder Disraeli zu prahlen. Sie nützen uns nichts und machen uns keine Ehre. Sie haben nichts auf uns gehalten, und wir handeln erbärmlich und feig, wenn wir uns mit hündischer Zudringlichkeit an Leute werfen, die sich brutal von uns losgesagt haben und von uns nichts wissen wollen. Wir müssen uns auch hüten, im Kampfe der Parteien die lautesten Rufer im Streit, die Führer und Vorkämpfer zu sein, wozu unser Temperament uns so leicht verführt. Verhalten wir uns neutral oder suchen wir eher versöhnend und ausgleichend zu wirken. Das entspricht der Ethik unseres Stammes und den Lehren unserer Weisen mehr als Verbitterung und Vergiftung jedes Parteihaders durch ungestümes Eingreifen. Benutzen wir unsere politischen Rechte, um unsere allgemeinen Staatsbürger-Interessen als Steuerzahler und Wehrpflichtige, als → Verwaltungs- und Rechtssubjekte maßvoll in Reih und Glied mit unseren christlichen Landsleuten zu verteidigen, lassen wir uns überall finden, wo es gilt, für einen Fortschritt, für eine Verbesserung, für höhere Gerechtigkeit, Aufklärung, Nächstenliebe zu wirken. Aber seien wir äußerst vorsichtig und zurückhaltend, wenn die Parteien um eine christlich-konfessionelle Frage streiten. Die Teilnahme der Juden am → deutschen „Kulturkampfe“, das Mitstimmen der Juden bei → Kirchenbaufragen in der Berliner Stadtverordnetenversammlung waren unver-
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zeihliche Fehler, die sich nicht wiederholen dürfen, wenn die Juden zielbewusste jüdische Volkspolitik treiben. In den rückständigen Ländern, wo die Juden noch entrechtet sind, da sollen sie unablässig die bürgerlichen Rechte fordern, das heißt das Recht, überall zu wohnen, jeden freien Beruf, jedes Gewerbe, jeden Handel zu betreiben, an allen aus Steuergeldern unterhaltenen Schulen, gemeinnützigen und Wohltätigkeits-Anstalten Anteil zu haben, in der Besteuerung und Rechtspflege ihren christlichen Landsleuten gleichgestellt zu sein. Politische Rechte sollen sie nicht fordern. In Russland haben auch die Christen solche nicht; in Rumänien hätten sie für die Juden aus den Gründen, die ich früher auseinandergesetzt habe, keinen Wert. Ihre bürgerlichen Rechte sollen die Juden nicht als eine Gnade erflehen, sondern als einen Beweis fordern, dass die Mehrheit aus der → Vertierung endlich zur Menschlichkeit aufgestiegen ist. Wir dürfen nie auch nur stillschweigend zugeben, dass man zu irgendeiner Zeit eine Entschuldigung oder einen Grund dafür hatte, uns durch Ausnahmsgesetze zu misshandeln. Dass Titus uns im Jahre 72 n. Chr. besiegt hat, ist unsere einzige Schuld, wenn es eine ist. Eine andere Schuld erkennen wir nicht an. Unsere Verfolgung und Marterung ist nicht unsere, sondern unserer Feinde Schande. Sehen sie dies endlich ein, so sind wir bereit, die Sünden und Verbrechen ihrer Väter zu verzeihen. Wir aber haben uns nichts verzeihen zu lassen. Diese Volkspolitik lässt eine ungeheure Menge jüdischer Energie frei werden, die heute im Westen in den allgemeinen politischen Kämpfen und in persönlichen Ambitionen, im Osten im aussichtslosen Kampfe um politische Rechte oder in verzweifelten revolutionären Bestrebungen zwecklos vergeudet wird. Niemand zum Nutzen, dem jüdischen Volke zum höchsten Schaden. Wird diese Energie den Angelegenheiten des jüdischen Volkes zugewendet, so muss sie für dieses überaus fruchtbar werden. Die Gemeinde-Organisation erfüllt sich dann mit reichem Leben, während sie jetzt sterbend oder tot ist. Sie verwandelt sich aus einer Kultus- in eine Volksgemeinde. Sie wird zum Rahmen und zur Maschine, worin alle Kräfte des jüdischen Volkes sich voll betätigen. Die Gemeinde hat dann nicht mehr bloß für die → Synagoge und den Friedhof zu sorgen, sondern alle Aufgaben eines gesitteten Gemeinwesens zu erfüllen, Volks- und Mittelschulen, bei wachsendem Reichtum und Gemeingeist später auch Fach- und Hochschulen zu unterhalten, jüdische Kunstund Gewerbe-Ausstellungen zu veranstalten, Museen, Theater, Akademien – warum nicht? – zu gründen, Preise für Leistungen auf allen Gebieten zu stiften, jüdischen Größen öffentliche Denkmäler zu setzen und mit allen diesen Mitteln zunächst das eine große Ziel zu erreichen: den Juden die tiefe Selbstverachtung abzugewöhnen. Diese schauerliche Selbstverachtung ist der Hauptantrieb zur Flucht aus dem Judentum. Sie ist der größte Triumph des Antisemitismus, der auf die Dauer die Juden ihnen selbst verekelt hat. Heute legt der Jude auf die kleinste, mitleidigste, herablassendste Anerkennung christlicher Kreise unvergleichlich höheren Wert als auf die feurigste Bewunderung der Juden, ja er empfindet diese geradezu als beschämend. Und umgekehrt lässt der Jude sich zur Anerkennung eines jüdischen Talentes nie-
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mals herbei, wenn dieses nicht vorher durch Erfolge bei dem christlichen Publikum gleichsam entjüdischt worden ist. Die Juden müssen dazu erzogen werden, sich wieder als das natürliche, in erster Reihe zuständige Tribunal für jüdische Leistungen zu empfinden und für ihre Leistungen den entscheidenden Lohn von der jüdischen öffentlichen Meinung zu empfangen. Ich höre den zornigen Aufschrei der Klugköpfe, die das jüdische Volk seit hundert Jahren angeführt haben – man kann diesem Worte einen beliebigen Sinn beilegen: „Die Juden sollen also ins Ghetto zurückkehren?“ Man lasse sich von diesem Schlagworte nicht bange machen. Es ist eine bloße Eselei. Soll unter dem Ghetto ein Gefängnis verstanden werden, in das man uns gewaltsam sperrt und worin wir ersticken müssen, so habe ich vorhin ausdrücklich gesagt, dass wir aus allen Kräften daran arbeiten müssen, die Eisentür dieses Kerkers aufzubrechen. Bedeutet aber Ghetto bloß den Ort, wo Juden brüderlich beisammen hausen, weil sie aneinander Wohlgefallen finden und weil sie lieber einen warmherzigen, blutsverwandten Nachbar haben als einen feindlichen, bedeutet es den Zusammenschluss, durch den Juden miteinander und füreinander arbeiten, um sich gegenseitig zu fordern und mit gemeinsamer Anstrengung Mustermenschen und Musterbürger, gute, starke, schöne, freie, harmonische Typen zu werden, so sage ich: Kehren wir um alles in der Welt in dieses Ghetto zurück, und je eher, je vollzähliger, umso besser. Gegen dieses Ghetto kann nur derjenige Einwände erheben, der sich seines Judentums schämt, der nicht als Jude erkannt sein will, der dem Judentum den raschen Tod wünscht. Wer dagegen sein Judentum als eine erbliche Auszeichnung empfindet und es vor aller Welt stolz hervorkehrt, wer dem Judentum eine tiefe und würdige Zukunft wünscht, der wird an diesem Ghetto nichts auszusetzen haben, er wird nur bemüht sein, es räumlich zur reinlichsten, gesundesten, anheimelndsten Gegend der Stadt, geistig zur → Akropolis der Gesittung zu machen. Seien wir besser, sittenreiner, gebildeter als die anderen, wie wir schon fleißiger und zäher sind, züchten und fördern wir unsere Talente, statt sie anzufeinden und abzustoßen, und es braucht uns auch um christliche Anerkennung nicht bange zu sein. Bringen wir nur erst Pasteurs und Kochs, Zisters und Röntgens hervor. Kein Antisemitismus der Welt wird sich gegen die Tatsachen der → Mikrobiologie und der Physik wehren können, kein Antisemit der Welt wird es ablehnen, sich von der → Wundrose bewahren, vom → Wechselfieber befreien zu lassen. In dem Ghetto, das wir als jüdische Freistätte freiwillig errichten, werden wir dann nicht abgesondert sein. Man wird allseitig den Weg in dieses Ghetto finden, wenn man darin große wissenschaftliche Entdeckungen, außergewöhnliche künstlerische und schriftstellerische Leistungen, neue sozialpolitische und wirtschaftliche Einrichtungen kennenlernen wird. Und man wird von diesem Ghetto sich Lehrer erbitten, die ihren Schülern neben positiven Kenntnissen Achtung vor der Höhe jüdischer Ideale und vor jüdischer Tüchtigkeit beibringen werden.
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Das ist die Volkspolitik, die wir dem jüdischen Volke in der → Zerstreuung empfehlen und die seine vollständige Wiedergeburt, sein selbstständiges Dasein vorbereiten soll. Sie stellt an die Juden mehr als durchschnittliche Anforderungen? Gewiss. Aber die dürfen wir uns nicht ersparen. Die Geschichte verurteilt uns dazu, außergewöhnlich tugendhafte und rühmliche Menschen zu sein. Wir können uns diesem Lose nicht entziehen. Verschlüpfen wir uns nicht vor unseren Feinden, sondern leben wir vor ihren boshaft spöttischen oder hasserfüllten Blicken ein Musterleben der Selbstveredelung und Zukunftsfreudigkeit. So brechen wir sicher den → achtzehnhundertjährigen Fluch, der auf uns lastet und uns dem Tode nahe gebracht hat. Quelle: Die Welt, 14.12.1900, H. 50, S. 1–5.
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32 Eine → Conférence Max Nordaus In der „Zionistischen Vereinigung jüdischer Arbeiter“ (Société sioniste des ouvriers juifs) in Paris hielt jüngst Dr. Max Nordau einen Vortrag, dessen Gegenstand das → Chanukafest bildete. Wir entnehmen darüber dem → „Echo Sioniste“ Folgendes: „Ein kleines Volk von Hirten und Ackerbauern“, so begann Max Nordau seinen Vortrag, „wurde durch eine mächtige fremde Nation bedrängt und bedrückt. Doch das Volk brachte es nicht über sich, die Schmach der Unterjochung zu ertragen, es erhob sich gegen seinen Bedränger, und unter der Führung heldenhafter Männer kämpfte es an gegen seinen Feind und brachte ihm blutige Niederlagen bei.“ „Welches ist dieses Volk? Vielleicht könnten Sie glauben, es seien die → Boeren, die tapferen Bauern, die heldenmütig ihre Unabhängigkeit gegen England verteidigen. Nein, ich spreche jetzt nicht von ihnen, ich spreche jetzt von einem anderen, vom jüdischen Volke, von unseren Vätern, die vor mehr als 2000 Jahren unter ähnlichen Umständen das syrische Joch abschüttelten.“ „Viele von Ihnen haben vor einigen Wochen den → Präsidenten Krüger jubelnd akklamiert. Viele von Ihnen standen auch sicherlich vor dem Hotel, in dem der greise Held sich aufhielt, und grüßten ehrfürchtig sein weißes Haupt, als es sich auf dem Balkone zeigte. Auch ich befand mich unter der begeisterten Menge. Und da, als man in überschäumendem Enthusiasmus dem Präsidenten Krüger zujubelte, musste ich an meine Väter denken, die in einer unvergleichlich gefährlicheren Situation treu bei ihrer großen Aufgabe ausharrten, obwohl ihnen von keiner Seite etwas von jener Sympathie und Bewunderung entgegengebracht wurde, die die Boeren förmlich umschwärmt und ihnen die Kräfte verleiht, ihren Kampf fortzuführen …“ Der Redner zog im Folgenden nun einen glänzenden Vergleich zwischen dem Fall der Boeren und dem unserer heldenmütigen Ahnen, zwischen dem → Krieg in Transvaal und der → Erhebung der Makkabäer. Die Juden waren ein Volk von Ackerbauern, wie es die Boeren sind. Das → syrische Reich, der Hauptteil des von Alexander dem Großen eroberten Landes, stand im Zeichen der höchsten Blüte. Es besaß ein starkes, geschultes Heer. Es repräsentierte im Oriente die griechische Zivilisation, so wie jetzt England die europäische in Südafrika repräsentiert. Durch die syrische Auflösungsarbeit hat diese raffinierte und verführerische Zivilisation eine → Assimilationsbewegung gezeitigt, wie wir sie in stärkerem Grade nirgends in unserer Geschichte finden. Es schien, als sollte → Israel zugrunde gehen. Die → Hellenisten sagten (wie jetzt viele den Boeren sagen): „Was soll der Widerstand? Wozu dieser blutige Ansturm gegen eine Zivilisation, die der unseren überlegen ist? Ihr habt euch nur in die griechische Hegemonie zu finden, eure alten Gewohnheiten und unmodernen Gebräuche abzulegen, und ihr werdet dann die Vollbürger des großen Syrerreiches sein.“ „Man weiß“, fuhr der Redner fort, „welche Antwort unsere Väter auf diesen Rat gaben. Die → Aaroniden, die ihr Leben lang den Gottesdienst gepflegt hatten, grif-
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fen zum Schwert, sie rissen das Volk mit sich hin, und, einer gegen zehn, so zogen sie in die Schlacht, und so haben sie gesiegt. Und ihr Sieg war nicht etwa nur ein Sieg des jüdischen Volkes, es war auch ein Sieg des Rechtes und der Gerechtigkeit über die rohe Gewalt. Das war's, was den Makkabäern die Bewunderung aller Völker errang, und darum haben die größten Dichter Russlands, Englands und Deutschlands das Heldentum unserer Ahnen verherrlicht.“ Dann sprach der Redner von der besonderen Bedeutung, die dieses große Fest für uns, die Zionisten, hat. „Chanuka“, so schloss er, „das ist das Fest unserer Selbstbefreiung, das ist das Fest unserer Hoffnung, unserer Zukunft“. Ein Beifallssturm, der nicht enden wollte, folgte dem wahrhaft glänzenden Vortrage. Quelle: Die Welt, 28.12.1900, H. 52, S. 6.
33 Israel unter den Völkern [Teil 1 von 4]
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33 → Israel unter den Völkern [Teil 1 von 4] I. Jeder, der einen klaren Blick hat, sieht deutlich, dass es am Ende des neunzehnten Jahrhunderts kein gesittetes Staatswesen gibt, das nicht seine → „Judenfrage“ hätte. Die Frage äußert sich in mancherlei Gestalt. Ihr bekanntester und stärkster Ausdruck ist der Antisemitismus. Es ist eine bloße Floskel, wenn man sagt, dass der Antisemitismus „die Schmach des Jahrhunderts“ sei. So hat ihn → der edle Friedrich III. genannt. Allein wer es liebt, den Erscheinungen auf den Grund zu gehen, der wird kein Genügen an dieser schönen Redensart finden, und er wird die Ursache des Antisemitismus, dessen verborgene Wurzeln zu ergründen suchen. Die Judenfeinde führen die Erklärung im Munde: Die Juden seien wegen ihrer Schlechtigkeiten verhasst. Diese Behauptung kann jedoch der Kritik nicht standhalten. Die Leute betrügen sich selbst: Zuerst lehnen sie sich gegen ihr Empfinden auf, dann aber suchen sie nach Vorwänden, um dieses ihr Empfinden zu rechtfertigen und ihr Gewissen zu beschwichtigen. Es ist eine alte Geschichte. Oft tut einer etwas Böses, ohne viel nachzudenken, bloß von einem unvernünftigen Triebe geleitet. Nachträglich ersinnt er sich allerlei Rechtfertigungsgründe, um nicht vor sich selbst als Bösewicht dazustehen. Der Volksmund hat diese menschliche Gewohnheit schon längst durch das Sprichwort charakterisiert: → „Wenn man den Hund ersäufen will, sagt man, er sei tollwütig.“ Die Juden sind nicht wegen ihrer Schlechtigkeiten verhasst, vielmehr ist man bestrebt, ihnen Schlechtigkeiten anzudichten, weil sie verhasst sind. Die statistischen Daten, die in allen Ländern, und zwar nicht von Juden, sondern häufig von deren Widersachern, gesammelt werden, zeugen zugunsten der Juden. Selbst dort, sagen uns die statistischen Ziffern, wo die Juden beschränkenden Ausnahmsgesetzen unterworfen sind, also leicht die Ausflucht gebrauchen können, dass die Leiden ihre Widerstandskraft lähmen, Not und Elend sie auf die Stufe → der alten Heloten hinabdrücken – selbst dort ist die Zahl der Verbrecher unter ihnen nicht so groß wie die Zahl der übrigen Verbrecher. Und wenn diejenigen Leute nicht unter die Verbrecher eingereiht würden, die in ihrer Berufstätigkeit sich Übertretungen des Gesetzes zuschulden kommen lassen, wie die → Kridatare und die Verüber sonstiger geschäftlicher Unredlichkeiten, deren Zahl unter den Juden notwendig größer ist als anderswo – wenn diese nicht miteingereiht würden, so würde das Kontingent, welches die Juden zum Verbrechertum stellen, verschwindend klein sein. Die ärgsten und verabscheuungswürdigsten Verbrechen, als da sind Mord, Unzucht und Raub, kommen unter den Juden äußerst selten vor. Alle Merkmale, die die Statistiker einem Volke beilegen, das auf einer hohen Stufe der → Sittlichkeit steht, finden sich bei ihnen. Die Zahl der Frühmortalitäten ist gering, die Zahl der → Eheschließungen außerordentlich groß unter den Juden. In den Hoch- und Mittelschulen ist ihre Zahl
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sehr hoch, trotzdem ihrer Aufnahme Hindernisse in den Weg gelegt werden. Wo also findet die Behauptung einen Stützpunkt, dass diese Klasse von Bürgern moralisch verderbt ist, während wir doch sehen, dass sie den Gesetzen des Landes, der Gesellschaft und der Sittlichkeit gehorcht und nach Wissen und Bildung in weit höherem Grade strebt als irgendeine andere? Oder ist die Schuld der Juden etwa die, dass die Reichen unter ihnen mit ihrem Reichtum protzen? Gesetzt, wenn auch nicht zugegeben, dass der jüdische Emporkömmling protzenhafter ist als → andere Parvenus, was folgt daraus? Doch nur, dass sein Geschmack wenig geläutert ist, sein Benehmen keinen weltläufigen Schliff hat, und dass es recht ist, ihm die adeligen Geselligkeitsclubs zu verschließen, wenn er Lust haben sollte, sich in sie einzudrängen. Was hat das aber mit der Entziehung der → Menschen- und Bürgerrechte, mit den Bedrückungen und Verfolgungen aller Art zu tun, denen die Juden ausgesetzt sind? Ein anderes Wort, welches die Feinde der Juden stets im Munde führen, ist, dass der Antisemitismus so alt sei wie das jüdische Volk; also müssen die Juden doch von jeher und auch gegenwärtig die Schuld tragen an dem Hassgefühl, das sich gegen sie allerorten regt. Nun ist es allerdings wahr, dass der Hass der böse → Genius ist, der die Juden auf allen ihren Wanderungen begleitet, aber dieser Umstand spricht keineswegs gegen sie, da wir ja sehen, dass jedes Volk in jedem Zeitalter einen anderen Vorwand und eine andere Form für seinen Hass findet. → Die alten Römer beschuldigten die Juden, einen eselsköpfigen Götzen anzubeten; sie wurden dazumal als Umstürzler, als Feinde der staatlichen Ordnung angesehen. Die → Syrer und Hellenisten hassten die Juden, weil diese sich weigerten, den olympischen Göttern zu huldigen, vielleicht auch, weil sie → in dem alexandrinischen Zeitalter das → Griechische fremdartig und mit einer dem griechischen Ohre unschön klingenden Tönung aussprachen. In der ersten Zeit des Mittelalters heftete sich Schmach an den Namen der Juden als der → Heilandsmörder und Gottverfluchten. In dem darauffolgenden Zeitalter waren die Juden das allgemeine Angriffsobjekt, weil man sie für Feinde und Lästerer der herrschenden Religion hielt und ihnen vorwarf, dass sie die → Brunnen vergiften. Auch sagte man, dass sie → Christenkinder schlachten, um das Blut für rituelle Zwecke zu verwenden, dass sie → Hostien aus den Kirchen stehlen, um sie zu schänden und ihr Gespött damit zu treiben. Und nicht bloß der Glaube der Juden, sondern auch ihre Nationalität war die Zielscheibe aller Gehässigkeit und Rachsucht. Man sagte, dass ihrem Körper ein → übler Geruch (foetor judaicus) entströme, und Ähnliches mehr. Heutzutage wirft man ihnen vor, dass sie → Wucher treiben, dass sie das → Volk aussaugen, dass sie alle → Güter des Landes an sich ziehen, dass sie ein → Schmarotzerdasein führen und dass sie die → Völker berauben, die ihnen die Tore ihres Landes gastlich geöffnet haben. Da also die Gründe des Hasses verschieden sind, heben sie sich gegenseitig auf. Die Vorwände wechseln, und der Hass bleibt. Es ist merkwürdig, dass alle Beschuldigungen, die man gegen die Juden erhebt, gegen jede Minderheit erhoben werden, die von einer Mehrheit gehasst wird. Der →
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Kindermord zu rituellen Zwecken ist als eine alte Beschuldigung bekannt, die schon die alten Römer gegen die ersten Christen erhoben; und heute begegnen die Missionare und Europäer in China demselben Vorwurf. Alle Vorwürfe, die man den Juden macht, erhebt man in anderen Ländern sowohl gegen die deutschen Arbeiter wie überhaupt gegen alle Eingewanderten, mögen sie woher immer gekommen sein. Das ist der Schlüssel zur Lösung dieser schwierigen Frage und zur Auffindung der Wahrheit. Es ist Menschenart von alters her, jeden, der sich von uns in seiner Eigenheit und in seinem Gehaben unterscheidet, tief zu hassen. Wir können es nicht ertragen, dass es einen Menschen gibt, der anders geartet ist als wir; rasch haben wir herausgefunden, dass er uns im Wege steht, dass er unsere Ruhe stört, dass er die Ordnung, an die wir gewöhnt sind, umkehrt und uns zwingt, uns neuen Lebensgewohnheiten anzubequemen, die uns schwerfallen. Sind nun diese Andersgearteten eine Minderheit, so werden wir keinen Grund finden, unsere bösen Triebe zu unterdrücken und unser Hassgefühl zu verbergen; wenn aber kein Anlass vorhanden ist, den guten Trieb vorwalten zu lassen, so gewinnt der böse von selbst die Oberhand. Das erklärt den allenthalben bestehenden Hass der Vielen gegen die Wenigen, die unter ihnen wohnen – ganz besonders, wenn der Hass gegen die Wenigen auf einer Tradition beruht, und gar, wenn die Wenigen sich in irgendeinem Punkt hervortun. Was nun die Juden betrifft, so besteht ja ein von jeher genährter religiöser Hass und der Einfluss der vom Mittelalter herrührenden grausigen Märchen von Knabenmorden u. s. w. Die Minderheit kann es der Mehrheit niemals recht machen. Daher kommt es, dass die Mehrheit stets die Minderheit zum Sündenbock macht, wenn sie Fehler begeht oder von Ungemach betroffen wird. Denn es ist auch ein psychologisches Gesetz, dass Kinder und Wilde, wie auch Völker, deren kritischer Sinn wenig entwickelt ist, für alles Leid, das sie trifft, denjenigen aus ihrer Umgebung verantwortlich machen, der ihnen verhasst ist. Deswegen beschuldigte man → zur Zeit der „schwarzen Pest“ die Juden der Brunnenvergiftung. In unserer Zeit machen die → Agrarier den Juden zum Vorwurf, dass sie die Getreidepreise herabdrücken. Die arischen Arbeiter hinwiederum klagen die jüdischen Arbeiter an, dass diese sie unterbieten. Die Rückschrittler in allen Ländern beschweren sich, dass die → Juden sich den Radikalen zugesellen, die Umsturz-Bestrebungen fördern und der Regierung Hindernisse bereiten. In den Ländern, wo es gar keine Juden gibt, finden sich alle diese Übel und Plagen in weit höherem Grade, und man wälzt dort die Schuld auf andere verhasste Minderheiten über, zumeist auf die Ausländer, die zu hassen als verdienstlich gilt, allenfalls auch auf inländische Minderheiten, in Frankreich z. B. auf die Protestanten und → Freimaurer, anderwärts auf die → Jesuiten u. s. w. Das ist einfach eine Abwälzung der Verantwortlichkeit. Es zeugt durchaus nicht gegen denjenigen, der beschuldigt wird, es zeugt nur davon, dass die ihn beschuldigen, Hass gegen ihn hegen; und weil sie aufgebracht und gehässig gegen ihn sind, schieben
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sie ihm alles Böse unter. Der Urgrund ist der Hass; dessen Folgen erst sind die verschiedenen, immer wechselnden Anschuldigungen. Der Antisemitismus umfasst nicht die ganze Judenfrage, sondern nur einen Bruchteil von ihr. Der andere Teil – das ist, was die Juden selbst über ihre Lage inmitten der Völker und über ihr künftiges Geschick denken. Es ist kein Wunder, dass alle Juden, die den Antisemitismus zu spüren bekommen, ihm zu entrinnen wünschen. Die wenigen reichen Juden, denen der Antisemitismus nichts anhaben kann – denn bekanntlich macht der Antisemitismus vor den Palästen der reichen Juden, selbst in Rumänien, Halt –, zeichnen sich durch ihren Optimismus aus, durch die Art, leichthin, seelenruhig lächelnd, von dieser Sache zu sprechen. Diese Leute sagen stets: „Der Antisemitismus ist eine vorübergehende Krankheit; noch eine Weile und er verschwindet.“ Jedoch die Masse der Juden fühlt, dass dies unrichtig ist. Freilich hat sie nicht die klare Erkenntnis von allen den Umständen, die wir hier aufgezählt haben, aber instinktiv sagt sie sich, dass der Antisemitismus eine heftige Abneigung ist, wie sie jeder Mensch – und auch jedes Tier – gegen diejenigen fühlt, die anders beschaffen sind als er; und deswegen wird der Antisemitismus nicht aufhören, solange die Juden eine kenntliche, charakteristische Minderheit unter den Völkern bleiben. Um nicht mehr gehasst und verfolgt zu werden, um ein genügend gesichertes und normales Dasein führen zu können, wie alle Völker, müssten die Juden entweder aufhören, eine → Minorität zu sein, oder aufhören, kenntlich zu sein. Das sind die zwei Lösungen der Judenfrage, die erstrebt werden. Auf der einen Seite rät man, die Juden an irgendeinem Orte zu einer imponierenden Mehrheit zu vereinigen. Aus historischen und religiösen Gründen haben die Leute, die solches anraten, → Palästina, das Land der Ahnen, als den geeigneten Ort ins Auge gefasst. Das sind die Zionisten. Würde Palästina wieder ein von Juden bewohntes Land und könnten die Juden sich darin aus eigener Kraft und Arbeit ansässig machen (gegenwärtig beträgt die Zahl der Bewohner Palästinas 600 000 Seelen, darunter 60 000 Juden, während es ungefähr 6 000 000 Juden gibt, die den Wunsch hegen, in dieses Land zurückzukehren), so würde der Antisemitismus sie nicht mehr heimsuchen, denn dort könnten sie Ruhe und Arbeit finden, ungestört ihrem Erwerbe nachgehen, wie jedes Volk, das auf seiner Scholle in Sicherheit lebt. Die Juden aber, die nicht nach Palästina zurückkehren wollen, mögen nur hübsch bleiben, wo sie sind, und wenn der Antisemitismus sie weiterhin bedrücken wird, so müssen wir uns darein fügen. Sie hätten entfliehen können und haben es nicht getan; also befinden sie sich entweder sehr wohl und tragen ihr Leid mit Gleichmut oder sie werden gar nicht betroffen oder haben möglicherweise ein anderes Heilmittel. Wie dem auch sei: Um diese Leute mag man unbekümmert sein. Andere Juden erstreben eine andere Lösung ihrer Frage. Sie wollen nicht wieder ein besonderes Volk in einem besonderen Lande werden. Sie ziehen es vor, eine unbedeutende Minorität inmitten der Völker zu bleiben, und ihr einziger Wunsch ist, eine unkenntliche Minorität zu werden. Das sind die → Assimilanten, welche hoffen,
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dass die Judenfrage gelöst sein wird, wenn die Juden erst aufhören, aus ihrer Umgebung hervorzustechen, wenn sie erst unter den Nationen verschwinden. Allein nur wenige von diesen Leuten erfassen die Sache klar genug, auch haben sie nicht den Mut, auf ihr Ziel geradenwegs loszusteuern. Wer sich ernstlich assimilieren will, der wird nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Er wird sich gedrängt fühlen, alle Scheidewände niederzureißen, die zwischen ihm und der Mehrheit der Landesbewohner aufgerichtet sind. Die erste und hauptsächlichste Scheidewand ist die Religion. Ein solcher Mensch muss das Glaubensbekenntnis wechseln und sich einer christlichen Kirche anschließen. Er muss trachten, eine → Mischehe einzugehen, um sein Blut mit dem des Mehrheitsvolkes zu mengen und mit der Mehrheit in einen Volkskörper zu verschmelzen. Dann, aber auch nur dann, kann er hoffen, dass nach drei oder vier Menschenaltern seine jüdische Nationalität unkenntlich werden wird und seine damaligen Nachkommen von dem Antisemitismus nicht mehr zu leiden haben werden. Will er aber nicht so weit gehen, so wird er auch nicht sein Ziel erreichen. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, Jude zu bleiben und dabei aufzuhören, als Angehöriger der Minorität kenntlich zu sein. Das wird nicht durch Halbheiten, durch die → Verlegung des Sabbath auf den Sonntag oder durch die → Verbannung der hebräischen Sprache aus den Synagogen erreicht. Höchstens, dass damit erreicht wird, die Juden noch auffallender und dazu lächerlich zu machen. Eine unvollständige Assimilation verstopft nicht die Quelle des Antisemitismus, den Hass der Vielen gegen die Wenigen in ihrer Mitte, die leicht kenntlich sind, auch wenn sie sich vermummen. (Fortsetzung folgt.) Quelle: Die Welt, 4.1.1901, H. 1, S. 3–5, dort mit dem Hinweis auf Quelle und Übersetzung: Aus dem von → N. Sokolow herausgegebenen → hebräischen Jahrbuch (Sefer Haschanah). Übersetzt von → Moriz Zobel.
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34 Israel unter den Völkern [Teil 2 von 4] II. Es ist schon längst alles genau beschrieben, und neuerdings hat auch → Anatole Leroy-Beaulieu in seiner Schrift „Israel chez les Nations“ getreulich dargestellt, was die Juden auf dem Gebiete der Wissenschaft und der Kunst geleistet haben. Allein die Tätigkeit der Juden auf politischen Gebieten hat noch keine Beleuchtung erfahren. Da und dort geschieht dieser Tätigkeit Erwähnung, meist unrühmlich und von judenfeindlicher Seite. Der deutsche → Antisemit Paul Lagarde zieht in seinen „Deutschen Schriften“ gegen das Wahlrecht los, das die Juden besitzen, und meint, dass diese das öffentliche Leben in Deutschland durch ihre Teilnahme vergiften und zersetzen werden. → Eduard v. Hartmann, der Verfasser der „Philosophie des Unbewussten“, dem sein Scharfsinn und die Schneidigkeit seines Stiles einen Namen gemacht haben, behauptet in seiner Schrift → „Das Judentum in Gegenwart und Zukunft“, dass alle Juden ohne Ausnahme der → liberalen Partei angehören, und folgert daraus, dass die Juden sich am Parteienwesen nicht zugunsten ihres Vaterlandes, sondern im Interesse ihres Stammes beteiligen, welcher selbstverständlich viel mehr zum religionslosen und neumodischen Freisinn hinneige als zum christlichen, patriotischen Konservatismus, dessen Wurzeln tief in die letzten Daseinszwecke, in das Leben und in die uralte Geschichte des Volkes hinabreichen. Ich will mich auf die Torheit der Beschuldigung, dass alle Juden freisinnig seien, nicht näher einlassen. Es ist genauso, als wollte einer gegen die Juden mit der Anklage hervortreten, dass sie „allesamt darnach streben, ihre Kinder in die Schule zu geben“, oder dass sie „allesamt der Trunkenheit abhold“ seien. Aber die Behauptung Eduards v. Hartmann ist an sich unrichtig. Leider kann man den Juden Derartiges, das ihnen gewiss nur zur Ehre gereichen könnte, nicht nachsagen. Die meisten reichen Juden sind nicht liberal, sondern konservativ, einige sogar vollgültige Rückschrittler, und Eduard v. Hartmann weiß wohl, dass zwei getaufte Juden, → Leo und Stahl, die Begründer der orthodoxen Partei der preußischen Konservativen waren, dass sie es gewesen sind, die dieser Partei Geist von ihrem Geiste eingehaucht, ihr die Richtung vorgezeichnet, ihr ein politisches und philosophisches System gegeben und sie auf die Grundlage gestellt haben, auf der sie sich nun seit einem halben Jahrhundert befindet. Und noch heute waltet der Geist dieser beiden Juden unter den preußischen Konservativen. Auf die gleiche Weise hat auch der getaufte Jude Disraeli die → Partei der Tories in England verjüngt und ihr neue Lebenskraft zugeführt. In Wirklichkeit betätigt sich der Jude – von einzelnen Ausnahmen abgesehen, auf die ich noch zu sprechen komme – in politischen Angelegenheiten durchaus nicht in seiner Eigenschaft als Jude. Unter den Ländern, in denen die Juden das Bürgerrecht haben, gibt es kein einziges, das seine jüdische Wahl hätte nach dem Vor-
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bilde der deutschen oder irischen Wahl in Amerika. Die Juden, die des Wahlrechtes teilhaftig sind, gehören alle zu der vorhin erwähnten zweiten Kategorie: zu der, die nicht erkannt und bemerkt werden will im Lande. Diese Leute hüten sich ängstlich, irgendetwas zu unternehmen, was geeignet sein könnte, die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Sie schließen sich nicht zusammen, sie gründen keine jüdischen Wahlkomitees, sie zeigen sich nicht beflissen, ihre Macht im Wahlkampfe geltend zu machen. Ja selbst dort, wo sie imstande wären, einen ihrer Brüder durchzubringen, ziehen sie es vor, einen Christen zu wählen, und nur dann und wann getrauen sie sich an eine der Parteien, die ihrer Hilfe bedürftig ist, mit der schüchternen, demütigen Bitte heran, einen jüdischen Kandidaten in einem Wahlkreise, wo keine Juden wohnen, aufzustellen. Das → East End von London ist der einzige Ort, wo die Juden den Mut gehabt haben, einen Juden ins Parlament zu entsenden. In einzelnen Städten Europas ist es sogar vorgekommen, dass viele Juden ihre Stimmen für bekannte Antisemiten abgaben. Durch diese zage Scheu und Mattherzigkeit wollen sie vor ihren Nachbarn dartun, wie nichtig und bedeutungslos ihnen ihr Judentum geworden ist und wie unjüdisch sie bereits fühlen. Wenn die öffentliche Meinung dem Antisemitismus geneigt ist, muss der Jude nach der → Assimilations-Theorie selbst Antisemit werden. Bei den → Wahlen, die im Jahre 1898 in Frankreich stattfanden, unterstützten viele Juden die französischen Nationalisten und Antisemiten, und der Jude Klotz rief von der Tribüne herab, er könne sich nur unter der Bedingung wählen lassen, dass alle Wähler sich gegen die → Revision des Dreyfus-Prozesses erklären. In Berlin hätten die Juden da und dort die Wahlen zu ihren Gunsten entscheiden können, fanden aber nicht den Mut, einen Kandidaten aus ihrer Mitte aufzustellen. Die → Sozialisten, die man bisher nicht zu den Antisemiten zählen kann, wählten den Juden Singer, aber unter seinen Wählern war auch nicht ein Zehntel Juden, und er wurde nicht als Jude von Juden, sondern als Sozialist, trotz seines Judentums, von christlichen Sozialisten gewählt. In → Galizien beläuft sich die Zahl der jüdischen Einwohner auf 12 Prozent der Gesamteinwohnerschaft, ihr Anteil an den Wahlen sollte also gleichfalls 12 Prozent betragen, erreicht aber nur die Höhe von 2–8 Prozent. Bloß in → Algier gibt es eine Art jüdischer Wahl; deren Ergebnisse jedoch sind höchst ungünstig. Das Decret Crémieux gewährte den Juden von Algier im Jahre 1870 die Rechte französischer Bürger, darunter auch das Wahlrecht. Allein diese Juden hatten sich die europäische Gesittung noch nicht zu eigen gemacht und waren darum nicht genügend vorbereitet, von ihrem Wahlrecht vernünftigen Gebrauch zu machen; sie folgten daher, wie eine Schafherde dem Leithammel, ihren Gemeindevorstehern, von denen sie zum Vorschub für ihre eigennützigen Zwecke missbraucht wurden. Diese trieben mit der Wahl Handel; wer mehr bezahlte, wurde kandidiert, und die jüdischen Wähler gaben ihm ihre Stimmen für 5–10 Francs. So wurden die Parteien, denen die jüdische Wahl Schaden zufügte, enragiert antisemitisch, nicht durch die Schuld der Juden, sondern durch die Schlechtigkeit der Reichen, die Stimmvieh feilboten – und das Ende der Gehässigkeiten und Reibungen wird
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voraussichtlich die Aufhebung des Decrets Crémieux sein. Bekanntlich sind die Juden daran ganz unschuldig. Schuld trifft nur die Zeitumstände. Die Juden waren zur Erlangung des Wahlrechtes nicht reif, und als sie es bekamen, fielen darüber die hochmögenden Großen her, die nur nach Herrschaft, Ehrgeiz und Gewinn geizen. Diese mästeten sich an dem fetten Bissen, und die jüdische Masse muss jetzt die Kosten tragen. Wo und wann immer auch die Juden im Besitze politischer Rechte waren, nie wussten sie sich ihrer zu ihrem Vorteil zu bedienen; im Gegenteil: Oft arbeiteten sie direkt ihren Widersachern in die Hände. Sie taten dies, weil sie hofften, durch diese Unterwürfigkeit den üblen Nachreden zu begegnen und vor aller Welt zu bekunden, dass sie nicht als Juden, sondern als Landeskinder pflichtgemäß ihr Bürgerrecht üben. Und die jüdischen Abgeordneten sind noch schlimmer als ihre Wähler und stehen ihnen an jüdischem Bewusstsein noch nach. Zu allem lassen sie sich eher bereitfinden als zur Pflege und Förderung spezifisch jüdischer Interessen. Eine Ausnahme macht nur die → Vereinigung jüdischer Parlamentarier in England, die feste Stütze der „Anglo Jewish Association“. Seit Jahr und Tag benützen diese Männer ihre Stellung im ersten Parlament der Welt und ihren Einfluss auf die Reichsregierung dazu, das Mitleid ihrer christlichen Nachbarn mit den → bedrückten Juden in Rumänien wachzurufen und die britische Regierung zu bewegen, sich der leidenden Brüder anzunehmen. Diese Männer, die Bannerträger des jüdischen Volkstums in England, sind nach angelsächsischer Methode und in den Fußstapfen ihrer christlichen Mitbürger zu Mannesmut und Selbstbewusstsein erzogen worden und sollten vorbildlich sein für ihre kleinmütigen, feigherzigen Glaubensgenossen, die auf der Stelle erbleichen, sobald ihnen der Gedanke aufsteigt, jemand könnte ihre Abstammung erraten und ihnen aus ihr einen Vorwurf machen. Viel, das versteht sich von selbst, konnten die wackeren Männer der „Anglo Jewish Association“ für ihre Brüder in Rumänien nicht tun. Für die Juden in Galizien oder in Algier konnten sie gar nichts tun, und auch für die → Juden in Persien und Marokko war ihre Tätigkeit nur von geringem Nutzen. Aber ihre Absicht war lobenswert, und wenn auch nicht der volle Erfolg, so hat doch der Strahlenkranz des Ruhmes ihr tatkräftiges, verdienstliches Streben gekrönt. In den Parlamenten anderer Länder konnte man während der letzten zwanzig Jahre niemals jüdische Abgeordnete oder Senatoren sehen, die für die Angelegenheiten der Juden ihres Landes, geschweige denn anderer Länder gewirkt hätten. Und an lebhaften eingehenden Debatten über diese Angelegenheiten hat es doch wahrlich nicht gefehlt, es war also Gelegenheit, Notwendigkeit und Anlass vorhanden, in die Bresche zu treten und für die gute Sache einzustehen. Im deutschen Reichstage und im preußischen Abgeordnetenhause haben ab und zu die christlichen Abgeordneten → Rickert, Hänel, → Traeger, Barth, nachmal auch Richter, Pachnitzky und → Dr. Lieber das Wort ergriffen zur Verteidigung der Juden, der Mund der Juden und jüdischen Täuflinge jedoch war fest verschlossen. In den Debatten über
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die Affaire in der französischen Kammer haben sich die Juden Raynal, Naquet, → Crémieux nicht ein einziges Mal vernehmen lassen. → Dem ungarischen Parlament fehlt es nicht an jüdischen Abgeordneten, diese haben jedoch selbst zur Zeit, als der Nachklang der heftigen Erregung, die die → Blutbeschuldigung in Tisza-Eszlár heraufbeschwor, im Abgeordnetenhause widerhallte, unverbrüchliches Stillschweigen bewahrt. Die gleiche Erscheinung konnte man in den letzten Jahren auch in Wien wahrnehmen, wo nicht einmal ein leiser Hauch den Lippen der jüdischen Abgeordneten entschwebt, während in österreichischen Landen die Juden mit Füßen getreten und jeder Willkür preisgegeben werden und während ihre → Kollegen Lueger, → Schneider und → Gregorig ihnen zurufen: → „Die Juden sind keine Menschen“, „Die Regierung muss Schussgeld für die Köpfe der Juden aussetzen“, „Die Juden stehen außerhalb des Gesetzes, der Menschenliebe und des Ehrbegriffes.“ Nun ist aber der jüdische Politiker nur dann unsichtbar und unhörbar, wenn es sich um jüdische Angelegenheiten handelt, sonst aber zeigt er lebhafte Neigung, in den Vordergrund zu treten und es in eifriger, anregender und spornender Teilnahme an den Diskussionen allen zuvorzutun, was ihm auch häufig gelingt. Unter den jüdischen Abgeordneten gibt es keine Bankquetscher nach dem Muster jener heiligen → Einfaltspinsel, deren es in jedem Vertretungskörper gibt und die, von dem Gefühl ihrer Würde beseligt, in blöder Teilnahmslosigkeit und Untätigkeit dasitzen und nach der Decke starren. Vielleicht weil die Juden durch besondere Begabung ausgezeichnet sein müssen, um ins Parlament zu gelangen. In Deutschland haben sie tüchtige und berühmte Redner, obgleich die liebliche, hohe Gabe der Rede den Deutschen im Allgemeinen versagt ist. Sie arbeiten fleißig und gründlich, auch wenn sie unter Völkern leben, die, wie die → Angehörigen der lateinischen Rasse, von Natur geneigt sind, alles leichthin, oberflächlich, gleichsam bloß zum Scheine zu verrichten. Sie verstehen sich vortrefflich darauf, zwischen den Parteien zu vermitteln, Frieden zu stiften, die richtige Mitte zu finden, Auseinanderstrebende zusammenzuhalten und Streitigkeiten zu schlichten, wenn die Umstände dies erfordern. Sie sind, wo sie sich auch befinden mögen, hervorragend; manche bringen es zu Anerkennung und Weltruf und Einzelne werden sogar zu Parteiführern erhoben. Es sei mir gestattet, über das Wirken einzelner berühmter Männer aus diesem Stande einiges zu sagen. Ich werde nur von denen sprechen, die in Europa bekannt sind. Die amerikanischen Persönlichkeiten kenne ich nicht genügend; bloß von → Mr. Strauss, der auf den wichtigen und schwierigen → Posten eines amerikanischen Botschafters bei der Pforte gestellt ist, weiß ich, dass er zu den tüchtigsten Parlamentariern zählt. Über Disraeli ist schon alles gesagt worden, was sich überhaupt sagen lässt. Ich will nur hinzufügen, dass sein Ruhm sich noch immer mehrt. Verhallt ist die Stimme derer, die ihn als ehrgeizigen Sonderling hinzustellen suchten. Die besonnene Kritik ist zur Erkenntnis gelangt, dass sein ausgezeichneter Verstand, den seine Gegner einst als „orientalische Phantasie“ bezeichnet hatten, fast etwas Propheti-
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sches an sich hatte und dass er bereits vor ungefähr zwanzig Jahren die ganze heutige Entwicklung der europäischen Kolonial-Politik und den Wettkampf der Mächte in den überseeischen Ländern voraussah, Dinge, die keiner außer ihm schaute und begriff. → Baron Worms wurde für die Verdienste, die er sich um seine Partei und um das Reich erwarb, in den Adelsstand erhoben. Der Name → Lord Herschells ist unvergänglich in der → Geschichte der liberalen Partei in England. → Sir Drummond Wolf kommt immer in erster Reihe in Betracht, wenn die englische Regierung angegangen wird, einen ihrer tüchtigen Räte zur Schlichtung irgendeiner verwickelten internationalen Streitfrage zu delegieren. → Sir Julian Vogel, der gewesene Premierminister von Neuseeland, hat eine ärmliche, ganz verwahrloste Kolonie zur höchsten Stufe des Wohlstandes und der Gesittung emporgehoben. Mit einer eisernen Tatkraft, die den Augenzeugen geradezu sprachloses Erstaunen abrang, ging er an sein Werk, und es gelang ihm, trotz aller Ränke und Tücken, Anleihen für die Kolonie aufzunehmen und zu tilgen. Und aus allem, was er ersann und vollbrachte, wirkte und schuf, leuchteten strahlend seine Selbstlosigkeit und sein edler Charakter hervor. Ungezählte Schätze standen ihm zur Verfügung, und Millionen gingen ohne Kontrolle und Rechnungslegung durch seine Hand; er aber starb in völliger Armut. „Sire, verneigen Sie sich!“, ruft → Don Ruy Gomez in Victor Hugos Drama „Hernani“, nachdem er solche Seelengröße geschildert hat. (Fortsetzung folgt.) Quelle: Die Welt, 11.1.1901, H. 2, S. 4–5, dort mit dem Hinweis auf Quelle und Übersetzung: Aus dem von N. Sokolow herausgegebenen hebräischen Jahrbuche (Sefer Haschanah). Übersetzt von Moriz Zobel.
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35 Israel unter den Völkern [Teil 3 von 4] (Fortsetzung.) In Deutschland nahmen die Juden an den Geschicken und Wandlungen des Reiches einen Hauptanteil. Sie gesellten sich den Arbeitern und den Führern zu und standen überall in den vordersten Reihen, obgleich ihre Lage in diesem Lande just nicht günstig war und der Hass, der in den letzten Jahren unter dem Namen Antisemitismus neu erwacht ist, damals unter anderen Bezeichnungen gegen sie wütete, zuweilen mit großer Heftigkeit, zuweilen bloß im Stillen, zu allen Zeiten aber ohne Unterlass. Johann Jacobi gab in seiner Schrift → „Vier Fragen eines Ostpreußen“, die im Jahre 1840 erschien, den ersten Anstoß zu einer neuen Bewegung, die von da ab immer weitere Kreise im Lande zog und schließlich nach Verlauf von acht Jahren zur → Gewährung der Konstitution führte. → Im ersten deutschen Parlament in der Frankfurter Paulskirche, dem Männer wie → Uhland, → Arndt, → Jahn, die hervorragendsten Dichter, Gelehrten und Staatsmänner, die das deutsche Volk im vorigen Menschenalter hervorbrachte, angehörten, führte der getaufte Jude Eduard Simson den Vorsitz, und es ist ausgemacht, dass es nach ihm keinen zweiten Präsidenten mehr gab, der ihm an Umsicht, Würde, Tatkraft und Unparteilichkeit gleichgekommen wäre. Dieselbe Nationalversammlung, die ausgezeichnetste und größte Ratsversammlung, die es in Deutschland je gegeben hat, wählte den Juden Gabriel Riesser zum zweiten Vorsitzenden, den Juden → Simon zum Mitgliede des Dreißiger-Ausschusses u. a. m. Eduard Simson, den Bismarck einen „geborenen Präsidenten“ nannte, war der Sprecher der Abordnung des → Norddeutschen Reichstags, die → im Jahre 1870 nach Versailles entsendet wurde, um den → König Wilhelm II. zur Begründung des neuen deutschen Reichs zu beglückwünschen. Eduard Lasker hatte einen großen Anteil an den Vorarbeiten zur → Verfassung des Deutschen Reichs. Bismarck, dem er im Parlament viele Dienste erwies, lohnte ihn später mit Undank. Er starb fern von der Heimat, tiefgekränkt, verlassen und arm. → Ludwig Bamberger war der Urheber der Münzreform in Deutschland und zwanzig Jahre hindurch einer der gewaltigsten Redner im Deutschen Reichstage. In Frankreich versah der Jude Guizot (1848) das Amt eines Ministers der auswärtigen Angelegenheiten zu einer Zeit, da der Stand der öffentlichen Finanzen ein sehr kritischer war, und rettete das Land vor dem drohenden → Bankerott. → Fould erwarb sich ebenfalls um Frankreichs Finanzen unter Napoleon III. große Verdienste. → Jules Simon, der Sohn eines Lothringer Juden und einer bretagnischen Mutter, war einer der fünf Verteidiger der Volksfreiheit zur Zeit des zweiten Kaiserreiches und wurde später Ministerpräsident, bis ihn → Mac-Mahon mit seiner schweren Hand am denkwürdigen Tage des → 16. Mai (1877) entfernte. Raynal schloss als Finanzminister den Vertrag zwischen der Regierung und der Eisenbahngesellschaft trotz der heftigen Opposition ab und konnte später darauf hinweisen, dass der Vertrag zugunsten Frankreichs ausgefallen war. Naquet gab Frankreich das → Ehe-
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scheidungsgesetz und war das geistige Oberhaupt der → Boulangisten. Man mag ihn wegen seiner Anteilnahme an dem boulangistischen Rummel tadeln, aber es lässt sich nicht leugnen, dass seine Rolle in dieser Bewegung eine bedeutende und folgenschwere gewesen ist. Ich möchte mich nicht in endlosen Aufzählungen ergehen und will mich nicht aufhalten bei Staatsmännern zweiten Ranges, wie z. B. → Signor Luzzatti, der das Handelsbündnis zwischen Frankreich und Italien schuf, oder → Dr. Adolf Fischhof, dem → Volkstribun der österreichischen Revolution vom Jahre 1848, der Österreich zuerst den Weg wies zu einem Völkerbunde und zur Schaffung verfassungsmäßiger Zustände. Auch ist hier nicht der Ort, darzulegen, was die Juden für die demokratische Partei geleistet haben, wer die Männer waren, die diese Partei begründet und geleitet haben, und wie groß noch jetzt auf diesem Gebiete die Tätigkeit der Juden in den westlichen Ländern ist. Gibt es auch unter diesen Juden einzelne, gegen die man vom Standpunkte der oder jener Partei Vorwürfe erheben kann, so lässt sich dennoch nicht leugnen, dass die Juden im Allgemeinen Großes geleistet haben und dass ihre Bemühungen, ihre Vorarbeiten und Kämpfe im Interesse ihrer Vaterländer und Mitbürger tiefe Spuren zurückgelassen haben. Immer wenn den Juden politische Rechte zuteilwurden, stürzten sie sich alsbald voll Tatenlust auf die parlamentarischen Arbeiten und wurden rasch zu Parteiführern, manchmal selbst zu Ministern. Das öffentliche Leben eines jeden Landes, das seine Tore den Juden öffnet, gewinnt an ihnen eine frische, tateifrige und nützliche Volksklasse. Das jüdische Volk hat keinerlei Nutzen von den Staatsmännern, die es hervorbringt und die früher oder später in einem fremden Volkstume aufgehen, ihrem Vaterland jedoch bringen sie unzählige Vorteile, denn sie sind ihm mit Leib und Seele, mit allen ihren materiellen und geistigen Gütern ergeben. Die Eigenschaften, die die Juden befähigen, sich im politischen Leben zu betätigen – ihre Redegewandtheit, ihre Beharrlichkeit, ihr Auffassungsvermögen, ihr Geschick in der Ausgleichung von Gegensätzen –, sind schon vorhin erwähnt worden. Allein von allem dem abgesehen, gibt es tiefer liegende, in der Seele des Juden schlummernde Kräfte, die seine politische Begabung begründen. Das jüdische Naturell ist eine Mischung idealistischer Schwärmerei und realistischer Klugheit und Besonnenheit – ein wunderbares Gemisch, das bei keinem anderen Volke zu finden ist. Sie haben einen feinen, regen Sinn für die praktische Durchführung einer jeden Sache, und dieser praktische Sinn lässt sie für die schwierigsten Fragen eine Lösung finden, die sie dann auch verwirklichen. Zugleich aber haben sie eine von alters her überkommene starke Einbildungskraft, eine Neigung zu Überschwang, ein intensives Empfindungsvermögen, lebhaftes Verlangen nach Vervollkommnung, nach Fortschritten, nach Neuheiten und eine Art klarer innerer Erkenntnis dessen, dass es ihre Pflicht ist, sich an allen Werken zu beteiligen, die auf eine Verbesserung des Bestehenden abzielen, und dass sie sich dieser Pflicht nicht entziehen und sie nicht
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anderen überlassen dürfen. Indessen artet dieser innere Drang bei ihnen nicht zu Streberei und Stellenjägerei oder zu hohlem Demagogentum aus. Vor einer solchen Abirrung und → Entartung schützt sie ihr idealer Sinn. Er entfacht in ihnen einen Geistesfunken, dessen Glut unverlöschlich ist innerhalb ihres Stammes. Selbst der Jude, der bis über die Ohren → assimiliert ist und dessen Mund von Beteuerungen überströmt, dass er mit seinen einstigen Volksgenossen nichts mehr zu schaffen habe, selbst er ist gegen seinen Willen ein Spross des alten Stammes, und ebenso wie er seine → Gesichtszüge samt der Nase nicht umformen kann, so kann er auch seine jüdische Gemütsart nicht ändern. Jeder, der eine feinere Empfindung und einen tieferen Blick hat, wird mit Leichtigkeit auch an diesen Leuten die Spuren des jüdischen Geistes erkennen, des idealen Strebens, gepaart mit praktischer Vernunft. Diese Geistesbeschaffenheit mag in einzelnen Fällen verzerrt oder getrübt in die Erscheinung treten, aber ganz verleugnen lässt sie sich nicht. (Schluss folgt.) Quelle: Die Welt, 18.1.1901, H. 3, S. 2–3, dort mit dem Hinweis auf Quelle und Übersetzung: Aus dem von N. Sokolow herausgegebenen hebräischen Jahrbuche (Sefer Haschanah). Übersetzt von Moriz Zobel.
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36 Israel unter den Völkern [Teil 4 von 4] (Schluss.) Noch eine Bemerkung muss ich machen, die vielen befremdlich erscheinen dürfte, weil sie den Anschauungen, die ihnen geläufig sind, widerspricht und daher → paradox klingen mag, während sie in Wahrheit eine durch viele Beweise erhärtete Tatsache betrifft. Man sagt insgemein, dass der Jude eine besondere Begabung für den Handel mitbringe; ich aber glaube, dass dies ein Irrtum sei. Die natürlichen Fähigkeiten des Juden verweisen ihn auf das staatliche Gebiet, auf die Politik. Wo immer er Gelegenheit findet, in politischen Angelegenheiten tätig zu sein, schwingt er sich zu den ersten und besten, sei es unter den Staatslenkern oder unter den Parlamentariern, empor, und es ist schade, dass die einzelnen Länder von dieser seiner Begabung keinen größeren Gebrauch machen. Der Handel ist dem Juden bloß eine unvermeidliche Notwendigkeit. Es ist wohl richtig: Die meisten Juden beschäftigen sich gegenwärtig mit dem Handel, und es gibt Länder, in denen er nahezu ganz in jüdischen Händen ist, allein es ist ja bekannt, dass die Juden sich diesem Berufe nicht aus freien Stücken zugewandt haben, sondern notgedrungen, weil er nämlich der einzige Nahrungszweig war, der ihnen freistand, und in manchen Ländern noch heute der einzige ist. Solange die Juden ein sesshaftes Volksleben führten, waren sie Ackerbauern, Schafhirten, Krieger und Priester. Ihre nächsten Nachbarn, die → Phönizier, waren tüchtige Kaufleute, sie aber ließen das Beispiel nicht auf sich wirken. Sie hassten den Handel und neideten ihn ihren Nachbarn durchaus nicht, welche zu großem Wohlstand gelangten, indem sie die Meere durchschifften. Es gibt nichts, was dem Juden sympathischer wäre als die Geschichte von der → Verjagung der Krämer aus dem Tempel, die aus dem Neuen Testament bekannt ist. Im Exil waren die Juden genötigt, sich über ihre angeborenen Neigungen hinwegzusetzen, sie gleichsam gegen andere umzutauschen. Sie standen vor dem Dilemma, Tauschhandel zu betreiben oder zu sterben, und zogen naturgemäß den Handel dem Tode vor. Ihr Geschick, sich allen Lebenslagen anzupassen, und ihre leichte Auffassung verhalfen ihnen zu manchen Erfolgen in dem Berufe, den sie gezwungen übten; wer aber behaupten wollte, dass die Juden mit dem Herzen beim Handel seien, der würde sehr fehlgehen. Zwei Tatsachen beweisen das gerade Gegenteil. Erstens kennen die Söhne der reichgewordenen jüdischen Kaufleute kein anderes Streben, als dem Beruf ihrer Väter den Rücken zu kehren, obgleich sie doch von Haus aus wissen, dass es vom Gesichtspunkte des pekuniären Erfolgs keine lohnendere Beschäftigung gibt als den Handel. Zweitens haben die Juden innerhalb der → tausend und fünfhundert Jahre, da sie bloß Handel treiben, nicht einen einzigen neuen und fruchtbaren, in dieses Gebiet einschlägigen Gedanken ersonnen, und es gibt tatsächlich keine einzige kommerzielle Reform, deren Urheber sie wären.
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Der → Pfandbrief und der Gutschein sind Erfindungen der Lombarden und Goten aus dem Mittelalter. Die → doppelte Buchführung ist von christlichen Italienern ausgegangen. Die → ersten Versicherungs-Gesellschaften sind in England gegründet worden. Weder → Gresham noch die → Lloyds waren Juden. Die Engländer und Franzosen gründeten die → Stock companies. Bei der ersten, die glückte, und bei der ersten, die misslang, hatte kein Jude die Hand im Spiele. Ich glaube, dass kein einziger jüdischer Name in den Listen der → HolländischOstindischen Kompanie, der → Hudson-Bay-Gesellschaft, der → Englisch-Ostindischen Kompanie verzeichnet ist. Die ersten Dampfschiffe, die ersten Eisenbahnen wurden von Christen hergestellt. Der Christ → Cyrus Field legte das erste unterseeische Kabel. Gegenwärtig stehen wir am Vorabend einer neuen Umwälzung in der Industrie, die ungeheure Massen von aufgespeicherten Reichtümern – die Elektrizität als Arbeitskraft – bewegt und in Fluss bringt. Die Urheber dieser Bewegung sind die Christen Siemens und Halske. → Cecil Rhodes ist kein Jude, und meines Wissens haben die Juden auch an der → Niger- und an der Borneo-Kompanie sowie an anderen fernen Kolonial-Unternehmungen nicht den geringsten Anteil. Die großen amerikanischen Eisenbahnen sind von den Christen Vanderbilt, → Villard u. a. erbaut worden. Die Schöpfer der modernen Geschäfts-Kolosse, der Warenhäuser, sind samt und sonders Nichtjuden. Ich weiß nicht, wie viele Juden es unter den „vierhundert Ausgezeichneten“ in New-York gibt, aber ich gehe kaum fehl, wenn ich annehme, dass ihre Zahl verschwindend gering ist. Man halte doch Umschau in den Schifffahrts-Gesellschaften, in den → Trusts, in den transatlantischen Handels-Gesellschaften zu London, Hamburg und Marseille, in den → Chartered Companies, ob dort Juden zu finden sind! Man wird entweder sehr wenige und bedeutungslose oder gar keine Juden zu sehen bekommen. → Herr Péreire von der „Compagnie Générale Transatlantique“ und → Mr. Bolison von der Hamburg-Amerika-SteamshipKompanie sind meiner Ansicht nach zwei Ausnahmen, indem sie als Juden eine hervorragende Stellung in den genannten Gesellschaften einnehmen. Wenn wir unter Handel die Tätigkeit eines Mannes verstehen, der Wachskerzen oder Öl in einem Kramladen feilbietet, so sind die meisten Juden freilich Handelsleute. Wenn wir aber Handel nennen den Umsatz der ruhenden Kapitalien, die sich aus dem Arbeitsertrage an einem Orte angehäuft haben, und die vernünftige Anlage dieser Kapitalien zur Durchführung großartiger Erfinder-Konzeptionen, zur Erschließung neuer Länder, zum Zusammenschlusse des Straßennetzes, zur Verbesserung der Weltwirtschaft – wenn wir das unter Handel verstehen wollen, so müssen wir uns sagen, dass der Jude hier einer der letzten in der Marschreihe, nicht aber ein Leiter und Wegweiser ist. Auch → die Rothschilds führten keinen eigenen Gedanken aus, als sie die → französische Nordbahn oder die → österreichische Kaiser Ferdinands-Nordbahn erbauten. Das gleiche gilt von → Baron Hirsch, dem Erbauer der orientalischen Eisenbahnen, und von dem unglücklichen Strausberg, der die Bahnen in Rumänien erbauen wollte. Sie alle haben andere nachgeahmt und nichts Neues geschaffen. Dieser Mangel an Schöpferkraft ist just kein Beweis für die beson-
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dere Eignung der Juden zum Handel, einem Berufe, in dem sie seit Generationen tätig sind. Besäßen sie natürliche und spezielle Anlagen zum Handel, wie ihre Feinde behaupten, und widerstrebte ihre ganze Beschäftigung mit dem Handel nicht ihrem Stammesnaturell, so würden sie ohne Zweifel im Verlaufe der → tausendfünfhundert Jahre, da sie in diesem Berufe wirken, der Welt wenigstens einige Reformatoren und Neuerer, Erfinder und Bahnbrecher geschenkt haben. Sehen wir doch, dass ihnen auf dem Gebiete der Poesie und Kunst, der Philosophie und Wissenschaft Männer erstanden sind, deren Geist Großes und Ursprüngliches hervorgebracht hat.
III. In einer Abhandlung, die für eine periodische Schrift bestimmt ist, lässt sich ein vielseitiges Thema gleich der → Judenfrage nicht erschöpfend behandeln. Ich wollte bloß über einige Seiten dieser Frage etwas Licht verbreiten und komme aus dem bisher Gesagten zu folgenden Schlüssen: Selbst die Christen, die den Juden nicht feindlich gesinnt sind, behaupten mit Vorliebe, dass die Juden ihren Vaterländern bloß durch ihre händlerischen Fähigkeiten Nutzen bringen. Doch die das sagen, beurteilen den Geist und die wahren, natürlichen Anlagen der Juden durchaus falsch. Beweis: Man bedarf der Juden im Handel gar nicht und kann sie mit Leichtigkeit ersetzen, namentlich in den westlichen Ländern. Die Juden selbst verlassen mit der Zeit allmählich dieses Berufsgebiet und wenden sich anderen Tätigkeitsfeldern zu, die ihnen mehr zusagen. Überall, wo die Juden bereits die → Gleichberechtigung mit allen anderen Staatsbürgern erlangt haben, jagt ihnen die → Erinnerung an das Ghetto noch immer Furcht ein. Noch immer fühlen sie sich in dem Besitze der Rechte, die ihnen zuteilwurden, nicht unangefochten; noch immer ahnen sie mit Schrecken einen nahen Tag, an dem ihnen ihre Rechte wieder abgenommen werden könnten. Darum glüht in ihnen das mächtige Verlangen, ihren christlichen Nachbarn zu zeigen, dass sie gute Bürger sind – und nichts mehr. Ihre Vaterlandsliebe ist heikler, empfindlicher und auch demonstrativer als der → Patriotismus der Christen, der ungekünstelt und natürlich ist. Sie verkünden laut und mit einer feierlichen Absichtlichkeit, dass sie mit den Juden anderer Länder nichts gemein haben. Selbst wenn ihr natürliches Gefühl bei dem Anblicke der Leiden ihrer Brüder rege wird, zeigen sie eine unnatürliche Gleichgültigkeit gegenüber den jüdischen Angelegenheiten, und diese Gleichgültigkeit übertrifft mitunter selbst die vieler Christen. Sie sind bemüht, ihr Judentum so unauffällig als möglich zu machen, und bereden sich immer wieder, dass die Juden kein besonderer Stamm, kein Volk für sich seien und dass sie niemals eine eigene Geschichte gehabt hätten, die von der ihrer christlichen Mitbürger verschieden wäre. Daher kommt es, dass sehr wenige konsequent genug sind, das zu tun, was die natürliche Folge dieses ganzen Systems ist, nämlich die → Taufe anzunehmen, um wenigstens den Nachkommen im vierten Geschlechte durch → Misch-
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ehen einige christliche Ahnen zu sichern. Dies hat zur Folge, dass diese → Assimilanten fortwährend nervös erregt sind; denn taufen wollen sie sich nicht, assimilieren können sie sich nicht, und der Assimilation zu entsagen, fürchten sie doch. Tatsächlich haben sie, allen ihren → Tifteleien zum Trotze, das jüdische Gefühl in sich nicht völlig erstickt, und dieses wird wieder erwachen, wenn die Gleichberechtigung erst aufhört, ihnen etwas Neues zu sein. Die Juden hingegen, die noch keine Bürgerrechte haben, und das sind vier Fünftel aller Juden, halten daran fest, dass sie ein eigenes Volk sind. Sie glauben, dass sie dem Hasse nur entrinnen können, wenn sie aufhören, eine kenntliche Minderheit inmitten der anderen Völker zu bilden. Allein sie wollen nicht darauf verzichten, kenntlich zu sein, und glauben nicht, dass es möglich und für sie und die anderen ersprießlich wäre, wenn die Juden spurlos in ihrer Umgebung aufgingen. Darum suchen sie die Lösung der Judenfrage in der Rückkehr zu dem einfachen, natürlichen Zustande, der darin besteht, dass sie in einem Lande vereinigt sind, welches sie als ihr Besitztum ansehen können und in welchem sie die Mehrheit bilden. Dort werden sie sich pflegen und entwickeln, ihren Geist bilden und in der Gesittung fortschreiten können, entsprechend der Eigenart, die ihnen verliehen ist.* Quelle: Die Welt, 25.1.1901, H. 4, S. 2–3 , dort mit dem Hinweis auf Quelle und Übersetzung: Aus dem von N. Sokolow herausgegebenen hebräischen Jahrbuche (Sefer Haschanah). Übersetzt von Moriz Zobel.
* In unserer vorigen Nummer soll es in dem Artikel „Israel unter den Völkern“ (S. 3) anstatt „In Frankreich versah der Jude Guizot…“ selbstverständlich richtig heißen: Goudchaux, was auch Herr Dr. Max Nordau in einer an uns gerichteten Zuschrift berichtigt. Ferner ersucht uns Herr Dr. Max Nordau um Aufnahme der folgenden Bemerkung: „Ich benütze diese Gelegenheit, um die für den Kundigen allerdings überflüssige Erklärung abzugeben, dass ich für die sprachliche Form des Aufsatzes jede Verantwortlichkeit ablehne. Sie ist das Ergebnis einer dritten Übersetzung aus drei verschiedenen und voneinander fernab liegenden Sprachen, und man kann sich leicht denken, wie wenig vom Original nach drei aufeinander folgenden Übersetzungen übrig bleibt, selbst wenn jeder einzelne der drei Übersetzer ausgezeichnet tüchtig ist. Hochachtungsvoll und ergebenst Dr. M. Nordau.“
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37 Grand Rabbin Zadoc Kahn und Dr. Max Nordau über die Kolonisten und Arbeiter in Palästina Vor kurzem fand in Paris eine imposante zionistische Versammlung statt, deren Bedeutung durch die Anwesenheit und die Äußerungen Max Nordaus und des → Großrabbiners von Frankreich Zadoc Kahn noch erhöht wurde. Auf der Tagesordnung dieser vom → Vereine „Dorschei Zion“ einberufenen Versammlung stand eine Diskussion über die Lage der jüdischen Arbeiter in Palästina und die → Tätigkeit der ICA. Wir sprechen an anderer Stelle über den Gegenstand und begnügen uns, im Nachfolgenden ohne weiteren Kommentar einen ausführlicheren Bericht über den Verlauf dieser Versammlung zu bringen: Den Vorsitz führte der Präsident der „Dorschei Zion“, → M. Kahn, der die Versammlung mit folgenden Worten eröffnete: „Wir haben die Ehre, in unserer Mitte den Repräsentanten des französischen Judentums zu begrüßen. Nützen wir diese Gelegenheit aus, ihm unsere Klagen vorzulegen, die wir auf das Heftigste gegen das Vorgehen der ICA in Palästina erheben.“ (Lebhafte Zustimmung.) Als Referent trat dann → Herr Rabbiner Lubetzky auf. „Wir können“, sagte er, „nicht mit Gleichgültigkeit einem Werke der Zerstörung und Vernichtung zusehen. Ich habe Gelegenheit gehabt, die Delegierten zu sehen, welche die Kolonisten und die unglücklichen Arbeiter von Palästina nach Paris entsendet haben. Die Tränen, welche sie vergossen haben, haben uns bis in die Seele gerührt, und ihre Schilderungen vom Elend und den Leiden der tapferen Arbeiter haben unser Herz zermalmt. Die Delegierten wandten sich an die ICA. Die Mitglieder der ICA aber haben sie nicht einmal empfangen wollen; ja die Hausmeister haben telefonisch den strengen Befehl erhalten, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Wir protestieren energisch gegen ein derartiges Vorgehen, und wir hoffen, dass unsere Klagen nicht umsonst sein werden. Denn wir sind sicher, dass der Grand Rabbin von Frankreich, den die ganze jüdische Welt liebt und verehrt, sich uns anschließen wird.“ (Langanhaltender Beifall.) Als zweiter Redner trat Max Nordau auf, der in einer formvollendeten und hinreißenden Rede zur Hilfeleistung für die jüdischen Arbeiter in Palästina aufforderte. Er führte ungefähr Folgendes aus: „Infolge unerhörter Leiden und maßlosen Elendes haben vor 20 Jahren jüdische Jünglinge Russland verlassen. Sie sind nach Palästina gezogen, um dort den Boden ihrer Väter zu kultivieren. Ungeheure Hindernisse stellten sich ihnen in den Weg. Hunger und Durst haben sie gequält, und vor ihren Augen haben sie die sterben sehen, die ihnen lieb und teuer waren. Nichts hat sie abgeschreckt; denn ihr Ideal war ihnen die stärkste Stütze und lieh ihnen übermenschliche Kräfte. Nachdem sie ihre Toten beweint hatten, bearbeiteten sie mit erneutem Fleiße den Boden, den sie mit ihren Tränen benetzten.
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Ein Schrei der Bewunderung entrang sich damals der Brust eines jeden Juden. Das gesamte Judentum wendete seine Blicke auf die Märtyrer, auf die Helden, denen man es zu danken hatte, dass der Wunsch verwirklicht wurde, den die jüdische Volksseele → seit 1800 Jahren hegte. Nachdem man erfahren hatte, welche Schwierigkeiten sich ihnen in den Weg legten, wollte man ihnen helfen und dem Werke, das sie unternommen hatten, eine natürliche Grundlage schaffen. Es haben sich Vereine gebildet, welche ihnen Unterstützungen sandten, Unterstützungen, die sie nie beanspruchten. Dabei zeichnete sich besonders ein Mann aus, ein Mann, den das jüdische Volk mit Recht Wohltäter nennt.* Dieser edle Mann wollte den Feinden zeigen, dass die Juden nicht allein Kaufleute und Händler, sondern auch Bauern sein können, welche imstande sind, einen unkultivierten, unfruchtbaren Boden in einen blühenden und fruchtbaren umzuwandeln. Leider hatte dieser edle Mann schlechte Ratgeber. Das Geld wurde verschwendet, und den Kolonisten sagte man: „Ihr seid Arbeiter, ihr habt Cerealien, ihr werdet vielleicht mit Mühe euer Brot verdienen, aber ihr werdet immer arm bleiben. Wir wollen eure Felder in Weingärten umwandeln. Aus euren Trauben werden wir Wein machen, und so werdet ihr leicht euer Brot verdienen und weniger Arbeit und Sorge haben. Eure Weinstöcke werden euch mehr einbringen, als ihr zum Leben nötig habt.“ Und die Umgestaltung geschah. Weingärten wurden gepflanzt. Ein großer Keller mit Dampfmaschinen und allem sonstigen Komfort wurde installiert. Die Bauern verwandelten sich in Arbeiter, und trotz der großen Kapitalien, welche das Unternehmen erforderte, hatten sie Vertrauen zu ihrem großen Protektor und lebten ohne Sorge, sicher ihrer Zukunft. Plötzlich wechselt alles. Alles wird zunichte. Das unternommene Werk steht still, die Arbeiten bleiben in der Schwebe. Gewiss hat der Baron v. Rothschild das Recht, mit seinem Gelde zu machen, was er will, und wir haben gar kein Recht, von ihm etwas zu reklamieren. Allein die armen Kolonisten können nicht so verlassen bleiben. Von zwei Dingen eines: Entweder der Herr Baron zerstört sein ganzes Werk und gibt den Kolonisten ihre spärlichen Getreidefelder zurück, welche sie einst besaßen. Oder, wenn er nicht will, dass so viele Millionen hinausgeworfen seien, so überlasse er den Kolonisten die kunstvollen Keller für ihre Weintrauben, damit sich die Kolonisten den Wein selbst fabrizieren. Empfindet er denn nicht ein Gefühl der Verantwortlichkeit gegen diejenigen, welche er in eine derartige Lage versetzt hat, aus der sie sich ohne seine Hilfe gar nicht mehr hinauswinden können? Verlieren wir unsere Zeit nicht mit Protesten gegen die ICA. Diese Herren dort machen sich lustig über die „Meinung der jüdischen Öffentlichkeit“. Rechnen wir nicht auf die anderen; rechnen wir auf uns selbst. Wenn der Baron Hirsch gar nicht existiert hätte oder wenn er einem Sohne seine Millionen hinterlassen hätte, müsste deswegen das jüdische Volk zugrunde gehen? Die Kolonisten von Palästina haben der ganzen Welt gezeigt, wessen die Juden fähig sind. Sollen wir sie zugrunde gehen lassen? Was mich anbetrifft, ich strebe für ein anderes Zion; ich bin im Prinzipe gegen eine solche Kolo* Baron Edmund v. Rothschild. (Anm. d. Red.)
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nisation. Aber in keinem Falle wollen wir, dass dieses Werk zugrunde gehe. Wenden wir uns an unser Volk, an die → „Chovevei Zion“, an die ganze Welt, an alle Juden. Um des Grand Rabbin Hilfe bitten wir als die eines Juden und sonst nichts weiter. Wir hoffen, dass wir durch unsere eigene Kraft dahin kommen werden, den Kolonisten von Palästina zu helfen, die ja nur Brot verlangen. Ob die ICA sich dabei erweichen lässt oder nicht, das kümmert uns sehr wenig. Wir haben ohne die ICA existiert.“ (Enthusiastischer Beifall.) Es erhebt sich sodann der Großrabbiner Zadok Kahn. Erwartungsvolle Stille herrscht im Saale. „Herr Dr. Nordau“, so begann er, „sagte in seiner hinreißenden Rede, dass er auf mich nur als auf einen Juden und nichts mehr rechnet. Leider ist das die vollständige Wahrheit. Ich habe keinen großen Einfluss auf die Herren der ICA, man überschätzt meine Macht. Ja, Herr Nordau hat vollständig recht, wenn er sagt, dass man auf die Wohltäter nicht rechnen darf. Wie? Wenn die ICA nichts machen will in Palästina, nichts tun will für die Arbeiter, wird das gesamte Judentum diese Angelegenheit nicht besorgen können? Kann denn der Zionismus, welcher Hunderttausende von Anhängern zählt, einigen hundert Arbeitern nicht heraushelfen? Welches ist denn seine Macht? Was tun also alle diese zionistischen Vereine, welche überall mit einer so großen Schnelligkeit entstehen? Wenn die ICA nichts tun will oder nichts tun kann, muss alles schon zugrunde gehen? Als Vertrauter des Herrn Baron v. Rothschild von der ersten Stunde an kenne ich mehr als irgendeiner die Wahrheit. Ich kann Ihnen sagen, dass er seine Tage und seine Nächte der Kolonisation Palästinas gewidmet hat. Da der Baron ein physisch schwacher Mensch ist, hat er sich eines Tages gefragt, was aus seinem Werke nach seinem Tode werden wird. Aus diesem Grunde brachte er das große Opfer – denn ein Opfer war es für ihn –, alles der ICA zu überlassen. Nachdem er sein Werk nicht im Stiche lassen wollte, entschloss er sich, eine palästinensische Kommission zu schaffen, der auch ich angehörte und aus der ich austrat, weil ich an gewissen strengen Maßregeln nicht teilnehmen wollte. Und doch kann ich Sie versichern, dass die ICA das Heil der Kolonisation werden wird; sie wird nicht das Geld verschwenden, das für das ganze jüdische Volk reserviert ist, und sie allein wird imstande sein, den → Kolonien eine solide Basis zu geben … Seien Sie ohne Furcht: Die Kolonien werden nicht zugrunde gehen; die ICA wird für sie alles tun, was sich nur tun lässt. Was aber die Arbeiter anbetrifft, so ist das schon etwas anderes. Weil es eben unmöglich ist, neuen Boden anzukaufen, und die alten Besitzungen schon bebaut sind, können nicht alle Arbeiter Arbeit finden. Die ICA hat nicht das Recht, für sie industrielle Arbeiten zu schaffen, denn sie muss das Geld für Zehntausende von Juden verwenden, welche in → Russland, Rumänien, Galizien und anderswo leiden, und nicht nur für einige hundert Arbeiter in Palästina. Die ICA schafft überall Kolonien, und wenn jemals das Ideal eines Judenstaates verwirklicht sein wird, so wird es die ICA sein, die ihm alle Elemente liefern wird, die für seine Existenz notwendig sein werden. Die ICA ist kein Wohltätigkeitsverein und übt auch keine Wohltaten.
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Diejenigen, welche ihr verpflichtet sind, sind ihre Schuldner. Viele → Kolonisten Argentiniens zahlen regelmäßig ihre Schulden ab und sind bereits im Begriffe, vollständig frei zu sein. Was die Kolonisation Palästinas betrifft, so gedulden Sie sich, die ICA wird sie schon einem guten Resultate entgegenbringen. Aber tun Sie etwas für die Arbeiter. Gehen Sie mit gutem Beispiele voran, und die ICA wird dann nicht abseits stehen können. Die Kritik hat gewiss ihr Gutes, allein sie genügt nicht. Handelt also und zeigt, was der Zionismus zu leisten imstande ist.“ Quelle: Die Welt, 15.3.1901, H. 11, S. 6–7.
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38 Eine „Geschichte der Israeliten“ Ich lese, soweit mir das möglich ist, alles, was über Juden und Judentum veröffentlicht wird. Ich tue es ohne Auswahl und ohne Ausnahme. Der Stoff hat das Recht, meine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, wer immer auch der Schriftsteller sei, der ihn behandelt. Ich übergehe weder die Schriften der Antisemiten noch auch die der → assimilatorischen Juden. Und so komme ich dazu, eine → „Geschichte der → Israeliten“ von Herrn Theodor Reinach durchzunehmen. Ich habe alle Achtung vor Herrn Theodor Reinach. Bei seinen Bestrebungen, deren er sich ohne Zweifel bewusst ist, dürfte ihn das wundernehmen. Aber es ist doch so. Er ist gelehrt und seine Gelehrsamkeit ist von der rechtschaffenen Art. Er bedient sich ihrer nicht für seine sehr eigentümlichen Ideen. Seine → Sammlung aller unser Volk betreffenden Stellen aus den alten Schriftstellern ist verdienstvoll. Seine → Studie über die jüdischen Münzen ist lehrreich. Und seine „Geschichte der Israeliten“, ein älteres, aber, wie es scheint, in der neuen Auflage → vollständig umgearbeitetes Werk hat auf mich einen der stärksten Eindrücke der letzten Jahre gemacht. Natürlich hat Herr Theodor Reinach uns keine neuen Tatsachen zu bieten. Er hat mit Geschmack eine handliche Verkleinerung des → Denkmals von Grätz hergestellt. Er hat es verstanden, ziemlich vollständig zu bleiben und dabei doch knapp zu sein. Alles in allem ist es ein kleines Meisterstück der Zusammenfassung, das Leben und die Werke, die erstaunlichen und furchtbaren Abenteuer, die Folterqualen, die Hoffnungen, die Anstrengungen und die Enttäuschungen unseres Volkes in zwanzig Jahrhunderten und dreißig Ländern auf weniger als 380 Seiten festzuhalten, ohne in die Trockenheit von Namensverzeichnissen und in die Kleinigkeitskrämerei eines stumpfen Jahrbuchschreibers zu verfallen. Denn er ist durchaus nicht trocken, dieser Herr Theodor Reinach. Er ist beredt. Er ist gefühlvoll. Seine Darstellung ist lebhaft. Zuweilen ist er sogar von einem Zuge ins Große erfasst, und manche Seite, die von der → Blutzeugenschaft unserer Vorväter erzählt, würde sich selbst bei → Michelet gut ausnehmen. Allein ein verblüffender Umstand tritt in diesem Buche hervor. Vier Fünftel davon sind dem Nachweise gewidmet, dass die Juden, oder die „Israeliten“, wie Herr Theodor Reinach mit der Feinfühligkeit eines modernen Parisers uns zu benennen vorzieht, ein Volk, eine Nation sind, ein zerstreutes Volk, eine Nation ohne Land, aber, wie er in ausgezeichneter Weise sagt, eine, „deren Mitglieder untereinander durch pietätvolle Erinnerungen, durch peinlich genau, mit eifersüchtiger Sorgfalt festgelegte religiöse Bräuche, endlich durch die Bücher, in denen dieses religiöse Vätererbe niedergelegt ist, eng verbunden sind“. Er hätte hinzufügen können: „durch gemeinsame Abstammung“. Doch das hätte ihn wahrscheinlich belästigt und er hat es daher vermieden, von den Banden des Blutes zu sprechen, die unter den Gliedern der jüdischen Familie bestehen. Denn auf die ersten vier Fünftel des Buches folgt ein letztes Fünftel, in dem Herr Theodor Reinach ebenso viel Energie entwickelt, um in Abrede zu stellen, dass die „Israeliten“ eine Nation seien, wie er
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einige Seiten vorher angewandt hat, um zu begründen, dass sie eine sind. Nein, ruft der Verfasser mit leidenschaftlicher Kraft aus, Israel ist keine Nation mehr. Es will keine mehr werden. Es ist nichts weiter als eine religiöse Gruppe, als eine Konfession. Doch wie? Israel, das ein Volk geblieben ist → nach der Zerstörung des Tempels, nach der → Vertreibung aus dem Heimatlande, nach der → Zerstreuung, nach dem Aufhören jedes Zusammenhanges zwischen den einzelnen Gruppen, die in die → verschiedensten Staaten der drei alten Kontinente versprengt wurden – Israel sollte mit einem Schlage aufgehört haben, eine Nation zu sein? Ei, Sie vergessen wohl die → französische Revolution? Dies ist das große geschichtliche Ereignis, welches die Wundertat der Umwandlung des jüdischen Volkes in eine „religiöse Gruppe“ vollbracht hat. Sie hat den Juden – Verzeihung, den Israeliten – die Menschen- und Bürgerrechte gegeben, und mit diesen kostbaren Rechten ausgestattet, haben sie sogleich aufgehört, Mitglieder der viertausendjährigen Nation zu sein, um hinfort nichts anderes vorzustellen als freiwillige → Angehörige des Zentral-Konsistoriums, einer vom französischen Gesetze geschaffenen kirchlichen Behörde. Von nun an hat der Jude ein Vaterland, er hat sogar eine große Menge von Vaterländern, unter denen er seine Auswahl treffen kann. Sein Volk? Das ist die Gesamtheit seiner Mitbürger, die einhellig → „Tod den Juden“ rufen. Seine Hoffnung? Die ist, zum → Ritter der Ehrenlegion ernannt zu werden und → seine edle Gemahlin einem Verkaufsstand in einem zu katholischen Zwecken veranstalteten → Bazar vorstehen zu sehen. Sein Schrecken? Sein Gräuel? Das Auftreten jener wahnwitzigen Verbrecher, die sich Zionisten nennen, die da behaupten, dass das jüdische Volk immer noch besteht, und die für dieses Volk seinen geschichtlichen Heimatboden in Anspruch nehmen. Ich schlage den Band zu und bin ganz verwirrt, denn ich habe einem Wunder beigewohnt, das mich völlig aus der Fassung gebracht hat. Das Wunder aber ist, dass Herr Th. Reinach dieses Buch geschrieben hat. Sie Unglückseliger! Welcher böse Geist hat sich Ihrer bemächtigt und hat Ihre Hand ohne Ihren Willen, entgegen Ihrem Willen, geführt? Ja, begreifen Sie denn nicht, dass Ihr Werk gewaltsam den schönen Lehrsatz über den Haufen wirft, den Sie mit so viel Anstrengung und so viel Liebe aufgerichtet haben? Wie? Sie wollen, dass der Geist Ihrer Leser recht durchdrungen sei von diesem Gedanken, dass es keine jüdische Nation mehr gebe, und Sie leiten Ihre Schlussrhetorik mit 400 pathetischen, unvergesslichen Seiten ein, die das jüdisch-nationale Empfinden selbst bei → Herrn Gaston Pollonnais und bei → Frau Porges wiedererwecken könnten? Begreifen Sie denn nicht, dass das beste, das einzige, das unfehlbare Mittel zur Stärkung, zur Wiederherstellung des nationalen Bewusstseins eines Volkes, das im Begriff steht, die Kenntnis seiner → ethnischen Individualität zu verlieren, eben das ist, dass man ihm seine Geschichte erzählt, ihm seine Ahnen ins Gedächtnis ruft, ihm von ihren Großtaten singt und sagt, ihm den Stolz auf seine Vergangenheit einflößt und den Genuss eines Erbes gewährt, das es verlernt hat, als das seinige von
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Rechts wegen zu betrachten? Wahrhaftig, wenn es in der Tat kein Volk mehr wäre, man müsste es durch dieses Mittel unfehlbar zu einem solchen machen. Sie lassen aus den Gräbern die tragischen Stimmen der Vorfahren hervorbrechen und können sich noch schmeicheln, dass man neben diesem Donnerhall Ihre zierliche Flöte, den Flötenton eines eleganten Assimilators vernehmen wird? Wir haben es glücklich dahin gebracht, Generationen von Juden zu haben, die von der jüdischen Geschichte gar nichts wissen wollen, deren → Verehrung für Peter den Einsiedler ohne Grenze ist, deren Begeisterung im → „Saale der Kreuzfahrer“ zu Versailles überschäumt, die die edle Gestalt Philipps des Schönen in Rührung versetzt, die im Geiste wollüstig das → mystische und fromme Mittelalter durchleben, und Sie gehen hin und predigen diesen für die gute Sache der Assimilation gewonnenen Geschlechtern, dass Peter der Einsiedler jüdisches Blut trank, dass die → Kreuzfahrer erst in den jüdischen Vierteln der europäischen Städte plünderten, schändeten, sengten und Blutbäder anrichteten, ehe sie ihre edle Haut in Asien Gefahren aussetzten, dass → Philipp der Schöne die Juden aus Frankreich vertrieb und dass das schöne Mittelalter die Zeit der jüdischen Folterqualen und Metzeleien war? Und Sie wollen, dass die derartig aufgeklärten Geschlechter fortfahren sollen, sich eins zu fühlen mit den Zuhörern Peters des Einsiedlers und mit den Kreuzfahrern, mit den Söldnern Philipps des Schönen und mit den Aufrichtern der jüdischen Scheiterhaufen? Konnten Sie nicht den Antisemiten die Sorge überlassen, die Geschichte des jüdischen Volkes zu schreiben? Ist es nicht schon empörend genug, dass man diese verruchten Zionisten nicht hindern kann, in verschollenen Chroniken zu kramen und die so glücklich weggebannten Geister der Ahnen heraufzubeschwören? Und nun kommen Sie, der Assimilierte, Sie, der Assimilant, dessen Name den „israelitischen“ Leser in Sicherheit wiegt, nun kommen Sie, das fruchtbare Werk unserer Rabbiner und Konsistorialmitglieder zu vernichten, deren Nachkommen heutigentags ausgezeichnete Katholiken und Antisemiten sind? Sie sollten die schon vorhandenen jüdischen Geschichtsbücher den Flammen überliefern, und Sie vergessen sich so weit, ihre Zahl zu vergrößern? Sollten Sie am Ende gar ein Verräter sein? Nein, Herr Th. Reinach ist kein Verräter. Er ist nicht verantwortlich für das, was er tut. Das → Unbewusste in ihm hat über das Bewusste den Sieg davongetragen. Es wiederholt sich da, nach einem → Zeitraum von 4200 Jahren, → die wunderbare Geschichte von Bileam, der ausgezogen war, zu fluchen, und der gezwungen wurde, zu segnen, seinem → Herrn und Meister Balak und sich selbst zum Trotz. Herr Theodor Reinach will die jüdische Nation vernichten. Er will die Juden überreden, dass sie als solche nicht mehr existieren. Um ihnen das zu beweisen, erzählt er ihnen ihre Geschichte nach seiner Art. Allein während er schreibt, ergreift ihn der Stoff allmählich, beherrscht ihn, reißt ihn fort; er vergisst, was er beweisen wollte, vergisst, weswegen er die Feder ergriffen, vergisst, dass er fluchen wollte, und er segnet, segnet, segnet bis zur Atemlosigkeit. Das macht: Es glomm noch in ihm, in einer verborgenen Ecke seiner Seele, ein kleines vergessenes Fünkchen ererbten jüdi-
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schen Empfindens, verdeckt von einer so dicken Schicht assimilatorischer Asche, dass er dessen Existenz gar nicht argwöhnte. Als er nun die Pforten der Vergangenheit leichtfertig öffnete, wurde er von einem heftigen Hauch erfasst. Die Asche stob auseinander, das Fünkchen erglühte wieder, flammte auf und setzte das jämmerlich zerbrechliche Gesparre seines assimilatorischen → Sophismus in Brand. Viel zu spät kam er zur Erkenntnis seiner Unvorsichtigkeit und machte komisch-verzweifelte Anstrengungen, die großartige Glut mit den lächerlich kleinen Wasserstrählchen seiner assimilatorischen Beteuerungen zu dämpfen. Dieser arme Herr Th. Reinach bietet das lehrreichste Beispiel für den Seelenzustand des westlichen Juden, der noch nicht den Mut gefunden hat, den großen Sprung zu tun, mit dem Judentum endgültig zu brechen, sich selbst treu zu bleiben. Ein Riss geht durch sein ganzes Wesen. Seine Vernunft möchte ihm beweisen, dass er nichts mehr vom jüdischen Volkstum an sich habe und dass er nichts anderes sei als ein freier, nichtchristlicher Gallier; dem Gefühle nach ist er jedoch noch gar tief Jude, sich selbst zum Trotz. Seine Vernunft gibt ihm die letzten 70 Seiten seines Buches ein, aber sein Gefühl ist es, das ihn antreibt, sich mit der Geschichte des jüdischen Volkes zu beschäftigen, während doch die von → Mithridates seiner Ambition Genüge leisten könnte. So ist er denn der → Typus jenes bedauernswerten „Nebachs“, des → „perplexus“, der sich von zwei entgegengesetzten Neigungen grausam hin- und hergezaust fühlt und die Qualen eines Gevierteilten erleidet. Nein, nein, Herr Th. Reinach: Wenn man die Assimilation will, muss man nicht die nationalen Erinnerungen wachrufen. Schreiben Sie keine jüdischen Geschichtsbücher, folgen Sie mir. Trachten Sie, Vergessenheit zu schaffen. Lassen Sie → unsere bewundernswerten Raouls und Gastons vergessen, dass sie die → Kinder Abrahams und Moses sind. Können Sie aber der → atavistischen Leidenschaft, die Geschichte unseres und Ihres Volkes zu erzählen, nicht widerstehen, so nennen Sie Ihr Buch → „Geschichte der Hebräer“, der „Ivrim“ oder der „Judäer“; suchen Sie, machen Sie irgendeinen altertümlichen, wenig bekannten Namen ausfindig, von dem die → gegenwärtigen „Youpins“ nicht argwöhnen sollen, dass die Geschichte dieser Barbaren mit dem spießigen Namen die ihrer eigenen Väter ist, der Väter der israelitischen Franzosen. → Lethe! Lethe! Das ist das einzige Heilmittel gegen die Krankheit der Rückerinnerung, dieser unversiegbaren Quelle der jüdisch-nationalen Empfindung … Quelle: ZS1, S. 353–359, dort mit Verweisen auf Quelle und Übersetzung: Echo Sioniste. August 1901. Aus dem Französischen. Ferner in: Die Welt, 16.8.1901, H. 33, S. 1–3.
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39 Der Zionismus der westlichen Juden Es ist klar, dass der Zionismus dem Juden des Westens nicht dasselbe bedeuten kann wie dem des Ostens. Wir waren für diese Tatsache niemals blind. Wir haben sie seit unserem ersten Hinaustreten in die Öffentlichkeit immer nachdrücklich betont. Aber nicht alle von uns haben sie sich immer gegenwärtig gehalten. Daher gewisse Irrtümer in der Propaganda, die notwendig Verstimmungen, Empörungen, Enttäuschungen, Entmutigungen verursachen müssen. Für unsere Brüder im Osten bedeutet der Zionismus einfach alles, das ganze Leben, das individuelle wie das nationale, das materielle wie das moralische. Er ist die Wiedereinsetzung in die Menschenwürde und die Erlösung aus der Sklaverei. Er ist das tägliche Brot und die Mannesehre. Er ist der Schlüssel zur Bildung und die Brücke zur großen Heerstraße des Fortschrittes. Für die Juden in → Russland, Rumänien, Galizien, wohl auch Persien, stellt sich die Frage einfach so: „Wollt ihr verhungern? Wollt ihr in Schmutz und Elend verkommen? Wollt ihr schlechter behandelt sein als das liebe Vieh? Wollt ihr tiefer verachtet sein als die Insassen der Zuchthäuser? Gut, so bleibt, was ihr seid, versinkt immer tiefer in euren Sumpf, regt euch nicht, strebt nicht, macht keine Anstrengung. Wollt ihr dagegen aus eurer Not befreit sein? Wollt ihr Menschen- und Bürgerrechte erlangen? Wollt ihr in dieselben wirtschaftlichen, staatlichen und sittlichen Bedingungen versetzt werden, unter denen alle anderen gesitteten Völker ihren notwendigen → Kampf ums Dasein ausfechten? Dann schließt euch dem Zionismus an, stärkt ihn durch euren Anschluss, steigert ihn zu einer politischen und wirtschaftlichen Macht, mit der man rechnen muss. Ihr werdet das Ziel gewiss nicht augenblicklich erreichen, aber schon die bloße Hoffnung und die tätige Vorbereitung eurer künftigen Geschicke wird euer Gegenwartselend augenblicklich erleichtern.“ Zu den Juden des Westens kann man offenbar nicht so sprechen. Sie fühlen sich tief unbehaglich, aber sie wollen sich über die Ursachen ihres Unbehagens nicht klar werden. Der Antisemitismus vergällt ihnen zurzeit das Leben ein wenig, aber sie trösten sich damit, dass er eine rasch vorübergehende Erscheinung sei. In allen Ländern des Westens entstehen dem Judentum wohlwollende Berater, die ihm ein unfehlbares Heilmittel gegen die böse Zeitkrankheit des Antisemitismus empfehlen. In Deutschland schlägt der → biedere Benedictus Levita den Juden vor, ihre Kinder taufen zu lassen, wenn den Erwachsenen diese Behandlungsmethode für sie selbst unbequem sein sollte. In Frankreich rät der gelehrte → S. Reinach in einer jüdischen Gemeindezeitung, die vom → Konsistorium unterstützt wird, den Juden, Schweinefleisch zu essen, das erheblich billiger sei als das Fleisch der rituell geschlachteten Wiederkäuer. Auf diese Weise würden sie den Wettbewerb der christlichen Arbeiter unter günstigeren Bedingungen ertragen können, sie würden sich aus ihrer gegenwärtigen Armut zu Wohlstand hinaufarbeiten, wohlhabende Juden aber hätten unter dem Antisemitismus nicht zu leiden. Das weiß der Verfasser dieser tiefsinnigen Belehrung, ein zwanzigfacher Millionär, nämlich aus eigener Erfahrung. In England
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predigen → Simon und Claude Montague eine fortschrittliche Entwicklung des jüdischen Glaubens zu einem reinen → Theismus und → Ethismus, der ihn notwendig zur Weltreligion aller Gebildeten und Aufgeklärten machen müsse, wodurch jeder Gegensatz, jeder Unterschied zwischen Juden und Christen von selbst verschwinden würde, und in Amerika schicken die → Reformrabbiner sich an, dieses kluge Programm auszuführen. In Italien endlich wird die Sache unter Verzicht auf alles Theoretisieren praktisch angefasst. Dort gilt die → Mischehe für die richtige und erfreuliche Lösung der → Judenfrage und in den sogenannten „guten“ Familien ist es geradezu zu einem Grundsatze geworden, die Kinder nur mit Christen zu verheiraten. Alle diese Heilmittel, obwohl voneinander verschieden und mehr oder weniger anspruchsvoll, haben das eine miteinander gemein, dass sie die Auflösung des Judentums anstreben. Was kann der Zionismus solchen Juden bieten, die ihr Judentum mindestens als eine Last, häufig als eine Schmach empfinden und an ihre Eltern und Ahnen nur denken, um sich über sie zu ärgern, weil sie nicht so vernünftig waren, sich vor dreißig oder dreihundert Jahren taufen zu lassen, um ihnen durch diese liebevolle Fürsorge die antisemitischen Dornen vom Lebenspfad zu entfernen? Die Wechselrede zwischen dem Zionismus und ihnen nimmt ungefähr diesen Verlauf: „Der Zionismus ist das einzige Mittel, um das Judentum zu erhalten.“ „Das ist es ja gerade, was wir ihm vorwerfen. Wir wollen nicht, dass das Judentum erhalten werde, wir wollen, dass es verschwinde.“ „Der Zionismus verbürgt dem jüdischen Volke eine nationale Zukunft und Würde.“ „Unsinn. Es gibt kein jüdisches Volk, nur eine jüdische Religion, und aus dieser machen wir uns nichts. Wir ärgern uns genug über unsere jüdische Vergangenheit und Gegenwart, und nun sollen wir auch noch eine jüdische Zukunft haben? Wir danken! Nationale Würde? Soll der Handel mit alten Hosen ein idealer Lebensinhalt werden, das → Mauscheln die → Vornehmheit des Garde-Schnarrens erlangen, → Plattfuß und krumme Nase der Inbegriff männlicher Schönheit sein? An eine solche Umwertung der Werte glauben wir nicht und wünschen sie auch gar nicht. Andere nationale Züge als die erwähnten kennen wir aber am Judentum nicht, wenigstens haben uns die → Witzblätter, → Tingeltangel-Lieder, → Vorstadtpossen und → Dresdener Bilderbogen, aus denen wir unsere Kenntnis des Judentums schöpfen, von keinen anderen gesprochen.“ „Der Zionismus macht aus den jüdischen → Heloten Vollmenschen und Vollbürger.“ „Das sind wir gesetzlich schon jetzt und wir werden es auch gesellschaftlich sein, sobald wir erst unser Judentum so vollständig abgestreift oder so geschickt verheimlicht haben werden, dass selbst die Antisemiten es an uns nicht erschnüffeln können.“
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„Der Zionismus gibt dem → jüdischen Proletariat, dem elendesten und unglücklichsten aller Proletariate, die gesunde Unterlage, auf der es seine Arbeitskraft erfolgreich betätigen kann.“ „Was ist das für → Kauderwelsch? Bei uns gibt es kein jüdisches Proletariat. Es geht uns ganz gut, und wer arbeiten will, der wird jedenfalls in Deutschland, Frankreich usw. viel leichter Seide spinnen als in den Wüsteneien von Palästina oder anderen schönen Gegenden hinten, weit, in der Türkei, wo die Völker aufeinander schlagen.“ Es ist unnötig, dieses Zwiegespräch fortzusetzen. Es dreht sich im Kreise und kommt nicht weiter, kann nicht weiterkommen. Der Zionismus ist Vernunftsache in dem Maße, in dem es etwa die → Euklid'sche dreidimensionale Geometrie ist. Auch diese hat → Postulate, die nicht bewiesen werden können. Der Zionismus hat gleichfalls ein Postulat, das dem vernünftigen Beweis unerreichbar ist, weil es in der Gefühlssphäre waltet. Die Voraussetzung des Zionismus ist jüdisches Fühlen, Stolz auf die Geschichte des jüdischen Volkes, der Wunsch geschichtlicher Weiterentwicklung des altehrwürdigen Stammes. Wo diese Voraussetzung fehlt, da ist der Zionismus nicht zu verteidigen und nicht zu begreifen. Er muss sinnlos und unannehmbar scheinen. Hieraus ergibt sich die Methode, nach der allein unter → assimilierten Juden für den zionistischen Gedanken geworben werden kann. Es hilft nichts, mit den reifen Juden zu argumentieren, die vollständig verlernt haben, jüdisch zu fühlen, und in einer gefesteten → asemitischen oder sogar antisemitischen Weltanschauung leben. Es ist Zeit- und Kraftvergeudung, wenn wir diese Elemente mit vernünftigen Beweisgründen überzeugen und bekehren wollen. Worauf es ankommt, das ist, jüdisches Gefühl zu schaffen. Denn auch Gefühle werden geschaffen. Sie sind eine Wirkung der Erziehung, früher Einflüsse auf den Geist, aber ganz besonders des Beispiels. Durch diese Kräfte macht man aus dem → Judenkinde Mortara einen tiefgläubigen, mit jüdischer Sentimentalität christlich fühlenden katholischen Priester und aus den Söhnen eingewanderter polnischer → Ghettojuden kraushaarige Germanen, die finden, dass „dem Antisemitismus ein gewisser Kern von Wahrheit nicht abzusprechen ist.“ Mit diesen Kräften kann man aus den Abkömmlingen assimilierter, dem Judentum völlig entfremdeter Stammflüchter wieder gute Juden machen, und zwar leicht genug, denn selbst in der vermorschtesten Judenseele gibt es immer noch einige → Geviertzentimeter festen Grundes, wo man ansetzen kann, um mit dem umherliegenden überbuschten, halb verwitterten Getrümmer alter Erinnerungen einen Neubau jüdischen Denkens und Fühlens zu errichten. Es gilt also, auf die Jugend, womöglich schon auf die Kindheit einzuwirken. Dass dies leicht ist, behaupte ich nicht. Wir haben die Widerstände der Eltern, die Einflüsse der Familie und der Schule gegen uns. Auf Gymnasien ist in Deutschland die Vereinsbildung nicht gestattet und auf der Hochschule kommt die Einwirkung der jüdischen → Studentenverbindungen häufig schon zu spät. Dennoch findet Eifer und Begeisterung für die große Sache, zähe Ausdauer und einige → Anschlägigkeit
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immer Mittel und Wege, um rechtzeitig in die → jüdische Familien-Zitadelle einzudringen, auf deren Ringmauer man gegen uns scharfen Auslug hält. Hier haben jüdische Kunst und schönwissenschaftliches Schrifttum eine große Rolle zu spielen. Hochstehende jüdische Romane, Dramen und Gedichte, Gemälde und Skulpturen tun für die Entfachung jüdischen Gefühls in jungen Seelen mehr als jede uns noch so überzeugend scheinende systematisch verstandesmäßige Belehrung. Diese tritt immer erst in ihr Recht, wenn jüdische Strebungen und Sehnsuchten im Gefühl bereits vorbestehen. Leider fehlt es uns an diesen Mitteln der Erziehung jüdischer Seelen noch sehr. Denn was vor vielen Menschenaltern geschaffen wurde, das hat für allermodernste Empfangende keinen lebendigen Wert, und in den letzten zwei oder drei Geschlechtsaltern haben alle unsere Talente das Judentum verlassen und aus allen Kräften an der Entjudung ihrer Stammgenossen gearbeitet. Ein → Lilien und → Nossig in der Kunst, ein → Grünau und → Zlocisti in der Lyrik, ein → Viola, eine → Rosa Pomeranz, ein → Robert Jaffé im Roman, bedeuten vortreffliche und verheißungsvolle Anfänge, auf deren Entwicklung unter dem Einflusse des neuen zionistischen Lebens wir hoffen dürfen. Das Wichtigste bleibt aber das Beispiel. Wir wirken erzieherisch schon dadurch, dass wir sind. Nichts überbietet die propagandistische Kraft der Erscheinung, dass ernste, einwandfreie, gebildete Männer, deren Lebensführung jeder Verleumdung trotzt und jeden Spott zuschanden macht, für das zionistische Ideal leben und arbeiten, ohne sich durch Gleichgültigkeit entmutigen, durch Hohn beirren, durch Feindeswut aufregen zu lassen. Eine Gruppe von Männern, die diese Anforderungen erfüllt, setzt sich durch, und wäre sie anfangs noch so klein. Sie muss nur dauern. Die ersten Erfolge lassen vielleicht lange auf sich warten. Treten sie aber einmal ein, dann wachsen sie nach der Formel der Schneeball-Unternehmungen. Der Zionismus kann auf den Westen nicht verzichten, obgleich dessen Juden dem Judentum völlig verloren scheinen. Das Heer der Zionisten rekrutiert sich naturgemäß im Osten. Aber ein großer Teil seines Offizierskorps muss ihm aus dem Westen kommen. Denn Offiziere können ihm nur aus solchen jüdischen Volkselementen erwachsen, die sich in Freiheit entwickelt, zu Wohlstand erhoben und aus allen Quellen moderner Bildung getrunken haben. Solche Elemente sind aber in einiger Häufigkeit eben nur in den Ländern der Gleichberechtigung zu finden. Ich lasse mir es nicht nehmen, sogar einen Vorteil für unsere Bewegung, wenigstens in ihren Anfängen, darin zu sehen, dass das westliche Judentum sich im Ganzen äußerst spröde und teilweise schroff feindlich gegen uns verhält. Wir sind auf diese Weise sicher, dass die wenigen Zionisten, die aus diesen Kreisen zu uns stoßen, das Ergebnis einer strengen Auslese sind. Die Zionisten des Westens sind weder Ghetto-Streber noch Reklame-Tiger, weder kleine Profitmacher noch Spekulanten, weder eitle Mitläufer noch Nachschwätzer, wie sie es dort sein können, wo der Zionismus bereits Volks- und Mehrheitssache geworden ist; sie sind reine Idealisten, unerschrockene Minderheitsmenschen und Kraftnaturen vom härtesten nationalen Korn. Es sind Überlebende in einem scharfen sittlichen Daseinskampfe, in
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dem die Schwächeren national untergegangen sind. Es sind Individualitäten, deren verborgener, ererbter Rassen- und Volksunterbau ausnahmsweise festgefügt ist. So aber müssen die Männer beschaffen sein, die die zionistische Menge des Ostens auf ihren Wegen und in ihren Kämpfen führen sollen. Wer etwa aus diesen Ausführungen herausgelesen hätte, dass ich die westliche Judenheit bereits als abgefallen betrachte, der würde mich nicht richtig verstanden haben. Gewiss ist sie auf dem Wege zum Abfall, und dieser wird endgültig werden, wenn keine nationale Erneuung die Abgeirrten wieder ihrem Stamme zuführt. → Die Vita nuova des Zionismus kann sie aber dem Judentum retten. Sie wird sie bestimmt dem Judentum retten, wenn sie erst zur Verwirklichung gelangt. Denn seien wir gerecht: Wir dürfen vom durchschnittlichen Menschen, also auch vom durchschnittlichen Juden, weder Heldentum noch eine reiche visionäre Phantasie verlangen. Beide sind Ausnahmegaben. Der gewöhnliche Jude kann sich heute in den Ländern, wo er wenigstens leidliche Sicherheit der Person und des Eigentums hat, gar nichts anderes vorstellen als seine gegenwärtigen Verhältnisse. Das Gesetz definiert ihn als deutschen Staatsbürger. Er hat ein Vaterland. Er hat ein Volk. Er hat eine Sprache. Er hat eine Kultur. Dass das alles nicht sein ist, das hält er für eine verleumderische Erfindung, den, der es ihm sagt, für seinen Todfeind. Er leidet unter dem Antisemitismus, aber er kämpft wider ihn an nach dem Naturgesetze des geringsten Kraftaufwandes. Im Westen aber erfordert die Anpassung, die Assimilation, sicher einen geringeren Kraftaufwand als die Betonung der nationalen Eigenart, die Absonderung, die nationale Organisierung und als Äußerstes die Auswanderung. Lasst aber nur erst eine → öffentlich-rechtlich gesicherte jüdische Heimstätte entstanden sein, lasst erst wieder jüdische Hunderttausende, und nun gar Millionen, auf eigenem Boden national leben und gedeihen, und dasselbe Gesetz des geringsten Kraftaufwandes wird aus den → meisten heutigen Assimilationszeloten Bekenner des jüdischen Nationalismus, ja → Zionssiedler machen. Die Assimilanten werden staunen, wie leicht sie angesichts eines Beginnes jüdischer Nationalexistenz auf sicherem Grunde ihr jüdisches Herz wiederentdecken werden. Ich sage dies nicht ironisch, sondern warm, in der Vorfreude des Wiederfindens verlorener Brüder. Quelle: ZS1, S. 311–319, dort mit Verweis auf die Quelle: Israelitische Rundschau. Berlin, 1901. Ferner in: Die Welt, 30.8.1901, H. 35, S. 3–5.
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40 Das → Heine-Denkmal. Rede, gehalten auf dem Montmartre-Friedhofe am 24. November 1901 „Wo wird einst des Wandermüden letzte Ruhestätte sein? Unter Palmen in dem Süden? Unter Linden an dem Rhein?“ Diese sehnsuchtsbange Frage, die der Künstler in den Marmor von Heines Denkmal eingegraben hat, ist längst beantwortet. Nicht unter rauschenden Linden, nicht unter nickenden Palmen, unter den ernsten Kirchhofbäumen von Montmartre ruht der große Dichter, in dieser Pariser Erde, wo alle Keime üppiger sprießen, alle Gärungen heftiger einsetzen und stürmischer verlaufen. Heine hat aus freier Wahl die → besten Jahre seines Lebens in Paris verbracht, weil die Luft der Heimat für sein starkes Atembedürfnis zu seiner Zeit nicht sauerstoffreich genug war. Er ist hier genügend heimisch geworden, um es nicht als Schicksalshärte zu empfinden, dass ein französischer Boden seine Gebeine aufnehmen werde, wir brauchen ihn deshalb nicht zu beklagen, dass er den ewigen Schlaf in einer Fremde schläft, die gegen ihn gütig und liebevoll gewesen ist, wie eine Pflegemutter. Heine hat sich in seinen Werken selbst ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Gleichwohl wollte die Bewunderung der Nachgeborenen, in erster Reihe der → freisinnigen Deutsch-Österreicher, ihm auch noch dieses Marmordenkmal errichten, nicht so sehr, um ihn zu ehren, als um sich selbst von einer drückenden Dankesschuld zu entlasten und um ihre Gesinnungen vor aller Welt monumental zu bezeigen. Diese schöne Bewegung erweckte Widerstände von seltsamer Heftigkeit. Um den Dichter tobte ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode der Kampf grimmiger als zur Zeit, da er, ein Lebender, äußerst Lebender, mitten im heißesten Schlachtgewühl stand und gewaltige Streiche versetzte und erhielt. Ich kenne keine schmeichelhaftere Form des Fortlebens nach dem Tode. Heine könnte heute von sich sagen: → „Ich werde begeifert und beschimpft, folglich bin ich.“ Increpor, vituperor, ergo sum. → Sieben Städte rühmten sich einst, die Wiege Homers gehegt zu haben. Sieben Städte können sich heute rühmen, Heines Grabdenkmal nicht gewollt zu haben. So wird einst, in Jahrhunderten oder Jahrtausenden, die Legende des deutschen Dichters die parodistische Umkehrung der Legende des hellenischen Dichters scheinen, und man wird den Eindruck haben: Heines Lebensgeschichte schließt mit einem echt Heine'schen Witze. Doch wozu noch länger bei einem Zwischenfalle verweilen, der für den Wert wie für den Ruhm des Dichters gleich unerheblich ist. Heine hat in der Unsterblichkeit einen Platz, den ihm nichts und niemand mehr streitig machen kann. Man verweigere ihm nur immer eine → Geviert-Elle Erde für einen Denkmalsockel! Er lagert sich breit hin im Denken eines jeden Gesittungsmenschen, und der Platz, den er da einnimmt, ist mit der schönste im Geistesleben. Man weise ihn nur immer aus der
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deutschen Gemeinschaft hinaus! Die Felsenufer des Rheins werden nie mehr aufhören, vom → Sange der Loreley widerzutönen, und deutsche Jünglinge, deutsche Jungfrauen werden den Wonnen und Qualen ihrer ersten Liebe immer nur noch in den Worten Heines Ausdruck verleihen. Man schimpfe ihn nur immer → vaterlandslos! Heine hat für sein Vaterland Großes, Ewiges getan, was noch nachwirken wird, wenn die Werke von Fürsten, Heerführern, selbst Gelehrten längst erstorben, zerfallen, vergessen sein werden. Was er dem deutschen Volke selbst geworden ist, darauf habe ich eben hingewiesen. Aber auch nach außen sind seine Verdienste außerordentlich. Er ist der lyrische Botschafter Deutschlands bei den fremden Völkern. Wenn heute unzählige Ausländer die deutsche Sprache als eine klassische anerkennen, deren Beherrschung ein Teil des humanistischen Wissens der Gebildeten ausmacht, so gebührt neben Goethe das Hauptverdienst daran Heine. Er ist einer von denen, die fortwährend ungezählte Millionen Geister auf dem ganzen Erdenrund mit Bewunderung und Ehrfurcht vor dem deutschen Schrifttum und mittelbar vor Deutschland selbst erfüllen. Er ist einer von denen, die das deutsche Wort geadelt haben. Es hilft seinen verbissenen Leugnern nichts, dass sie seinen Einfluss bekämpfen, ja sogar bestreiten wollen, dass er überhaupt einen solchen ausübt. Heine hat der deutschen Lyrik seine Eigenart aufgeprägt. Sie wird seine Züge unverwischbar bewahren. Er hat die deutsche Lyrik seine Mundart sprechen gelehrt. Umso schlimmer für seine Widersacher, wenn sie diese Mundart mit einem von spezifischem Hasse eingegebenen Schmähworte bezeichnen. Die deutsche Dichtung hat sich für immer den Heine'schen Accent angeeignet. Lyrische Gedichte sind in der Regel kein Ausfuhrartikel. Gleich gewissen köstlichen Tropenfrüchten, die das Reisen nicht vertragen und deshalb an Ort und Stelle genossen werden müssen, wollen lyrische Gedichte in der Ursprache empfunden und gewürdigt werden. Die Übersetzung nimmt ihnen ungefähr alles, was ihren Reiz ausmacht: den duftigen Flaum, den besonderen Wohlgeschmack, den feinen Erdgeruch. Der fremde Leser hört die Obertöne nicht, die in der Seele des Einheimischen mitklingen, wenn er ein schönes Gedicht in seiner Muttersprache liest. Übersetzte oder fremdsprachige Gedichte lösen in der Seele des Lesers die tausend Ideen-Assoziationen nicht aus, die im Geiste des Einheimischen bei jedem ahnungsschweren Worte aufblitzen und ihm ein echtkörniges Gedicht in der Muttersprache zu einem Stücke der eigenen Kindheit und Jugend, zu einem Stücke des eigenen Lebens machen. Heine verfällt diesem allgemeinen Gesetze nicht. Vielleicht Heine allein in der ganzen Weltdichtung. Er behauptet sich auch in der Übersetzung. Sein Zauber wirkt auch auf den fremden Leser, wenn nicht voll, wie auf den deutschen, doch mächtig genug, dass ihm eine dunkle Vorstellung von der Größe des Dichters aufgeht, dass in ihm etwas wie eine leise → Mignon-Sehnsucht nach dem unmittelbaren Verständnisse der Urfassung wie nach einem fernen Wunderlande erwacht. Männer, von denen niemand wird behaupten wollen, dass sie der Schönheit verschlossen waren, → Barbey d'Aurevilly, → Imbriani, konnten angesichts des Aller-
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größten, des übersetzten Goethe, enttäuscht fragen; „Ist das alles?“ Angesichts des übersetzten Heine hat noch niemand ausgerufen: „Was ist daran so Großes?“ Das hat zwei Gründe. Einmal hat Heine in allen gesitteten Ländern die stärksten lyrischen Talente derartig begeistert, dass sie es für eine würdige Aufgabe betrachteten, ihr bestes dichterisches Können in den Dienst der Übertragung des großen deutschen Dichters zu stellen. So kommt es, dass es ungefähr in allen gebildeten Sprachen Heine-Übersetzungen gibt, die sich wie vorzügliche Originale lesen und beinahe an die Schönheit des Urtextes heranreichen. Zweitens aber ist die Schönheit der Heine'schen Lyrik keine bloße Formschönheit. Sie ist in ihrem innersten Wesen begründet, in der Qualität und Quantität der Empfindung, die sich in den Versen veräußerlicht. Sie erobert sich unser Gemüt auch ohne die Regimentsmusik-Begleitung von Rhythmus und Reim. Sie wird überall verstanden, denn sie ist eine der Stimmen der Natur selbst, wie Quellrieseln, Waldrauschen und Windbrausen. Und noch ein Anderes, Besonderes tritt hinzu, um Heine zu einem der ersten unter den Weltdichtern zu machen: seine Doppelnatur. Was der größte Erzähler aller Zeiten, → Cervantes, in zwei wunderbaren Vollmenschen gestaltet hat, das vereinigte Heine in sich allein. Er ist zugleich → Don Quixote und Sancho Panza. Er synthetisiert in sich den schwärmerischen, visionären Idealismus und den grotesknüchternen Realismus. Verblüffendes, fast unheimliches Rätsel: Er geht in seinen Schmerzen und Wonnen restlos auf und steht doch so vollständig über ihnen, dass er über die Gesten seiner eigenen Leidenschaft lächeln kann wie nur irgendein Zuschauer, der nichts von ihr empfindet. Freilich lächelt er nicht immer, er lacht auch manchmal schrill auf. Nur in seinen gesegnetsten Stunden hat er mild überlegenes Mitleid mit der leidenden Kreatur in ihm, und dann erhebt er sich zu den Höhen des göttlichen Humors. Weit öfter übt er grausam marternde Selbstverspottung, und dann sinkt er in die Abgrundtiefe teuflischer Ironie. Doch ob er gottähnlich oder teuflisch sei, in beiden Fällen spüren wir in ihm etwas von der Essenz der Ewigkeit. Und deshalb gleicht Heine nicht wie so viele, auch große Dichter jenen Majestäten, denen die Landesverfassung verbietet, die Grenzen ihres Reiches zu überschreiten. Er bewahrt seine Königswürde auch in der Fremde. Er reist nicht inkognito, sondern mit seinen Regalien. Wenn dies noch eines Beweises bedürfte, so würde ihn die heutige Enthüllungsfeier des Grabdenkmales erbringen, das dem deutschen Dichter ein Däne, der treffliche Bildhauer Hasselriis, geschaffen, das Deutsch-Österreicher, begeistert für Schönheit und Geistesfreiheit, gestiftet, das Franzosen mit vornehmer Gastlichkeit in ihre Hut übernommen haben, eine Welthuldigung für den Weltdichter. Meine Zuhörer! Wir stehen hier auf Menschheitshöhen. Dieses Dichtergrab ist ein Gipfel. In den Tälern wogen die Nebel, in den Tiefen lagert die Nacht, und aus der Finsternis hallt wüstes Getöse herauf. Hier oben ist es hell von den Strahlen der Sonne, die noch unter dem Horizonte liegt. Sie wird aufgehen, sie wird steigen, bis
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der große Mittag erreicht ist. Dann wird das Licht auch über den Niederungen glänzen. Quelle: Ost und West, Dezember 1901, H. 12, Sp. 907–912, dort mit dem Hinweis: „Mit Genehmigung des Autors. (Nach der → Neuen Freien Presse, Wien.)“.
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41 → V. Kongressrede Geehrte Versammlung!
I. → „Wissen macht stark.“ Ist das immer wahr? Ich fürchte, es macht manchmal auch schwach, denn es entmutigt. Wer weiß, ob unsere Vorfahren mit der zähen Treue, die ihren unvergänglichen Ruhm in der Geschichte ausmacht, an ihrem Glauben und ihrer Volksüberlieferung festgehalten hätten, wenn sie die Lage ihres Volkes vollkommen hätten übersehen können. Sie hatten aber, ich muss sagen: zum Glück, keine weiten Ausblicke. Hinter sich sahen sie eine große Vergangenheit, die sie tröstete und aufrichtete, um sich sahen sie nur einen ganz kleinen Teil des jüdischen Elends, das sie nicht allzu sehr erschreckte, vor sich sahen sie eine glänzende Zukunft der Verheißung, die ihnen die Kraft der Zuversicht einflößte. Hätten sie sich über den Zustand des ganzen jüdischen Volkes Rechenschaft gegeben, ihr Vertrauen in die Zukunft hätte vielleicht vor ihrer positiven Kenntnis der Gegenwart nicht standgehalten, und mit der Hoffnung auf schließlichen, wenn auch zeitfernen Sieg hätten sie auch die Bereitwilligkeit zur Fortsetzung des aussichtslos scheinenden Kampfes verloren. Wir können uns leider nicht mehr in die wohltätige Unwissenheit unserer Ahnen einspinnen. Wir haben es unternommen, das jüdische Volk für neue Geschicke vorzubereiten, wir müssen deshalb vor allen Dingen eine genaue Anschauung von den wirklichen Verhältnissen unseres Volkes gewinnen, auf die Gefahr hin, dass die Wahrheiten, die wir erfahren, uns bis zur Lähmung erschrecken. Eine strenge statistische Durchforschung des jüdischen Volkes ist eine allererste Notwendigkeit für die zionistische Bewegung. Erst sie wird dieser Bewegung eine feste Grundlage geben und sie aus der Sphäre des Gefühls in die der nüchtern-praktischen Ausbauarbeit herüberleiten. Die Heuchler und Schwätzer, die von der „Mission des Judentums unter den Völkern“ faseln, brauchen sich um jüdische Statistik nicht zu kümmern. Sie wissen vom Judentum genug, wenn sie wissen, wie viel Gehalt sie beziehen und wie viel reiche Leute sie noch in ihrer Gemeinde haben. Wir müssen mehr wissen. Wir müssen zuverlässig erfahren, wie das Volksmaterial beschaffen ist, womit wir zu arbeiten haben werden. Wir brauchen eine genaue → anthropologische, biologische, ökonomische und intellektuelle Statistik des jüdischen Volkes. Wir müssen zahlenmäßige Antworten auf die Fragen haben: Wie ist das jüdische Volk körperlich beschaffen? Wie groß ist es durchschnittlich? Welches sind seine → anatomischen Eigentümlichkeiten? Welches ist seine Erkrankungsziffer? Welches seine Sterblichkeit? Wie viele Krankheitstage hat der Jude jährlich im Durchschnitt? Welches ist seine Lebensdauer? An welchen Krankheiten stirbt er? Welches ist seine → Eheschließungsziffer? Welches seine Kinderzahl? Wie viel Ver-
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brecher, → Irrsinnige, Taubstumme, Krüppel, Blinde, → Epileptiker zählt das jüdische Volk? Hat es seine eigentümliche Kriminalität, und welcher Art ist sie? Wie viel Juden sind Stadt-, wie viel Landbewohner? Welchen Beschäftigungen geht das jüdische Volk nach? Wie arbeitet, was besitzt es? Was isst und trinkt es? Wie wohnt es? Wie kleidet es sich? Wie viel gibt es von seinem Einkommen für Ernährung, Bekleidung, Wohnung, geistige Bedürfnisse aus? All das muss man wissen, wenn man ein Volk wirklich kennen will. Solange man es nicht weiß, ist alles, was man für das Volk tun will, ein Tappen im Dunkeln, ist alles, was man über dieses Volk sagt, bestenfalls Lyrik, schlimmstenfalls leeres Geschwätz. Gewiss, es gibt selbst unter den reichsten und gesittetsten Völkern noch nicht viele, die über sich selbst → in der ideal vollständigen Weise Bescheid wissen, wie ich es für das jüdische Volk wünsche. Aber die Völker, die in normaler Weise auf ihrer Scholle sitzen und sich leben lassen können, ohne sich über theoretische Voraussetzungen und Folgen ihres Daseins Gedanken machen zu müssen, können der hellsten statistischen Beleuchtung eher entraten als wir, die von Grund auf einen neuen Volksbau errichten sollen. Uralte Gebäude, die schon Jahrhunderten oder Jahrtausenden getrotzt haben, bestehen → empirisch weiter, ob man ihren Grundund Aufriss und die Beschaffenheit ihres Baustoffs kennt oder nicht. Will man aber ein neues Haus aufführen, so sind die Ausarbeitung eines Planes und die Prüfung der Festigkeit des zu verwendenden Baumaterials unerlässlich. Zur Erfüllung dieser Forderung ist bisher noch so gut wie nichts geschehen. Ein Vorwurf ist dafür gerechterweise niemand zu machen. Selbst in vollkommen ausgerüsteten Staaten, die Geld, fachkundige Statistiker und eine kräftige, überall Gehorsam findende Verwaltung haben, ist die Durchführung einer auf der Höhe der Wissenschaft stehenden allseitigen Statistik ein überaus langwieriges, schwieriges und kostspieliges Werk. Uns stehen solche Forschungswerkzeuge nicht zur Verfügung. Wir sind auf guten Willen, auf freiwillige Anstrengungen und leider großenteils auf Dilettantismus angewiesen. Unsere nichtamtliche Arbeit würde mehr Geld kosten als die amtliche der Staatsgewalt und wir haben unvergleichlich weniger Geld als sie. Dass → jüdische Millionäre für die Erforschung des jüdischen Volkes Opfer bringen würden, darauf haben wir nicht zu rechnen. Die besten unter ihnen, in denen noch das jüdische Gefühl am regsten ist, interessieren sich allenfalls für die jüdische Vergangenheit und stiften günstigstenfalls Museen jüdischer Altertümer und jüdischer Kunst, aber bis zur wissenschaftlichen Erfassung der lebendigen Gegenwart des jüdischen Volkes reicht ihr Interesse nicht. So außerordentlich schwierig die Aufgabe ist, das Volksleben in allen seinen materiellen und moralischen Anblicken statistisch festzulegen, der Zionismus wird sich ihr gleichwohl nicht entziehen dürfen. In Deutschland ist uns einigermaßen vorgearbeitet worden und wir können bei der → Reichsstatistik hospitieren, um an ihren Methoden zu lernen, und den die Juden betreffenden Teil ihrer Arbeiten, so unvollständig er auch noch ist, mit Dank benutzen. England, Frankreich, Nordamerika, Italien, Belgien, Holland, die skandinavischen Länder, die Schweiz haben eine
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sehr entwickelte Statistik, diese macht jedoch keinen Unterschied zwischen den jüdischen Staatsbürgern und den anderen, sie bietet uns also nichts für unsere Zwecke. In Österreich-Ungarn, Rumänien und namentlich Russland wird dieser Unterschied gemacht, aber da ist die amtliche Statistik wenig vollständig und wir erfahren aus ihr nicht entfernt alles, was uns über die Verhältnisse des jüdischen Bevölkerungsteils zu wissen nottut. Es stehen uns aus diesen Ländern, den wichtigsten für das jüdische Volk, nur einige Arbeiten individueller, nicht verantwortlicher Schriftsteller zur Verfügung, die nur ganz kleine Teile des zu bearbeitenden Gebietes umfassen und von denen wir nicht einmal wissen, ob und wie weit sie genau und zuverlässig sind. In diesem wichtigsten Punkte, der positiven Kenntnis unseres Volkes und seiner wirklichen Verhältnisse, sind wir also schlecht oder gar nicht vorbereitet. Wir sollten mit unanfechtbaren, eisernen Zahlen wirtschaften und wir haben nur allgemeine, verschwommene Empfindungen. Wir fordern von den wenigen Spezialforschern der Materie Auskünfte und erhalten Stimmungen. Wir sehen uns nach → Demographie um und entdecken Literatur und Kunst. Ich leide hart unter diesem Mangel an erschöpfenden Vorarbeiten. Denn er macht es auch mir unmöglich, Ihnen etwas anderes zu bieten als rein subjektive Eindrücke, wie man sie aus dem täglichen Leben, aus dem Gespräche mit Menschen aller Klassen, aus Büchern jeder Herkunft gewinnt, wenn man nicht in der Lage ist, die Fülle der Tatsachen durch geduldige Zählung scharf und nüchtern zu bestimmen.
II. Soll ich nun diese Eindrücke zusammenfassen, so muss ich sagen, dass das jüdische Volk in seiner Gesamtheit das unvergleichlich ärmste unter allen Völkern der Erde ist. Ich stelle diese Behauptung ohne Bedingung und Einschränkung hin. Es gibt kein Volk auf Erden, das absolut weniger besitzt als wir, oder auch nur so wenig wie wir. Selbst die tiefststehenden Wilden sind absolut reicher als wir. Die → Eskimos haben das Recht und den Raum und den Stoff, ihre Schneehütten zu bauen, wie und wo sie wollen, und Robben zu jagen, wo sie können. Selbst die → Feuerländer dürfen ihre Feuer anzünden und fischen, wo es ihnen beliebt. Das jüdische Volk allein hat nicht das Recht, seine Kräfte uneingeschränkt zu gebrauchen, um seine ursprünglichsten Leibesbedürfnisse zu befriedigen. Und während es wirtschaftlich schlechter gestellt ist als die ärmsten Wilden, hat es doch alle Bedürfnisse gesitteter Menschen, vermehrt um einige kostspielige Bedürfnisse religiöser Natur, die der nichtjüdische Kulturmensch nicht kennt, und so ist es relativ noch weit ärmer als der ärmste Stamm von Wilden, hinter dem es auch schon an absolutem Besitze zurücksteht. Wer ein menschlich fühlendes Herz hat, dem muss es sich zusammenkrampfen, wenn er die wirtschaftliche Lage des jüdischen Volkes in seiner Gesamtheit betrachtet. Speziell im Osten, wo die Hauptmasse unserer Brüder siedelt,
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ist das jüdische Volk ein Volk von Berufslosen. Wir haben im letzten Menschenalter verzweifelte Anstrengungen gesehen, hierin eine Änderung, eine Besserung herbeizuführen. Wir haben jetzt zahlreiche jüdische Handwerker und Tagelöhner, aber der wirtschaftliche Typus, der im Osten noch immer am häufigsten vorkommt, ist der des → Luftmenschen, jener spezifisch jüdischen Erscheinung von erwachsenen, leidlich gesunden Menschen, die jeden Morgen beim Erwachen auf einen fabelhaften Glücksfall rechnen, um sich durch den Tag durchzufristen, und die es des Abends gläubig oder abergläubisch als ein Wunder anstaunen, wenn sie tagsüber für sich und die ihrigen einen Bissen Brot gefunden haben. Ich muss darauf bestehen, den Luftmenschen einen spezifisch jüdischen Typus zu nennen. Die englische Großstadt kennt den → Loafer, den Müßiggänger, der sich an den Straßenecken und um die Wirtshaustüren herumdrückt und auf einen Zufall wartet, um zu einem rechtschaffenen oder unehrlichen → Penny zu gelangen. Neapel kannte einst den → Lazzarone, der ein wenig fischte, ein wenig bettelte, ein wenig stahl und viel faulenzte. Aber von diesen zweifelhaften Gestalten, die am Rande des normalen Wirtschaftslebens zwischen Berufsbettlertum und Verbrechen umherschwanken, unterscheidet sich der jüdische Luftmensch dadurch, dass er durchaus ehrlich, arbeitsfähig und arbeitswillig ist, jedoch künstlich von jeder einigermaßen ergiebigen Arbeit ausgeschlossen wird. Viele Luftmenschen geben zusammen ein → Luftvolk. In der Tat, das jüdische Volk ist ein Luftvolk. Buchstäblich, denn es hat keinen Fußbreit eigenen Bodens und hängt vollständig in der Luft, bildlich, denn es hat keinen festen wirtschaftlichen Boden unter seinen Füßen und lebt, wie der einzelne Luftmensch, Tag für Tag von Wundern und fabelhaften Zufällen, nicht von einem regelrechten, sicheren Erwerb.
III. Man nennt uns Juden ein Volk von Handelsleuten. Wir scheinen dies auch bei oberflächlicher Betrachtung zu sein. Wir sind es aber wirklich nicht. An dem wirtschaftlich berechtigten, weil notwendigen Großhandel, der brauchbare Güter dort einkauft, wo sie im Überfluss vorhanden sind, und sie dorthin schafft, wo sie fehlen und gewünscht werden, hat unser Volk einen sehr kleinen Anteil. Es treibt hauptsächlich überflüssigen Kleinhandel. Es gibt Judenstädte und -städtchen, wo jeder Jude seinem Nachbar etwas feilbietet, der ihm diesen Liebesdienst vergilt. Das läuft praktisch darauf hinaus, dass jeder Laden einen einzigen Kunden hat: seinen Besitzer. Auch wo die Verhältnisse ein ganz klein wenig günstiger liegen, da sind sie noch immer überaus schwierig und unsicher. Denn der jüdische Handelsmann beginnt in der Regel sein Geschäft ohne Vermögen. Er arbeitet mit Kredit, den man ihm gewährt, weil man seine Grundehrlichkeit, seine Rührigkeit, seinen Fleiß, seine Genügsamkeit kennt. Bei den im Wirtschaftsleben periodisch eintretenden Krisen
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wird dieser Kredit ihm eingeschränkt oder entzogen, und dann bricht er jäh zusammen und ist nach oft vieljähriger harter Arbeit nicht nur so arm, wie er bei seinen Anfängen gewesen, sondern überdies noch mit einem Makel an seiner kaufmännischen Ehre behaftet. Die kaufmännische Unfallstatistik lehrt die verhältnismäßige Häufigkeit der Zahlungseinstellungen und Ausgleiche bei den jüdischen Handelsleuten. Unsere Feinde führen dies als Beweis jüdischer Unehrlichkeit im Geschäfte an. Unsere Verteidiger machen geltend, dass Juden in der Konkursstatistik nur darum einen breiten Platz einnehmen, weil sie auch im kaufmännischen Berufe stärker vertreten sind als andere Volkselemente, und dass sie übrigens ihren Gläubigern eine höhere Dividende bezahlen als → die nichtjüdischen Kridatare. Sie sollten aber vor allem darauf hinweisen, dass die Juden ohne Kapital Handel treiben und darum gegen Kreditentziehung unvergleichlich empfindlicher sind als nichtjüdische Kaufleute, die in der Regel mit einigen Mitteln ausgestattet sind, wenn sie ein selbstständiges Geschäft begründen.
IV. Unsere Handwerker leiden an einem anderen Grundübel. Sie bleiben in ihrem Gewerbe nicht nur hinter den höheren, sondern selbst hinter den durchschnittlichen Leistungen ihrer nichtjüdischen Berufsgenossen zurück. Die Schuld daran trägt weder mangelnde Befähigung noch ungenügender Arbeitseifer, sondern eine erschreckend unvollkommene fachliche Ausbildung. Wie soll unter den gegebenen Verhältnissen ein Jude ein tüchtiger Handwerker werden? Er hat keine eigene industrielle Tradition. → Im Ghetto wurden nur die ursprünglichsten und einfachsten Handwerke getrieben. Das bessere Handwerk war in Zünfte gegliedert und die Zünfte ließen keinen Juden zu. Selbst als die Gewerbefreiheit gegeben wurde, waren christliche Meister kaum dazu zu bestimmen, jüdische Lehrlinge aufzunehmen. Wo sollte der Jude etwas Tüchtiges lernen? Wo sollte er Anschluss finden an die technischen Überlieferungen, die der Niederschlag von zwei Jahrtausenden der Geschicklichkeit, des Fleißes, der Arbeitsliebe, des Berufsstolzes der Handwerkerklasse aller gesitteten Völker sind? Der jüdische Handwerker, soweit seine Arbeit nicht eine solche ist, die man eigentlich gar nicht zu lernen braucht, ist ein Autodidakt, und ein solcher muss beinahe ein Genie auf seinem Sondergebiete sein, um im Wettbewerb vom regelrecht geschulten Fachmann nicht spielend geschlagen zu werden. Dass die Juden hervorragende Goldschmiede und Juweliere, ausnahmsweise auch Kunstschlosser und Präzisionsmechaniker sind, das grenzt ans Wunderbare, denn sie haben es aus sich heraus, so gut wie ohne Anleitung werden müssen. Die wenigen Fächer, in denen Juden eine gehörige Ausbildung erlangen, werden von ihnen sofort monopolisiert. Ich erinnere nur an die Diamantschleiferei. Da kommt neben ihnen einfach niemand auf. Die ungeheure Mehrheit der jüdischen Handwerker aber versumpft in der Schneiderei, Schusterei und Mützenmacherei, die keine Körperkraft
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und keine besondere Handgeschicklichkeit erfordern, und auch in diesen Handwerken bleibt sie bei der Anfertigung der gewöhnlichsten und darum am schlechtesten bezahlten Ware, die keine Geistesanstrengung, keine Erfindung, keinen persönlichen Geschmack, kurz nichts von jenen höheren Hirntätigkeiten voraussetzt, die durch tüchtige Schulung, das Beispiel des Meisters und ausgezeichnete Vorbilder angeregt und entwickelt werden.
V. Am schwärzesten ist das Bild, das der Jude in den freien Berufen bietet. In jedem Volke der Welt ist die Einsicht verbreitet, dass zum Studium vor allem Geld gehört und es deshalb ein Privilegium der Besitzenden ist. Ausnahmsweise wird auch einmal ein armer Junge dazu zugelassen, wenn er durch hervorragende Begabung bei maßgebenden Personen die Überzeugung erweckt, dass er zu höherer Geistesbildung ungewöhnlich berechtigt sei. Für diesen Ausnahmefall gibt es Stipendien, teils aus Privatstiftungen, teils aus öffentlichen Mitteln, so dass der vermögenslose Student während seines Studiums von Sorge und Ablenkung frei ist und leben und arbeiten kann, wie wenn er von Haus aus die unerlässliche materielle Vorbedingung des höheren Studiums erfüllte, wie wenn er Vermögen besäße. Im jüdischen Volke allein herrscht der Wahn, dass man studieren könne, ohne Geld zu haben. Bei uns allein beobachtet man die unheimliche Erscheinung eines tollen Andranges zur Mittel- und Hochschule bei einer Jugend, die sich einbildet, sie könne mit dem Kopf arbeiten, ohne den Magen zu füllen und ohne ihre Blöße zu bedecken, sie könne Wissen erwerben, ohne dafür den regelrechten Preis an Geld und Zeit zu bezahlen. Wir haben den traurigen Vorzug, wie den Typus des Luftmenschen, so den → Typus des Bettelstudenten hervorgebracht zu haben. Ganz ausnahmsweise kommt dieser Typus ja auch bei anderen Völkern vor, bei den vorgeschrittenen allerdings weit seltener als bei den zurückgebliebenen, aber im Ganzen ist der Bettelstudent doch eine spezifisch jüdische Erscheinung. Wie das Studium des Bettelstudenten beschaffen sein kann, das ist nicht schwer zu erraten. Die allgemeinen Staats-, Gemeinde- und Körperschaftsstipendien fallen ihm kaum jemals zu. Die Zahl der jüdischen Gemeinde- und Privatstiftungen zur Unterstützung der Studierenden ist sehr gering, und man übertreibt nicht, wenn man annimmt, dass im Durchschnitt auf ein Stipendium fünfzig Bewerber kommen. Der Bettelstudent sucht während der Studienzeit zu erwerben. Er jagt in wilder Gier Unterrichtsstunden nach, die ihm erbärmlich bezahlt werden und ihn im Alter seiner schönsten Charakter- und Geistesbildsamkeit nicht nur seine Zeit und Kraft kosten, sondern ihm auch den Stolz knicken, das Selbstgefühl und die Würde nehmen. Wer nicht unterrichtet, der stümpert im Journalismus und in der Literatur, der übersetzt, kopiert, verrichtet vielleicht noch niedrigere Arbeit. Das Studium, das doch die Hauptsache sein sollte, sinkt zur Nebenbeschäftigung hinab. Der Bettelstudent
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hat dafür nur einige verlorene Augenblicke übrig und bringt dazu statt der erforderlichen Sammlung und Frische einen müden, zerstreuten, von tausend gemeinen Sorgen erfüllten Geist mit. Das Examen wird unter diesen Umständen für ihn zu einem erschreckenden Wagnis, an das er mit bebendem Herzen herantritt. Er weiß, dass er nicht vorbereitet ist, er weiß, dass er keine Berechtigung hat, aber wie der Luftmensch auf ein tägliches Wunder für seine Ernährung, so hofft der Bettelstudent auf ein Wunder für seine Prüfung, und wenn er sie besteht, so sagt ihm sein Gewissen häufig, dass er unverdientes Glück gehabt hat. Während der Studienzeit ist er schlecht genährt, schlecht gekleidet, schlecht mit Arbeitsmitteln versehen, ohne Schwung, ohne Geistesfreiheit, ohne jenen Hauch von Vornehmheit, den die Wissenschaft sonst um ihre Jünger verbreitet. Die glücklicheren Kommilitonen, die für die Tragik seiner hohlen Wangen und seines fadenscheinigen Rockes keine Empfindung haben, verachten den Bettelstudenten. Die Lehrer empfinden tiefe Abneigung gegen den Schüler, den sie für unfähig und faul halten, obschon er doch einen übermenschlichen Fleiß entfaltet, freilich nach einer anderen als der von ihnen mit Recht geforderten Richtung, und sie gelangen zu einem verallgemeinernden Antisemitismus, vor dem selbst ein so freier Geist wie → Billroth sich nicht zu hüten vermochte. Während des Studiums ist der Bettelstudent ein Proletarier, im Examen ist er ein Glücksspieler, mit dem Diplom in der Tasche wird er erst recht wieder zum Luftmenschen. So entsteht bei uns das grauenhafte → Paradoxon, dass das Studium, das bei jedem anderen Volke den Zugang zu höherer gesellschaftlicher Stellung öffnet, bei uns nicht erhöht, sondern womöglich noch erniedrigt. Der arme Jude, der sich zu einem gelehrten Berufe erhebt, hört nicht auf, Proletarier zu sein, sondern proletarisiert jeden gelehrten Beruf, in den er einigermaßen zahlreich eindringt. Er ist selbst minderwertig und seine Armut zwingt ihn, seine Leistung niedrig zu bewerten. Dass es sich auch hier nicht um einen Mangel an Fähigkeit, an Ernst, an Pflichtgefühl, sondern nur um einen Mangel an Betriebskapital handelt, beweist die winzige Minderheit jener jüdischen Studenten, die aus dem wohlhabenden Mittelstande hervorgehen und während der Studienzeit wirklich studieren können, statt für sich und sogar für ihre Familie erwerben zu müssen. Aus diesen wenigen gut gestellten Studierenden gehen die Geisteslichter erster Größe unverhältnismäßig zahlreich hervor. Man führt es oft als Beweis des starken Bildungsdranges der Juden an, dass sie in der Mittel- und Hochschule prozentual ungleich stärker vertreten sind als in der Bevölkerung. Ich glaube, dass man uns da ausnahmsweise einmal schmeichelt. Die Juden studieren so zahlreich nicht aus Bildungsdrang, sondern aus Verzweiflung. Der Gedankengang, auf dem der arme und ärmste Jude zum Entschlusse des Studierens gelangt, reizt in seiner drollig einleuchtenden Absurdität zugleich zum Lachen und zum Weinen. Er hat zum allerbescheidensten Berufe die Mittel ebenso wenig wie zum anspruchsvollsten. Warum soll er da nicht den anspruchsvollsten wählen? Es fehlt ihm dazu nicht mehr als zum allerbescheidensten, sondern nur ebenso viel, nämlich alles. Das jüdische Bettelstudium ist ein toll-verwegenes Spiel um hohen
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Gewinn mit lächerlich geringem Einsatze. Das Ausreißen nach vorne ist eine berühmte Eigentümlichkeit des preußischen Soldaten. Der Bildungsdrang des Juden ist ein Ausreißen nach oben. Mancher Jude, der es fabelhaft weit gebracht hat, würde, wenn er in die Tiefen seiner äußersten Beweggründe hinableuchten wollte, bekennen müssen: „Da ich nicht Tagelöhner werden konnte, so blieb mir nichts übrig, als Minister zu werden.“
VI. Das ist die wirtschaftliche Verfassung des jüdischen Volkes in seiner Gesamtheit. Wir sind ein Volk von Luftmenschen und Bildungsproletariern. Wir leben von Zufällen und Wundern. Wir haben keine Reserve für morgen und kein Kapital für heute. Unsere Tagelöhner können nicht den besten Arbeitsmarkt aufsuchen. Unsere Handelsleute hängen zitternd an einem brüchigen Faden von Kredit. Unsere Handwerker sind auf Autodidaktik angewiesen und müssen jeder für sich Amerika entdecken und das Pulver wieder erfinden. Unsere studierten Leute sind Leute, die zum Studieren keine Zeit gehabt haben. Und wie wir kein Betriebskapital haben, so haben wir auch keine Kundschaft. Jedes Volk bildet unter normalen Verhältnissen einen selbstständigen Wirtschaftsorganismus, der sich ursprünglich, und zur Not auch noch später, selbst genügt. Es tauscht den Überschuss seiner Produktion mit anderen Völkern aus, nicht um zu leben, sondern um besser zu leben, nicht um seine elementarsten, sondern um seine höher entwickelten Bedürfnisse zu befriedigen. Nur das jüdische Volk bildet keinen geschlossenen Wirtschaftskörper, denn es fehlt ihm dazu die unentbehrliche Unterlage: der Boden. Es hat keine Erzeuger von Nahrungsmitteln und Rohstoffen in seiner Mitte. Der jüdische Erzeuger wirtschaftlicher Werte kann sich also nicht auf seine erste, natürliche Kundschaft, seine Volksgenossen beschränken. Ein bloß innerer Kreislauf der Werte würde unfruchtbar bleiben, ein bloß gegenseitiger Austausch der erzeugten Güter niemand ernähren. Der jüdische Erzeuger ist auf nichtjüdische Kundschaft angewiesen. Er muss an den Nichtjuden verkaufen, denn er kann nur beim Nichtjuden sein Brot und seinen Rohstoff einkaufen. Der Nichtjude wird aber nur mit Widerstreben sein Kunde. Er wird es nur, wenn der Jude ihm Vorteile bietet, die er beim nichtjüdischen Werteproduzenten nicht findet. Um den marktgängigen Preis für seine Leistung jeder Art von nichtjüdischen Kunden zu erlangen, muss der Jude eine Leistung von höherem als dem marktgängigen Werte bieten. Um seine Leistung von marktgängigem Werte bei nichtjüdischen Kunden anzubringen, muss der Jude sie unter dem marktgängigen Preise anbieten. Bei gleicher Leistung erhält der Jude schlechtere Preise, bei gleichem Preise muss der Jude mehr und Besseres leisten. Der Jude hat, auf nichtjüdische Kundschaft angewiesen, nur die Wahl zwischen Boykott oder Preisschleuderei. Das ist das Verhältnis, das ich an anderer Stelle die Ausbeutung des Juden durch die Völker, in deren Mitte er lebt, genannt habe. Wer für einen anderen arbeitet,
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ohne den dem Werte seiner Arbeit entsprechenden Lohn zu erhalten, und wem es nicht freisteht, seine Arbeit in einem günstigeren Markte zu verwerten, dessen Arbeit nennt die Volkswirtschaft unfreie Arbeit, Sklavenarbeit. Wir sind die Sklaven der Völker, für die wir zu arbeiten gezwungen sind, weil wir uns nicht selbst genügen können, und wir werden nur unter der Bedingung geduldet, dass wir die tief unter ihrem Werte entlohnte Sklavenarbeit willig verrichten. Denn beobachten Sie, wie nicht nur unsere Feinde, sondern selbst die, die sich in gutem Glauben für unsere Freunde halten, von uns sprechen. Es ist fortwährend von unseren Diensten, unserer Nützlichkeit die Rede. Die Feinde sagen: Wir leisten keine Dienste, wir sind dem Gemeinwesen nicht nützlich. Die Freunde beteuern: Wir leisten Dienste, wir sind nützlich. Die Gleichgültigen fragen: Welche Dienste leisten die Juden? Welchen Nutzen bringen sie uns? Niemand aber scheint zu bemerken, wie unerhört, wie ungeheuerlich dieser Standpunkt, diese Fragestellung ist. Von welchem anderen Volke der Erde hat man sich jemals erdreistet, zu fragen: Wozu dient es? Wo hat man je gehört, dass ein Volk zu etwas dienen muss? Ein Volk ist Selbstzweck. Es lebt sich, nicht anderen zu Gefallen. Es darf natürlich keinem anderen schaden, weil es sonst Abwehr hervorruft, die es vernichten kann. Aber es braucht niemand zu nützen. Es braucht sein Dasein und seine Daseinsberechtigung nicht dadurch zu erkaufen, dass es anderen Dienste leistet. Nur von uns findet man es selbstverständlich, dass wir unser Recht aufs Dasein durch anderen geleistete Dienste erweisen müssen. Nur wir haben nicht das Recht, für uns selbst zu leben. Nur wir sind die natürlichen Hausknechte aller Völker, die der Dienstherr wegjagen kann, wenn er sie nicht mehr nötig zu haben glaubt, die aber selbst ihrem Dienstherrn nicht kündigen können, weil es für sie keine Wahl der Dienststelle gibt. Erst wir Zionisten suchen wenigstens die Kündigung in dieses schmachvolle Dienstverhältnis einzuführen. Denn der Zionismus ist tatsächlich die Kündigung des jüdischen Hausknechts an diejenigen Dienstherren, die ihn allzu nichtswürdig missbrauchen. Fürst Bismarck sagte einmal gesprächsweise, er wünsche dem deutschen Volk eine größere Anzahl → Talermillionäre, denn ihr Reichtum würde der Kultur und ganzen Lebenshaltung des deutschen Volkes zugutekommen. Was Fürst Bismarck vom deutschen Volke sagte, das ist von allen Völkern richtig. Die Millionäre eines Volkes sind für das ganze Volk von Wert und Nutzen, und wenn sie noch so wenig Gemeinsinn besitzen. Sie können gar nicht anders, als die Bildung des Volkes erhöhen, seine Kunst fördern, seine wirtschaftliche Kraft stärken. „Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten.“ Nur bei unserem armen Volk ist alles so anormal, dass es in seiner Gesamtheit, als Volk, nicht das Geringste dabei gewinnt, wenn einzelne seiner Söhne Millionäre werden, meinethalben sogar nicht Taler-, sondern Pfundmillionäre. Die bekannten Ausnahmen, die angeblich die Regel bestärken, zugegeben, können wir im Allgemeinen sagen, dass jeder Jude, der Millionär wird, ein dem Juden-
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tum verlorener Jude ist. Wird ein Jude ausnahmsweise reich, so ist das natürlich gut für ihn, wahrscheinlich auch gut für sein Land, aber für das jüdische Volk bedeutet es keine Stärkung, sondern eine Schwächung. Denn der jüdische Millionär hält es für seine erste Pflicht, ein schönes Beispiel von Vorurteilslosigkeit, Unparteilichkeit, Toleranz zu geben, und das tut er unabänderlich in der Weise, dass er tolerant für christliche Kirchen Baugelder beisteuert, dass er öffentliche Krankenhäuser stiftet, aus denen mit strenger Unparteilichkeit jüdische Kranke, jüdische Pfleger und jüdische Ärzte ausgeschlossen sind, und dass er vorurteilslos für jüdische Zwecke jeden Pfennig verweigert, dagegen alles, was er an Gemeinsinn oder auch nur an Reklamebedürfnis besitzen mag, solchen Landeseinrichtungen zuwendet, an denen den Juden infolge des herrschenden Antisemitismus in der Regel kein Anteil gegönnt ist. Und selbst wenn ein jüdischer Millionär einmal so parteiisch, so vorurteilsvoll, so intolerant ist, dass er auch für seine jüdischen Brüder etwas tun will, so tut er es unfehlbar so, dass es dem jüdischen Volke nicht zum Segen, sondern zum Fluche gereicht. Er verteilt Almosen und züchtet damit → Schnorrer oder er gründet Kolonien mit solcher Geschicklichkeit und so glücklicher Hand, dass er die Kolonisten, die ursprünglich tüchtige, selbstständige Arbeiter waren und es auch bleiben wollten, in Berufsbettler verwandelt, oder er hinterlässt dem jüdischen Volke Hunderte Millionen und umgibt dieses in der Geschichte unseres Volkes beispiellose großartige Vermächtnis mit solchen Bestimmungen, dass der Schatz, der geradezu das Werkzeug der Erlösung des jüdischen Volkes werden könnte, zur tückischen Bekriegung und Auflösung des jüdischen Volkes verwendet wird und wir heute in diesen Hunderten jüdischer Millionen den schlimmsten Feind des jüdischen Volkes erkennen müssen.
VII. Sie sehen, geehrte Versammlung, die Erkenntnis, die wir erlangen, wenn wir die wirtschaftliche Verfassung des jüdischen Volkes mit Wirklichkeitssinn und Wahrheitsdrang prüfen, ist herzbrechend. Wir gelangen zur trostlosen Feststellung, dass wir ein Volk von bettelarmen Proletariern mit den geistigen Bedürfnissen von Edelleuten sind. Wie soll ein bettelarmes Volk die Anstrengung machen, die der Zionismus von ihm fordert? Wie sollen Luftmenschen, unausgebildete Handwerker, vermögenslose Händler, Geistesproletarier ohne wirtschaftliche Unterlage und Zukunft, wie sollen diese kläglich schwachen Elemente ein jungfreudig hoffendes und strebendes Volk schaffen, ein starkes neues Gemeinwesen aufbauen? Diese Elemente sind es aber, mit denen wir nun einmal zu arbeiten haben, und es ist klar, dass es die erste Aufgabe des Zionismus sein muss, sie zu stärken, sie ökonomisch tüchtiger zu machen, damit sie für seine Zwecke brauchbarer werden, als sie es heute noch sind.
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Wir stehen hier jedoch vor einem → Circulus vitiosus, angesichts dessen ein schwaches Herz wohl verzagen könnte. Das jüdische Volk kann aus seiner bitteren Armut nur erlöst werden, wenn es auf eigener Scholle ein normales Wirtschaftsleben führt, und es kann die eigene Scholle nur erwerben und sich ein normales Wirtschaftsleben nur einrichten, wenn es aus seiner bitteren Armut erlöst ist. Es hilft nichts, vor der grausam geschlossenen Rundung dieses fehlerhaften Kreises zu stehen und die Arme mutlos sinken zu lassen. Wir müssen in den Kreis einbrechen. Wir müssen damit beginnen, das jüdische Volk wirtschaftlich zu stärken, denn nur ein wirtschaftlich einigermaßen leistungsfähiges Volk kann zur Verwirklichung des zionistischen Ideals schreiten. Dies ist unsere Antwort an die sonderbaren Kritiker, die von den sogenannten Gegenwartsaufgaben des Zionismus nichts wissen wollen, weil sie angeblich unsere Kräfte zersplittern und unser Streben von seinem eigentlichen Ziel ablenken. Man wird füglich nicht bestreiten wollen, dass ich mehr als andere berufen bin, zum → Baseler Programm einen zuverlässigen Kommentar zu liefern. Wir, die dieses Programm ausgearbeitet haben, können versichern, dass wir, als wir die Mittel aufzählten, die zur Erreichung des zionistischen Zweckes in Aussicht genommen sind, bei den Punkten zwei und drei mit in erster Reihe an die Organisation der ökonomischen Kräfte und an die wirtschaftliche Stärkung der Juden dachten. Die Gegenwartsaufgaben fügen dem Baseler Programm schlechterdings nichts Neues hinzu, sie sind darin enthalten. Wir arbeiten nie so unmittelbar für den Zionismus, wie wenn wir die Juden fähig machen, brauchbare Zionisten zu werden.
VIII. Der Programmpunkt, zu dem ich als allgemeiner Berichterstatter bestellt bin, spricht mit → echt jüdischer Weltfremdheit von der körperlichen, geistigen und wirtschaftlichen Hebung des jüdischen Volkes. Halten Sie mir die kleine wohlwollende Kritik zugute, die darin liegt, dass ich diese Reihenfolge umkehre. Denken wir zunächst an die wirtschaftliche Hebung des jüdischen Volkes. Sie ist die dringendste und wichtigste Aufgabe. Die körperliche, die geistige Hebung kommt später. Man sage nicht, dass die wirtschaftliche Hebung erst an dritter Stelle aufgeführt wird, weil sie eben die schwierigste ist. Es hilft nichts, uns um diese Schwierigkeit herumdrücken zu wollen, wir kommen nicht um sie herum. Die körperliche und geistige Hebung sind auch nur scheinbar weniger schwierig als die wirtschaftliche, man kann jene nämlich überhaupt nicht in Angriff nehmen, ehe diese vollbracht ist. „Ohne Geld keine Hochzeit“, sagt das jüdische Sprichwort derb, „wo kein Mehl, da keine Wissenschaft“, lehren die → Pirke-Aboth in gewählterer Ausdrucksweise. Es ist grausam, von der körperlichen Hebung armer Teufel zu sprechen, die sich nicht aus Unwissenheit schlecht nähren, sondern die nichts zu essen haben, die nicht aus schlechter Gewohnheit in elenden Löchern, in Schmutz, Über-
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füllung und verdorbener Luft hausen, sondern die Kosten einer minder lebensgefährlichen Wohnung nicht erschwingen können. Wer hätte den Mut, nackten Hungerleidern ohne Geld für die Hausmiete salbungsvoll zu predigen: „Brüder, nährt euch reichlich, kleidet euch warm, lebt in mehreren luftigen, reinen, hellen, wohleingerichteten Stuben!“ Einen solchen Rat darf man nur erteilen, wenn man den weisen Worten gleich die Mittel hinzufügt, die ihre Befolgung erfordert. Anderen Völkern, die körperlich herunterkommen, muss man einschärfen, dass sie mörderische Laster ablegen, dass sie nicht übermäßig trinken, sich keiner Völlerei hingeben, keine Unzucht treiben, nicht spielen, nicht verschwenden, nicht unflätig, luft- und wasserscheu sein sollen. Wir brauchen uns diese gesundheits- und lebenszerstörenden Laster nicht abzugewöhnen, denn wir haben sie nicht. Wir müssten, um den physischen Verfall unserer Rasse aufzuhalten, im Gegenteil Gewohnheiten annehmen, die wir nicht haben: nämlich die Gewohnheit, geräumig zu wohnen und reichlich zu essen. Uns das anzugewöhnen, würde uns wahrlich nicht schwerfallen, wenn wir erst das nötige Geld dazu hätten. Die körperliche Hebung des jüdischen Volkes ist eine Geldfrage. Lassen Sie das jüdische Volk wohlhabend sein und Sie werden kein Wort über seine körperliche Hebung zu verlieren brauchen. Es wird ganz von selbst und mit größter Schleunigkeit wieder erstarken. Sehen Sie sich die jüdischen Familien an, die seit drei Generationen bemittelt sind! Vergleichen Sie diese stattlichen Reiter, diese trefflichen Fechter, diese flotten Tänzer, → Preis-Turner und Champion-Schwimmer, vergleichen Sie diese großen, breiten Gestalten mit den unbeholfenen und → ausgemergelten, hustenden Jammerzwergen des östlichen Ghettos. Dann haben Sie sofort die Formel, die Ihnen das unfehlbare Mittel zur körperlichen Hebung des jüdischen Volkes und auch die Zeit angibt, die das Mittel braucht, um seine volle Wirkung hervorzubringen. Den reichen Juden brauchen wir überhaupt keine Ratschläge zu geben. Einmal sind sie so wenig Juden, dass sie bei der Erörterung jüdischer Volksangelegenheiten kaum noch in Betracht kommen. Dann aber gehören sie ohnehin schon zu den leidenschaftlichsten Jägern und hervorragendsten Pflegern aller Sports und wären wahrscheinlich allesamt bereits → Enakssöhne, wenn sie zu ihrem Unglück bei der Abkehr vom Judentum nicht zugleich in die schlimmsten Ausschweifungen und Sittenlosigkeiten der verfaultesten Gesellschaftsklassen Europas und Amerikas verfallen wären. Jenen Juden, die einen Pfennig und eine Stunde übrig haben, können wir natürlich nur weiter empfehlen, dass sie fleißig turnen sollen. Darüber brauchen wir kein Wort mehr zu verlieren. Der Gedanke der Heranzüchtung eines → Muskeljudentums ist hier angeregt worden, die gebildete jüdische Jugend hat ihn erfasst, sie wird ihn zweifellos immer allgemeiner verwirklichen. Es gibt zurzeit, nach dem Ausweise der → „Jüdischen Turnzeitung“, → dreizehn national-jüdische Turnvereine. Wir sollten dahin streben, dass jeder zionistische Verein, der dazu nur irgend imstande ist, eine Turnabteilung entwickle.
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Für die große Masse des jüdischen Volkes aber, an die wir doch in erster Linie denken, ist all das belanglos. Diese Masse kann zurzeit ihre Lebenshaltung nicht erhöhen und sie hat für Turnen und Sport irgendwelcher Art weder Zeit noch Mittel übrig. Wollen wir ihr hygienische Ratschläge erteilen, so müssen es solche sein, die nichts kosten, aber auch nicht einen Pfennig! Und da finde ich bei angestrengtestem Nachdenken nur zwei Reformen, die mir nützlich und dringlich erscheinen und die ohne Geldopfer ausführbar sind. Das jüdische Volk muss sich die allzu frühe → Eheschließung und die allzu frühe Einschulung der Kinder abgewöhnen. Die Verheiratung halbwüchsiger Jünglinge und Mädchen, die wirtschaftlich noch lange nicht selbstständig sind, ein Brauch, der an unsere morgenländischen Ursprünge erinnert, ist ein Krebsschaden an unserem Volksorganismus. Sie ist daran schuld, dass das jüdische Weib vorzeitig leidet, welkt und altert, dass die jüdische Familie zu früh und zu reichlich mit Kindern gesegnet wird, die die Eltern weder ernähren noch erziehen können, und dass der jüdische Jüngling den Ernst und die sittliche Würde des Ehebundes nicht erfasst und mit erschreckender Leichtblütigkeit Weib und Kinder verlässt, wenn sie ihm ein wenig unbequem werden. Könnten wir unsere Brüder im Osten dazu bestimmen, das Durchschnittsalter des Eintritts in die Ehe um etwa acht Jahre zu vermehren, so hätten wir der Rasse einen ungeheuren Dienst erwiesen. Kaum weniger schädlich als die frühe Ehe ist die frühe Einschulung der Knaben. Diese bleibt eine Sünde, selbst wenn das → Cheder seine barbarische Gesundheitswidrigkeit verliert. Es verhindert die körperliche Ausbildung und legt Keime späteren Siechtums in den Organismus, wenn man das Kind vor vollendetem sechstem Jahre zur Schule schickt und es mehr als fünf Stunden täglich zu geistiger Anstrengung anhält. Unter dem späteren und kürzeren Unterricht wird das jüdische Kind geistig nicht verlieren, sondern gewinnen.
IX. Nun bin ich aber auch mit meinen Ratschlägen zur körperlichen Hebung des jüdischen Volkes zu Ende und wende mich mit Zagen dem unvergleichlich wichtigeren Problem zu: seiner wirtschaftlichen Hebung. Durchgreifend ist dem jüdischen Volke nicht zu helfen, solange seine große Mehrheit rechtlos, solange es im Ganzen verfolgt, gehasst, bestenfalls von triebhafter Abneigung umgeben ist. Das Allheilmittel heißt: eigener Boden unter den Füßen des jüdischen Volkes. Was wir bis zur Erreichung dieses Zieles tun können, wird notwendig Stückwerk bleiben und das Übel nicht an der Wurzel fassen, sondern höchstens einige klinische Symptome bessern, vielleicht auch nur verschleiern. Das jüdische Volk ist bettelarm und muss es unabänderlich bleiben, erstens weil es sich Beschäftigungen hingibt, von denen mit mathematischer Bestimmtheit nachgewiesen werden kann, dass sie schlechterdings nichts einbringen können, zweitens weil es eine → anarchistische Individualwirtschaft statt einer Volksökono-
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mie betreibt und jeder einzelne Jude seine ganze Kraft in rücksichtslos wütendem Wettbewerb mit seinem jüdischen Nachbar vergeudet, drittens weil es die → blutwenigen Mittel, die es besitzt, falsch und zwecklos verwendet, also tatsächlich zum Fenster hinauswirft. Sind die Ursachen des Übels erkannt, so sollte es nicht unmöglich sein, sie wenigstens teilweise zu unterdrücken. Der Jude gibt sich unfruchtbaren Beschäftigungen hin. Er öffnet Läden ohne Waren an Orten, wo es keine Kunden, nur andere Händler und andere leere Läden gibt. Er will Vermittler sein, wo es keine Handelsbewegung, also auch nichts zu vermitteln gibt. Diese jüdischen Händler und Makler müssen unbedingt zum Handwerk hinübergeführt werden. „Das ist unpraktisch! Das ist unmöglich!“ Gemach. Jeden Tag wandern Hunderte von → Talmudisten, brotlosen Händlern, Straßenlungerern und sonstigen Luftmenschen, die nie mit ihren zehn Fingern gearbeitet haben, nach London oder New York und lernen da in wenigen Wochen, ja Tagen die Schneiderei oder Schusterei. Was sie in New York und London lernen, das können sie ebenso gut in → Lodz oder → Bialystok lernen. Und der gelernte Schuster und Schneider steht wirtschaftlich bereits turmhoch über dem Händler ohne Ware und Kundschaft und nun gar über dem Luftmenschen. „Aber es gibt ja schon jetzt nur zu viel jüdische Handwerker im Osten, und sie sterben Hungers.“ Richtig. Doch aus einem bestimmten Grunde: weil an Ort und Stelle für so viele Handwerker kein Bedarf ist und weil die einzelnen Handwerker die wenigen vorhandenen Bissen Brotes, die nicht entfernt für alle ausreichen, einander in selbstmörderischem Wettbewerb abzutreiben suchen. Dem kann abgeholfen werden, wenn die hungernden Handwerker sich vereinigen, statt sich zu bekämpfen. Sie müssen die → Arbeitsanarchie aufgeben und sich organisieren. Keine Konkurrenz, Kooperation!, lautet unser dringender Rat. Unsere Brüder im Osten haben nicht die Freiheit der Bewegung. Sie müssen bleiben, wo sie sind. Das macht es zu einem ursprünglichen Gebote der Vernunft, überall alle Arbeiter in eine geschlossene → Produktionsgenossenschaft zu vereinigen, in den Handwerken, deren Erzeugnisse nicht versendungsfähig sind, nur die Arbeiter zu beschäftigen, für die an Ort und Stelle Bedarf und Nahrung vorhanden ist, alle Kräfte aber, die nicht in der bodenständigen, örtlichen Arbeit zu verwenden sind, solchen Handwerken zuzuwenden, deren Produkte ihre Märkte in der ganzen Welt haben und beweglich sind. Ganz ohne Geld können solche → Kooperativgenossenschaften nicht gegründet werden. Dieses wenige Geld, das dazu nötig ist und ausreicht, ist aber vorhanden, und es wird töricht und ruchlos zum Fenster hinausgeworfen. Hunderttausend Juden wandern jährlich aus den Ländern des Ostens nach dem Westen. Unter welchen Entbehrungen sie auch ausgeführt werden, die Reisen kosten immerhin Geld. Die wandernden Juden verreisen jährlich Millionen. Welchen Nutzen bringen diese Millionen? Gar keinen. Man sagt vielleicht, sie sind der Preis, mit dem die Ghettoflücht-
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linge sich die Freiheit erkaufen. Ach, die Freiheit! In den → Schwitzräumen von OstLondon und New York hat der jüdische Tagelöhner nicht mehr Freiheit als in → Russland, Galizien und Rumänien. Er bleibe, wo er ist. Er lerne dort das Handwerk, das er in London lernen will. Er mache dort die Kleider und Schuhe, die er in London macht. Und er schicke die Ware auf den Weltmarkt, anstatt selbst zu reisen. Wenn er in der Heimat das Geld verdient, das er in London erarbeitet, so ist er fast wohlhabend. Was in London ein Hungerlohn ist, das ist in → Minsk oder → Wilna, in → Jassy oder → Galatz auskömmlicher Erwerb. Und der Arbeiter ist nicht aus seiner Familie, seinem Kreise, seinen Überlieferungen, seinen Gewohnheiten herausgerissen. Das Reisegeld aber, das er erspart, dieses rein verpulverte Reisegeld, das er doch hat oder sich irgendwie zu verschaffen weiß, reicht vollkommen aus, um den Grundstock von Kooperativgenossenschaften zu bilden, die ja mit ganz kleinem Kapital arbeiten können. Stoff, Leder, Nähfaden und alles sonst zu der Kleider- und Schuhfabrikation nötige würden Fabrikanten sehr gerne mit drei- oder sechsmonatigem Kredit liefern. Die fertige Ware würde sofort abgesetzt oder mindestens in → Warrantform beliehen werden können, die Arbeiter würden also ihren Lohn wenigstens teilweise gleich erhalten. Dazu ist nichts nötig als die industrielle und kaufmännische Organisation der Kooperation. An Ort und Stelle braucht das → Artel Gemeinsinn und Manneszucht, an dem Absatzmarkte eine tüchtige und gewissenhafte kaufmännische Vertretung, dann arbeitet die Maschine glatt und wandelt verhungernde Luftmenschen in Produzenten um, die menschenwürdig leben und etwas ersparen können. Organisation! Das ist das erste und das letzte Wort auch auf wirtschaftlichem Gebiete. Und wer ist mehr dazu berufen, die hilflos-chaotische jüdische Masse im Osten zu organisieren, als der Zionismus? Er nehme die Bildung der Kooperativgenossenschaften entschlossen in die Hand. Er lehre sie, sich gewerblich und kaufmännisch einzurichten. So gibt er den Hungernden Brot, so erzieht er die Verwahrlosten und Verwilderten zur Disziplin, so macht er aus weinenden, ohnmächtigen Betern und weichlich verschwommenen Sehnsuchtsmenschen verlässliche und tatkräftige Zukunftsbürger → Zions. Sind erst die Schneider- und Schuster-Artels einigermaßen kapitalkräftig geworden, dann wird man auch daran denken können, andere Massen- und selbst Kunsthandwerke einzuführen, denn man wird das Geld haben, Fachschulen und Musterwerkstätten zu gründen und gute Lehrmeister zu bezahlen. So gelangen wir dazu, an den heutigen Stätten des Elends und der Erniedrigung wirtschaftliche Unabhängigkeit, vielleicht Wohlstand und jedenfalls Würde und Selbstvertrauen zu schaffen und ein Volk heranzubilden, das, wenn die Stunde schlägt, den Boden der Väter festen Fußes betritt, sicher, sein Brot überall in Ehren und reichlich verdienen zu können. Auf die Frage der geistigen Hebung will ich mich gar nicht erst einlassen. Alles, was hierüber gesagt werden kann, ist leere Redensart, solange die Voraussetzung einer gründlichen, allseitigen Volksbildung fehlt, nämlich Geld. Natürlich, wenn
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wir über die tatsächlich vorhandenen Gemeindemittel und Stiftungskapitalien, die heute vergeudet oder gegen die jüdischen Volksinteressen verwendet werden, verfügen würden, so könnten wir schon heute glänzende Schuleinrichtungen schaffen, die das jüdische Volk es nicht bedauern lassen würden, dass es an seinen Hauptsitzen aus den Staats- und Gemeindeschulen jedes Ranges ausgeschlossen ist. Mit Phantasien über „wenn“ und „falls“ will ich aber keine Zeit verlieren. Wie die Dinge tatsächlich liegen, können wir nicht viel tun. → Toynbee-Hallen, freiwillige Vorträge sind sehr nützlich, gewiss, aber sie sind doch nur eine Form der Wohltätigkeit, ein geistiges Almosen, und deshalb immer eine nicht ganz unbedenkliche, nicht ganz harmlose Gabe. Gute Volksschriften in der dem Volke verständlichen Mundart, anständige, inhaltsreiche, in gutem Geiste redigierte Zeitungen und Zeitschriften haben zweifellos gleichfalls ihren Wert. Doch auch davon zu sprechen ist bloße Rhetorik, solange wir kein Geld haben, solche Literatur zu produzieren, und das Volk kein Geld hat, sie zu kaufen. Sicheres tägliches Brot für die jüdische Masse und die Möglichkeit, einige Ersparnisse zu sammeln, Erziehung zum Zionismus und dadurch Eroberung der Gemeinden, das ist es, was nottut. Ist erst dieses Programm erfüllt, dann wird es ein Leichtes sein, das jüdische Volk zum gebildetsten der ganzen Erde zu machen. Denn unsere geistigen Fähigkeiten erkennen selbst die Feinde an, unser Bildungsdrang ist beinahe krankhaft stark und unsere Bildungstradition geht auf Jahrtausende zurück. Sind wir erst reich genug, um uns ein eigenes ausreichendes Schulwesen zu schaffen, so werden wir hoffentlich der Welt zeigen können, dass es unmöglich ist, uns geistig zu proletarisieren, wie man uns wirtschaftlich proletarisiert hat. Doch ehe wir unsere Schule rühmen, müssen wir sie haben, und um sie zu haben, müssen wir wirtschaftlich kräftig werden. So lang dieser Bericht geworden ist, er ist dennoch weit entfernt, seinen Gegenstand zu erschöpfen. Ein einzelner Kopf kann den Plan der vollkommenen Wiedergeburt eines alten, unglücklichen, verfallenen Volkes nicht in allen Details ersinnen. Ich musste mich darauf beschränken, Gedankenkeime auszustreuen. Mögen sie im jüdischen Volke sprießen. An der Ausgestaltung und Verwirklichung der Gedanken müssen Sie alle mitarbeiten. Die Wiedergeburt des jüdischen Volkes soll und wird das gemeinsame Werk des jüdischen Volkes sein. Quelle: ZS1, S. 112–139, dort mit Datierung: Basel, 27. Dezember 1901. Ferner in: Die Welt, 3.1.1902, H. 1, S. 4–10.
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42 Was bedeutet das Turnen für uns Juden? Dass das Turnen die Gesundheit stärkt, die körperliche Entwicklung zur Kraft wie zur Schönheit fördert, das Selbstgefühl steigert, das ist bereits so oft wiederholt worden, dass es wie ein Gemeinplatz klingt. Es ist auch hinreichend betont worden, dass das Turnen Manneszucht, gegenseitige Anpassung verschiedener Individualitäten, sorgfältig gefügtes Zusammenwirken vieler Anstrengungen zu einem einzigen gemeinsamen Ziele lehrt und dadurch einen ganz besonders hervorragenden erziehlichen Wert für uns Juden hat, deren größter Fehler Eigensinn, → Steifnackigkeit und Widerwillen gegen die Anerkennung des Stammgenossen und nun gar gegen die Unterordnung unter ihn ist. Es gibt aber bei der Betrachtung des Turnens der Juden einen Gesichtspunkt, bei dem man meines Erachtens nicht genug verweilt hat, und das ist unsere ungewöhnliche Eignung zu Leibesübungen aller Art. Mancher Leser wird hier vielleicht verwundert blicken und den Kopf schütteln. Er wird mir möglicherweise missbilligend → Neigung zu Paradoxen vorwerfen. Das macht: Wir haben nur allzu sehr die Gewohnheit, uns selbst unbewusst mit den Augen der Antisemiten anzusehen und mit sträflicher Blindgläubigkeit zu wiederholen, was sie uns nachsagen. So ist es auch für viele, selbst stolze Juden eine keines Beweises bedürfende Tatsache, dass der Jude körperlich unbeholfen, kläglich ungeschickt, bejammernswert schwächlich ist, dass er zwei linke Hände hat, fortwährend über die eigenen Beine stolpert, lieber schief und krumm als gerade steht usw. Das behaupten die Antisemiten und das sagen wir ihnen nach. Höchstens wagen wir, für mildernde Umstände zu → plädieren. Was Wunder, sagen wir, dass es uns an Muskelkraft und Gewandtheit fehlt? Wir haben in der → tausendjährigen Ghettohaft aus Mangel an Übung unsere körperliche Tüchtigkeit notwendig verlieren müssen. Jetzt fehlt sie uns freilich und wir müssen es uns sauer werden lassen, sie uns wieder anzuerziehen. Die Antisemiten haben uns mit Augen des Hasses beobachtet und ihre Bosheit lässt sie das Wahrgenommene lächerlich falsch deuten und verallgemeinern. Es ist richtig, dass nur zu viele Juden eine schlechte Haltung haben. Aber sie ist ihnen keineswegs natürlich. Sie ist lediglich die Folge fehlender körperlicher Erziehung. Hierin unterscheidet sich der Jude nicht vom sogenannten → Arier. Wer dazu Gelegenheit hat, der halte doch auf Kasernenhöfen und Exerzierplätzen Umschau. Er wird sich rasch überzeugen, dass zwischen dem Juden und dem Nichtjuden aus dem Kramladen oder der Schusterwerkstatt äußerlich kein Unterschied zu beobachten ist. Ich habe mir von Unteroffizieren, die über den Verdacht des → Philosemitismus und selbst der einfachen Gerechtigkeit gegen uns hoch erhaben sind, sagen lassen, dass nicht nur der arische Tagelöhner, Geselle und → Ladenschwengel, sondern auch der → Pflugknecht, der Bursche vom Lande, der doch Gelegenheit hatte, seine Glieder frei zu bewegen und zu üben, viel begriffsstutziger sind als die jüdischen Rekruten und dass ihre militärische Ausbildung viel mühseliger und langsamer ist als die ihrer jüdischen Kameraden aus denselben oder ähnlichen Volks-
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schichten. Die → Zerrbilder in den Witzblättern, in denen zum Vergnügen der jüdischen und christlichen Antisemiten jüdische Soldaten als lächerliche Vogelscheuchen dargestellt sind, werden nicht aus der Wirklichkeit geholt. Sie sind liebenswürdig-wohlwollende Erfindungen und sonst nichts. Wenn sie ein Vorbild haben, so ist dies allenfalls der junge Krieger überhaupt in den ersten Wochen nach seiner Einstellung. Spezifisch jüdisch sind die → Fallstaff-Rekruten schlechterdings nicht. An Stattlichkeit lässt der Jude allerdings zu wünschen übrig. Dies fällt besonders in den Ländern mit vorwiegend germanischer und slawischer Bevölkerung auf; in den romanischen weit weniger. Ich war früher, vielleicht etwas voreilig, geneigt, den Wuchs der Juden für zurückgeblieben, seine meist geringe Körperlänge für eine → Entartungserscheinung zu halten. Ich bin in dieser Anschauung in der letzten Zeit schwankend geworden. Zu einer wissenschaftlich ausreichend begründeten Überzeugung zu gelangen ist sehr schwer, da ja die → Anthropologie und → Ethnographie des jüdischen Stammes beinahe gänzlich unerforschte Gebiete sind. Wir wissen also nicht, ob die Juden ursprünglich größere Körperlänge hatten und erst infolge ihrer ungünstigen Lebensbedingungen verkümmerten oder ob sie schon von allem Anfang eine Rasse von unansehnlichem Wuchse waren. Gräberfunde, die über diesen Punkt Licht verbreiten könnten, sind mir nicht bekannt. Auch müssten sie, um vollen Beweiswert zu haben, einigermaßen zahlreich und ihr jüdischer Charakter müsste über jeden Zweifel erhaben sein. Die Zeugnisse aus dem Altertum sind nicht eindeutig. Auf den ägyptischen und assyrischen Denkmälern lassen die Abbildungen von Juden nicht vermuten, dass sie dem Künstler kleiner erschienen als ihre nichtjüdische Menschenumgebung. In Rom ließen sich Juden von riesigem Wuchse gegen Eintrittsgeld in Schaubuden sehen. Andererseits lassen Bemerkungen der Bibel darauf schließen, dass die Juden in Palästina Volksstämme als Nachbarn hatten, die sie an Wuchs bedeutend überragten. Man denke nur an die → „Enakssöhne“ und die → Schilderung Goliaths im Verhältnis zu → David. Es bleibe also dahingestellt, ob wir klein geworden oder klein gewesen sind. Nicht zu leugnen ist, dass wir gegenwärtig durchschnittlich etwas kleiner sind als Deutsche, Russen, Angelsachsen und Skandinaven, wenngleich mindestens ebenso groß wie Franzosen, Italiener, Spanier, Rumänen und → Magyaren. Es wäre jedoch völlig verfehlt, geringere Durchschnittslänge mit Schwächlichkeit und Unbeholfenheit gleichzusetzen. Man halte sich zwei → biologische Grundtatsachen vor Augen: Es gibt beim gesunden Menschen keine natürliche, unabänderliche Muskelschwäche, und man führt verwickelte Bewegungen, also solche turnerischer Natur, nicht mit den Muskeln, sondern mit den Bewegungszentren im Gehirn aus. Unsere Muskeln sind hervorragend entwicklungsfähig. Man kann ohne Übertreibung sagen: Niemand braucht sich mit den Muskeln zufrieden zu geben, die er hat. Jeder kann vielmehr die Muskeln haben, die er selbst wünscht. Methodische, ausdauernde Übung ist alles, was dazu nötig ist. Jeder Jude, der sich schwach glaubt oder schwach ist, hat es also in der Hand, sich eine Athletenmuskulatur zu-
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zulegen, vorausgesetzt, dass er kein organisches Leiden hat, das ihm Leibesanstrengungen überhaupt verbietet. Kraft ist aber bekanntlich beim Turnen nicht das Ausschlaggebende. Ein gewisses Maß von Leistungsfähigkeit muss man von den Muskeln natürlich fordern, doch ist Bärenstärke keineswegs erforderlich. Worauf es wesentlich ankommt, das sind drei Bedingungen: erstens rücksichtslose Kühnheit, zweitens vollkommene Beherrschung aller Muskelgruppen, deren genaues, harmonisches Zusammenwirken bei der Ausführung einer verwickelten Bewegung erforderlich ist, drittens rasche und scharfe Ausarbeitung des Bildes der auszuführenden Bewegung in der Vorstellung unter energischer Ausschließung aller Hemmungsvorstellungen banger oder zweifelnder Natur. Diese drei Bedingungen werden aber ausschließlich vom Gehirn, vom Geiste erfüllt, dessen willenlos ergebene, unbedingt willfährige und zuverlässige Diener die Muskeln sind. Geistige Flinkheit, Helle und Schärfe ist die notwendige Voraussetzung der leiblichen Geschmeidigkeit und Gewandtheit. Das eine deckt sich vollkommen mit dem anderen. Man verstehe mich nur recht. Ein kluger, beweglicher, durchdringender Verstand allein macht noch keinen Athleten, wenn das Muskelsystem nicht durch Übung die unerlässliche Entwicklung erlangt hat. Aber keine angeborene oder erworbene Muskelkraft ist imstande, aus einem stumpfen, einfältigen, langsamen Tölpel einen Athleten zu machen. Ich kenne keinen einzigen Sport, es wäre denn vielleicht der rohe und geistlose Fußball, wo der klobige, brutale Tollpatsch dem pantherähnlich blitzgewandten Geistesmenschen überlegen wäre oder auch nur gleichkäme. An unserer geistigen Begabung zweifeln auch unsere Todfeinde nicht. Sie müssen uns, wenn auch widerwillig, Verstandesschärfe, geistige Beweglichkeit, schnelle Auffassung zugestehen, nur suchen sie lächerlicherweise diese Werte, weil es jüdische sind, in Unwerte umzuwerten, worin die erbärmlichen Idioten von jüdischen Antisemiten mit ihnen übereinstimmen. Die Nutzanwendung aus dieser Feststellung ergibt sich von selbst. Wir haben von Natur die unerlässlichen geistigen Vorbedingungen außergewöhnlicher athletischer, turnerischer Leistungen. Die körperlichen Voraussetzungen, ein gewisses Maß von Muskelstärke, sind durch Übung zu erlangen. Wir haben also alles, was nötig ist, um uns als Turner ebenso glänzend zu bewähren wie als Pfleger aller Geistesdisziplinen. Das sind keine bloß theoretischen Vermutungen oder Annahmen. Es ist bekannt, dass einige der berühmtesten Zirkustruppen fast ganz aus Juden bestehen, dass unter den Artisten Juden verhältnismäßig zahlreich sind und dass viele Juden es im Stoßfechten häufig zu großer Meisterschaft bringen. Wir brauchen also nur zu wollen, um als Turner mit den ersten Platz zu erringen. In einer Menschenumgebung, die Geistestüchtigkeit zu verachten vorgibt, weil sie sie nicht immer in demselben Maße besitzt wie der Jude, die dagegen mit körperlichen Eigenschaften protzt, weil sie damit besser ausgerüstet zu sein glaubt als der Jude, wäre es von hohem Werte für unsere Stellung, wenn wir die feindseligen
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Schmäher auch aus ihrem letzten Verhau hinausjagen und zur, sei es auch noch so widerwilligen, Anerkennung der Tatsache zwingen würden, dass wir es ihnen als Turner ebenso spielend mindestens gleichtun wie als Hirnarbeiter. Mir liegt nicht etwa daran, dass Antisemiten eine bessere Meinung von uns bekommen. Was diese Leute von uns denken, ist uns einerlei. Aber wir müssen bedenken, dass der Jude in der → Zerstreuung nun einmal gegen die nichtjüdische Meinung besonders empfindlich ist und an sich nur schätzt, was seine nichtjüdische Umgebung als Wert anerkennt. Wenn der Jude sich als Turner, Fechter usw. anerkannt, womöglich bewundert sieht, so wird das auf sein Selbstgefühl noch viel erhebender wirken als die Sicherheit und das Kraftbewusstsein, die seine turnerischen Leistungen notwendig in ihm großziehen. Diese mittelbare Wirkung der turnerischen Ausbildung hat für uns eine Bedeutung, bei der zu verweilen sich wohl erübrigt. Quelle: ZS1, S. 382–388, dort mit Verweis auf die Quelle: → Jüdische Turnzeitung, Juli 1902. Ferner in: Die Welt, 1.8.1902, H. 31, S. 2–3.
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43 → Der Zionismus Unter den alle bedeutenderen Bewegungen der Zeit mit einiger Aufmerksamkeit verfolgenden Gebildeten gibt es jetzt schwerlich auch nur einen mehr, dem das Wort „Zionismus“ ganz unbekannt geblieben wäre. Man weiß allgemein, dass es eine Geistesrichtung bezeichnet, die in den letzten Jahren unter den Juden aller, besonders aber der östlichen Länder zahlreiche Anhänger gefunden hat. Eine ganz klare Vorstellung von den Zielen und Wegen des Zionismus haben aber verhältnismäßig wenige, sowohl unter Nichtjuden wie unter Juden; die Nichtjuden, weil die jüdischen Angelegenheiten ihnen nicht genug nahegehen, dass sie es sich Mühe kosten lassen sollten, sich über ihre Einzelheiten aus erster Quelle zu unterrichten, die Juden, weil sie von Feinden des Zionismus absichtlich mit Lügen und Verleumdungen irregeführt werden oder weil es selbst unter den guten Zionisten nicht viele gibt, die den ganzen Gedankeninhalt des Zionismus ausgeschöpft haben und gewillt oder imstande sind, ihn klar und fasslich, ohne Überschwang und polemische Heftigkeit darzustellen. Ich will versuchen, gutgläubigen Lesern, die keine vorgefasste Meinung und nur das Interesse haben, sich über eine zeitgeschichtliche Erscheinung zuverlässig zu unterrichten, möglichst knapp und nüchtern alle Tatsachen an die Hand zu geben, wie sie wirklich sind, nicht wie sie sich in verworrenen Köpfen spiegeln oder wie Verleumder sie verzerren und fälschen.
I. Der Zionismus ist ein neues Wort für eine sehr alte Sache, soweit er bloß die Sehnsucht des jüdischen Volkes nach → Zion ausdrückt. Seit der → Zerstörung des zweiten Tempels durch Titus, seit der → Zerstreuung des jüdischen Volkes in alle Länder, hat dieses Volk nicht aufgehört, die Rückkehr in das verlorene Land der Väter heiß zu ersehnen und auf sie fest zu hoffen. Diese Zionssehnsucht und Zionshoffnung der Juden war der konkrete, ich möchte sagen, der geographische Aspekt ihres → Messias-Glaubens, der seinerseits einen wesentlichen Bestandteil ihrer Religion ausmachte. → Messianismus und Zionismus waren tatsächlich fast zwei Jahrtausende lang identische Begriffe, und ohne Spitzfindigkeit und Deutelei wird es nicht leicht sein, die Gebete um das Erscheinen des verheißenen Messias und die um die nicht minder verheißene Rückkehr in die geschichtliche Heimat in der → jüdischen Liturgie auseinanderzuhalten. Diese Gebete waren bis vor wenigen Menschenaltern buchstäblich gemeint, wie sie es von den schlicht gläubigen Juden noch heute sind. Die Juden wussten es nicht anders, als dass sie ein Volk seien, das zur Strafe für eigene Schuld sein angestammtes Land verloren hat, das als Fremdling in fremden Ländern zu leben verurteilt ist und dessen schwere Leiden erst aufhören werden,
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wenn es wieder auf dem geweihten Boden des heiligen Landes versammelt sein wird. Erst als gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts die → Aufklärung, als deren erster → Herold der → Populärphilosoph Moses Mendelssohn bekannt ist, in das Judentum einzudringen begann, wurde dies anders. Der Glaube wurde lauer, die Gebildeten, soweit sie nicht ganz abfielen, begannen, die Lehren ihrer Religion → rationalistisch aufzufassen, für sie war die Zerstreuung des jüdischen Volkes eine endgültige und unabänderliche Tatsache, sie entleerten den Messias- und Zionsbegriff jedes konkreten Inhaltes und legten sich eine sonderbare Lehre zurecht, nach welcher das den Juden verheißene Zion nur in einem geistigen Sinne zu verstehen sei, als die Aufrichtung des → jüdischen Monotheismus für die ganze Welt, als einstiger Triumph der jüdischen Ethik über die minder hohen und edlen Sittenlehren der anderen Völker. Die Mendelssohn'sche Aufklärung entwickelte sich folgerichtig in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur → „Reform“, die bewusst mit dem Zionismus brach. Für den Reformjuden hat das Wort Zion ebenso wenig einen Sinn wie das Wort Zerstreuung. Er fühlt sich in keiner → Diaspora. Er leugnet, dass es ein jüdisches Volk gibt und dass er dessen Mitglied ist. Er will nur dem Volke angehören, in dessen Mitte er lebt. Für ihn ist das Judentum ein rein religiöser Begriff, der mit Nationalität nicht das Geringste gemein hat. Sein Geburtsland ist ihm sein Vaterland und ein anderes will er nicht kennen. Der Gedanke einer Rückkehr nach Palästina empört ihn oder reizt ihn zum Lachen. Er hält ihm → den bekannten albernen Witz entgegen: „Wenn das jüdische Reich in Palästina wieder aufgerichtet werden sollte, so würde ich verlangen, sein Botschafter in Paris zu sein.“ Den denkenden Juden ist es auf die Dauer nicht entgangen, dass das Reformjudentum eine Halbheit ist, die wie jede Halbheit den Keim des Unterganges in sich trägt, da sie einer logischen Kritik nicht einen Augenblick lang widersteht. Wen soll das Reformjudentum befriedigen? Den gläubigen Juden? Er stößt es mit dem tiefsten Abscheu von sich. Den ungläubigen? Er verachtet es als eine Heuchelei und Phrasendrescherei. Den Juden, der wirklich mit seiner Volksvergangenheit brechen und in seiner christlichen Umgebung aufgehen will? Diesem Juden genügt das Reformjudentum nicht, er geht einen Schritt weiter, den Schritt, der zum → Taufbecken führt. Noch weniger genügt es dem Juden, der das Judentum vor dem Untergange bewahren, es als → ethnische Individualität erhalten möchte. Denn ihm ist der ausdrückliche Verzicht auf alle nationale Hoffnung gleichbedeutend mit der Selbstverurteilung zum vielleicht langsamen, aber sicheren Tode des jüdischen Volkes. Das Reformjudentum ohne Zionismus, das heißt ohne den Wunsch und die Hoffnung einer Wiedervereinigung des jüdischen Volkes, hat keine Zukunft. Es kann höchstens als ein etwas krummer Weg betrachtet werden, der ins Christentum hinüberführt. Wer an dieses Ziel gelangen will, der findet heute geradere und kürzere Wege dazu.
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II. Und so ist den Geschlechtern, die unter dem Einfluss der Mendelssohn'schen Schönrednerei und Aufklärung, der Reform und → Assimilation standen, im letzten Fünftel des 19. Jahrhunderts ein neues Geschlecht gefolgt, das zur Zionsfrage eine andere als die traditionelle Stellung zu gewinnen sucht. Diese neuen Juden zucken die Achsel bei dem seit hundert Jahren → in Schwang gekommenen Rabbiner- und Literatengeschwätz von einer „Mission des Judentums“, die darin bestehen soll, dass die Juden ewig unter den Völkern in der Zerstreuung leben müssen, um ihnen Lehrer und Vorbilder der → Sittlichkeit zu sein und sie allmählich zu reinem → Rationalismus, zur allgemeinen Menschenverbrüderung und zu einem idealen → Kosmopolitismus zu erziehen. Sie erklären diesen Missionsdünkel für eine Anmaßung oder für eine Torheit. Sie verlangen bescheidener und realistischer für das jüdische Volk nur das Recht, zu leben und sich seinen eigenen Anlagen gemäß bis zu den natürlichen Grenzen seines Typus zu entwickeln. Sie sind zur Erkenntnis gekommen, dass dies in der Zerstreuung nicht möglich ist, da unter diesen Verhältnissen Vorurteil, Hass, Verachtung sie immer verfolgen und bedrücken und entweder ihre Entwicklung → inhibieren oder sie zu einer ethnischen → Mimikry nötigen werden, die aus ihnen statt daseinsberechtigter Originale mittelmäßige oder schlechte Kopien fremder Modelle machen wird. Sie arbeiten deshalb planmäßig darauf hin, das jüdische Volk wieder zu einem normalen Volke zu machen, das auf eigener Scholle lebt und alle wirtschaftlichen, geistigen, sittlichen und politischen Funktionen eines gesitteten Volkes verrichtet. Dieses Ziel ist nicht sofort zu erreichen. Es liegt in einer näheren oder ferneren Zukunft. Es ist ein Ideal, ein Wunsch, eine Hoffnung, wie es der messianische Zionismus war und ist. Der → neue Zionismus, den man den politischen nennt, unterscheidet sich aber vom alten, religiösen, messianistischen darin, dass er aller → Mystik entsagt, sich nicht länger mit dem Messianismus identifiziert, die Rückkehr nach Palästina nicht von einem Wunder erwartet, sondern sie durch eigene Anstrengung vorbereiten will. Der neue Zionismus ist nur zum Teil aus inneren Drängen des Judentums selbst hervorgewachsen, aus der Begeisterung modern gebildeter Juden für ihre Geschichte und → Martyrologie, aus dem erwachten Bewusstsein ihrer → Rassentüchtigkeit, aus ihrem Ehrgeiz, den uralten Stamm in eine möglichst ferne Zukunft hinüberzuretten und den Großtaten der Ahnen neue Großtaten der Nachkommen anzureihen; zum anderen Teil ist er die Wirkung zweier Anregungen, die von außen gekommen sind: erstens des Nationalitätengedankens, der ein halbes Jahrhundert lang das europäische Denken und Fühlen beherrscht und die Weltpolitik bestimmt hat, zweitens des Antisemitismus, unter dem die Juden aller Länder mehr oder weniger zu leiden haben. Der Nationalitätengedanke hat alle Völker zu Selbstbewusstsein erzogen, sie gelehrt, ihre Besonderheiten als Werte zu empfinden, und ihnen den leidenschaftlichen Wunsch nach Unabhängigkeit eingegeben. Er konnte auch an den gebildeten
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Juden nicht spurlos abgleiten. Er hielt sie an, sich auf sich selbst zu besinnen, sich wieder, was sie verlernt hatten, als besonderes Volk zu fühlen und für sich normale Volksgeschicke zu fordern. Erleichtert wurde ihnen diese nicht schmerzlose Arbeit der Wiederfindung ihrer Volksindividualität durch die Haltung der Völker, die sie als fremdes Element aus sich ausschieden und ohne Höflichkeit oder Schonung die wirklichen und eingebildeten Gegensätze oder doch Unterschiede zwischen ihnen und den Juden hervorhoben. Der Nationalitätengedanke hat in seinen Übertreibungen zu Ausartungen geführt. Er ist zu → Chauvinismus abgeirrt, zu einfältigem Fremdenhass → versimpelt, zu grotesker Selbstvergötterung verdummt. Vor diesen Selbstkarikaturen ist der jüdische Nationalismus wohl sicher. Der jüdische Nationalist leidet nicht an Überhebung; er fühlt im Gegenteil, dass er sich unablässig anstrengen muss, um den Namen Jude zu einem Ehrennamen zu machen. Er erkennt bescheiden die guten Eigenschaften anderer Völker an und sucht sie sich emsig anzueignen, soweit sie mit seinen natürlichen Anlagen harmonisieren. Er weiß, welche furchtbaren Schäden Jahrhunderte der Sklaverei und Rechtlosigkeit in seinem ursprünglich stolzen und aufrechten Charakter angerichtet haben, und er sucht sie mit intensiver Selbsterziehung zu heilen. Bewahrt der Nationalismus sich aber vor Verirrungen, so ist er eine natürliche Phase des Entwicklungsganges vom barbarisch selbstsüchtigen Individualismus zum freien Menschentum und → Altruismus, eine Phase, deren Berechtigung und Notwendigkeit nur leugnen kann, wer gar kein Verständnis für die Gesetze der organischen → Evolution und gar keinen geschichtlichen Sinn hat. Der Antisemitismus hat gleichfalls viele gebildete Juden die Rückkehr zu ihrem Volke finden gelehrt. Er hat die Wirkung einer scharfen Prüfung gehabt, welche die Schwachen nicht bestehen können, aus der aber die Starken stärker oder doch selbstbewusster hervorgehen. Es ist nicht richtig, zu sagen, dass der Zionismus lediglich eine Trotzgebärde oder Verzweiflungstat gegen den Antisemitismus ist. Gewiss ist mancher gebildete Jude nur durch den Antisemitismus zum Wiederanschluss an das Judentum gedrängt worden und er würde wieder abfallen, wenn seine christlichen Landsleute ihn freundlich aufnehmen würden. Aber bei den meisten Zionisten war der Antisemitismus nur eine Nötigung, über ihr Verhältnis zu den Völkern nachzudenken, und ihr Nachdenken hat sie zu Ergebnissen geführt, die ihr dauernder Geistes- und Gemütsbesitz bleiben würden, auch wenn der Antisemitismus gänzlich aus der Welt verschwände. Wohlverstanden: Der bisher analysierte Zionismus ist derjenige der gebildeten und freien Juden, der jüdischen Elite. Die ungebildete, an alten Traditionen hängende Menge ist zionistisch ohne viel Nachdenken, aus Gefühl, aus Instinkt, aus Qual und Sehnsucht. Sie leidet zu hart unter der Not des Lebens, unter dem Hass der Völker, unter den gesetzlichen Beschränkungen und gesellschaftlichen Ächtungen. Sie fühlt, dass sie auf keine dauernde Besserung ihrer Lage zu hoffen hat, solange sie als ohnmächtige Minderheit inmitten übel gesinnter Mehrheiten leben muss. Sie will ein Volk sein, sich in inniger Berührung mit der mütterlichen Erde verjüngen
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und Herrin ihres eigenen Schicksals werden. Diese zionistische Menge ist zum Teil nicht ganz frei von mystischen Tendenzen. Sie lässt in ihren Zionismus messianische → Reminiszenzen hineinspielen und durchsetzt ihn mit religiösen Emotionen. Sie ist sich wohl über das Ziel, die nationale Wiedervereinigung, nicht aber über die Wege klar. Doch hat auch sie schon die Notwendigkeit eigener Anstrengungen begriffen, und es besteht ein ungeheurer Unterschied zwischen ihrer aktiven Organisationsbereitschaft und Opferwilligkeit und der gebetseligen Passivität des rein religiösen Messianisten.
III. Der neue oder politische Zionismus hat vereinzelte Vorläufer gehabt, deren erstes Auftreten schon in die Mitte des 19. Jahrhunderts fällt. → Ein deutscher Jude, der nicht einmal den Mut hatte, seinen Namen auf den Titel seines Buches zu setzen, schlug Mitte der vierziger Jahre die Erwerbung und Besiedelung Palästinas vor. Einige entrüstete kritische Abweisungen in den damaligen jüdischen Blättern, die völlig unter dem Banne der Reform- und Assimilationsgedanken standen, waren die einzige Wirkung. Mehr beachtet wurde → Moses Hess' „Rom und Jerusalem“, ein prophetisches Buch, das in den sechziger Jahren erschien, zuerst den jüdischen Nationalismus inmitten des → Emanzipations- und Verbrüderungstaumels verkündete und bei den in ihrer jungen Gleichberechtigung schwelgenden deutschen Juden, soweit sie sich überhaupt herbeiließen, es zu lesen, einen wahren Sturm der Empörung entfesselte. → Welcher Prophet in Israel hat nicht die Wut seines Volkes erregt? Anfang der achtziger Jahre ereigneten sich im europäischen Osten gewisse Vorfälle, welche die Juden rau aus ihren hundertjährigen Illusionen weckten und wieder zum Bewusstsein der Wirklichkeit brachten. Der russische Jude → Dr. Pinsker schrieb damals ein Büchlein „Auto-Emanzipation“, das bereits dem modernen politischen Zionismus → präludierte und alle seine Motive vorführte, ohne sie noch symphonisch zu entwickeln. Immerhin gab es die wesentlichen Schlagworte aus: Die Juden sind keine bloße Religionsgemeinschaft, sie sind ein Volk. Sie wollen wieder als geeintes Volk im eigenen Lande leben. Ihre Verjüngung muss zugleich wirtschaftlich, leiblich, geistig und sittlich erfolgen. Die jüdische Gymnasial- und Universitätsjugend Russlands wurde von Pinskers Ausführungen mächtig ergriffen. Sie begann national-jüdische Vereine zu gründen. Einige Studenten, die ausländische Universitäten bezogen, machten sich in der neuen Umgebung zu → Aposteln der Pinsker'schen Gedanken und fanden da und dort, am meisten wohl in Wien, bei den jungen Stammgenossen Anklang. Andere zogen dem Worte die Tat, der Predigt das Beispiel vor, hängten das Studium an den Nagel und wanderten nach Palästina aus, um dort Bauern zu werden, jüdische Bauern auf geschichtlich jüdischer Erde. Ergriffen von diesem Idealismus einer be-
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sonders begeisterungsfähigen Auslese, traten auch kühlere Juden in Russland und Deutschland zu Vereinen zusammen, um aus der Ferne die palästinensischen Siedelungen der jüdischen Pioniere zu unterstützen. Das geschah ohne einheitlichen Plan und ohne klare Erkenntnis der Ziele und Wege. Die Vereine waren sich nicht bewusst, dass sie zionistisch fühlten und handelten. Sie sahen nicht den Zusammenhang zwischen der Besiedelung Palästinas mit Juden und der Zukunft des ganzen jüdischen Volkes. Es war bei ihnen mehr eine instinktive Regung, in die alle möglichen dunklen Gefühle hineinspielten: Frömmigkeit, archäologisch-historische Sentimentalität, Wohltätigkeit, genealogischer Stolz. Immerhin waren die Geister vorbereitet, es lag Stimmung in der Luft, das Judentum war reif für eine Wendung. Wie immer in solchen geschichtlichen Augenblicken erschien nun auch der Mann, dem es gegeben war, den von vielen unklar geahnten Gedanken klar zu fassen, das von vielen erwartete Wort laut auszusprechen. Dieser Mann war Dr. Theodor Herzl. Er veröffentlichte im Herbst 1896 ein knapp gefasstes Buch, → „Der Judenstaat“, das mit einer bis dahin nie gekannten Bestimmtheit die Tatsache verkündete, dass die Juden ein Volk sind, für sich alle Volksrechte fordern und ein Land besiedeln wollen, wo sie ein freies und vollständiges Staatsleben führen können. „Der Judenstaat“ ist der eigentliche Ausgangspunkt des politischen Zionismus geworden. Der Ausgangspunkt, nicht das Programm. Herzls Buch ist noch das subjektive Werk eines Einsamen, der im eigenen Namen spricht. Viele Einzelheiten darin sind Literatur. Es ist nicht leicht, überall eine scharfe Grenze zwischen dem nüchternen Ernst des Sozialpolitikers und der Phantasie des prophetischen Dichters zu ziehen. Das eigentliche Programm musste eine Kollektivarbeit werden, die wohl auf Herzls Buch fußte, von Herzls Visionen inspiriert war, aber alle phantastischen Einzelheiten ausschied und sich nur aus Elementen der Wirklichkeit aufbaute. Herzls Buch wurde sofort von zehntausenden Juden, hauptsächlich der Jugend, als eine Erlösungstat begrüßt. Es sollte nicht geschwärztes Papier bleiben, sondern in praktische Schöpfung umgesetzt werden. Überall entstanden neue Vereine, nicht mehr für langsame, kleine Besiedelung Palästinas mittels einschleichender jüdischer Gruppen, sondern für die Vorbereitung einer jüdischen Masseneinwanderung in das Heilige Land auf Grund eines förmlichen, von den Großmächten garantierten Vertrags mit der türkischen Regierung, der den Besiedlern des Landes Selbstverwaltungsrechte zugestehen sollte. Die Voraussetzung des politischen Zionismus ist, dass es ein jüdisches Volk gibt. Das gerade leugnen die → Assimilationsjuden und die von ihnen besoldeten geistlosen, salbungsvoll schwatzenden Rabbiner. Dr. Herzl erkannte, dass die erste Aufgabe, die er zu erfüllen hatte, die Organisierung einer Manifestation war, welche in moderner, greifbarer Form der Welt und dem jüdischen Volke selbst die Tatsache seiner nationalen Existenz vor Augen führen sollte. Er berief einen → zionistischen Kongress ein, der → den wütendsten Anfeindungen und unskrupulösesten Gewalttaten zum Trotze Ende August 1897 zum ersten Mal in Basel zusammentrat und aus 204 gewählten Vertretern der zionistisch gesinnten Juden → beider Welten bestand.
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Der erste Zionistenkongress proklamierte feierlich im Angesichte der aufhorchenden Welt, dass die Juden ein Volk sind und dass sie nicht den Wunsch haben, in den anderen Völkern aufzugehen. Er gelobte, an der Befreiung des in unverdientem Elend schmachtenden, rechtlosen Teils des Judenvolks zu arbeiten und ihm eine hellere Zukunft zu bereiten. Er fasste seine Bestrebungen in einem mit höchster Begeisterung einstimmig angenommenen Programm zusammen, das wörtlich lautet: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlichrechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina. Zur Erreichung dieses Zieles nimmt der Kongress folgende Mittel in Aussicht: 1. Die zweckdienliche Förderung der Besiedelung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden. 2. Die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen, nach Maßgabe der Landesgesetze. 3. Die Stärkung des jüdischen Selbstgefühls und Volksbewusstseins. 4. Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.“
IV. Der erste Kongress ging nicht auseinander, ohne eine dauernde Organisation geschaffen zu haben. Er wählte nämlich ein → „großes Aktionskomitee“, worin alle Länder mit stärkerer jüdischer Bevölkerung vertreten sind und das seinerseits einen engeren permanenten Ausschuss mit dem Sitze in Wien unter dem Präsidium Herzls bestellte. Es folgten ihm in den drei folgenden Jahren → drei weitere Kongresse, und zwar 1898 und 1899 wieder in Basel, 1900 dagegen in London. Die Zahl der Mitglieder stieg 1898 auf 280, 1899 auf 370, 1900 auf 420. Bei jedem folgenden Kongress wurden die Wahlregeln strikter gehandhabt, die Mandate schärfer geprüft, und zurzeit kann der Kongress, der eine dauernde Einrichtung der zionistischen Judenschaft geworden ist und sich im Dezember 1901 zum fünften Mal, und zwar wieder in Basel, versammelt hat, mit Recht den Anspruch erheben, der wirkliche Vertreter seiner 180 000 Wähler zu sein. Will man wissen, was die auf dem Kongress vertretenen Juden bisher getan haben, um das vom ersten Kongress aufgestellte Programm des Zionismus zu verwirklichen, so halte man sich folgende Tatsachen vor Augen: 1. „Zweckdienliche Förderung der Besiedelung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden.“ Der Zionismus versagt sich grundsätzlich die → Kleinkolonisation und die Einschleichung in Palästina. Die Zionisten haben sich deshalb bisher darauf beschränkt, sich zu eifrigen, unermüdlichen Fürsprechern der bereits bestehenden → jüdischen Kolonien in Palästina bei ihren bisherigen Unterstützern zu machen, die
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von ihnen in der letzten Zeit die Hand abziehen wollten, die Gründung von Fabriken im Heiligen Lande vorzubereiten, die den dortigen jüdischen Arbeitern Beschäftigung geben sollen, und den Fortbestand der wegen Mangels an Mitteln zur Schließung verurteilt gewesenen hebräischen → Musterschule in Jaffa durch Zuwendung einer jährlichen Subvention zu sichern. Sie wachen darüber, dass die vorhandenen, verheißungsvollen Ansätze einer jüdischen Kolonisation gepflegt und erhalten werden, bis die Besiedelung Palästinas in großem Umfange möglich wird. 2. „Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen.“ Lokal ist die zionistische Judenschaft gegenwärtig in etwa sechshundert Vereinen organisiert, die eine überaus rege Tätigkeit entfalten. An allgemeinen, das ganze Judentum umfassenden Organisationen besitzt der Zionismus die Landesverbände seiner Vereine, das große und engere Aktionskomitee und den Kongress, der ein ständiges Sekretariat in Wien (jetzt in Köln) unterhält. Die Kosten dieses Apparats decken die zionistischen Juden durch eine freiwillige jährliche Abgabe, nach der altjüdischen Münzbezeichnung → „Schekel“ genannt, die in Russland 50 → Kopeken, in den westlichen Ländern je eine Münzeinheit (→ 1 Mark, → 1 Franc, → 1 Schilling usw.) beträgt. Die Bezahlung des Schekels gibt das Wahlrecht für den Kongress. Der Zionismus besitzt in der deutschen Wochenschrift → Die Welt ein offizielles Organ. Seine Gedanken werden außerdem von nahe an vierzig Zeitschriften in hebräischer, deutscher, russischer, polnischer, italienischer, englischer, französischer, rumänischer Sprache, in → jüdisch-deutscher und jüdisch-spanischer Mundart vertreten. Er hat zahlreiche Schulen und Fortbildungsanstalten gegründet und in der letzten Zeit begonnen, sich einen Platz in den jüdischen Gemeindeverwaltungen zu erobern, um die Mittel der Gemeinden mehr, als es seitens der bisherigen antinationalen oder gedankenlosen Leiter geschehen ist, national-jüdischen Lehr-, Erziehungsund Kulturzwecken zuzuwenden. 3. „Stärkung des jüdischen Selbstgefühls und Volksbewusstseins“. Die zionistischen Vereine sorgen allenthalben dafür, dass ihre Mitglieder und die jüdische Menge überhaupt mit der Geschichte ihres Volkes bekannt, mit der → heiligen und profanen Literatur in hebräischer Sprache vertraut werden. Sie lehren die Juden, den Kopf hoch zu tragen, auf ihre Abstammung stolz zu sein und die antisemitischen Lügen, Verleumdungen und Beschimpfungen zu verachten. Sie sorgen nach Kräften für die Verbesserung der → Hygiene des jüdischen Proletariats, für dessen wirtschaftliche Hebung durch die Mittel der Assoziation und der Solidarität, für zweckmäßige Kindererziehung und für → Frauenbildung. Sie geben der studierenden Jugend ein Strebensziel und Lebensideal. Sie predigen die Pflicht musterhafter, durchgeistigter Lebensführung, die Abkehr von dem rohen Materialismus, in den die Assimilationsjuden mangels eines würdigen Lebensideals nur zu leicht versinken, und strenge Selbstkontrolle in Wort und Tat. Sie gründen → Turnvereine, um die lang vernachlässigte körperliche Entwicklung des Nachwuchses zu fördern. Sie geben der Feier jüdischer geschichtlicher Feste und Gedenktage einen neuen Im-
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puls. Sie machen sich in vielen Fällen sogar äußerlich durch Abzeichen kenntlich. Dem Zionisten gilt es für schimpflich, seine Nationalität zu verbergen. Er will als Jude erkannt werden, und da er sich immer natürlich gibt, keine Nachahmungskomödie spielt, niemand über seine Abstammung und sein Wesen täuschen will, sich niemand unter falscher Flagge aufdrängt, so sind seine Beziehungen zu den christlichen Nachbarn und Landsleuten gesünder, wahrer, aufrichtiger und würdiger als die der Assimilationsjuden, die mühselige, erfolglose und jedem einigermaßen geschmackvollen Christen peinliche Anstrengungen machen, ihr Judentum zu verheimlichen. 4. „Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.“ Einige der ausschlaggebenden Regierungen sind durch Denkschriften über die Ziele des Zionismus authentisch unterrichtet worden. An hochwichtigen Aufmunterungen und verheißungsvollen Äußerungen der Sympathie mit den Bestrebungen des Zionismus hat es nicht gefehlt. Für den Augenblick bemüht sich das Aktionskomitee, von der Türkei einen → Charter zur Besiedelung der verfügbaren, gegenwärtig wüsten Ländereien Palästinas und zur Aufschließung seiner Hilfsquellen zu erlangen. Die Verwertung eines solchen Charters ist ohne große Geldmittel nicht möglich. Um für den Augenblick, wo die Türkei den Charter gewähren würde, finanziell gerüstet zu sein, hat der zweite Zionistenkongress (1898) die Gründung eines national-jüdischen Bankinstituts, der „Jüdischen Kolonialbank“ → (Jewish Colonial Trust) mit dem Sitze in London beschlossen. Der Beschluss wurde im darauffolgenden Jahre (1899) ausgeführt. Die Bank ist geschaffen. Ihr Aktienkapital beträgt zwei Millionen Pfund Sterling. Ihre Tätigkeit kann sie nach ihren Statuten beginnen, wenn ein Achtel des Aktienkapitals, 250 000 Pfund Sterling, tatsächlich eingezahlt ist. Dieses nächste Ziel ist nun erreicht. Ein anderes Finanzwerkzeug des Zionismus ist der vom fünften Kongress (1901) geschaffene → Nationalfonds, der durch freiwillige Beiträge aufgebracht werden und 200 000 Pfund Sterling betragen soll. Die Hälfte dieser Summe soll zum Ankauf von Grund und Boden in Palästina verwendet werden, die andere ein unantastbarer Gemeinbesitz des jüdischen Volkes bleiben, sich durch Zinseszinsen und Spenden stetig vermehren und in bedeutungsvollen Augenblicken seine Zinserträgnisse für große Volkszwecke darbieten.
V. Ich habe mich bemüht, so kurz und objektiv wie möglich zu zeigen, was der Zionismus ist, was er will, wie er entstanden ist und wie er sich bisher entwickelt hat. Ich habe auch wiederholt erwähnt, dass ihm aus der Judenschaft heraus überaus heftige Gegner erwachsen sind. Mit diesen zu polemisieren betrachte ich nicht als die
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Aufgabe dieser leidenschaftslos referierenden Studie. Eine solche Polemik vor Lesern, die sich bloß orientieren wollen, wäre unfruchtbar und geschmacklos. Es seien den Gegnern des Zionismus deshalb bloß einige rasche Bemerkungen gewidmet. Viele von ihnen beschränken sich darauf, die Führer der zionistischen Bewegung zu verleumden und zu beschimpfen. Diese Art der Anfeindung können die Begeiferten verachten. Gegner, die mit solchen Waffen kämpfen, stehen sittlich so tief unter ihnen, dass sie gar nicht in ihren Gesichtskreis hereinragen. Männer, die, ohne den leisesten Vorteil für sich zu erwarten, aus reinster, uneigennützigster Liebe zu ihren unglücklichen Stammgenossen, aus Ehrfurcht vor ihren Vorfahren im Grabe, aus allgemeiner Menschenfreundlichkeit die schwersten Opfer an Geld, Zeit, Kraft und Gesundheit für die Hebung ihres Volkes und für die Befreiung von Millionen schuldlos verfolgter Menschen aus bitterstem Elend bringen, haben das Recht, lächelnd die Achsel zu zucken, wenn unzurechnungsfähige → Fanatiker oder bemitleidenswerte Lohnschreiber ihnen Eigennutz oder Eitelkeit vorwerfen. Neben diesen untergeordneten Gegnern gibt es auch solche, die nicht lediglich lügen und verleumden, sondern auch zu argumentieren suchen. Sie vergleichen gern die Apostel des Zionismus mit den falschen → Messiasen von der Art des berüchtigten Sabbathai Zewi, die in der jüdischen Geschichte eine nur allzu häufige Erscheinung sind und die über das von ihnen betörte jüdische Volk immer das schwerste Unheil gebracht haben. Den Zionismus mit den Schwärmereien oder Betrügereien der falschen Messiase vom Schlage eines Sabbathai Zewi zu vergleichen, setzt sehr viel Unverstand oder schlechten Glauben voraus. Den Zionismus kennzeichnet gerade die Abwesenheit jedes mystischen Elements. Er verspricht seinen Anhängern keine Wunder, er schärft ihnen vielmehr immer ein, dass ihre Befreiung aus einer als unleidlich empfundenen Lage nur ihr eigenes Werk, nur die Frucht einer langen, schweren, allgemeinen Anstrengung sein könne. Man nennt den Zionismus einen Traum und bestreitet, dass seine praktische Verwirklichung möglich sei. Auf die Einwände dieser Kategorie ist von den Zionisten hundertmal überzeugend geantwortet worden. Diese einfach verneinende Kritik kann man auf sich beruhen lassen. Ihre einzig richtige Widerlegung sind Taten, wie der Zionismus sie schon getan hat und weiter zu tun gedenkt. Der eine Punkt, der die Möglichkeit einer Verständigung zwischen Zionisten und nichtzionistischen Juden wahrscheinlich für immer ausschließt, ist die Frage der jüdischen Nationalität. Wer behauptet und glaubt, dass die Juden kein Volk sind, der kann in der Tat kein Zionist sein, der kann sich einer Bewegung nicht anschließen, die nur berechtigt ist, wenn sie einem unter anormalen Bedingungen lebenden und leidenden Volke normale Daseinsbedingungen schaffen will. Wer dagegen überzeugt ist, dass die Juden ein Volk sind, der muss notwendig Zionist werden, da nur die Rückkehr in das eigene Land das überall gehasste, verfolgte und unterdrückte Judenvolk vor leiblichem und geistigem Untergange bewahren kann. Viele Juden, namentlich des Westens, haben innerlich vollkommen mit dem Judentum gebrochen, und sie werden es wahrscheinlich bald auch äußerlich tun, und
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wenn nicht sie, dann ihre Kinder oder Enkel. Diese wünschen, ganz unter ihren christlichen Landsleuten aufzugehen. Sie empfinden es als schwere Störung, dass andere Juden neben ihnen ihr besonderes Volkstum laut verkünden und reinliche Scheidung zwischen sich und den anderen Völkern fordern. Ihre große Angst ist, in ihrem Geburtslande, dessen freie Bürger sie sind, als Fremde bezeichnet zu werden. Sie fürchten, dass man dies mehr als je vorher tun wird, wenn ein großer Teil des jüdischen Volkes offen die Rechte eines selbstständigen Volkes für sich fordert, und nun gar, wenn erst irgendwo in der Welt wirklich ein politisches und kulturelles Zentrum des Judentums entsteht, um das sich Millionen national geeinigter Juden gruppieren. Alle diese Gefühle der Assimilationsjuden sind verständlich. Sie sind auch von ihrem Standpunkt aus berechtigt. Aber sie haben keinen Anspruch darauf, dass der Zionismus ihnen zuliebe Selbstmord begehe. Die Juden, die in ihrem Geburtslande zufrieden und glücklich sind und die Zumutung, es aufzugeben, empört zurückweisen, sind etwa ein Sechstel des jüdischen Volkes, sagen wir zwei Millionen von zwölf. Die übrigen fünf Sechstel, zehn Millionen, fühlen sich in ihrem Aufenthaltsorte sehr unglücklich, und sie haben auch allen Grund dazu. Diesen zehn Millionen ist nicht zuzumuten, dass sie sich für immer widerstandslos in ihre Knechtschaft fügen, dass sie jedes Streben nach Erlösung aus ihrer Not aufgeben, bloß damit das Behagen der zwei Millionen glücklicher und zufriedener Juden nicht gestört werde. Die Zionisten sind übrigens der festen Überzeugung, dass die Angst der Assimilationsjuden unbegründet ist. Die Wiedervereinigung des jüdischen Volkes in Palästina wird nicht die Folge haben, die jene befürchten. Gibt es erst wieder ein Judenland, so werden die Juden die Wahl haben, dahin auszuwandern oder in ihrer gegenwärtigen Heimat zu bleiben. Viele werden ohne Zweifel bleiben, und diese Bleibenden werden durch ihre Wahl bewiesen haben, dass sie ihr Geburtsland ihrem Stamm und ihrem nationalen Boden vorziehen. Es ist möglich, dass die Antisemiten ihnen auch dann noch das höhnische und perfide: „Fremdlinge!“ ins Gesicht schleudern werden. Aber die wirklichen Christen unter ihren Landsleuten, diejenigen, die nach den Lehren und Beispielen des Evangeliums denken und fühlen, werden überzeugt sein, dass sie sich in ihrem Geburtsland nicht als Fremde betrachten, und sie werden ihren freiwilligen Verzicht auf die Rückkehr in ein eigenes Judenland, ihre treue Anhänglichkeit an die Heimat und die christlichen Nachbarn richtig zu deuten wissen. Die Zionisten wissen, dass sie ein Werk von beispielloser Schwierigkeit unternommen haben. Man hat noch nie versucht, mehrere Millionen Menschen in kurzer Zeit friedlich aus verschiedenen Ländern auf einen anderen Boden überzupflanzen; man hat noch nie versucht, Millionen berufsloser, körperlich kläglich herabgekommener Proletarier in Ackerbauer und Viehzüchter zu verwandeln, naturentwöhnte → städtische Krämer und Händler, Agenten und Stubenmenschen wieder mit dem Pflug und der mütterlich nährenden Scholle vertraut zu machen. Es wird nötig sein,
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die Juden verschiedener Herkunft aneinander zu gewöhnen, sie zu nationaler Einheitlichkeit praktisch zu erziehen und dabei die übermenschlichen Hindernisse der Sprachenverschiedenheit, der ungleichen Kultur und der aus dem Geburtsland mitgebrachten fremdnationalen Denkgewohnheiten Vorurteile, Neigungen und Abneigungen zu besiegen. Was den Zionisten den Mut gibt, diese → Herkulesarbeit zu beginnen, das ist ihre Überzeugung, dass sie ein nötiges und nützliches Werk tun, ein Werk der Liebe und der Gesittung, ein Werk der Gerechtigkeit und der Weisheit. Sie wollen acht bis zehn Millionen ihrer Stammgenossen aus unerträglicher Not retten. Sie wollen die Völker, unter denen sie jetzt vegetieren, von ihrer unangenehm empfundenen Gegenwart befreien. Sie wollen dem Antisemitismus, der überall die öffentliche Moral erniedrigt und die schlimmsten Instinkte großzieht, das Objekt entziehen. Sie wollen aus den Juden, denen man gegenwärtig → Parasitismus vorwirft, unanfechtbare Produzenten machen. Sie wollen ein Land, das heute eine Wüste ist, mit ihrem Schweiße tränken und mit ihren Händen pflegen, bis es wieder wie einst ein blühender Garten ist. So will der Zionismus in gleichem Maße den unglücklichen Juden und den christlichen Völkern, der Zivilisation und der → Weltökonomie dienen, und die Dienste, die er leisten kann und leisten will, sind groß genug, um seine Hoffnung zu rechtfertigen, dass auch die christliche Welt sie würdigen und ihn mit ihrer werktätigen Sympathie unterstützen wird. Quelle: ZS1, S. 18–38, dort mit der Datierung: 1902. Ferner in: Die Welt, 21.11.1902, H. 47, S. 2–4 (Teil 1) u. Die Welt, 5.12.1902, H. 49, S. 3–4 (Teil 2).
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44 → Achad-Haam über → „Altneuland“ Als ich Herzls Roman „Altneuland“ gelesen hatte, drängte es mich, all das Gute, das ich davon dachte, laut auszusprechen. Ich hätte gern im Einzelnen gezeigt, wie Begeisterung für den Gegenstand und hohe Schriftstellerbegabung die etwas unsichere, etwas zweifelhafte → Dichtungsgattung der Utopie erneuen, die menschlichen Träger der → Fabel, die als Symbole naturgemäß etwas schattenhaft sein müssen, in individualisierte Charaktere umzaubern und mit sprudelndem Leben erfüllen, die eisige Lehrhaftigkeit, die von einer Utopie unzertrennlich ist, durch erquickende poetische Wärme ersetzen, einer Luftspiegelung der Phantasie einen erstaunlichen Wirklichkeitsschein verleihen können. Ich hätte auch hervorheben wollen, welche zugleich schwungvoll schaffende und nüchtern rechnende Verstandesarbeit in den Einzelheiten der perspektivisch geschilderten Einrichtungen des als neuerstanden gedachten jüdischen Gemeinwesens im Lande der Väter steckt. Eine Art Schamhaftigkeit, die jeder fein organisierte Mensch mir nachfühlen wird, bestimmte mich, mir diese Genugtuung zu versagen. Man kennt die Freundschaftsbande, die mich mit Herzl verknüpfen. Auf Gerechtigkeit und nun gar auf Wohlwollen haben weder er noch ich zu rechnen. Ich fürchtete, gegnerische Bosheit würde über Kameraderie höhnen, und war nicht tapfer genug, darüber im Voraus die Achsel zu zucken. Ich fürchtete es ja auch nicht für mich, denn ich lasse mir die Nichtswürdigkeiten von Burschen, die schlechten Glaubens sind, nicht nahegehen; ich scheute es um Herzls willen, den es verletzen konnte, wenn unterstellt wurde, er hätte sich von mir Freundesdienste ausgebeten. Eine Kritik, in der Achad-Haam an dem Buche und seinem Verfasser sein Mütchen gekühlt hat, bestimmt mich indes, meine Zurückhaltung zu überwinden. Es gibt Angriffe, gegen die ein hochgesinnter und stolzer Mann sich nicht verteidigen kann, die aber gleichwohl abgewehrt und gesühnt werden müssen, wenn das Gerechtigkeitsgefühl nicht allzu schwer beleidigt sein soll. Mein Freund Herzl wird mir deshalb verzeihen, wenn ich mich mit seinem Kritiker auseinandersetze. Sehen wir, was Achad-Haam „Altneuland“ vorzuwerfen hat. Es ist unwahrscheinlich, dass die Dinge sich so zutragen werden, wie „Altneuland“ sie erzählt. Zwanzig Jahre sind ein zu kurzer Zeitraum für die Vorgänge, die geschildert sind. Es ist nicht der Mühe wert, diesen Einwand zurückzuweisen. Vorhersagungen gegenüber kann jeder Flachkopf überlegen tun. Herzl stellt Vorgänge dar, die sich seiner Ansicht nach begeben können, wenn seine Voraussetzungen zutreffen. Achad-Haam weiß es besser. Er kennt die Zukunft ganz genau. Er vermag auf ein Haar anzugeben, was sich in zwanzig Jahren zutragen wird, was nicht. Wer ihn für einen untrüglichen Propheten hält, mag ihm glauben. Wer dagegen bezweifelt, dass irgendein Sterblicher sich unfehlbarer Sehergaben erfreut, der wird sich nur über die Dreistigkeit wundern, mit der Achad-Haam im Namen seiner eigenen Voraus-
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sicht die doch wohl mindestens ebenso berechtigte Voraussicht Herzls für falsch erklärt. Es ist nicht möglich, durch rasches Aufkaufen alles käuflichen Landes spekulative Preistreiberei zu verhüten, vielmehr müssen diese plötzlichen und umfassenden Landkäufe selbst die Preise in die Höhe schnellen. Wer die → Gründungsgeschichte des Trusts kennt, der weiß, dass gleichzeitige plötzliche, diskrete Verhandlungen und Abschlüsse mit allen in Betracht kommenden Besitzern das bewährte Mittel sind, um Einverständnisse zwischen diesen und maßlose Preisforderungen zu verhüten. Aber woher soll Achad-Haam wissen, was ein → Trust ist und wie er gemacht wird? „Es ist nicht ganz klar, wie die Neue Gesellschaft es fertiggebracht hat, hinreichenden Boden für die aus der ganzen Welt zusammengeströmten Millionen Juden zu erwerben, wenn das ganze Getreideland, welches früher in den Händen der Araber war, d. h. also der größte Teil von Palästina überhaupt, auch fernerhin ungeschmälert in den Händen der Araber verblieb.“ Achad-Haam ist das begreiflicherweise nicht ganz klar. Jedem anderen Leser ist es ganz klar. Heute gilt in Palästina als Getreideland nur dasjenige, das den → Getreidebau nach arabischen Methoden lohnt. Alles Land, was Bewässerung, Düngung und Pflügung erfordert, um sich zum Anbau zu eignen, ist nicht urbar für die Araber, die weder bewässern noch düngen noch pflügen; es ist dies aber für Landwirte, die sich vorgeschrittener Werkzeuge und Methoden bedienen. So können also die Araber ihr Land behalten und die neue Gesellschaft kann doch neben ihnen hinreichenden Boden für die Einwanderer erwerben. „Die Zukunftsvision Herzls ist unjüdisch, denn die jüdischen Bürger Palästinas, die sprechend eingeführt werden, sprechen nicht hebräisch, sondern deutsch.“ Ganz richtig. Aber das ist darum, weil das Buch deutsch geschrieben ist. Das ist nämlich so der Brauch im ganzen gesitteten Schrifttum: Der Dichter legt seinen Personen, welcher Herkunft sie auch sein mögen, seine eigene Sprache in den Mund. In → Shakespeares „Julius Cäsar“ sprechen die Römer nicht Lateinisch, sondern Englisch. Man würde aber Shakespeare unrecht tun, wenn man unterstellen würde, er habe damit Geringschätzung der lateinischen Sprache ausdrücken wollen. → Milton hat einen „Samson“, → Racine eine „Athalie“, → Otto Ludwig → „Makkabäer“, → Hebbel eine → „Judith“ geschrieben. In allen diesen Dichtungen kommen echte Juden aus der Zeit der jüdischen Selbstständigkeit vor, aber sie sprechen nicht Hebräisch, sondern Englisch, Französisch oder Deutsch. Achad-Haam wird meiner Versicherung vielleicht nicht glauben wollen. Nun gut. Wenn ihm auch Milton, Racine, Otto Ludwig und Hebbel unbekannt sein mögen, die Bibel kennt er hoffentlich. Da kann er denn im → 1. Buch Mosis, Kapitel 39, 40 und 41, hebräische Reden der sprechend eingeführten Frau Potiphar, des Mundschenks, des Bäckers und des Pharao lesen. Diese ägyptischen Persönlichkeiten sprachen aber in Wirklichkeit schwerlich Hebräisch, sondern Ägyptisch, was eine ganz andere Sprache ist. Herzls Methode ist also dieselbe wie die des ersten Buches Mosis; verstehen Sie nun, Achad-Haam?
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Aus der deutschen Rede der Personen in „Altneuland“ ist nicht zu erkennen, welche Sprache diese Personen sprechen, sondern nur, welche Sprache der Verfasser des Buches schreibt. „Es ist nicht gesagt, dass in den Schulen Hebräisch gelehrt wird.“ Nein, das ist nicht gesagt. In den vorgeschrittenen Literaturen vermeiden die Schriftsteller, das Selbstverständliche zu sagen. Sie lernen das schon in der Schule, mit den Anfangsgründen der Literatur, „Aus der ganzen Anlage der jüdischen Akademie geht hervor, dass sie sich mit der hebräischen Sprache und Literatur nicht befasst, wie es die Pariser mit der französischen tut.“ Kein Wort von „Altneuland“ rechtfertigt diese Behauptung, die eine freie Erfindung Achad-Haams ist. „Altneuland“ ist zu europäisch. Es gibt da Zeitungen, Theater, Opernhäuser; man zieht für diese sogar weiße Handschuhe an. Überall „Europäer, europäische Sitten, europäische Erfindungen. Nirgends eine besondere jüdische Spur.“ In der Tat: „Altneuland“ ist ein Stück Europa in Asien. Da hat Herzl genau das gezeigt, was wir wollen, worauf wir hinarbeiten. Wir wollen, dass das wiedergeeinte, befreite jüdische Volk ein Kulturvolk bleibt, soweit es dies schon jetzt ist, ein Kulturvolk wird, soweit es dies noch nicht ist. Wir ahmen dabei niemand nach, wir benützen und entwickeln nur unser Eigentum. Wir haben an der europäischen Kultur mitgearbeitet, mehr als an unserem Teil; sie ist unser in demselben Maße wie der Deutschen, Franzosen, Engländer. Wir gestatten nicht, dass man einen → Gegensatz zwischen Jüdisch, unserem Jüdisch, und Europäisch konstruiere. AchadHaam mag die europäische Kultur etwas Fremdes sein. Dann sei er uns dankbar dafür, dass wir sie ihm zugänglich machen. Wir aber werden nie zugeben, dass die Rückkehr der Juden in das Land ihrer Väter ein Rückfall in Barbarei sei, wie unsere Feinde verleumderisch behaupten. Seine Eigenart wird das jüdische Volk innerhalb der allgemeinen westlichen Kultur entfalten, wie jedes andere gesittete Volk, nicht aber außerhalb, in einem kulturfeindlichen, wilden → Asiatentum, wie Achad-Haam es zu wünschen scheint. „Das neue → Beth Hamikdasch wird nicht auf dem Tempelberg erbaut werden! Das darf nicht sein! Es ist doch nicht erlaubt, das Heiligtum an einer anderen Stelle zu errichten!“ Ich führe diesen Einwand an, um zu zeigen, wie kindisch böswillige Nörgelei werden kann. Frage Achad-Haam doch bei den jüdischen Bewohnern des → russischen Ansiedlungsgebietes an, was sie vorziehen: in ihrem Elend zu bleiben oder freie Bürger eines blühenden Palästina zu werden, auch wenn das Beth Hamikdasch nicht auf dem Tempelberge steht. Er braucht uns die Antwort nicht mitzuteilen; wir kennen sie im Voraus. Was aber Achad-Haam am grimmigsten rügt, das ist die Toleranz, die in Altneuland herrscht. Christen – sogar christliche Geistliche! – und Mohammedaner sind zu einem → Seder geladen – fürchterlich! Am Ende gehen auch Juden zu einer
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christlichen Osterfeier?, fragt er mit vernichtendem Hohn. Er gibt in wiederholten tückischen Anspielungen zu verstehen, dass die Einrichtungen und Zustände in Altneuland eigentlich zur → Taufe hinüberleiten. Diese nichtswürdige Unterstellung ist nicht neu. Achad-Haam hat sich diesen Giftpfeil aus dem Köcher orthodoxer Lügner gelangt. „Sich zusammenrollen und zurückziehen, nur um den Fremden zu zeigen, dass man unendlich tolerant, tolerant bis zum Ekel ist – das vermöchten wohl auch die → Neger zu vollbringen.“ Achad-Haam will keine Toleranz. Fremde sollen vielleicht geschlachtet, wenigstens verjagt werden, wie in → Sodom und Gomorrha. Der Gedanke der Toleranz erregt seinen Ekel. Nun, unseren Ekel erregt es, ein verkrüppeltes, geducktes Opfer der Intoleranz, einen verachteten Sklaven intoleranter Knutenschwinger in dieser Weise von der Toleranz sprechen zu hören. Achad-Haam wirft Herzl vor, dass er die Sitten Europas nachahmt. Er gestattet nicht, dass man Europa seine Akademien, Opernhäuser und weißen Handschuhe entlehne. Das einzige, was er aus Europa nach Altneuland mitnehmen möchte, das sind die → Grundsätze der Inquisition, die Sitten der Antisemiten und die → Judengesetze Russlands. Man würde vor einer derartigen Missbildung des Geistes Abscheu empfinden, wenn das Mitleid nicht vorwöge. Das Mitleid mit einem Manne, der sich aus dem → Bann des Ghettogedankens nicht losringen kann. Die Vorstellung der Freiheit ist ihm unfassbar. Freiheit scheint ihm ein Ghetto mit umgekehrtem Zwange, mit einem Zwange, der ungemildert fortbestehen bleibt, nur nicht mehr gegen die Juden, sondern gegen die Nichtjuden gerichtet ist. Dass wir uns die Freiheit anders denken, braucht einem Europäer nicht erst gesagt zu werden. Das Zukunfts-Palästina unserer Wünsche und Träume ist kein Ghetto, sondern eine Stätte der Freiheit für jedermann, der All-Freiheit. Herzl knüpft einfach an die altjüdische Überlieferung an, wenn er, nach dem schönen → Worte unserer Ahnen, „die Fremden in unseren Toren“ aller Rechtswohltaten des allgemeinen Gesetzes teilhaftig werden lässt. Das neuerstandene Judenvolk soll kein Volk von Boxern sein, sondern ein gastfreundliches, nächstenliebendes, allen Brudergefühlen zugängliches Volk. Sicher in seiner Eigenart und stolz auf sie, wird es ohne Misstrauen und Furcht Fremde in seiner Mitte siedeln sehen, überzeugt, dass es nicht die geringste Gefahr läuft, von ihnen entnationalisiert zu werden. Ich bin mit den wesentlichen Einwänden Achad-Haams gegen die Einzelzüge des Herzl'schen Zukunftsbildes fertig. Sie sind zum Teile töricht, zum anderen Teile beschränkt und tückisch. Doch darüber dürfen wir uns nicht beschweren. → „Wer da baut an der Straßen – Muss sich meistern lassen“, sagt ein weises Sprichwort, das der unausgesprochene, aber selbstverständliche Nachsatz ergänzt: „auch vom unberufensten Vorbeischlenderer, namentlich von diesem.“ Der bedauernswerte Achad-Haam hat in seinem Sklavendasein so wenig Rechte, dass ihm das Recht, sich durch albernes Geschwätz lächerlich zu machen, nicht missgönnt und nicht verkümmert sei.
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Er geht jedoch weit über sein Recht hinaus, wenn er dem Unsinn, den er zu schwätzen hat, einen überlegen tuend ironischen Ton gibt und wenn er in seine Kritiken, denen ein Achselzucken gerecht wird, böswillige → Denunziationen gegen den Zionismus und seine Endabsichten einschmuggelt. Das ist eine Dreistigkeit, die uns die Pflicht auferlegt, aus unserer Zurückhaltung herauszutreten und AchadHaam die Abfertigung zuteilwerden zu lassen, auf die er Anspruch hat. Achad-Haam hat ein Verdienst: Er schreibt ein gutes, fließendes Hebräisch. Das ist rühmlich. Aber leider hat er in diesem gefälligen Hebräisch nichts, schlechterdings nichts zu sagen. Seine sogenannten Essays sind ein Gefasel, dessen anspruchsvolle Nichtigkeit mit keinem Worte zu kennzeichnen ist. Es ist ein Durcheinander von aufgeschnappten, unverstandenen Schlagwörtern europäischer Feuilletonisten, ein Chaos qualmiger Redensarten, in denen man vergebens einen einzigen klaren, deutlich umrissenen, logisch entwickelten, verständigen Gedanken sucht. Durch dieses graue, dünne Gewölk zucken häufig → bengalische Flammen biedermännischer Judengesinnung, eines jüdischen Nationalgefühls von → mystischer Färbung, womit indes ein realistischer Jude, der sein geschichtliches Ideal in Wirklichkeit umsetzen möchte, schlechterdings nichts anfangen kann. Den naiven Leser, der nicht mit dem Kopfe, sondern mit dem Herzen liest, bestechen die nationalen Ergüsse, deren unverständliche Mystik ihnen Tiefsinn scheint und in die sie, geübte Deuter, alles Mögliche hineingeheimnissen, was nie darin gewesen ist. „Legt ihr nicht aus, so legt ihr unter.“ In den letzten zwei oder drei Jahren haben manche es sich angelegen sein lassen, ihn aus seinem Winkel, wo er lange unbekannt und unbeachtet nach Herzenslust gefaselt hatte, hervorzuschleifen und der weiteren jüdischen Welt vorzuführen. Man hat viele seiner Essays ins Deutsche übersetzt. Man hat ihm Studien, Betrachtungen, Kommentare gewidmet. Wir lächelten, wandten den Kopf weg und ließen geschehen. Unser Zionismus war es, der für all dies die Tribünen und Schauplätze geschaffen hatte. Die Übersetzungen aus Achad-Haam und die „Studien“ (!) über ihn erschienen in unseren zionistischen Zeitungen. Die Vorträge über den großen Mann wurden in zionistischen Vereinen gehalten. Das Interesse, das ihm zugewendet wurde, war ein Ausfluss der Teilnahme, die der Zionismus für alles Jüdische geweckt hatte. Wenn urteilsfähige Juden bei dem sonderbaren Zeug, das sie zu lesen und zu hören bekamen, nur ganz leise den Kopf schüttelten, so war es, weil der Zionismus sie Pietät gegen alles Jüdische, alles Hebräische gelehrt hatte. Der Zionismus hat noch mehr getan; er hat nicht nur für Achad-Haams Übersetzer und Kommentatoren, sondern auch für ihn selbst ein Publikum geschaffen, indem er überall die hebräische Sprache lehrte und verbreitete, die das nichtzionistische Judentum grundsätzlich aus der Jugenderziehung ausschließt – siehe den → Bescheid der Berliner Schuldeputation über den Unterricht in der hebräischen Sprache an den Gemeindeschulen, der nach jener Urkunde „von den jüdischen Eltern selbst nicht gewünscht wird“. Wir gönnten es Achad-Haam, aus seiner Dunkelheit hervorzutauchen, sich im Lichte der großen
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zionistischen Öffentlichkeit zu sonnen, sich in die Gesellschaft europäischer Schriftsteller lotsen zu lassen und sich zu schmeicheln, dass er nun auch zur europäischen Literatur gehöre. Wenn er aber unsere Nachsicht dazu benützt, um seine naive Gemeinde gegen unseren Führer und seine harte, aufopferungsvolle Arbeit zu hetzen, wenn er dem Zionismus, dem er so viel schuldet, damit dankt, dass er ihn tückisch und treulos angreift, dann wäre Nachsicht eine Sünde, und es ist Zeit, dem nicht länger harmlosen Spiele ein Ende zu machen. Allerdings nicht um Achad-Haams willen; das wäre nicht der Mühe wert; aber wegen der Gemeinde, die – viel durch unsere Schuld – an ihn glaubt und von ihm irregeleitet wird. Achad-Haam gehört zu den schlimmsten Feinden des Zionismus. Er bekämpft ihn wohl anders als die Abfallslüsternen, die wollen, dass das Judentum spurlos verdunste, anders als die orthodoxen Dunkelmänner, die es für eine Sünde erklären, dem → Messias vorzugreifen, aber er bekämpft ihn nicht minder grimmig und unehrlicher. Denn er wagt, sich selbst für einen Zionisten auszugeben und vom wirklichen, vom einzig existierenden Zionismus mit wohlberechneten Verachtungsmienen als von „diesem“, vom → „politischen“ Zionismus zu sprechen. Der „politische“ Zionismus, sagt er, baute sich auf dem Grundsatze auf, die → „Judenfrage“ könne nur durch Beseitigung der „Judenkonkurrenz“ gelöst werden; wenn aber auch nach → Erlangung des Charters so viel Juden in der → Zerstreuung zurückbleiben, dass die „Judenkonkurrenz“ fortdaure, dann sei auch mit dem Charter die Judenfrage nicht gelöst. Was habe der „politische“ Zionismus dann geleistet? Er fügt hinzu: „Die Führer des politischen Zionismus aber stellen sich schwerhörig, sooft diese Frage an sie herantritt; werden sie aber an die Wand gedrückt, dann tun sie, als ob sie nicht verständen, was man von ihnen wolle, und antworten ausweichend.“ Ich will sehen, ob Achad-Haam auch meine Antwort „ausweichend“ finden wird. Vor allem ist es unwahr, schlicht und grob unwahr, dass der Zionismus behauptet, die „Judenfrage“ bestehe bloß in der „Judenkonkurrenz“. Das mögen die gemütlichen → „Abwehrvereine“ gesäuselt haben; von Zionisten ist es, soweit ich die einschlägige Literatur übersehe, nie gesagt worden. Ich für meinen Teil habe von der Judenkonkurrenz nie ein Wort gesprochen. Ich halte sie für vollkommen unerheblich. Wenn alle Juden der Welt Rentner wären, wenn nirgendwo in der Welt ein Jude einem Nichtjuden im Erwerb als Mitstrebender entgegenträte, dann würde die Judenfrage genauso bestehen wie jetzt, sie würde nur die Form des Neides annehmen. Der Judenhass ist eben das Vorbestehende, das dann nach annehmbaren Begründungen und Rechtfertigungen sucht. Konkurrenz ist die allgemeine Erscheinung in der individualistischen Wirtschaftsordnung. Der Christ ärgert sich auch über seinen christlichen Konkurrenten, und wenn dieser zu scharf gegen ihn angeht, so sucht er ihm mit Gesetzen gegen unlauteren Wettbewerb in den Arm zu fallen; aber er macht ihm aus seiner Konkurrenz keinen sittlichen Vorwurf und er verlangt nicht, dass er wirtschaftlich gelähmt
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oder ganz ausgerottet werde. Der jüdische Konkurrent aber scheint ihm ein Verbrecher, den man mit allen Mitteln unschädlich machen müsse. Die Wut richtet sich eben nicht gegen den Konkurrenten, sondern gegen den Juden, und sie richtet sich gegen ihn, weil sie nicht erst vom Konkurrenten entfacht wurde, sondern schon gegen den Juden bestand. Erwirbt der Jude, so hasst man ihn als Konkurrenten; verzehrt er seine Zinsen, so hasst man ihn um seines Besitzes willen; gehasst wird er immer, und der Hinweis auf die Konkurrenz ist nur eine nachträglich zur Beschönigung ersonnene Ausrede. Die wirklichen Gründe des Judenhasses habe ich in meiner als Flugschrift erschienenen → Rede „Der Zionismus und seine Gegner“ entwickelt und brauche sie hier nicht zu wiederholen. Wenn wir den Charter erlangen, wenn wir Palästina besiedeln, so werden nicht entfernt alle Juden in das Land der Väter zurückkehren. Die Judenkonkurrenz wird also durchaus nicht aufhören. Die Judenfrage wird aber dennoch gelöst sein, weil kein Jude mehr gezwungen sein wird, um seines Judentums willen zu leiden. Schafft man dem Juden in der Zerstreuung Bedingungen, die ihm die Konkurrenz mit dem nichtjüdischen Nachbar und Wettbewerber unbillig erschweren oder unmöglich machen, so hat er dann die Wahl, sich durch Auswanderung in das Judenland diesen Bedingungen zu entziehen. Gewährt man ihm dagegen die gleichen gesetzlichen und gesellschaftlichen, materiellen und moralischen, → ponderablen und imponderablen Bedingungen wie dem nichtjüdischen Wettbewerber, so wird er sich auch in der Zerstreuung über den Konkurrenzkampf nicht beklagen und das Vorhandensein einer Judenfrage nicht empfinden. Die Konkurrenz selbst wird der Zionismus nicht aus der Welt schaffen. Der Jude wird die Konkurrenz auch in Palästina vorfinden. Aber es wird eine Konkurrenz mit gleichem Rechte, gleichen Waffen, gleichen Kampfregeln sein. Es ist möglich, dass eine andere, die sozialistische Wirtschaftsordnung die Konkurrenz aus dem Wirtschaftsleben ausmerzt. Aber das hat mit dem Zionismus nichts zu tun, der in erster Reihe eine nationalpolitische Bewegung ist und sich mit keiner wirtschaftlichen Theorie identifiziert. Was wir wollen und weshalb wir es wollen, das haben wir nicht „ausweichend“, sondern klipp und klar gesagt. Was aber will Achad-Haam? Darauf habe ich in seinem Gefasel vergebens eine Antwort gesucht und danach habe ich vergebens andere gefragt, die Hebräisch leichter lesen, als ich es leider kann. Nach seinen Schlusssätzen möchte es scheinen, als werfe er dem Zionismus hauptsächlich vor, dass er zu rasch arbeite. „Eine Renaissance des Judentums, die wirklich jüdisch und nicht negerhaft wäre“, (dieser Blödsinn soll ein Witz sein) „kann nicht in einem Atemzug vollbracht werden“, (haben wir das je behauptet? Wir kennen die Schwierigkeiten des Werkes besser als Achad-Haam, der nie einen Finger dafür gerührt hat) „nicht allein mittels Aktiengesellschaften und → Genossenschaften“, (nicht damit allein, sondern mit der ernsten Mitarbeit des ganzen Volkes, das sich aller geeigneten Werkzeuge bedienen muss, auch der Aktiengesellschaften und Genossenschaften) „ein historisches Ideal bedarf einer historischen Entwicklung, und die historische Entwicklung schreitet langsam.“
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Diese Weisheit lernen wir nicht von Achad-Haam. Gewiss „bedarf“ – zwar nicht „das historische Ideal“, wie er sich in seiner qualmig unverständlichen Weise ausdrückt, aber die Verwirklichung eines geschichtlich gewordenen Ideals der Zeit und sie kommt durch natürliche Entwicklung der Verhältnisse zustande. Der Zionismus ist aber selbst ein Stück geschichtlicher Entwicklung, er ist eine Bewegung, die nicht der Laune oder Willkür eines oder einiger Menschen entsprungen ist, sondern aus den Verhältnissen des jüdischen Volkes in der Zerstreuung mit Naturnotwendigkeit organisch herausgewachsen ist. Gerade sein Charakter einer geschichtlichen Erscheinung, einer nicht zu unterdrückenden Entwicklungsphase der jüdischen Volksgeschicke ist die große, die elementare Stärke des Zionismus, und wir wissen nicht, wie Achad-Haam dazu kommt, uns seinen Satz, der, wenn er in verständliche Menschenrede gefasst wird, selbstverständlich ist, gewissermaßen als Entgegnung oder Widerlegung mit triumphierenden Mienen → vorzudeklamieren. „Die historische Entwicklung schreitet langsam.“ Gewiss; aber damit sie, wenn auch noch so langsam, schreite, muss sie einmal beginnen. Die Zionisten haben sich entschlossen in Bewegung gesetzt. Wie lange sie unterwegs sein werden, das hängt nicht von ihnen allein ab. → „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“, sagt Herzl. Wenn das jüdische Volk nicht will, ist es ein Märchen. Wenn das jüdische Volk halb will, flau will, unpraktisch will, so werden die Verwirklichungen mühseliger, unvollständiger, zögernder sein. Der Abschluss des vom Zionismus begonnenen Werkes liegt in einer vielleicht fernen Zukunft. Aber seinen Beginn sehen wir schon heute, allen Achad-Haams zum Trotz. Der Zionismus ist nicht die einzige Entwicklung der jüdischen Geschichte. Sie hat sich auch außerhalb des Zionismus entwickelt: in → Russland zur Gesetzgebung Alexanders III. und zu den → Begebenheiten von 1881/82; in → Rumänien zum jüngsten Handwerkergesetz; in Deutschland von → Stöcker über → Ahlwardt zu → Bindewald und dem Grafen → Pückler-Klein-Tschirne; in → Österreich zu Lueger und seinem System; in Frankreich zum → Dreyfus-Handel und → Bayados-Nationalismus; in England zur königlichen → Kommission für die Fremdeneinwanderung. Diese Entwicklung war, finde ich, gar nicht langsam, sondern recht schnell. Wohin sie weiter führt, führen muss, wenn es bei Achad-Haams Faseleien bleibt, das kann auch ein Tor erraten. Der Zionismus hat eine andere Entwicklungsreihe begonnen, und diese führt zum Heile. Langsam, das mag sein; doch besser langsam als gar nicht. Und sicher wird sie durch das Treiben der Achad-Haams nicht beschleunigt, sondern noch mehr verzögert, noch mehr aufgehalten. Achad-Haam ist ein weltlicher → Protestrabbiner. Dagegen haben wir nichts. Wir können ihm jedenfalls seine Opposition gegen den Zionismus ebenso wenig verbieten wie den Protestrabbinern. Aber wir haben das Recht und die Pflicht, uns dagegen zu verwahren, dass er sich einen Zionisten nennt. Er ist kein Zionist. Er ist das Gegenteil eines Zionisten. Es ist ein bloßer Kniff, dass er von einem „politischen“ Zionismus spricht, um glauben zu machen, dass es einen anderen gibt, einen geheimnisvollen, nie erklärten, seinen eigenen. „Politischer“ Zionismus ist →
44 Achad-Haam über „Altneuland“
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Tautologie. Ein Zionismus, der nicht politisch wäre, das heißt, der nicht die Schaffung einer Heimstätte für den nicht anpassungsfähigen oder nicht anpassungswilligen Teil des jüdischen Volkes anstrebte, wäre überhaupt kein Zionismus, und wer sich dieses Wortes in einem anderen Sinne als in dem vom → Baseler Programme definierten bedient, der macht sich gewöhnlicher Bauernfängerei schuldig. Das mussten wir unseren russischen Brüdern sagen, die gute Zionisten sind oder es doch sicherlich sein möchten und die im Spiele Achad-Haams nicht klar sehen. Quelle: Die Welt, 13.3.1903, H. 11, S. 1–5.
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45 Zionismus und jüdischer Nationalismus Es gewährt einem ernsten, sein Volk liebenden und seiner angeborenen Pflichten gegen seine Gesamtheit sich bewussten Juden immer eine große Genugtuung, wenn so ausgezeichnete Stammgenossen wie Herr → Ernst Mezei sich mannhaft und vorbehaltlos zu ihrer Abstammung bekennen und aus ihrem Verhältnisse zu ihrem Stamme die richtigen Folgerungen ziehen. Das Verdienst ist umso größer, als dieses Bekenntnis in dem Falle des Herrn Mezei unter besonders schwierigen Verhältnissen erfolgte. Denn Ungarn ist das Land einer → Assimilation, wie es so fanatisch weder in Frankreich, das die Spezies der „Gallier jüdischer Konfession“ und der → Freidenker, die „folglich“ mit dem Judentum nichts mehr gemein haben, kennt, noch in Deutschland, das die Spielart der jüdischen Antisemiten hervorgebracht hat, zu beobachten ist. Es mag traurig sein, aber es ist nun einmal so: In einem derartigen Milieu laut und deutlich zu sagen: „Ich bin Jude, es zu sein ist mein Stolz, und ich will es bleiben!“ ist eine sittlich tapfere Tat, eine Art → „Keriath Schema“ vor aller Welt, der eine besondere Weihe innewohnt. Wir Zionisten haben den Grundsatz, dass wir bei jeder Gelegenheit und aus allen Kräften nicht zur Zwietracht, sondern zur Einigkeit hinarbeiten müssen, dass unsere erste und wichtigste Bemühung die gegenseitige Annäherung der nur allzu sehr auseinandergerissenen Elemente des Judentums zu sein hat. Wir betonen deshalb im gegenwärtigen Stadium der Wiedervereinigung des jüdischen Volkes alles, was uns einigen kann, und vernachlässigen absichtlich und bewusst alles, was uns trennen muss. Wir halten es natürlich auch mit Herrn Ernst Mezei so. Er hat über das Wesen und die Ziele des Zionismus → goldene Worte gesprochen. Er hat mit vollem Verständnis die Bedeutung der Schaffung einer Heimstätte für die Millionen heimatloser Juden begriffen und mit richtigem politischem Blicke erkannt, dass der Gedanke einer Ansiedlung unserer Brüder in Palästina ausführbar, seine Ausführung wesentlich nur eine Geldfrage ist. Zu diesem Teile seiner Ausführungen können wir ihn uneingeschränkt beglückwünschen. Anders verhält es sich allerdings mit dem zweiten Teile seiner Rede, in der er den Bestand einer jüdischen Nationalität leugnet und in diesem Gedanken nur eine Art trotziger Übertreibung der Polemik gegen den Antisemitismus sehen will. Hier geht Herr Mezei vollkommen fehl. Wir müssen dies feststellen, um zu verhindern, dass es andere in ihren richtigen Überzeugungen irre macht und erschüttert, aber wir begreifen und entschuldigen seine unzutreffenden Ansichten. Wo er für den Zionismus eintrat, da sprach sein unfehlbares jüdisches Gefühl. Wo er die jüdische Nationalität bestreitet, da haben wir es mit einer Äußerung seines Verstandes zu tun, der aus dem Stegreif eine Frage behandelt, der er bisher offenbar keine eingehende Aufmerksamkeit gewidmet hat. Wir sind überzeugt, dass Herr Mezei bei ernsterer Beschäftigung mit der Frage der jüdischen Nationalität zu unserer, zur zionistischen Anschauung gelangen würde. Die Leugnung der jüdischen Nationalität ist das un-
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heilvolle Werk des napoleonischen → Sanhedrin. Diese Lehre ist das Dogma aller Assimilanten geworden. Sie sind freilich die einzigen, die daran glauben. Kein Christ der Welt, auch nicht der judenfreundlichste, nimmt es ernst. Die Juden klammern sich daran, weil sie die Begriffe Staatsbürgerschaft und Nationalität verwechseln und zittern, man könnte ihnen die erstere absprechen, wenn sie inmitten einer Mehrheit von anderer Nationalität sich nicht zu dieser, sondern zu einer besonderen, eigenen bekennen würden. Gerade von einem ungarischen Staatsbürger, einem ungarischen Politiker und Patrioten, sollte man sich eines solchen – man verzeihe meine Offenheit: naiven – Irrtums am wenigsten versehen. In Ungarn gibt es eine ganze Anzahl Nationalitäten, welche die Weisheit des Gesetzgebers ausdrücklich anerkennt, denen das Gesetz bestimmte Rechte eingeräumt hat, von denen niemand verlangt, dass sie ihre Besonderheit und Eigenart verleugnen, und deren Vaterlandsliebe gleichwohl niemand bezweifelt. Der ungarische Slowake, → Ruthene, Serbe, Rumäne, → Schwabe, von den wenigen Bulgaren, Griechen, Armeniern nicht zu sprechen, kann ein guter Ungar sein, ist es auch in der Regel; aber ein → Magyare ist er nicht, er gibt sich nicht dafür aus, man erwartet nicht von ihm, dass er diese Eigenschaft, die er nicht besitzt, vorschütze, und man macht ihm keinen Vorwurf aus seiner nichtmagyarischen Nationalität. Der Jude nähert sich der magyarischen Nationalität mehr als alle anderen Nationalitäten, die den von magyarischer Kraft, Klugheit und Tüchtigkeit geschaffenen und zusammengehaltenen Staat bewohnen, denn er hat keine eigene Sprache und keine → zentrifugalen Versuchungen, er ist ein glühender Patriot und als solcher von den besten Söhnen Ungarns stets anerkannt worden. Aber ein Magyare ist er nicht, und wenn er sich selbst dafür hält, so gibt er sich einer harmlosen Selbsttäuschung hin, die den wirklichen Magyaren, und wäre er noch so gutmütig, noch so vorurteilsfrei, nur lächeln macht. Das habe ich feststellen müssen. Wenn ich sonst noch zeigen wollte, wie der Zionismus sich zur Vaterlandsliebe der Juden, die freie Bürger gerechter Staaten sind, verhält, so müsste ich wiederholen, was ich an anderen Stellen, und noch zuletzt im → „Echo Sioniste“ vom 1. d. M., zum Überdrusse ausgeführt habe. Mit einem Danke möchte ich diese Bemerkungen nicht schließen. Ein Mann wie Herr Mezei erwartet keinen für eine sittlich schöne Handlungsweise. Wie sie ihm von seinem eigenen → kategorischen Imperativ eingegeben ist, so findet sie ihren Lohn in seinem eigenen Bewusstsein, und dieser Lohn ist köstlicher als jede von außen kommende Anerkennung. Quelle: ZS1, S. 307–310, dort mit Verweis auf die Quelle: → Ungarische Wochenschrift. Budapest, 27. März 1903. Ferner in: Die Welt, 27.3.1903, H. 13, S. 1–2
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46 → Blutmärchen Der Judenhass ist wie der Wahnsinn: Er arbeitet seine Vorstellungen mit den jeweilen vorhandenen Bewusstseinselementen aus. → Apion warf uns Feindschaft gegen die Griechen, Unbotmäßigkeit gegen Rom, abergläubische Anbetung eines goldenen Eselskopfes und den Nichtbesitz von Göttern vor, alles schwere Beschuldigungen nach den Anschauungen jener Zeit. Das christliche Mittelalter erfand das Verbrechen der → Schändung oder Marterung von Hostien, das ihm das verruchteste von allen schien. Wir wissen, dass der Gedanke dieses Verbrechens nur in einem christlichen Kopfe keimen, dass nur ein ursprünglich gläubiger, wenn auch in teuflischer Verderbnis abgeirrter Christ es ausführen konnte. Das hinderte die Machthaber jener Zeiten nicht, Hunderte von Juden unter dieser für einen Juden fast lächerlich albernen Anklage zu foltern und lebendig zu verbrennen. Die neuere Zeit entdeckte, dass die Juden Münzfälscher sind, dass sie zu betrügerischem → Bankerott neigen, dass sie den Grenzschmuggel pflegen, dass sie sich dem Militärdienst zu entziehen suchen. Die Fragen und Interessen, womit jede Zeit sich beschäftigt, geben dem Judenhass ihre besondere Färbung. Jede Epoche fügt der Liste der Verleumdungen der Juden neue Nummern hinzu, ohne natürlich auch nur eine einzige der vorgefundenen, von früher her überkommenen zu streichen, denn was einmal auf dieser sich stets verlängernden Liste steht, das bleibt unauslöschlich darauf. → Alexandrinische Griechen, die noch dunkle, sagenhafte Erinnerungen an Menschenfresserei bei ihrem eigenen Volke bewahrten – solche Erinnerungen dämmern im → Atridenmythus deutlich auf – und die wenigstens vom Hörensagen wussten, dass Germanen und andere Völker ihre Kriegsgefangenen immer oder manchmal ihren Göttern als Opfer schlachteten, dichteten diese gräulichen Handlungen ohne weiteres den Juden an, und so entstand das Blutmärchen, das Idioten noch heute zu glauben vorgeben. Die Geschichte des Blutmärchens ist die aller anderen falschen Beschuldigungen unseres Volkes. Jedes Zeitalter erfand eben ein besonderes Blutmärchen, immer nach derselben Methode: Es schob die Verbrechen, die es selbst mit Vorliebe beging oder die ihm von fremden Völkern berichtet wurden, flott uns Juden in die Schuhe. All das ist uns Juden nichts Neues. Wir wissen, warum man uns verleumdet, und wir wissen auch, wie man zu den verschiedenen uns angehängten Verleumdungen gelangt ist. Ich möchte aber doch kurz die Geschichte eines der jüngsten Blutmärchen erzählen, das vor unseren Augen entstanden ist, allgemeinen Glauben gefunden hat, selbst bei Individuen, die sich keines Judenhasses bewusst sind, und die Ursache des Ausbruches eines wilden Antisemitismus bei einem großen Volke geworden ist, das fast seit einem Jahrhundert von dieser verbrecherischen Geistesgewohnheit frei war oder doch zu sein schien. Ich meine die Anklage, dass das → Panamaunternehmen ein „Judenschwindel“ war, wie der bei den Antisemiten beliebte Ausdruck lautet.
46 Blutmärchen
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In Frankreich gilt es bei jedermann, selbst dem Gebildeten, als eine offenkundige, nicht erst zu beweisende Tatsache, dass die Panamagesellschaft von Juden zugrunde gerichtet worden ist, dass der → edle Lesseps, der „große Franzose“, ein Opfer der Juden geworden ist, dass die armen französischen Sparer den Verlust von 1400 Millionen und die furchtbaren Erschütterungen, die die Folge dieser Blutabzapfung waren und die auch heute noch nicht überwunden sind, ausschließlich dem Betrug und der Habgier der Juden verdanken. In Frankreich wird dies seit dreizehn Jahren wiederholt, und da es in dem Ursprungslande der → Fabel vollkommen unwidersprochen blieb, so ist es für die ganze Welt ein Glaubensartikel geworden, an den kein Zweifel sich heranwagt. Selbst Juden sagen es nach und bedauern die Rolle der Juden in dieser geschichtlichen Gaunerei. Wohlwollende Christen lassen nur mildernde Umstände gelten. Sie halten es für ungerecht, dass man das ganze Judentum für die Missetaten verantwortlich machen will, die einzelne Juden in dem Panamahandel begangen haben. Diese Missetaten selbst aber gelten ihnen für unbestreitbar. Wie denn auch nicht? Man kennt ja die Tatsachen, man kennt ja die Namen! Hat nicht → Baron Reinach sich vergiftet, als der Zusammenbruch des Kanalunternehmens nicht mehr zu verhüten war? Ist nicht → Kornelius Herz wegen Erpressung von Millionen der Panamagesellschaft verfolgt und verurteilt worden? Hat nicht → Arton wegen Bestechung von Abgeordneten und Ministern im Zuchthaus gesessen? In der Tat: Diese drei Namen Reinach, Kornelius Herz und Arton fassen in der allgemeinen Vorstellung die ganze Geschichte des Zusammenbruchs von Panama zusammen. Es sind die Namen von drei Juden, von drei Verbrechern und Landverwüstern. Also ist Panama ein Judenverbrechen. Ich habe diese Fabel ein Blutmärchen genannt. Das Wort ist nicht zu stark, wenn man beobachtet hat, wie sie auf das französische Volksgemüt gewirkt hat und noch immer wirkt. Der Verlust ihrer 1400 Millionen war den französischen Sparern so unerträglich schmerzlich, dass ein wirklicher Ritualmord sie gegen die Juden weniger erbittert hätte als die Überzeugung, dass sie an dem Verluste schuld sind. Die Wahrheit ist aber, dass das Panamamärchen genauso wahr ist wie alle anderen Blutmärchen, unter denen das jüdische Volk seit beinahe zwei Jahrtausenden Schmach, Qualen und Tod zu erleiden hatte. Auf den Zusammenbruch von Panama hat kein einziger Jude auch nur den kleinsten Einfluss gehabt. Wir könnten die drei Juden, deren Name mit dem Panamaschwindel gewöhnlich verknüpft wird, ruhig von uns weisen und verleugnen. Der Baron Reinach gehörte allenfalls noch einigermaßen zu uns, wenn er auch das Urbild des westlichen → Assimilanten war, der sich nur aus Bequemlichkeit nicht selbst taufen lässt, jedoch alles Nötige tut, um die Taufe seiner Kinder vorzubereiten. Kornelius Herz war getauft, ebenso Arton, der uns wenigstens den Gefallen getan hat, seinen ehrwürdigen Familiennamen Aron, den wahrscheinlich anständige Vorfahren getragen haben, bis zur Unkenntlichkeit zu verändern, als er unsere Gemeinschaft verließ, in die seinesgleichen nicht gehört. Aber wir brauchen von unserem guten Rechte, Schwindler und Abtrünnige wie Arton und Herz von unseren Rockschößen zu schütteln, keinen Ge-
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brauch zu machen. Mögen diese beiden, ebenso wie der Baron Reinach, als Juden gelten. Auch dann hat das Judentum nicht das Geringste mit der Panamakatastrophe zu schaffen, denn auch diese drei Männer haben an ihr nicht die geringste Schuld. Kornelius Herz scheidet überhaupt aus. Er hat mit Panama weder fern noch nah etwas zu tun. Er hatte von der Einrichtung des ersten Fernsprechnetzes in Paris her geschäftliche Beziehungen zum Baron Reinach, dem er das Geld zu entreißen suchte, das Reinach bei seinem letzten Geschäfte mit Lesseps verdiente. Baron Reinach brachte die letzte Anleihe des Panamaunternehmens auf den Markt. Damals war das Unternehmen bereits unrettbar verloren. Lesseps wollte sich aber noch nicht für besiegt erklären. Da auf irgendeine andere Weise neue Millionen schlechterdings nicht mehr aufzutreiben waren, so wollte er es mit einer → Losanleihe versuchen. Denn einem Lotteriespiel öffnen sich auch solche Taschen, die für Schuldscheine fest verschlossen bleiben. Keine der Banken, die ihm seine zahlreichen früheren Anleihen vermittelt hatten, wollte sich damals mehr mit Lesseps einlassen. Notgedrungen wandte er sich an das Bankhaus Reinach, das noch einiges Ansehen an der Börse hatte. In Frankreich sind Lotterien grundsätzlich verboten. Nur ein eigenes Gesetz kann sie gestatten. Reinach beging das schwere Unrecht, dass er es als einen Teil seiner Aufgabe einer → Emissionsbank betrachtete, die Zustimmung der Kammern zu seiner Losanleihe zu erwirken. Das war nicht seine, sondern Lesseps' Sache. Diesen ersten Fehler erschwerte er ungeheuerlich durch den zweiten, dass er die Zustimmung des Parlaments durch Bestechung zu erlangen suchte. Arton war der Vermittler, dessen er sich bediente, um die Gewissen der einer Bestechung zugänglichen Abgeordneten zu kaufen. Diese Darstellung verschleiert und beschönigt nichts. Reinach war ein unbegreiflich schlechter Geschäftsmann, als er sich herbeiließ, für Lesseps eine Losanleihe herauszubringen, für die Lesseps noch nicht die gesetzliche Erlaubnis hatte, und er machte sich einer schwer strafbaren Handlung schuldig, als er sich diese Erlaubnis, die ihn gar nichts anging, mit den verwerflichsten Mitteln zu verschaffen suchte. All das ist zugegeben. Aber welchen Schaden hat das Panamaunternehmen, welchen Schaden haben die französischen Sparer von diesen Fehlern und Sünden Reinachs und seines Dieners Arton erlitten? Nicht den geringsten. Hätte Reinach die Losanleihe nicht auf den Markt gebracht, so wäre das Unternehmen ganz ebenso zusammengebrochen, nur etwas früher. Außerdem aber, und das ist das Merkwürdigste an dieser Geschichte, fügt es sich so, dass die von dem Juden Reinach ausgegebene Losanleihe die einzige der zahlreichen Panamaanleihen ist, bei der die Zeichner auch nicht einen Pfennig verloren haben. Die Lose behielten auch nach dem Krach ihren Wert und stehen heute höher im Kurs als zur Zeit ihrer Ausgabe. Die Wahrheit ist, dass Panama ein rein katholisches, oder sagen wir, um auch den Schimmer einer Ungerechtigkeit zu vermeiden, ein klerikales und giftig antisemitisches Unternehmen war. Lesseps selbst war ein kämpfender Klerikaler und Ju-
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denfeind. Er umgab sich ausschließlich mit Gesinnungsgenossen. Der Verwaltungsrat der Gesellschaft bestand aus wütenden Antisemiten. Die Banken und Vermittler, deren er sich für seine Finanzgeschäfte bediente, als er noch Kredit hatte, waren klerikal und antisemitisch gefärbt. Die Unternehmer, denen er die Arbeiten auf der Landenge in Akkord gab, waren Christen. Es befindet sich auch nicht ein einziger Jude unter ihnen. Unter den Hunderten höherer Angestellter des Unternehmens ist mir kein einziger Jude bekannt. Sollte sich gleichwohl einer unter ihnen befinden, so war es gewiss ein solcher, dem man sein Judentum nicht anmerkte und der es tapfer verleugnete oder wenigstens verheimlichte. Die Banken haben über zweihundert, die Bauunternehmer gegen vierhundert Millionen in ihre Tasche gesteckt. Bei ihnen ist das Geld geblieben, das die französischen Sparer verloren haben. Zu Juden hat sich von diesem Gelde nicht ein Pfennig verirrt. Solange Lesseps Geld auftreiben konnte, rühmte er sich überall, er werde den Kanal trotz der angeblichen Feindschaft der Juden vollenden. Erst als er das schmähliche Ende vor sich sah, wandte er sich an den Juden Reinach, nach meiner absoluten Überzeugung mit dem Hintergedanken, die Schuld an dem Zusammenbruch auf die Juden zu wälzen, wenn dieser trotz des verzweifelten letzten Versuches erfolgen würde. Eine solche Politik ist durchaus im Geiste der Bande, die an der Spitze von Panama gestanden hat. Indem man die Juden zum Sündenbock für die eigenen Verbrechen machte, befriedigte man die eigene antisemitische Leidenschaft und lenkte zugleich die unvermeidlich ausbrechende Volkswut von der eigenen Spur ab und auf die der Juden, auf die das Volk sich ja immer leicht und gern hetzen lässt. Lesseps hat genauso gehandelt wie die Verbrecher in früheren Jahrhunderten, die → am Osterabend eine christliche Kindesleiche in einem jüdischen Hause versteckten und dann auf der Straße das Geschrei erhoben, die Juden hätten ein Christenkind ermordet, man werde die Leiche ihres Opfers bei ihnen finden, wenn man sofort in ihrem Hause suchen wolle. Diese Verbrecher hetzten zuerst den Pöbel auf die Juden und plünderten dann, die Panamabande hatte umgekehrt zuerst geplündert und dann den Pöbel auf die Juden gehetzt. Das Erstaunliche, das Unglaubliche ist, dass kein einziger französischer Jude, den die Sache doch in erster Reihe angeht, bisher den Mut gehabt hat, diesen sonnenklaren Sachverhalt aufzudecken. Dumm und feige haben die französischen Assimilanten das klerikale Blutmärchen vom jüdischen Panama auf sich selbst und auf dem Judentum sitzen lassen. Sie sind dafür hart gestraft worden. Alles Böse, was seitdem den Juden in Frankreich widerfahren ist, der Dreyfus-Handel, der Ausbruch des Antisemitismus im Geschäfts- und Gesellschaftsleben, die zeitweiligen Erfolge des Nationalismus, sind nur durch das Panama-Blutmärchen und dadurch möglich geworden, dass das Volk es glaubte und bis zum heutigen Tage glaubt, da ihm in Frankreich nie widersprochen wurde. Ich habe wenigstens zu unserer eigenen Belehrung die Geschichte dieser bis jetzt siegreichen Verleumdung erzählen wollen,
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weil sie die Lage des jüdischen Volkes in der → Zerstreuung heller beleuchtet als irgendeine mir bekannte andere Episode der zeitgenössischen Geschichte. Quelle: ZS1, S. 338–345, dort mit Verweis auf die Quelle: → Die Welt, Nr. 27, 1903. (= Die Welt, 3.7.1903, H. 27, S. 3–5).
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47 → VI. Kongressrede Geehrte Versammlung! Verzeihen Sie, dass ich Sie zunächst mit einigen persönlichen Bemerkungen behellige. Mein Name ist irrtümlich auf die Kongress-Tagesordnung gesetzt worden. Ich bin mit der festen Absicht nach Basel gekommen, hier das Wort nur zu verlangen, wenn ich dies infolge des Ganges der Erörterung als meine unabweisliche Pflicht eines Vertreters mehrerer Wählergruppen empfinden würde. Ohne solche sachliche Nötigung wollte ich auf meinem Platze eines achtungsvollen Zuhörers, Schweigers und Mitstimmers in Reih und Glied verharren. Wohlwollende Kritiker haben in den letzten Jahren liebenswürdig unterstellt, dass ich mir einbilde, ich sei so etwas wie der Tenor des Kongresses, dessen Rolle es sei, zu kommen, eine Heldenarie zu singen, Applaus einzuheimsen und mit → Bücklingen nach allen Seiten abzutreten. Ich war entschlossen, auch den Anschein zu vermeiden, als wäre etwas an dieser von so augenscheinlicher Gerechtigkeit und Nächstenliebe eingegebenen Darstellung meiner Kongress-Tätigkeit. Ich bin mir zwar bewusst, hier niemals bloße Schönrednerei getrieben zu haben, gebe indes zu, dass schildernde Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart des jüdischen Volkes dem rein akademisch scheinen mochte, der nicht begriff, dass wir unsere → Argonautenfahrt mit der → Aufnahme des Mittagspunktes beginnen mussten. Diese unerlässliche Arbeit des Schiffers ist nun getan. Jetzt haben wir uns mit dem Kurs zu beschäftigen. Weniger als je darf dieser Kongress eine Akademie sein. Bloße Rhetorik, → „die Kunst für die Kunst“, hat hier keine Stätte. Hier sollten nur nüchterne, kühl verständige Geschäftsreden gehalten werden. Zu einer solchen habe ich mir eben das Wort erbeten. Unser Präsident hat uns gestern zwei Tatsachen mitgeteilt, die über den vor uns liegenden Weg bisher ungekannte Helligkeiten verbreiten. Er hat uns eröffnet, dass die → britische Regierung bereit ist, dem jüdischen Volk eine → Landkonzession zu gewähren, nicht unter den Formen, in denen derartige Konzessionen gewöhnlich erteilt werden, nicht zum Zwecke finanzieller Spekulation und geschäftlicher Ausbeutung, sondern mit ausdrücklicher Betonung des Wunsches der britischen Regierung, dem jüdischen Volke Sympathie zu bezeigen und ihm bei seinen Bemühungen zu gründlicher Selbsthilfe beizustehen. Der Vorsitzende hat uns ferner mitgeteilt, die russische Regierung habe ihm amtlich bedeutet, dass Russland geneigt sei, unsere Bemühungen zur jüdischen Besiedlung Palästinas zu fördern. Das ist nun die diplomatische Lage, vor der die zionistische Bewegung steht. Vier Mächte, mit die größten, die sich die Herrschaft über den Erdball teilen, haben, wenn nicht für das jüdische Volk, doch für den Zionismus freundliche Gesinnungen geäußert. → S. M. der Deutsche Kaiser hat unserer Bewegung bei ihrem Ursprung sein Wohlwollen ausgedrückt. Die britische Regierung ist bereit, ihre Sympathie in Begleitung von köstlichen → Imponderabilien in einer sehr greifbaren und praktischen Form, in Form einer Landverleihung, zu betätigen. Die russische Regierung hat ihre Bereitwilligkeit ausgesprochen, unsere Pläne, soweit sie die jüdische Be-
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siedlung Palästinas betreffen, zu fördern. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben in der letzten Zeit zwei diplomatische Schritte getan, welche die Hoffnung rechtfertigen, dass wir uns in einem gegebenen Augenblicke nicht vergebens an ihre Sympathien wenden würden. Der vierte Punkt des → Baseler Programms, an dessen granitener Fügung die Nörgler und Nager sich die Zähne ausbrechen werden, spricht in seinem notwendigen und gewollten → Lakonismus, der kein breitspuriges Eingehen auf Einzelheiten und keine Entwicklung der darin → elliptisch ausgedrückten Gedanken gestattet, von → „Schritten zur Erlangung der Regierungs-Zustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.“ Dieser vierte Absatz hat von jeher das Glück gehabt, von den Widersachern des Zionismus als besonders spitzer Dorn im Auge empfunden zu werden. An diesem vierten Absatze hat sich der Witz unserer Widersacher immer am meisten geübt. „Diese ,Regierungs-Zustimmungen‘“, so wurde uns immer spöttisch wiederholt, „werdet ihr nie und nimmer erlangen. Der → Sultan will und kann euch Palästina niemals öffnen, denn selbst wenn er dazu geneigt wäre – was er indes nie sein wird –, würde er auf den Widerspruch Russlands stoßen, und euren schönen Augen zuliebe wird der Sultan sich niemals mit seinem mächtigsten Nachbar überwerfen. Russland aber wird nie und nimmer zugeben, dass der Boden, über den der Fuß des Stifters der christlichen Kirchen hingeschritten ist, jemals jüdisch werde …“ Unsere Kritiker haben wieder einmal die Richtigkeit und Weisheit der → englischen Redensart erprobt, dass man nicht prophezeien solle, es wäre denn, man wüsste es! Russland, in dem wir das unüberwindliche Hindernis auf unserem Wege erkennen und fürchten sollten, Russland erklärt uns freundlich, dass es gar nichts gegen die Besitznahme palästinensischen Bodens durch Juden einzuwenden habe. Und nun, geehrte Versammlung, werfen Sie einen Blick auf den Weg, den der Zionismus in nicht ganz siebenjährigem Bestande in seiner gegenwärtigen Form zurückgelegt hat. Nach nicht ganz einjähriger Arbeit hat er diesen Kongress geschaffen, dem heute mit Ausnahme einiger verbohrter jüdischer Widersacher niemand mehr seine Eigenschaft eines rechtmäßigen Vertreters des jüdischen Volkes abstreitet. Alle ernsten Menschen erkennen, dass wir die zu den Akten legitimierten Sachwalter des jüdischen Volkes sind. Seit dieser ersten Tat sind sechs Jahre verflossen. In diesen sechs Jahren haben wir, von allem anderen abgesehen, eines getan: Wir haben die Welt in aller Form mit der → Judenfrage befasst. Die Mitlebenden geben sich nicht oft von der geschichtlichen Bedeutung der Ereignisse Rechenschaft, die sich vor ihren Augen begeben. Die Nachwelt ist in der Regel gerechter; sie kann es sein, denn sie überblickt die Dinge von höher und weiter. Die Nachwelt wird zu würdigen wissen, was diese Tatsache bedeutet. Denn bis zum Auftreten des Zionismus wurde der nichtjüdischen Welt von den Personen, die bis dahin allein als die amtlichen Vertreter des Judentums anerkannt waren, immer versichert, dass es keine Judenfrage gibt, dass die Juden glücklich und zufrieden sind. Es war, namentlich in den letzten Jahrzehnten,
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seit der → Emanzipation der Juden im Westen, eine eiserne Tradition des amtlichen Judentums geworden, bei jeder Berührung mit Nichtjuden eine lächelnde → Optimistenphysiognomie anzunehmen. Die herkömmliche Stellung → unseres berühmten „großen Juden“ ist die, dass er sich die Hände reibt, wenn er sie nicht entweder in dem Ärmelausschnitt der Weste eingehängt hat oder eben mit ihnen ansehnliche Beträge für öffentliche, in der Regel judenfeindliche, Einrichtungen oder Anstalten auszahlt. Wann immer ein Minister oder gar ein Staatsoberhaupt auf Reisen oder bei feierlichen Anlässen die amtlichen Vertreter des Judentums empfing, hörte man dasselbe Lied: „Wir sind glücklich unter Ihrer Regierung oder unter Ihrer Verwaltung; wir sind tief dankbar für den gnädigen Schutz, den Sie uns angedeihen lassen; wir werden untertänigst bemüht sein, uns Ihrer Huld und Gnade weiter würdig zu machen.“ Es ist den Regierungen nicht übel zu nehmen, wenn sie mit einem Anschein guten Glaubens den Juden, die sich nun bei ihnen beklagen, erstaunt entgegnen: „Was, ihr seid nicht zufrieden? Ihr beklagt euch? Das ist ja etwas ganz Neues! Eure rechtmäßigen Vertreter haben uns immer das Gegenteil versichert!“ Ich nehme es als ein großes Verdienst des Zionismus in Anspruch, dass er dieser ZufriedenheitsHeuchelei und Dankbarkeits-Komödie ein Ende gemacht hat. Wir haben zuerst laut und deutlich gesagt: Wir sind nicht zufrieden, wir halten unsere Lage für eine sehr schlechte, wir empfinden unsere Behandlung als eine unwürdige und unverdiente, wir halten eine grundstürzende Änderung unserer Lage für eine Lebensnotwendigkeit, nach den demütigenden Erfahrungen, die wir mit den → Anähnlichungsversuchen an andere Völker gemacht, haben wir uns auf uns selbst besonnen und wollen uns in unserer Art, in eigenem Recht, auf eigenem Boden ausleben. Wir haben, ich wiederhole es, die Welt in aller Form mit unseren Wünschen befasst, wir haben als ein Volk, dem Unrecht geschieht und das Gerechtigkeit verlangt, zu den Völkern gesprochen, wir sind vor die Regierungen hingetreten und haben, ohne zu verschleiern und ohne um den Brei zu gehen, etwa dieses gesagt: Wir sind ein altes geschichtliches Volk von fast zwölf Millionen. Wir halten uns für so gut wie irgendein anderes Volk auf Erden. Wenn nötig, wollen wir das begründen. Gleichwohl werden wir, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, von Hass oder doch von Abneigung und Misstrauen verfolgt. Hier verweigert man uns ausdrücklich die ursprünglichsten → Menschenrechte. Dort gewährt man sie uns auf dem Papier, nimmt sie jedoch in der Praxis größtenteils wieder zurück. In dieser Lage wollen wir nicht weiter leben. Zur Liebe können wir niemand zwingen. Gerechtigkeit jedoch dürfen wir fordern, weil wir ein Menschenantlitz tragen. Es ist aber nicht gerecht, dass man uns als → Parias oder bestenfalls als Bürger zweiter Klasse und überall als widerwillig geduldete fremde Eindringlinge behandelt. Wir sind keine Parias und wollen uns nicht zu solchen hinabdrücken lassen. Wir wollen in Palästina Bürger erster Klasse mit dem allseitig anerkannten geschichtlichen
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Rechte von Ureingesessenen sein und wir bitten die Regierungen, uns zu der Erreichung dieses Zieles behilflich zu sein. Das, ich wiederhole es, mag den Mitlebenden gering scheinen, tatsächlich ist es eine Wendung in der Geschichte des jüdischen Volkes. Wir haben verlangt. So alt die Welt geworden ist, sie hat bisher immer nur erst zwei Methoden gefunden, um zu bekommen. Diese beiden Methoden heißen: nehmen und verlangen. Nehmen können und wollen wir nicht, bleibt also bloß die zweite Methode: verlangen. Seltsam, aber buchstäblich wahr: Vor dem Auftreten des Zionismus haben wir tatsächlich nicht verlangt. Unter uns haben wir tiefe Seufzer ausgestoßen, sehnsüchtige Wünsche in Prosa und Vers ausgedrückt, einander mit vielsagenden Schwärmerblicken die Hände gedrückt, wir sind aber niemals vor alle Mächte hingetreten und haben ihnen in positiver Formulierung offen und deutlich gesagt, was wir wollen. Einen Vorwurf dürfen weder wir selbst noch andere uns deswegen machen. Das jüdische Volk war chaotisch; es bildete keinen Organismus; es war ein Menschenstaub; es wusste selbst nicht, was es wollte; es hatte keine bestellte Vertretung, die in seinem Namen sprechen konnte; und da es selbst nicht wusste, was es wollte, konnten selbstverständlich auch die Regierungen dies nicht wissen. Das geändert zu haben, scheint wenig, es ist aber in Wirklichkeit sehr viel. Wir haben verlangt! Wir haben verlangt, dass uns Palästina, unter selbstverständlicher Wahrung der Hoheitsrechte des Sultans, unter ebenso selbstverständlicher → Exterritorialisierung der Heiligen Stätten, an denen die ganze Christenheit mit ihren tiefsten Gefühlen der Verehrung und Liebe hängt, jedoch gleichzeitig unter Gewährleistung des unerlässlichen Mindestmaßes von Selbstverwaltungsrechten, ohne die wir auch in Palästina uns nicht national ausleben könnten, geöffnet wird. Es ist uns von mehr als einer amtlichen Seite, wenn auch in höfliche Form eingehüllt, etwa dieses entgegnet worden: „Ihr seid unzufrieden und wollt auswandern. Wir machen euch unser Kompliment zu diesem Entschlusse, der für euer Selbstgefühl und eure Energie zeugt. Aber dazu bedarf es doch keiner Regierungshandlungen. Wir legen eurer Auswanderung nicht das geringste Hindernis in den Weg und geben euch sogar unsere besten Wünsche auf die Reise mit.“ Wir haben da, vielleicht zum ersten Mal in unserem Leben, keinen Sinn für Humor haben dürfen, sondern mit unerschütterlichem, ehrerbietigem Ernst erwidern müssen: Verzeihung, es genügt nicht, die Türflügel zu öffnen, wenn die Türöffnung außen zugemauert ist. Ihr gestattet uns den Abzug, aber niemand gestattet uns den Einzug. Da wir nicht annehmen, dass ihr mit dem Leben eines Volkes von 12 Millionen Kurzweil treibt, bitten wir euch, es nicht bei der Erlaubnis zur Auswanderung bewenden zu lassen, sondern uns auch den Eintritt in das Land zu erschließen, das wir als Ziel ins Auge gefasst haben. Nicht von berufener Seite, nicht von amtlichen Stellen, aber von den zahlreichen Liebhaber-Diplomaten, von denen es in den Reihen unserer Widersacher wimmelt, kam uns darauf diese höhnische Erwiderung: „Ja, Kinder, wie stellt ihr euch
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denn das eigentlich vor? Sollen die Mächte etwa zum Sultan sagen: Gib den Juden Palästina, sonst hast du es mit uns zu tun?“ Auch darauf erwidern wir mit einem Ernste, den der Einwand kaum verdient: Das ist niemals unser Gedanke, unser Wunsch gewesen. Den souveränen Rechten und der Würde des Sultans soll von keiner Seite nahegetreten werden. Der Tag, an dem wir in eine türkische Provinz einziehen, soll für alle Zukunft ein großes und glückliches Datum in der → Geschichte des Ottomanischen Reiches werden. Alles, was wir wünschen, ist, dass wir von den Großmächten mit dem Sultan amtlich in Verbindung gesetzt werden und dass wir nach eingehender Konversation mit Sr. Majestät, in der wir uns zutrauen, ihn davon zu überzeugen, dass es sein Vorteil ist, sich mit uns zu verständigen, bei dem Schlussgespräche dieselben Großmächte als Teilnehmer, Zeugen und Gewährleister unserer Abmachungen gegenwärtig haben. Sollte sich gleichwohl die Unmöglichkeit herausstellen, mit Sr. Majestät dem Sultan zu einer Verständigung zu gelangen, sollte sein unbeugsamer Wille uns Palästina verschließen, dann müssten wir eben, unter feierlicher Aufrechterhaltung unserer unverjährbaren geschichtlichen Ansprüche auf das Land unserer Väter, mit beiden Füßen unerschütterlich auf dem Boden des Baseler Programms verharrend, uns in Geduld fassen und warten. Wir können warten. Verstehen Sie mich recht: Wir können nicht warten, wenn wir uns selbst aufgeben, wenn wir an unserer Zukunft verzweifeln, wenn wir die Flinte ins Korn werfen; dann jagen wir mit furchtbarer Schnelligkeit dem erbärmlichsten Untergang entgegen. Wenn wir aber wieder Selbstvertrauen fassen, wenn wir entschlossen sind, als Volk weiterzuleben, ein deutliches Ziel, einen klaren, festen Plan haben, dann sind wir wieder das → „ewige Volk“, „Am olam“, und nichts und niemand vermag das Geringste gegen uns. Dann warten wir eben geduldig, bis günstigere Verhältnisse sich darbieten, und wiederholen dann immer wieder ganz gelassen, mit unerschütterlicher Zähigkeit, der unsere Feinde nach ihrem Belieben einen anderen, schimpflichen Namen geben mögen, unsere Forderung, bis in der Weltpolitik eine Lage eintritt, die es den Mächten wünschenswert macht, uns zu hören. Inzwischen werden wir keinen Augenblick aufhören dürfen, die Judenfrage vor der Welt und vor den Regierungen als eine stehende Aktualität lebendig zu halten, und daneben werden wir an unserer inneren Organisation arbeiten müssen. Möglichste Stärkung und Vermehrung der Machtmittel des Zionismus bleibt unsere erste und vornehmste Aufgabe. Darunter sind zu verstehen: die Vervollständigung des Aktienkapitals der → Jüdischen Kolonialbank, die → Vergrößerung des Nationalfonds und vor allem: die Eroberung der Gemeinden und der meist von ihnen abhängenden bestehenden jüdischen Einrichtungen. Ich weiß, man sagt uns: Das ist zu schwer, das ist unmöglich. Schwer ist es, zu schwer nicht. Zu schwer darf es nicht sein. Es ist eine erste Kraftprobe. Wenn wir nicht einmal imstande sind, rein innerjüdische, mit dem Stimmzettel in der Hand zu lösende Fragen zu bewältigen, wie sollen wir uns zutrauen, ein politisches, wirtschaftliches, soziales Werk zu unternehmen, bei dem wir es mit der ganzen nicht-
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jüdischen Welt zu tun haben und dessen Schwierigkeiten nicht mit einer bloßen Promenade zu einer Wahlurne zu überwinden sind! Ich denke, wenn ich von der Eroberung der jüdischen Gemeinden spreche, in erster Reihe an die Länder, in denen die große Masse des jüdischen Volkes siedelt und die Kraft unserer Bewegung wurzelt. Dort können wir siegen, und weil wir es können, müssen wir es! In den Ländern der → Assimilation liegen die Dinge anders. Da wird sich vielleicht die Eroberung der Gemeinden in absehbarer Zeit als unmöglich erweisen. In diesem Falle werden wir bloß festzustellen haben, dass die große Mehrheit des jüdischen Volkes und seiner staatlich anerkannten Einrichtungen die → zionistische Kokarde angesteckt hat und dass die kleine Minderheit von Widersachern, die den Zionismus als System jüdischer Volkspolitik nicht nur für sich, sondern auch für die der Erlösung bedürftige große Mehrheit des jüdischen Volkes endgültig ablehnt, sich selbst als Fremdkörper im lebenden jüdischen Volksorganismus bekennt. Geehrte Versammlung! Jedes Mal, wenn zwischen den einzelnen Kongressen eine längere Frist verstreicht, bemächtigt sich unserer Gesinnungsgenossen eine sichtbare Unruhe. In den Reihen unserer Streiter tritt ein eigentümliches Schwanken ein. In immer kürzeren Abständen, immer hastiger und erregter hören wir die ängstliche Frage wiederholen: Was geschieht? Woran sind wir? Was sollen wir der Menge antworten, wenn sie in ihrer Ungeduld nach praktischen Ergebnissen fragt? Und wenn dann noch eines jener unglücklichen Ereignisse eintritt, wie sie in der letzten Zeit leider immer häufiger geworden sind, wenn dem jüdischen Volk eine Schmach zugefügt wird, die jeder Einzelne von uns an seiner Stirne als → Brandmal empfindet, solange sie nicht abgewaschen ist, dann geht ein Beben vom Scheitel bis zur Sohle durch das jüdische Volk und die auch sonst leider bei uns schon so verbreitete Nervosität steigert sich in einer Weise, dass sie unzusammenhängende Bewegungen auslöst, die nur als Panikbewegungen bezeichnet werden können. Der Ruf geht dann durch die Lande: „Es muss sofort etwas geschehen, auch wenn es etwas Unnützes, auch wenn es etwas Schädliches ist; aber sofort muss etwas geschehen.“ Das ist eine sehr gefährliche Neigung; das ist ein sehr bedenklicher Seelenzustand; wir müssen ihm entgegentreten und ihn bekämpfen. Er ist erklärlich. Er erklärt sich daraus, dass bisher noch niemals ein System jüdischer Volkspolitik aufgestellt worden ist, das jedem einzelnen denkenden Juden vollkommen klar vor Augen steht. Ich habe vorhin gesagt, dass dieser Kongress der bevollmächtigte, rechtmäßige Vertreter des jüdischen Volkes ist. Ihm liegt es ob, jüdische Volkspolitik zu machen. Dieser Kongress wird in den großen Zügen die jüdische Volkspolitik für jetzt und eine geraume Zeit festzulegen und zu verkünden haben, so dass auch in der langen, manchmal schrecklichen kongresslosen Zeit jeder einzelne Jude auf dem Posten, auf dem er steht, weiß, was er zu tun hat, woran er zu arbeiten hat, und sich von Zufällen, so schmerzlich sie auch sein mögen, nicht verwirren, nicht aus Reih und Glied bringen lässt. Denn sehen Sie, eine jüdische Volkspolitik hat es bisher niemals
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gegeben. Mit den krampfhaften, unzusammenhängenden, automatischen Reflexbewegungen der Abwehr, die einzelne Juden oder kleine Teile des jüdischen Volkskörpers der Gefahr und dem Angriff entgegensetzen können, ist dem jüdischen Volk in seiner Gesamtheit nicht geholfen. Es bedarf wohlkoordinierter Verteidigungstaten des ganzen jüdischen Volksorganismus. Von unserer Verteidigung war bisher jeder strategische Gedanke, jeder Gesamtplan, jede einheitliche Führung abwesend. Sie bestand lediglich in einer Reihe Einzel-Scharmützel der → St. Georgs-Kavallerie. Sie wissen ohne Zweifel, welche Armee-Abteilung man in England mit diesem Ausdrucke bezeichnet. Es ist die tapfere → Truppe der goldenen Sovereigns, deren Prägung das Bild des heil. Georg zeigt. → Goldfüchse heraus! Das war die jüdische Volkspolitik. Als es neulich galt, die Antwort des Judentums auf eine schwere Beleidigung zu geben, da sahen wir, dass in allen Ländern, wo Juden wohnen, Geld gesammelt wurde. Binnen wenigen Wochen sind auch an zwei Millionen → Franken zusammengekommen, und dieser Betrag beweist, dass unsere jüdischen Reichen diesmal tief in die Tasche gegriffen haben. Damit war aber auch ihre Anstrengung erschöpft. Das Geld wurde an den Ort der Heimsuchung geschickt und dazu gesagt: „Hier ist Geld. Nun bleibt, wo ihr seid, und verhaltet euch ruhig!“ Unsere Reichen haben sich zu unseren Todfeinden in Waffen gewendet und ihnen gesagt: „Ah, ihr mordet, ihr schändet, ihr zerstört? Hier ist Geld zur Versorgung der Witwen und Waisen, zur Heilung der Verstümmelten und Siechen, zum Ersatz des vernichteten Hausrates und der geraubten Güter. Ihr werdet nach einiger Zeit die neuen Möbel, die neuen Waren wieder vernichten, neue Leichen, neue Krüppel, neue ihrer Ernährer beraubte Familien machen? Wir werden neues Geld schicken. Wir wollen doch sehen, wer früher müde wird: ihr, zu morden, oder wir, zu schenken!“ Geehrte Versammlung! Es ist nicht meine Schuld, dass selbst die furchtbarste Tragödie sofort in eine Posse umschlägt, wenn das bisherige amtliche Judentum in ihre Entwicklung eingreift. Missverstehe mich niemand! Nichts kann mir ferner liegen, als die jüdische Wohltätigkeit gering zu schätzen. Ich würde mich an meinem Volke schwer versündigen, wenn ich für seine schönste und rührendste Tugend keine Würdigung und kein Verständnis hätte. Die Juden sind hoch zu preisen, die ohne einen Augenblick des Zögerns ausgiebig geholfen haben, als der Notschrei ertönte. Wogegen ich mich allein wende, das ist die im amtlichen Judentum herrschende Auffassung, dass mit der Wohltätigkeit allein alles getan sei. Wir können nicht oft und laut genug wiederholen, was unser Präsident gestern gesagt hat: Nein, mit der Wohltätigkeit allein ist nichts, gar nichts getan. Liegt kein bitterer Hohn darin, dass die Millionen, die wir von den jüdischen Reichen für unsere Kolonialbank – die Bank der Befreiung! – nicht bekommen konnten, augenblicklich beisammen waren, als es galt, sie in einem Abgrund spurlos und ewig unfruchtbar verschwinden zu lassen? Dass jährlich Millionen aufgewendet werden zur Unterhaltung von Ackerbauschulen für Juden, die den Acker nicht bebauen dürfen, von Handwerkschulen für Juden, die das
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Handwerk bloß an Orten betreiben dürfen, wo es eine sichere Anweisung auf langsames Verhungern ist? Darin wollen wir Wandel schaffen. Die Einführung der jüdischen Jugend in Berufe, die sie nicht ausüben darf, das Herumschicken der Sammelbüchse nach jeder geschehenen Mordtat darf nicht länger unsere alleinige Volkspolitik sein. Die neue Volkspolitik, die ich Sie anzunehmen und zu verkünden bitte, heißt: Organisation durch Stärkung und Vermehrung unserer Machtmittel zum Zwecke der Befassung der Mächte mit der Judenfrage und Beginn der Vorarbeiten zur Verwirklichung unserer politischen Pläne. Das sind so große und schwierige Aufgaben, dass wir uns dem Verdachte mangelnden Ernstes aussetzen würden, wenn wir ihnen auch nur den kleinsten Teil unserer Kraft entziehen würden, um sie anderen Zielen zuzuwenden. Vor dem unverrückbaren Ziele der jüdischen Besiedlung Palästinas darf es nur eine Haltestelle unterwegs und eine provisorische Arbeit geben: Das ist die Errichtung eines Notbaues für die Hunderttausenden unglücklicher Brüder – ob Zionisten oder nicht, ist ganz gleichgültig; es genügt, dass sie Juden sind –, die, anders als wir Sässigen, nicht warten können, die bereits auf der Wanderung begriffen sind, die bereits wie ein Weberschiffchen von Kontinent zu Kontinent, von Ozean zu Ozean hin- und hergeschleudert werden, die untergehen würden, wenn wir nicht etwas tun würden, um sie zu retten. Für diese Hunderttausenden müssen wir, ehe wir ihnen eine ständige Dauerwohnung anweisen können, gleichsam ein → Nachtasyl eröffnen. Als solches Nachtasyl würde ich die Kolonie ansehen, zu der die britische Regierung unter gewissen Bedingungen uns Land zu gewähren bereit ist. Freilich wäre es ein Nachtasyl ganz eigentümlicher Art, wie ja alles, was wir Juden als Volk unternehmen, einzigartig ist. Es wäre ein Nachtasyl, das seinen Bewohnern nicht bloß augenblicklichen Unterschlupf und Nahrung gewährt, sondern das auch ein politisches und geschichtliches Erziehungsmittel sein würde, ein Erziehungsmittel, das die Juden und die Welt an den ihnen seit Jahrtausenden fremd und vielen unleidlich widerwärtig gewordenen Gedanken gewöhnt, dass wir Juden ein Volk sind, ein Volk, fähig, willig und bereit, alle Gesamtaufgaben eines gesitteten selbstständigen Volkes zu erfüllen. Gewiss, es gibt für das jüdische Volk sehr viel, ungeheuer viel zu tun. Dringlichstes, minder Dringliches, Notwendiges, Nützliches oder einfach Wünschenswertes, wenn auch vorläufig noch Entbehrliches. Alle Aufgaben dieser Ordnung müssen der Privattätigkeit überwiesen werden. Mögen Einzelne und Vereine den Überschuss ihrer Kraft und Mittel, wenn sie daran einen Überschuss zu haben glauben, der Lösung dieser Aufgaben zuwenden. Der Zionismus muss sich streng jede Kraftzersplitterung versagen. Sein einziges Arbeitsprogramm muss heißen: Ausbau der inneren Organisation zum Zwecke der Befassung der Mächte mit der Judenfrage und inzwischen Errichtung eines Nachtasyls für unsere Obdachlosen. Die Wirkung dieser jüdischen Volkspolitik, wenn Sie sie annehmen und laut verkünden, wird sofort fühlbar werden, nicht etwa erst, wenn sie ganz oder teilwei-
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se verwirklicht ist. Die Welt wird uns achten, wenn sie uns nicht mehr geduckt, sondern aufrecht sieht. Die Judenfeinde werden wahrscheinlich Judenfeinde bleiben, aber die Anständigen unter ihnen werden ihre Feindschaft in ritterlicher Form betätigen, denn nur ein Feigling schämt sich nicht, einem Gegner anders als ritterlich zu begegnen, der mit einer großen Kokarde in weithin sichtbarer Farbe am Hut im Sonnenlicht → auf freiem Blachfelde für sein Dasein kämpft. So ändert der Zionismus – nicht später, gleich! – das zweitausendjährige Vorzeichen des Judentums von minus in plus, von passiv in aktiv, und lehrt die Welt, das angebliche Handelsvolk als ein handelndes Volk in einem neuen Sinne zu erkennen. Quelle: ZS1, S. 140–154, dort mit Datierung: Basel, 24. August 1903. Ferner in: Die Welt, 21.8.1903, H. 34, S. 32–36, und erneut: Die Welt, 25.8.1903, H. 2 (Separat-Ausgabe), S. 17–20.
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48 [Rede über das britische Landangebot, gehalten auf dem VI. Zionistenkongress am 26.8.1903] Dr. Nordau (jubelnd begrüßt): Im Laufe der langen und leidenschaftlich erregten Erörterung, die eben zum Abschluss gekommen ist, habe ich häufig bei einzelnen Äußerungen gelitten. Im Ganzen aber hat sie in mir einen überaus erhebenden Eindruck zurückgelassen. Gerade die Länge, gerade die Leidenschaftlichkeit dieser Erörterung war der lebendigste und überzeugendste Beweis dafür, wie sehr bei uns die tiefsten Quellen des Gefühls zu sprudeln, zu rauschen, stürmisch hervorzubrechen beginnen, wenn an die → Zionsfrage gerührt wird. Ich freue mich, Sie in dieser Seelenstimmung zu wissen. Temperamentvoll sind wir ja. Das ist bekannt. Wir sind es in dieser Erörterung mehr als je gewesen. Und wenn das aus dem Gesichtspunkt parlamentarischer Ordnung nicht eben nützlich war, so schadete es im Ganzen doch auch nicht viel. Jedenfalls ist mir die Erregung, die seit zwei Tagen in Ihren Reihen herrscht, ein vollgültiger Beweis, dass Sie selbst in Ihrer Treue gegen Zion nicht wankend zu machen sind und dass Sie dieses Gefühl der Treue auch Ihren Kindern vererben werden. (Beifall.) Nun aber gestatten Sie mir hinzuzufügen, dass Ihre Empfindlichkeit zu groß und Ihre Erregung meines Dafürhaltens unangebracht, weil missverständlich war. Es handelt sich bei der Frage, die Sie in diesen zwei Tagen erörtert haben, tatsächlich um drei verschiedene, wenn auch vielfach durcheinander geschlagene Fragen. Von → talmudistisch geschulten Köpfen hätte ich doch erwartet, dass Sie dieses Gewebe der drei ineinander geschlungenen Fragen reinlich, säuberlich auseinander zu dröseln verstehen würden. Da Sie dieses zu meinem Erstaunen nicht getan haben – wenigstens die gegnerischen Redner nicht –, so muss ich mit einigem Bangen – denn es ist leider lange her, dass ich mich mit dem Talmud beschäftigt habe, und ich kann als Talmudist mit dem schwächsten von Ihnen nicht ringen – mich der Mühe unterziehen, diese reinliche Scheidung vorzunehmen. Worum handelt es sich hier? Um die Beantwortung dieser drei Fragen. 1. Soll eine Kommission zur Prüfung einer gegebenen Frage ernannt werden, unvorgreiflich, lediglich zum Zwecke der Prüfung dieser Frage? 2. Sollen wir nach → Ost-Afrika aufbrechen? 3. Darf und soll der Zionismus an die Frage eines Nachtasyles herantreten? Da dieses Wort von mir leider unvorsichtig in die Diskussion geworfen worden ist, da es von Ihnen sichtlich gründlich, bis zum Erdmittelpunkt, missverstanden worden ist, werde ich mir gestatten dürfen, es zwar jetzt noch zu gebrauchen, aber später zu erläutern. Also: eine Kommission ernennen, nach Ost-Afrika ziehen und die Frage erörtern, ob der Zionismus sich mit der Errichtung eines Nachtasyles – wo das zu errichten ist, ist eine andere Frage – beschäftigen darf und soll; das ist es, womit Sie befasst sind. Fast alle Redner, selbst die erbittertsten Oppositionsredner, begannen immer mit der Versicherung ihres Vertrauens zu unserem verehrten Führer Dr. Herzl. Das
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war immer das erste Wort. Viele von Ihnen, die gebildeten Russen, kennen → Tolstoi. In einem der rührendsten Teile seines Gesamtwerks, in seinen → Kindes- und Jugenderinnerungen erzählt er eine Szene, die mir unvergesslich geblieben ist. Es scheint, dass sein Vater die erste Frau verloren hatte und von einer Hetze kleiner Kinder umgeben war, die einer Pflegerin und Erzieherin nicht entbehren konnten. Er dachte daran, sich ein zweites Mal zu verheiraten. Eines Tages erschien eine → Gouvernante und wurde den Kindern vorgestellt. Nachdem die Gouvernante sich eigentümlich zärtlich gegen die Kinder erwiesen hatte, mehr als Gouvernanten bei ihrem ersten Eintritt in ein Haus zu tun pflegen, rief der Vater die Kinder und fragte sie: „Kinder, wie gefällt euch eure neue Gouvernante? Liebt sie euch? Glaubt ihr, dass ihr auch sie lieben könnt?“ Da brach der Älteste in Tränen aus und sagte: „Vater, du willst uns eine Stiefmutter geben.“ Das ist Ihr Vertrauen. Wir sagen Ihnen bei jeder Gelegenheit, wir wiederholen es Ihnen bis zur Lächerlichkeit – denn wir sind als Stilisten keine Freunde der → Tautologie; wir halten die Tautologie für das erbärmlichste stilistische Hilfsmittel eines Stümpers, und wir haben die Eitelkeit, uns nicht für Stümper zu halten –: Das Ziel bleibt unverrückbar. Dieses Ziel heißt Zion. Wir stehen auf dem → Basler Programm. Man kann uns die Füße abhauen; man kann durch äußere Gewalt das Basler Programm zerstören, niemals aber wird man uns mit heilen Beinen, lebendig, vom bestehenden Basler Programm wegrücken. Und Sie sagen: „Wir haben ungeheuer viel Vertrauen zu Ihnen; folglich nehmen wir an, dass Sie sicher vom Basler Programm abgehen wollen.“ (Beifall.) Sie fürchten, wenn man Ihnen von einer Kolonie, in Ost-Afrika oder wo immer, spricht, dass man Ihnen ein Stief-Zion geben will … Das ist ein Vertrauen mit seltsamen Vorbehalten, ein Vertrauen mit schweren Hypothesen. Seien Sie ganz sicher: Niemand denkt daran, das Basler Programm aufzugeben oder nur ein Haar breit davon abzuweichen. Was wollen Sie denn? Können Sie denn, etwa bis zum Augenblick des Märtyrertodes – der ist allerdings noch nicht von uns gefordert worden –, als Beweis der Aufrichtigkeit mehr verlangen, als dass ein Mensch, der sich eines hübschen Fahrzeuges erfreut, der eine gut gebaute Brücke hat, damit beginnt, die Brücke abzubrechen, sein Schiff zu verbrennen, und sagt: „Hier stehe ich, hier muss ich fallen.“ Das ist geschehen. Das haben diejenigen, die Sie Ihre Führer nennen und Ihres Vertrauens versichern, getan. Sie haben ihre Schiffe verbrannt, ihre Brücken abgebrochen und stehen da. Ein Zurückweichen gibt es für sie nicht. Zurückweichen heißt in ihrem Falle: ins Wasser! Ersaufen! Und da sagen Sie: „Sie haben hier eine kleine Komödie gespielt. Sie wollten uns irgendwie mundgerecht machen, dass es auch ohne Zion geht. Ich qualifiziere dieses Vorgehen nicht weiter.“ (Beifall.) Und nun, da ich auch mich als Temperamentjuden offenbart habe, da auch ich meine Gefühle ausgedrückt habe, wollen wir tun, wozu ich Sie in meiner ersten Rede einlud: kühl, geschäftsmäßig, nüchtern die Frage behandeln. Ich will nur die Hauptargumente hervorheben, die im Laufe der Diskussion gegen den Antrag zur Einsetzung einer Kommission laut wurden. Einzelnes war so schön, dass ich es eigentlich aus ästhetischen, aus Feinschmeckergründen hervor-
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heben muss. Es soll doch auch ein lichter Sonnenblick auf die im Ganzen düstere Farbenstimmung der Diskussion fallen. → Herr Wortsmann sprach gar nicht von der Kommission; er nahm schon als feststehend an, dass wir nach Ostafrika auswandern, und wandte sich mit der ganzen Heftigkeit seines erregten Gemütes gegen die angebliche Auswanderung. Seine Besorgnis war, dass wir in die Wildnis Kultur tragen könnten, dass wir also infolgedessen England für sein Anerbieten gar nicht dankbar zu sein brauchten, dass im Gegenteil England uns dankbar sein müsste. Denn wir verwandeln ja Wildnis in kultivierte Gegend. Da ist ihm eine kleine Verwechslung mit untergelaufen. Er dachte wohl, dass wir nach Sibirien oder nach → Sachalin gehen sollten. Dort arbeitet man allerdings nicht für sich, wenn man arbeitet; und wenn man in Sibirien oder in Sachalin eine Wildnis in eine Kulturstätte umgewandelt hat, dann hat derjenige, der das Werk getan, gar nichts davon. Wenn man aber in einer britischen Besitzung unter einem → Charter mit dem Rechte der Selbstverwaltung eine Wildnis unter den Pflug nimmt und dort Kultur schafft, so hat man die Kultur für sich geschaffen. Der große Einwand läuft also darauf hinaus, dass Herr Wortsmann sagt: „Was, ihr nehmt arme Leute und schickt sie in eine Weltgegend, wo sie reich werden? Das ist nicht zu dulden.“ – Auch dafür kenne ich eine russische Geschichte. Es scheint, dass man in Russland einen Kutscher umso höher schätzt und bezahlt, je stattlicher, fetter, großbärtiger und schöner gekleidet er ist. (Heiterkeit.) Es kam nun ein armer → Muschik zu einem vornehmen russischen Herrn und bat um eine Anstellung. Der Mann war in ein zerrissenes Lammfell gehüllt und sah miserabel, verhungert, dünn und schlottrig aus. Er bekam eine Kutscherstelle mit 10 Rubeln im Monat. Nach drei Monaten war er ein Riese mit dreifachem Kinn, ungeheurem Bart, gewaltigem Bauch und einem wunderschönen Pelz. Da trat er vor seinen Herrn und sagte: „Ich habe dir einen großen Gefallen getan und du bist mir großen Dank schuldig. Ich bin elend und beinschlotternd, abgelumpt und verhungert zu dir gekommen. Jetzt bin ich dick und stark und schön. Dafür, wiederhole ich, bist du mir Dank schuldig, und darum musst du mir meinen Gehalt erhöhen.“ (Heiterkeit.) Das ist ungefähr die Auffassung des Herrn Wortsmann. → Herr Dr. Levin erinnerte an Argentinien und die anderen → Wohltätigkeitskolonien, wo ebenfalls Juden hingeschickt wurden, allerdings von Leuten, die keine Zionisten waren. Er fragte: Was ist der Unterschied zwischen dem Projekt, womit Sie uns kommen, und jenen anderen, die der Zionismus mit Recht immer bekämpft oder als durchaus unzureichend hingestellt hat? Ihm ist wieder ein kleiner Unterschied entgangen. Nach Argentinien und → Kanada werden Juden in nichtjüdische Umgebung geschickt, um dort als Juden zu verschwinden, sich zu → assimilieren, weiter die entrechtete Minderheit zu bleiben, die sie auch in den alten Ländern waren. Hier aber – wie konnte Ihnen dieses Moment entgehen! – handelt es sich darum, Juden nicht irgendwohin ins Blaue nach Argentinien oder Kanada zu schicken, sondern nach einer Stelle, wo sie Juden sein, sich als Juden national ausleben, zu
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jüdischen Bürgern erzogen werden und ihren Kindern Gelegenheit bieten können, als Juden jüdisch heranzuwachsen. Glauben Sie wirklich, dass das dasselbe ist? Hr. Dr. Levin hatte noch einen sehr mächtigen Einwand, und ich stelle fest, dass, als er das sofort zu zitierende Wort sprach, der ganze Saal in ein dröhnendes Beifallklatschen ausbrach: „Wozu brauchen wir Ostafrika?“, fragte er. „Wir haben → Erez Israel.“ Ich freue mich, das zu erfahren. Bitte, geben Sie es uns doch, wenn Sie es haben. (Beifall.) Ich möchte jetzt, damit kein Irrtum besteht, eine Feststellung machen: Ich persönlich habe kein Wort der Empfehlung für Ostafrika, aus einem ganz einfachen Grund: Ich weiß nichts von Ostafrika, ich ahne nichts davon. Ich habe über Uganda, über den Kilimandscharo und die anderen in der Nähe der in Betracht kommenden Gegenden gelegenen Gebiete das gelesen, was ein gebildeter Europäer darüber gelesen haben muss. Aber ich gestehe, dass ich es mit zerstreutem Auge, ein bisschen obenhin gelesen habe: Ich empfehle Ostafrika nicht. Nie soll ein Jude sagen dürfen: Ich bin nach Ostafrika gegangen, weil Nordau mich hingeschickt hat. Ich schicke niemand hin. Das einzige, was ich sage, ist: Man spricht mir plötzlich von Ostafrika. Prüfen wir, was daran ist. Nun die zweite Frage: Also soll der Zionismus sich mit dem Nachtasyl beschäftigen? Das Nachtasyl! Ich habe nicht gesagt: nur Nachtasyl, nicht gesagt: → Gorki'sches Nachtasyl, wo Vagabunden zusammenkommen und in poetischer Stimmung oder mit dem schönen Ton der Selbstverständlichkeit, der den Erzählungen Gorkis so tiefe Wirkung gesichert hat, miteinander über ihre vergangenen Verbrechen, über ihre künftig geplanten Morde, zwischendurch über ihre Liebeserregungen und ihre allgemeine vage Menschenfreundlichkeit sprechen, nein, ich habe hinzugefügt – und ich bin beschämt, festzustellen, dass dieses Wort an Ihnen vorübergegangen, von Ihnen abgeglitten ist, obschon Sie es nicht nur gehört haben, sondern es seitdem auch gedruckt haben lesen können –, dass unser Nachtasyl ein eigentümliches Nachtasyl sein soll, nämlich zugleich Nachtasyl und Erziehungsstätte. (Beifall.) Die Juden, die zu unserem Nachtasyl kommen, werden nicht mit einer Pritsche und einem Bissen trockenen Brotes abgespeist. Sie werden als Vagabunden eingeführt und drinnen zu Bürgern gedrillt, zu jüdischen Bürgern, nicht für Ostafrika, wenn es Ostafrika ist, nicht für ein anderes Land, wenn es ein anderes Land ist, sondern für Zion. Was machen Sie denn jetzt? Worin besteht denn Ihre ganze zionistische Agitation? Darin, dass Sie hierher kommen und Lärm machen? Ist das alles? (Unruhe.) – Ich werde Ihnen, wenn nötig, noch härtere Dinge sagen! – Sie arbeiten in aller Herren Ländern an der Erziehung von Zionisten. Sie arbeiten daran, eine formlose chaotische Masse zu Bürgern zu erziehen. Was tun Sie anderes, wenn Sie autonome Kolonien gründen, um dort dieses Erziehungswerk ungehinderter, gründlicher, zielbewusster, vollständiger auszuführen? (Beifall.) Einer der Redner, Herr → Diesenhof, der mir, nebenbei bemerkt, persönlich besonders sympathisch ist, hat ein Wort gesprochen, das ich gut kenne: „Uns handelt
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es sich nicht um die Juden, sondern um das Judentum.“ „Das Judentum ohne die Juden“: Ja wohl. Gehen Sie mit diesem Worte in eine → Spiritistenversammlung! Unter Lebenden, die Leben um sich und vor sich haben wollen, werden Sie damit kein Glück haben. (Langanhaltender Beifall.) Meines Erachtens … Präsident: Ich bemerke in dieser Ecke des Saales ein Knäuel, wo man sich, glaube ich, nicht wohl genug fühlt. Ich bitte Sie, sich im Interesse der Ordnung ein bisschen in den Hintergrund zurückzuziehen; Sie werden dort besser hören und stehen und es wird nicht zu Tumulten kommen. Redner: Obwohl die 15-Minuten-Zeit nicht auf mich anwendbar ist, werde ich sie doch selbst auf mich anwenden. Ich habe mir Ihre Aufmerksamkeit nur noch für drei Minuten zu erbitten. Es wird besorgt, dass wir unsere mit so viel Mühe, mit so viel bitterer Not aufgebrachten Mittel für die provisorische Kolonisation verwenden könnten, so dass für unser eigentliches Ziel nichts übrig bleibt. Das scheint mir vollkommen ausgeschlossen. Es handelt sich nicht darum, die Mittel → unserer Kolonialbank, → des Nationalfonds und etwaige Zusendungen für zionistische Zwecke dafür zu verwenden. Kein Pfennig davon! (Rauschender Beifall.) Das einzige, das sich rechtfertigen ließe, wären die im Ganzen wenig bedeutenden Kosten für die Entsendung einer Prüfungskommission. Das wäre aber auch das Maximum an finanziellen Opfern, das der zionistischen Kasse auferlegt werden dürfte. (Beifall.) Was riskieren Sie, wenn Sie eine Kommission ernennen …? Präsident: War da nicht wieder ein Pfuiruf? Stimmen: Nein! Ruhe! Ruhe! Redner: Was riskieren Sie, wenn Sie zunächst nur beschließen, eine Kommission zu ernennen, der Sie den strikten Auftrag geben, die ihr vom A.-C. vorzulegenden Pläne zu prüfen, von den dazugehörigen Erläuterungen Kenntnis zu nehmen und allenfalls bei dieser Prüfung so gründlich vorzugehen, dass auch die Untersuchung der Verhältnisse an Ort und Stelle ein Element der Prüfung bildet? Einen endgültigen Beschluss wird dieser Ausschuss nie und nimmer fassen dürfen. Wenn nötig, wird dazu ein neuer Kongress zusammentreten. Das jüdische Volk selbst wird in seinen Wählerversammlungen darüber schlüssig werden müssen. (Großer Beifall.) Einstweilen aber werden Sie durch die Wahl eines Ausschusses zur Prüfung der Ihnen vorgelegten Frage zwei Pflichten erfüllt haben. Sie wissen, dass ich nicht Mitglied des A.-C. bin; ich verlange für mich kein Vertrauen. Aber Sie schulden Ihrem Führer einen Beweis Ihres Vertrauens. Sie schulden ihm das Aktions-Mittel, das er in seiner Einsicht von Ihnen verlangt, sie schulden es ihm, wenn er Sie dann bittet, es ihm an die Hand zu geben, ohne dass Sie damit, irgendwie → präjudizierend, einer späteren Entscheidung vorgreifen. Dann ein zweiter Grund: Wir schulden diese Höflichkeit auch England. Sie würdigen nicht alle in diesem Augenblicke die Bedeutung der Tatsache, dass ein Weltreich sich mit dem jüdischen Volke in Verhandlungen einlässt und uns einen Antrag macht, der beinahe keine Gegenseitigkeit in sich schließt. Man will nur geben. Das ist so schön, dass es mir aus meinem politischen Instinkt heraus beinahe zu
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schön scheint. Einer solchen Höflichkeit gegenüber wollen Sie nicht einmal eine kleine Gegenhöflichkeit üben? Sie wollen einen Antrag dieser Art abweisen, ohne ihn auch nur einer Prüfung zu würdigen? Mein letzter Vorredner hat gesagt: „Unser guter Herzl wird die Sache schon in die Reihe bringen“. Schön. Beginnen wir also zunächst damit, das Porzellan in Stücke zu zerschlagen. Unser guter Herzl wird schon wieder einen ganzen Topf daraus machen! Ich schließe. Erwägen Sie, was Sie tun, wenn Sie dem Führer, dem Sie angeblich vertrauen, das Mittel verweigern, ein ihm gewordenes günstiges Anerbieten der englischen Regierung auch nur mit platter Höflichkeit zu beantworten. Erwägen Sie, welche Verantwortung Sie auf sich nehmen, wenn Sie erklären: Es darf auch keine Erziehungsstätte für das jüdische Volk geschaffen werden. Erwägen Sie, was Sie in Russland anrichten. Sie haben alle den → Brief gelesen, der gestern in der „Welt“ erschienen ist. Präsident bittet den Redner, diesen Punkt nicht zu berühren. → Syrkin wird zur Ordnung gerufen. Redner: Gut, lassen wir das. Wir haben auch an einer anderen Stelle als in Russland sicher die ernste Überzeugung erweckt, dass mit der einfachen Erklärung: „Wir lassen uns mit euch wegen Palästinas auf nichts ein“ die Sache nicht getan ist. Die zweitägige Diskussion hat wahrscheinlich an der richtigen Stelle die Überzeugung bestärkt oder geschaffen, dass nichts uns an unserem Endziel irre machen kann. Das ist erreicht. Jetzt können Sie getrost die Kommission ernennen und sagen: „Was immer die Kommission beschließt, was immer ein späterer Kongress beschließt, alles, was wir außerhalb Palästinas schaffen werden, wird von uns immer nur als Vorbereitung für Palästina gemeint und verstanden sein.“ (Frenetischer Beifall, Tücherschwenken, auch vereinzeltes Zischen. Beim Betreten der Bühne durch den Redner erneuter stürmischer Beifall.) Präsident: Ich habe es für wünschenswert gehalten, dem Kongress etwas Näheres mitzuteilen, als ich bisher glaubte mitteilen zu dürfen. Ich konnte das aber selbstverständlich nicht tun, ohne an der zuständigen Stelle mir die Erlaubnis erbeten zu haben, und darum bin ich erst jetzt in der Lage, Ihnen eine Mitteilung, etwas Ergänzendes mitzuteilen, vielleicht das Wichtigste, was an Tatsächlichem bisher in dieser Debatte vorgekommen ist. Bei dieser Gelegenheit antworte ich auch auf einzelne Vorwürfe, nämlich, dass man dem Kongresse früher keine Mitteilung gemacht habe und dass man infolgedessen von Ostafrika und dem Gebiete, das in Frage käme, nichts wisse. Wenn sogar Dr. Nordau auf der Tribüne erklären musste, dass er über das Gebiet nicht genügend unterrichtet ist! Wir konnten Ihnen früher keine Mitteilungen machen, weil wir noch nichts Bestimmtes in Händen hatten. Wir können nicht Nachrichten geben wie ein gut unterrichtetes Blatt, das schon am Tage vorher zu melden wusste, dass jemand gestorben ist. Aus → dem Datum eines Dokuments werden wir ersehen, dass es nicht möglich war, diese Mitteilungen vor dem 14. August anzukündigen. Der Präsident erteilt das Wort.
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→ Mr. Greenberg, dessen Erscheinen auf der Rednerbühne mit Beifall begrüßt wird, spricht Englisch (siehe unten Dr. Nordau). Präsident: Sie wollen etwas bemerken über den Gang der Verhandlungen. Das können Sie zuerst tun und dann das Dokument verlesen. Dr. Herzl: Um weiteren Wünschen, die laut geworden sind, zu entsprechen und um dem Kongress Gelegenheit zu geben, von der geographischen Lage des Gebietes [Kenntnis zu nehmen], welches wir bloß untersuchen wollen, bevor wir einen Kongress zur Beschlussfassung einberufen, habe ich nach Maßgabe der in dieser kurzen Zeit zur Verfügung stehenden Mittel eine ganz flüchtige Skizze von der Hand eines Delegierten, der glücklicherweise auch Künstler ist, anfertigen lassen, die ich hier an der Wand anbringen lasse. Ich bitte nunmehr Dr. Nordau zuerst die Worte der Mr. Greenberg zu übersetzen und dann die Übersetzung des Dokumentes vorzulesen, das ich dem Kongress vorlegen darf. Dr. M. Nordau: Mr. L. J. Greenberg sagte: Da ich persönlich von Herrn Dr. Herzl beauftragt war, mit der britischen Regierung über die Ostafrika-Frage zu verhandeln, würde es mir nicht recht scheinen, eine Parteimeinung vor dem Kongress über die Frage auszudrücken, aber es scheint notwendig, Ihnen zu sagen, dass, insofern die bisher stattgefundenen Verhandlungen in Betracht kommen, wir uns nicht im geringsten Maße gebunden haben, das Anerbieten der britischen Regierung anzunehmen, ein Anerbieten, das, wie ich zu sagen wage, lediglich ganz und gar aus dem Wunsche hervorging, die allgemeine Verfassung des Judentums gebessert zu sehen, und das hervorging aus einer weisen und weitblickenden Schätzung der Fähigkeiten des jüdischen Volkes, seiner Energie und seiner Gabe zur Selbstregierung. Diese Schätzung unseres Volkes von Seite einer großen und machtvollen Nation ist etwas so Neues, ist der Art, in der wir gewöhnlich betrachtet werden, so entgegengesetzt, dass ich sicher bin, es wird Sie interessieren, dass dies die Geistesverfassung der britischen Regierung uns gegenüber ist. (Bravorufe.) Die → Bestellung eines Ausschusses bindet uns in keiner Weise. Wir sind überhaupt nicht gebunden, solange wir nicht gründlich alle Bedingungen und Umstände des Anerbietens, das uns gemacht worden ist, geprüft haben. Und diese Prüfung ist nicht möglich, wenn wir nicht den beantragten Ausschuss einsetzen. Ich denke, ich sollte Ihnen ebenfalls sagen, dass dieses Anerbieten Dr. Herzl zuerst von → Mr. Chamberlain gemacht wurde. Aber solange Dr. Herzl fühlte, dass noch die leiseste Aussicht war, mit Nutzen die Verhandlungen wegen → El-Arisch fortzusetzen, erklärte er Mr. Chamberlain achtungsvoll, dass er es vorzog, sich auf die Ostafrikafrage nicht einzulassen. Aber als die Verhandlungen wegen El-Arisch gescheitert waren, war Mr. Chamberlain so freundlich, wieder durch mich Dr. Herzl mitteilen zu lassen, was er von Ostafrika dachte. Er sagte zu mir: Als er in Afrika war, hätte er Gelegenheit gehabt, das von ihm erwählte Land zu sehen, und fügte hinzu: Das ist ein Land, das Herrn Dr. Herzl passen dürfte.
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Es ist bis jetzt kein genaues Territorium bestimmt worden. Der genaue Ort muss noch bestimmt werden, nachdem Sachverständige unsererseits dort gewesen sein werden. Aber die Gegend, von der Chamberlain sagte, dass er den Eindruck habe, sie würde uns passen, wenn sonst die Umstände geneigt wären, liegt → zwischen Nairaubi und Nau Escarpment. Sie wird beschrieben als ein Hochland und scheint dem südlichsten Teile Englands ähnlich zu sein. Ich erfahre von der Regierung, dass, wenn das gewählte Gebiet uns annehmbar scheint und der → High Commissionar der Schutzherrschaft die Gewährung empfiehlt, die Regierung bereit sein werde, uns ein bedeutendes Landgebiet zu überlassen, etwa 2–300 → englische Meilen lang und ebenso breit, also zwischen 40 und 90 000 englische → Geviertmeilen. Die Gegend zwischen Nairaubi und Nau Escarpment liegt an der Eisenbahn, die von → Mombassa kommt. Was die gesetzliche Lage der vorgeschlagenen Ansiedelung betrifft, so handelt es sich um die örtliche Autonomie unter der Oberherrschaft Seiner britischen Majestät Regierung. – Ich will noch eine persönliche Bemerkung beifügen: Mir ist es so darum zu tun, unser Volk in unserem eigenen Lande versammelt zu sehen, dass, wenn ich nicht all die Zeit überzeugt gewesen wäre, dass die Verhandlungen mit der britischen Regierung ein weiterer Schritt zum Ziele unserer nationalen Bestrebungen mit Palästina als Ende wären, ich mit achtungsvoller Ergebenheit unseren Führer gebeten hätte, mich des Auftrags, mit dem er mich beehrt hatte, zu entheben. Ich erinnere Sie noch einer Sache. Der Weg nach Palästina ist nicht notwendigerweise nur ein geographischer Weg, der politische Weg darf auch nicht aus dem Auge verloren werden. Dr. Max Nordau: Die Urkunde, die Ihnen vorgelegt wird, ist ein Brief von → Mr. Hill, ständigem Untersekretär für die Kolonien, an Mr. Greenberg. Dieser → Brief ist bereits in Nr. 4 der „Welt“ publiziert und wurde vom Kongress mit langandauerndem Beifall aufgenommen. → Frau Prof. Gottheil übersetzte das Dokument ins Französische. Dr. Max Nordau: Unter dem Eindruck des amtlichen Dokuments, das ich verlesen habe, hat einer unserer Kollegen im Kongress, der → Rabbiner Fischel Pines, erklärt, dass er die englische Regierung mit der erforderlichen Spende in das → „Goldene Buch“ des Nationalfonds eintragen lässt. (Bravorufe.) Ich hoffe und wünsche, dass das jüdische Volk eines Tages in der Lage sein wird, seine Dankbarkeit Einzelnen, Regierungen und Völkern gegenüber auch noch anders auszudrücken! (Lebhafter Beifall.) Inzwischen aber war es eine rührende Bewegung des jüdischen Herzens, die sich in dieser Weise äußerte. (Beifall.) Dr. Herzl, Vorsitzender: Ich werde, bevor ich die Abstimmung vornehme, eine Pause eintreten lassen. Ich bitte aber, nicht mit der gewohnten Unpünktlichkeit wieder zu erscheinen, sondern genau in einer Stunde, das wäre um 3/4 4 Uhr, weil dann die von vielen gewünschte – von ungefähr 120 Delegierten – namentliche Ab-
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stimmung sogleich beginnen wird, und wer nicht hier ist, nicht die Gelegenheit haben wird, sich zu diesem Punkte auszusprechen. Schluss der Sitzung 3 Uhr. Quelle: Die Welt, 28.8.1903, H. 5 (Separatausgabe), S. 4–7.
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49 → Patriotismus und Zionismus Es gibt einen Einwand, den man dem Zionismus vom ersten Tag an vorgehalten hat und den man immer wieder gegen ihn erhebt. Der Einwand lautet: „Sobald Sie sich zum Zionismus bekennen, geben Sie damit stillschweigend, ja sogar ausdrücklich zu, dass Sie in Ihrem Land ein Fremdling sind und dass Sie nichts sehnlicher wünschen, als es je eher, je lieber zu verlassen, um Ihr wahres Vaterland, Palästina, zu erreichen. Ist dem aber so, dann wäre es Ihrerseits sonderbar, sich darüber zu beschweren, dass man Ihnen Bürgerrechte verweigert oder in den Ländern, wo man sie Ihnen großmütig gewährt hat, wieder entzieht. Sie rechtfertigen im Voraus die Regierungen, die so weit gehen würden, Sie aus einem Lande zu verjagen, mit dem Sie durch keinerlei vaterländisches Gefühl verknüpft sind.“ Diese Phrasen waren die Antwort auf unsere ersten Kundgebungen in Schrift und Wort. Wir erwiderten darauf sofort. Aber unsere Gegner stellten sich, als ob sie unsere Erwiderung nicht gehört hätten, und so sehen wir überall, wo wir eine Versammlung mit freier Diskussion einberufen, irgendeinen tiefen Denker hervortreten, der siegesgewiss den Kehrreim anstimmt: „Da Sie Zionist sind, können Sie nicht Patriot sein, Sie rechtfertigen also usw. usw.“ Wir würden über den ewigen Gegenredner mit seinem ewigen Argument von der Unvereinbarkeit des Zionismus mit dem Patriotismus lachen, wenn eben der Auftritt nicht auch seine sehr ärgerliche Seite hätte. In der Tat, eins von beiden: Entweder wissen unsere Gegner, dass wir ihre → Sophismen hundertmal widerlegt haben, dann legen sie eine verachtenswerte Unehrlichkeit an den Tag; oder sie wissen es nicht, dann beweisen sie, dass sie sich mit unserer Bewegung niemals beschäftigt, dass sie von deren Geschichte, Literatur und Philosophie keinen blassen Begriff haben – und dann findet man keine Worte, um die Frechheit von Leuten zu kennzeichnen, die öffentlich mit einer solchen Selbstgefälligkeit von Dingen zu sprechen wagen, die ihnen so gründlich und so vollständig unbekannt sind. Ehe ich wieder einmal die Nichtigkeit jenes Vorwurfes nachweise, stelle ich fest, dass es stets nur Juden gewesen sind, die dem Zionismus Mangel an Patriotismus vorwarfen. Für die Antisemiten sind und waren wir natürlich immer Fremdlinge, ja sogar Feinde, und sie haben uns immer → der Vaterlandslosigkeit beschuldigt. Ihre → Denunziation richtet sich gegen die Zionisten nicht mehr als gegen → die Assimilierten, eher weniger. Trotz all ihrer → Renegaten-Niedrigkeit, trotz aller Verstiegenheiten ihres geräuschvoll zur Schau getragenen nationalistischen Patriotismus haben die Assimilierten doch niemals von den Antisemiten ein Zeugnis patriotischer Gesinnung zu erlangen vermocht, und es hat wohl den Anschein, dass sie darauf für immer verzichten müssen. Aber von den Antisemiten abgesehen ist es einem Nichtjuden noch niemals eingefallen, die Gefühle der Treue der Zionisten ihrer Heimat und ihren christlichen Mitbürgern gegenüber in Verdacht zu bringen. Das berüchtigte Argument von der angeblichen Unvereinbarkeit des Zionismus mit dem
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Patriotismus ist also keineswegs etwa ein logischer Zwangsschluss; es ist vielmehr einzig und allein ein Angstruf, eine Kundgebung jämmerlicher Furcht, eine Offenbarung jenes geheimen inneren Schlotterns, mit dem die unglückseligen Assimilierten behaftet sind, die so stolz ihren Patriotismus zur Schau tragen und ihrer Stellung im Vaterland so sicher zu sein vorgeben. Wir laden Sie ein, eine Anstrengung zu machen, um Ihre feige Furcht zu überwinden und ruhig zu urteilen. Was ist denn Patriotismus? Es ist ein Gefühl inniger Liebe zur Heimat, der Wunsch, ihr stets nützlich zu sein, der feste Entschluss, sie gegen ihre Feinde zu verteidigen und für sie, wenn es sein muss, das Leben hinzugeben. Dieser Patriotismus, ein gesunder, berechtigter und vernünftiger Patriotismus, fließt aus zwei Quellen. Die eine ist die von jedem normalen menschlichen Wesen empfundene Zärtlichkeit für die eigene Kindheit und Jugend sowie für alle an sie erinnernden Eindrücke. Man ist naturgemäß gerührt vom Gedanken an den ersten Horizont, den die Augen in der Morgenröte des Lebens geschaut, von den ersten Lauten, die an unser Ohr gedrungen und die unser kindliches Lallen nachzuahmen gesucht, von der lebendigen und toten, physischen und moralischen Umgebung, in der wir herangewachsen sind und unsere ersten süßen und schmerzlichen Empfindungen erlebt haben. Die Stätten, welche Zeugen unserer Geburt und unserer Entwicklung waren, sind ein Teil unserer selbst. Unsere Anhänglichkeit an sie ist nichts als eine Art Egoismus, denn in ihnen lieben wir uns selbst. Die andere Quelle des Patriotismus ist weniger einfach. Es ist Dankbarkeit gegen die Gemeinschaft, die uns Sicherheit des Lebens und des Eigentums verbürgt, die uns alle Wohltaten der Ordnung, des Rechts, der Gerechtigkeit, der Gesittung angedeihen lässt – es ist Stolz auf eine geschichtliche Vergangenheit, als deren Miterben wir uns fühlen, es ist der einem jeden anständigen Menschen innewohnende Wunsch, das rühmliche Erbe, das ihm die voraufgegangenen Geschlechter hinterlassen, das sie mit ihrem Blute erworben haben und das er als Bürger eines angesehenen Landes hat mitgenießen dürfen, vollständig zu erhalten und wenn möglich zu mehren. Dies sind die Gefühls- und Verstandeselemente eines aufrichtigen und fruchtbaren Patriotismus, der die Kraft und die Gesundheit eines Landes ausmacht und der ein Land groß machen kann. Ich lasse den → Parade-Patriotismus beiseite, der das Zerrbild des ersteren ist: diese Gebärde einer verzückten Begeisterung über gewisse Worte, diesen heuchlerischen → Fetischdienst vor gewissen Symbolen, diesen wahrhaftigen Größenwahnsinn in Bezug auf alles, was national ist oder es zu sein vorgibt, dieses affektierte Gefühl der Verachtung und des Hasses gegen alles Fremde, diese Haltung eines von Mordwut trunkenen Boxers, die unsagbar gehässig wären, wenn man nicht wüsste, dass all das nichts als eine Komödie ist, abgesehen von einigen armen Narren, die ihrer eigenen Schönrednerei zum Opfer fallen oder durch die hohle Rhetorik anderer geprellt werden. Diesen falschen Patriotismus weise ich von mir mit aller mir zu Gebote stehenden sittlichen Kraft. Und das keineswegs als
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Zionist, sondern einfach als ein Mensch, der über das Leben und dessen Probleme nachgedacht hat. Von diesem albernen, fremdenfeindlichen, ungerechten, prahlerischen, rückschrittlichen Patriotismus will ich nichts wissen. Und indem ich ihn zurückweise, befinde ich mich in der allerbesten Gesellschaft. Mögen ihn die → dem Ghetto entlaufenen Angstmeier mimen! Es ist ihre Sache, wenn es ihnen beliebt, Ton und Gebärde der wütendsten Nationalisten nachzuäffen, sich in den Augen der verständigen Christen lächerlich, bei den Spekulanten des → Chauvinismus selbst verächtlich, bei den Verfechtern des menschlichen Fortschritts verhasst zu machen. Wir beneiden sie nicht um den traurigen Ruhm, an ekelhaftem Getue die borniertesten Chauvinisten zu übertrumpfen. Der gute Patriotismus aber, der wahre Patriotismus ist dem zionistischen Juden nicht minder eigen als den besten Bürgern. Wie könnte dem auch anders sein? Von Hause aus sentimental angelegt, ergreift ihn die Poesie seiner Kinder- und Jugendjahre leichter und mächtiger als die kühleren Temperamente. Daher auch bei ihm eine innigere Liebe zu seiner Umgebung. Noch von einem heimlichen Abscheu durchzittert beim Gedanken an das Ghetto, dessen Pforten sich vor ihm selbst in den vorgeschrittensten Ländern erst vor kaum einem Jahrhundert geöffnet haben, ist er erkenntlicher als irgendein anderer Bürger für die Wohltaten einer Staatsordnung, die ihm die Menschen- und Bürgerwürde sichert, sowie auch stolzer als die meisten seiner nichtjüdischen Mitbürger auf die vergangenen und künftigen Schicksale seines Landes, an welchen ihm erst seit kurzer Zeit mitzuwirken vergönnt ist. Die beiden Quellen des Patriotismus fließen also bei ihm reichlicher als bei irgendjemand. Die Beweise dafür sind nicht zu zählen. In allen Kriegen der letzten hundert Jahre war die → Zahl der Juden, die ihre Vaterlandsliebe mit ihrem Blute besiegelt, höher als das Verhältnis der jüdischen zu der gesamten Bevölkerung. Man findet sie in den ersten Reihen überall, wo es gilt, für das Gemeinwohl sich zu opfern und die Bürgerpflichten anders als durch leere Worte zu erfüllen. Die öffentlichen Straßen selbst zeugen übrigens in manchem Lande Europas und Amerikas durch die beredte Sprache von Denkmälern für die patriotischen Verdienste der Juden und für deren gerechte Anerkennung durch die Nation. Ich muss indes, um aufrichtig zu sein, in aller Offenheit erklären, dass jener tätige, eifrige Patriotismus, der über seine Mühen und Opfer glücklich und auf sie stolz, nur in jenen Ländern am Platze ist, die Wert darauf gelegt haben, ihren Juden ein wirkliches Vaterland zu bieten. Diejenigen Staaten dagegen, die ihre jüdischen Einwohner wie → Parias behandeln, die ihnen die Menschen- und Bürgerrechte vorenthalten, sie kaum dulden und sie stets in brutalster und grausamster Weise fühlen lassen, dass ihre Anwesenheit als ein Übel betrachtet wird und ihre Entfernung mit Freuden begrüßt werden würde – diese Staaten haben kein Recht, von ihren Juden Liebe und patriotische Opferfreudigkeit zu fordern. Und doch, selbst in jenen barbarisch ungerechten Ländern verleugnet der Jude seine unbezwingliche Zärtlichkeit für den Schauplatz seiner Jugend nicht, und mitunter setzt er uns in Erstaunen durch ein intensives Heimweh nach seinem Heimatort, nachdem es ihm gelungen
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war, von dort wegzukommen und im Ausland eine ungleich gastfreundlichere Zufluchtsstätte zu finden. Selbst in jenen Ländern ist der Jude ein Musterbeispiel gewissenhafter Beobachtung der Gesetze und der Achtung vor den Behörden. Selbst dort bietet er sich, ohne dazu aufgefordert und ermuntert zu werden, zu einer höchst wirksamen Mitarbeit am materiellen, sittlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Fortschritt der Nation an. Er tut da mehr als seine Schuldigkeit, jedenfalls mehr als sein → Stiefvaterland berechtigt ist, von ihm als Gegenleistung für die den Juden im Übermaß zugefügten Verfolgungen und Misshandlungen zu verlangen. Dort, wo der Jude in seiner Heimat offiziell für einen Fremdling erklärt wird und wo man ihm die Menschen- und Bürgerrechte vorenthält, arbeitet der Zionist offen auf seinen Auszug hin und macht kein Geheimnis aus seiner Hoffnung, so bald als möglich ein Land zu verlassen, wo er lediglich wegen Mangels eines sicheren Obdachs verbleibt. In den Ländern dagegen, wo der Jude gleichberechtigt ist, fühlt und denkt der Zionist anders. Als freier Mann verschmäht er die → Mimikry des Sklaven und gebärdet sich nicht, als ob er aufgehört hätte, Jude zu sein. Er unterscheidet scharf zwischen seiner Bürger-Eigenschaft und seiner → ethnischen Individualität, und indem er seine Pflichten, alle seine Pflichten gegenüber dem Vaterlande mit Freuden erfüllt, vergisst er keinen Augenblick, dass er der Sohn eines viertausend Jahre alten Volkes mit einer Vergangenheit von erstaunlich tragischer Größe ist und dass er die feste Hoffnung hat, dessen historische Entwicklung einer glorreichen Zukunft entgegen fortschreiten zu sehen. Er fühlt, dass er die Pflicht, aber auch das unbedingte Recht hat, an der Vorbereitung jener Zukunft mitzuwirken, und er gestattet nicht, dass ihm aus seiner Treue zu seiner Rasse, zu seinem noch über beide Welten zerstreuten Volk ein Vorwurf gemacht wird. Das Vaterland aber leidet nicht unter dem tätigen Eintreten des Zionisten für seine Idee. Dieses letztere tut seinem Patriotismus keinen Abbruch und verhindert ihn nicht im Geringsten an der Erfüllung aller seiner Bürgerpflichten. Der Zionismus kann niemals mit seinem Patriotismus in Konflikt geraten. Der eine braucht in keiner Weise dem anderen geopfert zu werden. Gewiss, gäbe es bereits ein jüdisches Land mit einer eigenen Politik, dann könnte man einen theoretischen Gegensatz ausdenken zwischen den Interessen des jüdischen Landes und denen des Vaterlandes des Zionisten, einen Gegensatz, der bis zu einem drohenden Zusammenstoß gehen könnte. Ich wiederhole, ich gebe das als eine theoretische Möglichkeit zu, trotzdem ich mich absolut weigere, den Fall ins Auge zu fassen, dass sie sich jemals in der Praxis verwirklichen könne. In diesem Falle müsste der Zionist allerdings eine Wahl treffen. Da er unmöglich zugleich treuer Patriot und aufrichtiger Zionist sein könnte, müsste er entweder auf sein zionistisches Ideal verzichten oder aber sein Vaterland verlassen, um in der Tat seinen Wohnsitz unter seinen Rassengenossen zu nehmen. Allein solange es keinen jüdischen Staat mit einer eigenen weltpolitischen Rolle gibt, die zwischen ihm und dem Vaterlande des Zionisten einen Interessengegensatz heraufbeschwören könnte, ist
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der Zionist ebenso sehr berechtigt, seine Farbe zu bekennen, seine Bestrebungen zu verkünden und an der Verwirklichung seines Ideals zu arbeiten wie → vor achtzig Jahren die Philhellenen und heutzutage die → Armenophilen, deren Tätigkeit ja viel eher als der Zionismus geeignet war und ist, die auswärtige Politik des betreffenden Vaterlandes zu gefährden. Unehrliche Widersacher könnten uns noch dies entgegenhalten: „Dem Zionisten schwebt eine nationale Zukunft des jüdischen Volkes vor und er arbeitet auf sie hin. Ist es ihm damit ernst, so wird er auch an jener Zukunft teilnehmen wollen. Er denkt also, früher oder später von dannen zu ziehen. Sein Aufenthalt im Vaterland ist somit nach seiner eigenen Auffassung ein bloß zeitweiliger. Folglich ist er im Grunde ein Fremdling, ein zeitweiliger Gast im Vaterland, und er kann nicht jenes Vertrauen beanspruchen, das nur den endgültigen Bürgern entgegengebracht wird, die ihr Dasein unauflöslich mit demjenigen des Vaterlandes verknüpft haben und ihre Zukunft von der ihres Landes schlechthin nicht zu trennen vermögen.“ Darauf antworten wir: „Jahr für Jahr wandern Hunderttausende und Aberhunderttausende von Bürgern verschiedener europäischer Staaten aus ihrem Vaterland aus, um sich jenseits des Ozeans ein neues Vaterland zu suchen. Man findet darunter Italiener, Engländer, Franzosen, Deutsche, Skandinavier, Spanier, alles Leute, deren Patriotismus noch niemand angezweifelt hat. Solange sie in ihrem Vaterlande lebten, dessen echte Söhne und unbestrittene Bürger sie waren, genossen sie alle Rechte, ohne dass es je irgendwem eingefallen wäre, sie über ihre Zukunftspläne zu befragen. Nachher schüttelten sie eines schönen Tages den Staub des Vaterlandes von ihren Sohlen und gingen davon. Niemand aber hat ihnen daraus einen Vorwurf gemacht, niemand hat ihnen zum Abschied nachgerufen: Sieh da! Jetzt zeigt es sich, dass ihr niemals wahre Patrioten gewesen! … Im Gegenteil, man interessiert sich für ihr Los nach wie vor, das Vaterland beschützt sie aus der Ferne, soweit sie seines Schutzes bedürfen, und man folgt ihren weiteren Schicksalen mit der wärmsten Sympathie. Was unseren nichtjüdischen Mitbürgern recht ist, muss uns billig sein. Man hat kein Recht, der Zukunft, einer vielleicht fernen Zukunft vorzugreifen. Man hat kein Recht, von uns Bürgschaften für unsere zukünftigen Absichten zu verlangen, da man keine solchen von den Nichtjuden verlangt, die den stetigen Strom der Auswanderung nähren. Wenige westliche Zionisten, d. h. westliche Patrioten, wissen zur Stunde, was sie am Tage tun werden, wo sie die Wahl haben, Bürger eines jüdischen Landes zu werden. Manche von ihnen werden gewiss auswandern. Andere dagegen werden alsdann die sittliche Unmöglichkeit fühlen, vom Vaterlande zu scheiden, und sich entschließen, anderen den Ruhm zu überlassen, die Geschicke des jüdischen Volkes fortzusetzen. Mittlerweile aber stehen die einen wie die anderen an praktischem Patriotismus keinem ihrer Mitbürger nach und sie wirken für die Zukunft ihres Vaterlandes mindestens ebenso sehr wie diejenigen, die morgen vielleicht Auswanderer sein werden, während sie heute unverdächtigte und über allem Verdacht stehende Bürger und Patrioten sind. Heutzutage ist die Auffassung von der Nation, vom Staate nicht mehr so engherzig, so tyrannisch, um das
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Individuum restlos aufzusaugen. Der Einzelne bewahrt seine Selbstständigkeit und seine Persönlichkeit. Es steht ihm zwar nicht frei, seine gegenwärtigen Pflichten zu vernachlässigen, er darf aber seine Zukunft vorbehalten. Er arbeitet genug für die Zukunft des Vaterlandes, indem er dessen Gegenwart fördert. Der Zionist, der eines Tages vielleicht auswandern wird, oder auch durchaus nicht auswandern wird, was ebenfalls möglich ist, hat das Recht auf das gleiche Vertrauen seiner Mitbürger wie die übrigen Landesbewohner, die ein berechtigtes Streben nach Glück eines Tages vielleicht zur Auswanderung treiben wird.“ Und nun, da ich am Ende meiner Beweisführung angelangt bin, will ich den letzten Grund meiner Auffassung nicht verhehlen. Die jüdischen Gegner, die uns die angebliche Unvereinbarkeit des Zionismus mit dem Patriotismus entgegenhalten, glauben selbst kein Sterbenswörtchen davon. Es ist also pure Höflichkeit, ihnen erst die Nichtigkeit ihres Einwandes nachweisen zu wollen. Quelle: ZS1, S. 289–298, dort mit Verweisen auf Quelle und Übersetzung: → L'Echo Sioniste, 1903, Nr. 2. Aus dem Französischen.
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50 Theodor Herzl Acht Tage sind schon vorüber, seitdem die schreckliche Nachricht mich niederschmetternd traf, und ich kann mich noch immer nicht von dem Keulenschlage erholen, ich bin noch ganz betäubt, und ich muss eine qualvolle Anstrengung machen, um mir die Tatsache zu vergegenwärtigen, dass Theodor Herzl tot ist. Wie! Er, der Große, der Starke, voll Leben, unerschöpflich an Ideen, überreich an Mitteln, er, der um zehn Jahre jünger war als ich, er ist vor mir hingegangen! Und ich beweine ihn! Und ich muss ihm einen → Nekrolog schreiben! Das ist doch unerträglich ungerecht! Das ist zum Aufschreien absurd! Von allen Seiten bittet man mich, von ihm zu reden, weil man weiß, dass ich ihn mit einer tiefen Freundschaft geliebt habe, die sowohl dem Geist als auch dem Herzen entsprang. Bis jetzt habe ich mit Zorn abgelehnt. Ich verabscheue es, mich zur Schau zu stellen. Ich will nicht öffentlich schluchzen. Wenn ich heute einwillige, für das „Echo Sioniste“ die erste Ausnahme zu machen, so ist es nur, weil ich mich an die nächsten Freunde wende. Wir verstehen uns durch halbe Worte. Hier erwartet man nicht, dass ich über Herzl Literatur schreibe. Ich wäre dessen nicht fähig. Ich kann nur Klagen hervorbringen, ohne mir Mühe zu geben, sie künstlerisch zu ordnen. Und sogar wenn ich meine Feder dem Antrieb meines Schmerzes folgen lasse, empfinde ich ein Schamgefühl darüber, doch in gewissem Maße mein innerstes Gefühlsleben entblößt und den Tod Herzls zum Gegenstand eines Artikels genommen zu haben. *** Die Massen des jüdischen Volkes haben eine dunkle Ahnung, dass dieser Tod des einen Mannes ein nationales Unglück sei. Aber die einfachen Seelen können sich noch nicht im Entferntesten Rechenschaft ablegen von der Tragweite des Unglücks, das sie trifft, das uns alle trifft. Solange Herzl da war, lebend, handelnd, allen Forderungen der Lage gewachsen, allen Notwendigkeiten genügend, allen Gegnern seine Brust bietend, hielt man es für ganz natürlich, als ob das immer so sein müsste, als ob es gar nicht anders sein könnte. Jetzt aber, nachdem er verschwunden ist, werden die ungeheure Lücke, die er gelassen, die Unmöglichkeit, ihn zu ersetzen, dem jüdischen Volk allmählich das richtige Verständnis für die Bedeutung Herzls beibringen und es ihm ermöglichen, die Größe seines Verlustes zu ermessen. Einmal bei einem Mittagsmahl in → Anwesenheit unseres Freundes Alexander Marmorek sagte ich zu Herzl: → „Wenn ich ein Gläubiger wäre und mich → mystisch ausdrücken würde, würde ich sagen, dass Ihr Auftreten im kritischsten Augenblicke der Geschichte des jüdischen Volkes eine Fügung der Vorsehung ist. In diesem beängstigenden Momente war ein Mann vonnöten, und da standen Sie auf, um den
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Verzweifelten die Hoffnung wiederzugeben und den Erschlaffenden die Zukunft zu verbürgen.“ In seiner Bescheidenheit, die so aufrichtig, so natürlich war, errötete er und ärgerte sich beinahe. „Nicht doch“, erwiderte er, „nicht doch, wie können Sie so sprechen, Sie, der Sie doch den Wert der Worte kennen! Es gibt nichts einzig Dastehendes, nichts Exzeptionelles in meinem Fall. Wenn ich entschwinden sollte, so würden hundert, tausend Menschen dem jüdischen Volke zur Auswahl geboten sein, und sie werden mein Werk gerade an dem Punkte fortsetzen, an dem ich es verlassen habe.“ Ich wollte nicht das Gespräch über diese Annahme, die ich als unsinnig betrachtete, fortführen. Aber ich schüttelte das Haupt und Alexander Marmorek tat es auch. Das, was ich damals nicht für möglich halten wollte, ist nun dennoch eingetreten: Herzl ist dahingegangen. Und man wird sehen, und man sieht schon, wie sehr ich Recht hatte. Weder hundert noch tausend Männer, niemand bietet sich uns, um ihn zu ersetzen. Er war einzig. *** Er war es nicht so sehr durch jede einzelne seiner zahlreichen Eigenschaften als vielmehr durch deren wunderbare Vereinigung in einem einzigen Manne. Er war ein Schriftsteller von großer Begabung, und wenn er sich konzentrieren, sich seiner Kunst ganz hätte widmen können, so wäre er im deutschen Schrifttum hochgelangt. Er hätte einen ersten Rang gewinnen können. Aber ich weiß nicht, ob er der erste Schriftsteller seiner Epoche geworden wäre. Er war ein ausgezeichneter Redner: ruhig, geistreich, einfach, maß- und immer geschmackvoll. Er beherrschte eine Form von tadelloser Eleganz, sogar bei der Improvisation. Seine Geistesgegenwart ließ ihn nie im Stich. Vollkommen Herr seiner selbst, wurde er schon dadurch Herr der aufgeregtesten Versammlungen und der leidenschaftlichsten Debatten. Aber er misstraute sich selbst und zog der Improvisation die schriftliche Vorbereitung seiner Reden vor, die er vorlas, was natürlich ihren unmittelbaren Erfolg etwas verminderte, und sein kluges, gemäßigtes, überzeugendes Wort hatte nur selten den mächtigen Hauch, der sogar den Skeptiker mitreißt und berauscht. Er hatte eine fruchtbare, schöpferische Phantasie, die für alle Schwierigkeiten Lösungen ersinnen und Bilder von großer Schönheit hervorzaubern konnte. Aber bei aller seiner Vorstellungskraft überragte er nicht → Georges Eliot, deren „Daniel Deronda“ von manchen vor → „Altneuland“ der Vorzug gegeben wird. Er hatte einen scharfen praktischen Verstand und bewies es durch die Organisation der zionistischen Bewegung, der Kongresse, der → jüdischen Kolonialbank und des → Nationalfonds. Aber auch in dieser Richtung können sich die großen jüdischen Finanziers, Industriellen, Kaufleute, Verwalter ihm als ebenbürtig betrachten.
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Weniger Dichter als Heinrich Heine, ein geringerer Redner als Disraeli, minder phantasievoll als die Christin Eliot, ein kleinerer Administrator als Baron Hirsch, war er nichtsdestoweniger größer als jeder von ihnen, weil er dies alles zugleich war. Und er war noch etwas anderes. Sein Geist nährte und schmückte sich an der modernsten, entwickeltsten Kultur Westeuropas, sein Herz schlug im Gleichtakt mit den Juden des allertraditionellsten Osteuropas. Er stellte in den Dienst der poetisch kühnsten Konzeptionen die vernünftige, überlegte Methode des Staatsmannes, des kaltblütigsten Berechners. Und um nichts zu verschweigen: Er war auch durch das Äußere und durch die Nebensächlichkeiten, die in den menschlichen Dingen eine so große Bedeutung haben, begünstigt. Er war schön, er war groß und wohlgebaut, er hatte eine edle, denkende Stirne, ein schwarzes Herrscherauge, ein bezauberndes Lächeln, eine warme, starke, weittragende Stimme. Er ist in Wohlhabenheit geboren und groß geworden und sein angeborener Stolz hat nie Demütigungen der Armut gekannt. Sein Auge hatte stets die Gewohnheit, den anderen immer gerade und voll anzublicken, mochte es ein Kaiser, ein König oder der Papst sein. Die materielle Unabhängigkeit hat sein Rückgrat gesteift, das nie gelernt hat, sich in Unterwürfigkeit zu beugen. Das jüdische Volk hat viele Talente hervorgebracht; aber sie waren Egoisten oder fragmentarische Talente. Wir hatten einen Heinrich Heine, aber er besang → die Liebe, den Rhein und die Wallfahrt zu Unserer lieben Frau von Kevelaar; wir hatten einen Jehuda Halevy, aber seine jüdische Sehnsucht erschöpfte sich ganz in harmonischer Lyrik; einen Disraeli, aber er schuf den britischen Imperialismus; einen Manasse ben Israel, aber sein Ideal beschränkte sich auf die Erlangung der Erlaubnis, dass den Juden England geöffnet werde; einen → Simson, den „geborenen Präsidenten“, aber er ließ sich taufen, um in politischen Versammlungen Deutschlands den Vorsitz zu führen; einen Mendelssohn, den → Apostel der westlichen Zivilisation, aber er lehrte die Verachtung der jüdischen traditionellen Werte. Und zum ersten Male nach zweitausend Jahren brachte das jüdische Volk einen Mann hervor, der ein ebenso bewundernswerter Europäer als zugleich ein begeisterter Jude war, der die radikalsten Fortschrittsideale hatte und zugleich einen ausgezeichneten geschichtlichen Sinn, der Dichter und Staatsmann für die jüdische Sache war, der Präsident, Redner, Organisator, Träumer, Tatenmensch war. Vorsichtig, wo er konnte, kühn, wo er musste, bereit zu allen Opfern und sogar zum Martyrium, soweit es sich um ihn selbst handelte, doch nachsichtig, von unerschöpflicher Geduld gegen alle anderen; stolz, edelmütig, würdevoll und dennoch bescheiden, brüderlich den Einfachsten und den Geringsten gegenüber. Dieser Mann war Theodor Herzl, und er war erst vierundvierzig Jahre alt, als wir ihn verloren. *** Wir wissen, was ihn getötet hat. Reden wir nicht davon. Ich will nicht bitter werden. Mein Zorn soll sich meiner Trauer nicht gesellen. Ich höre um mich herum
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murmeln: „Ein Mensch der Öffentlichkeit muss eine harte Haut haben. Er muss gegen Angriffe und Verleumdungen gepanzert sein.“ Unglückliche! Wäre Herzl gefühllos gewesen, hätte er dann so heftig den jüdischen Schmerz empfunden, dass er darüber seine Ruhe verlor, dass er sich von der ihm zulächelnden literarischen Laufbahn abwendete und sich dafür in den Glutofen des kämpfenden Zionismus stürzte? Seine ausgesuchte Empfindsamkeit hat ihn zum Urheber und Führer des Zionismus gemacht, aber sie ließ ihn auch in grausamer Weise alle Wunden fühlen, die ihm seine brutalen und hinterlistigen Feinde geschlagen haben. Und sie hat endlich das arme gequälte Herz zermalmt. *** Und die Zukunft? Ich bewahre alle meine Hoffnungen, doch in diesem Augenblicke befragt mich nicht über die Zukunft; meine Tränen verhindern mich noch, sie klar zu sehen. Quelle: ZS1, S. 389–395, dort mit Verweisen auf Quelle und Übersetzung: → L'Echo Sioniste, Juli 1904. Aus dem Französischen. Ferner in: Ost und West, August/September 1904, H. 8–9, Sp. 563–568.
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51 Trauerrede auf Herzl Geehrte Versammlung! Der zionistische Kongress tritt zum ersten Mal ohne den zusammen, der ihn geschaffen hat. Den siebenten Kongress, den → Sabbatkongress, sollte sein Schöpfer nicht erleben. Diese → Estrade bietet nicht mehr das Ihnen vertraute Bild. Es fehlt die ragende Mittelpunktgestalt mit dem → schwarzbärtigen Assyrerkopfe, die alle Blicke auf sich zog. Mir, seinem ergebenen Mitarbeiter von der ersten Stunde an, ist die schmerzensreiche Aufgabe geworden, unserem toten Führer, Dr. Theodor Herzl, den Nachruf von der Bühne zu widmen, deren Aufrichtung eines seiner unsterblichen Verdienste ist. Was ich persönlich empfunden, als wir ihn verloren, braucht nicht vor aller Blicken ausgebreitet zu werden. Hier will ich mich zwingen, von ihm zu sprechen, wie er es gern gehört hätte, ohne Schwulst und Übertreibung, die dem feinen Stilisten, dem vornehm maßvollen Geiste, dem Künstler der gedämpften Halbfarben tief widerstrebt haben würden. Ich will versuchen, ihn zu sehen und zu zeigen, wie er wohl einst dem Geschichtsschreiber erscheinen dürfte, der ihn, unbeeinflusst von der strahlenden Wärme der Persönlichkeit, kühl nach seinen Taten beurteilen wird. Am → 3. Juli, dem 20. Tammus, des vorigen Jahres hat Theodor Herzl für immer die Augen geschlossen. An seinem Todestage hatte er sein 44. Lebensjahr nur um zwei Monate überschritten. Der laute Aufschrei des Entsetzens, die lange Wehklage, die der tausendfache Widerhall der Nachricht von seinem Hinscheiden waren, ließen ermessen, was er seinem Volke gewesen. Mit 35 Jahren dem jüdischen Volke ganz unbekannt, war er neun Jahre später sein Stolz und seine Hoffnung geworden. Dass er sich diesen Platz im jüdischen Denken und Fühlen hat erringen können, ist eins der Wunder seines wunderbaren Lebens. Er war eine weite Strecke durch das Wasser der → Assimilation gewatet, auch durch tiefe Stellen, wo es ihm fast über den Scheitel schlug; in den sonnigsten Jahren seines Daseins war er ganz von Interessen eingenommen, die keinen Schimmer jüdischen Charakters zeigten; er ging ganz auf in künstlerischen Aufgaben; er lebte sich restlos aus in schriftstellerischer Arbeit; er hatte keinen anderen Ehrgeiz, als die Bühne zu erobern und sich im erkämpften Gebiete zu behaupten. Nichts lenkte ihn in die Richtung seiner eigentlichen Lebensarbeit; nichts regte seinen Geist zur Beschäftigung mit jüdischen Fragen an, bis der Tag kam, wo die Lage des jüdischen Volkes ihm sein eigenes Judentum mächtig ins Bewusstsein rief. Er lebte → Mitte der neunziger Jahre in Paris. Es war der tragische Augenblick, wo der französische Volksorganismus von der → Dreyfuskrankheit befallen wurde. Die Straßen begannen widerzuhallen vom Schrei: → „Tod den Juden!“ Da horchte Herzl hoch auf. Eine der empfindlichsten Stellen seines Wesens wurde von einem rohen Hieb getroffen – sein Stolz. Denn Herzl war ein stolzer Mann; nicht hochmütig, nicht eitel: stolz! Das heißt, er hatte das bestimmte Bewusstsein seines sittlichen Wertes und jene Selbstachtung
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adliger Naturen, die es in sich schließt, dass man auch der Väter gern gedenkt. Er empfand sein Blut als ein kostbares Erbe, seine Herkunft als eine Auszeichnung. Dieser durch und durch vornehme Jude, der als Vertreter der → Neuen freien Presse in Paris von Berufs wegen alle Volksversammlungen besuchen, täglich in die Kammer gehen und die antisemitischen Zeitungen und Schriften lesen musste, blickte schaudernd in den Abgrund antisemitischer Bestialität, der vor ihm aufklaffte. Er ertrug es nicht, dass man in ihm seine Vorfahren beschimpfte und seine Nachkommen schmähte. Er empörte sich mit der ganzen Leidenschaft seiner starken Natur gegen die ruchlosen Lügner, die ihn mit allen Juden zusammen in dem Grundnetz einer Kollektivverleumdung einfingen, um ihn zur moralischen Vernichtung zu schleppen, und er, nach Anlage und Entwicklung bis dahin eine allseitig frei dastehende Eigenpersönlichkeit, nahm sofort mit tapferem Trotze die Gemeinbürgschaft mit den Seinen vor dem Feinde an, der die Juden um ihrer Rasse willen aus der menschlichen Gemeinschaft stoßen wollte. Er dachte über sein Verhältnis zum jüdischen Volke, über das Verhältnis des jüdischen Volkes zu den anderen Völkern nach, er gelangte zur Erkenntnis, dass dieses Verhältnis unleidlich sei, und da er ein starker und entschlossener Charakter war, fasste er sofort den Vorsatz, die Verfassung und die Lage seines Volkes, dessen Schicksale er teilen musste und nun auch aus freier Entschließung teilen wollte, von Grund aus zu ändern. Niemand, auch er selbst nicht, hatte bis dahin in ihm die Eigenschaften geahnt, die er für seine neue Aufgabe mitbrachte. Herzl wuchs wirklich mit seinen größeren Zwecken; er wuchs so gewaltig, dass seine Bekannten und Kollegen ihm mit dem gewohnten Maßstab nicht mehr nachkommen konnten und ihn mit albernem Hohn oder schimpflicher Nachrede anfeindeten, weil er über ihre kurze Elle hinausgewachsen war. Aus dem anmutigen Plauderer, dem gemütvollen Erzähler, dem geistreich tändelnden → Lustspieldichter wurde über Nacht ein Staatsmann mit weitem Umblick, der einem hohen Ziel auf nahezu ungangbaren Pfaden kühn und beharrlich zustrebte. Nörgler haben naserümpfend herumgeredet, Herzl habe den Zionismus nicht geschaffen, er habe ihn fertig vorgefunden und sich das Werk seiner Vorgänger angeeignet, ohne sie auch nur zu nennen. Ich aber stelle aus sicherer Kenntnis der Tatsachen fest, dass er von Vorgängern schlechterdings nichts wusste. Er fand den Zionismus in seinem Herzen. Er baute ihn in seinem Geiste systematisch aus. Erst Jahre nachdem er mit sich ganz fertig war, lernte er Pinsker und Moses Heß kennen. Es waren Begegnungen, die ihn erfreuten. Aber sie kamen zu spät, um ihn etwas zu lehren. Es ist einmal scherzhaft gefragt worden, was wohl aus → Liszt und → Paganini geworden sein würde, wenn sie mit ihrem spezifischen Genie zur Welt gekommen wären, ehe das Klavier und die Geige erfunden waren. Die Antwort auf diese Frage gibt Herzls Erscheinung. Er war tatsächlich der Liszt oder Paganini, der vor der Er-
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findung des Instruments geboren war, auf dem allein sein Genie sich offenbaren konnte. Herzl war ein geborener Staatsmann ersten Ranges ohne Staat, ohne organisiertes Volk, ohne ein einziges der Machtmittel, womit man praktische Politik machen kann. Sein Fall steht nicht einzig da. Immer noch bringt das alte Judenvolk von Zeit zu Zeit staatsmännische Talente hervor, für die es keine Verwendung hat. Manche schaffen sich gleichwohl ein Tätigkeitsgebiet, aber es liegt außerhalb ihres Volkes. Denken Sie an Disraeli, für den eine Judengemeinde sicher zu eng gewesen wäre, da ja das britische Weltreich ihm kaum weit genug war. Herzl, ich sage das ruhig, im Bewusstsein, mich nicht zu Überschwang fortreißen zu lassen, Herzl hatte das Zeug zu einem anderen Disraeli. Er hätte einer werden können, wenn er getan hätte, was → Lord Beaconsfield tat. Aber er wollte es nicht tun und beschied sich zu dem Martyrium, mit leerer Hand große Politik machen zu wollen, große Politik für das jüdische Volk, dessen amtliche Vertreter und Wortführer leugneten, dass es ein Volk sei. Herzl ging kaltblütig daran, aus einem Menschenstaub ohne gemeinsamen Willen und Ziele ein Volk zu schmieden, diesem Volk ein Land zu gewinnen, ohne Heer, ohne Flotte, ohne Finanzen von Regierungen, die nur mit diesen Faktoren rechnen, Zugeständnisse zu erlangen. Das war ein Unternehmen, vor dem der Kühnste zurückgeschreckt wäre. Es war ein vollkommen aussichtsloses Unternehmen, sagten die Gegner des Zionismus. Herzl aber war von seiner Ausführbarkeit überzeugt und ließ sich nicht irre machen, wenn andere eine → Utopie nannten, was er als nötiges und mögliches Werk vor Augen hatte. Es wäre eine große Ungerechtigkeit, Herzl Urteil abzusprechen. Er hatte im Gegenteil einen scharfen kritischen Sinn und fand früher als andere alle Schwächen eines Plans heraus. Wenn er gleichwohl ohne Zögern unternahm, was anderen unmöglich bis zur Verrücktheit schien, so erklärt sich dies aus der Geschichte seiner Sendung. Als er den Gedanken fasste, dem jüdischen Volke den Weg zur Erlösung aus tausendjähriger Schmach zu weisen, da kannte er genau, von seinen Eltern abgesehen, eigentlich nur einen einzigen Juden – sich selbst. Zum wirklichen, lebendigen Judentum hatte er bis dahin keine Beziehungen gehabt. Es lebte in seiner Vorstellung nur in der Verkörperung eines → Judas Makkabäus, Bar Kochba, Juda Halevy, Spinoza, Heine. Die Eigenschaften dieser Männer, seine eigenen Eigenschaften setzte er ohne weiteres bei allen oder doch den meisten Stammesgenossen voraus. Er nahm an, alle oder sehr viele Juden seien wie er entschlossen, nicht länger Erniedrigung zu ertragen, sie hätten seinen stählernen Willen, seinen sittlichen Ernst, seine ideale Begeisterung, seine unbegrenzte Selbstlosigkeit, seinen Opfermut, und er urteilte, dass auch dies Machtmittel seien, mit denen ein Staatsmann arbeiten kann, auch wenn er noch kein Land, kein Heer, keine Flotte, keine Finanzen zur Verfügung hat.
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Die Tragik seines Lebens war, dass er sich in dieser Grundrechnung irrte. Seine Eigenschaften wiederholten sich vielleicht virtuell bei allen oder vielen Juden, aber sie blieben jedenfalls verborgen. Das Herz krampft sich mir zusammen, wenn ich ihm → auf seinem neunjährigen Leidenswege folge, wie er sich, in seinem schönen Vertrauen zum Judentum wie in einem Nebel befangen, durch die Dornen und Nesseln der Wirklichkeit mit wunden Händen tastete. Er zweifelte nicht daran, dass die Reichen und → Geistesadligen seines Volkes dieselbe Entrüstung über die Lage des Judentums, dieselbe Sehnsucht nach neuen, stolzen Geschicken empfanden wie er selbst. Er schrieb seinen → „Judenstaat“, zeigte darin mit Scharfsinn und weiser Voraussicht, wie der Auszug der besitzenden Juden aus den Ländern der Verfolgung sich mit dem geringsten Schaden für sie und die Länder vollziehen könne, ließ das Buch auf eigene Kosten in mehrere Sprachen übersetzen und drucken, schickte es den angesehensten Rabbinern, Gemeindevorstehern, Finanzmännern, und wartete. Jetzt musste ja die große Zeit der Erlösung und Wiedergeburt beginnen! Einige Wochen hoher Hoffnung und banger Ahnung vergingen, dann wusste er es: Die meisten Empfänger seines Buches hatten es → nicht aufgeschnitten, einige es nach den ersten Seiten ärgerlich in den Papierkorb geworfen, manche aber, die es durchflogen hatten, fielen in Zeitungen, Broschüren und Kanzelreden über ihn her und nannten ihn einen neuen Sabbatai Zevi, wenn sie ihn nicht einfach einen feigen Ausreißer oder gar einen Antisemiten schimpften. Jeder andere hätte an dieser ersten Erfahrung genug gehabt. Nicht Herzl. Er stutzte nur, sammelte sich aber bald. Sein fruchtbares Hirn trieb sofort einen neuen Plan hervor. Mit der Finanzmacht, den geistigen Kräften, dem mannigfaltigen Einfluss der jüdischen Oberschicht konnte selbst ein mittelmäßiges Organisationstalent das zionistische Befreiungswerk ohne besondere Schwierigkeiten verwirklichen. Da diese Schicht auf Herzls Anruf taub blieb, da sie ihm ihr Geld vorenthielt, ihren Geist gebrauchte, um ihn zu verspotten, ihren Einfluss benutzte, um ihn überall zu hemmen und seine Bemühungen zu vernichten, sollten der hart kämpfende Mittelstand und die notleidende Masse die Mittel zum weltgeschichtlichen Unternehmen liefern. Er trat mit dem → Entwurf der jüdischen Kolonialbank hervor und panzerte seine Empfindlichkeit eines → hermelinreinen Goldverächters gegen die giftigen Verleumder, die ihn einen Gründer schalten und unterstellten, er habe den ganzen Zionismus nur ins Werk gesetzt, um sich an einer Judenbank zu bereichern. Er verlangte vom jüdischen Volke 50 Millionen → Franken, den kleinsten Betrag, mit dem man an ernste finanzielle Verhandlungen mit der Türkei denken durfte. Es gab ihm noch nicht ein Achtel der Summe, und dabei ist es nach sechs Jahren bis zum heutigen Tage geblieben. Er versuchte, ein anderes Werkzeug der Erlösung zu schmieden, ein weit schwächeres, weit dürftigeres; er regte die Schaffung des → Nationalfonds an, der 200 000 Pfund betragen sollte. In fünf Jahren ist noch lange nicht die Hälfte vereinigt worden. Die einen wollten nicht, die anderen konnten nicht, kurz, es kam bei übermenschlichen Anstrengungen → blutwenig heraus. Wo immer er mit seiner tapferen Faust zufasste, da griff er ins Leere. Wo immer er den Fuß hinsetzen
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wollte, da schwand ihm der Boden unter der Sohle. Er baute auf sein Volk wie auf einen Urfels, und sein Volk erwies sich als Flugsand. Ich muss, so schwer es mir wird, auch seiner letzten Enttäuschung gedenken, die vor der Geschichte unsere Schande bleiben wird. Für die Sache, die er zu seinem Lebensinhalt gemacht hatte, gab Herzl, ohne zu zählen. Er verzichtete in den wirtschaftlich ergiebigsten Lebensjahren fast ganz auf Erwerb, um sich dem Zionismus vollständig widmen zu können; er brachte mit der ihm eigentümlichen Großartigkeit vom ersten bis zum letzten Tage die schwersten Opfer für sein Ideal; er bestritt aus der eigenen Tasche die ersten Erfordernisse der Organisation, die Anfangsgehälter der Beamten, die Kosten der frühen Reisen für den Zionismus; er schuf und unterhielt jahrelang mit seinem Gelde das als notwendig erkannte → Hauptorgan der Bewegung. Als er den „Judenstaat“ schrieb, war er ein wohlhabender, beinahe reicher Mann. Als er neun Jahre später starb, hinterließ er fast nichts als seine Aktien der jüdischen Kolonialbank. Wenn ihm seine Nächsten wegen des Verbrauches des Vermögens der Kinder Vorstellungen machten, beruhigte er sie lächelnd mit der Bemerkung: „Ich habe zu meinem Volke das Vertrauen, dass es meine Frau und Kinder nicht hungern lassen wird.“ Auch dieses Vertrauen hat das jüdische Volk nicht gerechtfertigt. Seit einem Jahr demütigen wir uns und das Andenken Herzls, das uns heilig ist, und sammeln für seine Familie. Mit welchem Erfolg? Es ist bei seinem Tode viel geweint worden, man hat in Trauerreden viele Worte gemacht, aber das jüdische Volk hat bis heute der Familie Herzls noch nicht ein Drittel des Barvermögens ersetzt, das Herzl ihm geopfert hat, außer neunjähriger übermenschlicher Arbeit und außer seinem Leben. Als er seinen Weckruf an das jüdische Volk ertönen ließ, da sammelte sich statt der bestimmt erwarteten Millionen nur ein kleines Häuflein um ihn; dieses Häuflein ist ihm bis zu seinem letzten Atemzuge treu geblieben, es hat sich im Laufe der Jahre auch stattlich vermehrt, aber selbst jetzt, nach neun Jahren leidenschaftlicher Propaganda, macht es erst etwa ein Sechzigstel der gesamten Judenheit aus. Ein Sechzigstel! Und mit der Arbeit und den Opfern dieses armen, winzigen Sechzigstels sollte das Ganze, das reiche, das große, teilnahmslos beiseitestehende Ganze befreit werden. Herzl wollte das Missverhältnis zwischen der Kraft und der Aufgabe nicht sehen. Er wollte nicht an die dauernde Gleichgültigkeit des jüdischen Volkes glauben. In seinen Plänen und Berechnungen → setzte er immer das ganze jüdische Volk als Haben an. Das war die Ursache des Fehlschlagens seiner Unternehmungen; das war seine Schwäche, sagen seine kaltherzigen Kritiker; das war seine Stärke, das war seine Größe, sagen wir, die ihn verstanden haben. Nichts konnte seinen Glauben an sein Volk, nichts konnte sein Vertrauen zu seinem Volk erschüttern. Er verschloss zuletzt absichtlich die Augen vor der Wirklichkeit und sah im Geiste immer nur ein ideales Volk von zwölf Millionen vor sich, das ihn zu seinem Sachwalter berufen hatte. Wenn er erhobenen Hauptes vor den größten Herrschern der Erde stand und ruhig mit ihnen sprach, so war dies weder Dreistigkeit noch Mangel an Verständnis für Proportion, sondern die Wirkung der ihn beherrschenden Vorstellung, dass
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zwölf Millionen Adelsmenschen hinter ihm standen, die ihm ihre Vertretung anvertrauten und für die er sich nichts vergeben durfte. Wie sehr dieser Stolz für seine Auftraggeber mit persönlicher Bescheidenheit zusammengehen konnte, beweist die beredte Tatsache, dass er von einer hochpolitischen Unterredung mit einem Papst, Kaiser oder König schlicht in seine Wiener Redaktionsstube zurückkehrte und pflichttreu seine journalistische Tagesarbeit, manchmal eine recht untergeordnete Routinearbeit, verrichtete, während in seiner Seele noch die Worte nachklangen, die er mit den Mächtigsten der Zeit über die Zukunft seines Volks, über die Geschicke von Nationen und Ländern ausgetauscht hatte. Es ist anscheinend das Los unseres Volkes, dass seine → Spinozas immer Brillengläser schleifen, seine → Cincinnatus immer den Pflug führen müssen, und nicht einmal den eigenen. Wenn Herzl sich unterfing, Geschichte machen zu wollen, so war es, weil er überzeugt war, dass 12 Millionen Menschen, seine zwölf Millionen einer unvergleichlichen Auslese, das Recht und die Macht hatten, Geschichte zu machen. Diese Überzeugung hielt ihn in allen Widerwärtigkeiten aufrecht, mit ihr ist er gestorben – und wir haben sie von ihm geerbt. Herzl war ein Willensgenie; sein Wille war das Größte in seiner großen Natur; nichts konnte diesen demantenen Willen abnutzen, nichts seine unwiderstehliche Spitze abstumpfen. Dieser Wille, von einem erhabenen Glauben, einer unerschütterlichen, fast → mystischen Zielsicherheit geleitet, hätte Berge versetzt, wenn ihm dazu Zeit gelassen worden wäre. Der Tod hat ihn zu früh gebrochen und dadurch das jüdische Volk eines unersetzlichen Baugeräts für seine Wiederaufrichtung beraubt. Sein Glaube, seine Zielsicherheit, sein Wille gaben ihm immer neue Kombinationen ein. Schlug eine fehl, nicht durch ihre Mangelhaftigkeit oder seine Schuld, immer nur durch Mangel an Unterstützung, so ersetzte er sie sofort durch eine andere, und die folgende war jedes Mal überraschender, kühner, geistreicher als die vorherige. Was er in den neun Jahren seiner Volksführung an Staatsgedanken und diplomatischen Plänen hervorbrachte, das würde genügen, um zehn Ministern eingerichteter Normalstaaten die Unsterblichkeit zu sichern. Nun ja, er war eben ein fruchtbarer Märchendichter, spotten die Gegner. Ich aber wiederhole mit ihm: → „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“ Unser Volk hat einen Herzl gehabt, aber unser Herzl hat kein Volk gehabt. Das verkleinert nicht ihn, nur uns. Das allein ist daran schuld, dass die ungeheure Anstrengung, die ihn das Leben kostete, verhältnismäßig geringe sachliche Ergebnisse schuf. Umso reicher aber sind ihre moralischen Ergebnisse. Herzl war ein Vorbild und ein Erzieher. Er hat ein gebrochenes Volk gerade gerichtet. Er hat ihm Hoffnungen geschenkt und Wege gezeigt. Er hat mit großartig weitem Schwunge gesät, und die Saat wird aufgehen und sein Volk wird ernten. Ich aber glaube, nicht passender schließen zu können als mit diesen Strophen einer → Trauerkantate, die ich für einen Tondichter verfasst habe:
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„Ewig in des Volks Gedächtnis Lebt dein Werk und lebt dein Bild. Sieh! Wir hüten dein Vermächtnis Treu, den stolzen → Davidschild.“ „In der → Zionsfahne Falten Wird dereinst dein Sarg gehüllt. Was du schworst, wir werden's halten, Und dein Sehnen wird erfüllt…“
Quelle: ZS1, S. 155–165, dort mit Datierung: Basel, 27. Juli 1905. Ferner als: Die Rede Nordaus, in: Die Welt, 28.7.1905, H. 30 (Separatausgabe), S. 4–8.
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52 → VII. Kongressrede Geehrte Versammlung! Es hat Ihnen gefallen, mich zum ersten Vorsitzenden des siebenten zionistischen Kongresses zu wählen. Empfangen Sie meinen Dank für Ihr Vertrauen. Ich empfinde freilich die Auszeichnung als eine schwere Pflicht, die Sie mir auferlegen. Ich glaube indes, mich ihr diesmal, trotz des drückenden Bewusstseins meiner Unzulänglichkeit, nicht entziehen zu dürfen. Ich habe weder den Ehrgeiz noch die Hoffnung, meinen Vorgänger vergessen zu machen. Mein ganzes Streben ist darauf gerichtet, Ihre Beratungen in seinem Geiste zu leiten, ihnen die Würde zu wahren, die sie bisher ausgezeichnet, dieser Versammlung den hohen parlamentarischen Charakter zu erhalten, den Herzl ihr von allem Anbeginn zu geben gewusst hat. Ich bitte Sie nur, mich darin zu unterstützen, wie Sie unseren toten Führer unterstützt haben. Kein Kongress hat so große Aufgaben zu bewältigen gehabt wie dieser. Ihren Beschlüssen vorzugreifen habe ich kein Recht. Ich überschreite aber meine Befugnis nicht, wenn ich schon jetzt auf ihre außergewöhnliche Wichtigkeit hinweise. Herzls Tod hat über den Zionismus eine schwere → Krisis heraufbeschworen. Wir hatten uns alle daran gewöhnt, ihn allein für uns denken und handeln zu lassen, und als er uns plötzlich fehlte, waren wir wie enthauptet. Es rächte sich an uns, dass wir alle Arbeit und Verantwortlichkeit einem einzigen aufgehalst hatten. Aber es ist Zeit, dass wir uns fassen und zur Selbsttätigkeit aufraffen. Die Gegner unserer Bewegung haben frohlockt, mit Herzl sei auch der Zionismus gestorben. Wir wollen ihnen zeigen, dass sie sich geirrt haben. Wir müssen der Welt beweisen, dass der Zionismus nicht die Bewegung eines Mannes ist, dass er → nicht auf zwei Augen steht. Sie werden die Organisation unserer Bewegung der durch Herzls Tod geschaffenen neuen Lage anzupassen haben. Im Inneren unserer Gemeinschaft sind Spaltungen entstanden, die ihre Einheit schwer bedrohen. Selbst einig sind wir ja noch ach! so schwach. Wenn wir nun auch noch zerklüftet sind und in unfruchtbarem Hader gegeneinander unsere geringen Kräfte verbrauchen, sind wir zu vollkommener Ohnmacht verurteilt. Feindliche Parteien innerhalb des Zionismus bedeuten seinen nahen Selbstmord, nicht mehr und nicht weniger. Seit dem letzten Kongress ist von Männern, die sich selbst als Zionisten bezeichnen, unser Programm in Frage gestellt worden. Sie werden sich unzweideutig zu äußern haben, ob das → Baseler Programm noch immer der feste Boden ist, auf dem wir sicher stehen, oder ob Sie sich anschicken, ihn mit einem Fuße oder beiden Füßen zu verlassen. Aufrichtigkeit gegen uns und gegen die anderen ist das ursprünglichste Gebot der Rechtschaffenheit. Das jüdische Volk und die Welt dürfen nicht in Zweifel gelassen werden über das, was wir eigentlich wollen. Über die Annahme oder Ablehnung des → großartigen Landangebots der Regierung Seiner britischen Majestät werden Sie sich in einer Sondersitzung zu entscheiden haben, der man in meines Erachtens vollkommen missverständlicher Deutung
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des Wortlautes und Sinnes eines Beschlusses des sechsten Kongresses den Namen eines außerordentlichen Kongresses gegeben hat. Ich verweile deshalb jetzt nicht bei dieser hochbedeutsamen Angelegenheit. Das tiefe, doch besonnene Verlangen nach dem Lande unserer Väter, das zweifellos jeden Zionisten beseelt, das ihn erst zum Zionisten macht, hat bei einem Teil unserer Gesinnungsgenossen die Form einer nervösen Ungeduld angenommen, die nicht mehr warten zu können glaubt. Und da es nicht von uns abhängt, das Land unserer Sehnsucht sofort unter den Bedingungen zu bekommen, unter denen allein die Rückkehr in die alte Heimat ein Segen für unser Volk und die Lösung der → Judenfrage wäre, wollen sie auf die von der Erfahrung verurteilten Methoden der → Kleinkolonisation ohne öffentlich-rechtliche Grundlage und ohne vorherige Schließung eines zweiseitigen Vertrags mit der Regierung Sr. Majestät des → Sultans zurückgreifen. Sie werden zu der Lebensfrage Stellung zu nehmen haben, ob der Zionismus zu seinen vor-Herzl'schen Ursprüngen umkehren, ob er wieder ein sogenannter praktischer → Chowewe-Zionismus werden und mit einer gewaltigen Anstrengung des ganzen Judenvolks einige Dutzend Familien als subventionierte Trost- und Hoffnungs-Kolonisten in Palästina ansiedeln oder ob er auf der von Herzl eingeschlagenen Bahn fortschreiten und eine große weltpolitische Bewegung bleiben soll, die nicht stille steht, ehe sie mit Zustimmung und Mitwirkung der Mächte dem ganzen jüdischen Volke normale Daseinsbedingungen geschaffen hat, ihm zum Heile und der Gesittung zum Nutzen. Ich darf wohl die Hoffnung ausdrücken, dass Ihre Weisheit einen Mittelweg finden wird, der uns gestattet, die Ungeduldigen wenigstens teilweise zu befriedigen, ohne dass wir den Zionismus zu den Keimformen zusammenschrumpfen lassen, die er in den achtziger Jahren hatte. Wir haben es immer betont: Die zionistische Organisation ist kein Wohltätigkeitsverein; der Zionismus verteilt keine Almosen. Sein Ziel ist höher gesteckt. Er erkennt es als seine Aufgabe, die erlösungsbedürftigen Millionen des jüdischen Volkes in neue Lebensbedingungen zu versetzen, in denen sie kein Almosen mehr nötig haben sollen. Allein während er an dieser einen großen Aufgabe arbeitet, vergisst er niemals, dass er als der einzige organisierte Teil des jüdischen Volks gegen die Volksgesamtheit auch andere Pflichten hat. Die zionistische Organisation muss allen heimatlosen Juden die Anlehnung, die Fürsorge, den moralischen Schutz, die Verteidigung gewähren, die sie unter normalen Verhältnissen bei der eigenen Regierung finden würden. An uns ist es, mit allen Mitteln, die uns zu Gebote stehen, für die Juden, sie seien Zionisten oder nicht, einzutreten, die Unrecht und Gewalt erleiden, die an Leben und Vermögen bedroht sind, die von ruchlosen Regierungen als Blitzableiter gegen das Gewitter des entfesselten Volkszornes benützt werden. Wir sind Zeugen ungeheurer Weltereignisse, und alle treffen uns unmittelbar, weil wir durch alle Länder zerstreut sind. In den großen politischen Veränderungen, die sich vorbereiten, kann das Judentum schweren, ja tödlichen Schaden erleiden oder eine rasche und hochbedeutsame Besserung seiner Lage erfahren, je nachdem es stumm, träge und furchtsam bleibt, wie es seine unglückliche tausendjährige Ge-
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wohnheit ist, oder klug und energisch den Augenblick wahrzunehmen weiß, der vielleicht nie wiederkehrt. Unsere Pflicht ist es, wachsam den Vorgängen auf der Weltbühne zu folgen und bei jeder geeigneten Gelegenheit die Stimme des jüdischen Volkes an der richtigen Stelle hören zu lassen. Die tiefen Umgestaltungen, denen Russland entgegengeht, werden auf das Schicksal von sechs Millionen Juden gewaltigen Einfluss üben. Der Zionismus, der Freiheit, Selbstbestimmungsrecht, Wiedergeburt und Aufstieg bedeutet, würde seinen eigenen Prinzipien widersprechen, wenn er nicht überzeugt und entschlossen für die Volkssouveränität und die Aufklärung gegen den Absolutismus, den Geistesdruck und alle Mächte der Finsternis Partei nähme. Zwar glauben die Zionisten keinen Augenblick daran, dass mit der Erlangung der Freiheit und Gleichberechtigung der Juden in Russland die Judenfrage überhaupt oder auch nur die Judenfrage in Russland endgültig gelöst sein würde. Das Ideal der zionistischen Juden, in Russland wie in allen Ländern, bleibt die nationale Wiedergeburt im Lande der Väter. Aber nichts wird die Juden in Russland davon abhalten, zusammen mit den besten Elementen des russischen Volkes für eine fortschrittliche Verfassung zu kämpfen, die auch ihnen die volle Gleichberechtigung gewährt. Denn nur freie Juden können sich ungehindert zu tüchtigen Bürgern des einstigen Judenlandes heranbilden. Wir wissen, dass an gewissen Stellen mit teuflischer Planmäßigkeit Judengemetzel angestiftet werden, in der zugleich nichtswürdigen und törichten Annahme, durch neue Verbrechen einem verurteilten System noch eine Galgenfrist zu verschaffen. Dieser Anschlag wird nicht gelingen. Der Zionismus hat die Juden Mannhaftigkeit gelehrt. Sie werden sich gegen feige Angriffe so nachdrücklich zur Wehre setzen, dass die → vertierten Helfershelfer der amtlichen → Impresarii von Raub und Mord Pogrome als gefährliche Abenteuer zu fürchten lernen sollen. Die strengste Gesetzesachtung, deren der Zionismus in Russland sich stets befleißigte, hat ihn nicht vor dem Schicksal bewahrt, vom Beamtentum tückisch verfolgt zu werden. Er lässt sich das nicht anfechten und geht unbeirrt seinen Weg, den Weg der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit, der Brüderlichkeit mit allen, die Russland ein neues Leben bereiten wollen. Jüdische Volkspolitik zu machen ist schwerer als jede andere. Die Interessen der Völker stehen einander schroff gegenüber, und wer sein Eigenes wahren will oder auf Erwerbungen ausgeht, der muss Bündnisse suchen und Gruppen beitreten. Uns ist diese einfache und bewährte Methode versagt, denn jede Macht hat ihre Juden, die ihr gewissermaßen als Geisel für das Judentum dienen, und wir können nicht für eine verbündete Gruppe oder Regierung Partei nehmen, ohne unsere Brüder, die in der Gewalt der gegnerischen Gruppe oder Regierung sind, zu gefährden. Am besten entgehen wir dieser schiefen Lage, wenn wir uns nicht etwa dem einen oder anderen Volke in internationalen Fragen anzubiedern suchen, sondern jedem Volke gegenüber immer betonen, dass wir Juden sind, die Sache des jüdischen Volkes führen und an der Verwirklichung jüdischer Ideale arbeiten. Internationale
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Sympathien sind uns als einzelnen Menschen gewiss nicht verwehrt. Wenn wir sie aber als Volk aufdringlich hervorkehren, so begehen wir einen schweren politischen Fehler. Der Gegenstand dieser Sympathien weiß uns für sie keinen Dank und seine Gegner machen wir uns ohne Not zu Feinden. Die → Judenwanderung nimmt von Tag zu Tag einen größeren Umfang an. Sie bedeutet eine Summe von Entbehrungen und Leiden, von Angst und Verzweiflung, die kaum in Worte zu fassen ist. Dieser Massenerscheinung gegenüber müssen wir mit tiefem Schmerz und Beschämung unsere Ohnmacht bekennen. Wir haben den Wandernden weder ein Land zu bieten, wohin sie getrost ihre Schritte lenken könnten, noch können wir ihnen durch Unterstützung mit Geld die Reise und die Begründung eines neuen wirtschaftlichen Daseins in der Fremde erleichtern. Was wir aber könnten, das wäre, in Einschiffungs- und Landungshäfen, an Grenzstationen und Verkehrsknotenpunkten zionistische Einrichtungen zu schaffen, die dem Wanderer Rat erteilen, Schutz gewähren, Auskünfte über die Reiseangelegenheiten und die Arbeitsverhältnisse geben würden. Der moralische Wert solcher Einrichtungen ist hoch anzuschlagen. Die Fahrt ins Unbekannte würde einen Teil ihrer Schrecken verlieren, wenn der gedrückte, vor der Zukunft bangende Wanderer sich vom organisierten Teil seines Volkes an der Hand genommen, geführt, behütet und betreut fühlen würde. Eine Bewegung, die einen großen Teil des arabischen Volkes ergriffen hat, kann leicht eine Richtung nehmen, die auch Palästina berühren würde. Dann würde das Land unserer Väter wieder einmal, wie so oft im Laufe der Geschichte, in den Mittelpunkt des politischen Weltinteresses gerückt sein. Die türkische Regierung würde sich vielleicht in die Notwendigkeit versetzt sehen, ihre Herrschaft in Palästina und Syrien gegen ihre eigenen Untertanen mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Die europäischen Mächte würden in die schwere Verlegenheit kommen, die jedes Mal eintritt, wenn die bestehende Ordnung in einem Lande bedroht ist, an dessen Grenzen ihre gegenseitige Eifersucht Wache hält. Bei dieser Sachlage könnte es dann der türkischen Regierung einleuchten, dass es für sie von außerordentlichem Werte wäre, in Palästina und Syrien ein zahlreiches, kräftiges und wohlorganisiertes Bevölkerungselement zu besitzen, das bei voller Achtung der Rechte der vorgefundenen Einwohnerschaft keine Angriffe auf die Autorität des Sultans dulden, sie vielmehr mit dem Aufgebot aller Kräfte verteidigen würde. Auch Europa würde es wohl als einen ihm geleisteten Dienst ansehen, wenn das jüdische Volk durch seine friedliche, doch energische Besetzung Palästinas gewaltsame Änderungen der dortigen Souveränitätsverhältnisse verhüten und eine Intervention der Mächte überflüssig machen würde, deren Gefahren der Diplomatie nur zu bekannt sind. Aber damit das jüdische Volk die hier angedeutete Rolle spielen könne, muss es der Türkei und Europa Vertrauen zu seinem Willen und seinen Fähigkeiten einflößen. Dieses Vertrauen müssen wir uns verdienen, indem wir einig bleiben, unbeirrt und stramm auf unser unverrückbares Ziel zuschreiten, unsere Organisation stärken und ausbauen. Niemand kann der Vorsehung in die Karten schauen. Unversehens kann die Weltge-
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schichte eine Gelegenheit darbieten, die sofort ergriffen werden muss. Sind wir dann nicht vorbereitet und fertig, so verpassen wir sie und sie kehrt vielleicht nie wieder. Wehe uns, wenn dann von uns gesagt werden muss: „Aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht.“ Sie sehen, geehrte Versammlung, wie groß die Ihnen gestellten Aufgaben sind, wie schwer Ihre Verantwortlichkeit ist. Ihre Beschlüsse werden für die weitere Entwicklung unserer Bewegung entscheidend sein. Von ihnen hängt es ab, ob sie mächtiger anschwellen und breiter dahinfluten oder kläglich im Sande verlaufen wird. Das Schicksal des Zionismus ist in Ihre Hand gelegt. Sie werden beweisen wollen, dass es bei Ihnen in guter Hut ist. Mögen aus Ihren Beratungen dem jüdischen Volke neuer Trost und frohere Hoffnung ersprießen. Quelle: ZS1, S. 166–173, dort mit Datierung: Basel, 27. Juli 1905.
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53 → Gehet hin und tuet desgleichen… Paris, 26. Juli. Mit Recht sprach der → Vorsitzende Brisson in der geschichtlichen → Kammersitzung vom 13. Juli von „dem Triumphe der Gerechtigkeit, der Frankreich seit zwei Tagen die jubelnden Zurufe der Welt einbringt“. Die jubelnden Zurufe drangen aus allen Windrichtungen und in allen Sprachen der Welt nach Paris. Misstöne mischten sich kaum in das Aufjauchzen einmütiger Begeisterung. Denn die Zuhälter der Verbrecher, deren Stirn der weißglühende → Richterspruch des Kassationshofes gebrandmarkt hatte, zogen meist ein tückisches Verstummen dem gewohnten Gekläffe vor, das in diesem Augenblicke bedenklich gewesen wäre. Auch in Österreich feierte die öffentliche Meinung den Sieg der Wahrheit, auch in Österreich beglückwünschte sie Frankreich zu seinem herrlichen Idealismus, zu seiner charaktervollen Ausdauer in der Verteidigung der guten Sache, zu den großartigen Tugenden, die seine Helden und Dulder in dem zehnjährigen Verzweiflungskampfe mit den Gewalten der Hölle täglich und stündlich enthüllten. Ich las die österreichischen Kundgebungen besonders gierig. Ich hastete über die schwungvollen Lobsprüche, über die hochgestimmten Betrachtungen und die schwärmerischen Gedankenflüge eines allgemeinen menschheitlichen Optimismus hinweg, zum Ende der Ausführungen. Ich erwartete, dass sie zu einem bestimmten Schlusse führen würden, der sich ihnen von selbst aufdrängen musste. Aber sie klangen nicht natürlich aus. Sie hielten verlegen inne. Es fehlte die Folgerung, in der sie notwendig gipfeln sollten, wenn sie aufrichtig waren. Und in meiner Enttäuschung kann ich den Vorwurf nicht unterdrücken: → „Und Hilsner?“ Denn → Österreich hat gleichfalls seinen Dreyfus. Auch in Österreich ist die Gerechtigkeit in eine Fallgrube getaumelt, und wenn sie nicht buchstäblich einen Justizmord begangen hat, so ist dies nicht ihr Verdienst, sondern das des gütigen Herrschers, dessen Gnade nicht zuließ, dass ihr Fehlspruch buchstäblich vollstreckt werde. Hilsner ist dem Galgen entronnen, aber seit sieben Jahren erleidet er die Schmach und Qual des Zuchthauses, und wenn das Urteil, das ihn in Ketten geschlagen hat, nicht aufgehoben wird, hat er keine Hoffnung, die Kerkermauern lebend zu verlassen. Jedermann weiß in Österreich, dass Hilsner das ihm zur Last gelegte Verbrechen nicht begangen hat. Anders als in Frankreich gibt es hier keine diplomatischen Hinter- und Untergründe, keine Geheimpapiere, keine Staatsraison. Der Fall ist nicht verwickelt, sondern einfach und durchsichtig. Niemand hat die Ausrede wie in Frankreich, vorzuschützen, dass er nicht wisse, welche zerschmetternden Enthüllungen den Richtern mit Ausschluss der Öffentlichkeit gemacht wurden, dass er von → dem kurzen 120-Geschütze, → der hydropneumatischen Bremse, → dem „kutsch“ und „gabarit“ Bertillons nichts verstehe und den Fachmännern und Gelehrten glauben müsse. Es gibt auch keinen elenden Klatsch diplomatischer Dummköpfe und Schurken zu wiederholen, die aus alberner Wichtigtuerei oder nie-
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derträchtiger Verlogenheit mit vielwissenden Mienen in den Salons nichtswürdige Erfindungen umhertrugen. Alles liegt klar zu Tage. Die Gerichtsverhandlungen haben sich vor der breitesten Öffentlichkeit abgespielt. Sämtliche Einzelheiten der Anklage, der Untersuchung, des Beweisverfahrens, der Verteidigung sind jedem Zeitungsleser zugänglich gewesen. Jedermann konnte sich über die Staatsanwaltschaft, die Zeugen, die Geschworenen ein eigenes Urteil bilden. Und da können Menschen von Einsicht und Gewissen seelenruhig in den Tag hineinleben, obschon ihnen bekannt ist, dass ein Unschuldiger zum Tode verurteilt wurde, weil er einen Mord begangen habe, um sich → zu Ritualzwecken Menschenblut zu verschaffen, und dass dieses Todesurteil in lebenslängliche Zuchthausstrafe umgewandelt wurde, die an dem Unglücklichen seit sieben Jahren vollzogen wird? Nein, ein Österreicher hat nicht das Recht, über das Erkenntnis des Pariser Kassationshofes ein lobendes Wort zu sagen, wenn er nicht ohne Pause hinzufügen will: „Und nun wollen auch wir unsere Schuldigkeit tun!“ Er hat nicht das Recht, die Scheurer-Kestner und Bernard Lazare, die Trarieux und Zola, die Picquart, die Jaurès, die → Cornély und Clemenceau laut zu preisen, wenn er nicht anerkennt, dass ihre starken Taten eine strenge Mahnung für ihn in sich schließen. Die anderen Völker dürfen Frankreich Beifall klatschen; der Österreicher muss sich gedrückt und still beiseiteschleichen, wenn er nicht entschlossen ist, das Sittengesetz, das in Frankreich ruhmvoll gewaltet hat, auch seinerseits zu befolgen und sich die Lektion von Mannhaftigkeit zunutze zu machen, die tapfere Franzosen der Welt gegeben haben. Durch das, was in Frankreich geschah, ist die allgemeine Menschenwürde erhöht und der Menschenadel bestätigt worden. Beschämend ist es nur für den Österreicher, der schwächlich und stumpf daheim duldet, was ihn bei dem fremden Volke empört hat, und in sich nicht den Ernst und die Kraft findet, um die Moral des bewunderten französischen Dramas zu beherzigen und in Tat umzusetzen. Wie, sieht er denn nicht, dass er sich selbst als den Franzosen an Gerechtigkeits- und Pflichtgefühl, an Menschlichkeit, sittlicher Vornehmheit, Selbstlosigkeit und Energie weit untergeordnet einbekennt, wenn er nicht mindestens den Versuch macht, in ihre Fußstapfen zu treten? Ich weiß wohl: Die Opfer der beiden Justizverbrechen sind nicht zu vergleichen. Hilsner ist kein → glänzender Generalstabsoffizier von hoher Bildung, makelloser Vergangenheit und musterhaftem Familienleben, er ist ein halb blödsinniger, übel beleumdeter Bettler und Landstreicher. Den härtesten Teil seiner Heimsuchung, die Ermordung seiner Ehre, fühlt er wahrscheinlich nicht. Er schreibt aus seinem Elend keine herzzerreißenden Briefe, sondern erleidet es dumpf und lautlos wie ein Arbeitstier im Joch. Er hat keine Frau und Kinder, deren → Atridengeschick das Grauen und Mitleid der Menschen immer rege hält. Auch ist ein österreichisches Zuchthaus nicht die → Teufelsinsel, und die Österreichische Strafverwaltung hat wohl niemals, selbst nicht in der → Ära Windisch-Graetz und → Haynau, selbst nicht zur Zeit des → von Sylvio Pellico melodramatisierten Spielbergs, ein Ungeheuer wie den scheußlichen → André Lebon mit dem doppelten Fußeisen gekannt. Aber wenn
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Hilsner persönlich weniger interessant ist als Dreyfus, ein Unschuldiger ist er dennoch wie dieser, und in beiden Fällen sind es dieselben Gewalten, die zu wesensverwandten Zwecken und mit annähernd denselben Methoden die Gerechtigkeit vom geraden Weg abgedrängt haben. → Maître Mornard, kein Leisetreter wie der allzu berühmte → Herr Demange, hat in seiner Rede vor dem höchsten Gericht unbedenklich den Punkt auf das i gesetzt. „Es ist heute“, sagte er, „nicht mehr möglich, zu leugnen, dass der Antisemitismus die erste Ursache, allerdings nicht der Anklage, aber der Irreleitung der Strafuntersuchung gewesen ist. Der Gerichtshof weiß, dass in gewissen ausländischen Heeren, namentlich in Deutschland, die → Israeliten zu den hohen Rängen nicht zugelassen werden.“ (Wackerer Mornard! Sie werden in Deutschland nicht einmal zu dem Rang eines Unteroffiziers zugelassen, den ich bei aller Militärfrömmigkeit noch nicht als hoch anerkennen kann.) „Theoretisch ist dem in Frankreich nicht so, wo ein derartiger Grundsatz, als der → Erklärung der Menschenrechte zu sehr entgegengesetzt, keine Statt finden kann. Aber das Ideal des hohen Militärpersonals war lange, und ist es wohl auch noch heute, in unserem französischen Heer nach dieser Richtung dieselben Gepflogenheiten einzuführen wie im deutschen. An der Schwelle der → Dreifusaffäre findet man Kundgebungen dieses Ideals. Einer der Prüfer der Kriegsakademie, → General de Bonnefond, erklärt offen, so natürlich scheinen seine Gefühle in diesen Kreisen: „Ich will keinen Juden im Generalstab. Ich werde ihnen eine schlechte allgemeine Note geben.“ … Im Kriegsministerium wütet der Antisemitismus wie auf der Kriegsakademie. … Wehe dem Juden, der unter Anrufung der gemeinsamen Rechte und Pflichten seinen Dienst im Generalstab dazu benutzen möchte, um seine Fachkenntnisse und militärische Brauchbarkeit zu vermehren! Er macht sich damit verdächtig. … Der Argwohn eines möglichen Verrates heftet sich in diesem Kreise unüberwindlich an jeden jüdischen Offizier. … Die Dreyfusaffäre war tatsächlich nicht der Prozess eines Individuums, sie war der Prozess eines jüdischen Offiziers, sie war die Anwendung des antisemitischen Glaubensbekenntnisses auf das Gerichtsverfahren. Und das ist es, was das Gewissen der Menschheit in dieser Affäre aufgeregt und empört hat.“ So Maître Mornard. Was er sagt, passt Wort für Wort auf den Fall Hilsner. Es war kein Prozess des armseligen böhmischen Dorflumpen, es war der Prozess des Judentums. Im Urteil wird es wohl nicht ausgesprochen, aber das ganze Verfahren drückte es klar aus: Hilsner wurde beschuldigt und verurteilt, gemordet zu haben, um sich oder vielmehr unbekannt gebliebenen Auftraggebern → Christenblut zu Kultuszwecken zu verschaffen. Was der Antisemitismus in Ungarn und Preußen, in den Fällen → Tisza-Eszlar, → Xanten und → Konitz vergebens versucht hat, das ist ihm in → Kuttenberg und Pisek zweimal gelungen: die Feststellung in den Formen Rechtens, fast ein halbes Jahrtausend nach dem Falle des heiligen Knaben → Simon von Trient, dass die Juden eine Glaubensgemeinschaft von Meuchelmördern und Kannibalen sind.
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Alle großen Linien der Fälle Dreyfus und Hilsner sind gleichlaufend. Hier wie dort liegt ein Verbrechen tatsächlich vor: dort ein Landesverrat, hier ein Mädchenmord. Hier wie dort fällt der Verdacht der Täterschaft auf einen Juden: dort, weil er der einzige jüdische Offizier des Generalstabs ist und seine Schrift eine entfernte Ähnlichkeit mit der des Hauptbeweisstückes hat, hier, weil sich im → Dorfe Polna ein jüdischer Tagedieb herumtreibt, dem man schlechte Streiche zutraut. Hier wie dort bemächtigt der Antisemitismus sich sofort des Falles mit äußerster Energie, um ihn zur Förderung seiner Zwecke zu verwerten. Auch diese Zwecke sind im Grunde die nämlichen: In Frankreich gilt es die Klerikalisierung des Heeres, der Verwaltung und Rechtspflege, die Wiederaufrichtung des Königsthrones, die feste Begründung der Kirchengewalt und die → Vernichtung aller Errungenschaften der großen Revolution; in Österreich braucht keine Regierungsform geändert, Heer und Verwaltung nicht erst erobert zu werden; aber auch hier ist der Antisemitismus das wirksamste, das allein wirksame Mittel des Klerikalismus zur Gewinnung der Massen für die Heeresfolge im Feldzuge gegen Bildung, → Aufklärung, Fortschritt, Befreiung der Persönlichkeit, Volkssouveränität, gegen alle Gedanken und Strebungen der Zeit, die den Feudalismus, den Absolutismus und die Herrschaft der Kirche bedrohen. Hier wie dort nimmt von allem Anbeginne die antisemitische Presse die Führung der Angelegenheit in die Hand, erfindet, lügt, fälscht, hetzt, erregt die Menge, beschimpft und bedroht die Unparteiischen, eröffnet neben der amtlichen Untersuchung eine private, die jene stört und vergewaltigt, übt eine Schreckensherrschaft über Richter, Staatsanwälte und Zeugen aus, organisiert den Tumult auf der Straße, im Gerichtssaal und im Parlament. Hier wie dort greifen hohe und niedere Geistliche verhüllt und offen in den Gang der Dinge ein, indem sie eine Volksstimmung schaffen und außeramtlich als allgemeine Leumundszeugen gegen die Moralität des Judentums auftreten. Frankreich hat seine Schreibsachverständigen, Österreich seine Gerichtsärzte gehabt. Kurz: Zug um Zug dasselbe Bild. „Und das ist es, was das Gewissen der Menschheit in dieser Affäre aufgeregt und empört hat.“ In der Affäre Dreyfus. Warum nicht auch in der Affäre Hilsner? Glaubt man, es hat sich in Österreich kein Zola gefunden, um zu rufen: → „Ich klage an“? Er ist aufgestanden und er hat angeklagt. Er war nicht weltberühmt, wie der → Verfasser der „Rougon-Macquarts“, seine Stimme hatte nicht den gewaltigen Klang von Auferstehungsposaunen, sondern war dünn und schwach, seine Anklage fand keine → „Aurore“, die sie in hunderttausend Abdrücken verbreitete, und keine Presse beider Welten, um sie über das Erdenrund zu tragen, sie wurde überhaupt in keiner Zeitung aufgenommen, sondern dürftig in einigen Dutzend Abzügen hektographiert und aufs Geratewohl einer Anzahl Personen zugesendet, auf die sie Eindruck machen sollte. Aber der Mann war da, und er hat seine Heldentat getan wie Zola. Es war → Dr. Bulowa, ein kleiner, armer Arzt in den Weinbergen bei Prag, wie Zola kein Jude, sondern Christ, der, einzig von seinem Gewissen eines wahrheitsliebenden, Ungerechtigkeit hassenden Menschen gedrängt, ganz allein den Kampf mit dem Drachen aufnahm. Drei Jahre lang hat er ihn unerschrocken geführt, er hat
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die Wahrheit entdeckt und ausgesprochen, er hat aufgehellt, was die Untersuchung im Dunkel gelassen und die Verhandlung künstlich getrübt, verworren und entstellt hatte. In seinen Flugblättern ist der wirkliche → Mörder der Hruza, sind seine Helfershelfer und Gönner mit Namen genannt, die Beweggründe und Umstände der Mordtat überzeugend angegeben, die Beweise aller Behauptungen sorgfältig angeführt, das Material ist bereit und wartet nur darauf, dass eine zuständige Stelle es prüft. Doktor Bulowa aber hat in dem heroischen Feldzuge seine geringe Habe, seine Praxis, seine Gesundheit und schließlich sein Leben eingebüßt. Er ist nicht der einzige Streiter für Wahrheit und Recht geblieben. Auch die anderen Helden der Dreyfusaffäre haben ihr Gegenstück in der Hilsneraffäre. → Dr. Arthur Nußbaum hat in seinem Buche „Der Polnaer Ritualmordprozess“ für diesen getan, was Josef Reinach in seiner monumentalen, → bis jetzt fünfbändigen „Histoire de l'affaire Dreyfus“ für den französischen Fall. Der Vortrag des Rechtsanwalts → Dr. Friedrich Elbogen im Wiener → „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ steht nicht hinter denen zurück, womit → de Pressensé das Gewissen des französischen Volkes wachschrie. → Obergerichtspräsident Krall hat in diesen Blättern über die Angelegenheit Worte gesagt, die an die gewaltigsten Streitschriften von Trarieux erinnern. Alle diese großen Kundgebungen haben jedoch bisher keinen Widerhall geweckt. Sie fallen in eine Todesstille und werden von ihr verschlungen. Warum? Aus Gleichgültigkeit? Ich weigere mich, an sie zu glauben. Die Erscheinungen der letzten Jahrzehnte rechtfertigen wahrlich keine hohe Einschätzung des Verstandes und der → Sittlichkeit der Regierungen und Völker, aber für derartig → vertiert kann ich dennoch beide nicht halten, dass ein nachgewiesenes Justizverbrechen und dessen Opfer sie gänzlich indifferent lassen. Also aus Furcht? Gewiss, die Gewalten, die man in die Schranken fordern muss, um das → Urteil von Pisek nach dem von Kuttenberg zu vernichten, sind mächtig und übermächtig und ihr Einfluss, ihr Reichtum an Hilfsmitteln aller Art ist nur geringer als ihre Bedenkenfreiheit. Aber wozu hätte dann Frankreich sein Beispiel gesetzt? Lehrt dieses nicht, dass der Panzer des Klerikalismus nicht undurchdringlich ist? Ist der → in seinem Blute daliegende, niedergehauene Lindwurm keine genügende Aufmunterung zur Wiederholung des Abenteuers? Was wagt der Ritter ohne Furcht und Tadel, der es bestehen will? Beschimpfung unflätigster, ruchlosester Art? Wen hat man teuflischer besudelt als Picquart und Zola? Hat es den einen gehindert, → mit 52 Jahren Divisionär zu werden, und den anderen, die Ehren der → Beisetzung im Pantheon zu erlangen? Verfolgung, Gefängnis, Armut, Lebensgefahr? Picquart hat elf Monate in Geheimhaft geschmachtet; Zola wurde zugrunde gerichtet und musste außer Landes flüchten; Labori trägt noch die Kugel des Meuchelmörders im Leibe. Und haben sie nicht trotz alledem gesiegt? Stärker als der französische ist auch der österreichische Antisemitismus nicht. Fehlen in Österreich die Männer, die ihm in Frankreich seine Beute entrissen und die Zähne in den Hals geschlagen haben?
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Ich zweifle nicht daran, dass der österreichische Antisemitismus und Klerikalismus seine → „Gazette de France“, → „Croix“, → „Libre Parole“, → „Eclair“, seinen General Mercier und Roget, seinen → Richter Delegorgue und → Périvier, seinen Staatsanwalt → von Cassel, seinen Rechtsanwalt → Auffray, seinen Belastungszeugen → Cernucky, seinen Bandenführer → Guérin hat. Aber Frankreich hat gelehrt, dass sie alle zusammen nicht unbesiegbar sind. In Österreich wird der Kampf leichter sein als in Paris, wo er gleichwohl zum Triumph der Wahrheit geführt hat. Denn die Niederlage des französischen Klerikalismus gibt den Angreifern von vornherein eine Zuversicht, die sie in Frankreich nicht haben konnten und nicht hatten, und das Kampfgelände ist in Österreich für den Klerikalismus nicht entfernt so günstig, wie es in Frankreich war. Dort konnten die Lügner und Fälscher vorgeben, dass sie die Ehre, ja den Bestand des Heeres, die Sicherheit des Landes, die Fahne und die Grenze verteidigten. Der Antisemitismus konnte sich die falsche Nase des → Patriotismus vorbinden, die Klerikalen konnten die Verteidiger des Rechtes als → vaterlandslose Gesellen und → Anarchisten diskreditieren. In Österreich ist nichts dergleichen möglich. Denn auch der abgefeimtesten → Rabulistik wird es nicht gelingen, Hilsners Festhaltung im Zuchthaus als ein Erfordernis der österreichischen Staatssicherheit, Fahnen- und Volksehre vorzuschwindeln. In Frankreich setzten sich für das Justizverbrechen auch gutgläubige Franzosen ein, denen die aufgepeitschte vaterländische Leidenschaft mit dem Verstand und Rechtssinn durchging. Welche besseren Volksgefühle können in Österreich die klerikal-antisemitischen Camorristen und Maffiosi anrufen? Ihnen antwortet nur der pöbelhafteste Judenhass, der → Houston Chamberlain'sche und → Gobineau'sche Faseleien stammeln muss, wenn er sich in gebildeter Gesellschaft zeigen will. Es mag sein, dass es schwierig ist, die Rechtsform für die Anfechtung des Piseker Urteils zu finden. Ich glaube, dass → Bulowas Schriften die erforderliche Handhabe bieten, doch bin ich in diesem Punkte nicht zuständig. Ich müsste mich indes bis zur Besinnungslosigkeit wundern, wenn die Gesetzkenntnis und der Scharfsinn österreichischer Juristen den Weg nicht entdecken sollten, auf dem sie das Recht zum Siege führen können. Eines aber ist gewiss möglich: die Begnadigung Hilsners. Die Wiederaufnahme mag bedächtig in die Wege geleitet werden; sie kann ohne Schaden warten. Die Gnade für Hilsner jedoch ist dringend. Jede Stunde, die dieser Unschuldige in Ketten vertrauert, ist ein nicht zu widerlegender Vorwurf für alle anständigen Österreicher. Ich begreife nicht, wie ein Wiener, der die Anfangsgründe des Lateinischen noch nicht vergessen hat, im Vorübergehen das → „Justitia regnorum fundamentum“ am äußeren Burgtore lesen kann, ohne schamrot zu werden, solange das Unrecht an Hilsner nicht gesühnt ist. Und noch weniger begreife ich, wie die Juden Österreichs sich bei dem Erkenntnis beruhigen können, das in der jämmerlichen Person Hilsners sie alle des Ritualmordes schuldig erklärt und im Abwesenheitsverfahren verurteilt hat. Sie müssen alles daransetzen, um Hilsners Unschuld zu beweisen und damit die Schmach der furchtbarsten Beschuldigung von sich abzuwaschen. Wenn
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sie ihre Pflicht nicht erkennen und nicht tun, rechtfertigen sie die Antisemiten, die sie feig und ehrlos schimpfen. Quelle: Die Welt, 3.8.1906, H. 31, S. 4–6, dort mit dem Hinweis: Aus → N. Fr. Pr.
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54 → VIII. Kongressrede Geehrter Kongress! Ein Jahrzehnt wird in wenigen Tagen vollendet sein, seit der erste Zionistenkongress in Basel eröffnet worden ist. Unser unvergesslicher Theodor Herzl, dessen Geist auch heute über unserer Versammlung schwebt, erklärte in seiner Eröffnungsrede die Ursachen, den Sinn und die Ziele des Zionismus mit imperatorisch knappen, wuchtigen Worten, die wie eine in Steintafeln gemeißelte Denkmalinschrift klangen. „Der Zionismus ist die Heimkehr zum Judentum vor der Rückkehr ins Judenland.“ … „Wir denken nicht daran, auch nur einen Fuß breit erworbener Kultur aufzugeben.“ … „Ein Volk kann nur selbst sich helfen; kann es das nicht, dann ist ihm eben nicht zu helfen.“ … „Von einem vollständigen Auszuge der Juden kann wohl nirgends die Rede sein; die sich → assimilieren wollen und können, bleiben zurück und werden resorbiert.“ Dies sind einige der Kernsätze, die Herzl damals verkündete und die an Klarheit, sollte man meinen, nicht zu übertreffen sind. Gleichwohl verhinderten sie weder Missverständnisse noch Verständnislosigkeiten, Verdrehungen und Entstellungen. Ein Missverständnis war es, dass man im Zionismus eine große Bewegung der Barmherzigkeit sehen wollte. Es gab viele gute, gebildete Juden, besonders in den freien Ländern des Westens, die anfangs sich zum Zionismus bekannten oder ihm doch Wohlwollen entgegenbrachten, weil sie glaubten, er bedeute eine Anstrengung der Juden, die sich des Glückes eines Vaterlandes, der Rechtssicherheit, des Wohlstandes erfreuen, um die Leiden ihrer Glaubensgenossen in den Ländern der Bedrückung und Verfolgung zu lindern, um ihnen eine Heimstätte und vollständige Arbeitsfreiheit zu verschaffen, um ihnen Leben, Menschenwürde und Eigentum zu gewährleisten. So war es jedoch nicht gemeint. Der Zionismus ist eine Wohltat, er ist keine Wohltätigkeit. Einem Volke reicht man keine milde Gabe. Ein Land ist kein Almosen. Der Zionismus kann dem jüdischen Volke und will dem einzelnen Juden nichts schenken. Er bemüht sich, die Kraft zu wecken, zu entwickeln, zu schulen, zu sammeln, mit der das jüdische Volk sich aus zweitausendjähriger dumpfer Ergebung aufraffen soll, um sich natürliche Daseinsbedingungen auf eigenem Boden und selbstgeschmiedetes Glück zu schaffen. Die Zionisten aus Mitleid, die den geringen jährlichen Beitrag zur Bewegung, den → Schekel, darboten, wie man eine kleine Münze in eine flehend ausgestreckte Bettlerhand gleiten lässt, sind denn auch großenteils abgefallen, als sie ihren Irrtum erkannten, und treu blieben nur die, die sich bewusst waren, dass im Zionismus ein zerrissenes Volk um die Wiedervereinigung seiner umhergestreuten Gliedmaßen und um die Wiedergeburt ringt. Verständnislosigkeit war es, dass man den Zionismus als einen Rückfall in religiösen → Fanatismus, als eine Absage an den Fortschritt, an die Gesittung und Wissenschaft der Neuzeit, an Europa, als Sehnsucht nach → Asiatentum und → Ghettoabsperrung verklatschte. Von religiösem Fanatismus weiß der Zionismus sich vollkommen frei; zu frei, sagen gewisse jüdische Kritiker und Gegner. Er vereinigt Vertreter der konservativsten und der freisinnigsten Richtungen des Judentums in
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sich. Das Wort Asiatentum macht uns keine Angst, denn das Beispiel des japanischen Volkes lehrt, dass man sehr wohl Asiate und gleichzeitig höchst fortschrittlich sein kann. Tatsächlich aber sind wir unseres zweitausendjährigen Europäertums so sicher, dass wir über die Neckerei, wir würden in Palästina Asiaten werden, lächeln dürfen. Wir würden dort so wenig Asiaten im Sinne → anthropologischer und kultureller Minderwertigkeit werden, wie die Angelsachsen in Nordamerika Rothäute, in Südafrika → Hottentotten und in Australien → Papuas geworden sind. Wir würden uns bemühen, in Vorderasien zu tun, was die Engländer in Indien getan haben – ich meine die Kulturarbeit, nicht die Herrschaft –; wir gedenken, nach Palästina als Bringer von Gesittung zu kommen und die moralischen Grenzen Europas bis an den → Euphrat hinauszurücken. Ghettoabsperrung? Man verzeihe uns, dass wir über diese kindische Formel die Achsel zucken. Freie Seelen würdigen das Gefühl, aus dem heraus der Brite sein stolzes Wort spricht: → „My house is my castle.“ Wer Lächerlichkeit nicht fürchtet, der nenne immerhin unser Verlangen nach einem eigenen selbstgebauten Heim Ghettosehnsucht. Wir wissen, dass die allermodernste → völkerpsychologische und ethnologische Erkenntnis zur Forderung führt, ein jedes Volk solle wie jedes Individuum sich nach seiner organisch begründeten oder geschichtlich gewordenen Eigenart ausleben und es ablehnen, sich durch Druck, Geringschätzung und Feindseligkeit verkümmern zu lassen. Wir sind niemals fortschrittlicher, niemals moderner, als wenn wir lieber echt als noch so vollkommene Nachahmung, lieber harmonisches Original als eine Karikatur anderer sein wollen. Verdrehungen und Entstellungen haben jede Tat des Zionismus, jede Äußerung und Bewegung seiner Führer verzerrt, verdächtigt und verleumdet. Man hat den leitenden Persönlichkeiten der Bewegung uneingestehbare Beweggründe, Ehrgeiz oder gar nur Eitelkeit, Eigennutz, → demagogisches Buhlen um Volksgunst nachgesagt. Der Begründer und bedeutendste Mann der Bewegung, Theodor Herzl, antwortete darauf mit dem Opfer seines Vermögens und seines Lebens, und andere tun es ihm nach, wenn nötig, bis zum Äußersten. Man hat das Schlagwort ausgegeben, der Zionismus sei mit der Vaterlandsliebe unvereinbar. Ruhig im Bewusstsein treuer Anhänglichkeit an unser Geburtsland und gewissenhaftester Erfüllung aller unserer Staatsbürgerpflichten dürfen wir diese Beschuldigung verachten. Den Deutschen in den Vereinigten Staaten hat bisher noch niemand Mangel an amerikanischem → Patriotismus nachgesagt, weil sie ihre Sprache, ihre Gesittung, ihre Stammeserinnerungen pflegen und auch drüben fortfahren, am Wohl und Wehe ihrer Volksgenossen in der alten Heimat regsten Anteil zu nehmen. Gewiss, ergäbe sich ein Gegensatz zwischen den Interessen des jüdischen Volkes und denen unserer Landsleute, dann müssten wir in schmerzlicher Wahl uns für die eine oder die andere Seite entscheiden. Glücklicherweise besteht ein solcher Gegensatz nicht und wird nach menschlichem Ermessen in absehbarer Zeit auch nicht bestehen. Wir dürfen uns also getrost zugleich als gute Zionisten und als gesinnungsstarke Staatsbürger bekennen. Außer jüdischen → Denunzianten und bedenkenfreien Judenhassern, denen je-
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de Gelegenheit zur Feindseligkeit gegen uns willkommen ist, hat denn auch bisher niemand an diesem Doppelbekenntnis Anstoß genommen. Weit verbreitet ist die Meinung, der Zionismus sei eine Antwort auf den Antisemitismus, die Antwort des jüdischen Trotzes nach den einen, der jüdischen Verzweiflung nach den anderen. Diese Auffassung gab manchem unserer Gegner Gelegenheit, sich in Heldenposen zu werfen und → Bramarbasreden zu führen. „Ihr Zionisten“, prahlten sie, „seid feige Ausreißer, wir dagegen sind tapfere Streiter; ihr ergreift vor dem Feinde die Flucht, wir nehmen den Kampf an, wollen ihn in unserem Geburtslande bestehen und die Rüstung nicht ablegen, ehe wir gesiegt haben.“ Diese Neigung, den Zionismus mit dem Antisemitismus in Zusammenhang zu bringen, den einen als Gegenwirkung des anderen zu begreifen, ist überraschend oberflächlich. Der Antisemitismus war höchstens ein Anlass, er war sicher nicht der Grund des Zionismus. Der Judenhass hat nur in vielen Juden das eingeschlummerte Stammesbewusstsein geweckt und sie ermahnt, sich auf ihre geschichtliche Individualität zu besinnen. Er hat sie genötigt, über ihre Stellung in der Welt, über ihr Verhältnis zu den anderen Völkern, über ihre Aussichten als Einzelmenschen und als Gesamtheit nachzudenken, und dieses Nachdenken, nicht die Ungerechtigkeit der Judenfeinde, hat sie zu überzeugten, ruhig entschlossenen Zionisten gemacht. Der Zionismus ist, wie jede geschichtliche Bewegung, aus einem stark empfundenen und klar erkannten Bedürfnis hervorgegangen, aus dem Bedürfnis nach einem normalen Dasein unter natürlichen Bedingungen. Er ist die eiserne Schlussfolgerung der jüdischen Logik, dieses Grundvermögens der jüdischen Psyche. Denkende Juden lassen sich nicht darauf ein, sich selbst zu täuschen; sie sind gegen sich von der unerbittlichsten Aufrichtigkeit. Wir sind empfindlich, wenn man uns in unserem Geburtslande Fremde schilt. Es ist ja auch in der Tat eine Bosheit, uns als fremd auf der Scholle anzusehen, auf der unsere Wiege stand und unter der die Gebeine unserer Väter ruhen. Aber wenn man mit Unrecht unsere Zugehörigkeit zum Boden, zum Lande, zum Staate leugnen will, müssen wir es doch andererseits verstehen, dass die Menschen, unsere Landsleute, uns als Fremde empfinden, da wir es beharrlich ablehnen, uns in ihnen aufzulösen. Da richtet sich ein Entweder-Oder vor uns auf, vor dem es kein Entrinnen gibt. Entweder wir wollen ein Volk bleiben oder wir wollen kein Volk bleiben. Wollen wir kein Volk bleiben, dann gehen wir, so rasch wie es die → demographischen Verhältnisse irgend gestatten, in unserer Volksumgebung auf. Wollen wir aber ein Volk bleiben, wie unsere beharrlich gewahrte Sonderstellung beweist, dann müssen wir auch die nötige Anstrengung zur Ermöglichung eines Volksdaseins machen. Auf die Dauer aber ist es unmöglich, sich als abgesondertes, stammesreines Volk zu behaupten, wenn man als → scheel angesehene Minderheit inmitten einer mindestens unsympathischen, kalten, wenn nicht aggressiv feindseligen Mehrheit lebt. Wofür erhalten wir uns aber als besonderes Volk in der → Zerstreuung? Für welche Zukunft? Für welche Geschicke? Was ist der Endzweck, zu dem wir unsere Eigenart pflegen, die von der unserer Umgebung absticht? Was hoffen, was erwarten wir, dass wir alle Widerwärtigkeiten, alle Nachteile einer
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schmerzlichen Ausnahmestellung geduldig ertragen? Ist es für die nationale Wiedergeburt, dann rüsten wir uns zu ihr auf die einzig mögliche Weise, durch den Zionismus. Erwarten und hoffen wir aber keine nationale Wiedergeburt, dann ist es lediglich stumpfe Gedankenlosigkeit, dann ist es reine Unfähigkeit, den eigenen Standpunkt zu begreifen, wenn man unter den größten Opfern und mit den schwersten Leiden ziel- und zwecklos in einer Sonderexistenz verharrt, die keinen Sinn mehr hat. Also: Zionismus oder nationale Liquidation. Alles andere ist Halbheit und beunruhigt die Logik. Vergebens reden → Tiftler Haarspaltereien und Spitzfindigkeiten um diese unerschütterliche Schlussfolgerung herum. Sie drängt sich dem schlichten Menschenverstande der selbstdenkenden Juden auf und bestimmt häufig ihr Handeln. Wer an die Daseinsberechtigung des jüdischen Volkes glaubt, wer ihm eine Zukunft wünscht, der wird Zionist. Wer diesen Wunsch, wer diesen Glauben nicht hat, der fällt ab. Und das würde noch viel häufiger geschehen, wenn der Abfall vom Judentum, um vollgültig zu sein, nicht vom formellen Übertritt zu einem anderen Glauben begleitet sein müsste, zu dem anständige Juden sich denn doch nicht leichten Herzens entschließen. Seit zehn Jahren rufen wir diese Wahrheiten in alle Winde. In großen Seelen haben sie mächtigen Widerhall geweckt; die Menge aber hat sie noch nicht hören oder noch nicht verstehen wollen. Denn wir wollen uns und anderen nichts vormachen. Wir organisierten Zionisten sind leider immer noch eine betrübend kleine Minderheit im jüdischen Volke. Wir lassen uns das jedoch nicht anfechten. Es ist kein Grund zur Entmutigung für uns. Eine Wahrheit hat ihre eigene Tugend und Würde, die ganz unabhängig davon ist, ob sie von anderen begriffen wird oder nicht, und sie muss sich schließlich durchsetzen, denn sie ist unverwüstlich und die Zeit kann ihr nichts anhaben. Die Geschichte ist überdies da, um uns vor Kleinmütigkeit zu behüten. Sechzig Jahre lang sangen Deutsche: → „Was ist des Deutschen Vaterland?“ und ließen sich nicht irre machen, obschon die bedeutendsten, maßgebendsten Männer, Minister, Würdenträger, einflussreiche Politiker aller Art die Forderung der deutschen Einheit als eine Schwärmerei für Schützenfeste und Gesangsvereine verspotteten. Ebenso lange erklärten bedächtige, nüchterne Diplomaten Italien für einen geographischen Begriff und an eine italienische Nation glaubten nur einige romantische Verschwörer, die in Italien selbst sieben organisierte, zum Teile mächtige Staaten und außerhalb Italiens ungefähr alle Regierungen gegen sich hatten. → Camille Desmoulins sagte nach Verkündigung der französischen Republik: → „Im Jahre 1789 hat es in Frankreich keine zehn Republikaner gegeben.“ → Thomas Payne, der treffliche Verfasser von → „Common sense“, tat die Äußerung: „Im Jahre 1778 gab es in ganz Nordamerika nicht einen Republikaner.“ Michelet schrieb im Jahre 1859: „Im Jahre 1854 habe ich in ganz Italien nicht einen Italiener angetroffen.“ Diese Beispiele sind geeignet, uns über die Zukunft des Zionismus zu beruhigen, obschon die Zahl der Zionisten heute noch nicht entfernt so groß ist, wie sie sein sollte.
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Wir sind gewiss die letzten, uns selbstgefällig die Hände zu reiben und uns zu beglückwünschen, dass wir es so herrlich weit gebracht haben. Gewiss: Was wir erreicht haben, ist noch → blutwenig. Gleichwohl haben wir keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen, wenn wir auf das Jahrzehnt seit dem ersten Zionistenkongresse zurückblicken. Selbst unsere materiellen Erfolge, so bescheiden sie scheinen, sind nicht allzu gering einzuschätzen. Kurz sind sie schon von Herrn → Wolffsohn zusammengefasst worden: Unsere Kolonialbank, von uns mit bitterer Mühe und schweren Opfern aufgerichtet, hat mit ihrem kleinen Grundstock die → Anglo-Palestine Company geschaffen, die in Palästina gute Arbeit verrichtet, im dortigen Wirtschaftsleben als ein kräftiger Gärungserreger wirkt und dem jüdischen Namen das Ansehen erwirbt, das in zurückgebliebenen Ländern schöpferische Finanzinitiative begleitet. Dank dieser Anstalt sind die Juden in den Augen der palästinensischen Eingeborenen nicht mehr wie früher verachtete Bettler, sondern Wohltäter, die das Land befruchten und Wohlstand um sich verbreiten. Unser → Nationalfonds ist wurzelständig geworden und verspricht, in langsamem Wachstum sich zu einem kräftigen Organismus zu entwickeln. Ansehnlicher, wirklich ansehnlich sind unsere moralischen Erfolge. Dass der Zionismus seinen Bekennern Selbstachtung und Würde gegeben hat, ist eine zum Gemeinplatz gewordene Feststellung. Wir Zionisten tragen unser Judentum wie eine → Kokarde, und das ist uns so selbstverständlich geworden, dass es bereits unser heiteres Staunen erregt, wenn wir sehen, dass andere es wie eine Brandmarke scheu verheimlichen. In den Ländern mit verschiedenen Nationalitäten haben unsere Gesinnungsgenossen die jüdische Nationalität mit der Forderung gleicher Rücksicht auf ihre Volksbedürfnisse und gleicher Achtung ihrer → ethnischen Individualität angemeldet. Unserer Jugend gibt der Zionismus Stolz auf ihre Geschichte, Glauben an sich selbst und den sittlichen Halt eines Ideals. Unsere Gegner hofften, der Zionismus werde seinem Begründer ins Grab folgen. Er hat die schwere Erschütterung des Verschwindens seines ersten Führers ohne Schaden ertragen und damit den Beweis erbracht, dass er, von Personen unabhängig, aus eigener Kraft besteht. Schwere Gefahr drohte dem Zionismus von den zahlreichen mörderischen Überfällen, die die Juden in den Ländern des Antisemitismus der Tat zu erleiden hatten. Nicht nur, weil unsere unglücklichen Brüder durch Mord, Brand, Schändung, Raub vollständig zugrunde gerichtet wurden, nicht nur, weil ihre Verzweiflung über das grausame Ende teuerster Angehöriger jeden anderen Gedanken aus ihrem Bewusstsein verdrängte, sondern auch wegen treuloser Hetzreden, durch die bedenkfreie Gegner die armen, verängstigten Opfer am Zionismus irre zu machen suchten. „Wo war der Zionismus“, hörte man spöttische Stimmen rufen, „als entmenschte Horden im Osten die Juden niedermetzelten? Was hat er für die Verfolgten getan? Wie hat er ihnen geholfen? Welchen Schutz hat er ihnen gewährt?“ Zur Ehre unserer schwer heimgesuchten Brüder sei es gesagt: Auch in ihrer tiefen Verzweiflung bewahrten sie genug gesunden Menschenverstand, um die Torheit dieser Spottfragen zu erkennen. Unsere Massen sehen sehr wohl ein, dass sie selbst in ruhigen Tagen für den
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Zionismus nicht genug getan haben, um von ihm erwarten und verlangen zu dürfen, dass er nun in den Tagen der Not für sie Entscheidendes tun werde. Der Zionismus besitzt gerade nur, was das jüdische Volk ihm gibt. Das jüdische Volk aber hat ihm bisher nicht die Mittel geliefert, für die Volksglieder in Gefahr wirksam eintreten zu können. Seine Würde verbot ihm eitle Kundgebungen und wichtigtuerische Geschäftigkeit. Die Zionisten verschlossen ihre Trauer in ihr Herz und arbeiteten mit zusammengebissenen Zähnen an ihrer großen Aufgabe weiter, deren künftige Verwirklichung die Gegenwart nach Maßgabe ihrer Kräfte vorbereiten muss. Inzwischen haben unsere Massen besser als bisher begreifen gelernt, dass der Zionismus, wenn er sie heute nicht retten und schützen kann, morgen das Heil ihrer Kinder sein wird. Die Regierungen, um deren Wohlwollen zu werben ein wichtiger Punkt unseres → Programms ist, haben uns keine nennenswerte Förderung angedeihen lassen. Um die ganze Wahrheit zu sagen: Sie haben sich bisher überhaupt kaum um uns gekümmert. Das scheint manchen ein Beweis, dass wir von allem Anfang einen falschen Weg eingeschlagen haben und dass unsere Politik, die ihre Hoffnung teilweise auf die Regierungen setzte, ein Irrtum war. Das ist jedoch ein Fehlschluss. Regierungen sind heutzutage ganz gewiss keine Verächter der → Imponderabilien, und sie würden niemals zugeben, dass große Geschichtsgedanken, dass Forderungen der → Sittlichkeit und Gerechtigkeit für sie inhaltslose Begriffe sind. Aber Regierungen haben sich vor allem mit konkreten materiellen Interessen zu beschäftigen, und sie sind gewohnt, amtlich nur von solchen Angelegenheiten Kenntnis zu nehmen, für die ein Machtelement irgendwelcher Art ihre Aufmerksamkeit fordert. Solange die Regierungen im Zionismus nur die verschwommene Sehnsucht eines kleinen Häufleins weltfremder Träumer und Schwärmer vermuten, solange ihnen unsere Kongresse, unsere Organisation, unsere Propaganda, unsere Pläne, unsere Beschlüsse rein theoretische Geistesspiele zu sein scheinen, haben sie von ihrem Standpunkt aus wirklich keine Veranlassung, sich mit uns einzulassen. Das würde mit dem Augenblick anders werden, wo der Zionismus Millionen oder doch Hunderttausende gegliederter, zielbewusster, einiger Anhänger, festgegründete, wirksame Einrichtungen, Geld, Einfluss, zahlreiche geistige Potenzen hinter sich hätte. Die Regierungen als Abwäger von Wirklichkeiten verlangen mit Recht von uns den Beweis, dass wir etwas sind, etwas haben, etwas können. Solange wir ihnen diesen Beweis schuldig bleiben, dürfen wir uns nicht beklagen, wenn sie uns vernachlässigen. Es liegt in unserer Hand, die Regierungen zu einer Änderung dieser Haltung zu bestimmen. Wir brauchen nur ein Machtfaktor zu werden. Damit müssen wir anfangen, dazu durch unablässiges Predigen, Lehren, Werben zu gelangen suchen. Ein jüdisches Volk mit einheitlichem Willen, dem Entschlusse und den Mitteln, ihn zu verwirklichen, würde nicht vergeblich bitten, dass die Regierungen amtlich seinen Plänen nähertreten.
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Noch sind wir nicht entfernt so gerüstet, wie wir sein sollten, wie wir sein müssen, wenn der Zionismus aus dem akademischen → ins weltpolitische Stadium treten soll. Eines aber haben wir schon jetzt erreicht: Wir haben die → Judenfrage, die von den einen überhaupt geleugnet, von den anderen als unerheblich angesehen wird, mit Nachdruck gestellt. Wir werden dafür sorgen, dass sie nicht wieder aus dem Gesichtskreise der Regierungen und Völker verschwindet, und wir werden nicht ruhen, bis sie in zionistischem Sinne gelöst ist: durch Wiederherstellung des Judenvolkes, das als gleichberechtigtes Mitglied in die Völkerfamilie eintritt. Die Lösung der Judenfrage ist eine Probe auf die ganze menschliche Gesittung. Die Zivilisation baut sich auf einer Anzahl letzter Grundsätze auf, die nicht erschüttert, nicht umgestürzt werden können, ohne dass der ganze Bau zusammenbricht. Diese ursprünglichen Grundsätze sind: Achtung des Menschenlebens, Ahndung der Verbrechen gegen Person und Eigentum, Gleichheit aller unbescholtenen Bürger vor dem Gesetze, noch kürzer ausgedrückt: Gerechtigkeit. → Justitia regnorum fundamentum! Die Juden aber werden in dem einen Lande gemordet und beraubt, in dem anderen beschimpft und zurückgesetzt, überall behandelt man sie, als ständen sie außerhalb des Völkerrechts, des Gesellschaftsvertrags, der Verfassung, des geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzes. Den Juden gegenüber verleugnet man die einfachsten Grundsätze der Zivilisation und damit die Zivilisation selbst. Dagegen erheben wir einen Einspruch, den man am allerwenigsten im → Haag → als einen platonischen ansehen darf. Im freien Holland tagt gerade jetzt zum zweiten Male die → Friedenskonferenz, die alle gesitteten Staaten beider Welten beschickt haben, um das Bestehen einer die ganze Menschheit umspannenden und bindenden Sittlichkeit festzustellen und ihre Regeln in ein Weltgesetzbuch zu fassen. Diese noch nicht kodifizierte, aber von allen Regierungen, den christlichen, mohammedanischen, buddhistischen, → fohistischen, freidenkerischen, gleichmäßig anerkannte Sittlichkeit rufen wir an. In ihrem Namen fordern wir für unser Volk von 12 Millionen Gerechtigkeit. Man konnte sie uns verweigern, solange Barbarei auf Erden herrschte; man darf sie uns nicht länger vorenthalten, nun, da alle organisierten Völker sich wenigstens theoretisch zur Zivilisation bekennen. Solange es eine Judenfrage gibt, erweist sich die Zivilisation als eine Lüge und jede diplomatische Konferenz zur Kodifizierung der Nächstenliebe und Menschlichkeit als eine Komödie. In die Judenfrage spielen neben den ursprünglichsten Grundsätzen der Zivilisation auch sekundäre Tendenzen hinein, die augenblicklich die Weltpolitik bestimmen. Jedes Volk fordert heutzutage für seinen Handel die offene Tür; jedes nimmt es als natürliches Recht für sich in Anspruch, zurückgebliebene Länder → in die Weltwirtschaft einzubeziehen, wüste Gebiete zu besiedeln und unter den Pflug zu nehmen, allzu große Verschiedenheiten der Bevölkerungsdichte durch zweckmäßige Wanderung auszugleichen. Genau dieselben Forderungen erhebt auch der Zionismus.
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Wir wollen dem dünn bevölkerten Palästina Millionen arbeitsfreudiger Siedler zuführen, die nur dort und sonst nirgendwo gedeihen können. Wir wollen das brach liegende Land, das einst jüdisch war, unter den Pflug nehmen, ihm Wert geben, es zu einer Stätte lebhaften Güteraustausches, blühender Kultur, musterhafter Ordnung machen, dem türkischen Reiche, dem jüdischen Volke, der ganzen Menschheit zum Gewinn. Und solche Bestrebungen sollten nicht den Beifall und die Unterstützung aller Regierungen finden? Das glaube ich nicht im Haag der Friedenskonferenz. Ich zweifle nicht daran, dass wir die → ottomanische Regierung von der Größe und Fruchtbarkeit unseres Vorsatzes überzeugen werden; ja noch mehr: dass wir die Einberufung einer diplomatischen Konferenz nach dem Muster der Haager Zusammenkünfte von 1899 und 1907 zur internationalen Regelung der Judenfrage erleben werden. Voraussetzung so großer Entwicklungen ist allerdings, dass wir zunächst das jüdische Volk selbst zur klaren Erkenntnis seiner Lage wecken und jedem Juden, der nicht das Verschwinden des jüdischen Volkes will, die Überzeugung beibringen, sein Fortbestand sei nur durch eine Methode zu sichern: die zionistische. Möge der achte Zionistenkongress uns diesem großen Ziele näher bringen! Quelle: ZS1, S. 174–187, dort mit Verweis und Datierung: Haag, 14. August 1907. Ferner in: Die Welt, 15.8.1907, Sonderheft, S. 1–4.
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55 Reden Dr. Nordaus und → Dr. Marmoreks Paris: Die französische Zionisten-Federation veranstaltete am 2. November im Saale Lancry eine große Versammlung, in der Dr. Max Nordau, Dr. Alexander Marmorek und → Dr. Simon Ginsburg Bericht über den VIII. Kongress erstatteten. Mehr als 800 Personen, hauptsächlich Mitglieder der russischen Kolonie in Paris und russische Universitätsstudenten, waren in der Versammlung anwesend. Mit gespannter Aufmerksamkeit folgte die Versammlung insbesondere der Rede Dr. Nordaus, der ebenso wie Dr. Marmorek in deutscher Sprache sprach. Seine und Dr. Marmoreks Ausführungen erweckten bei den Zuhörern stürmischen Beifall. Nach den einleitenden Ausführungen Dr. Ginsburgs sprach Dr. Marmorek ungefähr Folgendes: Die äußeren Umstände, unter denen der Kongress abgehalten wurde, waren sehr günstig. Wir sammelten uns in der Hauptstadt des Landes, das als eines der ersten sich die Freiheit errungen hat. Seitens der niederländischen Juden wurde uns ein herzlicher Empfang zuteil, und mit dankbarer Aufmerksamkeit lauschten wir den freundlichen Begrüßungsworten des Mannes, der in seinem Staate eine der höchsten Ehrenstellen bekleidet und von seinen Volksgenossen wärmstens verehrt wird. Die tiefe Bewegung, mit der der VIII. Kongress → den Worten de Pintos zuhörte, konnte nicht gestört werden dadurch, dass er ausführte, der Zionismus sei lediglich zum Wohle der Armen und Verfolgten da. Wir wissen im Gegenteil, dass der Zionismus das ganze Judentum und seine Zukunft umfasst. Vor zehn Jahren haben wir begonnen, an dieser Zukunft zu arbeiten. Aber wir dürfen uns nicht selbst betrügen: Wir haben nicht gearbeitet, um einen palästinensischen → Territorialismus zum Vorteil einiger hundert Juden zu schaffen. Wir wollen die Judenheit anfeuern, selbst Hand an die Arbeit zu legen und ihre Würde wiederzuerlangen. → Vor der Rückkehr ins Judenland müssen wir zum Judentum zurückkehren. Unsere Gegner behaupten, dass sie → die Praktischen seien. Aber was sie uns vorschlagen, ist nichts weniger als praktisch. Sie wünschen, etwas Praktisches aus der Bank zu machen, womöglich eine ultrazionistische Bank. Ihr Vorschlag, eine → Agrarbank in Palästina zu schaffen, war unmöglich. Die Frage wurde auf dem Kongress erörtert und verworfen. Das ist nicht unser Zionismus. Was wir wollen, ist, Enthusiasmus in unser Volk zu tragen. Ehe wir uns um kleine praktische Dinge bekümmern, müssen wir unser Volk erwecken. Auch wir wollen praktische Arbeit in Palästina, wir waren die ersten, die sie gefordert haben. Aber wenn wir gezwungen sind, still zu stehen, dürfen wir unser Ideal nicht verlieren. Ist denn noch nichts Praktisches getan worden? Was sind denn → unser Nationalfonds, unsere Bank, → die Palästina-Kommission und die Institutionen, die jetzt gegründet werden? Jetzt aber wollen gewisse Leute unsere Bank in Gefahr bringen, diese Bank, die nicht wie andere durch Zahlungen großer Aktionäre, sondern hauptsächlich von den Armen gegründet worden ist. Das ist es, was der VIII. Kongress so gut begriffen hat: Er wünschte nicht, auf einen gefährlichen Weg geführt zu werden. Auf dem Kongresse waren wir alle geeinigt, und unsere Beschlüsse wurden fast ausnahmslos einmütig angenommen. Da-
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mit der Zionismus auch weiter Erfolg habe, müssen wir bei seinem Ideal verharren, wenn es auch noch so weit entfernt ist. Dies Ideal wird nicht ausgelöscht werden. Es ist in wenigen Worten ausgedrückt: „Dem jüdischen Volke das Bewusstsein seiner nationalen Würde zu geben.“ Dr. Nordau sprach Folgendes: Eine große Anzahl Zeitungen behauptete in ihren Berichten über die Resultate des VIII. Zionistenkongresses, dass sein hauptsächliches Merkmal das sei, dass er dem → politischen Zionismus ein Ende gesetzt habe. Wenn eine solche Feststellung richtig wäre, wäre sie gleichbedeutend mit der Behauptung, dass dieser Kongress das Ende des Zionismus bedeute. Tatsächlich ist der Zionismus entweder politisch oder er existiert überhaupt nicht. Allezeit ist er als politisch betrachtet worden, seine Pläne sind immer politische gewesen, sein Ausgangspunkt, seine wahre Daseinsberechtigung sind politisch, und er kann nur durch politische Mittel verwirklicht werden. Der VIII. Kongress hat den politischen Zionismus nicht getötet; er hat lediglich dem politischen Zionismus eine neue Auslegung gegeben und hat seinen Begriff erweitert. Es wurde gesagt, dass politischer Zionismus gleichbedeutend sei mit Herzlismus, und dass der Herzlismus mit seinem Gründer gestorben sei. Welchen Begriff haben aber die Verkleinerer des Zionismus aus Herzlismus geformt? Sie haben ihn auf → Charterismus verkleinert. Aber das Wort Charter ist überhaupt nicht im zionistischen Programm enthalten. Im → Baseler Programm steht keine Silbe davon. Der Zionismus behauptet nicht, dass es nur ein Mittel zu seiner Verwirklichung gibt. Es gibt ein Sprichwort: → Alle Wege führen nach Rom, wir möchten sagen: „Alle Wege führen nach Palästina.“ Wir haben das Recht, verschiedene Wege zu benutzen, und wenn uns der eine nicht zum Ziele führt, müssen wir einen anderen einschlagen, bis wir den richtigen gefunden haben. Herzl identifizierte sich nicht mit dem Begriff Charterismus, denn vor vier Jahren kündete er uns begeistert an, dass er von der Britischen Regierung ein Angebot für die Errichtung eines → jüdischen Territoriums in Ostafrika erhalten habe. Allerdings klagten ihn damals gewisse Leute an, er habe den Zionismus verraten. Herzl hat die Sache, die ihm teuer war, nicht verraten; aber er glaubte, dass es nicht nur einen Weg gebe, der nach Jerusalem führt, und dass → Uganda, wenn auch auf einem langen Umwege, doch vielleicht die richtige Straße sei, die uns nach → Zion führen würde. Politischer Zionismus gleich diesem kann nicht sterben, denn an dem Tage, wo er stürbe, wäre auch der Zionismus selbst tot. Was ist denn der Zweck des Zionismus? Er hat die Aufgabe und die Pflicht, das jüdische Volk zu erneuern, ihm das Bewusstsein seiner nationalen Würde zu geben, in ihm das Gefühl für seine Pflichten als Nation zu erwecken, es aus seiner Vereinsamung herauszuführen und zu zeigen, dass es eine mächtige und starke Masse gibt, die ihr Gewicht bei der Abwägung der Weltpolitik in die Waagschale werfen kann. Das ist das Ziel, das ist der Daseinsgrund des Zionismus; beide sind rein politisch. Wenn der Zionismus sich darauf beschränkt, eine kleine Anzahl Juden in Palästina anzusiedeln, mit dem einzigen Zwecke, einige Glieder einer Rasse zu zeigen, die künstlich verpflanzt worden sind, etwa so, wie man Kuriositäten in einem Mu-
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seum zeigt, ein solcher Zionismus hätte weder das Recht noch die Möglichkeit, die Flamme des Judentums für seine Durchführung zu entfachen. Was der Zionismus will, ist sehr verschieden. Er will ein lebendiges Judentum, verjüngt und glücklich, das seinen Stolz nicht nur auf seine Vergangenheit aufbaut, sondern das mit Stolz auf sein neuerwachtes Nationalbewusstsein und in die Zukunft blickt, ebenso hoch gestellt wie die anderen Nationen, die heute mit Verachtung auf es herabblicken. Wenn wir keinen Erfolg haben, so mögen sie uns mit Recht sagen: Sie sind unfähig und können nichts erreichen. Dann aber werden andere das Werk aufnehmen, das wir so schlecht ausgeführt haben. Vor der Eröffnung des Kongresses erfuhren wir von gewissen Vorschlägen, die gemacht worden waren, um dem Zionismus einen unmittelbaren praktischen Charakter zu verleihen. Diese Vorschläge waren: die sofortige praktische Ausbeutung des Kapitals der Jüdischen → Kolonialbank und des Nationalfonds, die Schaffung einer Agrarbank, die Gründung von Unterrichtsinstitutionen. Es war unsere Absicht, diese Vorschläge mit unserer ganzen Kraft zu bekämpfen. Wir wollten mit unserer ganzen Macht den verbrecherischen Versuch bekämpfen, das so mühevoll gesammelte Geld, den Spargroschen, den so mancher Arme Pfennig um Pfennig gesammelt hat, wegzuwerfen. Glücklicherweise wurde dieser Vorschlag abgelehnt. Es wurde lediglich beschlossen, dass die → Anglo Palestine Company Darlehen auf Hypotheken gewähren soll. Meiner Meinung nach ist dies ein Missgriff in einem Lande, wo Grundeigentum nicht existiert. Aber es wurde beschlossen; und das ist der einzige Beschluss des Kongresses, der nicht über jeden Tadel erhaben ist. Ich habe die Überzeugung, dass er → rein platonisch bleiben wird. Die anderen Beschlüsse des Kongresses, betreffend die Einsetzung der Palästina-Kommission und der Arbeit, die praktische Angelegenheiten betrifft, haben unsere volle Billigung, und wir haben zu den Männern, die damit betraut wurden, das größte Vertrauen. Ich weise die Idee eines Gegensatzes zwischen den Begriffen praktischer und politischer Zionismus zurück. Wir haben immer Verständnis für die praktische Arbeit gehabt, die vom Zionismus in Palästina ausgeführt werden kann, und wir haben sie jederzeit unterstützt. Aber was wir gesagt haben, ist, dass wir keine Einwanderung nach Palästina empfehlen können, solange wir dort nicht Freiheit genießen. In Palästina leben jetzt mehr als 60 000 Juden, von denen eine große Zahl → Chalukaempfänger sind. Wir müssen sie in Elitemenschen umwandeln. Wir müssen beginnen, sie zu erziehen, und es ist vielleicht ein Fehler gewesen, dass wir dies nicht schon getan haben. Aber wir sagten unseren Freunden auf dem Kongresse, wir wollten die Möglichkeiten studieren, die Palästina uns bietet. Sachverständige sollen die → ökonomischen Bedingungen des Landes studieren, sie sollen uns Aufschluss geben über Export und Import, sie sollen uns sagen, was die Industrie zu leisten imstande sein wird. Bevor wir an diejenigen unseres Volkes denken, die nach Palästina zu gehen wünschen, müssen wir uns mit denen beschäftigen, die schon im Lande wohnen, oder wenigstens mit denen, deren einziger Wunsch es ist, das Land zu verlassen. Jetzt ist nicht der Augenblick, neue Elemente dahin zu ver-
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pflanzen, wir müssen unsere Kräfte darauf sammeln, in Palästina ein Milieu zu schaffen und aus ihm ein Land der Zukunft zu machen, das Land der Zukunft des jüdischen Volkes. Wir sollen Kulturmöglichkeiten in Palästina schaffen. Wir sind der Meinung, dass eine Versuchsfarm dort eingerichtet werden soll, wo die Bedingungen für Ackerbau studiert werden können. Die Kosten des ersten Jahres würden meiner Meinung nach ungefähr 50 000 → Francs betragen, die sich in späteren Jahren vielleicht auf 12 000 vermindern würden. Sodann ist es erforderlich, sich mit der türkischen Regierung in Verbindung zu setzen, um von ihr schrittweise Konzessionen zu erhalten, so klein sie auch sein mögen. Andere Nationen bauen Eisenbahnen oder beginnen große Unternehmungen, warum sollen wir uns nicht um das Recht bemühen, Straßen oder Kanäle zu bauen? Wenn wir nur schon eine Wasserleitung nach Jerusalem bringen könnten, wäre dies schon ein großer Erfolg. Der Nutzen solcher Konzessionen wäre ein zweifacher: Sie würden dem Lande und den Juden Vorteil bringen. Sie würden uns auch in permanenten Kontakt mit der türkischen Regierung bringen, die uns kennenlernen und sehen würde, dass wir keine Träumer oder → Utopisten sind, sondern Männer, die in der Lage sind, nützliche Arbeit zu verrichten. Das sind die Vorschläge, die wir gerne vor den Kongress gebracht hätten. Diejenigen, die angenommen worden sind, sind zwar davon etwas verschieden, wir haben aber nichtsdestoweniger dafür gestimmt. Solange wir nicht in der Lage sind, der Türkei irgendetwas Positives, das wir erreicht haben, zu zeigen, dürfen wir nicht an einen Charter denken. Der VIII. Kongress hat die politische Seite und Tendenzen des Zionismus nicht besonders betont; er hat einen mehr oder weniger ausführlichen Plan der praktischen Arbeit für die nächsten zwei Jahre geschaffen. Ich erwarte davon keine bemerkenswerten Resultate; aber zwei Jahre bedeuten nichts im Leben eines Volkes, und wenn wir auch wirklich einen neuen Schlag erleiden sollten, der Zionismus ist stark genug, ihn auszuhalten, und brauchte deswegen nicht entmutigt zu werden. Jedenfalls können wir der Erfahrung und der Klugheit der Männer, die wir in die Palästinakommission berufen haben, vertrauen, dass sie nicht zu weit gehen werden, dass sie nicht schwere Fehler begehen werden; vor allen Dingen aber wissen wir, dass sie unser Geld nicht verschleudern werden. Darum wollen wir mit Sympathie das betrachten, was diese Männer versuchen werden, zu erreichen. Lasst uns ihnen helfen, damit sie Erfolg haben, und lasst uns versichert sein, dass, wenn sie fehlgehen, die Schuld nicht sie treffen wird, sondern in den Umständen begründet ist. Auf dem IX. Kongresse werden wir von ihnen Rechenschaft fordern über das, was sie getan haben. Mittlerweile bleibt unsere Pflicht, was sie immer gewesen ist: das Gewissen des jüdischen Volkes aufzuwecken. Das ist das letzte Wort, das wir dem jüdischen Volke zurufen. Quelle: Die Welt, 15.11.1907, H. 46, S. 13–14.
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56 Epigramme WESTLICHE KULTUR Kultur des Westens in Japan? → Sophismus! Sie konnten uns äußere Formen entleihn, Doch ins Wesen drangen sie niemals ein: Sie kennen nicht mal den Antisemitismus! *
ZUVERSICHT Dem Bischof sagt der Staat: „Wir sperren Dir das Gehalt!“ Drauf lächelnd der → Prälat: „Ihr Herren, Ich spotte der Gewalt. Entzieht mir immer eure Gaben, Wie ihr mir gottlos droht. Die Kirche fürchtet keine Not, Solang' wir – reiche Juden haben.“ *
ZUMUTUNG Beim Kunstliebhaber → Freiherrn Cohn: „Was bringen Sie?“ – „Die Jungfrau auf dem Thron.“ „Vortrefflich. Was soll dieses sein?“ „Ein heiliger Reliquienschrein.“ „Natürlich kauf' ich ihn. Und was wollt Ihr mir zeigen?“ Der Maler spricht: „Dies ist der Jubelreigen Der Jungfraun → Israels beim → Schlachtlied der Deborah.“ „Und dies ist“ – so ein andrer – „die → Menorah, Der → Schames hier und hier der Arme sieben, Sinnreich im blanken Erz getrieben.“ Der Freiherr ruft empört: „Wer ließ mir diese ein? Das Pack glaubt wohl, im → Ghetto hier zu sein!“
Quelle: ZS1, S. 397–398. Ferner in: Hebräische Melodien. Eine Anthologie. Hg. v. Julius Moses, Berlin/Leipzig 1907.
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57 Fernbeben Als neulich im ungarischen Abgeordnetenhause der jüdische Abgeordnete → Dr. Bródy vom Unterrichtsminister → Grafen Apponyi wegen seiner feindseligen Kundgebung gegen die bürgerliche Eheschließung Rechenschaft verlangte, die einer seiner hohen Beamten, der klerikale Ministerialrat → Baron Barkóczy, sich hatte zuschulden kommen lassen, belehrte der Minister den Rüger, dass Baron Barkóczy nicht als Ministerialrat, sondern als Mensch seine Verachtung gegen die → Zivilehe an den Tag gelegt habe. Dr. Bródy bemerkte dazu: „Der Ministerialrat ist vom Menschen nicht zu trennen!“ Da rief ihm ein Abgeordneter zu: „So wenig, wie Sie von Ihrer Rasse zu trennen sind!“ Was hat die Rasse des Dr. Bródy mit dieser Frage zu tun? Die Zivilehe ist in Ungarn eine gesetzliche Einrichtung, die nicht von der Rasse des Abgeordneten Dr. Bródy, sondern von reinblütigen → Magyaren geschaffen wurde. Dr. Bródy verlangte Achtung vor dem bestehenden Gesetze. Das ist ein tadelloser Standpunkt, gegen den sonst regierungsfreundliche Mehrheiten nicht leicht einen Einwand zu erheben pflegen. Diesen Standpunkt darf jeder unanfechtbar einnehmen; jeder, nur nicht ein Jude. Die ungarischen Volksvertreter haben nach rücksichtslosen Kämpfen gegen die Klerikalen die Zivilehe durchgesetzt. Sie wollten sie also und wollen sie noch. Sie würden sie voraussichtlich gegen Angriffe entschlossen verteidigen. Aber der Jude soll an der Verteidigung nicht teilnehmen. Der Jude hat kein Recht, für die Zivilehe einzutreten. Er stellt sie bloß. Er macht sie verdächtig. Wenn er sich auf die Seite des Gesetzes stellt, muss man für den Verächter des Gesetzes Partei nehmen. Das ist in Ungarn geschehen, in dem Ungarn, das für das Paradies der Juden gilt, dessen Hauptstadt die Wiener Antisemiten → Judapest nennen, das sich als eine Hochburg des europäischen Freisinns und Fortschritts angesehen wissen will. Von allen Seiten wird bestätigt, dass die klerikale Volkspartei sich dort immer kräftiger gliedert, dass sie im Volk immer tiefer Wurzel schlägt, auf die Regierung immer stärker drückt, im Parlament immer größeren Einfluss erlangt. Ihr wirksamstes Werbemittel aber ist Judenhass, und wenn sie zur Macht gelangt, so wird auch in Ungarn der Antisemitismus amtlich werden und die ungarischen Juden werden böse Tage erleben, die mageren Jahre nach den fetten, wie es seit Ägypten nicht aufgehört hat, die Daseinsnorm unseres Volkes zu sein. Und die Ursache dieses Wetterwechsels in Ungarn? Man suche sie nicht im Lande. Sie liegt in der Ferne. Sie liegt in Frankreich. Die katholische Kirche hat seit ihrer Entstehung keinen Augenblick lang aufhören dürfen, streitbar zu sein. Sie hat nie Wehr und Waffen ablegen dürfen. In ihrem ewigen Kampfe zählte sie lange Zeit die Siege nicht. Ihrem ersten großen Triumphe, der → Bekehrung des Kaisers Konstantin, den sie dankbar den Großen nennt, folgte eine lange Reihe anderer. Sie überwand und vernichtete die → arianische Ketzerei, die sie ernstlich bedrohte; sie zog in alle Staaten des europäischen Westens als Herrin ein; sie unterwarf sich die wilden asiatischen Magyaren, die letzten Heiden, die
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sich im Herzen Europas festsetzten; sie erhielt von der → Frömmigkeit Karls des Großen ein großes Gebiet, das sie mit weltlicher Macht unmittelbar regierte; sie wandte sich → erobernd gegen mohammedanisches Gebiet und schleuderte zwei Jahrhunderte lang Heer auf Heer in unser altes Palästina, in dessen Städten sie siegreich das Kreuz aufrichtete. Die erste Schlappe, die sie erlitt, war der → Abfall der griechischen Kirche unter dem Patriarchen Photios. Sie hat sie nie wettmachen können. Später musste sie Palästina aufgeben und die Festsetzung der Ungläubigen in → Byzanz und im Mittelländischen Meere geschehen lassen. Ihre lebenswichtigen Teile berührten diese Teilniederlagen allerdings nicht. Ein Stoß ins Herz war die → Reformation, die sie einen Augenblick lang in ihrem Dasein bedrohte. Dank dem → Jesuitenorden, → Karl V. von Habsburg und → Karl IX. von Frankreich wurden ihre Angelegenheiten wiederhergestellt. Sie eroberte einen großen Teil des verlorenen Gebiets mit Feuer und Schwert wieder, verzichtete klug auf das, was sie als unwiederbringlich erkannte, und übte innerhalb der Grenzen, die ihr der → Friede von Münster 1648 zog, ihre volle Gewalt. Den zweiten furchtbaren Schlag erlitt sie durch die → französische Revolution, die den Katholizismus durch Gesetz abschaffte, die Kirchen schloss oder in Klubs verwandelte und die Geistlichen verjagte oder → guillotinierte. Von da ab war Frankreich der Kriegsschauplatz, auf dem die katholische Kirche ihre Hauptschlachten schlug. Napoleon I. schloss mit ihr das → Konkordat, das ihre Revanche gegen die Revolution bedeutete. Unter der Restauration war sie allmächtig und schien von allen Wunden geheilt, die ihr das 18. Jahrhundert geschlagen hatte. Das Bürgerkönigtum gab ihr gelegentlich Beklemmungen, aber unter dem zweiten Kaiserreiche war sie ruhig. Als es zusammenbrach, kam eine Art Machtrausch über sie. Rom war verloren, der → Papst freiwilliger Gefangener im Vatikan, die Kirche aber glaubte ernstlich, sie werde → Frankreich zu einem Paraguay machen können, es unmittelbar oder durch einen König beherrschen, mit seinen Machtmitteln das geeinigte Italien zerschmettern und den Kirchenstaat wiederherstellen. Zuerst strebte sie diesem Ziele mit politischen Mitteln zu: durch die Wahl klerikaler Volksvertreter, durch Eroberung der Mehrheit im Parlament, durch die Bildung von Ministerien, die der Kirche auf den Wink gehorchten. Als aber diese Mittel versagten, Mac Mahon gestürzt wurde, das allgemeine Stimmrecht nach links abschwenkte, da arbeitete die Kirche mit einer wilden, ausschweifenden Demagogie, die → alle atavistischen Instinkte der menschlichen Bestie aufzupeitschen suchte. Sie bediente sich mit der Geschicklichkeit, die eine Errungenschaft anderthalbtausendjähriger Übung ist, des Antisemitismus, erfand den → Dreyfusfall, der den Verstand des französischen Volkes bis zum → Delirium und Wahnsinn verwirrte, ersann den Plan eines Staatsstreichs, einer Militärdiktatur, einer Ausrottung aller nichtkatholischen Elemente aus dem Offizierskorps, der Verwaltung, der Rechtspflege und spannte in zehnjährigem Ringen ihre Riesenkräfte bis zum Äußersten an, um diesen entscheidenden Feldzug zu gewinnen. Sie war dem Siege sehr nahe, verlor die Schlacht aber im letzten Augenblick und erlitt eine furchtbare Niederlage, vielleicht eine folgenschwerere, vernichtendere als durch Luther und → Calvin: Im
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Dreyfusfalle kam die Wahrheit an den Tag, Frankreich gab sich eine freiheitliche Regierung, die das napoleonische Konkordat zerriss und die Bande zwischen dem Staat und der Kirche löste, die Republik erkannte den Papst nicht mehr als Herrscher an, sie lieferte dem katholischen Gottesdienste nicht länger 45 Millionen jährlich aus Staatsmitteln und die katholische Kirche ist in dem Lande, das ihre mächtigste Stütze war, auf den Stand einer Privatvereinigung ohne gesetzliches Dasein und ohne öffentliche Rechte hinabgedrückt. Jeder fortschrittlich gesinnte, freidenkende Mensch auf Erden jubelte über diese Wendung; jeder war sich darüber klar, dass von der Niederlage der katholischen Kirche in Frankreich eine neue Epoche der Geschichte datierte; jeder begriff die ungeheure Bedeutung der Tatsache, dass zum ersten Mal in der Weltgeschichte ein großes, an der Spitze der Gesittung einherschreitendes Staatswesen sich für weltlich erklärte, mit der Religion nichts zu schaffen haben wollte und alles Übersinnliche aus seinem öffentlichen Recht ausschied. Die Juden sind in ihrer großen Mehrheit fortschrittlich gesinnt und freidenkend. Sie teilten den Jubel ihrer Gesinnungsgenossen über die Demütigung der aufs Haupt geschlagenen katholischen Kirche. Wie vorschnell! Wie kurzsichtig! Wir allein haben keinen Grund, uns über die Niederlage der Kirche zu freuen. Die katholische Kirche ist geschlagen, doch nicht vernichtet. In Frankreich geschwächt, sucht sie sich in anderen katholischen Ländern zu stärken. Ihr Hauptaugenmerk richtet sie auf Österreich-Ungarn. An der Donau sucht sie Entschädigung für die Verluste an der Seine. Österreich ist ihr längst sicher. Ungarn war bisher unzuverlässig, zu unabhängig, zu liberal, zu protestantisch, zu jüdisch. Hier galt es anzusetzen, einzudringen, zu erobern, den Besitz zu sichern. Klerikale Vorkämpfer gründeten die Volkspartei, die sich mit antisemitischen Reden und Tun dem Volk ins Herz schmeichelt. Die Arbeit der Kirche hat begonnen. Sie wird nicht stillstehen, bis Ungarn zur christlich-sozialen Wohlgesinntheit Österreichs gediehen ist. Die Juden Ungarns fühlen das Zittern des Bodens unter ihren Füßen. Sie wissen aber nicht, dass sie ein Fernbeben wahrnehmen, das große → Kataklysma in Frankreich. Es gibt keinen empfindlicheren → Seismographen als das jüdische Volk. Wo immer die Erde wankt, wo immer etwas zusammenbricht und einstürzt, die Juden in den vom Schauplatz der Umwälzung am weitesten entlegenen Gegenden fühlen es sofort. Im neuen Deutschen Reich regt sich der Freisinn, → das feudale Junkertum fühlt sich in seiner Alleinherrschaft bedroht, es lässt den „wissenschaftlichen“, den → „anthropologischen“ Antisemitismus los, und die Flutwelle des Rassen-Judenhasses rollt über die ganze Erde. Die Russen erheben sich gegen den Absolutismus, die Reaktion antwortet mit Pogromen, die mit Folter und Mord bedrohten Juden ergreifen in Massen die Flucht, und England gibt das Fremdengesetz, Amerika erlässt grausame Einwanderungsverbote, die britischen und nordamerikanischen Juden sehen in den Augen ihrer angelsächsischen Nachbarn einen Judenhass aufflammen, den das lebende Geschlecht in diesem Volke nicht gekannt hat. In Frankreich spielt
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die Kirche mit dem höchsten Einsatz auf den Kopf Dreyfus', sie verliert die Partie, und die Juden in Ungarn sehen das Gespenst der Verfolgung und Entrechtung vor sich aufsteigen. Das ist unser Los. Wir müssen vor der Reaktion zittern und dürfen uns über den Triumph des Fortschritts nicht freuen. Und wenn den Rückschrittsgewalten noch so hart zugesetzt wird, so stark bleiben sie immer noch, dass sie sich an uns rächen können. Und da leugnen Juden die Gemeinbürgschaft aller durch die Länder der Welt verstreuten Bruchstücke des jüdischen Volkes! Die englischen Juden müssen fühlen, dass sie mit den russischen zusammenhängen, die ungarischen werden zu spüren bekommen, dass sie mit den französischen eins sind. Vielleicht ist auch das zum Guten. Der Anschauungsunterricht und die Erfahrung am eigenen Leibe wird den zerrissenen Teilen des jüdischen Volkes allmählich doch die Tatsache seiner Einheit zum Bewusstsein bringen, und dann wird das Judenvolk für das Verständnis nicht nur der idealen, sondern auch der praktisch-politischen Seite des Zionismus reif sein. Quelle: ZS1, S. 346–352, dort mit Verweis auf die Quelle: → Die Welt, 1908 (= Die Welt, 15.4.1908, H. 16, S. 6–7).
58 Den Manen Theodor Herzls
58 Den → Manen Theodor Herzls Ob der Staub von uns geschieden, Schwebt doch über uns dein Geist, Der aus deinem Grabesfrieden Noch die Bahn der Pflicht uns weist. Ewig in des Volks Gedächtnis Lebt dein Werk und lebt dein Bild, Sieh, wir hüten dein Vermächtnis Treu, den stolzen → Davidsschild. In der → Zionsfahne Falten Wird dereinst dein Sarg gehüllt. Was du schworst, wir werden's halten, Und dein Sehnen wird erfüllt…
Quelle: ZS1, S. 396. Ferner in: Die Welt, 17.7.1908, H. 28, S. 14.
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59 Vorwort [zur ersten Auflage] → Zionistische Gesinnungsgenossen, die zugleich meine Freunde sind, haben in mich gedrungen, einige der Reden und Schriften, die ich seit → 1897 dem Zionismus gewidmet habe, in einen Band zu sammeln und allen, die an dem Gegenstand Anteil nehmen, zugänglich zu machen. Ich sage: einige, denn von mindestens fünfzig Reden, die ich in Paris, Mülhausen, Köln usw. zur Verbreitung, Erläuterung, Verteidigung des zionistischen Gedankens gehalten, ist keine Aufzeichnung bewahrt, und ebenso wenig erwies es sich als möglich, auch nur eine Auswahl der kaum zu zählenden Briefe an Zeitungen, Botschaften an Parteikongresse und öffentliche Versammlungen, Sendschreiben an Vereine und → Verbindungen, Beiträge für Gelegenheits-, Fest- und Jubiläumsschriften zu vereinigen, die ich im Laufe der Jahre zur Anfeuerung, Aufklärung und Abwehr zu schreiben genötigt wurde. Vollständigkeit war übrigens umso weniger mein Ziel, als bei der Gleichartigkeit des Gedankenkreises, der Anlässe, der Angriffe, der Einwände und Bedenken Wiederholungen des ermutigenden, berichtigenden und belehrenden Wortes nicht zu vermeiden waren. Die in dem vorliegenden Bande enthaltenen Aufsätze sind urkundliche Beiträge zur Geschichte der zionistischen Bewegung. Der aus den Quellen schöpfende Geschichtsschreiber, der ihr früher oder später erstehen wird – daran hege ich keinen Zweifel –, wird an ihnen nicht achtlos vorübergehen wollen. Sie sind meist im Gewühl und Tumult des Kampfes entstanden und tragen die Spuren ihres Ursprunges. Sie entsprachen den Notwendigkeiten des Tages. Sie spiegeln die Stimmungen wider, unter denen die Zionisten der ersten Stunde standen, als sie auszogen, um für ihre Anschauungen und Überzeugungen als Bekenner Zeugenschaft abzulegen und sie werbend zu verbreiten. Man kann in ihnen vielfach die wechselnden Aufregungen, Hoffnungen, Enttäuschungen, Begeisterungstrunkenheiten und bangen Sorgen verfolgen, die der mühevolle Entwicklungsgang des Zionismus als jüdische Volksbewegung in den Seelen seiner Verkünder heraufbeschwor. Es gab Augenblicke, wo mächtige Aufmunterungen uns mit so freudiger Zuversicht erfüllten, dass wir an der Schwelle unseres verwirklichten Zukunftstraumes zu stehen glaubten. Dann brachen bergsturzgleich Katastrophen auf uns nieder, → der Tod des Führers, Gemetzel, Verfolgung, Massenflucht unserer gehetzten Brüder, dass wir fast an der Gegenwart verzweifelten und an der Zukunft verzagten. Dieses Auf und Nieder unserer Erwartungen, diese Verdeutlichung und Verdämmerung unserer Pläne, diese Gezeiten unseres Geistes und Gemüts sind in den folgenden Seiten getreu verzeichnet. Zeit und Ort ihres Entstehens, die ihnen immer vorangesetzt sind, bieten den Schlüssel zu ihrem richtigen Verständnis. Sie bilden die Chronik des Zionismus, nicht wie er sich äußerlich gestaltete, aber wie er innerlich von seinem überzeugten Parteigänger erlebt wurde. Meine Freunde meinten, mein sechzigster Geburtstag sei ein passender Anlass zur Herausgabe meiner zionistischen Reden und Schriften. Ich möchte auf diesen
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Anlass keinen Nachdruck legen. Würde man zwischen dem Erscheinen dieses Buches und dem 29. Juli 1909 einen allzu engen Zusammenhang herstellen, so könnte man versucht sein, es gewissermaßen als einen Schlusspunkt zu deuten. Das ist indes meine Meinung nicht. Ich will auch nach meinem sechzigsten Geburtstage, solange Kraft und Leben reichen, für das geschichtliche Ideal des jüdischen Volkes wirken wie bis dahin. Paris, im Frühling 1909. Der Verfasser Quelle: ZS1, unpaginiert.
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60 Theodor Herzl Fünf Jahre sind hingegangen, seit er uns entrissen wurde. Im Leben kann man einen Ausnahmemenschen, einen → Genius verkennen. Nach seinem Tode aber vollzieht sich an ihm ein Wunder, das ihn hoch über die Menge erhebt und den Augen aller als das bezeichnet, was er war: → ein Bahnbrecher, ein Wegweiser, ein Befruchter, ein Kraftspender, ein Schöpfer neuer sittlicher Werte. Dieses Wunder ist die Umkehrung der Perspektive. Für den Durchschnitt gilt das optische Gesetz, dass die zeitliche wie die räumliche Entfernung ihn verkleinert; je weiter er zurückweicht, umso mehr schrumpft seine Erscheinung zusammen, umso undeutlicher wird sein Umriss, bis er zuletzt ganz verdämmert und aus dem Gesichtskreis verschwindet. Der Genius dagegen wächst in dem Maße, wie er in die Vergangenheit zurücktritt. Er wird immer größer, immer heller, immer schärfer umrissen, und die Nachgeborenen sehen ihn deutlicher, strahlender als die Mitlebenden. Dieses Wunder beobachten wir an Herzl. Heute, fünf Jahre nach seinem Tode, steht seine Gestalt groß und leuchtend da, uns allen nahe, hoch über alle hinausgewachsen, die ihm früher bis zum Scheitel zu reichen, ja ihn zu überragen schienen. Und er hat sein höchstes Maß noch nicht erreicht. Wer will noch bezweifeln, dass er ein Genius war, wie ihn die jüdische Geschichte nur einmal in Jahrhunderten hervorbringt? Er erstand dem jüdischen Volke zum Heile. Er wurde dem jüdischen Volke zu seinem Leid und Unglück viel zu früh entrissen. Aber noch sein Andenken wirkt als ein Segen, seine Gedanken sind eine dauernde Bereicherung seines Volkes, und diesen Besitz, das Vermächtnis Herzls, wird es nie verlieren, solange es lebt und ein Erbe anzutreten fähig ist. Paris, 19. Juni 1909. Quelle: ZS2, S. 467–468, dort mit Verweis auf die Quelle: → Die Welt, 1909, Nr. 28 (= Die Welt, 9.7.1909, H. 28, S. 2).
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61 Meine Selbstbiographie Ich bin in → Pest – damals gab es noch kein Buda-Pest – am 29. Juli 1849 mitten in dem Durcheinander des in den letzten Zügen liegenden → ungarischen Freiheitskampfes geboren. Drei Monate vor meiner Geburt mussten meine Eltern aus ihrer Wohnung in Pest fliehen und in einer Art Bauernhütte Zuflucht suchen. Sie retteten sich vor den → Bomben der Ofner Festung, die Pest beschoss, nach dem Stadtwäldchen, wo sie ganz schutzlos zwei schreckensvolle Nächte verbrachten. Meine Mutter war damals von der Gefahr bedroht, dass ihre Schwangerschaft zu einem vorzeitigen Ende gelangen würde. So fehlte wenig, und ich wurde ein Opfer der politischen Ereignisse. Das Schicksal wollte es aber anders. Es mochte mir die Prüfungen und Verantwortlichkeiten des Lebens nicht ersparen. Meine Mutter, die ich am → 2. Januar 1900 in ihrem 88. Lebensjahre verlor und die auf dem → Pariser Friedhof Montparnasse begraben liegt, war eine geborene Nelkin aus → Riga. Mein Vater, → More Morenu Haraw Rabbi Gabriel Ben Oser Ben Simcha Ben Mosche Ben Josef Südfeld – den Namen Nordau führe ich gesetzlich seit dem 11. April 1874 –, ist 1799 in → Krotoschin, im → Großherzogtum Posen, geboren und 1872 in Budapest gestorben. Mein Vater war Rabbiner. Sein Diplom hatte er von den → großen Rabbinern „Chawath Daath“ und → Rabbi Akiba Eger erhalten, er übte aber sein Rabbineramt nicht aus. Vielmehr hatte er sich vorgesetzt, seinen Lebensunterhalt als Lehrer zu verdienen. So wurde er Erzieher im Hause des Prager Rabbiners → R. Rappaport, alsdann beim Pressburger Rabbiner → Rabbi Mosche Sofer, und von dort kam er zur Familie Fischhof in Alt-Ofen. Der österreichische Politiker Dr. Adolf Fischhof war durch sechs Jahre sein Schüler. Mein Vater war ein streng religiöser Jude, und von seinem hebräischen und talmudischen Wissen legen seine Bücher in hebräischer Sprache, Prosa und Verse, Zeugnis ab. Er selbst gab mir den ersten hebräischen Unterricht, und ich war noch nicht neun Jahre alt, als er mit mir den → Pentateuch zum ersten Mal durchgenommen hatte. Zu Hause → nannte man mich → Simcha und den Vornamen Max wendete man nur in Gegenwart von Fremden an. Mein Vater war ein typischer → Maskil (Aufgeklärter), persönlich durch und durch erfüllt vom → Schulchan Aruch, wenngleich bereits mit einem Einschlag von Modernismus und voll Begeisterung für die berühmte „Mission des Judentums“, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts den verödeten Platz des jüdischen Volksbewusstseins einzunehmen begann. Das Ergebnis war, dass seinen Schülern, obwohl er ihnen die hebräische Sprache beibrachte, das jüdische Nationalgefühl fremd geblieben ist. Einige der Fischhofs wurden zu → Muster-Assimilanten, andere tauften sich, und ich selbst machte eine Assimilationsphase durch, aus der ich mich nur mit großer Mühe und sittlicher Anstrengung herausgearbeitet habe. In Pest besuchte ich zuerst die → jüdische Normalschule, dann kam ich in das katholische Staatsgymnasium und von der fünften Klasse an in das kalvinistische Gymnasium, wo ich die Reifeprüfung bestand. In beiden Gymnasien waren einige meiner Lehrer getaufte Juden. Ich erinnere mich noch, welchen Ekel die Abtrünni-
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gen durch ihre Frechheit, ihren ungarischen → Chauvinismus und ihren Antisemitismus in mir erregten. In meiner Gymnasialzeit erhielt ich Unterricht im Talmud durch einen rührend bescheidenen Gelehrten, → Herrn Freudenberg, und von → Herrn Mannheimer einen gründlich assimilatorischen „→ israelitischen Glaubensunterricht“, der im Auswendiglernen eines vom → Großherzoglich Badischen Konsistorium approbierten → „Katechismus der mosaischen Religion“ bestand. Der Religionsunterricht war für alle meine Kameraden ebenso wie für mich eine Stunde des Spottes und des Gelächters, des Unbehagens und Widerwillens, doch hatten wir für Herrn Mannheimer Achtung und Würdigung. Als ich auf die Universität kam und dort meinen medizinischen Studien oblag, musste ich anfangen, für mich und die Meinen Erwerb zu suchen, und fand ihn zuerst in der Redaktion von kleinen Blättern, dann aber, von meinem achtzehnten Jahre an, beim → „Pester Lloyd“. Im Frühling 1873 verließ ich Budapest. Viele Jahre habe ich in meinem jetzigen Wohnort, Paris, keine Berührung mit dem Judentum gehabt, und das einzige Band, das mich noch mit meinen Brüdern verknüpfte, war außer meiner frommen Mutter der → „Jichus“ meiner Familie, auf den ich sehr stolz war und, ich bekenne es, geblieben bin. Erst das Anwachsen des Antisemitismus weckte in mir das Bewusstsein meiner Pflichten gegenüber meinem Volke, und die Initiative fiel meinem teuren Freunde Herzl zu, zu dem ich in Paris in sehr nahe Beziehungen trat. Er wies mir den Weg zur Erfüllung meiner Pflichten gegenüber meinem Volke. Ich hoffe von ganzer Seele, dass der Zionismus dem jüdischen Volke seine Erlösung bringen wird. Mir hat er schon das Bewusstsein gegeben, dass mein Leben einen Zweck und einen Inhalt hat, und in dieser Zeit moralischer Schwäche und → Anarchie ist das ein genügend wertvoller Besitz, um jede Anstrengung zu lohnen und für alle Niedertracht bedenkenfreier Feinde zu entschädigen. → Paris, den 2. Juli 1909. Quelle: ZS2, S. 484–486. Ferner in: Eine Gartenstadt für Palästina. Festgabe zum siebzigsten Geburtstag von Max Nordau. Hg. v. Hauptbureau des Jüdischen Nationalfonds, Berlin 1920, S. 21–23.
62 Ein Nachtrag zu Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“
62 Ein Nachtrag zu Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“ Caput XXVIII. Der tote Dichter war aus dem Grab In Marmor auferstanden; Er zog mit jüdischem Wanderstab Umher in deutschen Landen. Er suchte ein Plätzchen, wo man Rast Dem fahrenden Sänger gewähre, Ein Blumenbeet um den steinernen Gast Und etwas Liebe und Ehre. Doch sieben Städte beschieden ihn scharf, Erst einzeln und dann im Chore: „Für Juden haben wir keinen Bedarf. Nachtwächter, schließt die Tore!“ Sie sangen im Brustton: „Lieb Vaterland, Magst ruhig sein. Keine Blitze Entfahren jetzt der gelähmten Hand: Wir fürchten nicht mehr seine Witze!“ Er irrte monde- und jahrelang Nun weiter wegeverloren; „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ klang Es oft ihm in die Ohren. Und zogen → Wallfahrer nach Kevelaar Vorbei am verstaubten Dichter, Dann johlte die psalmodierende Schar → „Hep! Hep!“ und schnitt ihm Gesichter. Doch sieh! Eine holde hohe Frau Erschien vor dem Irregänger: „Dir biet' ich als Heim einen Tempelbau, Mein auserwählter Sänger;
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Einen schimmernden Tempel und stolzen Palast Für Helden, Dichter und Fürsten, Dir, der du fürstlich geschenkt mir hast, Wonach wir auf Thronen dürsten.“ So ward ihm nach Lebens- und Todespein Die märchenhafte Belohnung: Auf griechischem Boden ein Lorbeerhain Als kaiserliche Wohnung, Über seinem Haupte des Firmaments Ionisch azurener Bogen, Um ihn des Südens ewiger Lenz Und des hallenden Meeres Wogen, Und heiter olympischer Freundesverkehr Mit Apollo, dem liederreichen, Mit Achilles, Ulysses, dem alten Homer, Kurzum: mit seinesgleichen. Oft tönte leis in der Zaubernacht Der götterbewohnten Kerkyra Zu der Nachtigallen Liederpracht Begleitend seine Lyra. Das währte, solang ein Glück wohl währt: Zu rasch ist's immer geschwunden! Den Sterblichen sind karg beschert Die → halkyonischen Stunden. Es schritt das schwarze Verhängnis: Ein Weh Ließ alle Lippen erbleichen – Die blumenfeine gekrönte Fee Erlag eines Unholds Streichen. Ein → Hegewisch vor dem heiligen Hain Entehrte den Tempel Achilles': Er soll des ersten Bieters sein! Der Erbe der Fürstin will es.
62 Ein Nachtrag zu Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“
Es kamen und boten und feilschten dreist Weltbummler und kalte Protzen; Die überschlugen den Wert im Geist Und schätzten mit frechem Glotzen Spielhölle? Karawanserei? Heilbude? So schwirrt's um die Wette. Das Schicksal fügt': Eines Kaisers sei Aufs neu die geweihte Stätte. Den Göttern Hellas' ein Dankgebet Für solche gnädige Wendung! Nun ist in der Hut der Majestät Der Dichter sicher vor Schändung. Jawohl! Alsbald ward inspiziert Die Erwerbung von hingeschickten Geheimen Räten. Die waren schockiert, Als sie das Steinbild erblickten. „→ Ein Luginsland schön wie ein Traum Ist des Palastes Warte; Doch ist für einen Heine kein Raum Unter des Kaisers Standarte.“ Es warfen ihn derbe Fäust' am Genick Aus dem Tempel unverweilet – So hatt' ihn sein altes Judengeschick Auch im → Achilleion ereilet.
Quelle: ZS1, S. 399–402.
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63 Die psychologischen Ursachen des Antisemitismus → Herr Momigliano beginnt seine Berichtigung der → Bemerkungen des Herrn Loria über „die wirtschaftlichen Grundlagen des Antisemitismus“ mit einer Verbeugung vor der „unbestreitbaren Autorität“ jenes hervorragenden Volkswirts. Nun denn, ich bedaure, diese Autorität durchaus bestreiten, ja sie sogar, insoweit der Antisemitismus in Betracht kommt, unbedingt leugnen zu müssen. Indem er behauptet, dass die → Judenverfolgungen im Mittelalter und in unseren Tagen durch die Eifersucht des „getauften“ Kapitals gegen das „beschnittene“ Kapital verursacht worden wären, beweist er damit, dass er keine blasse Ahnung von der Frage hat. Ich vermute sogar, dass Herr Loria, wie die meisten der vollständig → „assimilierten“ Juden, sich überhaupt in tiefster Unkenntnis des Judentums, seiner gegenwärtigen Lage und seiner Daseinsbedingungen befindet. Man bildet sich ein, dass jemand, der jüdischen Ursprunges ist, deshalb auch die → Judenfrage oder wenigstens einige ihrer Anblicke kennen müsse, und man wendet sich an ihn, um über diese Frage zuverlässige Auskunft zu erhalten. Tatsächlich aber haben die „assimilierten“ Juden jegliche Fühlung mit ihrer Rasse verloren, wissen von ihr nicht das Geringste, ja setzen einen gewissen Stolz darein, mit dieser Unwissenheit Staat zu machen. Sie studieren die → Feuerländer und suchen Aufklärung über die → Lappen; sie lesen alles, was über die → Botokuden veröffentlicht wird, und bringen den → Papuas ein lebhaftes Interesse entgegen. Der einzige Teil der Menschheit, der ihnen nicht der geringsten Aufmerksamkeit würdig scheint, sind die Juden. Sie bilden sich ein, diese edlen Seelen, dass die Christen nur unter dieser Bedingung ihre „Assimilation“ für waschecht halten würden. Ich mache diesen Vettern, die sich unsrer schämen und ihre Familie verleugnen, keinen Vorwurf daraus, dass sie uns den Rücken kehren. Ich verlange aber von ihnen, der Logik ihrer Haltung treu zu bleiben. Wenn man sie um Auskunft über uns angeht, sollten sie die Antwort verweigern, um so jede Täuschung über ihr Verhältnis zu uns zu zerstreuen und ihre Unzuständigkeit ehrlich einzugestehen. Herr Loria erblickt die Ursache des Antisemitismus im jüdischen Reichtum. Dieser Irrtum kann sich nur daraus erklären, dass er seine Kenntnisse von den Juden ausschließlich aus antisemitischen Quellen schöpft. Der „Judenreichtum“ existiert nicht. Er ist eine vom Hass eingegebene Erfindung der Antisemiten. Weit entfernt, die Ursache des Hasses gegen die Juden zu sein, ist jener Reichtum eine nachträglich ausgedichtete → Fabel, um den Gefühlen, die von den Verbreitern dieser Fabel gegen uns an den Tag gelegt werden, den Schein einer Erklärung zu geben. Die Wahrheit ist, dass das jüdische Volk, als ein Ganzes betrachtet, bei weitem das ärmste aller gesitteten Völker ist. Es mag vielleicht wilde Stämme geben, die in noch größerem Elend leben, diese aber empfinden ihr Elend nicht, während die Juden es bitterlich fühlen. Denn sie haben alle Bedürfnisse des Kulturmenschen, ins-
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besondere auch ein unbezwingbares Bedürfnis zu lernen und zu arbeiten, und sie haben kein Mittel, diese Bedürfnisse befriedigen zu können. Will man Ziffern? Ich gebe sie gern. 80 Prozent sämtlicher Juden der Welt sind zu chronischer Unterernährung verurteilt. Ihre wirtschaftliche Höhe steht tief unter derjenigen aller Proletariate der Welt. Denn der christliche Proletarier hat wenigstens das Recht, Arbeit überall zu suchen, wo er sie finden kann, während der Jude in Russland und in Rumänien, wo eine jüdische Bevölkerung von 6 250 000 Seelen lebt, zum → Zwangswohnsitz („domicilio coatto“) in einigen Städten verurteilt ist, in welchen es für ihn keine Arbeit gibt und wo ihm gerade nur die Wahl zwischen zwei Entscheidungen bleibt: entweder zu betteln und langsam zu verhungern oder rasch zu verhungern, indem er nicht einmal bettelt. 17 Prozent sämtlicher Juden verdienen mühselig gerade ihre Notdurft, indem sie, infolge der sie umgebenden Feindseligkeit, gezwungen sind, das Doppelte zu leisten, um denselben Arbeitsertrag zu erzielen wie ihr christlicher Wettbewerber. Allerhöchstens drei Prozent sind wohlhabend, wenn nicht reich. Darunter befinden sich vier oder fünf Familien – nicht mehr! –, deren Namen, vom Hasse umhergetragen, in der ganzen Welt bekannt sind. Keine dieser Familien, weder die → Rothschilds noch die → Hirsch noch die → Bleichröder noch die → Poliakoff stehen auf der Liste der für den modernen Kapitalismus bezeichnenden Milliardäre: der → Astors, der → Rockefellers, der → Goulds, der → Vanderbilts, der → Morgans, der → Carnegies usw. Dazu wird ihr Vermögen von der maßlosen Reklame, die der Antisemitismus ihnen zum angegebenen Zwecke macht, ungeheuerlich überschätzt. Es ist demnach sinnlos und schändlich, vom „Judenreichtum“ zu sprechen; man müsste vielmehr immer und überall das scheußliche Elend der ungeheuren Mehrheit der Juden laut hinausschreien, das für ihre Verfolger eine Schmach und wider die Regierungen eine entehrende Anklage bildet, da es ausschließlich den Ausnahmegesetzen zuzuschreiben ist, die den Juden verbieten, ihre Kräfte und Fähigkeiten zu gebrauchen, um ihre Notdurft zu verdienen. Da es also einen „Judenreichtum“ nicht gibt, kann er auch nicht die Ursache des Antisemitismus sein. Man kann übrigens noch auf anderem Wege die unbedingte Falschheit der Erklärung des Herrn Loria nachweisen. Wo sind denn die Hauptherde des Antisemitismus? Wo nimmt er die wildesten, tödlichsten Formen an? In → Russland, in Rumänien, in Galizien. Das heißt gerade in den Ländern, wo die Juden als wirtschaftlicher Faktor gar nicht in Betracht kommen. Diejenigen Juden, die dort etwas besitzen, bilden eine seltene Ausnahme. Sie haben weder Schlösser noch Häuser, weder Wagen noch Mätressen, sie besitzen weder Banken noch Fabriken noch Eisenbahnen; selbst an den Börsen jener Länder verschwinden sie unter der großen Mehrheit der Christen. Sie sind keine Wettbewerber der Christen. Sie können das „getaufte“ Kapital nicht stören, da sie neben diesem eine zu vernachlässigende Größe sind. Was bleibt also von dem Beweis des Herrn Loria übrig?
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Gerade dort, wo einige → jüdische Millionäre zu finden sind, in England, in Amerika, in Holland, gibt es keinen oder doch nur einen viel milderen Antisemitismus als in den Ländern, wo die Juden Bettler sind. In Frankreich gibt es reiche Juden und es gibt dort auch seit einigen Jahren einen rasenden Antisemitismus. Aber dieser Antisemitismus kehrt sich nicht gegen den Reichtum der Juden, sondern gegen ihren angeblichen Mangel an Vaterlandsliebe, gegen ihren → „Internationalismus“. In Deutschland, das ist richtig, spielen die Juden eine überwiegende Rolle an der Börse und nehmen einen hervorragenden Platz im Bankwesen und in der Industrie ein. Was sehen wir aber dort? Gerade die reichen Juden werden mit amtlichen und gesellschaftlichen Ehren überhäuft, während die Verfolgung sich ihre Opfer einzig und allein unter jenen aussucht, die nichts oder wenig haben und die ihre Begabung anderswo als an der Börse und in der Bank zur Geltung zu bringen suchen. Wo sehen Sie denn einen jüdischen Millionär, der um seiner Rasse und Religion willen verfolgt wäre und zu leiden hätte? Welche Juden sind es, die mit Grafenund Freiherrntiteln aufgeputzt werden? Sind es etwa Gelehrte, Schriftsteller, Künstler? Nie und nimmer! Es sind durchweg, ohne eine einzige Ausnahme, Geldleute oder ihre Nachkommen. In Rumänien sind die einzigen Juden, die infolge des → Berliner Kongresses von 1878 Bürgerrechte erlangt haben, Banker. In Russland sind die einzigen Juden, die im ganzen Reiche wohnen dürfen (außer denen, die ein Hochschuldiplom besitzen, deren Zahl übrigens wegen des geringen Prozentsatzes der zu den Hochschulen zugelassenen Juden verschwindend ist), die → Kaufleute der „ersten Gilde“, d. h. diejenigen, die eine hohe Steuer entrichten, welche Reichtum oder eine hervorragende Stellung in der Handelswelt voraussetzt. In Frankreich sind die → Rothschilds Mitglieder des Jockey-Clubs und → die Heines verheiraten ihre Tochter mit einem regierenden Fürsten. Es ist also nicht wahr, dass man die Juden wegen ihres Geldes hasst. Denn erstens sind die → Geldjuden eine sehr seltene Ausnahme und zweitens sind es gerade die wenigen Geldjuden, die unter dem antijüdischen Hass nicht im mindesten leiden, nirgendwo verfolgt werden und selbst in den Ländern, wo der Antisemitismus am rasendsten wütet, Gegenstand aller möglichen Rücksichten der Regierungen, der Gesellschaft und ihrer christlichen Wettbewerber sind, in den Adelsstand erhoben werden, amtliche Titel und Orden erlangen und sich aller Rechte und selbst der meisten Vorrechte der bevorzugtesten Aristokratien erfreuen. Herr Momigliano kommt der Wahrheit viel näher, wenn er darauf hinweist, dass es die herrschenden Klassen sind, die, indem sie den Antisemitismus auf jede Weise fördern, auf die Unwissenheit und die Vorurteile der Menge spekulieren und die Wut der Unzufriedenen über den Kapitalismus und die Missetaten der Regierenden gegen die Juden abzulenken suchen. Allein das ist lediglich eine Feststellung von Tatsachen, doch keine Erklärung. Woher kommen die Vorurteile der Menge? Woher ihr vorbestehender Hass gegen die Juden, den die herrschenden Klassen bloß zu schüren, wachzuhalten, zu ihrem Vorteil abzulenken brauchen?
63 Die psychologischen Ursachen des Antisemitismus
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Auf diese Frage antwortet Herr Momigliano nicht. Ich werde versuchen, es statt seiner zu tun. Der Hass gegen die Juden wurzelt in einer der ursprünglichsten und allgemeinsten Eigentümlichkeiten des menschlichen und selbst des tierischen Denkens. Jedes mit Bewusstsein begabte Wesen empfindet alles feindlich, was sich von ihm in der Erscheinung, der Wesensart, den Gewohnheiten unterscheidet – von jenen seltenen Fällen abgesehen, wo das andersgeartete Wesen mit einem → Nimbus umgeben ist, der es zu einem Gegenstande der Bewunderung macht. In der Regel braucht jemand bloß anders zu sein als wir, um uns unangenehm zu sein. Dies ist eine der Formen des → Misoneismus, jenes Verteidigungsmittels des Organismus gegen die Anstrengung der Anpassung, das von meinem großen Lehrer Cesare Lombroso meisterhaft analysiert und benannt wurde. Wenn nun diejenigen, die sich von uns unterscheiden, eine geringe und schwache Minderheit sind, so empfinden wir nicht das Bedürfnis, gegen unsere Abneigung anzukämpfen oder sie auch nur zu verheimlichen, und die Frechheit, mit der sie sich äußern darf, begünstigt ihre Entwicklung. Dies ist die allgemein menschliche Ursache des Hasses jeder Mehrheit gegen jede in ihrer Mitte lebende Minderheit, die durch gewisse eigenartige Züge leicht auffällt. Was speziell uns Juden betrifft, so gesellen sich zu jener allgemeinen Ursache der fortlebende alte → Fanatismus gegen die → „Gottesmörder“ und ein Widerhall der abergläubischen Fabeln des Mittelalters über allerhand jüdische Missetaten wie den → Ritualmord, den Hostiendiebstahl usw. Die Feindseligkeit gegen eine andersgeartete Minderheit bezeichnet diese mit der Notwendigkeit eines psychologischen Gesetzes als den ewigen Sündenbock für alle Fehler und alles Unglück der Mehrheit. Wenn die nach Herkunft und Glauben gleichgearteten Völker des Altertums von irgendeinem öffentlichen Unglück heimgesucht wurden, wofür sie eine zureichende Erklärung in ihren eigenen Fehlern nicht fanden oder auch nicht suchten, so vermuteten sie, dass ihre Nationalgötter ihnen zürnten. In allen den Fällen, in denen jene Völker wegen ihres Unglücks die Götter anklagten, halsen die modernen, aufgeklärten Völker die Verantwortung den unter ihnen lebenden Juden auf. Es ist genau derselbe Aberglaube, nur in einer Verkleidung, die ihn modernen Geistern annehmbarer erscheinen lässt. Und weil die Ursache des Antisemitismus eine psychologische Eigentümlichkeit des Menschen ist, glaube ich, im Gegensatz zu Herrn Momigliano, ganz und gar nicht, dass der Antisemitismus eine „vorübergehende Erscheinung“ ist und rasch verschwinden wird. Er wird erst verschwinden, wenn Juden aufgehört haben, als solche unter anderen Menschen erkennbar zu sein, d. h. wenn sie ihre Religion, ihre Rassenüberlieferungen, ihre alten Sitten, ja selbst ihren → anthropologischen Typus verloren haben. Und da diese vollkommene Assimilation mir schwierig genug erscheint, um sie als nahezu unmöglich bezeichnen zu können, so halte ich den Antisemitismus für eine ewige Begleiterscheinung des Daseins der Juden als einer schwachen Minderheit unter den anderen Nationen und erblicke das einzige Heilmittel gegen ihn in der Rückkehr der jüdischen Menge nach Palästina, wo sie nicht
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mehr eine Minderheit, sondern eine Mehrheit bilden und dadurch der Wirkung des eben definierten psychologischen Gesetzes entgehen würde. Quelle: ZS1, S. 360–36, dort mit Verweis auf die Quelle: → La Vita Internazionale.
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64 [Widmung zur ersten Auflage] Dem machtvollen → Tribun, der, ein neuerstandener → Jeremias, mit herzerschütternder Kraft die Klagen unseres Volkes verkündete, dem sprachgewaltigen Anwalt unseres Rechts, dem → Herold unseres → Zionsideals Max Nordau
29. Juli 1909
zu Ehren seines sechzigsten Geburtstages widmet, in tiefempfundener Anerkennung seiner unvergänglichen Verdienste, diese Volksausgabe seiner zionistischen Reden und Schriften, den Zeitgenossen ein vom Licht des → Genius umstrahlter Leuchtturm, der Nachwelt ein glorreiches Denkmal → Das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation
Quelle: ZS1, unpaginiert.
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65 Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert → Nächst dem 1. Jahrhundert nach Christi Geburt, in das die → Zerstörung des zweiten Tempels und des jüdischen Staates durch die Römer fällt, sind das 19. und das begonnene 20. Jahrhundert die wichtigsten Abschnitte der Geschichte des jüdischen Volkes, diejenigen, die für seine Erdengeschicke die entscheidendsten sind. Indem ich diese Behauptung aufstelle, weiß ich mich durchaus frei von jener besonderen subjektiven Illusion, die der kürzlich verstorbene Grazer Soziologe Professor → Gumplowicz mit einem glücklich geprägten Fremdworte → Akrochronismus nannte und die darin besteht, dass man sich einbildet, die Zeit, in der man selbst lebt, sei die merkwürdigste und bedeutungsvollste aller Zeiten. Gestatten Sie mir, die objektiven Gründe kurz zu entwickeln, aus welchen ich dem 19. und 20. Jahrhundert die Bedeutung einer Schicksalswende für das jüdische Volk beimesse. Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts waren der Rechtsstand der Juden in den europäischen Ländern und ihr Verhältnis zu den Völkern, in deren Mitte sie lebten, weder schwankend noch zweifelhaft. Alle Welt war darin einig, sie als Fremde zu betrachten. So sahen Regierungen und Völker, so sahen sie selbst sich an. Ob man sich wohlwollend oder feindlich zu ihnen stellte, ob sie willkommen oder lästig waren, ob man sie gastlich aufnahm oder sich weigerte, sie bei sich zu dulden, als Fremde empfand man sie in jedem Falle, und alle ihre öffentlichen und privaten Beziehungen waren vom Fremdenrechte bestimmt, und zwar dem schlechtesten Fremdenrechte, demjenigen, das nicht auf Vertrag und Gegenseitigkeit beruhte und keine andere Sanktion hatte als die Bereitwilligkeit des Stärkeren, sich altem Herkommen zu fügen und einiges Mitleid walten zu lassen. Dass die Juden dauernd und unabänderlich als Fremde angesehen wurden, auch wenn sie seit Jahrhunderten in einem Lande siedelten, auch wenn sie es weit länger bewohnten als das Volk, das sie Fremde nannte, das hat seine Erklärung in ihrer Geschichte, in der herrschenden Rechtsordnung, in der allgemeinen Weltanschauung. Zu einer Zeit, als der Geschichtssinn ebenso unentwickelt war wie die Geschichtskenntnis und selbst die Gebildeten, oder was man damals so nannte, von der Vergangenheit ihres Volkes, soweit sie sich überhaupt um sie kümmerten, die abenteuerlichsten und fabelhaftesten Vorstellungen hatten, war das einzige Volk, dessen Geschichte in ihren großen Zügen jedermann kannte, das jüdische. Es gab nur ein Buch, das durch die ganze gesittete und halbgesittete Welt verbreitet war, und das war die Bibel. Jedermann kannte sie. Die Geistlichen und Schriftgelehrten lasen sie, das Volk erfuhr manches aus ihrem Inhalt durch die Predigt, die → Mysterien, die bildlichen Darstellungen in Kirchen und Klöstern. Aus der Bibel kannte man ungefähr die äußeren Geschicke des jüdischen Volkes. Man wusste, dass es einst das auserwählte Volk Gottes gewesen war, sein eigenes Land mit der herrlichen Stadt Jerusalem und dem Wunderwerke des heiligen Tempels gehabt hatte, daraus mit dem Schwerte verjagt und in alle Welt zerstreut worden war. Es hatte
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dieses Unglück durch eine unerhörte und unsühnbare Missetat verdient: durch die verstockte Zurückstoßung des Heils und desjenigen, der es ihm brachte, durch einen → ruchlosen Justizmord an dem Gottessohn, der als eine der Personen der Dreifaltigkeit Gott selbst war. Die Bibel erinnerte beständig an die Herkunft der Juden aus dem fernen Morgenlande, und auch daran, dass sie Besiegte, Landflüchtige, mit einem besonderen Fluche Beladene waren, dass Heimatlosigkeit als ewige Strafe über sie verhängt war. Jede Wanderung, jeder Volkseinfall in ein Land wurde nach einigen Geschlechtsaltern vergessen. Die Franken waren bald keine Fremden in dem nach ihnen benannten Gallien, die Langobarden keine in dem Oberitalien, dem sie gleichfalls ihren Namen gaben; die Normannen waren keine Fremden in England, die → Magyaren keine in Ungarn, die Osmanen keine in → Byzanz. Die Juden blieben immer Fremde; denn sie waren nicht als Eroberer gekommen, hatten sich auch nicht lautlos und unbemerkt eingeschlichen, sondern ihre Einwanderung war eine vergebliche Flucht vor einem unentrinnbaren Verhängnis, sie war ein denkwürdiges Ereignis, das → mystische Zusammenhänge mit der Religion hatte und das die Kirche dem Volksbewusstsein beständig gegenwärtig hielt. Die Kenntnis der Ursprünge aller anderen Klassen und Stämme eines Volkes verdämmerte rasch. Bloß den Juden gegenüber konnte dieser Vorgang nicht Platz greifen. Die Bibel hielt das Gedächtnis der Völker frisch. Der zweite Grund, weshalb die Juden von den Völkern dauernd als Fremde aufgefasst werden mussten, war, dass sie nie förmlich in ihre Rechtsgemeinschaft aufgenommen worden waren. Im ganzen Mittelalter und noch weit darüber hinaus war der Begriff natürlicher Rechte, die dem Menschen angeboren sind und nie verjähren, gänzlich unbekannt. Ein jeder besaß nur die Rechte, die ihm ausdrücklich in bestimmter gültiger Form verliehen wurden, und keine anderen. Die Quelle alles Rechts war das Schwert, war die Macht. Der Landesherr allein zog jedem seiner Untertanen den Rechtskreis, in dem er leben musste und sich bewegen durfte. Er konnte seine Vollmacht auf andere übertragen, aber in letzter Reihe ging jedes Recht auf ihn zurück und musste von ihm erworben, sei es in Gnaden erlangt, sei es ihm abgetrotzt werden. Jedes Recht musste sich mit Brief und Siegel ausweisen. Was sich nicht auf eine Verleihungsurkunde oder eine wohlbezeugte rechtssymbolische Handlung berufen konnte, das bestand nicht. Alle Rechte der Stände, der Gilden, Zünfte und Innungen, der Städte und Gemeinden mussten ihre ordnungsmäßigen Standespapiere besitzen, was ihre Nutznießer allerdings nicht der Notwendigkeit enthob, jederzeit zu ihrer Verteidigung mit bewaffneter Faust bereit zu sein. Was kein Pergament besaß, das war rechtlos, das war → vogelfrei. Aber dieser Zustand der Ausgeschlossenheit aus dem Gefüge der verbrieften Rechte schien dem mittelalterlichen Denken so ungeheuerlich, dass es sich ihn kaum vorstellen konnte und z. B. selbst den fahrenden Leuten, den fremden → Marktfahrern von unbekannter Herkunft, den forenses, die grundsätzlich keinen Rechtsstand hatten, wenigstens ein Gewohnheitsrecht zubilligte, das eine Art Parodie des wirklichen Rechtes war. Bettler und Gaukler bildeten eine Zunft nach dem Muster der ehrbaren Zünfte sässi-
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ger bürgerlicher Handwerker, Possenreißer und Taschendiebe hatten ihre Vorsteher und Könige, die von den Behörden anerkannt wurden, und wir kennen aus den mittelalterlichen Urkunden sogar die Einrichtung der → Abbatessa mulierum levium, „Äbtissin der leichtfertigen Frauenzimmer“. Die Juden allein standen außerhalb dieser festgefügten Rechtsordnung, in die alle anderen Landesbewohner eingeschachtelt waren. Für sie war in keiner der Zellen des ständischen Gemeinwesens Raum. Sie hatten keinen Anteil an den Vorrechten einer Klasse oder an dem Freibrief einer Stadt. Sie wurden in keine Zunft aufgenommen. Sie konnten sich auf keine verliehenen Gerechtsame berufen. Die Urkunden, die über sie ausgestellt wurden, erteilten ihnen keine Rechte, sondern schlossen sie ausdrücklich aus dem gemeinen Rechte aus. Sie erhielten höchstens Schutzbriefe, die im besten Fall auf eine bestimmte Frist lauteten, in der Regel aber nach Willkür zurückgenommen werden konnten und oft genug unbedenklich gebrochen wurden. Man duldete sie, soweit sie nötig oder nützlich schienen, und verjagte sie, wenn man ihrer Dienste nicht zu bedürfen glaubte. Diese Rechtlosigkeit drückte den Juden für eine mittelalterliche Anschauung den unverwischbaren Stempel der Fremdheit auf und ließ die Vorstellung einer Zusammengehörigkeit mit den christlichen Landsleuten nicht aufkommen. Der dritte und überragendste Grund aber, aus dem sie immer als fremd empfunden werden mussten, war der Unterschied der Religion. Diese war damals das einzige einigende Band nicht materieller Natur zwischen den Menschen. Ein anderes Zusammengehörigkeitsgefühl als das der Glaubensgemeinschaft kannten sie nicht. Der Begriff der Menschheit und der Brüderlichkeit im Menschentum, zu dem die edelsten → Hellenen und die → großen Propheten Israels sich erhoben hatten, war der feudalen Welt verloren gegangen, Vaterlandsliebe und Nationalgefühl sollten erst später erwachen. Ganz vereinzelt mochten sich einige Geister der Auslese zu einer gewissen Duldung gegen Andersgläubige durchringen, die mit einer starken Beimischung von mitleidiger Geringschätzung versetzt war, doch im Allgemeinen betrachtete man in den Jahrhunderten des Glaubens den Bekenner einer anderen als der herrschenden Religion als im Grunde gar nicht zur Menschheit gehörig. Er hatte keinen Anspruch auf die Würde der → Gotteskindschaft. Man schuldete ihm keine Rücksicht. Er war ein Heide, das heißt ein Untermensch, kaum mehr als ein Tier. In dieser Anschauung begegnete der Moslem sich mit dem Christen. Bei der überragenden Bedeutung der Religion im Leben der Einzelnen wie der Gesamtheiten jener Zeiten musste der Glaubensunterschied zwischen den Juden und den Völkern, in deren Mitte sie lebten, eine unübersteigbare Scheidewand aufrichten. Über Verschiedenheiten der Sprache, der Sitten und Bräuche, selbst der Hautfarbe kam das Bewusstsein der früheren Jahrhunderte leicht hinweg, über solche der Religion niemals. Die Juden ergaben sich in ihr Los von ewigen Fremdlingen, die viele Jahrhunderte hindurch auch äußerlich durch → vorgeschriebene Merkmale an den Kleidern und durch einen → besonderen Haar- und Bartschnitt als solche gekennzeichnet waren. Das wohlige Behagen des Heimischseins blieb ihnen versagt. Sie kannten es
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höchstens als eine Sehnsucht, als einen Glückstraum, der sich auf Erden nicht verwirklichen kann. Sie fanden sich damit ab, dauernd das ägyptische Osterdasein zu leben, die Lenden gegürtet, den Wanderstab in der Hand, das → hastig gedörrte Brot ohne Sauerteig im geschnürten Bündel. Es ist ein Gemeinplatz, es ein Wunder zu nennen, dass die Juden sich inmitten der sie umgebenden Widerwärtigkeiten erhalten konnten, dass das Judentum die schrecklichen Jahrhunderte der Verfolgung überdauerte. Vielleicht ist dies weniger wunderbar, als es scheint. Es erklärt sich, glaube ich, natürlich genug. Einmal waren die Verfolgungen keine planmäßigen Veranstaltungen, die in allen christlichen Ländern auf Verabredung gleichzeitig stattfanden. Sie brachen bald hier, bald dort aus, suchten bald diesen, bald jenen Teil der Judenschaft heim, konnten aber das jüdische Volk nicht in seiner Gesamtheit treffen, da es durch die ganze Welt zerstreut und niemals ganz und gar der Gnade eines einzigen Volkes ausgeliefert war. Das jüdische Volk war nicht organisiert. Es hatte keinen Mittelpunkt. Es hatte kein Haupt und Hirn. Es war unmöglich, es durch einen einzigen Streich tödlich zu treffen. Es zerfiel in unzählige Zellen, deren jede ihr besonderes Dasein führte. Es hatte tausend Leben, und jedes hätte für sich vernichtet werden müssen, damit das jüdische Volk zu leben aufhöre. Der Mangel einer nationalen Organisation, einer einheitlichen Zusammenfassung seiner materiellen und geistigen Kräfte, hatte den ungeheuren Nachteil, es zu jeder höheren Volksleistung unfähig zu machen. Er hatte den einen Vorteil, ihm die Unzerstörbarkeit zu sichern. Sie kennen ohne Zweifel alle den häufig wiederholten Versuch an gewissen wenig differenzierten Organismen, in denen das Leben durch den ganzen Leib nahezu gleichmäßig verteilt ist. Man kann beispielsweise den → Süßwasserpolypen in unzählige kleine Stückchen zerschneiden. Diese Zerstückelung tötet ihn nicht. Jedes winzige Stückchen ist der Träger seines eigenen dumpfen, niedrigen, trägen Lebens, es überdauert die Zerschneidung, es lebt weiter und wächst sich allmählich zu einem ganzen Polypen heraus. Eine Operation, die den Süßwasserpolypen zerstören sollte, hat nur die Folge gehabt, so viele neue vollständige Exemplare zu schaffen, als man Stücke aus dem ersten geschnitten hat. Ähnlich hatte jede Zerreißung und Zersprengung der jüdischen Gemeinden, soweit sie nicht Mann für Mann hingeschlachtet wurden, nur die Wirkung, an anderen Stellen zahllose neue kleine Zentren zu schaffen, die sich, wenn ihnen dazu die Zeit gelassen wurde, zu ebenso vielen Vollgemeinden auswuchsen. Den Feinden des jüdischen Volkes hat es nie an dem guten Willen gefehlt, ganze Arbeit zu tun. Hätten König Richard Löwenherz von England, Philipp der Schöne von Frankreich, die Kirchenfürsten, weltlichen Herren und → Reichsstädte des Rheinlandes zur Zeit der → schwarzen Pest, → Ferdinand und Isabella von Spanien nach der Eroberung von Granada das ganze jüdische Volk in ihrem Machtbereich gehabt, sie würden es wahrscheinlich mit Stumpf und Stiel ausgerottet haben. Sie konnten aber nur Bruchteile erreichen. Gegen diese wüteten sie ohne Erbarmen. Sie vergossen Ströme jüdischen Blutes. Sie schonten das Kind im Mutterleibe nicht.
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Aber die Grenze ihres Landes setzte ihrem Würgen ein Ziel und ihre Gewalttaten berührten die Judenschaft der Nachbarländer nur insofern, als sie die wenigen Flüchtlinge, die dem Verderben entronnen waren, aufzunehmen hatte und durch ihr Erscheinen aus einem etwaigen Gefühle der Sicherheit aufgeschreckt und mit banger Sorge um das eigene Los erfüllt wurde. Aber wenn die → Zerstreuung des jüdischen Volkes durch die ganze Welt und der Mangel an Gleichzeitigkeit seiner Verjagung, Verfolgung oder Hinmordung an seinen verschiedenen Aufenthaltsorten einfach genug erklären, dass es diese Heimsuchungen materiell überdauern konnte, so bleibt es immer noch erstaunlich, dass es ein derartiges Dasein der äußersten Unsicherheit, des ewigen Bangens und Zagens vor der nächsten Stunde zu ertragen imstande und bereit war. Mit Wundern ging indes auch dies nicht zu. In den Jahrhunderten ihres äußersten Elends lebten die Juden in einem eigentümlichen halluzinatorischen Traumzustand, der sie für die grauenhafte Wirklichkeit wohltuend unempfindlich machte. Sie widmeten ihrer augenblicklichen Lage kaum einen Gedanken, sie versuchten nicht einmal, sich von ihm klare Rechenschaft zu geben. Wenn sie sich aus der dumpfen Ergebung in das Unabänderliche erhoben und den Blick über die engste Gegenwart hinausschweifen ließen, um einen etwas entfernteren Gesichtskreis zu befragen, dann stellte die Zukunft sich ihnen als ein blauer Nebel dar, hinter dem sie trotz ihrer Verschleierung eine strahlende Sonne errieten: die Sonne der → Messiasverheißung. Die Zuversicht der Erlösung durch den Messias hielt sie aufrecht, wenn das Ungemach sie zermalmen wollte. Ihre unüberwindliche Hoffnung, die nie ein Zweifel anfocht, ließ sie das Unerträgliche ertragen. So sehr der Jude das Leben zu schätzen wusste, so schien es ihm doch weder das höchste noch namentlich das einzige Gut. Er war ganz sicher, dass das Grab die Pforte eines ewigen Daseins der Freude und Seligkeit war, und darum hatte der Tod für ihn keine Schrecken, auch nicht in der grauenhaften Gestalt der Folterbank und des Scheiterhaufens. Für sich rechnete der Jude auf die Auferstehung und das neue, glückliche Leben ohne Ende, für sein Volk rechnete er auf die Befreiung durch den Messias, auf die Rückkehr aus der Zerstreuung, auf die Erhöhung aus der Niedrigkeit, auf die Wiedereinsetzung in die Macht und den Ruhm und die Herrlichkeit. So war der Jenseitsglaube des Individuums und der Diesseitsglaube der Volksgemeinschaft der ausreichende Trost der Juden im Mittelalter, der ohne Wunder ihre zähe Ausdauer in den entsetzlichsten Leiden erklärt und der begreifen lässt, dass sie ein Leben hinnahmen, aus dem selbst das unentbehrliche Mindestmaß von Lustgefühlen anderer als rein geistiger Ordnung abwesend war. Die Geistesströmungen der europäischen Welt blieben alle diese Jahrhunderte hindurch ohne Einfluss auf das Verhältnis der Juden zu den Völkern. Ein neuer Morgen dämmerte am Gesichtskreis Europas während der Renaissance. „Es ist eine Lust zu leben“, jauchzte → Ulrich von Hutten. Die Juden merkten nichts von einer Änderung ihrer Lage. Ein → Reuchlin, der sich redlich bemühte, seine Vorurteile gegen das jüdische Volk zu überwinden, war eine ganz vereinzelte Erscheinung. Die → Re-
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formation erschütterte die Herrschaft der römischen Kirche über den Westen und die Mitte unseres Weltteils, die → Gegenreformation befestigte sie nach anderthalb Jahrhunderten gewaltigen Ringens wieder, den Juden brachte weder der siegreiche Vorstoß Luthers, Calvins, → Zwinglis noch die erfolgreiche Verteidigung Karls V. und → Philipps II., → Ignaz von Loyolas und → Capistrans irgendeinen Vorteil. Rechtlose Fremde waren, rechtlose Fremde blieben sie, und das Auftreten Sabbatai Zewis wühlte sie weit tiefer auf als alles, was sich in Europa in den 130 Jahren zwischen der → Anheftung der 95 Thesen an der Schlosskirchentür von Wittenberg und dem → Abschluss des Westfälischen Friedens zutrug. Wir müssen bis zum 18. Jahrhundert gelangen, um ein erstes schüchternes Heraustreten der Juden aus ihrer geistigen Absonderung von den Völkern zu beobachten. Im Mittelalter bestand zwischen der Judenschaft und ihrer nichtjüdischen, genauer: ihrer christlichen Umgebung gar kein innerer Zusammenhang, wie die Juden ihn in den Ländern des Islam mit der maurischen Kultur immer aufrecht hielten. Zwischen den Geistern fand kein Gedankenaustausch statt. Die Quellen, die in den einen und dem anderen Volke sprudelten, mischten ihre Wasser nicht. Die Juden waren immer nur Gebende, niemals Empfangende. Sie schenkten der christlichen Welt Übersetzungen griechischer Philosophen und Mediziner und arabischer Naturkundiger; blieben aber selbst von der Theologie und → scholastischen Philosophie, in der sich alle wissenschaftliche Tätigkeit des christlichen Mittelalters erschöpfte, völlig unberührt. Der heilige → Thomas von Aquino konnte → Maimons „Führer der Verirrten“ tiefsinnige Argumente für die Ewigkeit der Weltmaterie unbeschadet der Schöpfertätigkeit Gottes entlehnen, eine Gegenseitigkeit zwischen christlichen und jüdischen Theologen ist nicht festzustellen. Kein einziger jüdischer Denker des Mittelalters hat sich bei gleichzeitigen christlichen Schriftstellern auch nur die kleinste nachweisbare Anregung geholt. An der Dichtung ihrer Zeit suchten die Juden allerdings mitunter teilzunehmen, aber in der Regel bekam es ihnen schlecht, wie, um nur ein Beispiel anzuführen, dem armen Süßkind von Trimberg, der nach einem Ausflug in die sonnigen Gefilde des Minnegesanges verbittert, enttäuscht und reumütig in die Schatten der → Judengasse und zu den frommen übersinnlichen Träumereien der Seinigen heimkehrte. Doch nun brach das → Zeitalter der Aufklärung an. Neue Lichter gingen der europäischen Menschheit auf. → Descartes hatte zuerst nach fast zweitausend Jahren robusten Glaubens wieder systematisch zweifeln gelehrt, Spinoza Gott die Persönlichkeit genommen, aber die Welt vergöttlicht und der → Sittlichkeit eine andere als die Offenbarungsgrundlage gegeben, → Locke die menschlichen Sinne als Quelle aller Erkenntnis gezeigt. Die Enzyklopädie von → Bayle fasste alle diese neuen und erneuten Anschauungen übersichtlich zusammen und machte sie verhältnismäßig weiten Kreisen zugänglich. → Kant vertiefte Descartes' Skepsis, spitzte Spinozas Ethik zum → kategorischen Imperativ zu und baute Lockes Erkenntnistheorie aus. Die Dichtung setzte die neuen Gedankenerträge der Philosophie in Gefühl und künstlerische Schönheit um. → Rousseaus Vikar von Savoyen bekannte sich zu ei-
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nem reinen Gottesglauben ohne dogmatische Kirchlichkeit, der eigentlich ein Glaube an die Großartigkeit der Weltordnung und an die Grundgüte der Menschennatur war. → Lessings Nathan erzählte dem mohammedanischen Herrscher seine Parabel von den drei Ringen, die so mild und weise die Gleichwertigkeit aller → transzendentalen Überzeugungen predigte und aus der das Gebot der Duldung mit überwältigender Beweiskraft herausklang. → Schiller schrieb auf eine Votivtafel mit griechischem Geist und in griechischem Tonfall: „Welche Religion ich bekenne? Keine von allen – die du mir nennst. – Und warum keine? Aus Religion.“ → Friedrich der Große ließ das geflügelte Wort in die Welt hinausflattern, das man zum ersten Mal aus dem Munde eines rechtmäßigen europäischen Königs vernahm: → „In meinen Staaten mag jeder nach seiner Fasson selig werden.“ → Josef II. von Österreich suchte rührend ernst und rührend unbeholfen in seinen weiten Reichen die Ideologien eines → Aufklärungsapostels zu verwirklichen. Die gewaltige Brandung des neuen Denkens schlug auch an die → Mauern des Ghettos und drang wie ferner Donner in die still verborgenen Klausen. Da erhoben sich jüdische Stirne, die tief über die → Folianten des Talmuds gebeugt waren. Da lauschten jüdische Ohren, die sich sonst feindselig oder mindestens gleichgültig gegen die Geräusche der profanen Welt verschlossen. Eine Sehnsucht erwachte in vielen Judenseelen, die neuen Stimmen zu hören und zu verstehen. Wagemutige junge Juden schwärmten entschlossen aus dem Judenviertel hervor und erkühnten sich zu einer Abenteurerfahrt in das Jahrhundert. Der reiche → Kaufmannssohn Gomperz aus Berlin schreibt dem damals berühmtesten Weltweisen und geistigen Führer Deutschlands → Gottsched in Leipzig einen in seiner Demut ergreifenden Brief, um ihn anzuflehen, ihn, wäre es auch unter den erniedrigendsten Bedingungen, als Schüler zu seinem Kreise zuzulassen, einen Brief, den antisemitische Verständnislosigkeit als kriecherisch und aufdringlich verhöhnen konnte. Moses Mendelssohn schenkt den Juden Deutschlands eine vornehme lebende Umgangs- und Bildungssprache, und zwar mit demselben Mittel wie Luther zweihundert Jahre vorher dem deutschen Volke: durch die Bibelübersetzung, und erhält, von Lessing als Paten eingeführt, als erster Jude Aufnahme im deutschen Schrifttum. → Salomon Maimon taucht tiefer als irgendein anderer Zeitgenosse in Kants Kritik der reinen Vernunft und übt an der Philosophie des Königsberger Genies die erste Kritik, die zugleich die gründlichste und scharfsinnigste geblieben ist. Ein anderer Jude, der → Dr. Hertz, setzt sich als Jünger zu den Füßen Kants und wird der begeistertste Verkünder seiner Lehre. Wenn die Juden sich bisher zu anderen Zwecken als denen des Handels und Broterwerbes in die christliche Welt hinausgewagt hatten, waren sie durch ein → lakonisches: „Hep! Hep!“ oder ein ausführlicheres: → „Jude, mach' Mores!“ in das Ghetto zurückgescheucht worden. Jetzt hörten sie froh erstaunt zum ersten Mal andere Laute. → Herder, nicht nur ein edler Dichter, sondern auch ein hoher Geistlicher der protestantischen Landeskirche, rühmte in den schwungvollsten Ausdrücken der Bewunderung den → „Geist der hebräischen Poesie“. Schiller wusste tiefe und starke Worte von der → „Sendung Mosis“ zu sagen. Der → Fürst von Ligne, der geistsprühende Hofmann und Liebling
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der römischen Kaiser → Franz von Lothringen und Josef II., verfasste eine Denkschrift zur Verteidigung der Juden, in der er, der erste christliche Zionist der Neuzeit, die Überlassung des → Königreichs Judäa an sie forderte und als Lösung der → Judenfrage die Rückkehr der Menge nach Palästina und die rückhaltlose Aufnahme einer Auslese in die europäische Gesellschaft vorschlug. Ein protestantischer Theologe und Jurist wie der → Professor Christian von Dohm, ein katholischer Geistlicher wie der → Abbé Grégoire, ein Sprössling des französischen Feudaladels wie der → Graf Mirabeau forderten mit verschiedenem Talent, doch gleicher Wärme die bürgerliche Gleichstellung der Juden – es hatte sich entschieden etwas in der Welt geändert. Bei den besten Söhnen der Zeit war der → Konfessionalismus zu Religiosität geläutert, die Klassen- und Stammesausschließlichkeit zu Humanität erweitert. Humanität und Religiosität aber waren Kategorien, die auch die Juden in sich begriffen oder begreifen konnten. Neue Gefühle zogen in jüdische Herzen ein. Zum ersten Mal durften Juden glauben, dass sie in ihren Wohnländern keine Fremden waren. Sie gewannen bisher unbekannte Beziehungen zu ihrer Zeit und ihrer nichtjüdischen Umgebung, Gedankenfäden knüpften sich zwischen den Geistern, Wärmewellen schlugen einander aus den Gemütern entgegen, die Juden nahmen die allgemeine Kultur in sich auf, sie bemühten sich um die Naturalisierung als Europäer und erlangten sie viele Jahre vor ihrer Naturalisierung als Bürger ihrer Geburtsländer. Der kritische Augenblick für die jüdische Entwicklung nahte heran. Die Aufklärung hatte die undurchlässigen Scheidewände zwischen Juden und Christen mancherorts gänzlich abgetragen, überall mindestens durchbrochen. Die Juden, die es sich angelegen sein ließen, weltliche Bildung zu erwerben, wurden in die Gemeinschaft der Gesitteten aufgenommen. Die französische Umwälzung ging einen Schritt weiter, einen großen, entscheidenden Schritt: Sie verlieh den → Juden Frankreichs die vollen Bürgerrechte, sie löschte jeden gesetzlichen Unterschied zwischen ihnen und den anderen Landeskindern aus. Bis dahin hatte niemand an dem Bestande des jüdischen Volkes gezweifelt. In allen amtlichen Schriften, ob feindlichen oder freundlichen, die sich mit den Juden beschäftigten, war unabänderlich von der „jüdischen Nation“ die Rede gewesen, und die Juden selbst hatten sich immer als „das jüdische Volk“ oder „die jüdische Nation“ bezeichnet. Die französische Umwälzung tat, was an ihr lag, um die jüdische Nation, die wenigstens als Begriff ihren politischen Untergang um 17 Jahrhunderte überdauert hatte, endgültig aufzulösen. Indem sie die Juden gesetzlich allen anderen Bürgern gleichstellte, trennte sie sie mit einem entschlossenen Schnitt von ihrer Vergangenheit, die zugleich ihr stolzes Erbe und ihre schwere Bürde war, und machte aus den Palästinensern von unvordenklichem Alter Franzosen von heute, denen man ihre Herkunft aus dem Jordanlande so wenig mehr vorhielt wie den Bretonen die ihrige aus England, den Burgundern, Franken, Westgoten die Abstammung aus Deutschland, den Normannen die ihrige aus Dänemark und Norwegen. Durch die Pforte der französischen → Revolutionsgesetzgebung trat das westliche Judentum in das Europäertum ein. Die Juden waren nicht länger widerwillig ge-
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duldete unstete Fremde oder → Landsassen auf Kündigung. Sie hatten ein Vaterland. Sie waren sässige, vollberechtigte Bürger. Sie waren mit einem mächtigen Volkskörper durch Aufpfropfung vereinigt und sie zogen diese neue → politisch-biologische Verbindung weitaus der tief in die Jahrtausende reichenden natürlichen Wurzel vor, von der sie getrennt worden waren. Getreu ihrer bald zweitausendjährigen Gewohnheit unterließen sie es, über den Augenblick hinauszusehen und aus ihrem geänderten Verhältnisse seine logischen Folgerungen und Schlüsse zu ziehen. Napoleon aber tat, was sie zu tun vermieden, er dachte für sie den Gedanken der → Emanzipation zu Ende. Er verstand die Gleichberechtigung so, dass die Juden Franzosen ohne Vorbehalt werden mussten. Ohne Vorbehalt, das heißt ohne den Wunsch und ohne die Hoffnung einer einstigen Änderung der Beziehungen zum Vaterlande, ohne ein außerhalb des französischen Staatsgedankens liegendes Ideal, ohne die Pflege des Zusammenhanges mit Stammverwandten jenseits der Landesgrenze, ohne die Aufrechterhaltung irgendeiner Scheidewand zwischen ihnen und ihren christlichen Landsleuten, ohne auch nur den uneingestandenen, geheimen Wunsch der Weiterführung eines Sonderdaseins inmitten der Gleichheitsnation. Misstrauisch und rücksichtslos stellte der große Realist die Juden vor das Problem, das sie nicht gesehen hatten oder nicht hatten sehen wollen, und forderte gebieterisch eine eindeutige Lösung. Er berief das → Synhedrion nach Paris ein und stellte an es klare Fragen, darunter diese: „3. Frage: Darf eine Jüdin einen Christen, darf ein Jude eine christliche Frau heiraten oder gebietet das jüdische Gesetz, dass die Juden sich nur untereinander verheiraten dürfen? 4. Sind Franzosen nichtjüdischer Religion in den Augen der Juden Brüder oder Fremde? 6. Erkennen in Frankreich geborene und vom Gesetz als französische Bürger behandelte Juden Frankreich als ihr Vaterland an? Sind sie verpflichtet, es zu verteidigen? Sind sie verpflichtet, seinen Gesetzen zu gehorchen und den Geboten des bürgerlichen Gesetzbuches zu folgen?“ Die 4. und 6. Frage konnte die Versammlung in voller Aufrichtigkeit und redlichsten Herzens freudig bejahen. Aber die 3. Frage brachte den → gesetzestreuen Sinzheim, der die Antwort abzufassen hatte, in die grausamste Verlegenheit. Vielleicht erst bei dieser Frage wurde das Synhedrion sich des tiefsten Sinnes und der letzten Bedeutung der französischen Judengesetzgebung bewusst. Männer wie Sinzheim begriffen, was man von ihnen verlangte, und suchten sich unter qualvollen Gewissensnöten durch die Klemme zu winden. Was man von ihnen forderte, das war, dass sie der neuen Gegenwart zuliebe auf Vergangenheit und Zukunft verzichteten. Sie sollten sich nicht mehr erinnern, dass sie am Fuße des Sinai gestanden hatten, sie sollten nicht mehr hoffen, dass ihnen eine Erneuerung großer Geschicke vorbehalten war. Sie sollten aufhören, an den Messias zu glauben und seine Ankunft zu ersehnen. Sie hatten sich geweigert, → Jesus von Nazareth als den Messias anzuerkennen und dafür willig → 18 Jahrhunderte des Höllenaufenthalts ertragen. Jetzt sollten sie in der Revolution und im Kaiserreich die Erfüllung der Messiasverheißung sehen und zugestehen, dass sie entweder 18 Jahrhunderte lang in mystischer Verzückung dieses politische Ereignis er-
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wartet hatten oder 18 Jahrhunderte lang von einer Wahnvorstellung genarrt worden waren. Der Messiasglaube ist zwar nicht der ethische und metaphysische, aber der historische Kern der jüdischen Religion. Ist ihr dieser Inhalt genommen, so ist sie ausgeweidet und es bleibt nur eine schlappe Hülle übrig, die man je nach Temperament und persönlicher Weltanschauung entweder als unbestimmten → Theismus von unitarischer Färbung oder als dogmenlosen, mystisch herausgeputzten Spiritualismus deuten kann. Die frommen und schriftgelehrten Juden wollten sich nicht eingestehen, dass die Emanzipation in der Absicht der christlichen Gesetzgeber die Entwurzelung der Messiashoffnung aus ihrem Herzen bedeutete. Sie vermieden es, sich diesen Sinn ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung zu vergegenwärtigen. Sie willigten ein, Frankreich für jetzt und alle Ewigkeit als ihr endgültiges Vaterland anzunehmen, über dessen Grenzen kein Wunsch und keine Hoffnung hinausschweifte, sich selbst für Franzosen und nichts als Franzosen zu erklären, fuhren aber gleichzeitig fort, in ihren Gebeten den Messias herbeizuwünschen und herbeizuflehen, den Messias, der, wenn er seine Aufgabe erfüllte, sie aus Frankreich nach Palästina führen musste, wo sie nicht länger Franzosen oder wo sie höchstens Kolonialfranzosen sein konnten. Diesen Widerspruch gestanden sie sich wahrscheinlich nicht ein; jedenfalls litten sie anscheinend nicht unter dem Zwiespalt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Frankreichs Beispiel von allen Ländern der Gesittung nachgeahmt. Hier früher, dort später, doch zuletzt überall in Europa und Amerika, mit → Ausnahme von Russland und Rumänien, gewährte man den eingeborenen Juden ein Vaterland, und überall machte der Gesetzgeber dieses Zugeständnis unter der stillschweigenden oder ausdrücklichen Voraussetzung, dass dieses Vaterland ein vorbehaltloses und endgültiges sein müsse, dass es bei den Neubürgern → zentrifugale Bestrebungen oder auch nur Träumereien nicht dulde. Die Menge ist gedankenlos. Das ist bei uns Juden nicht anders als bei allen anderen Gesamtheiten. Die Menge vergegenwärtigte sich die Bedingungen nicht. Sie war glücklich, nach 18 Jahrhunderten der Unstetigkeit, während welcher ihr Leben einer ziellosen Meerfahrt im gespenstischen → Schiffe des fliegenden Holländers geglichen hatte, endlich festen Grund unter den Füßen zu haben, und gab sich ganz dem unbekannten Frohgefühl der Bodenständigkeit hin. Aus alter Gewohnheit behielt sie jedoch ihre Feste bei, die alle national-jüdischen Sinn in sich schließen, die alle auf die alte palästinensische Heimat hinweisen, nur feierte sie sie routinemäßig, ohne sich um ihre Bedeutung zu kümmern. Sie betete auch ruhig weiter um die Rückkehr nach Jerusalem, doch auch das störte sie nicht, denn sie verrichtete ihre Gebete, wenn überhaupt noch, dann immer seltener, und ihr Inhalt konnte sie nicht mehr stutzig machen, da sie allmählich zu einer beruhigenden Unkenntnis der hebräischen Sprache gelangte, in der sie abgefasst sind. Die Minderheit der Juden von hoher Bildung und feinfühliger Sittlichkeit freilich konnte nicht so leichtfüßig über die Schwierigkeit hinweghüpfen. Diese Juden wollten ein festes Verhältnis zu Welt und Leben gewinnen. Sie strebten nach Auf-
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richtigkeit gegen sich selbst, nach innerer Einheit, nach einer Philosophie, die den Verstand und das Gemüt befriedigt, dem Bedürfnis nach Logik genügt, einen tragischen Konflikt der Ideale verhütet. Sie fanden verschiedene Lösungen des Problems, dessen hohen Ernst sie voll erfassten. Die Radikalsten oder Leichtblütigsten wählten die einfachste: Sie ließen sich taufen. Sie gaben mit dem Messias auch das Judentum selbst auf. Sie nahmen mit der Staatsbürgerschaft die herrschende Religion an. So bestand für sie kein Zwiespalt mehr. Zehntausende von Juden, darunter viele der geistig hervorragendsten, sind im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Ländern der Gleichberechtigung diesen Weg gegangen, den zu vermeiden ihre Väter lieber den Dornenpfad der stets erneuten Verbannung beschritten oder den Scheiterhaufen bestiegen haben. Andere verschmähten die Taufe als eine andere Unehrlichkeit gegen sich selbst und gegen die christlichen Landsleute, bekannten sich jedoch zu einem → Indifferentismus, in den mystische Gewissensbedenken keinen Eingang fanden. Dem Judentum waren offenbar auch diese verloren, selbst wenn sie nicht förmlich austraten und sich für konfessionslos erklärten, wo dies gesetzlich zulässig ist. Sie waren noch weit zahlreicher als die → Taufjuden, so zahlreich, dass Spötter sagen konnten: „Das Judentum ist heutzutage eine Religionsgemeinschaft von Atheisten.“ Ihre Hoffnung war, die Aufklärung werde auch unter den Christen genug rasche Fortschritte machen, dass sie bald nicht mehr auffallen, sondern in der Menge der → Freidenker jeder Herkunft unkenntlich verschwinden würden. Eine dritte Gruppe entschied sich weder für die Taufe noch für die Konfessionslosigkeit, sondern für einen → Opportunismus, der nicht sehr heroisch, auch nicht sehr ästhetisch war. Diese Juden ließen sich leutselig herab, Juden zu bleiben, brachten ihr Judentum aber in Einklang mit ihrer Verleugnung jeder → messianischen Hoffnung, indem sie es reformierten, das heißt seine uralte, ehrwürdig morgenländische Tracht durch ein Moderöckchen von flottem Zuschnitt und Aufputz ersetzten. Sie machten die → Synagoge zu einer Kirche ohne Kreuz und nannten sie Tempel. Sie verbannten die ihnen unverständlich gewordene hebräische Sprache aus dem Gebetbuch und warfen aus den Gebeten jeden Hinweis auf den Messias und eine einstige Rückkehr in die alte Heimat hinaus. Das → Reformjudentum brach bewusst mit dem geschichtlichen Judentum. Es schied förmlich aus der jüdischen Volkseinheit aus, indem es alles Nationale im Gottesdienst und in den Festen unterdrückte oder es zu Symbolen ohne Wirklichkeitsinhalt verflüchtigte, die es willkürlich von ihrem eigentlichen Sinn weit wegdeutete. Theoretisch war das Reformjudentum das Bestreben nach einer vollständigen und vorbehaltlosen Anpassung an die neue staatsrechtliche Lage der emanzipierten Juden, praktisch war es eine Methode, den endgültigen Übertritt zum Christentum allmählich vorzubereiten und zu erleichtern. Aber neben den Taufjuden, den konfessionslosen Juden und den Reformjuden entstand noch eine vierte Richtung, die sich in anderer Weise mit dem Messiasgedanken philosophisch auseinanderzusetzen suchte. Die Rabbiner, die diese Richtung vertraten, erfanden nämlich die berühmte Theorie von der Mission des jüdischen Volkes. Wenn ich sage: Sie erfanden sie, so erweise ich ihnen übrigens zu viel
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Ehre. Tatsächlich erfanden sie gar nichts. Sie übernahmen einfach die Lehre, welche die christliche Kirche seit 17 Jahrhunderten verkündet hatte, und suchten sie dreist umzuwerten. Was lehrte die Kirche? Sie lehrte, dass das jüdische Volk von der Vorsehung verurteilt ist, durch die ganze Welt zerstreut zu bleiben, dass es in der Verbannung und Erniedrigung leben muss, um an allen Orten als lebendige Zeugen der Wahrheit der Bibel und ihrer Weissagungen zu dienen, und dass seine Strafe erst am Ende der Zeiten abgebüßt sein wird, wenn der Heiland als → Paraklet auf Erden wiedererscheint, auch die letzten Widerspenstigen sich zum Glauben an ihn bekehren und nur noch ein Hirt und eine Herde sein wird. Was lehrten die Verkünder des jüdischen Missionsgedankens? Sie lehrten, dass das jüdische Volk von der Vorsehung bestimmt ist, durch die ganze Welt zerstreut zu bleiben, dass es in dieser Zerstreuung leben muss, um an allen Orten als lebendige Zeugen der Wahrheit der Bibel und ihrer Weissagungen zu dienen, und dass seine Sendung erst erfüllt sein wird, wenn auch die letzten Widerspenstigen sich zum Glauben an den einig-einzigen Gott und zur allgemeinen Bruderliebe unter den Menschen bekehren und nur noch ein Hirt und eine Herde sein wird. Sie sehen, es ist Punkt für Punkt dasselbe, nur dass die Worte, die Werturteile in sich schließen, durch andere ersetzt sind. Wo die Kirche von Verurteilung spricht, da sprechen die Rabbiner von Bestimmung, wo jene sagt: Dann ist die Strafe abgebüßt, da sagen diese: Dann ist die Sendung erfüllt usw. Ein morgenländisches Geschichtchen erzählt, ein → Schach von Persien habe eines Morgens äußerst missgestimmt seinen ersten Traumdeuter rufen lassen und ihm gesagt: „Ich habe einen sonderbaren Traum gehabt, der mich beunruhigt. Mir träumte, meine sämtlichen Zähne seien mir ausgefallen. Deute mir diesen bösen Traum!“ „In der Tat, ein böser Traum“, erwiderte der Traumdeuter bestürzt, „er kündigt dir an, hoher Herr, dass du den Schmerz haben wirst, alle deine Verwandten sterben zu sehen.“ „Hinweg mit dem Dummkopf und verabreicht ihm 50 Hiebe auf die Fußsohlen!“, rief der Schach aufgebracht. „Schafft mir meinen zweiten Traumdeuter herbei.“ Dieser Mann kam. Der Herrscher erzählte ihm seinen bösen Traum. „Ein böser Traum?“, rief der kluge Mann frohlockend. „Ein herrlicher Traum! Ein Glückstraum! Freue dich, hoher Herr, denn dir wird verkündet, dass du das Glück haben wirst, alle deine Verwandten glorreich zu überleben.“ „Das ist recht“, sprach der Schach befriedigt, „Schatzmeister, bezahle meinem treuen Traumdeuter → 50 Goldtomans.“ Nach dieser Formel haben die Missionsrabbiner aus der kirchlichen Brandmarkung eine Bekränzung gemacht, ohne an dem Gedankengang der Kirche etwas zu ändern, und mit Hilfe der dem unerbittlichen Feinde entlehnten Lehre dem Judentum seinen Nationalcharakter, seine Hoffnung auf eine künftige Wiedervereinigung und auf ein Weiterleben als normales Geschichtsvolk genommen oder zu nehmen gesucht. Das Opfer war gebracht, der Mittelpunktgedanke, der es fast zweitausend Jahre lang zusammengehalten hatte, aus dem Judentum herausgezogen, seine Zerbröcke-
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lung eingeleitet. Die östliche Judenschaft allerdings war vom Zerfall nicht berührt und blieb ein nationaler Block. Aber die westlichen Juden rückten demonstrativ von ihr ab und affektierten, die Bezeichnung „polnischer Jude“ nur noch als Schmähwort zu gebrauchen. Zum Lohne für solche Geschmeidigkeit nach so langer Starrheit erwarteten sie, dass die christliche Welt alle alten Vorurteile gegen sie vergessen und sie als wirkliche Volksgenossen und Brüder anerkennen werde. Ein kurzes Menschenalter hindurch, etwa im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts, schien dieses Ziel tatsächlich erreicht. Während einiger → halkyonischer Jahre, sagen wir etwa zwischen 1860 und 1875, gab es in den Ländern des Westens anscheinend keine Judenfrage. Wo der alte Judenhass noch etwa hie und da unter der Asche glomm, da erregte er bei den Juden nur noch Mitleid, ja Heiterkeit. Sie sahen ihn als wunderliches → Überlebsel an, ungefähr wie in unserer Zeit verirrte Hexenfurcht oder Teufelsglauben. Aber das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts brachte eine jähe und tiefe Änderung. An allen Enden Europas flammte ein lodernder Antisemitismus auf, wie er im Mittelalter nicht heftiger gewütet hatte. Mit fassungsloser Bestürzung mussten die jüdischen Staatsbürger feststellen, dass ihre christlichen Landsleute als Individuen und Gesellschaft die Gleichberechtigung zurücknahmen, die sie als politischer Körper, als Staat gewährt hatten. Man sprach ihnen namentlich die Fähigkeit vaterländischer Gesinnung ab, man bezeichnete und behandelte sie wieder als Fremde. Das war die allerschwerste Kränkung, die man ihnen zufügen konnte. Sie hatten eifrig, ja zornig geleugnet, dass es ein jüdisches Volk gibt, sie hatten jede Zusammengehörigkeit mit jüdischen Ausländern heftig zurückgewiesen, sie hatten leichten Herzens jede Hoffnung auf eine nationale Zukunft des Judentums, auch jeden Wunsch nach ihr abgeschworen, und nun dennoch Fremde! Und was ihnen besonders ins Herz schnitt, das war, dass der Antisemitismus auch die jüdischen Freidenker nicht schonte, dass er die Reformjuden besonders rau anfasste, dass er zuletzt sogar den Taufjuden kein Quartier gab, und wenn er überhaupt mit einer Kategorie von Juden etwas glimpflicher umsprang, dies gerade die verspotteten und geringgeschätzten, rückständigen, altgläubigen Juden mit ihrem Nationalgefühl und ihrer Messiaszuversicht waren. Ein neues Prinzip war in die Kulturwelt eingezogen: das Nationalitätenprinzip. Es nahm im Bewusstsein gerade der gebildeten Volksklassen den Platz ein, den in früheren Jahrhunderten die Religion ausgefüllt hatte. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen erwuchs nur noch aus der nationalen Gemeinschaft, und diese sollte nicht durch die gleiche Staatsangehörigkeit, nicht durch die gleiche Sprache und Gesittung, nicht durch gemeinsame Erlebnisse und Ideale, sondern einzig durch gleiche Abstammung, durch Blutsverwandtschaft bedingt sein. Das derart auf die Spitze getriebene neue Nationalitätenprinzip, das in Rassenwahnwitz umschlug, hatte dieselbe Ausschließlichkeit und Selbstüberhebung, denselben → Fanatismus, dieselbe Feindseligkeit gegen Außenstehende wie die Religion im Mittelalter. Die Juden fanden sich wieder vor einer Mauer ohne Pforte, sie wurden wieder im gesetzlichen Vaterlande von ihren gesetzlichen Mitbürgern als ewig Fremde
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empfunden und behandelt, sie waren wieder aus Europa moralisch hinausgeworfen. Die Wirkung dieser geistigen Umwälzung auf das gelockerte, stellenweise in voller Auflösung begriffene Westjudentum war verschieden. Bei den einen beschleunigte sie die Abfallsbewegung, die seit Beginn der Emanzipationsepoche eingesetzt hatte, und verwandelte sie stellenweise in eine Massenfahnenflucht. Bei den anderen erzeugte sie eine eigentümliche Seelenblindheit. Sie behaupteten, den Antisemitismus nicht zu sehen, der ringsum die Faust gegen sie erhob, und sie sahen ihn vielleicht wirklich nicht. Noch andere warfen sich in eine Kämpferpose, rüsteten sich zu einem todesmutigen Feldzug gegen die Antisemiten und erhoben mit unüberwindlicher Tapferkeit Beschwerde bei hochmögenden Ministern und hohen Obrigkeiten, sooft ein kleiner Gymnasiallehrer einen jüdischen Schüler vor versammelter Klasse einen faulen Judenbengel schalt. Wieder andere verfielen auf eine sinnige Anwendungsweise der → homöopathischen Methode, sie wurden nämlich selbst Antisemiten, und zwar die allerschlimmsten, allergiftigsten, und waren auf diese Art gegen jede Verletzung durch die Antisemiten gefeit, da diese ihnen keine Beschimpfung, keine Verleumdung, keine Besudelung zufügen konnten, die sie sich nicht schon selbst weit heftiger zugefügt hatten. Aber die neue moralische Ausstoßung aus ihrem Vaterlande und der europäischen Gesittung hatte doch auch noch eine andere Wirkung auf einen Teil der westlichen Judenschaft; allerdings bisher nur auf einen kleinen Teil, der jedoch deswegen wichtig ist, weil er hauptsächlich die → intellektuelle, charakterfeste Jugend in sich begreift: Sie führte Zehntausende junger Westjuden von hoher Bildung und idealer Gesinnung zu den geschichtlichen Überlieferungen ihres Stammes zurück, frischte ihr Gedächtnis für die jüdische Vergangenheit auf und weckte in ihnen eine Zuversicht auf eine jüdische Zukunft, die sie zu kräftigem Handeln drängte. Diese jungen Juden gingen mit ruhigem Stolz auf den Nationalitäts- und Rassengedanken der Zeit ein, ohne sich seine grotesken Übertreibungen und tollen Folgerungen anzueignen, und bekannten sich selbstbewusst zu ihrer eigenen jüdischen Nationalität und Rasse. Sie begegneten sich mit den Ostjuden, denen dieses Bekenntnis nicht erst durch neue Verfolgungen abgerungen zu werden brauchte, in dem gemeinsamen Vorsatz einer Sammlung und Gliederung des jüdischen Volkes, das sich neben den anderen vom Schicksal mehr begünstigten Völkern national ausleben will und als gleichberechtigter Mitarbeiter an der allgemeinen Kultur betätigen soll. Das 19. Jahrhundert war die Epoche der Zersetzung des Judentums, das bereit war, zum Dank für seine Scheinaufnahme in die europäische Völkerfamilie seine Vergangenheit und Zukunft und damit sich selbst aufzugeben. Das 20. Jahrhundert kündigt sich als die Epoche der Sammlung aller lebenskräftigen und lebenswürdigen Elemente des Judentums an, die entschlossen sind, die Geschichte ihres alten Volkes im Sinne seiner unabänderlichen Ideale der Gerechtigkeit, Sittlichkeit, Nächstenliebe und Erkenntnis weiterzuführen. In diesem Jahrhundert wird sich entscheiden müssen, ob im Judentum das Leben den Tod besiegt oder umgekehrt.
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Ich für meinen Teil bin der Hoffnung voll. Der → Oberprokurator des heiligen Synods, Pobjedonoszeff, der zwanzig Jahre lang nach dem Zaren der mächtigste Mann Russlands war, sagte einmal, er stelle sich die Lösung der Judenfrage in Russland so vor: Ein Drittel der Juden werde sich taufen lassen, ein Drittel werde verhungern, ein Drittel werde auswandern. An seiner Weissagung mag etwas Richtiges sein. Vielleicht wird im 20. Jahrhundert ein Teil des jüdischen Volkes sich taufen lassen, wenn es auch schwerlich ein Drittel sein dürfte; ein anderer Teil wird zwar nicht verhungern, aber proletarisiert, sozialdemokratisiert und seinem Stamm bis zum gänzlichen Vergessen der Zusammengehörigkeit entfremdet werden. Ein Teil aber wird sich zu einem lebendigen Judentum der schöpferischen Tat sammeln, und dieser Teil, dessen mögen Freunde und Feinde versichert sein, wird ein schöner, würdiger, vornehmer Teil des verjüngten alten Volkes sein. Quelle: ZS2, S. 434–459, dort mit Verweis und Datierung: Vortrag, gehalten in Hamburg am → 19. Dezember 1909. Ferner erschienen als Separatdruck im Jüdischen Verlag, Köln/Leipzig 1910.
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66 → IX. Kongressrede Das Ereignis, das seit unserer letzten Tagung → im Haag vor mehr als zwei Jahren alle Zionisten am tiefsten bewegt und am anhaltendsten beschäftigt hat und das auch in der Eröffnungsrede unseres Vorsitzenden, dem Sie soeben den lebhaftesten Beifall gespendet haben, den breitesten Raum einnimmt, war bezeichnenderweise kein zionistisches. Es war die → unblutige Umwälzung, die sich am 24. Juli 1908 in Konstantinopel vollzogen hat und der erst am → 13. April des laufenden Jahres ein blutiges Nachspiel folgen sollte. Als die überraschende Kunde durch die Welt hallte, dass → in der Türkei der Absolutismus niedergerungen war, der → Sultan einer freisinnigen Verfassung seine Zustimmung erteilt hatte und das → ottomanische Reich sich in eine parlamentarisch regierte Demokratie umwandeln sollte, erfasste ein wahres Fieber den zionistischen Teil des jüdischen Volkes. Die bedauerliche Unstetigkeit des jüdischen Temperaments, unsere unglückselige Nervosität, offenbarte sich wieder ungestüm. In der zionistischen Presse, in zionistischen Versammlungen trat ein erschreckender Überschwang zutage. Wenn man diesen tumultuarischen Kundgebungen glauben sollte, war die Umwälzung in Konstantinopel die weitaus wichtigste Begebenheit in der jüdischen Geschichte, die sich seit vielen Jahrhunderten zugetragen hatte. Der Zionismus war urplötzlich seinem Ziele auf Armeslänge nahegerückt. Dieses Ziel war beinahe schon mit der ausgestreckten Hand zu erreichen. Eine moderne, freiheitliche Türkei musste uns mit offenen Armen aufnehmen. Um das Recht zur Einwanderung in Palästina zu erhalten, brauchten wir es nur zu verlangen. Die zionistische Bewegung musste sich ungesäumt den veränderten Verhältnissen anpassen. Sie musste sich sofort auf eine ganz neue Unterlage stellen, alle ihre alten Methoden aufgeben und künftig mit von den bisherigen völlig verschiedenen arbeiten. Alles wandte aufgeregt die Blicke zur Leitung hin. Man erwartete von ihr auf der Stelle eine Tat, ein ungesäumtes Einhaken in die neuen Entwicklungen der Türkei. Man war enttäuscht, bestürzt, erbittert, als diese Tat nicht sofort erfolgte. „Woran denkt man in Köln?“, riefen hundert ungeduldige Stimmen. „Hat man dort kein Verständnis für die ungeheure Wichtigkeit der türkischen Ereignisse? Wird man diesen großen Augenblick, der vielleicht in Jahrhunderten nicht wiederkehrt, ungenutzt vorübergehen lassen?“ Und die Ratgeber, an denen es dem jüdischen Volk bekanntlich niemals fehlt, begannen, die Fülle ihrer Weisheit auszuspenden (Heiterkeit). Die Leitung musste sich augenblicklich mit den türkischen Machthabern in Verbindung setzen, sie für die Pläne des Zionismus durch Aufklärung, Überredung und Dienstesanerbietungen gewinnen. Es war das Zweckmäßigste, die Leitung verlegte ihren Sitz nach Konstantinopel und berief unseren Kongress dorthin ein. Vor allem aber, vor allem: Das → Basler Programm musste vollständig geändert werden, damit es der geänderten Sachlage entspreche. Manches von dem, was vorgeschlagen oder gefordert wird, war vernünftig, so vernünftig, dass es sich jedem Zionisten von selbst darbot und nicht nötig hatte, mit
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Aufregung, mit zorniger Ungeduld hervorgesprudelt zu werden. Anderes war seltsam bis zur Unglaublichkeit, und ich gehe darüber mit schonendem Stillschweigen hinweg, da es meinem Geschmack nicht entspräche, auch der Würde dieses Augenblicks und dieser Stelle nicht angemessen wäre, Gesinnungsgenossen der Lächerlichkeit preiszugeben, die nur aus Übereifer, aus Mangel an politischer Erfahrung, aus ungenügender Kenntnis der Tatsachen geirrt haben. Ich bin weder zum amtlichen noch zum halbamtlichen Verteidiger unserer Leitung bestellt, habe jedoch wie jeder Zionist das Recht und wie jeder unbefangene, billig denkende Beobachter die Pflicht, für sie einzutreten, wenn ich sie ungerecht angegriffen und ihr Walten verkannt sehe. (Lebhaftes Händeklatschen.) Ich rechne es unserer Leitung als ein großes Verdienst an, dass sie sich von der Maßlosigkeit eines Teiles unserer Gesinnungsgenossen nicht hat mitreißen lassen, sondern inmitten der allgemeinen Fieberhitze ruhig zu bleiben und dem von allen Seiten auf sie einstürmenden Drang zu widerstehen wusste. (Händeklatschen.) Sehen wir kalten Blutes der Wirklichkeit ins Angesicht. Was ist geschehen? Inwiefern berühren die Ereignisse uns? Welche neuen gegenwärtigen und künftigen Aufgaben werden uns von ihnen gestellt? Durch die kühne Aktion tapferer und idealistisch gerichteter Vaterlandsfreunde wurde in der Türkei der Despotismus überwunden und das Reich in die Bahn eines verfassungsmäßigen Lebens nach guten europäischen Vorbildern hinübergeleitet. Darüber freuen wir uns, nicht nur als Zionisten, nicht nur als Juden, sondern einfach als Menschen, die jeden Fortschritt in der Welt froh begrüßen, sich an jedem Beispiel selbstvergessender und zweckdienlicher Tatkraft erbauen (Beifall) und jedem Volke von ganzem Herzen Freiheit mit Ordnung und Frieden wünschen (Beifall), ganz besonders, wie dies unser verehrter Vorsitzender bereits gesagt hat und ich, wenn auch in weniger beredten Worten, wiederholen will, dem türkischen Volk, das sich uns gegenüber immer großmütig erwiesen hat, dem wir seit Jahrhunderten für die gastliche Aufnahme unserer aus Spanien vertriebenen Vorfahren unverjährbaren Dank schulden (lebhafter Beifall, Händeklatschen) und zu dem wir durch die Verwirklichung der Pläne des Zionismus in ein besonders enges Freundschaftsverhältnis zu treten hoffen. Allein über unserer Begeisterung für die türkische Freiheit dürfen wir doch nicht vergessen, dass die Umwälzung in Konstantinopel schließlich doch kein zionistisches, kein jüdisches, sondern ein türkisches Ereignis war, dass wir denn doch noch keine osmanischen Staatsbürger sind, dass wir an den inneren Wandlungen des türkischen Reiches keinen unmittelbaren Anteil haben, sondern sie, wenn auch mit wärmster Anteilnahme, aber doch als Außenstehende verfolgen, und dass es taktlos, aufdringlich und ungeschickt wäre, wenn wir uns in sie einmischen wollten. Das ist eine Antwort an diejenigen, die zwischen dem Zionismus und den jungtürkischen Machthabern ungesäumt Beziehungen angeknüpft zu sehen wünschten. Die diese Forderung erhoben, haben augenscheinlich nicht bedacht, dass die → Jungtürken eine Partei im ottomanischen Reiche, dass sie nicht das ottomanische
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Reich sind. Zurzeit sind die Jungtürken die herrschende Partei. Es ist jedem von uns unbenommen, ihre bisherigen Leistungen so einzuschätzen, wie er will, ihnen die wärmsten Sympathien zuzuwenden, ihrer Herrschaft eine möglichst lange Dauer zu wünschen und an diese Dauer auch zu glauben. Aber der Zionismus darf sich mit einer ottomanischen Partei nicht identifizieren. (Beifall.) Der Zionismus kann unmöglich seine Zukunft oder auch nur seine Gegenwart an das Schicksal einer ottomanischen Partei knüpfen. (Lebhafter Beifall.) Und vor allem: Er darf sich nicht den Anschein geben, sich in die innerpolitischen Kämpfe der Türkei einmischen zu wollen. Zügeln wir unsere Ungeduld! Wenn diejenigen Zionisten, die selbst das neue Leben des jüdischen Volkes in der alten Heimat ihrer Väter werden leben wollen, erst türkische Staatsangehörige geworden sind, werden sie das Recht und die Gelegenheit haben, am innerpolitischen Leben ihres Vaterlandes mit der ganzen Hitze ihres Temperaments teilzunehmen, sich der Partei ihrer Wahl anzuschließen, für sie ohne Vorbehalt einzutreten und ihre Gegner mit beliebiger Heftigkeit zu bekämpfen. Einstweilen aber gebieten ihnen die Klugheit und der Geschmack eine Zurückhaltung, die von allen türkischen Parteien ungleich freundlicher gewürdigt werden wird als vorlauter und unverlangter Eifer. Die jungtürkische Partei würde uns schwerlich Dank gewusst haben, wenn wir uns vorzeitig an sie herangedrängt und ihr unsere Dienste angeboten hätten, die zu erweisen wir übrigens gar nicht in der Lage gewesen wären. „Der Schwerpunkt des Zionismus muss von nun an in die Türkei verlegt werden.“ So wurde von vielen Seiten stürmisch gerufen. Das ist eine Redensart und nichts anderes. Blasen wir den Wortschaum weg und dringen wir bis zu den Tatsachen vor. Was soll damit gesagt sein, dass der Zionismus „seinen Schwerpunkt nach der Türkei verlegen muss“? Soll das heißen, dass wir die Verhältnisse des türkischen Reiches so genau wie möglich studieren, ihren Wandlungen mit der größten Aufmerksamkeit folgen, mit ihren leitenden Persönlichkeiten und allen Parteien in Verbindung treten, sie und die öffentliche Meinung über unsere Bestrebungen, über unsere Wege und Ziele aufklären sollen, dann ist dies so selbstverständlich, dass es nicht erst ausdrücklich verlangt zu werden braucht, am wenigsten in aufgeregtem, alarmiertem Tone. Wir haben es auch bisher getan. Wir werden es mit Bedacht und Fleiß fortsetzen, und es ist uns durch die größere Freiheitlichkeit der Gesetzgebung und Verwaltung im ottomanischen Reiche von nun an hoffentlich erleichtert. Das türkische Reich ist uns nicht erst durch seine jüngste Umwälzung wichtig geworden. Das Ziel all unserer Hoffnungen, Wünsche und Mühen ist ein Bestandteil des ottomanischen Reiches. An der Küste und den Landgrenzen Palästinas halten türkische Soldaten Wacht. Die Schlüssel des Hauses, das die Zionisten zu ihrem Heim zu machen wünschen, liegen in den Händen der türkischen Regierung. Alle unsere Bestrebungen weisen auf die Türkei hin wie die Nadel des Kompasses auf den magnetischen Pol. Alle unsere lebendigen Werke, unsere Schulen, unsere → Orientbank, unsere Auskunftsstelle, unsere → Versuchsfarm, liegen in Palästina, d. h. in der Türkei. Alles, was wir an unmittelbar zu verwirklichenden praktischen Schöpfungen
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planen und vorbereiten, hat das ottomanische Reich zum Rahmen. Wir haben es uns seit Jahren angelegen sein lassen, uns möglichst gründlich über das geltende Recht, namentlich die Landgesetzgebung und die Verwaltungsregeln der Türkei, zu unterrichten. Mitglieder unserer Organisation sind in der Türkei, um unsere Leitung über alles zu unterrichten, was den Zionismus berührt, und gegebenenfalls für sein Interesse zu wirken. Was konnte unter den gegebenen Verhältnissen noch mehr geschehen? Die Leitung soll nach Konstantinopel, nach Palästina verlegt, unser Kongress sollte dahin einberufen werden. Geehrter Kongress! Die Vertreter des Zionismus aus beiden Welten in der Türkei zu versammeln, wäre voreilig, solange wir nicht sicher waren, dass diese sich unseren Bestrebungen wohlwollend gegenüberstellt. Und vollends die Verlegung der Leitung unserer Bewegung nach dem türkischen Reiche wäre ein schwerer Fehler. Denn wir dürfen nie vergessen, dass unsere Aufgabe zurzeit noch eine doppelte ist, eine innere und eine äußere. Gewiss ist es nötig, dem Zionismus die Zustimmung der Türkei, die Förderung durch die türkische Regierung zu erwirken, aber ebenso nötig ist es, dass wir ihm das Verständnis und die Unterstützung des jüdischen Volkes zu gewinnen. Ich weiß nicht, ob ich mich dadurch in einen Gegensatz zu den sogenannten → praktischen Zionisten bringe, aber ich meine, dass unsere wichtigste Aufgabe immer noch nicht die Anbahnung amtlicher Beziehungen zur türkischen Regierung, sondern die Ausbreitung des zionistischen Gedankens, der zionistischen Überzeugung im jüdischen Volke ist. (Händeklatschen.) Erwachen Sie doch aus der Selbsttäuschung, in die Sie sich hineinträumen, hineinreden, hineinsingen. Zählen Sie sich! Messen Sie Ihre Kräfte! Glauben Sie wirklich, dass wir schon stark genug sind, um in Palästina Werke von derartiger Bedeutung für das Judentum und die Zukunft des jüdischen Volkes schaffen zu können, dass Sie ganz von selbst und natürlich Palästina zum Mittelpunkt unserer Bewegung, zum Sitz unserer Leitung machen? Ich glaube es nicht. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.) Ich bin vielmehr überzeugt, dass wir noch betrübend schwach sind und alles daran setzen müssen, um im jüdischen Volke selbst noch sehr viel Boden zu gewinnen. (Beifall.) Bauen wir unsere Organisation aus, führen wir ihr neue Anhänger zu Hunderttausenden zu, verdoppeln, verzehnfachen wir unsere Werbetätigkeit in den jüdischen Zentren Europas und Amerikas. Gerade heute hörten wir ermutigende Worte aus dem Munde der Herren → Dr. Levy und → Dr. Franck, die uns den richtigen Weg weisen (Beifall), wie wir diese innere Aufgabe erfüllen können. Haben wir sie erfüllt, können wir auch ziffernmäßig das Recht für den Zionismus in Anspruch nehmen, dass er das organisierte jüdische Volk in der → Zerstreuung ist, dann können wir uns mit ganz anderer Aussicht auf Erfolg auch unseren äußeren Aufgaben widmen, dann können wir in einer ganz anderen Haltung vor die türkische Regierung hintreten und ihr unser Anliegen unterbreiten. Unsere innere Aufgabe der Entwicklung und Stärkung des Zionismus aber erfordert, dass der Mittelpunkt und die Leitung unserer Bewegung außerhalb der Türkei, außerhalb des Machtbereichs der türkischen Regierung bleiben. Aus einer west- oder mitteleuropäischen Stadt wirkt
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man zurzeit auf Europa und die Länder europäischer Gesittung noch leichter als aus Jerusalem, Jaffa oder Konstantinopel. Für den Fall der Verhandlung mit der türkischen Regierung befinden wir uns in einer ganz anderen Lage, wenn wir sie von außen führen können, als wenn wir sie im Verhältnis einer türkischen Organisation, das heißt im Verhältnis von Untergebenen zu ihrer gesetzlichen Obrigkeit, zu verfolgen haben. (Sehr richtig.) In jedem anderen Lande, wo wir von der Regierung nichts verlangen und zu ihr keine amtlichen Beziehungen anzuknüpfen und zu unterhalten brauchen, haben wir eine viel größere Freiheit der Bewegung und Unabhängigkeit als in der Türkei. Ich meine, diese Gründe sind derartig einleuchtend, dass sie einer weiteren Ausführung nicht bedürfen. Unsere Zukunft liegt in der Türkei. Gewiss. Aber unsere Gegenwart liegt einstweilen noch in Europa und Amerika. Über unserer Zukunft dürfen wir unsere Gegenwart nicht vernachlässigen. Die Gegenwart soll unsere Zukunft vorbereiten, sie soll sie erst möglich machen. Sie schließt die Zukunft in sich ein wie einen Keim, der zu seiner Lebensfähigkeit und Entwicklung des Mutterleibes nicht entbehren kann. Und diese Gegenwart erfordert, dass wir die Leitung noch lassen, wo sie ist. Doch die niederschlagendste Wahrnehmung, die ich in den letzten Monaten machen musste, war, dass von vielen Seiten der Schrei nach einer Änderung unseres Programms ertönte. Haben diejenigen, die diesen Ruf erhoben, sich denn auch die Bedeutung und Tragweite ihres Verlangens voll vergegenwärtigt? Wir bezeichnen den Beschluss des ersten Zionistenkongresses als unser Programm, weil wir gern → Emphase vermeiden und uns absichtlich lieber einer nüchtern-geschäftsmäßigen Sprache bedienen. Aber täuschen Sie sich nicht! Was wir in der modernen Ausdrucksweise des Partei- und Vereinslebens „Programm“ genannt haben, das ist tatsächlich das in schlichte Worte gekleidete zweitausendjährige geschichtliche Ideal des Judentums, das Ziel, das dem jüdischen Volke in der Nacht des Exils als heller Stern leuchtete, die Hoffnung, für die die Besten unseres Volkes Übermenschliches erlitten haben und als Helden gestorben sind (lebhafter Beifall und Händeklatschen). Und auf dieses Ideal sollen wir beim ersten Zwischenfall der Tagespolitik verzichten? Der stürmische Beifall, mit dem Sie die Ausführungen bedeckten, in denen unser Vorsitzender eine derartige Entschließung zurückwies, beruhigt mich allerdings in diesem Augenblick über Ihre Gesinnung (erneuter Beifall). Verweilen wir noch ein wenig bei diesem Punkte. Was will man am Baseler Programm ändern? „Der Gedanke des → Charters hat sich überlebt“, eifert man. Das sei ohne weiteres zugegeben (Beifall). Aber im Baseler Programm steht kein Wort von Charter. Der „Charter“ war ein persönlicher Gedanke unseres verewigten Herzl, ein Gedanke, der sich verteidigen ließ, als der Schöpfer unserer Bewegung ihn fasste. Er hat ihn nicht verwirklichen können, und unter den heutigen Verhältnissen ist er gegenstandslos (sehr richtig). Also lassen wir ihn ruhig fallen, umso ruhiger, als er für unsere Bewegung wirklich nicht wesentlich ist und ihren Kern gar nicht berührt (Beifall). Er sollte ein Mittel zum Zweck sein. Er ist nicht mehr das geeignete Mittel. Nur ein Narr klammert sich hartnäckig an die Mittel, die als unzweckmäßig erkannt
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sind. Finden wir, dass sie untauglich sind, so ersetzen wir sie selbstverständlich durch andere. In einer absolutistischen Türkei mussten wir Freiheiten verlangen, die bei der allgemeinen Unfreiheit notwendigerweise den Charakter von Vorrechten gehabt hätten und förmliche vertragsmäßige Bürgschaften erforderten. In einem Verfassungsstaat, in dem alle Bürger sich des Genusses gewährleisteter Freiheiten erfreuen, bedürfen wir keiner Vorrechte und keiner Sonderbürgschaften. Das gemeine Recht genügt (Beifall). Also legen wir Herzls Gedanken achtungsvoll in das Archiv des modernen politischen Zionismus und sprechen wir nicht mehr davon. Doch ich wiederhole: Der Charter hat mit dem Baseler Programm nichts zu tun. Was hat man aber an dem Baseler Programm auszusetzen? Es soll nicht mehr gesagt werden: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk.“ Öffentlich-rechtlich ist unnütz, wenn nicht gefährlich. Geehrter Kongress! Ich bin, ich darf es wohl sagen, berufen, zu diesem Punkt zu sprechen. Es ist vielleicht trotz der Raschlebigkeit und trotz der Kürze des Gedächtnisses der heutigen Menschheit noch nicht ganz vergessen, dass für die konkrete Fassung, das heißt für den Wortlaut des Baseler Programms, in der Hauptsache ich verantwortlich bin. Ich hatte ursprünglich den Ausdruck „öffentlich-rechtlich“ nicht gebraucht. Er schien mir unnötig. Ich sagte einfach „rechtlich gesichert“. Im Programmausschuss befanden sich jedoch grundstürzende Feuerbrände, denen mein Ausdruck nicht genug sagte. Sie träumten mehr und wollten ihren Traum in sprachliche Form kleiden. Sie drohten mit Reden und Anträgen in der öffentlichen Sitzung, die unsere Bewegung gleich bei ihrem ersten Schritt vor der Öffentlichkeit schlimm bloßgestellt hätten. Da machte unser Herzl den Vermittlungsvorschlag, meine Fassung „rechtlich gesichert“ durch die Wendung „öffentlich-rechtlich“ zu ersetzen. Von dieser Änderung waren die Radikalen leidlich befriedigt, und es wurde erreicht, dass das Baseler Programm dann einstimmig mit jubelndem Zuruf angenommen wurde. Sie sehen, ich hätte keinen persönlichen Grund, mich für das „öffentlich-rechtlich“ einzusetzen. Ich tue es aber dennoch, denn wenn wir es jetzt ändern, so geben wir dem Worte nachträglich eine Deutung, die eine dreiste Fälschung seines wirklichen, ursprünglichen Sinnes wäre. Eine kleine Minderheit des I. Kongresses verband mit dem Ausdruck die Vorstellung einer jüdischen Einwanderung in Palästina unter den → Auspizien der Großmächte, die diese jüdische Besiedelung des Heiligen Landes als einen Bestandteil des europäischen Staatsrechts anerkennen sollten. Der ungeheuren Mehrheit des Kongresses jedoch war eine derartige ausschweifende Phantastik vollständig fremd. Mit „öffentlich-rechtlich“ wie mit „rechtlich gesichert“ wollte sie lediglich sagen, dass die Zionisten den Gedanken abweisen, sich in Palästina einzuschleichen, dass sie nur auf Grund ausdrücklich gewährter Rechte in den ottomanischen Staatsverband eintreten wollen. (Lebhafter Beifall.) Das ist die Bedeutung von „öffentlich-rechtlich“. Diese Bedeutung hat unser Vorsitzender in einer feierlichen Erklärung festgestellt. Es war vielleicht nicht überflüssig, dass ich
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sie nochmals ausdrücklich betone. Wer dem Worte eine andere Bedeutung unterstellt, der versteht seinen Sinn nicht richtig oder ist nicht guten Glaubens. Ähnlich verhält es sich mit dem Punkte, der ebenfalls zu Änderungsforderungen angeeifert hat, dem Punkte, der von → „den nötigen Regierungszustimmungen“ spricht, um die der Zionismus sich bewerben soll. Bei „Regierungszustimmungen“ denken die Reformatoren offenbar an die Zustimmung der Großmächte, deren wir in der Tat bedurft hätten, solange wir das Recht zur Besiedelung Palästinas von der Laune eines Despoten erwarteten, die aber vollkommen überflüssig wird, wenn wir dieses Recht von den berufenen Vertretern des freien souveränen Ottomanenvolkes zu erlangen hoffen. (Lebhafter Beifall.) Sie haben aber flüchtig gelesen. Sehen Sie sich den Text genauer an. Da steht nicht „die nötigen Zustimmungen der Regierungen“, sondern: „die nötigen Regierungszustimmungen“, das heißt die nötigen Zustimmungen der Regierung, in der Einzahl! (Heiterkeit. Beifall.) Dass mit dieser einen Regierung heute nur die türkische gemeint ist und sein kann, liegt doch auf der Hand, und wir erklären es hier noch ausdrücklich. (Beifall.) Dass aber die Erlangung der nötigen Zustimmungen der türkischen Regierung zur gesetzlichen Besiedelung Palästinas eine der Aufgaben des Zionismus ist, das wird hoffentlich in dieser Versammlung niemand bestreiten wollen. (Beifall.) Wir wollen und werden an unserem Programm kein → Jota ändern. Nicht weil wir ihm etwa eine → mystische Unantastbarkeit zuschreiben. Solcher → Wortfetischismus ist uns vollkommen fremd. Aber weil das Baseler Programm unsere ganze Sehnsucht und all unsere Bestrebungen offen und klar ausdrückt. Diese Hoffnung schätze ich an ihm besonders hoch. Wir haben keine Hintergedanken. Wir bezeichnen in voller Aufrichtigkeit unser Endziel: nämlich als modernes hochgesittetes Volk ungestört und unangefochten im Lande unserer Väter national zu leben. (Anhaltender Beifall.) Und diese Offenheit gibt uns das Recht, Vertrauen zu fordern und jedem mit Stolz und von sehr hoch herab zu antworten, der uns ich weiß nicht welche Hintergedanken, ich weiß nicht welche unausgesprochenen Nebenabsichten zuschreibt. → Gewisse Gegner sind gegenwärtig in der Türkei an der Arbeit, uns dort mit einer Erbitterung zu bekämpfen, die zwölf Jahre ohnmächtiger, ergebnisloser Feindseligkeiten in Europa und Amerika maßlos gesteigert haben. Sie haben uns in den politischen Kreisen der Türkei mit Verleumdungen verfolgt, die man in der europäischen Öffentlichkeit nicht mehr zu wiederholen wagen würde, die man aber zur Ausfuhr nach dem Morgenlande noch ganz brauchbar findet. (Heiterkeit und Beifall.) Man hat die türkischen Vaterlandsfreunde mit Misstrauen gegen uns erfüllt. Man hat ihnen eingeredet, wir planten, eine Provinz vom türkischen Reich loszureißen, wenn wir erst in Palästina wären, dieses für unabhängig zu erklären und das Land zu einem selbstständigen Königreich oder einer Republik der Juden zu machen. In Europa könnte niemand derartige → Tollheiten herumschwatzen, ohne dass man ihm ins Gesicht lachen würde; türkische Zuhörer, die weniger gewarnt sind, lassen sich durch eine derartige alberne → Fopperei zum Besten halten. Wir
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sagen ihnen deshalb: Lasst euch von unseren Gegnern keinen Bären aufbinden. Sie machen sich über euch sträflich lustig. Niemand von uns hat je daran gedacht, Palästina vom ottomanischen Reiche loszureißen, ein Königreich oder eine Republik zu errichten und dem ottomanischen Reich für die wohlwollende Aufnahme, die es den Zionisten gewähren würde, durch einen Anschlag auf die Reichseinheit zu danken. Was wir wollen, das ist, im ottomanischen Staatsverband eine Nationalität zu bilden wie alle anderen Nationalitäten im Reiche. Die Anerkennung unserer Nationalität verlangen wir allerdings, darüber soll kein Zweifel bestehen. Es soll unser Ehrgeiz sein, den Namen der loyalsten, der zuverlässigsten und der brauchbarsten aller türkischen Nationalitäten zu verdienen, an dem Wohlstand, am Fortschritt und an der Macht des Reiches am eifrigsten mitzuwirken (anhaltender Beifall), aber wohlverstanden: All das wollen wir nur als Nationalität leisten, als jüdische Nationalität. Das ist unsere offene Antwort auf gewisse türkische Äußerungen. Man hat uns gesagt: „Kommt nur immer zu uns nach der Türkei, ihr sollt uns willkommen sein. Ihr findet bei uns alles, was ihr verlangt, fruchtbaren, billigen, vielleicht unentgeltlichen Boden, Sicherheit gegen Verfolgung, die Freiheiten, die jedem Bürger des ottomanischen Reiches gewährleistet sind, aber ihr müsst ottomanische Staatsangehörige werden, die türkische Sprache annehmen, im türkischen Volk aufgehen, so dass man euch von den anderen Türken nicht unterscheiden kann. Und damit ihr ganz sicher diese Bedingungen auch einhaltet, werden wir euch nicht gestatten, in größerer Zahl oder gar in geschlossenen Verbänden beisammen zu siedeln. Wir werden euch gleichmäßig durch alle Provinzen des türkischen Reiches verteilen, und wir werden euch namentlich in Palästina nicht eindringen lassen. Palästina soll euch verschlossen bleiben, die einzige Provinz im türkischen Reiche.“ Angesichts derartiger Anschauungen ist es ein Gebot der Ehre und der Selbstachtung, auf das Basler Programm hinzuweisen (Beifall, Händeklatschen) und zu erklären, dass wir es unverändert aufrechthalten und kein einziges Wort davon liebedienerisch übertünchen wollen. Denn in der Grundtatsache des Zionismus kenne ich keinen → Opportunismus. In diesem Punkte ist ein Zugeständnis nicht möglich. Wenn die Zionisten in die Türkei gehen wollen, so ist es, um als ottomanische Staatsangehörige palästinensische Juden zu sein, nicht um uns irgendwo in Mazedonien oder in Kleinasien zu Türken zu machen. Wenn sie sich → assimilieren wollen, so haben sie das näher und billiger, dann tun sie es dort, wo sie sind, und sparen die Reisekosten und das Ungemach der Wanderung und der Einlebung in neue Verhältnisse. (Große Heiterkeit, Händeklatschen.) Sie sind aber Zionisten, weil Sie sich eben nicht assimilieren wollen. Sie drängen nach Palästina, um im Lande der Väter als jüdische Nationalität zu leben und sich auszuleben. (Beifall.) Sagt man uns daher: „In Palästina lassen wir euch nicht ein, jüdisch-national dürft ihr nicht leben, die Türkei nimmt euch nur auf, wenn ihr auf euren Zionismus verzichtet“, so werden wir eine Anstrengung machen, um kein Wort zu erwidern, das dauernde Feindschaft stiftet, und brechen eine Unterredung ab, die zurzeit kein Ergebnis verspricht. Die Zionis-
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ten haben so lange gewartet, sie werden noch länger warten. Inzwischen aber werden sie das zionistische Ideal unverbrüchlich aufrechthalten. (Beifall.) Ich sage das vorläufig nur in meinem Namen. Sie werden unzweifelhaft Gelegenheit nehmen wollen, unzweideutig zu erklären, ob Sie mit mir einer Meinung sind oder nicht. Ich bin ein Zionist, der seine Fahne nie und nimmer in die Tasche steckt. (Beifall.) Wenn andere Zionisten bereit sind, ihren Zionismus zu verheimlichen oder gar aufzugeben, dann trennen sich unsere Wege. Mein Ideal ist, ein jüdisches Volk im Lande seiner Väter zu sehen, geadelt durch seine zweitausendjährige Charakterfestigkeit, geachtet wegen seiner ehrlichen und ersprießlichen Kulturarbeit, ein Werkzeug des weisen Fortschritts, ein Streiter der Gerechtigkeit, ein Verkünder und Über der Bruderliebe. Von diesem Ideal gebe ich nicht ein I-Tüpfelchen auf. In diesem Punkte gibt es kein Zugeständnis. Dieses Ideal gebe ich um alle Schätze der Welt nicht auf, geschweige denn für ein Linsengericht. Widersetzt die heutige Türkei sich der Verwirklichung meines Ideals, so muss ich eben warten, länger warten, schmerzlich lange warten. Langes Warten ist ein Kummer, es ist keine Schande. Wankelmütigkeit ist eine Schande. Mein Ideal ist unverjährbar. Es gestattet jede Hoffnung. Endgültig hoffnungslos aber ist die Selbstaufgabe. Das musste gesagt werden, für die Türkei, für die Welt, für uns Juden. Ich hatte in den letzten 18 Monaten mitunter die beklemmende Empfindung, dass im Bewusstsein mancher Zionisten der Ausgangs- und Zielpunkt unserer Bewegung verdunkelt werde. Darum rufe ich so laut ich kann: Zurück zum Baseler Programm! (Beifall.) Vergessen wir nie, dass wir die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk erstreben, nicht für tausend arbeitsuchende jüdische Tagelöhner, nicht für hundert stellungsuchende jüdische → Intellektuelle; vergessen wir nie, dass wir die Ehre des jüdischen Volkes von allem Schmutz säubern wollen, mit dem zweitausendjähriger Hass sie besudelt hat, und dass erst dieser Vorsatz den großen Zug in unsere Bewegung bringt, die ohne ihn ein schlecht geplantes, mit unzulänglichen Mitteln ins Werk gesetztes, unpraktisches, kleines Kolonisationsunternehmen wäre. Stark durch unseren Gedanken, erhoben durch unseren Zweck können wir allen Zwischenfällen der wechselnden Tagespolitik gegenüber innerlich ruhig bleiben. Äußere Vorgänge können die Pole unseres Wesens verrücken. Will die Türkei uns als aufopfernde Mitarbeiter ihres Gedeihens, so bieten wir uns ihr dazu freudig an. Fordert man aber von uns den Verzicht auf die jüdische Hoffnung und die Assimilation, dann sagt das Judentum: „Nein!“ (stürmischer Beifall), wie es verlockenderen Kulturen immer „Nein!“ gesagt hat. (Abermaliger Beifall.) Mag der Kongress immerhin praktische Arbeit in Palästina beschließen, soweit sie uns derzeit möglich ist. Er wird aber niemals vergessen wollen, dass seine Voraussetzung nationales Judentum ist und dass er Selbstmord begehen würde, wenn er an diesem Grundbegriff seines eigenen Lebensgesetzes zweifeln ließe. (Anhaltender Beifall.) Was ihn geschaffen hat, das ist der Zionismus. In einer Bewegung aber, die nicht nur ihre Mittel, sondern auch ihr Ziel einem Wechsel des türkischen Regierungssystems zuliebe ändern würde, würde ich keinen Zionismus mehr erken-
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nen, sondern Assimilation, türkische Assimilation. Dieser Zionismus wäre nicht länger mein Zionismus! (Minutenlanger, stürmischer Beifall und Händeklatschen.) Quelle: Die Welt, 31.12.1909, H. 54, S. 1243–1247, dort unter der Überschrift → Rede Dr. Max Nordaus – Paris. Ferner in: Die Welt, 27.12.1909, H. 53, S. 1168–1172, dort unter dem Titel Rede Dr. Max Nordaus, und in: ZS2, S. 188–204.
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67 Über den Gegensatz zwischen Ost und West im Zionismus Es wird jetzt viel von einem Gegensatze zwischen russischen und westeuropäischen Zionisten gesprochen. Wenn ich über diesen Gegensatz befragt werde, so gerate ich in die Verlegenheit, die man empfindet, wenn man in einer Sprache angeredet wird, die man nicht versteht. Ich weiß nicht, was Sie mit jenem Gegensatze meinen. Ich sehe ihn nicht. Ich empfinde ihn nicht und habe ihn nicht empfunden. Es gibt Zionisten aus Russland, mit denen ich mich vollkommen eins weiß und mit denen mich die innigsten Sympathien verbinden; es gibt Zionisten aus dem westlichen Europa, von denen mich alles trennt und an denen mich nur wundert, dass sie sich ebenfalls Zionisten nennen, also doch wohl wenigstens einen Gedanken oder ein Gefühl mit mir gemein haben müssen, vorausgesetzt allerdings, dass sie unter Zionismus dasselbe verstehen wie ich, was freilich nicht sicher ist. Vermeiden Sie um alles in der Welt, sich in Russland einen Gegensatz zu suggerieren, der in der Wirklichkeit nicht besteht. Durch Ihre Suggestion könnten Sie ihn schaffen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein willkürlich erfundenes, ursprünglich inhalt- und bedeutungsloses Schlagwort, das von unverantwortlichen Erfindern in Umlauf gesetzt wurde, bei der gedankenarmen Menge den Rang eines → Fetisches erlangte, → Fanatiker schüfe und zu unheilbaren Parteispaltungen den Anlass gäbe. Es ist eine bequeme Vereinfachung und Verallgemeinerung, mit einem einzigen Ausdruck alle Russen einerseits, alle Nichtrussen anderseits zusammenzufassen, von russischen und von westeuropäischen Zionisten zu sprechen und sie einander schroff entgegenzusetzen. Das erzeugt den Anschein einer Einheitlichkeit der einen und der anderen Partei, der dem Klassifikations- und Symmetriebedürfnis schlichter und etwas träger Geister entgegenkommt. Diese künstliche Synthese entspricht aber nichts Wirklichem. Es gibt keinen russischen und westeuropäischen Zionismus. Ich kenne nur einen Zionismus, der nach der Organisation des jüdischen Volkes in der → Zerstreuung, nach seiner Zurückführung in das Land der Väter, nach einer Erneuerung seines geschichtlichen, kulturellen, politischen Nationallebens strebt. Was es aber allerdings gibt, das sind ungeduldige, → weltfremde, schwärmende Zionisten und positiv gerichtete, mit den Möglichkeiten rechnende, die realen Kräfte abschätzende Zionisten. Und das Sonderbare ist, dass die ersteren in bestem Glauben sich für die Praktiker, die anderen sich für bloße Theoretiker halten. Dieser Unterschied des Temperaments, der Bildung, der Urteilsfähigkeit fällt jedoch mit kei-
Unser → Petersburger Bruderorgan, der „Rasswjet“, hatte an Herrn Dr. Nordau das Ersuchen gerichtet, sich über die Gegensätze zwischen den ost- und westeuropäischen Zionisten zu äußern. Mit freundlicher Erlaubnis des Autors bringen wir hier das Originalmanuskript seines in Nr. 7 des „Rasswjet“ wiedergegebenen Antwortschreibens zum wörtlichen Abdruck. – – Die Red.
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ner geographischen Grenze zusammen. Beide Kategorien sind in Russland ebenso vertreten wie in Westeuropa, wenn auch vielleicht in anderem Zahlenverhältnis. Auf dem letzten Kongress haben wir beobachtet, dass die russische Landsmannschaft ungefähr geschlossen stimmte und in den Hauptfragen unterlag, obschon ein großer Teil der Österreicher mit ihr ging. Erhob die Mehrheit sich etwa gegen sie, weil sie russisch war? Wer das zu behaupten wagte, würde die Wahrheit ruchlos fälschen. Die Mehrheit folgte den → Herren Ussischkin, → Dr. Tschlenow und Professor → Weitzmann nicht, weil diese Herren nicht imstande waren, deutlich zu formulieren, was sie eigentlich wollten. Dass sie allgemein unzufrieden waren, sah man allerdings; aber womit sie unzufrieden waren, das wussten die unzähligen Redner ihrer Partei nicht klar verständlich zu machen, und noch weniger war es möglich, von ihnen ein deutliches, positives Programm zu erlangen. Sie griffen Hrn. Wolffsohn mit verschwommenen, wenngleich heftigen Redensarten an (man denke an die Rede der Herren → Dr. Pasmanik und Dr. Tschlenow!), sagten aber nie, welche bestimmte, konkrete Handlung oder Unterlassung sie ihm als Fehler vorwarfen. Die Mehrheit hatte also keinen Grund, ihm ihr Vertrauen vorzuenthalten, das die Minderheit ihm anscheinend nur verweigerte, weil ihr seine Nase missfiel. Die oben bezeichnete Partei wollte die bestehende Organisation enthaupten und bis zur Auflösung zerrütten und an ihre Stelle eine andere setzen. Das geschah mit solcher Leichtblütigkeit, so souveräner Verachtung aller positiven Faktoren, solcher → Wolkenkuckucksheimträumerei, dass beispielsweise die meisten Personen, die sie für die neue Leitung bezeichnet hatte, die ihnen zugedachte Rolle mit beinahe komischem Wetteifer ablehnten. Wieder sah die Mehrheit, dass die Minderheit ins Blaue plante, ohne sich zuvor zu vergewissern, ob sie auf die Menschen und Dinge, über die sie großartig verfügte, auch rechnen konnte, und sie weigerte sich natürlich, sich auf ein boden- und uferloses Abenteuer einzulassen und eine Organisation zu zerstören, die sich bewährt hat und an deren Stelle die Minderheit tatsächlich nichts zu setzen vermag. Als Programm wusste die Minderheit immer nur die Redensart in allen Tonarten zu wiederholen: „Praktische Arbeit in Palästina!“ Das ist doch die natürliche, die selbstverständliche Aufgabe des Zionismus, das ist doch unser aller Forderung, in diesem Punkte gibt es doch keine Meinungsverschiedenheit zwischen uns! Aber was versteht die Minderheit unter praktischer Arbeit? „Das ganze Kapital unserer → Kolonialbank muss nach Palästina übertragen werden!“ Der Leiter unserer → AngloPalestine-Company erklärt, er habe schon für das ihm zugewiesene Kapital keine sichere und lohnende Verwendung. Was sagen unsere „Praktiker“ zu diesem Argument? „Wir müssen eine → Agrarbank gründen!“ Die Türkei hat keinen → Kataster, sichere Bodenbesitztitel sind für den Einzelnen schwer, für Gesamtheiten überhaupt nicht zu erlangen, Hypotheken einzutragen gibt es keine gesetzliche Möglichkeit, es fehlt also zurzeit noch an allen Voraussetzungen einer Agrarbank, die ihrer Definition gemäß nicht Personal-, sondern Realkredit zu gewähren berufen wäre. Was sagen unsere „Praktiker“ zu diesem Argument? „Wir müssen Land kaufen, Menschen
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ansiedeln, Einrichtungen schaffen.“ Die augenblicklichen Machthaber in der Türkei erklären kategorisch, keine jüdischen Ansiedelungen in Palästina zu gestatten. Was sagen unsere „Praktiker“ zu diesem Argument? Das Programm der Minderheit ist keines, denn vage Sehnsucht und Wünsche sind keine Arbeitsprogramme, und die wenigen konkreten Punkte sind zurzeit unausführbar. Natürlich musste die nüchterne, positiv gerichtete Mehrheit die traumbefangene, Luftspiegelungen verzückt folgende Minderheit wieder ihre nirgendwohin führenden Irrpfade allein wandeln lassen. Aber diese Gegensätze, die ich so scharf und klar wie möglich zu definieren gesucht habe, sind nicht solche von Westeuropäern und Russen, sondern solche von weltfremden Schwärmern, die aus ihrem Gefühl heraus eine unwirkliche Welt reiner Begriffe konstruieren, und von Menschen mit Wirklichkeitssinn, die das derzeit Mögliche vom einstweilen Unmöglichen zu unterscheiden wissen; wenn man will: Es sind die Gegensätze zwischen Hegelianern und Positivisten. Ich zweifle nicht daran, dass das Leben sich als erfolgreicher Erzieher an der Minderheit bewähren wird. Sie wird sich durch schmerzliche Erfahrung überzeugen, dass man in der Luft mit Wolken und Winden keine festen Häuser bauen kann, und sich einer solideren Baumethode zuwenden. Dann wird es keine Gegensätze zwischen uns geben, man wird nicht mehr mit allerlei bedauerlichen Hintergedanken von Russen und Westeuropäern sprechen und es wird wieder für uns alle nur eine Bezeichnung geben: die Bezeichnung „Zionisten“. Paris, 16. Februar 1910. Quelle: Die Welt, 18.3.1910, H. 11, S. 231–232.
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68 Was Herzl uns bedeutet Wir feiern den 50. Geburtstag eines Toten. Welch überzeugenderen Beweis kann es geben, dass er ein Lebender ist? – Theodor Herzl, der als 44-Jähriger von hinnen gegangen, ist es so sehr, dass er sich noch immer entwickelt und vor unseren Augen, in unserem Bewusstsein Wandlungen erfährt. Als er uns vor bald sechs Jahren genommen wurde, hatten wir natürlich genug nur einen Gedanken: Wir erleiden einen Verlust, den wir nicht verwinden können; unsere Bewegung ist führerlos; der Zionismus ist enthauptet; sein altes Verhängnis hat das jüdische Volk an einem Wendepunkte seiner Geschicke wieder hart heimgesucht; es hat ihm den Mann geraubt, der ihm, wenn jemand, ein Helfer und Retter zu werden versprach. Heute sehen wir das Ereignis, das uns damals eine Katastrophe schien, bereits anders an. Wir beginnen zu begreifen, dass es uns Wunden schlug, doch auch Heilwirkungen übte; dass es uns sehr viel nahm, doch auch etwas gab, so dass wir nicht nur verarmten. Die menschlichen Empfindungen, die der frühe Tod eines Mannes der Auslese in seinem Kreise erregt, ändern ihre Natur nicht, wenn die Zeit sie auch lindert. Seiner Familie konnte nichts ihn ersetzen. → Sein Verschwinden hat das Ende seiner herzleidenden Gattin zweifellos um Jahre beschleunigt. Seine Mutter weint um den herrlichen Sohn heute wie am Tage, da sie ihm die Augen schloss. Seine verwaisten Kinder haben sich noch immer nicht in ihr grausames Schicksal gefunden und quälen sich in bangen Stunden mit der Frage, wie ihr junges Leben sich wohl gestaltet haben würde, wenn es sich unter dem Schutz und der Leitung des liebenden Vaters hätte entfalten können. Seinen Freunden fehlt der warmherzige, treue, geistvolle Freund, und ihre Trauer um ihn erneut sich, sooft sie seiner gedenken. Die Schätzer seiner schriftstellerischen Begabung werden immer tief beklagen, dass ihm keine Zeit beschieden war, alles aus sich hervorzutreiben, was sein fruchtbarer Geist noch an reichen Keimen in sich schloss. Aber anders stehen seine Nächsten und Nahen, anders steht das jüdische Volk zu ihm. Die Einbildungskraft hat die natürliche Neigung, ein jäh und vorzeitig abgebrochenes heroisches Dasein in Gedanken fortzusetzen und zu ergänzen und sich ein Bild davon zu machen, wie es wohl weiter geworden wäre. Theodor Herzls Lebensgang war bis zu seinem Schluss steil aufsteigend. Professor → Leon Kellner hat sich der verdienstvollen Aufgabe unterzogen, die Geschichte dieses Lebens mit seiner bewährten Kunst, die sein Herzensanteil an dem Gegenstande gewiss noch steigern wird, zu erzählen. Wir erwarten das Buch, das er uns schenken will, mit Ungeduld. Ich bin sicher, dass es sich wie eine märchenhaft schimmernde Heldensage lesen wird. Konnte dieses Ausnahmegeschick sich auf der Höhe erhalten, zu der es sich erhoben hatte? Wäre es den Gefahren des Misserfolges auf die Dauer entgangen? Hätten wir nicht den Kummer erlitten, es rasch oder allmählich in die Niederungen der Alltäglichkeit zurücksinken zu sehen?
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Welch eine Enttäuschung, welch eine Versündigung an der Schönheit, wenn die Ballade von Herzl banal ausgeklungen wäre! Sein Leben baute sich wie ein Drama voll atemraubender Spannung auf. Nach der Idylle seiner glücklichen Kindheit und wohlhabenden, äußerlich kampflosen Jugend und der stillen Ausreifung seiner Mannheit in früher Liebesehe und Familienverantwortlichkeit endet dieses Vorspiel etwa in seinem 36. Lebensjahre, und von da an schreitet die Handlung beflügelten Ganges von einem wirksamen Auftritt zum anderen, von einer Überraschung, einer Sensation zur anderen, bis das plötzliche Sinken des Vorhanges sie mitten in ihrer glänzendsten Entwicklung abschneidet. Was hätten die folgenden Aufzüge gebracht? Man vergegenwärtige sich die Momente, die sich bereits vor unseren staunenden und entzückten Blicken abgespielt hatten. Herzl tritt vor den große Pläne im Kopfe wälzenden Baron Hirsch, zeigt ihm, was er mit seinen hunderten Millionen dem jüdischen Volke werden kann, und wird von dem Finanzmann, in dem ein eigentümlicher unbewusster Idealismus von der Erdenschwere eines nüchternen Praktikers am Aufflug gehindert wird, nicht verstanden. Er schickt den → „Judenstaat“ in die verwundert aufhorchende Welt hinaus. Die Brüder Marmorek bieten ihm als die ersten → Paladine seiner Tafelrunde ihre treue Heerfolge an und die → Wiener Kadimah erhebt ihn als den Führer der nationalen Bewegung, als den Heerkönig Jungjudas auf den Schild. Mit einer Tatkraft, die jedes Hindernis im stürmischen Anlauf niederwirft, ruft er die „Welt“ ins Leben und versammelt den ersten Baseler Kongress, der wie ein Donnersturm durch das ganze Judentum braust, es bis zum Grund erschüttert und sein stockendes Leben auffrischt. Schlag auf Schlag folgen einander die unerwartetsten dramatischen Momente. → Der Großherzog von Baden, der Großherzog von Hessen, der deutsche Kaiser empfangen den Präsidenten der neu geschaffenen zionistischen Weltorganisation. Er hat eine lange Unterredung mit dem → Sultan Abd ul Hamid, der ihm den → Großkordon des Medschidieordens verleiht. In Jerusalem führt er eine Abordnung seiner zionistischen Mitarbeiter zum deutschen Kaiser und richtet eine vorher vereinbarte bedeutungsvolle Ansprache an ihn. Er besucht den → König von Italien und sogar den → Papst, dessen Wohlwollen er in seinem romantischen Optimismus für die Wiedergeburt des Judenvolkes zu gewinnen sucht und hofft. Er tritt zum englischen Kolonieminister Josef Chamberlain in persönliche Beziehung und macht auf diesen harten und festen politischen Rechner einen derartig tiefen Eindruck, dass er ihm die Überlassung von → El Arisch in Aussicht stellt und, als dieses Land sich für Besiedelungszwecke unbrauchbar zeigt, ihm den gesundesten und fruchtbarsten Teil von → Britisch-Ostafrika für das jüdische Volk anbietet. Und während diese großen Dinge sich entrollen, errichtet er die jüdische → Kolonialbank und fasst den Gedanken des jüdischen → Nationalfonds. Er überwindet mit überragender Geisteskraft und Geschicklichkeit Auflehnungsversuche innerhalb der eigenen Reihen, heilt den Riss, den das → Uganda-, richtiger Nairobigeschenk unter uns verursacht hat, und rüstet sich zu einem neuen Feldzug, als die → Parze den Faden seines Lebens und des historischen Dramas durchschneidet.
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Ist es denkbar, dass das Nachfolgende das Voraufgegangene an Bedeutung und Glanz überboten oder auch nur erreicht hätte? Er selbst zweifelte daran. Er selbst hatte die Empfindung, dass die großen Effekte ungefähr erschöpft waren und den Blitzen und Donnerschlägen des Beginns nunmehr die stille Zeit der ruhigen, gleichmäßigen, unentbehrlichen, doch unansehnlichen Kleinarbeit folgen musste, und ihn beschlich ein Bangen vor dem Eindruck dieses Wechsels im Rhythmus der zionistischen Bewegung auf das jüdische Volk, das er als nervös, nach starken Impressionen begierig, von erregbarer, doch unsteter Phantasie, leicht hinzureißen, doch schwer im Dauermarsch zu erhalten kannte. In Stunden der Gedrücktheit, die zwar zum Teil seinem Gesundheitszustande, doch zu einem guten Teil auch den angedeuteten Erwägungen zuzuschreiben waren, verzagte er geradezu an seiner Sendung, glaubte seine Führerrolle ausgespielt und gab dem engsten Kreise seiner Getreuen die Umrisse der Rede bekannt, in der er auf dem nächsten Kongress seinen Entschluss, von der Leitung der zionistischen Bewegung zurückzutreten, ankündigen wollte. Wir konnten ihn überzeugen, dass er etwas Unmögliches träumte. Herzl am Leben und nicht mehr an der Spitze des Zionismus! Herzl wieder ganz Journalist und Bühnenschriftsteller und abseits von der zionistischen Bewegung, die ohne ihn weiterging, fern von den Kongressen, die ohne seine Gegenwart stattfanden! Das war undenkbar. Wenn es aber dennoch geschehen wäre? Und da entreißt sich meiner Brust unwillkürlich der grausame Ausruf: Glücklicherweise hat der Tod es zu keiner Krise im Verhältnis Herzls zum Zionismus kommen lassen! Glücklicherweise. Es ist schrecklich, dass ein solches Wort in solchem Zusammenhange gebraucht werden kann, und doch schließt es Wahrheit in sich, denn bei aller Unwahrscheinlichkeit ist es doch nicht unmöglich, dass Herzl sich abgenutzt und bis auf den Rest verbraucht hätte und in einem Zusammenstoß zwischen der Autorität und den Widerständen dem Zionismus verloren gegangen wäre. Dieser Verlust aber wäre der Bewegung, der großen Sache, der Hoffnung des jüdischen Volkes, dem jüdischen Volke weit verhängnisvoller geworden als der Verlust durch den Tod des Führers in seiner vollen Autorität. So ist Herzl uns gestorben, aber wir haben ihn nicht verloren. Er lebt zwischen uns weiter, wie → in der frommen Sage des deutschen Volkes der Kaiser Rotbart weiterlebte, eine Hoffnung, eine Kraftreserve, ein Unterpfand der Zukunft, eine → mystische Verheißung. Im Leben war Herzl bestritten; bewundert von den einen, nichtswürdig angegriffen und beschimpft, sogar schwachköpfig verspottet von den anderen. Seit seinem Tode ist er in ein anderes Licht gerückt, in ein Jenseitslicht. Er hat, soweit ich sehen kann, keine Gegner mehr. Er ist einmütig als außerordentliche Geschichtserscheinung anerkannt. Er ist über das Maß des Alltags hinausgewachsen; er ist → apotheosiert. Die katholische Kirche gestattet in ihrer großen Weisheit, Menschenkenntnis und Welterfahrung nicht, dass jemand heiliggesprochen werde, solange noch ein einziger Mensch auf Erden wandelt, der ihn im Leben persönlich kennen konnte. Der Grund dieser Bestimmung ist einleuchtend: Auch der Heilige mag als Mensch Schwächen gehabt haben, deren letzter möglicher Zeuge ver-
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schwunden sein soll, ehe ihm der jeden Makel und Mangel ausschließende Heiligenschein um das Haupt geflochten wird. Herzl hat dieser Schutzfrist nicht bedurft. Er wäre, wenn er heute noch lebte, noch kein alter Mann. Wir würden seinen 50. Geburtstag in der Überzeugung feiern, dass er eben die Mittagshöhe seines Daseins erreicht hat. Die meisten seiner Freunde und Bekannten stehen in der blühenden Vollkraft ihrer Tage. Er ist ihnen durchaus gegenwärtig, als hätten sie ihn gestern gesehen, als sollten sie ihn morgen wiedersehen. Sie kannten alles Menschliche an ihm, auch das kleine und sehr kleine; aber sie haben es vergessen. Sie erinnern sich nicht, dass sie ihn einst beurteilten, ihm vielleicht Unfreundliches nachsagten. Sie sehen jetzt nur eine gleichmäßig glänzende Lichtgestalt ohne Flecken und bewundern und preisen ohne Vorbehalt. Vergebens würde man heute versuchen, das Zeugnis der Lebenden gegen ihn anzurufen. Der → advocatus diaboli (der im → Kanonisationsprozess die Aufgabe hat, gegen den Heiligzusprechenden zu → plädieren) würde niemand finden, auf den er sich stützen könnte. Der Besitz einer solchen Persönlichkeit in seiner Geschichte ist von unvergleichlichem → dynamogenem Werte für ein Volk. Seit Herzls Tode hat das jüdische Volk große Ereignisse erlebt. Die einen waren für es furchtbare Heimsuchungen, die anderen weckten in ihm überschwängliche Hoffnungen und Morgenrotahnungen. Bei all diesen Ereignissen fragten wir uns: „Wenn unser Herzl jetzt lebte – was würde er tun? Wie würde er diesen Augenblick erfassen und für sein Volk wenden?“ Das fragten wir uns bei den russischen Niederlagen in Ostasien, bei den Friedensverhandlungen auf amerikanischem Boden und unter amerikanischem Einfluss, beim Ausbruch der russischen Umwälzung, bei der scheußlichen Mord- und Raubbewegung der russischen → Schwarzen Hundert gegen unsere wehrlosen Brüder, bei der Erneuerung der Präsidentschaft → Roosevelts, beim Anbruch der → ottomanischen Verfassungsära. Immer wollte unser nüchterner Verstand antworten: „Wir träumen wie Kinder. Herzl würde gar nichts tun, weil er gar nichts tun könnte. Er wäre ein machtloser Zuschauer des Donnerganges der Geschichte wie wir anderen auch. Er hätte so wenig das Mittel, wirksam einzugreifen, wie wir.“ Aber immer erhob sich eine Stimme des Glaubens und hieß den → Rationalismus und die Skepsis verstummen und sagte laut und vertrauend: „Wir sehen nicht, was hier zu tun wäre, weil wir eben Menschen des Alltags sind; Herzl aber hätte es gesehen, weil er Herzl war. Er hätte etwas getan, woraus dem jüdischen Volke Heil ersprossen wäre.“ Ein solcher Glaube ist von unersetzlichem Werte für ein verfolgtes, angefeindetes, gequältes Volk. Er ist eine Kraftquelle, denn er ist die mystische Form des Glaubens an sich selbst. Er lässt die dumpfe Hoffnungslosigkeit nicht aufkommen, die den Tod vorbereitet. Und diesen Glauben konnten wir nur bewahren, weil Herzl früh verstarb, weil er nicht in die Lage kam, die Wunder vollbringen zu müssen, die wir von ihm erwarteten, weil es uns erspart blieb, zu sehen, dass er in den Augenblicken der Erprobung versagte, weil keine hämische Wirklichkeit unseren Glauben als absurd erwies.
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Das ist das → „Gam su letoba“ an Herzls vorzeitigem Tode. Das ist es, was mich das scheinbar grausame Wort sagen ließ: Sein früher Tod, ein Unglück für die Seinigen und seine Freunde, war vielleicht keins für das jüdische Volk. Diesem bleibt er ein → Heros eponymus, der nie einen → Bankbruch erlitten hat und mit dessen Ruhme die Erinnerung an keine einzige Unzulänglichkeit verknüpft ist. An seinem 50. Geburtstage denken wir nur daran, dass das jüdische Volk nicht in einer sagenhaften Vergangenheit, sondern in unseren Tagen einen Mann von kühnstem Planen und entschlossenstem Handeln, ein Willensgenie, einen Helden der urkräftigen Tat hervorgebracht hat, und dieser Beweis des Fortlebens und des Fortwirkens des Keimstoffes, aus dem unsere → Makkabis und Bar Kochbas hervorgewachsen sind, erfüllt uns mit neuer Zuversicht und dem ruhigen Vertrauen, dass → Israel mit unerschöpfter Lebenskraft auch in Zukunft die notwendigen Männer aus sich heraus gebären wird, die es zum Heile führen. Paris, im Mai 1910. Quelle: ZS2, S. 469–476, dort mit dem Verweis: Die Welt, → Herzl-Gedenknummer, 1910, 20. Mai (= Die Welt, 20.5.1910, H. 20, S. 441–444).
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69 Der erste Kongress → Vorwort zur Neuauflage des Protokolls des ersten Kongresses. Herausgegeben von der jüd. nationalen akademisch-technischen → Verbindung „Barissia“ in Prag.
→ „Wie schön war die Republik – unter dem Kaiserreich!“, sagte einer der Begründer der dritten Republik, als sie zwanzig Jahre alt geworden war. Dieser halb ironische und ganz melancholische Stoßseufzer ist vollgeladen mit dem Bedauern des Idealisten, der schmerzlich enttäuscht ist, sein Ideal in der Verwirklichung nicht wiederzuerkennen. Nicht vollständig, doch ein wenig so ergeht es uns mit unserem Zionismus. Wie herrlich war er in seinen Anfängen! Wie wunderbar begeisternd besonders in jenen ahnungsreichen, → zukunftsschwangeren Augusttagen 1897, als wir uns auf Theodor Herzls Ruf zum ersten Male in Basel versammelten und hochgemut die Wiederauferstehung des Judenvolkes verkündeten! Nicht nur verkündeten, sondern in jeder Faser unseres Herzens als lebendige Wirklichkeit empfanden. → Wir 204, aus denen der erste Zionistenkongress sich zusammensetzte, konnten unmöglich daran zweifeln, dass wir die Vorhut eines Volkes, dass wir ein Volk waren. Wie stark dieses Volk war? Das wussten wir in jenem Augenblick noch nicht und danach fragten wir nicht. Die Zählung konnte einem späteren Tage vorbehalten bleiben. Aber damals und dort fühlten wir die Tatsache, sahen sie, griffen sie mit Händen, dass in uns allen die eine Gemütsbewegung, der eine Wille, der eine Trieb waltete, uns zu einem Volke zusammenzuschließen und fürder als Volk zu leben. Vierzehn Jahre sind seitdem verstrichen. → Die Enttäuschung, die dem französischen Politiker die Republik bereitet hat, haben wir am Zionismus nicht erlebt. Das verwirklichte Ideal kann uns nicht durch seine Verschiedenheit vom geträumten betrüben, denn unser zionistisches Ideal ist nicht verwirklicht. Es ist noch immer ein geträumtes Ideal wie vor vierzehn Jahren. Doch selbst als solches hat es in manchen Köpfen und Herzen sonderbare Änderungen erlitten, deren Entschuldigung nicht einmal die notwendig verflachende, verengende Verwirklichung ist. Was hat Herzl gewollt und wofür sind wir mit ihm eingetreten? Ihm und uns schwebte etwas Ganzes, etwas Radikales vor, die wirkliche → Palingenesis. Die Erlösung des jüdischen Volkes, das → Ende seiner achtzehnhundertjährigen Leiden, die Befreiung von der Schmach und den Ketten der Sklaverei, die Heimkehr der wandernd Irrenden und der in der Fremde widerwillig geduldeten Gäste in das Vaterhaus, die Erhöhung des verleumdeten, verfolgten, verhöhnten, gehassten, im besten Falle verkannten und unverstandenen Judenvolkes zum Ruhm und zur Ehre von Gesittungsförderern und Schöpfern neuer Geisteswerte, das war das Ziel, auf das wir losschritten, das war die Aufgabe, an deren Lösung zu arbeiten wir den → Rütlieid schworen. Wer sich mit weniger zufrieden geben wollte, der war uns ein Halber, ein Lauer, ein Opportunist und Kompromissmensch, den wir von uns wie-
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sen. Wir rüsteten uns nicht, zu Vereinen einen Verein, zu Schlagworten ein Schlagwort hinzuzufügen, sondern eine Geschichtstat zu tun, die ihre Vollbringer aufbraucht, aber dann auch für die Jahrtausende als das Denkmal ihrer Kraft und Tugend dasteht. Wir fanden die neue Bahn, die wir einschlugen, unsagbar mühselig. Die besten unter uns erlagen. Heilige Gräber am Wegesrande tragen die Namen Theodor Herzl, → O. Kokesch, → Oskar Marmorek, Bernhard Lazare, → Marcou Baruch, → Leop. Kahn. Manche ermüdeten oder verzagten, blieben zurück, entschwanden aus unserem Gesichtskreise. Viele aber wanderten zwar rüstig weiter, wichen jedoch von der Richtung ab, die uns der Kompass und der Nordstern wiesen, und überredeten sich, sie würden leichter oder rascher ans Ziel gelangen, wenn sie rechts und links Nebenpfade suchten. Unser Ideal war ihnen zu groß und zu streng. Sie schnitzten an ihm herum, spalteten, drechselten, glätteten es, bis es niedlich und handlich wurde und in kleinen Seelen Platz fand. Die einen wollten die Auswanderung der Misshandelten aus den Staaten der Peiniger erleichtern, die anderen den Juden in ihren Aufenthaltsländern durch Erziehung zur Politik parlamentarische Erfolge erringen, wieder andere kleine Landkäufe in Palästina vollziehen, mehrere hundert neue Kolonistenfamilien ansiedeln, Anfänge eines jüdischen Gewerbelebens in den Städten des Heiligen Landes schaffen, noch andere die hebräische Sprache zu einer lebenden Sprache im → Lande Israel und zum Werkzeug einer von dort in die → Zerstreuung hinausstrahlenden neuen jüdischen Kultur machen. Die einen versicherten, sie wollten dies nur vorläufig tun; die anderen gebrauchten auch dieses einschränkende Nebenwort nicht mehr, das immerhin noch die Zukunft vorzubehalten scheint. All diese Bestrebungen, all diese Vorsätze und Pläne sind nützlich und lobenswert; manche von ihnen sind auch in weitem Sinne zionistisch; aber – der Zionismus sind sie nicht. Wir sind jedoch noch immer einige, die an unserem Zionismus festhalten, an dem ganzen, dem ursprünglichen, dem von 1897. Und da er allein uns der befreiende und wiederbelebende scheint, ist es uns ein Trost und eine Freude, wenn ein inzwischen heraufgekommenes junges Geschlecht, befremdet vom heutigen zugestutzten Zionismus, sich seinen Ursprüngen zuwenden, zu seinen Quellen zurückkehren, ihn in seiner echten Gestalt kennenlernen will. Die „Barissia“ erwirbt sich ein großes Verdienst durch die Neuherausgabe des unfindbar gewordenen Protokolls des ersten Zionistenkongresses. In diesem Buche glühen alle unsere Hoffnungen; hier steigen alle unsere Ahnungen und → Gesichte der Zukunft, unsere Sehnsucht, unsere Zuversicht auf; hier sind unsere Selbstverheißungen und Gelübde in Worte gefasst. Wem das zionistische Ideal sich getrübt hat, der greife zu diesem Buche – hier strahlt es ihm in der ersten Klarheit entgegen. Skeptiker mögen uns vorhalten, dass wir uns in vierzehn Jahren unserem Ziele nicht merklich genähert haben. Was wissen sie davon? Wir haben in uns den Glauben an das jüdische Volk gefestigt, und das ist bereits ein sehr wesentlicher Anfang von Verwirklichung des Zionismus. Herzl hat es → lapidarisch gesagt: „Die → Rück-
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kehr zum Judentum ist das → Postulat der Rückkehr ins Judenland.“ Dieses Postulat haben wir erfüllt. Wir haben uns zu unserem Volke zurückgefunden, uns wieder mit seiner Geschichte verknüpft, in uns seine Daseinshoffnungen sprießen lassen. Seine Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind in unserem Bewusstsein eins geworden, eine einzige lebendige Wirklichkeit. Sie wird aus sich heraus ihre äußere Form schaffen. Alles Lebende schafft sich seine Organe, seine äußere Form. Dieses neugedruckte erste Kongressprotokoll ist das Textbuch des unverfälschten Zionismus. Jede Entwicklung, die nicht die hier gezeichneten Richtlinien verlängert, sondern von ihnen wegführt, ist eine Wegentwicklung vom Zionismus. Das weist diesem Buche seinen Platz in der Geschichte unserer Bewegung an. Es gibt dem Schwankenden die Sicherheit, dem Fragenden die zuverlässige Auskunft. Es ist der neue → dux perplexorum, → „More Nebochim“. Quelle: ZS2, S. 223–227, dort mit dem Verweis: → Die Welt, 1911, Nr. 27. Ferner in: Die Welt, 7.7.1911, H. 27, S. 630–631.
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70 → X. Kongressrede → Geehrter Kongress! → Zwei Jahrsiebente haben ihren Kreis gerundet, seit unser unsterblicher Theodor Herzl uns zum ersten Mal berief, um dem stummen oder unartikuliert klagenden Judentum die Sprache wiederzugeben, um die nicht nur äußerlich zerstreuten, sondern auch innerlich zusammenhanglos und chaotisch gewordenen Judengruppen wieder zu einem Volk zu organisieren. Dieser Kongress ist der zehnte der Reihe, und man hat sich allgemein daran gewöhnt, ihn den → Jubelkongress zu nennen, der er ja auch in seiner Weise ist. Jedes Mal, wenn wir uns als die gewählten und beauftragten Vertreter des zionistischen Judentums versammeln, beginnen wir die Ausübung unseres Mandates mit tiefer Bewegung. Unsere Emotion ist diesmal ganz besonders feierlich, weil wir gewissermaßen am Ende eines Zyklus stehen, auf den wir nicht zurücksehen können, ohne uns zu einer ausnahmsweise ernsten Gewissensprüfung gedrängt zu fühlen, ohne uns selbst zur Aufstellung einer Bilanz unseres bisherigen Wollens und Wirkens und seiner Ergebnisse anzuhalten. Es entspricht der Bedeutung, die wir diesem zehnten Kongress beimessen, dass wir ihn in denselben Räumen halten wollten, die dem ersten zur Wiege gedient hatten. Wir knüpfen die Folge an den Beginn und bezeugen damit auch äußerlich die Einheitlichkeit unserer Entwicklungen. An diesen Mauern haften für uns heilige Erinnerungen, deren wir bei unserem mühevollen und verantwortungsschweren Werke stets eingedenk sind, die uns auf dem richtigen Wege halten und die uns immer wieder ermutigen, wenn wir uns von Bangen beschleichen lassen wollen. Ich habe erwähnt, dass man diesen zehnten Kongress allgemein den Jubelkongress nennt. Wir begehen nicht den → etymologischen Irrtum, den Ausdruck „Jubel“ in diesem Worte von der lateinischen und deutsch gewordenen Wurzel herzuleiten. Wir wissen sehr gut, dass er von unserem hebräischen → „jobal“ stammt, das nichts mit jubilare gemein hat. Und wahrlich, zu jubilieren haben wir heute weniger Ursache als zu irgendeiner Zeit seit der → Zerstörung des zweiten Tempels. Das jüdische Volk lebt gegenwärtig die düstersten Tage seiner Geschichte in der → Zerstreuung. Alle unsere Posten haben uns nur eine Meldung zu erstatten: „Feinde ringsum!“ Die → Pest des Antisemitismus, die überall örtliche → endemische Herde hat, überzieht gegenwärtig → epidemisch den ganzen Erdkreis. Der Judenhass, der auch in den kurzen Pausen trügerischer Ruhe nirgendwo völlig erloschen ist, flammt gegenwärtig überall zu heller → Lohe empor. Selbst in den Ländern, wo es uns am besten geht, brauchen wir nur das Ohr an den Boden zu legen, um unter der dünnen Oberflächenschicht der amtlichen, gesetzlichen Gleichberechtigung aller Staatsbürger die wilden Wasser der Judenfeindschaft brausen zu hören. Im freiesten Lande der Welt, im Lande der größten sozialen Gerechtigkeit, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, muss der Präsident in Person einem Oberst eine scharfe Rüge erteilen, weil er nach berühmtem Muster einem voll qualifizierten Jüngling die
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→ Zulassung zum Offiziersstande mit der ausdrücklichen dreisten Begründung verweigert, dass er Jude sei. Ähnliche Züge könnte ich aus allen anderen Ländern anführen, auch aus jenen, wo Juden Minister und kommandierende Generäle sind. Ich unterlasse es. Uns sage ich mit derartigen Aufzählungen nichts Neues und bei den Nichtjuden möchte ich nicht den Eindruck weichlicher, weibischer Wehleidigkeit hervorrufen, die sorgfältig jeden kleinsten Anlass zur Beschwerde sammelt und in weinerlichen Klagen über die da und dort erlittenen Kränkungen gewissermaßen selbstquälerisch schwelgt. Über die kleinen Nadelstiche, die man uns boshaft, doch verstohlen versetzt, über die moralischen Misshandlungen, denen wir uns durch stolze Zurückhaltung, durch dauernde Selbstüberwachung, durch Vorsicht in unserem gesellschaftlichen Verhalten und unserem Ehrgeiz entziehen können, setzen wir uns im Ganzen mit geringer Einbuße an Würde und mit wenig wirklichem Schaden hinweg. Aber was sollen wir in den Ländern anfangen, wo man amtlich keine Vorurteilslosigkeit uns gegenüber heuchelt, wo man uns nicht die Komödie der gesetzlichen Gleichberechtigung vorspielt? Dort arbeitet man mit der wilden Energie der Mordlust auf unsere vollständige Vernichtung hin. „Diese Brut muss ausgerottet werden!“ ist der Leitgedanke, der dort alle Regierungsmaßregeln gegen unsere unglücklichen Brüder bestimmt. Man kennzeichnet die Behandlung, der sie unterworfen werden, gemeinhin mit den Worten, dass man die Juden „entrechten und proletarisieren“ will. Diese Ausdrücke sind viel zu schwach. Der Entrechtung wird ein gebildeter Sohn des 20. Jahrhunderts niemals die furchtbare Bedeutung beimessen, die sie in den betreffenden Ländern tatsächlich hat. Die Juden sollen nicht nur keine Staatsbürgerrechte haben, man versagt ihnen auch die → Menschenrechte, ja die Rechte, die man sogar dem Tier einräumt und deren Verteidigung allerorten Tierschutzvereine sich angelegen sein lassen. Der Jude ist → vogelfrei. Man darf ihn beschimpfen, bestehlen, berauben, sogar ermorden, ohne dass es für ihn bei dem Gesetz und bei den Behörden einen Schutz gibt. Wollen sie sich wehren, so wird diese Regung des ursprünglichsten Selbsterhaltungstriebes wie die verwegenste Rebellion bestraft. Der Jude muss sich ergeben plündern lassen, er muss seinen Hals widerstandslos dem Messer der Mörder darbieten! Sind die Verbrecher Beamte, so gibt es gegen sie weder Kläger noch Richter. Sind sie → Private, so werden sie infolge eines gewissen Automatismus der staatlichen Einrichtungen, die in ihrer bestimmten Weise arbeiten, wenn sie nach dem Betriebsgesetze ihrer eigenen Mechanik in Bewegung gesetzt werden, mitunter verurteilt, doch nur, um alsbald begnadigt zu werden. (Stürmische Zustimmung.) Wenn man an den Juden keine Gewalt verübt, so erpresst man ihnen wenigstens ein willkürlich bemessenes und nach Belieben erhobenes Lösegeld und unterhält in ihnen mit allen Mitteln der raffiniertesten Verängstigung einen dauernden Zustand des Bangens und Zagens vor den Möglichkeiten der nächsten Stunden, der ihr Hirn und Nervensystem zur großen Genugtuung ihrer Peiniger zerrüttet. Das ist der wirkliche Sinn des Wortes Entrechtung, das dem Ohr eines ungewarnten Gesittungsmenschen nicht mehr gar zu furchtbar klingt. Und ganz ähnlich
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verhält es sich mit der angeblichen → Proletarisierung der jüdischen Massen. Unter Proletarisierung versteht man gemeinhin die Herabdrückung von Einzelnen und Bevölkerungsgruppen zur niedrigen Gesellschaftsklasse, ihre Umwandlung in abhängige Lohnempfänger ohne die wirtschaftliche Sicherheit des folgenden Tages, ihre Ausschließung aus den höheren Berufen und der reicheren Geistesbildung, mit ihren inneren moralischen Genugtuungen und ihren äußeren Ehren und materiellen Erfolgen. Von einer Proletarisierung in diesem Sinne kann bei der Behandlung der jüdischen Massen nicht die Rede sein. Man schließt sie aus allen höheren Berufen aus, man sperrt sie von jeder Bildung ab, das ist richtig; aber man verwandelt sie nicht in Lohnarbeiter; im Gegenteil, man verhindert sie, Lohnarbeiter zu werden, indem man ihnen den Aufenthalt in fast allen Industriebezirken verbietet, wo sie Löhne verdienen könnten, und indem man ihnen auch da, wo man sie duldet, fast alle gewerblichen Betriebe unzugänglich macht. Es ist so weit gekommen, dass heute bereits Millionen Juden nichts sehnlicher wünschen, als Proletarier werden zu können. Aber man lässt selbst das nicht zu. → Parias an Bildung und Geistesentwicklung, Parias an Würdelosigkeit und allgemeiner Verkommenheit sollen sie werden, gewiss; aber Proletarier im modernen wirtschaftlichen Sinne dieses Wortes nicht. Nicht auf die einfache Entrechtung, nicht auf die bloße Proletarisierung, auf die Entehrung, auf die → Vertierung, auf die langsame Abwürgung ist es abgesehen. (Stürmische Zustimmung.) An Millionen schuldloser Menschen wird da ein Verbrechen begangen, für das es selbst in der an Massenmorden doch so reichen Geschichte kein Beispiel gibt. Wenn die Eroberer des Altertums ganze Völkerschaften ausschlachteten und in die Sklaverei verschleppten, floss mehr Blut. Aber diese Missetaten waren der brutale Missbrauch von Siegen, geschahen in der Erregung von Kampf und frischer Feindschaft, hatten nicht die Abscheulichkeit einer langsamen, beharrlichen, tückischen, kaltblütigen Erstickung, ohne anderen Nutzen für die Mörder als die → sadistische Lust an den verübten Gräueln. Die → Niedermetzelung der Albigenser traf nicht so viele wie ein Zwanzigstel der heutigen Opfer des Judenhasses. Die Vertreibung der Juden aus dem England → Eduards I., aus dem → Frankreich Philipps des Schönen, aus dem → Rheingau zur Zeit des schwarzen Todes, aus dem → Spanien der katholischen Könige war eine erträgliche Maßregel mit einem ganz schwachen Einschlag von Barmherzigkeit und Gewissen verglichen mit der methodischen Tötung durch planmäßige Entziehung der Lebensluft. Überdies: Den verjagten Juden öffneten sich Zufluchtsstätten; den englischen Frankreich, den französischen → Lothringen und Deutschland, den deutschen das → Polen Kasimirs des Großen, den spanischen die Türkei des → Sultans Selim. Heute stößt man die Juden nicht offen in die Fremde hinaus; man zieht vor, sie an Ort und Stelle allmählich verkommen zu lassen. Wenn sie sich aber vor der dauernden Folterung durch die Massenflucht retten wollen, gibt es für sie keine Ausgangstüre aus dem unerträglichen Elend. Alle Grenzen starren von → Bajonetten, die ihre Spitze gegen ihre Brust richten. Überall stoßen sie auf Gräben und Schranken; den Ärmsten der Armen ist schon heute kein einziges Land mehr gastlich, und selbst die Gebildeten,
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die nicht völlig Mittellosen, haben die größte Mühe, noch irgendwo Einlass zu erlangen. Man kann sagen, dass die Stätten der Verfolgung für die Juden heute immer mehr zu einem Kerker werden, in dem sie eingemauert sind. (Sehr richtig!) Die schamlose Lüge der heutigen Gesittung ertappen wir hier auf frischer Tat. Wie nehmen die Schönredner, die Klugschwätzer, die amtlichen, die regierenden noch viel mehr als die privaten, den Mund voll von Fortschritt, von Entwicklung, von Menschenwürde, von Gerechtigkeit! Wie lässt man uns die hochtrabenden, großsprecherischen und wichtigtuenden Worte: soziales Empfinden, Bruderliebe, menschliche Gemeinbürgschaft hageldicht um die Ohren prasseln! Man hält feierliche → Friedenskongresse ab, auf denen man gegen den Krieg → deklamiert und zu seiner Verhütung paragraphenreiche Schiedsgerichtsverträge zu Dutzenden abschließt und für die ein großer Menschenfreund einen prächtigen Palast erbauen lässt. Man stiftet mit Aufwand zahlreicher Millionen in allen großen Ländern → „Herofunds“ zur Belohnung tapferer Taten im Dienste der Menschlichkeit. Man gründet in zahlreichen Großstädten reiche Büchereien zur Verbreitung der Bildung. Sehr schön! Wunderschön! Aber die tugendhaften Regierungen, die mit so edlem Eifer an der Vorbereitung des ewigen Friedens arbeiten, bereiten eingeständig sechs Millionen Menschen den Untergang, und niemand außer den Opfern erhebt dagegen seine Stimme, obschon dies doch ein ungleich größeres Verbrechen ist als irgendein Krieg, der noch nie sechs Millionen Menschenleben vernichtet hat. (Stürmische Zustimmung!) Man legt die Verwaltung der Herofunds und die Verteilung ihrer Zinsen in die Hände von Behörden, die Judengemetzel begünstigen, wenn sie sie nicht unmittelbar selbst veranstalten. Und in den von den großen Menschenfreunden gegründeten Bibliotheken studieren Wissensdurstige mit leidenschaftlichstem Fleiß die – → Ritualmordgeschichten von → Irrsinnigen, Schwachköpfen und Schurken alter und neuer Zeit. (Stürmische Zustimmung.) Wenn man die elenden Heuchler der „Menschlichkeit“, des „Fortschritts“, der „Gerechtigkeit“ anruft, ihnen die an unseren Brüdern begangenen Gräuel zeigt und sie fragt, wie sie dieses Massenverbrechen seelenruhig mitansehen können, zucken sie gelangweilt die Achseln und murmeln etwas wie: „In die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten darf man sich nicht einmischen.“ (Große Bewegung.) Gut gebrüllt, Löwen – oder gut gesäuselt, gut gelispelt, glattzüngige → Gleisner! Gewiss, dies ist das erste und heiligste Gesetz im Völkerverkehr: Man muss die Unabhängigkeit jedes souveränen Staates achten; man darf ihm in seine inneren Angelegenheiten nicht dreinreden. Aber dieses Grundgesetz hat doch eine kleine Einschränkung: Es gilt nämlich nur, wenn der souveräne Staat stark ist; ist er dagegen schwach (sehr richtig!), dann freilich… (Stürmischer Beifall) – dann freilich hält man sich bei seiner Unabhängigkeit nicht auf, dann lacht man über seine Souveränität, dann greift man in seine inneren Angelegenheiten nach Herzenslust ein, so oft, so tief, wie man das irgend für nützlich hält. Für nützlich! Das ist der springende Punkt. Das einzige Gesetz, das man in den Beziehungen von Mensch zu Mensch und von Volk zu Volk als bestimmend aner-
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kennt, ist der Nutzen. Wenn man die „Menschlichkeit“, die „menschliche Gemeinbürgschaft“ der Regierungen und Völker anruft und von ihnen Taten fordert, dann antworten sie trocken: „Eine Tat der Menschlichkeit? Was bringt sie uns ein?“ (Heiterkeit, Beifall und Zustimmung.) Politik, Diplomatie, internationale Beziehungen sind eine → doppelte Buchführung mit Soll und Haben. Und haben Regierungen und Völker sich ausgerechnet, dass ein Schritt zu Gunsten von Millionen ruchlos misshandelter Nebenmenschen ihnen kein Profitchen abwirft, so weisen sie das ihnen zugemutete uneinträgliche Geschäft kaltblütig zurück, dann ziehen sie den Kontorrock aus, sind wieder Idealisten (Heiterkeit), beglückwünschen sich zu ihrer adeligen Gesinnung und brandmarken uns Juden wegen unseres gemeinen → Schachergeistes und unserer semitischen Unfähigkeit, uns zu vornehmer, idealer Selbstlosigkeit zu erheben. (Stürmischer minutenlanger Beifall und Händeklatschen.) Ich weiß nicht, ob es unter uns Juden noch kindliche Seelen gibt, die auf eine Regung des vielberufenen europäischen Gewissens hoffen und von einer → Interpellation in einem Parlament, einer Rede in einer Volksversammlung, einem Artikel in einer großen Zeitung eine Besserung der Lage erwarten. Das europäische Gewissen! Es ist eine höchst diskrete Person (lebhafte Heiterkeit), die wohlgezogen zu schweigen weiß, wenn ihre Stimme von vornehmen Ohren als störend empfunden werden könnte. (Heiterkeit.) Wir haben das europäische Gewissen in Palästen, → Ministerhotels, Volksvertretungssälen bisher immer vergebens gesucht – wir haben es nie angetroffen. Es war offenbar immer viel zu sehr von Ordensvorschlägen und → Lobeshymnen auf große Staatsmänner in Anspruch genommen, die irgendeine neue Folterung für die jüdischen Massen ersonnen hatten. Wir haben dann auch das europäische Gewissen von unserer Besuchsliste gestrichen. (Heiterkeit.) Wenn wir die Verbrechen, die an unseren Brüdern begangen werden, gleichwohl in die Welt hinausschreien, so ist es nicht, weil wir davon irgendeinen Erfolg erwarten. Wir tun es, weil es ein Gebot der → Sittlichkeit ist, Heuchlern die Maske vom Gesicht zu reißen (stürmischer Beifall) und Missetäter vor dem Richterstuhl der Geschichte und der ewigen Moral anzuklagen, gleichgültig, ob die Anklage einen praktischen Nutzen haben wird oder nicht. (Erneute Beifallskundgebung.) Doch damit, dass wir unser Herz erleichtern, haben wir unseren unglücklichen Brüdern nicht geholfen. Keiner von uns kann des eigenen Lebens froh werden, sollte des eigenen Lebens froh werden können, solange er nicht alles darangesetzt hat, um ihren Leiden ein Ende zu machen. (Stürmischer Beifall.) Mögen die Satten, die Schlappen, die feigen Knechtsseelen ihre Tatenlosigkeit vor sich und den anderen mit der bequemen Redensart beschönigen: „Nur Geduld – der Fortschritt der Gesittung wird auch den Judenverfolgungen unfehlbar ein Ende bereiten!“ – Wir haben uns den Fortschritt der Gesittung → beim hellen Licht des 19. und 20. Jahrhunderts genau angesehen; wir haben ihn sorgfältig gemessen, und wir haben festgestellt, dass er weit langsamer ist als die Verwüstung, die der Judenhass unter uns anrichtet. (Sehr richtig!) Unsere unglücklichen Brüder können nicht warten, bis der Fortschritt der Gesittung auch ihre Henker und Folterknechte erreicht haben wird; sie
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würden vorher der Sorge, dem Kummer, dem Elend, der Not, der Unwissenheit, der Krankheit erlegen sein. Es gibt für sie nur ein einziges Heil: die Auswanderung. Und nicht etwa wie früher die Auswanderung nach irgendeinem beliebigen Lande. Sie haben heute leider nicht länger die Wahl. Ein Land nach dem anderen verschließt sich vor ihnen, und die alte → homöopathische Heilmethode der Wohltätigkeitsjuden mit Rats- und Geheimratsrang und dem Bändchen im Knopfloch, die darin besteht, die Übel der Zerstreuung mit einer noch weit ausgedehnteren Zerstreuung zu behandeln, ist heute nicht länger anwendbar. Ohne zu verkennen, was namentlich die Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten für unsere Brüder gewesen sind, ohne zu übersehen, dass einzelne und Gruppen ausländischer Juden in England, Frankreich, Italien, Holland, den skandinavischen Ländern ihr Glück versuchen dürfen, muss ich doch sagen: Ich sehe nur noch ein Land, das seine Grenzen gegen die Masseneinwanderung der verfolgten Juden und ihre bäuerliche Ansiedlung nicht grundsätzlich versperrt hat: die Türkei. (Stürmischer, langanhaltender Beifall und Händeklatschen.) Es ist eine eigentümliche Fügung, dass alle Wege des wandernden Judenvolkes nach der Türkei führen, alle Beweggründe seiner Wanderung ihm diese Richtung weisen. → Dass wir Zionisten von vornherein die Türkei in das Auge gefasst haben, ist selbstverständlich, da Palästina eine Provinz des → ottomanischen Reiches ist. Aber auch die nichtzionistischen Juden, die Juden, die dem Zionismus feindlich gegenüberstehen, die nicht zugeben wollen, dass Palästina für das jüdische Volk denn doch noch eine andere Bedeutung hat als irgendein beliebiges Land, das noch Menschen aufnehmen und ihnen Erwerbsgelegenheiten bieten kann, auch die nichtzionistischen, ja → zionsfeindlichen Juden, sofern sie sich mit dem Problem der jüdischen Wanderung und Ansiedlung beschäftigen, gelangen im Wege der Ausschließung zu demselben Punkt wie wir: zu Palästina, oder wenigstens zur Türkei. Nun würde es jedem natürlich fühlenden Menschen, er sei Jude oder Nichtjude, selbstverständlich scheinen, dass alle Juden, gleichgültig welcher Richtung, wenn sie noch die kleinste Spur von Mitgefühl für ihre leidenden Brüder und von Selbstachtung haben, oder wenn sie überhaupt nur einer menschlichen Regung fähig sind, es sich angelegen sein lassen würden, die Regierung und die Völker des ottomanischen Reiches bei wohlwollender Gesinnung gegen uns zu erhalten, oder dass sie mindestens alles unterlassen würden, was sie gegen die Juden unfreundlich stimmen könnte. Und nun gelangen wir zur empörendsten Tatsache in den heutigen Verhältnissen des jüdischen Volkes: Juden sind es, die mit allen Mitteln der raffiniertesten Lüge, Verleumdung und Angeberei daran arbeiten, die maßgebenden Kreise in der Türkei zur Feindseligkeit gegen uns aufzuhetzen; Juden sind es, die mit teuflischer Emsigkeit beflissen sind, das letzte Land, das noch für die Masseneinwanderung der verfolgten Juden in Betracht kommt, das erste Land, zu dem ihre Sehnsucht die wandernden Juden hinzieht, das eine Land, das durch die Geschichte, die Geographie, die Volkswirtschaft zu ihrer endgültigen Heimstätte vorbestimmt ist, ihnen unzugänglich zu machen. (Sehr richtig! und Pfui-Rufe.) Der Beweggrund,
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der diese → Brunnenvergifter zu ihrem feigen Verrat an ihrem Volke bestimmt, ist ihr fanatischer Hass gegen den Zionismus. Diesen Hass haben wir seit der ersten Stunde der zionistischen Bewegung immer an unserem Wege gefunden. Er hat den ersten Zionistenkongress zu verhindern gesucht. Er hat Herzl einen Schwindler und → Industrieritter geschimpft. Er hat öffentlich, und noch viel eifriger → privatim, geschandmault, die Gründer der jüdischen → Kolonialbank seien Bauernfänger, die den armen unwissenden → Ghettojuden 50 Millionen stehlen wollten. Er hat in Deutschland und Österreich-Ungarn der Regierung nahegelegt, dass es ihre Pflicht sei, den Zionisten die Staatsbürgerrechte abzuerkennen und sie aus dem Lande zu jagen. Wir fanden diese Kampfesweise sicher tief verächtlich, aber wir regten uns über sie nicht sehr auf. Wir sagten uns, dass so elende Angriffe weniger uns als ihren Verübern schaden müssten. Wenn unsere Gegner uns in der jüdischen Presse oder in öffentlichen Versammlungen entgegentreten, denken wir nicht daran, uns zu beklagen. Wir kreuzen dann die Klinge mit ihnen und bestehen sie in offenem Kampfe, den wir unsererseits immer ritterlich führen. Aber diese → Fechtgänge vor unparteiischen Richtern, wo Stahl gegen Stahl klingt, passen diesen → Strauchrittern nicht. Sie schneiden dabei zu schlecht ab. Sie haben mehr Vertrauen zu ihrer Methode des nächtlichen Überfalls aus dem Hinterhalt mit der Wegelagerermaske vor dem Gesicht und des → Dolchstoßes in den Rücken. In den letzten Monaten haben sie nichtjüdische Lohnschreiber gegen uns losgelassen, denen sie die Weisung gaben, uns in der nichtjüdischen Presse bei gutgläubigen Lesern anzuschwärzen, die von unseren Bestrebungen gar nichts wissen und ohne Misstrauen alles hinnehmen, was ein ihnen unverdächtig scheinender Bravo der Feder ihnen über uns aufbindet. Man → denunziert uns in Frankreich als Agenten der deutschen Reichsregierung (Heiterkeit), nennt den Zionismus eine tückisch verkappte Form des Franzosenhasses (Heiterkeit) und bezeichnet als sein Ziel die Bekämpfung und Vernichtung des politischen und moralischen Einflusses Frankreichs in den Ländern des Islam. (Heiterkeit.) In England verkündet man, die Zionisten seien Britenfeinde und vorgeschobene Posten Deutschlands, dessen Macht sie in der Türkei auf Kosten Englands begründen oder kräftigen wollen. Wer den Zionismus und die Zionisten auch nur ein klein wenig kennt, der lacht ja allerdings über derartige Eseleien (heitere Zustimmung). Aber sie sind eben für Leser bestimmt, die von uns gar nichts wissen, und sie spekulieren dummschlau auf ihre schmerzhaftesten Empfindlichkeiten, auf die → Germanophobie der Franzosen, auf das Misstrauen gegen Deutschland in der englischen Volksseele. Der Banditenstreich, uns als Agenten der deutschen Ausdehnungspolitik zu denunzieren, ist nicht ganz fehlgegangen. Ich habe dafür betrübende Beweise. Diese fabelhafte Torheit ist tatsächlich da und dort geglaubt worden und es ist eine Atmosphäre von Misstrauen und Vorurteil gegen uns entstanden, die zu zerstreuen uns nicht leicht werden wird. Uns liegt an dem Wohlwollen der öffentlichen Meinung Frankreichs und Englands, und wenn man uns bei ihr verleumdet, so ist uns dies sehr empfindlich. Ans Leben geht es uns freilich nicht.
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Die → infamen Denunzianten haben sich denn auch damit nicht begnügt. Sie haben eine Stelle gesucht, wo sie uns tödlich treffen zu können hoffen. Sie haben uns die Klinge ins Herz zu stoßen gesucht. Sie haben sich an die Regierung, die einflussreichen Politiker, die Presse des ottomanischen Reiches herangedrängt und ihnen ihren Verleumdungsgeifer in die Ohren geträufelt. Dort haben sie uns natürlich nicht als Werkzeuge der deutschen Orientpolitik denunziert. Denn einmal hätte man ihnen dort diesen Blödsinn nicht geglaubt und dann hätte es uns nicht genug geschadet. Dort raunten sie, die Zionisten seien heillose Revolutionäre, die sich in die Türkei einschleichen wollten, um sich Palästinas zu bemächtigen, die Fahne des Aufruhres zu entrollen, die Provinz vom ottomanischen Reiche loszureißen und in Jerusalem die unabhängige Republik oder das Königreich der Juden auszurufen. Das sind die Dinge, die unsere jüdischen Feinde seit Jahr und Tag in der Türkei über uns verbreiten. Wir sollen eine Gefahr für die Einheit, ja den territorialen Bestand des ottomanischen Reiches sein. Es ist natürlich genug, dass derartige → Ohrenbläsereien eine unbestimmte Unruhe und ein nur zu bestimmtes Misstrauen gegen uns hervorrufen. Wie denn nicht? Wir können es den türkischen Staatsmännern gar nicht verübeln, wenn sie uns sich energisch vom Leibe halten. Sie kennen uns nicht; sie wissen nichts von uns und unseren Bestrebungen; sie kümmern sich nicht um uns und unsere Bedürfnisse; sie tun es sogar viel weniger, als sie eigentlich sollten und als sie es sehr wahrscheinlich tun würden, wenn sie eine klare Vorstellung davon hätten, was wir ihnen zu sein wünschen und voraussichtlich sein könnten. Das Unbekannte ist immer ein wenig unheimlich. Die türkischen Herren zogen immer die Brauen zusammen und wurden kalt und verschlossen, wenn man ihnen vom Zionismus sprach. Kommen nun Juden, von denen sie annehmen müssen, dass sie genau unterrichtet sind und doch über ihre eigenen Volksgenossen keine verleumderischen Lügen verbreiten werden, und erzählen ihnen, der Zionismus sei eine Verschwörung jüdischer Schwindler gegen die Integrität des ottomanischen Reiches, so haben sie keinen Grund, das nicht zu glauben. Auch die Nüchternen, auch die Urteilsfähigen unter ihnen lehnen es begreiflicherweise ab, sich der Mühe einer eingehenden Untersuchung des Gegenstandes zu unterziehen, und halten es mit Recht für das allereinfachste, den ganzen Zionismus aus ihrem Gesichtskreis und aus der türkischen Politik auszuscheiden. Dass die Juden, die den Zionismus in dieser Weise bei ihnen anschwärzen, ruchlos gelogen haben könnten, kommt den türkischen Staatsmännern nicht in den Sinn. Sie selbst haben keine Verräter an ihrem Volk in ihren Reihen; es wird ihnen deshalb nicht leicht, sich vorzustellen, dass ein Volk Männer hervorbringen kann, die mit tückischer Arglist ein Werk der Rettung für ihre unglücklichen Volksgenossen hintertreiben wollen. Uns selbst wird es ja furchtbar schwer, unsere Aufklärungsarbeit bei den türkischen Politikern damit zu beginnen, dass wir ihnen sagen, die Juden, die sie über den Zionismus zu unterrichten vorgeben, seien Lügner und Verleumder und Verräter an ihrem Volk. Es verlangt keine große Geistesanstrengung, sich die Wirkung einer derartigen Polemik auf Unbeteiligte vorzustellen. Es
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liegt nahe, dass die türkischen Herren sich denken: „Die Feinde der Zionisten warnen uns vor diesen als vor Verbrechern. – Die Zionisten ihrerseits erklären, ihre Feinde seien Lügner und Volksverräter. Es könnte wohl sein, dass die einen und die anderen recht hätten, und dann würden wir uns ja vor einer recht empfehlenswerten Gesellschaft befinden!“ Wir können uns aber nicht anders helfen. Wir müssen die öffentliche Meinung im ottomanischen Reiche in den Stand setzen, sich über uns und unsere Feinde eine eigene Meinung zu bilden. Möge die Schande, die dem jüdischen Volke daraus erwächst, auf die Verleumder zurückfallen. Wir haben die Pflicht, die türkischen Staatsmänner mit den wirklichen Tatsachen bekanntzumachen und sie zu überzeugen, dass die Heimatssehnsucht der zionistischen Juden für die Türkei eine Quelle unabsehbaren Nutzens werden kann, dass sie in der weiten Welt keine aufrichtigeren und opferwilligeren Freunde hat als die Zionisten und dass sie sich ihrer nützlichsten Mitarbeiter an dem Heil ihres Vaterlandes berauben, wenn sie dieses den Zionisten verschließen. (Lebhafte Zustimmung.) Wir zweifeln nicht daran, dass unsere Bemühungen Erfolg haben werden. Die Verleumder des Zionismus werden ihre Infamie vergebens begangen haben. Aber die schließliche Wirkkungslosigkeit ihrer Ränke vermindert ihre Schuld nicht und sie bleiben vor dem Richterstuhl der Geschichte angeklagt, alles getan zu haben, was in ihrer Macht stand, um die Rettung des jüdischen Volkes aus Todesgefahr zu vereiteln, und dieser unbestechliche Richter wird ihnen das Kainsmal des Brudermordes in die Stirn einbrennen. (Stürmische, minutenlange Beifallskundgebungen.) Geehrter Kongress! Wenn Sie aus meinen Ausführungen den Eindruck empfangen hätten, dass ich den augenblicklichen Stand unserer Bewegung pessimistisch ansehe und von den Anschlägen unserer Gegner entmutigt bin, so würden Sie mich eigentümlich missverstanden haben. (Bravo!) Nichts liegt mir ferner als Pessimismus. Ich beklage, dass wir an die Abwehr ruchloser Angriffe die Kraft vergeuden müssen, deren wir zu unserer positiven Arbeit so sehr bedürfen, aber für einen Zweifel an der Größe, der Notwendigkeit und dem schließlichen Gelingen unseres Werkes ist in meiner Seele kein Raum. (Lebhafter Beifall.) Ich würde kein Jude sein, wenn ich nicht bis in die innersten Fasern meines Wesens Optimist wäre. (Heiterkeit und Beifall.) Wir hören nicht nur die Gegner mit Schadenfreude, sondern auch die Anhänger unserer Bewegung mit einem tiefen Seufzer sagen: „Wenn der Zionismus auch in der Türkei geächtet wird, dann ist ihm das Todesurteil gesprochen!“ Gewiss, wenn der Zionismus für ewige Zeiten aus der Türkei verbannt wäre, dann würde er aussichtslos sein, denn er wäre ein Zionismus ohne Zion. Aber ich glaube keinen Augenblick lang an die Ewigkeit der Strenge der türkischen Regierung gegen uns. Wir haben uns keinen Vorwurf zu machen. Wir haben nie ein Wort gesagt, nie eine Handlung begangen, durch die wir uns die Abgunst der türkischen Regierung verdient und ihr Misstrauen gegen uns gerechtfertigt hätten. Wir sind Opfer einer niederträchtigen Angeberei. Wir werden nichts unterlassen, um die irregeführte Regierung und öffentliche Meinung des ottomanischen Reiches mit den wirklichen Tatsa-
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chen bekanntzumachen, und wir zweifeln nicht am Erfolge unserer Bemühungen, denn wir glauben an die Macht der Wahrheit und an den gesunden Menschenverstand der türkischen Staatsmänner. Aber die unerlässliche Voraussetzung dieses Erfolges ist, dass wir bestehen, dass wir uns nicht in kleinlichem, unfruchtbarem, innerem Gezänke aufreiben, nicht durch beschämende Mittellosigkeit zur Ohnmacht verurteilt sind. (Sehr wahr!) Daraus ergeben sich hochwichtige unmittelbare Aufgaben, durch deren glückliche Lösung dieser Kongress sich Verdienste erwerben wird, die ihn zu einem der bedeutungsvollsten und folgenreichsten der Reihe machen werden. Die zionistische Organisation ist der Rahmen des künftigen erlösten Judenvolkes. Dieser Rahmen kann nicht kräftig genug gezimmert sein. Er muss so stark dastehen, dass keine äußere oder innere Erschütterung sein Gefüge lockern kann und dass jeder Betrachter von ihm den beruhigenden Eindruck einer allen Prüfungen gewachsenen Solidität empfangen muss. Wir müssen Anstrengungen machen, um die Organisation in den Stand zu setzen, ihre Obliegenheiten zu erfüllen. Die Erfahrung hat gelehrt, dass der → Schekel allein dazu bei weitem nicht ausreicht. Opferwilligkeit ist die nützlichste Form der Begeisterung (sehr richtig!), und Gesinnung wirkt erst überzeugend, wenn sie in die eigene Tasche greift. (Sehr richtig und Beifall.) Nur durch die Verabschiedung des neuen Organisationsentwurfes und durch die Erschließung ergiebiger Hilfsquellen für die Bedürfnisse der Bewegung wird dieser Kongress die Erwartungen erfüllen, die das zionistische Judentum in ihn setzt. Geehrter Kongress! Eine zulänglich ausgestattete, starke Organisation, die ruhig und gleichmäßig arbeiten kann, wird imstande sein, das jüdische Volk, die Welt und in erster Reihe die Türkei von dem heiligen Ernst, der Unbeirrbaren Zielsicherheit und der hohen sittlichen Würde der zionistischen Bewegung und Arbeit zu überzeugen. Das jüdische Volk will leben. Der Zionismus ist der Ausdruck dieses Lebenswillens. Sollten wir einstweilen verhindert sein, in Palästina selbst an der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Landes zu arbeiten, so werden wir diese Entwicklung vorläufig nach Kräften von außen vorbereiten. Unser zionistisches Bekenntnis, unsere durch nichts zu entmutigende zionistische Tätigkeit bedeuten, dass das jüdische Volk sich selbst und seinen zweitausendjährigen Idealen treu bleibt. (Lebhafter Beifall.) Solche Treue aber überwindet jedes Hindernis. (Stürmischer minutenlanger Beifall. Die Kundgebung und Hochrufe lösen einander immer von Neuem ab.) Quelle: Die Welt, 10.8.1911, H. 1, S. 786–789, dort unter dem Titel Dr. Max Nordau. Ferner in: ZS2, S. 205–222.
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71 Max Nordau über die → russisch-amerikanische Passfrage Herr → N. S. Burstein in Cardiff hatte an Max Nordau ein Schreiben gerichtet, worin er ihn um seine Meinung über den russisch-amerikanischen Passkonflikt befragte. Nordau erwiderte folgendermaßen: „Paris, 12. Januar 1912. Geehrter Herr Burstein! Wir Juden haben tatsächlich nicht unseresgleichen in unserem unverwüstlichen Optimismus, den kein Misserfolg zu trüben vermag. Den Ihren bewundere ich geradezu. Wie können Sie erwarten, dass die Passagitation, der die Schlauheit kriecherischer → Achselträger in Amt und Würden den Stachel genommen hat, irgendwelche guten Folgen zeitigen wird? → Mr. Taft war gezwungen, den Vertrag mit Russland zu kündigen, aber er wusste die Form dieser Kündigung so einzurichten, dass es Russland ermöglicht wurde, schamlos zu versichern, die Passfrage habe mit diesem Schritt nichts zu tun. Russland wird nicht nachgeben. Amerika wird auf seiner Forderung nicht bestehen, und keine andere Regierung wird das Beispiel der Vereinigten Staaten nachahmen. Die englischen Juden werden sich nicht rühren. Die → Lage der Juden in Russland wird schlimmer sein als zuvor, und die Antisemiten in Amerika werden die amerikanischen Juden für ihr mannhaftes Auftreten schwer büßen lassen. Das ist alles. Ihr ergebener Dr. M. Nordau.“ Quelle: Die Welt, 26.1.1912, H. 4, S. 117.
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72 Jews and the Balkan Settlement. Dr. Nordau’s Views To the editor of The Times. Sir, – The → struggle in the Balkans, which the → Peace Conference now meeting in London everyone sincerely hopes will put an end to, has raised more than one problem, the resolution of which is essential to anything like a permanence of rest in the Near East. One of those problems is that which has reference to the Jewish people. In the circumstances, there is a possibility of its being overlooked, if only because the Jewish people has no voice in the counsels of the nations. The proceedings of the peace negotiators of the Balkan Powers do not touch us directly. In consequence of the new order of things in the Balkan Peninsula some 160 000 Jews will have to change their political condition. The transition will be painful to them at first. But it is the lot of a people dispersed over all the countries of the earth to be obliged to adapt itself everywhere, and in the long run they will no doubt discover that their position has not become worse. → The Turks had been kind to them. But the Greeks, Bulgarians, and the Servians will surely not treat them less considerately. Different indeed is their lot likely to be from that of → their brethren in Rumania, which, in spite of the → Berlin Treaty, degrades a quarter of a million of native Jews to the position of outlaws, and makes life unbearable to them. Servia, Bulgaria, and Greece practise generous toleration towards their Jews. They have strictly applied to them the → equality of all citizens before the law. We have no reason to doubt that these Balkan Powers will extend to their new Jewish subjects the same methods of government that have won for them the hearts and souls of their old ones. With the → Ambassadors' meeting, which is taking place simultaneously with the Peace negotiations, the case is different. The task they are setting themselves is for obvious reasons severely limited. There is a natural inclination to narrow rather than to widen the scope of their deliberations, and they will rightly decline to enter into discussion upon questions that → prima facie exhibit no connexion with the new order of things in the Balkan Peninsula. Now, our contention is that the → Jewish question ought not to be excluded upon this plaint. On the contrary, we submit that it is one that cannot be with safety ignored – with safety, that is, to any settlement of Near Eastern affairs that can be looked upon with any reasonable hope of stability. It is possible that the Ambassadors, even without any initiative from Jews, will have to deal with a Jewish matter. If → Salonika should prove an apple of discord between Hellenes and Bulgarians, it might become necessary to adopt the expedient of making Salonika a free city under some form of guarantee of the → Balkan Alliance or of Europe. In such case the Jewish element, which forms the relative major-
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ity in Salonika, would be called upon to play the leading part in the organization of the new Commonwealth. As Jewish Nationalists we Zionists have no interest in the establishment of a Jewish polity outside Palestine. We should rejoice, however, if in Salonika Jews are found able and ready to step forward and report themselves willing to assume the responsibilities of a local autonomy under the critical eyes of the world. Almost as essential as anything else to the permanent rest of the Near East is the strength and the stability of what will remain of the Turkish Empire after the allocation of her erstwhile provinces in Europe. It will surely be to the general interest that, → the war ended, the resources of Turkey should be developed to the utmost. A weak and easily assailable Turkey would be a constant temptation to a breaking of the peace it is now sought to establish. In that Turkish renaissance the Jewish subjects of the Empire, of whom there will remain some 400 000, will loyally bear their full share of devoted work and patriotic endeavour. That at least we have no manner of doubt will be their desire. Their incapacity to fulfil their desire, however, is not entirely dependent upon themselves. That frequent Jewish experience in other countries has not been altogether absent in the Turkish Empire. In Palestine, where Jewish interest naturally centres, and to which Zionist activity is turned, we have in the past met with considerable discouragement. And it is in Palestine in which Jews, not alone those now subjects of the Turkish Empire, but Jews all over the world, are desirous of exerting their very best and most devoted energies. Surely this passionate longing, sanctified as it is by upwards of → 20 centuries of unswerving love, ought not now to be discarded when it can be utilized so fruitfully to the development of Turkish resources, to the fortifying of the Turkish Empire, and in the consequent service of peace. That a support of Zionist efforts will at the same time tend to allay many a difficulty that confronts other nations among whose populations Jews are to any large extent found and will form the first step in solving upon statesmanlike lines the age-long Jewish question, ought not to be a reason against, it should be a reason in favour of its being taken into earnest consideration at this juncture of the world's affairs. Bad faith and ignorance, or both, have, especially in the past few months, put in circulation many absurd fables about Zionism. In normal conditions proud reserve would dictate our treating them with contempt. Present events, however, seem to place this attitude out of season. It becomes necessary to offer a simple exposition of truth so that to us may not be applied the saying, → “Qui tacet ubi loqui debet et potest consentire videtur”. Zionism – the Jewish National Movement – as is declared in its → programme first proclaimed in Basle 15 years ago, and since never modified, is a movement for the purpose of acquiring for the Jewish people a home in Palestine guaranteed by public law. There is no malicious distortion to which these few clear words have not been subjected.
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We have been denounced to the Turks as revolutionary adventurers bent on tearing off Palestine from the → Ottoman Empire in order to found there a Republic or a Kingdom of the Jews. We have always emphasized the fact that the very essence of our proposal is to remain loyal to the Empire of which Palestine forms a part and to transform this neglected province into a most valuable portion of the Empire's territory. In Paris the calumny was floated that the Zionists are secret agents of Germany and work in the interest of Teuton preponderance in the Near East. In London this fable has been retailed in high quarters so that we should be regarded as enemies of England. These allegations are wicked inventions. Zionists work against no nation. Their strivings are for the Jewish people. Individually they may have their sympathies and antipathies according to their country of origin. Collectively they are severely impartial. They strive to deserve the confidence and good will of all nations, and they hope to become useful to mankind in general by, with hard toil, changing waste land into fertile fields – by creating traffic, trade, industry, and culture in Palestine, where today comparatively little of all this is to be found. While the motives of Zionists are thus impugned and their activities misunderstood, we are constantly astonished and shocked to find how even persons well disposed towards our people and otherwise well informed are altogether ignorant about the Zionist movement in general. It is sometimes imagined that Zionism is a mere fad indulged in by its devotees. This sort of profound delusion impels me to refer here very briefly to what we Zionists, not the most but the least wealthy, of not a rich but of the poorest people on earth, have accomplished in a severely practical sense. There is today scarcely a part of the civilized world in which societies and associations for the support of one or the other phase of Zionist work are not to be found. All of these collect from their members their → quota, cheerfully contributed, for carrying on the routine work of the movement. Our financial instrument, the → Jewish Colonial Trust of London, has a subscribed capital of upwards of £ 260 000. We have established at Jaffa the → Anglo-Palestine Company with branches throughout Palestine, the good work of which has more than once received high commendation from the British Consul at Jerusalem. We have also the → Anglo-Levantine Company at work in Constantinople, and the → Palestine Land Development Company with its head office in London, the object of which is sufficiently indicated by its title. In addition to these we have the → Jewish National Fund for the purpose of securing land in Palestine, the subscription to which gives it an annual income of upwards of £ 30 000. These constitute some of the work we have been enabled to accomplish. The list is but a modest one perhaps on the face of it. I have not included in it the educational and cultural work which Zionists have accomplished in Palestine, nor the arts and crafts and industries there they have helped to establish. Nor does it take note of the fact that through Zionist influence the → Jewish population of Palestine has doubled during about the last decade. Modest as is the list, it is only right to add that the results it points to have been attained in a few short years out of human material that was most unlikely, → the poor Jewish prole-
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tariat, and in face of strenuous opposition of a considerable portion of the Jewish people themselves. It is therefore evidence of the strong passion to raise Palestine from the dust and set her as a jewel among the nations of the world which animates the Jewish masses. Can Europe at this point help us at least morally in our striving and at the same time perform an act that will prove of far-reaching value to the future of the world's peace and prosperity? What we seek now from European diplomacy is not an exercise in our favour of any imperative or unfriendly pressure on Turkey. She would energetically and with justice resent it, and before all in the world we are anxious to add nothing to her present embarrassments and afflictions. All we desire is to be afforded the opportunity of offering European diplomacy exact information as to our aspirations and to solicit its friendly interest in their behalf. Now that it has become a happy practice to solve all international questions in common, it is of the greatest importance to us that those high personalities who are called to treat, and decide upon, the litigious matters of the world politics should have laid before them the facts of Zionism by those that really know them. What we have to ask of Turkey, we wish to ask directly of her, thus avoiding the introduction of foreign intermediaries between her and ourselves. We ask only for common justice. We want no privilege, but neither should we have a → privilegium odiosum, a hostile discrimination against us, inflicted upon us. Actually, this privilegium odiosum exists. Foreign Jews have to procure on entering Palestine the so-called → “Red Passport”, which compels them to leave the country again within six months, while all other foreigners are permitted to stay permanently. Jews → may not acquire land in Palestine, while other foreigners are not prevented from doing so. Recently it has even been attempted, against the clear stipulations of Turkish law, to extend this prohibition to Ottoman Jews. But this appears to be due to an arbitrary high-handed proceeding of some antisemitic underling in Jerusalem and not to an order from Government. It is the abolition of these unjust limitations which we seek. They have up till now impeded Jewish immigration into Palestine. At present there are some hundred thousand Jews in that country, forming about → a seventh of the whole population. If facilities were offered to our influx, we should soon be very many more. There is room enough for us in the scarcely inhabited land. We have no intention of dispossessing or crowding out anyone. We are ready to buy honestly every inch of the soil we can possibly obtain, and to offer for it a higher price than any other purchaser. To none has the neglected land the ideal and sentimental value it has to us. We seek to become throughout the Turkish dominions an Ottoman nationality, equal before the law to other nationalities of the Empire, such as → the Arabs, Syrians, Druses, Turks, Greeks, Armenians, Kurds. The party in power does not pursue the error of → centralization and of levelling “turkification”. It seems, on the contrary, wisely prepared to allow each nationality free range for its moral, intellectual, and economic development. Devoted collaborators as they desire to be in the prosperity of the
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Turkish Empire, willing to learn the official language for use in their relations with the Imperial authorities and with their non-Jewish fellow citizens, Jews wish to employ among themselves in Palestine, in their schools, and in their communal administration in that land, their own national language – → Hebrew. They desire to obtain for it the same recognition as all other national languages of the Empire. They strive to raise Palestine agriculturally, industrially, commercially, intellectually to a highly flourishing State, and true to the spirit of Judaism to make of the land a “hearthplace” of European culture. With these facts we are anxious to impress European diplomatists. Their comprehension of our movement and its tenets and their kindly disposition towards it will constitute a most valuable gain for Zionism and the Jew. It will, I have no manner of doubt, be a particularly important item too in contributing to assure to the world the future of European peace by an act of tardy justice which will secure a home to a people out of whose loins proceeded those → prophets who descried in peace one of the highest of human ideals, and taught it as a religion to mankind. Obediently yours, → DR. MAX NORDAU. President Tenth Zionist Congress. Quelle: The Times (London), 30.12.1912, Nr. 40095, S. 3.
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73 → Die Reden Dr. Marmoreks und Dr. Nordaus Im Folgenden geben wir den Inhalt der beiden Vorträge nach den uns vorliegenden Berichten wieder. Nachdem die Gesinnungsgenossen → Dr. Jacobson und Dr. Ginsbourg Ansprachen gehalten hatten, ergriff Dr. Marmorek das Wort. Der Redner fragte, worin eigentlich die Größe der Herzl'schen Schöpfung bestanden habe? Schon andere, Pinsker und Hirsch, hätten die Schaffung eines jüdischen Gemeinwesens angestrebt, Herzl aber habe mehr gegeben als alles, was dem jüdischen Volke seit dem → Exil zugekommen sei, nämlich den Plan zur Realisierung der Idee, der heiße: „Die jüdische Frage ist eine politische Frage und kann nur auf politischem Wege gelöst werden. Alles andere, → Ansiedlung von Bauern, Schaffung eines kulturellen Zentrums, sei Stückwerk. Wir müssen, politisch denkend, unserem Ziel näher kommen.“ In diesem Sinne habe Herzl uns Waffen geschaffen, Waffen moralischer und materieller Art, wie sie allein für uns in Betracht kommen: die Tribüne, → die Bank und den Nationalfonds. Die Erbschaft, die er hinterlassen, sei schwer gewesen, nicht nur, weil es hieß, den großen Plan durchzuführen, sondern, was noch schwerer sei, den großen Gedanken lebendig zu halten. Dieser schweren Aufgabe seien die Nachfolger nicht gerecht geworden. Der heutige offizielle Zionismus sei von den → Ideen Herzls abgewichen, und dessen Schöpfungen seien zu einem Zerrbild geworden. Der → Kongress sei im Anfang eine erhabene Stätte gewesen, in die man einzog mit den Gefühlen, wie sie unsere Ahnen beim → Eintritt ins gelobte Land empfanden. Heute stehen auf dem Programm nichts als Feste. Die Zionisten hatten sich als Vertretung des ganzen Volkes betrachtet und sich mit der Gesamtheit verantwortlich gefühlt. Heute aber, gerade in den Tagen, wo dem ganzen Judentum ein Prozess gemacht werde, wo in Kiew → mit Beilis das ganze jüdische Volk des Ritualmordes geziehen werde, eine Anklage, die uns allen die Schamröte ins Gesicht steigen lassen sollte, da feiern wir in Wien Fest auf Fest! Gegen dieses unverantwortliche Gebaren protestiere er in energischster Weise. Die Gelder des → N. F. seien verausgabt worden zu Versuchen und Unternehmungen, die, gut oder schlecht, uns die Waffe aus der Hand nehmen, die gerade die Ansammlung des Fonds sei. Hier wendete sich der Redner gegen das Märchen, das gern verbreitet werde, dass nämlich die politischen Zionisten Gegner der praktischen Arbeit seien, für die sie nunmehr seit 16 Jahren eintreten. Er erläuterte, welche Arbeiten die Organisation auszuführen berufen sei, nämlich alle die, die ein Interesse für die Gesamtheit bieten oder die zu schwer für die einzelnen Ansiedler seien. Stattdessen habe man den Lehren der früheren Fehler zum Trotz die Mittel zersplittert, um → künstlich Bauern zu erziehen. Die Folge davon sei, dass bei der großen → Umwälzung, die sich vor uns abgespielt habe, wir völlig unvorbereitet gewesen und als die einzigen leer ausgegangen seien. Vor Jahren habe er bereits gemahnt, auf den großen Moment zu rüsten. Nun sei derselbe schneller gekommen, als man geahnt, und unsere Kräfte seien zersplittert gewesen.
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Die Praxis habe uns da zu unserem Schaden gezeigt, dass politische Erfolge nicht ohne die nötigen Eigenschaften der Führer erzielt werden können. Man brauche Männer, die zu dieser Arbeit fähig seien, und die Leitung habe gefunden, dass Nordau hierzu nicht der Mann sei. In Brüssel habe ein Beamter des → A. C. von oben herab über Nordau geurteilt. Eine Leitung, die ihre Mittel ausgibt, anstatt anzusammeln, sei allen gegenteiligen Erklärungen zum Trotz nicht politisch; und eine Synthese sei zwischen den beiden Richtungen nicht möglich, weil → die Praktischen die Grundprinzipien des politischen Zionismus nicht anerkennen wollen. Der Zionismus sei durch die politische Idee Herzls groß geworden, die heutige Richtung habe nichts hinzugefügt, im Gegenteil, sie suche ihn zu verkleinern, indem sie alle, die anderer Meinung seien, hinausdrängen wolle. Allen Umtrieben zum Trotz werden er und seine Freunde dem Herzl'schen Zionismus treu bleiben, da nur dieser der Weg zum Erfolg sei. Nach einer Pause, während welcher für den → Herzlwald gesammelt wurde, und nach einer hebräischen Ansprache des → Gg. Dimante, ergriff Dr. Nordau das Wort. Er führte ungefähr Folgendes aus: „Heute, wo wir schmerzerfüllt unsere Gedanken auf den großen, unvergesslichen Mann lenken, den wir vor neun Jahren verloren haben, können wir sein Andenken nicht besser feiern, als indem wir untersuchen, was von den Ideen, deren Schöpfer und Inkarnation er war, übrig geblieben ist. Seine Ideen waren in großen Zügen folgende: Er hat gefordert, dass das jüdische Volk, zerstreut und desorganisiert bis dahin, sich aufraffe und sich seiner historischen und moralischen Individualität bewusst werde. Dass es von Neuem den Wunsch hege, als Volk zu leben, eine Geschichte ohnegleichen auf der Welt an Alter und moralischer Größe weiterzuführen, und vor allem, dass das jüdische Volk das Wichtigste wiedergewinne, die Hoffnung auf die Zukunft.“ Die Logik der Gedanken brachte ihn von selbst auf den jüdischen Weg. Im Anfang dachte er nur an das Volk, das sich seiner Vergangenheit erinnert und eine Zukunft wünscht. Aber er sah ein, dass es unmöglich sei, sein Ziel zu erreichen, solange die Juden in aller Herren Länder zerstreut seien. Das jüdische Volk, das erst noch in der Idee existierte, braucht einen Boden unter seinen Füßen. Es muss angesiedelt werden in einem Lande, das ihm gehört, um zu einer besseren Zukunft zu gelangen. Aber auch noch diese zweite Idee war verschwommen. Im → „Judenstaat“, wo er sie auseinandersetzt, nennt er kein Land; es ist ein Traumland, von irgendeinem Gotte dem Volke auf der Wanderung geschenkt… Aber sobald sich eine Schar von Juden, die durch seine Ideen begeistert war, um ihn gestellt hatte, stieg er von der dichterischen Warte auf den festen Boden herab, er fasste Fuß und wurde zum praktischen Menschen. Dieselbe Logik, die ihn vom Volk zum Gedanken des Landes geführt hatte, brachte ihn dazu, die Idee des Landes zu fixieren: Es konnte nur Palästina sein. Er sah ein, dass das Land, in dem sich das jüdische Volk versammeln sollte, in dem sich dieser alte Stamm verjüngen sollte, nur die historische Heimat sein konnte, wo jeder Stein von den Tränen der
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Vorfahren befeuchtet ist und jeder Stein eine Hoffnung für die Zukunft erweckt. Er erkannte, dass im Herzen eines jeden Juden, arm oder reich, die Sehnsucht nach diesem heiligen Boden schlummert, dass das Andenken weiterlebt, das an sich ein unverjährbares Recht darstellt, dass ein feiner unfassbarer, aber auch unzerreißbarer Faden vom Herzen jedes Juden, wo er sich auch befinde, nach diesem Lande gehe und dass bei jeder Bewegung, die die Seele erschüttert, sein Herz den Zug dieses unsichtbaren Fadens empfindet, der seine Gedanken wie seine Gefühle nach Palästina lenkt. Sobald Herzl dieses unlösbare Band erkannt hatte, war seine Entscheidung klar. Fortan ist er nicht mehr der Mann des Judenstaates, sondern der Mann Palästinas. Vom ersten Moment unternahm er Schritte, seine Idee in die Wirklichkeit umzusetzen. Seine Absicht war, einen → Charter zu erlangen, mittels welches die Juden Eintritt in Palästina erlangen sollten; nicht durch eine Hintertür und geduckt, sondern erhobenen Hauptes durchs große Tor, mit Ehren von dem Hausherrn empfangen. Der Charter sollte eine administrative Autonomie sowie eine gewisse Bewegungsfreiheit geben, um die Institutionen einer modernen Gesellschaft erstehen zu lassen, und schließlich sollte er neben der Unterschrift des Hauptbeteiligten, der Türkei, auch diejenigen einiger Großmächte zur Garantie tragen. Als diese Charteridee die Welt in Erstaunen setzte, erhob sich schon eine Opposition. Es waren gerade die, welche sich als die Freunde → Zions par excellence bezeichneten. Von Anfang an machte sich eine Tendenz fühlbar, die sich praktische Tendenz nannte, die aber Herzls Bemühungen nicht offen entgegentrat, sondern sie heimtückisch anfeindete. Ich vergesse nicht, in welchem Tone einige Zionisten der ersten Stunde von Politik oder Diplomatie sprachen. Die besten unter diesen sagten unter sich: „Es ist eine Marotte; lassen wir Herzl zu Königen und Päpsten laufen, es hat immer den Vorteil, von uns reden zu machen, und kann uns den Beistand einiger westlicher Juden einbringen; wir werden inzwischen praktisch arbeiten.“ Es bestand also von Anfang an eine Antinomie. Man versucht heute, die Grenzlinien dieser zwei Tendenzen zu verwischen. Wenn dies geschähe, um aufrichtig und ehrlich ein Zusammengehen zu ermöglichen, so wäre ich entzückt. Für die Ehrlichkeit des Gedankens ist es aber notwendig, diese Linie zu ziehen und genau zu bestimmen. Der politische Zionismus, wie ihn Herzl ausgesprochen hat und wie wir ihn verstehen und fortsetzen wollen, wollte ein historisches Werk für das ganze jüdische Volk vollbringen, wollte wirklich die → Geulah herbeiführen, ganz jenen Volksteil befreien, der sich bedrückt fühlt und sich nach Luft und Licht und Freiheit vor Gott und den Menschen sehnt. Die Praktischen hatten nicht diese weite Idee, wenigstens nicht wissentlich. Im Grunde ihres Herzens, in den Tiefen ihres instinktiven Lebens strebten auch sie nach einer generellen Veränderung der Lage des jüdischen Volkes, ersehnten auch sie die Rückkehr in sein Land; aber sie sehen nur das handgreifliche Ende des Unternehmens und sind zu vergleichen mit einem Manne, der es unternähme, mit einem Becher den Ozean zu leeren … Durch Definition ist jeder Zionist ein → Choweve-Zion, aber nicht
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jeder Choweve-Zion ist ein Zionist. Die Choweve-Zion sind zufrieden, wenn sie ein Stück Land kaufen oder einige Bauern ansiedeln können: sehr schön! Sie gründen Werke, die das Land bewohnbar machen sollen: ausgezeichnet! Aber was haben diese Anstrengungen erreicht im Hinblick auf die ungeheure Aufgabe? Die Leistungen sind aller Achtung wert. Die → „Bilu“ haben in Palästina den Namen von Helden verdient. Selbst die → Alliance hat eine Tat vollbracht, die man ihr zugutehalten muss; es ist gewiss ein Verdienst, dass → Ch. Netter Mikweh Israel gründen konnte. Der Gedanke ist ausgezeichnet, wenn sich auch die Gründer seiner Tragweite nicht voll bewusst waren. Aber dieser Zionismus konnte keine unmittelbar praktischen Resultate zeitigen. Die Schüler von Mikweh zerstreuten sich in alle Welt; kaum ein Zehntel blieb in Palästina (bis zum Zionismus). Rothschild hat Millionen geopfert, zuerst um der „Bilu“ aufzuhelfen, dann um die → Kolonien zu gründen, die heute den Kern des jüdischen Volkes bilden, wodurch er sich einen dauernden Platz in den Annalen der Geschichte gesichert hat. Er hatte gewiss nicht die Absicht, für das ganze Volk zu arbeiten, wenn er auch heute diese Illusion haben mag. Damals sah er die Gründung nur vom Standpunkt eines reichen und hochherzigen Dilettanten, der da eine Art „Nationalpark“ für Menschen schaffen wollte, wo eine Zahl von Juden, deren Rasse auszusterben drohte, künstlich bewahrt und vor Gefahren geschützt werden sollte, um dem staunenden Fremden gezeigt zu werden. Es war gewissermaßen ein „lebendiges Museum“, eine archäologische Sammlung. Selbst wenn Rothschild → den Dutzenden von Millionen noch Hunderte hinzugefügt hätte – den Millionen Juden hätte es kaum genützt. Das Werk war von vornherein durch seine Konzeption verurteilt, ein beschränktes Unternehmen wissenschaftlich-ästhetischer Natur zu bleiben. Die Geulah konnte von diesen Werken nicht kommen, so schöne und erhabene Qualitäten sie im Einzelnen auch zeigen mochten. Dann kam der politische Zionismus. Gleich bei seinen ersten Schritten vollbrachte er andere Taten. Herzl, der Träumer des Judenstaates, schuf die → „Jüdische Kolonialbank“, dann, auf einem → von Prof. Schapira ausgesprochenen Gedanken fußend, den N. F., und er hat dazu beigetragen, ein von anderer Seite gegründetes Unternehmen von größter Bedeutung, die → hebräische Schule in Jaffa, zu retten. Die Choweve-Zion mit all ihren Leistungen vor dem Aufkommen des politischen Zionismus haben wohl ausgezeichnete Absichten bewiesen, jedoch ein bemerkenswertes Resultat nicht gehabt. Und seither haben die Praktischen dem Werke ihrer Älteren absolut nichts hinzugefügt. Der politische Zionismus, der ewig verspottete, hat den → I. C. T. gegründet, der noch besteht und sich nützlich gemacht hat, die → A. P. C., die eine der fruchtbarsten Schöpfungen geworden ist, den N. F., der den → Oppenheimer'schen Versuch großenteils finanzierte, der zur → Gründung von Tel-Aviv, das unser Stolz geworden ist und das jedem Besucher Palästinas imponiert, beigetragen hat, der endlich Gewerbe- und höhere Schulen gründete oder lebensfähig hielt, der mit einem Worte
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dazu beitrug, Palästina wohnlicher zu machen. – Und dann überraschte → der Tod den großen Herzl. Das Erbe Herzls wurde verwaltet von einem Manne mit den besten Absichten, dessen Name in der Geschichte des Zionismus nicht verschwinden wird, wäre es auch nur wegen des Verdienstes, den Mut gehabt zu haben, das Erbe anzutreten. Wolffsohn war ein getreuer Verwalter, der immer die Ideen Herzls zur Richtschnur nahm, der stets den politischen Charakter der Bewegung betonte, der fortfuhr, jene praktische Arbeit zu leisten, die eben die einzige zur Zeit mögliche praktische Arbeit ist. Die → sechs Jahre seiner Leitung haben nichts verdorben, alles gut imstande gehalten; das war im Grunde alles, was man verlangen konnte. Infolge fortwährenden Anstürmens der Gegner wurde er entmutigt und müde. Die unaufhörliche Kritik, deren Ziel er war, bewog ihn, aus eigener Initiative sich zurückzuziehen und den anderen seinen Platz zu überlassen. Denn, das muss gesagt werden, er wurde nicht gestürzt; seine Gegner hatten nur eine → Minorität auf dem Kongresse, der sie zur Leitung berief. Ihr Sieg war möglich, weil die → Majorität die Waffen streckte, und durch die Resignation der Parteigänger, die den Kampf nicht fortsetzen konnte, als der Führer sich zurückzog. → Seit zwei Jahren sind also die Praktischen am Ruder, und man ist berechtigt, zu fragen, wie sie sich ihrer Aufgabe entledigt haben. Man hört heute von einer → Opposition gegen die Leitung sprechen. Ich kenne keine Opposition, wenigstens, wenn man damit eine prinzipielle Opposition meint, die alle Handlungen belauert und den Umsturz bezweckt, um sich an die Stelle zu setzen. Einer solchen Opposition sind meine Freunde und ich vollkommen fremd. Aber die so definierte Opposition hat existiert. Es ist dies jene Minorität, die seit dem I. Kongress an Steine in den Weg legte. Auf dem allerersten Kongress war man einstimmig dafür, das mühsam ausgearbeitete → Programm zu akzeptieren, → da schrie eine Stimme, das Programm genüge nicht, das jüdische Volk verlange ein Königreich, das unabhängig der ganzen Welt gegenüberstände. Es war der reine Wahnsinn, und man musste den Schreier ausstoßen, der unser Werk zu verdächtigen drohte. Das war der Anfang der Opposition. → Auf dem IV. Kongress bildete sich die Fraktion. Bis heute habe ich nicht einsehen können, was die Fraktion eigentlich wollte. Sie sprach von „notwendiger Demokratie“. Als ob wir einen Tyrannen gehabt hätten, der, umgeben von einer Leibschar aus alten Adelsgeschlechtern, alle diejenigen, die anderer Meinung waren, durch seine Häscher hätte abschlachten lassen. Wie gesagt, es war nicht zu begreifen, was diese Leute wollten. Unter dieser Fraktion befand sich eine zweite Fraktion, die → Kulturelle genannt. Deren Absichten waren ebenso unerfindlich. Konnte man etwa den Zionismus, geführt von einem Herzl, des → Obskurantismus zeihen, der sich jeder freiheitlichen Bewegung entgegensetzte? … Später nahm diese selbe Minorität andere Namen an, sie war aber immer zur Stelle. Sie nörgelte, kritisierte, ohne dass man wusste, was sie wollte. Das ist die Opposition, die nur zu stürzen sucht. Ich fühle mich derselben fremd. Ich kenne nicht diese krankhafte Sucht, zu widersprechen, wie diese Minorität sie hatte, die die kleinste Handlung belauerte, um Gründe für einen Vorwurf zu
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finden. Im Gegenteil, ich bin stets bereit anzuerkennen, wenn die Leitung etwas Gutes vollbracht, und mich darüber zu freuen. Es ist nützlich, die Tatsachen festzustellen, die wir sehen. Ich ahme nicht der jetzigen Leitung nach, die sich nicht versagt, Parteigänger zu kritisieren, was doch mit einer Leitung gar nicht vereinbar ist. Das → offizielle Organ und die Wanderredner kritisieren unsere unschuldigsten und natürlichsten Handlungen, die wir ausführen auf Grund des einfachen Rechtes als Zionisten. Im vergangenen Herbst hat man eine → Zusammenkunft in Paris veranstaltet, um in einem Momente, wo → im Osten die größten Umwälzungen bevorstanden, offen zu diskutieren und zu versuchen, ob nicht aus einer politischen Debatte eine nützliche Idee entspringen könne. Zu dieser Sitzung wurde die Leitung → privatim eingeladen; sie hatte den guten Gedanken → (le bon goût), ein → Mitglied des A. C. zu delegieren, um daran teilzunehmen. Nachher konnten wir hören, dass wir gesetzwidrig gehandelt haben (illégal); gesetzwidrig, wenn freie Mitglieder sich offen versammeln! Gesetzwidrig, wenn man in klarer Sprache über die Fragen des Tages berät! Wenn man keine Beschlüsse fassen wollte und nicht mit der Absicht kam, Kritik zu üben! Gesetzwidrig, wenn man die Leitung dazu eingeladen hat! Vielleicht konnte man das von → Charkow sagen, wo man Herzl nicht eingeladen hatte, wo man vielleicht die Absicht hatte, Beschlüsse zu fassen. Wir versammelten uns ohne Oppositionstendenz, um zu diskutieren, ohne voreingenommene Meinung gegen die Leitung, nicht zu böswilliger Kritik. Später, im Moment der → Konferenz zu London, wandten sich einige Freunde aus England, die es für nützlich hielten, dass auch wir unsere Stimme erheben, auch wir uns meldeten, an mich mit dem Ersuchen, einen → Appell an das europäische Publikum zu richten. Ich sagte: Ja, aber keinen Appell, sondern wir wollen bloß informieren. Und dann habe ich als Publizist, als einer, der gewohnt ist, zur Öffentlichkeit zu sprechen, meinen Gefühlen Gewalt antuend, kühl und trocken auseinandergesetzt, was der Zionismus sei, jedes Wort auf die Waagschale legend, alles vermeidend, was die Türkei auch nur im Entferntesten hätte verletzen oder [was] als ein Appell an die Mächte [hätte] aufgefasst werden können. Und dann ist das offizielle Organ der Leitung gekommen und hat mit Anspielungen, die jeder verstand, kritisiert, den Artikel der „Times“ herabgesetzt und gesagt, da ist einer, der nichts versteht und nichts tut, und der will alles besser wissen. Die „Welt“ hat da Kritik geübt an einem freien, unabhängigen Zionisten, der niemand Rechenschaft schuldet als der Idee des Zionismus, der er zu dienen glaubte. Ich muss sagen, ich würde das nicht nachahmen. Ich konstatiere eines, was mir Freude bereitet. Diese Leitung, die ans Ruder gekommen ist, um den politischen Zionismus zu bekämpfen, die offizielle Negation des politischen Zionismus, entpuppt sich jetzt als politisch. Sie leistet politische Arbeit. Sehr schön! Aber in wessen Namen hat sie denn Wolffsohn bis aufs Messer bekämpft, wenn sie selbst jetzt sagen muss: „Aber wir sind ebenso politisch wie ihr, der beste Beweis dafür ist, dass wir Politik treiben.“ Es ist allerdings wahr, dass diese Politik nicht von Erfolg begleitet war. Doch darum mache ich ihr wirklich keinen
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Vorwurf. Es war eben nichts zu machen! Schwach, ohne Beziehungen, ohne Mittel, die ihren Schritten Nachdruck hätten verleihen können, konnte sie nicht viel erreichen. Wenn → unser Vorfahr David mit einem Steine einen König erschlug, wenn → Simson, der Held der Legende, mit einem Eselskinnbacken die Philister erschlagen konnte, so muss man eben annehmen, dass die Leitung weder Steine noch Kinnbacken besaß, um das Exempel zu wiederholen. Wenn sie aber keine Philister erschlagen konnte, so hatte sie immerhin die besten Intentionen. → Sie suchte – Wolffsohn hatte schon damit begonnen – eine ständige Beziehung mit der neuen Türkei zu schaffen. Vielleicht hat es unserem Gesandten etwas an Erfahrung gefehlt; ich mache ihm daraus keinen Vorwurf. Das Handwerk eines Diplomaten ist schwer und bedarf langer Lehrzeit. Mit den besten Absichten und mit der eigenen Fähigkeit der Juden, die bewirkt, dass alle unsere Akademiker, die nicht Diplomaten werden, ihren Beruf verfehlt haben, machte er sich ans Werk. Vielleicht ist er anfangs in seinem Eifer etwas zu weit gegangen. Jedenfalls, weder unter Wolffsohn noch unter der neuen Leitung haben wir etwas erlangt. Nicht einmal die kleinliche Schikane des → roten Passes wurde abgeschafft. Derselbe hindert zwar niemanden, der sich in Palästina ansiedeln will, aber die Institution ist erniedrigend für uns. Trotz → Revolution und trotz Beziehungen ist er nicht abgeschafft. Ernster ist Folgendes: Um uns wirklich niederlassen zu können, brauchen wir → das Recht, frei Land kaufen zu können. Dieses Recht haben wir nicht. Ein fremder Jude – und alle Einwanderer sind eben Fremde – kann nicht auf seinen Namen kaufen, er muss sich in jedem Falle eines Strohmannes bedienen. Diese vorgeschobenen Personen haben sich immer – zu ihrer Ehre sei's gesagt – als ehrliche Menschen erwiesen, jedoch das System ist gefährlich und ein Hemmnis. Man träumt schließlich von einer → Agrarbank. Gewiss ist ein solches Institut von größter Notwendigkeit, aber wie soll es funktionieren in einem Lande, wo es → keinen Kataster gibt, wo man keine Hypotheken nehmen kann. Man hat schon die ersten Steine zu dieser Bank zusammengetragen, jedoch die Möglichkeit zu deren Arbeit hat man nicht schaffen können. Also in diesen drei Punkten hat man nichts erreicht. Was die Beziehungen zu den anderen Mächten betrifft, so wurden einige Versuche unternommen, die aber kein Resultat hatten. Jedoch mache ich auch daraus keinen Vorwurf. Was ich der Leitung vorwerfe, ist, früher in den Reihen der Gegner des politischen Zionismus gekämpft zu haben und sich jetzt selbst politisch zu nennen. Was war also das Motiv ihrer Angriffe? Etwa → Ote-toi, que je m'y mette? Ich kann das nicht im Ernst annehmen. Welches waren nun ihre Leistungen hinsichtlich des praktischen Zionismus? Sehr geringe. Ich kenne allerdings die Schwierigkeiten, mit denen die Leitung zu kämpfen hatte. Ihre Mittel waren beschränkt. Aber dann, wenn man wenig hat, unternimmt man wenig! Stattdessen heißt der Wahlspruch: „Beginnen wir nur, die Mittel werden sich finden.“ Ich nenne das nicht praktisch.
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Ich werfe der Leitung nicht vor, schlechte Geschäfte zu machen; sie macht keine Geschäfte, sie hat das Recht, Geld zu verlieren. Es ist ihre Aufgabe, Dinge zu unternehmen, die die Allgemeinheit für die Einzelnen tun muss. Man musste experimentieren. Es ist ganz in der Ordnung, dass die Leitung die Mittel hergab, um Versuche zu machen. Wenn → die Farm Geld verloren hat, so tröste ich mich darüber, → wenn die Genossenschaft nicht prosperiert, so ist das nicht schlimm, wenn der Herzlwald, der uns lieb geworden ist, Enttäuschungen bereitet, so liegt dies an der Ordnung der Dinge. Aber wenn wir das Recht haben, uns zu irren, so haben wir nicht das Recht, unsere Irrtümer zu verstecken. Wenn wir freimütig sagen, wir haben unsere Mittel zu dem und dem Zwecke verwandt, sie sind verloren, aber haben dazu gedient, uns den Weg zu zeigen, eine solche Leitung hat die Achtung der Mitglieder und der Außenstehenden. Eine verschlagene Leitung aber, die sich nicht offen ausspricht, die Verheimlichungen anwendet und unklare Rechnungen liefert, begeht einen großen Fehler. Die, welche das Beste wollen, sie stützen möchten, sind verpflichtet, Halt! zu rufen. Die Geschäftsleute, die in solchen Fragen Praxis haben und kompetent sind, erklären, die gelieferten Zahlen seien unrichtig; von der Leitung erhalten wir aber nur ausweichende Antworten. Es ist uns gleichgültig, wenn die → Ölbäume teurer zu stehen kommen als ursprünglich angegeben oder wenn andere Bäume gepflanzt werden, aber sagt es uns wenigstens! Wir verlangen vor allem die Wahrheit. Fürchtet den Augenblick, wo ein Feind – den ich nicht in meiner Umgebung erblicke – sich dieser Tatsache bemächtigt, um euch mit groben, scharfen Worten anzugreifen! Nun, unsere Leitung hat nicht das Recht, sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Es wird heute viel Lärm gemacht wegen des → Projektes einer Universität. Die Idee ist ausgezeichnet und die Nützlichkeit ist allgemein anerkannt. Sie beweisen zu wollen, hieße Eulen nach Athen tragen. Aber mit welchen Mitteln wollen wir die Hochschule gründen? Wir haben alles, Studenten, die nur auf deren Eröffnung warten, Professoren, deren es Tausende gibt, die fähig sind, aber keine Anstellung finden, weil sie Juden sind; nur das Geld mangelt. Warten wir, bis der Herzlwald die Mittel liefert, wie soeben Dr. Ginsbourg gesagt, und jedermann wird dieser Verwendung beistimmen. Wollte man früher beginnen, würde man ein Fiasko riskieren. Ich erinnere mich an die Propaganda, die vor 10 Jahren bereits für diese Idee gemacht worden war. Durch einen dieser Glücksfälle, die sich in der jüdischen Geschichte oft wiederholen, fielen jenem Komitee 10 000 → Frcs. zu. Und da begann eine Epoche von Reisen und Reden durch ganz Europa, bis die 10 000 Francs ausgegeben waren, gewissenhaft ausgegeben bis auf den letzten Heller. Und ich sehe heute dieselben Gesichter wieder für dieses Projekt eintreten… Seien wir praktisch, wie Herzl und Wolffsohn es waren, unternehmen wir nicht zu viel, um es gut anzufassen, und was wir beginnen, machen wir es gut! Wir dürfen nicht Sachen unternehmen, die wir nicht zu Ende führen können; wir dürfen nur Werke beginnen, die unserem Namen und unserer historischen Aufgabe wirk-
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lich von Nutzen sind. Wir müssen unseren Ruf sorgfältig bewahren. Darauf kommt es an. Denn welches ist die praktische Bedeutung des bisherigen Werkes in Palästina? → Wir haben 50 000 Juden angesiedelt. Was ist das im Vergleich zu den sechs Millionen? Sehr wenig. Dagegen hat das Werk moralischen Wert. Wir können es der Welt zeigen, die unsere Hoffnung und unsere Idee nicht begreift und nur nach dem Äußeren urteilt. Wenn wir bei allen Fortschritten, die in Palästina gemacht werden, bei allen modernen und nützlichen Einrichtungen sagen können, es sind die Juden, die dies vollbracht, so macht das guten Eindruck auf den Reisenden und jeder Besucher wird zu einem → Herold unserer Würde und unseres Rufes. Also profitieren zwar nur wenige sofort von unserer Arbeit, aber indirekt nützt sie dem ganzen Werk. Dazu genügt das Vorhandene. Vermehren wir es nicht, da unsere Mittel nicht ausreichen. Ich komme zum Schluss. Die neue Leitung ist ans Ruder gekommen, indem sie den politischen Zionismus bekämpfte. An ihr Ziel gelangt, nennt sie sich selbst politisch. Sie hat auf diesem Gebiet wenig Resultate gehabt, was wir ihr nicht vorwerfen. Sie nennt sich praktisch, hat aber dem Vorgefundenen nichts zugefügt. Dagegen projektiert sie gefährliche Dinge, bewegt sich auf einer schiefen Ebene, indem sie immer neue Unternehmungen beginnt, ohne die Mittel zu deren Durchführung zu besitzen. Einer Sache sind wir gewiss! Lasst uns treu bleiben der Idee Herzls! Arbeiten wir für das ganze Volk, dann werden wir nie Schiffbruch leiden, denn die Idee kann nicht Schiffbruch leiden. Dagegen die Versuche und übereilten Unternehmungen können zu einer Katastrophe führen. Wünschen wir, dass die Leitung der großen Idee Herzls treu bleibe, denn nur mit dieser Idee und durch diese Idee werden wir siegen. Quelle: Juedische Rundschau. Allgemeine juedische Zeitung, 8.8.1913, Nr. 32, S. 327–329.
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74 [Brief Nordaus an den XI. Zionistenkongress] → Hochgeehrter Kongress! Obschon unabwendbare Umstände, zum ersten Mal seit der Entstehung der zionistischen Organisation, mich verhindert haben, für den XI. Kongress einen Vertretungsauftrag anzunehmen und mich an seinen Arbeiten zu beteiligen, drängt es mich doch, ihm aus der Ferne zu seiner Eröffnung meinen Gruß zu senden. Ich werde seinen Verlauf mit leidenschaftlicher Anteilnahme verfolgen und jedes Wort, das in seinen Sitzungen gesprochen wird, ist sicher, in meiner Seele einen lauten Widerhall zu wecken. Ich wünsche auf das Innigste, der Kongress möge in der Stadt Herzls stets den ganzen Umfang des → Herzl'schen Gedankens im Auge behalten und keinen Augenblick lang vergessen, dass eine Arbeit, die lediglich die Vorbereitung Palästinas zur Aufnahme möglichst zahlreicher jüdischer Einwohner bezweckt, für die Gesamtheit des jüdischen Volkes ohne Nutzen bleibt, wenn nicht gleichzeitig möglichst zahlreiche Juden zu dem Bestreben erzogen werden, in dem für sie vorbereiteten Palästina Aufnahme zu suchen. Möge ferner der Kongress immer der Tatsache eingedenk bleiben, dass die mit harter Mühe geschmiedeten → finanziellen Werkzeuge unserer Bewegung nicht robust genug sind, um unvorsichtiger oder rücksichtsloser Handhabung zu widerstehen, und dass ihr Zusammenbruch, wenn auch nicht dem zionistischen Gedanken, aber doch der heutigen zionistischen Organisation tödlich werden könnte. Möchte der Kongress endlich nicht vergessen, dass man einer großen Sache durch theoretisch einwandfreie Beschlüsse nicht nützt, wenn die gewöhnliche Einsicht vorherzusehen gestattet, dass ihre Verwirklichung zurzeit unmöglich ist. Ich wünsche aus tiefstem Herzen, dass der XI. Kongress den Zionismus seinem erhabenen Ziel um eine ansehnliche Wegstrecke näherbringen möge, und bin dessen hochachtungsvoll ergebener Dr. M. Nordau. Quelle: Die Welt, 4.9.1913, Kongreß-Ausgabe II, S. 32–33.
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75 Eine Entdeckung Dr. Nordaus Zwei Czernowitzer jüdische Studentenverbindungen haben auf dem Kongresse einen Aufruf verteilen lassen, der mit der für solche Gelegenheiten gebotenen Überschwänglichkeit das „gesamte gebildete Ostjudentum“ zu einer „Wallfahrt“ nach Palästina einlädt. Um ihrer Einladung verstärktes Gewicht zu geben, lassen sie ihr den Abdruck eines Schreibens von Dr. Max Nordau folgen, das nachstehenden Wortlaut hat: „Der Gedanke, der von den → jüdisch-akademischen Verbindungen „Hebronia“ und „Zephirah“ in Czernowitz ausgeht, verdient die tatkräftige Unterstützung aller Kreise, damit gerade in → Czernowitz, dem Mittelpunkte und Herzen des Ostjudentums, die geistigen Kräfte der Juden Österreich-Ungarns, Rumäniens und Russlands zusammenströmen und so der Plan der Palästinafahrt einen Triumph des → intellektuellen Ostjudentums bedeute. Durch diesen Plan wird auch eine engere Knüpfung der Beziehung der gebildeten Juden des Ostens herbeigeführt und ein Anstoß zur Einigung des Judentums gegeben werden. Dieser großzügige Plan wird von mir aufs Wärmste begrüßt und meine Hilfe zur Verwirklichung dieses zweifellos fruchtbaren und verheißungsvollen Gedankens den akademischen Verbindungen zugesichert, die in selbstloser Weise die Vorbereitungen zu dieser Reise veranstalten. Ich begleite mit den innigsten Wünschen für den Erfolg diesen Plan, das Ostjudentum mit dem Lande unserer Väter durch eigene Anschauung bekannt zu machen.“
Man kann natürlich von Herrn Dr. Nordau und seinen Schützlingen nicht die Einsicht fordern, dass die „Intellektuellen“ und „Gebildeten“, die sie meinen, nicht mehr den Anspruch erheben dürfen, als „Ostjuden“ qualifiziert zu werden, und wenn sie wieder soweit kommen wollen, noch ganz Anderes und Schwierigeres als „Wallfahrten“ nach dem heiligen Lande vollbringen müssen. Aber was man doch auch von Herrn Dr. Nordau verlangen darf, ist das primitivste Wissen um jüdische Dinge. Was man auch ihm nicht hingehen lassen darf, ist sein monströser Einfall, Czernowitz als den Mittelpunkt und das Herz des Ostjudentums anzusprechen. Es mag sich ja vielleicht lohnen, darüber nachzudenken, wie er zu dieser Weisheit – über die sich die Czernowitzer selber, die über einen gesunden Humor verfügen, wohl am meisten amüsieren dürften –, gekommen ist? Ob er sie sich einfach aus den Fingern gesogen hat? Oder ob sie den jüdisch-politischen Kämpfen in der Bukowina, von denen er etwas gehört haben mag, entstammt? Oder ob sie gar der ferne, unbewusste Nachhall jener → jiddischen Sprachkonferenz ist, die im Jahre 1908 zufällig nach Czernowitz einberufen wurde? Doch die Hauptsache sind natürlich solche Untersuchungen nicht. Hauptsache ist vielmehr, zu erkennen, wie weit die jüdische Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten → versimpelt sein muss, wenn ein derartiger Mangel an Sachkenntnis und Intuition einen Mann dazu befähigt, einem großen jüdischen Kongress als gleichberechtigte Macht gegenüberzutreten. Es muss wohl noch um vieles schlimmer werden, damit es besser wird. nb. Quelle: Die Freistatt, 8.10.1913, H. 6, S. 411–412.
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76 Max Nordaus Stellungnahme. Ein Briefwechsel mit Nahum Sokolow Hochgeehrter Kollege und Freund! In der → Frage der Unterrichtssprache an den von uns zu gründenden oder zu unterhaltenden Schulen Palästinas kann es unter Zionisten keine zwei Meinungen geben. Erziehung und Bildung unserer Jugend müssen dort hebräisch sein und dürfen nichts anderes sein. Wenn wir nicht dafür sorgen, dass uns in Palästina ein Geschlecht von reinen und echten Hebräern heranwächst, dann hat unser Zionismus keinen Sinn. Sollen die Juden, die nach Palästina zurückgekehrt sind, dort fortfahren, einander äußerlich und innerlich fremd, durch Vielsprachigkeit zerrissen zu bleiben, in den verschiedenen Kulturen ihrer Geburtsländer zu wurzeln, so hätten sie ebenso gut bleiben können, wo sie waren. Denn um sprachlich und kulturell bei Fremdvölkern zu hospitieren, brauchen sie nicht erst unter Mühsal, mit Kosten und starken Erregungen in das Land der Väter zurückzuwandern. Das können sie billiger und bequemer in ihren Geburtsländern haben. Man muss Hebräisch zur Umgangssprache und zum Werkzeug aller höheren geistigen Betätigungen der Palästinajuden machen, um sie in ein einheitliches Volk zu verschmelzen und ihnen eine jüdisch-nationale Kollektivseele einzuhauchen. Es war also sehr richtig, dass die → drei Vertreter des national-jüdischen Gedankens im Kuratorium des Technikums von Haifa austraten, als diese Körperschaft beschloss, das Technikum als eine deutsche Lehranstalt einzurichten. Hätten sie zu diesem Werk ihre Mitwirkung geliehen, so würden sie einen Verrat an unserer Sache begangen haben. Meine vorbehaltlose Zustimmung gilt aber nur diesem Schritt der drei Herren sowie dem → Beschluss unseres Engeren und Großen Aktions-Komitees, neue hebräische Mittelschulen und eine hebräische Lehrerbildungsanstalt in Palästina zu errichten, vorausgesetzt, dass wir die Mittel zu ihrer Erhaltung aufbringen können, was, wie ich fürchte, nicht leicht sein wird. Dagegen bedaure ich, dass wir uns mit dem → Hilfsverein der deutschen Juden verfeindet und uns auf den Kriegspfad gegen ihn begeben haben. Was werfen wir dem Hilfsverein vor? Dass er nicht national-jüdisch ist? Er hat nie behauptet, es zu sein. Die Gedanken, die ihn ins Dasein gerufen haben und die sein Handeln bestimmen, sind mit aller wünschenswerten Deutlichkeit in seinem Namen ausgedrückt. Er nennt sich einen „Hilfs“-Verein und er bezeichnet sich als „deutsch“. Er macht also aus seinem Herzen keine Mördergrube. Er bekennt sich zum Mitleid mit leidenden Glaubensgenossen und zu deutscher Gesinnung. Seine jüdische Solidarität ist die der Wohltätigkeit, nicht die der nationalen Einheit. Auch sein → palästinensisches Schulwerk hat er immer nur als Wohltätigkeit aufgefasst, nicht als eine Mitarbeit an der Wiedererweckung des Hebräertums. Wenn er in sei-
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nen Palästinenser Schulen → der hebräischen Sprache einen gewissen Platz eingeräumt hat, so war dies eine praktische Berücksichtigung örtlicher Bedürfnisse, nicht ein grundsätzliches, theoretisches Zugeständnis an den national-jüdischen Gedanken. Es ist nicht die Schuld des Hilfsvereins, dass unsere Leitung all das einen Augenblick lang aus den Augen verloren hat. Der Hilfsverein hat, soviel ich weiß, unsere Mitwirkung für das Haifaer Technikum nicht gesucht; wir haben sie ihm angeboten und er hat sie angenommen. Er durfte voraussetzen, dass wir mit klarer Überlegung handelten. Das haben wir aber leider nicht getan. Wir haben uns von dem Namen des Vereins, der seine Tendenzen offen und ehrlich zusammenfasst, nicht warnen lassen. Wir haben ihm den → Baugrund gestiftet, ihm mit Hilfe unserer Gesinnungsgenossen große Geldbeträge zugeführt, ohne uns vorher zu vergewissern, dass die Anstalt eine national-jüdische sein werde. Das war eine Forderung der ursprünglichsten Vorsicht. Es war unsere Pflicht eines guten Familienvaters, große Summen nicht hinzugeben, ohne die Bedingungen festzulegen, unter denen diese Anlage unserer Mittel erfolgte. Wir mussten mit dem Hilfsverein einen Vertrag in bindender Form schließen. Wäre der Hilfsverein auf ihn eingegangen, so hätte er ihn auch pünktlich gehalten. Wahrscheinlich hätte er ihn abgelehnt und wir hätten von vornherein gewusst, woran wir waren. Wir haben aber vorschnell gehandelt und dürfen uns jetzt nicht beklagen, wenn die Folgen unserer Leichtblütigkeit zutage treten. Der Hilfsverein vertritt Tausende von Juden, die leider unsere Grundanschauungen von dem Wesen und der Bestimmung des Judentums nicht teilen. Seine deutsch-vaterländischen Tendenzen entsprechen der Gesinnung seiner Mitglieder. Um seinen Charakter zu ändern, müssten wir zuerst seine Mitglieder für uns gewinnen, und das ist uns leider noch nicht gelungen. Bis dahin aber haben wir lediglich, und zwar mit Bedauern, festzustellen, dass er und wir verschiedene Aufgaben verfolgen, und wir müssen nicht das Unmögliche versuchen, zwischen unseren auseinandergehenden Richtungen ein faules Kompromiss zusammenzuklittern. Wir haben einen Urteilsirrtum begangen. Haben wir den sittlichen Mut, ihn einzugestehen. Scheiden wir still und friedlich vom Hilfsverein, lassen wir ihn seiner Wege gehen und gehen wir unserer eigenen. Der Hilfsverein schenkt Palästina jährlich etwa 200 000 → Franken Almosen in Gestalt von unentgeltlichem Unterricht. Ob uns dies angenehm ist oder nicht, wir können es nicht ändern. Alles, was unsere Würde uns vorschreibt, ist, von diesem Almosen für uns selbst nicht das winzigste Teilchen anzunehmen. Wir haben kein Mittel, zu verhindern, dass Missionen aller christlichen Bekenntnisse und Nationen in Palästina Schulen ihrer eigenen Richtung öffnen und unterhalten. Ebenso wenig vermögen wir zu verhindern, dass der Hilfsverein der deutschen Juden das Gleiche tut. Uns steht es jedoch frei, gegenüber den von uns als fremd empfundenen Schulen solche zu errichten, die von unserem Geist erfüllt sind. Das wollen wir tun, wenn wir dazu die Kraft haben. Aber wir können und sollen es ruhig, friedlich und würdig tun, ohne Aufregung, ohne Heftigkeiten, ohne bitteres Gezänk mit dem
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Hilfsverein, der immer sich selbst treu geblieben ist und wahrlich nichts dafür kann, wenn es uns an dem richtigen Verständnis für sein Wesen und seine Richtung gefehlt hat. Unsere Brüder in Palästina haben sich von ihrem Temperament zu einer vollständigen Verkennung der Sachlage hinreißen lassen. Wir dürfen ihnen das nicht übelnehmen, da sie in der Sprachenfrage, natürlich genug, sehr stark fühlen. Sie glauben, auf den Hilfsverein einen Druck ausüben, ihn durch eine trotzige, streitbare Haltung einschüchtern, ja ihn zu einer Änderung seiner Beschlüsse zwingen zu können. Das ist eine Selbsttäuschung. Sie haben gar kein Zwangsmittel gegen den Hilfsverein und dieser hängt weder materiell noch moralisch von den palästinensischen Juden und ihrer Meinung ab. Unsere Leitung weiß das zweifellos, und sie hat die Pflicht, unsere Brüder in Palästina zur Mäßigung zu mahnen und sie über die Zwecklosigkeit jeder Kundgebung, jedes Sturmlaufversuchs gegen den Hilfsverein aufzuklären. Sie hat auch die Pflicht, ihrerseits von unfruchtbarem Zeitungsgezänk abzustehen und sich mit einer reinlichen Scheidung vom Hilfsverein zu begnügen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine kühl-verständige Haltung unsererseits auf den Hilfsverein Eindruck macht und ihn bestimmt, wenigstens in seinen bestehenden Schulen den Raum nicht einzuschränken, den er dem Hebräischen bisher überlassen hat. Das wäre für Palästina ein Gewinn. Jedenfalls empfiehlt es sich, dass jeder der beiden Teile sich in seinen eigenen Kreis einschließt und den des anderen nicht stört. Vergeuden wir keine Kraft an die negative Arbeit einer Polemik, die Erbitterung hervorruft, die Judenfeinde mit Schadenfreude erfüllt und politisch sehr gefährliche Unterstellungen und Anschwärzungen erleichtert; sparen wir alles, was wir an Kraft haben, für die positive Arbeit des Schaffens und Erbauens auf. Vermehren wir unsere eigenen Schulen, ohne uns um die der anderen zu kümmern. Bemühen wir uns, die dazu nötigen Mittel aufzubringen. Gelingt es uns, wie ich hoffe, so haben wir nicht länger einen Grund, uns über die Kälte der anderen gegen das Hebräische in der Schule aufzuregen. Gelingt es uns aber nicht, so ist der Beweis erbracht, dass wir unsere Pflicht der Aufklärung des jüdischen Volkes über die heiligsten Gebote seiner Ehre noch nicht genügend erfüllt haben. Daraus würde uns dann eine Aufgabe erwachsen, die mir viel dringender und würdiger scheint als die Polemik gegen den Hilfsverein. gez. Max Nordau. *** Hochverehrter Herr Doktor! Vielen Dank für Ihre liebenswürdige Meinungsäußerung. Ihre klar ausgedrückte prinzipielle Ansicht über die Notwendigkeit der Wiederbelebung der hebräischen Sprache in Palästina und die Alleinherrschaft der hebräischen Unterrichtssprache in den dortigen jüdischen Schulen wird hoffentlich in weiten Kreisen den stärksten
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Eindruck machen und angesichts des jetzigen Sprachstreites wuchtig in die Waagschale der Entscheidung fallen. Auch der Passus Ihres Briefes, in dem Sie die Förderung der nationalen Erziehung in Palästina, namentlich die Gründung und Erhaltung national-hebräischer Schulen, so eindringlich als einen integrierenden Teil unserer zionistischen Palästina-Arbeit bezeichnen, wird für viele unserer Gesinnungsgenossen von programmatischer Bedeutung sein. In dieser grundsätzlichen Erklärung liegt für mich der Schwerpunkt Ihrer Stellungnahme, die in sämtlichen jüdisch-nationalen Kreisen und vor allem in Palästina selbst wohltuend und aufmunternd empfunden werden wird. Allerdings lässt sich dazwischen in Ihren Worten auch noch ein Unterton leisen Zweifels und begreiflicher Sorge wegen unserer finanziellen Möglichkeiten hören, aber zum Schluss klingt ja der Inhalt Ihres Briefes in der Hoffnung aus, es werde uns gelingen, das, was wir unternommen haben, auch mit Erfolg durchzusetzen. Dieser zuversichtlichen Hoffnung schließe ich mich voll und ganz an. Die einmütige Begeisterung, mit der die Opfer sowohl in Palästina wie in der ganzen → Diaspora geleistet werden, macht für mich diese Hoffnung sogar zu einer Gewissheit, die ja auch eine notwendige Voraussetzung des Erfolges bildet. Neben diesen wesentlichen Punkten, die eigentlich die aktuelle Frage erschöpfen, enthält Ihr wertes Schreiben noch manches, das sich auf die Vorgeschichte der Krise bezieht. Zu dieser Frage gestatten Sie mir, sehr verehrter Herr Doktor, Ihre Aufmerksamkeit auf einige wichtige Tatsachen zu lenken, die für eine nähere und in manchen Einzelheiten anders konstruierte Beurteilung maßgebend sein mochten. Der „Hilfsverein“ hatte nie zuvor → assimilatorische Tendenzen bekundet. Wir werteten ihn nicht nach seinem Namen, sondern nach seinen Taten. Er zählte und zählt noch jetzt zu seinen Mitgliedern und aktiven Mitarbeitern mehrere Zionisten. Ob seine Führer national-jüdisch empfinden oder nicht, ließe sich auch gar nicht mit Sicherheit feststellen. Für uns war die Richtung der Hilfsvereinsschulen in Palästina das gegebene Kriterium. Solange diese Schulen national waren – und das waren sie – begleiteten wir die Tätigkeit dieser Organisation mit Wohlwollen. Unser zurzeit durchaus gerechtfertigtes Vertrauen war auch die Folge der Popularität, der sich der Hilfsverein in den Kreisen unserer Gesinnungsgenossen in Palästina selbst erfreute. Was nun die dem Technikum seitens unserer Organisation gewährte Bewilligung anlangt, muss Folgendes berücksichtigt werden. Das Technikum ist eine → selbstständige Stiftung, die einem aus Vertretern verschiedener Länder und Richtungen bestehenden Kuratorium unterstellt ist. Sollten wir uns auch auf den sehr anfechtbaren Standpunkt stellen und die rein abstrakte Formel akzeptieren, dass der Hilfsverein auf Grund seines Namens in den Schulen Palästinas assimilatorisch zu wirken bestimmt ist und dass die Zionisten diese Notwendigkeit voraussehen könnten, so wäre auch dies kein Grund gegen die Bewilligung für das Technikum. Denn beim Technikum hatten wir nicht mit dem Hilfsverein zu tun, sondern mit dem „Institut für technische Erziehung in Palästina“.
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So weit zur Vorgeschichte. Was nun den jetzigen Kampf anlangt, unterschreibe ich freudig alles, was Sie gegen einen Kampf mit dem „Hilfsverein“ sagen. Wir brauchen tatsächlich mit dem Hilfsverein keine Händel zu suchen. Dass sich das hebräische Palästina gegen den Beschluss des Kuratoriums aufbäumte, dass ein Schrei der Empörung durch die Reihen der um ihre Sprache ringenden Lehrer und Schüler der Hilfsvereinsschulen ging, als die Kursänderung klar geworden, dass Palästina, das so schwer um seine materielle Existenz kämpft, mit bewundernswerter Begeisterung und selbstloser Hingabe verhältnismäßig große Geldmittel aufgebracht hat, um die hebräische Schule zu retten, all das kann ja nicht als ein Kampf gegen den Hilfsverein, sondern als ein aufgezwungener Verteidigungskampf für die hebräische Sprache bezeichnet werden. Wenn früher hier und da → manche Schärfen in die Erscheinung traten, so waren sie erstens bei einer so herausfordernden Handlungsweise von gegnerischer Seite begreiflich, zweitens gehören sie in ein früheres, bereits abgeschlossenes Stadium und drittens beruhen sie meistens auf Alarmnachrichten gegnerischer Pressorgane, die in ihrer Jagd nach Sensation, anstatt über die wesentliche Frage zu informieren, die Begleiterscheinungen stark aufgebauscht haben. All dies ist jetzt überwunden. Jetzt handelt es sich lediglich um die Förderung eines friedlichen, kulturellen, nationalen Erziehungswerkes in Palästina. Dazu brauchen wir Festigkeit und Opferfreudigkeit. Gestatten Sie mir, hochverehrter Herr Doktor, meiner Hoffnung Ausdruck geben zu dürfen, dass Ihre schönen Worte, mit denen Sie ja, abgesehen von den Nebenfragen der Vorgeschichte, diesen positiven Standpunkt vertreten, nach dieser Richtung nicht verfehlen werden, einen starken Eindruck in allen Kreisen unserer Gesinnungsgenossen zu machen und uns in unserer Arbeit anzuspornen. Mit herzlichen → Zionsgrüßen Ihr ergebener gez. N. Sokolow. Quelle: Die Welt, 30.1.1914, Nr. 5, S. 116–118.
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77 → „Judenstaat“ und Zionismus Theodor Herzls Gestalt wächst in dem Maße, wie sie zeitlich in die Ferne rückt. Wir übersehen heute besser sein Wollen als zur Zeit, da er es zuerst ausdrückte. Wir erkennen die Entwicklungen, die von ihm ausgehen und die bei seinem Auftreten kaum angedeutet waren. Es gibt Verständnislose, die behaupten, der Zionismus habe sich von Herzl wegentwickelt. Andere prahlen hochnäsig, sie hätten im Zionismus Herzl „überwunden“, das heißt, sie wären über ihn hinausgegangen. Beide Gruppen beweisen lediglich, dass sie Herzl nicht begriffen haben. Ein Zionismus, der sich von Herzl wegentwickelt, ist keiner; denn Herzls Zionismus will die Befreiung der jüdischen Masse aus der → Zerstreuung, der Verbannung, dem Elend der Fremde, den Höllenkreisen des Hasses, der Verachtung, der Verfolgung, der Verleumdung, er will die Sammlung der umhergeschleuderten Glieder des jüdischen Volkes zu einem verjüngten, lebenskräftigen, gesund und fröhlich weiterwachsenden Organismus, der nach zweitausendjähriger Unterbrechung wieder in normale Daseinsbedingungen versetzt ist, er will die Rückkehr des wiedergeeinigten Judenvolkes in das Land seiner Väter und die Fortsetzung seiner dreitausendjährigen Geschichte auf dem sicheren Boden, aus dem es die Kraft zum neuen Sein und Wirken ziehen soll. Eine Bewegung, deren Ziel nicht innerhalb des Rahmens dieses Programmes liegen würde, wäre kein Zionismus. Und ebenso wenig ist ein Zionismus denkbar, der über Herzl hinausgeht. Wo hinaus? Höchstens ins Blaue, Phantastische, Absurde. Wer mehr verlangt als die Wiederherstellung des Judenvolkes in Palästina, mit eigenem Land, eigener Kultur, eigener Sprache, eigenen politischen Geschicken, der ist nicht mehr ein zionistischer Idealist, sondern, wenn aufrichtig, ein Narr, und wenn unaufrichtig, ein verächtlicher → demagogischer Phrasendrescher. Diejenigen, die sich rühmen, Herzl überwunden zu haben, sind meist solche Zionisten, deren Zionismus sich mit dem Ausbau der bestehenden, begonnenen oder geplanten palästinensischen Einrichtungen, der Schulen, → Lehrfarmen, Pflanzungen, → Arbeitergenossenschaften usw. begnügt. In Wahrheit gehen sie nicht über Herzl hinaus, sondern bleiben weit hinter ihm zurück, einfach um die ganze Ausdehnung seiner Idee. Was sie wollen, wollte Herzl auch, aber er wollte noch viel mehr, was zu erfassen ihr enger und kleiner Geist nicht ausreicht. Denn sein Streben ging auf das Ganze. Er träumte die Erlösung des ganzen jüdischen Volkes und seine Wiedererstehung zu Ruhm und Ehre, nicht die Niederlassung einiger tausend oder selbst einiger hunderttausend Juden in einem arabischen Palästina, in das sie vorsichtig, auf den Fußspitzen, ängstlich um sich lugend hineinschleichen. Es ist eine dankenswerte Tat, Herzls „Judenstaat“ dem jungen Geschlecht zugänglich zu machen, das seit dem Beginn der zionistischen Bewegung heraufgekommen ist und das ihre Anfänge nur ungenau, wie einen Mythus, kennt. Aber es ist nötig, diesem Buche seinen genauen Platz im Lebenswerke Herzls anzuweisen und dem Leser über seine Bedeutung keinen Zweifel zu lassen.
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„Der Judenstaat“ ist ein idealistischer Höhenflug, er ist kein politisch-nationales Programm. Er ist die literarische Kristallisation der Stimmung, aus der der Zionismus erwachsen sollte, er ist nicht die Darstellung des Zionismus. Im „Judenstaat“ hat Herzl sich seine glühende Sehnsucht nach einem neuen, schönen, stolzen, großen Dasein des Judenvolkes von der Seele geschrieben. Er hat ein Ideal definiert, ohne sich bei der Bahnung des Weges aufzuhalten, auf dem dieses Ideal zu erreichen wäre. „Der Judenstaat“ ist eine Dichtung, die im → Äther schwebt, nicht auf prosaischem, doch festem Boden steht. Im „Judenstaat“ träumt Herzl einen malerischen Auszug aller Juden aus den Ländern des → Galuth, in soldatisch geordneten Scharen, womöglich mit fliegenden Fahnen und mit Musik, eine kurzfristige Abwicklung aller jüdischen wirtschaftlichen Existenzen, eine bankmäßige Übertragung aller Vermögen in die neue Heimat unter Mitwirkung der Regierungen und Völker, von denen wir uns brüderlich und gerührt verabschieden; mit schwärmendem Blick sieht er uns in Schiffe steigen, an deren Masten die Flagge des Judentums im Winde flattert, und nach einer epischen Meerfahrt an einem fernen Gestade, auf einer nicht genannten, geographisch nicht lokalisierten Insel, auf einem überseeischen Kontinent, in einem → Traumland „Irgendwo“ landen, an der Küste mit blumenumwundenen Triumphbogen, mit jauchzenden → Hymnen, mit weihevollen Feiern empfangen. Schließen wir die Augen und schwelgen wir in diesen → Prophetengesichten. Sie wollen keine Wirklichkeit sein und sind es nicht. Im „Judenstaat“ war Herzl nur Dichter. Er blieb in der hohen Sphäre außerhalb des Realen, wo die Phantasie die Schwingen frei ausbreiten kann, ohne zu fürchten, dass sie irgendwo anstößt. → „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ An dieses Schillerwort hat man zu denken, wenn man den „Judenstaat“ kritisch beurteilen will. In diesem Buch „wohnen die Gedanken leicht beieinander“. Aber damit begnügte Herzl sich nicht. Er wollte sich seine Aufgabe nicht bequem, nicht leicht machen. Als er sein Lied der Sehnsucht ausgesungen hatte, senkte er sich aus dem Äther auf die Erde herab, in den Raum, wo „die Sachen sich hart stoßen“. Nachdem er trunken an der von ihm selbst heraufbeschworenen zauberschönen → Fata Morgana gehangen hatte, richtete er den Blick auf das Gelände, das sich vor ihm ausbreitete, und suchte es als geduldiger, geschickter, energischer Straßenund Brückenbauer wegsam zu machen. Aus der → Fabelinsel, dem Traumkontinent „Irgendwo“, wurde → Zion, die genau begrenzte → ottomanische Provinz Palästina, und aus dem mythischen Auszug der Judenkolonnen die langsame Vorbereitung der Besiedlung von → Erez Israel mit Hilfe der zionistischen Weltorganisation, ihrer Finanz- und ihrer Kulturinstitute. Judenstaat und Zionismus sind also nicht identisch und dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Ist aber ein derartiges Missverständnis, vor dem gewarnt sei, vermieden, dann erlangt und behält „der Judenstaat“ seinen vollen Wert. Hier findet sich Herzls Grundgedanke, ungehemmt durch praktische Rücksichten, voll
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ausgedrückt. Dieser Grundgedanke ist: Erlösung des Judenvolkes, seine Verjüngung, seine Erhöhung; kurz: die → „Geulah“. An die Verwirklichung des Gedankens hat er später gedacht. Das war die eigentlich zionistische Phase seiner Entwicklung. Aber diese Phase wird erst durch die frühere, rein ideale, ganz verständlich. Um den eigentlichen Willen Herzls zu erfassen, muss man den „Judenstaat“ kennen. Dieses Märchen durchleuchtet den Zionismus. Es klärt auf, was in diesem dunkel scheinen könnte. „Der Judenstaat“ ist der Schlüssel der zionistischen Organisation, der Kongresse, der → Kolonialbank, des → Nationalfonds, der Palästinaarbeit. Er verhält sich zum Zionismus wie die → platonischen „Ideen“ zu ihren Verkörperungen in der Welt des Stoffes. Man kann aus ihm keine Richtlinien für die praktische Tätigkeit im Zionismus gewinnen, wohl aber die Gesinnung, die aus gleichgültigen, zukunftslosen, dem Abfall zutreibenden Juden hoffnungsfreudige, selbstvertrauende Zionisten macht. Quelle: ZS2, S. 322–326, dort mit dem Zusatz: → Vorrede zu einer polnischen Ausgabe von Herzls Judenstaat. Ferner in: Die Welt, 3.7.1914, H. 27, S. 657–658.
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78 → David Wolffsohn Während ich, ein Flüchtling von Haus und Heim, getrennt von allen, die mir teuer sind, bangen Herzens auf den über die Länder und Grenzen → herüberschallenden Donner der Kanonen horchte, brachte mir ein hiesiger Freund, der die → Jewish Chronicle empfängt, in den ersten Oktobertagen die Nachricht, dass David Wolffsohn vierzehn Tage vorher gestorben war. Sie schmetterte mich nieder. Sie ließ mich einen Augenblick lang sogar die ungeheuren Ereignisse vergessen, deren entsetzte Zeugen wir sind. Ich wusste, dass mein armer Freund schwer leidend war. Er war es ja seit Jahren. Aber gerade vor dem Ausbruch des Krieges hatten die Nachrichten besser gelautet. Und seitdem hatte ich nichts von ihm hören können, da es zwischen Deutschland und Frankreich keine Postverbindung mehr gab. Er war nun mehr als vierzehn Tage tot, und ich ahnte es nicht. Briefe und Telegramme von Freunden in Holland, England, der Schweiz, Österreich, Deutschland, die mich von Wolffsohns Hinscheiden unterrichten wollten, gelangten zum Teil erst nach fünf Wochen, zum Teil gar nicht an mich. Und in den Tageblättern, die mir hier zugänglich sind, fand ich kein Wort über das Trauerereignis. Sie nennen jeden Leutnant von sechs oder sieben fremden Heeren, der im Felde geblieben ist, aber für einen großen Juden, den die Welt vorzeitig verloren, haben sie keine Zeile übrig. Wir allein beweinen unsere Toten. Umso heiliger ist unsere Pflicht, um sie zu trauern, sie zu ehren, wie sie es verdienen. Wenige Worte will ich Wolffsohn in die Gruft nachrufen, die sich über seinem Sarg geschlossen hat, ohne dass ich eine → Scholle Erde auf ihn hinabwerfen konnte; wenige, aber aufrichtig gefühlte. Ich werde mich von Überschwang fernhalten; es hätte dem Freunde, der uns genommen wurde, tief missfallen, denn er war einfach und bescheiden, und das Bewusstsein seines Wertes artete nie in Selbstüberschätzung aus. Es ist nicht meine Absicht, den Platz abzumessen, den David Wolffsohn im Zionismus eingenommen hat, oder die Gedanken und Taten zu umschreiben, die seine → siebenjährige Leitung der Geschäfte unserer Organisation kennzeichnen. Ich könnte es nicht tun, ohne Kritik zu üben, ohne in Lob Vorbehalt zu mischen, ohne Tagesfragen zu streifen und Empfindlichkeiten der Lebenden zu berühren, und dies alles will ich vermeiden. Kein fremder Ton klinge in meine Klage um den Toten: Meine Trauer bleibe gesammelt und werde nicht durch die Betrachtung der Aufgaben des Zionismus und der verschiedenen Methoden ihrer Lösung abgelenkt. Die großen schöpferischen Geister, wie → Moses, die einen Menschenstaub zu einem Volke kitten, ihm seine Geschicke bis in eine unabsehbare Zukunft bereiten, ihm die Lebensideale, den Daseinsmut und die Kraft der Selbstbehauptung geben, nehmen einen besonderen Platz in der Geschichte ein. Sie bleiben einsam, überragend, jedem Vergleich entzogen. Gleichwohl müssen sie Nachfolger haben, denn das Volk kann der Führung nicht entraten und das Vermächtnis des Großen will gepflegt und verwaltet sein. Herzl war eine Mosesnatur. Wolffsohn würde es als Läste-
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rung empfunden haben, würde man ihn neben den Urheber der zionistischen Kongresse und Organisation haben stellen wollen. Aber er war der → Joschua dieses Moses, und das ist für ihn wahrlich des Ruhmes genug. Wolffsohn hatte eine der schönsten Eigenschaften eines ganzen Mannes: Er war vorbehaltloser Bewunderung und selbstvergessender Hingabe fähig. Er blickte zu Herzl mit einer an Andacht und Schwärmerei grenzenden Verehrung auf, machte sich willig zum Diener seiner Pläne und Absichten und fand seine volle sittliche und geistige Befriedigung darin, in nie ermüdender Opferfreudigkeit, dem geliebten Führer alles zur Verfügung zu stellen, was er an Kraft und Vermögen, an Energie in der Vollstreckung tieferfasster Weisungen, an Übung und Gewandtheit in praktischer Organisationsarbeit, an Klugheit, Geschicklichkeit Welt- und Menschenkenntnis besaß. Er war die Verkörperung jener → Nibelungentreue, die der Germane als die heroische Tugend seines Stammes anspricht und die er sicher nicht so hoch bewundern und so laut preisen würde, wenn sie unter den Seinigen nicht so selten wäre. Bei uns Juden ist sie ungleich häufiger, und Wolffsohn ist ihr schönes Beispiel. Herzl würdigte die unbedingte Ergebenheit seines Gefolgsmannes und dankte sie ihm durch volles Vertrauen. Er weihte ihn in seine geheimsten und letzten Pläne ein. Er enthüllte vor ihm ohne Scheu auch die verschleierten → Chimären, die er anderen, auch nahen Freunden, nie hätte zeigen mögen, um in ihren Augen nicht als ein seltsamer Träumer zu erscheinen. Er machte ihn zu seinem Testamentsvollstrecker, zum Vormund seiner Kinder, zum Empfänger und Bewahrer seiner Tagebücher, auf die die Öffentlichkeit heute noch keinen Anspruch erheben darf. Und als er verschwand, da fand Wolffsohn sich plötzlich an der vordersten Stelle. Er war lange Jahre hindurch der Mann im Schatten gewesen. Jetzt stand er im grellen Sonnenlicht, dem sein Vordermann ihn bis dahin entzogen hatte, und diese Helle, dieser Glanz erschreckten ihn. Denn jede Überhebung war ihm fremd und widerwärtig, er kannte seine Begrenzungen und war von edler, rührender Bescheidenheit. Er musste, ob er wollte oder nicht, → beim Tode Herzls die Geschäfte des Zionismus weiterführen, da sie nicht im Stiche gelassen werden durften; aber der Gedanke, in aller Form die Führung zu übernehmen, der richtige Nachfolger Herzls zu werden, ging ihm nicht ein. Als er im → Mai 1905 mit → Dr. Katzenelsohn, → Dr. Bodenheimer und anderen Freunden zu mir nach → Karlsbad kam, wo ich schwer krank eine Kur gebrauchte, und mit einer Heftigkeit, der zu widerstehen ich damals fast zu schwach war, in mich drang, an die Spitze der Bewegung zu treten, da sah ich ihn buchstäblich aus der Fassung geraten, als ich ihm zurief: „Aber Freund, was ist das für Verirrung! Sehen Sie denn nicht, dass Sie, und Sie allein, der Berufene, der vorbestimmte Verwahrer, der natürliche Testaments- und selbst → Intestaterbe Herzls sind?“ Es bedurfte langer Überredung, ehe er sich entschließen konnte, sich meinen Beweisgründen zu fügen. Selbst als der folgende Kongress meine Meinung durchaus teilte und ihn nach Vorschrift zum → Präsidenten des Engeren Aktions-Komitees wählte, hatte er sich innerlich noch nicht zum Gefühl der Rechtmäßigkeit seiner
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Führerschaft emporgerungen, und er wollte sich immer nur als einen Statthalter für die Zeit der Erledigung des Hochsitzes ansehen. Als Führer, das zu sagen, wird mir gestattet sein, bewährte er sich glänzend innerhalb des Rahmens, den er vorgefunden hatte und den zu erweitern oder gar zu sprengen er sich streng untersagte. Neue Gedanken wollte er in den Zionismus nicht einführen. Dafür bestand nach seiner Überzeugung keine Notwendigkeit. Die überlieferten waren ausreichend, um ihm die großartigsten, fruchtbarsten und schwierigsten Aufgaben zu stellen. Was er wollte, das war, das Geschaffene zu erhalten, das Begonnene auszubauen, der Organisation eine gesicherte materielle Unterlage zu geben, und wenn möglich, die immer schärfer hervortretenden Gegensätze innerhalb der zionistischen Gesamtheit – ich verabscheue das Wort Partei für unsere Gliederung – zu mildern oder gar auszugleichen. Das war sein Programm, das zu beurteilen hier nicht meine Absicht ist, danach handelte er, und seine meisten Punkte verwirklichte er glücklich oder brachte sie der Verwirklichung näher. Das ist ein Werk, das ihm einen unvergänglichen Namen in der Geschichte des Zionismus sichert. Doch höher als sein Werk steht mir der Mann. Er war durch und durch echt. Nichts an ihm war Schein, war auf den Glanz berechnete Täuschung. Wo man klopfte, da klang reinen Schalles das volle, gediegene Edelmetall. Er war alles durch eigene Arbeit geworden. Er verdankte nichts der Gunst des Zufalls, alles seiner Tüchtigkeit, Ausdauer und Ehrenhaftigkeit. Aber ich gehe nicht so weit, zu sagen: Er hat vom Hause nichts ins Leben mitbekommen. Irdische Güter fand er freilich bei seiner Geburt nicht vor und er musste sich jeden Pfennig selbst erwerben, er erfreute sich indes dennoch eines reichen Erbes: der angestammten Eigenschaften, die ihm als sicherer Besitz von den Vätern vermacht wurden. Er war ein stolzer Sohn unserer Edelrasse. Er war ein prächtiger Jude. Er hatte wenig Schulwissen erwerben können, doch ein sonnenklarer Verstand, seine Klugheit, sein rasches, sicheres Urteil füllten die Lücken seiner formalen Bildung aus, und die Buchgelehrsamkeit, für die er keine Verwendung gehabt hätte, ersetzte selbstgewachsene Weisheit. Er war in der bescheidensten Umgebung aufgewachsen, fand aber in seinem angeborenen Takt, natürlichen Feingefühl und stets gegenwärtigen Bewusstsein seiner persönlichen Würde die adelige Sicherheit des Auftretens und der Bewegung, die ihn später in den vornehmsten Salons an seinem Platze sein ließ und ihn befähigte, mit Männern, die auf den Höhen des Staates und der Gesellschaft stehen, weltmännisch, wie ein Gentleman mit Gentlemen zu verkehren. Das Schönste und Rührendste an ihm aber war sein Herz, sein jüdisches Herz. Er konnte kein Leid sehen, ohne es mitzufühlen, kein Unglück, ohne es lindern zu wollen. Seine Wohltätigkeit war nicht die konventionelle Bewegung der kühlen Reichen, die zwar mit immer offener Hand, doch ohne Gemütsanteil spenden. Das köstlichste an seinen Gaben war die Wärme, die innige Brüderlichkeit, mit der er gab. An seiner Frau hing er in rührender Liebe; sein reines, edles Eheleben erinnerte an die häuslichen Idyllen der Patriarchen. Seinen Freunden war er der sicherste, zuverlässigste Freund. Und seinem Volke war er in
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leidenschaftlicher Zuneigung ergeben. Nichts stand ihm so hoch wie die Ehre seines Volkes. Nichts ersehnte er so heiß wie das Glück seines Volkes. An nichts glaubte er so begeistert, so felsenfest wie an die Zukunft seines Volkes. Dieser Glaube gab ihm einen unerschütterlichen sittlichen Halt, seinem Leben einen über das Einzeldasein weit hinausweisenden Sinn. Dass er so vollständig im Judentum aufgehen konnte, erhob den einfachen Mann hoch über sich selbst, gab seinem Wesen reichste Entfaltung und sichert seinem Namen dauerndes Andenken in seinem Volke. Madrid, den 4. November 1914. Quelle: Erez Israel. Mitteilungen des Hauptbureaus des Jüdischen Nationalfonds (Den Haag), Wolffsohn-Gedenknummer, undatiert [vermutlich Ende 1915 o. 1916], S. 3–5.
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79 Die Tragödie der → Assimilation Unter den unheimlichsten und grotesken Erfindungen, welche die abergläubische Phantasie des Mittelalters ausgeheckt hat, ist eine der packendsten die vom → Seelenschacher, der Lieblingsbeschäftigung des Teufels. Sie zeigt den Geist des Bösen dauernd im Hinterhalt Männern auflauernd, die vom Ehrgeiz zerfressen sind, nach Auszeichnung, Macht, Reichtum, Genuss gieren und ohne Zögern alles verüben würden, um ihre selbstsüchtigen Träume zu verwirklichen. Sowie er ein Opfer dieser Gattung entdeckt, tritt er an es heran, führt es in Versuchung, spiegelt ihm alle Herrlichkeiten vor, die es ersehnt, und verspricht sie ihm unter einer einzigen, leicht zu erfüllenden Bedingung: Es hat ihm nur seine Seele zu verkaufen, es hat nur mit seinem Blut einen Vertrag zu unterschreiben, der sie ihm nach seinem Tode als sein Eigentum überlässt, und es wird bis ans Ende seines Lebens Herr und Gebieter aller Guten der Erde. Von dem Augenblick an, wo der Leichtsinnige seinen Namen unter den Pakt gesetzt hat, blendet er die Welt durch das Schauspiel seiner Größe. Er lebt in höchster Üppigkeit, die stolzesten Häupter neigen sich vor ihm, allen seinen Worten wird von den Menschen gehorsamt, jede → Grille, die ihm durch den Kopf fährt, nimmt unverweilt Gestalt an, er wird umschmeichelt, gelobhudelt, beneidet, bewundert, gefürchtet, sein Glück scheint wundergleich, unfassbar. Aber inmitten des betäubenden Festgetöns, das ihn unablässig umgibt, im Wirbel seiner stets erneuten Lustbarkeiten, in der Trunkenheit seiner gebieterischen Macht hat er fortwährend die Schicksalsfrist vor Augen, die seine Seele dem Teufel ausliefert, und er denkt mit Entsetzen an die Verfallsfrist, die jeder Augenblick seines unvergleichlichen Daseins näherbringt. Er macht verzweifelte Anstrengungen, um dieser höllischen Vorstellung zu entrinnen, er bringt es vielleicht fertig, auf seltene, flüchtige Momente das fürchterliche Endziel seines Rennens zum Abgrund zu vergessen, aber der Dämon ist immer da, immer hinter ihm, behält ihn grinsend im Auge und wartet auf den Augenblick, wo er ihn mit seinen Klauen packen wird. Ein Ereignis, das sich zwischen den welterschütternden Vorgängen des Krieges zugetragen hat und im Toben der Riesenschlachten, im Donner zusammenbrechender Kaiserreiche wahrscheinlich wenig bemerkt worden ist, hat diese Sage in meinem Gedächtnis heraufbeschworen. Ich war in den Kriegsjahren von Mitteleuropa völlig abgeschnitten. Ich habe keine einzige deutsche Zeitung gelesen. Ich weiß nicht, wie die Presse Deutschlands und Österreichs den Vorfall behandelt, ob sie von ihm viel Aufhebens gemacht, ihm längere Betrachtungen gewidmet hat. In den mir zugänglichen spanischen, französischen, englischen, amerikanischen Blättern las ich eines Tages: → Ballin, genannt der König von Hamburg, habe seinem Leben ein Ende gemacht, indem er sich eine Kugel in die Brust jagte. Wie war der verzweifelte Unglückliche zu dem Entschluss gelangt? Die erste Lesart war einfach und einleuchtend: Überwältigt von der zermalmenden Niederlage seines Vaterlandes habe er den Einsturz des Reiches, seiner Seemacht, die zum großen Teil sein eigenes Werk gewesen sei, nicht überleben wollen. Das war ehrenhaft, es war sogar, wenn
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man will, heldisch. Es zeugte für die Hingebung des Beklagenswerten an sein deutsches Vaterland und zugleich dafür, dass dieses Vaterland einem seiner treuen Söhne eine Liebe hatte einflößen können, die stärker war als der Tod. Und man hätte zweifellos an gewissen Stellen nicht verfehlt, die Tatsache möglichst laut zu betonen, dass dieser leidenschaftliche Vaterlandsfreund ein Jude war und dass er, indem er sich freiwillig den Tod gab, mit tragischer Feierlichkeit das böswillige Gerede von einem antisemitischen Deutschland Lügen strafte, das seinen Untertanen mosaischen Bekenntnisses eine gehässige Stiefmutter sei. Ja. Aber bei dieser ersten Lesart ist es nicht lange geblieben. Wenige Tage später wurde sie durch eine andere, diesmal endgültige ersetzt. Es war am Vorabend der Waffenstreckung Deutschlands. Ballin wurde ins Große Hauptquartier zum Kaiser berufen, der ihn im Beisein → Hindenburgs und Ludendorfs um seine Meinung über die Lage und insbesondere darum befragte, ob der Krieg bis zum Äußersten fortgesetzt werden und jede Rücksicht fallen gelassen werden solle. Ballin widerriet lebhaft diesen Vorsatz und empfahl dringend einen Frieden der Zugeständnisse und Versöhnung, indem er mit angsterfüllter Beredsamkeit bei den furchtbaren Gefahren verweilte, die Deutschland auf lange Jahre, vielleicht auf Jahrhunderte bedrohten, wenn seine siegreichen Feinde seine Handelsflotte vernichteten, es von allen Meeren verdrängten, seine Beziehungen zu den überseeischen Ländern unterdrückten und seinen Welthandel erwürgten. Seine militärischen Zuhörer erhoben sich entrüstet und mit Beschimpfungen gegen diese Worte, und Kaiser Wilhelm, der seinen Zorn nicht bemeistern konnte, warf ihm die verächtliche Bemerkung ins Gesicht: „Ihr jüdischen Händler wollt euch in meinem Reiche der Gewalt bemächtigen. Nun denn, ich werde euch nicht gestatten, euch mein Amt anzumaßen und das deutsche Volk eurer Herrschaft zu unterwerfen.“ Schmachvoll aus der Gegenwart des Kaisers davongejagt, kehrte Ballin nach Hamburg heim, und da er die Erinnerung an die Schande des eben erlebten Auftritts nicht ertragen konnte, schoss er sich eine Kugel ins Herz. Das ist wohl die Wahrheit dieser Geschichte von Verzweiflung und Tod. Und nun wollen wir die Gestalt des beklagenswerten Ballin und sein außergewöhnliches Leben vor unseren Geist aufsteigen lassen und uns seiner Einzelheiten erinnern. Welche wunderbare Laufbahn! Welches glanzvolle Dasein! Welche Erfolge! Welche Triumphe! Der → Sohn eines kleinen Auswanderungsagenten in → Posen, führte er das Geschäft seines Vaters fort, verlegte es jedoch nach Hamburg, um der Schifffahrtsgesellschaft, mit der er arbeitete, näher zu sein. Mit einem lichtvollen Verstande, einem seltenen Organisationstalente und einem energischen Charakter begabt, fand er es nicht schwierig, sich davon Rechenschaft zu geben, dass er, der der Gesellschaft jährlich Zehntausende von Reisenden nach Amerika zuführte, ihr Hauptkunde war und ihr Bedingungen diktieren konnte. Er verlangte, in den Aufsichtsrat aufgenommen zu werden. Diese Forderung schien den Großhänsen der Gesellschaft eine unerträgliche Dreistigkeit. Man denke! Ein kleiner Jude aus den Ostprovinzen, wie man damals sagte, unterfing sich, auf einen Platz unter diesen stolzen Hansea-
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ten Anspruch zu erheben, die hochmütiger, ausschließlicher, antisemitischer sind als die preußischen Junker selbst? Zuerst widersetzten sie sich entrüstet und geringschätzig seiner Anmaßung. Doch als er drohte, in Hinkunft den → Packbooten des Bremer Norddeutschen Lloyd, des Wettbewerbers der Hamburg-Amerika-Gesellschaft, den Vorzug zu geben, unterwarfen die hochmögenden und mächtigen Herrschaften dieser letzteren sich zähneknirschend der Erpressung und nahmen Ballin in ihren Kreis auf. Als er erst im festen Platze war, wusste er sich durch die Überlegenheit seiner Begabung Geltung zu erzwingen und wurde bald der Gebieter. Unter seiner Leitung nahm die → „Hapag“, wie man die Hamburg-Amerikanische Paketboot-Aktiengesellschaft abgekürzt nannte, einen wundergleichen Aufschwung. Er fand sie mit einem Aktienkapital von 5 Millionen → Mark, Anteilsscheinen, die an der Börse tief unter dem Nennwert notiert wurden, und einigen mittelmäßigen Schiffen vor. Er entwickelte sie zu einem Unternehmen von 187 Millionen Mark Kapital, das 12 bis 18 Prozent Dividenden bezahlte, mit einer Flotte ersten Ranges, die Schiffe von 35 000, zuletzt sogar von 75 000 Tonnen in sich begriff, die größten, schönsten, luxuriösesten, die man je gesehen hatte, das mit regelmäßigen, zahlreichen Dampferlinien den Erdball umspannte, das an Bedeutung alle anderen Schifffahrtsgesellschaften, selbst die englischen, weit überragte und Hamburg zum Mittelpunkt des Seeverkehrs der Welt machte. Durch diesen Erfolg wurde Ballin einer der hervorragendsten Männer Deutschlands. Die Berliner Regierung zog ihn in allen Fragen der Seeschifffahrt, der Kolonien, des Außenhandels zu Rate. Kaiser Wilhelm verlangte, seine Bekanntschaft zu machen, lud ihn zum Besuche in Potsdam und Berlin ein, erwiderte seine Besuche in Hamburg und am Bord seiner Schiffe, empfing ihn im vertrauten Kreise, behandelte ihn als Freund und großen Günstling und überhäufte ihn mit amtlichen Ehren. Wiederholt bot er ihm ein → Ministerportefeuille an, das Ballin klug genug war, jedes Mal auszuschlagen. Man versichert sogar, er habe ihn in einem gewissen Augenblick zum Reichskanzler machen wollen, zum → Nachfolger Bismarks! Die Vertrauten des Kaisers, all die Generale, Kammerherren und anderen Höflinge mit Degen, Schlüssel und → Livree, nahmen Anstoß und Ärgernis an diesen Beziehungen zwischen ihrem allerdurchlauchtigsten Herrn und dem kleinen Posener Juden, aber sie hielten ihren Ärger geheim, und wenn Ballin vor diesen katzbuckelnden Herrschaften in Uniformen und mit Orden von Fürsten und Seelen von Lakaien vorüberging, konnte er sich für ihresgleichen, ja, für etwas Besseres als sie halten. Was redete man von Antisemitismus in Deutschland? Wo sollte es den geben? Hatte etwa Ballin ihn jemals gespürt? Wenn es wirklich Juden gab, die unter ihrem Judentum litten, so konnte es sicherlich nur durch ihre eigene Schuld sein. Sie bewahrten ohne Zweifel schlechte Manieren. Sie hatten sich wohl zu unvollkommen von → den Haltungen, dem Geruch, der Engherzigkeit des Ghettos befreit. Er, der züchtige Ballin, hatte sich eine vornehm deutsche Seele zu geben gewusst. Nichts an ihm erinnerte mehr widerwärtig an den Juden. War er es denn überhaupt noch?
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Er wusste es wahrscheinlich selbst nicht recht. Getauft war er nicht. Nein. Er war zu geistvoll, zu frei von allen Vorurteilen, um sich darum zu einer derartigen Heuchelei zu erniedrigen. Aber er hatte sich gründlichst allen jüdischen Angelegenheiten entfremdet, unterhielt keine Beziehungen irgendwelcher Art zum Judentum, wies jede Gemeinbürgerschaft mit seinen Stammesgenossen ab, hatte alle Bande mit der Gesamtheit zerrissen, welche die seiner Väter war. Er war überzeugt, dass er den Juden vollständig und endgültig abgestreift hatte. Er machte sich weis, dass er ein Germane, ein Über-Germane geworden war. Er hatte mit Leidenschaft und unvergleichlicher Wirksamkeit am Gedeihen, an der Größe des Vaterlandes gearbeitet und glaubte sich sicher, sein deutsches Verdienst allenthalben anerkannt zu sehen. Er war nicht mehr jung genug, um den Ehrgeiz nach den Achselstücken eines Reserveleutnants zu nähren; glücklicherweise, denn seine Zurückweisung hätte ihn aus seiner Selbsttäuschung gezogen. Er suchte nicht in die Hochschullaufbahn einzutreten. Die Unmöglichkeit, den Lehrstuhl eines ordentlichen Professors zu erlangen, hätte ihm über seine wirkliche Stellung die Augen geöffnet. Indem er vermied, Wege einzuschlagen, die ihn zur unerbittlichen Wahrheit geführt hätten, konnte er fortfahren, in seinem Traum zu leben. Er hatte seine jüdische Seele für trügerische Größe verkauft. Er heimste alle Erfolge ein – amtliche, berufliche, gesellschaftliche, und fühlte sich als einer der repräsentativsten Männer Deutschlands, als einer von jenen, auf die das deutsche Volk am meisten stolz war und sein musste. Die germanische Maske, die er vor sein natürliches Angesicht vorgenommen hatte, war mit seinem Antlitz verwachsen, war seine lebende Oberhaut geworden. Doch siehe da: In einem kritischen Augenblick, wo er geglaubt hatte, als Deutscher ohne Furcht und Tadel fühlen, denken, sprechen, handeln zu dürfen, hatte eine erbarmungslos grausame Hand, eine Kaiserhand, ihm roh diese künstliche Haut abgerissen, ihn geschunden, ihn entblößt und ihn mit seinem blutenden, entstellten Judengesicht gelassen, in das man ihm voll Verachtung die Worte schleuderte: „Jüdischer Händler! Auf Herrschaft erpicht!“ Wer weiß, ob man nicht hinzugefügt hatte: „Ausbeuter! → Wucherer!“ Da endlich begriff der Unglückselige. Die Fälligkeit des Pakts mit der Hölle war eingetreten. In seine Ohren gellte das → Schicksals-„Hepp! Hepp!“, das den Augenblick bezeichnete, wo er bezahlen musste. Und er machte seiner Unterschrift Ehre, als der Biedermann, der er war: Er beglich seine Schuld mit der Revolverkugel. Wohl würde ich den → Fanatikern der Assimilation zurufen: → „Et nunc erudimini!“, „Und nun lernt!“, wenn ich nicht wüsste, dass sie zu lernen unfähig sind. Aber wir, die laut und fest und stolz unser Judentum verkünden, wir, die jede nationale Verkleidung, jede falsche Nase, jeden Mummenschanz verachten, wir haben das Recht, bewegt, doch gestärkt und sittlich größer aus der Tragödie der Assimilation wegzugehen und mit tiefem Mitleid den blutigen Leichnam des unglücklichen Ballin zu betrachten, der zu so viel großen Eigenschaften nicht auch die Kraft be-
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saß, den Versuchungen des Bösen zu widerstehen, und seine Unterschrift unter den Pakt gesetzt hatte, der seine jüdische Seele der Hölle verschrieb. Quelle: Dr. Max Nordau, Die Tragödie der Assimilation. Mit einem Vorwort des Herausgebers → Davis Erdtracht. Verlag „Wiedergeburt“, Hochschule für Welthandel, Wien-Döbling 1920, S. 7–16.
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80 Vorbemerkung zur zweiten Auflage Die „Zionistischen Schriften“ Max Nordaus, deren erste Auflage bereits seit einer Reihe von Jahren vergriffen war, gelangen jetzt, → nach dem am 22. Januar erfolgten Ableben des großen Führers, neu zur Ausgabe. Die Neuausgabe ist um die wichtigsten seit dem Erscheinen der ersten Auflage gehaltenen Reden und erschienenen Aufsätze sowie um die Selbstbiographie vermehrt. Das dem Buche beigegebene Bild Nordaus ist nach einem Gemälde seiner Tochter → Maxa Nordau reproduziert. → Das Aktions-Komitee der Zionistischen Organisation hat der ersten Auflage folgende Widmung vorangestellt, deren Worte als Würdigung von berufenster Seite auch in der neuen Ausgabe ihren Platz finden mögen: „Dem machtvollen → Tribun, der, ein neuerstandener → Jeremias, mit herzerschütternder Kraft die Klagen unseres Volkes verkündete, dem sprachgewaltigen Anwalt unseres Rechts, dem → Herold unseres → Zionsideals, Max Nordau, zu Ehren seines sechzigsten Geburtstages, widmet in tiefempfundener Anerkennung seiner unvergänglichen Verdienste diese Ausgabe seiner zionistischen Reden, den Zeitgenossen ein vom Licht des → Genius umstrahlter Leuchtturm, der Nachwelt ein glorreiches Denkmal – das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation.“ Berlin, im Mai 1923. Der Verlag. Quelle: ZS2, unpaginiert.
Teil II: Kommentar
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1 Ein Tempelstreit Quelle: ZS1, S. 1–17, dort mit Verweis auf die Quelle: Die Welt, Nr. 2, 1897 (= Die Welt, 11.6.1897, H. 2, S. 1–4).
Tempelstreit: Tempel, Bez. für die Reformsynagogen im 19. Jh. Der Israelitische Tempel in Hamburg ist die Synagoge des 1817 gegründeten liberalen Neuen Israelitischen Tempel-Vereins, die Weihe des Tempels erfolgt am 18.10.1818. Auf das Ziel des Wiederaufbaus des namensgebenden, zerstörten Zweiten Tempels in Jerusalem wird zugunsten eines Tempels vor Ort verzichtet. Der erste Hamburger Tempelstreit entfacht sich 1819 an der Veröffentlichung eines neuen Gebetbuchs, das die Änderungen in Liturgie u. Ritus der Reformjuden festhält; diese werden vom orthodoxen Judentum abgelehnt. Dr. M. Güdemann: Moritz Güdemann (1835–1918), dt. Kunsthistoriker u. Rabbiner. Ab 1862 Tätigkeit als Rabbiner in Magdeburg, ab 1866 in Wien, ab 1896 dort in der Funktion des Oberrabbiners. Hauptanliegen G.s ist die Vermittlung einer Gotteserkenntnislehre, die für ihn die Basis des Judentums darstellt. In seinem Werk Nationaljudenthum (1897) spricht er sich gegen solche zionistischen Tendenzen aus, die im Judentum dem Religiösen weniger Aufmerksamkeit schenken als dem Nationalpolitischen. Werke u. a. Das jüdische Unterrichtswesen während der spanisch-arabischen Periode (1873), Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit (3 Bde., 1880–1888), Das Judenthum in seinen Grundzügen und nach seinen geschichtlichen Grundlagen dargestellt (1902) u. Jüdische Apologetik (1906). „Nationaljudentum“: Moritz Güdemann (1835–1918) veröffentlicht die antizionistische Schrift Nationaljudenthum (Leipzig/Wien) 1897. Da durch die Zerstörung des Zweiten Tempels das Judentum als Nation nicht mehr existiere, stehe der Zionismus im Widerspruch zum Judentum als Religion. Dem Judentum als dem Volk Gottes fällt G. zufolge als Weltreligion die Aufgabe zu, eine histor. Mission zu erfüllen: Die jüdische ‚Volksseele‘ stehe in unlösbarer Verbindung mit dem Gottesbegriff u. definiere so ihre Stellung zu den übrigen Völkern. Jerichorose: Auch Rose von Jericho o. Auferstehungspflanze. In der Kulturgeschichte zunächst als Wunder angesehen, zeichnet sich die J. durch ihre hygroskopisch basierte Formveränderung aus, nach der sich ihre Blätter bei Trockenheit ein- u. bei Feuchtigkeit wieder entrollen. Einfluss jäh schwankender entgegengesetzter Stimmungen: N. fingiert in einer rhetor. Frage mit polem. Tendenz bei Moritz Güdemann (1835–1918) eine Stimmungs- o. Affektlabilität, die sich negativ auf dessen Urteilsvermögen auswirken könnte.
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Nationalen: Die Begriffe ‚Nation‘ u. ‚Nationalstaat‘ stammen aus der Neuzeit. Seit dem ausgehenden 18. Jh. sind sie bedeutende Kategorien der europä. geprägten Politik. Am 4.7.1776 erfolgt mit der Declaration of Independence die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten v. Amerika v. Großbritannien. Mit der Frz. Revolution 1789 hebt Frankreich als Nation die ständische Ordnung u. die Monarchie auf. Im Zuge des Risorgimento wird am 6.10.1870 die Einigung Italiens vollzogen. Das Deutsche Reich wird am 18.1.1871 durch die Kaiserproklamation in Versailles gegründet. Thora: Im Judentum polysemantischer Begriff. Zunächst bez. er ein allgemeines, durch Priester o. Eltern angewiesenes Gesetz. Weiterhin umfasst der Begriff die T. als Schriftrolle, die sog. Sefer Thora. Die in ihr enthaltenen Fünf Bücher Mose werden in der Synagoge im Thoraschrein aufbewahrt. Damit verbunden ist die dritte Verwendung des Begriffs T. als die direkt v. Moses empfangene Offenbarung. Dabei unterscheidet das rabbinische Judentum zw. einer sog. Schriftl. Thora (Pentateuch) u. einer sog. Mündl. Thora, die in Mischna u. Talmud konserviert, aber gleichfalls durch jüdische Geistliche kolportiert wird. Die T. ist auch als allgemeines Weltgesetz o. Schöpfungsplan zu verstehen. Propheten: Das Judentum beruft sich auf mehrere Propheten, die den Gehorsam Israels gegenüber Gott predigen. Als deren Vorbilder werden Abraham u. Moses angesehen. Ein Grundpfeiler der jüdischen Prophetie ist die Herstellung sozialer Gerechtigkeit (Prophet Amos). Der Aufbau des Tanach lässt auf die prominente Stellung der Propheten im Judentum schließen; neben dem Gesetz (Thora) u. den Schriften (Ketuvim) ist ein Teil der jüdischen Bibel dem Wort u. den Lehren der Propheten (Nebiim) vorbehalten. Juden in Babylon: Der Aufenthalt der Juden in Babylon wird gemeinhin als „Babylonisches Exil“ bzw. als „Babylonische Gefangenschaft“ bezeichnet. Nachdem Juda u. Jerusalem unter den Königen Jojachin (597 v. Chr.) u. Zidkija (587/586 v. Chr.) v. Nebukadnezar II. (um 640–562 v. Chr.) erobert worden sind, werden Juden/Judäer n. Babylonien deportiert. Ab 520 v. Chr. kommt es zur Rückkehr, was zum Wiederaufbau u. der Neuweihe des Tempels in Jerusalem (515 v. Chr.) führt. Dennnoch bleibt auf babylon. Gebiet eine Gemeinschaft jüdischer Exilanten bestehen, die für die Genese des Judentums wichtige theolog. Ideen liefert. Diaspora: Griech. διασπορά, dt.: „Zerstreuung“. Hinsichtl. des Judentums bez. D. alle außerhalb Israels lebenden Juden. In amplifizierter Begriffsdefinition beschreibt D. eine konfessionelle, nationale o. religiöse verstreute Minderheit sowie das Gebiet, das diese Minderheit bewohnt. Kampf ums Dasein: Die Wendung geht auf den Titel der epochemachenden wissenschaftl. Abhandlung On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859) des brit. Evolutionsbiologen Charles Robert Darwin (1809–1882) zurück. Darin beschreibt D. die Evolution
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als langen Prozess der Anpassung an den Lebensraum durch Variation u. natürl. Auslese. Der Ausdruck struggle for life u. seine dt. Übersetzung avancieren Ende des 19. Jh.s zum Schlagwort u. werden u. a. in zeitgenöss. Rassentheorien instrumentalisiert. Ansiedlung im Lande ihrer Vorfahren: Mit dem Sieg über die Mameluken fällt 1516 Palästina an die Osmanen u. bleibt bis zum Ende des 1. Weltkriegs Teil des Osman. Reiches. Ab den 1880er Jahren wächst der jüdische Bevölkerungsanteil Palästinas im Zuge der Verbreitung zionistischer Ideen u. der Gründung jüdischer Siedlungen. Dr. Theodor Herzl: Ung. Herzl Tivadar, hebr. Vornamen Binyamin Ze'ev (1860– 1904), österr. Schriftsteller, Jurist u. Journalist. Ab 1878 Studium der Rechtswissenschaft in Wien, 1891–96 feuilletonist. Korrespondent für die Wiener Neue Freie Presse in Paris. Die sog. Dreyfus-Affäre in Frankreich um den jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) lässt in H. die Überzeugung v. der Notwendigkeit eines jüdischen Nationalstaates reifen. Diese formuliert er in seinem Werk Der Judenstaat (1896) u. fördert damit essenziell die Entstehung des polit. Zionismus. 1897 Publikation des Theaterstücks Das neue Ghetto. Mit N. zusammen organisiert H. im selben Jahr in Basel den ersten Zionistischen Weltkongress, dessen Vorsitz er übernimmt u. auf dem das Baseler Programm verabschiedet wird, das die Grundlage für Verhandlungen um eine gesicherte „Heimstätte des jüdischen Volkes“ bildet. Durch die Gründung des Jewish Colonial Trust (1899) u. (zus. mit Zalman David Levontin (1856–1940)) der Anglo Palestine Company wirbt H. um finanzielle Mittel, die zum Kauf v. Territorien in Palästina verwendet werden sollen. Zur Lebensgeschichte H.s siehe Nachwort. Dr. Bloch's „Oesterr. Wochenschrift“: Dr. Bloch's Oesterreichische Wochenschrift, v. dem Rabbiner, Publizisten u. Abgeordneten des österr. Parlaments Joseph Samuel Bloch (1850–1923) in Wien hrsg. Wochenschrift (1884–1920). Untertitel: Centralorgan für die gesammten Interessen des Judenthums. B. gilt als einer der bekanntesten Kämpfer gegen den wachsenden Antisemitismus in Österreich-Ungarn, der als Reichsratsabgeordneter gegen dessen Repräsentanten prozessiert. Aufgrund seiner publizist. Aktivitäten ist er in mehrere aufsehenerregende Beleidigungsprozesse verwickelt. Er befürwortet prinzipiell die zionistischen Kolonisationspläne in Palästina, übt allerdings häufig scharfe Kritik wg. fehlerhafter Umsetzung des zionistischen Programms. Die Oe. W. dient als Publikationsorgan, das sich v. a. gegen die das antisemitische Potential ausnutzende Christlichsoziale Partei des Wiener Bürgermeisters (ab 1897) Karl Lueger (1844–1910) wendet. Gleichzeitig zeichnet sich die Oe. W. durch ihre krit. Begleitung des aufkommenden polit. Zionismus aus. Anführungen aus den kanonischen und auslegenden Schriften: Kanonisch, v. griech. κανονικός, dt.: „nach der Regel gemacht“, „regelmäßig“, zu griech. κανών, dt.: „Richtschnur“, „Messstab“. Der Kanon heiliger Schriften der hebr. Bibel umfasst die drei Hauptelemente Thora (dt.: „Gesetz“), Propheten (hebr. Newiim) u. Schriften https://doi.org/10.1515/9783110564587-003
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(Hagiografen; hebr. Ketuvim) u. wird als Akronym nach den Anfangsbuchstaben TaNaKh (Tanach, auch: Tenach) genannt. Die auslegenden Schriften sind der Talmud (hebr., dt.: „Lernen“, „Lehre“, „Studium“) mit der Sammlung der Ausführungen, Diskussionen, Glossen u. Kommentare zu den kanon. Schriften. Zerstörung des zweiten Tempels: Im 10. Jh. v. Chr. wird der Erste Tempel in Jerusalem durch König Salomon errichtet. In ihm ist mit Bundeslade u. Cherubim das Allerheiligste lokalisiert. Der Erste Tempel wird 587/586 v. Chr. zerstört. Der Zweite Tempel entsteht zw. 520 u. 516 v. Chr. u. wird regelmäßig umgebaut, zuletzt unter der Regentschaft Herodes' um 20 v. Chr. Zerstörung 70 n. Chr. Die Relevanz des Tempels manifestiert sich am jüdischen Fast- u. Trauertag am neunten Tag des Monats Aw (Juli/August), an dem der Zerstörung des Tempels gedacht u. für seinen Wiederaufbau gebetet wird. Die noch heute in Jerusalem stehende Westmauer des T. konstituiert die sog. „Klagemauer“. Zion: Auch Sion, nach 2 Sam 5,6 ff. zunächst Begriff für die v. David eroberte Festung des vorisraelit. Jerusalems, dann in israelit. Zeit Bez. für den Tempelbezirk Jerusalems, ganz Jerusalem bzw. für das Volk Israel. In der Zeit nach der Zerstörung des Tempels wiederum Name des Südwestflügels Jerusalems als Stadt Davids. Die Zionspsalmen des Alten Testaments preisen Z. als Wohnsitz Gottes u. unterstreichen dessen Bedeutung als Mittler zw. Diesseits u. Jenseits. In Jes 1,27 wird Z. zum Motiv für die Heilshoffnung Israels u. der Welt. Zionismus: Hebr. Zion, Name des Tempelberges in Jerusalem. Z. bez. im Zuge des Aufkommens des nationalstaatl. Denkens im 19. Jh. die jüdische Nationalbewegung in Mittel- u. Osteuropa. Ihr Ziel ist durch polit. Organisation, kulturelle Wiederbelebung u. Einwanderung die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina als dem Land der Verheißung. Grund für die Entstehung ist neben dem Glauben an die messian. Erlösung, die mit der Rückkehr n. Jerusalem verbunden ist, der im 19. Jh. in Europa aufkommende rassische Antisemitismus, der bei vielen Juden Bestrebungen zur Assimilation irrelevant werden lässt. Man unterscheidet zwischen polit. Z., prakt. Z., Kulturz. u. synthet. Z., die jeweils unterschiedl. Herangehensweisen zur Realisierung einer jüdischen Staatsgründung verfolgen: Erlangung der polit. Voraussetzungen, darunter Regierungszustimmungen (polit. Z.), Förderung der konkreten Besiedelung Palästinas (prakt. Z.), kulturelle Erneuerung des Judentums (Kulturz.), Synthese von polit. u. prakt. Z. (synth. Z.). Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre veröffentlicht Theodor Herzl (1860–1904) 1896 seine Schrift Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, die zum Gründungsdokument des polit. Zionismus wird. Der Begriff Z. wird durch den österr. Schriftsteller Nathan Birnbaum (1864–1937) geprägt, der ihn als Chefredakteur erstmalig am 16.5.1890 in der Zeitschrift Selbst-Emancipation. Organ der Jüdisch-Nationalen verwendet. Mischna: (hebr., dt.: „Lernen“, „Weiterbilden“), Sammlung von Lehrsätzen der mündl. Thora. Die vorausgehende Formalisierung der Glaubensinhalte beginnt im
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2. Jh. u. findet um das Jahr 220 ihr Ende. In der Folgezeit gewinnt die M. auch religionsgesetzl. Relevanz u. bildet schließl. die Grundlage für den Talmud. Strukturell ist die M. in sog. Sedarim (dt.: „Ordnungen“) unterteilt, die themenspezif. Massekhtot (dt.: „Traktate“) enthalten. Diese sind wiederum in Peraqim (dt.: „Kapitel“) u. Mischnajot (dt.: „Lehrsätze“) gegliedert. Diese lauten: 1. Scarim (dt.: „Saaten“): tägl. Gebete, landwirtschaftl. Vorschriften; 2. Moed (dt.: „Festzeiten“); 3. Naschim (dt.: „Frauen“): Eherecht, Gelübde; 4. Nesikin (dt.: „Schädigungen“): Abgrenzung vom Götzendienst, Zivil- u. Strafrecht, Rechtswesen; 5. Kodashim (dt.: „Heiliges“): Kultvorschriften, Opfergesetze, profane Schlachtung (dt.: „Schächtung“); 6. Toharot (dt.: „Reinheiten“): Vorschrift zur Praxis der rituellen Reinheit. dynamogene Emotion: Dynamogen, v. griech. δύναμις, dt.: „Kraft“, „Macht“, „Fähigkeit“, u. griech. Suffix -γενής, dt.: „stammend v.“, „hervorbringend“, „verursachend“. Emotion, v. lat. emoveo, dt.: „wegschaffen“, „emporwühlen“, „erschüttern“. D. beschreibt hier adjektivisch das in der Physiologie auftretende Phänomen, dessen Symptom ein Anwachsen der Funktion eines Organs unter dem Einfluss v. Aufregung ist. D. ist damit die Art u. Weise der Entstehung v. phys. Energie u. Kraft. Bibel: N. bezieht sich an dieser Stelle auf die Hebräische Bibel, den Tanach. Talmud: Hebr., dt.: „Lernen“, „Lehre“, „Studium“. Zeitl. nach der Bibel entstandenes Hauptwerk des Judentums, dessen mündl. u. schriftl. Überlieferung nach mehreren Jh.en um das 7. Jh. abgeschlossen wird. Strukturell besteht der T. aus zwei Teilen: 1. der Mischna (einer hebr. Rechtssammlung) u. 2. der Gemara (Kommentierung u. Diskussion der Mischna auf Aramäisch). Allgemein werden nach unterschiedl. geograf. Ursprüngen zwei Fassungen differenziert: 1. „Der Talmud des Landes Israel“ (auch „Jerusalemer Talmud“ bzw. „Palästinischer Talmud“, Abschluss im 5. Jh.) u. 2. der „Babylonische Talmud“ (um das Dreifache umfangreicher u. rechtl. autoritativ, Abschluss um das Jahr 600). Stilistisch sind Kürze u. Prägnanz sowie Dialektik hervorzuheben, inhaltl. werden gesetzl. (Halacha) u. nicht-gesetzl. (Aggada) Schrifttum unterschieden. Bedeutend für die Wirkungsgeschichte ist v. a. der „Babylonische Talmud“. Antisemitismus: A. umfasst alle Formen der Judenfeindlichkeit u. -feindschaft. Urspr. religiös, ab dem Mittelalter vor allem sozial konnotiert u. mit Ghettoisierung verbunden. Begriffl. Prägung erfährt der A. durch den Journalisten Wilhelm Marr (1819–1904), der nach der rechtl. Gleichstellung der Juden im Deutschen Kaiserreich bestrebt ist, der zeitgenöss. Judenfeindschaft eine ideolog.-programmat. Bez. zu geben. Durch die gesellschaftl. Gleichstellung der Juden fühlen sich konservative Kreise aus Adel u. Bürgertum, die protestant. u. kathol. Geistlichkeit sowie v. der aufkommenden Industriegesellschaft enttäuschte Intellektuelle v. der mit dem Kapitalismus assoziierten jüdischen Konkurrenz bedroht. Die antisemitischen Stereotypen bleiben über Jh.e bestehen.
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Gründung eines Judenstaates: Die beiden Schriften Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätsfrage (1862) v. Moses Hess (1812–1875) u. Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage (1896) v. Theodor Herzl (1860–1904) inspirieren Teile der jüdischen Bevölkerung Europas, die jahrtausendealte messian. Verheißung der Erlösung verbunden mit der Rückkehr n. Zion konkret in einem jüdischen Staat realisieren zu wollen. Verstärkenden Einfluss hat der im 19. Jh. grassierende Antisemitismus, der bei vielen Juden emanzipator. Fortschritte u. Bestrebungen der Assimilation als Illusion erscheinen lässt u. so katalysator. auf die Aspiration auf einen eigenen jüdischen Staat in Palästina wirkt. Palästina: Griech. Παλαιστίνη, dt.: „Philisterland“, hebr.: „Erez Israel“, als Landesbez. erstmals erwähnt in der Septuaginta. Umfasst nach bibl. Überlieferung das „Heilige/Gelobte Land“, auch: Kanaan. Es erstreckt sich in nord-südl. Ausrichtung vom Libanon zum Golf v. Elat u. in west-östl. Ausrichtung v. der Mittelmeerküste bis zu den Berggebieten im Osten des Jordangrabens. Urspr. aus dem 2. Jh. n. Chr. stammend, ist die Bez. P. v. a. in christl. Literatur manifest. Ab dem dritten Jahrtausend v. Chr. ist Stadtstaatenbildung überliefert. Nachdem sich Hethiter u. Ägypter auf dem Gebiet P.s angesiedelt haben (2. Jahrtausend v. Chr.), migrieren Israeliten u. Philister dorthin. Ab dem 10. Jh. v. Chr. ist das israelit. Königtum präsent, das sich um 930–926 v. Chr. in die Einzelstaaten Juda u. Israel aufspaltet. In den folgenden Jh.en wechselt die Herrschaft: Assyrer u. Babylonier erobern P., bevor es zunächst zum pers., dann zum Röm. Reich gehört. Nach der Unterdrückung des letzten jüdischen Aufstandes Bar Kochba (135 n. Chr.) benennen die Römer die Provinz Judäa in P. um, um dem Jüdischen nominell eine Absage zu erteilen. Nach dem Zerfall des Röm. Reiches wird P. Teil des Byzantin. Reiches. 636 unterwerfen islam. Araber das Land, bevor 1099 das Königreich Jerusalem durch die Kreuzfahrer gegründet wird. 1187 zerschlägt Saladin (1138–1193) dieses Königreich. Ab 1291 ist P. Teil Ägyptens, ab 1517 des Osman. Reiches. Die Bevölkerung besteht in dieser Zeit, wenn auch anteilig verschieden, sowohl aus Moslems als auch aus Juden. Ab ca. 1875 erfolgt mit dem entstehenden Zionismus eine organisierte jüdische Einwanderung n. P. Postulat: V. lat. postulatum, dt.: „Forderung“, „Verlangen“, „Klagegesuch“. Allgemein drückt das P. eine unbedingte Forderung aus. Argentinien: Seit der argentin. Unabhängigkeit 1810 entstehen durch überwiegend illegale Einwanderung jüdische Gemeinden. Ab 1853 ist rechtl. die Religionsfreiheit gewährleistet, 1868 wird schließl. die erste jüdische Gemeinde, die Congregación Israelita de la República Argentina (CIRA), gegründet. Nach den Pogromen (russ. pogrom, dt.: „Verwüstung“, „Unwetter“, Ausschreitung gegen nationale o. religiöse Minderheiten, besonders gegen Juden) im letzten Viertel des 19. Jh.s verstärkte Zuwanderung v. Juden aus Osteuropa u. beginnende polit. Aktivität zionistischer Gruppen.
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Midrasch: Hebr., dt.: „Untersuchung“, „Auslegung“. M. bez. eine Art der jüdischrabbin. Bibelauslegung, die sich oft durch Bildhaftigkeit auszeichnet. Inhaltl. lassen sich bei den Midraschim folgende Grundtypen unterscheiden: halachisch (gesetzl.) u. aggadisch (nicht-gesetzl.; hebr. Haggada, dt.: „Erzählung“). Histor. erfolgt eine Differenzierung in tannaitische (1.–3. Jh.; aram. tanna, dt.: „Lehrer“, u. hebr. schana, dt.: „wiederholen“, „lehren“, „lernen“) u. amoräische (3.–5. Jh.; aram. amora, dt.: „der Sprechende“, „der über etwas Berichtende“). In der Praxis stellen sich M. entweder durch eine annotierte Kommentierung der Bibel Vers für Vers o. durch eine thematisch geordnete deskriptiv-analyt. Einordnung größerer Bibelabschnitte (homiletische M.) dar. vis a tergo: Lat., dt.: „v. hinten wirksame Kraft“. Medizinischer Fachterminus, z. B. für die Systole des Herzens, die durch kinet. Energie das Blut durch das Gefäßsystem führt. Ideals: Griech. ἰδέα, dt.: „Gestalt“, „Wesen“, lat. idea, dt.: „Urbild“, „Idee“, u. lat. idealis, dt.: „dem Urbild entsprechend“, „ideal“. Bez. für „Sinnbild der Vollkommenheit“, „Wunschbild“, „Leitbild“. politisch-ethnografischen Experimente: Ethnografisch, griech. ἔθνος, dt.: „Volk“, u. griech. γραφικός, dt.: „das Schreiben betreffend“. Als Teil der Anthropologie beschreibt die Ethnografie das Zusammenleben menschl. Gemeinschaften u. sucht nach allgemeinen menschl. Manifestationen im sozialen Miteinander. Pilpul: Hebr. pilpul, dt.: „Untersuchung“, abgeleitet v. hebr. pilpel, dt: „Pfeffer“. Allgemein bez. P. eine dialekt. Methodik, mit deren Hilfe Widersprüchlichkeiten in halach. (d. h. religiöse Gesetze betreffenden) Fragen geklärt werden. Grundlegend sind dabei nicht nur Quellenkenntnis u. Lehre, sondern auch das intuitive Verständnis. Dieses wird z. T. als göttl. Eingebung verstanden. Verbreitung findet das P. ab dem 13./14. Jh. v. a. in den Schulen Frankreichs u. Deutschlands. Weiterhin dient der P. als Methode der Didaktik zur Verstandesschärfung, was ihm bereits ab dem 13. Jh. den Vorwurf der Selbstzweckhaftigkeit einbringt. Anthropologie: V. griech. ἄνϑρωπος, dt.: „Mensch“, u. griech. λόγος, dt.: „Lehre“, Wissenschaft v. Menschen in theolog., geisteswissenschaftl. u. biolog. Dimension. Der dt. Naturforscher u. Mediziner Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) gilt durch sein Werk De generis humani varietate nativa (1775) als einer der Begründer der modernen A. Philosophie der Geschichte: Auch Geschichtsphilosophie. V. dem frz. Philosophen u. Schriftsteller Voltaire (eigentl. François Marie Arouet, 1694–1778) geprägter Begriff, der den Sinn der Geschichte u. die log. Eigenarten des geschichtswissenschaftl. Denkens thematisiert. Der Begriff wird mehrfach diskutiert, so in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) des Schriftstellers u. Philosophen Johann Gottfried Herder (1744–1803), in Philosophie der Geschichte (1828) des
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Schriftstellers u. Philologen Karl Wilhelm Friedrich v. Schlegel (1772–1829) o. in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) des dt. Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Berliner Antisemitenversammlung: In den Jahren n. d. Gründung des Deutschen Reiches 1871 deutl. Zunahme der antisemitischen Agitation. Besonders der protestant. Hofrat Adolf Stoecker (1835–1909) vertritt in zahlreichen Reden u. Pamphleten einen scharfen, antiliberal u. antisozialist. geprägten Antisemitismus. Höhepunkt dieser Propaganda ist die sog. Antisemitenpetition (1880/81) an den preuß. Ministerpräsidenten u. Reichskanzler Otto v. Bismarck (1815–1898), in welcher die Aufhebung bedeutender Gleichstellungsgesetze für Juden gefordert wird. Führende liberale Intellektuelle wie der Altertumswissenschaftler u. Historiker Christian Matthias Theodor Mommsen (1817–1903), der Historiker Johann Gustav Bernhard Droysen (1808–1884) o. der Mediziner Rudolf Ludwig Karl Virchow (1821–1902) reagieren in einer Notabeln-Erklärung dieser Petition gegenüber stark ablehnend. weißen Nelken: Das Tragen einer weißen Nelke am Revers ist neben dem Kruckenkreuz (auch: Krückenkreuz o. Hammerkreuz) gegen Ende des 19. Jh.s ein Symbol der Christlichsozialen Partei Österreichs (CS o. CP), die v. 1891 bis 1934 besteht. Unter der Führung des späteren Wiener Bürgermeisters Karl Lueger (1844–1910) werden verschiedene christl.-soziale Gruppierungen in der CP vereint, die gestützt auf die ausgeprägten antisemitischen Strömungen der Gesellschaft die Vorstellung des Kleinbürgertums bedient, dessen soziale Lage könne durch eine Lösung der „Judenfrage“ verbessert werden. „Pilgerväter“ […], die auf der „Mayflower“: M., Name des Dreimasters, mit dem die engl. sog. Pilgrim Fathers 1620 ihre Atlantiküberfahrt v. Plymouth in England n. Neuengland in Nordamerika unternehmen. Vor der Ankunft in Cape Cod (Massachusetts) am 21.11.1620 konstituieren 41 Männer den sog. Mayflower Compact mit der Verpflichtung, eine gesetzl. Ordnung in der auf dem amerik. Kontinent neugegründeten Siedlung Plymouth zu etablieren. spanierfeindlichem Volksbewusstsein: Nach der Besetzung Spaniens durch Napoleon Bonaparte (1769–1821) wird am 25.5.1810 in Buenos Aires v. einer Junta die Unabhängigkeit v. span. Mutterland erklärt. Unter General Manuel Belgrano (1770–1820) werden die Spanier in mehreren Schlachten 1812–13 aus dem Nordwesten Argentiniens vertrieben. General José de San Martín (1778–1850) sichert durch die Befreiung Chiles in den Schlachten v. Chacabuco am 12.–14.2.1817 u. Maipó am 5.4.1818 u. die Befreiung Perus am 28.7.1821 die Unabhängigkeit Argentiniens, die am 9.7.1816 auf einem Kongress in San Miguel de Tucumán bestätigt wird. Die endgültige Trennung Chiles v. Spanien wird mit der Unabhängigkeitserklärung am 12.2.1818 vollzogen. In Mexiko entstehen während der Napoleon. Kriege auf der Iber. Halbinsel zunehmend Autonomiebestrebungen. Der Freiheitskämpfer Miguel Hidalgo y Costilla (1753–1811) ruft am 16.9.1810 zum bewaffneten Kampf gegen Spanien auf, der nie-
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dergeschlagen wird. Am 6.11.1813 erklärt der Priester José María Morelos y Pavón (1765–1815) auf dem Kongress v. Chilpancingo die Unabhängigkeit v. Spanien. Portugiesen: 1807 wird der portug. Hof gezwungen, vor den Truppen Napoleon Bonapartes (1769–1821) n. Brasilien zu flüchten. Der portug. König Johann VI. (portug. João VI., 1769–1826) verlegt die Hauptstadt n. Rio de Janeiro. Auf dem Wiener Kongress 1815 wird Brasilien mit Portugal gleichgestellt. Um seinen Thronanspruch zu sichern, kehrt Johann VI. zurück n. Lissabon u. überlässt seinem Sohn Peter I. (portug. Pedro I., 1798–1834) die Herrschaft in Brasilien. Wg. des portug. Versuchs, Brasilien in eine Kolonie zurückzuverwandeln, erklärt Pedro I. am 7.9.1822 in São Paulo die Unabhängigkeit u. wird am 1.12.1822 zum ersten brasilian. Kaiser gekrönt. biologischen: Biologie, griech. βίος, dt.: „Leben“, u. griech. λόγος, dt.: „Lehre“, Wissenschaft vom Leben u. den Lebewesen. Quacksalberei: Quacksalber, nndl. kwakzalver, dt.: „prahlerischer Salbenverkäufer“, zu ndl. kwacken, dt.: „schwatzen“, „prahlen“, u. ndl. zalven, dt.: „salben“. Eigentl. eine Art Marktschreier o. Kurpfuscher, pejorativ für Arzt o. Medizinmann, der mit undurchsichtigen Methoden u. Mitteln versucht, Krankheiten zu heilen. Q. bez. die Krankheitsbehandlung nach der Art eines Quacksalbers. Assimilation: Lat. assimilatio, dt.: „Ähnlichmachung“, „Invergleichbringen“. Verwendung des Begriffs u. a. in Biologie, Psychologie, Soziologie u. Linguistik. Hier in Bezug auf die soziale Dimension: Im gesellschaftl. Leben wird mit A. jedwede Form v. Angleichung i. S. v. Durchdringung u. Verschmelzung verstanden. Das Individuum gleicht sich in Traditionen, Habitus u. Wertvorstellungen an u. geht sukzessive in ihnen auf. Der Angleichungsprozess kann sich z. B. in den gesellschaftl. Gruppen Familie, Nachbarschaft, Berufsverband, aber gleichermaßen zw. verschiedenen Gesellschaftsschichten vollziehen. Philo: Philo Judaeus, auch: Philon v. Alexandria (um 20 v. Chr.–um 50 n. Chr.), jüdisch-hellenistischer Philosoph u. Theologe. Darum bemüht, antike griech. Philosophie, u. a. Pythagoras (570–um 500 v. Chr.), Platon (428/427–348/347 v. Chr.) u. die Schule der Stoa, mit dem Judentum zu verbinden u. die Praktizierung des jüdischen Glaubens bei gleichzeitiger Verbundenheit u. Treue zu Rom herauszustellen. Der Eklektizismus seiner religionsphilosoph. Lehre unterstellt, dass mittels der Allegorese die Anlage antiker Philosophie bereits im Alten Testament zu verifizieren sei. Maimonides: Moses Maimonides (eigentl. Mosche ben Maimon, 1135–1204), Mediziner, Gelehrter u. Philosoph jüdischen Glaubens. Nach der Flucht seiner Familie v. Spanien über Palästina n. Ägypten betätigt sich M. sowohl als Arzt am Hof des Sultans Saladin (1138–1193) als auch als Nagid (dt.: „Vorsteher“) der dort ansässigen jüdischen Gemeinschaft. Seine Geltung als bedeutender Religionsphilosoph des Mittelalters liegt in seinen Arbeiten zur Halacha, dem jüdischen Gesetz, begründet. Als ein Hauptwerk gilt der Mischna-Kommentar, in dem er einleitend die Lehre des Ju-
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dentums in 13 Glaubensartikeln konzentriert, weiterhin Mischne Thora (dt.: „Wiederholung des Gesetzes“, Entstehung 1170–1180), die Systematisierung des jüdischen Traditions- u. Gesetzesguts u. Adaption dieser mit dem Wissensstand der Gegenwart. Über sein religionsphilosophisches Werk Führer der Unschlüssigen (1176– 1191, hebr.: More Newuchim), in dem M. eine Balance zw. jüdischen Glaubenslehren u. dem Aristotelismus anstrebt u. eine Kongruenz v. Glauben u. Vernunft konturiert, entbrennt nach seinem Tod ein heftiger Streit. Mendelssohn: Moses Mendelssohn (1729–1786), dt. Philosoph der Aufklärung, Vorkämpfer für polit. u. soziale Gleichstellung v. Juden u. Christen. Ausbildung zum Rabbiner u. autodidakt. Sprachen- u. Philosophiestudium. M. ist ein bedeutender Vertreter der popularphilosoph. Schule des dt. Universalgelehrten, Mathematikers u. Philosophen der Aufklärung Christian Wolff (1679–1754), der versucht, philosoph. Lehren v. prakt. Relevanz einem breiteren Publikum außerhalb akadem. Schulzusammenhänge darzustellen. Schriften zur Verbreitung der Toleranzforderung u. zu Fragen der Ästhetik, der Metaphysik, der Unsterblichkeit u. der Existenz Gottes im Anschluss an Gedanken der Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Anthony Ashley-Cooper Shaftesbury (1671– 1713) u. Immanuel Kant (1724–1804). Werke u. a. Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften (1764), Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767) u. Morgenstunden, oder Vorlesungen über das Dasein Gottes (1785). In der Schrift Jerusalem, oder über religiöse Macht und Judenthum (1783) versucht M., die Übereinstimmung v. Glauben u. Vernunfterkenntnis zu beweisen, u. propagiert eine Trennung v. Staat u. Religion. Er interpretiert dabei die jüdische Religion nicht allein anhand v. theolog. Kategorien, sondern konfrontiert sie auch mit Kriterien u. Begrifflichkeiten der Aufklärung. Stützen der evangelischen Landeskirche in Preußen: Aus der Ehe v. Moses Mendelssohn (1729–1786) u. seiner Frau Fromet Guggenheim (1737–1812) gehen zehn Kinder hervor, v. denen sechs das Erwachsenenalter erreichen: die Schriftstellerin Dorothea Friederike Schlegel, geb. Brendel Mendelssohn (1764–1839), Recha Mendelssohn (1767–1831), der Bankier Joseph Mendelssohn (1770–1848), Henriette (Maria) Mendelssohn (1775–1831), der Bankier Abraham Mendelssohn Bartholdy (1776– 1835, Vater v. Fanny Hensel (1805–1847) u. Felix Mendelssohn Bartholdy (1809– 1847)) u. der Mechaniker Nathan Mendelssohn (1781–1852). Die Familienmitglieder lassen sich protestant. taufen. Assimilierung: Begriffsverwendung annähernd synonym zu Assimilation → 431. Frank: Jakub Leijbowicz Frank (1726–1791), poln. Begründer einer myst.-religiösen Bewegung, deren Anhänger als Frankisten bez. werden. Durch frühe Reisen n. Rumänien u. Griechenland kommt F. mit der Kabbala u. dem türk. Sabbatianismus in Kontakt. Nach seiner Rückkehr n. Polen ernennt er sich eigenständig zum Messias. Er konzentriert sich v. a. auf kabbalistische Gedanken u. das Ideenkonzept der See-
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lenwanderung. Lebensfreude u. ekstatische Verbindung mit Gott bilden seine religiösen Motive. 1756 wird F. der Häresie angeklagt, geht aus dem Prozess schadlos hervor u. erhält einen königl. Schutzbrief, der ihm die weitere Ausführung seiner Tätigkeit gestattet. Nach einem Disput mit den sog. Talmudisten treten F. u. seine Mitstreiter mehrheitl. zum Christentum über; F.s Taufpate ist der poln. König. Sein extravagantes, v. a. sexuell freizügiges Leben erfährt die Missbilligung der Kirche, seine Verhaftung u. Internierung erfolgt im Jahr 1760. Nach der Teilung Polens 1772 Auswanderung n. Mähren u. Hessen. Frankisten: Regionale Wirkung entfaltet die v. Jakub Leijbowicz Frank (1726–1791) begründete religiös-myst. Sekte in Podolien. 1756 wird der Bann des rabbin. Rates der Vierländersynode über alle Anhänger Franks verhängt. Trotz des Übertritts v. 7.000 Frankisten zum Katholizismus 1759 wird der Begründer ihrer Bewegung weiterhin messian. verehrt. Franks Tochter Eva (1754–1816) lässt sich nach dessen Tod als „heilige Jungfrau“ verklären u. übernimmt den Vorsitz der Sekte. Bedeutung u. Einfluss der F. nehmen in der Folgezeit stetig ab. katholische Nationalpolen: Otto v. Bismarck (1815–1898) verfolgt in den Jahren vor der Gründung des Deutschen Reiches 1871 eine konsequente „Germanisierungs“-Politik gegenüber den poln., kathol. geprägten Gebieten; Preußen ist vor der geplanten Bildung des Norddeutschen Bundes nicht zum Verzicht auf Posen o. preuß.-poln. Teilgebiete bereit u. trägt dadurch zum Erstarken des poln. Nationalgefühls bei. Durch antipoln. Sprach- u. Kulturpolitik wird zusätzlich die Identifikation vieler nationalpoln. Kräfte mit dem kathol. Klerus verstärkt. verräterisch gebogener Nase: N. bedient sich hier des alten Stereotyps der Judennase, eines als abstoßend empfundenen Merkmals, das Juden vermeintlich als Rasse identifizierbar macht. Neben der angebl. typisch jüdischen großen, krummen Nase sind es kurze, schwarze Locken, wulstige Lippen, strähnige Bärte u. eine verkrümmte Körperhaltung, die als festes Zeichenrepertoire antisemitischer Darstellungen das Bild des Juden seit dem Mittelalter in Karikaturen klischeehaft prägen. Sie sollen die Juden durch ästhet. Herabwürdigung auch als charakterl. fragwürdige Menschen diffamieren. Selbst Meyers Großes Konversations-Lexikon übernimmt in der 6. Auflage (1905–1909) diese Stereotypen. Großrabbiner: Auch: Oberrabbiner. Seit dem 19. Jh. werden hierarch. Titel wie Landesrabbiner verwendet, in großen Gemeinden kommt es zu Titel- u. Funktionsdifferenzierungen wie Oberrabbiner. N. bezieht sich auf den Autor der v. ihm hier kritisch hinterfragten Schrift Nationaljudenthum, den langjährigen Wiener Rabbiner u. Kulturhistoriker Moritz Güdemann (1835–1918), der 1894 mit dem Titel Oberrabbiner ausgez. wird. Mission des jüdischen Volkes: Moritz Güdemann (1835–1918) schreibt in der v. N. inkriminierten Schrift Nationaljudenthum (Leipzig/Wien 1897), S. 31–32: „So wurden
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die Juden der Diaspora, indem sie das Bollwerk der Nationalität, hinter welchem die Völker sich gegeneinander verschanzen, untergruben, und die Zukunftsgedanken der einstigen Vereinigung aller Menschen um den Einen unsichtbaren Gott in die Massen warfen, zu Vollstreckern der Mission Israels und der prophetischen Verheissungen.“ „Que messieurs les antisémites commencent!“: Frz., dt.: „Mögen die Herren Antisemiten beginnen!“ „Seien wir Freunde, Cinna!“: Der röm. Philosoph Lucius Annaeus Seneca (um 4 v. Chr.–65 n. Chr.) berichtet in der Schrift De clementia I, 9, 11 über Kaiser Augustus (geb. als Gaius Octavius, 63 v. Chr.–14 n. Chr.), der auf Rat seiner Ehefrau Livia Drusilla (58 v. Chr.–29 n. Chr.) dem Verschwörer Gnaeus Cornelius Cinna Magnus (Lebensdaten unbek.) mit den Worten „Cinna, […] ex hodierno die inter nos amicitia incipiatur“ (dt.: „Cinna, […] vom heutigen Tag an möge zwischen uns eine Freundschaft beginnen“) das Leben schenkt. N. zitiert mit „Seien wir Freunde, Cinna!“ auf Deutsch die Bearbeitung durch den frz. Dramatiker Pierre Corneille (1606–1684), bei dem es in der Tragödie Cinna ou la clémence d'Auguste (1641) heißt: „Soyons amis, Cinna!“ (V,3). mystische: Mystisch, griech. μυστικός, dt.: „geheimnisvoll“, u. -ισμός, Suff. zur Bez. einer Tätigkeit o. deren Ergebnis. Mystik, Bez. für eine metaphys. u. transzendentale Erfahrung einer übernatürl. Realität, die jenseits verstandesmäßiger Erkenntnismöglichkeiten liegt. Soziokulturell ist die M. eingebettet in religiöse Konventionen u. Riten. Kausalität und Finalität: Lat. causalis, dt.: „zur Ursache gehörig“, Zusammenhang v. Ursache u. Wirkung. / Lat. finalitas, dt.: „das Am-Ende-Sein“, Bestimmung eines Geschehens o. einer Handlung durch Zwecke. schwachmütige: Adj. zu Schwachmut, v. N. i. S. v. lat. debilitas, dt.: „Geschwächtheit“, „Nervenschwäche“, „Nervenlähmung“ verwendet. der Vaterlandslosigkeit zu beschuldigen: Vaterlandslosigkeit, Antonym zu Patriotismus. N. äußert sich besonders verbittert über den Vorwurf der V., da genau die antisemitischen Kräfte des Deutschen Kaiserreichs, die die dauerhafte völlige Gleichstellung der Juden u. die Assimilationsbemühungen eines großen Teils der jüdischen Bevölkerung in Frage stellen, gleichzeitig migrationswilligen Zionisten einen ‚Verrat am Vaterland‘ vorwerfen. Vgl. auch → 501. Vertreibung durch Philipp den Schönen: Philipp IV., gen. der Schöne (frz. Philippe IV le Bel, 1268–1314), 1285–1314 König v. Frankreich. P. etabliert Frankreich durch großes außenpolit. Engagement, das durch eine rücksichtslose Fiskalpolitik finanziert wird, als europä. Großmacht. Zu der Besteuerung des Klerus kommt 1307 die Verhaftung der Mitglieder des Templerordens, um neue Finanzmittel zu sichern. Bereits
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1306 werden Schätzungen zufolge bis zu 100.000 Juden nach Enteignung ihres Vermögens aus Frankreich ausgewiesen. Richard Löwenherz: Unter Richard I., gen. Richard Löwenherz (frz. Richard Ier Cœur de Lion, engl. Richard I the Lionheart, eigentl. Richard Plantagenêt, 1157–1199), kommt es in vielen Städten Großbritanniens erstmals in größerem Umfang zu Massakern an der jüdischen Bevölkerung. 1189 werden während der Krönung R. L.' als „Hochzeitsgabe“ tausende Juden ermordet u. die meisten jüdischen Häuser in London zerstört. Besonders während des Dritten Kreuzzugs (1189–1192) unter der Führung des Kaisers des Heiligen Röm. Reiches Friedrich I., gen. Barbarossa (um 1122– 1190), des Königs v. Frankreich Philipp II. August (1165–1223) u. R. L.' v. England vermehren sich die Angriffe auf Juden. ostelbischen Feudalen: Junker, mhd. juncherre, dt.: „junger Herr“. O. J. werden meist adlige Rittergutsbesitzer in den ländlich geprägten Gebieten östl. der Elbe genannt. Im 19. Jh. entwickelt sich der Ausdruck J. zu einem Kampfbegriff der Liberalen u. Sozialisten, der die antiliberale, strikt konservative u. militarist. Grundhaltung des Landadels kennzeichnet u. ihn als wichtige Stütze der preuß. Monarchie markiert. Die 1876 gegründete Deutschkonservative Partei verhindert eine Reform des Dreiklassenwahlrechts in Preußen u. sichert sich Einfluss auf Beamtenschaft u. Offizierskorps. Sozialisten oder Freihändler: N. sieht als Antitypus zum ostelb. Feudalen die Anhänger der Ideen des frühen Sozialismus bzw. der Freihandelsbewegung u. des klass. Wirtschaftsliberalismus an. rechtlosen Heloten: Heloten, griech. Εἵλωτες, im spartanischen Gemeinwesen unfreie Bevölkerungsgruppe in Messenien u. Lakonien als Nachkommen der nach der dor. Wanderung unterworfenen frühgriech. Bevölkerung. Bez. N.s daher pleonastisch. Hugenotten: Frz. huguenots, Protestanten im vorrevolutionären Frankreich. Im Jahre 1559 konstituieren sich die H. auf der ersten Pariser Nationalsynode, bereits seit 1552 wird H. synonym zu Protestant im frz. Sprachgebrauch verwendet. Innerhalb des noch nicht säkularisierten frz. kathol. Christentums des 16. Jh.s bildet die Betonung religiöser Eigenständigkeit kontinuierliches Konfliktpotential zw. der auf nationale Einheit bedachten Monarchie u. den H. Dies mündet in die sog. Hugenottenkriege (acht Kriege im Zeitraum 1562–1598). Das Edikt v. Fontainebleau (1685) zwingt alle nicht zum Katholizismus konvertierten H. zur Ausreise. Es folgt eine Auswanderungswelle auch in deutschsprachige Territorien. Seit dem Edikt v. Potsdam (1685) stehen den H. in Deutschland hohe Posten in Wissenschaft, Kunst u. Wirtschaft offen. Dragonaden: Bez. für das Vorgehen des frz. Königs Ludwig XIV. gegen die Protestanten Südfrankreichs, die durch Zwangsmaßnahmen zum Katholizismus bekehrt
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werden sollen. Die ersten D. erfolgen im Jahre 1681 in Poitou. 1685 werden sie auch auf nordfrz. Gebiet ausgedehnt. Ritter Toggenburg: Ritter Toggenburg ist eine im Balladenjahr 1797 entstandene Ballade des dt. Dichters Johann Christoph Friedrich Schiller (1759–1805), im 19. Jh. eine der populärsten Balladen Sch.s. Er thematisiert in dem Gedicht die unerfüllbare Liebe des Ritters Toggenburg, der nach seiner Heimkehr v. einem Kreuzzug erfährt, dass die angebetete Frau in ein Kloster eingetreten ist. In Sichtweite des Klosters baut er sich eine Hütte, begnügt sich damit, ihre Gestalt v. Zeit zu Zeit zu sehen, u. stirbt über dieser sehnsüchtigen Liebe. Patriotismus: Patriotismus, griech. πατριώτης, dt.: „aus demselben Land stammend“, „Landsmann“, zu griech. πάτριος, dt.: „ererbt“, „angestammt“, „vaterländisch“, „heimisch“. P. bez. eine vaterländ. Gesinnung. N. bez. mit P.-P. eine besonders ostentativ zur Schau gestellte Vaterlandsliebe. Kosmopolitismus: Griech. κόσμος, dt.: „Ordnung“, „Welt“, u. griech. πολίτης, dt.: „Bürger“. Ein Anhänger des K. ist ein Anhänger des Weltbürgertums. Häufig antonyme Verwendung des Begriffs zu Patriotismus u. Nationalismus. Hausierer: Hausieren, Hybridbildung, zunächst in verschiedenen Bedeutungen: „haushalten“, „schlimm hausen“, ab dem 15. Jh. in der Bedeutung „v. Haus zu Haus feilbieten“. Ein H. ist ein ambulanter Gewerbetreibender außerhalb der Niederlassung eines Unternehmens o. Gewerbes. Die Güter o. gewerbl. Leistungen werden i. d. R. ohne vorherige Aufforderung angeboten u. verkauft. Selbstlinge: Sg. Selbstling, seltenes Synonym für Egoist. Selbstsüchtiger, eigennütziger Mensch. „Die Welt“: Wochenzeitung (1897–1914), begr. v. Theodor Herzl (1860–1904), weitergeführt v. Paul Naschauer (1866–1900), Berthold Feiwel (1875–1937) u. Martin Buber (1878–1965) u. a. im Eigenverlag (Köln/Wien). Die Auflagenhöhe ist starken Schwankungen ausgesetzt u. oszilliert zw. 3.000 u. 10.000 Exemplaren. Die Welt ist zentrale Publikationsinstanz des Zionistenkongresses. Beherrschende Themen: Judentum, Zionismus, allgemeine Tagesereignisse, Antisemitismus sowie Assimilierungsbestrebungen des westl. Judentums. Als kulturvermittelndes Organ ist die Zeitung auch Plattform für die Übersetzungen hebr. Literatur.
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2 Ein Brief Nordaus Quelle: Die Welt, 25.6.1897, H. 4, S. 3.
New-Yorker Zeitschrift „Toleranz“: Name einer deutschsprachigen Wochenschrift, die 1897 in New York v. Dr. Michael Singer (Lebensdaten unbek.) hrsg. wird. Im gleichen Jahr wird sie unter dem Namen Der Zionist jiddischsprachig weitergeführt. Dr. Michael Singer, New-York: Lebensdaten unbek., 1898 Generalsekretär der League of Zionist Societies of the United States. „New-Yorker Staats-Zeitung“: Name einer deutschsprachigen Tageszeitung, die 1834 v. dt. Einwanderern in New York gegründet wird. Erster Chefredakteur ist der dt. Einwanderer u. Mitbegründer der Zeitung Gustavus Adolphus Neumann (1807– 1886). Gegen Ende des 19. Jh.s wird das Blatt zu einer der führenden Zeitungen in New York. Herrn Kohler: Gemeint ist vermutl. der deutschstämmige Reformrabbiner Kaufmann Kohler (1843–1926), ab 1879 Rabbiner des New Yorker Temple Beth-El. Als Mitglied verschiedener Gremien u. Autor zahlreicher Zeitschriftenartikel gestaltet er das amerikan. Reformjudentum aktiv mit. Den polit. Zionismus Herzls u. Nordaus lehnt er als unjüdisch u. unreligiös ab, nicht aber die jüdische Besiedelung Palästinas. Aufbau Zions: Metapher N.s für das Ziel, ein jüdisches Gemeinwesen in Palästina aufzubauen.
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3 I. Kongressrede Quelle: ZS1, S. 39–5, dort mit Datierung: Basel, 29. August 1897. Ferner in: Die Welt, 3.9.1897, H. 14, S. 5–9.
I. Kongressrede: Der I. Zionistenkongress findet unter dem Vorsitz v. Theodor Herzl (1860–1904) vom 29.–31.8.1897 im Stadtcasino in Basel statt. Die 204 Abgesandten aus aller Welt formulieren im Baseler Programm die Forderung nach einer „öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte“ in Palästina für durch Verfolgung u. Ausgrenzung bedrohte Juden. Auf Initiative v. Theodor Herzl wird die Zionistische Organisation (inoffiziell auch bez. als Zionistische Weltorganisation, 1960 offiziellen Umbenennung von engl. Zionist Organization zu engl. World Zionist Organization, WZO) gegründet, um die Idee eines jüdischen Staates in Palästina zu forcieren. Sonderberichterstatter: Bei allen Zionistischen Weltkongressen sind Sonderkorrespondenten verschiedener internationaler Zeitungen anwesend, die für ihr jeweiliges Herkunftsland Bericht über die aktuelle Situation der jüdischen Bevölkerung in verschiedenen Ländern erstatten. Ob N. an dieser Stelle auf diese anspielt, ist nicht eindeutig. Möglich ist auch, dass umgekehrt N. auf die Informationen dieser Journalisten o. eben auf Sonderberichterstatter des Zionistischen Weltkongresses zurückgreift. Kampf ums Dasein: → 424 Karaiten: Auch Karäer, bez. eine jüdische Sekte. Sie entsteht zu Beginn des achten Jh.s u. verbreitet sich vornehml. innerhalb des oriental. Judentums. Sich v. der talmud. Gesetzesauslegung abwendend, bemühen sich die K., die jüdische Lehre (Halacha) direkt aus der Hebr. Bibel abzuleiten, so u. a. nach dem Literalsinn u. dem Analogieprinzip. Kaufleute der ersten Gilde: Mittelnddt. gilde, eine Innung o. ein Trinkgelage, urspr. wohl „gemeinsamer Trunk anlässlich eines abgeschlossenen Rechtsgeschäfts“. G. sind eine Manifestation des Genossenschaftswesens; Berufsgruppen schließen sich zu Sozietäten zusammen. Ziele sind gegenseitige Hilfe, Unterstützung gemeinsamer Interessen u. Geselligkeit. Im deutschsprachigen Gebiet sind die Ausdrücke Zunft, Gilde u. Innung seit dem 15./16. Jh. Synonyme. Die russ. Kaufmannsgilde ist in drei Steuerklassen unterteilt: Mitglieder der ersten Gilde genießen mehr Rechte u. Privilegien als Mitglieder der zweiten u. dritten Gilde, sie müssen aber auch über wesentlich mehr Eigenkapital verfügen u. höhere Steuern entrichten. Gouvernements: Gouvernement, Bez. für eine Regierung o. eine Statthalterschaft, in der Verwaltungsterminologie Provinz. In diesem Kontext rekurriert N. allerdings auf die in Russland seit dem 18. Jh. existente staatl. Provinzialverwaltung. Die G. stehen an der Spitze der provinziellen Verwaltungshierarchie.
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Rumänien: Im Berliner Vertrag v. 1878 wird Rumänien auferlegt, allen Bürgern die gleichen Rechte zu gewähren. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s erlangen ledigl. einige hundert Juden das volle Bürgerrecht, allen übrigen wird dies als ‚Landfremden‘ verwehrt, wenngleich Pflichten wie Militärdienst auferlegt werden. Weite Bereiche des alltägl. Lebens (Berufswahl, ökonom. Entfaltungsmöglichkeiten, Bildung, öffentl. Ämter) sind weitgehenden Restriktionen für jüdische Bewerber unterworfen. Indirekt werden v. der rumän. Regierung antisemitische Aktivitäten u. Ausschreitungen finanziert, um Juden den Alltag in Rumänien unerträgl. zu machen. galizischer Berichterstatter: Galizien ist der offizielle Oberbegriff für die Gebiete Kleinpolen u. Rotpreußen (zu Österreich gehörig, 1772–1918). Im 18. Jh. ist G. ein wichtiges Zentrum des Kulturlebens des Ostjudentums (Chassidismus). Herrn Dr. Salz: Dr. Abraham Adolph Salz (1864–1941), galizischer Zionist, Jurist u. Anführer der Chowewe Zion, ab 1884 Mitglied der jüdischen Studentenverbindung Kadima. Ab 1887 zionistische Aktivitäten in seiner Geburtsstadt Tarnow u. Pläne zur jüdischen Besiedelung Palästinas. Mitgründung der zionistischen Zeitung Przyszlosc, die sich gegen Assimilationsbestrebungen poln. Juden einsetzt. Wahl zum Vizepräsidenten des ersten Zionistenkongresses 1897. Herrn Dr. Mintz: Dr. Alexander Mintz (1865–1941), österr. Jurist. M. berichtet auf dem I. Zionistenkongress über die Situation der österr. Juden u. wird in das Engere Aktionskomitee gewählt, distanziert sich jedoch bald darauf von der Zionistischen Organisation. die Juden von Persien: Im 19. Jh. werden Juden in Persien v. der schiit. Geistlichkeit für unrein erklärt u. auf eigene Wohnviertel verweisen. Als Erkennungsmerkmal dient ein stigmatisierendes rotes Halstuch. Durch Interventionen der Alliance Israélite Universelle werden die sozialen Missstände auch im Westen bekannt. Ghetto: Wahrscheinl. v. ital. getto nuovo, dt.: „neue Gießerei“. 1516 lassen sich Juden nach ihrer Vertreibung aus Spanien in Venedig auf dem Gelände einer Gießerei nieder, ab 1595 Beschränkung auf dieses Gebiet. Erweiterung des Namens auf jüdisch besiedeltes Gelände in Venedig ohne Gießereien, i. S. v. „Judenviertel“. Bereits in der Antike wohnen Juden aufgrund v. rechtl. u. wirtschaftl. Belangen in bestimmten Straßen o. Stadtvierteln zusammen. Im Mittelalter führen gesellschaftl. Stigmatisierungen, religiöse Vorurteile u. behördl. Zwänge zur Bildung eigener, räuml. beschränkter Wohnviertel, in Deutschland neben den Gh.s die sog. Judengassen. Das v. Mauern umschlossene Gh. liegt in vielen Städten in strukturell benachteiligten Stadtvierteln, muss außerhalb des Blickfeldes der Kirche liegen, darf nicht am Weg christl. Prozessionen liegen u. ist an christl. Feiertagen geschlossen. „praktischen“ Leute: → 426
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Emanzipation: Lat. emancipatio, dt.: „Entlassung eines Sohnes aus der väterl. Gewalt“, „Freilassung“, „Abtretung“, bez. die Befreiung aus dem Zustand der Abhängigkeit u. die rechtl. u. gesellschaftl. Gleichstellung zweier vormals unterschiedl. privilegierter Personen(gruppen). N. bezieht sich auf die jüdische E. im ausgehenden 18. u. im 19. Jh., die sich zunächst auf die staatsbürgerl. Rechte bezieht, im Verlauf des 19. Jh.s aber auch die gesellschaftl., wirtschaftl. u. kulturellen Gleichstellungsprozesse der jüdischen Bevölkerung bez. Die staats- u. stadtbürgerl. E. findet in den USA (1789), Frankreich (1789, 1791) u. den Niederlanden (1796) früher als in den dt. Staaten statt. In den linksrhein. Gebieten wird die durch frz. Einfluss erwirkte Gleichberechtigung 1814 weitgehend rückgängig gemacht, in Preußen wird erst in den Verfassungen v. 1848 u. 1849 die Gleichstellung der Juden gewährleistet. Lediglich Baden (1862) u. Württemberg (1861–1864) verwirkl. die vollumfängl. E. Befürworter der E. versprechen sich v. ihr eine rasche Assimilation der Juden an die nichtjüdische Umwelt. Ernennung Sancho Panzas: Sancho Pansa ist der Knappe Don Quijotes in Miguel Cervantes Saavedras (1547–1616) romaneskem Epos Don Quijote (zwei Teile, 1605 u. 1615). Das Modell des Ritterromans wird in Form u. Inhalt parodiert. Der in unhöfischer Weise agierende Begleiter Don Quijotes, der Bauer Sancho Pansa, wird zum Statthalter der Insel Barataria ernannt – es handelt sich bei der Episode jedoch ledigl. um den Streich eines Herzogpaars, das sich über Don Quijote u. seinen Knappen amüsiert. Sanchos Herrschaft über Barataria offenbart eine verkehrte Welt. Mit Bauernschläue u. gesundem Menschenverstand vertritt er seine Gouverneursstelle u. stellt dadurch aristokrat. Herrschen u. feudale Gelehrsamkeit in Frage. „Ich bin ein Mensch […]“: N. zitiert ungenau Vers 77 aus dem Heautontimorumenos (lat., dt.: „Selbstquäler“) des röm. Komödiendichters Publius Terentius Afer, gen. Terenz (195/185–159/158 v. Chr.): „Homo sum: humani nil a me alienum puto“ (lat., dt.: „Ich bin ein Mensch, ich glaube, dass nichts Menschliches mir fremd ist.“). Sittlichkeit: Sittlichkeit ist die dem Sittengesetz, der obersten Norm, verpflichtete Ordnung für menschl. Denken u. Handeln, das auf freier Entscheidung beruht. Das grundlegende Prinzip der Ethik wird v. Immanuel Kant im sog. Kategorischen Imperativ ausgedrückt. „Wenn man einen Hund ersäufen will“: N. übersetzt eine geläufige frz. Redensart: „Qui veut noyer son chien, l'accuse de la rage.“ Judenemanzipation: → 440 geradlinig geometrischen Denkweise des französischen Rationalismus: Der Rationalismus (v. lat. ratio, dt.: „Vernunft“) ist eine philosoph. Denkrichtung. Diese postuliert, dass die Welt gemäß Verstand u. Vernunft geartet u. deswegen log. u. berechenbar sei. Der erkenntnistheoretische R. setzt die Prämisse, dass vernunftgeleitete Wahrheiten einen höheren moral. Rang haben als empirische o. sensualist. Entitäten.
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Charakteristisch für diese kausallog. Denkweise ist die Formel des frz. Philosophen René Descartes (1596–1650): „Ich denke, also bin ich“ (lat.: „Cogito, ergo sum.“). mathematischen Axioms: Ausgehend v. der Geometrie Euklids (3. Jh. v. Chr.) ist das m. A. ein Grundsatz, der nicht erst bewiesen werden muss. Er wird seinerseits für die Beweisführung anderer Sätze herangezogen. U. a. werden Theorien nach einer axiomat. Methode konstruiert (Axiomatik einer Theorie). Axiome sind im Allgemeinen losgelöst v. Interpretation u. Empirie. Die Idee der Widerspruchsfreiheit ist bei A. grundlegend. rationalistischen Methode: Rationalistische Methode des Philosophierens. N. bez. sich auf eine rationalist. Bewertung der Tatsachen der Erkenntnis. Die r. M. beruht auf der Deduktion (lat. deductio, dt.: „Abführen“, „Übersiedlung“, „Ableiten“), der Ableitung v. speziellen Aussagen aus allgemeinen Aussagen (Axiome, Theoreme) als Prämisse mittels log. Schlüsse (Konklusion). Philosophie Rousseaus: Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), einer der prominentesten frz. Philosophen u. Schriftsteller der Aufklärung. Seine Philosophie zielt inhaltl. auf die Themenkomplexe Sozialkritik, polit. Theorie u. Theologie. Leitidee aller Schriften ist der Gedanke der Freiheit, sowohl die dem Menschen im Naturzustand grundsätzl. immanente Freiheit als auch die gedankl. Freiheit des Individuums sowie seine durch den Gesellschaftsvertrag gesicherte polit. Freiheit. R. stellt zudem einen interdependenten Bezug zw. Gleichheit u. Freiheit her. Enzyklopädisten: Bez. für die Mitarbeiter, Gründer u. Hrsg. der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–1780), sekundär auch die Anhänger der darin enthaltenen philosoph. Konzepte. Diese gründen sich auf die Topoi der Aufklärung: rationalist. Fortschrittsglaube bzgl. der Wissenschaften, soziokulturelle Weiterentwicklung des Menschen, sinnl. Erkenntniserfahrung, religiöse Toleranz u. polit. Konzept der konstitutionellen Monarchie. Neben dem federführenden Denis Diderot (1713–1784) übernehmen Jean-Baptiste Le Rond d'Alembert (1717–1783), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Voltaire (eigentl. François-Marie Arouet, 1694–1778) u. Charles de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu (1689–1755), die Redaktion v. Lexikonartikeln. Menschenrechte: Das Parlament v. England richtet 1628 die Petition of Right an König Karl I. (1600–1649), in der Beschwerden wg. Amtsmissbrauchs geäußert u. Forderungen nach der Stärkung der Rechte des Einzelnen erhoben werden. Im Zuge der Lösung Virginias vom Königreich Großbritannien formuliert der US-amerik. Politiker George Mason (1725–1792) die Virginia Declaration of Rights, die großen Einfluss auf die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (1776) u. die Bill of Rights (1789), die Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, hat. Die frz. Nationalversammlung verkündet am 26.8.1789 die Déclaration des droits
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de l'homme et du citoyen u. formuliert darin die grundlegenden Auffassungen v. Demokratie u. Freiheit in der Moderne. Die Männer von 1792: Nach der Besetzung Rheinhessens durch frz. Truppen (1792) kommt es zu einer umfassenden Transformation der gesellschaftl. Strukturen. Die in Rheinhessen lebenden Juden erlangen die rechtl. Gleichstellung u. werden so zu formaljuristisch mündigen Bürgern. metrische System der Maße und Gewichte: Erstmals in der Geschichte wird 1793 in Frankreich mit dem metr. System ein künstl. entwickeltes Maßsystem eingeführt. Dem dezimalsymmetr. System liegt ein Universalitätsanspruch zugrunde. Es basiert auf den Basiseinheiten Zentimeter, Gramm u. Sekunde (cgs-System, zu engl. centimetre gram second). Urmeters: Frz. mètre des archives, dt.: „Archivmeter“. Bez. für die Maßverkörperung der mit der Einführung des dezimalmetr. Systems festgelegten Längeneinheit Meter (1793). Ein Meter soll den 40-millionsten Teil des meridionalen Erdumfanges darstellen. Pressfreiheit: Pressefreiheit. Sie hat über die Meinungsfreiheit hinaus Bedeutung u. umfasst die Freiheit, Meinungen, Tatsachen, Wertungen u. Stellungnahmen in Büchern, Zeitungen, Flugblättern etc. zu verbreiten. P. steht im Dienste der freien Meinungsbildung u. ist keiner Zensur unterworfen. Oben Genanntes betrifft die äußere P. Im Gegensatz dazu sieht die innere P. eine klare Abgrenzung zw. den Zuständigkeitsbereichen v. Verleger, Chefredakteur u. Redakteuren vor. Non-Konformisten: Lat. non, dt.: „nicht“, u. lat. conformis, dt.: „gleichförmig“, „ähnlich“. Individualistische Haltung in polit., weltanschaul., religiösen u. sozialen Fragen, besonders Anhänger brit. protestant. Kirchen, die die Staatskirche ablehnen. Einfaltspinseln aus Zierbengelei und Geckenhaftigkeit: Als E. wird ein einfältiger Mensch bez., der arglos-gutmütig o. wenig geistreich wirkt. / Als Z. gilt ein modisches Wesen, dem ein gewisser Grad an Lächerlichkeit anhaftet. / G. ist synonym zu Eitelkeit u. Gefallsucht. Mr. de Haas: Jacob de Haas (1872–1937), engl. Journalist, Schriftsteller u. Zionist. Hrsg. des Wochenblattes The Jewish World (1896–1900), des Magazins The Boston Jewish Advocate (1908–1918) u. The Maccabæan (1902). Autor v. Theodor Herzl. A Biographical Study (2 Bde., 1927). Sekretär der Zionist Organization of America (1902–1905). Landsassen: Im Mittelalter Bez. für einen v. einem Grundherren Abhängigen, der kein Leibeigener ist, aber keinen eigenen Grundbesitz hat (z. B. Pächter, Zinsbauer). Allgemein bez. L. auch eine im Land ansässige Person, einen Landsmann o. einen Untertan.
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gelbe Judenrad am Mantel / der gelbe Fleck: Auf dem vierten Laterankonzil (1215) fordert Papst Innozenz III. (geb. als Lotario dei Conti di Segni, 1160/1–1216) eine Kennzeichnungspflicht für Juden u. Sarazenen, um eine Vermischung mit der christl. Bevölkerungsmehrheit zu verhindern; auf dem Provinzialkonzil v. Narbonne (1227) wird diese Vorschrift beschlossen. Die Kennzeichen für Juden variieren in Europa in Form u. Farbe: Streifen (England), kreisförmiges Zeichen (Frankreich), spitzer Hut (Kastilien), gelbes Rad (Aragón) u. gelber Spitzhut (Deutsches Reich). Ab dem 15. Jh. besteht die Pflicht, einen an der Brust befestigten gelben Ring o. gelben Fleck zu tragen. Erst im 18. Jh. wird die Judenkennzeichnung abgeschafft. Völkerpsychologe und Sittengeschichtsschreiber: N. verweist mit V. u. S. auf zwei unterschiedl. Arten der Beobachtung einer sozialen Entwicklung. Während der V. eher die Innerlichkeit verschiedener Völker ausdeutet, hält der S. gleich einem Chronisten des moral. Zeitgeschehens äußerl. Manifestationen dieser gesellschaftl. Veränderungen fest. die entsetzlichen Verfolgungen des Mittelalters: Nach dem Zusammenbruch des Weström. Reiches in der 2. Hälfte des 5. Jh.s beginnt mit der Gründung des german. Reiches für die Juden Europas das Mittelalter. Im Heiligen Röm. Reich Deutscher Nation kommt es zu Verfolgungswellen (1298–1350). In ganz Europa erfolgen Zwangsbekehrungen o. Vertreibungen der Juden: Süditalien (1294), Spanien (1391, 1492), Portugal (1497), Frankreich (1306, 1394), England (1290). Stereotype Beschuldigungen der Juden als Antichristen o. Satansdiener gehen mit der Verbreitung von Mordlegenden einher. scharfe Sporn: Ahd. spor(o), mhd. spor(e), zu lat. sperno, dt.: „zurückstoßen“, „verschmähen“, „verachten“. Pl. meist Sporen als Fortsetzung des mhd. Verbums spor(e)n, dt.: „mit den Füßen treten“. Metallrädchen o. -dorn an der Ferse des Reitstiefels zum Antreiben des Pferdes. Bei Vögeln ist der Sp., veraltet auch: Hinterknorren, ein Horngebilde, welches bei der Auseinandersetzung mit Artgenossen o. zur Verteidigung zum Einsatz kommt. N. verwendet den Begriff als Synonym zu Stachel im Fleisch, der Wunsch nach Bewunderung wird als schmerzhafter Antrieb menschl. Strebens dargestellt. Kaftan, Schläfenlocken, Pelzmütze, Jargon: Kaftan, türk. kaftan, aus arab. qufṭān, aus pers. ḫaftān, dt.: „unter dem Panzer zu tragendes Gewand“. Mantelartige, lange u. eng geknöpfte schwarze Oberbekleidung der orthodoxen Juden. / Schläfenlocken, Bez. der Teile des Kopfhaares des Mannes, die nach Lev 19,27 vom hinteren Rand der Ohren nach vorne zur Stirn nicht geschnitten werden dürfen. Die Haarlänge ist abhängig v. den lokalen jüdischen Traditionen der jeweiligen Länder. / Pelzmütze, jidd. Schtreimel. Kopfbedeckung aus einem Stück Samt mit einem breiten Pelzrand meist aus den Schweifen russ. Zobel. Ab dem 16. Jh. ist das Bedecken des Kopfes bei Männern jüdischen Glaubens durch Kippa (hebr., dt.: „Kappe“, „Kuppel“) o. Schtreimel obligatorisch, da der Gottesname nicht barhäuptig ausgesprochen wer-
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den darf. / Jargon, frz., dt.: „unverständl. Gerede“, „Kauderwelsch“, aus vor-rom. gargone, dt.: „Gezwitscher“, „Geschwätz“. Spezielle Redeweise, die einem gewissen Personenkreis eigentüml. ist o. die als fehlerhaft u. verdorben angesehen wird, z. B. das Rotwelsche, die Gaunersprache o. wie im vorliegenden Fall das Jiddische. Anähnlichung: Heute ist A. ein Archaismus u. wird durch Angleichung ersetzt. Urspr. formaler Neologismus übertragen aus lat. assimilatio. Mimikry: Engl. mimicry, dt.: „Nachahmung“, „Mimikry“. Anpassung, die der Täuschung v. Feinden o. dem eigenen Schutz dient. Messias: Messias, v. hebr. mạšîaḥ, dt.: „Gesalbter“. Im Alten Testament der durch Salbung mit feinem Öl eingesetzte König o. Hohepriester, dem als v. Gott Auserwähltem kultisch-religiöse Bedeutung zukommt. Der M. wird nach dem Tod Salomos (um 927 v. Chr.) zum Idealbild eines Herrschers, v. dem man sich im heilsgeschichtl. u. im polit. Sinn die Wiederherstellung ganz Israels erhofft. In der Verkündigung des Propheten erhält die Messiaserwartung eine eschatolog. Dimension, indem ein M. am Ende der Zeit als Erlöser erwartet wird. Dieser begründet ein Reich des Friedens u. der Gerechtigkeit. Rassenantisemitismus: Im 19. Jh. entstandene, auf sozialdarwinist. Prinzipien aufbauende Form der Judenfeindlichkeit, die sich anders als der religiös begründete Antisemitismus nicht nur gegen den jüdischen Glauben richtet, sondern Juden prinzipiell als minderwertige Rasse darstellt. Diese Inferiorität kann nach dieser rassistischen Argumentation nicht durch die christl. Taufe beseitigt werden. Marranentum: Leitet sich wahrscheinl. v. span. marrano (dt.: „Schwein“, „Gauner“) ab. Als Marranen werden diejenigen unfreiwillig getauften span. u. portug. Juden beschimpft, die ihren jüdischen Glauben u. U. heimlich weiterhin ausüben. Sie sind Opfer der Inquisition u. werden Ende des 15. Jh.s aus Spanien vertrieben. Viele M. finden Zuflucht in Italien, Portugal, Südfrankreich, Nordafrika u. in der Türkei, wo sie ihren Glauben frei leben können. Im 19. Jh. löst sich der Ausdruck zunehmend vom histor. Kontext u. bez. allgemein das Verschweigen der eigenen jüdischen Wurzeln. Blutzeugenschaft: Im 17. Jh. wird der v. griech. μάρτυς, dt: „Zeuge“, abgeleitete Ausdruck Märtyrer eingedeutscht. Ein Blutzeuge ist eine Person, die wg. ihrer Überzeugung, im engeren Sinne wg. ihres Glaubens, Gewalt bis hin zum Tod erträgt. Israel: Hebr. Jisrael, dt.: „El streitet“, „El kämpft“ o. in der optativ. Wiedergabe des hebr. Imperfekts „El möge [für uns] streiten“ nach Gen 32,29. Älteste Erwähnung des Namens auf der Siegesstele des ägypt. Pharaos Merenptah (Regierungszeit 1213–1203 v. Chr.), die sich auf einen Feldzug (1211 v. Chr.) gegen ein Volk in Kanaan bezieht. Trotz des theophoren Namensbestandteils El übernehmen die im Glauben
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an Jahwe verbundenen Volksgruppen den Begriff I., da dadurch dem Gott Israels für Errettung u. Erhaltung gedankt wird. anschlägiger: Anschlägigkeit, selten gebrauchter Ausdruck für Einfallsreichtum u. Findigkeit. zum äußersten Proletarierelend verurteilt: Seit Beginn des 19. Jh.s siedeln als Kaufleute u. Industrielle tätige Juden in den großen Handels- u. Industriezentren Europas. Parallel dazu entsteht ein jüdisches Proletariat, vorwiegend auf dem Gebiet der Konsumgüterindustrie u. des Handwerks. Durch Migrationsbewegungen v. Ost- n. Westeuropa u. n. Amerika verschärft sich die wirtschaftl. Lage vieler Juden, was zu Verelendung führt. Bildungstantalus: Im antiken Mythos missbraucht Tantalus, Sohn des Zeus, das Vertrauen der Götter, indem er ihnen die göttl. Speise Ambrosia stiehlt u. den Menschen überreicht. Um die Allmacht der Götter herauszufordern, lässt er seinen Sohn Pelops töten u. setzt ihn den Göttern als Speise vor. Tantalus wird daraufhin in die Unterwelt verdammt u. Pelops wieder zum Leben erweckt. Die sprichwörtl. Tantalusqualen beziehen sich auf dessen Strafe, auf ewig Hunger u. Durst zu leiden. Auch auf den Nachkommen Tantalus' lastet dessen Fluch. In Analogie zum Tantalus-Mythos haben die zeitgenöss. Juden einen Bildungshunger, der Zugang zu Bildungsquellen bleibt ihnen jedoch versagt. zu dreien zu essen: Das jüdische Tischgebet Birkat Hamason (hebr., dt.: „Segnung der Speise“) wird nach dem Essen nur dann gesprochen, wenn drei männl. Juden, die die Bar Mizwa mit dreizehn Jahren bereits gefeiert haben müssen, zusammen gesessen haben. Gemeinschaft von zehn zu beten: Minjan, hebr., dt.: „Zahl“. Mindestanzahl v. zehn Männern (mind. dreizehn Jahre alt) zur Abhaltung eines Gottesdienstes in der Synagoge. Nach Gen 18,32 ist die Zahl zehn ein Symbol für das Mindestmaß. schwarzen Todes: Schwarzer Tod, Bez. für die schwerste Form der Pest (lat. pestis, dt.: „Seuche“, „ansteckende Krankheit“, „Pest“) mit ausgedehnten Blutungen in der Haut. Die als Schw. T. bez. europä. Pandemie (1347–1352/53) breitet sich v. Asien kommend über die Handelswege in ganz Europa aus u. fordert etwa 25 Millionen Tote, ein Drittel der damaligen Bevölkerung. Durch die Entvölkerung ganzer Landstriche kommt es zu gravierenden ökonom. Folgen u. einer verstärkten Hinwendung zu eschatolog. Stimmungen u. Kulten bei den Überlebenden. Brunnenvergiftung: Die Brunnenenvergiftungslegende taucht bereits in der Antike auf. Mit der Ausbreitung der Pest in Europa ab 1347 kommt die Beschuldigung der Brunnenvergiftung, d. h. der wissentl. Verbreitung v. Krankheiten durch Trinkwasserverunreinigung, gegen die Juden auf. Zusammen mit dem Ritualmordvorwurf entwickelt sich daraus die Weltverschwörungslegende. Trotz mehrfacher Interven-
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tionen durch Papst Clemens VI. (geb. als Pierre Roger, um 1290–1352), der die Verfolgungen untersagt, wird der Vorwurf durch unter Folter erpresste Geständnisse scheinbar bestätigt u. löst eine Welle v. Verfolgungen aus. In West- u. Mitteleuropa werden die meisten jüdischen Gemeinden ausgelöscht. Nach dem nahezu vollständigen Verschwinden der Juden wird der Vorwurf auf andere Randgruppen wie Bettler o. Ketzer übertragen. Getreidepreis zu drücken / Kleingewerbe zu vernichten: N. umschreibt Ausprägungen des antisemitischen Stereotyps des jüdischen Wucherers o. gewissenlosen Spekulanten, der zu vermeintl. überhöhten Zinskonditionen Geld verleiht u. sich arglistig an finanziell schwächer gestellten christl. Bauern o. Kleinunternehmern bereichert. Anthropomorphismus: Griech. ἄνϑρωπος, dt.: „Mensch“, u. griech. μορφή, dt.: „Form“, „Gestalt“. Bez. für eine Vermenschlichung v. Nicht-Menschlichem durch die Übertragung v. menschl. Verhalten o. menschl. Eigenschaften auf Objekte, Tiere o. abstrakte Phänomene. Sage: N. bez. sich auf die sog. Weltverschwörungslegende, eine antisemitische Verschwörungstheorie, die auch unter den Bez. „jüdische Weltverschwörung“‚ „jüdische Internationale“ o. „internationales Finanzjudentum“ vorkommt. Bereits in der Mitte des 12. Jh.s taucht diese Legende erstmals bei dem engl. Benediktinermönch Thomas of Monmouth (zw. 1149 u. 1172) auf, derzufolge in einer jährl. Versammlung Rabbiner beschlössen, wo ein Christ in der Nachfolge Christi zu opfern sei, um das den Juden angetane Unrecht zu sühnen. In diesem Zusammenhang werden in der Folgezeit weitere Beschuldigungen u. haltlose Verdächtigungen erhoben, vgl. Ritualmordlegende, Hostienfrevellegende, Brunnenvergiftungslegende. Um 1807 beschuldigt der frz. Jesuit u. Publizist Augustin Barruel (1741–1820) die Juden, die Weltherrschaft anzustreben. Gegen Ende des 19. Jh.s decken die fiktiven Protokolle der Weisen von Zion eine vermeintl. jüdische Verschwörung auf, wonach Juden unter dem Vorwand der modernen Demokratie die Weltherrschaft anstreben. Mammons: Mammon, griech. μαμ(μ)ωνᾶς, dt.: „Geld“, „Vermögen“. Im Talmud, der Mischna u. im Neuen Testament pejorativ-geringschätzige Bez. für irdisches Gut, Reichtum u. Geld. Judentum der Propheten und Tanaim: Propheten. / T., auch: Tannaim, ist v. aram. Verb tanna (dt.: „unterrichten“) abgeleitet u. bez. einen Gelehrten des mündl. jüdischen Gesetzes. Die Periode dieser gelehrten jüdischen mündl. Lehrpraxis umfasst den Zeitraum 10–220 n. Chr. Hillels: Hillel (um 60 v. Chr.–um 10 n. Chr.), Ehrenname Hillel der Alte, hebr. Hillel ha-Sahev. Bedeutender rabb. Gelehrter u. Vorsitzender des Sanhedrins (griech. συνέδριον, dt.: „Sitzung“, „Ratsversammlung“, jüdischer Hoher Rat). Wesentl. Beiträge zur Thoraexegese durch Einführung v. festen Auslegungsregeln. Seine weniger
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strenge, praxisorientierte Gesetzesauslegung führt zu häufigen Disputen mit seinem Widersacher Schammai der Ältere (um 50 v. Chr.–um 30 n. Chr.). Ibn Gabirols: Salomo ben Jehuda ibn Gabirol (um 1020–1057/58), span. Dichter u. Philosoph. Vom Neuplatonismus inspirierte, düstere weltl. Dichtungen u. religiöse Werke wie das Lehrgedicht Keter Malchut (hebr., dt.: „Königskrone“). Sein philosoph. Hauptwerk Yanbuʾ al-ḥayya (arab., dt.: „Lebensquelle“) ist nur in der lat. Übersetzung liber fontis vitae bekannt, worin I. G. eine Synthese des Neuplatonismus mit dem bibl. Schöpfungsglauben versucht, nach der der Kosmos vom Willen Gottes abhängig ist. Jehuda Halevys: Eigentl. Jehuda ben Samuel Halewi (vor 1075–1141), span. Arzt, Philosoph u. Dichter jüdischen Glaubens. Leben unter muslim. u. christl. Herrschaft in Spanien, Emigration ins Heilige Land. Bedeutendster span. Dichter hebr. Sprache des Mittelalters, geistl. u. weltl. Lyrik; Hymnen finden Eingang in Gemeindegebete. Hauptwerk Buch zur Begründung und des Beweises zur Verteidigung der unterdrückten Religion (entst. 1130–1140), nach der Übersetzung ins Hebräische (1170) unter dem Namen Buch Kusari bekannt. Es beschreibt einen interreligiösen Dialog zw. Judentum, Christentum u. Islam auf der Suche nach einer wahren Lebensregel. Spinozas: Baruch de Spinoza (auch Bento o. Benedict, 1632–1677), niederl. Philosoph des Rationalismus mit portug.-sephard. Wurzeln. Als Kryptojude wird er 1656 aus der portug. Synagoge ausgeschlossen. Plädoyer für die Trennung v. Staat u. Kirche u. die Gewissensfreiheit des Einzelnen. Begründer der modernen Bibelkritik durch Anwendung der histor.-krit. Methode auf das Alte Testament, was zu einer Beschränkung des Geltungsbereichs der mosaischen Verfassung auf die Phase der jüdischen Eigenstaatlichkeit führt. Rezeption seiner aufklärerischen u. individualist. Heilslehre durch zionistische Denker wie Moses Hess (1812–1875). Werke u. a. Tractatus theologico-politicus (1670), Ethica. Ordine [auch: More] Geometrico Demonstrata (1677 postum) u. Tractatus politicus (1677 postum). Heines: Christian Johann Heinrich Heine, geb. als Harry Heine (1797–1856), dt. Lyriker, Schriftsteller u. Journalist. Nach Jurastudium u. Promotion Übertritt zum Protestantismus u. Emigration n. Paris. Jüdische Themen wie Identifikation vs. Akzeptanz, Assimilation u. Ausgrenzung, Heimatlosigkeit o. die Auseinandersetzung mit dem Christentum durchziehen das Werk H.s u. beeinflussen in der Folgezeit aufgrund antisemitischer Vorurteile die Rezeption. Teilweise polemisch geführte Auseinandersetzungen mit den Schriftstellern Karl August Georg Maximilian Graf v. Platen-Hallermünde (1796–1835), der ihn aufgrund seiner jüdischen Herkunft diffamiert, u. Carl Ludwig Börne (geb. als Juda Löb Baruch, 1786–1837). Werke mit ausgeprägt jüdischer Thematik u. a. Der Rabbi von Bacherach (1840) u. Hebräische Melodien, das dritte Buch aus dem Romanzero (1851).
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Schnorrertum: Nomen agentis Schnorrer. Etymologie unklar, um 1750 gaunersprachl. für „mit Musik betteln“, „auf Kosten anderer leben“. Mensch, der Nutznießer anderer Menschen ist. Semant. nahe stehen dem S. die Ausdrücke Schmarotzer, Parasit, Abstauber o. Nassauer. Mikrobiologie: Griech. μικρός, dt.: „klein“, griech. βίος, dt.: „Leben“, u. griech. λόγος, dt.: „Wort“, „Lehre“. Wissenschaft v. den mikroskopisch kleinen, also mit dem bloßen Auge nicht betrachtbaren o. untersuchbaren Lebewesen. anaërobische Wesen: Anaerob, griech. ἀ-/ἀν-, verneinendes Präfix, griech. ἀηρ, dt.: „Luft“, u. griech. βίος, dt.: „Leben“. Bez. für Lebewesen, die für ihren Stoffwechsel keinen Sauerstoff benötigen o. durch diesen in ihrem Wachstum behindert o. abgetötet werden. Anaerobe Mikroorganismen können u. a. schwerwiegende Wundinfektionen verursachen. „Kinnoth“: Hebr. Kinot, Sg. Kina, dt.: „Klagelieder“. Jüdische Dichtungen im eleg. o. klagenden Duktus, urspr. Totenklagen. K. werden am Tisach be-Aw (hebr., dt.: „der neunte Tag des Monats Av“) rezitiert u. erinnern an die Zerstörungen des Ersten u. Zweiten Tempels die n. rabbinischer Überlieferung auf diesen Tag fallen. Die Rezitation der Klagelieder Jeremias, die neben ihrer eigentl. hebr. Bez. Echa auch K. genannt werden, geht traditionell voran. Neben der Tempelzerstörung werden in den im Mittelalter entstandenen Dichtungen zunehmend zeitgenössische Ausschreitungen gegen Juden o. persönl. Geschick thematisiert.
4 „Arabische Märchen
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4 „Arabische Märchen“ Quelle: ZS1, S. 329–33, dort mit Verweis auf die Quelle: Berliner Tageblatt, 1898. Ferner in: Die Welt, 7.1.1898, H. 1, S. 3.
„Zionstrunkene“: → 426 Dr. Eduard Glaser: Eduard Glaser (1855–1908), österr. Archäologe u. Orientalist. Schwerpunkt seiner Expeditionen ist die Arabische Halbinsel, insb. der Jemen. In den 1890er Jahren nimmt G. Kontakt zu führenden Mitgliedern der zionistischen Bewegung auf u. schlägt die Gründung eines jüdischen Staates auf der Südspitze der Arab. Halbinsel vor. Reservierte Reaktionen erwidert er mit öffentl. Kritik am Zionismus. Kannegießer-Roman: Zurückgehend auf die Komödie Den politiske Kandestøber (1722) des dän. Dichters Ludwig Holberg (1684–1754) bez. man ohne Sachverstand über Politik fachsimpelnde Schwätzer als Kannegießer. Hauptfigur der Komödie ist der Hamburger Zinngießer Hermann v. Bremen, dem wg. seines ständigen laienhaften Politisierens eine Lektion erteilt wird. arabischen Bazaren: Auch: Basar. Frz. bazar v. pers. bāzār in gleicher Bedeutung. B. ist ein Händlerviertel in oriental. Städten o. eine Verkaufsstätte v. Waren für wohltätige Zwecke. „Tausend und einer Nacht“: Tausendundeine Nacht, arab. Alf laila wa-laila, Sammlung v. Märchen u. Erzählungen aus dem persisch-arabischsprachigen Raum. Dort bereits seit dem 8. Jh. bezeugt, wird im 18. Jh. ins Frz. u. anhand dieser Ausgabe in weitere europä. Sprachen übertragen. T. N. umfasst rund 300 Geschichten, die durch folgende Rahmenhandlung zusammengehalten werden: Ein v. seiner Gemahlin betrogener König glaubt nicht mehr an die Treue der Frauen; als Konsequenz heiratet er jeden Tag aufs Neue u. lässt seine Ehefrau des Vortages umbringen. Erst die intelligente Wesirtochter Scheherazade vermag es, den König durch ihre Fortsetzungsgeschichten über 1001 Nächte derart abzulenken, dass er ihr das Leben schenkt. Menschenrechte: → 441 im Raume hart mit ihnen zusammengestoßen: Im dritten Teil der Wallenstein-Trilogie (UA 1789/99), Wallensteins Tod (II.2), v. Johann Christoph Friedrich Schiller (1759– 1805) verteidigt der Protagonist seine Haltung gegenüber Karl V. mit folgenden Worten: „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. / Leicht beieinander wohnen die Gedanken, / Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen; / Wo eines Platz nimmt, muß das andre rücken, / Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben; / Da herrscht der Streit, und nur die Stärke siegt.“
450 Teil II: Kommentar
5 Ein Brief Nordaus Quelle: Die Welt, 7.1.1898, H. 1, S. 9.
„Haschkafa“: Hebr., dt.: „Weltanschauung“. Name einer v. Elieser Ben Jehuda (eigentl. Elieser Isaak Perlmann (1858–1922)) 1881 in Jerusalem gegründeten, hebr.sprachigen Zeitschrift. „Tempelwand“: N. bezieht sich auf die Westwand des Zweiten o. Jerusalemer Tempels, die als Klagemauer bekannt ist. Vgl. → 426 mein Vater: → 482. N.s Vater ist der Rabbiner Gabriel Südfeld (1799–1872), vgl. Meine Selbstbiographie → S. 329–330. Hoffnung auf den Messias: → 444
6 [Zuschrift von Dr. Max Nordau]
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6 [Zuschrift von Dr. Max Nordau] Quelle: Die Welt, 14.1.1898, H. 2, S. 7.
letzte Nummer der „Welt“: N. bezieht sich auf den in der vorliegenden Ausgabe unmittelbar vorausgehend abgedruckten Artikel Ein Brief Nordaus, erschienen am 7.1.1898 (Die Welt, H. 1, S. 9). „Haschkafa“: → 450
452 Teil II: Kommentar
7 Ein unterschlagener Brief Quelle: Die Welt, 4.2.1898, H. 5, S. 3–4.
Herausgeber der „Oesterreichischen Wochenschrift“: → 425 „Spectator“: Lat., dt.: „Beobachter“, „Aufpasser“, „Zuschauer“. Pseudonym zahlreicher Schriftsteller u. Kulturschaffender um 1900.
8 Ein berichtigtes Interview
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8 Ein berichtigtes Interview Quelle: Die Welt, 25.2.1898, H. 8, S. 8.
„New-York Journal“: Name einer v. dem Publizisten William Randolph Hearst (1863– 1951) hrsg. Tageszeitung. 1901 Umbenennung in New York Journal-American. Affaire Dreyfus: Die Dreyfus-Affäre ist eine innenpolit. Krise Frankreichs, die sich aus dem Militärgerichtsverfahren gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) ab 1894 entwickelt. D. wird trotz unzureichender Beweismittel des Landesverrats angeklagt u. zu lebenslanger Verbannung n. Cayenne in FranzösischGuayana verurteilt. Als Indiz seines Landesverrats wird der sog. bordereau (dt.: „Liste“, „Verzeichnis“) verwendet, eine angebl. v. D., tatsächl. aber v. Major Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy (1847–1923) stammende Liste, die im Papierkorb des dt. Militärattachés v. Paris gefunden wird u. auf der die Überbringung v. Geheimdokumenten an das Deutsche Reich angekündigt wird. Während des Prozesses bricht sich vermehrt antisemitisches Gedankengut Bahn. Im Laufe der Zeit werden innerhalb der frz. Öffentlichkeit Zweifel an der Schuld D.' ruchbar; der elsässische Senator Auguste Scheurer-Kestner (1833–1899) sowie der Schriftsteller Émile Zola (1840–1902) werden zu deren Sprachrohr. Zola veröffentlicht seine an den frz. Präsidenten gerichtete Streitschrift J'accuse…!. Nach einer ersten Revision des Urteils wird D. erneut für schuldig befunden, dann schließl. begnadigt. 1906 wird D. vollends rehabilitiert u. mit dem Orden der Ehrenlegion geehrt. Eine Anerkennung der Unschuld D.' durch die frz. Armee erfolgt erst im Jahre 1995. katholische Fanatiker: Fanatismus, lat. fanaticus, dt.: „v. einer Gottheit in rasende Begeisterung versetzt“, „schwärmerisch“, „begeistert“. Begeisterter Einsatz bzw. dogmat. Verfechten einer Idee. Während der Dreyfus-Affäre (Höhepunkt 1894) unterstützt die Kathol. Kirche maßgebl. die Gesellschaftsschichten, die die Verurteilung v. Alfred Dreyfus (1859–1935) fordern u. nach Aufdeckung des Justizirrtums dessen Rehabilitierung verhindern wollen. Besonders klerikale u. monarchist. Zeitungen hetzen in antisemitischen Artikeln die Bevölkerung auf u. verhindern so eine rechtmäßige Verurteilung des tatsächl. Verräters Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy (1847–1923). Paty du Clam die Dokumente gefälscht hat: Armand Auguste Charles Ferdinand Marie Mercier du Paty de Clam (1853–1916), frz. Major im Generalstab. Paty de Clam ist maßgebl. daran beteiligt, während der Voruntersuchung gegen Alfred Dreyfus (1859–1935) Beweise für dessen angebl. Schuld, u. a. den Dreyfus überführenden bordereau (frz., dt.: „Zettel“, „Beleg“), zu fälschen u. die Schuld Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházys (1847–1923) zu vertuschen. Eszterhazy: Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy (1847–1923), frz. Offizier im Generalstab, der für das Deutsche Kaiserreich spioniert. Er ist der eigentl. Verfasser
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des bordereau, das Dreyfus (1859–1935) zugeschrieben wird u. die Affäre ins Rollen bringt. von Bülow: Bernhard Heinrich Martin Karl v. Bülow (1849–1929), dt. Staatsmann, Minister u. Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs u. preuß. Ministerpräsident (1900–1909). B. interveniert bewusst nicht zugunsten v. Dreyfus, da eine Schwächung der frz. Armee im Interesse des Deutschen Reiches liegt u. dt. Aussagen in Frankreich auf Unglauben stoßen müssen. Baron E. von Rothschild: Baron Edmond Benjamin James de Rothschild (1845–1934), frz. Kunstsammler u. Förderer jüdischer Kolonien in Palästina, Abkömmling der weitverzweigten Bankiersfamilie Rothschild. Groß-Rabbiner Zadoc Kahn: Z. K. (1839–1905), frz. grand rabbin (dt.: „Großrabbiner“ → 433) v. Paris u. Frankreich. Führende Mitarbeit an der frz. Chowewe Zion u. der Alliance Israélite Universelle u. Mitgründer (1879) der Société des Études Juives. Ritter (1877) u. Offizier (1901) der Ehrenlegion.
9 Brief an die Juden Italiens
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9 Brief an die Juden Italiens Quelle: ZS1, S. 371–373, dort mit dem Hinweis: April 1898 (= Die Welt, 15.4.1898, H. 15, S. 1–2)
Zur Feier des 50. Jahrestages: N. bezieht sich auf die am 4.3.1848 verabschiedete Verfassung, die die konstitutionelle Monarchie auf Sardinien einführt. Karl Albert Amadeus (ital. Carlo Alberto Amadeo, 1798–1849), König v. Sardinien u. Herzog v. Savoyen, gesteht den sard. Juden die gleichen Bürgerrechte wie christl. Einwohnern zu u. gewährleistet eine vollständige polit. u. soziale Emanzipation. Emanzipation der Juden: → 440 Zerstörung des zweiten Tempels: → 426 Diaspora: → 424 „pax romana“: Lat., dt.: „Römischer Frieden“. Bez. für einen Aspekt der Herrschaftsideologie des Röm. Kaiserreichs. Der Begriff wird als Synonym zur Pax Augusta verwendet u. bez. die langanhaltende Friedenszeit, die 27 v. Chr. mit der Herrschaft des röm. Kaisers Augustus (geb. als Gaius Octavius, 63 v. Chr.–14 n. Chr.) beginnt u. die jahrzehntelangen röm. Bürgerkriege beendet. Sie schließt den Frieden im Inneren u. die Sicherung der Reichsgrenzen ein. Der röm. Staat stabilisiert sich trotz weiterbestehender Gefahren an den Grenzen im Inneren, Kultur u. Wirtschaft blühen auf. Der furchtbare römische Adler: Bereits in Babylon, Persien u. Ägypten hat der Adler herald. Bedeutung. Lat. aquila, in Rom seit 100 v. Chr. Verwendung als Wappen-, besonders Heereszeichen, Pl. Aquilae als Feldzeichen der Röm. Legionen. Herald. stammen alle in Europa verwendeten Adler v. den in Rom verwendeten ab, im heutigen deutschsprachigen Raum seit Karl dem Großen (747/748–814) verbreitet. Schirme der Kastelle: Kastell, lat. castellum, dt.: „Kastell“, „Festung“, „Zufluchtsort“, Diminutiv v. lat. castrum, dt.: „fester Platz“, „Burg“, „Fort“. Das K. ist ein zentrales Element des röm. Heerwesens. Polyfunktional als kurzfristig aufzuschlagender Standort vor Schlachten, als Ausgangspunkt für größere militär. Operationen, als Sicherung röm. Grenzanlagen u. als dauerhafter Garnisonsstandort als Wirtschaftsfaktor in eroberten u. der Romanisierung unterworfenen Gebieten. Triumphbogen des Titus: Eigentl. Titus Flavius Vespasianus (39–81 n. Chr.), röm. Kaiser (79–81 n.Chr.), Sohn des Vespasian, der ihm nach seiner Erhebung zum Kaiser (69) den Oberbefehl im Jüdischen Krieg (66–70 n.Chr.) überträgt. Nach der Zerstörung Jerusalems u. des Zweiten Tempels im August/September 70 feiert T. mit Vespasian den Triumph, der auf dem Titusbogen in Rom dargestellt ist. Der eintorige Triumphbogen auf dem Forum Romanum ist der älteste erhaltene Triumphbogen der Stadt, erbaut um 100 n.Chr. Der Bogen trägt die Widmungsinschrift „SENATUS POPULUSQUE ROMANUS DIVO TITO DIVI VESPASIANI F[ILIO] VESPASIANO AU-
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GUSTO“ (dt.: „Der Senat und das römische Volk [haben] dem vergöttlichten Titus Vespasianus Augustus, dem Sohn des vergöttlichten Vespasianus, [dieses Bauwerk errichtet].“). Bildnis der heiligen Gefäße: Innerhalb des Torgewölbes des Titusbogens befinden sich zwei monumentale Bildtafeln, die den Triumph Roms über Judäa verherrlichen. Auf einem ist die röm. Siegesprozession zu sehen, bei der Sklaven die Kriegsbeute aus dem Jerusalemer Tempel zur Schau stellen: die Menora, der Schaubrottisch (hebr. shulhan lehem hap-panim) u. die wahrscheinl. aus Silber getriebenen rituellen Metalltrompeten (hebr. Sg. Chazozra). Italien erfand das Ghetto: → 439 Schmach des Karnevalrennens: Urspr. bez. Corso Wettrennen reiterloser Pferde in Italien, später auch das Durchfahren größerer Straßen auf prächtig geschmückten Equipagen v. a. während der Karnevalszeit. Papst Paul II. (geb. als Pietro Barbo, 1417–1471) führt in Rom auf einer der Hauptstraßen, dem Corso, die sog. „Judenrennen“ ein, bei denen Juden gegeneinander im Wettlauf antreten u. sich dabei v. der Karneval feiernden Mehrheit mit Steinen, Exkrementen u. Unrat bewerfen lassen müssen. Erst Papst Clemens IX. (geb. als Giulio Rospigliosi, 1600–1669) schafft diesen Brauch wieder ab. Aschenbrödel: Mlat. cinerarius, ein Küchenjunge. Meist das jüngste v. drei Geschwistern, das zunächst verachtet wird, aber unerwartet zu hoher sozialer Anerkennung aufsteigt. Unter dem Namen Aschenputtel Heldin eines bekannten Märchens der Brüder Grimm (Jacob Grimm (1785–1863) u. Wilhelm Grimm (1786–1859)), das v. dem dt. Schriftsteller u. Archivar Ludwig Bechstein (1801–1860) unter dem Titel A. in seine Sammlung Deutsches Märchenbuch (1845) aufgenommen wird. A. wird v. ihrer Stiefmutter u. den Stiefschwestern sehr schlecht behandelt, erhält aber v. Tauben u. ihrer verstorbenen Mutter Hilfe. In kostbaren Kleidern tanzt sie mit einem Prinzen, der vergebens versucht, sie festzuhalten. Durch eine Schuhprobe wird ihre Identität bestätigt u. sie kann den Prinzen heiraten. Risorgimento: Ital., dt.: „Wiedererstehen“, „Wiedergeburt“, bez. die im 19. Jh. ausgeprägten innerital. Bemühungen, eine nationale Einheit zu schaffen sowie die einst herausgehobene kulturelle Position Italiens wiederherzustellen. Der Ausdruck R. leitet sich v. der durch den ital. Staatsmann Camillo Benso Conte di Cavour (1810– 1861) gegründeten gleichnamigen Zeitung ab. Als kulturhistor. Periode des R. werden die Jahre 1815 bis 1870 (z. T. auch bis 1918) gefasst. 1848: Im Rahmen des Ersten Ital. Unabhängigkeitskriegs (1848–49) setzt sich das v. König Karl Albert Amadeus (ital. Carlo Alberto Amadeo, 1798–1849) angeführte Heer v. Sardinien-Piemont am 30.5.1848 in der Schlacht v. Goito gegen die österr. Truppen durch. Unter der Herrschaft seines Sohnes Viktor Emanuel II. (1820–1878), der
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am 17.3.1861 den Titel Re d'Italia (dt.: „König v. Italien“) annimmt, wird die Einigung Italiens vollzogen. Quiriten: Lat. quirites. Als sich unter Romulus Römer u. Sabiner zu einer Bürgerschaft vereinigen, nennen sich die Römer selbst in staatsbürgerl. Beziehung wie in Volksversammlungen Q. u. in polit. u. militär. Beziehung Romani. Für Soldaten wird die Anrede Q. als Beschimpfung angesehen. Vaterlandslose: → 434
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10 Der Zionismus und seine Gegner Quelle: ZS1, S. 188–214, dort mit dem Hinweis: Ein Vortrag (Berlin, 26. April 1898.). Ferner in: Die Welt, 13.5.1898, H. 19, S. 1–3 und 20.5.1898, H. 20, S. 1–5.
„homo sum, humani nihil a me alienum puto“: → 440 norwegisch-schwedischen Verfassungsstreit: Vermutl. bezieht sich N. auf ein nur drei Jahre zurückliegendes Geschehen: Während der norweg.-schwed. Union (1814– 1905) kommt es 1895 zu einem Streit um Konsulate u. Nationalflaggen. Da Norwegen Ende des 19. Jh.s über eine deutl. größere Handelsflotte als Schweden verfügt, drängt es auf eigene diplomatische Vertretungen im Ausland. Im Flaggenstreit besteht Norwegen auf einer eigenen norweg. Flagge ohne Unionsfeld. Das Veto des Königs v. Schweden u. Norwegen, Oskar II. (1829–1907), wird durch drei gleichlautende Beschlüsse des norweg. Parlamentes überwunden u. trägt so zur Spaltung der skandinav. Union u. schließl. zu deren Auflösung 1905 bei. irische Home Rule: Home Rule, engl., dt.: „Selbstregierung“. Losung der irischen Nationalpartei, die seit dem letzten Viertel des 19. Jh.s eine eigene Regierung u. ein eigenes Parlament für Irland anstrebt. N. bezieht sich vermutl. auf die Second Irish Home Rule Bill im Jahre 1893, die den Aufbau eines gesamtirischen Parlamentes für innenpolit. Angelegenheiten vorsieht u. die Anzahl der Parlamentarier sowie die Dauer der Legislaturperiode festlegt. Am 1.9.1893 wird der Vorschlag im brit. Unterhaus angenommen, er wird allerdings mit deutl. Mehrheit vom Oberhaus abgelehnt. Im folgenden Jahr tritt daraufhin der brit. Premierminister William Ewart Gladstone (1809–1898) zurück, der sich für zahlreiche Forderungen der irischen Nationalbewegung stark gemacht hatte. Storthingsparteien in Christiania: Norweg. stor, dt.: „groß“, u. norweg. ting, dt.: „Thing“, „Gericht“, Storting, dt.: „Großversammlung“. Name des aus dem Lagting (dt.: „Oberhaus“) u. dem Odelsting (dt.: „Unterhaus“) bestehenden norweg. Parlamentes mit Sitz in Oslo. / Christiania, auch Kristiania, v. 1624–1924 Name der norweg. Hauptstadt Oslo. Judenfrage: Der Ausdruck Judenfrage o. jüdische Frage wird mit der fortschreitenden Emanzipation der Juden seit dem ausgehenden 18. Jh. zum polit. Schlagwort. Er meint die Auseinandersetzungen um den rechtl., wirtschaftl. u. gesellschaftl. Status von Juden, die im Rahmen moderner Staatsbildungsprozesse in Europa mit unterschiedlichen histor. Voraussetzungen geführt werden. Mit dem Aufkommen von Nationalismus u. Rassentheorien im 19. Jh. wird der Begriff häufig negativ konnotiert zur polit. Agitation verwendet. Taufe: Gemeint ist die Konversion zum Christentum durch die christl. Taufe u. damit verbunden die Aufgabe der jüdischen Identität.
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echten, vollwichtigen Ariern: Vollwichtig, Adj., eigentl. in Bezug auf Münzen „volles, ganzes Gewicht habend“ bzw. „das volle vorgeschriebene Gewicht habend“, im übertragenen Sinn „gewichtig“. / Arier, sanskr. arya, dt.: „Edler“. Bez. für die Völker des indoiran. Zweiges der indogerman. Sprachenfamilie. Ab dem 15. Jh. v. Chr. nachweisbar. Der urspr. linguistische Begriff wird in der 2. Hälfte des 19. Jh.s u. a. durch den frz. Diplomaten Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) u. den brit. Ideologen Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) politisiert, die die „weiße Rasse“ als anderen Menschen überlegen darstellen. In Deutschland wird der Begriff A. durch den Antisemitismus zusätzlich antijüdisch aufgeladen. Adoptivarier: Neologismus N.s. Adoption, lat. adoptio, dt.: „Annahme an Kindesstatt“, zu lat. adopto, dt.: „annehmen“, „ausersehen“. Adoption bez. die Annahme einer Person als Kind, wodurch ein Eltern-Kind-Verhältnis ohne Bezug zur natürl. Abstammung u. biolog. Elternschaft entsteht. Semite: Semit, Angehöriger der urspr. sehr uneinheitl. Völkergruppe mit semit. Sprachen. Der Ausdruck S. wird 1781 v. dem dt. Juristen, Historiker u. Philologen August Ludwig v. Schlözer (1735–1809) in Anlehnung an Noahs ersten Sohn Sem (Gen 5,32, Gen 9,18 u. a.) geprägt. Zu den semit. Sprachen gehören u. a. Akkadisch, Assyrisch, Hebräisch, Aramäisch, Phönizisch, Arabisch u. äthiopische Sprachen wie Amharisch. Die Gleichsetzung v. Juden u. Semiten ist nach heutigem Konsens keinesfalls zulässig, diese Konfundierung v. Religions- u. Sprachfamilienzugehörigkeit wird jedoch im 19. Jh. durch Rassentheorien geläufig, was zu dem synonym. Gebrauch v. Judenfeindschaft u. Antisemitismus führt. Demnach unterläuft N., wenn er v. ‚judenscheuen Semiten‘ spricht, nach der Terminologie der klass. Logik eine contradictio in adiecto, die in ihrer absichtl. Verwendung der rhetor. Figur des Oxymorons entspricht. stoisch: Stoa, bedeutende Richtung der antiken Philosophie, benannt nach einer Säulenhalle auf der Agora in Athen (griech. στοὰ ποικίλη, dt.: „bemalte Säulenhalle“). Das Adjektiv stoisch i. S. v. „unerschütterlich“, „gleichmütig“, „gelassen“ geht auf die vom stoischen Weisen angestrebte Seelenruhe u. Selbstvervollkommnung durch Affektkontrolle zurück, die ihn das Schicksal gelassen hinnehmen lassen. Judenchristen: Bez. für Christen, die einerseits ihre religiöse jüdische Identität beibehalten, sich aber andererseits zu Jesus als Messias bekennen; daher die Selbstbez. ‚messianische Juden‘. Aufspaltung in zahlreiche Glaubensrichtungen. Christen nichtjüdischer Herkunft werden als ‚Heidenchristen‘ bez. Bei den J. werden jüdische Religionsgesetze wie die Beschneidung o. die Sabbatheiligung beibehalten. Das Glaubenssymbol ist in der Regel der siebenarmige Leuchter, die Menora, u. nicht das Kreuz, das mit den Judenverfolgungen in Verbindung gebracht wird. Anhänger Sabbatai Zewis: Sabbatai Zewi (1626–1676), Pseudomessias u. Kabbalist aus Smyrna (Izmir) mit aschkenas. Wurzeln. In der Erwartungshaltung, durch asket.
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Lebenswandel, Bewahrung der Gebote u. Meditation das messianische Zeitalter vorbereiten zu können, sammelt er schon als Jugendlicher Gleichgesinnte um sich. Die blutigen Chmielnicki-Pogrome 1648 unter dem Kosaken Bogdan Chmielnicki (1595– 1657) gegen die Juden Polens versteht S. Z. als Zeichen der Ankunft des Messias. Am 31.5.1665 lässt sich S. Z. als Messias ausrufen u. eine messian. Begeisterung erfasst Gemeinden in ganz Europa. 1666 v. den türk. Behörden verhaftet, wird er vor die Wahl zw. Übertritt zum Islam u. Hinrichtung gestellt. 1672 erneute Verhaftung u. Verbannung n. Albanien. Nach S. Z. u. seinem Propheten Natan Benjamin ha-Levi (auch: Nathan Benjamin ben Elisha ha-Levi Ghazzati, 1643–1680) wird eine messian. Bewegung benannt, der Sabbatianismus, der nach beider Tod mit minderheitl. Anhängerschaft im Judentum fortbesteht, aber häufig als Irrglaube bekämpft wird. vor 250 Jahren: Am 15.8.1666 vor die Wahl zw. Hinrichtung u. Übertritt zum Islam gestellt, entscheidet sich Sabbatai Zewi (1626–1676) für letzteres. Zusammen mit 200 jüdischen Familien (türk. Dönmeh, dt.: „Abtrünnige“) tritt er zum Islam über, befolgt aber weiterhin im Verborgenen jüdische religiöse Rituale. Frankisten: → 433 Sonderphysiognomie: Physiognomie, v. griech. φύσις, dt.: „Natur“, „Gestalt“, u. griech. γνώμη, dt.: „Erkenntnis“. Äußeres Erscheinungsbild, besonders des menschl. Gesichts. Die seit Aristoteles (384–322 v. Chr.) verfolgte sog. Physiognomik basiert auf der These, aus diesem äußeren Erscheinungsbild könne auf seel. Eigenschaften o. geistige Fähigkeiten geschlossen werden. Sarmaten: Sarmate, Angehöriger eines antiken iran. Nomadenvolkes, v. a. im südruss. Raum. Ab dem 3. Jh. v. Chr. Wanderbewegungen westwärts in die hellenist. Welt u. zur Nordküste des Schwarzen Meeres. Seit der frühen Neuzeit gründet ein Nationalmythos Polens auf der Abstammung v. den Sarmaten. Im Rahmen dieses für die Herausbildung eines poln. Nationalgefühls bedeutsamen sog. Sarmatismus ist insb. der poln. Adel bemüht, sich v. benachbarten Völkern abzugrenzen. chimärischer: Chimärisch, zu Chimäre, griech. χίμαιρα, dt.: „Ziege“, feuerspeiendes Ungeheuer, teils Löwe, teils Ziege, teils Schlange. Davon frz. chimère, dt.: „Hirngespinst“, „Trugbild“. Ch. bez. einen trügerischen, illusionist. o. eingebildeten Eindruck. Tollheit: Mhd. tolheit, dt.: „törichtes Wesen“. T. bez. eine heftige Leidenschaft wie Besessenheit, Verrücktheit, Raserei o. Wut, aber auch Ausgelassenheit. Einwände, die ich die mystischen nennen möchte: Mystisch. Hier i. S. eines Einwandes, der nicht aufgrund einer rationalen Entscheidung o. differenzierten Betrachtung formuliert wird, sondern aufgrund einer intuitiven Erkenntnis. N. verwendet den Begriff ‚Mysticismus‘ polemisierend in seiner kulturkrit. Schrift Entartung
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(1892–1893) u. kritisiert dort die seiner Ansicht nach diffusen u. irrationalen Ausdrucks- u. Denkweisen der Mystiker. Messias: → 444 Verheißungen der Propheten: → 424 Kotillonorden und Papierkronen: Kotillon, frz. cotillon, schelmischer Gesellschaftstanz am Ende eines Balls. Der besondere Reiz des K. besteht in der gegenseitigen Freiheit der Wahl, womit Späße u. kleinere Geschenke (Bouketts, Orden, Attrappen etc.) verknüpft sind. Die Bez. frz. cotillon, dt.: „Unterrock“, geht wahrscheinl. auf das frz. Volkslied Ma commère, quand je danse, mon cotillon, va-t-il bien? (dt.: „Meine Klatschbase, wenn ich tanze, bewegt mein Unterrock sich richtig? (oder: tanze ich meinen Kotillon richtig?)“) zurück. N. verwendet die Begriffe K. u. P., um auf die in seinen Augen besondere Lächerlichkeit dieser Auszeichnungen hinzuweisen. Delirium: Lat., dt.: „Irresein“, zu lat. deliro, dt.: „v. der geraden Linie abgehen“, „wahnwitzig sein“, „irre reden“. Akute u. erhebl. Bewusstseinsstörung mit Orientierungsstörungen, die mit Sinnestäuschungen, v. a. Halluzinationen, Wahnvorstellungen u. Suggestibilität, einhergehen kann. D. tritt häufig bei Alkoholkrankheit, hohem Fieber, Infektionskrankheiten u. Vergiftungen auf. Zerstreuung: → 424 Zion: → 426 „Tod den Juden!“: Auf dem Höhepunkt der Dreyfus-Affäre u. nach der Veröffentlichung des Briefes J'accuse…! des frz. Schriftstellers Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840–1902) am 13.1.1898 kommt es in Paris zu patriot. Manifestationen u. antijüdischen Demonstrationen unter der Losung: „Conspuez Zola! Mort aux Juifs!“ (frz., dt.: „Bespucken wir Zola!/Buhen wir Zola aus! Tod den Juden!“). In Paris u. den Provinzstädten Bordeaux, Marseille, Nantes, Lyon u. Nancy werfen Anti-Dreyfusards Fenster jüdischer Häuser ein, um gegen eine Revision des Dreyfus-Prozesses Stimmung zu machen. Algier: Nach längerer türk. Herrschaft (seit 1518) kommt Algerien nach einer dreijährigen Belagerung des Hafens v. Algier 1830 unter frz. Herrschaft, die weiteren Maghreb-Staaten folgen bis zum 20. Jh. Dr. Schebat: Lebensdaten unbek. Portepee: Portepee, Neutrum, frz. porte-épée, dt.: „Degengehenk“, „Degenträger“, Wortbestandteil frz. épée aus altfrz. spede v. lat. spatha, dt.: „Schwert“, „Säbel“. Seit Beginn des 18. Jh.s Bez. für den Riemen o. die quastenbesetzte Kordel, die um den Griff v. Seitenwaffen wie Degen o. Säbel geschlungen werden u. zur Befestigung am Handgelenk dienen. Später neben der Befestigungsfunktion auch Zierde u. Kennzeichen für bestimmte Waffengattungen u. militär. Ränge.
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Richterrobe: Robe, frz. robe, aus altfränk. rauba, dt.: „durch Raub erworbenes, dem Feind entrissenes kostbares Kleidungsstück“. Im 16. Jh. aus dem Frz. entlehnt, Bez. für ein langes Gewand o. Kleid, besonders in der Herrenbekleidung ein Terminus für Amtstrachten öffentl. Würdenträger. Geheimratsfrack: Geheimrat, seit Beginn des 17. Jh.s Mitglied eines dem Herrscher direkt unterstellten Kollegiums, das als höchste Regierungsbehörde fungiert. Frack, aus neuengl. frock, v. altfrz. froc, dt.: „Kutte“, „langes Mönchsgewand“. Zunächst ein Kleidungsstück der arbeitenden Bevölkerung, wird der Frack unter der Bez. frac à l'anglaise im 19. Jh. zunehmend nur noch zu besonderen Anlässen auch vom Adel getragen. Freimaurerlogen: Freimaurer, Lehnübersetzung v. engl. free-mason, urspr. geprüfte Maurer- u. Steinmetzgesellen, die frei Arbeit suchen dürfen u. dies durch Geheimzeichen beweisen. Ab dem 18. Jh. werden Freimaurer als Mitglieder eines in einzelne Logen untergliederten weltweit agierenden Männerbundes eth. Grundsätzen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz u. Humanität verpflichtet. Die zur Verschwiegenheit angehaltenen Mitglieder tragen durch das Propagieren ihrer Ideale wesentlich zur Verbreitung v. Ideen der Aufklärung bei. Loge, v. neuengl. lodge, dt.: „Versammlungsort“, dann „geheime Vereinigung selbst“ u. „Versammlungsort einer Freimaurergesellschaft“. Verbindungen: Verbindung, auch: Studentenverbindung, oder: Korporation. Urspr. aus landsmannschaftl. Zusammenschlüssen v. Studenten hervorgegangener Bund männl. Angehöriger einer Hochschule o. Universität, die während des Studiums u. danach im Berufsleben bestimmte Bräuche u. Ziele aufrechterhalten. Im 19. Jh. prägen die Befreiungskriege gegen die napoleon. Herrschaft das Klima an den Hochschulen u. das Verbindungswesen in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas erhält großen Zulauf. Vereine: Verein, fnhdt. vereine, dt.: „Vereinigung“, „Übereinkommen“, zu mhd. (sich) vereinen, dt.: „eins werden“, später in der Bedeutung „die durch Übereinkommen Verbundenen“. Organisation v. Personen zu einem festgelegten Zweck, die unabhängig vom Wechsel einzelner Mitglieder fortbesteht. Alle drei Arten v. Zusammenschlüssen zeigen nach N. vermutl. Ausprägungen bürgerl. Kultur im 19. Jh., denen sich der arrivierte, christl. Deutsche anschließen kann, die aber assimilationsbereiten Juden verschlossen bleiben. Konzessions-Moses: Konzession, lat. concessio, dt.: „Zugeständnis“, „Vergünstigung“, „Bewilligung“. Hier in der Bedeutung v. „Zugeständnis“ o. „Entgegenkommen“. N. verwendet den Namen Moses als den wohl bekanntesten jüdischen Namen im 19. Jh. „Cid“ von Corneille: Pierre Corneille (1606–1684), frz. Jurist u. bedeutender Dramatiker der Klassik. Nach dem span. Vorbild Las mocedades del Cid (1605 bzw. 1615) v.
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Guillén de Castro y Bellvís (1569–1631) erzielt P. C. mit Le Cid (UA 1636) einer in paarweise gereimten Alexandrinern ausgearbeiteten Tragikomödie, großen Erfolg. Stoff des Dramas ist die Geschichte des kastil. Ritters El Cid, eigentl. Rodrigo Díaz de Vivar (um 1043–1099), der im Rahmen der Reconquista eine wichtige Rolle bei der Zurückdrängung der Araber v. der Iber. Halbinsel spielt. Durch eine Verdichtung der dramat. Handlung erreicht P. C. die Zuspitzung des Konfliktes auf die widerstreitenden Prinzipien der Ehre u. Pflichten einerseits u. der Leidenschaften andererseits. „Et le combat cessait faute de combattants“: Korrekt: „Et le combat cessa faute de combattants“ (Le Cid (UA 1636) v. Pierre Corneille (1606–1684), IV. Akt, 3. Szene, V. 1328). Monolog des Don Rodrigue, in dem er vom Kampf gegen die Mauren berichtet. „Der Kampf hörte auf, da es keine Kämpfer […]“: Übersetzung N.s. Ghetto: → 439 Glaubenshass gegen die Gottesmörder: Gottesmordvorwurf, auch: Christusmordvorwurf. Bez. für die seit der Antike gegen Juden erhobene Denunziation, sie hätten Jesus v. Nazareth verurteilt u. gekreuzigt. Bereits in frühen christl. Schriften v. dem Evangelisten Matthäus, dem Apostel Paulus, Eusebius v. Caesarea (260/64–339/ 340), Origenes (185–um 254) u. Augustinus (354–430) wird die Schuld am Tod Christi den Juden zugeschrieben. V.a. im Mittelalter wird dieser Vorwurf immer wieder bekräftigt, er wird zu einer offen judenfeindl. Tradition u. ist Anlass für antisemitische Exzesse. abergläubischer Fabeln des Mittelalters von allerlei jüdischen Untaten: Aberglaube, mhd. abergloube. Seit dem 13. Jh. auch „Missglaube“ u. „Afterglaube“. Die Zusammensetzung des Begriffs ‚Glaube‘ mit ‚aber‘ führt v. den Bedeutungen „nach“, „wider“, „hinter“ zu den abschätzigen Bewertungen „neben“ u. „schlechter“. A. ist nach dieser Vorstellung ein irriger Glaube an übernatürl. Kräfte, der v. den christl. Vorstellungen abweicht. / Fabel, lat. fabula, dt.: „Geschichte“, „Sage“, „Erzählung“. N. verwendet den Begriff F. hier in der Bedeutung v. „Erfindung“, „Legende“ o. „Lügengeschichte“. / Jüdische Untaten, N. verweist hier auf antisemitische Stereotype u. Verdächtigungen wie den Vorwurf des Wuchers, den Ritualmordvorwurf o. die Weltverschwörungslegende. Regeldetri-Berechnung: Regeldetri, v. frz. règle de trois bzw. règle de tri aus lat. regula de tribus (numeris), dt.: „Richtschnur v. den drei (Zahlen)“. In der Mathematik ältere Bez. für den Dreisatz, bei dem aus drei bekannten Parametern ein vierter, bis dahin unbekannter bestimmt werden kann. „Das Judentum erleidet“: Überarbeitete Version N.s.
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Schalet und selbst mit Trüffeln: Schalet, jidd. Tscholent o. Tschulent. Bez. für ein meist aus Fleisch u. Bohnen bestehendes typisches Sabbat-Gericht mit den Grundbestandteilen Kartoffeln, Fleisch, Bohnen u. Graupen; Verbreitung in vielen regionalen Variationen. Etym. entweder zu frz. chaud, dt.: „heiß“, u. frz. lent, dt.: „langsam“, o. zum lat. Partizip calens, Akk. calentem, dt.: „heiß werdend“. Vor Beginn des Sabbats, des wöchentl. jüdischen Ruhetags, wird freitags der Sch. gekocht u. bei geringer Hitze bis zum Mittagessen am Samstag warmgehalten, um dadurch dem rituellen Arbeitsverbot am Sabbat zu entsprechen. / Trüffel, frz. truffe, v. altprov. Truffa, aus lat. tuber, dt.: „Geschwulst“, „Wurzelknolle“. Tuber ist eine Gattung der Schlauchpilze, die in mehreren Arten in Symbiose mit Laubbäumen in mediterranen Wäldern vorkommen u. einen kostbaren Fruchtkörper hervorbringen, der als Speise- o. Gewürzpilz hochgeschätzt wird. V. N. wird T. als Synonym für luxuriösen Lebensstil verwendet. vertieren: Trans. u. intrans. Verbum, nachweisbar seit 1677 in der Bedeutung „zum Tier werden o. machen“. Hier i. S. v. „einem Tier in seinem Wesen ähnlich werden“, „seine Menschlichkeit verlieren“. rhachitischen Zwergen: Rachitis, veraltet auch: Rhachitis o. englische Krankheit. Griech. ῥάχις, dt.: „Rückenstück“, „Rückgrat“, „Wirbelsäule“. Durch den Mangel an Vitamin D hervorgerufene Erkrankung mit mangelhafter Mineralisierung des Knochengewebes, die v. a. bei Säuglingen u. Kleinkindern eine Verformung der Knochen hervorruft, die zu Kleinwuchs führt. Palästina, dem Hauran und Syrien: Hauran, Bez. für die Vulkanlandschaften Südsyriens u. Nordjordaniens. Durch die Migrationsbewegungen v. Drusen aus dem Libanon im 19. Jh. werden die nach den Migranten benannten südsyr. Ebenen um den Djebel Drus wg. des fruchtbaren Bodens zur Kornkammer Syriens. N. umreißt hier geograf. nicht exakt die Gebiete, die in seinen Augen im Osman. Reich für eine jüdische Besiedelung in Frage kommen könnten. Kaftanjuden: Kaftan. Kaftanjude wird v. N. als Antonym zu Krawattenjude verwendet. Während der Kaftan v. a. bei orthodoxen Gemeinden in Osteuropa üblich ist, ist bei Juden Westeuropas mit starker Assimilation an die christl. Kultur eher die Kleidung der nichtjüdischen Umwelt gängig. fettigen Schläfenringeln: → 443 vogelfreien: Seit dem 16. Jh. feststehender Begriff für die Recht- u. Schutzlosigkeit eines Geächteten, vermutl. in Bezug darauf, dass ein Vogel demjenigen gehört, der ihn fängt, o. dass ein Vogelfreier den gleichen rechtl. Status hat wie ein Gehenkter, der den Vögeln zum Fraß vorgeworfen wird. das goldene Zeitalter: Antike Vorstellung eines vorzivilisator. Urzustands, in dem die Menschen im Einklang mit sich u. der Natur lebten u. die bescheidenen Bedürf-
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nisse eines jeden erfüllt wurden. Damit verbunden ist die Hoffnung auf ein künftiges goldenes Zeitalter, in dem die ursprüngl. Harmonie aller, geläutert durch die Erfahrung v. Entfremdung u. Zersplitterung, wiederhergestellt ist. vaterlandslose Fremdlinge: → 434 Geld- und Blutsteuer: Geldsteuer, urspr. i. S. v. „Unterstützung“, „Beitrag“, dann die „in Geld entrichtete Steuer“. / Blutsteuer, veraltet, Unterstützung des Staatswesens bei militär. Aufgaben durch das Abstellen eines männl. Familienmitgliedes für den Wehrdienst. Kamtschatka: Gebirgige, stark durch Vulkanismus geprägte, sehr dünn besiedelte Halbinsel in Nordostasien zw. Beringmeer u. Ochotskischem Meer im Nordpazifik. Chiwa oder Bochara: Chiwa, auch: Xiva. Stadt im heutigen Usbekistan an der alten Seidenstraße. Nach der Errichtung der russ. Protektoratsherrschaft 1873 bekannt für traditionelles Kunsthandwerk wie Keramik, Teppichherstellung u. Seidenweberei sowie für zahlreiche meisterl. verzierte Denkmäler orientalischer Architektur. / Buchara, auch: Buxoro. Südöstl. v. X. gelegene Gebietshauptstadt in Usbekistan, bedeutendes Zentrum für Kunsthandwerk, Seiden- u. Teppichweberei. Zahlreiche Gebäude in traditioneller, zentralasiatischer oriental. Architektur mit schmückenden bunten Kacheln. N. erwähnt diese beiden Städte, um diametrale Beispiele zur westeuropä. Kultur, Architektur u. Zivilisation zu verwenden. Reich Kasimirs des Großen: Kasimir III., gen. der Große (poln. Kazimierz III Wielki, 1310–1370), poln. König. K. strebt eine Vereinheitlichung im Rechtswesen an u. reformiert die Zoll- u. Steuerpolitik. 1364 Gründung der Universität Krakau. 1334 Erlass v. Judenprivilegien, die 1336 u. 1367 bekräftigt werden. Diese Generalprivilegien regeln die jurist. u. ökonom. Stellung der Juden u. verleihen den Gemeinden relativ große Autonomie. spektralanalytisch: Mithilfe der chemisch-physikal. Methode der Spektralanalyse lassen sich die chem. Elemente bestimmen, aus denen ein Stoff zusammengesetzt ist. Dabei wird mit einer Apparatur das abgestrahlte Licht eines Stoffes gebrochen bzw. gebeugt u. erscheint so abhängig v. der Wellenlänge der Strahlung als spezifisches Spektrum, dessen Werte einzelnen Elementen zugeordnet werden können. Süßkind: Süßkind v. Trimberg, fränk. Spruchdichter der 2. Hälfte des 13. Jh.s. In der Großen Heidelberger Liederhandschrift werden unter seinem Namen zwölf Strophen in sechs Tönen überliefert. Die Texte u. die Darstellung mit spitzem, gelbem Judenhut lassen eine jüdische Herkunft vermuten; diese Zuordnungen werden in der Forschung jedoch kontrovers beurteilt. Manesse’sche Handschrift: Auch: Große Heidelberger Liederhandschrift o. Codex Manesse. Bedeutende u. überaus reich illustrierte mittelhochdeutsche Liederhand-
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schrift auf Grundlage einer namensgebenden Sammlung des Züricher Patriziers Rüdiger Manesse (vor 1252–1304) aus der 1. Hälfte d. 14. Jh.s. Jude Jacoby: Johann Jacoby (1805–1877), dt. Arzt, Politiker in Preußen u. Vorkämpfer der Judenemanzipation. 1833 Veröffentlichung der Schrift Über das Verhältnis der Juden zum Staate, Gegenschrift gegen Herrn Geheime Rat Streckfuß, in der er gegen eine nur schrittweise Emanzipation der Juden opponiert. Mit der Veröffentlichung der Flugschrift Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen (1841) leitet er in Preußen eine öffentl. Verfassungsdebatte ein. Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung (1848/1849) u. ab 1863 im Preuß. Abgeordnetenhaus. Als Verfechter linker Ideen bekämpft er entschieden die Politik Bismarcks u. schließt sich 1872 der Sozialdemokratie an. Simson und Rießer: Martin Eduard v. Simson (1810–1899), dt. Jurist u. Politiker jüdischen Glaubens, 1823 evangel. getauft, adlig seit 1888. 1848–1849 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, seit dem 18.12.1848 deren Präsident. Auch S.s Bruder, der Jurist Georg Bernhard Simson (1817–1897), ist Mitglied der Nationalversammlung. Ab 1859 Mitglied des Preuß. Abgeordnetenhauses, Mitglied des Reichstags (1867–1876) u. 1867–1874 Reichstagspräsident. Verdienste um die Einrichtung eines selbstständigen u. unabhängigen Reichsgerichtes als Parlamentarier der Frankfurter Nationalversammlung. Erster Präsident des Reichsgerichtes in Leipzig (1879–1891). / Gabriel Riesser (1806–1863), dt. Jurist u. Politiker jüdischen Glaubens. Hrsg. der Zeitschrift Der Jude (1832–1835), in der er für die rechtl. Gleichstellung der Juden kämpft. Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung (1848–1849), in seiner ‚Kaiserrede‘ am 21.3.1849 spricht er sich in der Paulskirche für das konstitutionelle, erbl. Kaisertum aus. Ebenso wie S. Mitglied der Delegation der Paulskirche, die im April 1849 König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) die dt. Kaiserkrone anträgt. Ab 1860 Obergerichtsrat u. erster jüdischer Richter Deutschlands. ersten deutschen Parlament in der Paulskirche: Vom 18.5.1848 bis zum 30.5.1849 tagt in Frankfurt a. M. das verfassungsgebende Parlament, die Frankfurter Nationalversammlung. Nach ihrem Versammlungsort, der Frankfurter Paulskirche, wird sie auch Paulskirchenversammlung o. -parlament genannt. Der Deutschen Nationalversammlung gehören etwa 600 Mitglieder an, v. denen ca. 400 ständig an den Sitzungen teilnehmen. Getragen v. gesamtnationalem Ideengut u. dem Bestreben, eine gesamtnationale Volksvertretung zu schaffen, ist die Mehrheit der Abgeordneten liberalen Ideen verpflichtet. Die Aufgabe der Frankfurter Nationalversammlung ist die Schaffung einer Verfassung, die einen gesamtdt. Bundesstaat an die Stelle des Deutschen Bundes setzen soll. Am 27.12.1848 tritt das Gesetz über die Grundrechte des Deutschen Volkes in Kraft, das Vorbild für spätere dt. Verfassungen ist. Durch die Ablehnung der dt. Kaiserkrone durch König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) am
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3.4.1849 (endgültig am 28.4.1849) scheitert die am 28.3.1849 in Kraft gesetzte Reichsverfassung, woraufhin die meisten dt. Staaten ihre Abgeordneten abziehen. Norddeutschen Reichstages: Norddeutscher Bund, durch Otto Eduard Leopold Fürst v. Bismarck-Schönhausen (1815–1898) 1866 geschaffener Bundesstaat unter Ausschluss Österreichs, der anstelle des Deutschen Bundes Preußen u. 17 norddt. Kleinstaaten umfasst. Zu Beginn des Dt.-Frz. Krieges 1870/1871 schließen sich die süddt. Staaten dem Norddeutschen Bund an, der durch den Reichstagsbeschluss vom 10.12.1870 in „Deutsches Reich“ umbenannt wird. Der Jurist Martin Eduard v. Simson (1810–1899) überbringt am 18.12.1870 dem preuß. König Wilhelm I. (1797–1888) in Versailles die Bitte des Reichstags des Norddeutschen Bundes um Annahme der Kaiserwürde. ersten Deutschen Kaiser aus dem Hause Hohenzollern: Hohenzollern, Berg am Rand der Schwäb. Alb. Sitz des Stammschlosses der seit 1061 belegbaren Grafen v. Zollern, ab dem 14. Jh. „Hohenzollern“. 1214 Aufteilung in eine schwäb. u. eine fränk. Linie. Aus der fränk. Linie entstammt das Haus Brandenburg-Preußen. Erster Deutscher Kaiser a. d. H. Hohenzollern ist Wilhelm I. (Wilhelm Friedrich Ludwig v. Preußen, 1797–1888), der am 18.1.1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses zum Kaiser proklamiert wird. Förderer der Integration der Einzelstaaten u. Festigung des monarch. Gedankens im Inneren. Lasker: Eduard Lasker (1829–1884), dt. Jurist, Politiker u. Publizist. Vertreter liberalen Gedankengutes, 1865–1879 Mitglied des Preuß. Abgeordnetenhauses als Mitglied der Fortschrittspartei u. ab 1866 der Nationalliberalen Partei. Mitglied des Reichstags (1867–1884) u. Unterstützer der dt. Einigungspolitik Otto Fürst v. Bismarcks (1815–1898). Maßgebl. Mitwirkung an der Wirtschaftsgesetzgebung (1872) u. Justizgesetzgebung (1876) des Deutschen Reiches. Ab 1873 wg. seiner jüdischen Herkunft zunehmend Opfer antisemitischer Angriffe, die 1880 zu seinem Austritt aus der Nationalliberalen Partei führen. Obwohl er polit. Gegner der Sozialdemokratie ist, widersetzt er sich dem Sozialistengesetz Bismarcks, das am 21.10.1878 vom Reichstag verabschiedet wird. Aschenbrödel: → 456. V. N. hier i. S. v. „Stiefkind“, „vernachlässigtes Kind“ verwendet. Nibelungenstadt Worms: In dem vermutl. um 1200 entstandenen mhd. Heldenepos eines namentl. nicht verifizierbaren Dichters, dem Nibelungenlied, wird Worms als Mittelpunkt eines Königreiches der Burgunder in der ersten Hälfte des 5. Jh.s dargestellt u. ist zentraler Handlungsort des ersten Teils des Epos. Worms (jidd. Wermajze) ist zudem neben Speyer (jidd. Schpira) u. Mainz (jidd. Magenza), die aufgrund ihrer kooperierenden jüdischen Gemeinden akronymisch als SchUM-Städte bez. werden, sowie Köln u. Trier Sitz einer der ältesten jüdischen Gemeinden in Deutschland u. ein wichtiges Zentrum aschkenas. Kultur.
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Straßburg: Das histor. Str. mit zahlreichen ästhetisch bedeutsamen Fachwerkbauten liegt zw. den beiden Armen des Flusses Ill u. wird v. dem 1176 bis 1439 errichteten Straßburger Münster (frz. Cathédrale Notre-Dame de Strasbourg) überragt. Str. ist als Universitätsstadt (ab 1621) u. frühes, wichtiges Buchdruckzentrum für N. ein bedeutsames Beispiel für eine Stadt, die bei auswandernden Juden Heimwehgefühle auszulösen vermag. Seit dem späten 12. Jh. ist in Str. eine jüdische Gemeinde nachweisbar, die nach mehreren Vertreibungen im 18. Jh. neu gegründet wird. auf den Engländer Disraeli: Benjamin Disraeli, I. Earl of Beaconsfield, brit. Schriftsteller u. Staatsmann (1804–1881). Bis zur Konvertierung v. D.s Vater (1871) zum anglikan. Christentum jüdischen Glaubens. Ab 1837 Abgeordneter für die konservative Partei im Unterhaus. Zweimal Premierminister (1868 u. 1874–1880). Bestreben, das brit. Imperium außenpolit. zu konsolidieren, im Inneren Bemühungen um eine Verbesserung des Gesundheitswesens u. des Gewerkschaftsrechts. Themen der Romane D.s (ab 1820): aktuelles polit. Tagesgeschehen u. die durch die Industrielle Revolution evozierten sozialen Probleme. Werke u. a. Contarini Fleming (1832), Coningsby, or the New Generation (1844) u. Sybil, or The Two Nations (1845). Luzzatti: Luigi Luzzatti (1841–1927), ital. Jurist, Ökonom, Politiker u. 1910–1911 Premierminister Italiens. Befürworter des Gedankens der Genossenschaften u. Eintreten für die Verbreitung der Volksbanken. Zweiter ital. Regierungschef jüdischen Glaubens. Eintritt für religiöse Toleranz, u. a. durch die Schrift Dio nella libertà (1926, dt.: „Gott in Freiheit“). Ottolenghi: Giuseppe Ottolenghi (1838–1904), ital. General, Politiker u. Minister. Erster ital. Jude im Generalstab. Crémieux: Isaac Adolphe Crémieux (geb. als Isaac Moïse Crémieux, 1796–1880), frz. Jurist, Journalist u. Politiker. Repräsentant des 1808 v. Napoleon Bonaparte (1769– 1821) geschaffenen Consistoire central israélite (dt.: „Konsistorium“). Frz. Justizminister 1848 u. 1870/1871. Einsatz für polit. u. soziale Emanzipation der Juden. 1860 Gründer der Alliance Israélite Universelle, einer jüdischen Hilfsorganisation. Die AIU fördert das jüdische Schulwesen u. kämpft gegen Antisemitismus, um die Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung Europas zu stärken. Peterspfennig: Lat. Denarius Sancti Petri. Benannt nach der Hauptkirche des Papstes, dem Petersdom in Rom, ital. Basilica Papale di San Pietro in Vaticano. Erstmals unter König Offa v. Mercia (757–796) geleistete, freiwillige jährl. Abgabe des engl. Königs an den Papst. Ab dem 12. Jh. wird der P. in Skandinavien, Polen, Ungarn u. in Teilen Russlands eingezogen. Im 16. Jh. werden die Zahlungen eingestellt, ab 1860 wird der P. unter dem Pontifikat Pius IX. (1792–1878) wiederbelebt. denunziert: Denunziation, lat. denuntiatio, dt.: „Ankündigung“, „Anzeige“, „Androhung“. Negativ konnotierte Bez. für eine verleumderische Anzeige.
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204 Männer: → 438 Ackerbaukolonien Palästinas: 1870 wird v. dem frz. Zionisten Charles Netter (1826– 1882) als Repräsentanten der Alliance Israélite Universelle in der Nähe des heutigen Tel Aviv die erste Landwirtschaftsschule, Mikwe Israel (hebr., dt.: „Hoffnung Israels“), gegründet. 1878 gründen Siedler aus Jerusalem im Osten des heutigen Tel Aviv die Siedlung Petach Tikwa, eine erste Bauernsiedlung (hebr. Moschawa) nach dem Vorbild mitteleuropä. Dörfer. Es erfolgen bis zur Wende zum 20. Jh. um die dreißig weitere Gründungen landwirtschaftl. Siedlungen, die teilweise auf finanzielle Unterstützung v. Mäzenen wie Baron Edmond Benjamin James de Rothschild (1845–1934) angewiesen sind. Jargon: → 443 Argentinien: → 428 Gauchos: Span. gaucho, dt.: „berittener Viehhirte“. In den südamerik. Grassteppen, den Pampas, anzutreffende Hirten, die im Dienst v. reichen Viehzüchtern stehen. Häufig Nachkommen eines europäischstämmigen u. eines indigenen lateinamerik. Elternteils, die bereits früh v. den span. Eroberern das Pferd als Fortbewegungsmittel übernehmen. jüdische Kolonialbank: Theodor Herzl (1860–1904) regt 1897 während des I. Zionistenkongresses die Gründung einer Jüdischen Kolonialbank an. Im folgenden Jahr werden in Köln die ersten Schritte zu ihrer Einrichtung unternommen. Am 22.3.1899 wird die J. K. unter dem Namen Jewish Colonial Trust (JCT) in London gegründet. Sie stellt das finanzielle Instrument der zionistischen Bewegung dar.
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11 II. Kongressrede Quelle: ZS1, S. 58–76, dort mit Datierung: Basel, 28. August 1898.
II. Kongressrede: Der II. Zionistenkongress in Basel findet vom 28.–31.8.1898 mit 349 Delegierten statt. Vornehml. Ziel ist die Anerkennung der Zionistischen Organisation. Ebenso wird die Gründung einer jüdischen Kolonialbank angeregt; der Jewish Colonial Trust wird daraufhin 1899 in London registriert. Gesetzes, das die Juden aus dem Schankwirtsgewerbe ausschließt: Die unter Zar Alexander III. (1845–1894) begonnenen Restriktionen gegen Juden werden unter Zar Nikolaus II. (1868–1918) durch weitere antijüdische Gesetzgebungen verschärft. Durch die Einführung des Gesetzes über das Staatsmonopol des Spirituosenhandels (1894) wird den Juden die Pächtertätigkeit in Dörfern sowie der Ausschank alkohol. Getränke verboten. Zugang zu den höheren Bildungsanstalten: Durch eine 1897 im Russ. Reich eingeführte Schulnorm wird der prozentuale Anteil der jüdischen Studenten fakultätsweise zugeteilt, um einen höheren Anteil v. Juden in der medizin. u. jurist. Fakultät zu verhindern. Juden wird zudem der Zugang zum Staatsdienst untersagt. Einer der höchsten Würdenträger des Reiches: Der Jurist, hohe Staatsbeamte u. bedeutende Vertreter des russ. Konservatismus Konstantin Petrovič Pobedonoscev (1827–1907) ist Erzieher der Zaren Alexander III. (1845–1894) u. Nikolaus II. (1868– 1918). P. wird nach einer Professur für Zivilrecht (1860–65) 1868 Senator in St. Petersburg, 1874 Mitglied des Kaiserl. Staatsrates (Reichsrat) u. 1880–1905 Oberprokuror des Heiligen Synods, was ihn realiter zum Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche macht. Seinen großen Einfluss auf die regierenden Zaren verwendet er zur Durchsetzung seiner autokrat. Ziele. Dem Gedanken des Panslawismus folgend setzt er eine Russifizierung der vom Zarenreich abhängigen Völker durch u. fördert durch staatl. Maßnahmen die Unterdrückung u. Entrechtung der jüdischen Bevölkerung. N. bezieht sich auf eine Begegnung P.s mit einer Delegation des Pariser Komitees der Jüdischen Kolonisationsgesellschaft (JCA), die für die Gründung landwirtschaftl. Kolonien für Juden wirbt. Bukarest und Galatz: Die Regierung unter dem rumän. König Karl I. (geb. als Karl Eitel Friedrich Zephyrinus Ludwig v. Hohenzollern-Sigmaringen, 1839–1914) lässt antisemitischen Agitatoren, die sich 1895 in der Antisemitischen Allianz u. der Antisemitischen Liga (rumän. Liga Antisemită Universală) zusammenschließen, freie Hand. In deren Statuten werden die Mitglieder verpflichtet, den Juden das Leben im Königreich Rumänien (rumän. Regatul României) unerträglich zu machen u. so deren Auswanderung zu fördern. Die antisemitische Grundstimmung entlädt sich im November 1897 u. in den Folgejahren in Straßenpogromen u. Plünderungen in Bukarest u. Galatz.
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Galizien: → 439 Aufklärung: Europä. geistige Strömung u. kulturgeschichtl. Epoche des 17. u. besonders des 18. Jh.s, die sich auf der Basis v. Vernunft, Rationalismus u. Fortschrittsglauben gegen Vorurteile, Aberglauben u. Autoritätsdenken wendet. Für N. einflussreiche geistige Bezugspunkte sind Immanuel Kant (1724–1804) u. v. a. als Vertreter der jüdischen A. (hebr. haskala) Moses Mendelssohn (1729–1786). In Meine Selbstbiographie bez. N. seinen Vater als typ. Maskil (dt.: „Aufgeklärter“) u. erklärt so die eigene Denkausrichtung. „Tod den Juden!“: → 461 Erklärung der Menschenrechte: N. bezieht sich auf die folgenreichen Veränderungen durch die Frz. Revolution (1789–1799). Am 26.8.1789 verkündet die frz. Nationalversammlung die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (frz. Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen), einen Basistext für Freiheit u. Demokratie in Frankreich. Beispiel der gesetzlichen Gleichstellung der Juden: Am 22.8.1789 erörtert die frz. Nationalversammlung die Frage einer Gleichstellung v. Juden in Frankreich. Am 27.9.1791 fasst die Nationalversammlung den Beschluss der völligen Gleichberechtigung aller frz. Juden. Ghettomauern: → 439 Crémieux'schen Verordnung: Frz. Decrét Crémieux. Eine nach dem frz. Politiker u. Repräsentanten des Consistoire central israélite Isaac Adolphe Crémieux (geb. als Isaac Moïse Crémieux, 1796–1880) benannte Verordnung vom 24.10.1870, die dieser als Justizminister erlässt. Da sich Frankreich 1870/71 im Krieg mit Deutschland befindet, unterzeichnet Cr. als Mitglied des Gouvernement de la Défense nationale in Tours das Dekret 136, wonach ca. 35.000 Juden in der damaligen frz. Kolonie Algerien die frz. Staatsbürgerschaft verliehen bekommen. Es führt bei den sich diskriminiert fühlenden alger. Muslimen zu einem stärker werdenden arab. Antisemitismus. Fall Dreyfus: → 453 Märchen von einem sogenannten jüdischen Syndikat: Syndikat, griech. σύνδικος (dt.: „Verwalter einer Angelegenheit“), hier pejorativ in der Bedeutung „als geschäftliches Unternehmen getarnte Vereinigung v. Kriminellen“ bzw. (v. a. in Bezug auf das Bankenwesen) „Konsortium“. Der frz. antisemitische Journalist Édouard Drumont (1844–1917) veröffentlicht 1886 in zwei Bänden das Werk La France Juive (dt. Ausg.: Das verjudete Frankreich. Versuch einer Tagesgeschichte. Zwei Teile, 1886/ 87), in welchem er die Theorie einer Verschwörung v. Juden u. Freimaurern gegen das kathol. Frankreich entwickelt. Seine antisemitische Agitation setzt er in der v. ihm hrsg. Zeitung La Libre Parole fort u. verbreitet die Legende, ein ‚jüdisches Syndikat‘ o. ‚Dreyfus-Syndikat‘ kaufe die Presse in ganz Europa u. die Richter des Beru-
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fungsgerichtes, was v. zahlreichen Anti-Dreyfusards bereitwillig aufgenommen wird. Blutmärchen: Ritualmordvorwurf, seit dem Mittelalter nach dem Auffinden v. Kindesleichen regelmäßig als antisemitische Hetze vorgebrachte Unterstellung, Juden würden Kinder ermorden, um an ihnen die Passion Christi nachzuvollziehen o. das Blut der Opfer zur mag. Entsühnung zu verwenden. Der R. führt häufig zu Massakern u. Pogromwellen. Physiognomie: → 460 Bernard Lazare: Eigentl. Lazare Marcus Manassé Bernard (1865–1903), frz. Journalist, Autor u. Anarchist. Mitarbeiter bei La Nation, L'Evénement, L'Echo de Paris, Le Journal u. Figaro. Während der Dreyfus-Affäre ist L. v. der Unschuld des Hauptmanns überzeugt. Wichtige Werke: L'Antisémitisme, Son Histoire et Ses Causes (1894), Une Erreur Judiciaire: La Vérité sur l'Affaire Dreyfus (1896) u. Comment on condamne un innocent: l'acte d'accusation contre le capitaine Dreyfus (1898). Anhänger der zionistischen Bewegung, distanziert sich aber später wg. differierenden Ansichten v. der Leitung des Jewish Colonial Trust. Jacques Bahar: 1858–unbek., frz. Soziologe, Journalist u. Zionist. Leidenschaftl. Unterstützer der Dreyfusards. Übersetzer der wesentl. Ergebnisse des zweiten Zionistenkongresses ins Frz., mehrere Veröffentlichungen in der zionistischen Monatsschrift Le Flambeau. B. vertritt einen strikt antiassimilator. Kurs u. plädiert für die Pflege genuin jüdischer Werte. Im zionistischen Aktionskomitee vertritt er die Juden aus Algerien, Afrika u. Asien. Josef Reinach: Joseph Reinach (1856–1921), frz. Politiker u. Journalist. Publiziert in La Revue des Deux Mondes u. La Revue Britannique. Unterstützer v. Dreyfus, setzt sich während des Prozesses für eine öffentl. Anhörung ein u. betreibt 1897 eine Revision des Falles. Emil Zola: Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840–1902), frz., dem Naturalismus zuzuordnender Schriftsteller u. Journalist. Das Hauptwerk bildet der zwanzigbändige Romanzyklus Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d'une famille sous le Second Empire (1871–93), dessen theoret. Grundlagen in Le roman expérimental (1880) zusammengefasst werden. Entscheidende gesellschaftspolit. Rolle durch sein Engagement in der Dreyfus-Affäre, das letztlich zur Rehabilitierung v. Dreyfus (1859–1935) führt. In der Tageszeitung L'Aurore veröffentlicht Z. am 13.1.1898 den an den frz. Präsidenten gerichteten offenen Brief J'accuse…!, in dem er mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit die Fehlleistungen von Militär, Justiz u. Politik im Fall Dreyfus anprangert. Es folgt ein Prozess wegen Verleumdung, in dem er zu einer Haft- u. Geldstrafe verurteilt wird. 1898–1899 Exil in England, um einer Verhaftung zu entgehen.
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Picquart: Marie-Georges Picquart (1854–1914), frz. Offizier, Kriegsminister u. Dreyfus-Unterstützer. Beauftragt, weitere Beweise gegen den bereits verurteilten Dreyfus (1859–1935) zu finden, entdeckt er 1895 dessen Unschuld, die gefälschten Beweise u. den wahren Verräter, Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy (1847–1923). Zunächst wg. Verleumdung angeklagt u. verurteilt, wird er erst 1906 im Zuge der Rehabilitierung v. Dreyfus freigesprochen u. zum Brigadegeneral befördert. Scheurer-Kestner: Auguste Scheurer-Kestner (1833–1899), frz. Naturwissenschaftler, Politiker u. Industrieller. Starkes Engagement zugunsten v. Alfred Dreyfus (1859– 1935) während der Affäre u. des Revisionsgesuchs. Sch.-K. regt Émile Zola (1840– 1902) an, den offenen Brief J'accuse …! zu verfassen. Trarieux: Ludovic Trarieux (1840–1904), frz. Politiker, 1895 Justizminister u. 1898 Mitbegründer der Ligue française pour la défense des droits de l'Homme et du citoyen, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Dreyfus (1859–1935) anstrebt. Tr. setzt sich bis zu seinem Tod für die Rehabilitierung v. Dreyfus ein. Georges Clemenceau: Georges Benjamin Clemenceau (1841–1929), frz. Journalist u. Staatsmann. Zunächst als Mediziner tätig, ab 1870 Bürgermeister des Pariser Stadtteils Montmartre, 1875 Präsident des Pariser Stadtrates, 1902 Senator u. ab 1906 mehrfach Minister u. Ministerpräsident. Vorkämpfer für die Revision des DreyfusProzesses, v. a. durch Artikel in der v. ihm hrsg. Zeitschrift L'Aurore. Yves Guyot: Y. G. (1843–1928), frz. Journalist, Ökonom u. Politiker. Chefredakteur beim L'Independent du midi in Nîmes. Nach polit. Engagement auf kommunaler Ebene (als Abgeordneter des ersten Arrondissements v. Paris) ist er 1889–1892 frz. Minister für öffentl. Arbeiten (frz. travaux publics) im zweiten Kabinett v. Pierre Tirard (1827–1893). Polit. engagiert er sich gegen den Sozialismus u. für den Freihandel. Unterstützer der Dreyfusards. Jaurès: Jean Jaurès (1859–1914), frz. Politiker, Reformsozialist u. Pazifist. Setzt sich als linksrepublikan. Abgeordneter in der Nationalversammlung für die Revision im Dreyfus-Prozess ein. Werke: La guerre franco-allemande (1870–1871) (1901), Histoire socialiste de la révolution française (1901). Labori: Fernand Gustave Gaston Labori (1860–1917), frz. Journalist u. Politiker. 1898 Verteidiger Émile Zolas im Prozess wg. Verleumdung aufgrund v. dessen Artikel J'accuse …! u. 1899 Verteidiger v. Alfred Dreyfus (1859–1935) im zweiten Kriegsgerichtsverfahren. Björnson: Bjørnstjerne Martinius Bjørnson (1832–1910), norweg. Schriftsteller u. Politiker. Verfasser der norweg. Nationalhymne, 1903 Literaturnobelpreis. Seit Beginn der Affäre ein treuer Unterstützer v. Dreyfus.
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Conybeare: Frederick Cornwallis Conybeare (1856–1924), brit. Theologe u. Orientalist, ab 1894 Bischof. Als Anhänger v. Dreyfus (1859–1935) schreibt er The Dreyfus Case (1898). Scheidewasser: Bez. für Salpetersäure (HNO3), da damit Gold (Au) u. Silber (Ag) getrennt werden können (Quartation). Reine Salpetersäure hat einen sehr scharfen, stechenden Geruch. Galle: N. bezieht sich vermutl. auf den sehr bitteren Geschmack v. Gallenflüssigkeit, die v. der Leber als Sekret für die Verdauung v. Fetten gebildet wird. Zigeuner: Spätmhd. zegīner o. zigīner, entlehnt aus ital. zingaro u. ung. czigány. Fremdbez. der sich selbst als Sinto (Pl. Sinti) o. Rom (Pl. Roma) benennenden Angehörigen eines über Europa verstreuten, nomadisierenden Volkes. Pejorativ für „Menschen ohne festen Wohnsitz“. Lappen: Sg. Lappe. Angehörige der Volksgruppe der Samen (Eigenbez. Samek, dt.: „Sumpfleute“), in Lappland, d. h. im Norden v. Norwegen, Schweden, Finnland u. Russland lebend. Pejorativ für „einfältiger Mensch“. Botokuden: Angehörige einer Gruppe indianischer Jäger u. Sammler im südl. Bahia, Ostbrasilien. Pejorativ für „ungebildeter Mensch mit schlechtem Benehmen“. Lorbeeren Voltaires: Voltaire (eigentl. François Marie Arouet, 1694–1778), frz. Autor u. Philosoph. Gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der europä. Aufklärung. Die L. V. sind demnach dessen Verdienste um die Vorstellung, dass im Wesen des Menschen eine in der Vernunft begründete Freiheit zur Selbstbestimmung liege u. auf dieser Basis alle Menschen gleich seien. „Gam su letoba!“: Transkription aus dem Hebr. (korrekt: Gam zû lĕ-ṭôvā) mit Übersetzung. Das Zitat stammt v. dem talmud. Gelehrten Nachum aus Gimso (auch: Gimzo). Dieser äußert sein berühmtes Zitat stets, wenn er mit Widrigkeiten o. negativen Umständen jedweder Art konfrontiert wird. Vlamen: Nach der Schlacht v. Mons-en-Pévèle 1304 zw. Frankreich u. Flandern kommt es im Folgejahr zum Friedensvertrag v. Athis-sur-Orge zw. Philipp IV., gen. der Schöne (1268–1314), u. Robert III. v. Flandern (1249–1322), der enorme Entschädigungen durch die Flamen vorsieht. Im Vorfeld des Hundertjährigen Kriegs zw. England u. Frankreich (1337–1453) fliehen Flamen in das mit Frankreich verfeindete England. Hugenotten: → 435 Cromwell: Oliver Cromwell (1599–1658), engl. Staatsmann, Feldherr u. Lordprotektor. Antimonarchist, Parlamentarier u. Kommandeur der Ironsides (dt.: „Eisenseiten“, eine Kavallerietruppe) im Bürgerkrieg ab 1644. Nach den für die Parlamentarier siegreichen Schlachten bei Marston Moor (1644) u. bei Naseby (1645) zuneh-
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mend auch polit. einflussreich. Inszeniert 1649 mit Unterstützung des Parlamentes einen Schauprozess gegen König Karl I. (engl. Charles I., 1600–1649), nimmt 1653 nach der Auflösung des Parlamentes den Titel Lordprotektor an u. ist damit de facto Diktator. Regent des Commonwealth of England (zw. 1649 u. 1660 offizielle Selbstbez. der engl. Republik). Trotz seines entschiedenen Puritanismus u. seines antikathol. Vorgehens insb. bei der Eroberung Irlands ist C. dem Gedanken der religiösen Toleranz gegenüber offen. Manasse ben Israel: M. b. I. (1604–1657), rabb. Gelehrter, Schriftsteller, Politiker u. Verleger. M. stammt aus einer marran. Familie. Rabbiner in Amsterdam, 1627 Gründung einer hebr. Druckerei. Durch den hohen Bekanntheitsgrad seiner theolog. u. philosoph.-myst. Werke Korrespondenzen mit dem Aufklärer Hugo Grotius (1583– 1645) u. dem Künstler Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669). Als polit. Unterhändler bemüht sich M. 1655 bei Oliver Cromwell (1599–1658) um günstige Bedingungen für die Wiederzulassung der seit 1290 v. Großbritannien vertriebenen Juden. Dieses Bestreben ist in M.s Schrift Vindiciae Judaeorum (1656, dt.: „Rettung der Juden“, 1782, eigentl. dt.: „Rechtsanspruch bzw. gerichtl. Inanspruchnahme v. Seiten der Juden“) niedergelegt. Sephardim: Pl., Sg. Sephard (v. Sefarad, in Obadja 1,20 genannter Aufenthaltsort der ‚Verbannten Jerusalems‘, im Hebr. übertragen aus Spanien). Bez. für die vor ihrer Aussiedlung (1492) auf der Iber. Halbinsel lebenden Juden, die sich danach in Südeuropa, Nordafrika, dem Nahen Osten, Asien, Holland u. v. a. auch England niederlassen. Bis zum 15. Jh. prägende Tradition für die Halacha; die hebr. Sprache u. Literatur, die Vermittlung griech. Philosophie (insbes. Aristoteles (384–322 v. Chr.)) u. arab. Wissenschaften. Durch originäre Interpretationen des babylon. Talmuds bestehen spezif. Unterschiede zur aschkenas. Tradition des Judentums im Ritus. Als Aschkenasim bez. man die Juden Nord-, Ost- u. Mitteleuropas mit Ausnahme der Sephardim. Georg III. die französischen Emigranten: Georg III. Wilhelm Friedrich (engl. George William Frederick, 1738–1820), König v. Großbritannien (seit 1801 v. Großbritannien u. Irland). Beendet 1763 durch den Pariser Frieden siegreich den Siebenjährigen Krieg (1756–1763) gegen Frankreich, welches an der Seite der Habsburgermonarchie, Russlands u. des Heiligen Röm. Reiches gegen das mit Preußen verbündete Großbritannien kämpft. Die vor der Frz. Revolution (1789) in Frankreich völlig rechtlosen Juden suchen zum Teil in England Schutz. Zeit der heiligen Allianz: Heilige Allianz: Auf Initiative v. Zar Alexander I. Pawlowitsch Romanow (1777–1825) nach dem Sieg über Napoleon Bonaparte (1769–1821) gegründetes Staatenbündnis zw. Russland, Österreich u. Preußen, welches am 26.9.1815 in Paris als Manifest unterzeichnet wird. Inhaltl. bedeutet sie die Verpflichtung der Unterzeichner, das Christentum zum Fundament polit. Handelns zu
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machen. Durch das Bekenntnis zum Gottesgnadentum der europä. Herrscher wird sie zunehmend zum Synonym für die Restauration. Mazzini: Giuseppe Mazzini (1805–1872), ital. Jurist, Publizist u. Freiheitskämpfer des Risorgimento. Das polit. Ziel M.s ist die Einigung der ital. Staaten u. die Selbstbestimmung der europä. Völker. Mitgliedschaft in dem Geheimbund Carbonari (ital., dt.: „Köhler“), der sich für die Einigungsbewegung des Risorgimento einsetzt. Inhaftierung, Flucht u. zwischenzeitl. Exil in der Schweiz. 1860 Unterstützung v. Giuseppe Garibaldi (1807–1882) bei dessen Zug der Tausend (ital. spedizione dei Mille) zur Befreiung Siziliens v. span. Herrschaft. 1848: Nach dem Wiener Kongress 1814/15, der nach dem Sturz Napoleon Bonapartes (1769–1821) das Gleichgewicht der europä. Großmächte wiederherstellen soll, werden weitgehend restaurative Zustände n. dem Grundsatz der dynast. Legitimität der Monarchien Europas etabliert, die deutl. Kritik vonseiten liberaler Kräfte hervorrufen. In der Folgezeit führen die in ganz Europa schwelenden Konflikte zw. Obrigkeiten, die auf dem status quo beharren, u. national-liberal gesinnten, innovationsfreudigen Reformern im Februar 1848 in Paris u. im März des gleichen Jahres im Deutschen Bund zu revolutionären Auseinandersetzungen. Zwar tritt im Mai die aus Wahlen hervorgegangene Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zusammen, dennoch gelingt es dieser nicht, sich nach der Niederschlagung aller Erhebungen gegenüber den alten Mächten auf Dauer zu behaupten. N. bezieht sich auf England, da dort eine Revolutionswelle ausbleibt u. viele Flüchtlinge aus dem revolutionären Europa aufgenommen werden. überall gehetzten und geächteten Anarchisten: Anarchist, griech. ἀναρχία, dt.: „Herrenlosigkeit“, „Mangel an Befehlshabern“, Herrschafts- bzw. Gesetzeslosigkeit, u. -ιστής, Suffix zur Bez. einer handelnden Person. Der Ökonom, Soziologe u. Sozialist Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) ist der erste, der auf die anarchist. Bewegungen des 19. Jh.s Einfluss nimmt, indem er die Abschaffung der bestehenden Eigentumsverhältnisse mit dem Ziel einer Gesellschaft ohne Staatsgewalt fordert. Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814–1876) entwickelt diese Überlegungen zu einem revolutionären Anarchismus weiter, der eine Abschaffung jedweder Gesellschaftsordnung auf der Grundlage der bedingungslosen Freiheit des Individuums vorsieht. V. a. in der 2. Hälfte des 19. Jh.s wird der Begriff Anarchie als Antonym zu staatl. Ordnung u. Legalität i. S. v. Niedergang, Demontage u. Regellosigkeit verstanden. Mit der vielfältigen polit. Ideologisierung des Begriffs A. wird dieser Ausdruck zunehmend für den jeweiligen polit. Gegner verwendet. heilige Asyl der Menschheit: Asyl, griech. ἄσυλον, dt.: „Zufluchtsort“, „Unverletzliches“. N. bezieht sich auf eine der ältesten kulturellen Institutionen, nämlich die Aufnahme u. den Schutz v. Verfolgten. Der sakrale Aspekt des A.s geht auf die antike Tradition zurück, dass ein Flüchtling sich durch das Betreten einer geheiligten Stätte unter den Schutz der dort ansässigen Gottheit stellt.
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Symptom von larviertem Antisemitismus: Larvieren zu Larve, lat. larva, dt.: „böser Geist“, „Gespenst“, „(Theater-)Maske“; larviert i. S. v. „versteckt“ o. „verkappt“. Juden die Aufnahme verweigern: 1876 gibt ein Hotel an der Küste v. Jersey in New Yorker Zeitungen bekannt, dass ab sofort Juden nicht mehr zugelassen seien. 1877 untersagt der Hotelbesitzer Henry Hilton (1824–1899) in dem Badeort Saratoga Springs, New York, dem Multimillionär u. US-amerik. Bankier dt. Herkunft Joseph Seligman (1819–1880) den Zutritt zum Grand Union Hotel. Die Diskriminierung betrifft ebenso einige Ausbildungsstätten, die Aufnahmekontingente für Schüler u. Studenten jüdischen Glaubens einführen. Stimmen von siebenzig Generationen: N. bezieht sich vermutl. auf den Zeitraum der Jüdischen Diaspora nach dem Untergang des Reiches Juda 586 v. Chr. bis zum Ende des 19. Jh.s, der exakt siebzig Generationen à 35,5 Jahre umfasst. Nach Berechnungen des dt. Pädagogen u. Statistikers Christian Heinrich Wilhelm Gustav v. Rümelin (1815–1889) beträgt 1875 eine durchschnittl. Generationsdauer in Deutschland 36,5 u. in Frankreich 34,5 Jahre. N. hätte somit einen Mittelwert angesetzt. Bankerotts: Bankerott, auch Bankrott, aus ital. banca rotta, dt.: „zerbrochene Bank“, „zerschlagener Tisch“. Aufgrund v. Zahlungsunfähigkeit eines Schuldners die Einstellung aller Zahlungen gegenüber seinem Gläubiger. Das Wort geht auf den Brauch zurück, dem Bankrotteur öffentl. seine Wechselbank zu zerbrechen. großen Pan, der tot ist: Plutarch (um 45–um 125 n. Chr.) berichtet in de defectu oraculorum (Moralia 419 B–D, dt.: „Über das Verschwinden der Orakel“), dass der ägypt. Seefahrer Thamus auf der Höhe der ion. Insel Paxos v. einer unbekannten Stimme beauftragt worden sei, auf der Höhe des Ortes Palodes zu verkünden, dass „der große Pan gestorben sei“ (griech. Πὰν ὁ μέγας τέθνηκεν). Daraufhin habe sich großes Wehklagen erhoben u. Tiberius (Tiberius Iulius Caesar Augustus, 42 v. Chr.– 37 n. Chr., röm. Kaiser) in Rom habe aufgrund dieses Geschehens Nachforschungen anstellen lassen. Muskeljudentum: Vgl. hierzu N.s Artikel Muskeljudentum → S. 136–137. achtzehn Jahrhunderte des Galuth: Hebr. Galut, dt.: „Exil“, „Verbannung“. Häufig werden die Termini Diaspora, Exil u. Galut synonym verwendet; es wird jedoch auch eine Unterscheidung zw. einem erzwungenen Dasein außerhalb des religiös-geistigen Zentrums Israel (Galut) u. einer Existenz in der Fremde aus freien Stücken (Diaspora) vorgenommen. Die erste Galut beginnt mit den Deportationen v. Juden n. Mesopotamien 722 u. 597 v. Chr., dem Beginn der Babylonischen Gefangenschaft (597–538 v. Chr.). Die zweite Galut beginnt 70 n. Chr. mit der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem durch die Römer. N. addiert die beiden Galujot ungenau zu achtzehn Jahrhunderten.
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Bar-Kochba: Bar Kochba, hebr., dt.: „Sohn des Sterns“, eigentl. Sim(e)on Bar Kosiba (gest. 135 n. Chr.). Rebell u. Anführer des zweiten großen Aufstands der Juden Palästinas, Bar-Kochba-Aufstand, gegen die Herrschaft der Römer (132–135) unter Kaiser Hadrian (eigentl. Publius Aelius Hadrianus, 76–138). Gründe für den Aufstand sind die straffe Hellenisierungspolitik Hadrians u. messian. Heilserwartungen der palästinens. Juden. Nach anfängl. großen Erfolgen werden die Aufständischen v. der röm. Militärmacht immer weiter zurückgedrängt, in der Festung Bethar eingeschlossen u. schließl. vernichtend geschlagen. Hasmonäer: Hasmonäer u. Makkabäer. Jüdisches Königs- u. Hohepriestergeschlecht aus Modin, nördl. v. Jerusalem. Beide Namen bez. die gleiche Dynastie. Die Bez. Hasmonäer leitet sich ab v. Hasmonäus, einem Vorfahren des Mattatias (gest. 167/ 166 v. Chr.), des Stammvaters der Hasmonäer u. Vaters des Judas Makkabäus (gest. 161 v. Chr.). Der Begriff H. wird verwendet, wenn die Königsdynastie zu bez. ist. Wenn die Angehörigen jener Dynastie zur Zeit des Makkabäer-Aufstandes benannt werden, spricht man v. den Makkabäern (aram. makkaba, dt.: „Hammer“). Der „glänzende“ H. bei N. ist Judas Makkabäus (hebr. Juda ha-Makkabi), der 164 v. Chr. Jerusalem erobert u. den Tempel v. heidn. Kultgegenständen reinigt. Zerstörung des zweiten Tempels: → 426 Disraeli: Verschiedene Romane D.s behandeln auch das Judentum betreffende Fragestellungen. In Coningsby werden die Juden – v. einer Figur jüdischen Glaubens, die sich durch unermessl. Reichtum, geheimes Wissen u. Macht über die Welt auszeichnet – als unzerstörbare Rasse charakterisiert. In Alroy, or the prince of the captivity. A wondrous tale (1833) träumt die Titelfigur v. der Wiedererrichtung Jerusalems als Zentrum des Judentums. George Eliot: George Eliot, Pseudonym der Autorin Mary Ann Evans (auch Mary Anne o. Marian, 1819–1880), engl. Journalistin u. bedeutende Schriftstellerin des Viktorian. Zeitalters. Kontakt zu den führenden brit. Intellektuellen der Zeit. Werke u. a. Silas Marner: The Weaver of Raveloe (1861), Middlemarch: A Study of Provincial Life (1871–72, in Buchform 1874) u. Daniel Deronda (1876). N. bezieht sich auf das letztgenannte Werk, in dem in sympathisierender Weise protozionistische Ideen dargestellt werden. Alexander Dumas Sohn: Alexandre Dumas der Jüngere (auch: Dumas fils, 1824– 1895), frz. Schriftsteller u. Dramatiker. Sohn des frz. Schriftstellers Alexandre Dumas der Ältere (1802–1870). Werke u. a. Histoire de quatre femmes et d'un perroquet (6 Bde., 1847), Le roman d'une femme (1848) u. La dame aux camélias (1848). Letzteres Werk wird 1852 dramatisiert u. durch die exakte Beobachtung der gesellschaftl. Zustände zu einem enormen Bühnenerfolg. Vermutl. Verwechslung N.s mit Alexandre Dumas dem Älteren (auch: Dumas père, 1802–1870), der mit dem unvollendeten
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histor. Roman Isaac Laquedem (1853) das seit der frühen Neuzeit geläufige Motiv des ‚ewigen Juden‘ aufgreift. 613 Gebote und Verbote des Schulchan Aruch: Hebr. Schulchan Aruch, dt.: „gedeckter Tisch“. Halachisches Kompendium des Kabbalisten u. Rabbiners Josef ben Efraim Karo (1488–1575). K. versucht, mit dem Kommentar Bet Josef die unterschiedl. halach. Meinungen zu den 613 religiösen Pflichten (Mitzwot) der Juden einer Ordnung zu unterziehen. Der Sch. A. ist eine stark komprimierte Zusammenfassung dieses Werks ohne Begründungen u. Quellenangaben u. stellt einen Leitfaden jüdischen Rechts dar. Er ist nach einem vierteiligen Prinzip aufgebaut: 1. Orach Chajim (Alltag, Sabbat, Feiertage), 2. Jore Dea (Ritualgesetze), 3. Eben ha-Eser (Ehe- u. Scheidungsrecht) u. 4. Choschen Mischpat (Straf- u. Zivilrecht). Das aufgrund v. K.s Herkunft sephardisch geprägte Kompendium wird durch den aschkenas. Krakauer Rabbiner Mose Isserles [Abkürzung für Ben Israel Lazarus] (um 1525–1572) um einen Kommentar (hebr. Mappa, dt.: „Tischtuch“) ergänzt, wodurch der Sch. A. der noch heute maßgebl. halach. Kodex des gesamten Judentums ist. Gemeindesteuer: Die jüdische Gemeinde ist nach dem Talmud bereits eine Institution der mosaischen Zeit. Ihr steht der Rat der Gemeinde (hebr. Kenischtadebule) vor, dem die Gemeindeverwaltung unterstellt ist. Eine besondere Pflicht stellt für ihn die Wohlfahrtspflege dar, v. ihm werden Richter u. Gerichtshof eingesetzt u. er entscheidet über die Höhe u. Verwendung der Gemeindesteuern. N. bezieht sich hier ausschließl. auf die Verpflichtungen des Gemeindemitgliedes gegenüber der jüdischen Gemeinde, weltl. Steuern u. Abgaben gegenüber dem jeweiligen Herrscher sind davon nicht tangiert. Synagoge: Griech. συναγωγή, dt: „Versammlung“. Ort der Versammlung u. des gemeinsamen Gottesdienstes im Judentum. Häufig auch Ort der Lehre u. Ausbildung. Versöhnungstag: Hebr. Jom Kippur (wörtl.: „Tag der Sühne“). Hoher jüdischer Feiertag, der am 10. Tag des jüdischen Monats Tischri als Fastentag begangen wird. Höhepunkt u. Abschluss der zehn Tage der Reue u. Umkehr, die mit dem jüdischen Neujahrsfest (hebr. Rosch-ha-Schana, dt.: „Haupt des Jahres“) einsetzen. Daniel Deronda: → 478 Ruhm von Kugel und Schalet: K., auch Kugl o. Kigl, Gericht der aschkenasisch-jidd. Küche in Form eines süßen o. herzhaften Auflaufs. / S., → 464. / Mit „Ruhm“ meint N. die Verbreitung durch Heinrich Heine (1797–1856), der den Kugel als „heiliges Nationalgericht der Juden“ bez. u. im Gedicht Prinzessin Sabbat (1851) frei nach Schiller (1759–1805) dichtet: „Schalet, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium!“ Sabbat-Gerichten: Sabbat → 501. Jüdische Gerichte basieren auf jüdischen Speisevorschriften, die in Bezug auf Gegenstände u. Handlungen als koscher (jidd.) gelten, sind aber variabel in Abfolge u. Zutaten. Jüdische Speisevorschriften sehen der Tho-
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ra zufolge für Gläubige vor, keine milchhaltigen Speisen mit Fleisch u. Fisch nur mit Milchprodukten o. pflanzl. Zutaten zu kombinieren. Der Verzehr v. Tieren ist nur dann gestattet, wenn sie ganz gespaltene Hufe haben u. Wiederkäuer sind, Flossen u. Schuppen haben o. domestizierte Greifvögel sind. Blutgenuss ist gänzlich untersagt, weshalb die Tiere geschächtet u. das Fleisch gewässert u. gesalzen werden muss. Spezielle Schabbat-Gerichte sind das Schabbat-Brot (Challa, Berches, Barches), gefilte Fisch, Kugel u. Schalet. „Im nächsten Jahre zu Jerusalem!“: N. nimmt Bezug auf den Wunsch L'shanah haba'ah b'Jeruschalajim! (dt.: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“) am Ende der Pessach-Seder (hebr. Seder, dt.: „Ordnung“, Kurzbez. für den Sederabend des jüdischen PessachFestes), wie er in der Haggada schel Pessach (aram. Aggada, dt.: „Erzählung“) überliefert ist. Das jüdische Familienoberhaupt ist am Seder-Abend verpflichtet, die Tradition des Erzählens des Exodus fortzuführen. jüdischer Geschichtsschreiber: Gustav Karpeles (1848–1909), dt. Historiker, Schriftsteller u. Publizist. Verfasser mehrerer Bücher über Heinrich Heine (eigentl. Harry Heine, 1797–1856). Hrsg. der Allgemeinen Zeitung des Judentums (1890–1909). Mitbegründer des Verbandes der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland (1893), ab 1898 Hrsg. des Jahrbuches für jüdische Geschichte und Literatur u. der Mitteilungen aus dem Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland (1898–1920). In der ersten Nummer des Jahrbuches (1898) werden zionistische Ideen u. der I. Zionistenkongress (1897) nicht erwähnt. ersten zionistischen Kongresses: → 438 Ein anderer Jude: N. bezieht sich auf den Prediger u. Rabbiner im schles. Glogau Dr. Benjamin Rippner (1842–1898). Auf den Artikel Protestrabbiner v. Theodor Herzl (1860–1904) anspielend (Die Welt, 16.7.1897, H. 7, S. 1) beanstandet R. in dem Artikel Ein sonderbarer Streiter für Zion (Bloch's Oesterreichische Wochenschrift, 23.7.1897, H. 30, S. 612) dessen Umgangsformen. Maulschellen: Umgangssprachl. für „Ohrfeigen“. Moses sein Volk: Der bibl. Prophet Moses ist der Mittler des Bundes zw. Gott u. Israel u. Überbringer der Thora. Als v. Gott beauftragte Autoritätsperson führt er auf einer vierzig Jahre dauernden Wanderung das Volk der Israeliten aus der ägypt. Sklaverei in das Land Kanaan, das er selbst aber nicht betreten darf. Die bibl. Erzählungen, die die Gesetzgebung u. die Wüstenwanderung thematisieren, finden sich in den Büchern Exodus, Levitikus, Numeri u. Deuteronomium. Esra und Nehemia: Das Buch Esra u. Nehemia ist Teil der Ketuvim (hebr., dt.: „Schriften“) der hebr. Bibel. Es zeigt bedeutende sachl. u. theolog. Bezüge zu den beiden Büchern der Chronik. Der Priester Esra wird v. dem pers. Großkönig Artaxerxes I. (Herrschaft 465–424 v. Chr.) n. Jerusalem beordert, um die Ordnung des Got-
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tes Israel wiedereinzuführen. Esra reorganisiert Priestertum u. Tempeldienst u. arrangiert die Rückkehr weiterer Juden aus dem babylonischen Exil. Nehemia wird 444 v. Chr. zum Statthalter v. Juda ernannt, leitet den Wiederaufbau der Stadtmauern Jerusalems, reformiert die religiösen Vorschriften u. wacht über die Einhaltung des Sabbats. Zion: → 426 Grillparzer: Franz Grillparzer (1791–1872), österr. Dramatiker u. Schriftsteller. 1832– 1856 Archivdirektor bei der Hofkammer. Werke u. a. Sappho (1818), Das goldene Vlies (1819), Die Jüdin von Toledo (1855) u. Der arme Spielmann (1848). G. vereint in seinen Dramen Einflüsse des österr. Barock, der dt. Klassik u. des Wiener Volkstheaters. Trotz einer tiefen Loyalität zu der Habsburgermonarchie werden polit. u. geistige Entwicklungen der Zeit mit Sarkasmus kommentiert. N. bezieht sich auf die erste Strophe des Gedichts Feldmarschall Radetzky (1848): „Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich! / Nicht bloß um des Ruhmes Schimmer, / In deinem Lager ist Österreich, / Wir andern sind einzelne Trümmer.“ Israel: → 444
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12 Das unentbehrliche Ideal Quelle: ZS1, S. 282–288, dort mit Verweis auf die Quelle: Hazewi, 1898.
„Blague“: Blague, frz., dt.: „Witz“, „Scherz“, „Streich“. „Hazewi“: Hebr. Hatzewi, dt.: „Gazelle“. Name einer ab dem 24.10.1884 in Jerusalem erscheinenden hebr.-sprachigen Wochenzeitung, die ab 1908 unter dem Namen Haor (dt.: „Das Licht“) bis zum Verbot durch das Osman. Reich 1914 als Tageszeitung weiter erscheint. Hrsg. ist der litau. Schriftsteller, Lexikograf u. Erneuerer der gesprochenen hebr. Sprache Elieser Ben Jehuda (eigentl. Elieser Isaak Perlman, 1858–1922). B. J.s Hauptwerk ist der Thesaurus totius hebraitatis et veteris et recentioris (1908–1959, dt.: „Gesamtwörterbuch der alt- und neuhebräischen Sprache“). B. J.s Sohn Itamar Ben-Avi (eigentl. Ben-Zion Ben-Yehuda, 1882–1943) etabliert in Hatzewi moderne Formen des Journalismus u. macht das Blatt zum Sprachrohr der jüdischen Siedlerbewegung. hübsche Anzahl Mönche: In Jerusalem als einer dem Christentum heiligen Stadt leben bereits in der Zeit des Osman. Reiches zahlreiche Mönche in Klöstern unterschiedl. christl. Konfessionen. Besonders um die Verwaltung der Grabeskirche ringen Vertreter der Griechisch-Orthodoxen Kirche, der Römisch-Kathol. Kirche, der Armenisch-Apostol. Kirche, der Syrisch-Orthodoxen Kirche, der Kopt. Kirche u. der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche. Schillers „Glocke“: Das Lied von der Glocke ist ein 1799 abgeschlossenes Gedicht des 1802 geadelten dt. Dichters, Philosophen u. Historikers Johann Christoph Friedrich Schiller (1759–1805). Inhaltl. wechseln sich Arbeits- o. Meisterstrophen mit Betrachtungs- o. Reflexionsstrophen ab. Behandeln die Meisterstrophen die handwerkl. Arbeit u. die Vor- u. Nachbereitung eines Glockengusses, so enthalten die Betrachtungsstrophen Sentenzen zum menschl. Leben. Das Werk ist eines der bekanntesten deutschsprachigen Gedichte. Zerstreuung: → 424 das messianische Versprechen: → 444 Italiener des „Risorgimento“-Zeitalters: Risorgimento. Bedeutender Protagonist des Ringens um nationale Einheit u. Freiheit in Italien ist der ital. Freiheitskämpfer u. Politiker Giuseppe Garibaldi (1807–1882). 1815 und 1866: N. datiert den Beginn des Risorgimento 1815 auf das Ende des Wiener Kongresses. Er sieht das Ende dieses Zeitalters allerdings nicht mit der Vollendung der staatl. Einheit Italiens 1870, sondern mit der entscheidenden u. siegreichen Schlacht Preußens gegen Österreich bei Königgrätz am 3.7.1866. Die Folge der Niederlage Österreichs ist dessen Abtreten Venetiens an das Königreich Italien, das im
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Frieden v. Wien zw. Österreich u. Italien am 3.10.1866 als ital. Besitz bestätigt wird. Der Frieden v. Wien beendet den Deutschen Krieg v. 1866. Spitzhut und den Dolch des Carbonaro: Carbonaro, lat. carbonarius, dt.: „die Kohlen betreffend“, „Köhler“, „Kohlenhändler“, ital. carbonaio, dt.: „Köhler“. Carbonaro, eingedeutscht Karbonaro, ist die Bez. für ein Mitglied der polit. Geheimgesellschaft Carboneria im Italien des 19. Jh.s, die während des Risorgimento für die polit. Einheit Italiens kämpft u. deren Zeremoniell dem Brauchtum der Köhler entlehnt ist. V. diesen Freiheitskämpfern wird ein weicher, breitkrempiger Filzhut, der Karbonarihut o. Kalabreser getragen. Durch den radikaldemokrat. dt. Revolutionär Friedrich Karl Franz Hecker (1811–1881), der ihn während der Bad. Revolution v. 1848/1849 trägt, ist dieser Hut im Dt. als Heckerhut bekannt. Der Dolch ist unter den C. eine häufig eingesetzte Waffe. Das Siegel des Geheimbunds zeigt eine nach einem Dolch ausgestreckte Hand. Dantes erhabene Träume: N. bezieht sich auf die Traumdarstellungen im Jugendwerk Vita Nova (auch: La Vita Nuova, entstanden 1292–95, gedr. 1576, dt.: „Das neue Leben“) des ital. Dichters u. Philosophen Dante Alighieri (1265–1321). Insgesamt 31 Gedichte unterschiedl. metrischer Bauart werden durch einen Prosakommentar in 42 Kapiteln zu einem Werk vereinigt, das die Zuneigung u. Verehrung des Dichters zu seiner Jugendliebe Beatrice poetisch darstellt. Das titelgebende Neue Leben wird durch das Unifizieren v. Träumen, Visionen u. erlebter Wirklichkeit erreicht. Die Geliebte Beatrice wird stilisiert u. exemplifiziert. Im Traum erlebt der Dichter Vorahnungen auf den gewaltsamen Tod Beatrices, die in ihm Todessehnsüchte auslösen u. die Angebetete zu einer fast hagiograf. Erlöserfigur machen. Kerker Silvio Pellicos: Silvio Pellico (1789–1854), ital. Schriftsteller u. Mitglied des polit. Geheimbundes Carboneria. Ab 1818/19 Leiter der polit. Zeitschrift Il Conciliatore (dt.: „Vermittler“, „Schlichter“, „Versöhner“). 1820 Verhaftung u. Verurteilung zum Tode, 1822 Begnadigung zu 15-jähriger Kerkerhaft in der Festung Špilberk (dt.: Spielberg/Brünn). Werke u. a. das Drama Francesca da Rimini (1815) u. die Memoiren Le mie prigioni (1832, dt.: „Meine Gefängnisse“). vom Henker zum Galgen Morellis: Michele Morelli (1790–1822), ital. Patriot u. Angehöriger der Armee des Königreichs beider Sizilien (ital. Regno delle Due Sicilie). Hinrichtung durch Erhängen zusammen mit seinem Kameraden Giuseppe Silvati (1791– 1822) am 12.9.1822 wg. Mitgliedschaft in der geheimen Gesellschaft Carboneria in Neapel. Leopardi: Giacomo Graf Leopardi (1798–1837), ital. Philologe, Dichter u. bedeutender Erneuerer der ital. Literatursprache im 19. Jh. Sein v. romant. Melancholie geprägtes Werk zeigt die Hoffnungslosigkeit, den Pessimismus u. die Zerrissenheit seiner Epoche. Werke u. a. Canti (1831, Ausgabe letzter Hand 1835), Operette morali (1827, erweitert 1834) u. Pensieri di varia filosofia e di bella letteratura (1898–1907).
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Wartburger Fest: Eigentl. Wartburgfest. Im Andenken an den Beginn der Reformation 1517, initiiert durch Martin Luther (1483–1546), u. die Völkerschlacht bei Leipzig (16.1–9.10.1813, Preußen, Österreich, Russland u. Schweden gegen die Truppen Napoleon Bonapartes (1769–1821)) lädt die Jenaische Burschenschaft am 18.10.1817 zu einer Versammlung v. Studenten, Professoren u. nicht akadem. Teilnehmern auf der Wartburg bei Eisenach. Durch die öffentl. Verbrennung absolutist. Symbole u. Reden unter dem Wahlspruch „Ehre, Freiheit, Vaterland“ demonstrieren liberal u. patriotisch gesinnte Kräfte für die dt. Nationalbewegung. Verkündigung des Kaiserreichs zu Versailles: Die frz. Kriegserklärung am 19.7.1870 an die süddt. Staaten u. den Norddeutschen Bund unter der Führung Preußens schafft das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals als dt. Nation. Nach dem Sieg über Frankreich wird das Deutsche Reich am 18.1.1871 durch den Beitritt der Großherzogtümer Baden u. Hessen u. der Königreiche Bayern u. Württemberg zum Norddeutschen Bund gegründet. Die Proklamation des Deutschen Reiches findet im Spiegelsaal des Schlosses in Versailles statt, auch um den unterlegenen Gegner Frankreich zu demütigen. „ein Sänger und ein Held“: Zugleich ein Sänger und ein Held, Titel eines Gedichts des dt. Dramatikers u. Lyrikers Johann Georg Fischer (1816–1897). F. ist v. a. bekannt für seine Reden zu Ehren Friedrich Schillers (1759–1805) zu dessen Geburtstagen. Propheten Israels: → 424 Weismann und Goette: Friedrich Leopold August Weismann (1834–1914), dt. Biologe u. Evolutionstheoretiker, Wegbereiter des Neodarwinismus. Werke u. a. Über die Berechtigung der Darwin'schen Theorie (1868) u. Über die Vererbung (1883). / Alexander Wilhelm Goette (1840–1922), dt. Zoologe u. Embryologe. Untersuchungen zur Biologie der Wirbeltiere. Werke u. a. Über den Ursprung des Todes (1883) u. Lehrbuch der Zoologie (1902). Während der 1880er Jahre tauschen W. u. G. mehrere Aufsätze zu W.s These der Unsterblichkeit einzelliger Organismen u. des Entstehens des Todes als eine Anpassung der vielzelligen Organismen (Metazoa) aus. biologischen Nutzen: → 431 ethnischer Individualitäten: Griech. ἐθνικός, dt.: „zum Volk gehörend“, u. lat. individuum, dt.: „das Unteilbare“. N. überträgt die Summe der Besonderheiten, Merkmale u. Eigenschaften, die einen einzelnen Menschen ausmachen, auf die Gruppe einer Ethnie. wohlbekannte grausame Antwort Napoleons: Napoleon Bonaparte, als Kaiser Napoleon I. (1769–1821), frz. General u. Kaiser. / N. bezieht sich auf die mit der jüdischen Emanzipation einhergehenden Bestrebungen vieler v. a. westeuropä. Juden, sich in der Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren u. damit wesentl. individuell jüdische Merkmale aufzugeben. Mit der Einführung des Consistoire central israélite (frz., dt.:
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„Konsistorium“) schafft Napoleon I. (Napoleon Bonaparte, 1769–1821) in Frankreich u. den linksrhein. dt. Gebieten die administrative Gleichstellung der Juden mit dem Ziel, die jüdische Assimilation zu fördern. Ein kalibanischer Kritiker: Caliban ist der wilde u. missgebildete Sklave Prosperos aus dem Drama The Tempest (UA 1611, Erscheinungsjahr 1623) des engl. Dramatikers u. Lyrikers William Shakespeare (1564–1616). Das Adjektiv kalibanisch ist wg. des Charakters der Figur gleichzusetzen mit einem primitiven u. rohen Menschen. transzendentale Nasführung: Transzendental, lat. transcendo, PPA transcendens, dt.: „überschreiten“, „hinübertreten“, in der Bedeutung v. „transzendent“ (übersinnlich, übernatürlich). / Nasführung, bereits in der Bibel werden durch die Nase gezogene Ringe erwähnt, die der nachhaltigen Disziplinierung dienen. In der Redewendung „jmd. an der Nase herumführen“, Synonym für anlügen o. täuschen. römische Volk: Unter dem röm. Kaiser Marcus Ulpius Traianus, gen. Trajan (53–117), erreicht das Röm. Reich 115–117 seine größte Ausdehnung und erstreckt sich über weite Teile Europas, Nordafrikas u. Vorderasiens u. dominiert somit die damals bekannte Welt. „Panem et circenses!“: Lat., dt.: „Brot und Spiele“. Der Ausdruck stammt aus der Satire 10, 81 des röm. Dichters Juvenal, lat. Decimus Iunius Iuvenalis (geb. vermutl. 67 n. Chr., gest. vermutl. unter Kaiser Antoninus Pius (86–161 n. Chr.), Kaiser ab 138): „Nam qui dabat olim / imperium, fasces, legiones, omnia, nunc se / continet atque duas tantum res anxius optat, / panem et circenses.“ (dt.: „Einst bestimmte dieses [das röm. Volk] über alles, die Herrschaft, die Ämter und die Legionen. Doch nun mäßigt es sich und wünscht ängstlich nur noch zwei Dinge: Brot und Spiele.“). Juvenal polemisiert gegen das in der Republik aktiv an der Willensbildung beteiligte röm. Volk, das mittlerweile nur noch an Unterhaltung Interesse habe.
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13 Die Aufgaben des Zionismus Quelle: ZS1, S. 320–328, dort mit Verweis auf die Quelle: Achiassaf, 1898.
Baseler Programm: Das Baseler Programm wird 1897 auf dem I. Zionistenkongress formuliert u. v. den Teilnehmern des Kongresses nach längerer Diskussion angenommen. Es hält die Ziele des polit. Zionismus in folgendem Wortlaut fest: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina[.] Zur Erreichung dieses Zieles nimmt der Congress folgende Mittel in Aussicht: I. Die zweckdienliche Förderung der Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden. II. Die Gliederung und Zusammenfassung der gesammten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen. III[.] Die Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewusstseins[.] IV[.] Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmung, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.“ und macht B'racha!: Hebr. Beracha, dt.: „Lobung“, „Segen“. Die Segnung betrifft jede einzelne Mizwa, also die Ausführung eines einzelnen religiösen Gebots, das im Talmud geregelt ist o. v. Rabbinern festgelegt wird. Der Wunsch „Hals- und Beinbruch“ bedeutet, über jidd. Broche, dt.: „Segen“, eigentl. „Hals- und Bein-Segen“. messianischen Glaubens: → 444 Galuth: → 477 Fatalisten: Fatalist, lat. fatalis, dt.: „vom Schicksal bestimmt“, „verhängnisvoll“. Bez. für einen schicksalsgläubigen o. resignativen Menschen. Lustspiel: Das Lustspiel ist als Übersetzung des griech. Begriffs Komödie eine bürgerl. u. spezifisch dt. Form des Schauspiels. „Do ut des“: Lat., dt.: „Ich gebe, damit du gibst“. Leistungsverhältnis, das auf gegenseitigem Geben u. Nehmen beruht, sowie Grundlage sozialen Verhaltens. Die antike röm. Rechtsauffassung bez. zunächst das Verhältnis zw. Mensch u. Gottheit: Die Menschen opfern den Göttern, um v. diesen im Gegenzug Leistungen zu erhalten. ökonomischen: Ökonomie, griech. οἰκονομία, dt.: „Verwaltung des Hauses“, „Haushaltung“, „Verwaltung“. Zionsunternehmen: Zion → 426 Bankbruch: Veraltet für „Bankrott“. Im übertragenen Sinn „in allen Bereichen scheitern“.
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Mesuman: Zusammenkunft dreier erwachsener (d. h. durch die bereits gefeierte Bar Mizwa religiös mündiger) jüdischer Männer. Es wird der Ascher Bara-Segen (hebr., dt.: „der erschaffen hat“) über einem Becher Wein gesprochen. Minian: → 445 Israel: → 444 Synagogenhofklatsch: → 479 (Synagoge) Kehillaintrigen: Hebr. Kehillah, auch Kahal, dt.: „Gemeinde“, „Versammlung“, Eigenbez. für eine jüdische Gemeinde. Sie ist zuständig für das Abhalten v. Gottesdiensten, das Bereitstellen u. Instandhalten ritueller Räume, die Überwachung v. Speisegesetzen u. für Beerdigungen. anarchistisch-chaotische: → 476 Irrigationsanlage: Lat. irrigo, dt.: „auf etwas leiten“, „bewässern“. Bez. für eine künstl. Vorrichtung zur Wasserversorgung v. Pflanzen sowohl durch die Zufuhr als auch durch die Wegnahme v. Wasser in der Landwirtschaft. Moses: → 480 in den wenigen Geschlechtsaltern der Pharaonischen Knechtschaft: Unter Pharao Echnaton (Geburtsname Amenophis IV., Regierungszeit 14. Jh. v. Chr.) formieren sich unter ägypt. Kontrolle die israelit. Stämme. Pharao Ramses II. (um 1303–1213 v. Chr.) zwingt Juden, an seinen Bauprojekten mitzuarbeiten; unter ihm o. seinem Nachfolger Pharao Merenptah (Regierungszeit 1213–1203 v. Chr.) fliehen die Juden im letzten Viertel des 13. Jh.s v. Chr. n. Kanaan. Ob es den bibl. überlieferten Exodus histor. überhaupt gegeben hat, wird in der Forschung bezweifelt. unter Josuas Führung die kanaanitischen Großtaten: Josua, hebr. Jehoschua ben Nun, dt.: „Josua, Sohn des Nun“, bibl. Gestalt. Als Nachfolger Moses' führt er die Israeliten bei der Besitznahme des Landes Kanaan an. Er dringt als Kommandeur v. Osten her über den Jordan in das gelobte Land ein. Nach J. ist das sechste Buch des Tanach benannt, das in enger inhaltl. Verknüpfung zum Pentateuch steht. Wunder Ezechiels: Ezechiel (auch Hesekiel), hebr. Jechezkel, neben Jesaja u. Jeremia einer der drei großen Schriftpropheten. Als histor. Persönlichkeit wirkt er um das 6. Jh. v. Chr. Er gehört zu den Israeliten, die 597 v. Chr. in die babylonische Gefangenschaft deportiert werden. In dem gleichnamigen Buch des Tanach (Ez 33–39) prophezeit Ezechiel nach dem Untergang der Feinde Judas den Wiederaufbau Jerusalems u. des Tempels. Wiederversammlung der zerstreuten dürren Knochen: N. bezieht sich auf Ez 37,4–10, wo der Prophet v. einer göttl. Vision berichtet, die ihn auf ein Knochenfeld versetzt: „Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr ver-
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dorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der HERR: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer.“ Die Körper werden sodann mit dem Volk Israel identifiziert (Ez 37,11–12). „Achiassaf“: Hebr., dt.: „mein Bruder hat eingesammelt/genommen“. Wenig verbreiteter hebr. Name. Name eines bis heute existierenden Verlags, der 1898 v. dem ukrain. Zionisten Ascher Hirsch Ginzberg (1856–1927, Pseudonym: Achad Haam, hebr., dt.: „einer aus dem Volk“) gegründet wird.
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14 Ein Brief Nordaus Quelle: Die Welt, 20.1.1899, H. 3, S. 2–4.
Herausgeber des „Haschiloach“, Herrn U. Ginzberg: Ha-Schiloach, Name einer ab 1897 auf Hebr. erscheinenden Monatsschrift. Der Name geht auf den Teich v. Siloah, hebr. Schiloach, dt.: „Sender“, „Leitungskanal“, zurück, einen Teich in Jerusalem, in den vom Berg Zion das Wasser der Gihonquelle geleitet wird u. der so die Wasserversorgung der Stadt sichert. Gründer u. Hrsg. v. Ha-Schiloach ist der ukrain. Zionist Ascher Hirsch Ginzberg (1856–1927), der meist unter seinem Pseudonym Achad Haam (hebr., dt.: „einer aus dem Volk“) veröffentlicht. Herrn Lubitzki: Wohl um seine Distanziertheit auszudrücken, nennt N. den Namen seines Kontrahenten falsch: Samuel Lublinski (1868–1910), dt. Religionsphilosoph, Schriftsteller u. Literaturkritiker. Zunächst überzeugter Zionist u. Mitarbeiter der Zeitung Die Welt, später Abkehr v. den urspr. Positionen u. Verfechter der Assimilation. zynisch (ohne Wortspiel!): Zynisch, griech. κυνικός, dt.: „hündisch“. Wg. der öffentlich zur Schau gestellten Armut u. Schamlosigkeit vergleicht man kynische Philosophen (Kynismus: antike Strömung der Philosophie ab dem 5. Jh. v. Chr.) mit Hunden. Indem N. betont, kein Wortspiel unternehmen zu wollen, vollzieht er genau dies. Aufklärung: → 471 Juvenals Vers liest: Et propter vitam vivendi perdere causas: Juvenal, lat. Decimus Iunius Iuvenalis (geb. vermutl. 67 n. Chr., gest. vermutl. unter Kaiser Antoninus Pius (86–161 n. Chr.), Kaiser ab 138), röm. Satiriker. Zitat aus J., Satiren 8/83–84: „Summum crede nefas animam praeferre pudori et propter vitam vivendi perdere causas“ (dt.: „Halte das für den höchsten Frevel, die Seele der Schamhaftigkeit überzuordnen und wegen des Lebens die Gründe zum Leben zu verlieren“). Schillers Vers: Das Leben ist der Güter höchstes nicht: Schlussverse des Chores aus dem Drama Die Braut von Messina oder die feindichen Brüder (1803) des dt. Dichters Johann Christoph Friedrich Schiller (1759–1805): „Erschüttert steh ich, weiß nicht, ob ich ihn / Bejammern oder preisen soll sein Los. / Dies eine fühl ich und erkenn es klar, / Das Leben ist der Güter höchstes nicht, / Der Übel größtes aber ist die Schuld.“ Zion: → 426 Protestrabbiner: Protestrabbiner, v. Theodor Herzl (1860–1904) geprägter, pauschaler u. polem. Begriff für Rabbiner, die dem Zionismus kritisch gegenüberstehen. Einige dt. Rabbiner formulieren im Juli 1897 in mehreren Zeitungen eine Protesterklä-
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rung gegen die Ausrichtung des I. Zionistenkongresses in Basel, z. B. der Hamburger Rabbiner Dr. David Leimdörfer (1851–1922) unter dem Titel Gegen den Zionismus in der Allgemeinen Zeitung des Judentums vom 2.7.1897 (S. 316–317). Herzl antwortet im zionistischen Zentralorgan Die Welt vom 16.7.1897 (H. 7, S. 1–2) unter dem Titel Protestrabbiner. Der Begriff wird daraufhin stereotyp v. führenden Vertretern des Zionismus für zionismuskritische Rabbiner verwendet. Frankisten-Bewegung: → 433 Messias: → 444 Mystik: → 434 Schekel: Alte semit. Maßeinheit (≈ 8,4g) u. eine jüdische Silbermünze aus der Zeit des Jüdischen Kriegs (66–70) u. des Bar-Kochba-Aufstands (132–135) gegen die Römer. Als Sch. wird auch der jährl. Mitgliedsbeitrag der Zionistischen Organisation bez., der den Zahler bei den Zionistenkongressen zur Wahl berechtigt. Aktien der jüdischen Kolonialbank: → 469 Sultans: Arab. Sulṭān, dt.: „Herrscher“, „Macht“. Bei islam. Dynastien türk. Ursprungs häufig getragener Würden- u. Herrschertitel. V. 1299–1922 Titel der Herrscher des Osman. Reiches. N. bezieht sich auf Sultan Abdülhamid II. (1842–1918), der v. 1876 bis 1909 herrscht. In seine Herrschaft fallen die v. seiner Regierung veranlassten Massaker an den Armeniern zw. 1894 u. 1896. eine lustige Anekdote: Erfundene Anekdote N.s, um die rhetor. Frage nach dem Misslingen des Zionismus ins Lächerliche zu ziehen. Schadchen: Genus mask. u. neutr., dt.: „Heiratsvermittler“, „Kuppler“, aus dem nach-talmud. hebr. šadḵān mit gleicher Bedeutung mit Überführung in die Diminutivform. Ein Jude, der gewerbsmäßig Ehen vermittelt bzw. Kuppelei betreibt. pilpulistische Spielereien: → 429
15 [Schreiben Nordaus an die Wochenschrift Hapisgah]
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15 [Schreiben Nordaus an die Wochenschrift Hapisgah] Quelle: Die Welt, 24.2.1899, H. 8, S. 10.
hebräischen Wochenschrift „Hapisgah“: Hebr. Ha-Pisgah, dt.: „Gipfel“, „Spitze“. Name einer v. Wolf Schur (1844–1910) hrsg. hebr. Wochenzeitschrift, 1889–93 in New York, Baltimore u. Boston publiziert, danach Wechsel des Verlags n. Chicago. Schnorrern: → 448 ökonomische: → 486 Gewerkshaus: Haus, in welchem ein o. mehrere Handwerksbetriebe mit jeweils einem Meister untergebracht sind.
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16 Die Juden sind Ausbeuter Quelle: ZS1, S. 332–337, dort mit Verweisen auf die Quelle und Übersetzung: Le Flambeau, 1899. Aus dem Französischen. Ferner in: Die Welt, 17.3.1899, H. 11, S. 1–2.
Schmarotzer: Spätmhd. smorotzen, dt.: „betteln“, mit unklarer Herkunft, i. S. v. „auf Kosten anderer leben“ mit dem Nebensinn des Heuchlerischen. In der antisemitischen Propaganda der 2. Hälfte des 19. Jh.s wird der Begriff Sch. durch den dt. antisemitischen Philosophen Karl Eugen Dühring (1833–1921) u. den dt. Historiker Heinrich Gotthardt v. Treitschke (1834–1896) in Verbindung mit Juden gebracht, die angebl. in parasitärer Lebensweise vom Blut ihres „Wirtsvolkes“ leben. „Arier“: → 459 geltende Scheidemünze: Scheidemünze, auch Schiedmünze, veraltet, kleine Münze, um feine Unterschiede machen zu können. Wechselgeld, um Käufer u. Verkäufer in Kleinigkeiten scheiden zu können, i. S. v. „trennen“, „abgrenzen“. Bei Scheidemünzen ist im Gegensatz zu Kurantmünzen der tatsächl. Metallwert geringer als der aufgeprägte Nominalwert. Er streicht Backsteine: Lehmziegel als in Form gestrichene Quader sind neben Holz, behauenen Steinen u. Fasern das älteste Baumaterial der Menschheit. Ab 6.300 v. Chr. werden sie im Zweistromland hergestellt. allgemeine Pfandleiher: Berufsbez. für jmd., der verzinsl. Kredite gegen Hinterlegung eines Gegenstandes, der als Sicherheit für eine Forderung gilt, ausgibt. Im hohen Mittelalter u. der beginnenden Neuzeit ist es Christen verboten, Zinsen zu nehmen, u. umgekehrt sind Juden in den Handwerkerzünften nicht zugelassen u. damit aus dem Warenhandel verdrängt. Daher ist es v. a. das Geld- u. Kreditwesen, das Juden als Betätigungsfeld bleibt. Antisemitische Vorurteile stammen aus dieser Zeit, obwohl die jüdischen Pfandleiher enorme Steuersummen an Kaiser, Fürsten u. Städte abführen. Kirchenverbot des Wuchers: Vgl. vorangehendes Lemma. Hohlnadel: Veralteter Ausdruck für Kanüle (frz. canule, dt.: „kleines Rohr“). Mithilfe der H. werden u. a. Flüssigkeiten gespritzt o. abgesogen u. Gewebeproben entnommen. Shylock: Figur aus William Shakespeares (1564–1616) Drama Der Kaufmann von Venedig (1600, UA 1605, engl. The merchant of Venice). Sh. ist ein jüdischer Wucherer u. repräsentiert den antijüdisch intendierten Typus des jüdischen Schurken. Im Drama fordert Sh. v. einem Schuldner ohne Rücksicht sein Anrecht auf ein Stück von dessen Fleisch.
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Shakespeare: William Shakespeare (1564–1616), bedeutender engl. Dramatiker, Lyriker u. Schauspieler. Seine Dramen zeichnen sich insb. durch ihre selbstreflexive Problematisierung gattungstheoret. u. stilist. Fragen aus. Sh.s Dramen werden als beispielgebend für die Abkehr v. der Regelpoetik u. die Dramentauglichkeit des Individuums (statt des Typus) verstanden; häufig liegen ihnen histor. Stoffe zugrunde. Ghetto: → 439 Börne: Carl Ludwig Börne (geb. als Juda Löb Baruch, 1786–1837), dt. Journalist, Feuilletonist u. Schriftsteller. Nach starken berufl. Benachteiligungen Übertritt zum Christentum u. Umbenennung. Wg. der polit. Stoßrichtung seiner Texte wird er der Bewegung Junges Deutschland zugerechnet. Der polem.-pointierte Stil seiner Kritiken beeinflusst die Herausbildung des Feuilletons nachhaltig. Felix Potin: F. P. heißt ein nach seinem Gründer (1820–1871) benanntes Gemischtwarenhaus in Paris (Ecke Boulevard de Sébastopol, Rue Réaumur). Ähnlich wie Au Bon Marché fußt das Geschäftsprinzip P.s auf niedrigen Preisen, geringer Zahl v. Zwischenhändlern u. eigener Herstellung. Neben dem Fokus auf Produktinnovationen, wie u. a. Konserven, etabliert P. eine Hausmarke. Diese Geschäftsprinzipien verhelfen F. P. zu großem wirtschaftl. Erfolg. Frau Boucicault: Marguerite Boucicaut (1816–1887) kommt zus. mit ihrem Mann Aristide Boucicaut (1810–1877) durch die Übernahme des frz. Geschäfts Au Bon Marché zu großem Erfolg, u. a. durch Auszeichung der Waren mit Preisschildern u. Rücknahmegarantie der Produkte bei Unzufriedenheit. Durch den kommerziellen Erfolg der Geschäftsidee ist soziales Engagement für die Angestellten möglich (ab 1876): arbeitsfreie Sonntage, bezahlter Urlaub, kostenlose Speisung sowie Krankheitsbehandlung. M. B. investiert ihr Vermögen nach dem Tod ihres Mannes in den Bau v. Schulen u. des Instituts Pasteur. In ihrem Testament verfügt sie den Bau eines Boucicaut-Krankenhauses. in der Lage des Fremden in Trouville während der Rennwoche: In unmittelbarer Nähe zu dem frz. Seebad Trouville-sur-Mer im in der Normandie gelegenen Département Calvados liegt das v. Paris bequem mit der Eisenbahn erreichbare Deauville mit den beiden Pferderennbahnen La Touques u. Clairefontaine. Die größere der beiden Bahnen, Deauville-La Touques, wird 1864 v. Charles Auguste Louis Joseph, Herzog v. Morny (1811–1865), eingeweiht u. ist im Sommer Treffpunkt für Pferdeliebhaber aus aller Welt. Café-Anglais-Rechnungen: An den Friedensschluss v. Amiens vom 25.2.–7.3.1802 zw. Großbritannien, Frankreich, Spanien u. der Batav. Republik erinnert das Restaurant Café Anglais in Paris. Zw. 1802 u. 1913 steht es am Boulevard des Italiens (Nr. 13). Das gehobene Café wird v. a. v. wohlhabendem Publikum aufgesucht. Zu seinen Stammgästen gehören die frz. Schriftsteller Alexandre Dumas d. Ä. (1802–1870),
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Alfred de Musset (1810–1857) u. Eugène Sue (eigentl. Joseph-Marie Sue, 1804–1857). Das Café Anglais findet in mehreren bedeutenden Romanen Erwähnung, u. a. in Illusions perdues (1874) des frz. Schriftstellers Honoré de Balzac (1799–1850) u. in L'Éducation sentimentale (1869) des frz. Schriftstellers Gustave Flaubert (1821–1880). Hotel Continental zur Grand Prix-Zeit: Hôtel Continental, 3 rue de Castiglione an der Ecke der rue de Rivoli, gegenüber des Jardin des Tuileries. 1878 eröffnet, ist es das luxuriöseste Hotel in Paris in der 2. Hälfte des 19. Jh.s u. umfasst einen ganzen Häuserblock. 1969 Umbenennung. / Grand Prix de Paris: Pferderennen, das seit 1863 vor mehr als 100.000 Zuschauern im Hippodrome v. Longchamp (Paris) ausgetragen wird. „Sweating“-(Schwitz-)System: Auch Schweißsystem, Arbeitsverhältnis, bei dem zw. den Unternehmer u. die Arbeiter eine Mittelsperson tritt (engl. sweater, dt.: „Ausbeuter“), die die Arbeit als Zwischeninstanz vom Unternehmer zu einem festen Preis übernimmt u. sie auf eigene Rechnung für sich möglichst gewinnbringend zu einem niedrigen Lohnsatz an die Arbeiter weitergibt. Besonders in der Bekleidungs- u. Schuhindustrie herrschen teilweise menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in unzureichend belüfteten Fabrikgebäuden im Londoner East End u. in New York. Nach den zarist. Verfolgungen wächst zw. 1881 u. 1914 die jüdische Einwohnerzahl Londons v. 50.000 auf 150.000 an. In New York kommt es ab 1870 ebenfalls zu einer Einwanderungswelle osteuropä. Juden, die überwiegend in der Textilindustrie beschäftigt werden. Antiphrasis: Griech. ἀντίφρασις, dt.: „Gebrauch v. Wörtern im entgegengesetzten Sinn“. Rhetorisches Stilmittel, bei dem das Gegenteil v. dem gesagt wird, was gemeint ist. „Le Flambeau“: Le Flambeau. Organ des zionistischen und sozialen Judentums bzw. Eine Monatsschrift für zionistisches und Social-Judenthum. Frz. flambeau, dt.: „Fackel“, „Leuchter“. V. dem frz. Schriftsteller Bernard Lazare (eigentl. Lazare Marcus Manassé Bernard, 1865–1903) u. dem frz. Schriftsteller Jacques Bahar (1858-unbek.) 1898 gegründete Zeitschrift.
17 Vortrag, gehalten in Amsterdam, 17. April 1899
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17 Vortrag, gehalten in Amsterdam, 17. April 1899 Quelle: ZS1, S. 249–271. Ferner mit dem Titel: Strömungen im Judentum auch in: Die Welt, 3.2.1899, H. 5, S. 2–6.
Vortrag, gehalten in Amsterdam: Die Rede Strömungen im Judenthum. Vortrag, gehalten im großen Musikvereinssaale in Wien stimmt überwiegend mit dem vorliegenden Text überein. Sie wird publiziert in der Wochenzeitung Die Welt am 3.2.1899 (H. 5, S. 2–6), also mehr als zwei Monate vor der Datierung des hier edierten Vortrags auf den 17.4.1899, findet jedoch keine Aufnahme in den ZS1. In einer Fußnote weist die Redaktion darauf hin, dass nur „die Hauptstücke dieser bedeutenden Rede“ (S. 2) wiedergegeben würden. Folgende Passagen des Vortrags werden dort nicht abgedruckt: „Wir arbeiten also in erster Reihe für uns selbst. […] Aber auch aus einem zweiten Grund ist uns die Haltung der jüdischen Millionäre nicht gleichgültig.“ (vgl. S. 78-80 der vorliegenden Edition). „Die Feindschaft der meisten großen Geldjuden schadet also dem Zionismus doppelt […] und weshalb es nichts gegen den Zionismus beweist, wenn sie von ihm nichts wissen wollen.“ (vgl. S. 80). „Ich habe bisher zu erklären gesucht […] ist wohlberechtigt.“ (vgl. S. 82). „Im Direktionskabinett ihrer stolzen Bank erhebt sich der Geist Bankos vor ihnen – ich wollte beileibe keinen Kalauer machen – ich verabscheue die Gattung!“ (vgl. S. 83). „Tatsachen kann man nicht wegargumentieren […] würde dies nicht entfernt beweisen, dass der Zionismus nicht der Gedanke, das Bedürfnis, das Verlangen des jüdischen Volkes ist.“ (vgl. S. 84f.). „Aber wenn wir die Gegnerschaft der Protestrabbiner vernachlässigen können […] dort nach Art der lateinischen Mönche und orthodoxen Kaluger ein Leben ebenso frommer wie arbeitsloser Beschaulichkeit zu führen.“ (vgl. S. 85f.). „Der Sozialismus schließt materielle und moralische Strebungen in sich […] sich einigermaßen gegen die Übermacht des Unternehmers zu behaupten.“ (vgl. S. 86f.). „Ich glaube nun gezeigt zu haben […] Beherzigen Sie die Lehren der Geschichte, die als eine drohende Warnerin zu Ihnen spricht!“ (vgl. S. 88). In den in beiden Texten vorhandenen Passagen variieren die Formulierungen; sie sind jedoch stets als Versionen des gleichen Satzes erkennbar (z. B.: „Möchten die jüdischen Proletarier, die sozialistischen Theoretiker unter den Juden unsere Worte hören und beherzigen.“ (oben angegebene Ausgabe der Welt, S. 6); „Möge das jüdische Proletariat, mögen die theoretischen Sozialisten unter den gebildeten Juden unsere Stimme hören und beherzigen.“ (vgl. S. 90 der vorliegenden Edition)). unseren kategorischen Imperativ: Kategorischer Imperativ, maßgebendes Prinzip der Ethik im System des dt. Philosophen Immanuel Kant (1724–1804): „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Kant stellt den Begriff in einer seiner grundlegenden Schriften zur Ethik vor, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). In einem seiner Hauptwerke, der Kritik der praktischen Vernunft (1788), detailliert dargestellt.
496 Teil II: Kommentar
Schekel: → 490 Die jüdischen Millionäre und Milliardäre: Die fortschreitende Industrialisierung ab der Mitte des 19. Jh.s führt in vielen Teilen Deutschlands zu einem wirtschaftl. Aufstieg nicht nur der wohlhabenden Schichten. Viele jüdische Familien erwerben durch Tätigkeit im Bank- u. Kreditwesen Wohlstand, einige fungieren als Eisenbahnunternehmer u. erlangen bedeutende Vermögen. Geldjuden: Finanzjude o. Geldjude, antisemitisches Stereotyp, welches v. a. im 19. Jh. auf die im Bank- u. Kreditwesen zu Wohlstand gekommenen jüdischen Familien zielt. Oftmals wird dieses Vorurteil mit Habgier u. Profitsucht assoziiert. obskurer Skribler: Obskur, zu lat. obscurare, dt.: „verdunkeln“, bewusstes Verschleiern v. Tatsachen u. Aufrechterhalten v. Unwissenheit, auch allgemein eine aufklärungsfeindl. Haltung. / Skribler, lat. scribo, dt.: „schreiben“, „zeichnen“. Veraltete geringschätzige Bez. für einen Schreiber bzw. Skribenten, auch: Schmierer. Bündeljuden: Bündeljude, hier i. S. v. einem umherziehenden Betteljuden, der seinen gesamten Besitz in einem Bündel mit sich herumträgt. Meist verdient sich der B. seinen Lebensunterhalt durch den Vertrieb v. Kleinwaren, die er als fahrender Händler verkauft. ein Cäsar: Nach dem Tod des röm. Feldherrn, Autors u. Staatsmanns Gaius Iulius Caesar (100–44 v. Chr.) allgemein gebräuchl. Herrschertitel im Röm. Reich. Die Herrschertitel Kaiser u. Zar leiten sich davon ab. Vespasian sein, um zu sagen: „Non olet!“, „Es riecht nicht.“: Vespasian, eigentl. Titus Flavius Vespasianus (Imperator Caesar Vespasianus Augustus, 9–79 n. Chr.), erster röm. Kaiser der flav. Dynastie (69–79), bestimmt aufgrund finanziellen Notstands im Röm. Reich die Besteuerung der Benutzung öffentl. Latrinen. Bei Sueton (Vita Divi Vespasiani, 23) ist ein Gespräch V.s mit seinem Sohn Titus (eigentl. Titus Flavius Vespasianus, 39–81) kolportiert, der sich über diese Steuer echauffiert, was V. wiederum mit dem Bonmot Atqui, e lotio est (dt.: „Freilich, sie ist aus dem Urin“) beantwortet haben soll. Davon leitet sich die lat. Redewendung Pecunia non olet (dt.: „Geld stinkt nicht“) ab. Großjuden: Vermutl. bezieht sich N. auf das enorme ökonom. Potential, das einige Juden durch ihren wirtschaftl. Erfolg haben. Damit einhergehend ist es manchen möglich, auch auf polit. Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen. Judenfrage: → 458 Mischehen: Im Allgemeinen bez. M. die eheliche Verbindung zweier Menschen mit unterschiedl. Religion o. Konfession. Taufen: → 458
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Freidenkertum: Freidenker, im Sinne der Aufklärung Menschen, die jedweden religiösen Glauben u. kirchl. Dogmen ablehnen u. für eine eigenverantwortl. u. autonome Lebensführung eintreten. Arier: → 459 Rechtsansprüche Abrahams auf alle seine Nachkommen: Als jüdisches Recht bez. man diejenigen Vorschriften der Halacha (hebr., dt.: „Gehen“, „Wandeln“), die das Verhältnis der Menschen untereinander u. zur Gesellschaft regelt, im Unterschied zu den Mizwot (hebr., dt.: „Gebote“), die das Verhältnis des Menschen zu Gott betreffen. Abraham, der älteste der drei Erzväter Israels, gilt in der rabbin. Tradition als so bedeutend, dass um seinetwillen die Schöpfung geschaffen wurde. Er ist das Symbol des ewigen Bundes zw. Gott u. den Menschen Israels u. der Nachkommensu. Landverheißungen Gottes. Daher übertragen sich Rechtsansprüche A.s auf seine Nachkommen. atavistische Ängstlichkeit: Atavistisch, lat. atavus, dt.: „Ahnherr“, „Vorfahr“, „Urahne“. Atavismen sind Erneuerungen bereits bewältigter Besonderheiten o. Verhaltensweisen, die bei älteren Vorfahren charakteristisch waren, bei den unmittelbar vorangegangen Generationen jedoch nicht mehr auftraten. Pejorative Bez. für Instinkte o. Handlungsmerkmale, die einem evolutionsgeschichtl. niedrigeren Stand entsprechen. in England unter Richard Löwenherz: → 435 in Frankreich unter Philipp dem Schönen: → 434 in Spanien unter Ferdinand und Isabella: Ferdinand II., gen. der Katholische (aragon. Ferrando II o Catolico, 1452–1516), König v. Aragonien (seit 1479), v. Sizilien (seit 1468), als Ferdinand V. v. Kastilien u. León (seit 1474/5), als Ferdinand III. v. Neapel (seit 1504); Isabella I. v. Kastilien, gen. die Katholische (1451–1504), Gattin Ferdinands II., Königin v. Kastilien u. León (1474–1504) u. v. Aragón (1469–1504). Nach der Eroberung v. Granada (1492), der letzten Bastion der Mauren in Spanien, werden im Rahmen des sog. Alhambra-Ediktes am 31.3.1492 die span. Juden vor die Wahl gestellt, sich bis zum 31.7.1492 taufen zu lassen o. auszuwandern. Die demograf., kulturellen u. ökonom. Folgen des massenhaften Exodus der Juden sind enorm. Trüffelgastmählern: → 464 Judengassen: Im Mittelalter gibt es in zahlreichen deutschsprachigen Städten Judengassen o. abgeschlossene Stadtviertel, in denen Juden leben u. arbeiten. Aus Venedig stammend kommt ab 1516 der Begriff Ghetto für einen größeren Wohnbezirk hinzu.
498 Teil II: Kommentar
Kavallerieleutnant: Kavallerie, ital. cavalleria zu mlat. caballus, dt.: „Pferd“. K. bez. die Truppe zu Pferde bzw. die Reiterei. Wermut in ihren Kelch voll Roederer Extra dry: Wermut ist ein mit Gewürzen u. Kräutern, v. a. dem namensgebenden Wermutkraut (lat. Artemisia absinthium) aromatisierter Wein mit 15–18 % Vol. Sein Geschmack ist durch die verwendeten Aromastoffe bitter. / Roederer, bedeutende Champagnermarke. Offizielles Gründungsdatum des Champagner-Hauses ist 1776. Wahrscheinl. liegt der Ursprung aber 1760 in dem Haus Dubois Père et Fils, welches nach einem weiteren Besitzerwechsel in das Eigentum v. Louis Roederer (1798–1870) gelangt. Dieser benennt das Haus um u. erschließt mit der sehr edlen Champagnermarke neue Absatzmärkte in England, Amerika u. Russland. Geist Bankos: In The Tragedy of Macbeth (UA 1611, ersch. 1623) dramatisiert William Shakespeare (1564–1616) den histor. Stoff um die Ermordung des schott. Königs Duncan I. (gäl. Donnchad mac Crínáin, 1001–1040) durch Macbeth (gäl. Mac Bethad mac Findlàich, 1005–1057). Anders als in der histor. Quelle angegeben beteiligt sich Duncans Gefolgsmann Banko in Shakespeares Adaption nicht an der Verschwörung gegen den König u. wird deshalb ebenfalls im Auftrag v. Macbeth getötet. Im 3. Akt tritt der Geist Banquos, so die Schreibweise Shakespeares, während eines Banketts bei Macbeth auf u. verwirrt u. verängstigt den König durch sein Erscheinen. Ob eine histor. Person Banko existiert hat, ist strittig. Kalauer: Nach frz. calembour, dt.: „fauler Witz“, „Wortspiel“, auf einem Wortspiel basierender, nicht sehr geistreicher Witz. Nach einer anderen Theorie bezieht sich der Begriff auf die Stadt Calau, niedersorb. Kalawa. Unter der Rubrik Aus Kalau wird berichtet… werden v. der Satirezeitschrift Kladderadatsch regelmäßig fiktive, derbe Wortspiele der Calauer Schuster veröffentlicht. Die Bez. K. ist 1858 erstmals in Berlin belegt. Leibastrologen: Astrologie, griech. ἄστρον, dt.: „Stern“, u. griech. λόγος, dt.: „Lehre“. „Sternkunde“, Methode, mittels derer aus den Positionen v. Himmelskörpern Ereignisse u. Schicksale abgeleitet werden. Im Mittelalter u. der Frühen Neuzeit nicht trennscharf v. der Astronomie abgegrenzt; Astronomie (griech. ἄστρον, dt.: „Stern“, u. griech. νόμος, dt.: „Gesetz“), Wissenschaft v. den Gestirnen u. der Erforschung der Himmelskörper. Herrscher u. Feldherren der Frühen Neuzeit stellen an ihrem Hof Leib- o. Hofastrologen an, die die für größere Unternehmungen u. wichtige Entscheidungen richtige Stellung der Gestirne bestimmen sollen. dunklen Nachtfalter von der Stirne scheuchen: Nachtfalter, vermutl. v. N. als Synonym für Nachtmahr, Nachtgespenst o. Alb verwendet, einem nach dem Volksglauben gespensterhaften Kobold, der sich auf die Brust v. Schlafenden setzt u. dadurch Beklemmung, Angstzustände u. Albträume hervorruft.
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Wut jedes Troervolkes gegen jede Kassandra: Kassandra, in der griech. Mythologie die schönste Tochter des trojan. Königs Priamos u. der Hekabe. V. Apoll bekommt sie die Sehergabe, als sie jedoch das Werben des Gottes um sie abweist, schenkt niemand mehr ihren Prophezeiungen Glauben. Sie weissagt mit den sprichwörtlich gewordenen Kassandrarufen den Untergang Trojas, wenn die Einwohner das hölzerne Pferd in die Stadt zögen. Da die Trojaner in dem Pferd jedoch ein Weihegeschenk an Athene sehen, widersetzen sie sich den Warnungen K.s u. führen so den Untergang Trojas herbei. präraffaelitischen und impressionistischen Gemälden: Präraffaeliten bzw. präraffaelitische Bruderschaft (engl. The Pre-Raphaelite Brotherhood (PRB)), Name einer 1848 in England gegründeten Gruppe v. Malern, die v. ital. Malern des Trecento u. des Quattrocento, insb. v. Raffael (ital. Raffaello Santi, 1483–1520), beeinflusst ist. Mitglieder sind u. a. William Holman Hunt (1827–1910), Sir John Everett Millais (1829– 1896) u. Dante Gabriel Rossetti (1828–1882). N. polemisiert gegen diese Künstlergruppe in seinem zweibändigen Pamphlet Entartung (1892–1893). / Impressionismus, Stilrichtung in der Bildenden Kunst ab Mitte des 19. Jh.s. Der I. löst die dargestellten Gegenstände in Licht u. atmosphärische Phänomene auf. Namensgebend ist das Gemälde Impression – soleil levant (1872) v. Claude Monet (1840–1926). Erste Gruppenausstellung der Impressionisten 1874. Als Vertreter einer modernen, aufgeklärten Kunstrichtung sind vermutl. in den Augen v. N. die Bilder der Pr. u. I. bei wohlhabenden Juden im ausgehenden 19. Jh. ein Statussymbol. flammende „Mene Tekel!“: Menetekel, Bez. für eine Warnung vor bevorstehendem Unheil, oft verbunden mit geheimnisvollen Vorzeichen. Diese Warnung geht zurück auf die bibl. Geschichte eines Gastmahls des babylon. Königs Belsazar. Nach Daniel 5,25 schreibt eine Menschenhand die aram. Worte „Mene, Mene, Tekel, Upharsin“ an die Wand, die vom Propheten Daniel als „gezählt, gewogen, zerteilt“ in Bezug auf die Tage der Regentschaft Belsazars, seine als zu gering erachtete Bedeutung u. die kommende Teilung des Reiches gedeutet werden. in drei Teufels Namen: Seit dem 18. Jh. belegter Fluch. Die Lästerung In Teufels Namen ist eine Parallelbildung zu der Formel In Gottes Namen. Die Verwünschung In drei Teufels Namen ist somit eine Gegenphrase zu den heiligen Namen der göttl. Dreifaltigkeit. Galuth: → 477 Schnorrsucht: → 448 Protestrabbiner: → 396489 Synagogen: → 479 Minian: → 445
500 Teil II: Kommentar
Standpunkt eines jüdischen Freidenkers: Vermutl. sieht sich N. in seiner Selbstcharakterisierung als aufgeklärten Juden, der sich seines Judentums wohl bewusst ist, ohne aber in orthodoxer Manier alle religiösen Vorschriften einhalten zu müssen. jüdischen Proletarier: → 445 Klausner: Ahd. clôsinari, mhd. klôsenære, dt.: „der in einer Klause lebt“, „Eremit“, „Einsiedler“. Folianten des Talmuds: Foliant, lat. folium, dt.: „Nardenblatt“, „Blatt“. Umfangreiches Buch im Folioformat, d. h. in der Größe eines halben Bogens. Talmud → 427. Talmudausgaben werden wg. der besseren Lesbarkeit überwiegend im Folioformat gedruckt, da sie parallel zur Mischna zusätzlich die Kommentare u. Analysen späterer Epochen auf einer Seite abdrucken. jeden nach seiner Fasson selig werden: Das v. N. paraphrasierte Zitat geht zurück auf den preuß. König Friedrich II., gen. der Große (1712–1786), der am 22.6.1740 seine Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten in einer Randbemerkung zu einer Petition zur Überprüfung der röm.-kathol. Schulen zum Ausdruck bringt: „die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der fiscal nuhr das auge darauf haben, das keine der andern abruch Tuhe, den hier mus ein jeder nach Seiner Faßon Selich werden“. die jüdischen Mystiker: Als jüdische Symbolisten sieht N. vermutl. die Rabbiner Isaak „Chacham“ Bernays (1792–1849) u. Samson Raphael Hirsch (1808–1888) an, bei den jüdischen Mystikern denkt N. vermutl. an Kabbalisten u. Vertreter d. Chassidismus in der Tradition von Rabbi Israel ben Elieser (gen. Ba’al Schem Tow, ca. 1700–1760), Rabbi Nachman ben Simcha aus Brazlaw (1772–1810), Menachem Mendel Schneersohn (gen. Zemach Zedek, 1789–1866) u. Rabbi Abraham Isaak Kook (1865–1935). nach Art der lateinischen Mönche und orthodoxen Kaluger: Kalugyer, Mönche u. Nonnen der griech.-orthodoxen Kirche aus Rumänien, besonders aus der südl. Walachei. Blütezeit der Klöster vom 15.–17. Jh. 1864 Beschlagnahmung der Klöster u. des Kirchenbesitzes durch die rumän. Regierung. Entgegen der Vorstellungen N.s betreiben die Mönche Ackerbau u. Viehzucht, die Nonnen fertigen Handarbeiten an. Auch in römisch-kathol. Mönchsorden wird der Alltag durch Arbeit u. Gebet strukturiert (formuliert z. B. in der Regula Benedicti des Benediktinerordens). Sozialismus und Zionismus: Die Vereinbarkeit v. Sozialismus u. Zionismus betont bereits Mitte des 19. Jh.s Moses Hess (1812–1875). Sein Hauptwerk Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage (1862) wird beim Erscheinen kaum beachtet, findet im Vorfeld der ersten Zionistenkongresse jedoch begeisterte Aufnahme unter den Zionisten, die durch eine Verbindung v. Sozialismus u. Zionismus eine nationale jüdische Heimstätte erwirken wollen. Der Begründer u. Förderer des sozialist. Zionismus
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ist der weißruss. Autor u. Publizist Nachman Syrkin (1868–1924). Er geht davon aus, dass die Situation der Juden in der Diaspora auch nach der sozialist. Revolution unbefriedigend bleibt. S. sieht als einzige Lösung die Konzentrierung auf ein Territorium u. die Einwanderung n. Palästina: Die ökonom. Situation des jüdischen Volkes sei nur auf diesem Wege zu verbessern, der Zionismus sei somit für das jüdische Volk eine histor. Notwendigkeit. Der sozialist. Zionismus beeinflusst die Jugendorganisation Hashomer Hatzair (gegründet 1913/14) u. die Kibbuz-Bewegung (Gründung des Kibbuz Degania am 28.10.1910). vaterlandslose Gesellen: Unter Kaiser Wilhelm II. (Friedrich Wilhelm Viktor Albert v. Preußen, 1859–1941) im ausgehenden 19. Jh. verwendetes Schimpfwort, mit dem Kommunisten, Sozialisten u. Sozialdemokraten geschmäht werden. Die Stimmung gegen polit. links Stehende findet ihren Höhepunkt in dem Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (rechtskräftig ab dem 21.10.1878), welches unter dem Plural Sozialistengesetze bekannt ist. Sabbathfeier: Hebr. Sabbat, auch: Schabbat, zu hebr. šạvaṯ, dt: „ausruhen“. Von Freitagabend bis Samstagabend reichender, feierlich begangener wöchentl. Ruhetag, an dem Arbeitsverbot herrscht. Er ist mit speziellen Gebeten u. traditionellen Sabbat-Gerichten verbunden. Gotteskindschaft: N. bezieht sich auf den in Ex 19,3–6 offenbarten Bund zw. den Kindern Israels u. Gott. aus dem Mystischen ins Rationalistische: → 434, → 440 Sittlichkeit: → 440 Israeliten: → 444 das im regelmäßig wiederkehrenden Jubeljahre: Jobal, hebr. jobel, dt.: „Widder“, „Widderhorn“, auch: „Klang des Schofars“. Gemeint ist das sog. ‚Jobeljahr‘ o. ‚Halljahr‘, das Jahr des Erlasses. Nach sieben Sabbatjahren (49 Jahre) wird im orthodoxen Judentum das darauffolgende Jahr als Jobeljahr gefeiert. Dies ist verbunden mit Schuldenerlass u. Rückgabe v. verkauftem Boden zur Herstellung gleicher Besitzrechte u. damit zur Rekonstituierung einer Gemeinschaft Gleichberechtigter, vgl. Lev 25,8–54. Die histor. nicht nachweisbare Einrichtung wirkt in der christl. Kirche als lat. annus iubilaeus, dt.: „Jubeljahr“, o. lat. annus sanctus, dt.: „heiliges Jahr“, nach. Festnagelung seines Ohrs an einen Türpfosten: N. bezieht sich auf das in Ex 21,5–6 verfügte Gesetz: „Spricht aber der Sklave: Ich habe meinen Herrn lieb und meine Frau und Kind, ich will nicht frei werden, so bringe ihn sein Herr vor Gott und stelle ihn an die Tür oder den Pfosten und durchbohre mit einem Pfriemen sein Ohr und er sei sein Sklave für immer.“
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Geistesadligen: Der Begriff G. wird seit dem 18. Jh. vom Bildungsbürgertum verwendet u. bezieht sich auf eine Aristokratie, die aufgrund eigener Leistung erworben u. nicht ererbt o. verliehen ist. Basierend auf dem Humanismus der Renaissance stellt das Bürgertum bescheiden die auf eigener Tugend beruhenden Verdienste heraus. die Juden Marx: Karl Marx (1818–1883), dt. Nationalökonom, Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, Vorkämpfer der Arbeiterbewegung u. Theoretiker des Sozialismus u. Kommunismus. Werke u. a. Manifest der Kommunistischen Partei (1848), Lohnarbeit und Kapital (1849, zusammen mit Friedrich Engels (1820–1895)), Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) u. Das Kapital (1867–1894). Die Eltern v. M., Heinrich Marx (urspr. Heschel Marx Levi Mordechai, 1777–1838) u. Henriëtte Presburg (1788–1863), stammen beide aus angesehenen Rabbinerfamilien. Der Vater konvertiert zum Protestantismus, um weiter seinen Beruf als Anwalt ausüben zu dürfen. Am 26.8.1824 wird Karl zusammen mit seinen Geschwistern getauft. Lassalle: Ferdinand Lassalle (eigentl. Ferdinand Johann Gottlieb Lassal, Namensänderung 1846; 1825–1864), dt. Publizist, Mitbegründer der dt. Arbeiterbewegung u. sozialist. Politiker. 1848 Teilnahme an der Revolution als radikaler Demokrat. 1849 Mitarbeit an der v. Karl Marx u. Friedrich Engels hrsg. Neuen Rheinischen Zeitung. Hauptwerk: Das System der erworbenen Rechte (1861). Aufgrund seines polit. Programms 1863 Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV). Die Eltern v. L. sind der jüdische Seidenhändler Heyman Lassal (1791–1862) u. Rosalie Lassal, geb. Heitzfeld (1797–1870). ein jüdischer Atavismus: Atavismus → 497. N. verwendet den Begriff A. hier nicht pejorativ, sondern in positivem Sinne: Das Einstehen für soziale Gerechtigkeit, das die Sozialisten Marx u. Lassalle verkörpern, markiert N. als grundlegende Eigenschaft des jüdischen Volkes, die in den jüngsten Generationen jedoch nicht mehr zum Ausdruck kommt. Nacht der Diaspora: → 424 Lynkeus, der Türmer: N. bezieht sich auf eine Figur aus dem V. Akt v. Faust. Der Tragödie zweiter Teil in fünf Akten (1832) v. Johann Wolfgang v. Goethe (1749–1832): „Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt, / Dem Turme geschworen, / Gefällt mir die Welt. / Ich blick' in die Feme, / Ich seh' in der Näh' / Den Mond und die Sterne, / Den Wald und das Reh. / So seh' ich in allen / Die ewige Zier, / Und wie mir's gefallen, / Gefall' ich auch mir. / Ihr glücklichen Augen, / Was je ihr gesehn, / Es sei wie es wolle, / Es war doch so schön!“ (V. 11288–11303). Im Anschluss an die zitierten Verse sieht Lynkeus den idyll. Rückzugsort des greisen Paars Philemon u. Baucis vor seinen Augen verbrennen. Türmer hatten im Mittelalter die Aufgabe, Gefahren wie nahende Feinde o. Feuer zu sichten u. die Bevölkerung zu warnen.
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„Der Morgen graut!“: Es handelt sich bei dem Ausruf um kein wörtliches Zitat. Der Ausspruch spielt jedoch an auf eine Äußerung Fausts in der finalen Szene im Kerker in Faust. Der Tragödie erster Teil: „Der Tag graut! Liebchen! Liebchen!“ (V. 4578). Fanatismus, Unwissenheit, Rohheit und Despotismus: Fanatismus. → 453 / Despotismus, griech. δεσπότης, dt.: „Hausherr“, „Herr“, „unumschränkter Herrscher“. Gewaltherrscher, Tyrann. Reformation: Reformation, lat. reformatio, dt.: „Wiederherstellung“, „Erneuerung“. Durch den dt. Augustinermönch Martin Luther (1483–1546) ausgelöste theolog. Bewegung, die zunächst auf der Grundlage einer geistigen Erneuerung die Wiederherstellung einer dem Evangelium entsprechenden Kirche erstrebt. Im weiteren Verlauf der R. kommt es zu der Auflösung der Einheit der lat. Kirche u. zur Herausbildung des Protestantismus. Hintergründe der Reformation sind u. a. die Finanzpraktiken der Kirche wie der Ablasshandel, die Akzentuierung des päpstl. Machtanspruchs zuungunsten des geistl. Amtes u. eine in der Scholastik verhaftete kirchl. Dogmatik. Der Beginn der R. wird mit Luthers Anschlag der 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg am 31.10.1517 gesetzt. Ihren Abschluss findet sie in den zw. dem 15.5. u. dem 24.10.1648 in Münster u. Osnabrück geschlossenen Friedensverträgen, die unter der Bez. Westfälischer Frieden geläufig sind. Lyria lehrte Luther Hebräisch: Martin Luther (1483–1546), bedeutender dt. Reformator. Als Augustinermönch u. Theologie-Professor richtet er sich gegen Missstände der Kirche wie den Ablasshandel u. die scholast. geprägte Theologie seiner Zeit. Seine Betonung der Gnadenzusage Gottes in seinen Predigten u. Schriften sowie seine Bibelübersetzung ins Deutsche verändern das Weltbild der röm.-kathol. geprägten Gesellschaft der frühen Neuzeit tiefgreifend u. führen zu einer Kirchenspaltung u. zur Herausbildung des Protestantismus. L. erwirbt 1506 die hebr. Grammatik des dt. Humanisten Johannes Reuchlin (1455–1522) u. vertieft seine Hebräischkenntnisse durch die Lehrbücher der dt. Hebraisten Johann Böschenstein (1472–1540) u. Matthäus Aurogallus (um 1490–1543). Erst nach dem Erscheinen der vollständigen Übersetzung des Alten Testaments (1534) lernt L. durch den Franziskanermönch Nikolaus v. Lyra (um 1270/75–1349) rabbin. Bibelkommentare kennen. Die Bedeutung Nikolaus v. Lyras für Luther wird in einem Epigramm aus dem 16. Jh. deutlich: Si Lyra non lyrasset, Lutherus non saltasset (dt.: „Wenn Lyra nicht Lyra gespielt hätte, hätte Luther nicht getanzt“). Rabbiner weihten die Reformatoren in alle Geheimnisse der jüdischen Überlieferung ein: Luther kennt durch Nikolaus v. Lyra (um 1270/75–1349) die Werke v. Rabbi Salomo ben Isaak, gen. RaSCHI (1040–1107), der zahlreiche Kommentare zur Hebr. Bibel u. zum Talmud verfasst. Abgesehen v. einigen histor. o. philolog. Bemerkungen wendet sich Luther allerdings scharf gegen die jüdische Auslegung. Vermutl. bezieht sich N. auf die Schrift Jüdisches im Christenthum des Reformationszeitalters.
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Vortrag, gehalten am 22. Januar 1870 im Lokale der Religionsschule zu Wien (1870) des Wiener Rabbiners Dr. Moritz Güdemann (1835–1918). Enzyklopädisten: → 441 Aufklärung: → 471 Apostel: Griech. ἀπόστολος, dt.: „Absendung einer Flotte“, „Abgesandter“, „Bote“. Urspr. ein Mitglied des Kreises der zwölf Jünger Jesu, dann urchristl. Missionar. Hier i. S. v. „Verfechter einer neuen Lehre“. anthropologischen Grundsatzes: → 429 Die französische Revolution: Frz. Revolution (1789–1799), bedeutender polit. u. gesellschaftl. Umwälzungsprozess mit weitreichenden Folgen für das europä. Staatengefüge. Das herrschende System des Absolutismus wird unter Berufung auf gemeinsame bürgerl. Werte u. Rechte gewaltsam abgelöst. Aufstand von 1848 geradezu als eine jüdische Bewegung: Die restaurative Politik nach dem Wiener Kongress 1814/15 versucht, die Legitimität der dynast. Monarchien in Europa zu erneuern, u. führt dadurch zu Auseinandersetzungen mit nationalliberal gesinnten Reformkräften. Bevor Juden in den dt. Staaten in den Genuss der Errungenschaften der Revolution kommen, sind sie 1819 (Hep-Hep-Unruhen), 1830 u. im Februar 1848 einmal mehr Pogromen, Mord, Plünderungen u. zahlreichen weiteren Gewaltakten ausgeliefert. Für die Juden entscheidet sich an Erfolg o. Scheitern der Revolution der Fortgang ihrer Gleichberechtigung. Auch deshalb beteiligen sich viele aktiv an den Straßenkämpfen, in den Parlamenten o. polit. Vereinen. Durch die Revolution 1848 fallen die Gesetze mittelalterl. Rechtlosigkeit u. die Juden erhalten die staatsbürgerl. Gleichstellung in Deutschland. die Liberalen: Bis zur Wende zum 20. Jh. entstehen in den dt. Staaten polit. Parteien, die sich dem Liberalismus verpflichtet fühlen. In der vom 18.5.1848 bis zum 30.5.1849 tagenden Frankfurter Nationalversammlung werden liberale Gedanken des Bürgertums eingebracht. 1859 wird der Deutsche Nationalverein gegründet, 1861 entsteht in Preußen die Deutsche Fortschrittspartei. Die Nationalliberale Partei wird 1866/67 gegründet u. besteht im Deutschen Reich bis 1918. Sie vertritt die Interessen des liberal u. national gesinnten, protestant. Bildungs- u. Besitzbürgertums. Die Deutsche Freisinnige Partei besteht im Kaiserreich 1884–1893 als Nachfolgeorganisation der Liberalen Vereinigung u. der Deutschen Fortschrittspartei. Die DFP vertritt ein linksliberales Programm u. setzt sich für die Parlamentarisierung der konstitutionellen Monarchie, die Sicherung der Rechte auf Presse-, Versammlungs- u. Vereinsfreiheit u. die Gleichstellung aller Konfessionen (einschließl. der jüdischen) ein. 1903 wird der Nationalsoziale Verein gegründet. Semiten: → 459
17 Vortrag, gehalten in Amsterdam, 17. April 1899
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Grundsätze der französischen Revolution: Die Grundsätze der Frz. Revolution werden unter der Parole Liberté, Égalité, Fraternité (frz., dt.: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“) zusammengefasst. Zunächst wird 1793 an Hausfassaden die Devise Unité, Indivisibilité de la République, Liberté, Égalité, Fraternité ou la mort geschrieben, die auf Anregung des Klubs der Cordeliers in der verkürzten Version als verbindl. Gebäudeinschrift eingeführt wird. V. der Dritten Republik (1870–1940) wird sie zur offiziellen Devise deklariert. asemitische Politik: Im Gegensatz zu der griech. Präposition ἀντί, dt.: „gegenüber“, „gegen“, „anstelle v.“, ist das sog. Alpha privativum ein verneinendes Präfix. Im Deutschen übernehmen das Präfix un- u. die Suffixe -los u. -leer die gleiche Funktion. Eine asemit. Politik ist demzufolge nach N. eine Staatsführung, die ‚ohne Juden‘ o. sich über die Gegenwart v. Juden hinwegsetzend ihre Ziele verwirklicht. Menschheit zweiter Klasse, zu Negern und gelben Kulis: Neger, frz. nègre v. span. negro v. lat. niger, dt.: „schwarz“. Seit dem 17. Jh. als Lehnwort im Deutschen. / Kuli, Name geht auf einen ind. Stamm zurück, der Lastenträger stellt, engl. cooly. Im Deutschen seit Mitte des 19. Jh.s i. S. v. „Schwerarbeiter“ verwendet. N. assoziiert mit der Farbe gelb vermutl. asiatisch aussehende Menschen. kernfaulen jüdischen Dekadenten: Kernfäule, Begriff aus der Botanik. Bez. für den Befall durch parasitische Pilze, die das Kernholz eines Baumes zersetzen u. diesen dadurch zum Absterben bringen können. Da das Splintholz gewöhnl. nicht angegriffen wird, erscheint der Baum trotz Befall v. außen gesund. / Dekadenter, Anhänger des Dekadentismus, v. lat. decido, dt.: „herunterfallen“, „niederfallen“, „versinken“. Sammelbegriff für die unterschiedl. Erscheinungsformen des Verfalls. N. bezieht sich auf die lit. Strömung, die im letzten Viertel des 19. Jh.s in Frankreich einsetzt u. bis zum Ersten Weltkrieg ihre Blütezeit in Deutschland erlebt. Er widmet den Decadenten und Aestheten ein Kapitel im zweiten Band der kulturkrit. Schrift Entartung (1892/93). verworfenen Nachäffern: In seiner Schrift Entartung widmet N. ein ganzes Kapitel, Die jungdeutschen Nachäffer, dt. Schriftstellern des ausgehenden 19. Jh.s, die sich in der Tradition des frz. Autors Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840–1902) sehen. V. a. Vertreter des dt. Naturalismus wie Karl Bleibtreu (1859–1928), Max Kretzer (1854–1941) u. Heinz Tovote (1864–1946) werden v. N. wg. ihrer in seinen Augen fehlerhaften Sprache u. ihres unzulängl. Stils abgelehnt u. diffamiert. sozialistischen Enthusiasten: Vermutl. denkt N. an die Förderer des Zionismus auf sozialistischer Basis (Sozialismus und Zionismus) wie Nachman Syrkin (1868–1924) o. den russ. Vorkämpfer der jüdischen Arbeiterbewegung Ber Borochov (auch: Dow Beer Borochow, 1881–1917).
506 Teil II: Kommentar
18 [Nordau über die Judenfrage] Quelle: Die Welt, 30.6.1899, H. 26, S. 14–15.
„North American Review“: Das Magazin für Literatur North American Review (NAR) ist das erste seiner Art in den Vereinigten Staaten. 1815 in Boston v. dem amerik. Verleger u. Journalisten Nathan Hale (1784–1863) gegründet, erscheint es bis 1940 u. ab 1964 bis heute. Die Zeitschriftenrundschau bezieht sich auf N.s Artikel Israel Among the Nations (NAR, vol. 168, issue 511 (Juni 1899), S. 654–670). Judenfrage: → 458 Inferiorität: Komp. lat. inferior, dt.: „unterlegen“, „untergeordnet“, „minderwertig“. Bez. für eine untergeordnete Stellung o. für Unterlegenheit. Menschenrechte: → 441 Stigma: Griech. στíγμα, dt.: „Stich“, „Punkt“, „Fleck“, neg. konnotiertes Kennzeichen u. Unterscheidungsmerkmal, vgl. auch → 610. dürftigen Parias: Sg. Paria. Engl. pariah v. tamil. paṛaiyar, dt.: „Trommler“. Gar keiner o. der niedrigsten Kaste angehörende Inder, die bei Hindufesten Trommeln spielen. Bei N. i. S. v. „aus der Gesellschaft ausgestoßen“, „Außenseiter“. Majorität: Komp. lat. maior, dt.: „größer“, „bedeutender“, „höherstehender“, mlat. maioritas, dt.: „Mehrheit“. Bez. für „überwiegender Teil“, „Mehrheit“. Assimilation: → 431 Anähnlichung: → 444 Taufe: → 458 Apostel: → 504 Zerstreuung: → 424 Minorität: Komp. lat. minor, dt.: „kleiner“, „kürzer“, „geringer“, mlat. minoritas, dt.: „Minderheit“. Bez. für „Minderzahl“, „Minderheit“. Milch und Honig schlürfen: Das Land, in dem „Milch und Honig fließen“, ist das verheißene Land Kanaan. Der Ausdruck kommt in der Bibel häufig vor, vgl. u. a. Gen 3,8; 3,17; 13,27; 20,24; 33,3.
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19 Zionismus und Antisemitismus Quelle: ZS1, S. 299–306, dort mit Verweisen auf Quelle und Übersetzung: Le Siècle, 1899. Aus dem Französischen. Ferner in: Die Welt, 28.7.1899, H. 30, S. 2–4.
Alfred Berl: A. B. (Lebensdaten unbek.), frz. Autor u. Journalist. Hrsg. der frz. jüdischen Wochenschrift Paix et Droit. Werke u. a. Le proces Zola: impressions d'audience (1898), Le mouvement sioniste et l'antisémitisme (1899). Pariser „Grande Revue“: La Grande Revue ist eine in den Jahren 1897–1940 erschienene Zeitschrift (bis 1898 als La Revue du Palais), die Fragen der Literatur u. Kultur verhandelt. Hrsg. v. Fernand Gustave Gaston Labori (1860–1917). Studie über den Zionismus: N. bezieht sich auf den im gleichen Jahr auch als Buch erschienenen Artikel Le Mouvement sioniste et l'antisémitisme (La Grande Revue 3, 1899, S. 13–51). Assimilationsjuden: Jüdische Assimilation bedeutet die geistige u. kulturelle Angleichung an die christl. Mehrheitsgesellschaft bei gleichzeitiger Aufgabe der Identifikation mit der jüdischen Gemeinschaft. Ausgehend v. einem zunächst positiven Bedeutungsinhalt des Begriffs in den Jahren nach 1875 wird der Terminus zunehmend negativ v. modernen polit. Antisemiten im Kaiserreich verwendet. Innerjüdisch stehen die A. dem 1893 in Berlin gegründeten Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens nahe, um staatsbürgerl. Rechte für Juden durchzusetzen u. den Antisemitismus zu bekämpfen. Der Zentralverein steht damit in Opposition zu den Zionisten als Verfechtern eines modernen jüdischen Nationalismus. „Le Siècle“: Frz., dt.: „Das Jahrhundert“. In Frankreich erscheinende Tageszeitung (1836–1932). Nach anfängl. Unterstützung der konstitutionellen Monarchie vertritt die Zeitung nach 1848 republikanische Ideen. Während der Dreyfus-Affäre unterstützt Yves Guyot (1843–1928) im Gegensatz zu den Redakteuren Joseph Reinach (1856–1921), Raoul Allier (1862–1939) u. Félix Pécaut (1828–1898) die Seite des frz. Militärs. Lakonismen: Griech. λακωνισμός, dt.: „Präferenz und Parteinahme für die Lakedaimonier“. Da die Spartianer bzw. Lakedaimonier ein strikt reglementiertes Dasein führen, signalisiert ein Sprecher mit lakonischer Ausdrucksweise seine Vorliebe für Treffsicherheit u. Kürze. „Pilgrimfathers“ / „May Flower“: → 430 französischen Hugenotten: → 435 Widerrufung des Ediktes von Nantes: Das am 13.4.1598 erlassene Edikt v. Nantes (frz. Édit de Nantes) wird 1685 wieder aufgehoben. Es garantiert den Protestanten im ka-
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thol. Frankreich volle Bürgerrechte u. Religionsfreiheit, legt aber den Katholizismus als Staatsreligion fest. das Salz des brandenburgischen Bodens: N. verwendet das Bild des Salzes als kostbares, Geschmack verleihendes Gewürz, um die Bedeutung der Hugenotten für den Raum Brandenburg aufzuzeigen. Nach der Aufhebung des Edikts v. Nantes (1685) fliehen viele Hugenotten n. Brandenburg-Preußen, da Friedrich Wilhelm v. Brandenburg, gen. der Große Kurfürst (1620–1688), sich für ihre Aufnahme einsetzt. Aufgrund ihrer großen Anzahl prägen sie die Kultur u. Wirtschaft des Raums entscheidend mit. Holländer: N. bezieht sich auf die niederländ. Kolonien in Südafrika, deren Geschichte mit der Gründung v. Kapstadt als Proviantstation durch Jan van Riebeeck (1619–1677) 1652 beginnt. N.s Vokabular entspricht dem der Kolonialmächte, die die Fremdherrschaft oftmals mit der Pflicht, „unzivilisierte Länder“ zu kultivieren, begründen. die Deutschen: Kentucky ist zunächst ein Teil Virginias u. tritt am 1.6.1792 als 15. Staat den Vereinigten Staaten v. Amerika bei. Um 1900 hat er eine Bevölkerung v. ca. 2.100.000 Einwohnern, v. denen ca. 15 % dt. Wurzeln haben. Söhne der Normandie: N. spielt auf die Entdeckung Kanadas durch den Normannen Leif Eriksson (975–1020; heute wird L. E. als norweg. Wikinger bez.) an, der die kanad. Ostküste im Jahre 1000 erreicht. Die eigentl. Inbesitznahme Kanadas durch Frankreich erfolgt offiziell erst Anfang des 16. Jh.s durch den breton. Seefahrer Jacques Cartier (1491–1557). Waldenser: Waldenser, auch: Die Armen v. Lyon, sind die Vertreter einer durch Petrus Waldes (unbek.–1218) im Jahre 1175 in Lyon gegründeten religiösen Bewegung mit dem Ziel, das Evangelium zu verkündigen u. ein Leben in Armut nach dem Vorbild Jesu zu leben. Aufgrund ihrer Laienpredigt Exkommunizierung u. Vertreibung aus Lyon. Rasche Verbreitung ihrer Lehre in Norditalien, z. B. im Piemont. Menschenrechte: → 441 vaterlandslos: → 434 Gouvernements: → 438 Rumänien: → 439 Galiziens: → 439 die Symbolisten und Mystiker meiner Rasse: → 500 Kauderwelsch: Uneindeutige Etymologie. Vermutl. aus churwelsch für das schwer verständl. Rätoromanische der Graubündner Stadt Chur. Auch möglich v. oberdt.
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Kauderer für „Flachshändler“, „Garnhändler“, „Hausierer“ mit pejorativer Konnotation v. a. im Hinblick auf eine jüdisch geprägte Händlersprache. jüdischen Millionäre: → 496 Dekadenten: → 505 Anthropologe: → 429 ethnographische Diagnose: Ethnografisch → 429. / Diagnose, griech. διάγνωσις, dt.: „Unterscheidung“, „Beurteilung“, hier: systemat. Bestimmung einer Art aufgrund ihrer Merkmale. ethnographische Unter-Varietät: Ethnografisch → 429. / Varietät, lat. varietas, dt.: „Mannigfaltigkeit“, „Verschiedenheit“, „Abwechslung“. Bez. für geringfügig abweichende Formen. Abgestumpftheit, die Entartung: N. leitet den Begriff ‚Entartung‘ v. lat. degenerare, dt.: „aus der Art schlagen“, „ausarten“, ab u. beschreibt damit in der kulturkrit. Schrift Entartung (1892/93) eine in der 2. Hälfte des 19. Jh.s vorherrschende geistige Strömung, die nach diesem Prinzip menschl. Erscheinungsformen, charakterl. Verhaltensweisen o. kulturelle Hervorbringungen diskreditiert. Der Begriff entfaltet sich in kunsttheoret., kulturkrit., medizin. u. rassenbezogenen Diskursen. Vgl. Nachwort Entartung (2013). Volkes Israel: → 444 Barbarei des Ghetto: → 439
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20 III. Kongressrede Quelle: ZS1, S. 77–92, dort mit Datierung: Basel, 15. August 1899. Ferner als: Der dritte ZionistenCongress. Die Rede Dr. Max Nordaus, in: Die Welt, 25.8.1899, H. 34, S. 1–5.
III. Kongressrede: Der III. Zionistenkongress findet mit 153 Delegierten vom 15.18.8.1899 statt. Theodor Herzl (1860–1904) berichtet dem Kongress v. seinen Begegnungen mit Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) anlässl. dessen Orientreise in Konstantinopel u. Jerusalem. von den finsteren Zeiten des Mittelalters: → 443 böhmischen Fabrikstadt: Im August 1819 kommt es in dt. Großstädten, in Böhmen, dem Elsass, den Niederlanden u. in Dänemark zu judenfeindl. Pogromen. Die Juden werden im Zuge einer bürgerl. Emanzipation für Probleme der frühkapitalist. Industrialisierung verantwortlich gemacht. Aufgrund des Schlachtrufs des plündernden Mobs werden die Pogrome als ‚Hep-Hep-Unruhen‘ bez. Hep oder Hepp wird als Akronym des Kreuzfahrer-Schlachtrufs Hierosolyma est perdita (dt.: „Jerusalem ist verloren“) verwendet u. v. den hetzenden Gruppen um den Zusatz „Jud verreck!“ ergänzt. Einer anderen Erklärung zufolge geht die Exklamation auf einen Zuruf an Ziegenböcke in Franken zurück, der in Schmähabsicht auf Juden übertragen wird. N. bezieht sich vermutl. auf eine der beiden bedeutenden nordböhm. Industriestädte mit großer jüdischer Gemeinde, Trautenau (heute Trutnov) o. Reichenberg (heute Liberec). Jassy: Iași, dt. Jassy, veraltet: Jassenmarkt. Universitätsstadt im Nordosten Rumäniens in der Region Moldau, jüdischer Siedlungsschwerpunkt in Rumänien. Um 1900 machen Juden 51 % der Stadtbevölkerung aus. Nach der Rumän. Revolution v. 1848 versucht Ministerpräsident Ion Constantin Brătianu (1821–1891) 1867 die verfassungsmäßige Emanzipation der Juden durchzusetzen, scheitert aber am Widerstand der konservativen Opposition, worauf es zu Pogromen in Bukarest, Iași u. anderen Städten der Moldau kommt. Nikolajew: Nikolajew, ukrain. Mykolajiw, ist eine Stadt in der südl. Ukraine am Zusammenfluss der Flüsse Südlicher Bug u. Inhul an der Küste des Schwarzen Meeres. Die Pogrome in der Hafenstadt Odessa vom 3.–5.5.1881 greifen auf N. über. Juden werden verfolgt u. ermordet, während die Zentralregierung in St. Petersburg unentschlossen abwartet. Chicago: Ein großer Anteil der jüdischen Immigranten kommt um die Wende zum 20. Jh. mittellos in die Vereinigten Staaten u. verdingt sich als Hausierer. Diese körperlich anstrengende Arbeit bringt als psycholog. Hemmnis häufig die zwangsweise Nichteinhaltung des Sabbatgebotes mit sich u. die jüdischen Arbeiter werden rücksichtslos ausgebeutet.
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Hausierer: → 436 Geologie: Griech. γῆ, dt.: „Erde“, u. griech. λόγος, dt.: „Lehre“. Wissenschaft v. Struktur, Aufbau u. Zusammensetzung der Erde, ihrer Entwicklungsgeschichte u. der sie formenden Entstehungsprozesse. die vulkanische und die neptunische: Vulkanismus (auch: Plutonismus), im Wesentl. v. dem schott. Naturforscher u. Geologen James Hutton (1726–1797) entwickelte, mittlerweile widerlegte geolog. Hypothese, nach der geolog. Veränderungen hauptsächl. durch die Bewegungen u. das Erstarren flüssiger Magma bedingt sind u. alle Gesteine einen feurig-flüssigen Ursprung haben. Der V.-Theorie steht die ebenfalls widerlegte geolog. Neptunismus-Hypothese (auch: Diluvianismus) entgegen, die sämtl. Gesteine (einschließl. der vulkan.) als Sedimente im Wasser der Ozeane erklärt. Der N. wird durch den dt. Mineralogen u. Geognostiker Abraham Gottlob Werner (1750–1817) nach Untersuchungen am Scheibenberg im Erzgebirge (1787/88) entwickelt. Die Auseinandersetzungen zw. Plutonismus u. Neptunismus stehen v. 1790–1830 im Zentrum der Diskussionen um geolog. Entwicklungstheorien. Zerstörung des Tempels: → 426 Metzeleien der Kreuzzüge: Die bewaffneten Wallfahrten zur Befreiung des Heiligen Landes u. besonders Jerusalems gehen mit einer ekstat. eschatolog. Begeisterung der christl. Bevölkerungsmehrheit u. einem theolog. motivierten Judenhass einher, der zu barbarischen Exzessen führt. Während des ersten Kreuzzugs (1096–1099) werden besonders im Rheinland die Juden unter Todesdrohungen zur Taufe gezwungen; die jüdischen Gemeinden in Worms, Mainz u. Köln werden vernichtet. Während des zweiten Kreuzzugs (1147–1149) kommt es trotz Interventionen des Zisterzienserabtes Bernhard v. Clairvaux (um 1090–1153) in Nordfrankreich u. Franken zu Massakern. Im Vorfeld des dritten Kreuzzugs (1189–1192) werden in England Ritualmordvorwürfe erhoben,die zu Pogromen gegen nahezu alle engl. jüdischen Gemeinden führen. Die Gemeinde in York wird völlig vernichtet, die Gemeindemitglieder begehen kollektiv Suizid, um dem Massaker zu entgehen. Austreibung aus England und Frankreich zu der Verjagung aus Spanien: Durch deutl. überhöhte Steuern kommt es in England zu einer Verarmung großer Teile der jüdischen Gemeinschaft. Für Edward I. (1239–1307) sind die Juden daher nicht mehr v. wirtschaftl. Interesse u. er verfügt 1290 per Edikt ihre Ausweisung. / In Frankreich werden unter Karl VI., gen. der Vielgeliebte o. der Wahnsinnige (frz. Charles VI le Bien-Aimé o. le Fou, 1368–1422), alle Juden vertrieben. Sie flüchten v. a. nach Savoyen, Spanien u. Italien. / Nach Zwangsbekehrungen u. Massakern auf Betreiben der Kathol. Kirche im Jahr 1391 erlässt der Großinquisitor Tomás de Torquemada (1420–1498) 1492 ein Edikt, wonach sich die Juden Spaniens innerhalb v. vier Monaten taufen lassen müssen o. in die Emigration zu gehen haben. Es kommt zur bislang größten jüdischen Auswanderungsbewegung aus Spanien.
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Schlächtereien Chmielnickys: → 459 blutigen Verfolgungen der ersten 80er Jahre: Nach der Ermordung Zar Alexanders II. (1818–1881) am 1.3.1881 kommt es durch staatl. Lancierung u. Diffamierung der Juden zu einer Pogromwelle gegen die jüdischen Gemeinden, v. a. die der Ukraine. Diese Massaker u. die unter Alexander III. (1845–1894) erlassenen Gesetzgebungen, die Juden freie Berufswahl u. Gewerbefreiheit verbieten, lösen die erste Alija (hebr., dt.: „Aufstieg“) aus, eine Einwanderungswelle v. Juden n. Palästina. Tausendatmosphären-Wucht: Atmosphäre, griech. ἀτμός, dt.: „Dampf“, „Dunst“, u. griech. σφαῖρα, dt.: „Kugel“, „Ball“. Heute nicht mehr gebräuchl. Einheit des Druckes. Eine Technische Atmosphäre entspricht der Größe des Drucks, den eine Wassersäule v. exakt zehn Metern Höhe verursacht. N. spricht demnach v. einem immensen Druck. Mordstahl: Lat. ferrum, veraltet für „Mordwaffe“, „Schwert“. ohne bengalische Flammen: Auch: Bengalisches Feuer. Der Begriff ‚bengalisch‘ bez. das Gebiet des heutigen Bangladeschs u. Nordost-Indiens, wobei diese pyrotechn. Erfindung vermutl. aus China stammt. Bunte, flammende Feuerwerksmischung aus Schwefel, Salpeter u. Schwefelantimon (Stibnit), brennt mit grellem weißem Lichtschein u. starker Rauchentwicklung. Aktions-Komitee: Bez. eines personalen Zusammenschlusses innerhalb der Zionistischen Organisation, der ab 1897 die Organisation der Zionistischen Weltkongresse u. die Geschäftsführung zw. den Kongressen übernimmt. Unterteilung in ein sog. Engeres u. ein sog. Großes A.-K. Das Große A.-K., Exekutivorgan des Zionistenkongresses, besteht aus 23 Mitgliedern, die die großen jüdischen Gemeinden u. Strömungen weltweit repräsentieren. Es ist für die Aufsicht über die Jüdische Kolonialbank zuständig u. tagt auf allen Zionistenkongressen u. Jahreskonferenzen. Das Engere A.K., bis 1905 aus fünf, danach aus sieben Personen bestehend, wird vom Kongress gesondert gewählt u. bildet den geschäftsführenden Ausschuss des Großen A.-K.s. Bis zu seinem Tod am 3.7.1904 steht Theodor Herzl (1860–1904) an der Spitze des E. A.-K.s. Ein Publikationsorgan des A.-K. ist die Zeitung Die Welt. Erste Auflage der Zionistischen Schriften N.s vom A.-K. hrsg. (1909). jüdischen Überlieferung: Hebr. Kabbala. Jüdische Mystik u. Geheimlehre seit dem 12. Jh. Hier auch Bezug zu den heiligen Schriften des Judentums. 300 Kriegern Gideons: Nach dem bibl. Buch der Richter (Ri 7,1–8) reduziert JHWH die Zahl der israelit. Krieger um den Richter Gideon v. zunächst 22.000 auf 10.000 u. schließl. auf 300. Nach dem Ausspähen des Lagers der Midianiter greift Gideon den Feind an u. erringt den Sieg. Amalekiter: Name nur im Alten Testament überliefert. Die A. gelten als räuberisches Nomadenvolk im Süden Palästinas (Negev) u. Erbfeind Israels. Nach Ri 7,12 beteili-
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gen sich die A. im Gefolge der Midianiter an Beutezügen. N. subsummiert beide Stämme histor. unkorrekt als A. 36 Gerechte: Gerechter, hebr. Zaddik, Pl. Zaddikim. Im Alten Testament wird ein Mensch, der gerecht handelt o. rechtschaffen lebt, Zaddik genannt; der Talmud bez. einen als Z., der über die Erfüllung der Thora hinausgeht. Solange es 36 Z. gibt, die die Gegenwart JHWHs wahrnehmen (hebr. Schechina, dt.: „Einwohnung Gottes“), geht die Welt nicht unter. Rückkehr nach Jerusalem: → 480 Kampf ums Dasein: → 424 Synagoge: → 479 Sabbat: → 501 Protestrabbiner: → 489 glaubenstreuen Rabbiner des Ostens: Im neuzeitl. Polen, später in der Ukraine, Galizien, Ungarn u. Weißrussland, entwickeln aschkenas. Gemeinden eine ausgeprägte Frömmigkeitsbewegung, den Chassidismus. Zur Entstehung dieser myst.-religiösen Bewegung tragen äußere Umstände wie Verarmung breiter Volksschichten u. Verfolgungen durch die christl. Bevölkerungsmehrheit sowie innerjüdische Umstände wie Enttäuschungen über messian. Gestalten wie Sabbatai Zewi (1626–1676) bei. Der Chassidimus beginnt mit Israel ben Elieser Ba’al Schem Tow (um 1700–1760). Er geht davon aus, dass die Gottesherrlichkeit jedem einzelnen u. der Welt inne ist u. dass der Glaube eine Anhaftung (hebr. Dewekut) der menschl. Seele an Gott ist. Diese Anhaftung vollzieht sich im Gebet, in Gedanken u. im Umgang mit Mitmenschen. Vorbildfunktion haben die Zaddikim. mit entfalteter Davidsfahne: Anlässl. des I. Zionistenkongresses (29.–31.8.1897) in Basel entwirft der Zionist u. zweite Präsident der Zionistischen Organisation David Wolffsohn (1856–1914) eine Flagge auf weißem Grund mit einem zentral angeordneten blauen Davidstern zw. zwei waagerechten blauen Streifen. Die Gestaltung geht auf den jüdischen Gebetsmantel Tallit u. den hexagrammatisch angeordneten Davidstern (hebr. Magen David, dt. eigentl.: „Schild Davids“) in den jüdischen Ritualfarben blau u. weiß zurück. Nach der Gründung des Staates Israel 1948 wird sie zur Nationalflagge. Renegaten: Renegat, lat. re-, dt.: Präp. insep., „zurück“, „entgegen“ u. lat. negare, dt.: „verneinen“, „leugnen“, „verweigern“. Glaubensabtrünniger o. Abweichler v. einer bislang vertretenen polit. Überzeugung. Speichellecker der adligen Salons: Salon, auch ‚literarischer Salon‘. Vom 18. bis zum frühen 20. Jh. Treffpunkt höherer Gesellschaftsschichten für Lesungen, musikal. Darbietungen o. kulturelle Diskussionen. Die Salons werden häufig v. gebildeten
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adeligen Damen privat organisiert. N. bezieht sich auf assimilierte Juden, die zum Zweck gesellschaftl. Akzeptanz die Nähe dieser Salons suchen. Anatole France: A. F. (geb. als François Anatole Thibault, 1844–1924), frz. Schriftsteller. Durchbruch 1881 mit dem Roman Le Crime de Sylvestre Bonnard, membre de l'Institut. Auszeichnung mit dem Prix de l'Académie française. Weitere Romane u. a. Thaïs (1890), La Rôtisserie de la Reine Pédauque (1893), Le lys rouge (1894), L'Île des pingouins (1908) u. Les dieux ont soif (1912). 1921 Nobelpreis für Literatur. Blutzeugen: → 444 Assimilation: → 431 die Praktischen: → 426 seines Apostelamtes: → 504 Nelsons am Tage von Trafalgar: Horatio Nelson, 1. Viscount Nelson, 1. Baron Nelson of the Nile, Herzog v. Bronte (1758–1805), brit. Admiral (engl. Vice Admiral of the White). Entscheidender Anteil am brit. Sieg in der Seeschlacht v. Trafalgar am nordwestl. Ende der Straße v. Gibraltar am 21.10.1805. Die Schlacht v. Trafalgar beendet die Rivalität Frankreichs u. des verbündeten Spaniens gegenüber der Royal Navy während des dritten Koalitionskrieges (1805). Napoleon Bonaparte (1769–1821) muss seine Invasionspläne bzgl. der Brit. Inseln aufgeben u. seine Expansionsvorhaben auf das Festland konzentrieren. „Israel expects everybody to do his duty!“: N. parodiert das brit. Flaggensignal England expects that every man will do his duty (dt.: „England erwartet, dass jeder Mann seine Pflicht tun wird“), das Admiral Horatio Nelson (1758–1805) v. seinem Flaggschiff, der HMS Victory, vor der Schlacht v. Trafalgar (1805) an seine Flotte aussendet. Israel: → 444
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21 Renner Eindrücke Quelle: Die Welt, 3.11.1899, H. 44, S. 1–4.
Lyzeum-Saale zu Rennes: Das Oberste Berufungsgericht Frankreichs erklärt am 3.6.1899 das Urteil des Kriegsgerichtes gegen Alfred Dreyfus (1859–1935) v. 1894 für ungültig. Dreyfus muss sich in Rennes erneut dem Kriegsgericht stellen. Der Prozess findet vom 7.8.–9.9.1899 in Rennes statt. „Begnadigung“ von Dreyfus: → 453 Verbrechen: Der frz. Jurist u. Politiker Fernand Gustave Gaston Labori (1860–1917) verteidigt im Rahmen der Dreyfus-Affäre den frz. Schriftsteller u. Journalisten Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840–1902) im Rahmen einer Verleumdungsklage u. ist im zweiten Kriegsgerichtsverfahren gegen Dreyfus (1859–1935) einer der zwei Verteidiger. Ihm wird am 14.8.1899 in Rennes auf offener Straße in den Rücken geschossen. Der Attentäter wird nicht gefasst. Prisengericht: Prisengericht, frz. prise, substantiv. 2. Part. v. prendre, dt.: „Wegnahme“, „Ergreifen“, „das Genommene“. Das P. ist ein im Falle eines Krieges o. einer Blockade gebildeter Gerichtshof, der der Admiralität zugeordnet ist. Das Gericht entscheidet über die Rechtmäßigkeit einer Prise, d. h. über feindl. o. neutrale, im Krieg erbeutete o. beschlagnahmte Handelsschiffe o. Handelsgüter. Das P. schränkt dadurch temporär den Grundsatz der Freiheit der Meere ein. Fanatismus: → 453 Büttels: Büttel, mhd. bütel zu ahd. butil, dt.: „bekannt machen“, „wissen lassen“. Veraltet, pejorativ für „Gerichtsbote“, „Häscher“, „Ordnungshüter“, „Scherge“. Stockprivileg: N. bezieht sich auf das per Gesetz geregelte Vorrecht der Ordnungshüter, vom Schlagstock Gebrauch zu machen. Beauvais: Capitaine Charles Louis Rémi Beauvais (1841–1935), einer der sieben Richter des zweiten Kriegsgerichtsverfahrens gegen Dreyfus. Jahrgang 1870 der Ecole polytechnique. B. ist Hauptmann im 7. Artillerie-Regiment des frz. Heeres. Bemerkenswert ist, dass alle Richter Absolventen der Ecole polytechnique u. ranghöhere Artillerie-Offiziere sind. Flügelmann am Richtertische: Flügelmann, militär. terminus technicus, erster bzw. letzter Mann eines Gliedes. Bez. für denjenigen, der am weitesten entfernt v. dem in der Mitte platzierten vorsitzenden Richter sitzt. Gendarmerie-Hauptmannes: Gendarm, frz. gendarme, dt.: „Polizeisoldat“ (besonders auf dem Land eingesetzt), aus frz. gensd'armes, dt.: „bewaffnete Männer“, frz. gens, dt.: „Leute“, „Menschen“, u. frz. armes, dt.: „Waffen“.
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Oberst Jouaust: Colonel Albert Jouaust (1840–1927), vorsitzender Richter im zweiten Kriegsgerichtsverfahren 1899 gegen Alfred Dreyfus (1859–1935). Jahrgang 1858 der Ecole polytechnique. Er ist techn. Leiter des 10. Armee-Korps. Physiognomie: → 460 eisenfresserischer: Eisenfresserisch, Synonym für prahlerisch. grimmiger Schnurrbart à la Victor Emanuel: Viktor Emanuel II. (Vittorio Emanuele Maria Alberto Eugenio Ferdinando Tommaso di Savoia, 1820–1878), v. 1849–1861 König v. Sardinien-Piemont u. 1861–1878 König v. Italien. Auf Darstellungen ist er stets mit imposantem (Schnurr-)Bart zu sehen. Haudegen: Im 17. Jh. zunächst ein zweischneidiger Degen, eine Hiebwaffe im Gegensatz zum Stoßdegen. Ab dem 18. Jh. übertragen auf den Kämpfer, der ihn führt, Synonym für Draufgänger bzw. im Kampf erfahrener Soldat. muftige, finstere Seele und Livreebedientengefühle: Muftig, im Wiener Idiom ein Synonym für verdrossen o. beleidigt. / Livree, frz. livrée, dt.: „gestellte (gelieferte) Kleidung“. Bez. für mit Litzen o. Quasten besetzte, uniformartige Kleidung für Bedienstete o. Diener. antiken Chor der Tragödie: Tragödie, griech. τραγῳδία, dt.: „Bocksgesang“. In Griechenland in der Antike entstandene Form des Dramas. Hintergrund der T. sind kultische Umzüge zu Ehren des Gottes Dionysos, bei denen Masken mit Bocksfellen Verwendung finden. Die T. zeichnet sich dadurch aus, dass die Hauptfigur durch eigene Verblendung (griech. ἄτη) u. Frevel (griech. ὕβρις) die Katastrophe herbeiführt u. so unausweichl. ihr vorbestimmtes Schicksal erfüllt; die T. endet häufig mit dem Tod des Protagonisten. Der außerhalb der Handlung stehende Chor kommentiert u. deutet das Geschehen. Nach Aristoteles (384–322 v. Chr.) ist durch die Affekte Eleos u. Phobos (griech. ἔλεος, dt.: „Jammer“, u. griech. φόβος, dt.: „Schaudern“) die beim Zuschauer beabsichtigte Wirkung eine Katharsis (griech. κάθαρσις, dt.: „Läuterung“, „Reinigung“). / Chor, griech. χορός, dt.: „Tanzplatz“, „Reigentänzer“. Gruppe v. Schauspielern, die die Handlung der Tragödie kommentierend begleitet, moralisch wertet u. dem Publikum Orientierungshilfen bietet. Vertreter der nationalistischen Presse: Ende des 19. Jh.s erleben zahlreiche Zeitungen u. Magazine in Frankreich durch techn. Innovationen deutl. höhere Druckauflagen u. die Zahl der Leser nimmt zu. Zu den offen antisemitisch gegen Dreyfus (1859– 1935) u. seine Anhänger schreibenden Blättern zählen während des zweiten Kriegsgerichtsprozesses das v. Édouard Drumont (1844–1917) gegründete La Libre Parole, das v. Moïse Polydore Millaud (1813–1871) gegr. Le Petit Journal, das kathol. geprägte, v. Emmanuel d'Alzon (1810–1880) gegr. La croix u. die polit. eher links stehende, v. Benjamin-Charles-Eugène Mayer (1843–1909) gegr. L'Intransigient.
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Pickwickier-Gründen: The Posthumous Papers of the Pickwick Club, besser bek. als The Pickwick Papers (1836/7). Erster Roman des engl. Schriftstellers Charles Dickens (1812–1870). Zunächst als monatl. Fortsetzungsroman in 20 Teilen zw. März 1836 u. Oktober 1837 publiziert. Vermutl. bezieht sich N. auf die im Roman vorkommende Anwaltskanzlei Dodson & Fogg, die exemplarisch für das skrupellose Handeln der Justiz steht. Fingerdruck eines kleinen Mädchens: Die Meerenge Hell Gate befindet sich in dem Fluss East River in New York City. Aufgrund zahlreicher Verwirbelungen in diesem schmalen Flussabschnitt sinken in der ersten Hälfte des 19. Jh.s viele Schiffe. Ab 1851 werden vom United States Army Corps of Engineers mehrere Felsen gesprengt. Am 24.9.1876 wird eine Sprengung v. der zweijährigen Mary Newton, Tochter des kommandierenden Generals John Newton (1822–1895), durch Betätigen eines elektr. Schalters ausgelöst. Bei der größten Sprengung am 10.10.1885 betätigt erneut die inzw. elfjährige Mary den Sprengmechanismus. Brogniart: Lieutenant-Colonel François Paul Brogniart (1849–1904). Jg. 1869 der Ecole polytechnique. Offizier im 10. Artillerie-Regiment der frz. Armee. Ligueur: Angehöriger einer polit. Liga, sehr konservativ bis reaktionär. Vermutl. bezieht sich N. auf die Heilige Liga (frz. Sainte Ligue) o. Katholische Liga (frz. Ligue catholique), eine 1576–1577 u. 1584–1593 aktive Gruppe kathol. frz. Adliger, die während der Hugenottenkriege (insg. acht frz. Bürgerkriege zw. 1562 u. 1598) gegen die frz. Calvinisten Partei ergreift. Weißbindenträger der Bartholomäusnacht: Die Bartholomäusnacht (frz.: Massacre de la Saint-Barthélemy) ist ein Massaker an den frz. protestant. Hugenotten in der Nacht vom 23. auf den 24.8.1572. Der protestant. Anführer Admiral Gaspard II. de Coligny (1519–1572) u. mehrere tausend Pariser Hugenotten werden dabei ermordet. Die angreifenden Katholiken sollen als Erkennungszeichen untereinander weiße Binden um den Arm tragen u. weiße Kreuze an den Hüten befestigen. Die B. ist ein zentrales Ereignis der Hugenottenkriege u. Auslöser einer Welle v. Gewalt, die sich in ganz Frankreich ausbreitet. finsteren Molchhöhlen: In Europa sind nur wenige Arten der Ordnung Schwanzlurche (lat. Caudata) Bewohner meist dunkler u. feuchter Höhlen. Einige Arten überwintern in Höhlen. Möglicherweise assoziiert N. mit Molchen in Höhlen myst. Vorstellungen urzeitl. Ungeheuer wie etwa Drachen. Als Molch werden außerdem pejorativ als optisch o. charakterl. abstoßend empfundene Menschen bez. Merle: Commandant (dt.: „Major“) Émile Merle (Lebensdaten unbek.). Jahrgang 1872 der Ecole polytechnique. Offizier im 7. Artillerie-Regiment der frz. Armee. Oberstleutnant de Bréon: Commandant Charles François de Lancrau de Bréon (1846–1927). Jahrgang 1866 der Ecole polytechnique. Offizier im 7. Artillerie-Regi-
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ment der frz. Armee. N. gibt den militär. Dienstgrad falsch mit O. wieder, Lancrau de Bréon ist ein rangniedrigerer Commandant (dt.: „Major“). ein alter Major und ein junger Hauptmann: Die beiden übrigen Beisitzer des Richtergremiums sind Commandant (dt.: „Major“) Julien Profillet (Lebensdaten unbek.), Jahrgang 1872 der Ecole polytechnique u. Offizier im 10. Artillerie-Regiment, sowie Capitaine (dt.: „Hauptmann“) Albert Parfait (Lebensdaten unbek.), Jahrgang 1876 der Ecole polytechnique u. Offizier im 7. Artillerie-Regiment. Rottmeister der Landsknechte auf einem Callot'schen Stiche: Rottmeister, Anführer einer Rotte, mhd. rot(t)e aus afrz. rote, dt.: „Schar“, zu mlat. rupta o. rutta, dt.: „Abteilung“. Eine Rotte besteht aus acht bis zwölf Landsknechten u. wählt den Rottmeister aus ihrer Mitte als Anführer. / Landsknecht, bez. im 16. Jh. einen zur Infanterie gehörenden Berufssoldaten, der als Söldner im kaiserl. Land angeworben wird. / Jacques Callot (1592–1635), frz. Kupferstecher u. Radierer. Bek. für äußerst differenzierte Hell-Dunkel-Effekte durch die v. ihm erfundenen neuen Radiernadeln. Darstellungen des Krieges u. Szenen aus dem Volksleben u. der ital. Komödie (ital. Commedia dell'Arte), oft mit grotesken Elementen. Modell eines Alba'schen Offiziers: Der Adelstitel Duque de Alba (span., dt.: „Herzog v. Alba“) ist einer der ältesten Titel des span. Adels u. wird 1465 der Familie Álvarez de Toledo verliehen. Vermutl. bezieht sich N. auf den 3. Duque de Alba, Fernando Álvarez de Toledo y Pimentel (1507–1582), der in seiner Eigenschaft als Statthalter der Niederlande (1567–1573) während des 80-jährigen Krieges (1568–1648) im Dienst der span. Krone ein äußerst brutales Regiment gegen die aufständische Zivilbevölkerung führt. Major Hartmann: Commandant Gaston Hartmann (1851–1922), Entlastungszeuge im zweiten Kriegsgerichtsverfahren gegen Dreyfus (1859–1935) in Rennes. Nach seiner Aussage hätte Dreyfus als Experte für Artillerie nicht der Autor des bordereaus sein können, da in diesem grobe sachl. Fehler enthalten sind. Dies hätte bereits früher auf den eigentl. Verräter, den Commandant des 74. Infanterie-Regiments Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy (1847–1923), deuten müssen. der Lehre Lombrosos vom geborenen Verbrecher: Cesare Lombroso (1835–1909), ital. Arzt u. Kriminologe, v. 1863 bis 1872 Psychiater in Pavia, Pesaro u. Reggio Emilia, ab 1874/5 Professor der gerichtl. Medizin in Pavia, ab 1876 in Turin. N. bezieht sich auf L.s Schrift L'uomo delinquente. In rapporto all'antropologia, alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie (1876, dt.: „Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung“). Nach L. prägt die Physiologie den menschl. Charakter, bspw. weisen Kriminelle eine atavist. Physiologie auf. Weitere Werke: Genio e follia, in rapporto alla medicina legale, alla critica ed alla storia (1864, dt.: „Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte“) u. La donna delinquente, la prostituta e la donna normale (1903, dt. Ausgabe: „Das Weib
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als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien, gegründet auf eine Darstellung der Biologie und Psychologie des normalen Weibes“). anatomischen Eigentümlichkeiten: Anatomie, griech. ἀνατομή, dt.: „Zerschneiden“, „Zergliedern“, Lehre vom Körperbau aller Lebewesen. Pferdehändler Germain: Der meineidige Belastungszeuge Georges Germain (Lebensdaten unbek.) will zusammen mit einem weiteren falschen Zeugen, Paul Kulmann (Lebensdaten unbek.), im September 1887 in Mulhouse/Mühlhausen Dreyfus (1859– 1935) zusammen mit einem dt. General gesehen haben. Dreyfus wird als im elsäss. Mühlhausen geborener Jude aufgrund seiner Herkunft sofort der Spionage für das Deutsche Reich verdächtigt. General Mercier: Auguste Mercier (1833–1921), frz. General u. Kriegsminister. Jahrgang 1852 der Ecole polytechnique. Kathol. Republikaner u. treibende Kraft in der Dreyfus-Affäre. M. unterzeichnet aufgrund des bordereaus am 14.10.1894 den Haftbefehl gegen Dreyfus (1859–1935) u. überträgt die weiteren Untersuchungen an Major Armand Auguste Charles Ferdinand Marie Mercier du Paty de Clam (1853–1916). Dieser ist ab 1896 an den Vertuschungsversuchen der Schuld v. Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy (1847–1923) beteiligt. General Roget: Gaudérique Roget (1846–1917), frz. General, Anti-Dreyfusard. Er wird 1898 vom Kriegsministerium beauftragt, das Wiederaufnahmeverfahren des Prozesses gegen Dreyfus (1859–1935) vorzubereiten. Seine Darlegungen im Gerichtsverfahren werden v. Zeitgenossen als klare Beschuldigung von Dreyfus aufgefasst. Boisdeffre: Raoul François Charles Le Mouton de Boisdeffre (1839–1919), frz. General, 1893–1909 Vorsitzender des frz. Generalstabs. Als der Leiter des frz. Geheimdienstes Marie-Georges Picquart (1854–1914) den tatsächl. Landesverräter Marie Charles Ferdinand Walsin-Esterházy (1847–1923) identifiziert, gehört B. zu denjenigen, die darauf drängen, das Fehlurteil gegen Dreyfus (1859–1935) bestehen zu lassen. Der Justizirrtum weitet sich zu einem Politskandal aus u. führt zu zahlreichen landesweiten antisemitischen Schmähungen. roten Pontacnase: Pontac, auch Pontack, Pontak u. Pontiac. Synonyme für die rote Weinrebsorte Teinturier du Cher, die als Ursprung aller Färbertrauben gilt. Ab dem 17. Jh. an der mittleren Loire bei Cuvée-Weinen zum Erzielen einer kräftigeren Farbe verwendet. Die rote Nase ist wohl auf übermäßigen Weinkonsum zurückzuführen. Billot: Jean-Baptiste Billot (1828–1907), frz. General u. Politiker. V. dem frz. Autor Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840–1902) wird B. verdächtigt, an der Konspiration gegen Dreyfus (1859–1935) beteiligt zu sein. Gonse: Charles Arthur Gonse (1838–1917), frz. General. In seinen Verantwortungsbereich im frz. Nachrichtendienst fallen die Ermittlungen gegen Dreyfus (1859–1935).
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Er ist wesentl. an den Täuschungsversuchen u. Vertuschungen beteiligt, die den Justizirrtum gegen Dreyfus decken sollen. Gleisner Chamoin: Gleisner, mhd. glīsnēre, gelīchs(e)nære zu ahd. gilīhhisōn, dt.: „es jemandem gleichtun“, „sich verstellen“, „heucheln“. G. steht veraltet für „Heuchler“. / Achille Arthur Chamoin (1837–1914), frz. Infanterie-General. General Deloya: Lebensdaten unbek. Deklamation: Deklamieren, lat. declamo, dt.: „eifern“, „poltern“, „laut vortragen“. Hier i. S. v. „in eindringl. u. pathet. Ton über einen Gegenstand vortragen“. Auslese konfiszierter Gesichter: Konfiszieren, lat. confisco, dt.: „in der Kasse aufbewahren“, „einziehen“. Eigentl. „gerichtlich beschlagnahmen“. K. ist hier i. S. v. „v. dem Prozess in Beschlag genommen werden“ zu verstehen. Bajonette: Bajonett, frz. baïonnette, nach dem Herstellungsort Bayonne in Frankreich. Auf dem Gewehrlauf befestigte Stichwaffe für den Nahkampf, meist eine Stahlklinge. Bazaine in Mexiko: François-Achille Bazaine (1811–1888), frz. Marschall. Ab 1863 Divisionskommandeur in Mexiko u. Oberbefehlshaber der dort stationierten frz. Truppen. 1864 Installation des v. Frankreich abhängigen Kaiserreichs Mexiko (span. Imperio Mexicano, 1864–1867) unter Erzherzog Ferdinand Maximilian Joseph Maria v. Österreich (1832–1867) als Maximilian I., Kaiser v. Mexiko. Nach der Niederlage Frankreichs im Dt.-Frz. Krieg 1870/71 wird B. als Sündenbock degradiert u. verurteilt. Weyler auf Kuba: Valeriano Weyler y Nicolau (1838–1930), span. General u. Generalgouverneur auf Kuba. Nach Beginn des kuban. Unabhängigkeitskrieges (1895–1898) wird er v. Spanien zum Gouverneur ernannt. Er lässt im Kampf gegen die Aufständischen die Zivilbevölkerung in campos de reconcentración (span., dt.: „Rekonzentrationslager“) sperren, ohne eine ausreichende Versorgung mit Wasser u. Lebensmitteln zu gewährleisten. Das grausame Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung mit über 100.000 Todesopfern trägt ihm in den angelsächs. Ländern den Beinamen The Butcher ein. Haynau in Ober-Italien: Julius Jakob Freiherr v. Haynau (1786–1853), österr. General. Mit dem Ausbruch der Revolution v. 1848 wird er österr. Kommandant in Verona. Durch sein kompromissloses militär. Vorgehen trägt er zum Sieg der Österreicher bei u. verwaltet die Herrschaft in Bergamo, Brescia u. Ferrara mit unerbittl. Strenge. ersten Kaiserreiches: Erstes Kaiserreich (frz. Premier Empire), bez. die Epoche v. 1804–1814/15. Napoleon Bonaparte (1769–1821) ist in diesem Zeitraum Kaiser der Franzosen. Die Herrschaft Napoleons ist weitgehend autokrat., obgleich die Verfassung nominell eine konstitutionelle Monarchie vorsieht.
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dreißigjährigen Krieges: Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) ist ein Religionskrieg u. ein Konflikt zw. den habsburg. Mächten Österreich u. Spanien u. Frankreich, den Niederlanden, Dänemark u. Schweden. Als Auslöser gilt der Prager Fenstersturz vom 23.5.1618. Die Auseinandersetzungen werden durch den in Münster u. Osnabrück unterzeichneten Westfälischen Frieden (15. u. 24.10.1648) beendet. Der Krieg ist für die Zivilbevölkerung auf dem Gebiet des Heiligen Röm. Reiches Deutscher Nation durch Seuchen u. Hungersnöte verheerend, ganze Landstriche werden entvölkert u. die Bevölkerung wird stellenweise auf ein Drittel dezimiert. Friedenskongresse von Haag: Ndl. Den Haag, dt. auch: der Haag, in Den Haag, in Haag. Den Haag ist Regierungssitz, aber nicht Hauptstadt der Niederlande u. seit 1840 Hauptstadt der Provinz Südholland. Seit 1831 ist es zudem Residenzstadt des niederländ. Königshauses. / Auf Initiative v. Zar Nikolaus II. (1868–1918) u. der niederländ. Königin Wilhelmina Helena Pauline Maria v. Oranien-Nassau (1880–1962) tagen vom 18.5.–29.7.1899 u. vom 15.6.1–8.10.1907 in Den Haag zwei Konferenzen, die sog. Haager Friedenskonferenzen. Themen sind Abrüstung der europä. Großmächte u. Grundsätze für die friedl. Beilegung internationaler Konflikte. Die Einführung einer obligator. Schiedsgerichtsbarkeit für internationale Streitfälle scheitert an der Ablehnung einiger maßgebl. Staaten (u. a. Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Türkei). Trotzdem kommt es zur Einrichtung des Schiedsgerichtshofs, dem Vorläufer des Internationalen Gerichtshofs. Landsknechtszeiten: → 518 Monstra im teratologischen Sinne: Monstra, Pl. v. lat. monstrum, dt.: „Ungeheuer“, „Scheusal“. / Teratologie, griech. τέρας, Gen. τέρατος, dt.: „Wunderzeichen“, „Ungeheuer“, „Missgeburt“, u. griech. λόγος, dt.: „Rede“, „Wort“, „Berechnung“. T. bez. die Lehre v. den Missbildungen bei Lebewesen.
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22 Heloten und Spartaner Quelle: ZS1, S. 374–378, dort mit dem Hinweis: Kommers Wiener jüdischer Hochschüler 1899.
Heloten und Spartaner: Helot → 435. / Spartaner, griech. Σπαρτιάτης, Einwohner der Stadt Sparta auf der Peloponnes, auch Λάκων bzw. Λακεδαιμόνιος, dt.: „Bewohner v. Lakedaimon“, „Spartaner“ (inklusive Periöken). Fabeln: → 463 Judenemanzipation: → 440 Helotentragödie: → 516 (antiken Chor der Tragödie) Mothaken: Mothake, griech. μόθαξ, Gen. μόθακος, Kind v. Periöken o. Kind mit spartan. Vater u. periök. Mutter, das an der spartan. Erziehung teilnimmt u. zusammen mit spartan. Kindern lebt. Neodamoden: Neodamode, griech. νεοδαμώδης, dt.: „Neubürger“. Bez. für Heloten, die zur Belohnung für geleistete Dienste die Freiheit ohne volles Bürgerrecht erhalten u. zum Kriegsdienst herangezogen werden können. assimilierten: → 431 Krypteia: Griech. κρυπτεία, dt.: „Durchstreifen des Landes“, „Überwachung der Heloten durch spartan. Jünglinge“. Die Institution der K. ist nach Platon (428/427– 348/347 v. Chr.) (Plat. leg. 633b–c) ein militär. Härtetest unter freiem Himmel, bei dem die spartan. Teilnehmer (griech. κρυπτοί) nur ein Minimum an Ausrüstungsgegenständen zur Verfügung haben, um die Fähigkeiten im Ertragen v. Strapazen, Schmerzen u. Hunger zu stärken. Nach Plutarch (um 45–um 125 n. Chr.) erhalten junge Spartaner die Aufgabe, sich nur mit einem Schwert bewaffnet tagsüber zu verbergen u. nachts Heloten zu ermorden. Der urspr. als Training intendierte Härtetest wird in klass. Zeit als Initiationsritus zur Erlangung des vollen Bürgerrechts erweitert. Arierdoppelblut: → 459 Millionär: → 496 Goethe weiß für den Menschen keine ruhmvollere Grabschrift: Johann Wolfgang v. Goethe (1749–1832), geadelt 1782, bedeutender dt. Dichter, Naturwissenschaftler u. Politiker. In dem Gedicht Einlass, Teil der Gedichtsammlung West-östlicher Diwan (1819), wird ein Dichter von der Wache des Paradieses nach seinen Heldentaten gefragt. Er erwidert: „Nicht so vieles Federlesen! / Lass mich immer nur herein: / Denn ich bin ein Mensch gewesen, / Und das heißt ein Kämpfer sein.“ (V. 13–16)
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Kommers Wiener jüdischer Hochschüler: Im student. Brauchtum bez. K. eine am Abend abgehaltene, nach festen Regeln ablaufende festl. Zusammenkunft v. Studentenverbindungen, bei der gesungen u. Bier getrunken wird. Zu jüdischen Studentenverbindungen vgl. → 579.
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23 Ein Brief an den Herausgeber der Hatechijah Quelle: ZS1, S. 368–370.
Ein Brief: Unter dem Titel Ein Brief von Max Nordau. wird der Text mit geringfügigen orthograf. Abweichungen am 19.4.1900 (H. 16, S. 5) in der Wochenzeitschrift Die Welt abgedruckt. Dort ist er mit folgendem einleitenden Absatz versehen: „Der Chicagoer Reformrabbiner Dr. Emil Hirsch, der seit langem als hartnäckiger Gegner der zionistischen Bewegung bekannt ist, hat in jüngster Zeit das Bedürfnis gefühlt, seine Opposition irgendwie zu begründen. Er richtete daher an einen seiner Getreuen ein salbungsvolles Sendschreiben, in dem er als letzten Grund seiner antizionistischen Haltung die ›Ungläubigkeit‹ Max Nordau's hinstellt. Der Herausgeber der Chicagoer hebr. Wochenschrift Hatechijah lenkte die Aufmerksamkeit Nordaus auf dieses famose Schreiben und erhielt hierauf von Nordau folgenden Brief: […].“ Hatechijah: Hebr., dt.: „Auferstehung“. Name einer hebr. Wochenschrift, Erscheinungsort Chicago. Schur: William (eigentl. Wolf Zeev) Schur (1844–1910), Hrsg. der hebr. Wochenschrift Hatechijah in Chicago. Dr. Hirsch: Dr. Emil Gustav Hirsch (1851–1923), luxemburg. Reformrabbiner in Chicago. Tätigkeit an der Chicago Sinai Congregation u. Professor für rabbin. Literatur u. Philosophie an der University of Chicago. Hrsg. der Publikationen Der Zeitgeist (Milwaukee, 1880–82) u. Reform Advocate (1891–1923). Freidenker: → 497 seit 1500 Jahren: → 424
24 Der Zionismus und die Kolonien in Palästina
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24 Der Zionismus und die Kolonien in Palästina Quelle: ZS1, S. 272–281, dort mit dem Hinweis: Rede, gehalten in Paris, März 1900.
Kolonien in Palästina: → 469 Kampf ums Dasein: → 424 Bakschisch: Persisch bah̲šīš, dt.: „Geschenk“, „Zuteilung“. Im Orient Trinkgeld für eine erwiesene Gefälligkeit, Almosen o. Bestechungsgeld. wucherische Regierungs-Abgaben: Seit Sultan Süleiman I., gen. der Prächtige (1495/ 96–1566), gibt es im Osman. Reich die Steuerpacht, türk. malikâne, dt.: „großes Gut“, „Schloss“. Bei diesem System der Steuererhebung zieht der Staat die Steuern nicht selbst ein, sondern verpachtet gegen Vorkasse das Recht auf Steuereinnahmen an Privatpersonen. Die Steuerpächter sind bei der Bevölkerung verhasst, da sie häufig deutl. höhere Steuern erheben als zuvor der Staat. Korruption ist systemimmanent. Mentalitäts- u. ortsfremde Kolonisten nicht-muslim. Religionszugehörigkeit sind daher leicht Opfer überhöhter Steuern. Erst während der unter dem Großwesir Mustafa Reşid Pascha (1800–1858) eingeleiteten Reformphase (1838–1876) wird sukzessive das Steuersystem reformiert. Der berühmte große Wohltäter: N. bezieht sich auf den frz. Philanthropen u. Zionisten Baron Edmond Benjamin James de Rothschild (1845–1934). Seit 1882 fördert R. die Kolonisation in Palästina durch das Aufkaufen großer Landflächen für durch Pogrome verfolgte jüdische Immigranten. V. a. in den 1882 als Moschawa gegründeten Siedlungen Rischon LeZion u. Zichron Ja'akow forciert er den Weinbau u. unterstützt den Ausbau zum führenden Produzenten Palästinas. 1900 überträgt er die Verantwortung für die Kolonien der JCA. ICA: Auch: JCA (dt.: „Jüdischer Kolonisierungsverband“). V. dem Bankier Baron Moritz/Maurice (de) Hirsch (geb. als Moritz Freiherr v. Hirsch auf Gereuth, 1831–1896) 1891 gegründete Vereinigung zur Bereitstellung v. Geldmitteln für die Schaffung jüdischer Agrarkolonien in Argentinien, um wg. des verstärkten Antisemitismus v. a. Juden aus Russland in ihren Emigrationsbestrebungen zu unterstützen. „Chowewi Zion“: Chowewe Zion, hebr., dt.: „Zion-Liebende“. Anhänger der zionistischen Bewegung Chibbat Zion (hebr., dt.: „Liebe zu Zion“), die in der 2. Hälfte des 19. Jh.s v. a. in Russland u. Rumänien um Unterstützung für jüdische Siedlungen in Palästina werben. Die Ch. Z.-Gesellschaften werden hierbei besonders v. Baron Edmond Benjamin James de Rothschild (1845–1934) unterstützt. praktischen Zionisten: → 426 Zionsliebe: → 426
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Pariser Dorsche Zion: Dorsche Zion, hebr. Dorshei Zion, dt.: „Sucher nach Zion“, „Erforscher Zions“. V. Jehoschua (auch: Joshua) Syrkin (1838–1922) in Minsk gegr. frühzionistischer Verein zur Unterstützung der Kolonisation Palästinas. Der Verein unterstützt die 1891 entstandene jüdische Kolonie Ain-Setün (hebr. Ein Zeitim, dt.: „Frühling der Oliven“) in Galiläa u. hat Dependancen in mehreren europä. Städten. 138 Fr.: Sg. Franken, frz. franc, dt.: „frei v. fremden Einflüssen“. Frz. Münze, urspr. mit der aufgeprägten Aufschrift francorum rex (dt.: „König der Franken“). 1360 erstmals als Lösegeld für den sich in engl. Gefangenschaft befindenden Johann II., frz. Jean II le Bon (1319–1364), geprägt. 1795 wird der Franc als dezimal unterteilte Währung für Frankreich eingeführt. Schekel: → 490 Aktionskomitees: → 512 bloße Maulmacher: Maulmacher, veraltete Bez. für eine Person, die eine andere dazu bringt, das Maul aufzusperren, ohne ihr etwas hineinzugeben. Synonym für Großsprecher, Prahler, Maulheld. platonischer Liebhaber: Platonische Liebe, benannt nach dem griech. Philosophen Platon (428/427–348/347 v. Chr.). Der seit der Renaissance gebräuchl. Begriff bezieht sich in der urspr. Konnotation auf Pl.s philosoph. Theorie der Liebe. Im Sprachgebrauch bez. der Ausdruck eine nicht sinnl., rein seelisch-geistige Liebe ohne sexuelles Interesse. N. versteht einen platon. Liebhaber Zions als ideellen Befürworter der zionistischen Idee, nicht aber als leidenschaftl. Kämpfer für die Sache.
25 Rede, gehalten im Haag, 10. April 1900
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25 Rede, gehalten im Haag, 10. April 1900 Quelle: ZS1, S. 215–233.
im Haag: → 521 jener Figur aus Molière: Molière (eigentl. Jean-Baptiste Poquelin, 1622–1673), frz. Schauspieler u. Dramatiker. Gemeint ist der Bauer Pierrot aus Dom Juan ou le Festin de pierre (UA 15.2.1665). „Je dis toujours la “: „Je te dis toujou la mesme chose, parce que c'est toujou la mesme chose, et si ce n'était pas toujou la mesme chose, je ne te dirais pas toujou la mesme chose.“ (Dt.: „Ich sage dir immer das Gleiche, weil es immer das Gleiche ist, und wenn es nicht immer das Gleiche wäre, sagte ich dir nicht immer das Gleiche.“) II. Akt, 1. Szene aus Dom Juan ou le Festin de pierre (UA 15.2.1665) des frz. Dichters Molière (eigentl. Jean-Baptiste Poquelin, 1622–1673). Im August 1897: → 438 (I. Kongressrede) im August 1898 und 1899: → 470, → 510. Pflege der hebräischen Sprache: Der litau. Linguist u. Lexikograf Elieser Ben Jehuda (eigentl. Elieser Isaak Perlmann, 1858–1922) ist der Erneuerer der hebr. Sprache, die ab ca. 200 n. Chr. nur noch als Sakralsprache, d. h. kaum als gesprochene Sprache, überlebt. Sein Ziel ist es, das Iwrit als moderne Literatur- u. Standardsprache erneut zu etablieren. Das Hauptwerk Ben Jehudas, das zahlreiche, im bibl. Hebräisch nicht vorhandene Lexeme neu bildet, ist der Thesaurus totius hebraitatis et veteris et recentioris (1911–1930/1959, dt.: „Gesamtwörterbuch des Alt- und Neuhebräischen“). Schekel: → 490 Mark: Mark, mhd. marc, german. Masseneinheit, die ab dem 11. Jh. als Münz- u. Edelmetallgewicht das Pfund verdrängt. Mit dem Münzgesetz vom 9.7.1873 wird im Deutschen Reich die Goldwährung u. als Währungsnominal die Mark (entspricht 100 Pfennigen) eingeführt. Franken: → 526 Aktionskomitee: → 512 „Der Judenstaat“: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage (1896), 86-seitiges Traktat v. Theodor Herzl (1860–1904), in welchem die Forderung nach einem jüdischen Staat in Palästina erhoben wird. Inhaltl. entwirft H. den Gedanken einer jüdischen Staatsgründung auf moderner Basis, wodurch Antisemitismus in den europä. Staaten eingedämmt werden könnte. Nach H.s Überzeugung ist eine friedl. Koexistenz zw. Juden u. Arabern in Palästina möglich. Als alternative Territorien für den Judenstaat schlägt er Argentinien u. Uruguay vor, womit er sich
528 Teil II: Kommentar
v. der orthodoxen Auffassung löst, ausschließl. Palästina käme als Heimstätte der Juden in Frage. Das in einer Auflage v. 3.000 Exemplaren gedruckte Werk erzeugt so große Resonanz, dass es 1897 während des I. Zionistischen Weltkongresses in Basel ideolog. das Baseler Programm untermauert. Wochenschrift „Die Welt“: → 436 jüdisch-polnischen und jüdisch-spanischen Jargon: N. bezieht sich auf das Jiddische, die Umgangssprache der nicht assimilierten aschkenas. Juden in Osteuropa, u. das Ladino, eine roman. Sprache mit vielen Einflüssen aus dem Hebr. u. Aramäischen, die bis 1492 vorwiegend v. sephard. Juden in Spanien gesprochen wird. In den Ländern des Vorderen Orients, in denen sephard. Juden Zuflucht finden, lebt das Ladino weiter. apologetisch: Griech. ἀπολογία, dt.: „Verteidigungsrede“, „Rechtfertigung“. Hier i. S. v. „eine Ansicht o. Sache rechtfertigend“. Programm: → 486 assimilieren: → 431 öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte: → 486. N. versteht unter einem Staat Israel eine Verwaltungseinrichtung als eigene Rechtsperson mit einem bestimmten Nutzungszweck, d. h. Autonomie gegenüber anderen Staaten. Der v. N. verwendete Terminus ist in der heutigen jurist. Fachsprache in dieser Bedeutung ungebräuchlich. Osterstab: In der jüdischen u. christl. Liturgie ist der O. im Zusammenhang mit dem Auszug aus Ägypten unbekannt; N. collagiert vermutl. mehrere Gedanken, wie er es auch in späteren Reden zum gleichen Thema wiederholt: „Sie [die Juden] fanden sich damit ab, dauernd das ägyptische Osterdasein zu leben, die Lenden gegürtet, den Wanderstab in der Hand, das hastig gedörrte Brot ohne Sauerteig im geschnürten Bündel.“ (Max Nordau, Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert.) Davidsfahne: → 513 Königreich oder die Republik Judäa: Nach bibl. Tradition besteht das Königreich Israel unter den Königen Saul (um 1020–1006 v. Chr.), David (1006/04–970/965 v. Chr.) u. Salomo (970–928/925 v. Chr.) (Quellen widersprüchlich). Das v. der Tradition skizzierte Großreich Israel wird v. der Forschung mittlerweile als Idealisierung der drei Monarchen angesehen. Nach der Reichsteilung des Königreiches Israel entstehen das Nordreich Israel, nach assyr. Quellen Haus Omri, welches v. 926–722 v. Chr. besteht, u. das Südreich Juda, welches zur assyr. Provinz Samaria wird. sogenannten praktischen Zionisten: → 426 Esra-Verein: Der Verein Esra wird 1884 in Berlin gegr. u. verfolgt als Ziele die Unterstützung der jüdischen Kolonisation in Palästina u. die Hemmung dortiger Missions-
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bestrebungen. Er gibt die Zeitschrift Esra, Sammelbüchse für Palästina heraus. Um die enge Verbundenheit mit den Chowewe Zion-Gruppen hervorzuheben, wird der Verein in den 1890er Jahren umbenannt in Esra, Verein zur Unterstützung ackerbautreibender Juden in Palästina und Syrien. Chowewi-Zion-Gesellschaften: → 525 Bne-Brith-Logen: Independent Order of B'nai B'rith, engl. u. hebr., dt.: „Unabhängiger Orden der Söhne des Bundes“. 1843 in New York v. deutschstämmigen Juden gegründetes Bündnis mit den Zielsetzungen des Sozialdienstes, der allgemeinen Wohlfahrt, der Erziehung innerhalb des Judentums u. der Philanthropie. 1882 Gründung der ersten dt. Loge („Loge des Deutschen Reiches“). Bereits um 1900 weltweit verbreitete jüdische Organisation. jüdischer Kolonien in Palästina: → 469 die politischen Zionisten: Eine Gruppe v. Teilnehmern der ersten Zionistenkongresse gerät als Anhänger der Kleinkolonisation in Palästina in Gegensatz zu Theodor Herzl (1860–1904), der diese strikt ablehnt. Prominenter Verfechter der Kl. ist der Jurist Abraham Adolph Salz (um 1864–um 1941). Bakschisch: → 525 türkischer Paschawillkür: Türk. paşa, dt.: „Exzellenz“, in Europa auch „Bassa“. Im Osman. Reich Titel hoher militär. o. ziviler Würdenträger. Durch seine Machtfülle oft mit Herrschsucht in Verbindung gebracht u. stark negativ konnotiert. von der hohen Pforte: Die Hohe Pforte bez. im arab.-türk. Sprachraum die Eingangspforte zu Städten u. königl. Palästen, mit der Zeit v. a. die des Sultanspalasts. Gemäß alter oriental. Sitte wird an den Toren die Empfangszeremonie für ausländ. Gesandte o. Botschafter abgehalten. Die Bez. Hohe Pforte wird ab 1718 pars pro toto auf den Sitz des osman. Großwesirs bzw. der osman. Regierung übertragen, v. dem im Gegensatz zum Hof des Sultans die eigentl. Macht ausgeht. nomadische Beduinen: Arab. badawī, dt.: „Wüstenbewohner“. Bez. für die Nomadenstämme v. der Arab. Halbinsel. Nomadisch, griech. νομάς, dt.: „auf der Weide umherschweifend“, „weidend“. Die Anfänge des Kamelnomadentums lassen sich ca. 1500 v. Chr. ansetzen. Charakteristisch sind das Wanderweidetum mit Kamelen u. die Kleinviehzucht. Die B. sind in paternalen Großfamilien zusammengeschlossen, die wiederum als Teil eines größeren Stammesverbandes mit einem Scheich an der Spitze organisiert sind. Verbot der jüdischen Einwanderung: Die Regierung des Osman. Reiches gestattet russ. Juden die Niederlassung in Palästina nur nach zuvor erteilter Genehmigung. Stattdessen werden den Juden größere Gebiete im türk. Asien angeboten.
530 Teil II: Kommentar
Suzeränität: Auch Suzeränität, lat. sursum, dt.: „aufwärts“, „in die Höhe“, „oben“, frz. suzerain, dt.: „Lehnsherr“. Veralteter Begriff für „Oberhoheit“, „Oberherrschaft eines Staates über andere Staaten“. Im Völkerrecht eine Staatenverbindung, bei der ein Staat (Suzerän) die auswärtigen Beziehungen eines anderen Staates regelt. Sultans: → 490 Rumelien: Türk. Rumeli, dt.: „Land der Rhomäer“. In der türk. Verwaltungssprache bis 1864 Bez. für den europä. Teil des Osman. Reiches mit Ausnahme v. Bosnien, Ungarn u. Peloponnes. unter den Sultanen Bajazid II., Selim und Soliman: Bajasid II., gen. Veli (türk., dt.: „der Heilige“) (1448–1512), Förderer der Derwischorden, dem Sufismus geweihten Gruppen islam. Mystiker u. Asketen. Eroberer der griech. Stützpunkte der Republik Venedig. 1492 Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Spanien. / Selim I., gen. Yavuz (türk., dt.: „der Grausame“, „der Gestrenge“) (1470–1520). Entthront gewaltsam seinen Vater Bajasid II. Mehrere Feldzüge n. Süden u. Osten u. Annexion v. Gebieten in Syrien u. Ägypten. Mit den Eroberungen Übernahme der Schutzherrschaft über die beiden „Heiligen Stätten“ Mekka u. Medina. / Süleiman I., gen. Kanunî (türk., dt.: „Gesetzgeber“) (1494/1495–1566). Erweiterung des Osman. Reiches um Belgrad, Rhodos u. Ungarn. 1529 vergebl. Belagerung v. Wien. Reformierung des Lehnswesens u. des Strafrechts. Gouvernements: → 438 Galiziens: → 439 Ruthenen: Ruthene, veraltete Bez. für in der Habsburgermonarchie lebende Westukrainer. Siedlungsgebiete sind Galizien, die Bukowina u. die ostungar. Gebiete am Fuß der Karpaten. Rumänien: → 439 Chimäre: → 460 ethnischen Organismus: → 484 nomadischer wilder Zigeuner: → 474, → 529 plombierten Eisenbahnzügen: Plombieren, frz. plomber, dt.: „versiegeln“, „beschweren“, zu lat. plumbum, dt.: „Blei“. Das unbefugte Öffnen eines Behälters o. Wagens kann durch das Anbringen einer Plombe am Verschluss verhindert werden. Die Entfernung einer Plombe kann als Urkundenvernichtung bestraft werden. bekannte Fremden-Bill: Der brit. Politiker u. Premierminister Lord William Grenville (1759–1834) bringt 1793 eine Gesetzesvorlage ein, die vom Parlament angenommen wird, das sog. Aliens Bill o. Aliens Act 1793. Ihr zufolge muss sich jeder Ausländer bei seiner Ankunft in England einer genauen Untersuchung unterziehen. Verdächti-
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ge Personen, die den Zweck ihres Aufenthaltes in England nicht ausreichend belegen können, können polizeilich ausgewiesen werden. Um die Immigration russ. Juden n. England zu kontrollieren u. zu erschweren, wird am 11.8.1905 der Aliens Act 1905 (vollst. Titel: An Act to amend the Law with regard to Aliens) erlassen. zynischer: → 489 Lohe: Ahd. loug, louc, laug, mhd. lohe, dt.: „Flamme“. Verwandt mit altnord. leygr zu der zu dt. licht entwickelten indogerm. Wurzel *leuk-, dt.: „leuchten“. Bez. für eine heftig auflodernde, große Flamme. Deduktionen: Deduktion, lat. deductio, dt.: „Abführen“, „Übersiedelung“, „Ableiten“, zu lat. deduco, dt.: „herabführen“, „fortführen“, „v. etwas herleiten“. Die log. Ableitung einer o. mehrerer Aussagen aus Prämissen, sofern diese keine Hypothesen sind. Asyl: → 476 Überlebsel: Überlebsel, wörtl. Übersetzung des Begriffs survivals des brit. Anthropologen Sir Edward Burnett Tylor (1832–1917). Ü. bez. Gebräuche o. Handlungen, die aus einer vergangenen Kulturepoche stammen u. deren Bedeutung nicht mehr verständl. ist. Gottesmörder: → 463 Nachhall abergläubischer Fabeln: → 463 Ghetto: → 439 Emanzipation: → 440 sogenannte Reform: Reformjudentum, Bewegung innerhalb des Judentums im 19. Jh., die im Zuge der jüdischen Emanzipation religiöse Reformen fordert, die über die Bildungs- u. Sozialreformen der Jüdischen Aufklärung (Haskala) hinausgehen. Bedeutende Exponenten des R.s sind der Bankier u. Landesrabbiner Israel Jacobson (1768–1828) u. der Rabbiner u. Theologe Abraham Geiger (1810–1874). Gründung der dt. Neo-Orthodoxie als Gegenbewegung zum R. Im R. wird die Liturgie gekürzt u. teilweise ins Deutsche übersetzt. Während des Gottesdienstes werden Orgel u. Chor zugelassen. Theolog. bedeutsam sind die Distanzierungen v. der messian. Hoffnung u. der engen Bindung an Israel sowie bedingt durch den Rationalismus der Aufklärung ein ethischer Akzent der Religiosität. Zion: → 426 „Hepp! Hepp!“: → 510 Muschik: V. russ. мужик, dt.: „Bauer“, armer Bauer im zarist. Russland.
532 Teil II: Kommentar
Walache: Bewohner der histor. rumän. Landschaft zw. Südkarpaten u. Donau, die durch den Fluss Alt in die Kleine Walachei (Oltenien) im Westen u. die Große Walachei (Muntenien) im Osten geteilt wird. Kutzowalache: Auch Aromune o. Mazedorumäne. Ethnie mit Hauptsiedlungsgebiet in Nordgriechenland (Epirus u. Thessalien), Albanien, Bulgarien u. Mazedonien. Das Aromun. wird als eigenständige roman. Sprache angesehen, manche Linguisten ordnen es als rumän. Dialekt ein. atavistische Erinnerung: Atavistisch → 497 Parias: → 506
26 Muskeljudentum
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26 Muskeljudentum Quelle: ZS1, S. 379–381, dort mit Verweis auf die Quelle: Jüdische Turnzeitung, Juni 1900. Ferner in: Die Welt, 15.6.1900, H. 24, S. 2–3.
Fleischabtötung: Die Negation des eigenen Körpers bildet für den Asketen die Möglichkeit, der Welt u. ihren Versuchungen zur Sünde zu entsagen. Im Gegensatz zum Christentum gibt es im Judentum relativ wenige Verpflichtungen zur Askese, da die Schöpfung Gottes positiv u. lebensbejahend gesehen wird. N. verwendet den Begriff hier i. S. v. „Entbehrung“, „Leid“, „Hunger“. Judenleichen in den Ghettos : → 443 Alle Elemente der aristotelischen Physik: Griech. φυσικὴ ἀκρόασις, dt.: „die Natur betreffende Vorlesung“. Die Ph. ist eines der Hauptwerke des griech. Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.), in welchem die Grundannahmen u. -begriffe definiert werden, die in den zur Ph. gehörigen Spezialabhandlungen vorausgesetzt werden. Aristoteles nimmt die Elementenlehre des vorsokrat. Philosophen Empedokles v. Agrigent (ca. 490–430 v. Chr.) auf u. ordnet den vier Elementen folgende wesensmäßige Eigenschaften zu: Erde entspricht trocken-kalt, Wasser entspricht feucht-kalt, Luft entspricht feucht-warm, Feuer entspricht trocken-warm. Zurückgehend auf Empedokles besteht auch der Mensch aus den vier Elementen, deren Zusammensetzung den Gesundheitszustand eines Individuums bestimmt. Diese Vorstellung geht in humoralpatholog. Konzepte wie die Vier-Säfte-Lehre ein. Blutzeugen: → 444 der jüdische Turnverein in Berlin: Der 1898 gegründete JTV Bar Kochba Berlin ist der erste jüdische Turnverein im Deutschen Reich, vgl. → 587. mittels eines chirurgischen Kniffes das Zeichen des Bundes zu verheimlichen: Das Zeichen des Bundes zw. Gott u. dem Volk Israel ist die Zirkumzision aller männl. Nachkommen. Dieser Bund geht zurück auf Gen 17,10–11: „Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch.“ Dieses göttl. Gebot lebt in der Breit Mila (hebr., dt: „Bund der Beschneidung“). Jüdische Turnzeitung: Die J. T. ist eine in Berlin monatl. erscheinende, dem Zionismus nahestehende Zeitung des Jüdischen Turnvereins Bar Kochba (1900–1912). Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Förderung körperl. Ertüchtigung jüdischer Männer.
534 Teil II: Kommentar
27 Rede, gehalten in London, 11. August 1900 Quelle: ZS1, S. 234–248.
Osterstab: → 528 Davidsfahne: → 513 Königreich oder die Republik Judäa: → 528 öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte: → 528 jüdischer Antisemitismus und Misoneismus: Im ausgehenden 19. Jh. werden in der deutschsprachigen jüdischen Publizistik die Begriffe ‚jüdischer Selbsthass‘ u. ‚jüdischer Antisemitismus‘ geprägt. Der 1911 getaufte Schriftsteller u. Kulturkritiker Karl Kraus (1874–1936) stellt z. B. in der v. ihm hrsg. Zeitschrift Die Fackel das Judentum als die Personifikation alles Negativen der modernen Zivilisation dar. Sein Pamphlet Eine Krone für Zion (1898) sieht er als Gegenentwurf zu Theodor Herzls (1860–1904) Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage (1895). / Misoneismus, griech. μῖσος, dt.: „Hass“, „Feindschaft“, u. griech. νέος, dt.: „neu“. Abneigung gegen das Neue, Neuhass. Antonym zu Neugier. ethnographische: → 429 Sultans: → 490 Belgien ist auch der Gegenstand eifersüchtigster Bewachung: Die sog. Belgische Revolution führt im September 1830 zur Unabhängigkeit Belgiens v. den Niederlanden. Um eine Stärkung Frankreichs zu verhindern, setzen Preußen, Großbritannien, Österreich u. Russland während der Londoner Konferenz (1830) die Unabhängigkeit Belgiens durch. Im Londoner Vertrag vom 6.10.1831 wird die endgültige Trennung Belgiens vom Königreich der Niederlande festgehalten. Argentinien: → 428 Kanada: Ab den 1880er Jahren immigrieren Juden aufgrund antijüdischer Pogrome im zarist. Russland u. a. n. Kanada, in den größeren Städten entstehen jüdische Gemeinden. Kanad. Ackerbaukolonien der JCA haben keinen dauerhaften Bestand, da die Siedler über keine landwirtschaftl. Kenntnisse verfügen. Talmudstudenten: → 427 (Talmud) Evolution: Biolog. o. organ. E. bezeichnet die stammesgeschichtliche Entwicklung von Lebewesen. Evolutionstheorie v. Charles Robert Darwin (1809–1882). Blutzeugen: → 444
27 Rede, gehalten in London, 11. August 1900
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obskur: → 496 rumänischen Juden: → 439 Galiziern: → 439 Um einen Terez geht man nicht in den Wald: Hebr. tejrez, dt.: „Erklärung“, „Ausrede“, v. a. im Bereich der Lösung v. Widersprüchen. Die an sich ungebräuchl. Verbindung des Begriffes T. mit einem Gang in den Wald ist in der umgangssprachl. Verwendung v. „Mach doch keinen Terz!“ i. S. v. „Keine Ausreden!“ geläufiger. Wer seinen Hund ersäufen will: → 440 Israel: → 444 where there is a will, there is a way: Engl., dt.: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“ Sprichwörtl. Bez. für große Entschlusskraft, die jemanden in die Lage versetzt, das zu erreichen, was er erstrebt, auch wenn die Durchführung schwierig ist. dreamer of the Ghetto: Ghetto → 439. Ein Buchtitel des Schriftstellers Israel Zangwill (1864–1926) lautet Dreamers of the Ghetto. Der 1898 publizierte Essayband enthält fiktionalisierte Biografien bedeutender jüdischer Persönlichkeiten, darunter Ferdinand Lassalle (1825–1864), Heinrich Heine (1797–1856), Salomon Maimon (1753– 1800) u. Baruch de Spinoza (1632–1677). Agnostiker: Griech. ἄγνωστος, dt.: „unbekannt“, „nicht erkennbar“. Anhänger des Agnostizismus, der Lehre v. der Unerkennbarkeit des Göttl. o. Übersinnl. Obwohl die geistesgeschichtl. Grundauffassung hinter dem Begriff A. bereits in der Antike vorhanden ist, wird der Begriff im 19. Jh. maßgebl. durch den brit. Biologen u. Evolutionstheoretiker Thomas Henry Huxley (1825–1895) geprägt. assimilierten Juden: → 507 Judenfrage: → 458 Mein lieber Freund Zangwill: Israel Zangwill (1864–1926), engl. Dramatiker, Erzähler u. Journalist. Früher Anhänger der Ideen Theodor Herzls (1860–1904) u. Freund N.s, setzt sich nach der Uganda-Kontroverse vom vorherrschenden Zionismus ab. Verbindet in seinen Schriften die literar. Strömungen des engl. Realismus u. der ostjüdisch geprägten jidd. Erzähltradition. Werke u. a. Ghetto Tragedies (1893), The King of the Schnorrers (1894), Dramen: The Melting Pot (1908) u. Chosen Peoples (1918). Status quo: Lat., dt.: „Status, in welchem“. Verkürzte Formel aus der lat. Rechtssprache. Die Formel heißt vollständig: in statu quo reserant ante bellum (dt.: „in dem Zustand, in dem die Dinge vor dem Krieg waren“). Gebräuchl. sind in der Neuzeit die Formeln status quo für „gegenwärtiger Zustand“ u. status quo ante für „Stand vor dem thematisierten Tatbestand o. Ereignis“ bzw. „ursprüngl. Zustand“.
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Schema Israel adonai elohenu adonai echad: Hebr. schema jisrael adonai elohenu adonai echad, dt.: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein.“ (Dtn 6,4). Die Schriftverse bekunden die Einheit u. Einzigartigkeit Gottes, die Erkenntnis u. Anerkennung der göttl. Herrschaft, die Übernahme der göttl. Gebote u. die Erinnerung an den Exodus. Das S. wird u. a. beim Ausheben der Thorarolle u. an hohen Feiertagen, z. B. am Schluss des Gottesdienstes v. Jom ha-Kippurim, gebetet. Es wird als Bekenntnis der Märtyrer häufig als letztes Gebet vor dem Tod gesprochen. Das eigentl. Schemagebet (hebr. Keriat Schema) besteht im Kern aus den Schriftabschnitten Dtn 6,4–9, 11,13–21 u. Num 15,37–41. Fanatiker: → 453 (Fanatismus) ethnische Organismus: → 484 russische Muschik: → 531 Walache und Kutzowalache: → 532, → 532 Ökonomie: → 486 empirische Tatsache: Empirie. Griech. ἐμπειρία, dt.: „Erfahrung“. heuchlerische Sybariten: Griech. Συβαρίτης, dt.: „Einwohner der Stadt Sybaris“. Sybaris, griech. Σύβαρις, antike griech. Stadt am Golf v. Tarent in Apulien/Italien, die in der Antike für ihren Reichtum berühmt ist. Deren Bewohner neigen dazu, diesen Reichtum u. ihr Wohlleben zur Schau zu stellen u. einen luxuriösen, verweichlichenden Lebensstil zu pflegen. Sittlichkeit: → 440 Zerstreuung: → 424 Langenscheidt'schen Methode: Methode Toussaint-Langenscheidt (abgekürzt „Metoula“ bzw. „MeTouLa“), Verfahren zum Erlernen v. Fremdsprachen im Selbststudium. Grundlage sind die ab 1856 erscheinenden u. daraufhin nahezu jährl. wiederaufgelegten Unterrichtsmaterialien, die Französischen Unterrichtsbriefe zum Selbststudium. Ihre Begründer sind der Französischlehrer Charles Toussaint (1813–1877) u. der dt. Verlagsbuchhändler Gustav Langenscheidt (1832–1895). Die Methode setzt sich aus einfachen u. leicht verständl. Elementen zusammen: wortgetreue Interlinearübersetzungen, unkomplizierte Lautschrift, obligator. tägl. Wiederholung der Lektionen. Ei des Kolumbus: Bez. für eine überraschend einfache Lösung für ein komplex erscheinendes Problem. Sprichwörtl. Redensart, die auf eine unbelegte Anekdote zurückgeht, wonach Christoph Kolumbus (ital. Cristoforo Colombo, ca. 1451–1506) sich 1493 bei einem Bankett bei Pedro González de Mendoza (1428–1495) mit der Vorhaltung konfrontiert sieht, es sei ein Leichtes, eine ‚Neue Welt‘ zu entdecken.
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Als K. daraufhin die Gäste vor die Aufgabe stellt, ein Ei aufrecht auf dem Tisch aufzustellen, misslingt dies. K. selbst gelingt es durch das Eindrücken der Spitze des Eis. common sense in der Regel common non-sense ist: Common sense, engl., dt.: „gesunder Menschenverstand“. Die Philosophie des C. s. geht zurück auf den schott. Philosophen Thomas Reid (1710–1796), dem zufolge oberste Direktive des philosoph. Denkens der gesunde Menschenverstand sein soll. Der Begriff C. s. nimmt den Gedanken der griech. κοινὴ αἴσθησις, dt.: „Gemeinsinn“, auf (vgl. Aristoteles (384–322 v. Chr.), De anima III, 2, 426 b 8–29). Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) prägt im Rahmen des antiken stoischen Gedankengebäudes den Begriff lat. communis sensus, den R. ins Englische überträgt. Hauptwerk An inquiry into the human mind on the principle of common sense (1764). Mastjuden: Mastjude, Neologismus N.s. Vermutl. bez. N. damit selbstzufriedene Juden, die keinerlei materiellen Mangel leiden u. im Überfluss leben. Heloten- und Pariadasein: → 435, → 506 Ein Amerikaner reiste neulich: Fiktive Anekdote N.s. Dt. Übersetzung der engl. Passagen: „Kapitän, würden Sie mir bitte eine Koje für die Nacht zuweisen?“ – „Warum? Sie schlafen diese Nacht dort, wo Sie die letzten drei Nächte geschlafen haben.“ – „Unmöglich, Kapitän. Diese letzten drei Nächte schlief ich auf einem kranken Mann. Aber nun geht es ihm gut und er würde es nicht länger ertragen.“ Hausierer: → 436
538 Teil II: Kommentar
28 IV. Kongressrede Quelle: ZS1, S. 93–111, dort mit Datierung: London, 13. August 1900. Ferner in: Die Welt, 24.8.1900, H. 34, S. 1–6.
IV. Kongressrede: Der IV. Zionistenkongress findet vom 13.1–6.8.1900 in London mit 497 Delegierten statt. Ein Hauptthema ist die verheerende Situation rumän. Juden, die durch Pogrome zur Flucht gezwungen sind. eine antike Tragödie: → 516 Buch Hiob: Hiob, Hauptfigur des gleichnamigen Buches der Hagiografen (hebr. Ketuvim). Entstehungszeit vor 200 v. Chr. Grundthema des gesamten Buches ist die Theodizee, also die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts v. Ungerechtigkeit, Übel u. Elend. H.s Glaube wird v. JHWH nach einer Wette mit dem Satan durch Leiden u. Prüfungen auf die Probe gestellt, wobei sich Hiob bewährt. Gespenster des Mittelalters: → 443 Blutmärchen: → 472 Tisza-Eszlar: Tiszaeszlár, Dorf im Nordosten Ungarns. 1882 kommt es nach dem Verschwinden des Mädchens Eszter Solymosi zum Ritualmordvorwurf gegen den Synagogendiener Joseph Scharf aufgrund eines unter Druck zustande gekommenen Geständnisses seines 14-jährigen Sohnes Móric. Auch aufgrund des Freispruchs im Prozess wg. der Manipulationen der Anklage kommt es in der Folgezeit bis 1883 immer wieder zu antisemitischen Ausschreitungen u. Verfolgungen. Xanten: 1891 kommt es nach der Ermordung des 5-jährigen Johann Hegmann zum Ritualmordvorwurf gegen den früheren jüdischen Schächter v. Xanten, Adolf Buschhoff. Der Verdacht fällt auf ihn, da die Kehle des Jungen fachmänn. durchtrennt ist u. sich nur sehr wenig Blut im Leichnam befindet, was vermeintl. auf ein Ausblutenlassen hindeutet. Obwohl zunächst keine eindeutigen Beweise für die Tat vorgelegt werden können, kommt es zu zahlreichen Anschuldigungen u. zu Ausschreitungen gegen Buschhoffs Familie u. die gesamte jüdische Bevölkerung Xantens. Der Prozess wg. Mordes endet 1892 mit dem Freispruch v. Buschhoff. Polna: Polná, Stadt in Südostböhmen. Nach der Ermordung der 19-jährigen Näherin Anežka Hrůzová wird 1899 der jüdische Schuster Leopold Hilsner (1876–1928) aus Polná des Ritualmordes verdächtigt. Der Mordvorwurf wird ohne Beweise v. der antisemitischen u. deutschnationalen Presse in Europa weiterverbreitet u. führt in Böhmen u. Mähren zu antisemitischen Exzessen u. zur Einschüchterung der Geschworenen des Prozesses. Konitz: Nach dem Mord an dem 18-jährigen Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz (Westpreußen) kommt es zur Ritualmordbeschuldigung gegen den jüdischen
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Schächter Adolf Lewy u. seinen Sohn Moritz. Zunächst wird nur der Torso des Opfers gefunden, was aufgrund der exakten scharfen Schnitte den Verdacht auf Lewy lenkt. Durch antisemitische Agitation der Staatsbürger-Zeitung kommt es zu zahlreichen gewaltsamen Ausschreitungen gegen Juden u. jüdisches Eigentum. Die Todesursache wird später korrigiert in ‚Tod durch Ersticken‘. Das Verfahren gegen die Lewys wird eingestellt, der Hauptbelastungszeuge Bernhard Massloff wird wg. Meineids verurteilt. Schutzjuden: Schutzsystem für Juden v. der Mitte des 14. Jh.s bis ins 19. Jh. Zunächst ist der Kaiser Inhaber des Judenregals (Steuerhoheit u. Gerichtsbarkeit über Juden). Das Judenregal verschafft den Juden eine relative Sicherheit, muss allerdings v. diesen in Form der Judensteuer erkauft werden. Durch den Ausbau der Landesherrschaft gehen die Schutzrechte zunehmend auf Städte o. Territorialherren über. Diese verleihen gegen häufig überhöhte Schutzgelder ein zeitlich befristetes Niederlassungsrecht für jüdische Gemeinden o. einzelne Juden. Die erhobenen Sonderabgaben bilden häufig eine bedeutende Einnahmequelle. Das Schutzjudensystem läuft mit der Verleihung der Staatsbürgerschaft an Juden ab dem 18. Jh. aus. vogelfrei: → 464 Ereignissen, die sich in Rumänien: Ab dem Frühjahr 1900 kommt es zu einer Massenemigration rumän. Juden. Die offiziellen jüdischen Hilfsorganisationen sind überfordert u. reagieren unkoordiniert. zum Jahre 1492: Der aragon. König Ferdinand II., gen. der Katholische (1452–1516), u. seine Gattin Isabella I. (1451–1504) gebrauchen ab 1483 die Inquisition als Instrument, um die versteckte Ausübung des ehemaligen Glaubens unter den getauften Juden (span. conversos) o. den getauften Muslimen (span. moriscos) zu unterbinden. Die Betroffenen werden verfolgt, ermordet, enteignet o. vertrieben. Unter dem Großinquisitor Tomás de Torquemada (1420–1498) erreicht die Hetzjagd auf die sog. Kryptojuden ihren Höhepunkt u. führt 1492 zu einer massenhaften Vertreibung der span. Juden. im Jahre 1730: Konfessionell begründete Zwangsemigration v. ca. 20.000 Personen protestant. Glaubens aus dem Salzburger Land in den Jahren 1730/1. Der Fürst u. Erzbischof v. Salzburg, Leopold Anton Eleutherius Reichsfreiherr v. Firmian (1679– 1744), versucht ab 1729, mithilfe v. jesuit. Missionaren Geheimprotestanten aufzuspüren u. zur Loyalität gegenüber der Kathol. Kirche zu zwingen. Unter Hinzuziehen v. 6.000 kaiserl. Soldaten werden die Protestanten 1731 zur Emigration gezwungen, wobei Preußen, v. a. Ostpreußen, die meisten Flüchtlinge aufnimmt. Kindheit Goethes: Johann Wolfgang v. Goethe (1749–1832). Zusammen mit seiner jüngeren Schwester, Cornelia Friederica Christiana Schlosser, geb. Goethe (1750– 1777), erhält G. in seiner Heimstadt Frankfurt a. M. eine umfangreiche Bildung, v. 1756–1758 in einer öffentl. Schule, danach durch einen Hauslehrer u. den Vater Jo-
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hann Caspar Goethe (1710–1782). Prägend für den jungen G. sind das Erlernen zahlreicher Sprachen, die Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften, Kunst u. Religion sowie die intensive Beschäftigung mit Literatur, welche schon früh sein dichterisches Potential erkennen lässt. „Hermann und Dorothea“: 1797, idyllisches Epos in neun Gesängen v. Johann Wolfgang v. Goethe (1749–1832), abgefasst in Hexametern. Goethe entnimmt das Handlungsgerüst einer Episode aus Vollkommene Emigrations-Geschichte Von denen Aus dem Ertz-Bißthum Saltzburg vertriebenen Und größtentheils nach Preussen gegangenen Lutheranern (2 Bde., 1734–1737) v. Gerhard Gottlieb Günter Göcking (1705–1755). Die Überschriften der Gesänge v. Goethes Epos tragen jeweils den Namen einer der neun Musen der griech. Antike u. einen auf den Inhalt bezogenen Titel. Zentrale Figuren sind Dorothea u. Hermann, die vor dem Hintergrund der Flucht linksrhein. Deutscher n. Osten infolge der Frz. Revolution zueinanderfinden. Das Epos wird zu einem großen Publikationserfolg Goethes. eisige Pfahlbürger: Eisig i. S. v. „ohne Mitleid“, „distanziert“, „unnahbar“. / Pfahlbürger v. mhd. pfālburgære. Im Mittelalter Personen, die das Bürgerrecht einer Stadt haben, aber außerhalb der Stadtmauern u. der aus Palisaden gebildeten Außenwerke wohnen. Seit dem 18. Jh. gebraucht i. S. v. „falscher Bürger“, „Spießbürger“, „Bürger mit beschränktem geistigen Horizont“. König Friedrich Wilhelm I. von Preußen: Friedrich Wilhelm I. (1688–1740), König in Preußen u. Markgraf v. Brandenburg, Beiname „Soldatenkönig“. Nach der Vertreibung der Salzburger Protestanten 1731 erlässt Friedrich Wilhelm I. im Folgejahr ein Edikt in Form eines Einladungspatentes, um v. a. das durch eine Pestepidemie entvölkerte Ostpreußen wieder zu besiedeln. Die bevölkerungspolit. Maßnahmen zur wirtschaftl. Entwicklung u. Erhöhung des allgemeinen Wohlstandes werden als Peuplierung (frz. peuple, dt.: „Volk“) bez. andere deutsche Reichsfürsten: Nach der Zwangsemigration 1730–32 nehmen neben Preußen mit dem Hauptkontingent mehrere protestant. Herrschende die flüchtenden salzburgerischen Protestanten auf, so Reichsfürsten in Siebenbürgen, Süddeutschland, den Niederlanden u. Siedlungen in Nordamerika. Zug nordischer Lemminge: Sg. Lemming, altnord. læmingi u. læmingr, Etymologie unklar. In 13 Arten vorkommende, den Wühlmäusen zuzuordnende Gattungsgruppe v. kleinen Nagetieren. Vorkommen in den Wäldern u. Tundren des Nordens v. Eurasien u. Amerika. Durch Gradation (zeitl. begrenzte Massenvermehrung) kommt es zu periodisch auftretendem Populationsdruck u. im Anschluss zu massenhaften Wanderbewegungen, v. a. bei den Berglemmingen (lat. Lemmus lemmus). Die Suche nach Nahrung u. Lebensraum löst diese Migrationsbewegungen aus. Raptoren nutzen das Überangebot v. Nahrung aus. Ein beabsichtigter kollektiver Suizid ist ein irriger Volksglaube.
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rumänische Katastrophe: → 539 denunzieren: → 468 Gendarmen mit Kolbenstößen: Gendarm → 515. / Kolben, Kurzform für Gewehrkolben, altnord. kylfa, dt.: „Keule“. Verstärkter hinterer Teil des Gewehrschaftes. Aufgrund seiner schmerzhaften, nicht zwangsläufig letalen Wirkung häufig als Hieb- u. Schlagwerkzeug gegen Gefangene eingesetzt. Hausierhandel: Hausierer → 436. In Rumänien werden in den Jahren vor 1900 das Hausieren sowie der Tabak- u. Spirituosenhandel verboten, was besonders den nichtgebildeten, breiten proletar. Bevölkerungsschichten der Juden die Erwerbsgrundlage entzieht. Zigeuner: → 474 Aussätzigen im Mittelalter: Aussatz, mhd. ūzsaz u. ūzsetze, dt.: „Heraussetzen“. Synonym für Lepra, griech. λεπρός, dt.: „rauh“, „schuppig“, „uneben“. In subtrop. u. trop. Gebieten verbreitete Infektionskrankheit, die zu entstellenden Veränderungen der Haut führt. Erreger ist das 1871 v. dem norweg. Arzt Gerhard Henrik Armauer Hansen (1841–1912) entdeckte Bakterium Mycobacterium leprae, welches bei mangelhafter Hygiene durch Schmierinfektion o. Inhalation übertragen wird. Kranke werden im Mittelalter in spezielle Häuser („Gutleuthaus“) verbannt bzw. ‚ausgesetzt‘, die außerhalb der Stadtmauern liegen. Der Lebensunterhalt durch Betteln wird für die Kranken durch soziale Stigmatisierung erschwert; Kranke müssen durch ein hölzernes Schlaginstrument, die Lazarusklapper, Gesunde vor einem näheren Kontakt warnen. In Europa erlischt bis auf wenige Ausnahmen die Krankheit nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648). Fabel: → 463 Bessarabien: Russ. Bessarabija, Gebiet zw. den Flüssen Pruth u. Dnister nordwestl. des Schwarzen Meeres. Mit der russ. Übernahme 1812 wird B. Teil des Ansiedlungsrayons, d. h. der Grenzgebiete zu den westl. Nachbarn des Russ. Kaiserreichs, in welchen Juden Wohn- u. Arbeitsrecht besitzen. Seit der v. Zarin Katharina II., gen. die Große (1729–1796), 1791 veranlassten Zwangsumsiedlung zahlreicher russ. Juden in diese Gebiete entwickeln sich dort Schtetl (jidd., dt.: „Städtlein“) mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil v. bis zu 40 %. Unter der Billigung v. Zar Nikolaus II. (1868–1918) wird in Kišinev, der Hauptstadt B.s, eine antisemitische Geheimorganisation ins Leben gerufen, die v. lokalen Beamten protegiert wird. Es kommt zu grauenvollen Pogromen, denen zahlreiche Menschen zum Opfer fallen. In Indien: N. bezieht sich hier vermutl. auf den Ind. Aufstand v. 1857 (Sepoy-Aufstand), der sich gegen die brit. Kolonialherrschaft richtet u. zahlreiche Opfer fordert.
542 Teil II: Kommentar
Dr. G. W. Leitner: Gottlieb William Leitner (geb. als Gottlieb Saphir o. Sapier, 1840– 1899), Orientalist u. Professor für Arabisch u. Türkisch. Im Auftrag der brit. Regierung zahlreiche Forschungsreisen n. Kaschmir, Ladakh u. Tibet. Werke u. a. A lecture on the races of Turkey, both of Europe and of Asia, and the state of their education: being, principally, a contribution to Muhammadan education (1871) u. The languages and races of Dardistan (1877). folgende afghanische Fabel: N. bezieht sich auf Gottlieb William Leitners The languages and races of Dardistan (Lahore 1877), S. 18: „When a man threatens a lot of people with impossible menaces, the reply often is »Don't act like the fox ›Lóyn‹ who was carried away by the water. A fox one day fell into a river: as he was swept past the shore he cried out, ›The water is carrying off the universe.‹ The people on the banks of the river said, ›We can only see a fox whom the river is drifting down.‹[«]” (Dt.: „Wenn ein Mann viele Menschen mit unmöglichen Bedrohungen heimsucht, ist die Antwort oft: »Verhalte dich nicht wie der Fuchs Lóyn, der vom Wasser weggetragen wurde. Eines Tages fiel ein Fuchs in einen Fluss: Als er am Ufer vorbeirauschte, schrie er: ›Das Wasser rafft das Universum dahin.‹ Die Menschen an der Böschung des Flusses sagten: ›Wir können nur einen Fuchs sehen, den der Fluss hinuntertreibt.‹«“) Franken: → 526 alte Gobelins für ihren Salon: Gobelin, auch Tapisserie. Erzeugnis der Bildwirkerei, Technik des Einwirkens v. bildl. Motiven in ein textiles Flächengebilde. Der Name geht auf die 1607 in Paris gegründete Tapisserie-Manufaktur Manufacture nationale des Gobelins zurück. Neben der Wärmedämmung haben die Wandteppiche die Funktion, die in hohen Räumen auftretenden akust. Probleme zu mildern. Die extrem arbeitsintensive Herstellung macht den G. sehr wertvoll. Millionäre: → 496 eingehegt von starrenden Bajonetten: Bajonett → 520. N. bezieht sich vermutl. auf Pogrome gegen Juden unter dem rumän. Ministerpräsidenten Ion Constantin Brătianu (1821–1891). 1867 werden Juden aus Galați (dt. Galatz) über die Grenze in die Türkei getrieben. Nach der Weigerung einer Aufnahme durch die türk. Grenzsoldaten u. dem Versuch, über die Donau zurück n. Rumänien zu gelangen, werden die Juden v. rumän. Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten an der Wiedereinreise gehindert. Viele ertrinken in der Donau. Alliance Israélite Universelle: Dt.: „Weltweites israelitisches Bündnis“. 1860 gegründete internationale jüdische Hilfsorganisation. Sitz des Zentralkomitees ist Paris. Programmatische Schwerpunkte sind der Kampf gegen den wachsenden Antisemitismus, v. a. in Osteuropa, u. fürdie jüdische Emanzipation in Europa. Die AIU errichtet ein Netz v. Schulen, Lehrwerkstätten, Waisenhäusern u. anderen sozialen
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Einrichtungen u. organisiert nach den Pogromen in den 1880er Jahren Auswanderungen n. Palästina. Jewish Colonization Association, die Ica: → 525 Centimes: Centimes, Sg. Centime, frz. cent, dt.: „hundert“. In Frankreich mit der Einführung der Dezimalwährung 1795 kleinste Währungseinheit, die einem Hundertstel eines Francs entspricht. Niagara-Schnelligkeit: In der Sprache indigener Einwohner des heutigen US-Bundesstaats New York (Cayuga) bedeutet Niagara „donnerndes Wasser“. Niagara River heißt der Fluss, der vom Eriesee in den Ontariosee fließt u. dabei die Grenze zw. der kanad. Provinz Ontario u. dem US-Bundesstaat New York bildet. An den NiagaraFällen mit einer maximalen Fallhöhe v. 52 Metern u. einem durchschnittl. Wasserdurchfluss v. 4.200 m³/s erhöht sich die Fließgeschwindigkeit des Flusses deutlich. Bankerotte des amtlichen Judentums: → 477. N. bezieht sich auf das weitgehende Scheitern der jüdischen Organisationen, den Antisemitismus in Europa einzudämmen. mystischem: → 434 öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte: → 486 galizischen: → 439
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29 Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 1 von 3] Quelle: Die Welt, 23.11.1900, H. 47, S. 5–7.
Teil der rumänischen Juden: N. bezieht sich auf einen v. ihm verfassten Brief, der im Oktober 1900 in der Wochenschrift Die Welt publiziert worden war (Die Welt, 26.10.1900, H. 43, S. 3–4). Darin kündigt er an, sich zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher zur Lage der Juden in Rumänien zu äußern. Judenfrage: → 458 Fähigkeit, Landbesitz zu erwerben: Die rumän. Verfassung von 1866 sieht vor, dass nur Ausländer christl. Glaubens die rumän. Staatsbürgerschaft erlangen u. Land erwerben dürfen. Noua Revista Româna: Noua Revistă Română, am 1.1.1900 v. Constantin RădulescuMotru (1868–1957) gegr. Zeitschrift. Publikationsorgan rumän. Intellektueller wie dem Historiker u. Schriftsteller Nicolae Iorga (1871–1940), dem Dramatiker Ion Luca Caragiale (1852–1912), dem Schriftsteller u. Übersetzer George Coșbuc (1866–1918), dem Journalisten u. Literaturkritiker Henric Sanielevici (1875–1951) u. dem Übersetzer u. Literaturtheoretiker Garabet Ibrăileanu (1871–1936). Dr. C. R. Motru: Constantin Rădulescu-Motru (1868–1957), rumän. Psychologe, Philosoph u. Politiker, Hrsg. der Zeitschrift Noua Revistă Română. Blutsteuer: → 465 Metöken, der: Metöke, griech. μέτοικος, dt.: „Aussiedler“, „fremder Mitbewohner“, „Schutzverwandter“. Ortsansässiger Fremder ohne Bürgerrechte, der einen Bürger als Patron hat u. Schutzgeld an den Staat zahlt. Bankbruch des Fortschrittes und der Ehrlichkeit: → 486 Parias: → 506 Emanzipation: → 440
30 Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 2 von 3]
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30 Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 2 von 3] Quelle: Die Welt, 30.11.1900, H. 48, S. 4–7.
Assimilationsjuden: → 507 Maulschelle: → 480 Psychologie der Judenemanzipation: → 440 Rede auf dem ersten Baseler Kongress: → 438 Pariser Juden, die 1791 von der Nationalversammlung ihre politischen Rechte forderten: → 440 Grundsätze der Revolution: → 505 „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“: → 471 Sturme auf die Bastille: Bastille, frz., dt.: „kleine Bastion“, „Zwingburg“. Name einer stark befestigten Stadttorburg im Pariser Osten aus dem 14. Jh., die später als Gefängnis genutzt wird u. zum Symbol der Unterdrückung durch das Ancien Régime wird. Am 14.7.1789 kommt es zum Sturm auf die Bastille, der als Auftakt zur Frz. Revolution interpretiert wird. Barre der Nationalversammlung: Barre, veraltete Bez. für einen Querriegel bzw. eine Schranke aus waagerechten Stangen. Die Nationalversammlung tritt im Palais Bourbon im 7. Arrondissement v. Paris zusammen. Synedrion, das er 1806 nach Paris berief: Sanhedrin, griech. συνέδριον, dt.: „Sitzung“, „Versammlung“, „Rathaus“. Während der Antike in Palästina oberste polit., jurist. u. religiöse Körperschaft der jüdischen Bevölkerung. Der v. Napoleon I. (1769–1821) ins Leben gerufene Grand Sanhédrin erhebt den Gesamtvertretungsanspruch der jüdischen Bevölkerung Frankreichs u. des Weltjudentums. Das aus Laien u. Rabbinern zusammengesetzte Gremium soll die Assimilation u. die Integration in den Nationalstaat fördern. Staatsbürgerliche Pflichten werden dabei religionsgesetzlichen Pflichten untergeordnet. Es tagt vom 9.2.–9.3.1807 in Paris. Hinweise auf Zion und nationale Wiedervereinigung: → 426 Messiasglauben: → 444 „Taufe oder Tod!“: Während der Kreuzzüge (1. Kreuzzug: 1096–1099) verwendete grausame Parole zur Zwangschristianisierung v. Juden. V. a. der Zisterziensermönch u. mittelalterl. Mystiker Bernhard v. Clairvaux (um 1090–1153) ruft in Briefen u. Predigten zu gewaltsamer Mission von Muslimen u. religiösem Krieg auf, warnt jedoch
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vor Judenverfolgung. Besonders durch die Teilnahme an einem Kreuzzug kann als Belohnung eine Sündenvergebung erwartet werden. Auch früher in der Historie findet diese Methode zur Zwangsbekehrung Anwendung, z. B. während der Sachsenkriege Karls des Großen (747/748–814). Mischehe: → 496 Zionshoffnung: → 426 71 Synedristen: Der Talmud unterscheidet zw. einem großen Sanhedrin mit 71 u. einem kleinen Sanhedrin mit 23 Mitgliedern. Der Hohe Rat setzt sich aus Priestern u. Schriftgelehrten zusammen. Napoleon Bonaparte (1769–1821) beruft am 23.8.1806 71 jüdische Notabeln zum Großen Sanhedrin (frz. Grand Sanhedrin) unter dem Vorsitz des Rabbiners David Josef Sinzheim (1745–1812) zusammen. Sprecher der im Sanhedrin versammelten Laien ist der frz. Politiker Abraham Furtado (1756–1817). Blutzeugen: → 444 implizite: Implizit, lat. implicitus, dt.: „verwickelt“, in der Bedeutung v. „nicht ausdrücklich“, „nicht deutlich“, „nur mitenthalten“. rationalistischer, kühler Deismus: Rationalistisch → 440. / Lat. deus, dt.: „Gott“. Gottesvorstellung der Aufklärung im 17. u. 18. Jh. Der Glaube an Gott, nach dem dieser die Welt geschaffen hat u. dann keinen weiteren Einfluss auf sie ausübt, vollzieht sich aus Verstandesgründen u. nicht aufgrund göttl. Offenbarung. Unitarismus: Lat. unitas, dt.: „Einheit einer Sache“, „Gleichheit“, „Einigkeit“. Hier i. S. der nachreformator. kirchl. Richtung, die die Einheit der Gottesvorstellung betont u. dabei die Lehre der Trinität (Dreieinigkeit) ganz o. teilweise verwirft. rationalistisches Christentum: N. bezieht sich auf das vom Rationalismus geprägte Christentum des 18. Jh.s, das die damaligen Erkenntnisse der Wissenschaften aufnimmt. Die daraus folgenden konfessionellen, theolog. u. philosoph. Diskussionen führen zu einer Krise des Protestantismus, die die Bedeutung des Pietismus steigert. Reformbewegung: → 531 prozessionellen: Prozessionell, neologist. Adj. N.s zu Prozession, lat. processio, dt.: „Vorrücken“, „Ausrücken“, „Aufzug“, „Prozession“. Feierl., häufig kirchl. Umzug, Bitt- o. Dankgang. Volk des harten Nackens: Das Bild des harten Nackens i. S. v. „trotzig“ o. „widerspenstig“ geht zurück auf Deut 31,24–27: „Als nun Mose damit fertig war, die Worte dieses Gesetzes vollständig in ein Buch zu schreiben, gebot er den Leviten, die die Lade des Bundes des HERRN trugen, und sprach: Nehmt das Buch dieses Gesetzes und legt es neben die Lade des Bundes des HERRN, eures Gottes, dass es dort ein
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Zeuge sei wider dich. Denn ich kenne deinen Ungehorsam und deine Halsstarrigkeit.“ Sabbath: → 501 bis in die Knubben: Knubbe o. Knubben, mittelniederdt. knubbe, dt.: „Verdickung“, „Baumstumpf“, „Knorren“, „Beule“, „Anschwellen“. Bez. für einen kleinen Menschen o. eine Geschwulst. Hier i. S. v. „bis in die Fingerspitzen“. den glostenden Judenhass: Glosten, auch: glosen, zu mhd. glost(e), dt.: „Glut“. Hier i. S. v. „schwelen“, „glimmen“, „glühen“. alle altruistischen Talente: Altruismus, lat. alter, dt.: „der Andere“. Begriff des frz. Philosophen u. Mathematikers Isidore Marie Auguste François Xavier Comte (1798– 1857) für uneigennütziges, das Wohl des Mitmenschen u. der Lebensgemeinschaft bedenkendes Verhalten.
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31 Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 3 von 3] Quelle: Die Welt, 14.12.1900, H. 50, S. 1–5.
entsetzlichen Zeiten des Mittelalters: → 443 Die portugiesischen und spanischen Juden: Nachdem die span. Juden am 31.3.1492 durch Ferdinand II. (1452–1516) u. Isabella I. v. Kastilien (1451–1504) vor die Wahl zw. Zwangstaufe u. Emigration gestellt werden, werden am 4.12.1496 die Juden Portugals durch König Manuel I. (1469–1521) vor die gleiche Entscheidung gestellt. In der Folgezeit wandert ein großer Teil der iber. Juden aus. Statthalter der Guienne: Das Herzogtum Guyenne (auch: Guienne) ist ein Teil Aquitaniens an der südl. Atlantikküste Frankreichs. Der Hundertjährige Krieg zw. Frankreich u. England endet mit der Eroberung des Gebiets durch Frankreich am 12.10.1453, das es als Provinz Guyenne der Domaine royal (dt.: „Krondomäne“) hinzufügt. Die holländischen Sephardim, die sich im 17. Jahrhundert in England ansässig: → 475 Erlangung der Menschen- und Bürgerrechte: → 471 Bis an das Ende des 18. Jahrhunderts: → 504 vogelfrei: → 464 Damoklesschwert der Einzel- oder Massenausweisung: Das Damoklesschwert ist eine Metapher für eine offensichtl. erkennbare Gefahr, v. der jederzeit eine Bedrohung für Leib u. Leben ausgeht. V. dem röm. Politiker, Redner u. Philosophen Cicero (106–43 v. Chr.) ist in den tusculanae disputationes (dt.: „Gespräche in Tusculum“) 5,61–62 eine Anekdote überliefert, wonach der Diktator Dionysios I. (um 430–367 v. Chr.) in Syrakus über dem Kopf des schmeichler. Höflings Damokles ein an einem Pferdehaar befestigtes Schwert aufhängen lässt, um die Vergänglichkeit allen Glücks aufzuzeigen. „Hoffaktoren“, „Schtadlanim“: Hoffaktor, ab dem 14. Jh. Bez. für einen Kaufmann, der für die Geld- u. Finanzgeschäfte an einem Hof zuständig ist u. den Fürsten in unternehmerischen Fragen berät. Er ist zuständig für die Beschaffung v. am Hof benötigten Geldmitteln u. Waren, v. a. v. Kriegsgerät. Da viele H. Juden sind, bildet sich zeitgleich der Begriff Hofjude heraus. Der H. nimmt gegenüber den übrigen Schutzjuden eine privilegierte Stellung am Hof ein, er kann sogar in den Beamtenstatus aufgenommen werden, hat teilweise einen ebenso großen Einfluss wie Minister u. lebt mit seiner Familie am Hof. In Deutschland erlebt das System der H. im Absolutismus des 17. u. 18. Jh. seine Blütezeit. / Schtadlanim, Sg. Schtadlan, zu
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hebr. hischtadel, dt.: „sich bemühen“, auch bez. als Vorgänger, Fürsprecher, Verteidiger o. juristische Vertreter einer jüdischen Gemeinde, die in direktem Kontakt zu Würdenträgern der nichtjüdischen Umgebung in Staat u. Kirche stehen. In vormoderner Zeit sind sie die inoffiziellen Vertreter der Gemeinden. Kämpfe Wertheimers, des Hoffaktors Karls VI., mit Pressburg und den Zipser Städten: Der dt. Oberrabbiner Samson Wertheimer (1658–1724) wird am 29.8.1703 vom Habsburger Kaiser Leopold I. (1640–1705) zum Hoffaktor ernannt. Die damit verbundene Stellung wird durch Leopolds Nachfolger Joseph I. (1678–1711) u. Karl VI., eigentl. Karl Franz Joseph Wenzel Balthasar Johann Anton Ignaz (1685–1740), bestätigt. Am 26.8.1717 erfolgt durch den Kaiser die Ernennung zum ersten ungar. Landesrabbiner. Die Kämpfe, auf die sich N. bezieht, sind eine Reihe v. antihabsburg. Aufständen zw. 1671 u. 1711 im Königl. Ungarn u. Siebenbürgen. Der letzte Aufstand ist der v. Franz II. Rákóczi (1676–1735) zw. 1703 u. 1711 (auch: Kuruzenkrieg). Besonders betroffen sind Preßburg (heute: Bratislava) u. das Gebiet um die Zips, eine Landschaft in der heutigen Nordslowakei. Cerfbeers, des Heerlieferanten Ludwigs XVI., mit Strassburg: Herz Cerf Beer v. Medelsheim (urspr. Naphtali Ben Dov Beer, auch: Cerfbeer, 1726–1793), frz. Hofjude. Als Finanzier u. Armeelieferant des frz. Königs kommt er zu großem Wohlstand u. wird mit zahlreichen Privilegien ausgestattet. Durch Ludwig XVI. August v. Frankreich (1754–1793) wird ihm als erstem Elsässer Juden die frz. Staatsbürgerschaft u. offiziell der Titel Directeur général des fourrages militaires verliehen. vom Fürsten Dietrichstein und vom Grafen Johann Pálffy aufgenommenen Juden: Ferdinand Joseph 3. Fürst v. Dietrichstein zu Nikolsburg (1636–1698), österr. Adliger u. Geheimer Rat Kaiser Leopolds I. (1640–1705). Am 7.1.1670 nimmt D. aus Wien fliehende wohlhabende u. angesehene jüdische Familien auf. / Graf Johann III. Anton Pálffy ab Erdöd (1642–1694), Abkömmling eines ungar. Adelsgeschlechts, gewährt 1670 aus Wien geflohenen Juden Schutz in seinem Herrschaftsgebiet um Schloss Marchegg in Niederösterreich. französische Revolution: → 504 Rechtsgleichheit aller Landesbewohner: → 471 warfen sie die Ghettomauern nieder: → 439 alten mystischen Ideale der messianischen Erlösung: → 434, → 444 Heil von einem übernatürlichen Messias: → 444 Beobachtung des Zeremonialgesetzes: Zeremonialgesetz, v. Anhängern des Reformjudentums seit der jüdischen Aufklärung (hebr. Haskala, zw. ca. 1770 u. 1880) verwendete Sammelbez. für die Halacha, für Bräuche u. die Speisegesetzgebung. Das
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Z. wird häufig abgelehnt, da es als Hemmnis für die Assimilation u. die polit. Emanzipation der Juden angesehen wird. Aufklärung: → 471 Verwaltungs- und Rechtssubjekte: Ein Verwaltungssubjekt ist eine Verwaltung ausübende Instanz, die jedoch nicht rechtsfähig ist. Ein Rechtssubjekt ist eine natürl. o. jurist. Person, die rechtsfähig ist, d. h. prinzipiell Träger v. Rechten u. Pflichten sein kann. deutschen „Kulturkampfe“: Kulturkampf bez. den Konflikt um eine liberale Politik zw. dem Königreich Preußen bzw. dem Deutschen Kaiserreich u. der Kathol. Kirche. Protagonisten dieser Auseinandersetzung sind der dt. Reichskanzler Otto Eduard Leopold Fürst v. Bismarck-Schönhausen (1815–1898) u. Papst Pius IX. (geb. als Giovanni Maria Mastai-Ferretti, 1792–1878). Der Konflikt eskaliert ab 1871, wird 1878 ausgeglichen u. 1887 endgültig beigelegt. Bismarcks Ziele sind eine strikte Trennung v. Kirche u. Staat, die Beendigung der kirchl. Schulaufsicht u. die Einführung der Zivilehe. Kirchenbaufragen in der Berliner Stadtverordnetenversammlung: Die Berliner Stadtverordnetenversammlung tagt ab dem 6.1.1870, Vorsteher ist zur Zeit des Erscheinens des Artikels in Die Welt der dt. Arzt u. Politiker Paul Langerhans sen. (1820– 1909). Vertierung: → 464 Synagoge: → 479 Akropolis der Gesittung: Akropolis, griech. ἀκρόπολις, dt.: „hohe Stadt“, „Zitadelle“, „Burg“. In antiken griech. Städten auf einem Hügel oberhalb der eigentl. Stadt gelegene Stadtburg, besonders in Athen. N. verwendet den Begriff A. hier metaphorisch für „Spitze“, „Höhepunkt“, „herausragende Stellung“. Pasteurs: Louis Pasteur (1822–1895), bedeutender frz. Mikrobiologe u. Chemiker. Umfangreiche Forschungen zu Fäulnis, Gärung u. zur spontanen Entstehung v. Leben. Aufgrund v. Erkenntnissen in der Keimtheorie Beiträge zur Feststellung v. Sepsis u. Antisepsis sowie der Entwicklung v. Impfstoffen. Kochs: Robert Koch (1843–1910), dt. Mikrobiologe, Epidemologe u. Mediziner. Bedeutende Beiträge zur Bakteriologie u. Mikrobiologie. Beschreibung der Entstehung des Milzbrandes (Bacillus anthracis) durch Kultivierung des Erregers. Entdeckung des Erregers der Tuberkulose (Mycobacterium tuberculosis) u. Beschreibung des Erregers der Cholera (Vibrio cholerae). Bedeutende Beiträge zur Seuchenbekämpfung bei Infektionskrankheiten. 1905 Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.
31 Die politische Gleichberechtigung der Juden [Teil 3 von 3]
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Zisters: Vermutl. ein Schreibfehler N.s o. ein Setzfehler. Gemeint ist wahrscheinl. Joseph Lister, 1. Baron Lister (1827–1912), ein brit. Mediziner u. Pionier auf dem Gebiet der asept. Chirurgie. Durch den Einsatz v. Karbolsäule (heutige Bez.: Phenol) erreicht er bei Operationen einen bakteriziden Effekt. Entscheidende Erkenntnisse zu den Grundsätzen v. Asepsis u. Antisepsis im Krankenhauswesen. Lister baut auf Erkenntnissen des ungar. Arztes Ignaz Philipp Semmelweis (1818–1865) auf, der allerdings wg. seiner jüdischen Religionszugehörigkeit stark angefeindet wird u. dessen wissenschaftl. Einsichten erst durch Lister allgemein akzeptiert werden. Röntgens: Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923), bedeutender dt. Physiker u. Nobelpreisträger (1901). Durch die nach ihm benannten Röntgenstrahlen kommt es zu bahnbrechenden Verbesserungen in der medizin. Diagnostik. R.s Forschungen sind Grundlage diverser Entdeckungen im 20. Jh., wie z. B. der Radioaktivität. Mikrobiologie: → 448 Wundrose: Wundrose o. Rotlauf sind Bez. für ein Erysipel (griech. ἐρυσίπελας, dt.: „gerötete Haut“), eine v. einer Wunde ausgehende bakterielle Infektion der oberen Hautschichten u. Lymphwege, die mit einer scharf begrenzten Rötung verbunden ist. Das E., das meist im Gesicht u. an Armen u. Beinen auftritt, geht mit einer Schwellung u. Fieber einher. Wechselfieber: Wechselfieber, Synonym für period. auftretende Malariaanfälle. Malaria (lat. malus, dt.: „schlecht“, griech. ἀήρ, dt.: „Luft“, ital. mala aria, dt.: „schlechte Luft“, v. a. die über Sümpfen liegende), auch Sumpffieber, ist eine trop. u. subtrop. Krankheit, die v. einzelligen Parasiten der Gattung Plasmodium hervorgerufen wird. Der Parasit wird durch den Stich eines weibl. Moskitos der Gattung Anopheles übertragen. Die auftretenden Krankheitssymptome sind Schüttelfrost, hohes, period. Fieber u. Krämpfe im Magen-Darm-Trakt. Der engl. Mediziner Ronald Ross (1857–1932) stellt 1897 den Zusammenhang zw. dem Stich der Anopheles-Mücke u. einer Malaria-Infektion her. Zerstreuung: → 424 achtzehnhundertjährigen Fluch: → 477
552 Teil II: Kommentar
32 Eine Conférence Max Nordaus Quelle: Die Welt, 28.12.1900, H. 52, S. 6.
Conférence: Frz. conférence, dt.: „Vortrag“, „Konferenz“, hier i. S. v. Vortrag. Chanukafest: Hebr. Chanukka, dt.: „Einweihung“, auch: Lichterfest, traditionelles jüdisches Fest, bei dem der Neuweihung des Zweiten Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v. Chr. gedacht wird. Besondere Bedeutung nimmt die sukzessive Entzündung der acht Lichter der Chanukkija, eines acht- bzw. neunarmigen Leuchters, an den acht Tagen des Festes ein. Sie erinnert an das knappe geweihte Öl im Tempel während des Makkabäeraufstands, das eigentl. nur für einen Tag reichte, durch ein Wunder aber acht Tage vorhielt, sodass die Menora nicht verlosch. „Echo Sioniste“: L'Écho sioniste. Organe d'informations sionistes (dt.: „Zionistisches Echo. Presseorgan für zionistische Informationen“), 1899–1901 zweimal monatl. erscheinende zionistische Zeitschrift, 1902–1914 monatl. Erscheinen. Hrsg. ist Baruch Hagani (1885–1944). Boeren: Boere, ndl. u. afrikaans, dt.: „Bauer“, „Farmer“. Bez. für die seit Ende des 18. Jh.s Afrikaans sprechenden, aus Europa stammenden Einwohner Namibias u. Südafrikas. Ältere Bez. sind „Kapholländer“ o. „Weißafrikaner“. Aus dem Ersten Burenkrieg (16.12.1880–23.3.1881) zw. Großbritannien u. der Südafrikan. Republik (ZAR) in Transvaal geht letztere siegreich hervor u. erreicht eine Selbstverwaltung Transvaals unter formeller brit. Oberherrschaft. Der Zweite Burenkrieg (1899–1902), der mit einem brit. Sieg endet, dauert zur Abfassungszeit des Beitrags N.s noch an. Präsidenten Krüger: Stephanus Johannes Paulus Kruger (1825–1904), auch Oom Paul (afrikaans, dt.: „Onkel Paul“) o. Ohm Krüger, südafrikan. Politiker u. militär. Kommandant während der Burenkriege. Präsident der Südafrikan. Republik 1882– 1902. Neben seinen polit. u. militär. Verpflichtungen setzt sich K. für den Naturschutz ein: Er gründet am 26.3.1898 das Sabie-Naturschutzgebiet, aus dem sich später der Kruger-Nationalpark entwickelt. Krieg in Transvaal: → 552 Erhebung der Makkabäer: → 478, → 620 syrische Reich: Alexander der Große (griech. Ἀλέξανδρος ὁ Μέγας, 356–323 v. Chr.), bedeutender antiker Herrscher u. König. Während des großangelegten Alexanderzugs werden die Grenzen Makedoniens durch die Eroberung des Achämenidenreiches bis auf den ind. Subkontinent ausgedehnt. Durch die Hellenisierung weiter Teile der damaligen bekannten Welt wird die Kultur auf mehrere Jh.e hin geprägt. Auf dem Weg zur Eroberung des pers. Kernlandes 331–330 v. Chr. erobert u. durch-
32 Eine Conférence Max Nordaus
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quert Alexander Syrien. In der jüdischen Alexanderrezeption wird Alexander bereits in der Antike als Freund des jüdischen Volkes angesehen. Assimilationsbewegung: → 431 Israel: → 444 Hellenisten: Als Hellenismus, griech. Ἑλληνισμός, dt.: „Griechentum“, wird der Zeitraum vom Regierungsantritt Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.) (336 v. Chr.) bis zu dem Sieg des Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) über Antonius (82–30 v. Chr.) u. Kleopatra (69–30 v. Chr.) bei Aktium (31 v. Chr.) u. der Einziehung Ägyptens in das Röm. Reich (30 v. Chr.) bez. Aaroniden: Im Alten Testament ist Aaron der Bruder Mirijams u. Moses u. der erste Hohepriester. Seine Nachkommen, die Aaroniden (auch: Aaroniten), werden mit priesterl. Aufgaben wie Gottesbefragungen, richterl. u. rituellen Entscheidungen u. der Lehre betraut.
554 Teil II: Kommentar
33 Israel unter den Völkern [Teil 1 von 4] Quelle: Die Welt, 4.1.1901, H. 1, S. 3–5.
Israel: → 444 „Judenfrage“: → 458 der edle Friedrich III.: Der spätere König v. Preußen u. Deutsche Kaiser Friedrich III. (eigentl. Friedrich Wilhelm Nikolaus Karl v. Preußen, 1831–1888) äußert sich als Kronprinz 1880 in einer nicht-öffentl. Sitzung gegenüber dem Berliner Stadtrat sinngemäß dahingehend, dass er den seit 1870 ansteigenden Antisemitismus im Deutschen Reich für eine „Schmach“ für Deutschland halte. Der exakte Wortlaut der Äußerung ist nicht überliefert. „Wenn man den Hund ersäufen will“: → 440 der alten Heloten: → 435 Kridatare: Kridatar o. Kridar, mlat. cridatarius zu mlat. crida, dt.: „öffentl. Ausruf“, „Zusammenrufung der Gläubiger“. In der österr. Rechtssprache ein Konkursschuldner. Sittlichkeit: → 440 Eheschließungen: Um die Jahrhundertwende liegt das durchschnittl. Heiratsalter bei jüdischen Frauen bei 25 Jahren, bei jüdischen Männern liegt es mit 30 Jahren höher als bei der nichtjüdischen Majorität. Im Deutschen Reich werden um 1900 auf 1.000 Einwohner jährlich 8,1 Ehen geschlossen, während es in der jüdischen Gemeinde zu 6,5 Eheschließungen kommt. andere Parvenus: Parvenü, lat. pervenio, dt.: „hinkommen“, „erreichen“, „bekommen“, frz. parvenu, eigentl. 2. Partizip v. parvenir, dt.: „ankommen“, „emporkommen“. Bez. für einen Emporkömmling, Aufsteiger o. Neureichen. Menschen- und Bürgerrechte: → 471 Genius: Lat., dt.: „Geist“. Die alten Römer […]: In der antiken griech. u. röm. Literatur wird die jüdische Religion überwiegend negativ als Aberglauben dargestellt. Die Annahme, Juden würden einem Eselskopf göttl. Verehrung entgegenbringen, wird v. verschiedenen Autoren auf den Mythos zurückgeführt, eine Herde wildlebender Esel hätte den Juden in der Wüste den Weg zu Wasserquellen gewiesen. Besonders der röm. Geschichtsschreiber Tacitus (um 55–um 120 n. Chr.) betont dies im sog. Judenexkurs der Historien (5,4,2): „Effigiem animalis, quo monstrante errorem sitimque depulerant, penetrali
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sacravere […]“ (dt.: „Ein Bild des Tieres, durch dessen Hinweis sie Herumirren und Durst überwunden hatten, weihten sie im Innersten des Heiligtums“). Syrer und Hellenisten hassten die Juden: → 620 / Hellenismus → 553 in dem alexandrinischen Zeitalter: → 552 Griechische fremdartig […]: Nichtgriech. Ausländer bzw. unverständl. Sprechende werden im Altgriech. als ungesittete, rohe Menschen bez. (griech. βάρβαρος, dt.: „nicht griech.“, „unverständl.“, „ungebildet“). Heilandsmörder und Gottverfluchten: → 463 Brunnen vergiften: → 445 Christenkinder schlachten, um das Blut für rituelle Zwecke zu verwenden: → 472 Hostien aus den Kirchen stehlen, um sie zu schänden: Hostienfrevel, im Mittelalter erhobener Vorwurf, Juden würden geweihte Hostien aus Kirchen entwenden u. diese durch Durchstoßen, Durchbrechen, Sieden, Verbrennen o. Ä. schänden. Zahlreiche Juden werden aufgrund solcher Beschuldigungen ermordet o. vertrieben. übler Geruch (foetor judaicus): Lat. foetor judaicus, dt.: „jüdischer Gestank“. Der dt. Orientalist u. Theologe Johann Jacob Schudt (1664–1722) unterstellt den Juden in seinem dreibändigen Werk Jüdische Merckwürdigkeiten (1714) mangelnde Körperhygiene u. übermäßigen Knoblauchverzehr u. führt den angebl. f. j. darauf zurück. Wucher treiben: → 492 Volk aussaugen: → 492 Güter des Landes an sich ziehen: → 446 Schmarotzerdasein führen: → 492 zur Zeit der „schwarzen Pest“ die Juden der Brunnenvergiftung: → 445 Agrarier den Juden zum Vorwurf, dass sie die Getreidepreise herabdrücken: → 446 Juden sich den Radikalen zugesellen: → 435 Freimaurer: → 462 Jesuiten: Entstehung des Jesuitenordens im Zuge der Gegenreformation im späten 16. Jh. als Reaktion auf die reformatorische Bewegung Luthers innerhalb der christl. Kirche. Gründung durch den span. Edelmann Ignatius v. Loyola (1491–1556), der nach einer Kriegsverwundung mit Freunden im Jahre 1534 die sog. Societas Jesu ins Leben ruft, Anerkennung durch das Papsttum (1540). Zielsetzungen sind innere wie äußere Missionstätigkeit unter dem Gebot strenger Unterordnung u. durch eine zentralistische Struktur. Verpflichtung der Mitglieder des J. zu unbedingtem Gehor-
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sam u. regelmäßigen Exerzitien. Jesuitische Kollegs u. Schulen haben als Bildungsstätten des Geistes erhebl. Einfluss auf die Gegenreformation. Minorität: → 506 Palästina, das Land der Ahnen: → 428 Assimilanten: → 431 Mischehe: → 496 Verlegung des Sabbath auf den Sonntag: → 501 Verbannung der hebräischen Sprache aus den Synagogen: → 531 N. Sokolow: Nahum Sokolow (1859–1936), poln. Publizist, Schriftsteller u. Zionist. Begründer des modernen hebr. Journalismus, Artikel u. Feuilletons für die hebr. Zeitschrift Hazefira (dt.: „Der Alarm“), in denen er den Juden Osteuropas die Moderne zu vermitteln versucht. Mehrere Übersetzungen europä. Literatur ins Hebräische u. Autor des zweibändigen Werkes History of Zionism (1918, dt.: „Geschichte des Zionismus“ (1921)). Präsident der Zionistischen Organisation (1931–1935). hebräischen Jahrbuch (Sefer Haschanah): Sefer Haschana, zw. 1900 u. 1906 v. Nahum Sokolow (1859–1936) in Warschau hrsg. Zeitschrift. Moriz Zobel: M. Z. (auch: Moritz, 1876–1961), langjähriger Mitarbeiter u. nach der Jahrhundertwende Hrsg. der Zeitschrift Die Welt, Übersetzer zahlreicher Schriften aus dem Hebräischen ins Deutsche. Werke über Religion und Kultur des Judentums, z. B. Der Sabbat. Sein Abbild im jüdischen Schrifttum, seine Geschichte und seine heutige Gestalt (1935); Das Jahr der Juden in Brauch und Lithurgie (1936); Gottes Gesalbter. Der Messias und die messianische Zeit in Talmud und Midrasch (1938).
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34 Israel unter den Völkern [Teil 2 von 4] Quelle: Die Welt, 11.1.1901, H. 2, S. 4–5.
Anatole Leroy-Beaulieu in seiner Schrift „Israel chez les Nations“: Anatole LeroyBeaulieu (1842–1912), frz. Historiker u. Essayist. Mitarbeit an der Monatszeitschrift Revue des deux Mondes. Werke zur russ. Geschichte, zum Judentum u. zum Antisemitismus, u. a. L'Empire des tsars et les Russes (1881–1889), Israël chez les Nations (1893), L'Antisémitisme (1897) u. Les Immigrants juifs et le judaïsme aux États-Unis (1905). Antisemit Paul Lagarde: Paul Anton de Lagarde, Pseudonym für Paul Anton Bötticher (1827–1891), dt. Orientalist, Anhänger der Grenzkolonisation u. des modernen rassischen Antisemitismus. Neben seinen wissenschaftl. Publikationen ist L. bestrebt, eine dt. Nationalreligion zu gründen, deren Basis ein aggressiver Antisemitismus u. expansionist. Denken bilden. In mehreren Schriften wird diese Nationalreligion theoretisch begründet, u. a. in Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion. Ein Versuch Nicht-Theologen zu orientieren (1873), Über die gegenwärtige Lage des deutschen Reichs. Ein Bericht (1875) u. in Deutsche Schriften (1878), die fortlaufend alle polit. Schriften L.s versammeln u. im Bürgertum des Deutschen Reiches große Verbreitung erfahren. Eduard v. Hartmann: Karl Robert Eduard v. Hartmann (1842–1906), dt. Philosoph. In seinem Hauptwerk Philosophie des Unbewußten (1869) versucht H. mit Bezug auf Schopenhauer u. Hegel, das Unbewusste als Synthese v. Willen u. Vorstellung, Realem u. Idealem, Unlogischem u. Logischem zu beschreiben. „Das Judentum in Gegenwart und Zukunft“: 1885 erschienene Schrift v. Karl Robert Eduard v. Hartmann (1842–1906). Obwohl sich v. Hartmann vom Antisemitismus abgrenzt, vertritt er als Repräsentant eines liberalen Bürgertums die Vorstellung des Strebens der Juden nach Weltherrschaft. Durch das Festhalten an der mosaischen Religion u. fehlende Assimilationsbereitschaft seien die Juden selbst für das Aufkommen des Antisemitismus verantwortlich. liberalen Partei: → 504 Leo: Heinrich Leo (1799–1878), dt. Historiker u. konservativer Politiker in Preußen. N. irrt in der Behauptung, Leo sei ein getaufter Jude. Leo ist ein gläubiger Protestant, steht allerdings innerlich dem polit. Katholizismus nahe. Seine reaktionären polit. u. konfessionellen Ansichten legt er u. a. in Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Volks und Reichs (5 Bde., 1854–67) dar. Stahl: Friedrich Julius Stahl (geb. als Julius Jolson, 1802–1861), dt. Staats- u. Kirchenrechtler u. Politiker jüdischen Glaubens, Übertritt zum Protestantismus 1819. Mitbegründer der Konservativen Partei Preußens (1848/49). Nach seiner Auffassung
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ist das Christentum Kern des preuß. Staates, weswegen nur Christen obrigkeitl. Aufgaben u. Ämter ausüben könnten. Partei der Tories in England: Tory, engl., Pl. Tories. Bez. für eine konservative Gruppierung, die dem brit. Königshaus positiv gegenübersteht. Der Begriff T. kommt als Gegenbegriff zu den liberalen Whigs 1679 auf, als es um die Frage geht, ob Katholiken v. der brit. Thronfolge auszuschließen seien. Nach einer Phase der Bedeutungslosigkeit wird 1783 v. dem brit. Politiker William Pitt the Younger (1759–1806) die Tory Party neu gegründet. Die Konservative Partei wird 1834 mit dem Programm Tamworth Manifest gegründet u. erreicht 1874 unter Benjamin Disraeli (1804–1881), der zum zweiten Mal Premierminister (1874–1880) wird, die Mehrheit im Parlament. Die Konservativen unter Disraeli sind die Hauptunterstützer der brit. imperialist. Politik. East End von London: Das Londoner East End liegt nördl. der Themse u. östl. des mittelalterl. Stadtkerns. Im 19. Jh. siedeln sich in dem proletar. geprägten Viertel zahlreiche Juden an. Besonders nach den zarist. Verfolgungen 1881 steigt der jüdische Bevölkerungsanteil sprunghaft an. V. den 150.000 Juden Londons leben zwei Drittel im East End. Sie sind meist als ungelernte Arbeiter in der Bekleidungs- o. Möbelindustrie tätig. Assimilations-Theorie: → 431 Wahlen: Bei den Élections législatives françaises de 1898 am 8. u. 22.5. wird als 7. Präsident Frankreichs Félix Faure (1841–1899) bestätigt. Nach dessen plötzlichem Tod wird Émile François Loubet (1838–1929) zu seinem Nachfolger, der im gleichen Jahr Alfred Dreyfus (1859–1935) begnadigt. Klotz: Louis-Lucien Klotz (1868–1930), frz. Politiker u. Journalist. Gründung der Zeitschrift La Vie Franco-Russe (1888) u. der patriot. Zeitschrift Le Français quotidien (1895). Ab der Wahl 1898 Abgeordneter der Nationalversammlung u. mehrfach Innen- u. Finanzminister. Revision des Dreyfus-Prozesses: → 453 Singer: Paul Singer (1844–1911), dt. Fabrikant u. Reichstagsabgeordneter. Mitbegründer des Demokratischen Arbeitervereins u. Mitglied des Berliner Arbeitervereins (1868). Durch die gemeinsam mit seinem Bruder betriebene Damenmäntelfabrik Gebr. Singer gelangt S. zu Wohlstand u. unterstützt die Arbeiterbewegung u. die Partei zeitlebens. Trotz antisemitischer Hetzkampagnen 1883 erstmals Wahl zum Berliner Stadtverordneten. Mitbegründer der Sozialdemokrat. Partei Deutschlands (SPD, 1890) u. 1890–1892 deren Vorsitzender zusammen mit Karl Alwin Gerisch (1857– 1922) u. Ferdinand August Bebel (1840–1913). Galizien: → 439
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Algier: → 461. 1865 bietet Frankreich Juden u. Muslimen in Algerien unter der Voraussetzung des Übertritts zum Christentum das volle frz. Bürgerrecht an. Wenige Juden machen v. diesem Angebot Gebrauch. Decret Crémieux: → 471 Vereinigung jüdischer Parlamentarier in England, die feste Stütze der „Anglo Jewish Association“: Der Board of Deputies of British Jews ist die bedeutendste repräsentative Vereinigung brit. Juden. Die jetzige Körperschaft geht histor. aus dem 1760 gegründeten London Board of Deputies u. dem London Committee of Deputies of British Jews hervor. / Die Anglo-Jewish Association ist eine am 2.7.1871 gegründete brit. Organisation zur Unterstützung der Belange der brit. Juden; erster Präsident ist der Rechtsgelehrte Jacob Waley (1818–1873). bedrückten Juden in Rumänien: → 538 Juden in Persien: → 439 Rickert: Heinrich Edwin Rickert (1833–1902), dt. Journalist u. Politiker. Mitbegründer der Nationalliberalen Partei, ab 1870 Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses u. ab 1874 Abgeordneter des Reichstages. Sein Eintreten gegen den erstarkenden Antisemitismus im Kaiserreich führt 1890 zur Gründung des liberal u. humanist. geprägten Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. Hänel: Albert Hänel (1833–1918), dt. Staatsrechtler u. Politiker. Prof. in Königsberg u. Kiel, dort an der Christian-Albrechts-Universität 1892/93 Rektor. Mitglied mehrerer liberaler Vereinigungen u. Parteien im Preuß. Abgeordnetenhaus, im Reichstag des Norddeutschen Bundes u. als Abgeordneter des Reichstags des Deutschen Kaiserreichs. H. wendet sich im Preuß. Abgeordnetenhaus gegen die Antisemitenpetition. Traeger: Christian Gottfried Albert Traeger (1830–1912), dt. Jurist, Journalist u. Politiker. Ab 1874 über mehrere Legislaturperioden Abgeordneter der Freisinnigen Volkspartei im Deutschen Reichstag. Veröffentlichung v. Gedichten u. journalist. Arbeiten im Jahrbuch Deutsche Kunst in Bild und Lied, in Die Gartenlaube u. im Berliner Tageblatt. Barth: Wilhelm Theodor Barth (Pseudonyme: Junius u. Ferdinand Svendsen, 1849– 1909), dt. Jurist, Publizist u. Politiker. Als Linksliberaler zunächst Mitglied der Deutschen Freisinnigen Partei, ab 1893 bei der Freisinnigen Vereinigung. Abgeordneter im Preuß. Abgeordnetenhaus u. im Deutschen Reichstag. Mitbegründer u. Hrsg. der liberalen Wochenschrift Die Nation (1883–1907). Richter: Eugen Richter (1838–1906), dt. Ökonom, Publizist u. Politiker. Als konsequenter Vertreter des Manchester-Liberalismus Mitglied in mehreren liberalen Parteien (Deutsche Fortschrittspartei, Deutsche Freisinnige Partei, Freisinnige Volkspar-
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tei); Mitglied des preuß. Abgeordnetenhauses, des Reichstags des Norddeutschen Bundes u. des Reichstags des Kaiserreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen in Form v. Broschüren zu polit., ideolog. u. ökonom. Fragen. Umfangreichere Veröffentlichungen u. a. Die Consumvereine, ein Noth- und Hilfsbuch für deren Gründung und Einrichtung (1867), Sozialdemokratische Zukunftsbilder. Frei nach Bebel (1891) u. Politisches ABC-Buch. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen (1892). Pachnitzky: Vermutl. eine Verwechslung N.s. Gemeint ist wahrscheinl. Hermann Pachnicke (1857–1935), dt. Jurist, Nationalökonom u. Politiker. Mitglied in den liberalen Parteien Deutsche Freisinnige Partei, Freisinnige Vereinigung u. Fortschrittliche Volkspartei. Mitglied des Deutschen Reichstages im Kaiserreich u. des Preuß. Abgeordnetenhauses. Nach dem Ersten Weltkrieg als Abgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei erneut Mitglied des Reichstages. Dr. Lieber: Philipp Ernst Maria Lieber (1838–1902), dt. Jurist, Politiker u. Vertreter des Laienkatholizismus. Als Abgeordneter der Deutschen Zentrumspartei Mitglied des Preuß. Abgeordnetenhauses u. des Deutschen Reichstages im Kaiserreich. Prominenter Gegner Bismarcks (1815–1898) während des Kulturkampfes. Präsident des Katholikentages in Münster (1885). Affaire: → 453 Raynal: David Raynal (1840–1903), frz. Industrieller u. Politiker. Handelsvertreter bei der Compagnie des chemins de fer du Midi, Abteilungsleiter im frz. Verkehrsministerium (1880–1881), Verkehrsminister (1881–1882 u. 1883–1885) u. Innenminister (1883–1884). Naquet: Alfred Joseph Naquet (1834–1916), frz. Mediziner, Chemiker, Anwalt u. Politiker. Vorkämpfer für den Laizismus u. die gerichtl. Ehescheidung. Mitglied in der Alliance internationale de la démocratie socialiste. Verwicklung in den PanamaSkandal, was zu heftigen antisemitischen Schmähungen gegen N. führt. Crémieux: Fernand Crémieux (1857–1928), frz. Rechtsanwalt u. Politiker. Als Abgeordneter der radikalen Linken Mitglied der Nationalversammlung (1885–1889 u. 1893–1898) u. Mitglied des Senats (1903–1928). Engagement gegen die 1882 gegr. Ligue des patriotes, eine nationalist., antisemitische u. chauvinist. Vereinigung in Frankreich. Dem ungarischen Parlament: Das ungar. Parlament (ungar. Országgyűlés) ist ein direkt vom Volk gewähltes Einkammerparlament. Nach der Vereinigung der drei Städte Buda, Pest u. Óbuda zu Budapest (1873) errichtet der ungar. Architekt Imre Steindl (1839–1902) am Südufer der Donau nach dem Vorbild des Palace of Westminster in London einen repräsentativen Parlamentsbau (ungar. Országház, dt.: „Landeshaus“, Bauzeit 1885–1904). Blutbeschuldigung in Tisza-Eszlár: → 538
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Kollegen Lueger: Karl Lueger (1844–1910), österr. Rechtsanwalt u. Politiker. 1897– 1910 Bürgermeister Wiens. L. gründet 1893 die österr. Christlichsoziale Partei (CS), die mit antiliberalen Parolen offen u. aggressiv antisemitisch agiert. Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916) verhindert wg. dessen ausgeprägter antisemitischer Rhetorik viermal die Ernennung L.s zum Wiener Bürgermeister. Schneider: Ern(e)st Schneider (1850–1913), österr. Mechaniker, Gewerbetreibender u. Politiker. Als Vertreter der Kleingewerbetreibenden agitiert er antiliberal u. antisemitisch. Begeisterter Anhänger Karl Luegers (1844–1910). Reichsratsabgeordneter der Christlichsozialen Partei Österreichs (1891–1907). Berüchtigt für seine Stimmzettelmanipulationen u. rassistischen Attacken, u. a. die Forderung nach einer Art Kopfgeld, einem „Schussgeld“ für Juden. Gregorig: Josef Gregorig (1846–1909), österr. Kurzwarenhändler u. Politiker. Anhänger Karl Luegers (1844–1910) u. Mitglied der Christlichsozialen Partei Österreichs. Antisemitische Agitation unter dem Vorwand des Schutzes des Kleingewerbes vor der Konkurrenz großer Warenhäuser. Mitgründer des Bundes der Antisemiten. „Die Juden sind keine Menschen“: In den 1890er Jahren blüht in Wien ein stark antisemitisch geprägter Stil v. „Humor“, der gegen Judentaufen, über die Vernichtung v. Juden u. den Rassenkampf polemisiert. Besonders Ern(e)st Schneider (1850– 1913), dem die v. N. zitierten Zeilen zugeschrieben werden, ist für diese Aussprüche bekannt. Karl Lueger (1844–1910), in dessen polit. Dunstkreis diese „Witze“ kursieren, streitet jede konkrete polit. Botschaft dieser Aussagen ab u. beharrt auf deren „scherzhaftem“ Charakter. Einfaltspinsel: → 442 Angehörigen der lateinischen Rasse: Unter Panlatinismus ist seit der Mitte des 19. Jhs. eine polit. Strömung zu verstehen, die die religiösen, rassischen u. kulturellen Gemeinsamkeiten Frankreichs u. Lateinamerikas verklärt. Sie ist als Gegenbewegung zum Panamerikanismus der USA u. zum Paniberismus Portugals u. Spaniens zu verstehen. Vorkämpfer dieser Bewegung sind der frankoamerik. Jurist, Historiker u. Politiker Charles Étienne Arthur Gayarré (1805–1895) u. der frz. Ökonom u. Politiker Michel Chevalier (1806–1879). Der Begriff ‚Lateinamerika‘ geht auf die Betonung des antiken röm. Erbes, des Katholizismus u. der roman. Sprachverwandtschaft zurück. Mr. Strauss: Oscar Solomon Straus (1850–1926), Jurist, US-amerik. Diplomat u. Politiker dt. Herkunft. US-Gesandter im Osman. Reich (1897–1900 u. 1909–1910) u. als Handels- u. Arbeitsminister erstes jüdisches Kabinettsmitglied der USA (1906– 1909). Intensive Beschäftigung mit der Situation der Juden in den USA u. erster Präsident (1892–1898) der American Jewish Historical Society (AJHS). Posten eines amerikanischen Botschafters bei der Pforte: → 529
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Baron Worms: Henry de Worms (Heinrich Worms), 1st Baron Pirbright (1840–1903), brit. konservativer Politiker u. Staatsmann mit dt. Wurzeln. Zahlreiche öffentl. Ämter wie Parliamentary Secretary to the Board of Trade (1886–1888) u. Under-Secretary of State for the Colonies (1888–1892). Bestellung zum Her Majesty's Most Honourable Privy Council (1888) u. Erhebung in den Adelsstand als Baron Pirbright (1895). Lord Herschells: Farrer Herschell, 1st Baron Herschell (1837–1899), liberaler brit. Politiker u. Staatsmann. Sein Vater Ridley Haim Herschell (1807–1864) konvertiert vom Judentum zum Christentum u. spielt eine führende Rolle bei der Gründung der British Society for Propagating the Gospel Among the Jews (1842). Polit. Karriere als Queen's Counsel (1872), Her Majesty's Solicitor General for England and Wales (1880– 1885) u. The Lord High Chancellor of Great Britain (1886 u. 1892–1895). Geschichte der liberalen Partei in England: Die Liberal Party geht in den 1830er Jahren aus den wirtschaftsliberalen Whigs (zu schott. whiggamore, dt.: „Viehtreiber“) u. den in der Mittelschicht verankerten Radicals hervor. Bis 1885 wechselt sich die Liberal Party mit der Conservative Party in einem Zweiparteien-System in der Regierungsverantwortung ab. Die Bedeutung der Liberal Party nimmt in den Folgejahren kontinuierlich ab. Sir Drummond Wolf: Sir Henry Drummond-Wolff (1830–1908), konservativer brit. Politiker u. Diplomat. Abgeordneter im House of Commons (1874–1885). British high commissioner in Ägypten (1885–1887) u. Envoy Extraordinary and Minister Plenipotentiary to Teheran (1888–1891). Botschafter in Madrid (1892–1900). Sir Julian Vogel: Sir Julius Vogel (1835–1899), engl. Politiker, Journalist u. achter Premierminister Neuseelands (1873–1875 u. 1876). Gründung der bis heute bestehenden Tageszeitung Otago Daily Times (ODT, 1861). V. ist Autor des Science-Fiction-Romans Anno Domini 2000 – A Woman's Destiny (1889). Don Ruy Gomez in Victor Hugos Drama „Hernani“: Hernani, ou l'Honneur castellan, romant. Drama (UA 1830) des frz. Schriftstellers Victor Hugo (1802–1885). Die Aufführung des Dramas löste die „Schlacht von Hernani“ aus und begr. das romantische Drama.
35 Israel unter den Völkern [Teil 3 von 4]
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35 Israel unter den Völkern [Teil 3 von 4] Quelle: Die Welt, 18.1.1901, H. 3, S. 2–3.
„Vier Fragen eines Ostpreußen“: → 466 Gewährung der Konstitution: → 504 Im ersten deutschen Parlament in der Frankfurter Paulskirche: → 466 Uhland: Johann Ludwig Uhland (1787–1862, Pseudonyme: Der Rezensent Spindelmann u. Florens), dt. Jurist, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler u. Politiker. Tätigkeit als Anwalt, Abgeordneter im Württemberg. Landtag. 1829 Professur für dt. Sprache u. Literatur an der Universität Tübingen. Wahl zum Abgeordneten Tübingens in der Nationalversammlung mit Sitz in der Frankfurter Paulskirche (1848). Arndt: Ernst Moritz Arndt (1769–1860), dt. Schriftsteller, Freiheitskämpfer u. Politiker. Bedeutendes Engagement gegen die napoleon. Besetzung Deutschlands u. Agitation gegen die Tyrannei in den Schriften Kurzer Katechismus für den Deutschen Soldaten (1812) u. Katechismus für den Deutschen Kriegs- und Wehrmann (1815). A. vertritt teilweise antisemitische Positionen, v. a. durch das Vermischen negativer Vorstellungen v. Franzosen u. Juden. Jahn: Friedrich Ludwig Jahn, gen. Turnvater Jahn (1778–1852), dt. Pädagoge, Publizist, Begründer der Turnbewegung u. Abgeordneter der Nationalversammlung (ab 1848). Die dt. Nationalbewegung sieht in der Turnbewegung die Möglichkeit, die Jugend für den Kampf gegen die napoleon. Besetzung vorzubereiten u. zu kräftigen. Neben dem Turnen geschieht dies v. a. durch Fechten, Schwimmen u. Wandern, welches unter der pädagog. Maxime „Frisch, frei, fröhlich und fromm – das ist des Turners Reichtum“ propagiert wird. Simon: Dr. August Heinrich Simon (1805–1860), dt. Jurist u. Politiker, Abgeordneter für Magdeburg in der Frankfurter Nationalversammlung (1848–1849), getaufter Jude. Mitglied im sog. Dreißiger-Ausschuß, der Kommission für den Entwurf einer Reichsverfassung. Bismarck: Otto Eduard Leopold Graf v. Bismarck-Schönhausen (seit 1865), Fürst v. Bismarck (seit 1871), Herzog v. Lauenburg (seit 1890) (1815–1898), bedeutender preuß. Staatsmann, erster Reichskanzler des Deutschen Reiches 1871–1890. Norddeutschen Reichstags: → 467 im Jahre 1870: Druckfehler o. Ungenauigkeit. Die dt. Reichsgründung findet am 18.1.1871 statt, Wilhelm I. (1797–1888) wird zum ersten Deutschen Kaiser proklamiert.
564 Teil II: Kommentar
König Wilhelm II.: Gemeint ist Wilhelm I.. Wilhelm II., eigentl. Friedrich Wilhelm Viktor Albert v. Preußen (1859–unbk.), aus der Hohenzollern-Dynastie, 1888–1918 Deutscher Kaiser u. König v. Preußen. Verfassung des Deutschen Reichs: Die Verfassung des Deutschen Kaiserreichs vom 16.4.1871 geht aus der 1867 entstandenen Norddeutschen Bundesverfassung u. in revidierter Fassung aus der Verfassung des Deutschen Bundes vom 1.1.1871 hervor, ist bis zum 14.8.1919 gültig u. wird auch als Bismarck’sche Reichsverfassung bez. Das Präsidium des Bundesrates als Vertretung der Bundesstaaten nimmt der Preuß. König ein, der somit den Titel Deutscher Kaiser trägt. Der Reichskanzler als maßgebl. Instanz der Politik wird direkt vom Kaiser eingesetzt. Reichsgesetze benötigen neben der Zustimmung des Bundesrates die des Reichstages, der durch allgemeines Wahlrecht für Männer alle drei, ab 1885 alle fünf Jahre gewählt wird. Ludwig Bamberger: Ludwig Bamberger (1823–1899), dt. Jurist, Finanzfachmann u. nationalliberaler Politiker. Finanzpolit. Berater Otto v. Bismarcks während des Dt.Frz. Krieges 1870/71 u. Reichstagsabgeordneter (1871–1890). B. erreicht eine Vereinheitlichung des Münzwesens u. die Umstellung v. Silber- auf Goldwährung (1871), die ausschließl. vom Reich geprägt werden darf. Guizot: N. unterläuft hier eine Namensverwechslung, die in einer Anmerkung des 4. Teils v. Israel unter den Völkern korrigiert wird. Gemeint ist Michel Goudchaux (1797–1862), frz. Bankier, Journalist, Mitbegründer der Zeitung Le National u. Politiker. Zw. 1848 u. 1851 ist er in mehreren, z. T. provisor. frz. Regierungen Finanzminister. Die Verwechslung beruht auf der Namensähnlichkeit mit dem frz. protestant. Politiker u. Schriftsteller François Pierre Guillaume Guizot (1787–1874), der v. 1840 bis zur Februarrevolution 1848 als frz. Außenminister fungiert – daher auch die Nennung des Außenministerpostens, die auf Goudchaux nicht zutrifft. Bankerott: → 477 Fould: Achille Fould (1800–1867), frz. Bankier u. Politiker. Ab 1842 Deputierter u. zw. 1842 u. 1867 mehrfach frz. Finanzminister. Jules Simon: Jules François Simon (1814–1896), frz. Philologe u. Politiker. Mitglied der Deputiertenkammer (1847–1848) u. Abgeordneter des Staatsrates (ab 1849). S. steht als Republikaner in prominenter Opposition zu Napoleon III. Abgeordneter der Nationalversammlung nach Gründung der Dritten Republik (1871). Mac-Mahon: Marie Edme Patrice Maurice, Comte de Mac-Mahon, Duc de Magenta (1808–1893), frz. Marschall u. Politiker. Teilnahme am Krimkrieg, Unterwerfung der Kabylen (1857) u. Sieg über die österr. Truppen (1859). Generalgouverneur in Algerien (1864–1870). Gefangenschaft während des Dt.-Frz. Krieges 1870/1871. Niederschlagung des Aufstandes der Pariser Kommune (1871). Zweiter Präsident der Dritten Frz. Republik (1873–1879).
35 Israel unter den Völkern [Teil 3 von 4]
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16. Mai (1877): Am 16.5.1877 kommt es in der Dritten Republik zu einer Verfassungskrise (frz. Crise du seize mai) über die Machtbefugnisse des Präsidenten u. des Parlamentes. Präsident Marie Edme Patrice Maurice Graf v. Mac-Mahon (1808–1893) entlässt den oppositionellen republikan. Premierminister Jules Simon (1814–1896). Als das Parlament daraufhin der neu eingesetzten Regierung die Unterstützung verweigert, löst der Präsident dieses auf. Die darauffolgenden Wahlen ergeben einen deutl. Sieg der Republikaner. Ehescheidungsgesetz: Das frz. Ehescheidungsgesetz, frz. Loi autorisant le divorce, v. 20.9.1792 wird während der frz. Restauration am 8.5.1816 aufgehoben u. während der Dritten Republik am 27.7.1884 reetabliert. Boulangisten: Der Boulangismus entsteht zw. 1888 u. 1890 in Frankreich im Umkreis des frz. Generals u. Kriegsministers Georges Ernest Jean Marie Boulanger (1837– 1891), der Identifikationsfigur revanchist. Vorstellungen u. Verfechter einer Grenzrevision gegenüber dem Deutschen Reich ist. Der Personenkult um B. entspricht dem Bestreben nach einer autoritären Politik, wie sie v. Nationalisten, radikalen Republikanern, Sozialisten u. zunehmend v. Antisemiten in Frankreich gefordert wird. Signor Luzzatti: Luigi Luzzatti (1841–1927). Als Staatssekretär im Handelsministerium unterstützt er den Freihandel u. schafft die staatl. Aufsicht über die Handelsunternehmen ab. Teilnahme an den Handelsvertragsverhandlungen mit Frankreich (1877). Erfassung des Zolltarifverzeichnisses Italiens (1878) u. Abschaffung des Verrechnungssystems zw. den Zentralbanken (1891). Dr. Adolf Fischhof: Adolf Ephraim Fischhof (1816–1893), österr. Mediziner u. Politiker. Engagement für liberale Positionen während der Wiener Märzrevolution 1848 u. Einsatz für den Ausgleich der ethn. Minderheiten u. Nationalitäten im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn. Abgeordneter im konstituierenden Reichstag, Mitglied im Verfassungsausschuss u. maßgebl. Beteiligung an der Ausfertigung eines Verfassungsentwurfes (25.4.1848). Volkstribun: Lat. tribunus plebis, dt.: „Volkstribun“. Röm. Beamter zum Schutz der breiten Volksmasse gegen willkürl. Entscheidungen des vom Adel geprägten Magistrats. Der Volkstribun ist sakrosankt u. hat ein Veto- u. Einberufungsrecht zu Volksversammlungen. Entartung: → 509 assimiliert: → 431 Gesichtszüge samt der Nase: → 433
566 Teil II: Kommentar
36 Israel unter den Völkern [Teil 4 von 4] Quelle: Die Welt, 25.1.1901, H. 4, S. 2–3.
paradox: Paradoxon, griech. παράδοξος, dt.: „wider Erwarten“, „einen Widerspruch in sich enthaltend“. Ein Paradoxon ist ein entweder nur scheinbarer o. vollständig unauflösbarer Widerspruch zur allgemeinen Erfahrung in Form einer Behauptung o. eines Ereignisses. Für N. besteht das Paradoxe in der Lebenssituation vieler Juden in der Tatsache, dass höhere Bildung nicht zu einem gesellschaftl. Aufstieg führt, sondern im Gegenteil zu einer zusätzl. Proletarisierung u. Verarmung. Phönizier, waren tüchtige Kaufleute: Phönizier, auch: Sidonier o. Kanaanäer, antikes semit. Volk in der Levante, das ausgeprägte Handelsbeziehungen im gesamten Mittelmeerraum unterhält u. zahlreiche Handelskolonien gründet. Verjagung der Krämer aus dem Tempel: Tempelaustreibung, auch: Tempelreinigung. In allen kanon. Evangelien (Mt 21,12–17; Mk 11,15–19; Lk 19,45–48; Joh 2,13–16) überlieferte Geschichte aus dem Leben Jesu, wonach dieser Händler aus dem Tempel in Jerusalem vertrieben habe mit der Begründung, der Tempel sei ein Haus des Gebetes. tausend und fünfhundert Jahre: → 477 Pfandbrief und der Gutschein: Unabhängig v. ihrer tatsächl. Herkunft werden ab dem 13. Jh. ital. Geldhändler u. Kaufleute, die sich am Niederrhein niederlassen, als Lombarden bez. Durch hohen Kapitalbesitz u. Erfahrung bei Kreditvergabe u. Wechselgeschäften spielen sie zunehmend auch bei der Vergabe v. Großkrediten an Landesherren im Mittelrheingebiet eine bedeutende Rolle auf dem Finanzmarkt. Der v. N. irrtümlich den L. zugeordnete Pfandbrief entsteht aufgrund einer Kabinettsorder des preuß. Königs Friedrich II. (1712–1786). doppelte Buchführung: Die doppelte Buchführung erfasst einen Geschäftsvorgang stets in zweifacher Weise: Generell wird Soll an Haben in einem Buchungssatz gebucht, der durch eine Kontierung festgelegt wird. Diese vorherrschende kaufmänn. Buchführung geht auf den ital. Franziskanermönch u. Mathematiker Luca Pacioli (um 1445–1514 bzw. 1517) zurück. In Summa de Arithmetica, Geometria, Proportioni et Proportionalità (1494) wird das mathemat. Wissen der Zeit konzentriert dargestellt u. erstmals das System der nach der Venezianischen Methode vorgehenden Kaufleute Venedigs u. der Medici dokumentiert, die doppelte Buchführung. Pacioli stützt sich dabei auf Erkenntnisse des kroat. Ökonoms Benedetto Cotrugli ‚Raugeo‘ (1416– 1469). ersten Versicherungs-Gesellschaften sind in England: Als Folge des Great Fire of London (2.–6.9.1666), das vier Fünftel der Stadt zerstört, erfolgt um 1700 in England die Gründung der ersten Sachversicherung auf kaufmänn. Basis. Die erste auf den
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Grundlagen des brit. Mathematikers James Dodson (um 1705–1757) basierende Versicherung ist die 1762 gegründete The Equitable Life Assurance Society (Equitable Life). Gresham: Sir Thomas Gresham (1519–1579), engl. Finanzagent u. Mitinhaber des größten Handelshauses des elisabethan. Zeitalters. Unterhändler im Auftrag der engl. Regierung bei Verhandlungen um Kredite mit Vertretern der Bankhäuser Fugger, Schetz u. Tucher. Finanzpolit. Berater des engl. Hofes u. Gründer der ersten Börse in London, der Royal Exchange (1565). Lloyds: Edward Lloyd (um 1648–1713), engl. Besitzer des Kaffeehauses Lloyd's Coffee House, das zum beliebten Treffpunkt der Schiffsbranche für den Austausch v. Informationen über Versicherungen wird. Nach Lloyds Tod erste Herausgabe des Lloyd's Register of Shipping (1760). Einige ehemalige Stammgäste des Lloyd's Coffee House gründen eine Versicherungsgesellschaft (1771) u. gehen damit unter dem Namen The Society of Lloyds an die Börse (1774). Vorgänger des heute existierenden Lloyd's of London. Stock companies: Dt.: „Aktiengesellschaften“. Vorläufer dieser Art v. Anteilsteilung finden sich bereits in der Antike. Ab dem 14. Jh. gibt es im Bereich des Montanbaus gemeinschaftl. Unternehmungen, um kostspielige Investitionen langfristig auf die Anteilseigner zu verteilen u. so zu finanzieren. Holländisch-Ostindischen Kompanie: Niederländ. Ostindien-Kompanie (ndl. Vereenigde (Geoctroyeerde) Oostindische Compagnie, VOC), niederländ. Kaufmannskompanie, die zur Eliminierung der Konkurrenz untereinander gegründet wird (20.3.1602). Vom niederländ. Staat mit Handelsmonopolen u. Hoheitsrechten ausgestattet, ist sie während des 17. u. 18. Jh.s eines der weltweit größten Handelsunternehmen. Die wirtschaftl. Potenz besteht v. a. in der Kontrolle der Gewürzroute, die den Import wertvoller Gewürze wie Pfeffer, Muskat, Zimt, Gewürznelken, Weihrauch u. Myrrhe n. Europa reglementiert. Nach mehreren Kriegen um die Kontrolle v. Ozeanen u. Handelsrouten zw. England u. den Niederlanden, zuletzt 1780–1784, gerät die VOC in eine finanzielle Notlage u. wird 1798 liquidiert. Hudson-Bay-Gesellschaft: Die Hudson's Bay Company (HBC, vollständiger Name: Governor and Company of Adventurers of England trading into Hudson's Bay) ist ein in Kanada ansässiges Handelsunternehmen, das am 2.5.1670 mit dem Privileg des engl. Königs Charles II. (1630–1685) gegründet wird u. über mehrere Jh.e den gesamten Pelzhandel im brit. verwalteten Teil Nordamerikas v. dem Hauptquartier in York Factory aus (bis 1957) verwaltet. Englisch-Ostindischen Kompanie: Die Britische Ostindien-Kompanie (engl. British East India Company, bis 1707 English East India Company) wird am 31.12.1600 als Ostindien-Kompanie v. der engl. Königin Elizabeth I. (1533–1603) gegründet. Die EIC (vollständiger Name: Governors and Company of merchants of London trading to
568 Teil II: Kommentar
the East-Indies) wickelt als Aktiengesellschaft den gesamten Handel zw. der Magellanstraße u. dem Kap der Guten Hoffnung ab, die Geschäfte der Gesellschaft blühen in nie gekanntem Ausmaß. Die Kompanie bekommt ihre Privilegien regelmäßig verlängert, verliert ihre Rechte auf den Handel jedoch 1813 u. wird am 1.1.1874 aufgelöst. Cyrus Field: Cyrus West Field (1819–1892), vermögender US-amerik. Kaufmann u. Pionier der transozeanischen Telegrafie. Nach Gründung der Atlantic Telegraph Co. (1856) erfolgt 1858 über das erste transatlant. Tiefseekabel zw. Neufundland u. Irland der erste Austausch v. Glückwunschtelegrammen zw. dem US-Präsidenten James Buchanan (1791–1868) u. der engl. Königin Victoria (1819–1901). Siemens: Ernst Werner Siemens (1816–1892), geadelt 1888, dt. Ingenieur, Erfinder u. Industrieller. Mehrere bahnbrechende Erfindungen u. Entwicklungen auf dem Gebiet der Elektrotechnik, besonders der Starkstromtechnik, u. a. die Entwicklung des elektrischen Generators (1866). Der Elektromotor löst die Dampfmaschine ab u. bewirkt in den 1870er Jahren eine zweite industrielle Revolution. Halske: Johann Georg Halske (1814–1890), dt. Mechaniker, Erfinder u. Unternehmer. Gemeinsame Gründung der Telegraphen Bau-Anstalt von Siemens & Halske (1.10.1847), die in der 2. Hälfte des 19. Jh.s technisch innovativ u. ökonomisch erfolgreich weltweit expandiert. Cecil Rhodes: Cecil John Rhodes (1853–1902), engl. Unternehmer u. imperialist. Politiker. Abgeordneter des Parlaments der Kapkolonie (1881). Als Gründer der Britischen Südafrika-Gesellschaft (1889, engl. British South Africa Company, BSAC) erwirbt Rh. rücksichtslos riesige Ländereien als Kolonien für das British Empire, darunter die nach ihm benannten Länder Nord- u. Südrhodesien (heute Sambia u. Simbabwe). Sein Plan einer transafrikan. Eisenbahnverbindung (Kap-Kairo-Plan) wird nicht verwirklicht. Niger- und an der Borneo-Kompanie: Die Royal Niger Company wird 1879 als Handelskompanie als United African Company im Auftrag der brit. Regierung gegründet, 1881 in National African Company umbenannt u. erhält 1886 ihren endgültigen Namen. 1900 Scheitern des Unternehmens. Die Bedeutung der R. N. C. liegt v. a. in dem Behaupten des Machtanspruchs des British Empire über das koloniale Nigeria gegenüber den Ansprüchen des Deutschen Kaiserreichs unter Otto v. Bismarck (1815–1898). / Die North Borneo Chartered Company o. British North Borneo Company wird als eine brit. Handelskompanie am 1.11.1881 gegründet mit dem Ziel, den heute zu Malaysia gehörenden Teil des nördl. Borneo einzunehmen u. wirtschaftl. zu erschließen. Sie verwaltet das Gebiet bis 1946. Vanderbilt: Vanderbilt, US-amerik. Unternehmerfamilie mit niederländ. Wurzeln. Begründer ist Cornelius Vanderbilt (1794–1877), der wg. des Besitzes der Eisenbahngesellschaft New York Central Railroad (NYC) u. der American atlantic and pacific
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ship canal company zum „Schiffs- u. Eisenbahnkönig“ (engl. Shipping and Railroad Tycoon) wird. Villard: Henry Villard (eigentl. Ferdinand Heinrich Gustav Hilgard, 1835–1900), deutschstämmiger US-amerik. Journalist, Unternehmer u. Eisenbahnmagnat. Erwerb der Zeitungen New-York Evening Post u. The Nation (1881). Verdienste beim Ausbau des US-amerik. Eisenbahnnetzes, Präsident der Oregon and California Railroad (1875). Übernahme der Northern Pacific Railway u. Fertigstellung v. deren Gesamtstreckennetz (8.9.1883), das die Bundesstaaten Idaho, Minnesota, Montana, North Dakota, Oregon, Washington u. Wisconsin verbindet. Förderer der Verwertung der Erfindungen des US-amerik. Erfinders Thomas Alva Edison (1847–1931), was zur Gründung der Edison General Electric Company, einer Vorgängerfirma der General Electric, führt. Trust: Engl. trust, Kurzform für trust company, dt.: „Treuhandgesellschaft“. Gesamtheit mehrerer Unternehmen unter einer Dachgesellschaft mit dem Ziel einer Monopolisierung. Der Preis für die Unternehmen ist meist die Aufgabe ihrer rechtl. u. wirtschaftl. Selbstständigkeit. Chartered Companies: Engl. chartered company, dt.: „Handelskompanie“. Handelsgesellschaft, die mit Privilegien u. Monopolen ausgestattet mit fernen Ländern Handel betreibt. Eine Grundvoraussetzung für die Gründung einer Ch. C. im 19. Jh. sind daher gut ausgebaute Häfen u. eine große Flotte. Herr Péreire: Die Compagnie Générale Transatlantique ist eine 1861 gegründete frz. Reederei mit Sitz in Paris. Vom Heimathafen Le Havre aus betreibt sie Passagier- u. Frachtdienste im Mittelmeer u. transatlant. n. Nord- u. Südamerika. Kaiser Napoleon III. (1808–1873) beauftragt die Publizisten u. Bankiers portug.-sephardischer Herkunft Jacob Rodrigue Émile Péreire (1800–1875) u. Isaac Rodrigue Péreire (1806– 1880) mit der Leitung. 1875 übernimmt Isaac Péreires Sohn Eugène Péreire (1831– 1908) die Präsidentschaft der C. G. T., die er bis 1904 innehat. Mr. Bolison: Irrtum o. Druckfehler: Albert Ballin (1857–1918), bedeutender dt. Reeder u. Unternehmer. Leiter des Passagedienstes der Hapag (31.5.1886) u. Generaldirektor (ab 1899). Die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag) ist eine am 27.5.1847 in Hamburg gegründete Reederei, die einen transatlant. Liniendienst zw. Hamburg u. Nordamerika betreibt. Das Motto der erst am 1.9.1970 mit anderen Unternehmen fusionierten Hapag ist: „Mein Feld ist die Welt!“ die Rothschilds: Rothschild, Name einer weitverzweigten jüdischen Familie, die 1500 erstmals urkundl. erwähnt wird. Ab dem 18. Jh. treten ihre Mitglieder als Bankiers hervor u. werden im 19. Jh. zu den bedeutendsten Finanziers in ganz Europa. Stammhaus des Bankgeschäfts ist M. A. Rothschild & Söhne in Frankfurt a. M. Mitglieder der Familie Rothschild versuchen, die soziale Lage verarmter Juden in Europa zu lindern. Besonders Edmond Benjamin James de Rothschild (1845–1934) ist
570 Teil II: Kommentar
zionistischen Belangen gegenüber sehr aufgeschlossen u. unterstützt frühe jüdische Siedlungen in Palästina mit großen Beträgen. französische Nordbahn: Die Compagnie des chemins de fer du Nord ist ein 1845 mit Sitz in Paris gegründetes Eisenbahnunternehmen. Eigentümer u. erster Präsident (bis 1868) ist der frz. Bankier Jakob Mayer Rothschild (nachfolgend James de Rothschild, 1792–1868), der in dieser Eigenschaft auch den Umbau des Gare du Nord unter der Leitung des dt.-frz. Architekten Jakob Ignaz Hittorff (1792–1867) in Paris in Auftrag gibt (Neueröffnung 19.4.1864). österreichische Kaiser Ferdinands-Nordbahn: Die k. k. privilegierte Kaiser FerdinandsNordbahn, benannt nach Kaiser Ferdinand I. Karl Leopold Joseph Franz Marcellin, gen. der Gütige (1793–1875), ist eine Eisenbahngesellschaft, die v. a. die Bahnstrecke zw. Wien u. Nordmähren u. Österreichisch-Schlesien (heute Slowakei) betreibt. Eröffnung der ersten Teilstrecke 23.11.1837. Der dt.-österr. Bankier u. Unternehmer Salomon Meyer Freiherr v. Rothschild (1774–1855) erwirbt 1835 die Konzession zum Bau der Nordbahn. Baron Hirsch: Baron Maurice de Hirsch (geb. als Moritz Freiherr v. Hirsch auf Gereuth, 1831–1896) erwirbt ein bedeutendes Vermögen durch Eisenbahnkonzessionen im Osman. Reich (daher sein Spitzname „Türkenhirsch“), das er überwiegend für wohltätige jüdische Stiftungen spendet. Er gründet 1891 die Jewish Colonization Association u. unterstützt den Zionismus mit beträchtl. Mitteln. Strausberg: Bethel Henry Strousberg (eigentl. Baruch Hirsch Strousberg, später Barthel Heinrich Straußberg, 1823–1884), dt. Unternehmer v. a. im Eisenbahnbau. Durch Schmiergelder u. Intrigen Erwerb der Konzession für den rumän. Eisenbahnbau (1868). Technische Schwierigkeiten durch mangelhafte Bauausführung u. finanzieller Druck führen trotz der Fertigstellung einzelner Teilstrecken zur Einstellung des Bauvorhabens. Str. sieht sich im Folgenden als Abgeordneter des Reichstages des Norddeutschen Bundes heftiger Kritik ausgesetzt, die v. Antisemiten für ihre Ziele instrumentalisiert wird. Judenfrage: → 458 Gleichberechtigung mit allen anderen Staatsbürgern: → 440 Erinnerung an das Ghetto: → 439 Patriotismus: → 436 Taufe: → 458 Mischehen: → 496 Assimilanten: → 507
36 Israel unter den Völkern [Teil 4 von 4]
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Tifteleien: Tüfteln, um 1780 umgangssprachl. Synonym zu fummeln i. S. v. „kleine, mühsame Arbeit verrichten“, übertragen „detaillierte Überlegungen anstellen“.
572 Teil II: Kommentar
37 Grand Rabbin Zadoc Kahn und Dr. Max Nordau über die Kolonisten und Arbeiter in Palästina Quelle: Die Welt, 15.3.1901, H. 11, S. 6–7.
Großrabbiners: → 433 Vereine „Dorschei Zion“: → 526 Tätigkeit der ICA: → 525 M. Kahn: Lebensdaten unbek. Herr Rabbiner Lubetzky: Judah Lubetzky (1850–1910), frz. Rabbiner. Geboren in Russland, wandert L. 1880 n. Paris aus u. wird dort Rabbiner der osteuropä. Juden. Mitglied im Pariser Beth Din (hebr.: „Gerichtshof“), dem aus mind. drei Rabbinern zusammengesetzten Rabbinatsgerichtes (1904). seit 1800 Jahren: → 477 „Chovevei Zion“: → 525 Kolonien: → 469 Russland, Rumänien, Galizien: → 512, → 439, → 439 Kolonisten Argentiniens: → 428
38 Eine „Geschichte der Israeliten“
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38 Eine „Geschichte der Israeliten“ Quelle: ZS1, S. 353–359, dort mit Verweisen auf Quelle und Übersetzung: Echo Sioniste. August 1901. Aus dem Französischen. Ferner in: Die Welt, 16.8.1901, H. 33, S. 1–3.
assimilatorischen Juden: → 507 Israeliten: → 444 „Geschichte der Israeliten“ / Theodor Reinach: Théodore (Salomon v.) Reinach (1860–1928), frz. Archäologe, Numismatiker u. Politiker. Ab 1888 Hrsg. der Revue des Etudes Grecques u. Verfasser mehrerer Artikel zum Judentum in der Antike im Dictionnaire des Antiquités Grecques et Romaines u. in La Grande Encyclopédie. Zahlreiche Veröffentlichungen zu der griech. u. röm. Archäologie, der Numismatik, der Papyrologie u. der Religionsgeschichte. N. bezieht sich auf das Werk Histoire des Israélites Depuis l'époque de leur Dispersion Jusqu'à Nos Jours (1884). Sammlung aller unser Volk betreffenden Stellen aus den alten Schriftstellern: N. meint hier Théodore Reinach, Textes d'Auteurs Grecs et Romains Relatifs au Judaïsme (1895). Studie über die jüdischen Münzen: Théodore Reinach, Les Monnaies Juives (1887). vollständig umgearbeitetes Werk: Die 2. Aufl. erscheint in überarbeiteter u. ergänzter Fassung unter dem Titel Histoire des Israélites depuis la ruine de leur indépendance nationale jusqu'à nos jours (1901). Denkmals von Grätz: Heinrich Graetz (1817–1891), dt. Historiker u. Semitist. Lehrer am Jüdisch-Theolog. Seminar in Breslau, Hrsg. der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (1869–1881). Verfasser der universalen elfbändigen Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart (1853–1875), einer Synthese jüdischer wissenschaftl. Gelehrsamkeit im 19. Jh. Zahlreiche weitere histor. u. exeget. Werke. Blutzeugenschaft: → 444 Michelet: Jules Michelet (1798–1874), frz. Historiker. Sehr patriot. Art der Geschichtsschreibung, individuelle Darstellungsweise, emotionaler bis volkstüml. Duktus mit einem stark demokrat. Impetus. Hauptwerke Histoire de France (17 Bde., 1833–1867) u. Histoire de la Révolution française (7 Bde., 1847–1853). nach der Zerstörung des Tempels: → 426 Vertreibung aus dem Heimatlande: → 477 Zerstreuung: → 424 französische Revolution: → 504
574 Teil II: Kommentar
Angehörige des Zentral-Konsistoriums: K., lat. consistorium, dt.: „Versammlungsort“, „Bedientenzimmer“, „kaiserliches Kabinett“. Religiöser terminus technicus für die Plenarversammlung der Kardinäle unter dem Vorsitz des Papstes, einen kirchl. Gerichtshof o. eine Verwaltungsbehörde einer Diözese o. evangel. Landeskirche. / Nach dem Abhalten des Großen Sanhedrins 1807 beschließt Napoleon I. (1769–1821) 1808 die Einrichtung des halbstaatl. Consistoire central israélite (dt.: „Konsistorium“), um die jüdische Bevölkerung stärker zu integrieren u. kontrollieren u. die Assimilation zu befördern. Das zentrale Konsistorium in Paris befasst sich mit den innerjüdischen Belangen von 13 regionalen Unterkonsistorien, die jeweils mind. 2.000 Juden vertreten. Die Mitglieder der Konsistorien, sowohl Laien als auch Rabbiner, werden gewählt. „Tod den Juden“: → 461 Ritter der Ehrenlegion: → 573 Théodore Reinach wird im September 1920 zum Officier de la Légion d'honneur ernannt. seine edle Gemahlin: Nach der Ehe mit Charlotte Marie Evelyne Hirsch-Kann (1863– 1889) heiratet Th. Reinach 1891 die hier v. N. gemeinte Fanny Thérèse Kann (1870– 1917). Bazar: → 449 Herrn Gaston Pollonnais: G. P., eigentl.: Pollonais (1865–unbek.), frz. Journalist. Artikel für die Zeitungen Le Figaro u. Le Gaulois. Hrsg. v. Le Soir. Während der Dreyfus-Affäre Eintreten für einen nationalist. Standpunkt. Konvertierung vom Judentum zum Katholizismus (1902). Verfasser einiger Dramen, u. a. Le Jour de Divorce u. Celle qu'il faut aimer. Frau Porges: Elsa Bernstein, geb. Porges (Pseudonym: Ernst Rosmer, 1866–1949), österr. Dramatikerin u. Schriftstellerin. Werke u. a. Madonna (1894), Königskinder. Ein deutsches Märchen in drei Akten (1895) u. Themistokles. Tragödie in fünf Akten (1897). Tochter Heinrich Porges' (1837–1900), einem v. Richard Wagner (1813–1883) sehr geschätzten Musikkritiker. Sie nimmt zum Judentum eine krit. Stellung ein. ethnischen Individualität: → 484 Verehrung für Peter den Einsiedler: Peter der Einsiedler, frz. Pierre l'Ermite (um 1050–1115), frz. Prediger während des Ersten Kreuzzugs (1096–1099). Initiator u. Organisator des Volkskreuzzugs, einem Vorläufer des Ersten Kreuzzugs (April–Oktober 1096). Im Gefolge des Volkskreuzzugs kommt es 1096 unter Emicho dem Kreuzfahrer (auch: Emicho v. Leiningen o. Emicho v. Flonheim, 2. Hälfte 11. Jh.–erste Hälfte 12. Jh.) zu grausamen Pogromen u. a. gegen Juden in Worms, Speyer u. Mainz.
38 Eine „Geschichte der Israeliten“
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„Saale der Kreuzfahrer“ zu Versailles: Frz. La Salle des croisades, v. König Louis-Philippe I. (1773–1850) im Jahr 1843 ausgestalteter Raum des château de Versailles, in welchem die Namen u. Familienwappen der Anführer der neun Kreuzzüge sowie über 120 Gemälde mit Kreuzfahrersujets ausgestellt werden. mystische: → 434 Kreuzfahrer erst in den jüdischen Vierteln der europäischen Städte: → 511 Philipp der Schöne die Juden aus Frankreich: → 434 Unbewusste in ihm: N. bezieht sich auf den bedeutenden österr. Tiefenpsychologen, Neurologen u. Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856–1939). V. diesem stammen zwei nicht ganz kongruente Modelle des psych. Mechanismus beim Menschen: Das topograf. Modell unterscheidet zw. Bewusstem, Vorbewusstem u. Unbewusstem, während das Strukturmodell der Psyche zw. Ich, Es u. Über-Ich differenziert. Zeitraum von 4200 Jahren: N. schreibt diesen Artikel 1901. In diesem Jahr soll sich die Bileam-Episode nach 4200 Jahren wiederholt haben. Ausgehend vom Zeitpunkt der bibl. Schöpfung u. der jüdischen Datierung der Erschaffung der Welt, dem 6.9.3761 v. Chr., spielt sich die Geschichte v. Bileam im Jahre 1462 nach jüdischem Kalender o. 2299 v. Chr. ab. die wunderbare Geschichte von Bileam: B.s Geschichte ist im Alten Testament (Num 22–24; Num 31) überliefert. B., ein Nicht-Israelit, wird v. König Balak dazu gedrängt, Israel zu verfluchen. Durch Gottes Geheiß kann B. Israel aber nicht verfluchen, sondern muss es segnen. Herrn und Meister Balak: Der Moabiterkönig Balak schickt nach dem Sieg der Stämme Israels über die Amoriter einen Boten n. Mesopotamien, um Bileam zu holen, der Israel verfluchen soll. Der Plan Balaks misslingt, Bileam spricht ostentativ einen viermaligen Segen aus. Sophismus: Griech. σόφισμα o. σοφισμός, dt.: „klug Ersonnenes“, „listiger Gedanke“, „Kunstgriff“, „Täuschung“. S. sind scheinbar log. Argumentationsketten, die auf Trugschlüssen beruhen. Besonders den Sophisten, vorsokrat. Gelehrten im Athen des 5. u. 4. Jh.s v. Chr., wird v. dem Philosophen Platon (428/427–348/347 v. Chr.) vorgeworfen, sich durch S. materielle Vorteile zu verschaffen. Mithridates: N. bezieht sich auf ein weniger bekanntes Werk Théodore Reinachs, Mithridate Eupator, roi de Pont (1890), das den histor. König Mithridates VI. Eupator (132–63 v. Chr.) thematisiert, der als König v. Pontus über große Gebiete an der Schwarzmeerküste herrscht.
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Typus jenes bedauernswerten „Nebachs“: Jidd. nebach, auch nebekh, nebech, nebuch, dt.: „unglücklich“, „Unglücklicher“. Vgl. auch Gaunersprache nebbich, dt.: „leider“, „schade“. N. verwendet den Ausdruck i. S. v. „Pechvogel“. „perplexus“: Lat., dt.: „verflochten“, „wirr durcheinander“, „verworren“, „unergründlich“. unsere bewundernswerten Raouls und Gastons: Vermutl. bezieht sich N. auf prominente frz. Juden o. Unterstützer jüdischer Belange seiner Zeit mit diesen Vornamen, z. B. Raoul Allier (1862–1939), Gaston Pollonais (1865–unbek.) u. Fernand Gustave Gaston Labori (1860–1917). Kinder Abrahams und Moses: → 424, → 497 atavistischen: → 497 „Geschichte der Hebräer“, der „Ivrim“ oder der „Judäer“: N. bezieht sich auf den Titel Reinachs Histoire des Israélites Depuis l'époque de leur Dispersion Jusqu'à Nos Jours (1884) bzw. Histoire des Israélites depuis la ruine de leur indépendance nationale jusqu'à nos jours (1901, überarb. Aufl. des erstgenannten Werks). gegenwärtigen „Youpins“: Frz. youpin, pejorativ für juif, dt.: „Jude“. Der Ausdruck ist am ehesten mit dt. Jid wiederzugeben. Lethe!: Griech. λήθη, dt.: „Vergessen“, „Vergessenheit“. Lethe ist neben Styx (auch: Acheron), Kokytos, Pyriphlegethon u. Mnemosyne einer der Flüsse der Unterwelt in der griech. Mythologie. L. ist in der Theogonie des griech. Dichters Hesiod (um 700 v. Chr.) eine Tochter der Eris u. Daimona der Vergessenheit. Das Wasser der Lethe bewirkt demnach bei den Toten einen gänzl. Verlust der Erinnerung an das vergangene Leben. Der Ausdruck ist in diesem Zusammenhang v. N. sarkast. zu verstehen.
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39 Der Zionismus der westlichen Juden Quelle: ZS1, S. 311–319, dort mit Verweis auf die Quelle: Israelitische Rundschau. Berlin, 1901. Ferner in: Die Welt, 30.8.1901, H. 35, S. 3–5.
Russland, Rumänien, Galizien, wohl auch Persien: → 439, → 439, → 439, → 512 Kampf ums Dasein: → 424 biedere Benedictus Levita: Benedictus Levita o. Benedikt der Diakon v. Mainz (lat. levita, dt.: „Diakon“), histor. nicht nachweisbare Person. Unter seinem Namen sind die Capitularia Benedicti Levitae veröffentlicht, die Teil der Decretales Pseudo-Isidorianae sind. Sie gelten als das umfangreichste u. bedeutendste kirchenrechtl. Falsifikat des Mittelalters. Entstehungsort vermutl. Ostfrankreich im 2. Viertel des 9. Jh.s. Die Kapitularien sind eine Sammlung gefälschter Gesetzgebungen fränk. Herrscher des 6.–9. Jh.s, die der Autor angebl. komplettiert u. aktualisiert hat. S. Reinach: Salomon Reinach (1858–1932), bedeutender frz. Archäologe, Kunsthistoriker u. Religionswissenschaftler. Vizepräsident der Alliance Israélite Universelle, Mitbegründer der Jewish Colonization Association u. Mitglied der Société des Études Juives. Zahlreiche Veröffentlichungen zu antikebezogenen, kunsthistor., jüdischen u. philolog. Fragen, u. a. Apollo: histoire générale des arts plastiques (1902–1903) u. Cultes, mythes et religions (1905–1923). Konsistorium: → 574 Simon und Claude Montague: Vermutl. verwechselt N. hier die Personennamen der beiden Vertreter des liberalen Reformjudentums Lilian Helen „Lily“ Montagu (1873– 1963) u. Claude Joseph Goldsmid Montefiore (1858–1938). Lily Montagu nimmt als erste Frau eine bedeutende Rolle in der Entwicklung des Reformjudentums ein, Grundlagen dazu in: The Spiritual Possibilities of Judaism Today (1899). Claude Montefiore gründet 1888 The Jewish Quarterly Review nach dem Vorbild der Zeitschrift für Wissenschaft des Judentums. Werke u. a. zur Geschichte des Judentums u. dem jüdisch-christl. Dialog, darunter The Hibbert Lectures. On the Origin and Growth of Religion as Illustrated by the Religion of the Ancient Hebrews (1893). Theismus: Griech. θεός, dt.: „Gott“, u. griech. -ισμός, Suffix zur Bez. einer Tätigkeit o. v. deren Ergebnis. Glaube an einen einzigen, persönl. u. außerweltl. Gott. Ethismus: Griech. ἦθος, dt.: „Sinnesart“, „Charakter“, u. griech. -ισμός, Suffix zur Bez. einer Tätigkeit o. v. deren Ergebnis. Sittl. Denkart u. Handlungsweise. Reformrabbiner: → 531 Mischehe: → 496 Judenfrage: → 458
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Mauscheln: Zu jidd. Mausche, einer Namensform v. Moses, umgangssprachl.-pejorativ i. S. v. „nach Art der Juden sprechen“, „näselnd, in kauderwelscher o. fremder Sprache sprechen“, „geheimnisvoll mit jmd. reden“, „schachern“, „betrügen“. Vornehmheit des Garde-Schnarrens: Garde, frz. garder, dt.: „schützen“, „bewachen“. Elitetruppe o. Leibgarde eines Monarchen, meist mit außergewöhnl. prächtigen Uniformen ausgestattet. Mit „Garde-Schnarren“ könnte der schnarrende Befehlston des Offiziers o. auch das Geräusch der Kleinen Trommel, auch Paradetrommel o. Schnarrtrommel (engl. Snare), bei den häufig betont feierl. Zeremonien z. B. der Wachablösung gemeint sein. Plattfuß und krumme Nase: → 433 (verräterisch gebogener Nase) Witzblätter: Synonym für Boulevardzeitungen. Tingeltangel-Lieder: Berliner Ausdruck v. frz. Café chantant, dt.: „Café mit Musik- u. Gesangsdarbietungen“, für niveaulose Singhallen u. Amüsierlokale, die burleske Vorstellungen u. Gesangsvorträge darbieten. Vorstadtpossen: Vermutl. bezieht sich N. auf die Posse Das Mädl aus der Vorstadt oder Ehrlich währt am längsten (UA 1841) des österr. Dramatikers u. Sängers Johann Nepomuk Eduard Ambrosius Nestroy (1801–1862), in der ein Spekulant namens Kauz um seine finanziellen Erträge kämpft. Auch in der Travestie mit Gesang Judith und Holofernes (UA 1849) parodiert Nestroy das Wiener Judentum. Dresdener Bilderbogen: Im Verlag der Dresdener Druckerei Glöß erscheint 1892–1901 in loser Abfolge v. insgesamt 33 Folgen mit einer Auflage v. 5.000 bis 10.000 Exemplaren die antisemitische Karikaturenserie Politischer Bildbogen. In Karikaturen u. Bildergeschichten mit „Erläuterungen“ bedient der Autor, der völk. u. nationalist. Schriftsteller Max Bewer (1861–1921), alle gängigen antisemitischen Stereotypen in ökonom., nationalist., rassistischer u. religiöser Hinsicht. Heloten: → 435 jüdischen Proletariat: → 445 Kauderwelsch: → 508 Euklid'sche dreidimensionale Geometrie: Euklid (um 365–um 300 v. Chr.), griech. Mathematiker. Mathematisches Lehrbuch Elemente, griech. Στοιχεῖα (ca. 325 v. Chr.), das für einen Zeitraum v. 2000 Jahren allgemeine Grundlage der Mathematik bleibt u. als Buch höchste Verbreitung genießt. 13 Bde. subsumieren die Gesamtheit mathemat. Wissens. Die euklidische Geometrie bezieht sich auf den menschl. Lebensraum u. ist daher dreidimensional. Postulate: → 428 assimilierten Juden: → 507
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asemitischen: → 505 Judenkinde Mortara: Edgardo Mortara (1851–1940). 1858 wird der angebl. zwangsgetaufte jüdische Junge in Bologna gegen den Willen seiner Eltern v. den Behörden entführt, christl. erzogen u. mit 21 Jahren zum Priester geweiht. Jüdische Gemeinden u. die liberale Presse in ganz Europa protestieren erfolglos gegen diese Maßnahmen. Ghettojuden: → 439 Geviertzentimeter: Veraltet für Quadratzentimeter. Studentenverbindungen: Auch wegen des wachsenden Antisemitismus, der Juden zunehmend den Zugang zu Korporationen verwehrt, werden in Mitteleuropa ab dem Ende des 19. Jh.s zahlreiche jüdische Studentenverbindungen gegründet. Einige dt.-nationale Verbindungen schließen sich zum Kartell-Convent der Verbindungen Deutscher Studenten jüdischen Glaubens zusammen, das in seinem Streben nach Integration u. mehr Akzeptanz von jüdischen Studenten dem Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens nahesteht. Daneben entstehen Burschenschaften mit nationaljüdischer o. zionistischer Ausrichtung, u. a. die Wiener Kadima, sowie religiöse Verbindungen. Anschlägigkeit: → 445 jüdische Familien-Zitadelle: Zitadelle, lat. civitas, dt.: „Bürgerschaft“, „Staat“, ital. cittadella, dt.: „Stadt“, „Stadtfestung“. Festung innerhalb o. am Rande einer Stadt. Hier i. S. v. „innerster Kern“ der Festung. Lilien: Ephraim Moses Lilien (1874–1925), galiz. Künstler u. (Werbe-)Grafiker des Jugendstils, Zionist. Veröffentlichungen in Jugend – Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben (1897), repräsentative u. im jüdischen Bürgertum beliebte Illustration der Balladensammlung Juda (1900) des dt. Schriftstellers Börries Albrecht Conon August Heinrich Freiherr v. Münchhausen (1874–1945). Nossig: Alfred Nossig (1864–1943), poln. Künstler, Schriftsteller u. Publizist. Teilnehmer des I. Zionistenkongresses (1897), Gründung des Bureau für Statistik der Juden (1902) in Berlin. Als Mitglied des „Judenrates“ des Warschauer Ghettos 1943 ermordet. Grünau: Heinrich Grünzweig, Pseudonym: Heinrich v. Grünau (1869–1937), poln. Lyriker u. Dramatiker. Teilnehmer an mehreren Zionistenkongressen, Leitung der zionistischen Bewegung in Belgien. Werke u. a. Exil. Drama aus dem jüdischen Leben (1902), Gedichte und Lieder (1903) u. Doktor Dahlmanns Ehe (1906). Zlocisti: Theodor Zlocisti (1874–1943), poln. Lyriker, Publizist, Arzt u. Sozialist. Übersetzer aus dem Jiddischen. Teilnehmer am I. Zionistenkongress. Werke u. a. Vom Heimweg. Verse eines Juden (1903), Von jüdisch-deutscher Sprache und jüdisch-
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deutscher Literatur. Impressionen (1920) u. Moses Hess, der Vorkämpfer des Sozialismus und Zionismus, 1812–1875. Eine Biographie (1921). Viola: Max Veigelstock, Pseudonym: Max Viola (1856–1923), österr. Schriftsteller. Werke u. a. Lieder eines Haidesohnes (1880), Zweierlei Liebe (1893), Der Birkenheimer (1898) u. Dr. Gutmann (1900). Rosa Pomeranz: Rosa Pomeranz (1861–1934), galiz. Zionistin. Einsatz für die Stärkung der Rolle der Frau in der zionistischen Bewegung. 1901 Veröffentlichung des Romans Im Lande der Noth. Robert Jaffé: Pseudonym Max Aram (1870–1911), poln. Schriftsteller u. Dramatiker. Werke u. a. Der arme Walther (1895) u. Ahasver. Roman (1900). Die Vita nuova: → 483 öffentlich-rechtlich gesicherte jüdische Heimstätte: → 486 meisten heutigen Assimilationszeloten: Assimilation → 431. / Zelot, griech. ζηλωτής, dt.: „Eiferer“. Religiöser Fanatiker bzw. Angehöriger einer antiröm. Partei im jüdischen Aufstand 66–73 n. Chr. Die verschiedenen Gruppen verfolgen sozialrevolutionäre, nationale u. priesterl.-messian. Intentionen. Nach dem Fall Jerusalems 70 n. Chr. halten sich nur noch wenige Widerstandsnester, im Mai 73 n. Chr. begehen die letzten Verteidiger der am Toten Meer gelegenen Festung Masada kollektiv Suizid. Zionssiedler: → 426
40 Das Heine-Denkmal. Rede, gehalten auf dem Montmartre-Friedhofe
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40 Das Heine-Denkmal. Rede, gehalten auf dem Montmartre-Friedhofe am 24. November 1901 Quelle: Ost und West, Dezember 1901, H. 12, Sp. 907–912.
Heine-Denkmal: Der dän. Bildhauer Louis Hasselriis (auch: Ludvig Hasselriis, 1844– 1912) gestaltet 1901 eine Marmorbüste des dt. Dichters u. Journalisten Christian Johann Heinrich Heine (eigentl.: Harry Heine, 1797–1856) für dessen Grabstele auf dem Pariser Friedhof Montmartre. Neben der stark vom Neoklassizismus beeinflussten Grabbüste ziert das Grab das v. N. im Folgenden zitierte Gedicht Wo? Heinrich Heines: „Wo wird einst des Wandermüden / Letzte Ruhestätte seyn? / Unter Palmen in dem Süden? / Unter Linden an dem Rhein? // Werd ich wo in einer Wüste / Eingescharrt von fremder Hand? / Oder ruh ich an der Küste / Eines Meeres in dem Sand. // Immerhin mich wird umgeben / Gotteshimmel, dort wie hier, / Und als Todtenlampen schweben / Nachts die Sterne über mir.“ besten Jahre: Heine ist in Deutschland, v. a. in Preußen, wg. seiner positiven Rezeption der Julirevolution v. 1830 in Frankreich stets v. staatl. Zensur bedroht. Er siedelt daher 1831 n. Paris über. freisinnigen Deutsch-Österreicher: Die Kaiserin v. Österreich-Ungarn, Elisabeth Amalie Eugenie, Herzogin in Bayern (auch: Sisi, 1837–1898), beabsichtigt, eine sitzende Marmorstatue Heines, geschaffen durch den dän. Bildhauer Louis Hasselriis (auch: Ludvig Hasselriis, 1844–1912) (1873), der Stadt Hamburg zu schenken. Das Denkmal kommt nach der Ablehnung der Hansestadt in Sisis Schloss Achilleion auf Korfu u. über Umwege zu seinem jetzigen Standort in Toulon. „Ich werde begeifert und beschimpft, folglich bin ich.“ Increpor, vituperor, ergo sum.: Sarkastische Parodie N.s des lat. Grundsatzes zur eigenen Erkenntnisfähigkeit Cogito, ergo sum des frz. Philosophen René Descartes (1596–1650), den dieser in Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur (1641) niederlegt. Descartes formuliert diesen Gedanken bereits 1637 in Teil IV der Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences: „Et ayant remarqué qu'il n'y a rien du tout en ceci: je pense, donc je suis, qui m'assure que je dis la vérité, sinon que je vois très clairement que, pour penser, il faut être.“ (Dt.: „Nun hatte ich beobachtet, daß in dem Satz: ‚Ich denke, also bin ich.‘ überhaupt nur dies mir die Gewissheit gibt, die Wahrheit zu sagen, daß ich klar einsehe, daß man, um zu denken, sein muß.“) Sieben Städte: Bereits in der Antike gibt es zahlreiche Legenden u. Hypothesen über die Herkunft des Dichters, der als Autor der Ilias u. der Odyssee als Homer überliefert, aber histor. nicht fixierbar ist. Folgende Städte bzw. Inseln beanspruchen für
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sich, die Geburtsstadt Homers zu sein: Smyrna, Kolophon, Chios, Pylos, Argos, Athen, Ithaka. Die Häufung ion. Städte weist auf Ionien als H.s Stammland hin. Geviert-Elle: Synonym für Quadrat-Elle. Die Elle bez. eine der ältesten Maßeinheiten der Menschheit, sie umfasst die Entfernung zw. Ellenbogenspitze u. Mittelfingerspitze eines ausgewachsenen Mannes. Im Allg. liegt eine Elle bei 55 bis 85 cm. Sange der Loreley: Heinrich Heine (1797–1856) greift in seinem wohl bekanntesten Gedicht Die Lore-Ley (1824) den Mythos um den Rheinfelsen auf, auf dem die gleichnamige schöne Gestalt sitzt, die mit ihrem Gesang Männer betört u. sich aus Liebeskummer vom Felsen stürzt. vaterlandslos: → 434 Mignon-Sehnsucht: Mignon, lit. Figur aus Johann Wolfgang v. Goethes (1749–1832) Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre sowie dessen Vorgängerversion Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Das androgyne, geheimnisvolle Mädchen zeichnet sich durch die leidenschaftl. Hingabe an den Protagonisten des Romans aus, in ihr manifestiert sich außerdem das Motiv der Sehnsucht nach Italien. Im Laufe der Romanhandlung singt sie die beiden berühmten Lieder Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn u. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide. Die Nichterfüllung ihrer Hoffnungen führt zu einer schweren Erkrankung bis hin zum Tod. N. verwendet den Ausdruck M.-S. i. S. einer besonders tief empfundenen, schmerzhaften Sehnsucht. Barbey d'Aurevilly: Jules Amédée Barbey d'Aurevilly (1808–1889), frz. Schriftsteller, Literatur- u. Kulturkritiker, monarchist., konservativer Katholik. Seine in metaphernreicher Sprache geschriebenen lit. Werke sind der Spätromantik zuzurechnen. Werke u. a. Une vieille maîtresse (1851) u. Les Diaboliques (1874). N. bezieht sich auf die in der Zeitschrift Le Constitutionnel unter dem Titel Contre Goethe (1873) veröffentlichte Polemik sowie das Pamphlet Goethe et Diderot (1880), die als enttäuschte Reaktionen A.s auf die Niederlage Frankreichs im Dt.-Frz. Krieg 1870/71 zu sehen sind. Imbriani: Vittorio Imbriani (1840–1886), ital. Literaturkritiker u. Dozent für dt. Literatur an der Universität Neapel. Er vertritt die Auffassung, dass im Rahmen eines Evolutionsprozesses jede Literatur v. Bedeutung ein Ergebnis langer Entwicklungszeiten innerhalb eines Volkes sei. Dieser Forderung nach organischer, gewachsener Einheit eines Werkes entspricht s. A. n. der aus unterschiedl. Kompositionselementen zusammengesetzte Faust Goethes (1749–1832) nicht. Er rezensiert die ital. Übersetzung 1865 mit dem Pamphlet Un capolavoro sbagliato (ital., dt.: „Ein missglücktes Meisterwerk“). Cervantes: Miguel de Cervantes Saavedra (1547–1616), span. Schriftsteller. Sein Roman El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha (1605, 2. Teil 1615) verhilft ihm
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zu Weltruhm. Weitere Werke u. a.: La primera parte de la Galatea (1585), Novelas ejemplares (1613). Don Quixote und Sancho Panza: → 440 „Neuen Freien Presse“: Die Neue Freie Presse wird am 1.9.1864 v. den Redakteuren Michael Etienne (1827–1879), Max Friedländer (1829–1872) u. Adolf Werthner (1828– 1906) gegründet. Das gemäßigt liberale Blatt wird zum führenden Organ des Bildungsbürgertums der Österreichisch-Ungar. Monarchie.
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41 V. Kongressrede Quelle: ZS1, S. 112–139, dort mit Datierung: Basel, 27. Dezember 1901. Ferner in: Die Welt, 3.1.1902, H. 1, S. 4–10.
V. Kongressrede: Der V. Zionistenkongress findet vom 26.–30.12.1901 in Basel mit etwa 300 Delegierten statt. Zentral ist Theodor Herzls (1860–1904) Treffen mit dem osman. Sultan Abdülhamid II. (1842–1918). Der Jüdische Nationalfonds wird gegründet. Es wird beschlossen, die Zionistenkongresse zukünftig nicht mehr jährlich, sondern alle zwei Jahre abzuhalten. „Wissen macht stark.“: Lat. Ipsa scientia potestas est. Zitat aus den Meditationes Sacrae XI (1597) des engl. Staatsmanns u. Philosophen des Empirismus Francis Bacon (1561–1626). anthropologische, biologische, ökonomische und intellektuelle Statistik: Anthropologie → 429. / Biologie → 431. / Ökonomie → 486. / Intellekt, lat. intellectus, dt.: „Erkennen“, „Einsicht“, „Verstand“, „Erkenntnisvermögen“. anatomischen: → 519 Eheschließungsziffer: → 554 Irrsinnige: Vom Irrsinn betroffene Personen. Irrsinn, Irresein, ohne Plural, veraltete Bez. für verschiedene Ausprägungen psych. Störungen, die mit Sinnestäuschungen u. Wahnvorstellungen einhergehen können. Der Bedeutungsinhalt reicht v. „nicht richtig denkender Sinn“ bis hin zu „Wahnsinn“ i. S. einer Psychose. In der Psychopathologie wird der Fachbegriff I. bis ins 19. Jh. verwendet u. dann durch den Begriff „Geisteskrankheit“ ersetzt. Epileptiker: V. Epilepsie betroffene Person, griech. ἐπιληψία, dt.: „Ergreifen“, „Beanspruchung einer Sache“, „Fallsucht“, zeitweilig auftretende Krämpfe am ganzen Körper, teilweise verbunden mit Bewusstlosigkeit. in der ideal vollständigen Weise: Ideal, griech. ἰδέα, dt.: „Gestalt“, „Wesen“, „Urbild“. N. verwendet das abgeleitete Adverb i. S. v. „mustergültig“, „vollkommen“, „vorbildlich“. empirisch: → 536 jüdische Millionäre: → 496 Reichsstatistik: Die zentrale Behörde des Deutschen Reiches für Statistik ist das am 23.7.1872 ins Leben gerufene Kaiserliche Statistische Amt. Der Umfang seiner Aufgabenbereiche u. Weisungen zur Erfassung der Materialien für die Reichsstatistik wird am 23.6.1872 in den Geschäftsinstruktionen für das kaiserliche Statistische Amt gesetzlich festgelegt. Anordnungen, bestimmtes Material zu sammeln, wissenschaftl.
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auszuwerten u. Fragen zur Statistik des Deutschen Reiches gutachterl. zu beantworten, können aufgrund v. Gesetzen o. direkt durch den Reichskanzler erlassen werden. Für die ökonom. u. die wirtschafts- u. sozialgeschichtl. Forschung sind die erfassten Daten v. herausragender Bedeutung. Demographie: Griech. δῆμος, dt.: „Volk“, u. griech. γραφή, dt.: „Schrift“, „Zeichnung“. D. bez. die Beschreibung v. Struktur u. Entwicklung einer Bevölkerung. Eskimos: Eskimo, v. indian. eskimantisk, dt.: „Rohfleischesser“, o. v. algonquin ayaskimew, dt.: „Schneeschuhflechter“. Bez. für indigene Bewohner arkt. u. subarkt. Gebiete (besonders in Grönland). Da die Bez. E. als diskriminierend empfunden wird, hat sich die Ausweichbez. Inuit (Pl., Sg.: Inuk) etabliert, auch wenn sie nur einen Teil der Bevölkerungsgruppe bezeichnet. Feuerländer: Einwohner v. Feuerland (span. Tierra del Fuego, dt.: „Land des Feuers“), einer Inselgruppe an der äußersten Südspitze Südamerikas, die vom Festland durch die Magellanstraße getrennt ist. Als Seenomaden sind auf Feuerland die als Jäger u. Sammler lebenden Indianerstämme der Yahgan (Eigenbez. Yamana) u. der Alakaluf (Eigenbez. Qawashqar) beheimatet. Wg. der Unwirtlichkeit ihres Lebensraums existieren die F. bis zur Mitte des 19. Jh.s weitgehend ohne Kontakt zur Außenwelt. Luftmenschen: Metaphor. Beschreibung einer ökonom. verarmten Existenz, die sich v. den Widrigkeiten des Alltags nicht schrecken lässt u. in der Weite u. Freiheit der Luft zu schweben scheint. Im 19. Jh. verwendete, heute ungebräuchl. Umschreibung der Lebenswirklichkeit des Ostjudentums. Loafer: Engl., dt.: „Bummler“, „Faulenzer“, „Müßiggänger“, Bez. für Personen, die es in den großen Hafenstädten Amerikas o. Englands auf die Habseligkeiten der Immigranten abgesehen haben. Später ein nach dem Schnitt eines Mokassins aus Leder gefertigter Schuh mit einem quer über den Spann verlaufenden ledernen Schmuckstreifen, unter den eine Münze gesteckt werden kann, daher die Modellbez. ‚Pennyloafer‘, vgl. folgendes Lemma. Penny: Währungseinheit in unter brit. Einfluss stehenden Ländern (100 Pence = 1 Pfund). Der Name leitet sich vom altengl. Wort peniġ o. pæniġ ab. Lazzarone: Ital., dt.: „Schurke“, „Lump“, „Nichtsnutz“, meist im Pl. lazzaroni verwendet. Angehöriger der neapolitan. Unterschicht, der seinen Lebensunterhalt durch Betteln, Gelegenheitsarbeiten o. Kleinkriminalität bestreitet. Luftvolk: Lat. vulgus avium, dt.: „Volk der Vögel“, o. lat. populi aërei, dt.: „Völker der Lüfte“, Kollektivum für „Luftmenschen“. die nichtjüdischen Kridatare: → 554 Im Ghetto: → 439
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Typus des Bettelstudenten: N. bezieht sich hier vermutl. parodist. auf die Operette in drei Akten Der Bettelstudent v. Carl Joseph Millöcker (1842–1899). Libretto F. Zell (Pseudonym für Camillo Walzel, 1829–1895) u. Richard Genée (1823–1895). UA am 6.12.1882 am Theater Wien. Dr. J. Friedlaender aus Straßburg nimmt in einem Artikel (21.2.1902, H. 8, S. 6) der Zeitung Die Welt mit dem Titel Der Jüdische „Bettelstudent“ den Begriff N.s wieder auf. Der Typus des jüdischen Bettelstudenten ist demnach ein mittelloser Student aus Russland o. Galizien, der zum Studium in den Westen kommt u. dort materielle Not leidet. Die Zulassungsbeschränkungen für Juden in Osteuropa zwingen junge Menschen zu diesem Schritt. Billroth: Christian Albert Theodor Billroth (1829–1894), dt.-österr. Mediziner u. Begründer der modernen Bauchchirurgie. N. spielt auf Bemerkungen B.s in dessen Handbuch Über das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation nebst allgemeinen Bemerkungen über Universitäten: Eine culturhistorische Studie (1876) an. B. definiert Juden als Rasse, stellt in Abrede, dass Juden trotz Assimilation jemals Deutsche werden können, u. warnt vor einer Dominanz jüdischer Medizinstudenten an den Hochschulen. Paradoxon: → 566 Talermillionäre: Taler, auch: Thaler, weitverbreitete Silbermünze urspr. aus dem Heiligen Röm. Reich Deutscher Nation. Ab 1500 sukzessive Verbreitung in ganz Europa. In Deutschland Zahlungsmittel bis zur Ablösung als Währung durch die Mark im Jahre 1871. Es ist nicht exakt zu bestimmen, wie viele Millionäre es während der Amtszeit Bismarcks gibt. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass ihre Anzahl nach der Reichsgründung 1871 in den Jahren der Hochindustrialisierung bis 1914 stetig wächst. Schnorrer: → 448 Circulus vitiosus: Lat. circulus, dt.: „Kreis“, „Kreislinie“, lat. vitiosus, dt.: „fehlerhaft“, „mangelhaft“. C. v. bez. einen Teufelskreis, eine aussichtslos erscheinende Situation, die durch eine unendl. Abfolge unerträgl. u. einander bedingender Faktoren verursacht wird. In der Wissenschaft benennt C. v. eine Beweisführung, die das zu Beweisende bereits voraussetzt. Baseler Programm: → 486 echt jüdischer Weltfremdheit: Der Zionist, Sozial- u. Religionsphilosoph Martin Buber (1878–1965) sieht bereits während des IV. Zionistenkongresses die Notwendigkeit, im Judentum eine innere Umgestaltung durch eine menschl.-künstlerische Erneuerung herbeizuführen. Hierzu soll eine demokrat.-progressive Partei bzw. Fraktion gebildet werden. Kurz vor dem V. Kongress treffen sich über vierzig Delegierte, darunter Martin Buber, der Künstler Ephraim Moses Lilien (1874–1925), der Schriftsteller Berthold Feiwel (1875–1937), der Naturwissenschaftler u. spätere Poli-
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tiker Chaim Weizmann (1874–1952) u. der Menschenrechtsaktivist Leo Motzkin (1867–1933). Die Ziele dieser Fraktion innerhalb des V. Zionistenkongresses sind die Kolonisation in Palästina, eine enge Verbindung zw. den Juden in Palästina u. jenen in der Diaspora, eine Demokratisierung der Zionistischen Organisation u. eine engere Verbindung der polit. mit der kulturellen Arbeit. N. nennt diese Ziele weltfremd. Pirke-Aboth: Pirqe Abot (dt.: „Sprüche der Väter“) ist das neunte Traktat in der vierten Ordnung der Nesikin (dt.: „Schädigungen“) der Mischna. Es behandelt Fragen der Ethik. Preis-Turner und Champion-Schwimmer: N. nennt neben der klass. Arbeitersportart Turnen, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s stetig an Mitgliedern u. mit der Gründung v. Arbeitersportvereinen an Popularität gewinnt, bewusst auch das Reiten u. Fechten, das nur finanziell Bessergestellten möglich ist. Einige Juden profilieren sich im Pferdesport, so der General der Kavallerie Walter v. Mossner (1846– 1932), der bis zum Flügeladjutanten Kaiser Wilhelms II. (1859–1941) aufsteigt. ausgemergelten, hustenden Jammerzwergen des östlichen Ghettos: N. versucht, durch deutl. Antithesen seine Intentionen rhetor. zu untermalen. Die osteuropä. jüdische Bevölkerung ist durch die geograf. beschränkte Ansiedlung auf den Grenzrayon, den limitierten Zugang zu Bildungseinrichtungen u. die Beschränkung auf Handelsu. Handwerksberufe oftmals einer Gefährdung der Existenzgrundlage ausgesetzt u. daher im Schnitt sehr viel ärmer als die jüdische Bevölkerung Westeuropas. Enakssöhne: Enakiter, auch Anakiter, hebr. Anakim. Vorisraelit. Volk in Südpalästina v. riesenhafter Statur u. mit enormen Körperkräften (vgl. Dtn 2,10). Enakssohn daher sprichwörtl. für einen sehr großen u. starken Menschen. Muskeljudentums: Vgl. hierzu N.s Artikel Muskeljudentum → S. 136–137. „Jüdischen Turnzeitung“: → 533 dreizehn national-jüdische Turnvereine: In Deutschland wird um 1900 die jüdische Sportbewegung Makkabi gegründet, um in Abgrenzung zum Antisemitismus u. zu eigenen Traditionen ein modernes jüdisches Menschenbild zu prägen u. das Gefühl nationaler Identität zu steigern. 1898 wird als erster jüdischer Turnverein der JTV Bar Kochba Berlin gegründet, es folgen 1900 der JTV Halberstadt u. 1902 der JTV zu Cöln sowie der JTV Posen. Obwohl einige Vereine in Ermangelung geeigneter Turnlehrer o. wegen des Widerstands einzelner nichtzionistischer jüdischer Gemeinden bald wieder schließen müssen, steigt die Zahl der in der Jüdischen Turnerschaft (JT) organisierten Vereine bis zum Ersten Weltkrieg kontinuierlich an. Bis zum Verbot der jüdischen Turnvereine 1933 führen diese ungefähr 8.000 Mitglieder. Eheschließung: → 554
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Cheder: Pl. Chadarim, jüdische Elementarschule. Neben dem innerfamiliären Lernen für Mädchen u. Jungen gleichermaßen werden jüdische Jungen ab dem dritten Lebensjahr v. einem nicht akadem. gebildeten Lehrer unterrichtet. Lerninhalte sind die hebr. Sprache u. Schrift, Bibellektüre u. die Grundrechenarten. Zw. dem 8. u. 13. Lebensjahr bis zur Bar Mizwa besuchen die jüdischen Jungen die weiterführende Talmud-Thora-Schule. Nach der europä. Aufklärung verlieren die Chadarim in Westeuropa an Bedeutung u. werden v. emanzipierten Juden geringgeschätzt. anarchistische: → 476 blutwenigen: Umgangssprachl., veralteter Ausdruck für „sehr wenig“, „sehr gering“. Talmudisten: Hebr. Talmud, dt.: „Lernstoff“, „Lehre“, „Studium“. Ein T. ist ein Kenner des Talmuds, der die meiste Zeit des Tages mit dem Studium verbringt. N. verwendet in seiner Aufzählung den Begriff pejorativ für jemanden, dem körperl. Arbeit völlig fremd ist u. der sich ausschließl. geistig betätigt. Lodz: Lodz, poln. Łódź, Stadt in Zentralpolen. Während der raschen Industrialisierung 1820–1863 wächst die jüdische Bevölkerung um das Zehnfache. Seit 1881 lassen sich zusätzlich viele jüdische Flüchtlinge aus Russland u. Weißrussland nieder, sodass der jüdische Bevölkerungsanteil 1910 bei 40,7 % liegt. Bialystok: Stadt im Nordosten Polens. Mit der Eröffnung der Bahntrasse zw. St. Petersburg u. Warschau 1862 erlebt die Stadt eine wirtschaftl. Blüte, sodass sie attraktiv für jüdische Händler wird, die sich in großer Zahl niederlassen. 1895 sind v. den rund 63.000 Einwohnern 75,8 % Juden. Arbeitsanarchie: N. verwendet für die Beschreibung eines scharfen Wettbewerbs der jüdischen Handwerker untereinander einen Begriff, der v. dem sozialist. Politiker Ferdinand Lassalle (1825–1864) in einem Brief (undatiert, wahrscheinl. Anfang Juni 1863) an den Ökonomen u. Theoretiker des Staatssozialismus Karl Rodbertus (1805– 1875) geprägt wird. Produktionsgenossenschaft: Produktion, als Handlungsbez. für „Herstellung“, „Erzeugung“. Zentraler philosoph. Begriff im Marxismus im Sinne eines gesellschaftsprägenden Faktors. / Genossenschaft, im Sinne eines wirtschaftl. Zweckverbandes. N. versteht unter P. den Zusammenschluss v. Werktätigen zur gemeinschaftl. Arbeit auf freiwilliger Basis u. zu gegenseitigem Nutzen. Kooperativgenossenschaften: Kooperative, frz. coopérative, dt.: „Genossenschaft“. Der Begriff K. ist somit eigentl. pleonastisch. Der Philosoph, kommunist. Revolutionär u. Gesellschaftstheoretiker Friedrich Engels (1820–1895) verwendet den Begriff K. in seiner Einleitung zu Der Bürgerkrieg in Frankreich (1891) des Philosophen u. Theoretikers des Kommunismus u. der Arbeiterbewegung Karl Marx (1818–1883). K. o. auch Kooperativfabriken werden v. Marx u. Engels als Übergangsformen aus der kapitalist. Produktionsweise in die kommunist. angesehen. Das System der Unter-
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werfung der Arbeit unter das Kapital wird nach dieser Theorie durch eine neue Gestaltungsweise ersetzt: Die Verwaltung u. Organisation der großen Fabriken wird durch die in K.en vereinten, bislang v. machtvollen Fabrikbesitzern dominierten Betriebe gewährleistet. Schwitzräumen: → 494 Russland, Galizien und Rumänien: → 439, → 439, → 439, → 512 Minsk: Hauptstadt Weißrusslands. Seit dem 16. Jh. eine größere jüdische Ansiedlung, die im 19. Jh. u. der ersten Hälfte des 20. Jh.s zu einem bedeutenden religiösen, kulturellen u. polit. Zentrum der Juden in Russland wird. Um 1900 beträgt die Stadtbevölkerung rund 90.000 Menschen, v. denen über 50 % jüdischen Glaubens sind. 1902 findet in Minsk die zweite zionistische Konferenz Russlands statt. Wilna: Litauisch Vilnius, Hauptstadt Litauens. Erste jüdische Niederlassungen seit der 2. Hälfte des 15. Jh.s, während zahlreicher Verfolgungen durch Pogrome u. Zerstörungen u. der anschließenden Flucht großer jüdischer Bevölkerungsteile entsteht jedoch keine große Gemeinde. Nachdem 1861 sämtl. Wohnrechtsbeschränkungen aufgehoben werden, blüht das jüdische Leben in Wilna auf. Es entstehen eine Rabbiner- u. Lehrerschule, Synagogen u. jüdische Druckereien, die W. zu einem Zentrum der jüdischen Gelehrsamkeit machen. Jassy: → 510 Galatz: → 470 Warrantform: Engl. warrant, dt.: „Warrant“, „Optionsschein“. Urkunde, in der das Recht auf den Bezug (o. den Verkauf) v. Aktien o. auch Anleihen, ausländ. Währungseinheiten, bestimmten Mengen eines Edelmetalls o. Rohstoffs verbrieft ist. N. bezieht sich auf den Fall einer mögl. Beleihung bzw. Verpfändung eingelagerter Güter o. Waren, falls diese nicht sofort verkauft werden können. Artel: Russ. dt.: „Kooperation“, „Produktionsgenossenschaft“. Freiwilliger, genossenschaftl., vertraglich geregelter Zusammenschluss v. Angehörigen der gleichen Berufsgruppe, v. a. Handwerker u. Bauern. Verfolgung gemeinsamer wirtschaftl. Interessen unter Beachtung v. Solidarität u. persönl. Haftbarkeit aufgrund v. Arbeitskraft o. durch Kapital u. Arbeit. Das Artel kann als frühe Ausprägung v. genossenschaftl. o. gewerkschaftl. Organisation angesehen werden. Zions: → 426 Toynbee-Hallen: Engl. Toynbee Hall. Bez. eines nach dem brit. Ökonomen u. Wirtschaftshistoriker Arnold Toynbee (1852–1883) benannten, im Londoner East End befindl. Begegnungszentrums bürgerschaftl. u. sozialen Engagements in Form v. Arbeit für das Gemeinwesen u. Nachbarschaftshilfe. Die Toynbee Hall wird 1884 v. dem anglikan. Geistl. Samuel Augustus Barnett (1844–1913) u. seiner Ehefrau Dame
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Henrietta Octavia Weston Barnett (1851–1936) gegründet. V. der T. H. geht die sozialreformer. Bewegung settlement movement aus, die proletar. Bevölkerungsanteile durch Gemeinwesenarbeit statt durch Almosen unterstützen will.
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42 Was bedeutet das Turnen für uns Juden? Quelle: ZS1, S. 382–388, dort mit Verweis auf die Quelle: Jüdische Turnzeitung, Juli 1902. Ferner in: Die Welt, 1.8.1902, H. 31, S. 2–3.
Steifnackigkeit: → 546 Neigung zu Paradoxen: → 566 plädieren: Lat. placitum, dt.: „Meinung“, „Willensäußerung“, „Grund- bzw. Lehrsatz“, frz. plaid, dt.: „Rechtsversammlung“, „Klage“, „Prozess“, u. frz. plaider, dt.: „vor Gericht verhandeln“. Pl. bedeutet „für etwas eintreten“, „sich für etwas aussprechen“ bzw. als jurist. terminus technicus „ein Plädoyer halten“. tausendjährigen Ghettohaft: → 439 Arier: → 459 Philosemitismus: Griech. φίλος, dt.: „Freund“, u. hebr. Sem, ältester Sohn Noahs im Alten Testament, dessen Nachkommen Semiten sind. Ausschließlich auf Juden angewendetes Antonym zu Antisemitismus aus der 2. Hälfte des 19. Jh.s. Der Begriff wird urspr. als Kampfbegriff deutschsprachiger Antisemiten, die ihre nichtjüdischen polit. Gegner herabsetzen wollen, verwendet. Ladenschwengel: Junger Auszubildender o. Verkäufer in einem Einzelhandelsgeschäft, pejorativer Gebrauch, da Verwendung des Wortes Schwengel für „Penis“ (Studentensprache). Pflugknecht: Als P. wird ein Knecht o. Landarbeiter bez., der für das Pflügen der Äcker zuständig ist. Zerrbilder in den Witzblättern: Zerrbild ist hier als „Karikatur“ zu verstehen. Mit den Witzblättern spielt N. auf die Politischen Bildbogen an (Dresdener Bilderbogen). Fallstaff-Rekruten: Sir John Fallstaff, karikatureske Figur in William Shakespeares (1564–1616) Theaterstücken Henry IV. (UA 1. Teil um 1597) u. Die lustigen Weiber von Windsor (UA um 1597). Der beleibte u. prahler. Soldat ist feige u. prinzipienlos. Entartungserscheinung: → 509 Anthropologie: → 429 Ethnographie: → 429 „Enakssöhne“: → 587 Schilderung Goliaths: Der „Riese“ Goliath ist ein philistischer Krieger mit enormer Körpergröße. 1 Sam 17 berichtet, dass G. vom späteren König David mittels einer
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Steinschleuder im Kampf niedergestreckt wird; in 2 Sam 21,19 ist es ein Begleiter Davids, der G. tötet. David: König v. Juda und Israel (um 1000–970 v. Chr.). Macht Jerusalem zu seinem Herrschaftssitz u. kultischen Mittelpunkt des Judentums u. trägt zur politischen Machtentfaltung Israels entscheidend bei. Magyaren: Selbstbez. der Ungarn, ungar. Magyarok (abgeleitet v. einem magyar. Stammesnamen). Im 9. Jh. Ansiedelung der M. im Karpatenbecken aus dem Gebiet des Ural u. der heutigen Ukraine. Bis ins 19. Jh. bilden die M. in Ungarn eine Minderheit, nach ihrer Assimilation an andere Volksgruppen wächst ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. biologische: → 431 Zerstreuung: → 424 „Jüdische Turnzeitung“: → 533
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43 Der Zionismus Quelle: ZS1, S. 18–38, dort mit der Datierung: 1902. Ferner in: Die Welt, 21.11.1902, H. 47, S. 2–4 (Teil 1) u. Die Welt, 5.12.1902, H. 49, S. 3–4 (Teil 2).
Der Zionismus: Der im Abstand von zwei Wochen erscheinende zweiteilige Zeitungsartikel Zionismus (Die Welt, 21.11.1902, H. 47, S. 2–4 u. Die Welt, 5.12.1902, H. 49, S. 3–4) stimmt überwiegend mit dem hier edierten Text überein. Einige Absätze fehlen dort jedoch, was zumindest teilweise auf Kürzungen seitens der Redaktion zurückzuführen ist (vgl. H. 49, S. 3: „(Nachdem Dr. Nordau die einzelnen Punkte des Baseler Programmes eingehend besprochen und die bisherigen Erfolge und Leistungen der Zionisten dargelegt hat, schließt er wie folgt:)“). Folgende Passagen sind in der Publikation der Welt nicht enthalten: „Unter den alle bedeutenderen Bewegungen der Zeit […] wie Verleumder sie verzerren und fälschen.“ (vgl. S. 233 der vorliegenden Edition); „Bewahrt der Nationalismus sich aber vor Verirrungen […] gar keinen geschichtlichen Sinn hat.“ (vgl. S. 236); „Der neue oder politische Zionismus hat vereinzelte Vorläufer […] das Judentum war reif für eine Wendung.“ (vgl. S. 237f.); „Die Voraussetzung des politischen Zionismus […] salbungsvoll schwatzenden Rabbiner.“ (vgl. S. 238); „Der erste Kongress ging nicht auseinander […] für große Volkszwecke darbieten.“ (vgl. S. 239-241); „Mit diesen zu polemisieren betrachte […] einige rasche Bemerkungen gewidmet.“ (vgl. S. 241f.); „Gegner, die mit solchen Waffen kämpfen, stehen sittlich so tief unter ihnen, dass sie gar nicht in ihren Gesichtskreis hereinragen.“ (vgl. S. 241). In den in beiden Texten vorhandenen Passagen variieren die genauen Formulierungen; sie sind jedoch stets als Versionen des gleichen Satzes erkennbar (z. B. „Die Zionisten sind jedoch fest überzeugt, dass die Besorgnisse der Assimilationsjuden unbegründet sind.“ (H. 49, S. 3), „Die Zionisten sind übrigens der festen Überzeugung, dass die Angst der Assimilationsjuden unbegründet ist.“ (vgl. S. 243 der vorliegenden Edition). Zion: → 426 Zerstörung des zweiten Tempels: → 426 Zerstreuung des jüdischen Volkes: → 424 Messias-Glaubens: → 444 Messianismus und Zionismus: Sammelbez. für polit., sozial o. religiös motivierte Reformismen, die sich in der Erwartung eines Heilsbringers äußern, der dem Messias vergleichbar ist. Vielfach assoziiert mit der Rückkehr eines vorzeitl. ‚Goldenen Zeitalters‘ (lat. aurea aetas bzw. aurea saecula), können diese Bestrebungen beachtenswertes revolutionäres Potenzial freisetzen, vgl. ab 1666 den Sabbatianismus des Sabbatai Zewi (1626–1676).
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jüdischen Liturgie: Liturgie, kirchenlat. Liturgia, v. griech. λειτουργία, dt.: „öffentl. Dienst“, aus λαός, dt.: „Volk“, „Volksmenge“, u. ἔργοv, dt.: „Werk“, „Dienst“. Bez. für Form u. Inhalt der durch feste (rituelle) Handlungsvollzüge gekennzeichneten gottesdienstl. Feier. Aufklärung: → 471 Herold: Herold, v. spätmhd. heralt aus afrz. héraut, haraut, hiraut. Hofbeamter o. Verkünder eines Fürsten. Populärphilosoph: Vertreter der Popularphilosophie, allg. Bez. für Darstellungen in vereinfachter Form, um einem größeren Publikum Lehren philosoph. Schulen v. prakt. Bedeutung nahezubringen. Histor. strebt die P. während der dt. Aufklärung das allgemein verständl. Bekanntmachen v. Erkenntnissen über Freiheit, Moral u. Wissenschaft an. rationalistisch: → 440 jüdischen Monotheismus: Monotheismus, griech. μόνος, dt.: „allein“, u. θεός, dt.: „Gott“. Verehrung eines einzigen Gottes u. Bekenntnis zu einem einzigen Gott. Als Erschaffer u. Erhalter des Kosmos wird er vom Gläubigen als personales Gegenüber verstanden. Gott hat im Verständnis des Gläubigen Ausschließlichkeitscharakter u. Universalitätsanspruch. Der M. entsteht im Judentum zur Zeit des Babylonischen Exils (6. Jh. v. Chr.). „Reform“ / Reformjuden: → 531 Diaspora: → 424 den bekannten albernen Witz: Zitatnachweis nicht mögl., N. formuliert den Witz vermutl. mit eigenen Worten, um seine Aussage rhetorisch zu verstärken. Taufbecken: → 458 ethnische Individualität: → 484 Assimilation: → 431 in Schwang gekommenen: „Im Schwange sein“ i. S. v. „sehr beliebt“, „in Mode sein“. Sittlichkeit: → 440 Rationalismus: → 440 Kosmopolitismus: → 70436 inhibieren: Lat. inhibeo, dt.: „abhalten“, „verhindern“. Hier i. S. v. „hemmen“, „lähmen“. Mimikry: → 444
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neue Zionismus: →s. Nachwort Mystik: → 434 Martyrologie: Griech. μάρτυς, dt.: „Zeuge“, u. μαρτύριον, dt.: „Zeugnis“, „Beweis“. ‚Märtyrer‘ bez. einen wg. seines Glaubens Verfolgten, der mit dem Tod für seine Überzeugung einsteht. Das mittellat. Martyrologium der Kathol. Kirche bez. ein nach den Kalendertagen gegliedertes Verzeichnis der Märtyrer u. Heiligen mit Angabe des Ortes ihres Kultes u. ihrer Lebensumstände. N. überträgt den Begriff der M. auf die Geschichte des Judentums in der Diaspora. Rassentüchtigkeit: Der Begriff R. geht vermutl. auf den dt. Mediziner Alfred Ploetz (1860–1940) zurück. Ploetz ist einer der Begründer der Rassenhygiene in Deutschland, er befasst sich insb. mit erbpatholog. Studien. Schriften u. a. Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus. Grundlinien einer Rassen-Hygiene, 1. Theil (1895) u. Ziele und Aufgaben der Rassenhygiene (1911). Ploetz sieht zunächst im „Verfahren der Rassenmischung“ zw. Ariern u. Juden ein Mittel zur Steigerung der „Rassentüchtigkeit“. Ab 1920 bez. er Juden als optisch u. rassisch identifizierbar. V. den Nationalsozialisten als Nestor der Rassenhygiene tituliert. Chauvinismus: Ableitung vom Namen des legendären Rekruten Nicolas Chauvin (um 1790-unbek.), der angebl. in der Armee v. Napoleon Bonaparte (1769–1821) dient u. dabei siebzehnmal verwundet wird. Im post-napoleon. Frankreich erscheint seine Einsatzbereitschaft nicht mehr bewunderungswürdig, sondern dient als Zielscheibe des Spotts in Vaudeville-Komödien (Pariser Theatergenre mit Gesang u. Instrumentalbegleitung); als Theaterfigur findet er z. B. in dem Stück La Cocarde tricolore, épisode de la guerre d'Alger (1831) der Brüder Charles-Théodore (1806–1872) u. Jean-Hippolyte (1807–1882) Cogniard auf die Bühne. Der Begriff Ch. steht hier für einen übersteigerten, mit einer Nichtachtung anderer Nationalitäten verbundenen Nationalismus. versimpelt: Versimpeln: eine Sache sehr vereinfachen. Altruismus: → 547 Evolution: → 534 Reminiszenzen: Reminiszenz, lat. reminiscor, dt.: „sich erinnern“. Erinnerung, die v. gewisser Bedeutung ist. Ein deutscher Jude / Mitte der vierziger Jahre: Zwi Hirsch Kalischer (1795–1874), dt. Rabbiner, Talmudgelehrter u. zionistischer Kolonisator. Autor verschiedener glossator. Werke, u. a. zu Talmud u. Schulchan Aruch, Mitarbeiter verschiedener hebr. Zeitschriften wie Ha Maggid (dt.: „Die Gabe“). Werke u. a. Sefer Emunah Yesharah
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(1843, dt.: „Buch des aufrechten Glaubens“) u. Drischat Zion (1861, dt.: „Sehnsucht nach Zion“, „Zions Herstellung“). Vielfältiger Einsatz für die jüdische Kolonisation u. Landkultivierung in Palästina, um eine Heimstatt v. a. für verarmte osteuropä. Juden zu schaffen. Seine Agitation hat Einfluss auf die Gründung der Alliance Israélite Universelle u. der Kolonie Miḳweh Yisrael. Vermutl. unterläuft N. bei der Erwähnung der anonymen Publikation eine Verwechslung. Moses Hess' „Rom und Jerusalem“: Moses Hess (auch: Moses Heß, 1812–1875), dt. Schriftsteller, Philosoph u. früher Weggefährte v. Karl Marx (1818–1883). Mitbegründer u. Redakteur der Rheinischen Zeitung in Köln. In seinem in Briefform geschriebenen Hauptwerk Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage (1862) nimmt H. die wesentl. Elemente der zionistischen Bewegung vorweg: die Neu- u. Rückbesinnung auf das Judentum bei assimilierten Juden, die Definition des Judentums als Nationalität u. die emotionale Verbundenheit mit dem „Land der Väter“. Emanzipations- und Verbrüderungstaumels: → 440 Welcher Prophet in Israel: → 424, → 444 Dr. Pinsker: Leon Pinsker (häufige Varianten: Leo Pinsker, Juda bzw. Jehuda Löb o. Leib Pinscher, 1821–1891), russ. Arzt, Journalist u. polit. Zionist. Nach der Ermordung v. Zar Alexander II. Nikolajewitsch (1818–1881) veröffentlicht er unter dem Eindruck der folgenden Judenpogrome anonym seine Schrift Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden (1882). P. fordert darin für die Juden als Nation einen eigenen Staat auf dem Gebiet v. Palästina o. Argentinien. Unter seiner Leitung gelingt es dem Palästinakolonisationsverein (später Odessaer Komitee) nicht, größere Auswanderungen zu realisieren. präludierte: Eigentl. „zur Einleitung auf dem Klavier o. der Orgel spielen“, „improvisieren“. Hier i. S. v. „vorwegnehmen“. Aposteln: → 504 „Der Judenstaat“: → 527 Assimilationsjuden: → 507 zionistischen Kongress: → 438 den wütendsten Anfeindungen: Am Widerstand der Israelitischen Kultusgemeinde München u. des Allgemeinen Deutschen Rabbinerverbands scheitert eine Ausrichtung des I. Zionistenkongresses in München. N. bezieht sich zudem auf die zunehmenden kulturprotestant. geprägten, antisemitischen Anfeindungen im Deutschen Kaiserreich, so durch den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) o. den Antisemiten-Katechismus (1887) des Publizisten Theodor Fritsch (1852–1933). Der österr. Schriftsteller Karl Kraus (1874–1936) polemisiert sarkast. gegen Theodor Herzls (1860–1904) Der Judenstaat (1896); er wolle die europä. Juden aus ihrer Verwurze-
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lung in den jeweiligen Heimatländern reißen. 1897 kommt es im Gouvernement Kiew zu Pogromen, die immer wieder auf andere Städte in Russland übergreifen. beider Welten: N. bezieht sich nicht nur auf die geograf., sondern auch auf die mentalitätsbedingten Unterschiede zw. westl. u. östl. Judentum. „großes Aktionskomitee“: → 512 drei weitere Kongresse: → 470, → 510, → 538 II., III. u. IV. Kongress. Kleinkolonisation: → 529 jüdischen Kolonien in Palästina: → 469 Musterschule in Jaffa: Die älteste jüdische Landwirtschaftsschule Mikwe Israel (dt.: „Hoffnung Israels“) wird 1870 mit finanzieller Unterstützung des frz. Bankiers Baron Edmond Benjamin James de Rothschild (1845–1934) über dessen Alliance Israélite Universelle v. dem frz. Zionisten Charles Netter (1826–1882) in der Stadt Holon (südl. des heutigen Tel Aviv) gegründet. „Schekel“: → 490 Kopeken: Kopeke, russ. kopejka v. russ. kopjo, dt.: „Lanze“, „Wurfspeer“. Seit dem 16. Jh. geprägte Kleinmünze des Russ. Kaiserreichs, die 1/100 Rubel entspricht u. urspr. ein Reiterbild des Zaren mit Lanze zeigt. 1 Mark: → 527 1 Franc: → 526 1 Schilling: Schilling, unklare Etymologie. Ab dem 8. Jh. Rechnungsmünze im karoling. Münzsystem, als Geldstück wird der Sch. ab 1266 im Frankenreich geprägt. „Die Welt“: → 436 jüdisch-deutscher und jüdisch-spanischer Mundart: → 528 heiligen und profanen Literatur: Die Texte des Alten Testaments (Entstehungszeit zw. dem 11. u. 3. Jh. v. Chr.) sind ebenso wie der Talmud in hebr. Sprache abgefasst. Bedeutende jüdische Dichter des Mittelalters sind Samuel ha-Nagid (993–1056), Salomo ben Jehuda ibn Gabirol (um 1020–1057/58), Mose ben Jakob ibn Esra (um 1070–1139) u. Jehuda ben Samuel Halewi (um 1075–1141). Mit der jüdischen Aufklärung entwickelt sich unter dem Einfluss v. Moses Mendelssohn (1729–1786) eine Bewegung zur Förderung der schöngeistigen Literatur in hebr. Prosa. Hygiene: → 445 Frauenbildung: Die Frau im traditionellen Judentum erhält weniger schul. Bildung als männl. Gleichaltrige, da sie nicht zum Studium v. Thora u. Talmud verpflichtet ist. Sie ist aber für die rituelle Einhaltung der Sabbatruhe u. der Speisevorschriften
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u. für die Erziehung der Kinder nach dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, zuständig. Trotz des Ausschlusses v. Jüdinnen vom institutionalisierten Lernen erwerben Einzelne umfangreiche Kenntnisse auf dem Gebiet der rituellen Praktiken des Chassidismus. Nach der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins im Jahr 1865 schließen sich zahlreiche jüdische Frauen den Forderungen der bürgerl. Frauenbewegung nach mehr Gleichberechtigung im Bildungssektor an. Turnvereine: → 587 Charter: Engl. charter, dt.: „Urkunde“, „Freibrief“, v. altfrz. chartre zu lat. chartula, dt.: „kleines Schriftstück“, „Brieflein“. Hier i. S. v. „Urkunde“, „Dokument“ als Synonym zu Charta verwendet. Die Erlangung eines international anerkannten Ch.s, der das Recht des jüdischen Volkes, auf einem bestimmten Territorium, vorzugsweise Palästina, autonom zu leben, offiziell festhalten soll, ist eines der Hauptziele des polit. Zionismus, wie er v. Theodor Herzl (1860–1904), N. u. a. vertreten wird. Da Palästina Teil des Ottoman. Reiches ist, bemühen sich Herzl u. seine Mitstreiter beim türk. Sultan um eine solche Legitimation. Dieser sog. Charterismus steht dem prakt. Zionismus gegenüber, der den Fokus auf die konkrete Besiedelung statt auf die polit. Legitimation legt u. nach Herzls Tod an Bedeutung gewinnt. (Jewish Colonial Trust): → 469 Nationalfonds: Der Jüdische Nationalfonds (hebr. Keren Kajemeth Lejisrael (KKL), engl. Jewish National Fund (JNF)) geht auf eine 1897 beim I. Zionistenkongress in Basel v. Zvi Hermann Schapira (1840–1898) vorgetragene Vorstellung zurück, wonach das vom JNF zu erwerbende Land nicht weiter verkauft werden, sondern im Besitz des jüdischen Volkes verbleiben solle. 1901 erfolgt in Basel auf Initiative v. Theodor Herzl (1860–1904) die Gründung des JNF durch dessen engen Mitarbeiter Johann Kremenezky (1850–1934). Der JNF kauft Boden in Palästina, der jüdischen Siedlern in Form einer erneuerbaren Dauerpacht zur Verfügung gestellt wird. Fanatiker: → 453 Messiasen: → 444 städtische Krämer und Händler: N. bezieht sich auf die klass. Berufsfelder v. Juden in der Diaspora, die aufgrund v. Vorschriften u. Interessen weltl. Obrigkeiten gestattet sind. Landwirtschaftl. Berufe sind hierbei selten anzutreffen. Herkulesarbeit: Herkules, außerordentlich starker griech. Heros, Sohn des Zeus. Im Dienste des Königs Eurystheus muss er zwölf schwere Arbeiten vollbringen, darunter die Erlegung des Nemeischen Löwen u. die Tötung der neunköpfigen Hydra. Parasitismus: → 492 Weltökonomie: → 486
44 Achad-Haam über „Altneuland“
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44 Achad-Haam über „Altneuland“ Quelle: Die Welt, 13.3.1903, H. 11, S. 1–5.
Achad-Haam: Ascher Hirsch Ginzberg (1856–1927), Pseudonym Achad Haam (hebr., dt.: „einer aus dem Volk“), ukrain. Zionist. u. Chowewe Zion. Kritiker des polit. Zionismus u. Begründer des Kulturzionismus, der in Palästina das geistige Zentrum eines kulturell erneuerten Judentums schaffen will. Hauptwerk: 'Al parashat derakhim (4 Bde., ab 1895 dt.: „Am Scheidewege“). Gründer der Zeitschrift Ha-Schiloach u. des Verlags Achiassaf. „Altneuland“: Altneuland, Titel eines utop. Romans (1902) Theodor Herzls (1860– 1904). Nach dem konzeptuellen Werk Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage (1896) formuliert Th. H. in A. sein idealist. Bild eines künftigen jüdischen Staates, in dem die polit. u. gesellschaftl. Ordnung eine friedl. Koexistenz v. Juden u. Arabern vorsieht. Eine fiktive „Neue Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina“ organisiert die Einwanderung n. Palästina u. regelt Wirtschaft, innere Sicherheit, Infrastruktur sowie Gesundheitsversorgung u. Bildung. Als genossenschaftl. organisierter Großkonzern bestimmt sie die utop. jüdische Gesellschaftsform, die an die Kibbuz-Idee erinnert. Bekannte u. Freunde, aber auch Gegner Herzls werden in Figuren des Romans portraitiert. Im Erscheinungsjahr v. A. erscheint v. dem Schriftsteller u. Zionisten Nahum Sokolow (1859–1936) die hebr. Übersetzung Tel Aviv, nach der 1909 die neugegründete Stadt Tel Aviv benannt wird. Dichtungsgattung der Utopie: Griech. οὐ, dt.: „nicht“, u. griech. τόπος, dt.: „Platz“, „Stelle“, „Ort“, ein als unausführbar angesehener Plan ohne reale Grundlage. Zurückgehend auf den Romantitel De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (1516, dt.: „Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia“) des engl. Humanisten u. Staatsmanns Thomas Morus (engl. Thomas More, 1478– 1535), dt. Erstausgabe Von der wunderbarlichen Innsul Utopia genannt, das andere Buch (1524). In Form eines klass. philosoph. Dialogs wird das Bild einer idealen Gesellschaft entwickelt, die auf rational entwickelten Gleichheits- u. Gerechtigkeitsgrundsätzen basiert. Fabel: → 463 Gründungsgeschichte des Trusts: → 469 Trust: → 569 Getreidebau nach arabischen Methoden: Das Ursprungsgebiet des Getreides liegt im Nahen Osten (Libanon, anatol. u. iran. Bergland) im sog. Fruchtbaren Halbmond. Getreideanbau seit über 10.000 Jahren nachweisbar. Effizienzsteigerungen infolge v. Erfindungen wie Pflug, Joch, Kummet u. Harke sowie verbesserten Zuchtmetho-
600 Teil II: Kommentar
den des Saatgutes. Typische Getreidesorte der arab. Länder ist Weizen, hierbei besonders Couscous (zerriebener Gries aus Hartweizen, Hirse o. Gerste) u. Bulgur (vorgedünsteter, v. der Kleie befreiter Weizen). Shakespeares „Julius Cäsar“: Engl. The Tragedy of Julius Caesar (UA 1599), fünfaktiges Theaterstück des bedeutenden Dramatikers u. Lyrikers William Shakespeare (1564–1616), dem die histor. Figur des röm. Staatsmanns, Feldherrn u. Schriftstellers Gaius Iulius Caesar (100–44 v. Chr.) zugrunde liegt. Milton hat einen „Samson“: Engl. Samson Agonistes (1671), gräzisierender Titel eines Lesedramas des engl. Schriftstellers u. polit. Theoretikers John Milton (1608–1674). Erschienen als Beiwerk der Publikation v. M.s Paradise Regain'd (1671). Thematisiert die Auseinandersetzungen Simsons mit den Philistern, seinen Fall u. seine Rache (Ri 13–16). Racine eine „Athalie“: Frz. Athalie (dt.: „Athalie“), 1691 erschienene fünfaktige Tragödie des bedeutenden frz. Schriftstellers u. Dramatikers Jean Baptiste Racine (1639–1699). 2. Könige 11 berichtet v. der dem Gott Baal verfallenen Königinmutter Athalja, die die Nachkommen ihres Sohnes ermorden lässt u. die Herrschaft an sich reißt. Ihr Enkel Joas überlebt das Massaker u. übt Rache. Otto Ludwig: O. L. (1813–1865), dt. Schriftsteller des Frührealismus. Er prägt den Begriff des ‚poetischen Realismus‘. Werke u. a.: Erzählungen Zwischen Himmel und Erde (1856) u. Die Heiterethei und ihr Widerspiel (1857), Drama Der Erbförster (1853). „Makkabäer“: Die Makkabäer, fünfaktiges bibl. Trauerspiel (1845, UA 9.1.1853) des dt. Schriftstellers Otto Ludwig (1813–1865). Hebbel: Christian Friedrich Hebbel (Pseudonym: J. F. Franz, 1813–1863), dt. Schriftsteller des Realismus. Anerkennung v. a. als Dramatiker, insbesondere mit seinem in der Tradition des bürgerl. Trauerspiels stehenden Stück Maria Magdalena (UA 13.3.1846). Darüber hinaus Verfasser v. Lyrik u. Erzählungen. Weitere Werke: Judith (UA 6.7.1840), Herodes und Mariamne (UA 14.9.1849), Gyges und sein Ring (UA 15.4.1889). „Judith“: Judith, 1840 erschienene fünfaktige Tragödie (UA 6.7.1840) des dt. Lyrikers u. Dramatikers Christian Friedrich Hebbel (Pseudonym: J. F. Franz, 1813–1863). H. variiert in seinem Drama die Legende der Figur Judith, die namensgebend für ein apokryphes Buch der Bibel ist. Zur Rettung ihres Volkes enthauptet Judith auf dem Höhepunkt des Dramas den assyr. Feldherrn Holofernes. 1. Buch Mosis, Kapitel 39, 40 und 41: Die entsprechenden Kapitel enthalten die Geschichte v. Josef u. seinen Brüdern, die des Weibs des Potiphar, die Deutung der Träume des Schenks u. des Bäckers, die Träume des Pharaos u. Josefs Erhöhung.
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Gegensatz zwischen […]: N. differenziert hier vermutl. zw. den geistesgeschichtl. u. kulturellen Errungenschaften des Judentums an sich, jüdischer Mitgestaltung der jeweiligen Nationalkultur u. einer europä., d. h. westl. u. eher christl. geprägten Kultur. Asiatentum: V. N. rhetor., pejorativ verwendeter Begriff für das osteuropä. Judentum, das nicht die Zivilisation u. Bildung des westeuropä. Judentums aufweise. Beth Hamikdasch: Hebr. Beit HaMikdasch, dt.: „Haus des Heiligtums“, „Heiliger Ort“. Bez. für den im 6. Jh. v. Chr. durch die Babylonier zerstörten Tempel Salomos u. für den 515 v. Chr. vollendeten Zweiten Jerusalemer Tempel. Zerstörung 70 n. Chr. durch die Römer. russischen Ansiedlungsgebietes: → 541 Seder: → 480 Taufe: → 458 Neger: → 505 Sodom und Gomorrha: Gen 18–19 berichten v. den zwei sagenhaften Städten Sodom u. Gomorrha, die aufgrund des sündhaften u. gottabgewandten Verhaltens ihrer Bewohner v. Gott durch einen Schwefel- u. Feuerregen vernichtet werden. Umgangssprachl. Synonym für eine Ansiedlung mit zügellosen, besonders fremdenfeindl. Einwohnern. Grundsätze der Inquisition: → 539 Judengesetze Russlands: → 470, → 470, → 470 Bann des Ghettogedankens: → 439 Worte unserer Ahnen: N. bezieht sich auf einen Passus aus den Zehn Geboten in Ex 20,10: „Sechs Tage sollst du arbeiten und alle dein Dinge beschicken; aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes; da sollst du kein Werk tun noch dein Sohn noch deine Tochter noch dein Knecht noch deine Magd noch dein Vieh noch dein Fremdling, der in deinen Toren ist.“ „Wer da baut an der Straßen“: In mehreren europä. Sprachen vorkommendes Sprichwort, vgl. lat. Qui struit in callem, multos habet ille magistros, dt.: „Derjenige hat viele Lehrer, der an der Dorfstraße baut.“ Denunziationen: → 468 bengalische Flammen: → 512 mystischer Färbung: → 434
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Bescheid der Berliner Schuldeputation: N. bezieht sich auf den Bescheid der Schulgesetzgebung Preußens vom 15.1.1831 betreffend den Unterricht in der hebr. Sprache auf Gymnasien. Messias: → 444 „politischen“ Zionismus: → 426 „Judenfrage“: → 458 Erlangung des Charters: → 598 Zerstreuung: → 424 „Abwehrvereine“: Im Deutschen Kaiserreich wird v. Christen u. Juden aus dem liberalen Bürgertum 1890 der Verein zur Abwehr des Antisemitismus (auch „Abwehrverein“) gegründet, um der wachsenden Judenfeindschaft entgegenzuarbeiten. Prominente Mitglieder des Abwehrvereins sind der Altertumswissenschaftler u. Historiker Christian Matthias Theodor Mommsen (1817–1903), der dt. Jurist u. Abgeordnete im Reichstag u. im Preuß. Abgeordnetenhaus Heinrich Rudolf Hermann Friedrich v. Gneist (1816–1895), der dt. Schriftsteller Ludwig Jacobowski (1868–1900) u. der dt. Jurist, Liberale u. Abgeordnete im Reichstag u. im Preuß. Abgeordnetenhaus Wilhelm Theodor Barth (1849–1909). Rede „Der Zionismus und seine Gegner“: → S. 35–49 ponderablen und imponderablen Bedingungen: Lat. ponderabilis, dt.: „wägbar“. Ponderabilien sind fassbare, kalkulierbare Dinge; Imponderabilien, mit lat. Praeverbium in-, dt.: „un-“, „ohne“, Unwägbarkeiten. Genossenschaften: → 588 vorzudeklamieren: → 520 „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“: Motto des utop. Romans Altneuland (1902) v. Theodor Herzl (1860–1904). Russland zur Gesetzgebung Alexanders III.: Zar Alexander III., eigentl. Alexander Alexandrowitsch (1845–1894), Regierungszeit 1881–1894. Begebenheiten von 1881/82: → 512 Rumänien zum jüngsten Handwerkergesetz: 1902 tritt in Rumänien ein Gesetz in Kraft, das jüdischen Handwerkern jegliche staatl. Unterstützung versagt u. Juden die Ergreifung weiterer handwerkl. Berufe verbietet. Stöcker: Adolf Stoecker (1835–1909), protestant. Hofrat u. Antisemit. Ahlwardt: Hermann Ahlwardt (1846–1914), dt. Volksschullehrer u. Abgeordneter der antisemitischen Deutschsozialen Reformpartei (DSRP) im Reichstag, Radau-Antise-
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mit, der mit einer dehumanisierenden Wortwahl zu indirekter o. direkter Gewalt gegen Juden aufruft. Bindewald: Friedrich Bindewald (1862–1940), dt. Landschafts- u. Kunstmaler u. Abgeordneter der antisemitischen Deutschen Reformpartei (DRP) im Reichstag. Pückler-Klein-Tschirne: Graf Walter v. Pückler-Muskau (1860–1924) aus Klein-Tschirne bei Glogau, dt. antisemitischer Agitator, bekannt unter seinen Beinamen „Dreschgraf“ u. „Judenschläger“. Mehrfach vorbestraft wg. Aufrufen zu antisemitischen Mordpogromen. Österreich zu Lueger und seinem System: → 561 Dreyfus-Handel: Handel, hier i. S. v. „Händel“, „Streit“, „Auseinandersetzung“. Bayados-Nationalismus: Im Verlauf der Zuspitzung der Dreyfus-Affäre versuchen die Anti-Dreyfusards unter dem Ruf „écerveler avec des bayados“, gemeint ist vermutl. „écerveler avec des baïonettes“ (dt.: „mit Bajonetten den Schädel einschlagen“), gewaltsam Stimmung gegen die Verteidiger v. Dreyfus (1859–1935) zu machen. Kommission für die Fremdeneinwanderung: Um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. steigt die Anzahl jüdischer Immigranten aus Polen u. Russland n. Großbritannien. 1901 wird die Royal Commission on Alien Immigration zur Erfassung aller jüdischen Immigranten initiiert. Im Folgejahr konstituiert sich The British Brothers' League, um unter dem Wahlspruch „England for the English“ die Einwanderung zu restringieren. Protestrabbiner: → 489 Tautologie: Griech. ταυτολογία, dt.: „Wiederholung des bereits Gesagten“. Stilist. Doppelaussage in der Rhetorik. Baseler Programme: → 486
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45 Zionismus und jüdischer Nationalismus Quelle: ZS1, S. 307–310, dort mit Verweis auf die Quelle: Ungarische Wochenschrift. Budapest, 27. März 1903. Ferner in: Die Welt, 27.3.1903, H. 13, S. 1–2.
Ernst Mezei: E. M. (1851–1932), ungar. Politiker u. Journalist. Seine parlament. Anfrage ist maßgebl. für die Freilassung v. fünfzehn Juden (1882), die im Zuge der Justiz-Affäre v. Tiszaeszlár (Ritualmordprozess) festgenommenen worden waren. Assimilation: → 431 Freidenker: → 497 „Keriath Schema“: Keriat Schema, hebr., dt.: „Lesung des Schema“. K. S. meint das Verlesen des Schema Jisrael (hebr., dt.: „Höre Israel“) als Hauptgebet am Morgen u. Abend (Tefilla (hebr., dt.: „Gebet“) bzw. Amida (hebr., dt.: „Stehen“)). Es wird v. Benediktionen (hebr. Beracha) begleitet. goldene Worte gesprochen: N. bezieht sich auf den Beitrag Der Zionismus als nationale Idee v. Ernst Mezei (1851–1932) (Die Welt, 27.2.1903, H. 9, S. 4–5). Sanhedrin: → 545 Ruthene: → 530 Schwabe: Infolge der Türkenkriege sind weite Teile des Königreichs Ungarn dünn bis nicht besiedelt. Im gesamten mittleren Donauraum werden daher dt. Siedler angeworben (1692–1786), die besonders aus den Gebieten Pfalz, Schwaben u. Franken stammen. Obwohl die Schwaben nicht den größten Anteil ausmachen, wird diese Herkunftsbez. seitdem synonym für Deutsche verwendet. Magyare: → 592 zentrifugalen Versuchungen: Zentrifugalkraft, lat. centralis, dt.: „in der Mitte befindlich“, u. lat. fuga, dt.: „Flucht“, auch Fliehkraft o. Trägheitskraft. Medizinischer terminus technicus für den Verlauf v. Nervenfasern im zentralen Nervensystem in Richtung der Peripherie. N. verwendet die Bez. metaphor. für weit ausdifferenzierte u. verzweigte Interessensgebiete v. Bewohnern Ungarns, welche der Integration abträglich sein könnten. „Echo Sioniste“ vom 1. d. M.: → 552 kategorischen Imperativ: → 495 „Ungarische Wochenschrift“: In Budapest 1895–1918 erscheinende wöchentl. Publikation, ung. Magyar zsidó felekezeti hetilap, Untertitel: Organ für die sozialen und religiösen Interessen des Judenthums (ung. Szépirodalmi, társadalmi és felekezeti közlöny). Unter geringfügig geändertem Titel erscheinen regelmäßig kurze Reportagen
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über Religion, Pädagogik u. Literatur. 1895–1899 deutschsprachig, 1899–1918 deutsch- u. ungarischsprachig.
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46 Blutmärchen Quelle: ZS1, S. 338–345, dort mit Verweis auf die Quelle: Die Welt, Nr. 27, 1903. (= Die Welt, 3.7.1903, H. 27, S. 3–5).
Blutmärchen: → 472 Apion: Griech. Ἀπίων (Ende des 1. Jh.s v. Chr.–1. Hälfte des 1. Jh.s n. Chr.), Grammatiker u. Lexikograf. Oberhaupt der alexandrin. Grammatikerschule. Ankläger gegen den Juden Philon v. Alexandria (ca. 15 v. Chr.–ca. 50 n. Chr.), der 38 u. 40 n. Chr. gegen Misshandlungen v. alexandrin. Juden klagt. A.s Ansichten werden in dem Werk Contra Apionem (lat., dt.: „Gegen Apio“) des Flavius Josephus (hebr. Joseph ben Mattitjahu, 37/38–um 100 n. Chr.) referiert, das in polemischer Weise die Juden verteidigt. Schändung oder Marterung von Hostien: → 555 Bankerott: → 477 Alexandrinische Griechen: → 552. Der Ausdruck Al. Gr. ist als Synonym für die zur Zeit des Hellenismus lebenden Griechen zu verstehen. Atridenmythus: In der griech. Mythologie umfasst das Geschlecht der Atriden den König Tantalos u. seine Nachkommen, darunter insb. König Atreus u. seine Söhne Agamemnon u. Menelaos. Tantalos frevelt durch den Diebstahl v. Nektar u. Ambrosia gegen die Götter u. setzt ihnen zudem den in Stücke geschnittenen u. gekochten Pelops als Mahlzeit vor, um ihre Allwissenheit zu testen. Dadurch zieht er einen fünf Generationen andauernden Fluch auf sein Haus, der sich in zahlreichen innerfamiliären Morden Bahn bricht. Die prominenteste lit. Gestaltung des Stoffes ist die 458 v. Chr. entstandene Orestie des Dichters Aischylos (525–456 v. Chr.). Panamaunternehmen ein „Judenschwindel“: N. bezieht sich auf einen Bestechungsskandal in Frankreich während des ersten, erfolglosen Versuchs des Baus des Panamakanals. 1879 wird der frz. Politiker Ferdinand de Lesseps (1805–1894) Präsident der Société Civile Internationale du Canal Interocéanique (frz., dt.: „Internationale Gesellschaft für einen Interozeanischen Kanal“). 1889 muss die Gesellschaft Konkurs anmelden, was die frz. Regierung mit Mitteln aus einer Lotterie abzufangen versucht. Durch die Verwicklung einiger jüdischer Finanziers in die Bestechungen v. Journalisten u. Politikern kommt es zu verstärktem Antisemitismus in Frankreich. edle Lesseps, der „große Franzose“: Ferdinand de Lesseps (1805–1894), frz. Diplomat (Kairo u. Madrid) u. Ingenieur. Als Ingenieur für den Bau des Sueskanals verantwortlich (1859–1869). 1879 Beginn des Baus des Panamakanals, diese Unternehmung scheitert jedoch aufgrund ausbrechenden Gelbfiebers. Verwicklung L.' in den Skandal um den Panamakanal-Bau, gemeinsam mit seinem Sohn Charles L. (1840–
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1923) Verurteilung zu fünf Jahren Freiheitsentzug, später Rehabilitierung. Eines v. 40 Mitgliedern der Académie française (ab 1884). Fabel: → 463 Baron Reinach: Jacques de Reinach (1840–1892), frz. Bankier. Investitionen R.s in die zweite Panamakanal-Bauunternehmung, aktive Rolle in der Erlangung v. Konzessionen gegenüber dem Abgeordnetenhaus. Zwei Monate vor R.s Tod werden Anschuldigungen wg. des Verdachts auf Bestechung laut, Strafbefehl wird erlassen. Kornelius Herz: K. H., auch: Cornelius Herz (1848–1898), frz. Elektromechaniker. Soldat im Dt.-Frz. Krieg v. 1870/1871, Aufnahme in die Ehrenlegion. Nach zeitweiliger Emigration in die USA Rückkehr n. Frankreich. Zwielichtige Rolle im Panamakanal-Skandal als Hauptvermittler zw. der Panama Canal Company u. den bestochenen Abgeordneten. Emigration n. England, Verurteilung in Frankreich u. Verlust der Mitgliedschaft in der Ehrenlegion. Arton: Léopold Émile Aron, gen. Émile Arton (1849–1905), frz. Makler u. Geschäftsmann. Verwicklung in die Bestechungsaffäre v. Politikern u. Journalisten während des Panamakanal-Skandals. Assimilanten: → 507 Losanleihe: Auch Prämienanleihe o. Lottoanleihe, bez. eine Anleihe mit geringer o. ohne Verzinsung. Der durch die nicht erfolgende Verzinsung eingesparte Betrag wird bei der Schuldentilgung in Prämienform zum Teil o. in Gänze auf bestimmte Teile der Schuldverschreibungen angerechnet. Emissionsbank: Auch: Effektenbank. Kreditinstitut, das im Emissions- u. Finanzierungsgeschäft tätig ist. Häufig ist die E. als Konsortialbank im Rahmen eines Bankenkonsortiums mit der Organisation bestimmter Bankgeschäfte beauftragt. am Osterabend: → 472 Zerstreuung: → 424 „Die Welt“: → 436
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47 VI. Kongressrede Quelle: ZS1, S. 140–154, dort mit Datierung: Basel, 24. August 1903. Ferner in: Die Welt, 21.8.1903, H. 34, S. 32–36, und erneut: Die Welt, 25.8.1903, H. 2 (Separat-Ausgabe), S. 17–20.
VI. Kongressrede: Der VI. Zionistenkongress findet vom 23.–28.8.1903 in Basel mit 592 Delegierten statt. Im Zentrum steht das umstrittene Angebot der brit. Regierung, den Zionisten einen Teil Britisch-Ostafrikas zur Kolonisierung zur Verfügung zu stellen. Bücklingen: Sg. Bückling, mhd. zu biegen, nhd.: „als Geste der Demut o. Höflichkeit den eigenen Rücken biegen“, daher fnhd. bücking, nhd.: „sich bückender Mensch“, seit dem 17. Jh. an andere Wörter auf -ling angepasst u. metonymisch v. der Person auf die Handlung, die Höflichkeitsgeste, verschoben. Argonautenfahrt: Griech. Sage v. der Fahrt des Jason u. seiner Begleiter n. Kolchis auf dem Schiff Argo, der Suche nach dem Goldenen Vlies u. v. dessen Raub. Beauftragt v. seinem Onkel Pelias stellt Jason eine Mannschaft (die Argonauten) zusammen, die aus Griechenlands berühmtesten Helden besteht. Nach zahlreichen Abenteuern während der Reise gelingt es Jason mit Hilfe der Medea, Tochter des Königs v. Kolchis, das Goldene Vlies zu erlangen. N. verwendet den Begriff A. wohl synonym für lange Irrfahrt bzw. lange Reise. Aufnahme des Mittagspunktes: Mittagspunkt, astronom. Terminus, der vom jeweiligen Standort des Betrachters aus südlichste Punkt am Horizont bzw. der südl. Schnittpunkt des Meridians mit dem Horizont. „die Kunst für die Kunst“: Dt. Übersetzung des Schlagworts L'art pour l'art aus der frz. Kunsttheorie des 19. Jh.s, zurückgehend auf den frz. Schriftsteller Théophile Gautier (1811–1872). Gemeint ist Kunst als Selbstzweck ohne Zusammenhang mit dem Leben u. Wirkung auf die Gesellschaft. Einfluss auf die frz. Schriftsteller Gustave Flaubert (1821–1880) u. Charles-Pierre Baudelaire (1821–1867) u. Credo des lit. Ästhetizismus, vertreten u. a. durch Oscar Fingal O'Flaherty Wills Wilde (1854–1900), Stéphane Mallarmé (1842–1898) u. Stefan Anton George (1868–1933). Abwertende Verwendung des Ausspruchs häufig auch außerlit. als Kritik an zweckfreier Spielerei. britische Regierung: N. bezieht sich auf die brit. Regierung unter dem konservativen Premierminister Arthur James Balfour (1848–1930), der vom 11.7.1902–5.12.1905 im Amt ist. Landkonzession: 1903 wird Theodor Herzl (1860–1904) vom brit. Kolonialsekretär Joseph Chamberlain (1836–1914) im Auftrag v. Premierminister Arthur James Balfour der brit. „Uganda-Plan“ bzw. das „Uganda-Programm“ o. „Ostafrika-Projekt“ vorgeschlagen. Das Angebot sieht eine vorläufige Lösung für die sich durch Pogrome in
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unmittelbarer Gefahr befindl. russ. Juden vor; dem Zionistenkongress wird im damaligen Britisch-Ostafrika auf dem Mau-Plateau in Kenia (Bez. „Uganda“-Plan daher irreführend) eine Fläche v. ca. 13.000 km² angeboten. Da viele, v. a. russ. Kongressabgeordnete, befürchten, dass durch die Annahme dieses Angebots der Weg zu einem jüdischen Staat in Palästina verstellt werde, kommt es beinahe zu einer Spaltung des Kongresses. Auf dem Zionistenkongress 1905 wird das Projekt abgelehnt. In der Zeit v. 1903 bis 1905 unterstützen einige Gruppen das „Uganda-Programm“, was zur Gründung der Jewish Territorialist Organization (JTO) führt. S. M. der Deutsche Kaiser: Wilhelm II., eigentl. Friedrich Wilhelm Viktor Albert v. Preußen (1859–1941). Die v. N. als ‚wohlwollend‘ eingestufte Einstellung Wilhelms II. gegenüber den Idealen des Zionismus ist eher als pragmat.-antisemitische Grundhaltung anzusehen. Wilhelm II. schreibt nach der Lektüre des Berichts über den I. Zionistenkongress an den Rand des Schriftstückes: „Ich bin sehr dafür, daß die Mauschels [pejorativ für „armer Jude“] nach Palästina gehen, je eher sie dorthin abrücken, desto besser. Ich werde ihnen keine Schwierigkeiten in den Weg legen.“ (zit. nach John C. G. Röhl, Wilhelm II., Bd. 2: Der Aufbau der Persönlichen Monarchie. 1888–1900, München 2001, S. 1052). Als während der Palästinareise Wilhelms II. Theodor Herzl (1860–1904) eine Audienz gewährt wird, äußert der Kaiser wohlwollendes Interesse an zionistischen Bestrebungen in Palästina, allerdings nur unter der vollen Beachtung der Souveränität des Sultans. Imponderabilien: → 602. Der Begriff stammt aus der Frühzeit der modernen Physik, ist aber bei N. ausschließl. in übertragener Bedeutung zu verstehen. Baseler Programms: → 486 Lakonismus: → 507 elliptisch: Griech. ἔλλειψις, dt.: „Ausbleiben“, „Mangel“. In der antiken Rhetorik das Aussparen v. Teilen eines Satzes o. einer Rede, die vom Zuhörer aber erschlossen werden können. „Schritten zur Erlangung der Regierungs-Zustimmungen“: Vierter Punkt des Baseler Programms → 486. Sultan: → 490 englischen Redensart: Ein engl. Sprichwort, das seit der Mitte des 19. Jh.s belegbar ist, lautet: „Don't prophesy unless you know.“ Judenfrage: → 458 Emanzipation: → 440 Optimistenphysiognomie: Optimist, lat. optimus, dt.: „der Beste“, „der Hervorragendste“, „der Tüchtigste“. Ein Optimist ist ein lebensbejahender, zuversichtl.
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Mensch. Physiognomie, → 460. N. skizziert einen fatalist., nach außen hin stets um das Aufrechterhalten einer positiven Fassade bemühten Menschen. unseres berühmten „großen Juden“: Vermutl. spielt N. auf Gabriel Riesser (1806– 1863), dt. Jurist u. Politiker, an, der auf zeitgenöss. Darstellungen (v. a. Karikaturen) in charakterist. Weise die Hände in den Ärmelausschnitt seiner Weste einhängt. Anähnlichungsversuchen: → 444 Menschenrechte: → 441 Parias: → 506 Exterritorialisierung der Heiligen Stätten: Exterritorialität, lat. ex, dt.: „außerhalb“, u. lat. territorialis, dt.: „zum Gebiet gehörig“. Hier i. S. v. „außerhalb der Landeshoheit stehend“. Nach Auffassung der Kathol. Kirche ist durch die Anwesenheit Christi die ganze Stadt Jerusalem ebenso wie Rom eine Heilige Stadt. Geschichte des Ottomanischen Reiches: Obwohl bereits im 19. Jh. in Deutschland die synonyme Bez. Osmanisches Reich gängig ist, verwendet N. den wohl aus dem Frz. (L'Empire ottoman) entlehnten Namen Ottomanisches Reich. Das O. R. besteht vom Beginn des 13. Jh.s bis 1922. Der Name geht auf den Begründer der osman. Dynastie, Osman I. Gazi, auch Othman I. (1258–1324/6), zurück. „ewige Volk“, „Am olam“: Die Pogromwelle nach der Ermordung des Zaren Alexander II. Nikolajewitsch (1818–1881) löst in Odessa am Pessachfest 1881 die Gründung der Gruppe Am olam (hebr., dt.: „Ewiges Volk“) aus. Vornehml. Ziel ist die Ausreise n. Amerika mit der Zielsetzung, landwirtschaftl. Kommunen zu gründen; diese werden in New Jersey, Oregon, Louisiana, Connecticut u. North Dakota angesiedelt. Der Name A. o. geht auf den gleichnamigen hebr. Essay des russ.-hebr. Publizisten u. Schriftstellers Perez ben Mosche Smolenskin (1840/2–1885) zurück. Jüdischen Kolonialbank: → 469 Vergrößerung des Nationalfonds: → 598 Assimilation: → 431 zionistische Kokarde: Kokarde, frz. cocarde, dt.: „Bandschleife“. Rosettenförmiges o. rundes Hoheitszeichen in den Landesfarben an Kopfbedeckungen u. Uniformen, im Falle der z. K. in den Farben des Davidsterns (hebr. magen david, dt.: „Schild Davids“) weiß-blau. Brandmal: Das Brand- o. Schandmal als Stigma (griech. στíγμα, dt.: „Stich“, „Punkt“, „Fleck“) auf einem exponierten Teil des Körpers dient seit der Antike als Zeichen der Strafe, Strafverstärkung o. zur Wiedererkennung durch Stigmatisierung. Bei den Römern findet sich das B. in Form eines auf der Stirn eingebrannten ‚F‘ (lat. fugitivus, dt.: „Flüchtling“, „Ausreißer“) für entflohene Sklaven u. als eingebranntes
47 VI. Kongressrede
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‚C‘ (lat. caluminator, dt.: „trügerischer Ankläger“, „Rechtsverdreher“) für Verleumder. Juden sind in Mitteleuropa vom 13.–18. Jh. zum sichtbaren Tragen regional differierender stigmatisierender Kleidungskennzeichen verpflichtet. St. Georgs-Kavallerie: Hl. Georg, prominenter Heiliger u. Märtyrer, nach der Legende im frühen 4. Jh. n. Chr. unter Diokletian (eigentl. Marcus Aurelius Gaius Valerius Diocletianus, um 245–um 312) wg. seines christl. Glaubens als Märtyrer hingerichtet. Die Verehrung als Drachenkämpfer u. -töter dagegen stammt erst aus der Zeit der Kreuzzüge. Der Hl. Georg ist u. a. Patron des engl. Königshauses u. der Schutzheilige der Soldaten, der Kavallerie, der Bauern, Reiter, Bergleute, verschiedener Handwerker, der Wanderer u. Gefangenen u. a. / Kavallerie. Als Golden Cavalry of St George (urspr. frz. La cavalerie de Saint Georges) werden umgangssprachl. Subventionen der brit. Regierung bez., die diese in verschiedenen Kriegen europä. Ländern auszahlt, so z. B. in den napoleon. Kriegen gegen Frankreich. Diese Praktik beruht darauf, dass England im 18. u. 19. Jh. nur eine kleine Armee hat, durch seine florierende Wirtschaft jedoch finanziell höchst potent ist. Die iron. Wendung, die N. hier zur Beschreibung der nur finanziellen Wehrhaftigkeit v. Juden nutzt, leitet sich v. der Abbildung des Hl. Georg zu Pferde auf engl. Goldmünzen ab (vgl. folgendes Lemma). Truppe der goldenen Sovereigns: Sovereign, engl. Goldmünze, die Heinrich VII. Tudor (1457–1509) im Jahr 1489 erstmals als 20-Shilling-Stück prägen lässt. Auf der Vorderseite ist der namensgebende jeweilige Souverän (frz. souverain v. mlat. superanus, dt.: „darüber befindlich“, „überlegen“, Souverän ist der unumschränkte Herrscher o. Fürst eines Landes) als Kopfbild in Seitenansicht dargestellt. Die Rückseite zeigt ab 1817 mit Unterbrechungen nach einem Entwurf v. Benedetto Pistrucci (1783–1855) den Kampf zw. dem Hl. Georg zu Pferde u. dem Drachen. Goldfüchse heraus!: Goldfuchs, umgangssprachl. für ein Goldstück. Franken: → 526 Nachtasyl: Griech. ἄσυλον, dt.: „Zufluchtsort“, v. griech. ἄσυλος, dt.: „unverletzlich“, „sicher“. Asyl für die Übernachtung v. Nichtsesshaften u. Obdachlosen. Der Begriff N. wird v. Nordau für eine mögl. jüdische Kolonisation in „Uganda“ verwendet, die den v. Pogromen bedrohten osteuropä. jüdischen Flüchtlingen eine Zuflucht bieten soll. Aus Solidarität zu Herzl verteidigt Nordau die „Uganda“-Pläne, was 1903 während des Chanukkaballes in Paris zu einem Attentatsversuch durch den russ. Zionisten u. strikten „Uganda“-Plan-Gegner Chaim Selig Louban führt, der Nordau für den geistigen Urheber des „Uganda“-Plans hält. auf freiem Blachfelde: Blachfeld, erhöht liegendes, weites Feld; durch Martin Luther (1483–1546) eingeführte Dissimilation v. ‚Flachfeld‘.
612 Teil II: Kommentar
48 [Rede über das britische Landangebot, gehalten auf dem VI. Zionistenkongress am 26.8.1903] Quelle: Die Welt, 28.8.1903, H. 5 (Separatausgabe), S. 4–7.
Zionsfrage: → 426 talmudistisch geschulten Köpfen: → 427 Ost-Afrika: → 608 Tolstoi: Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1828–1910), bedeutender russ. Schriftsteller des Realismus. Hauptwerke Krieg und Frieden (russ. Vojna i mir, 1868/69) u. Anna Karenina (1877/78). Kindes- und Jugenderinnerungen: Die Trilogie Kindheit (russ. Detstvo), Knabenjahre (russ. Otročestvo), Jünglingsjahre (russ. Junost') erscheint 1852, 1854 u. 1857 in der v. Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799–1837) gegründeten Literaturzeitschrift Sowremennik (russ., dt.: „Zeitgenosse“). Aus der Perspektive eines Ich-Erzählers werden in den Erzählungen autobiograf. u. fiktive Elemente miteinander verwoben. Gouvernante: Lat. guberno, dt.: „lenken“, „leiten“, frz. gouvernante, substantiv. Part. Präs. v. frz. gouverner, dt.: „lenken“. Erzieherin o. Hauslehrerin. Tautologie: → 603 Basler Programm: → 486 Herr Wortsmann: Jecheskel Wortsmann (auch Yecheskiel Charles Wortsman, 1878– 1938), podol. Zionist u. Journalist. Mitgründung der ersten zionistischen Gesellschaft in Bern, Teilnahme am I. Zionistenkongress 1897 in Basel. Förderung des Zionismus durch zahlreiche journalist. Artikel sowie propagand. Streitschriften, darunter Vos Vilen di Tsionisten (1901) in jidd. Sprache. J. W. wendet sich auf dem VI. Zionistenkongress gegen das „Uganda“-Programm. Sachalin: Die nördlich v. Japan vor der Küste Russlands liegende Pazifik-Insel Sachalin fällt mit dem Sankt Petersburger Vertrag zw. Russland u. Japan 1875 Russland zu. Sie wird – ähnlich wie entsprechende Gebiete in Sibirien – bis 1917 als Strafkolonie genutzt, in der Häftlinge Zwangsarbeit verrichten müssen. Charter: → 598 Muschik: → 531 Herr Dr. Levin: Schimarjahu Levin (auch Shmarya Levin, 1867–1935), russ. Zionist u. Publizist. Verfasser der autobiograf. Schriften Kindheit im Exil (dt. Ausg. 1931) u. Ju-
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gend in Aufruhr (dt. Ausg. 1933). S. L. positioniert sich auf dem VI. Zionistenkongress gegen das „Uganda“-Programm. Wohltätigkeitskolonien: N. bezieht sich auf jüdische Kolonien bspw. in Argentinien o. Palästina, die nicht v. einer zionistischen Organisation, sondern v. einem reichen Unterstützer gegründet u. finanziert werden. Insbesondere die Jewish Colonization Association (JCA) gründet im Auftrag des Förderers Maurice de Hirsch (1831–1896) Ackerbaukolonien in verschiedenen Ländern. Kanada: → 534 assimilieren: → 431 Erez Israel: Hebr., dt.: „Land Israel“. Bibl. Bez. für Kanaan o. Gelobtes bzw. Verheißenes Land der Juden bzw. Hebräer. Es umfasst die Gebiete, die durch das göttl. Versprechen Abraham u. seinen Nachkommen übergeben werden. Erstmalige Erwähnung in Gen 15,18. Der Begriff E. I. wird durch den polit. Zionismus im 19. Jh. wieder aufgegriffen. Gorki'sches Nachtasyl: Maxim Gorki, eigentl. Alexej Maximowitsch Peschkow (1868– 1936), russ. Schriftsteller. Das überaus erfolgreiche Theaterstück Nachtasyl. Szenen aus der Tiefe (russ. transkr. Na dne, UA 1902) verhilft G. zu weltweiter Bekanntheit. Mit der Porträtierung zwielichtiger u. gescheiterter Gestalten in einem heruntergekommenen Nachtquartier kommt erstmals im russ. Theater ein Milieu zur Darstellung, in dem alle Personen die fehlende Aussicht auf Besserung ihrer Lage gemeinsam haben u. so als eine in der Misere klassenlose Gesellschaft aufgefasst werden können. Diesenhof: Lebensdaten unbek. Spiritistenversammlung: Spiritismus, v. lat. spiritus, dt.: „Geist“, der Glaube an Geister u. an die Möglichkeit, mithilfe eines Mediums Kontakt zu Verstorbenen aufnehmen zu können. Ausgehend v. den USA verbreitet sich der moderne Spiritismus Mitte des 19. Jh.s in Europa. Zur Demonstration werden okkulte Séancen abgehalten. unserer Kolonialbank: → 469 des Nationalfonds: → 598 präjudizierend: Präjudizieren, v. lat. praeiudicare, dt.: „vorgreifen“, „vorentscheiden“, zu lat. prae, dt.: „vor“, „vorher“, u. lat. iudicare, dt.: „urteilen“, „entscheiden“, hier i. S. v. „vorurteilen“. In der jur. Fachsprache bez. ein Präjudiz eine Gerichtsentscheidung, die als Vorbild für folgende Urteile dient. Brief: Am 21.08.1903 erscheint in der Zeitschrift Die Welt (H. 34, S. 27) ein Brief des russ. Ministers des Innern, Wjatscheslaw Konstantinowitsch v. Plehwe (russ. transk. Vjačeslav Konstantinovič fon Pleve, 1846–1904), an Theodor Herzl (1860–1904). Der
614 Teil II: Kommentar
Brief fasst die offizielle Haltung Russlands zum Zionismus zusammen, nachdem Herzl im August 1903 in mehreren Gesprächen mit v. Plehwe in St. Petersburg um Unterstützung der russ. Juden u. des zionistischen Vorhabens geworben hatte. V. Plehwe sagt der zionistischen Bewegung die Unterstützung Russlands bei der Erwirkung eines türk. Charters u. bei der Erleichterung jüdischer Auswanderung zu, solange das Ziel der Zionisten weiterhin die Gründung u. Besiedelung eines Staates in Palästina sei. Syrkin: Nachman Syrkin (1868–1924), weißruss. Autor u. Publizist u. Begründer des sozialistischen Zionismus, ist angesichts der prekären Lage der russ. Juden Unterstützer des „Uganda“-Plans. dem Datum eines Dokuments: → 615 Mr. Greenberg: Leopold Jacob Greenberg (1861–1931), brit. Journalist. G. bemüht sich, die zionistische Idee in Großbritannien zu verbreiten u. in polit. Kreisen für sie zu werben, so auch bei Joseph Chamberlain (1836–1914), auf dessen Vermittlung hin die brit. Regierung 1901 Al-Arisch u. 1903 einen Teil Britisch-Ostafrikas als jüdisches Besiedelungsgebiet anbietet. Bestellung eines Ausschusses: Die Bildung einer Kommission, die eine Expedition n. Britisch-Ostafrika unternimmt, wird auf dem VI. Zionistenkongress mit 295 zu 178 Stimmen bei 98 Enthaltungen beschlossen. Mr. Chamberlain: Joseph Chamberlain (1836–1914), brit. Politiker. Bürgermeister v. Birmingham (1873–1876), Handelsminister (1880–1885) u. als Kolonialminister (1895–1903) einer der Hauptförderer des brit. Kolonialismus. El-Arisch: Al-Arisch, arab. al-ʿArīš, ägypt. Stadt im Nord-Sinai am Mittelmeer, 330 km nordöstl. v. Kairo. E. A. wird mit dem an gleicher Stelle liegenden, altägypt. Ort Rhinokorura, griech. Ῥινοκόρουρα, bzw. Rhinokolura, griech. Ῥινοκόλουρα, identifiziert. zwischen Nairaubi und Nau Escarpment: N., eigentl. Nairobi, heutige Hauptstadt Kenias im Süden des Landes. / Mau Escarpment, 3.000 Meter über dem Meeresspiegel liegende Steilstufe im Westen Kenias. High Commissionar: V. 1900 bis 1904 bekleidet der brit. Diplomat Sir Charles Norton Edgecumbe Eliot (1862–1931) das Amt des Kommissars für das Protektorat BritischOstafrika. englische Meilen: Eine engl. Meile entspricht 1609,344 Metern. Geviertmeilen: Synonym für Quadratmeilen. Mombassa: Mombasa, Küstenstadt im Süden Kenias.
48 [Rede über das britische Landangebot]
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Mr. Hill, ständigem Untersekretär für die Kolonien: Sir Clement Lloyd Hill (1845– 1913), 1900–1905 Superintendent der afrik. Protektorate des brit. Außenministeriums. Brief ist bereits in Nr. 4 der „Welt“ publiziert: N. bezieht sich auf die 4. Separatausgabe der Welt, die am 27.8.1903 zwecks Berichterstattung über den VI. Zionistenkongress erscheint. Unter dem Titel Eine Erklärung der britischen Regierung erscheint dort ein auf den 14.8.1903 datierter Brief v. Clement Hill an Leopold Jacob Greenberg (1861–1931) (S. 1). Darin übermittelt Hill die positive Haltung des brit. Außenministers (1900–1905) Henry Petty-Fitzmaurice, 5. Marquess of Lansdowne (1845–1927), gegenüber der jüdischen Besiedelung eines geeigneten Landstrichs in Britisch-Ostafrika unter noch auszuhandelnden Bedingungen. Zunächst solle die jüdische Kolonialbank eine Expedition entsenden, um vor Ort in Zusammenarbeit mit brit. Regierungsberatern ein passendes Gebiet zu finden. Frau Prof. Gottheil: Emma Leon Gottheil (1862–1947), Romanistin u. Übersetzerin. Sie tritt in New York insbes. für die Belange jüdischer Frauen ein u. engagiert sich für den Zionismus. Ehefrau Richard James Horatio Gottheils (1862–1936), US-amerikan. Professor für semitische Sprachen, Präsident der American Federation of Zionists (1898–1903) u. Mitglied des Aktionskomitees. Rabbiner Fischel Pines: Fishel Pines (unbek.–1918), weißruss. Rabbiner u. Anhänger der Chibbat Zion-Bewegung. „Goldene Buch“ des Nationalfonds: Ein Jahr nach der Gründung des Jüdischen Nationalfonds 1901 wird als Anreiz für Spenden das „Goldene Buch“ eingeführt. Gegen einen Betrag v. mind. zehn Pfund Sterling (entspricht heute etwa 1.000 brit. Pfund) kann der Spender darin eine Person o. Institution verewigen, welcher eine Urkunde ausgestellt wird. Die Eintragung wird als Ehrung angesehen.
616 Teil II: Kommentar
49 Patriotismus und Zionismus Quelle: ZS1, S. 289–298, dort mit Verweisen auf Quelle und Übersetzung: L'Echo Sioniste, 1903, Nr. 2. Aus dem Französischen.
Patriotismus: → 436 „L'Echo Sioniste“: → 552 Sophismen: → 575 der Vaterlandslosigkeit beschuldigt: → 434 Denunziation: → 468 die Assimilierten: → 431 Renegaten-Niedrigkeit: → 513 Parade-Patriotismus: Parade, lat. paro, dt.: „bereiten“, „ausrüsten“, „verschaffen“, zu span. parár, dt.: „zubereiten“, „zieren“, „schmücken“, zu frz. parade, dt.: „Zurschaustellung“. Bez. für eine Truppenschau bzw. ein prunkvolles Defilee. / Patriotismus → 436. Fetischdienst vor gewissen Symbolen: Lat. facticius, dt.: „nachgemacht“, „künstlich“, frz. fétiche, portug. feitiço, dt.: „Zauber(mittel)“. Gegenstand, dem mag. Kräfte zugeschrieben werden u. dem (zumeist religiös o. sexuell motivierte) Verehrung zuteilwird. dem Ghetto entlaufenen: → 439 Chauvinismus: → 595 Zahl der Juden: Im Zuge der jüdischen Emanzipation während der Frühen Neuzeit wird im Rahmen der Gewährung bürgerl. Rechte in Österreich 1788/89 die Militärpflicht für Juden eingeführt. Jérôme Bonaparte (1784–1860), der jüngere Bruder v. Napoleon I. (Napoleon Bonaparte, 1769–1821), setzt als König v. Westphalen (frz. Royaume de Westphalie) die völlige Gleichberechtigung der Juden durch u. gewährt dadurch freien Zugang zum Staats- u. Militärdienst. Die Gleichberechtigung der Juden in Frankreich führt während der Freiheitskriege zu einer Militärdienstpflicht in den süddt. Staaten u. mit Einschränkungen in Preußen. Seit der Einführung der Militärdienstpflicht kämpfen jüdische Soldaten in allen europä. Kriegen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs mit. Parias: → 506
49 Patriotismus und Zionismus
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Stiefvaterland: Durch den dt. Schriftsteller Berthold Auerbach (eigentl. Moses Baruch Auerbacher, 1812–1882) in seiner Schrift Spinoza. Ein historischer Roman (1837) geprägter Begriff, den N. i. S. v. „Vaterland minderer Güte“ verwendet. Mimikry: → 444 ethnischen Individualität: → 484 vor achtzig Jahren die Philhellenen: Philhellene, griech. φιλέλλην, dt.: „die Hellenen liebend“, „griechenfreundlich“. Der Philhellenismus ist eine aus der Begeisterung für die griech. Antike entstandene paneuropä., christl. geprägte Bewegung während der Griech. Revolution (1821–30), des Krieges um die Unabhängigkeit vom muslim. Osman. Reich, die sich für polit. Ziele der griech. Bevölkerung einsetzt. Zahlreiche Künstler u. Intellektuelle unterstützen den Unabhängigkeitskampf durch Dichtungen, so die dt. Dichter Johann Ludwig Wilhelm Müller (1794–1827) u. Adelbert v. Chamisso (1781–1838), der frz. Schriftsteller Victor-Marie Hugo (1802–1885) u. der brit. Dichter George Gordon Noel Byron (bek. als Lord Byron, 1788–1824). Armenophilen: V. 1894–96 werden unter Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) Massaker an der christl. Bevölkerung der armen. Siedlungsgebiete des Osman. Reiches verübt. Mithilfe der lokalen muslim. Bevölkerung erfolgen Deportationen, Plünderungen u. Ermordungen v. bis über 300.000 Opfern. 1915/16 ereignen sich unter dem jungtürk. Komitee für Einheit und Fortschritt die systemat. Deportation u. der Genozid an den Armeniern mit bis zu 15 Mio. Opfern. Gegen die Ausrottungspolitik im Osman. Reich formiert sich in Europa Widerstand, der dt. Orientalist u. Theologe Johannes Lepsius (1858–1926) gründet 1896/97 als Reaktion auf die Massaker das Armenische Hilfswerk, das Flüchtlingsheime u. Waisenhäuser unterhält. Seine Schrift Armenien und Europa. Eine Anklageschrift (1896) erlebt mit geringfügig verändertem Titel in kurzer Zeit mehrere Auflagen.
618 Teil II: Kommentar
50 Theodor Herzl Quelle: ZS1, S. 389–395, dort mit Verweisen auf Quelle und Übersetzung: L'Echo Sioniste, Juli 1904. Aus dem Französischen. Ferner in: Ost und West, August/September 1904, H. 8–9, Sp. 563– 568.
Nekrolog: Griech. νεκρός, dt.: „tot“, „Leichnam“, u. griech. λόγος, dt.: „Rede“, „Wort“, „Berechnung“. Ein Nekrolog ist ein mit einer kurzen Lebensbeschreibung versehener Nachruf auf einen Verstorbenen. Anwesenheit unseres Freundes Alexander Marmorek: A. M. (1865–1923), österr. Bakteriologe, Serologe u. Zionist. Promotion (1889), Forschungen zur Bedeutung der Lymphknoten bei der Abwehr v. Bakterien, Kontakt mit Louis Pasteur (1822–1895). Berufung auf den Posten des chef de laboratoire des travaux des Instituts Pasteur. Entwicklung eines Serums gegen Strebtokokken (1903). Aktive Unterstützung des polit. Zionismus. M. gehört zu Theodor Herzls (1860–1904) engeren Freunden. „Wenn ich ein Gläubiger wäre“: S. Nachwort. mystisch: → 434 Georges Eliot, deren „Daniel Deronda“: → 478 „Altneuland“: → 599 jüdischen Kolonialbank: → 469 Nationalfonds: → 598 die Liebe, den Rhein und die Wallfahrt zu Unserer lieben Frau von Kevelaar: N. bezieht sich auf die Werke Buch der Lieder (1827), Dreiunddreißig Gedichte (1824, darunter das Gedicht Die Lore-Ley bzw. Lied von der Loreley) u. die Ballade Die Wallfahrt nach Kevelaar (1822) des dt. Dichters u. Journalisten Heinrich Heine (geb. als Harry Heine, 1797–1856). Simson: Martin Eduard v. Simson (1810–1899). Nordau führt die Bez. als „geborenen Präsidenten“ in seinem Text Israel unter den Völkern [Teil 3 von 4] auf Bismarck zurück, der S. 1879 als Reichsgerichtspräsidenten in Leipzig empfiehlt. Apostel: → 504 „L'Echo Sioniste“: → 552
51 Trauerrede auf Herzl
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51 Trauerrede auf Herzl Quelle: ZS1, S. 155–165, dort mit Datierung: Basel, 27. Juli 1905. Ferner als: Die Rede Nordaus, in: Die Welt, 28.7.1905, H. 30 (Separatausgabe), S. 4–8.
Sabbatkongress: Neologismus N.s, Sabbat, hebr. schabbat, dt.: „Ruhen“. Bezug zum in Lev 25,1–7 vorgeschriebenen Sabbatjahr o. Schmittah (dt.: „Ruhejahr“), das analog zum Sabbat nach sechs Arbeitstagen nach sechs Jahren der Bebauung im siebten Jahr ein Ruhejahr für das Ackerland vorsieht. N.s Neologismus betont das siebtmalige Stattfinden des Zionistenkongresses, der ohne Theodor Herzl (1860–1904) stattfinden muss. Estrade: Femininum, v. frz. estrade, dt.: „Podium“, „Katheder“, „Bühne“, v. spätlat. strata, dt.: „Hingebreitetes“, „gepflasterte Straße“, der um eine o. mehrere Stufen erhöhte Bereich des Fußbodens vor einem Fenster, Katafalk o. Thron. schwarzbärtigen Assyrerkopfe: Vermutl. bezieht sich N. auf die bereits im 19. Jh. im Louvre befindl. Exponate aus der assyr. Stadt Dur Šarrukin (nahe Ninive im heutigen Irak). Die abgebildeten Männer weisen eine besonders gepflegte, üppige Haaru. Barttracht auf. Theodor Herzl (1860–1904) lässt sich ab Ende der 1880er Jahre einen wallenden Vollbart stehen; eine der bekanntesten erhaltenen Fotografien zeigt ihn mit langem Bart während des V. Zionistenkongresses 1901 auf dem Balkon des Hotels Drei Könige in Basel mit Blick auf den Rhein. 3. Juli, dem 20. Tammus: Der in der heutigen Form seit dem 10. Jh. gültige jüdische Kalender ist lunisolar, die Jahre werden nach der Sonne, die Monate nach dem Mond berechnet. Das jüdische Kalenderjahr beginnt im Tischri, dem Monat im Herbst, in dem der Überlieferung nach die Genesis vollzogen wurde. In bibl., religiöser Tradition beginnt das Kalenderjahr im Frühjahr mit dem Nisan, dem Monat des Auszugs der Israeliten aus Ägypten. Im religiösen Gebrauch ist dieser Monat der Erlösung bedeutender als der der Schöpfung. Der Tammus ist somit der vierte Monat in religiöser Zählung u. der zehnte in „bürgerl.“ Zählweise; er fällt meist in die gregorian. Monate Juni u. Juli. Der Name T. geht auf den babylon. Hirtengott Tammuz zurück, Gott der Fruchtbarkeit u. des Frühlings u. Gemahl der Ištar. Assimilation: → 431 Mitte der neunziger Jahre: Theodor Herzl (1860–1904) lebt v. 1891–1895 als Korrespondent in Paris. S. Nachwort. Dreyfuskrankheit: → 453 „Tod den Juden!“: → 461 Neuen freien Presse: → 583
620 Teil II: Kommentar
Lustspieldichter: Lustspiel. Im Jahr 1878 siedelt die Familie Herzls v. Pest n. Wien über, wo Th. H. sein Jurastudium aufnimmt, das er 1884 mit der Promotion abschließt. Parallel dazu ist er literarisch tätig. Er schreibt einige Theaterstücke, v. a. Lustspiele: Compagniearbeit (1880), Muttersöhnchen (1885) u. Wilddiebe (1889). Liszt: Franz Liszt (eigentl. Ferencz o. Ferenc, 1811–1886), österr.-ungar. Komponist, Pianist u. Musikpädagoge. Aufgrund seiner Begabung u. brillanten Virtuosität gilt er als einer der bedeutendsten Pianisten des 19. Jh.s. Paganini: Niccolò Paganini (1782–1840), ital. Geiger u. Komponist. Seine überaus virtuose Technik u. sein charakterist. Auftreten machen ihn bereits zu Lebzeiten zu einer Legende. Lord Beaconsfield: Benjamin Disraeli (1804–1881) ist seit 1876 der erste Earl of Beaconsfield. Utopie: → 599 Judas Makkabäus: J. M., jüdischer Freiheitskämpfer aus dem Geschlecht der Hasmonäer im 2. Jh. v. Chr., Todesjahr 161 v. Chr. Der in Syrien ansässige Seleukidenherrscher Antiochos IV. (gest. 164 v. Chr.) verlangt 167 v. Chr. v. den Juden durch Teilnahme an einem heidn. Opfer eine demonstrative Abkehr vom Glauben u. löst damit einen Partisanenkrieg aus. Nach dem Tod seines Vaters Mattatias 167/166 v. Chr. ist J. M. Anführer der Juden im Befreiungskampf gegen die Herrschaft Antiochos IV. 164 v. Chr. nehmen die Aufständischen Jerusalem ein, besetzen den Tempel u. weihen ihn neu. Seither wird das jüdische Fest Chanukka gefeiert. 161 v. Chr. wird der Aufstand blutig v. Statthaltern des Königs Demetrios I. niedergeschlagen u. J. M. wird getötet. auf seinem neunjährigen Leidenswege: Theodor Herzl (1860–1904) verschreibt sich nach dem Ende seiner Korrespondententätigkeit in Paris ab 1895 bis zu seinem Tod 1904 ganz dem Zionismus. Für ihn ausschlaggebend ist die Dreyfus-Affäre; er ist im Januar 1895 bei dessen öffentl. Degradierung zugegen. 1904 wird bei Herzl ein schweres Herzleiden diagnostiziert, das schließl. auch seinen Tod am 3.7.1904 verursacht. Geistesadligen: → 502 „Judenstaat“: → 527 nicht aufgeschnitten: Beim Buchdruck wird nicht jede einzelne Seite für sich gedruckt, sondern mehrere Seiten werden zusammen auf einem größeren Bogen gedruckt, der dann gefaltet u. gebunden wird. Der daraus entstehende Rohblock muss an drei Seiten beschnitten werden, damit sich die Seiten aufblättern lassen. Im 19. Jh. werden Bücher üblicherweise ungeschnitten ausgeliefert, d. h. beim ersten Lesen müssen die Seiten mit einem scharfen Gegenstand aufgeschnitten werden.
51 Trauerrede auf Herzl
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Entwurf der jüdischen Kolonialbank: → 469 hermelinreinen Goldverächters: Das hellweiße Winterfell des Hermelins (auch: Großes Wiesel o. Kurzschwanzwiesel, lat. Mustela erminea) ist mit der charakterist. schwarzen Schwanzspitze aufgrund seiner Farbgebung seit dem frühen Mittelalter ein Symbol der Makellosigkeit u. Reinheit. Hoheitszeichen der Krone o. v. fürstl. o. richterl. Gewalt. Im 19. Jh. wird H. auch vom wohlhabenden Bürgertum getragen. Franken: → 526 Nationalfonds: → 598 blutwenig: → 588 Hauptorgan der Bewegung: → 436 setzte er immer das ganze jüdische Volk als Haben an: → 566 Spinozas immer Brillengläser schleifen: Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, fertigt der Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677) Glaslinsen für Fernrohre, Mikroskope, Lupen u. Brillen. Heinrich Heine (1797–1856) nutzt diesen Umstand in Die romantische Schule (Zweites Buch, Kap. III) für die Herausstellung der Bedeutsamkeit Spinozas. Cincinnatus: Lucius Quinctius Cincinnatus (um 519–430 v. Chr.), röm. Staatsmann, Konsul (460 v. Chr.) u. Diktator (458 u. 439 v. Chr.). C. wird auf Bitten des Senats zum Alleinherrscher ausgerufen, als Rom existenziell durch die Stämme der Aequer, Sabiner u. Volsker bedroht ist. Statt die Machtfülle für einen Ausbau seiner Alleinherrschaft zu nutzen, bleibt C. nur so lange im Amt, wie es zur Abwehr der Gefahr nötig ist, u. führt danach seine Existenz als Bauer weiter. Er gilt seit Titus Livius (um 59 v. Chr.–um 17 n. Chr.) als Muster republikan. Tugend u. Symbol eines sich für das Allgemeinwesen aufopfernden Anführers. N. sieht das Schicksal des jüdischen Volkes darin, dass seine potenziell besten Anführer immer ihrer eigentl. Tätigkeit nachgehen müssen u. sich nicht für das Allgemeinwohl des jüdischen Volkes einsetzen können o. wollen. mystischen Zielsicherheit: → 434 „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“: → 602 Trauerkantate: Kantate, lat. cantatus, dt.: „Gesang“. Mehrteiliges, meist lyrisches Gesangsstück mit Instrumentalbegleitung. Davidschild: → 513 Zionsfahne: → 513
622 Teil II: Kommentar
52 VII. Kongressrede Quelle: ZS1, S. 166–173, dort mit Datierung: Basel, 27. Juli 1905.
VII. Kongressrede: Der VII. Zionistenkongress findet vom 27.7.–2.8.1905 in Basel statt. Auf dem ersten Kongress nach Theodor Herzls (1860–1904) Tod wird der „Uganda“-Plan endgültig verworfen, Palästina wird zum einzigen Ziel der zionistischen Bemühungen erkoren. Krisis: Krise, griech. κρίσις, dt.: „Streit“, „Entscheidung“, „Urteil“. N. meint einen Wendepunkt o. eine Entscheidungssituation. nicht auf zwei Augen steht: Auf zwei Augen stehen, veraltete Redewendung, existentielle Abhängigkeit eines Unterfangens v. einer einzigen Person. Baseler Programm: → 486 großartigen Landangebots: Das v. der brit. Regierung vorgeschlagene „Uganda-Programm“ wird auf dem siebten Zionistenkongress endgültig verworfen. Die zionistischen Organisationen werden dazu verpflichtet, außerhalb v. Palästina keine territorialen Ambitionen zu hegen. Befürworter jüdischer Territorien in Afrika, Asien u. Australien schließen sich 1905 nach dem Zionistenkongress unter Führung des engl. Schriftstellers u. Journalisten Israel Zangwill (1864–1926) in der Territorialistischen Jüdischen Organisation zusammen, die allerdings nicht sehr einflussreich wird. Judenfrage: → 458 Kleinkolonisation: → 469 Sultans: → 490 Chowewe-Zionismus: → 525 vertierten Helfershelfer: Vertiert → 464 i. S. v. „tierisch“, „auf die Lebensstufe eines Tiers gesunken“. N. bez. sich auf die in vielen Fällen bestial. Grausamkeit, mit der Juden in der 2. Hälfte des 19. Jh.s, v. a. ab 1881 in Russland, verfolgt werden. Diese Pogrome gehen oft mit der Billigung u. Unterstützung amtl. Stellen vonstatten. Impresarii: Ital., Sg. impresario, dt.: „Unternehmer“, „Theateragent“, „Leiter eines Opernhauses“. N. verwendet den Begriff als Synonym für hohe Beamte o. wichtige staatl. Funktionäre. Judenwanderung: In den Jahren 1903–1906 kommt es in Russland mit Ermutigung v. Behörden zu verstärkten Pogromen, die eine gesteigerte Auswanderung zur Folge haben. Dabei spielt die antisemitische Hetzschrift Protokolle der Weisen von Zion eine große Rolle, die über angebl. Pläne zur Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft berichtet, in viele Sprachen übersetzt wird u. in großen Auflagen erscheint.
52 VII. Kongressrede
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Auftraggeber ist der Leiter der zarist. Geheimpolizei Ochrana, Pjotr Ivanovitch Rachkovsky (1853–1910). Im ersten Jahrzehnt des 20. Jh.s wird das Pamphlet in mehreren Fassungen vertrieben. Unter Rückgriff auf die antisemitische Weltverschwörungslegende wird ein Zusammenhang mit angebl. geheimen Zusatzprotokollen des I. Zionistenkongresses hergestellt.
624 Teil II: Kommentar
53 Gehet hin und tuet desgleichen… Quelle: Die Welt, 3.8.1906, H. 31, S. 4–6.
Gehet hin: N. überträgt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus dem Neuen Testament, der sich um einen Bedürftigen kümmert, auf die aktuelle polit. Situation, vgl. Lk 10,25–37. Die Episode endet mit der Aufforderung Jesu gegenüber seinem schriftgelehrten Gesprächspartner: „So gehe hin und tue desgleichen!“ Vorsitzende Brisson: Eugène Henri Brisson (1835–1912), frz. Politiker, Justiz- u. Innenminister u. zweimaliger Premierminister Frankreichs (6.4.1885–7.1.1886 u. 28.6.–1.11.1898). Maßgebl. Rolle bei der Aufklärung des Panama-Skandals u. der Dreyfus-Affäre. Kammersitzung vom 13. Juli: Aufgrund zweier Erlasse der frz. Legislative wird am 13.7.1906 Alfred Dreyfus (1859–1935) zum Major u. sein Unterstützer, der frz. Offizier u. Kriegsminister Marie-Georges Picquart (1854–1914), zum Brigadegeneral ernannt. Dreyfus ist damit vollständig rehabilitiert u. wird am 20.7.1906 zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Richterspruch des Kassationshofes: Frz. Cour de cassation, dt.: „Kassationshof“, gegründet 1804. Höchstes frz. Gericht, zuständig für die Überprüfung v. Urteilen auf Rechtsfehler. Falls Fehlurteile aufgedeckt werden, werden diese kassiert, zu frz. casser, dt.: „zerbrechen“, „abrupt stoppen“. „Und Hilsner?“: Der jüdische Schuster Leopold Hilsner (1876–1928) wird in Polná/ Böhmen verdächtigt, das kathol. Mädchen Agnes Hrůzová (1879–1899) ermordet zu haben. Ähnl. wie in der Dreyfus-Affäre wird eine Reihe v. Gerichtsverfahren angestrengt. Am 16.9.1899 wird Hilsner wg. eines fehlenden Alibis zum Tode verurteilt. Dieses Urteil wird am 25.4.1900 durch den Prager Kassationshof aufgehoben. Am 14.11.1900 wird H. wg. eines zurückliegenden Mordes unschuldig erneut zum Tode verurteilt (Kuttenberg und Pisek). Am 11.6.1901 wird dieses Urteil durch Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916) in lebenslange Haft umgewandelt, erst 1918 wird Hilsner aus der Haft entlassen. Eine Rehabilitierung findet nicht statt. Österreich hat gleichfalls seinen Dreyfus: → 453 dem kurzen 120-Geschütze: N. bezieht sich auf das Steilfeuergeschütz Mörser, ein schweres Geschütz, das mit einem großkalibrigen, aber kurzen Rohr ausgestattet ist u. optisch einem Mörsergefäß ähnelt. der hydropneumatischen Bremse: Griech. ὕδωρ, Gen. ὕδατος, dt.: „Wasser“, u. griech. πνευματικός, dt.: „zum Hauch gehörig“. Bremse, bei der eine Flüssigkeit u. zusätzl. eingeschlossene Luft zum Auffangen des Rückstoßes der Geschütze benutzt wird. Das sog. bordereau, an dem sich die Dreyfus-Affäre entzündet, kündigt die
53 Gehet hin und tuet desgleichen…
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Übermittlung geheimer Dokumente u. a. zur Funktionsweise der hydropneumat. Bremse der 120 mm-Geschütze an. dem „kutsch“ und „gabarit“ Bertillons: Ein Kutsch, auch Dreikant o. Prismenmaßstab, ist ein im Querschnitt dreistrahlig-sternenförmiges Lineal mit sechs unterschiedl. Maßstabsskalen. Ein Gabarit ist eine Schablone zur Entfernungsmessung. Beide Geräte finden in der Artillerie beim Vermessen v. Abständen auf Landkarten Einsatz. / Alphonse Bertillon (1853–1914), frz. Kriminalist u. Anthropologe. Im Prozess gegen Alfred Dreyfus (1859–1935) tritt er nach der Untersuchung des fragl. bordereaus (frz., dt.: „Zettel“, „Beleg“) als grafolog. Gutachter auf, obwohl er auf dem Gebiet des Schriftvergleichs nachweisl. über keine Erfahrung verfügt. Dabei verwendet er K. u. G. als Messinstrumente. Selbst nach der vollständigen Rehabilitierung Dreyfus' u. der Verurteilung der wahren Schuldigen beharrt er auf seiner Version. zu Ritualzwecken: → 472 Cornély: Jules Cornély (1845–1907), frz. Journalist. Chefredakteur der Tageszeitungen Le Gaulois, Le Clairon u. Le Figaro. Eintreten für die Wiederaufnahme des Verfahrens in der Dreyfus-Affäre. Verfasser v. Notes sur l'affaire Dreyfus (1899). glänzender Generalstabsoffizier: Hauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) wird 1893 in den frz. Generalstab versetzt. Atridengeschick: → 606 Teufelsinsel: Teufelsinsel, frz. Île du Diable, ist die nördlichste u. kleinste der Inseln des Heils, frz. Îles du Salut, vor der Küste v. Französisch-Guayana im Norden Südamerikas. Sie dient dem frz. Staat als Strafkolonie für Schwerverbrecher (1852– 1946). Alfred Dreyfus (1859–1935) ist nach der unbegründeten Verurteilung wg. Hochverrats der prominenteste Häftling (1895–1899). Ära Windisch-Graetz: Alfred Candidus Ferdinand Fürst zu Windisch-Graetz (1787– 1862), österr.-ungar. Feldmarschall u. kaiserl. Oberkommandeur. Bedeutende Rolle bei der Niederschlagung der Revolution v. 1848/1849 in Österreich, dem gewaltsamen Ende des Prager Pfingstaufstandes (12.–17.6.1848) u. des Wiener Oktoberaufstandes (26.–31.10.1848). Haynau: Julius Jakob Freiherr v. Haynau (1786–1853). Als Feldzeugmeister Nachfolger v. Windisch-Graetz als Oberkommandierender in Ungarn. Auf seinen Befehl hin werden der ungar. Ministerpräsident u. dreizehn Generäle hingerichtet (6.10.1849), was ihn zur Hassfigur großer Teile des Bürgertums macht. von Sylvio Pellico melodramatisierten Spielbergs: → 483 André Lebon: A. L. (1859–1938), frz. Hochschullehrer an der École libre des sciences politiques u. Ministre des Colonies (1896–1898). Leidenschaftl. Einsatz für den Ausbau u. die Festigung der frz. Kolonien in Westafrika.
626 Teil II: Kommentar
Maître Mornard: Henry Mornard (1859–1928), frz. Jurist u. Advokat. Anwalt v. Alfred Dreyfus' (1859–1935) Ehefrau Lucie-Eugénie Dreyfus (1869–1945) im Bemühen um die Aufhebung des Urteils gegen A. Dreyfus v. 1894 u. Dreyfus' Rechtsbeistand in der Revision des zweiten Urteils v. 1899. Herr Demange: Edgar Demange (1841–1925), frz. Jurist. Verteidiger v. Alfred Dreyfus (1859–1935) während der Prozesse 1894 u. 1899. D. ist nach dem Studium des Falles v. der Unschuld Dreyfus' überzeugt u. übernimmt die Verteidigung trotz seiner großen Loyalität gegenüber der Kathol. Kirche. Israeliten: → 444 Erklärung der Menschenrechte: → 471 Dreifusaffäre: → 453 General de Bonnefond: Pierre de Bonnefond (Lebensdaten unbek.), frz. General. Mündl. Prüfer v. Dreyfus (1859–1935) bei der Abschlussprüfung für die Aufnahme in den Generalstab, der ihm mit der Begründung, Juden seien im Generalstab unerwünscht, schlechte Zensuren erteilt. Christenblut zu Kultuszwecken: → 472 Tisza-Eszlar: → 538 Xanten: → 538 Konitz: → 538 Kuttenberg und Pisek: Leopold Hilsner (1876–1928) wird 1899 in Kuttenberg (tschech. Kutná Hora) zum Tode verurteilt. Nach dem Berufungsurteil wird er am 14.11.1900 in Pisek erneut verurteilt. Ihm wird nunmehr fälschlich der Mord an Marie Klímová (unbek.–27.10.1898) zur Last gelegt. Simon von Trient: Ab Gründonnerstag 1475 (23.3.1475) wird in Trient das Kleinkind Simon (um 1472–1475) vermisst u. am Karsamstag nahe des Grundstücks eines Juden tot aufgefunden. Unter der Folter bestätigen einige der angeklagten Juden, dass sie für das gleichzeitige Pessachfest Christenblut benötigen. Nach der Ermordung der angeklagten Juden entwickelt sich ein geschäftiger Kult um Simon, der v. Papst Gregor XIII. (geb. als Ugo Boncompagni, 1502–1585) seliggesprochen wird u. bis zum 28.10.1965 als Beispiel für einen vermeintl. Ritualmord kultisch verehrt wird. Dorfe Polna: → 538 Vernichtung aller Errungenschaften der großen Revolution: → 471 Aufklärung: → 471 „Ich klage an“: → 472
53 Gehet hin und tuet desgleichen…
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Verfasser der „Rougon-Macquarts“: → 472 „Aurore“: → 473 Dr. Bulowa: Dr. Josef Adolf Bulova (1840–1903), tschech. Mediziner. Zusammen mit dem tschech. Publizisten, Politiker u. späteren Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) stellt B. die gerichtsmediz. Gutachten, die zur Verurteilung Leopold Hilsners (1876–1928) führen, in Frage u. weist statt eines vermeintl. Ritualmordes mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Familienverbrechen nach. Autor der beiden Schriften Zum Polnaer Ritualmordprocess im Stadium vor dem zweiten Urteile. Ein Brief an die Herren Professoren der gerichtlichen Medicin, Juristen und an alle ehrlichen Menschen überhaupt (1900) u. Die Polnaer Verbrecher: ein Sittenbild aus Oesterreichs jüngster Vergangenheit (1901). Mörder der Hruza: N. meint das ermordete Mädchen Agnes Hrůzová (16.4.1879– 29.3.1899). Dr. Arthur Nußbaum: A. N. (1877–1964), bedeutender dt., später US-amerik. Jurist. Autor der Studie Der Polnaer Ritualmordprozeß. Eine kriminalpsychologische Untersuchung auf aktenmässiger Grundlage. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Franz von Liszt (1906). bis jetzt fünfbändigen „Histoire de l'affaire Dreyfus“: Joseph Reinach (1856–1921), Histoire de l'Affaire Dreyfus (7 Bde., 1901–1911): Vol. 1. Le procès 1894, Vol. 2. Esterhazy, Vol. 3. La crise. Procès Esterhazy – Procès Zola, Vol. 4. Cavaignac et Felix Faure, Vol. 5. Rennes, Vol. 6. La revision, Vol. 7. Index géneral. Dr. Friedrich Elbogen: Friedrich Elbogen (1854–1909), österr. Jurist, Gerichts- u. Hofadvokat. In seiner Broschüre Die rote Robe kritisiert E. die Methoden der Untersuchungsrichter im Fall Hilsner, was v. Karl Kraus in Die Fackel (III., Nr. 75, Ende April 1901, S. 1) krit. kommentierend dargestellt wird. „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“: → 602 de Pressensé: Francis Charles de Hault de Pressencé (1853–1914), frz. Journalist, protestant. Geistlicher u. Politiker. 1903–1914 Präsident der Ligue des Droits de l'Homme (gegründet 1898). Langjährige Mitarbeit im Ressort Außenpolitik bei der Tageszeitung Le Temps u. Leitung der liberalen Tageszeitung L'Aurore, in der u. a. der bedeutende Artikel J'accuse …! erscheint. Obergerichtspräsident Krall: Dr. Carl Ritter v. Krall (Lebensdaten unbek.), österr. Jurist. K. u. k. Geheimer Rath, Oberlandesgerichts-Präsident u. Mitglied des Reichsgerichts. Befürworter des Revisionsverfahrens im Fall Hilsner. Sittlichkeit: → 440 vertiert: → 464
628 Teil II: Kommentar
Urteil von Pisek nach dem von Kuttenberg: → 626 in seinem Blute daliegende, niedergehauene Lindwurm: L. v. mhd. lintwurm, v. ahd. lint, dt.: „Schlange“, „Drache“, u. ahd. wurm, dt.: „Wurm“, „Schlange“, drachenartiges, aber ungeflügeltes Fabelwesen aus der german. Mythologie, u. a. unter dem Namen Fafnir (altnord., dt.: „Umarmer“, „Greif“). In Richard Wagners (1813–1883) Adaptation des Mythos in der Tetralogie Der Ring des Nibelungen (UA 1869–1876) heißt der Riese Fafner u. verwandelt sich nach dem Raub des Rheingoldes in einen gigant. Lindwurm. Siegfried tötet den Wurm u. nimmt den Hort an sich. mit 52 Jahren Divisionär: Am 12.7.1906 wird mit der endgültigen Rehabilitierung Dreyfus' der frz. Militär Marie-Georges Picquart (1854–1914) zum général de brigade u. 1906 zum général de division ernannt. Beisetzung im Pantheon: Die Gebeine des bedeutenden frz. Schriftstellers Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840–1902) werden auch wg. seiner verdienstvollen Rolle bei der Rehabilitierung Dreyfus‘ aufgrund eines Dekrets der Regierung unter Georges Benjamin Clemenceau (1841–1929) in die nationale Ruhmeshalle Frankreichs, das Panthéon, überführt. „Gazette de France“: La Gazette (auch: Gazette de France), ab dem 30.5.1631 wöchentl. erscheinende Zeitschrift in Frankreich. Der Gründer u. erste Hrsg. Théophraste Renaudot (1586–1653) ist als der Begründer des modernen Journalismus anzusehen. Während der Dreyfus-Affäre veröffentlicht die Gazette de France den Artikel Le premier sang de l'affaire Dreyfus des frz. antisemitischen Hetzers Charles Maurras (1868–1952), in dem der Chef der frz. Spionageabwehr, Joseph Hubert Henry (1846–1898), nach dessen Suizid in Folge der Aufdeckung seiner Beweisfälschungen zum unschuldigen Opfer stilisiert wird. „Croix“: → 516 „Libre Parole“: → 516 „Eclair“: L'Ouest-Éclair, konservative, regionale Tageszeitung (1899–1944) mit dem lokalen Schwerpunkt im Westen Frankreichs. Seine stärksten Auflagen erreicht das Blatt während der Dreyfus-Affäre. Richter Delegorgue: Der frz. Autor Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840–1902) wird im Zuge der Dreyfus-Affäre 1898 vom frz. Kriegsminister verklagt. Das Verfahren, das die Rechte der Verteidigung konsequent missachtet, wird v. dem vorsitzenden Richter Albert Delegorgue mit den redensartl. gewordenen Worten „La question ne sera pas posée“ (dt.: „Diese Frage wird nicht gestellt werden.“) eröffnet. Périvier: Samuel Périvier (1828–1902), frz. Jurist. Vorsitzender Richter am Berufungsgericht in Versailles.
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von Cassel: Edmond van Cassel (1848- nach 1916), frz. Jurist. Generalstaatsanwalt im Prozess gegen Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840–1902). V. dem frz. Journalisten Joseph Reinach (1856–1921) wird C. als „mürrisch und brutal“ charakterisiert. Auffray: Jules Auffray (1852–1916), frz. Jurist, Politiker u. Rechtsanwalt während der Dreyfus-Affäre. Anhänger des Boulangismus, Angehöriger der groupe républicain nationaliste u. Anti-Dreyfusard. Cernucky: Eugène Lazar de Cernuchy-Lazarovich (auch: Edler v. Černucky bzw. Cernuschi-Lazarovich), k. u. k. Kavalerie-Offizier. Am 4.–5.9.1899 wird C.-L. als Zeuge vernommen. Er behauptet, bereits 1894 v. der Spionage-Tätigkeit Dreyfus' gewusst zu haben. Als zusätzl. Zeugen werden der preußische Militärattaché General der Infanterie Maximilian Friedrich Wilhelm August Leopold v. Schwartzkoppen (1850– 1917) u. der ital. Militärattaché Major Alessandro Panizzardi (1853–1928) angeführt, die kein Interesse an einer Dreyfus (1859–1935) entlastenden Wahrheitsfindung haben. Guérin: Jules Guérin (1860–1910), frz. Journalist u. antisemitischer Hetzer. Mitbegründer u. Anführer der Ligue antisémitique de France (1889), die der Ligue des Patriotes nahesteht. Herausgabe der Wochenschrift L'Antijuif (dt.: „Der Antijude“). G. hetzt während des Verfahrens des Berufungsgerichtes gegen Alfred Dreyfus (1859– 1935) u. Émile Zola (1840–1902). Patriotismus: → 436 vaterlandslose Gesellen: → 501 Anarchisten: → 476 Rabulistik: V. lat. rabula, dt: „Phrasendrescher“, „Haarspalter“, zu lat. rabere, dt.: „toben“, sachl. fragwürdige Rechthaberei. Houston Chamberlain'sche: Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), engl. Schriftsteller u. Förderer pangerman., antisemitischer u. rassistischer Gedanken. Mehrere Veröffentlichungen zu Immanuel Kant (1724–1804), Johann Wolfgang v. Goethe (1749–1832) u. v. a. zu Richard Wagner (1813–1883). Bedeutend für die Verbreitung seines rassischen Antisemitismus ist das Werk Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899). Gobineau'sche Faseleien: Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882), frz. Publizist u. Diplomat. Mehrere einflussreiche Schriften über die vermeintl. Überlegenheit der „arischen Rasse“, v. a. Essai sur l'inégalité des races humaines (4 Bde., 1853–1855). Bulowas Schriften: → 627
630 Teil II: Kommentar
„Justitia regnorum fundamentum“ am äußeren Burgtore: Lat., dt.: „Gerechtigkeit ist die Grundlage der Königreiche“. Der Spruch ist die Devise v. Kaiser Franz II. v. Habsburg-Lothringen (1768–1835), 1792–1806 letzter Kaiser des Heiligen Röm. Reiches Deutscher Nation u. unter dem Titel Franz I. 1804–1835 erster Kaiser v. Österreich. Inschrift am Äußeren Burgtor in Wien N. Fr. Pr.: → 583
54 VIII. Kongressrede
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54 VIII. Kongressrede Quelle: ZS1, S. 174–187, dort mit Verweis und Datierung: Haag, 14. August 1907. Ferner in: Die Welt, 15.8.1907, Sonderheft, S. 1–4.
VIII. Kongressrede: Der VIII. Zionistenkongress findet vom 14.–21.8.1907 in Den Haag unter dem Vorsitz v. David Wolffsohn (1856–1914) u. N. statt. assimilieren: → 431 Schekel: → 490 Fanatismus: → 453 Asiatentum: → 601 Ghettoabsperrung: → 439 anthropologischer: → 429 Hottentotten: Sg. Hottentotte, v. afrikaans hottentots, dt.: „Stotterer“; die v. zahlreichen Klick- u. Schnalzlauten geprägten südwestafrikan. Sprachen werden v. europä. Einwanderern als Stottern empfunden. V. den Buren während der Kolonialzeit verwendete Sammelbez. für die im heutigen Südafrika u. Namibia lebende Völkerfamilie der Khoikhoin (dt.: „Mensch-Menschen“). Die Bez. H. ist diskriminierend u. abwertend-rassistisch für Menschen mit angebl. gering ausgeprägten intellektuellen Fähigkeiten u. unterlegener Kultur gemeint. Papuas: Sg. Papua, malaiisch puwah-puwah bzw. papuwah, dt.: „gekräuselt“, „krauses Haar“. Bez. für die Bevölkerung auf Neuguinea u. auf einigen umliegenden Inseln (Salomonen, Halmahera, Timor). N. irrt somit, wenn er die P. in Australien ansiedelt. Euphrat: Der E. ist der längste Strom Vorderasiens, mit dem Quellfluss Murat zusammen 3380 km lang. Er fließt vom Hochland Anatoliens durch die heutigen Staaten Türkei, Syrien u. Irak bis zum Schạttal-Ạrab, dem gemeinsamen Mündungsdelta v. E. u. Tigris am nördl. Pers. Golf. N. sieht den E. als außerhalb des europä. intellektuellen u. eth. Einflussbereichs. „My house is my castle.“: Engl. Redensart. Der engl. Jurist u. Politiker Sir Edward Coke (1552–1634) schreibt in seiner Sammlung engl. Gesetze u. Gerichtsbeschlüsse (engl. institutes, dt.: „Institute“) über das Recht eines Hausbesitzers auf Notwehr u. Einsatz v. Waffengewalt im Falle eines Angriffs: „[…] for a man's house is his castle“ (3rd Institute, cap. 73, dt.: „[…] denn eines Mannes Haus ist seine Burg“). Seit Coke im Engl. ein weitverbreitetes Sprichwort für die Wichtigkeit des Schutzes der Privatsphäre.
632 Teil II: Kommentar
völkerpsychologische: → 443 demagogisches Buhlen: Demagogisch, griech. δῆμος, dt.: „Volk“, u. griech. ἄγω, dt.: „führen“. Patriotismus: → 436 Denunzianten: → 468 Bramarbasreden: Bramarbas, Etym. unklar, evtl. v. span. bramar, dt.: „toben“, „wüten“, „brüllen“. Br. i. S. v. „feiger Prahlhans“, „Aufschneider“. Der Name taucht erstmals 1710 in dem anonymen Gedicht Cartell des Bramarbas an Don Quixote auf. Johann Christoph Gottsched (1700–1766) betitelt seine Übersetzung des Lustspiels Jacob von Tyboe (1723, dän. Jacob von Tyboe eller Den stortalende Soldat) des norweg.-dän. Schriftstellers Ludvig Baron Holberg (1684–1754) Bramarbas oder der großsprecherische Offizier (1741). Daher auch bramarbasieren für „sich rühmen“, „viel Aufhebens machen“, „protzen“. demographischen Verhältnisse: → 585 scheel: Lat. scelus, dt.: „Verbrechen“, „Frevel“, „Bosheit“, mndd. schel(e), dt.: „schielend“, auch ahd. skelah, mhd. schelch, dt.: „schief“, „schräg“. Die Bez. ist im Deutschen auf eine Schiefstellung der Augen übergegangen: Ein sch. Blick drückt eine auf Neid, Missgunst o. Missachtung beruhende Ablehnung o. Feindseligkeit aus. Zerstreuung: → 424 Tiftler: Nomen agentis Tiftler bzw. Tüftler zu tifteln bzw. tüfteln → 571 „Was ist des Deutschen Vaterland?“: Des Deutschen Vaterland ist ein 1813 v. dem dt. Schriftsteller u. Frankfurter Nationalversammlungs-Abgeordneten Ernst Moritz Arndt (1769–1860) verfasstes u. 1814 in Berlin uraufgeführtes Gedicht u. Lied. Die originale Melodie setzt sich nicht durch, die im 19. Jh. bekannteste Vertonung ist die 1825 v. dem dt. Komponisten Gustav Reichardt (1797–1884) geschriebene. 1826 wird das Lied in einer Sammlung v. Männerquartetten veröffentlicht, es etabliert sich zunehmend als Nationallied der Einigungsbewegung. In den zehn Strophen des Textes stellt Arndt die Deutsche Frage u. fordert schließl. einen großen dt. Nationalstaat. Strophe 1: „Was ist des Deutschen Vaterland? / Ist's Preußenland? Ist's Schwabenland? / Ist's, wo am Rhein die Rebe blüht? / Ist's, wo am Belt die Möwe zieht? / O nein, nein, nein! / Sein Vaterland muss größer sein!“; Strophe 10: „Das ganze Deutschland soll es sein! / O Gott vom Himmel sieh darein / Und gib uns rechten deutschen Mut, / Dass wir es lieben treu und gut! / Das soll es sein! Das soll es sein! / Das ganze Deutschland soll es sein!“ Camille Desmoulins: Benoît Camille Desmoulins (1760–1794), frz. Rechtsanwalt, Journalist u. Anführer der Frz. Revolution. Er löst mit einem leidenschaftl. Aufruf
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am 14.7.1789 den Sturm auf die Bastille mit aus. Anfangs ein Vertreter eines radikalen Kurses. Nach seiner Verurteilung durch das führende Mitglied der Jakobiner Maximilien Marie Isidore de Robespierre (1758–1794) wird er 1794 gemeinsam mit dem Leiter des ersten Wohlfahrtsausschusses Georges Jacques Danton (1759–1794) hingerichtet. „Im Jahre 1789“: Übersetzung N.s aus dem frz. Original: „Nous n'étions peut-être pas à Paris dix républicains le 12 juillet 1789.“ (Camille Desmoulins, OEuvres. Recueillies et publiées d’après les textes originaux augmentées de fragments inédits, de notes et d'un index et précédées d'une étude biographique et littéraire, hrsg. v. Jules Claretie, Paris 1874, S. 309.) Thomas Payne: Thomas Paine (geb. als Thomas Pain, 1737–1809), engl.-amerik. Polit. Theoretiker, Publizist u. Politiker. Durch vielbeachtete Flugschriften unterstützt er maßgebl. den Gedanken der Unabhängigkeit der amerik. Kolonien vom engl. Mutterland. Er wird zu den ‚Gründervätern‘ der Vereinigten Staaten gezählt. Seine aufklärer. Schriften rechtfertigen die Ideale der Frz. Revolution, The crisis (16 Hefte, 1776–83) u. Rights of man (2 Bde., 1791–92). „Common sense“: Common Sense; Addressed to the Inhabitants of America (dt.: „Gesunder Menschenverstand; gerichtet an die Einwohner Amerikas“) ist eine polit. Streitschrift v. Thomas Paine, die dieser am 10.1.1776 zunächst anonym veröffentlicht u. die in einer Gesamtauflage v. ca. 500.000 Exemplaren großen Einfluss auf den Verlauf der Amerikan. Revolution u. die spätere Unabhängigkeitserklärung hat. blutwenig: → 588 Wolffsohn: David Wolffsohn (1856–1914), litauischer Kaufmann, führender zionistischer Politiker, 1905 Vorsitzender des Engeren Aktionskomitees des Zionistenkongresses u. Nachfolger Theodor Herzls (1860–1904) als Präsident (1905–1911) der Zionistischen Organisation. Als Kaufmann im Holzhandel wohlhabend geworden, macht er 1896 persönl. Bekanntschaft mit Herzl u. wird zu einem sehr engen Vertrauten. 1898 Mitglied der Delegation, die Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) auf seiner Nahostreise in Palästina trifft. 1899 Beteiligung an der Gründung der Jüdischen Kolonialbank, die er bis zu seinem Tod leitet. Anglo-Palestine Company: Anglo Palestine Company. Theodor Herzl (1860–1904) regt 1897 die Gründung einer Jüdischen Kolonialbank an, die unter dem Namen Jewish Colonial Trust (JCT) 1899 in London registriert wird. Als Tochtergesellschaft wird am 27.2.1902 in London v. Herzl u. anderen Mitgliedern der zionistischen Bewegung die A. P. C. gegründet. Ihre Aufgabenbereiche sind die Förderung u. der Ausbau v. Industrie, Gebäuden, Landwirtschaft u. Infrastruktur in Palästina. Nationalfonds: → 598 Kokarde: → 610
634 Teil II: Kommentar
ethnischen Individualität: → 484 Programms: → 486 Imponderabilien: → 602 Sittlichkeit: → 440 ins weltpolitische Stadium treten: Der Zionismus ist seit seinen Anfängen ein weitgehend theoret. u. utop. Konstrukt, welches durch Theodor Herzls (1860–1904) Schrift Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage (1896) erneut und nachdrücklich nach Realisation verlangt. Judenfrage: → 458 Justitia regnorum fundamentum!: → 630. Vgl. auch das Epigramm des österr. Schriftstellers Franz Grillparzer (1791–1872) aus dem Jahre 1840: „Justitia regnorum fundamentum, / Ein schöner Spruch und doch ein böser Witz. / Justitia im Munde der Gemeinheit / Heißt nicht Gerechtigkeit, heißt nur Justiz.“ Haag: → 521 als einen platonischen ansehen: Adj. platonisch i. S. v. „rein geistig“, „v. sinnl. Interessen frei“, vgl. → 526. N. verwendet den Begriff als gesteigertes Synonym zu theoretisch. Friedenskonferenz: → 521 fohistischen, freidenkerischen: Fohismus, frühe buddhistische Lehre des Fohi. Fünf Umwandlungen in den Vorgängen des Lebens werden erkannt, während derer alle Elemente ineinander übergehen u. sich gegenseitig wieder aufheben. Aus diesem Kreislauf wird eine gelassene u. gleichmütige Haltung gegenüber dem Leben abgeleitet. N. verwendet die Begriffe ‚Buddhismus‘ u. ‚Fohismus‘ synonym. / Freidenker → 497. in die Weltwirtschaft einzubeziehen: Vermutl. bezieht sich N. auf den Kolonialismus (lat. colo, dt.: „bauen“, „pflegen“, „ehren“, u. lat. colonia, dt.: „Pachtgut“, „Ansiedlung“), eine auf Erwerb durch Eroberung, Ausbeutung u. Erhaltung fremder Gebiete gerichtete Politik. Vom 15. bis Mitte des 20. Jh.s v. a. v. europä. Staaten, den USA u. Japan betriebene Expansionspolitik gegenüber Ländern u. Völkern in Afrika, Südostasien u. Mittel- u. Südeuropa. Während des Imperialismus im letzten Viertel des 19. Jh.s entwickelt der K. seine bedeutendste weltweite Ausprägung. ottomanische: → 610
55 Reden Dr. Nordaus und Dr. Marmoreks
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55 Reden Dr. Nordaus und Dr. Marmoreks Quelle: Die Welt, 15.11.1907, H. 46, S. 13–14.
Dr. Marmoreks: Gemeint ist Alexander Marmorek → 618. Dr. Simon Ginsburg: Lebensdaten unbek. In der 3. Separatausgabe der Welt zum VII. Zionistenkongress, publ. am 18.8.1907, wird er auf einer Anwesenheitsliste geführt, als Wohnort wird St. Denis angegeben. den Worten de Pintos: Aaron Adolf de Pinto (1828–1908), niederl. Jurist. Hoher Staatsbeamter des niederl. Justizministeriums (1862–1876), ab 1876 Mitglied des Obersten Gerichtshofs, ab 1903 dessen Vizepräsident. Er treibt ab 1865 die Abschaffung der Todesstrafe in den Niederlanden voran. Jahrelang Vorsitzender der 1850 v. seinem Bruder Abraham de Pinto (1811–1878) gegründeten Maatschappij tot nut der Israëliten in Nederland (niederl., dt.: „Gesellschaft zum Nutzen der Juden in Holland“). In zahlreichen Publikationen stellt d. P. die Rechtswidrigkeit des DreyfusProzesses in Frankreich heraus. Er eröffnet 1907 den VIII. Zionistenkongress in Den Haag. Territorialismus: Bezogen auf den Zionismus meint T. das v. weiteren zionistischen Zielen unabhängige Streben nach einem autonomen jüdischen Siedlungsgebiet an einem geeigneten Ort auf der Welt (d. h. nicht zwangsläufig Palästina). Der Begriff wird ab dem VI. Zionistenkongress (1903), auf dem der „Uganda“-Plan diskutiert wird, zum Schlagwort. Nach der Ablehnung des Vorhabens auf dem VII. Zionistenkongress 1905 wird er Leitgedanke der Jewish Territorial Organisation. Vor der Rückkehr ins Judenland: Ausspruch Theodor Herzls (1860–1904) auf dem I. Zionistenkongress: „Der Zionismus ist die Heimkehr zum Judentum noch vor der Rückkehr ins Judenland“ (vgl. Protokoll des I. Zionistenkongresses in Basel vom 29.3–1. August 1897, Wien 1898, S. 5). die Praktischen: → 426 Agrarbank: In der Geschichte der Zionistischen Organisation wird wiederholt die Gründung einer Agrarbank diskutiert, die jüdischen Siedlern günstige Landwirtschaftskredite gewähren soll. Insbesondere die russ. Zionisten agitieren nach einer Reform der osman. Bodengesetzgebung 1913 für die Schaffung einer solchen Institution, die jedoch nicht erfolgt. Die neuen osman. Kataster- u. Hypothekengesetze werden nur schleppend umgesetzt. unser Nationalfonds, unsere Bank: → 469, → 598 die Palästina-Kommission: Auf dem VI. Zionistenkongress wird, auch auf Druck der Gegner des „Uganda“-Plans, die Kommission zur Erforschung Palästinas eingesetzt, die die prakt. Bedingungen für Landwirtschaft u. Siedlung in Palästina untersuchen
636 Teil II: Kommentar
soll. Ihr gehören u. a. Franz Oppenheimer (1864–1943) u. der dt. Botaniker u. spätere Präsident der Zionistischen Organisation (ab 1911) Otto Warburg (1859–1938) an. politischen Zionismus: → 426 Charterismus: → 598 Baseler Programm: → 486 Alle Wege führen nach Rom: Seit 1700 im Deutschen gebräuchl. Sprichwort i. S. v. „es existiert nicht nur eine Handhabe, ein gestelltes Problem zu lösen“. jüdischen Territoriums in Ostafrika: → 614 Uganda: → 608 Zion: → 426 Kolonialbank: → 469 Anglo Palestine Company: → 633 rein platonisch: → 634 Chalukaempfänger: Hebr. Chalukka, dt.: „Verteilung“. Finanzielle Zuwendungen an verarmte o. fromme Juden in Palästina durch wohlhabende Einzelpersonen o. Gemeinden in der Diaspora. Bereits seit dem 2. Jh. n. Chr. üblich, erlangt die Ch. im 19. Jh. besondere Bedeutung für die Unterstützung jüdischer Wiederansiedlungen in Palästina. ökonomischen Bedingungen: → 486 Francs: → 526 Utopisten: → 599
56 Epigramme
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56 Epigramme Quelle: ZS1, S. 397–398. Ferner in: Hebräische Melodien. Eine Anthologie. Hg. v. Julius Moses, Berlin/Leipzig 1907.
Sophismus: → 575 Prälat: Lat. praeferro, PPP praelatus, dt.: „zur Schau tragen“, „offenbaren“, „den Vorzug geben“, geistl. Würdenträger der christl. Kirchen. Freiherrn Cohn: Baron Moritz v. Cohn (1812–1900), dt. Privatbankier. Als Inhaber einer Privatbank wird C. zum Hofbankier der anhaltinischen Herzöge u. zum Verwalter des Privatvermögens des damaligen Kronprinzen u. späteren preuß. Kaisers Wilhelm I. (1797–1888). Wg. seiner kapitalstarken Bemühungen als Finanzier der sich entwickelnden Eisenbahninfrastruktur wird er in den erbl. Adelsstand aufgenommen. Israels: → 444 Schlachtlied der Deborah: Debora, hebr., dt.: „Biene“. Richterin u. Prophetin. Das sog. Deborah-Lied (Ri 5,1–31), einer der ältesten Psalmen der Bibel, besingt den Sieg über die Kanaaniter. Ri 5,2–3: „Lobet den HERRN, dass man sich in Israel zum Kampf rüstete und das Volk willig dazu gewesen ist. Hört zu, ihr Könige, und merkt auf, ihr Fürsten! Ich will singen, dem HERRN will ich singen, dem HERRN, dem Gott Israels, will ich spielen.“ Menorah: Menora, siebenarmiger Leuchter, Teil des Kultgerätes des Stiftszeltes, hebr. Mischkan. Die M. steht im Zweiten Tempel u. gilt nach dessen Zerstörung (70 n. Chr.) u. ihrem Raub durch Kaiser Titus (39–81 n. Chr.) heute als verschollen. Die M. als Lebens- u. Lichterbaum ist ein häufiges Motiv der jüdischen Kunst u. symbolisiert mit anderen Tempelgeräten den Dritten Tempel der messian. Zeit u. somit die Hoffnung auf den Messias. Schames / der Arme sieben: Schammes bez. den Synagogendiener, der dem Vorsteher des Gottesdienstes zur Seite steht u. das Synagogengebäude überwacht. Er fungiert auch als Vollstreckungsbeamter des Gerichts. Oftmals wird der Beruf, der häufig vom Vater an den Sohn weitergegeben wird, v. gelehrten Männern ausgeübt, dennoch wird der Begriff Sch. auch abschätzig verwendet. / Die sieben Arme beziehen sich auf die Menora. Ghetto: → 439
638 Teil II: Kommentar
57 Fernbeben Quelle: ZS1, S. 346–352, dort mit Verweis auf die Quelle: Die Welt, 1908 (= Die Welt, 15.4.1908, H. 16, S. 6–7).
Dr. Bródy: Sigmund Brody, ungar. Bródy Zsigmond (1840–1906), ungar. Jurist, Journalist u. Abgeordneter des ungar. Parlaments. Grafen Apponyi: Graf Albert Apponyi v. Nagy-Apponyi (1846–1933), ungar. Politiker u. Parlamentarier. Ab 1880 Anführer der vereinten Opposition aller Parteien, die den Österreichisch-Ungarischen Ausgleich (1867) ablehnen, durch den verfassungsrechtl. die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn geschaffen wird. Ungar. Minister für Kultus u. Unterricht v. 8.4.1906–17.1.1910 u. v. 15.6.1917–8.5.1918. Baron Barkóczy: Baron Sándor Barkóczy, ungar. Barkóczy Sándor (1857–1925), ungar. promovierter Jurist, Ministerialrat u. Berater im Bildungsministerium. Tiefe Verbundenheit mit dem kathol. Glauben. Zivilehe: Ehe, die vor u. v. einem Standesbeamten geschlossen wird, hier im Gegensatz zur kirchl. Trauung. Magyaren: → 592 Judapest: Wg. des hohen jüdischen Bevölkerungsanteils in Budapest (um 1910 etwa 25 %) prägt der Wiener Bürgermeister Karl Lueger (1844–1910) in den 1890er Jahren den Ausdruck J. Neben dem Wortspiel mit dem Stadtnamen legt der Ausdruck auf perfide Weise Assoziationen des Judentums als Pest nahe. Bekehrung des Kaisers Konstantin: Konstantin I., gen. der Große, eigentl. Flavius Valerius Constantinus (ca. 275–337 n. Chr.), 306–337 n. Chr. röm. Kaiser. Nach der Auflösung der Tetrarchie (griech. τετραρχία, dt.: „Viererherrschaft“) u. dem Erringen der Alleinherrschaft (324 n. Chr.) bekennt er sich als erster röm. Kaiser zum Christentum u. wird auf dem Sterbebett v. Bischof Eusebios v. Nikomedeia (gest. 341 n. Chr.) getauft. arianische Ketzerei: Arianismus, nach Arius, auch: Areios (um 260–336 n. Chr.), alexandrin. Presbyter. Wg. des Vorwurfs der Ketzerei u. Gotteslästerei wird A. v. Bischof Alexander v. Alexandria (im Amt 313–328 n. Chr.) aus der Kirche ausgeschlossen (318 n. Chr.). Der Arianismus beschäftigt sich mit der Frage der göttl. Dreifaltigkeit: Gott sei ein unteilbares Wesen, Jesus als Sohn Gottes sei dem Gottvater unähnl. u. besitze nicht anfangslose Gleichewigkeit wie Gott. Frömmigkeit Karls des Großen: Karl I., gen. der Große (747/748–814), wird im Jahre 800 v. Papst Leo III. (um 750–816) zum Kaiser der Römer gekrönt. Selbstbez. Kaiser der Franken und Langobarden (ab 774). Zahlreiche Eroberungs- u. Konsolidierungsfeldzüge, prominent die sog. Sachsenkriege (772–804). Vereinheitlichung der
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Reichsverwaltung innerhalb des nach ihm benannten karoling. Reiches. Förderung der Wissenschaft, Kunst, Literatur u. Architektur im Rahmen der Karolingischen Renovatio bzw. Karolingischen Renaissance. Heiligsprechung 1165. K.s Verbreitung des christl. Glaubens liegt in seiner Frömmigkeit begründet: Bei einer Förderung v. Kirche u. Christianisierung werde er vor dem Jüngsten Gericht nicht für Missstände in seinem Reich zur Rechenschaft gezogen. erobernd gegen mohammedanisches Gebiet: Bezugnahme auf die Kreuzzüge (11.–13. Jh.) der Kirche gegen alle „Ungläubigen“. Ziel sind die Ausbreitung u. Wiederherstellung des kathol. Glaubens im als „heiliges Land“ bez. Palästina u. die Befreiung der heiligen Stadt Jerusalem v. den Ungläubigen. Abfall der griechischen Kirche unter dem Patriarchen Photios: P., griech. Φώτιος ὁ Mέγας (810–um 893), byzant. Theologe u. Patriarch v. Konstantinopel (858–867 u. 878–886). Gelehrter in den Disziplinen Logik, Philosophie u. Dialektik. Die Absetzung als Patriarch durch Papst Nikolaus I. (800–867) beantwortet Ph. mit dem sog. Photianischen Schisma, das Papst Nikolaus I. exkommuniziert. Wg. innenpolit. Veränderungen wird auch Ph. verbannt; im Zentrum v. Ph.' theol. Arbeit steht die Missionierung osteuropä. Gebiete, u. a. Bulgariens u. Mährens, was ihn in zusätzl. Opposition zur Röm. Kirche bringt. Byzanz: Eine am Bosporus gelegene, um 660 v. Chr. gegründete griech.-dor. Koloniestadt. Kaiser Konstantin I., gen. der Große (um 275–337), lässt sie ab 324 ausbauen u. macht sie 330 als Konstaninopel zur Hauptstadt des Röm. Reiches. Den Humanisten dient das Toponym B. als metonymische Bez. für das Byzantinische Reich. Reformation: → 503 Jesuitenorden: → 555 Karl V. von Habsburg: Karl V. v. Habsburg (1500–1558), ab 1516 als Karl I. (span. Carlos I) König v. Spanien, ab 1519 röm.-dt. König, 1530 Krönung zum Kaiser des Heiligen Röm. Reiches Deutscher Nation. Er bemüht sich um den Schutz der Kathol. Kirche u. die Eindämmung der Reformation. Karl IX. von Frankreich: Karl IX., König v. Frankreich (1550–1574), Regentschaft ab 1560 unter der Vormundschaft seiner Mutter Katharina v. Medici (1519–1589). Mit seinem Einverständnis ereignet sich auf ihren Befehl hin am 23./24.8.1572 die sog. Bartholomäusnacht (frz. Massacre de la Saint-Barthélemy), in der die in Frankreich lebenden Hugenotten des Landes vertrieben werden. Die Regentschaft Karls IX. ist v. Hugenottenkriegen bestimmt. Friede von Münster 1648: → 503 französische Revolution: → 504
640 Teil II: Kommentar
guillotinierte: Verb zu Guillotine, ein nach dem frz. Arzt u. Erfinder Joseph Ignace Guillotin (1738–1814) benanntes Exekutionsinstrument der Frz. Revolution (1789), bei dem der menschl. Kopf durch ein Fallbeil vom Körper getrennt wird. Seit 1792 wird sie als offizielles Hinrichtungsgerät der Revolution verwendet. Konkordat: Lat. concordare, dt.: „übereinstimmen“, „harmonieren“, „in Einklang bringen“. Das Konkordat ist ein Staatskirchenvertrag zw. dem Heiligen Stuhl u. Frankreich, den Napoleon Bonaparte u. Kardinal Ercole Consalvi (1757–1824) als Vertreter v. Papst Pius VII. (geb. als Graf Luigi Barnaba Niccolò Maria Chiaramonti, 1742–1823) am 15.7.1801 unterzeichnen. Das Konkordat erkennt eine Trennung v. Staat u. Kirche, den Zivilstand der Kathol. Kirche u. die Pluralität der religiösen Bekenntnisse in Frankreich an. Papst freiwilliger Gefangener im Vatikan: Unter Papst Pius IX. (geb. als Giovanni Maria Mastai-Ferretti, 1792–1878) werden ab dem 19.7.1870 nach Beginn des Dt.-Frz. Krieges die frz. Schutztruppen aus Rom abgezogen u. ital. Truppen lösen nach der Einnahme v. Rom den Kirchenstaat auf. Pius IX. zieht sich in den Vatikanpalast zurück u. betrachtet sich selbst als prigioniero del Vaticano (ital., dt.: „Gefangener im Vatikan“) bzw. als prigioniero dello Stato italiano (ital., dt.: „Gefangener im italienischen Staat“). Frankreich zu einem Paraguay: V. 1610–1767 errichtet der Jesuitenorden mit Genehmigung des span. Königs Philipp III. (1578–1621) in Paraguay ein straff organisiertes Missionswerk, span. Reducciónes, zur Christianisierung der indigenen Bevölkerung. alle atavistischen Instinkte: → 497 Dreyfusfall: → 453 Delirium: → 461 Calvin: Johannes Calvin (eigentl. Jean Cauvin, 1509–1564), frz. Dogmatiker, Exeget, Prediger u. Reformator der zweiten Generation. Die unbedingte Heiligkeit u. Souveränität Gottes werden bei jeder theolog. Untersuchung vorausgesetzt. Grundlage hierfür ist die Prädestinationslehre, nach der der Weg des Menschen entweder zur ewigen Seligkeit o. zur Verdammnis festgelegt ist. Vier reformator. Soli (dt.: „Alleinstellungsmerkmale“) bilden u. a. die Basis des Calvinismus: sola scriptura (allein die Schrift ist die Grundlage des christl. Glaubens, nicht die kirchl. Tradition), solus Christus (Autorität Christi, nicht der Kirche), sola gratia (durch die Gnade Gottes allein wird der Mensch gerettet, nicht durch eigene Leistung) u. sola fide (allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt, nicht durch gute Taten). Kataklysma: Kataklysmos, griech. κατακλυσμός, dt.: „Überschwemmung“, „Sintflut“, „Vernichtung“. Geolog. Bez. für eine erdgeschichtl., alles zerstörende Katastrophe. Die Septuaginta wählt in der Übersetzung der Hebr. Bibel für die bibl. Sint-
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flut den Begriff K. u. der griech. Philosoph Platon (428/427–348/347 v. Chr.) beschreibt mit diesem Begriff den Untergang v. Atlantis (Timaios 22a-d). Seismographen: Griech. σεισμός, dt.: „Erschütterung“, „Erdbeben“, u. griech. γραφεύς, dt.: „Schreiber“, „Maler“. Ein S. ist ein Gerät zur Beobachtung u. Messung v. Erdbebenaktivität. Er findet Anwendung in der Geophysik u. gibt Aufschluss über Stärke u. Entfernung v. Erdbeben. das feudale Junkertum: → 435 „anthropologischen“ Antisemitismus: → 427, → 429 „Die Welt“: → 436
642 Teil II: Kommentar
58 Den Manen Theodor Herzls Quelle: ZS1, S. 396. Ferner in: Die Welt, 17.7.1908, H. 28, S. 14.
Manen: Lat. manes, dt.: „Seelen der Verstorbenen“, „Totengeister“. Histor.-religiöser terminus technicus für die Geister der Toten im altröm. Glauben. Die lat. Inschrift D[is] M[anibus], dt.: „den Manen geweiht“, ist auf röm. Grabsteinen zu finden. Davidsschild: → 513 Zionsfahne: → 513
59 Vorwort [zur ersten Auflage]
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59 Vorwort [zur ersten Auflage] Quelle: ZS1, unpaginiert.
Zionistische Gesinnungsgenossen: Zu dem Freundeskreis N.s gehören die wichtigsten Apologeten für den Zionismus im letzten Viertel des 19. Jh.s. Darunter sind der österr.-ungar. Schriftsteller Theodor Herzl (1860–1904), der russ. Schriftsteller u. Mediziner Leon Pinsker (1821–1891), der dt. sozialist. Philosoph u. Schriftsteller Moses Hess (1812–1875), der österr. Schriftsteller Nathan Birnbaum (1864–1937), der dt. Jurist Max Isidor Bodenheimer (1865–1940) u. der brit. Schriftsteller u. Journalist Israel Zangwill (1864–1926). 1897: Gründung der zionistischen Wochenzeitung Die Welt durch Theodor Herzl (1860–1904), in der N. seine ersten zionistischen Schriften veröffentlicht. Erstmalige Durchführung des Zionistischen Weltkongresses unter der Ägide Herzls in Basel u. Wahl Herzls zum Präsidenten der Zionistischen Organisation. Verbindungen: → 462 der Tod des Führers: Herzl stirbt im Jahre 1904 in Edlach an der Rax in Niederösterreich.
644 Teil II: Kommentar
60 Theodor Herzl Quelle: ZS2, S. 467–468, dort mit Verweis auf die Quelle: Die Welt, 1909, Nr. 28 (= Die Welt, 9.7.1909, H. 28, S. 2).
Genius: → 554, auch dt.: „Schutzgeist“, hier Ausdruck für hohe schöpferische Geisteskraft. ein Bahnbrecher: → 425 „Die Welt“: → 436
61 Meine Selbstbiographie
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61 Meine Selbstbiographie Quelle: ZS2, S. 484–486. Ferner in: Eine Gartenstadt für Palästina. Festgabe zum siebzigsten Geburtstag von Max Nordau. Hg. v. Hauptbureau des Jüdischen Nationalfonds, Berlin 1920, S. 21–23.
Pest: Pest ist mit Buda u. Óbuda eine der drei histor. Städte, aus denen 1873 die ungar. Hauptstadt Budapest gegründet wird. Die Revolutionsregierung beschließt bereits 1849 die später rückgängig gemachte Zusammenlegung. P. liegt am östl. Ufer der Donau u. bildet den größten Teil der Stadtfläche. Ab 1723 Sitz der Administration des Königreichs Ungarn. Budapest hat um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. ca. eine halbe Million Einwohner mehrerer Nationalitäten, davon ca. 67 % Magyaren, ca. 24 % Deutsche, ca. 6 % Slowaken, daneben Serben, Kroaten u. andere. Wie N. ist auch Theodor Herzl (1860–1904) in Pest geboren. ungarischen Freiheitskampfes: Die Ungarische Revolution 1848/1849 wird am 15.3.1848 durch die Nachricht v. der Revolution in Paris mit der Forderung nach Presse-, Religions- u. Versammlungsfreiheit sowie Aufhebung der Zensur ausgelöst. Nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch den Anführer der Ungar. Unabhängigkeitserhebung gegen Österreich Lajos Kossuth de Kossuth et Udvard (1802–1894) am 12.9.1848 greifen kaiserl. Truppen Österreichs an u. erlassen die sog. Oktroyierte Märzverfassung (7.3.1849), die zu einem Unabhängigkeitsaufstand u. zur Ausrufung der ungar. Unabhängigkeit (14.4.1849) führt. Mithilfe russ. u. kroatischer Truppen unterwirft Österreich die Magyaren in der Schlacht bei Segesvár (13.8.1849) u. Ungarn kapituliert (3.10.1849). Ungarn wird 1867 neben Österreich der zweite Landesteil der k. u. k. Monarchie (kaiserl. u. königl. Monarchie ÖsterreichUngarn). Bomben der Ofner Festung: Ofen, ungar. Buda, eine der drei Vorgängerstädte des heutigen Budapest. Während der Ungar. Unabhängigkeitserhebung wird die Ofener Burgfeste vom österr. Generalmajor Heinrich Ritter Hentzi v. Arthurm (1785–1849) gegen eine erdrückende Übermacht der aufständ. Ungarn verteidigt, die schließl. den Burgberg erobern können (21.5.1849). 2. Januar 1900 in ihrem 88. Lebensjahre: Die Mutter N.s ist die in Riga geborene u. aufgewachsene Rosalia Sarah Nelkin (1812–1900). Sie übersiedelt 1876 mit N. u. seiner Schwester Charlotte n. Paris u. wohnt zeitlebens bei ihrem Sohn. Pariser Friedhof Montparnasse: Der Cimetière Montparnasse (auch: Cimetière du Sud) gehört zu den großen Pariser Friedhöfen, die zu Beginn des 19. Jh.s außerhalb der damaligen Stadtgrenzen angelegt werden. Auf ihm sind zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten aus dem Frankreich des 19. Jh.s bestattet. Riga: Hauptstadt Lettlands. Lage am Fluss Düna in der sog. Rigaer Bucht der Ostsee. Gegründet 1201 durch christl. Mission u. 1255 Sitz des Erzbischofs, ab 1282 Teil des
646 Teil II: Kommentar
Hansestädteverbunds. Nach dem Fall des livländ. Ordensstaates (1561) wird R. freie Stadt u. fällt in den Folgejahrhunderten an Polen, Schweden u. Russland. Unter russ. Herrschaft Teil des Gouvernements Livland (1796–1918). More Morenu Haraw Rabbi Gabriel Ben Oser Ben Simcha Ben Mosche Ben Josef Südfeld: Gabriel ben Asser Südfeld (1799–1872), orthodoxer Rabbiner, Schriftsteller, Philosoph u. Dichter. Krotoschin: K. hat Stadtrecht seit 1415. Im 16. Jh. Besiedelung durch die religiöse Gemeinschaft der Herrnhuter Brüdergemeinde, im 17. Jh. durch schles. Protestanten. Großherzogtum Posen: Im 8./9. Jahrhundert entsteht das am Ufer der Warthe gelegene P. aus einer südslaw. Burg; im 10. Jh. Hauptsitz der poln. Herzöge, ab 1138 Residenz der großpoln. Herzöge. Im Jahre 1793 fällt P. an Preußen u. wird 1815 Hauptstadt des sog. G. P. großen Rabbinern „Chawath Daath“: Jacob ben Jacob Moses Lorberbaum v. Lissa (1760–1832), bedeutender Rabbiner u. Dezisor, ein Talmud-Gelehrter, der verbindl. Auslegungen religiöser Gesetze vornehmen kann. L. ist v. a. unter dem Namen seines Werkes Ba'al HaChavas Da'as (hebr., dt.: „Meinung“, „Stellungnahme“), einem Kommentar zum Ritualrecht, bekannt. Rabbi Akiba Eger: A. E. (1761–1837), auch Akiba der Jüngere, bedeutender orthodoxer Rabbiner u. Talmudgelehrter. Zunächst Rosch-Jeschiwa, Leiter einer TalmudHochschule, in Polnisch-Lissa, dann Rabbiner in Märkisch-Friedland u. in Posen. Entschiedene Ablehnung der Reformbestrebungen der Haskala, der jüdischen Aufklärung im 19. Jh. R. Rappaport: Solomon Judah Löb Rapoport (1790–1867), bedeutender Gelehrter, aufklärerischer Denker der jüdischen Emanzipation u. Mitbegründer der Wissenschaft des Judentums. Zahlreiche Artikel u. Schriften in Sammelbänden, Jahrbüchern u. Zeitschriften. Oberrabbiner in Prag (1840–1867). R. wendet erstmals die philolog. Histor.-krit. Methode auf das talmudisch-rabbin. Schrifttum an. Sein Hauptwerk Erek Millin (hebr., dt.: „Wortschatz“), ein Realwörterbuch zum Talmud, bleibt zu seinen Lebzeiten unvollendet. N. irrt sich bei der Abkürzung des Vornamens. Rabbi Mosche Sofer: Moses Sofer, auch Chatam Sofer u. Moses Schreiber (1762– 1839), bedeutender dt. orthodoxer Rabbiner. Zunächst Rabbiner in Dresnitz (Mähren) u. Mattersdorf (Burgenland), ab 1806 Rabbiner in Pressburg in der damals wichtigsten jüdischen Gemeinde im Königreich Ungarn. Führender Vertreter der Othodoxie u. entschiedener Gegner des Reformjudentums. Zahlreiche Schriften, u. a. Responsen, Predigten u. Kommentare zur Thora. talmudischen Wissen: → 427
61 Meine Selbstbiographie
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Pentateuch: → 424 nannte man mich: In der Veröffentlichung in Eine Gartenstadt für Palästina (1920) heißt es hier stattdessen bezogen auf den Vater „Zu Hause nannte er mich Simcha […]“. Vermutlich Setzfehler. Simcha: Hebr. śimḥāh, dt.: „sich freuen“, „frohlocken“, „glücklich sein“, Bez. für ein Fest o. eine Feier. Gebräuchlich auch als Vorname. Maskil (Aufgeklärter): Hebr., dt.: „Verständiger“, „Unterweiser“. Das Wort kommt u. a. in den Überschriften einiger Psalmen vor, die Lehren u. Unterweisungen an zukünftig Lebende vermitteln. In der jüdischen Haskala Bez. für Vermittler aufklärerischen Gedankenguts an ihre jüdischen Mitbürger. Die jüdische Haskala (hebr., dt: „Bildung“, „Aufklärung“) wird um 1770 in den Zentren Berlin u. Königsberg durch die europä. Aufklärung angestoßen u. entwickelt sich zur Emanzipationsbewegung. Sie ist geprägt durch einen vernunftsbasierten Religionsbegriff u. das Eintreten für Toleranz u. Gleichberechtigung aller Bürger sowie für die Integration der Juden in die Gesellschaft insb. durch Bildung. Prominenter Vertreter ist der dt. Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786), der als „Vater der Haskala“ gilt. Schulchan Aruch: → 479 Muster-Assimilanten: → 431 jüdische Normalschule: Auf die jüdische Normalschule gehen alle jüdischen Kinder, die nicht ein Rabbineramt anstreben. Diese Jungen werden v. ihren Eltern auf spezielle Rabbinerschulen geschickt. Chauvinismus: → 595 Herrn Freudenberg: Lebensdaten unbek. Herrn Mannheimer: Lebensdaten unbek. israelitischen: → 444 Großherzoglich Badischen Konsistorium: Das sog. Badische Judenedikt des Großherzogs (1806–1811) Karl Friedrich von Baden (1728–1811) vom 13.1.1809 sieht die Schaffung eines jüdischen Konsistoriums zur Förderung der jüdischen Assimilation nach dem Vorbild des frz. Consistoire central israélite vor, womit die Juden staatl. offiziell als Glaubensgemeinschaft anerkannt u. relig. gleichgestellt werden. Der Oberrat der Israeliten Badens, der der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden vorsteht, wird noch 1809 gegründet. „Katechismus der mosaischen Religion“: Erstmals erscheint 1812 in Hamburg der Katechismus der mosaischen Religion: zum ersten Unterricht für israelitische Knaben und Mädchen des Hamburger Privatgelehrten u. Rabbiners Meschullam Salomon Kohn (1739–1819).
648 Teil II: Kommentar
„Pester Lloyd“: In Budapest erscheinende Tageszeitung für Ungarn u. Osteuropa. 1848 als deutschsprachiges Revolutionsblatt unter dem Namen Pester Zeitung v. Lajos Kossuth (1802–1894) gegründet. Ab 1.1.1854 Erscheinen unter dem Namen Pester Lloyd, Themen sind Außenpolitik, Börse, Feuilleton. „Jichus“: Das Prestige einer Familie im ostjüdischen Schtetl, besonders das des einzelnen Familienmitgliedes, ist i. A. durch vier Faktoren bestimmt: die individuelle Gelehrsamkeit, die Abstammung, jidd. Jichus, materieller Besitz u. der sozial verantwortl. Umgang damit. Materielle Hilfe sollte der Gemeinschaft nicht nur zur Verfügung gestellt werden, sondern mit persönl. Unterstützung verbunden sein. Ein bedeutender Jichus, d. h. eine einflussreiche u. vermögende Abstammung, ist dann v. hohem gesellschaftl. Ansehen, wenn über viele Generationen charismat. Gelehrsamkeit u. Wohlstand verbunden mit sozialem Engagement vorhanden sind. Ein hoher J. ist für den einzelnen ein Ansporn, seinen Vorfahren an Gelehrsamkeit gleichzukommen, u. Mädchen aus angesehenen Familien dürfen keinesfalls unter ihrem J. heiraten. Anarchie: → 476 Paris, den 2. Juli 1909: In der Veröffentlichung in Eine Gartenstadt für Palästina wird stattdessen der „20. Juli 1909“ angegeben. Vermutlich Setzfehler.
62 Ein Nachtrag zu Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“
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62 Ein Nachtrag zu Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“ Quelle: ZS1, S. 399–402.
Wallfahrer nach Kevelaar: → 618 „Hep! Hep!“: → 510 halkyonischen Stunden: Griech. ἀλκυόνειος, dt.: „zum Eisvogel gehörig“. Als Symbol tiefer Ruhe gelten in der griech. Antike zwei meist milde Dezemberwochen um die Wintersonnenwende, die sog. halkyonischen Tage, an denen der Eisvogel sein Nest baut bzw. seine Höhle gräbt. In der griech. Mythologie wird Halkyone, die Gemahlin des Keyx, aufgrund der Trauer um ihren verstorbenen Ehemann in einen Eisvogel verwandelt. Während der Brutzeit des Vogels verhindert Zeus, dass kalte Winde wehen. Hegewisch: Bez. für einen Wisch (Bündel) Stroh o. Reisigholz an einer Stange, um den Besitz eines Feldes o. eines Waldstücks zu markieren. Ein Luginsland: Veraltete Bez. für einen Wach- o. Aussichtsturm, zu ahd./mhd. luogen, dt.: „aufmerksam schauen“, „spähen“. Achilleion: Das A. bez. ein im Auftrag der österr. Kaiserin Elisabeth Amalie Eugenie, Herzogin in Bayern (auch: Sisi, 1837–1898), auf der griech. Insel Korfu erbautes Schloss (1890–1892). Benannt aus Verehrung des griech. mytholog. Helden Achilleus, ist es im Stil der Neorenaissance erbaut. Es wird 1907 v. den Erben der Kaiserin an den Deutschen Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) verkauft u. 1914 v. frz. u. serb. Truppen besetzt.
650 Teil II: Kommentar
63 Die psychologischen Ursachen des Antisemitismus Quelle: ZS1, S. 360–36, dort mit Verweis auf die Quelle: La Vita Internazionale.
Herr Momigliano: Felice Momigliano (1866–1924), ital. Historiker u. Schriftsteller. Mitarbeiter Ernesto Teodoro Monetas (1833–1918) bei La Vita Internazionale. Als Cousin des berühmten ital. Althistorikers Arnaldo Dante Aronne Momigliano (1908– 1987) beschäftigt sich M. intensiv mit jüdischer Religion. Bemerkungen des Herrn Loria: Achille Loria (1857–1943), ital. Politökonom u. Universitätsprofessor. Werke u. a. Le basi economiche della costituzione sociale (1886), Analisi della proprietà capitalista (1889) u. La costituzione economica odierna (1899). Judenverfolgungen im Mittelalter: → 443 „assimilierten“: → 431 Judenfrage: → 458 Feuerländer: → 585 Lappen: → 474 Botokuden: → 474 Papuas: → 631 Fabel: → 463 Zwangswohnsitz („domicilio coatto“): → 541, → 587 Rothschilds: → 569 Hirsch: → 570 Bleichröder: Bankhaus S. Bleichröder, v. Samuel Bleichröder (1779–1855) 1803 gegründete Privatbank, die im 19. Jh. zum bedeutendsten Finanzier Preußens wird. Es finanziert die Verstaatlichung der preuß. Eisenbahnen u. wickelt die Reparationszahlungen Frankreichs nach dem Dt.-Frz. Krieg 1870/71 ab. Poliakoff: Lazar Polyakov (1843–1914), russ. Unternehmer u. Bankier. 1872 Gründung des gleichnamigen Bankhauses. Zusammen mit seinem Bruder Samuel Polyakov (1837–1888) erwirbt P. Anteile an der russ. Eisenbahn u. erhält den Spitznamen „Rothschild v. Moskau“. Unterstützung des Zionismus durch Mitgründung der World ORT (Organisation – Reconstruction – Training) (1880), einer Gesellschaft für handwerkl. u. landwirtschaftl. Arbeit zur Berufsausbildung russ. Juden.
63 Die psychologischen Ursachen des Antisemitismus
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Astors: Astor, Name einer in den USA u. Großbritannien lebenden, sehr vermögenden Familie mit dt. Wurzeln. Begründer des Wohlstands der Familie ist der Emigrant Johann Jakob Astor (1763–1848) aus Walldorf bei Heidelberg. Er kommt mit Pelzhandel (American Fur Company), Immobilien u. später mit Aktienhandel u. Hotels zu großem Vermögen u. wird reichster Mann seiner Zeit. Rockefellers: Rockefeller, Name einer US-amerik. Unternehmerfamilie mit Wurzeln in Neuwied (Rheinland-Pfalz). Im 19. Jh. werden die beiden Unternehmer-Brüder u. Wirtschaftsmagnaten John Davison Rockefeller Sr. (1839–1937) u. William Rockefeller (1841–1922) zu den reichsten Menschen ihrer Zeit. 1863 Gründung einer Erdölraffinerie in Cleveland/Ohio, 1870 Ausbau des Unternehmens u. Umbenennung in Standard Oil Company. Das Unternehmen hat bis zu seiner Zerschlagung 1911 quasi eine Monopolstellung auf dem Erdölmarkt. Goulds: Gould, US-amerik. Unternehmerfamilie. Begründer des Wohlstandes ist Jay Gould (eigentl. Jason, 1836–1892). Mit teilweise rücksichtslosen Geschäftsmethoden, deretwegen er zu den Robber Barons gezählt wird, erarbeitet er sich im Eisenbahngeschäft ein großes Vermögen. Sein Sohn, Frank Jay Gould (1877–1956), investiert das väterl. Vermögen in Hotels u. Kasinos. Vanderbilts: → 568 Morgans: Morgan, Name einer US-amerik. Bankiers- u. Aktionärsfamilie. John Pierpont Morgan, bek. als J. P. Morgan (1837–1913), gründet 1871 zusammen mit Anthony Joseph Drexel (1826–1893) das Bankhaus Drexel, Morgan & Co., ab 1895 J. P. Morgan & Co. 1901 Gründung der größten Aktiengesellschaft der Welt, der United States Steel Corp. Sein Sohn John Pierpont Morgan junior (1867–1943) übernimmt das Firmenimperium u. baut es in den Branchen Eisenbahnverkehr, Schifffahrt, Telekommunikations- u. Elektroindustrie u. im Bankensektor aus. Carnegies: Carnegie, Name einer US-amerik. Unternehmerfamilie mit Wurzeln in Schottland. Begründer ist der Industrielle Andrew Carnegie (1835–1919). Einen großen Teil seines immensen Vermögens spendet Carnegie für Stiftungen, öffentl. Gebäude u. die Förderung v. Wissenschaft u. Kultur. Russland, in Rumänien, in Galizien: → 439, → 439, → 512 jüdische Millionäre: → 496 „Internationalismus“: In der Terminologie des Marxismus bez. I. das Streben nach zwischenstaatl. Zusammenschluss. Im Kommunistischen Manifest (1847/48) v. Karl Marx (1818–1883) u. Friedrich Engels (1820–1895) wird die Forderung nach I. durch die Direktive „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ ausgedrückt. Die internationale Solidarität der Arbeiterbewegungen wird als proletar. I., die Zusammenarbeit der sozialist. Länder untereinander als sozialist. I. bez.
652 Teil II: Kommentar
Berliner Kongresses von 1878: Treffen europä. Großmächte (Deutsches Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland, Österreich-Ungarn) mit Vertretern des Osman. Reiches zur Klärung des zunehmenden russ. Einflusses auf der Balkanhalbinsel, durch welchen sich v. a. Großbritannien u. Österreich-Ungarn in ihren Interessen bedroht fühlen. Thematisiert wird u. a. auch die Stellung der Juden in den Balkanländern sowie die Forderung nach gleichen Bürgerrechten für Juden. Kaufleute der „ersten Gilde“: → 438 Rothschilds Mitglieder des Jockey-Clubs: Der Jockey Club ist in England die maßgebl. Instanz für den Galopprennsport. 1750 in Newmarket (Suffolk) gegründet, ist er für die Festlegung u. Überwachung der Rennregeln, die Lizenzvergabe u. die Einhaltung der Standards im Rennsport zuständig. 1834 wird in Paris als Unterabteilung die Société d'encouragement pour l'amélioration des races de chevaux gegründet, aus dem der Jockey Club de Paris hervorgeht, im 19. Jh. ein Treffpunkt der höheren Gesellschaft in Frankreich. die Heines verheiraten ihre Tochter: Marie Alice Heine (1858–1925), spätere Fürstin v. Monaco u. Herzogin v. Richelieu. Tochter des frz. Geschäftsmanns u. Bankiers Michel Heine (1819–1904), einem Neffen des dt. Dichters Christian Johann Heinrich Heine (geb. als Harry Heine, 1797–1856). 1880 Heirat mit Albert I. v. Monaco (eigentl. Albert Honoré Charles Grimaldi, 1848–1922), dem regierenden Fürsten Monacos. Geldjuden: → 496 Nimbus: Lat., dt.: „Regenguss“, „Sturmwolke“, „Nebelhülle“, auch „Heiligenschein“. Leuchtende Lichterscheinung o. strahlender Glanz um Kopf o. Körper einer Person o. Personendarstellung. Misoneismus: → 534 Fanatismus: → 453 „Gottesmörder“: → 463 Ritualmord, den Hostiendiebstahl usw.: → 472, → 555 anthropologischen: → 429 „La Vita Internazionale“: Ital., 1898 v. dem ital. Politiker, Publizisten u. Friedensnobelpreisträger (1907) Ernesto Teodoro Moneta (1833–1918) gegründete, halbjährl. erscheinende, pazifist. Zeitung. Moneta ist Gründer u. Vorsitzender der Unione Lombarda per la Pace e l'Arbitrariato (1887) sowie der Società per la pace e la giustizia internazionale (1887).
64 [Widmung zur ersten Auflage]
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64 [Widmung zur ersten Auflage] Quelle: ZS1, unpaginiert.
Tribun: → 565, hier i. S. v. „Anwalt des jüdischen Volkes“. Jeremias: Jeremia, hebr., dt.: „Jahwe erhöht“, bedeutender biblischer Prophet (geb. um 650 v. Chr.). J. steht mit seinen prophet. Botschaften, die überwiegend Warnungen u. Ermahnungen beinhalten, im Gegensatz zur Meinung des Volkes u. der herrschenden Politik der Könige. 587 v. Chr. Gefangennahme wg. Hochverrats. Hier Verneigung vor N. in seiner Eigenschaft als Prophet der modernen Prädestination des jüdischen Volkes. Herold: → 594, hier i. S. v. „Verkünder einer bestimmten Idee“. Zionsideals: Rückkehr in das Land Israel u. in die heilige Stadt Jerusalem (Zion → 426). Genius: → 554 Das Aktionskomitee: → 512
654 Teil II: Kommentar
65 Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert Quelle: ZS2, S. 434–459, dort mit Verweis und Datierung: Vortrag, gehalten in Hamburg am 19. Dezember 1909. Ferner erschienen als Separatdruck im Jüdischen Verlag, Köln/Leipzig 1910.
Nächst dem 1. Jahrhundert: In der Veröffentlichung des Vortrags im Jüdischen Verlag (1910) beginnt der Text mit der Anrede „Meine Damen und Herren“. Zerstörung des zweiten Tempels: → 426 Gumplowicz: Ludwig Gumplowicz (1838–1909), poln. Jurist, Verwaltungs- u. Staatsrechtler u. Soziologe. Aus einer Familie angesehener galiz. Rabbiner stammend, hat G. trotz seiner Taufe großes Interesse am Judentum, steht aber in krit. Gegnerschaft zum Zionismus. G.s Interesse gilt den Rechten der unterschiedl. Ethnien im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn. Als früher bedeutender Vertreter der modernen Soziologie sieht er die sozialen Konflikte unterschiedl. Rassen u. später gesellschaftl. Gruppen in einem Staat als zentraler Unterwerfungs-Institution als Ausgangspunkt gesellschaftl. Veränderungen an. Zahlreiche Werke, u. a. Das Recht der Nationalitäten und Sprachen in Österreich-Ungarn (1879), Rechtsstaat und Sozialismus (1881) u. Die soziologische Staatsidee (1892). In seinem Buch Der Rassenkampf, soziologische Untersuchungen (1883) prophezeit er den Ausbruch eines Weltkrieges. Akrochronismus: Griech. ἄκρος, dt.: „das Äußerste“, „Spitze“, „Gipfel“, u. griech. χρόνος, dt.: „Zeit“, bzw. „Akrotopismus“, griech. ἄκρος, dt.: „das Äußerste“, „Spitze“, „Gipfel“, u. griech. τόπος, dt.: „Ort“. Neologismen G.s, denen zufolge die eigene Zeit u. die eigene Verfassung als die Gipfelpunkte in Zeit u. Raum wahrgenommen werden u. alles, was zuvor beobachtet wurde, im Vergleich dazu v. marginaler Bedeutung ist. Mysterien: Hier kurz für Mysterienspiele, eine besonders im Mittelalter beliebte, aber bereits für verschiedene Kulturen des Altertums belegte Form des Schauspiels zur Vermittlung v. religiösen Inhalten, z. B. Episoden aus der Bibel. ruchlosen Justizmord an dem Gottessohn: → 463 Magyaren: → 592 Byzanz: → 639 mystische Zusammenhänge: → 434 vogelfrei: → 464 Marktfahrern von unbekannter Herkunft, den forenses: Lat. forensis, dt.: „draußen befindlich“, „zum Markt/Forum gehörig“, „öffentlich“. Die Marktbewohner, lat. forenses, u. Kaufleute, lat. mercatores, haben jeweils ein ihnen zugewiesenes Areal als besteuerte gewerbl. Nutzungseinheit in der städt. Marktsiedlung.
65 Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert
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Abbatessa mulierum levium: Lat. abbatissae mulierum levium, dt.: „Äbtissin der leichten/unbeständigen/haltlosen Frauen“. N. bezieht sich auf eine Haremsdame, die die Oberaufsicht über mittelalterl. Prostituierte innehat. Hellenen: → 553 großen Propheten Israels: → 424 Gotteskindschaft: → 501 vorgeschriebene Merkmale an den Kleidern: → 443 besonderen Haar- und Bartschnitt: Die v. N. angesprochene Bart- u. Haartracht, insb. die der Schläfenlocken orthodoxer Juden, geht zurück auf Lev 19,27: „Ihr sollt euer Haar am Haupt nicht rundumher abschneiden noch euren Bart stutzen“, u. Lev 21,5: „Sie sollen auch keine Glatze scheren auf ihrem Haupt noch ihren Bart stutzen und an ihrem Leibe kein Mal einschneiden.“ hastig gedörrte Brot ohne Sauerteig: Der Befreiung des jüdischen Volkes aus der Sklaverei in Ägypten wird jährl. während des achttägigen Pessach-Festes gedacht. Liturgie u. Bräuche stehen symbol. mit Ereignissen während des Auszugs in Verbindung. So gilt die Anweisung in Ex 12,15: „Sieben Tage sollt ihr ungesäuertes Brot essen. Schon am ersten Tag sollt ihr den Sauerteig aus euren Häusern tun. Wer gesäuertes Brot isst, vom ersten Tag an bis zum siebenten, der soll ausgerottet werden aus Israel.“ Das Verbot, während Pessach Chamez, mit Sauerteig hergestelltes Brot, zu essen, u. das Gebot, sich stattdessen auf Mazza, ungesäuertes Brot, zu beschränken, soll die Erinnerung an den übereilten Aufbruch der Israeliten aus Ägypten u. das unter Zeitmangel vollzogene Brotbacken wachhalten. Süßwasserpolypen: S. (lat. Hydra) gehören zum Stamm der Nesseltiere (lat. Cnidaria) u. kommen in Europa bei einer Größe v. bis zu drei Zentimetern mit mind. fünf Arten vor. Der Schweizer Zoologe Abraham Trembley (1710–1784) stellt bei Experimenten (um 1740) mit Hydra fest, dass sich nach dem Zerschneiden eines Exemplars in mehrere Teile ebenso viele neue Individuen bilden, u. schließt daraus, dass regenerativ wirksame Kräfte nach einem bestimmten Bauplan tätig sind u. so aus Einfachem Komplexeres werden kann. Reichsstädte des Rheinlandes: → 467 schwarzen Pest: → 445 Ferdinand und Isabella von Spanien nach der Eroberung von Granada: → 497 Zerstreuung: → 424 Messiasverheißung: → 444
656 Teil II: Kommentar
Ulrich von Hutten: Ulrich v. Hutten (1488–1523), dt. Humanist u. Reichsritter, also ein Angehöriger der Gemeinschaft des freien Adels im Heiligen Röm. Reich. Bedeutender lat. Schriftsteller der Neuzeit, Werke u. a. De Arte Versificandi (1511, dt.: „Über die Kunst des Verse-Schmiedens“) u. in Zusammenarbeit mit anderen Humanisten die zur Verteidigung Johannes Reuchlins (1455–1522) abgefassten Epistolae obscurorum virorum (1515, dt.: „Briefe dunkler Männer“, in Deutschland bekannt unter der Bez. Dunkelmännerbriefe). H.s v. Spott gegen die Scholastik geprägte ablehnende Haltung gegenüber der Kirche schlägt in offene Agitation gegen die weltl. Ausrichtung des Papsttums um u. führt zur Reichsacht, vgl. seine Schrift Clag und Vormanung gegen den übermäßigen unchristlichen Gewalt des Bapsts zu Rom (1520). Reuchlin: Johannes Reuchlin (1455–1522, gräzisierend Kapnion zu griech. καπνός, dt.: „Rauch“, u. griech. -ιον, Diminuitivendung), dt. Humanist u. Jurist. Er ist der erste nichtjüdische Hebraist u. neben Desiderius Erasmus v. Rotterdam (1466/1469– 1536) der bedeutendste humanist. Gelehrte. R. empfiehlt Kaiser Maximilian I. v. Habsburg (1459–1519) die Erhaltung jüdischer Schriften u. gerät darüber mit dem Konvertiten Johannes Pfefferkorn (1469–1521) in Streit, der bis vor die Kurie getragen wird u. zur Verurteilung v. R.s Schrift Augenspiegel (1511) führt. Die wichtigsten religionsphilosoph. Schriften R.s sind die vorreformator. Werke De verbo mirifico (1494, dt.: „Über das bewundernswerte Wort“) u. De Arte Cabalistica (1517, dt.: „Über die Kunst der Kaballah“). Ziel R.s ist es, das Denken der griech.-röm. Antike u. die Gotteslehre des Christentums in einem singulären Gottesbegriff zusammenfassen, der in der hebr. Sprache des Alten Testaments offenbart wird. Reformation: → 503 Gegenreformation: Gegenbewegung der Kathol. Kirche gegen die v. Martin Luther (1483–1546) ausgehende Reformation ab dem Konzil v. Trient (zw. 1545 u. 1563) bis ins 17. Jh. Der Begriff G. wird v. dem dt. Juristen Johann Stephan Pütter (1725–1807) geprägt u. bez. die gewaltsame Rekatholisierung protestant. gewordener Gebiete. Zwinglis: Ulrich (in eigentl. Schreibweise: Huldrych) Zwingli (1484–1531), schweiz. Theologe u. Reformator. Während Martin Luther (1483–1546) v. a. die innerkirchl. Missstände wie den Ablasshandel bekämpft, akzeptiert Z. nur das, was explizit in der Bibel steht, u. geht daher in liturg. Hinsicht sehr viel weiter. Ein wesentl. Unterschied der Reformation Z.s gegenüber der Luthers liegt in der Negierung der leibl. Anwesenheit Christi während des Abendmahls. Im Zweiten Kappelerkrieg erleidet das reformierte Zürich eine Niederlage gegen fünf kathol. Kantone, in deren Verlauf Z. zu Tode kommt. Philipps II.: Philipp II. v. Spanien (1527–1598), Sohn Karls V. u. wie dieser als gläubiger Herrscher bestrebt, den Protestantismus zurückzudrängen u. in den v. ihm beherrschten Ländern den romtreuen Katholizismus zu verteidigen.
65 Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert
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Ignaz von Loyolas: Ignatius v. Loyola (1491–1556), span. Edelmann u. Begründer des Jesuitenordens → 555. Capistrans: Johannes Capistranus (eigentl. Giovanni da Capistrano, 1386–1456), Wanderprediger, Inquisitor u. Anstifter zu blutigen Pogromen. Unter den Päpsten Martin V. (geb. als Oddo di Colonna, 1368–1431, Papst v. 1417–1431) u. Nikolaus V. (geb. als Tommaso Parentucelli, 1397–1455, Papst v. 1447–1455) drängt C. darauf, demütigende u. diskriminierende Judengesetze durchzusetzen. Unter dem Vorwurf der Hostienschändung werden auf den Befehl C.' alle Juden Breslaus inhaftiert (1453), unter Folter Geständnisse erpresst u. das beträchtl. Vermögen eingezogen; 41 Juden werden verbrannt. Trotz seiner antisemitischen Exzesse wird C. unter Papst Alexander VIII. (geb. als Pietro Vito Ottoboni, 1610–1691, Papst v. 1689–1691) heiliggesprochen. Anheftung der 95 Thesen an der Schlosskirchentür von Wittenberg: → 503 Abschluss des Westfälischen Friedens: → 503 scholastischen Philosophie: Lat. scholasticus, dt.: „schulisch“, „rhetorisch“. Ausgehend v. christl. Dogmen u. der Philosophie der Antike bez. ‚Scholastik‘ die wissenschaftl. Denkweise u. Methode theolog. Beweisführung im lateinischsprachigen Mittelalter (etwa 9.–14. Jh.). Thomas von Aquino: Thomas v. Aquin (um 1225–1274), ital. Theologe, Dominikanermönch, Philosoph u. kathol. Kirchenlehrer, studiert bei Albertus Magnus (um 1200– 1280) in Paris u. Köln. Bedeutender Vertreter der Scholastik, deren Denken nachhaltig v. ihm geprägt wird. Th.' Hauptverdienst ist die Synthese aus antiker Philosophie u. christl. Dogmatik, die er in seinen beiden Hauptwerken darlegt: Summa theologicae (1265–1273) u. Summa contra Gentiles. Liber de veritate catholicae fidei contra errores infidelium (um 1260). Maimons „Führer der Verirrten“: → 431 Judengasse: → 497 Zeitalter der Aufklärung: → 471 Descartes: René Descartes (1596–1650), bedeutender frz. Philosoph u. Mathematiker. Begründer des modernen Rationalismus, auch: Cartesianismus. Grundsätzl. Unterscheidung zw. Geist u. Materie (cartesianischer Dualismus). Starker Einfluss auf die neuzeitl. Philosophie, darunter auf Baruch de Spinoza (1632–1677) u. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Werke u. a.: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans le sciences (1637, frz., dt.: „Abhandlung über die Methode des richtigen Gebrauchs der Vernunft und der Wahrheitssuche in den Wissenschaften“), Meditationes de prima philosophia (1641, lat., dt.: „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“). D. prägt die Formel Cogito, ergo sum.
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Sittlichkeit: → 440 Locke: John Locke (1632–1704), engl. Philosoph. L. repräsentiert mit David Hume (1711–1776) das Zeitalter der brit. Aufklärung u. des Empirismus, einer erkenntnistheoret. Richtung, welche v. Sinneserfahrungen, griech. ἐμπειρία, dt.: „Erfahrung“, „Kenntnis“, Erkenntnisse ableitet. Bayle: Pierre Bayle (1647–1706), frz. Schriftsteller u. Philosoph der Aufklärung. Sein Hauptwerk ist das Dictionnaire historique et critique (2 Bde., 1697), das die umfassende Gestaltung einer Enzyklopädie u. das Spezialwissen eines Reallexikons vereint. Jedes Lemma wird v. B. mit Quellen belegt u. durch Thesen u. Antithesen illustriert. Kant: Immanuel Kant (1724–1804), herausragender Philosoph der Aufklärung. Bedeutende Beiträge zu Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik, Religions-, Rechts- u. Geschichtsphilosophie. Hauptwerke: Kritik der reinen Vernunft (1781), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Kritik der praktischen Vernunft (1788), Kritik der Urteilskraft (1790), Metaphysik der Sitten (1797). kategorischen Imperativ: → 495 Rousseaus Vikar von Savoyen: Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). In seinem pädagog. Werk Émile ou De l'éducation (1762) führt R.s als Einschub gestaltetes Profession de foi du vicaire savoyard (dt.: „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“) wenige Tage nach Erscheinen des Buches zu einem Verbot u. zum Haftbefehl gegen den Autor. R. entwickelt die Konzeption einer natürl., also nicht auf Offenbarung basierenden Religion u. einer Philosophie, die in empir. entwickelter Moral ihre Grundlage hat u. das Gewissen als kontrollierende Instanz einsetzt. Lessings Nathan: Nathan der Weise (1779, UA 1783), fünfaktiges Drama v. Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). Als Ideendrama wird im Nathan der aufklärerische Gedanke der Toleranz exemplifiziert. Die humanist. Weltanschauung einer interkulturellen u. interreligiösen Rücksichtnahme aufeinander zeigt sich besonders in der berühmten Ringparabel im dritten Aufzug. transzendentalen: → 485 Schiller schrieb: Johann Christoph Friedrich Schiller (1759–1805) gibt zus. mit Johann Wolfgang v. Goethe (1749–1832) als eine der Xenien im Musenalmanach für das Jahr 1797 die v. N. zitierte Sentenz heraus. Friedrich der Große: Friedrich II., gen. der Große, auch: der Alte Fritz (1712–1786), preuß. König (1740–1786). „In meinen Staaten mag jeder nach seiner Fasson selig werden.“: → 500
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Josef II. von Österreich: Joseph II. Benedikt August Johann Anton Michael Adam v. Österreich (1741–1790), röm.-dt. König (ab 1764), Kaiser des Heiligen Röm. Reiches (1765–1790) u. König v. Böhmen, Kroatien u. Ungarn (1780–1790). Das ihm zugeschriebene Axiom „Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk“ zeigt ihn als den Idealen der Aufklärung verpflichteten, absolutist. Herrscher. Insbesondere Voltaire (1694–1778) wird von ihm stark rezipiert. Besonders in der Religionspolitik befördert er die Unterordnung gesellschaftl. Angelegenheiten unter die staatl. Verwaltung Österreichs. N. bezieht sich auf das Toleranzpatent Josefs II. für griech.-orthodoxe Gläubige u. Protestanten (1781) u. auch für Juden (1782), welches den unterschiedl. Konfessionen v. a. in den östl. Gebieten freie Religionsausübung u. Bürgerrechte garantiert. Die Toleranzpatente werden in der Haskala emphatisch aufgenommen. Aufklärungsapostels: → 504 Mauern des Ghettos: → 439 Folianten des Talmuds: → 500 Kaufmannssohn Gomperz aus Berlin: Aron Salomon Gumpertz (auch: Aaron Emmerich Gomperz, 1723–1769), dt. Religionsphilosoph, Mathematiker u. Mediziner, Lehrer Moses Mendelssohns (1729–1786). Mit als erster Jude erwirbt G. hohe akadem. Verdienste u. wendet sich 1743 (o. 1745) in einem Schreiben an Johann Christoph Gottsched (1700–1766) mit der Bitte, bei diesem weiterstudieren zu dürfen. Gottsched in Leipzig: Johann Christoph Gottsched (1700–1766), dt. Theologe, Philosoph, Literaturtheoretiker u. Schriftsteller der Aufklärung. G. ist einer der Protagonisten im spätbarocken Sprachenstreit darum, welche allgemeingültige Schriftnorm auf Deutsch geschriebene Literatur zu verwenden habe. Während G. das Ostmitteldt.-Sächsische propagiert, beharren die kathol. geprägten vorwiegend süddt. Länder, das Elsass u. Österreich auf der oberdt. Schreibsprache. G. ist der Verfasser mehrerer bedeutender literaturtheoret. Werke: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730), Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit (1732–1744) u. Ausführliche Redekunst (1736). Salomon Maimon: S. M., geb. als Salomon ben Josua (1753–1800), litauischer Talmudist u. Philosoph des Rationalismus; Umbenennung aus Verehrung des Philosophen Maimonides (1135–1204). S. M. erhält eine traditionelle jüdische Schulbildung, besucht jedoch nie eine Universität. Seine grundlegende Kritik an Immanuel Kants (1724–1804) Kritik der reinen Vernunft, die er 1790 als Versuch über die Transcendentalphilosophie publiziert, verschafft ihm Zugang zu den Gelehrtenzirkeln Berlins. Seiner autodidakt. Beschäftigung mit der Philosophie entspringen mehrere Werke, darunter Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens (1793) u. Kritische Untersuchungen über den menschlichen Geist oder das höhere Erkenntniß- und Willensvermögen (1797), 1792/3 veröffentlicht er außerdem Salomon Maimons Lebensgeschichte (2 Bde.), hrsg. v. dem befreundeten Karl Philipp Moritz (1756–1793). In den
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1790er Jahren ist er als Kommentator v. a. Maimonides' an der jüdischen Haskala beteiligt. Dr. Hertz: Markus Herz (1747–1803), dt. Arzt u. Philosoph. 1766 Aufnahme eines Studiums der Medizin u. Philosophie an der Universität Königsberg, wo er Vorlesungen des Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) besucht u. zu dessen Schüler wird. Aus finanziellen Gründen zum Verlassen Königsbergs gezwungen, kehrt er in seine Heimatstadt Berlin zurück u. wird 1774 in Halle im Fach Medizin promoviert. Ab 1776 hält H. Vorlesungen u. a. in Philosophie, in denen er Kants aufklärerische Grundgedanken vertritt. Ab 1787 Professor der Philosophie. lakonisches: „Hep! Hep!“: → 510 „Jude, mach' Mores!“: M., Pl. v. lat. mos, dt.: „Anstand“, „Sitte“, wie auch in der Redewendung Mores lehren, sowie jidd. more, dt.: „Furcht“. Bis ins 19. Jh. hinein ist der Ausruf im Sinne v. „Anstand zeigen, seine Reverenz erweisen“ in Frankfurt a. M. die zwingende Aufforderung an Juden, ihren Hut zu ziehen. Herder: Johann Gottfried v. Herder (1744–1803), geadelt 1802, dt. Dichter, Übersetzer, Geschichtsphilosoph u. Theologe. Als bedeutender Autor u. Schriftsteller gehört H. neben Christoph Martin Wieland (1733–1813), Johann Wolfgang v. Goethe (1749– 1832) u. Johann Christoph Friedrich Schiller (1759–1805) zu den Protagonisten der Blütezeit aufklärer. Literatur in Deutschland (ca. 1786–1805), der Weimarer Klassik. „Geist der hebräischen Poesie“: Johann Gottfried v. Herders Werk Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben, und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes. Erster und Zweiter Theil (1782–1783) bleibt unvollendet. Der dt. Publizist, Philologe u. Philosoph Rudolf Haym (1821–1901) weist in seiner monumentalen Biografie Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt (1877–1885) auf die Bedeutung des Werks für die Orient-Rezeption in Deutschland hin. „Sendung Mosis“: Die Sendung Moses (1790), Vorlesung v. Johann Christoph Friedrich Schiller (1759–1805). Fürst von Ligne: Charles-Joseph Lamoral, 7. Fürst v. Ligne (1735–1814), belg.-südniederl. Generalfeldmarschall, Diplomat in österr. Diensten u. Publizist. L. wird v. Kaiserin Maria Theresia v. Österreich (1717–1780) im Alter v. 16 Jahren an den Hof ihres Gatten Franz Stephan v. Lothringen (1708–1765, ab 1745 Franz I. Kaiser des Heiligen Röm. Reiches) geholt u. verbleibt auch unter Franz' Nachfolger Joseph II. Benedikt August Johann Anton Michael Adam v. Österreich (1741–1790) am Hof. L.s umfangreiches u. vielfältiges Werk Mélanges militaires, littéraires et sentimentaires (34 Bde., 1795–1811) beinhaltet auch die v. N. zitierte Schrift Mémoires sur les Juifs (1795– 1811).
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Franz von Lothringen: Franz Stephan Herzog v. Lothringen (1708–1765), Großherzog v. Toskana, ab 1745 Franz I. Kaiser des Heiligen Röm. Reiches, vermählt mit Maria Theresia v. Österreich (1717–1780), Stammvater des Herrscherhauses HabsburgLothringen. Königreichs Judäa: → 528 Judenfrage: → 458 Professor Christian von Dohm: Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751–1820, Adelsprädikat seit 1786), dt. Jurist, Diplomat u. Publizist. Bedeutsam ist sein Eintreten für die Emanzipation u. die Bürgerrechte der Juden in Preußen i. S. d. Aufklärung sowie für eine Abschaffung diskriminierender Gesetzgebungen, v. a. durch seine Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781). Abbé Grégoire: Henri Jean-Baptiste Grégoire (auch: Abbé Grégoire, 1750–1831), frz. kathol. Geistlicher u. Politiker. Zu Beginn der Frz. Revolution (1789) wird Gr. als Vertreter des Klerus in die États généraux gewählt. Er gehört der Assemblée nationale constituante an u. tritt leidenschaftlich für die Déclaration du droit des gens (frz., dt.: „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“, 26.8.1789) ein. Gr. fordert vor der Nationalversammlung die Emanzipation der Juden, im Gegenzug für eine sprachl. Assimilation, u. die Abschaffung der Sklaverei in den frz. Kolonien. Graf Mirabeau: Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau (1749–1791), frz. Publizist, Schriftsteller u. Politiker. Als Kämpfer für die Frz. Revolution ist M. Abgeordneter des Tiers état in den États généraux. Präsident der Société des amis de la Constitution (1790), bekannter unter dem Namen Club des Jacobins, u. Vorsitz der Assemblée nationale constituante (1791). N. bezieht sich auf M.s Schrift Sur Moses Mendelssohn, sur la réforme politique des juifs et en particulier sur la Révolution tentée en leur faveur en 1753 dans la Grande-Bretagne (1787, frz., dt.: „Über Moses Mendelssohn, die Reformpolitik in Bezug auf die Juden u. besonders über die v. ihnen favorisierte Revolution in Großbritannien im Jahre 1753“), das auf den vom brit. Premierminister Henry Pelham (1694–1754) eingebrachten Jewish Naturalization Act Bezug nimmt. Konfessionalismus: Übermäßige u. einseitige Betonung der eigenen Konfession u. der Unterschiede zu anderen Konfessionen. Juden Frankreichs die vollen Bürgerrechte: → 471 Revolutionsgesetzgebung: → 471 Landsassen: → 442 politisch-biologische: → 431 Emanzipation: → 440
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Synhedrion nach Paris: → 545 gesetzestreuen Sinzheim: David Josef Sinzheim (1745–1812), frz. Rabbiner u. Vorsitzender des Grand Sanhedrin. Jesus von Nazareth: Jesus, gräzisierte Kurzfassung v. hebr. Jehoschua/Josua (dt.: „Jahwe hilft“) (um 4/6 v. Chr.–um 30 n. Chr.), jüdischer Wanderprediger in Galiläa u. Ausgangspunkt des Christentums. Über die histor. Person ist nur wenig bekannt. Während das Christentum ihn als den Messias ansieht, lehnt das Judentum diese Vorstellung ab u. erwartet weiterhin den wahren Messias. 18 Jahrhunderte des Höllenaufenthalts: → 477 Theismus von unitarischer Färbung: Theismus → 577. / Unitarisch → 546. Ausnahme von Russland und Rumänien: → 439, → 512 zentrifugale Bestrebungen: → 604 Schiffe des fliegenden Holländers: Der Sage vom Fliegenden Holländer zufolge irrt ein Kapitän, der aufgrund eines lästerl. Fluches mitsamt seiner Mannschaft verbannt ist, ohne Aussicht auf einen rettenden Hafen o. den v. der Besatzung ersehnten Tod auf den Weltmeeren umher. Im 19. Jh. wird die Sagenfigur mit dem niederländ. Kapitän Bernard (auch: Barend) Fokke (unbek.–1678) assoziiert u. in Der Fliegende Holländer. Romantische Oper in drei Aufzügen (UA 2.1.1843) v. Richard Wagner (1813–1883) in Szene gesetzt. Indifferentismus: Lat. indifferens, dt.: „keinen Unterschied habend“, „gleichgültig“, „unbestimmt“, „unentschieden“. Bez. für Gleichgültigkeit gegenüber bestimmten Dingen, Meinungen, Lehren o. religiösen Anschauungen bzw. generelle Uninteressiertheit. Taufjuden: → 458 Freidenker: → 497 Opportunismus: Zu lat. opportunus, dt.: „geeignet“, „günstig“, „nützlich“, „zweckmäßig“. Bez. für die bereitwillige Anpassung an die jeweilige Lage, um persönl. Vorteile zu erlangen. messianischen Hoffnung: → 444 Synagoge: → 479 Reformjudentum: → 531 Paraklet auf Erden: Griech. παράκλητος, dt.: „zu Hilfe gerufen“, „hilfreich“, im Johannes-Evangelium (ca. 90–100 n. Chr.) mehrfach verwendeter Begriff für einen
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helfenden Tröster o. Fürsprecher. Im Christentum assoziiert mit der dritten Person der göttl. Trinität, dem Sanctus Spiritus. Schach von Persien: N. verwendet S. veraltet als Herrschertitel, wie er bis ins 19. Jh. hinein mitunter in der dt. Literatur, etwa bei Johann Wolfgang v. Goethe (1749– 1832) u. Heinrich Heine (1797–1856), vorkommt. Der Name des aus Persien stammenden Brettspiels S. geht auf das gleiche persische Wort zurück wie der Titel, pers. šāh, dt.: „König“, Kurzform für den vollen Herrschertitel Schah-in-Schah, pers., dt.: „König der Könige“. 50 Goldtomans: Der Toman ist eine alte pers. Goldmünze, die laut Vorschrift vom Gesetzgeber 3,376 g Feingold enthält. Er kommt damit dem in Europa sehr verbreiteten Dukaten gleich, der ein Feingewicht v. etwa 3,44 g aufweist. halkyonischer Jahre: → 649 Überlebsel: → 531 Fanatismus: → 453 homöopathischen Methode: Homöopathie, griech. ὁμοῖος, dt.: „gleich“, „ähnlich“, u. griech. πάθος, dt.: „Schmerz“, „Leiden(schaft)“. Heilung v. Gleichem durch Gleiches, Heilbehandlung durch Verabreichung v. stark verdünnten, den Krankheitserregern ähnl. Mitteln. Die H. geht auf Versuche des dt. Schriftstellers u. Mediziners Christian Friedrich Samuel Hahnemann (1755–1843) zurück, die ab 1796 in Zeitschriften publiziert werden. Bereits im 19. Jh. wird die H. scharf kritisiert, so z. B. durch den engl. Wissenschaftler, Toxikologen u. Mediziner Robert Mortimer Glover (1815–1859), der sie als schlimmste Form der Quacksalberei bez. intellektuelle: → 584 Oberprokurator des heiligen Synods, Pobjedonoszeff: Konstantin Petrovič Pobedonoscev (1827–1907), russ. Staatsbeamter u. Jurist (einer der höchsten Würdenträger des Reiches) 19. Dezember 1909: Die Einzelpublikation Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert (Köln/Leipzig 1910) nennt statt dem 19.12. den 29.12. als Vortragsdatum. N. ist allerdings am 29.12.1909 laut Protokollen des IX. Zionistenkongresses (26.-31.12.1909 in Hamburg) als Präsident anwesend, ohne einen Vortrag zu halten.
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66 IX. Kongressrede Quelle: Die Welt, 31.12.1909, H. 54, S. 1243–1247. Ferner in: Die Welt, 27.12.1909, H. 53, S. 1168– 1172 und in: ZS2, S. 188–204.
IX. Kongressrede: Der Wortlaut der IX. Kongressrede (Hamburg, 26. Dezember 1909.) in der posthum erschienenen 2. Auflage von Nordaus Zionistischen Schriften (1923) weicht häufig von den beiden untereinander ebenfalls differierenden Veröffentlichungen der Rede in der Welt ab, ohne dass der Urheber dieser Änderungen feststellbar ist. Die zweimalige Publikation der Rede innerhalb weniger Tage während des IX. Zionistenkongresses erklärt sich folgendermaßen: N. hält seinen Vortrag am 26.12.1909, dem Eröffnungstag des Kongresses. Schon am Folgetag berichtet die Welt vom ersten Kongresstag, deklariert als „telephonischer Spezialbericht“ (Die Welt, 27.12.1909, H. 53, S. 1163), u. gibt dabei auch N.s Rede wieder (S. 1168–1172). Zwei Tage später erscheint in einer weiteren Kongress-Sonderausgabe der Welt folgende Notiz: „Zur gefl. Beachtung! // Dr. Nordaus Rede wurde telephonisch nach Köln übermittelt. Die Raschheit, mit der die Berichterstattung arbeiten mußte, und die von einem telephonischen Dienst unzertrennlichen Verwechslungen, die dadurch entstehen, daß der die Botschaft aufnehmende Stenograph sich verhört, hat zahlreiche Ungenauigkeiten verschuldet, die uns veranlassen, in einer der nächsten Nummern den richtigen stenographischen Wortlaut zu veröffentlichen, wie er von unserm Kongreß-Stenographenbureau für das amtliche Protokoll niedergeschrieben worden ist.“ (Die Welt, 29.12.1909, H. 4, S. 1209). Am 31.12.1909 wird der Vortrag daraufhin erneut abgedruckt. Folgende Einordnung ist vorangestellt: „Nachstehend bringen wir gemäß unserer Ankündigung in Nr. 4 die Kongreßrede Max Nordaus ihrem genauen Wortlaute nach, wie sie von unserm Hamburger Kongreß-Stenographenbureau aufgezeichnet worden ist.“ (Die Welt 31.12.1909, H. 53, S. 1243). Da die Erstveröffentlichung vom 27.12.1909 auf diese Weise als unautorisiert markiert wird, gibt die vorliegende Edition die am 31.12.1909 publizierte Version wieder. Ob telefonische Übertragungsprobleme tatsächlich alle Differenzen zw. den beiden Publikationen in der Welt erklären können, ist fraglich, da die erste Version (Teil-)Sätze beinhaltet, die in der zweiten Version keine Entsprechung haben; umgekehrt fehlt in der ersten Version ein ganzer Absatz, der den Charter-Gedanken thematisiert (vgl. S. 360f.). Neben orthograf. Varianten weist der Abdruck in den Zionistischen Schriften (1923) zahlreiche lexikalische Abweichungen v. der hier wiedergegebenen zweiten Version aus der Welt auf. Tendenziell werden Formulierungen dabei etwas entschärft u. allgemeiner gehalten, wie in den folgenden Beispielen (Änderungen in den ZS2 fett, ursprüngl. Formulierung in eckigen Klammern): „Wenn man diesen tumultuarischen Kundgebungen glauben sollte, waren die Vorgänge [war die Umwälzung] in Konstantinopel die weitaus wichtigste Begebenheit der jüdischen Ge-
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schichte …“ (ZS2, S. 188; vgl. S. 355 in der vorliegenden Ausgabe); „Eine moderne, freisinnige [freiheitliche] Türkei mußte uns mit offenen Armen aufnehmen.“ (ZS2, S. 189; vgl. S. 355); „Die zionistische Leitung [Bewegung] mußte sich sofort [augenblicklich] mit den türkischen Machthabern in Verbindung setzen, sie für die Pläne des Zionismus durch Aufklärung, Überredung, [und] Dienstesanerbietungen zu gewinnen suchen [gewinnen].“ (ebd.); „Vor allem aber, vor allem: das Programm des Zionismus [Basler Programm] mußte gänzlich [vollständig] umgeändert [geändert] werden“ (ebd.). Mitunter greift die Version der ZS2 auf Teilsätze zurück, die nur in der unautorisierten Erstveröffentlichung (27.12.1909) vorkommen (z. B.: „Und vor allem: er darf sich nicht den Anschein geben, in die innerpolitischen Kämpfe der Türkei eingreifen zu wollen, solange fast alle seine Bekenner Bürger oder Untertanen fremder Staaten sind.“ (ZS2, S. 192; vgl. S. 357)). Folgende (Teil-)Sätze aus der hier abgedruckten Version aus der 2. Aufl. der Zionistischen Schriften finden keine inhaltl. Entsprechung in den in der Welt veröffentlichten Versionen: „… die Verbreitung des zionistischen Gedankens, der zionistischen Überzeugung im jüdischen Volke. Das äußerste Zugeständnis, das ich machen könnte, wäre, daß an beiden Aufgaben mindestens gleichmäßig gearbeitet werden müßte. Erwachen Sie doch aus der Selbsttäuschung, in die Sie sich hineinträumen, hineinreden, hineinsingen!“ (ZS2, S. 194; vgl. S. 358); „… wie einen Keim, der zu seiner Lebensfähigkeit und Entwicklung des Mutterleibes nicht entbehren kann, machen es nötig, daß der Zionismus seinen Mittelpunkt und seine Leitung einstweilen außerhalb der Türkei habe [Und diese Gegenwart erfordert, daß wir die Leitung noch lassen, wo sie ist].“ (ZS2, S. 195f.; vgl. S. 359); „…, daß sie nur auf Grund ausdrücklich verliehener Rechte, als Kontrahenten eines zweiseitigen Vertrages, in den ottomanischen Staatsverband eintreten wollen.“ (ZS2, S. 198; vgl. S. 360); „Gewisse Gegner, die unsere Bewegung seit ihrem Beginn auf allen ihren Wegen vor sich gefunden hat, sind gegenwärtig auch in der Türkei an der Arbeit …“ (ZS2, S. 200; vgl. S. 361); „Wir werden euch gleichmäßig durch alle Provinzen des Reiches aufteilen. Ihr dürft nirgendwo eine Mehrheit bilden. Ihr müßt überall eine Minderheit bleiben. Und in Palästina lassen wir euch überhaupt nicht ein.“ (ZS2, S. 201; vgl. S. 362; „Die Zionisten haben so lange gewartet, sie warten dann eben weiter, bis ihre Aufklärungsarbeit, die Zeit, die politischen Ereignisse, die reifere Entwicklung die Anschauungen der maßgebenden türkischen Kreise geändert haben.“ (ZS2, S. 202; vgl. S. 362f.). im Haag: → 521 unblutige Umwälzung: Auf erhebl. Druck der Jungtürken setzt der osman. Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) 1908 die eher liberale osman. Verfassung v. 23.12.1876 wieder in Kraft, die er seit 1878 suspendiert hat. Die Jungtürken, türk. Genç Türkler, unter der Führung v. İsmail Enver (bekannt als Enver Pascha, 1881–1922), Ahmet Cemal (bekannt als Cemal Pascha, 1872–1922) u. Mehmed Talât (bekannt als Talât Bey o. Talât Pascha, 1872–1921) treten seit dem Ende des 19. Jh.s für die Wiederinkraft-
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setzung der osman. Verfassung v. 1876, die Zusammenkunft eines Parlaments, die verfassungsmäßige Beschränkung der Macht des Sultans u. die Propagierung des „Osmanismus“ ein. Osmanismus ist das Streben nach einer einheitl. osman. Nation, in der religiöse u. ethn. Unterschiede aufgehoben sind. 13. April: Unter Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) unternehmen am 13.4.1909 reaktionäre Kräfte einen Putschversuch gegen die jungtürkische Regierung im Osman. Reich. Unter dem Befehl v. İsmail Enver (bekannt als Enver Pascha, 1881–1922) u. Ahmet Cemal (bekannt als Cemal Pascha, 1872–1922) wird diese Revolte niedergeschlagen. in der Türkei der Absolutismus: → 665 Sultan: → 490 ottomanische Reich: → 610 Basler Programm: → 486 Jungtürken: → 665 Orientbank: 1908 wird die Anglo-Levantine Banking Company in Konstantinopel als Zweig des Jewish Colonial Trust unter der Leitung des prakt. Zionisten Victor Jacobson (1869–1934) gegründet, um Finanzgeschäfte in Osteuropa u. dem Osman. Reich abzuwickeln. Gleichzeitig ist sie als polit. Vertretung der Zionistischen Organisation im Osman. Reich anzusehen. Versuchsfarm: → 597 praktischen Zionisten: → 426 Dr. Levy: Dr. Emil Nathan Levy (1879–1953), dt.-elsäss. Rabbiner u. Zionist. 1905– 1914 Rabbiner des Religionsvereins Westen in Berlin, 1914–1916 Feldrabbiner, ab 1916 Oberrabbiner in Straßburg u. Berlin, 1934 Emigration n. Palästina u. Rabbiner in Tel Aviv. Dr. Franck: Dr. med. L. Franck (Lebensdaten unbek.), Hamburg-Altona, Ratsmitglied der Gemeinden Altona, Wandsbek, Kiel u. Lübeck. Zerstreuung: → 424 Emphase: Emphase, griech. ἔμφασις, dt.: „Spiegelung“, „Andeutung“, „Verdeutlichung“, „Nachdruck in der Rede“. Bez. für „Nachdruck“, „Hervorhebung“ bzw. „Eindringlichkeit“. Charters: → 598
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Auspizien: Auspizium, lat. auspicium, dt.: „Vogelschau“, „Vorzeichen“, „Vorbedeutung“, Bez. für „Vorbedeutung“ bzw. „Aussichten auf ein Vorhaben“. Bildungssprachl. für „unter der Oberhoheit o. Schirmherrschaft einer Institution o. Person“. „den nötigen Regierungszustimmungen“: → 486 Jota: Jota, neunter Buchstabe des griech. Alphabetes, griech. Ι bzw. ι. Die Bedeutung v. „kein Jota“ i. S. v. „nicht im Allermindesten“, „nicht im Geringsten“ geht auf Mt 5,18 zurück: „Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.“ mystische Unantastbarkeit: → 434 Wortfetischismus: Fetisch → 616. N. verwendet den Begriff F. in einer Ausweitung auf den nichtreligiösen Bereich, in welchem der F. in einer Form der Objektfixierung eine besondere Wirkungsmacht zu entfalten imstande ist. Gewisse Gegner: Neben christl. geprägten antizionistischen Bestrebungen in ganz Europa sind v. a. auch innerjüdische Gruppen dem Zionismus gegenüber kritisch eingestellt. Das assimilierte jüdische Bürgertum passt sich als Minderheit den Bräuchen u. der Kultur der Mehrheit an u. steht dem Gedanken der Auswanderung ablehnend gegenüber. V. a. liberale Gruppen wie der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens halten die Idee eines Judenstaates für utop. u. lehnen sie ab. Daneben gibt es v. a. in Osteuropa größere Gruppen orthodoxer Juden, die in Erwartung einer Rückführung in das Heilige Land auf die Ankunft des Messias warten u. daher einer Umsiedlung n. Palästina ablehnend gegenüber stehen. Im Bericht des Exekutivkomitees an den X. Zionistenkongress wird v. dem Zionismus gegenüber feindl. Debatten berichtet. Tollheiten: → 460 Fopperei: Fopperei, abwertend für „Scherz“, „Spaß“, „Streich“, urspr. aus der Gaunersprache. Opportunismus: → 662 assimilieren: → 431 Intellektuelle: → 584 Rede Dr. Max Nordaus: Der IX. Zionistenkongress findet vom 26.–31.12.1909 in Hamburg statt. N. u. der zweite Präsident der Zionistischen Organisation, David Wolffsohn (1856–1914), sehen in dem Aufstand der Jungtürken gegen die Herrschaft des Sultans im Osman. Reich Hoffnung auch für einen jüdischen Staat in Palästina. Auf Anregung des dt. Nationalökonoms u. Soziologen Franz Oppenheimer (1864–1943) beschließt der Kongress die Förderung genossenschaftl. Siedlungen in Palästina.
668 Teil II: Kommentar
67 Über den Gegensatz zwischen Ost und West im Zionismus Quelle: Die Welt, 18.3.1910, H. 11, S. 231–232.
Petersburger Bruderorgan, der „Rasswjet“: Russ. Rasswjet, dt.: „Morgenröte“. V. dem russ. Schriftsteller u. Zionisten Wladimir Zeev Jabotinsky (Pseudonym: Altalena, 1880–1940) hrsg., in St. Petersburg erscheinende russ. Zeitschrift. Fetisches: → 616 Fanatiker: → 453 Zerstreuung: → 424 weltfremde, schwärmende Zionisten: → 586 Herren Ussischkin: Abraham Menahem Mendel Ussischkin (1863–1941), russ. Ingenieur u. Zionist. Mitglied der Chibbat Zion, langjähriger Präsident des Jüdischen Nationalfonds (JNF) (1923–1941) u. strikter Gegner des „Uganda“-Plans. Dr. Tschlenow: Echiel Wolfowitsch Tschlenow (1864–1918), ukrain.-russ. Mediziner, Publizist u. Zionist. Förderer der Chibbat Zion, Mitglied im Großen Aktionskomitee u. zweiter Vorsitzender im Engeren Aktionskomitee der Zionistischen Organisation. Dezidierter Gegner des „Uganda“-Plans. Weitzmann: Chaim Weizmann (1874–1952), weißruss. Naturwissenschaftler, Zionist u. erster Präsident Israels. Präsident der Zionistischen Organisation (1921–1931 u. 1935–1946) u. Präsident der Jewish Agency for Israel (ab 1929), der jüdischen Einwanderungsvertretung in Palästina. Als Gegner der Pläne jüdischer Siedlungen in Uganda, Argentinien o. Südafrika strebt W. eine Synthese aus dem prakt. Zionismus der Palästina-Besiedelung u. dem polit. Zionismus mit dem Gedanken einer jüdischen Staatsgründung an. Dr. Pasmanik: Daniel Pasmanik (1869–1930), ukrain. Mediziner, Publizist u. Zionist. Zahlreiche, mehrsprachige Artikel zu einem evolutionären Zionismuskonzept u. zur prakt. Arbeit in Palästina, u. a. in Rasswjet (russ., dt.: „Morgenröte“) u. Die Welt, sowie theoretische Schriften wie Die Seele Israels: Zur Psychologie des Diasporajudentums (1911). Wolkenkuckucksheimträumerei: Wolkenkuckucksheim, Lehnübersetzung v. griech. Νεφελοκοκκυγία. Das Wort stammt aus der Komödie Ὄρνιθες (414 v. Chr., dt.: „Die Vögel“) des griech. Dichters Ἀριστοφάνης (dt.: Aristophanes, nach Mitte 5. Jh.– 380er Jahre v. Chr.) u. bez. eine Stadt in den Wolken, die die Vögel sich als Zwischenreich gebaut haben. Eine Person, die W. betreibt, ist demnach im übertragenen Sinn ohne Realitätssinn u. gibt sich Utopien hin.
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Kolonialbank: → 469 Anglo-Palestine-Company: → 633 Agrarbank: → 635 Kataster: Kataster, Mask. o. Neutr., zu ital. catastro, dt.: „Zins- o. Steuerverzeichnis“, amtliches Grundstücksverzeichnis, das auf Landvermessungen beruht u. auf dessen Grundlage die Grundbücher für Landstücke ausgestellt werden.
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68 Was Herzl uns bedeutet Quelle: ZS2, S. 469–476, dort mit dem Verweis: Die Welt, Herzl-Gedenknummer, 1910, 20. Mai (= Die Welt, 20.5.1910, H. 20, S. 441–444).
Sein Verschwinden: Nach Theodor Herzls Tod im Jahre 1904 lebt seine Ehefrau Julie Herzl, geb. Naschauer (1868–1907), in einem Sanatorium. Leon Kellner: Leon Kellner (Pseudonym: Leo Rafaels, 1859–1928), österr. Philologe, Literaturhistoriker u. Zionist. Als Anglist sieht K. die Korrekturfahnen der engl. Übersetzung v. Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage (1896) durch u. wird in der Folgezeit zu einem engen Freund Theodor Herzls (1860– 1904). K. ist Hrsg. der Sammlung Zionistische Schriften von Theodor Herzl (1908). V. einer auf zwei Bände konzipierten Biografie Herzls erscheint nur der erste Band, Theodor Herzls Lehrjahre (1920). „Judenstaat“: → 527 Paladine: Lat. Palatinus, dt.: „palatinisch“, „kaiserlich“, dazu lat. Palatini, dt.: „die kaiserl. Palastdiener“, ital. paladino, dt.: „Paladin“. Histor. terminus technicus für einen Angehörigen des Heldenkreises am Hofe Karls des Großen (747/748–814), dann „Hofritter“, „Berater eines Fürsten“, „treuer Gefolgsmann“. Wiener Kadimah: Kadima, auch: Kadimah, hebr., dt.: „Ostwärts“, „Vorwärts“. Name einer nationaljüdischen, später zionistischen Studentenverbindung in Wien. Gründung 25.10.1882, Zwangsauflösung 13.8.1938. Die Verbindungsfarben sind Amaranthrot-Violett-Gold auf violett-weißem Grund, der Wahlspruch lautet: Mit Wort und Wehr für Juda's Ehr! Als Gegner der Assimilation setzt sich die Verbindung für die Förderung jüdischen Selbstbewusstseins u. die Besiedelung Palästinas ein u. bewegt Herzl dazu, die Führung der zionistischen Bewegung zu übernehmen. Der Großherzog von Baden, der Großherzog von Hessen, der deutsche Kaiser empfangen den Präsidenten der neu geschaffenen zionistischen Weltorganisation: Die Zionistische Organisation wird unter der Ägide Theodor Herzls (1860–1904) auf dem I. Zionistischen Weltkongress in Basel gegründet. Im gleichen Jahr ist Friedrich I. (1826– 1907) Großherzog v. Baden, Ernst Ludwig (1868–1937) Großherzog v. Hessen-Darmstadt u. Wilhelm II. (1859–1941) dt. Kaiser. In der Folgezeit der Gründung wirbt Herzl bei den drei Genannten um Unterstützung des zionistischen Anliegens. Insbesondere v. Wilhelm II., der Herzls Vorhaben zunächst positiv aufnimmt, erhofft er sich Vorteile bei Verhandlungen mit dem osman. Sultan Abdülhamid II. Auf der Orientreise des Kaisers 1898 treffen Herzl u. Wilhelm II. persönlich zusammen. Tatsächlich spricht der Kaiser das zionistische Vorhaben gegenüber dem Sultan an, stellt nach dessen Absage jedoch jegliche Unterstützung ein.
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Sultan Abd ul Hamid: Abdülhamid II. (1842–1918), osman. Sultan. Unter seiner Regentschaft erreicht die staatl. Reformbewegung Tanzimat (osman., dt.: „Anordnung“, „Reorganisation“, „Neuordnung“) ihren Höhepunkt. Stärkung einer gesamtislam. Politik in Opposition zu den sich manifestierenden westl. Einflüssen. Ausrufung der ersten osman. Verfassung (23.12.1876) u. damit Einlenken gegenüber der erstarkenden nationalen Reformbewegung, kurz darauf jedoch Aussetzung der Verfassung (1878) u. zunehmend autoritärer Regierungsstil. Abdankung nach einer Militärrevolution (1908). Großkordon des Medschidieordens: Der Mecidiye-Orden (osman. Mecîdî Nişanı) ist ein türk. Orden, der im Jahre 1852 durch den Sultan Abdul Medschid (1823–1861) gestiftet wird. Der M. wird seit dieser Zeit als Anerkennung für gegenüber der kaiserl. Regierung geleistete Dienste verliehen u. ist in fünf Gütegrade klassifiziert. Der Orden zeigt eine Sonne mit fünf silbernen Strahlen u. einem Halbmond, zw. denen das Wappen des Kaisers zu sehen ist. König von Italien: Viktor Emanuel III. (ital. Vittorio Emanuele III, 1869–1947), ital. Monarch (1900–1946). Der König ist gleichzeitig Staatsoberhaupt einer konstitutionellen Monarchie. Papst: Papst Pius X. (geb. als Giuseppe Melchiorre Sarto, 1835–1914), bislang letzter heiliggesprochener Papst (1954). P. führt den Antimodernisteneid ein (1910), der allen Klerikern auferlegt, allen Lehren, die dem Modernismus zugeschrieben werden, abzuschwören. Im Bereich der Kirchenmusik verbietet er den Einsatz v. Kastraten in Kirchenchören u. schafft damit die lange Kastrationspraxis der Kirche zur Förderung einer Sängerkarriere junger Knaben ab. El Arisch: → 614 Britisch-Ostafrika: B.-O. bez. nach der brit. Kolonisierung die in einer Währungsunion (ab 1927) zusammengefassten Gebiete Tanganjika, Kenia u. Uganda. Kolonialbank: → 469 Nationalfonds: → 598 Uganda-, richtiger Nairobigeschenk: → 608 Parze: Lat. Parca zu lat. pario, dt.: „gebären“. Die drei Parzen, Schicksalsgöttinnen der röm. Mythologie, sind identisch mit den griech. Μοῖραι (dt.: Moiren): die den Rocken haltende Κλωθώ (dt.: Klotho), die den Faden spinnende Λάχεσις (dt.: Lachesis) u. die den Lebensfaden abschneidende Ἄτροπος (dt.: Atropos), auf die sich N. hier bezieht. in der frommen Sage / Kaiser Rotbart: Friedrich I., gen. Barbarossa (ital., dt.: „Rotbart“, um 1122–1190), röm.-dt. Kaiser. Krönung zum röm.-dt. König 1152 in Aachen. Ziel seiner Herrschaft ist die Wiederherstellung alter Größe des röm. Kaisertums.
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Krönung zum Kaiser durch Papst Hadrian IV. (geb. als Nicholas Breakspear, ca. 1110–1159) während des ersten Italienfeldzuges (1155). Einer dt. Sage nach schläft Friedrich Barbarossa seit Jh.en in einer Höhle des mitteldt. Kyffhäuserbergs, um eines Tages als dt. Friedenskaiser zurückzukehren u. ein herrl. Reich zu schaffen. Seit dem 19. Jh. wird die Sage häufig mit dem polit. Streben nach einem dt. Nationalstaat in Verbindung gebracht. mystische: → 434 apotheosiert: Apotheosieren, v. altgriech. ἀποθέωσις, dt.: „Vergottung“, jmd. o. etwas verherrl. o. vergöttlichen. advocatus diaboli: Lat., dt.: „Anwalt des Teufels“. Bez. für eine Person, die gegner. Positionen verteidigt, ohne Teil dieser gegner. Partei zu sein. In der kathol. Jurisdiktion müssen beim Prozess der Selig- o. Heiligsprechung alle Gegenargumente vorgetragen werden. Dabei stehen sich A. D. u. Advocatus Dei argumentativ gegenüber. Kanonisationsprozess: Griech. κανονίζω, dt.: „nach der Regel machen“. Bez. für die Aufnahme in den Kanon o. die Heiligsprechung in der Kathol. Kirche, die nur durch den Papst vollzogen werden darf (seit 1234). Ein zuvor selig Gesprochener wird durch die Kanonisation zum Heiligen erhoben u. fortan in allen Teilen der Kirche verehrt. Für die Durchführung v. Heiligsprechungsprozessen ist ab 1588 die Sacra Rituum Congregatio zuständig. plädieren: → 591 dynamogenem Werte: → 427 Schwarzen Hundert: Schwarze Hundert (russ. Tschornaja sotnja), umfassender Begriff für nationalist. Gruppierungen im zarist. Russland zu Beginn des 20. Jh.s. Die stark antisemitisch geprägten Verbände rekrutieren sich aus reaktionären Monarchisten. Die teilweise v. den zarist. Behörden unterstützten Gruppen sind für antisemitische Pogrome u. terrorist. Gewalttaten gegen Revolutionäre (1904–1906) verantwortlich. Roosevelts: Theodore (gen. Teddy) Roosevelt (1858–1919), US-amerik. Politiker u. Präsident. Republikanischer Abgeordneter, Polizeichef u. Gouverneur des Bundesstaates New York (1882–1900). Hartes Vorgehen gegen Korruption. Vizepräsident der USA (1900) unter William McKinley (1843–1901), im Folgejahr Amtsnachfolger. Engagement für ausgeglichene Machtverhältnisse in Europa u. Asien. Friedensnobelpreis (1906) für Vermittlungen im Russisch-Japan. Krieg (1905). ottomanischen Verfassungsära: → 665 (unblutigen Umwälzung). Etablierung der ersten ottoman. = osman. Verfassung am 23.12.1876 durch Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) mit dem Ziel, die Autokratie des Sultans zu sichern. Gründung eines Parlamentes, Reform der Verwaltung. De jure formuliert der Verfassungstext Frei-
68 Was Herzl uns bedeutet 673
heit, Gerechtigkeit u. Gleichheit für alle auf ottoman. Einflussgebiet lebenden Individuen. Rationalismus: → 440 „Gam su letoba“: → 474 Heros eponymus: Griech. ἥρως, dt.: „Halbgott“, „Heros“, u. ἐπώνυμος, dt.: „nach etwas benannt“, „seinen Namen einem anderen gebend“. Ein Eponym ist eine Gattungsbez., die auf einen Personennamen zurückgeht, wie z. B. die Luftschiffbez. Zeppelin auf dessen Erfinder Ferdinand Adolf Heinrich August v. Zeppelin (1838– 1917). Bankbruch: → 486 Makkabis: → 478, → 620 Israel: → 444 Herzl-Gedenknummer: Der in Die Welt (20.5.1910, H. 20, S. 441–444) abgedruckte Erinnerungsaufsatz N.s ist in heroisierender Jugendstil-Schrifttype gesetzt u. mit floralem Rankwerk um eine Herzl-Büste verziert.
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69 Der erste Kongress Quelle: ZS2, S. 223–227, dort mit dem Verweis: Die Welt, 1911, Nr. 27. Ferner in: Die Welt, 7.7.1911, H. 27, S. 630–631.
Vorwort zur Neuauflage: Die vorangestellte Einordnung lautet in der Veröffentlichung des Textes in der Welt leicht abweichend: „(Vorwort zu der von der jüd. nat. akad. techn. Verbindung ›Barissia‹ in Prag veranstalteten Neuauflage des Protokolls des ersten Kongresses.)“ Verbindung „Barissia“ in Prag: Die dachverbandsfreie, jüdische student. Verbindung Barissia wird am 30.10.1903 in Prag gegründet, das Ende ihres Bestehens ist unbekannt. Ihre Mitglieder tragen eine violette Mütze u. Bänder in den Farben violettweiß-schwarz (mit silbernem Davidstern). „Wie schön war die Republik“: Zitat des frz. Revolutionshistorikers François-VictorAlphonse Aulard (1849–1928), frz.: „Ah! Que la République était belle sous l'Empire!“ Der Ausspruch stammt aus dem Jahr 1885 (15 Jahre nach Gründung der Dritten Republik 1870). Berufung A.s auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für die Geschichte der Frz. Revolution an der Universität Paris (1887). Hauptwerk: Histoire politique de la Révolution française, origines et développement de la démocratie et de la république (4 Bde., 1789–1804). Als Historiker hinterfragt A. zahlreiche Mythen um die frz. Revolution. Er ist polit. tätig, u. a. als Mitgründer der während der Dreyfus-Affäre ins Leben gerufenen Ligue des droits de l'Homme. N. irrt jedoch, wenn er ihn als „Begründer der dritten Republik“ bez. zukunftsschwangeren Augusttagen 1897: → 438 Wir 204: Insgesamt nehmen an dem I. Zionistenkongress 204 Teilnehmer aus aller Welt teil, die die teilweise sehr unterschiedl. Ausprägungen des Judentums um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. repräsentieren. Die Enttäuschung: Gemeint ist die 1870 gegründete sog. Dritte Frz. Republik, die bis 1940 besteht. N. bezieht sich zurück auf das am Anfang seines Artikels zitierte Bonmot Aulards. Palingenesis: Auch: Palingenese, griech. πάλιν, dt.: „wieder“, u. griech. γένεσις, dt.: „Ursprung“, „Entstehung“. Philosoph. Terminus für eine Wiedergeburt durch Seelenwanderung o. die auf einen Kataklysmus folgende Neuschöpfung. Ende seiner achtzehnhundertjährigen Leiden: → 477 Rütlieid: Rütli, kleine Wiese am Westufer des Vierwaldstätter Sees, auf der nach einer Sage v. 1470 die legendären Abgesandten der Schweizer Urkantone Uri, Schwyz u. Unterwalden, Walter Fürst v. Attinghausen, Werner Stauffacher v. Steinen u. Arnold an der Halden v. Melchtal, den Ewigen Bund beschwören. Die Eidgenossen-
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schaft wird so myth. begründet. Eine ältere Datierung des Geschehens auf den 8.11.1307 ist mittlerweile fraglich. O. Kokesch: Oser Kokesch (1859–1905), galiz. Jurist u. Rechtsanwalt in Wien, enger Freund u. Mitarbeiter Theodor Herzls (1860–1904). Mitglied der zionistischen Studentenverbindung Kadima in Wien. Auf dem I. Zionistenkongress wird er in das Engere Aktionskomitee gewählt u. gehört diesem bis zu seinem Tod an. Oskar Marmorek: Oskar Adolf Marmorek (1863–1909), bedeutender österr. Architekt. Mitarbeit an der Weltausstellung in Paris 1889. Nach der Lektüre v. Der Judenstaat endgültiges Bekenntnis zum Zionismus. Mitarbeit bei der Organisation des I. Zionistenkongresses. Marcou Baruch: Joseph Marcou Baruch (1872–1899), engagierter Verbreiter zionistischen Gedankenguts in Westeuropa u. Mittelmeerländern. In Wien Mitglied der Studentenverbindung Kadima. Leop. Kahn: Leopold Kahn (1859–1909), österr. Rechtsanwalt in Wien, Mitglied des Engeren Aktionskomitees u. zionistischer Politiker. Mitherausgeber der Zeitung Die Welt. Lande Israel: → 444 Zerstreuung: → 424 Gesichte: Hier i. S. einer übernatürl. Erscheinung, Vision o. göttl. Offenbarung. lapidarisch: Auch: lapidar. Lat. lapidarius, dt.: „zu den Steinen gehörig“, „steinig“, zu lat. lapis, dt.: „Stein“. Bez. zunächst die wuchtige bzw. kraftvolle, in den Stein gehauene Inschrift, dann den Stil der knappen u. gedrängten, mit häufigen Abkürzungen versehenen Texte röm. Inschriften i. S. v. „ohne Erläuterungen“, „knapp“, „kurz u. bündig“. „Die Rückkehr zum Judentum“: Paraphrase eines Zitates des dt. Zionisten Kurt Yehuda Blumenfeld (1884–1963), der eine Formulierung des verstorbenen Theodor Herzl (1860–1904) auf dem I. Zionistenkongress wiedergibt. B. schreibt im August 1910 unter dem Titel Rückkehr ins Judenland: „Der Zionismus ist die Rückkehr zum Judentum vor der Rückkehr ins Judenland“ (vgl. Jehuda Reinharz (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus: 1882–1933, Tübingen 1981, S. 90). Das Originalzitat Herzls lautet: „Der Zionismus ist die Heimkehr zum Judentum noch vor der Rückkehr ins Judenland“ (vgl. Protokoll des I. Zionistenkongresses in Basel vom 29.–31. August 1897, Wien 1898, S. 5). Postulat: → 428 dux perplexorum: Lat., dt.: „Führer durch die verschlungenen (dunklen/rätselhaften/unverständl.) Dinge“, „Führer für die Unschlüssigen“. N. spielt auf einen der
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Haupttexte des bedeutenden jüdischen Gelehrten, Philosophen u. Arztes Mose ben Maimon, gen. Maimonides (1135–1204), an, Rabbi Mossei Aegyptii Dux seu Director dubitantum aut perplexorum (dt.: „Führer des ägyptischen Rabbi Moses oder Leiter für die Zweifelnden und Unschlüssigen“). In der an zweifelnde Juden gerichteten Schrift zeigt Maimonides Kongruenzen zw. den jüdischen Quellen des Glaubens u. der zeitgenöss. Wissenschaft, dem arab. Aristotelismus, auf. „More Nebochim“: Hebr. More Newuchim, dt.: „Wegweiser für Verirrte“, „Führer der Unschlüssigen“. Hebr. Titel des in arab. Sprache mit hebr. Buchstaben geschriebenen Hauptwerkes des Maimonides (1135–1204). „Die Welt“: → 436
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70 X. Kongressrede Quelle: Die Welt, 10.8.1911, H. 1, S. 786–789. Ferner in: ZS2, S. 205–222.
X. Kongressrede: Da der Wortlaut der X. Kongressrede in der posthum erschienenen 2. Auflage von Nordaus Zionistischen Schriften (1923) von der Erstveröffentlichung in der Welt (10.8.1911) abweicht, ohne dass der Urheber dieser Änderungen feststellbar ist, greift die vorliegende Edition auf letztere Version zurück. Semantisch relevant sind insbesondere die folgenden Varianten in der Fassung der ZS2 (Änderungen fett, ursprüngl. Formulierung in eckigen Klammern): „Sind die Verbrecher Beamte, so gibt es gegen sie weder Klage [Kläger] noch Richter.“ (ZS2, S. 208; vgl. S. 377 in der vorliegenden Ausgabe); „Man stiftet mit dem Aufwand zahlreicher Millionen in allen großen Ländern ›Herofunds‹ zur Belohnung tapferer Taten im Dienste der Menschheit [Menschlichkeit].“ (ZS2, S. 211; vgl. S. 379); „Diesen Haß haben wir seit der ersten Stunde der zionistischen Bewegung immer auf unseren Wegen [an unserem Wege] gefunden.“ (ZS2, S. 215; vgl. S. 382); „Wir kreuzen dann die Klinge mit ihnen und bestehen sie in offenem Kampfe, den wir unsererseits immer ehrlich [ritterlich] führen.“ (ZS2, S. 216; vgl. S. 382); „… die Erschließung ergiebigerer [ergiebiger] Hilfsquellen …“ (ZS2, S. 221; vgl. S. 385); „… und der hohen sittlichen Bedeutung [Würde] der zionistischen Bewegung …“ (ZS2, S. 221; vgl. S. 385); „… unsere durch nichts zu entmutigende zionistische Arbeit [Tätigkeit] …“ (ZS2, S. 222; vgl. S. 385); „… daß das jüdische Volk sich selbst und seinem zweitausendjährigen Ideal [seinen zweitausendjährigen Idealen] treu bleibt“ (ZS2, S. 222; vgl. S. 385); „Solche Treue aber überwindet jedes Verhängnis [Hindernis].“ (ZS2, S. 222; vgl. S. 385). Auch werden gelegentlich Einfügungen und kleinere Streichungen vorgenommen (Einfügungen fett): „Man darf ihn beschimpfen, mißhandeln, bestehlen, berauben, sogar ermorden“ (ZS2, S. 207; vgl. S. 377); „… für das es [selbst] in der an Massenmorden [doch] so reichen Geschichte …“ (ZS2, S. 209; vgl. S. 378); „Es gibt für sie nur ein [einziges] Heil: die Auswanderung.“ (ZS2, S. 213; vgl. S. 381); „Aber diese Ammenmärchen [sie] sind eben für Leser bestimmt, die von uns gar nichts wissen“ (ZS2, S. 216; vgl. S. 382); „Lügner, Verleumder und Volksverräter“ (ZS2, S. 219; vgl. S. 384). Der Teilsatz „denn wir glauben an die Macht der Wahrheit und an den gesunden Menschenverstand der türkischen Staatsmänner“ (S. 385) wird an den Satz „Wir zweifeln nicht daran, dass unsere Bemühungen Erfolg haben werden“ (S. 384) angeschlossen und variiert zu „denn wir haben Vertrauen zur Macht der Wahrheit und zum gesunden Menschenverstand der ottomanischen Machthaber“ (ZS2, S. 219). Geehrter Kongress: Der X. Kongress vom 9.–15.8.1911 wird als erster Kongress in hebr. Sprache abgehalten. Thematisiert werden v. a. die Beziehungen zw. Zionisten u. Arabern. Der dt. Botaniker Otto Warburg (1859–1938) wird zum Nachfolger David Wolffsohns (1856–1914) als Präsident der Zionistischen Organisation gewählt.
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Zwei Jahrsiebente: N. legt wg. der besonderen Bedeutung der Zahl sieben im Judentum hierauf großen Wert. Der siebte Tag der Woche u. der Erschaffung der Welt ist ein Ruhetag in Erinnerung an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung des Kosmos (Ex 20,11). Vgl. auch Sabbatjahr → 619. Jubelkongress: Der X. Zionistenkongress in Basel wird zwar als Jubiläumskongreß u. v. N. verkürzend als Jubelkongreß bez., wg. der angespannten Lebenssituation vieler Juden in Europa besteht allerdings allgemein wenig Anlass zu Triumphgefühlen. Vermutl. zieht N. eine etymolog. Parallele zu Jobeljahr → 501. etymologischen Irrtum: Etymologie, griech. ἔτυμος, dt.: „wahr“, „wirklich“, „leibhaftig“, u. griech. λόγος, dt.: „Wort“, Wissenschaft v. der Herkunft u. Geschichte eines Wortes u. seiner Bedeutungen. „jobal“: → 501 Zerstörung des zweiten Tempels: → 426 Zerstreuung: → 424 Pest: → 645 endemische: Endemisch, griech. ἔνδημος, dt.: „im Volk“, „einheimisch“. In der Biologie bezieht sich Endemie auf Tier- u. Pflanzenarten, die aufgrund v. fehlenden Ausbreitungsfähigkeiten u. geograf. o. klimat. Isolation in einem engen, räumlich begrenzten Gebiet vorkommen. In der Medizin bez. Endemie ein lokal begrenztes o. auf eine Population beschränktes gehäuftes Auftreten einer vielfach durch Infektionen ausgelösten Krankheit. epidemisch: Griech. ἐπιδημία, dt.: „Aufenthalt an einem Ort“, „Ankunft“, „Verbreitung in einem Volk“, zu griech. ἐπί, dt.: „auf“, u. griech. δήμος, dt.: „Volk“. Epidemien sind meist Infektionskrankheiten, die mit lokaler u. zeitl. Begrenztheit auftreten u. sehr große Teile der Bevölkerung befallen. Lohe: → 531 Zulassung zum Offiziersstande: Auf Veranlassung des 27. Präsidenten (1909–1913) der Vereinigten Staaten, William Howard Taft (1857–1930), erteilt das Verteidigungsministerium am 6.6.1911 Colonel Joseph Garrard (auch: Gerrard, 1851–1924), dem Kommandanten v. Fort Meyer, Virginia, eine Rüge, weil er dem Soldaten Private Frank Bloom den Zugang zur Offizierslaufbahn mit dem Hinweis auf dessen jüdische Herkunft verweigert habe. Menschenrechte: → 441 vogelfrei: → 464
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Private: Privater, lat. privatus, dt.: „abgesondert“, „nicht öffentlich“, „einem Privatmann gehörig“. N. verwendet den Begriff hier i. S. v. „nicht offiziell“, „außerdienstl.“, „nur die eigene Person angehend“. Proletarisierung der jüdischen Massen: → 445 Parias: → 506 Vertierung: → 464 sadistische: Sadistisch, zu Sadismus, Sexualpräferenz, bei der Freude bzw. Befriedigung ob der Qualen, der Demütigung o. der Unterdrückung anderer Menschen empfunden wird, im weiteren Sinne die Freude am Quälen unabhängig v. sexuellem Empfinden. Namensgeber ist der frz. Schriftsteller, Kirchenkritiker u. Philosoph Donatien Alphonse François Marquis de Sade (1740–1814). Werke u. a. Les cent-vingt journées de Sodom, ou l'école du libertinage (1785), La philosophie dans le boudoir (1795) u. Histoire de Juliette, ou les Prospérités du Vice (1796). Niedermetzelung der Albigenser: Albigenser, nach der südfrz. Stadt Albi im Département Tarn in der Region Midi-Pyrénées benannte mittelalterl. Sekte. A. ist der im Mittelalter verwendete Name für die Katharer (griech. καθαρός, dt.: „unbefleckt“, „rein“), die im 12. u. 13. Jh. in Südfrankreich u. Oberitalien verbreitet sind. Ursachen für die Gründung dieser Bewegung sind die Kritik an der Verweltlichung der Kirche u. der fehlenden Seelsorge u. das Streben nach einer ‚einfachen‘ u. ‚armen‘ Kirche. N. bezieht sich auf die Albigenserkriege (1209 bis 1229); Papst Innozenz III. (geb. als Lotario dei Conti di Segni, 1160/1161–1216) verfolgt mithilfe der Inquisition die Katharerbewegung. Nach der Einnahme der Städte Béziers u. Carcassonne kommt es zu einem Blutbad, viele A. u. unbeteiligte Zivilbevölkerung (ca. 20.000 Menschen) werden gehängt o. verbrannt. Eduards I.: Eduard I., engl. Edward I (1239–1307), 1272–1307 König v. England. 1275 erlässt er das Statutum de Iudaismo, das für die Juden in England den Geldverleih auf Zinsen einschränken soll. 1286 führt er verpflichtend das Tragen gelber Zeichen an der äußeren Bekleidung ein u. 1290 wird ein Ausweisungsedikt erlassen, das alle Juden zum Verlassen Englands zwingt. Frankreich Philipps des Schönen: → 434 Rheingau zur Zeit des schwarzen Todes: Schwarzer Tod. Häufig kommt es zu Pogromen, da Juden als Brunnenvergifter als vermeintl. Schuldige an dieser Seuche ausgemacht werden. Nicht nur im Rheingau selbst, sondern auch in anderen Städten entlang des Rheins wie Mainz, Worms u. Wiesbaden, die einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil aufweisen, kommt es zu grausamen Verfolgungen. Viele Juden werden verbrannt, ermordet o. vertrieben.
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Spanien der katholischen Könige: Aufgrund v. Beschwerden am Hof über jüdische Steuerpächter, Zinsnehmer u. einen allzu großen Einfluss der Juden auf den Adel u. am Hof kommt es im 14. Jh. in Spanien zu Anfeindungen gegenüber Juden, die sich 1391 in Massakern an der jüdischen Bevölkerung entladen. Ein Sechstel der 300.000 span. Juden wird ermordet. Während des 15. Jh.s nimmt die Zahl der Zwangsbekehrungen zu, bis am 31.3.1492 alle Juden vor die Wahl gestellt werden, sich der Taufe zu unterziehen o. auszuwandern. Lothringen: Nachdem am 22.7.1306 alle Juden aus Frankreich vertrieben werden, sind deren Möglichkeiten des Exils deutl. beschränkt. Frankreich erweitert im 13. Jh. seine Gebiete um Champagne, le Perche, Maine, Normandie u. Vermandois. Daher können die Juden u. a. nur in das zu Burgund gehörende Lothringen flüchten. Polen Kasimirs des Großen: → 465 Sultans Selim: N. verwechselt Selim I. (1520–1470), neunter Sultan des Osman. Reiches, mit dessen Vater Bajasid II. (1447–1512). Dieser nimmt ab 1492 die durch den Erlass des Alhambra-Ediktes aus Spanien vertriebenen Juden aus ökonom. Erwägungen auf. Sein Sohn, Selim I., führt die den Juden gegenüber tolerante Politik fort. Bajonetten: → 520 Friedenskongresse: → 521 deklamiert: → 520 „Herofunds“: Vermutl. bezieht sich N. auf die 1904 v. dem schottisch-amerik. Großindustriellen u. Philanthropen Andrew Carnegie (1835–1919) gegründeten Carnegie Hero Trust Funds. Diese Stiftung zeichnet besonders selbstlos handelnde Menschen aus u. leistet im Todesfall den Hinterbliebenen Unterstützung. Ritualmordgeschichten: → 472 Irrsinnigen: → 584 Gleisner: → 520 doppelte Buchführung: → 566 Schachergeistes: Schacher treiben, zu schachern, hebr. śạḵạr, dt: „Handel treiben“, über das Rotwelsche entlehnter, pejorativer Ausdruck für gewinnsüchtigen, unlauteren Handel. Interpellation: Lat. interpellatio, dt.: „Unterbrechung“, „In-die-Rede-Fallen“, „Störung“. I. bez. das an die Regierung gerichtete Verlangen nach Auskunft in Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt durch einen o. eine Gruppe v. Parlamentariern.
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Ministerhotels: N. verwendet den im Deutschen ungebräuchl. Begriff M. vermutl. in Analogie zu frz. hôtel de ville (dt.: „Rathaus“) i. S. v. „Ministerpalais“. Lobeshymnen: Hymne, griech. ὕμνος, dt.: „Lied“, „Festgesang“, „Melodie“. Sittlichkeit: → 440 beim hellen Licht des 19. und 20. Jahrhunderts: Vermutl. bez. N. die zivilisator. Fortschritte des 19. u. 20. Jh.s im Sinne der Aufklärung metaphor. als ‚helles Licht‘. V. a. im 19. Jh. verbessert sich durch zahlreiche Erfindungen die Lebensqualität des Einzelnen rapide. homöopathische Heilmethode: → 663 Dass wir Zionisten: Seit der Eroberung Konstantinopels 1453 durch Mehmed II. verbessert sich die Situation der Juden im Hinblick auf Religionsausübung u. wirtschaftl. Entwicklung im östl. Mittelmeerraum. Juden werden weniger diskriminiert als in anderen Ländern u. sie werden aufgrund ihrer Kenntnisse u. handwerkl. Fähigkeiten als nützl. Glieder der Gesellschaft angesehen. Nach der Vertreibung der span. Juden 1492 nimmt die Türkei die Flüchtenden auf. Zw. 1500 u. 1800 ist die Türkei Zufluchtsstätte für Juden aus Deutschland, Polen, Russland u. der Ukraine. 1839 wird vom Sultan ein Gesetz zur Gleichstellung mit anderen Minderheiten erlassen u. 1856 die völlige Emanzipation erklärt. N. sieht die Türkei daher als legitimen Partner bei der Verwirklichung der zionistischen Ziele an. ottomanischen Reiches: → 610 zionsfeindlichen: Zion → 426 Brunnenvergifter: → 445 Industrieritter: Industrieritter, frz. Chevalier d'industrie o. aigrefin. Der Begriff, der in Frankreich ab 1770 bis etwa 1918 verwendet wird, vereint zwei an sich gegensätzl. Menschentypen: den Habitus des adligen Ritters vereint mit dem kapitalist. u. egoist. denkenden Industriellen, der vor Betrügereien nicht zurückschreckt. N. verwendet den Begriff i. S. v. „betrügerischer Hochstapler“ o. „Glücksjäger“. privatim: Lat. Adv., dt.: „als Privatmann“, „für seine Person“, „in eigenem Namen“. Kolonialbank: → 469 Ghettojuden: → 439 Fechtgänge: Fechtgang, Teil einer Mensur, eines nach festen Regeln ablaufenden Fechtkampfes mit Degen o. Säbel zw. Mitgliedern zweier verschiedener Studentenverbindungen. Die durch bestimmte Schutzkleidung vor lebensgefährl. Verletzungen geschützten Kontrahenten (in der Studentensprache: Paukanten) stehen sich
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gegenüber u. fechten eine streng reglementierte Anzahl v. Hieben (vier bis sechs) pro Gang (30–45) pro Partie. Die Hiebe werden über Kopf ausgeführt. Strauchrittern: Strauchritter, umgangssprachl., urspr. ein verarmter Ritter, vom Straßenraub lebender, auf einem Pferd umherstreifender Dieb o. Betrüger. Dolchstoßes: Dolch, Etymologie nicht eindeutig. Lautähnlich ist lat. dolo, dt.: „Stachel“, „Dolch“, die Herkunft des Lautes ‚g/ch‘ ist aber unklar, fnhd. dollich, dolken. Der Dolch ist eine meist kurze, zweischneidige Stichwaffe mit symmetrischem Haltegriff. D. wird hier i. S. v. „hinterhältiger Anschlag“ verwendet. denunziert: → 468 Germanophobie der Franzosen: Germanophobie, lat. Germani, dt.: „Germanen“, u. griech. φόβος, dt.: „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. für „Deutschfeindlichkeit“. In der 2. Hälfte des 19. Jh.s bis zum Ersten Weltkrieg in Frankreich u. England weitverbreitete Geisteshaltung, die auf Rivalitäten während der imperialist. Bestrebungen der Großmächte zurückzuführen ist. Das nach Kolonien u. weltpolit. Einfluss durch gewaltigen Ausbau seiner Flotte strebende Deutsche Kaiserreich wird v. den europä. Nachbarn kritisch o. ablehnend betrachtet. infamen Denunzianten: Infam, lat. infamis, dt.: „berüchtigt“, „verrufen“, „schmachvoll“, „schimpflich“, hier in der Bedeutung „bösartig“, „auf durchtriebene, schändl. Weise schadend“. / Denunziant. Ohrenbläsereien: Ohrenbläser, Bez. für einen Menschen, der jmd. etwas einflüstert o. einen anderen heimlich verleumdet. N. verwendet O. hier i. S. v. „Verleumdungen“. Schekel: → 490
71 Max Nordau über die russisch-amerikanische Passfrage
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71 Max Nordau über die russisch-amerikanische Passfrage Quelle: Die Welt, 26.1.1912, H. 4, S. 117.
russisch-amerikanische Passfrage: Am 17.12.1911 kündigt der US-amerikanische Präsident William Howard Taft (1857–1930) Russland den 1832 geschlossenen russischamerikanischen Handelsvertrag. Grund sind die Reiserestriktionen, denen US-amerikanische Juden in Russland ausgesetzt sind. Taft verlangt auf Druck der Öffentlichkeit die Behandlung der Reisenden als Amerikaner, während Russland sie entsprechend der diskriminierenden Gesetzeslage des Landes als Juden behandelt u. sich dafür auf einen Passus des veralteten Handelsvertrags beruft. N. S. Burstein: N. S. (nicht ermittelt) Burstein (1865–1938), brit. Journalist u. Zionist. Achselträger: Veraltete, umgangssprachl. Bezeichnung für eine heuchlerische Person, die ihre Haltung an wechselnde Verhältnisse anpasst. Mr. Taft: William Howard Taft (1857–1930), US-amerikanischer republikanischer Politiker u. Jurist, 1909–1913 27. US-amerikanischer Präsident. Lage der Juden in Russland: → 470, → 470, → 622
684 Teil II: Kommentar
72 Jews and the Balkan Settlement. Dr. Nordau's Views Quelle: The Times (London), 30.12.1912, Nr. 40095, S. 3.
[Zusammenfassung: Der in Briefform an den Herausgeber der Zeitung The Times gerichtete Text wird durch den Untertitel Dr. Nordau's views deutlich als subjektiver Standpunkt markiert. Zunächst stellt N. die Verbindung zwischen den Verhandlungen zur Beilegung des Ersten Balkankrieges u. den im Osman. Reich u. speziell auf dem Balkan siedelnden Juden her. Er prognostiziert diesen nach der polit. Neuordnung die rechtliche Gleichstellung. Bei der Botschafterkonferenz, die parallel zum Friedenskongress stattfindet, bestehe die Gefahr, dass die Bedeutung der Judenfrage (Jewish question) verkannt werde. Juden könnten entscheidend für die Zukunft der von mehreren Parteien beanspruchten Stadt Salonika, aber als arbeitswillige u. patriotische Bewohner auch für die Stabilität des verkleinerten Osman. Reiches sein, obgleich sie in Palästina mit entmutigenden Behinderungen konfrontiert würden. Das Ziel der Zionisten, für die Juden eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte in Palästina zu erlangen, habe sich entgegen diffamierender Gerüchte nie geändert. N. betont die von jeder revolutionären Aggression freie Loyalität der Zionisten gegenüber dem Osman. Reich u. seiner Souveränität; Zionisten würden nicht gegen Nationen arbeiten, sondern ausschließlich für das jüdische Volk. Bei dieser Arbeit hätten sie schon einiges erreicht, was von ihrer Leidenschaft Palästina gegenüber zeugen würde: weite Verbreitung des zionistischen Gedankens, finanzielle Handlungsfähigkeit, Gründung hilfreicher Institutionen (Anglo-Palestine Company, Anglo-Levantine Company, Palestine Land Development Company, Jewish National Fund), Förderung von Bildung u. Kultur in Palästina, Verdopplung der jüdischen Bewohner Palästinas. N. stellt die Frage, ob Europa, namentlich die Diplomaten, die Zionisten in der gegenwärtigen polit. Lage wenigstens moralisch in ihrem Streben unterstützen könnte, was keineswegs als Druck auf das Osman. Reich ausgelegt werden solle. Die Zionisten erstrebten lediglich gängiges Recht, die Abschaffung der verhassten Sonderbehandlung in Palästina: der rote Pass, das Verbot, Land zu erwerben. In Palästina, das für die Juden einen besonderen sentimentalen Wert habe, gebe es ausreichend Land für die Juden, die lediglich gleichgestellt werden wollten mit den zahlreichen anderen Völkern des Osman. Reiches. Sie würden bereitwillig die türkische Sprache erlernen, unter sich jedoch das Hebräische gebrauchen. In jeder Hinsicht wollten sie Palästina zu neuer Blüte verhelfen. Diese Gleichstellung werde ein wichtiger Beitrag zur Sicherung des zukünftigen europä. Friedens sein. N. unterschreibt den Brief als Präsident des X. Zionistenkongresses.] Editor of The Times: The Times, zur Abgrenzung von namensgleichen Druckerzeugnissen in anderen Städten auch The London Times, seit 1785 bestehende, renommierte englischsprachige Tageszeitung mit Sitz in London. Zum Zeitpunkt der Ver-
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öffentlichung von N.s Artikel ist Geoffrey Dawson (1874–1944) Herausgeber der Zeitung. struggle in the Balkans: Mit der Kriegserklärung Montenegros an das Osman. Reich am 8.10.1912 beginnt der Erste Balkankrieg. Die mit Montenegro im Balkanbund zusammengeschlossenen Staaten Griechenland, Serbien u. Bulgarien folgen Montenegros Beispiel am 17.10.1912. Innerhalb weniger Wochen besetzen die Balkanmächte die europä. Territorien des Osman. Reiches. Die Neuaufteilung dieser Gebiete unter den Balkanstaaten ist zunächst ungeklärt, da konkurrierende Ansprüche erhoben werden. Die Großmächte Großbritannien, Russland, Frankreich, Österreich-Ungarn, Deutsches Reich u. Italien, die wegen der Anerkennung der Eigenstaatlichkeit der Balkanstaaten im Berliner Vertrag 1878 auf ihr Interventionsrecht verweisen, beziehen wegen jeweils eigener machtpolit. Interessen nicht geschlossen Position. Peace Conference: Vom 16.12.1912–30.1.1913 tagt in London eine Friedenskonferenz mit Delegierten der Balkanstaaten u. des Osman. Reiches. Nach dem Waffenstillstand im Ersten Balkankrieg am 3.12.1912 beraten die Teilnehmer über die Aufteilung von Kosovo, Mazedonien, Thrakien u. Sandschak Novi Pazar sowie über den zukünftigen Status Albaniens, das am 28.11.1912 seine Unabhängigkeit ausgerufen hatte. Die Verhandlungen bleiben ergebnislos u. werden durch den Putsch der Jungtürken unter İsmail Enver (bekannt als Enver Pascha, 1881–1922) im Osman. Reich am 23.1.1913 u. den daraus folgenden Regierungswechsel beendet. The Turks had been kind to them: Nach den Vertreibungen aus Spanien 1492 nimmt das Osman. Reich unter Bajasid II., gen. Veli (türk., dt.: „der Heilige“) (1448–1512), zahlreiche sephardische Juden auf. Als Angehörigen einer abrahamitischen (d. h. sich auf den bibl. Abraham als Stammvater beziehenden) Religion, wie es auch der Islam ist, wird ihnen die freie Religionsausübung gewährt. Dafür ist allerdings eine gesonderte Steuer zu entrichten. their brethren in Rumania: → 439 Berlin Treaty: Der Berliner Kongress vom 13.6.–13.7.1878, an dem die europä. Großmächte u. das Osman. Reich teilnehmen, endet mit dem Abschluss des Berliner Vertrages. In diesem halten die Signatarstaaten neben Regelungen zu Bulgarien, Bosnien-Herzegowina u. Bessarabien die offizielle Anerkennung von Rumänien, Montenegro u. Serbien als unabhängige Staaten fest. Für Rumänien ist diese Anerkennung an die Bedingung geknüpft, dass die gesamte Bevölkerung die gleichen Rechte genießt u. den etwa 270.000 Juden des Landes die Staatsbürgerschaft verliehen wird. Diese Regelung wird jedoch unterlaufen. equality of all citizens: Im Zuge der Bedingungen des Berliner Vertrages erhalten die Juden Serbiens u. Bulgariens die vollen Bürgerrechte ihres jeweiligen Landes. In Griechenland wird die jüdische Bevölkerung bereits 1830 gleichgestellt.
686 Teil II: Kommentar
Ambassadors' meeting: Parallel zur Friedenskonferenz tagt ab dem 17.12.1912 ebenfalls in London eine Botschafterkonferenz, bestehend aus den Londoner Vertretern der Großmächte Russland, Italien, Frankreich, Deutsches Reich u. Österreich-Ungarn unter Vorsitz des brit. Außenministers Sir Edward Grey, 1st Viscount Grey of Fallodon (1862–1933). Sie tritt in den Folgemonaten wöchentl. zusammen, um über die aktuelle Lage auf dem Balkan zu beraten. prima facie: Lat. Ausdruck, dt.: „dem ersten Anschein nach“, lat. primus, dt.: „der erste“, „der vorderste“, u. lat. facies, dt.: „äußere Erscheinung“, „äußerer Schein“. Jewish question: → 458 Salonika: Am 7.11.1912 nehmen griech. Truppen kurz vor ebenfalls anrückenden bulgar. Truppen die Hafenstadt Thessaloniki ein. Beide Staaten beanspruchen die Stadt für sich. Nachdem vertriebene Juden aus Spanien sich Ende des 15. Jh.s in Thessaloniki ansiedeln, wird es als „Jerusalem des Balkans“ zu einem Zentrum des sephardischen Judentums mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil (um 1900 etwa 50%). Die Stadt fällt nach den Balkankriegen Griechenland zu. Balkan Alliance: 1912 schließen die Staaten Serbien, Bulgarien, Montenegro u. Griechenland ein Militärbündnis, den sog. Balkanbund, der von Russland unterstützt wird. Ziel ist die Erringung u. Aufteilung der europä. Gebiete des Osman. Reiches. the war ended: Am 3.12.1912 wird von den Beteiligten des 1. Balkankrieges ein Waffenstillstand geschlossen. Am 3.2.1913 werden die Kämpfe wiederaufgenommen u. schließlich am 30.5.1913 durch den Londoner Vertrag beendet, durch den das Osman. Reich einen Großteil seiner europä. Territorien verliert. Diese werden unter den Kriegsparteien Serbien, Bulgarien, Montenegro u. Griechenland aufgeteilt, Albanien wird unabhängig. 20 centuries: Vermutl. spielt N. auf die Gründung eines jüdischen Staates auf palästinensischem Gebiet durch die Hasmonäer an, die nach dem Makkabäer-Aufstand 164 v. Chr. erfolgt u. damit zum Zeitpunkt der Publikation von N.s Artikel etwas mehr als zwanzig Jh.e zurückliegt. Das unabhängige Hasmonäer-Reich besteht bis zu seiner Eroberung durch Pompeius 63 v. Chr. “Qui tacet ubi loqui debet et potest consentire videtur”: Lat., dt.: „Wer schweigt, wo er reden muss und kann, scheint zuzustimmen.“ Die Wendung stammt von Papst Bonifatius VIII. (geboren als Benedetto Caetani, 1235–1303). programme first proclaimed in Basle 15 years ago: → 486 Ottoman Empire: → 610 quota: → 490 Jewish Colonial Trust of London: → 469
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Anglo-Palestine Company: → 633 Anglo-Levantine Company: 1908 wird die Anglo-Levantine Banking Company in Konstantinopel als Zweig des Jewish Colonial Trust unter der Leitung des prakt. Zionisten Victor Jacobson (1869–1934) gegründet, um Finanzgeschäfte in Osteuropa u. dem Osman. Reich abzuwickeln. Gleichzeitig ist sie als polit. Vertretung der Zionistischen Organisation im Osman. Reich anzusehen. Palestine Land Development Company: 1909 gründen Otto Warburg (1859–1938) u. Arthur Ruppin (1876–1943) die Palestine Land Development Company (PLDC). Ziel ist der Erwerb u. die Vergabe von Land in Palästina für die Ansiedlung jüdischer Immigranten, finanziert aus Geldern des Jewish National Fund u. Spenden. Jewish National Fund: → 598 Jewish population of Palestine has doubled: Schätzungen zufolge verdoppelt sich die jüdische Bevölkerung in Palästina zwischen 1890 u. 1914 von etwa 43.000 auf etwa 94.000 Personen. the poor Jewish proletariat: → 445 privilegium odiosum: Lat. privilegium, dt.: „Privileg“, u. lat. odiosus, dt.: „verhasst“, „widerwärtig“, ein Privileg, das dem Privilegierten Nachteile bringt. “Red Passport”: Bis Dezember 1913 dürfen Juden, die nicht dem Osman. Reich angehören, nur mit einem roten Dokument, dem sog. Roten Pass, für den bei der Ankunft als Pfand der eigentliche Reisepass o. Geld einbehalten wird, in Palästina einreisen. Dieser beschränkt ihre Aufenthaltsdauer auf drei Monate. may not acquire land: Ab den 1880er Jahren beschränkt das Osman. Reich jüdische Einwanderung u. Niederlassung in Palästina mit wechselnder Schärfe. 1901 wird die Regelung getroffen, dass osman. Juden o. solche, die bereits lange im Reich leben, Land erwerben dürfen, nicht aber neu Zugewanderte, die prinzipiell nicht in Palästina verbleiben dürfen (red passport). Die offiziellen Anordnungen werden in der Praxis jedoch häufig umgangen. a seventh of the whole population: Schätzungen zufolge sind im Jahr 1914 94.000 der insgesamt 689.000 Bewohner Palästinas Juden. the Arabs, Syrians, Druses, Turks, Greeks, Armenians, Kurds: Als Vielvölkerreich besteht die Bevölkerung des Osman. Reiches aus außergewöhnlich vielen unterschiedl. Volksgruppen, von denen N. hier die größeren benennt. centralization: Zentralismus, Konzentration der Macht eines Staates auf wenige Instanzen, die die Selbstständigkeit von Regionen u. einzelnen Gruppierungen einschränken.
688 Teil II: Kommentar
Hebrew: Nach der Erneuerung der hebräischen Sprache durch Elieser Ben Jehuda (eigentl. Elieser Isaak Perlmann, 1858–1922) wird die Verwendung des modernen Hebräisch als Nationalsprache des jüdischen Volkes insbesondere in Palästina von der Zionistischen Organisation gefördert. Diese intensiviert ihre Bemühungen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg (1914–1918) deutlich. prophets who descried in peace one of the highest of human ideals: Dem Frieden, hebr. shalom, wird im Judentum ein hoher Wert zugeschrieben. Insbesondere der Prophet Jesajah betont immer wieder seine Wichtigkeit (z. B. Jes 32,17–18: „Und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit wird ewige Stille und Sicherheit sein, dass mein Volk in friedlichen Auen wohnen wird, in sicheren Wohnungen und in stolzer Ruhe.“). DR. MAX NORDAU, President Tenth Zionist Congress: Die Unterschrift als Präsident des X. Zionistenkongresses führt in zionistischen Kreisen zu Verärgerung, da sie den Artikel als offizielle Verlautbarung der Zionistischen Organisation erscheinen lässt, ohne dass sich das Engere Aktionskomitee mit den Inhalten einverstanden erklärt hätte. Der Artikel wird daher auf dem XI. Zionistenkongress (2.–9.9.1913 in Wien) diskutiert (vgl. Die Welt, Kongreß-Ausgabe III, 5.9.1913, S. 44).
73 Die Reden Dr. Marmoreks und Dr. Nordaus
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73 Die Reden Dr. Marmoreks und Dr. Nordaus Quelle: Juedische Rundschau. Allgemeine juedische Zeitung, 8.8.1913, Nr. 32, S. 327–329.
Die Reden Dr. Marmoreks und Dr. Nordaus: Am 24.7.1913 findet in Paris eine Feier zum Todestag Theodor Herzls (1860–1904) statt. Die Reden Alexander Marmoreks (1865–1923) u. besonders Max Nordaus zu diesem Anlass werden in der Folgezeit wegen ihrer offenen Kritik an der Leitung der Zionistischen Organisation publizistisch stark diskutiert u. auch auf dem kurz darauf folgenden XI. Zionistenkongress (2.–9.9.1913 in Wien), an dem N. nicht teilnimmt, thematisiert. Dr. Jacobson: Dr. D. (nicht ermittelt) Jacobson (Lebensdaten unbek.), Präsident des Pariser zionistischen Vereins Mebassereth Zion. Exil: → 477 Ansiedlung von Bauern, Schaffung eines kulturellen Zentrums: A. Marmorek bezieht sich auf den prakt. Zionismus u. den Kulturzionismus. die Bank und den Nationalfonds: → 469, → 598 Ideen Herzls: → 425 Kongress sei im Anfang: → 438 Eintritt ins gelobte Land: → 428 mit Beilis das ganze jüdische Volk des Ritualmordes geziehen: 1911 wird nahe Kiew der mit Stichwunden übersäte Leichnam des 13-jährigen Andrei Yushchinsky aufgefunden. Obwohl die polizeilichen Ermittlungen auf die Angehörige einer kriminellen Bande Vera Cheberiak (Lebensdaten unbek.) als Auftraggeberin hindeuten, wird der jüdische Fabrikangestellte Menahem Mendel Beilis (1874–1934) auf antisemitische Agitation hin u. mit Unterstützung hoher polit. Kreise des Ritualmords bezichtigt. Trotz fehlender Beweisgrundlage wird 1913 unter internationaler medialer Aufmerksamkeit ein Prozess gegen Beilis angestrengt; dieser endet zwar mit einem Freispruch, es werden jedoch weiterhin unbekannte jüdische Täter für den angeblichen Ritualmord verantwortlich gemacht. N. F.: → 598 künstlich Bauern zu erziehen: → 597 Umwälzung: → 685 A. C.: → 512 die Praktischen die Grundprinzipien des politischen Zionismus: → 426
690 Teil II: Kommentar
Herzlwald: 1908 initiiert der Jüdische Nationalfonds zu Ehren des verstorbenen Theodor Herzl (1860–1904) den Beginn der Pflanzarbeiten für den sogenannten Herzlwald in Palästina. Die vornehmlich spendenfinanzierte Baumschule soll zunächst ausschließlich Olivenbäume umfassen, muss aber wegen der Bodengegebenheiten auf weitere Baumarten zurückgreifen. Das Projekt, dessen Erträge an den Nationalfonds zurückfließen u. so weitere zionistische Anliegen ermöglichen sollen, erweist sich als teurer als erwartet u. läuft nur langsam an. Gg. Dimante: Lebensdaten unbek. „Judenstaat“: → 527 Charter: → 598 Zions: → 426 Geulah: Hebr. ge'ula, dt.: „Erlösung“, „Ausgleich“. Nach der Gemara, der nach der Mischna zweiten Schicht des Talmud, die Bez. für die Vorstellung der Erlösung durch die Ankunft des Messias. Choweve-Zion: → 525 „Bilu“: Bilu, hebr. Akronym v. Jes. 2,5: „Bet Jaakov Lechu Wenelcha“, dt.: „Haus Jakob, geht, lasst uns aufbrechen!“ 1882 von dem weißruss. Pädagogen, Schriftsteller u. Historiker Israel Belkind (1861–1929) gegründete russ. Organisation, die Kolonialisierungsprojekte russ. Juden in Palästina unterstützt. Anlass sind Pogrome an russ. Juden 1881. 1884 Gründung der Kolonie Gedera (hebr., dt.: „Hürde“) in Palästina. Starke Vorbildwirkung für spätere zionistische Immigration. Alliance: → 542 Ch. Netter Mikweh Israel gründen konnte: Charles Netter (1826–1882), Mitbegründer der Alliance israélite universelle u. Gründer der ersten Landwirtschaftsschule in Palästina, Mikweh Israel. Kolonien: → 469 den Dutzenden von Millionen: N. untertreibt: Allein die beiden Kolonien Rischon LeZion u. Zichron Ja'akow, in denen Rothschild den Weinanbau fördert, werden im Jahr 1914 jeweils von mehr als 1000 Menschen bewohnt. „Jüdische Kolonialbank“: → 469 von Prof. Schapira ausgesprochenen Gedanken: Zvi Hermann Schapira (1840–1898), Kaufmann u. Mathematiker. Sch. schlägt auf dem I. Zionistenkongress (1897 in Basel) sowohl die Schaffung eines Fonds zum Landerwerb in Palästina als auch die Gründung einer Universität vor.
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hebräische Schule in Jaffa: 1889 gründet der weißruss. Schriftsteller, Pädagoge u. Historiker Israel Belkind (1861–1929), Mitbegründer der russ. Kolonisierungsorganisation Bilu, in Jaffa eine Schule, in der alle Fächer außer Mathematik auf Hebräisch unterrichtet werden. Wegen finanzieller Schwierigkeiten wird sie von den zionistischen Chowewe Zion u. der Alliance Israélite Universelle weitergeführt. 1902 kommt es wegen der nationalistischen Stoßrichtung der Chowewe Zion zwischen den beiden Trägerinstitutionen zu Auseinandersetzungen. 1905 wird ebenfalls in Jaffa das hebräische Herzliya-Gymnasium auf einem vom Nationalfond angekauften Grundstück gegründet. I. C. T.: → 469 A. P. C.: → 633 Oppenheimer'schen Versuch: Franz Oppenheimer (1864–1943), Arzt, Nationalökonom u. Soziologe. Er befasst sich mit Staatstheorie, Volkswirtschaftslehre u. Gesellschaftslehre. Hauptwerke: Theorie der reinen und politischen Oekonomie (1910), System der Soziologie (4 Bde., 1922–35). Auf dem VI. Zionistenkongress (1903) setzt er sich für sein Projekt einer genossenschaftl. Kolonisation Palästinas ein, das die jüdische Siedlungspolitik maßgeblich beeinflusst. Der Entwurf fußt auf O.s Forschungen zu Siedlungsgenossenschaften als Gegenentwurf zum kapitalist. Großgrundbesitz, in denen er das Potential zur Lösung der sozialen Frage sieht. Auf dem IX. Zionistenkongress (1909) wird die Gründung einer Siedlungsgenossenschaft, teilweise aus Mitteln des Nationalfonds, beschlossen. 1911 wird die Agrargenossenschaft Merchawia südlich von Nazareth gegründet, die mit schwierigen Bedingungen zu kämpfen hat u. schließlich scheitert. Gründung von Tel-Aviv: Als Gründungsdatum Tel Avivs, benannt nach dem Titel von Nahum Sokolows (1859–1936) Übersetzung des Romans Altneuland v. Theodor Herzl (1860–1904), gilt der 11.4.1909. An diesem Tag werden die Grundstücke eines neu entstandenen, nach europä. Vorbild gestalteten jüdischen Stadtviertels von Jaffa verlost, das die Wohnungsbaugesellschaft Achusat Bajit (hebr., dt.: „Hausbesitz“) wegen zunehmendem Mangel an Wohnraum u. daraus resultierenden Konflikten mit der arab. Bevölkerung initiiert hatte. Unterstützt wird das Projekt durch einen Kredit des Jüdischen Nationalfonds u. der Anglo-Palestine Company. der Tod den großen Herzl: → 620 sechs Jahre seiner Leitung: Nach Theodor Herzls (1860–1904) Tod übernimmt David Wolffsohn (1856–1914) von 1905–1911 die Leitung der Zionistischen Organisation. Minorität: → 506 Majorität: → 506
692 Teil II: Kommentar
Seit zwei Jahren sind also die Praktischen am Ruder: Auf dem X. Zionistenkongress (1911) werden ausschließlich Personen in das Engere Aktionskomitee gewählt, die dem prakt. Zionismus zuzurechnen sind: der dt. Botaniker Otto Warburg (1859– 1938), der dt. Rechtsanwalt u. Vorsitzende der Zionistischen Vereinigung für Deutschland Arthur Hantke (1874–1955), der russ. Publizist Schimarjahu Levin (auch Shmarya Levin, 1867–1935) u. der poln. Publizist u. Schriftsteller Nahum Sokolow (1859–1936). Opposition: Als Teil der Opposition, die dem polit. Zionismus anhängt, werden neben N. auch Alexander Marmorek (1865–1923) u. der brit. Zionist Joseph Cowen (1868–1932) bezeichnet (vgl. z. B. Die Welt, 16.5.1913, H. 20, S. 618). Programm: → 486 da schrie eine Stimme: Unmittelbar folgend auf die Verlesung des Vorschlags für das zionistische Programm, später bez. als Baseler Programm, durch N. auf dem I. Zionistenkongress (1897) meldet sich der dt. Zionist Fabius Schach (1868–1930) zu Wort. Er moniert den Passus „Schaffung einer rechtlichen Heimstätte“ u. argumentiert für den Ausdruck „völkerrechtlich“: „Eine nationale jüdische Heimat, das ist das Ziel, das wir erstreben, keine Zuflucht aus Gnaden.“ (Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des I. Zionisten-Congresses gehalten zu Basel vom 28. bis 31. August 1898 [sic], Wien 1897, S. 114) Als die Debatte darüber nach kurzer Zeit unter Hinweis auf weitere Besprechungen der Programm-Kommission unterbunden wird, fordert Sch. ohne Erfolg die Wiederaufnahme der Diskussion u. verlässt unter „allgemeinem Tumult“ (ebd., S. 118) den Saal. Schließlich wird Theodor Herzls (1860–1904) Formulierungsvorschlag „öffentlich-rechtlich“ angenommen. Auf dem IV. Kongress bildete sich die Fraktion: → 586 Kulturelle: → 426 Obskurantismus: → 496 offizielle Organ: Gemeint ist die Zeitschrift Die Welt. Zusammenkunft in Paris: Im November 1912 halten N. u. Alexander Marmorek (1865–1923) in Paris eine Versammlung ab, auf der die Relevanz der Situation auf dem Balkan für die zionistischen Ziele sowie Handlungsoptionen diskutiert werden. im Osten die größten Umwälzungen: → 685 privatim: → 681 (le bon goût): Frz., eigentl. dt.: „der gute Geschmack“. Mitglied des A. C. zu delegieren: Chaim Weizmann (1874–1952), 1905–1919 Mitglied des Großen Aktionskomitees, nimmt nach Absprache mit dem Engeren Aktionskomitee an der Pariser Versammlung teil.
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Charkow: Vom 11.–15.1.1903 wird in der ukrainischen Stadt Charkow eine Konferenz abgehalten, auf der das zionistische Landeskomitee Russlands über den „Uganda“Plan berät u. eine ablehnende Haltung entwickelt. Daraus geht Chaim Weizmann (1874–1952) als führender Oppositioneller der späteren Kulturzionisten hervor. Konferenz zu London: → 685 Appell an das europäische Publikum: Vgl. Jews and the Balkan Settlement. Dr. Nordau's Views → S. 387–391 unser Vorfahr David: → 591, → 592 Simson: Laut Ri 15,15 nutzt der Held Simson den Unterkieferknochen eines Esels zum Erschlagen von Philistern: „Und er fand einen frischen Eselskinnbacken. Da streckte er seine Hand aus und erschlug damit tausend Mann.“ Daraufhin regiert Simson Israel zwanzig Jahre lang als israelitischer Richter. Sie suchte – Wolffsohn hatte schon damit begonnen: 1907 reist David Wolffsohn (1856–1914) als Präsident der Zionistischen Organisation nach Konstantinopel u. verhandelt dort mit hohen Regierungsfunktionieren u. a. über einen Charter-Entwurf, den N. 1906 ausgearbeitet hatte. Eine Audienz beim Sultan erhält W. nicht. Ab 1908 unterhält insbesondere der russ. Zionist u. Diplomat Victor Jacobson (1869–1934) als inoffizieller Vertreter der Zionistischen Organisation wichtige diplomatische Beziehungen in Konstantinopel. Er ist 1903 Gegner des „Uganda“-Plans u. Mitorganisator der Charkow-Konferenz u. Leiter der 1908 gegründeten Anglo-Levantine Banking Company. roten Passes: → 687 Revolution: → 665 das Recht, frei Land kaufen zu können: → 687 Agrarbank: → 635 keinen Kataster gibt, wo man keine Hypotheken nehmen kann: Kataster → 669. / Hypothek, griech. ὑποθήκη, dt.: „Unterlage“, „Unterpfand“, Pfandrecht an einem Grundstück zur Sicherung finanzieller Forderungen. Dieses wird üblicherweise bis zur Tilgung im Grundbuch vermerkt. Ote-toi, que je m'y mette?: Frz., dt.: „Entferne dich, damit ich mich dorthin setze“. Frz. Sprichwort, zurückgehend auf den frz. Schriftsteller Graf Claude Henri von Saint-Simon (1760–1825), der mit der Phrase die Haltung von liberalen Juristen (Légistes) beschreibt, die nach höheren gesellschaftl. Positionen in der bürgerl. Gesellschaft nach der Frz. Revolution streben. die Farm: → 597
694 Teil II: Kommentar
wenn die Genossenschaft nicht prosperiert: → 691 Ölbäume teurer zu stehen kommen: → 690 Projektes einer Universität: Bereits auf dem I. Zionistenkongress (1897) regt Zvi Hermann Schapira (1840–1898) die Gründung einer hebräischen Universität in Jerusalem an. Auf dem V. Kongress (1901) findet das Projekt nochmals Erwähnung, es wird jedoch erst auf dem XI. Kongress (1913) konkret angestoßen. Frcs.: → 526 Wir haben 50 000 Juden angesiedelt: → 687 Herold: → 594
74 [Brief von Dr. Nordau an den XI. Zionistenkongress] 695
74 [Brief von Dr. Nordau an den XI. Zionistenkongress] Quelle: Die Welt, 4.9.1913, Kongreß-Ausgabe II, S. 32–33.
Hochgeehrter Kongress: Der XI. Zionistenkongress findet vom 2.–9.9.1913 in Wien statt, erstmals ohne die Teilnahme N.s. Dessen Nichterscheinen wird als Protest gegen das Abweichen der zionistischen Führung vom polit. Zionismus Theodor Herzls (1860–1904) interpretiert. N. hatte in den dem Kongress vorausgehenden Monaten in einem Artikel in der Londoner The Times ohne Billigung des Aktionskomitees polit. Agitation für den Zionismus betrieben u. in einer Rede zum neunten Todestag Herzls offene Kritik an der prakt. Ausrichtung der zionistischen Führung geübt. Diese Äußerungen, der Brief sowie die Abwesenheit N.s werden auf dem Kongress ausführlich diskutiert (vgl. z. B. Die Welt, 4.9.1913, Kongreß-Ausgabe II, S. 33–34; Die Welt, 5.9.1913, Kongreß-Ausgabe III, S. 44–46 u. S. 52). N.s Brief wird schließlich mit folgendem Telegramm beantwortet: „Der XI. Zionistenkongreß spricht dem Altmeister Dr. Nordau seinen Dank für die an ihn gerichtete Begrüßung aus und hofft zuversichtlich, den Mitbegründer der Zionistischen Organisation noch auf vielen Kongressen in seiner Mitte zu haben.“ (Die Welt, 4.9.1913, Kongreß-Ausgabe II, S. 35) Herzl'schen Gedankens: → 425 finanziellen Werkzeuge unserer Bewegung: → 469, → 598, → 633
696 Teil II: Kommentar
75 Eine Entdeckung Dr. Nordaus Quelle: Die Freistatt, 8.10.1913, H. 6, S. 411–412.
Czernowitz: In der multikulturellen u. multireligiösen Bevölkerung v. Czernowitz prosperiert gegen Ende des 19. Jh.s bis zum Ersten Weltkrieg ein sehr reiches Kulturleben. 1895 sind v. den ca. 54.000 Einwohnern ca. 17.000 Juden, die vorwiegend Jiddisch als Muttersprache sprechen u. die Stadt zum Zentrum jüdischer Kultur in der Bukowina machen. jüdisch-akademischen Verbindungen „Hebronia“ und „Zephirah“: Nach der Gründung der Universität Czernowitz am 4.10.1875 durch den österr. Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916) entstehen über 40 student. Verbindungen, die die ethn., religiöse u. weltanschaul. Vielfalt der Stadt spiegeln. Acht jüdische Verbindungen entstehen, darunter Zephira mit den Farben blau-gold-blau (1897–1936) u. Hebronia mit den Farben grün-rot-gold (1900–1936). Vgl. → 579. intellektuellen: → 584 jiddischen Sprachkonferenz: Auch: Czernowitz-Konferenz (30.8.–3.9.1908) in Czernowitz mit dem Ziel, das Jiddische zur alleinigen jüdischen Nationalsprache zu machen. Organisator ist der österr. Schriftsteller mit ostjüdischen Wurzeln Nathan Birnbaum (Pseudonyme: Matthias Acher, Mathias Nacher, 1864–1937), zunächst glühender Zionist, später Vertreter eines jüdischen Nationalbewusstseins in der Diaspora. Die Konferenz diskutiert v. a. kontrovers die Rollen, die das Jiddische u. das Hebräische in Alltag u. Kultus der Juden einnehmen sollen. versimpelt: → 595
71 Max Nordau über die russisch-amerikanische Passfrage
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76 Max Nordaus Stellungnahme. Ein Briefwechsel mit Nahum Sokolow Quelle: Die Welt, 30.1.1914, Nr. 5, S. 116–118.
Frage der Unterrichtssprache: An der Frage, ob an dem unter Leitung des Hilfsvereins der deutschen Juden errichteten Technion (auch Technikum) in Haifa auf Deutsch o. Hebräisch unterrichtet werden sollte, entzündet sich 1913 der sog. Sprachenstreit o. Sprachenkampf. Auch weil die Zionistische Organisation sich finanziell in großem Ausmaß an der Realisierung der Hochschule beteiligt hatte, folgt auf die Entscheidung für das Deutsche starker Protest. Aufgrund dessen wird im Februar 1914 das Hebräische als verbindliche Unterrichtssprache der Fächer Mathematik u. Physik festgelegt. drei Vertreter des national-jüdischen Gedankens: Zur Umsetzung des Technions wird 1908 die Gesellschaft Jüdisches Institut für technische Erziehung in Palästina gegründet. Zum Kuratorium des Instituts gehören neben Abgesandten des Hilfsvereins der deutschen Juden u. Vertretern der Hauptgeldgeber Jakob Heinrich Schiff (1847– 1920) u. der Stiftung Kalonymus Ze'ev Wissotzky (1824–1904), darunter Achad Haam (eigentl. Ascher Hirsch Ginzberg, 1856–1927), als Vertreter der zionistischen Bewegung Schimarjahu Levin (1867–1935) u. Echiel Wolfowitsch Tschlenow (1864– 1918). Als das Kuratorium 1913 das Deutsche als verbindliche Lehrsprache am Technikum festlegt, treten Achad Haam, Levin u. Tschlenow aus. Beschluss unseres Engeren und Großen Aktions-Komitees: Angesichts des Sprachenstreits sieht das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation die Schaffung von Bildungseinrichtungen in Palästina, in denen die hebr. Sprache gefördert u. an die Jugend vermittelt wird, als vordringliche Aufgabe an. In der Zeitschrift Die Welt veröffentlicht es am 19.12.1913 (H. 51, S. 1719) prominent auf der Titelseite einen Spendenaufruf, um das Projekt voranzutreiben. Hilfsverein der deutschen Juden: Auf die Bemühungen des Journalisten u. Politikers Paul Nathan (1857–1927) v. a. hin wird 1901 in Berlin die Hilfsorganisation Hilfsverein der deutschen Juden als Pendant zur frz. Alliance israélite universelle gegründet. Der Verein setzt sich die Verbesserung der Lage von Juden in Osteuropa u. Asien u. im Zuge dessen die Vermittlung von dt. Sprache u. Kultur zum Ziel u. unterstützt Emigranten. palästinensisches Schulwerk: Ein wesentlicher Bestandteil des Engagements des Hilfsvereins der deutschen Juden ist der Aufbau u. die Förderung von Bildungseinrichtungen in Osteuropa u. dem Osman. Reich. In Palästina baut er ein Schulwerk auf, das Kindergärten, eine Kindergärtnerinnenschule, Grundschulen, ein Lehrerse-
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minar u. eine Handelsschule umfasst. Im Rahmen dieses Schulwerks wird auch das Technikum in Haifa errichtet. der hebräischen Sprache einen gewissen Platz: An den vom Hilfsverein der deutschen Juden unterhaltenen Schulen in Palästina wird der Unterricht in hebr. Sprache unterstützt. Baugrund gestiftet, ihm mit Hilfe unserer Gesinnungsgenossen große Geldbeträge zugeführt: Der Jüdische Nationalfonds unterstützt das Technion mit einem Darlehen. Zusätzlich dazu beteiligen sich Schimarjahu Levin (1867–1935) u. Achad Haam (eigentl. Ascher Hirsch Ginzberg, 1856–1927) publizistisch rege an der Kampagne zur Geldbeschaffung. Franken: → 526 Diaspora: → 424 assimilatorische Tendenzen: → 431 selbstständige Stiftung: → 697 manche Schärfen in die Erscheinung traten: In der Folge des Kuratoriumsbeschlusses werden in Palästina Kundgebungen u. Streiks abgehalten. Der Initiator des Hilfsvereins der deutschen Juden, Paul Nathan (1857–1927), wird auf einer Palästinareise tätlich angegriffen. Auch außerhalb Palästinas kommt es zu zahlreichen Demonstrationen u. Protestbekundungen. Zionsgrüßen: Zion → 426
77 „Judenstaat“ und Zionismus 699
77 „Judenstaat“ und Zionismus Quelle: ZS2, S. 322–326, dort mit dem Zusatz: Vorrede zu einer polnischen Ausgabe von Herzls Judenstaat. Ferner in: Die Welt, 3.7.1914, H. 27, S. 657–658.
„Judenstaat“: → 527 Zerstreuung: → 424 demagogischer Phrasendrescher: Demagogisch → 632. N. meint eine Person, die agitator. u. aufwieglerisch hetzerische Propaganda betreibt. Lehrfarmen: N. bezieht sich auf jüdische Landwirtschaftsschulen wie die 1870 in Palästina gegründete Mikwe Israel (dt.: „Hoffnung Israels“). Viele der häufig osteuropä. Einwanderer im 19. Jh. haben keinerlei Kenntnisse auf dem Gebiet der Landwirtschaft. Arbeitergenossenschaften: → 691 Äther: Griech. αἰθήρ, dt.: „obere Luftschicht“, „heiterer Himmel“. N. bezieht sich auf die Weite des Himmelsraumes. Galuth: → 477 Traumland „Irgendwo“: N. setzt hier rhetor. das Antonym zu dem Begriff ‚Utopie‘ → 599. Griech. οὐτόπος, dt.: „nicht“ u. „Ort“, „Platz“, „Stelle“, eine Utopie ist also ein Nirgendsland, Traumland o. Zukunftsstaat. Hymnen: → 681 Prophetengesichten: → 424, → 675 „Leicht beieinander“: → 449. Im Folgenden paraphrasiert N. das Schiller-Zitat, indem er es auf die Wirkung des Judenstaats v. Theodor Herzl (1860–1904) bezieht. Fata Morgana: Ital. fata morgana, eigentl. fata Morgana, dt.: „Fee Morgana“, „Schicksalsgöttin Morgana“, zu lat. fatum, dt.: „Weissagung“, „Schicksal“. Der Frauenname Morgana zu griech. μαργαρίτης u. μάργαρον, dt.: „Perle“. Im Volksglauben wird die Fee Morgana für Luftspiegelungen in der Straße v. Messina verantwortl. gemacht. Später Übertragung auf Luftspiegelungen u. Trugbilder in der Wüste. Fabelinsel: → 463, → 599 Zion: → 426 ottomanische: → 610 Erez Israel: → 613
700 Teil II: Kommentar
„Geulah“: → 690 Kolonialbank: → 469 Nationalfonds: → 598 platonischen „Ideen“: Platonische Ideen sind in neuzeitl. Terminologie bezogen auf eine Konzeption des griech. Philosophen Platon (428/427–348/347 v. Chr.). Nach dieser Theorie existieren Ideen im Bereich der Sinneswahrnehmung (griech. ἐμπειρία) als eigenständige Entitäten. Durch Wiedererinnerung (griech. ἀνάμνησις) nimmt der Verstand die unvergängl. u. unveränderl. Idee wahr, da alles Wissen in der unsterbl. Seele immer schon existiert, aber bei der Geburt vergessen wird. Pl. I. sind keine bloßen Meinungen o. Eingebungen, sondern existieren als objektive metaphys. Realitäten. Vorrede: Unter dem Titel Herzls Zionismus und „Judenstaat.“ kommt der Text auch in dem Band Theodor Herzl und der Judenstaat mit Texten von N., Otto Warburg (1859–1938) u. Israel Zangwill (1864–1926) zum Abdruck, der als dritter Teil der Reihe An der Schwelle der Wiedergeburt v. Davis Erdtracht (1894–unbek.) erscheint (hrsg. v. Davis Erdtracht im Interterritorialen Verlag „Renaissance“, Wien/Berlin/ New York [1920/1921]). Dort gibt es, abgesehen von orthograf. Varianten, zwei Abweichungen: „Prophetengesichten“ wird zu „Prophetengeschichten“, „dunkel“ wird zu „Dunkel“ („Es klärt auf, was in diesem Dunkel scheinen könnte.“).
78 David Wolffsohn
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78 David Wolffsohn Quelle: Erez Israel. Mitteilungen des Hauptbureaus des Jüdischen Nationalfonds (Den Haag), Wolffsohn-Gedenknummer, undatiert [vermutlich Ende 1915 o. 1916], S. 3–5.
David Wolffsohn: Die Wolffsohn-Gedenknummer, in der N.s auf den 4.11.1914 datierter Text erscheint u. die statistische Daten des 1. Halbjahres 1915 enthält, wird mitunter irrtümlich mit der letzten Ausgabe der Welt vom 25.9.1914 (H. 32) in Verbindung gebracht u. dementsprechend falsch datiert. Tatsächlich wird in dieser WeltAusgabe eine Wolffsohn-Gedenknummer für Oktober angekündigt (S. 809), eine solche erscheint aber nie. Stattdessen publiziert die Zeitschrift Erez Israel. Mitteilungen des Hauptbureaus des Jüdischen Nationalfonds (Den Haag) vermutlich 1916 undatiert die Gedenknummer. herüberschallenden Donner der Kanonen: N. bezieht sich auf die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an das Königreich Serbien nach dem Attentat v. Sarajewo am 28.6.1914. Durch Verträge u. Allianzen weitet sich der Konflikt in Europa aus (Kriegserklärung Deutschland-Russland 1.8.1914, Kriegserklärung DeutschlandFrankreich 3.8.1914 u. Kriegserklärung Großbritannien-Deutschland 4.8.1914) u. wird zum Weltkrieg. Jewish Chronicle: The Jewish Chronicle. 1841 gegründet, ist der J. C. mit Sitz in London die älteste jüdische wöchentl. erscheinende Zeitung. Der brit. Journalist Leopold Jacob Greenberg (1861–1931) ist nach dem III. Zionistenkongress (1899) überzeugter Anhänger der zionistischen Idee u. wird nach Rückschlägen Hrsg. des J. C.s (1907–1931), den er zum führenden Sprachrohr des Zionismus u. kommentierenden Zeitzeugen für jüdisches Leben u. Kultur macht. Scholle Erde: Das jüdische Begräbnis findet unter dem feierl. Zitat aus Dan 12,13 statt: „Du aber gehe hin bis zum Ende; und du wirst ruhen, und wirst auferstehen zu deinem Lose am Ende der Tage.“ Die Trauernden werfen daraufhin drei Schaufeln Erde auf den Sarg. Nicht selten wird dem Sarg ein Säckchen mit Erde aus Palästina beigefügt, damit die Bestattung symbol. in Erez Israel erfolgt. siebenjährige Leitung: David Wolffsohn (1856–1914) steht der Zionistischen Organisation als Nachfolger Theodor Herzls (1860–1904) vor (1905–1911). W. sieht sich 1909 auf dem IX. Kongress einer starken Opposition gegenüber, die ihn 1911 das Amt gesundheitl. angeschlagen aufgeben lässt. An anderer Stelle zählt N., wohl nicht von den Jahreszahlen, sondern von der Zeit zwischen dem Kongress 1905 u. dem Kongress 1911 ausgehend, sechs Jahre → 691. Moses, die einen Menschenstaub zu einem Volke kitten: → 480 Joschua dieses Moses: Josua → 487. N. charakterisiert W. hier als Nachfolger u. Vollender Herzls (1860–1904).
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Nibelungentreue: Das mhd. Versepos Nibelungenlied (Entstehung zu Beginn des 13. Jh.s) beschreibt mit triuwe (mhd., dt.: „Aufrichtigkeit“, „Zuverlässigkeit“, „Treue“, „sittliches Pflichtverhältnis einander zugehöriger“) den personalen Beistand eines Herren für seinen belehnten Vasallen. Der Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs Bernhard Heinrich Martin Karl Fürst v. Bülow (1849–1929) verwendet den Begriff N. erstmalig am 29.3.1909 während der Bosn. Krise (1908/09) für die Bündnistreue zw. dem Deutschen Reich u. Österreich-Ungarn. Chimären: → 460 beim Tode Herzls: → 620 Mai 1905: Der Tod Theodor Herzls am 3.7.1904 ist für N. nicht nur ein persönl. Verlust, es fehlt damit die Anführerfigur der zionistischen Bewegung schlechthin. Bis zum VII. Zionistenkongress (27.7.–2.8.1905) zeichnet sich eine Verschärfung des Konflikts zw. den Anhängern des Uganda-Plans u. den Anhängern der Besiedelung Palästinas ab. Dr. Katzenelsohn: Dr. Nissan Katzenelsohn (1863–1923), lett. Physiker u. Bankier. Teilnahme am III. Zionistenkongress, dort Wahl zum Vorsitzenden des Jewish Colonial Trust, für den er in verschiedenen Funktionen bis zu seinem Tod arbeitet (1899–1923). Mitglied des Großen Aktionskomitees (1897–1920). Enger Freund u. Mitarbeiter Herzls (1860–1904). Dr. Bodenheimer: Max Isidor Bodenheimer (1865–1940), dt. Jurist, Publizist u. bedeutender Unterstützer der zionistischen Bewegung. Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Juden in Russland in Folge der Pogrome Ende des 19. Jh.s, Artikel u. Druckschriften u. a. Sind die russischen Juden eine Nation? (1891) u. Wohin mit den russischen Juden oder Syrien, ein Zufluchtsort der russischen Juden (1891). Teilnahme am I. Zionistenkongress (1897) als dt. Delegierter, Wahl zum Mitglied des Großen Aktionskomitees (bis 1921). Mitinitiator des Jüdischen Nationalfonds (1899) u. nach dessen Gründung als Jewish National Fund (JNF, 1901) Nachfolger v. Johann Kremenezky (1850–1934) als Direktor (1907–1914). Karlsbad: Tschech. Karlovy Vary, bedeutender Bade- u. Kurort im Westen Tschechiens. Durch den Anschluss an das europä. Eisenbahnnetz hat K. v. der 2. Hälfte des 19. Jh.s bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Konjunktur. Intestaterbe: Lat. in (Praeverbium), dt.: „un-“ (verneinendes Präfix), u. lat. testor, PPP testatus, dt.: „bezeugen“, „bekunden“, „versichern“. Ein I. ist ein Erbe, der das Erbe eines Erblassers antreten darf, obwohl dieser kein Testament hinterlassen hat. Präsidenten des Engeren Aktions-Komitees: → 512, → 633
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79 Die Tragödie der Assimilation Quelle: Dr. Max Nordau, Die Tragödie der Assimilation. Mit einem Vorwort des Herausgebers Davis Erdtracht.Verlag „Wiedergeburt“, Hochschule für Welthandel, Wien-Döbling 1920, S. 7–16.
Assimilation: → 431 Seelenschacher, der Lieblingsbeschäftigung des Teufels: Schacher. N. bezieht sich auf den sog. Teufelspakt, einen sagenhaften Vertrag zw. dem Teufel u. einem Menschen, wobei dieser seine Seele verkauft, um im Gegenzug mag. Kräfte, Reichtum o. Macht in Aussicht gestellt zu bekommen. Die bekannteste Literarisierung ist das zweiteilige Drama Faust (1790–1833) v. Johann Wolfgang v. Goethe (1749–1832) um den Alchemisten u. Astrologen Johann Georg Faust (um 1480–um 1541). Grille: Veraltet für „launenhafte Kapriole“, „schrullige Marotte“ o. „sonderbarer Einfall“. Ballin: Albert Ballin (1857–1918) → 569. B. begeht als leidenschaftl. Patriot am 9.11.1918 nach dem Thronverzicht Kaiser Wilhelms II. (1859–1941) Suizid. Während des Ersten Weltkriegs ist B. Leiter der Zentral-Einkaufsgesellschaft mbH (ZEG), der dt. Außenhandelsgesellschaft mit zentralen Aufgaben in der staatl. Lebensmittelwirtschaft. Er sieht durch die Kapitulation Deutschlands sein Lebenswerk zerstört. Hindenburgs und Ludendorfs: Paul Ludwig Hans Anton v. Beneckendorff u. v. Hindenburg (1847–1934), dt. Generalfeldmarschall u. später Politiker. Zusammen mit dem dt. General u. Ersten Quartiermeister Erich Friedrich Wilhelm Ludendorff (1865–1937) übt H. mit der Übernahme der Obersten Heeresleitung (1916–1918) de facto die Regierungsgewalt im Deutschen Kaiserreich aus. H. u. L. sind durch Entscheidungen wie dem Beginn des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs u. der kategor. Ablehnung eines Verständigungsfriedens maßgebl. für Verlauf u. Ausgang des Ersten Weltkriegs mitverantwortlich. Sohn eines kleinen Auswanderungsagenten: Albert Ballins Eltern Samuel Joel Joseph Ballin (1804–1874) u. Amalie Ballin, geb. Mayer (1825–1909), wandern aus Dänemark ins Deutsche Reich ein u. werden durch den Hamburger Brand (1842) mittellos. Der Vater gründet 1852 die Auswandererexpedition Morris & Co. in Hamburg, die Albert Ballin 1874 übernimmt. N. gibt den Geschäftssitz der Agentur mit Posen falsch an. Posen: → 646 Packbooten des Bremer Norddeutschen Lloyd: Der Norddeutsche Lloyd (NDL) wird am 20.2.1857 v. den dt. Unternehmern Hermann Henrich Meier (1809–1898) u. Eduard Crüsemann (1826–1869) in Bremen als Reederei gegründet. „Hapag“: → 569
704 Teil II: Kommentar
Mark: → 527 Ministerportefeuille: Frz. portefeuille, aus lat. porto, frz. porter, dt.: „tragen“, „bringen“, u. lat. folium, frz. feuille, dt.: „Blatt“, „Ordner“, zunächst (veraltet) Brieftasche, Aktenmappe. Bez. für den Geschäftsbereich bzw. das Ressort eines Ministers. Im 19. Jh. sind die klass. Portefeuilles auswärtige Angelegenheiten, innere Angelegenheiten, Kriegs- und Heereswesen, Finanzen, Justiz u. Handel und Wirtschaft. Daneben kommt der Minister ohne Portefeuille vor, der die Kabinettskollegen zu verstärkter Kabinettsdisziplin anhält. Nachfolger Bismarks: Der Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs, Otto Eduard Leopold Fürst v. Bismarck-Schönhausen (1815–1898), gerät nach der Thronbesteigung durch Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) (15.6.1888) zunehmend in Meinungsverschiedenheiten mit dem Kaiser. Wg. einer Verschärfung der innenpolit. Situation in Deutschland wird Bismarck die Unterstützung entzogen (15.3.1890), worauf dieser mit seinem Entlassungsgesuch reagiert (18.3.1890). Livree: → 516 den Haltungen, dem Geruch, der Engherzigkeit des Ghettos: → 439 Schicksals-„Hepp! Hepp!“: → 510 Wucherer!: → 492 Fanatikern: → 453 „Et nunc erudimini!“: N. bezieht sich auf Ps 2,10: „et nunc reges intelligite erudimini qui judicatis terram“ (dt.: „Und nun, ihr Könige, sehet ein, ihr, die ihr die Erde regiert, werdet gelehrt.“). Davis Erdtracht: Auch: David, eigentl. Lucian Frank Erdtracht (1894-unbek.), aus Polen stammender österr. Schriftsteller u. Verleger. Inhaber des 1920 gegründeten Verlags Wiedergeburt in Wien, auch: Interterritorialer Verlag Renaissance, in dem Schriften zionistischen Inhalts v. unterschiedl. Autoren veröffentlicht werden, darunter auch die dt. Ausgabe v. Nahum Sokolows (1859–1936) Geschichte des Zionismus (1921, Original 1918). 1920 gibt E. die siebenteilige Reihe An der Schwelle der Wiedergeburt heraus, N.s Die Tragödie der Assimilation ist Teil 2.
80 Vorbemerkung zur zweiten Auflage
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80 Vorbemerkung zur zweiten Auflage Quelle: ZS2, unpaginiert.
nach dem am 22. Januar erfolgten Ableben des großen Führers: N. ist in den Jahren 1905–1911 Vorsitzender des VII., VIII., IX. u. X. Zionistenkongresses. Er ist neben Theodor Herzl (1860–1904), Otto Warburg (1859–1938) u. David Wolffsohn (1856– 1914) einer der Führer u. Repräsentanten des Zionismus. Er stirbt am 22.1.1923 in Paris. Maxa Nordau: (1897–1991), in Paris geb. Tochter N.s. Schülerin des span. Künstlers José María López Mezquita (1883–1954) u. des frz. Malers Jules Adler (1865–1952), Landschafts- u. Portraitmalerin. Das Aktions-Komitee: → 512 Tribun: → 565, hier i. S. v. „Anwalt des jüdischen Volkes“. Jeremias: → 653 Herold: → 594, hier i. S. v. „Verkünder einer bestimmten Idee“. Zionsideals: → 653 Genius: → 554
Teil III: Anhang
Nachwort
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Nachwort Das folgende Nachwort zu Max Nordaus Reden und Schriften zum Zionismus ist von der Absicht geleitet, diese im Kontext ihrer Zeit und im Rahmen von Nordaus Schaffen insgesamt zu zeigen. Es zeichnet dafür die Lebenslinie Nordaus entlang der Werkgeschichte auf; verfolgt die Entwicklung seines jüdischen Selbstverständnisses anhand lebensgeschichtlich bedeutsamer Ereignisse wie der antisemitischen Schmähung nach der Publikation von Entartung, der Dreyfus-Affäre und der beginnenden Freundschaft mit Theodor Herzl; beschreibt Herzls und Nordaus Positionierung innerhalb der Zionismen; charakterisiert sodann anhand exemplarischer Texte inhaltliche Tendenzen und rhetorische Merkmale von Nordaus Reden und Schriften zum Zionismus; und schließt mit einem Schriftenverzeichnis, allgemeinen Verweisen und Bildnachweis. Von einer Wertung seiner politische Leistung und Bedeutung in der Geschichte der frühen Zionistischen Organisation wird zugunsten der dokumentarischen Absicht der vorliegenden Edition abgesehen; eine solche zu treffen, ist Aufgabe historiographischer Studien.
Beruf und Berufung Nordau wird am 29. Juli 1849 „mitten in dem Durcheinander des in den letzten Zügen liegenden ungarischen Freiheitskampfes“ (Meine Selbstbiographie) als Simon („Simcha“) Maximilian Südfeld in Pest (seit 1873 Teil von Budapest) geboren. Er ist Sohn des Rabbiners und Hauslehrers Gabriel Südfeld aus Krotoschin und dessen Ehefrau Rosalie Sarah, geb. Nelkin, aus Riga. In Meine Selbstbiographie unterstreicht Nordau unterschwellig seine Titulierung als „Jeremias“, als den das Zionistische Aktionskomitee ihn anlässlich seines sechzigsten Geburtstages in der Erstausgabe der Zionistischen Schriften gewürdigt hatte. Der Darstellung vorgeburtlicher Gefährdung und Rettung ist eine märtyrerhafte Schicksalsbestimmung eingeschrieben: „Drei Monate vor meiner Geburt mussten meine Eltern aus ihrer Wohnung in Pest fliehen und in einer Art Bauernhütte Zuflucht suchen. Sie retteten sich vor den Bomben der Ofner Festung [Buda], die Pest beschloss, nach dem Stadtwäldchen, wo sie ganz schutzlos zwei schreckensvolle Nächte verbrachten. Meine Mutter war damals von der Gefahr bedroht, dass ihre Schwangerschaft zu einem vorzeitigen Ende gelangen würde. So fehlte wenig, und ich wurde ein Opfer der politischen Ereignisse. Das Schicksal wollte es aber anders. Es mochte mir die Prüfungen und Verantwortlichkeiten des Lebens nicht ersparen“ (ebd.). Vom Vater, „ein streng religiöser Jude“, so Nordau, erhält der Junge seinen „ersten hebräischen Unterricht“. Nicht ohne Stolz berichtet er: „[I]ch war noch nicht neun Jahre alt, als er mit mir den Pentateuch zum ersten Mal durchgenommen hatte“ (ebd.). 1867 immatrikuliert sich Nordau an der medizinischen Fakultät von Pest, arbeitet aber während des Studiums auch als Journalist. Am 11. April 1873 lässt er sich https://doi.org/10.1515/9783110564587-003
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den zuvor als Pseudonym verwendeten Namen „Nordau“ amtlich zuschreiben, in dem das Südliche gleichsam eingenordet und das prosaische „Feld“ zugleich zur poetischen „Au“ erhoben ist. Der Besuch der Weltausstellung in Wien im selben Jahr bildet den Auftakt zu Bildungsreisen durch ganz Europa, auf denen Nordau mit angesehenen Literaten zusammentrifft und die großen Museen sowie Kulturstätten besucht. Nach dem Rigorosum 1876 zieht es den jungen Mann zu Studienzwecken nach Paris, „dem Mekka ärztlicher Jugend“ (Eckart 2011, 44), wo er unter anderem bei dem Psychiater Jean Martin Charcot arbeitet, der aufgrund seiner Anwendung von Hypnose bei der Behandlung von Hysterie weltbekannt ist. Seine praktischen Erfahrungen bei diesem wohl bedeutendsten Arzt in der Geschichte des Hôpital de la Salpêtrière und die Rezeption der internationalen Forschungsliteratur, die er überwiegend in den Originalsprachen liest, lassen ihn zu einem überzeugten Positivisten und scharf beobachtenden Analytiker werden. Drei Standardwerke prägen seine naturwissenschaftlich-soziologischen Überzeugungen: 1. Auguste Comtes Cours de philosophie positive (6 Bde., 1830–42), die die strikte soziologische Erforschung (Beobachtung, Experiment, Klassifikation, historischer Vergleich) der Gesetze, welche der Natur und der Gesellschaft gleichermaßen zugrundeliegen, proklamieren und Spekulationen in jeder Form verwerfen. 2. Herbert Spencers Abhandlung Social Statics, or The Conditions essential to Happiness specified, and the First of them Developed (1851), die den Menschen als soziales Wesen beschreibt, das die Erfahrungen vorangegangener Generationen erbt und infolge einer verbesserten Anpassung an die Existenzbedingungen der Vollendung zustrebt; auch der Sinn für Moral ist Spencer zufolge an einen Vorteil im Selektionsprozess gebunden. 3. On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859), worin Charles Darwin eine Theorie entwickelt, nach der sich im Kampf ums Dasein stets das Stärkere und Gesunde durchsetzt und somit zum Fortschritt der Evolution beiträgt. Nordau übernimmt diese Theorie rückhaltlos: „Das ist unsere Weltanschauung“, verkündet er bereits zehn Jahre vor der Veröffentlichung von Entartung in den Conventionellen Lügen der Kulturmenschheit (1883), und fügt hinzu: „Aus ihr ergeben sich all unsere Lebensgrundsätze und unsere Rechts- und Moralauffassung“ (32). 1878 erscheint Nordaus erste, den „zeitgenössischen Paris-Enthusiasmus“ (Schulte 1997, 388) kritisierende Streitschrift Aus dem wahren Milliardenlande (2 Bde.), die in der zweiten Auflage von 1881 bezeichnenderweise das Wort „Studien“ im Titel führt (Paris. Studien und Bilder aus dem wahren Milliardenlande). Sie veranschaulicht bereits Nordaus Arbeitsweise: Er überträgt die in der Psychiatrie gewonnenen Einsichten und Überzeugungen auf kulturelle Erscheinungen, die ihm unliebsam sind, und prangert sie als Kulturjournalist an. Als Mediziner wird er sich in den folgenden Jahren vor allem für die neuesten Forschungsgebiete der Psychiatrie, insbesondere für den Degenerations- und Neurastheniediskurs interessieren, also jene Themen, die für die Kulturkritik des 19. Jahrhunderts besonders relevant sind.
Nachwort
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Bis zur Publikation von Entartung versteht Nordau sich als Mediziner und Journalist, und in beiden Rollen fühlt er sich der Kulturkritik verpflichtet. Auf Betreiben der Familie kehrt Nordau nach Budapest zurück und eröffnet dort eine Praxis für Gynäkologie. Unzufrieden mit dem kulturellen Leben, vor allem aber mit dem dort grassierenden Nationalismus siedelt Nordau im August 1880 endgültig nach Paris über. 1881 bezieht Nordau anlässlich einer Vortragsreise durch Deutschland Quartier bei einem aus Galizien stammenden Freund, Wilhelm Loewenthal, der in Berlin als Arzt praktiziert und als Bakteriologe tätig ist. Daneben ist Loewenthal Chefredakteur der Berliner Bürgerzeitung und Herausgeber der deutschen Übersetzung von Charles Secrétans Streitschrift Le droit de la femme (1886, dt. Ausgabe ebenfalls 1886: Das Recht der Frau). 1891 reist Loewenthal nach Argentinien, um bei der Ansiedlung der von Pogromen bedrohten russischen Juden mitzuwirken. Der Plan, bis zu 5000 Siedler pro Jahr in Argentinien zu kolonisieren, scheitert, bereits ein Jahr später wird Loewenthal seines Postens als Direktor des Kolonisationsprojekts enthoben und kehrt nach Deutschland zurück, wo er eine Hygiene-Dozentur an der Humboldt-Akademie in Berlin erhält. Nordau verdankt Loewenthal nicht nur Einblicke in die Situation osteuropäischer Juden, sondern auch die Vermittlung an den Chefredakteur der renommierten Berliner Vossischen Zeitung, bei der er die Stelle des Paris-Korrespondenten besetzen kann. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird Nordau nun über tagespolitische Ereignisse berichten. Die Kunstkritik allerdings ruht in dieser Zeitung fest in den Händen eines anderen Romanciers: „Fontane hat das Ohr des Berliner Publikums, was ich von mir leider nicht sagen kann“, berichtet Nordau seinem Freund Eugen von Jagow 1887 (zit. n. Schulte 1997, 191). Nordaus Vorstellung von der Rolle der Presse ist denkbar anspruchsvoll. Sie ist nicht nur „kritische Überwacherin der Tagesvorfälle“ (Dahmen 2006, 259f.), sondern geradezu eine weltliche Richterin und Heilsbringerin. Endgültig ist die Entscheidung des Brotberufs nun zugunsten des Journalismus getroffen. Als einflussreicher Kultur- und Kunstkritiker wird Nordau von 1885 bis 1914 in der Neuen Freien Presse seinen Platz finden, wo er jährlich bis zu 25 namentlich gekennzeichnete Artikel veröffentlicht. Als Kunstkritiker bleibt er seinem wissenschaftlichen Ethos treu: „Das Wort Kritik hat einen bestimmten Sinn. Es bedeutet die Nachprüfung einer vorgetragenen Thatsache, einer Hypothese oder Theorie durch Vergleichung mit feststehenden und experimentell nachweisbaren oder mit allseitig zugegebenen überlieferten Thatsachen.“ Von diesem Kritikverständnis im ursprünglichen Sinne nimmt er aber einerseits die Kunstkritik aus; „der einzige Gesichtspunkt, aus dem die Betrachtung niemals ein objektiv gesetzmäßiges Bild ergeben wird, ist der ästhetische“ (NFP, 18.3.1903, 2). Andererseits ist Nordau davon überzeugt, das „Kunstwerk vom psychologischen Gesichtspunkte“ aus betrachten zu können: „Es ist eine Aeußerung der Hirnthätigkeit seines Urhebers und gestattet dem Fachmann theils sichere, theils wahrscheinliche Schlüsse auf die Art und Beschaffenheit dieser Hirnthätigkeit, das heißt auf die Gesundheit oder Krankhaftigkeit des Geistes“ (NFP, 18.3.1903, 3). Die Differenzierung von subjektivem „ästhetischem“
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Urteil und objektiv zu leistender Beurteilung „gesunder“ Kunst geht bei Nordau auf Kants in dessen Kritik der Urteilskraft vorgenommenen Unterscheidung vom Schönen und vom Erhabenen zurück; ist das Schöne subjektiven Kriterien des Wohlgefallens zugeordnet, so ist dem Erhabenen stets ein universelles sittliches Moment eingeschrieben. Nahezu zwanzig Jahre vor dieser Feststellung, 1885, ist Paradoxe erschienen, ein kulturkritisches Werk, in dem u. a. der Begriff der Nationalität diskutiert wird und im Sinne einer „evolutionistischen Philosophie“ zukünftige Entwicklungen des Kolonialismus vorausgesagt werden. Zudem entfaltet Nordau hierin seine Vorstellungen von einer evolutionistischen Ästhetik (vgl. zur Rolle der Kunstkritik Dahmen 2006, 84ff.): Auch die Kunst untersteht der Gesetzmäßigkeit der Evolution; schön ist, was den Menschen zur Höherentwicklung verhilft. Trägt die Kunst zur Sittenlosigkeit bei, fördert sie den Verfall. Um Krankheitssymptome diagnostizieren zu können, bedarf es der Wissenschaft; neurobiologische Erkenntnisse der Psychiatrie werden zur Erklärung künstlerischer „Verfehlungen“ herangezogen. Nordaus Kunstverständnis ist an den ästhetischen Normen der deutschen Klassik orientiert. Für sie gilt, dass das „Wahre, Gute und Schöne“ zusammengehören, dem – das darf man in Abwandlung von Goethes, freilich von Eckermann kolportierten Sentenz hinzufügen („Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke“, Eckermann 1976, 332) – das „Gesunde“ integriert ist. Goethes Iphigenie – das Werk, das dieser bekanntlich selbst in einem Brief vom 19. Februar 1802 an Schiller als „ganz verteufelt human“ bezeichnete – ist für Nordau Inbegriff des sittlich reinen Kunstwerks; es spiegelt zugleich die Sittlichkeit des Künstlers wider. Denn das eine ist für Nordau ohne das andere nicht zu denken, was im Umkehrschluss bedeutet: Ist das Werk unsittlich, verweist es auf die fehlende Sittlichkeit des Künstlers; ist der Künstler unsittlich, gilt dies auch für sein Werk. In diesem Sinn wird Geschichte – auch Kulturgeschichte – von Nordau nicht nur geschichtsphilosophisch aufgefasst, sondern auch naturwissenschaftlich bedacht. Das Verständnis eines auf sittliche Weiterentwicklung ausgerichteten „Geschichtskörpers“ impliziert, dass dieser gesund sein muss. Ist er von Krankheiten befallen, müssen diese therapiert werden. Teil dieses Geschichtskörpers ist die Kunst(geschichte), die nach Nordau – wie der geistige Urheber eines Kunstwerkes – gesund, das heißt moralisch-sittlich integer ist und deshalb den Fortschritt der Menschheit voranbringt, oder unsittlich, gemein, böse, pervers und asozial, also krank ist und dementsprechend zum Verfall der Menschheit beiträgt. Nordau ist sich sehr wohl der suggestiven Wirkung rhetorischer Wortkunst bewusst, wenn es gilt, die des Urteils unfähige „Menge“ zu gewinnen: „Die Wahrheit, maßvoll, vorsichtig, ohne Erhebung der Stimme, ohne rednerische Floskeln ausgedrückt, gleitet an der Seele der Menge ab wie Wassertropfen […]. Was [die Menge] verlangt, ist nicht Beweis, sondern Behauptung; sie will nicht belehrt, sondern vergewaltigt sein. In der Kritik triumphiert nicht die Rechtschaffenheit, nicht die Wissenschaft, nicht das Verständnis, einzig das Temperament“ (NFP, 18.2.1898, 2). Nor-
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dau wird dieser Auffassung treu bleiben: In der inhaltlichen Darstellung von Sachverhalten (dient sie nun dem Nachweis von „kranker Kunst“ oder der Notwendigkeit eines Judenstaats) bedient er sich streng positivistischer Erkenntnisse, die er rhetorisch mit dem ihm eigenen unbeherrschten Temperament vorträgt. Dieser Spagat zwischen wissenschaftlicher und journalistischer Diktion, der sich in buchhalterischer Auflistung von Fakten und pathetischer, bis zum Grobianismus sich steigernder Rhetorik äußern kann, wird zum Markenzeichen Nordaus. Medizinische Erörterungen sowie detaillierte kenntnisreiche kunst-, musik- und literaturwissenschaftliche Ausführungen stehen neben trivialen Stammtischweisheiten; in sachlich klingende Deskriptionen mischen sich umgangssprachliche Urteile, auf denen der Provokations- und Unterhaltungswert seiner Essays und Bücher zum guten Teil beruhen. Nicht alle Leser goutieren dieses Vorgehen: „Der literarische Metzger“, so kommentiert Karl Kraus, „hat wieder einmal das Bedürfnis gefühlt, seine tief innerliche Kunstfremdheit mit medicinischen Floskeln zu verbrämen, und die Wiener Börsianer diesmal vor der Lectüre der Maupassant, Edmont de Goncourt und Baudelaire gewarnt“ (Kraus 1899, 21). Einerseits glänzt Nordau mit hellsichtigen Beobachtungen; andererseits desavouiert er seine wissenschaftliche Objektivität, indem er sich hemmungslos zu Mutmaßungen und Behauptungen hinreißen lässt, die durch keinen Beweis gedeckt sind. Hierin ist Nordau zwar ein extremes, aber keineswegs singuläres Ereignis in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Geschätzt wird zu seiner Zeit eine „Doppelkunst“, die darin besteht, den Balanceakt zwischen erkenntnisbringender Wissenschaft und unterhaltender Literatur zu vollführen (Lepenies 1985, 242). Nordau wird zu einem Meister dieser „Doppelkunst“, indem er thematisch Kunst und Medizin und stilistisch Wissenschaftsjargon und feuilletonistischen Schmiss verbindet. Diese Form der Argumentation schließt die Tendenz zum Verbalradikalismus ein. Gelegentlich bedient sich Nordau des Wortschatzes einer „autoritären Biologie“ (Helmuth Plessner) sozialdarwinistischer Provenienz und wählt Formulierungen, die nicht zu Unrecht dem Hate Speech (Kaiser 2007, 16f.) zugerechnet werden können. Nordau versteht und inszeniert sich nicht nur als Mahner, sondern auch als Prophet, der eine Heilsbotschaft zu vermitteln hat und dafür zunächst die Geltungsansprüche vermeintlich falscher Propheten mittels einer „finalen Überbietung“ (211) neutralisieren muss. Bei der Indizierung von Nordaus Ausdrucksweise als Hate Speech muss allerdings berücksichtigt werden, dass inkriminierende Rhetorik zum Stil der Zeit gehört und insbesondere in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts den Modus literarisch-essayistischer Auseinandersetzung prägt (Kiesel 2017, 120ff.). Auch als Dramatiker wird Nordau bekannt; sein in Kooperation mit Ferdinand Groß geschriebenes Drama Die neuen Journalisten wird 1880 uraufgeführt. Im selben Jahr erscheinen die Reiseeindrücke Vom Kreml zur Alhambra und das zweite frankreichkritische Werk Paris unter der dritten Republik. Hierin kritisiert Nordau generell Unsitte und Amoralität. Seine drei Jahre später publizierten Ausgewählten Pariser
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Briefe (1884), er nennt sie in der zweiten Auflage (1887) Pariser Briefe. Kulturbilder, schreibt er Paris in kulturgeschichtlicher Analogie zum antiken Rom einen „urkundlichen Wert“ für die gesamte europäische Sittengeschichte ex negativo zu. In der Pariser Gesellschaft beobachtet er nicht nur einen rapiden Verlust an sittlicher Gesinnung, sondern auch Anzeichen des unausweichlichen Verfalls. Seine Schlussfolgerungen fallen nun radikaler aus und werden noch polemischer vorgebracht als zuvor. Zur Kennzeichnung der Pariser Salons verwendet er erstmals den Begriff „degenerirt“ (Nordau 1887, 32).
Abb. 1: Max Nordau. Atelieraufnahme. Ohne Datierung. Um 1890.
1883 erscheint ein Werk, das erhebliches Aufsehen erregt und Nordaus Namen über die europäischen Grenzen hinweg schlagartig bekannt macht: Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit. Jene Lügen sind gemeint, die die Dissonanz zwischen naturwissenschaftlicher Empirie und gesellschaftlichen Institutionen zeigen, sie werden aufgedeckt und auf Ursachen und Funktionen hinterfragt: die religiöse, die monarchisch-aristokratische, die politische, die wirtschaftliche und die Ehe-Lüge. Wie viele andere Werke Nordaus wird auch dieses Werk ins Englische, Französische, Griechische, Italienische, Schwedische und Hebräische übersetzt; bis 1927 erscheinen in deutscher Sprache 71 Auflagen. Erfolgreich – wenn auch nicht an den kulturkritischen Schriften zu messen – ist ebenfalls der 1887 erscheinende Roman
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Die Krankheit des Jahrhunderts. 1889 wird Nordau zum Vizepräsidenten der von Victor Hugo gegründeten Schriftsteller- und Künstlervereinigung Association Littéraire et Aristique Internationale gewählt. 1892 erscheint der Roman Seelenanalysen, 1897 und 1898 der zweibändige Roman Drohnenschlacht; 1893 folgt das als Gegenstück zu Ibsens Nora konzipierte Drama Das Recht zu lieben. 1892 lernt Nordau Theodor Herzl kennen, der seit einem Jahr Paris-Korrespondent der Neuen Freien Presse ist und nun, da er seine Familie in die französische Hauptstadt holen möchte, auf der Suche nach einem Arzt ist. 1892 – gewissermaßen ein Schicksalsjahr – wird im Berliner Carl Duncker-Verlag unter dem fanalartigen Titel Entartung der erste Band jenes Werkes publiziert, das auf äußerst provokante Weise die Erkenntnisse der Psychopathologie für eine denunziatorische Kritik an den – nach damaligen Begriffen – dezidiert modernen Kunst- und Kulturströmungen verwendet; Anfang 1893 folgt der zweite Band. Nordaus Kritik korrespondiert mit weit verbreiteten Unsicherheiten und Ressentiments gegenüber der Moderne. Dabei geht es Nordau nicht um Kritik an der einen oder anderen Strömung, sondern um einen Angriff auf das der künstlerischen Moderne zugrunde liegende und ihre innovative Dynamik tragende Prinzip der Entgrenzung (vgl. Kiesel 2004, 108ff.). Als erzkonservativer Verteidiger klassizistischer Werte wettert Nordau gegen alle Phänomene der Avantgarde („Mystizismus“, „Prä-Rafaeliten“, „Tolstoismus“, „RichardWagner-Dienst“, „Psychologie der Ich-Sucht“, „Parnassier und Diaboliker“, „Decadente und Aestheten“, „Ibsenismus“, „Friedrich Nietzsche“, „Realismus“ und „Jungdeutsche Nachäffer“), brandmarkt sie als degeneriert und bezichtigt sie nicht nur, den Fortschritt der Menschheit zu verhindern, sondern sogar deren Gesundheit zu gefährden. Nordaus „Entartungs“-Begriff – das sei hier angemerkt – unterscheidet sich grundlegend von dem nationalsozialistischer Ideologen: Er ist definitiv weder rassentheoretisch begründet noch national ausgerichtet. Deswegen ist er für die Stigmatisierung und Verfolgung von Ethnien nicht geeignet (vgl. Person 2005, Kashapova 2006) und ist später für die Nationalsozialisten nicht verwendbar, abgesehen davon, dass diese sich auf den Juden und Zionisten Nordau nicht hätten berufen können (Tebben 2013, 817). 1894 berichtet Nordau für die Vossische Zeitung über die Dreyfus-Affäre und die mit ihr einhergehende antisemitische Hetze in französischen Zeitungen. Gespräche mit Herzl schärfen Nordaus Wachsamkeit gegenüber dem grassierenden Antisemitismus und forcieren sein Eintreten für einen eigenen Judenstaat. „Gestern mit Nordau beim Bier. Natürlich auch über Judenfrage gesprochen. Nie habe ich mit Nordau so harmonirt wie da. Wir sprachen uns Einer dem Anderen das Wort aus dem Mund“, notiert Herzl am 6. Juli 1895 im „Zionistischen Tagebuch“. „Nie merkte ich so stark, dass wir zusammengehören. Mit dem Glauben hat das nichts zu thun. Er sagt sogar: es gibt gar kein jüdisches Dogma. Aber wir sind von einer Race […] Auch darin waren Nordau und ich einig, dass uns nur der Antisemitismus zu Juden gemacht habe“ (Herzl 1984, 210).
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Auf dem I. Zionistenkongress (1897) treten Nordau und Herzl als Wortführer des „Baseler Programms“ auf, das eine rechtlich gesicherte Heimat für alle Juden fordert, die andernorts daran gehindert werden, als Juden zu leben, und die eine Assimilation ablehnen. Nordaus Drama Doktor Kohn. Ein bürgerliches Trauerspiel, das die Aussichtslosigkeit der jüdischen Assimilation, die am tödlichen Ende einer geplanten Mischehe deutlich wird, thematisiert, wird 1898 zwar gedruckt, auf deutschen Bühnen jedoch nie aufgeführt; Oskar Blumenthal, der Direktor des Lessingtheaters in Berlin, lehnt nach einem persönliche Gespräch das Stück „wegen des Stoffes“ für sein Theater ab (Schulte 1997, 393). Im selben Jahr trifft Nordau eine Entscheidung, die bei vielen Mitstreitern der Zionistischen Bewegung auf Unverständnis stößt: Er heiratet nicht eine Jüdin, sondern Elisabeth Dons, verwitwete Kaufmann, eine protestantische Dänin, und seine bereits 1897 geborene Tochter Maxa wird getauft. Gleichwohl intensiviert Nordau in den folgenden Jahren seine Aktivitäten für die zionistische Bewegung. 1903 streitet er auf dem VI. Zionistenkongress zusammen mit Herzl für die zionistische Ansiedlung in Ostafrika (sog. „Uganda-Plan“) und avanciert zum „meistgehaßten Mann des Kongresses“ (Schulte 1997, 336). Kurze Zeit später wird Nordau Opfer eines Mordanschlags, den er nur knapp überlebt. Am 3. Juli 1904 stirbt Theodor Herzl. Die ihm angetragene Führung der zionistischen Bewegung lehnt Nordau ab, übernimmt aber den Vorsitz des VII., IX. und X. Zionistenkongresses (s. Auflistung der Vorsitzenden der Kongresse bis 1935). Allen Anfeindungen zum Trotz verteidigt er weiterhin Herzls Position. Nordaus Engagement für das non plus ultra dieses einen politischen Zionismusverständnisses trägt in den folgenden Jahren dazu bei, dass er mehr und mehr ins Abseits gerät. Anlässlich seines sechzigsten Geburtstages 1909 erscheinen dennoch, als Verbeugung vor der Leistung des großen alten Mannes der Zionistischen Organisation, Nordaus Zionistische Schriften. Im selben Jahr wird sein geschichtsphilosophisches Hauptwerk Der Sinn der Geschichte gedruckt. Es ist nicht abwegig, die Quintessenz des geschichtsphilosophischen Werkes, das vordergründig nichts mit dem Zionismus gemein hat, unterschwellig als biographische Triebfeder seiner zweiten Lebenshälfte zu verstehen: „Der Mensch ist nicht dauernd auf der Suche nach der blauen Blume, sondern ewig auf der Flucht vor Schmerz. Er wandert nicht zu einem geträumten und heiß erhofften Jerusalem des Glücks und der Freuden, sondern drängt von Stätten der Unlust weg“ (451). Der Erste Weltkrieg bringt den Wahl-Pariser Nordau in eine prekäre Lage. Er wird auf der Durchreise nach Madrid festgenommen und inhaftiert. Als er freikommt und es ihm gelingt, die in der Bretagne wartende Familie nachzuholen, ist er mittellos. Zudem schürt die Französische Presse antisemitische Hetzkampagnen. Nach dem Krieg erscheinen zwei Bücher, Französische Staatsmänner, Porträts aus der Dritten Republik, und die zunächst auf Spanisch (1916), dann in deutscher Sprache (1920) publizierte Biologie der Ethik, in der er der moralphilosophischen Frage nach dem Ursprung der Sittlichkeit nachspürt, indem er in sozialdarwinistischer Diktion diese
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nicht als Antagonistin der Natur, sondern vor dem Hintergrund seiner AltruismusTheorie als deren genuiner Bestandteil beschreibt. Im Dezember 1919 übersiedelt Nordau nach London und bezieht dort ein eigenes Büro im Central Zionist Office. Aber die neue Generation der Zionisten schenkt ihm wenig Gehör. Wenig diplomatisch fordert er, offensichtlich um die Realisierung der zwei Jahre zuvor ausgesprochenen Balfour-Deklaration zu beschleunigen, die sofortige Ausreise von einer halben Million Juden nach Palästina zu ermöglichen und dort einen souveränen Staat zu errichten. Diese Forderung wiederholt Nordau – gegen den Widerspruch Chaim Weizmanns und Nahum Sokolows – am 1. Juli 1920 vor dem Greater Actions Commitee; eine Wahl in das Komitee lehnt er ab. Am 16. September erhält er eine Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich, Nordau kehrt mit seiner Familie nach Paris zurück. Die in Erwägung gezogene Übersiedlung nach Palästina scheitert an einem Schlaganfall, den Nordau am 2. Dezember erleidet und an dessen Folgen er am 22. Januar 1923 in Paris stirbt. Sein Leichnam wird am 25. Januar in Paris beigesetzt, im April 1926 exhumiert, nach Tel Aviv überführt und findet auf dem Alten Friedhof (eröffnet 1903) am Rehov Trumpeldor seine letzte Ruhestätte.
Abb. 2: Max Nordau, Atelieraufnahme. Um 1902.
Jüdisches Selbstverständnis Vor der Veröffentlichung von Entartung 1892 hat Max Nordau ein polyglott-kosmopolitisches Selbstverständnis, in welches das Jüdische als ein – keineswegs bestimmendes – Element eingebettet ist. Als Sohn eines Rabbiners, der sich in der Tradition des Aufklärers Moses Mendelssohn stehend sieht, fühlt Nordau sich kulturell
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prädestiniert, die Rolle eines aufklärerischen Kulturkritikers auszufüllen (Botstein 1991, 120). In seiner Selbstbiographie heißt es: „Mein Vater war ein typischer Maskil (Aufgeklärter), persönlich durch und durch erfüllt vom Schulchan Auruch, wenngleich bereits mit einem Einschlag von Modernismus und voll Begeisterung für die berühmte ‚Mission des Judentums‘, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts den verödeten Platz des jüdischen Volksbewusstseins einzunehmen begann. Das Ergebnis war, daß seinen Schülern, obwohl er ihnen die hebräische Sprache beibrachte, das jüdische Nationalgefühl fremd geblieben ist“ (Meine Selbstbiographie). Als „Pester Jude“ gehört er zum Kreis Deutsch sprechender Akademiker des Mittelstandes, die sich in Abgrenzung vom ungarischen Adel und den bäuerlichen Magyaren zur deutschen Kultur bekennen und sich zur Pflege der deutschen Amtssprache sowie der deutschen Literatur verpflichtet fühlen (Schulte 1997, 34). In der „Assimilierungsphase“, wie Nordau diesen Lebensabschnitt später bezeichnen wird, sind deutsche Sprache und deutsche Kultur für ihn identitätsstiftend. Das ist nicht ungewöhnlich, denn mit der in Deutschland durch Mendelssohn eingeleiteten jüdischen Aufklärung wird Deutsch „zur ersten Sprache der deutschen Juden“, womit eine „in diesem Ausmaß noch nicht dagewesene psychologische Wandlung“ und „Neubewertung der Identität“ verbunden ist (Gay 1976, 255), wie auch eine Verbesserung der materiellen Lebensumstände: „Deutsche Bildung und deutsche Sprache waren Mittel nicht nur der Assimilation, sondern auch der Lösung der Frage der Armut unter den Juden“ (Botstein 1991, 28). Die Folge der Emanzipation ist allerdings, dass mit ihr ein säkularer Bildungsprozess eingeleitet wird. Gerade für Nordau entwickelt sich die sprachliche Gewandtheit im Deutschen zu einem „Statussymbol und zu einem Stützpfeiler des Identitätsbewußtseins“ (Gay 1976, 256); auch er versteht sich als Hüter einer klassizistischen Kultur (ebd., 257 f.), die sich an der für Goethes Iphigenie gehegten Leidenschaft messen lassen will (vgl. Cancik 1996, 177–200). In der Zeit des wachsenden ungarischen Nationalbewusstseins wird die Vorbildlichkeit der deutschen Kultur jedoch mehr und mehr in Frage gestellt und die deutsche Sprache zugunsten des Ungarischen, das 1861 zur Amts- und Schulsprache erklärt wird, abgewertet. Das in eben diesen Jahren gewählte Pseudonym „Nordau“ deutet mithin weniger auf eine Abkehr vom Jüdischen als vielmehr auf eine Wendung gegen die Magyarisierung hin. Mit ihr verbunden ist für die Familie Südfeld der Niedergang eines dezidiert als „Goethe-Kultur“ verstandenen Deutschtums. Bereits 1867 offenbart Nordau in einem Brief an seine Schwester Charlotte seine Überzeugung, „das Zeug zu einem deutschen Gelehrten“ zu haben (zit. n. Schulte 1997, 46). Seine jüdischen Wurzeln verleugnet er in der Folgezeit nicht, aber als junger Erwachsener distanziert er sich nun von ihnen, indem er religiöse Bräuche als sentimentale Reminiszenzen bezeichnet. In einem Brief an die Schwester vom 5. September 1867 erinnert Nordau sich: „Jetzt Lotti, ist ein Monat im Jahre, der mich trotz allen Atheismus und trotz aller Skepsis ganz eigen berührt. Jetzt bläst man Schoifer und geht man zu Selichoth, und betet, und die Juden weinen und wollen
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sich reinigen vor dem Herrn der Heerscharen. Denkst Du noch daran, wie wir früher um ½ 4 Uhr aufgetrommelt wurden? […] Aber denk Dir nur, was es für ein Unsinn war, mich, einen 6–10 jährigen Knaben, um den dem Kinde so nöthigen Schlaf zu bringen, und mich aufzujagen! Macht aber nichts, ich wollte, der 18 jährige Max Nordau könnte mit dem siebenjährigen Simchale tauschen, ich weiß, ich wäre zu achtzehn Jahren dann mal anders als jetzt! Damals schmückte meine ungeheur lebhafte Phantasie diese Selichothmorgen so geheimnisvoll und mährchenhaft aus, und ich glaubte nicht anders, ich trete gerade vor den hoch über uns thronenden Gott Zebaoth hin, um eine versündete böse Welt rein waschen zu helfen, und heute – heute glaube ich nichts, als daß ein Rostbraten sehr gut ist, besonders mit gerösteten Zwiebeln und Kartoffelscheiben garniert. Doch ich will mir nicht selbst unnöthigerweise Unrecht thun, ich glaube noch immer, und zwar an Schöneres und Erhabeneres als damals, ich glaube an die Liebe, an die Tugend, an die Macht der wahren Schönheit, – nur wollte ich, weitere zehn Jahre brächten mich nicht um diesen Glauben, wie frühere zehn Jahre mich um den Gottesglauben so völlig betrogen. […]“ (zit. n. Schulte 1997, 43f.). Mendelssohns „große synthetische Leistung“ (Meyer 1994, 64) hatte in der Verbindung des Judentums mit der Aufklärung bestanden, woran schon im Elternhaus Nordaus nicht gezweifelt wird. In seinem Brief an die Schwester ist dennoch eine Frage der Identität aufgeworfen, die seit der Französischen Revolution, die die Grundlage der Rechtsfreiheit der Juden in der Gesellschaft geschaffen hatte, virulent ist: „So begrüßenswert der sich entwickelnde Emanzipationsprozeß war, für das jüdische Selbstverständnis hatte er nicht voraussehbare Konsequenzen. Die Zeitgenossen erkannten dies nicht, konnten auch nicht erkennen, aber im Rückblick lassen sich diese Konsequenzen um so deutlicher analysieren beziehungsweise beschreiben. So wissen wir, daß so mancher sich nicht mehr ausschließlich als Jude zu definieren begann, sondern zugleich und mitunter in erster Linie als Bürger des Staates begriff, in dem er lebte. Der ‚deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ war eine Formel, auf die man sich im Laufe der Zeit schließlich verständigte“ (Schoeps 1996, 107). Religion – gleich welcher Glaubensausrichtung – ist für Nordau aber eine jener „conventionellen Lügen der Kulturmenschheit“, gegen die er zu Felde zieht, gerade weil er sich jede „Sentimentalität“ versagt, wie er Eugen von Jagow 1886 gesteht (zit. n. Schulte 1997, 190). Wie sehr Nordau in den folgenden Jahren um Distanzierung vom Judentum bemüht ist – oder anders, um die Attitüde des polyglotten Abenteurers –, zeigt ein Brief aus Rom vom 30. September 1875, wiederum an Charlotte: „Hättest [Du] mir nicht genau angegeben, wann die jüdischen Feiertage sind, ich würde es nicht genau gewußt haben. Ich merke nichts von dergleichen. Es muthet mich sehr drollig an, daß man mir im September Neujahrswünsche sendet und ich merke erst jetzt, was der Unterschied ist zwischen Judenländern und solchen, in denen es keine oder nur sehr wenige Juden gibt“ (zit. n. ebd., 78). 1878 ist Nordaus
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jüdische Herkunft in der Öffentlichkeit getilgt, im Vorwort von Aus dem wahren Milliardenlande stellt er sich als „deutsch schreibender Ungar“ vor. Mit der Publikation von Entartung vollzieht sich eine Wende. Das Werk wird zum Sensationserfolg, macht Nordau vollends international berühmt, bei Verehrern und Kritikern gleichermaßen. Zeitgleich setzt eine antisemitische Hetze gegen den Autor ein, die zu jener Lebensvolte führt, die Nordau zu einer entscheidenden Persönlichkeit der Zionistischen Organisation werden lässt. Als er sich vom 1. bis zum 10. September 1893 mit der Familie seines Chefredakteurs der Vossischen Zeitung, Friedrich Stephany, auf Borkum zu einem Erholungsurlaub aufhält, erreichen Nordau täglich anonyme Briefe: „Ich war nämlich die zur Wehrlosigkeit verurteilte Zielscheibe der niederträchtigsten, natürlich anonymen, Angriffe antisemitischer Strolche, die mir mit der Post unflätige Drucksachen und Briefe ins Haus schickten, im Hotel, wo ich aß, mir auf und unter den Teller ebensolche Zuschriften legten usw.“, berichtet Nordau Eugen von Jagow am 22. September 1893. „Mich zu vertheidigen, die Urheber zu entdecken war ohne große Mühe und Umstände unmöglich. Auch war ich ja nicht in die Ferien gegangen, um mich mit Antisemiten mit Faust und Degen herumzuschlagen. Ich zog es also vor, die Insel zu verlassen, die, wie ich erst später erfuhr, als Hauptquartier der Antisemiten bekannt ist. [/] Ich ging, aber die Buben hatten ihr Ziel erreicht; sie hatten mir den tiefsten Seelenschmerz meines Lebens bereitet, denn ich musste an mir erfahren, dass ein deutscher Schriftsteller, der an dem Rufe des deutschen Schriftthums selbst im widersten […] Auslande nicht unrühmlich mitgearbeitet zu haben glaubt, auf deutschem Boden inmitten einer den gebildetsten Klassen angehörenden Gesellschaft nicht weilen kann, weil er den schwersten Ehrenkränkungen ausgesetzt ist“ (zit. n. ebd., 195). Am fassungslosen Schmerz über die persönlichen Anfeindungen wird deutlich, dass die radikale Wende zum Judentum, die Nordau Mitte der neunziger Jahre vollzieht und die ihn zu einem Propagandisten des modernen politischen Zionismus werden lässt, am Anfang weniger auf eine Bejahung des Judentums als vielmehr auf eine Reaktion auf den Antisemitismus zurückzuführen ist. Nur mit „großer Mühe und sittlicher Anstrengung“ habe er sich aus der „Assimilationsphase“ herausgearbeitet, gesteht er in Meine Selbstbiographie. „Viele Jahre habe ich in meinem jetzigen Wohnort, Paris, keine Berührung mit dem Judentum gehabt, und das einzige Band, das mich noch mit meinen Brüdern verknüpfte, war außer meiner frommen Mutter der ‚Jichus‘ meiner Familie, auf den ich sehr stolz war und, ich bekenne es, geblieben bin. Erst das Anwachsen des Antisemitismus weckte in mir das Bewusstsein meiner Pflichten gegenüber meinem Volke, und die Initiative fiel meinem teuren Freunde Herzl zu, zu dem ich in Paris in sehr nahe Beziehungen trat. Er wies mir den Weg zur Erfüllung meiner Pflichten gegenüber meinem Volke“. Auf der einen Seite erstarken antisemitische Anfeindungen im deutschen Reich und in Österreich, die um ein nationales Bewusstsein ringen; auf der anderen Seite entwickelt sich in den neunziger Jahren ein jüdisches Nationalbewusstsein, das auch Nordau später immer wieder – neben dem Antisemitismus – als Argument für
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einen Judenstaat reklamiert (vgl. Der Zionismus). Beide Denkrichtungen sind als Reaktionen eines geschichtlichen Prozesses in der Moderne zu sehen, was 1897 zwei historisch bedeutsame Ereignisse zeigen: In Wien wird der Antisemit Karl Lueger als Bürgermeister bestätigt (vgl. hierzu Brenner 2016, 30f.); in Basel tagt der I. Zionistische Kongress.
Abb. 3: Alfred Dreyfus. Atelieraufnahme. Um 1890.
Ende Oktober 1894 berichtet die französische Presse über die Dreyfus-Affäre. Der französische Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus soll angeblich Landesverrat zugunsten des deutschen Kaiserreichs begangen haben; als „Beweis“ dient ein zerrissenes, nicht unterzeichnetes Schriftstück mit Bordereau. Dass Dreyfus schnell in den engeren Kreis der Verdächtigen gerät, ist nicht vorliegenden Indizien zuzuschreiben, sondern vielmehr dem Umstand, dass er im Generalstab als Jude unerwünscht ist und dass er über unbequeme charakterliche Dispositionen verfügt (Begley 2009, 22, 17). Weder das Fehlen von Beweisen noch das eines Motivs noch das dubiose vom Oberstleutnant Albert d’Aboville erstellte „Täterprofil“ noch widersprechende graphologische Gutachten noch die Unschuldsbeteuerungen des Angeklagten verhindern Anklage und Verurteilung. Verschiedene französische Zeitungen beteiligen sich zudem an der beispiellosen antisemitischen Hetzjagd auf den Offizier. Intrigen, Komplotte, Verschwörungstheorien und Feme (Begley 2009, 24ff.) kennzeichnen die folgenden Jahre. Aber bereits wenig später setzt mit der Schrift von Bernard Lazare Une erreur judiciaire, la vérité sur l’affaire Dreyfus (1896) eine ebenso heftige Verteidigungswelle für Dreyfus ein.
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Abb. 4: Émile Zola. Um 1885. Photographie von Nadar.
Émilie Zola kommt die wohl bedeutsamste Rolle in der Verteidigung von Dreyfus zu. Am 15. November 1897 ergreift er in der Zeitung Le Figaro zum ersten Mal Partei für Dreyfus; am 1. Dezember bezeichnet er das unter der Überschrift Le Syndicat kursierende Gerücht, ein jüdisches Syndikat verfolge die Absicht, Dreyfus freizukaufen, als Ammenmärchen; vier Tage später verkündet er in Le Procès-verbal, der barbarische Antisemitismus würde Frankreich um tausend Jahre zurückwerfen. Da ihm Le Figaro daraufhin die Publikationsplattform entzieht, veröffentlicht Zola in der von Georges Clemenceau neu gegründeten Literaturzeitschrift L’Aurore am 13. Januar 1898 einen offenen Brief an Staatspräsident Félix Faure mit dem provozierenden Titel J’accuse…!. Das Eintreten Zolas für die Gerechtigkeit und gegen die antisemitische „Schmutzpresse“ führen – neben der Verurteilung und Flucht Zolas – zu einer zwei Tage später in Le Temps veröffentlichten Petition, in der die Revision des über Dreyfus ergangenen Fehlurteils von namhaften Kulturschaffenden gefordert wird. Dreyfus wird schließlich 1906 rehabilitiert. Für Nordau ist die Dreyfus-Affäre von lebensgeschichtlicher Relevanz, weil die persönlich erlittenen antisemitischen Schmähungen nun in einen überindividuellen Kontext eingeordnet werden müssen, vor dem er lange die Augen verschlossen gehalten hat. Am 7. November 1894 berichtet Nordau der Vossischen Zeitung per Kabel von einem „dichten Sagennebel“, der sich auf die Dreyfus-Affäre gelegt habe, und dass nur die „Wohlwollenden“ noch fordern würden, „daß er erschossen würde“ (VZ, 10.11.1894, Morgenausgabe, 10). Nordaus Hoffnung, „eine amtliche Aufklärung oder eine Gerichtsverhandlung“ werde „der tollen Rederei“ ein Ende setzen, erfüllt sich insofern ex negativo, als Dreyfus am 22. Dezember 1894 von einem Militärgericht für schuldig befunden, auf dem großen Hof der École Militaire öffentlich degradiert und auf die Teufelsinsel verbannt wird. Als Schlüsselszene des modernen Zionismus gilt (Schulte 1997, 269), wie eine wütende Menge das Schauspiel tausend-
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fach mit dem Ruf „À mort! À mort les juifs!“ begleitet. Beobachter dieser Szenerie sind die Journalisten Nordau und Herzl.
Abb. 5: L’agitation antisemite à Paris. Historische Postkarte. Nicht datiert. Um 1894.
Theodor Herzl wird am 2. Mai 1860 in Pest geboren. Nach einem Studium der Jurisprudenz arbeitet er ab Oktober 1891 zunächst als Pariser Korrespondent der Wiener Neuen Freien Presse, 1896 ist er dort als Feuilletonredakteur tätig. Die Dreyfus-Affäre lässt in Herzl die Überzeugung von der Notwendigkeit eines nationalen autarken „Judenstaates“ reifen. Dieser Gedanke ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr neu. Einerseits ist die Vorstellung religiös grundiert im Glauben an die messianische Erlösung, dessen integraler Bestandteil der Sehnsuchtsort Zion beziehungsweise Erez Israel ist. Andererseits schärfen die antisemitischen Übergriffe gegen Ende des Jahrhunderts das Bewusstsein einer „jüdischen“ Problematik und lassen in Herzl die Überzeugung reifen, „die Emanzipation als Integrationsmaßnahme habe versagt, das Streben der Juden nach Akkulturation und Assimilation sei ein zum Scheitern verurteilter Irrweg. Die Lösung der sogenannten ‚Judenfrage‘ könne nur in der Wiedergewinnung der inneren und äußeren Freiheit für die Juden und das Judentum bestehen“ (Schoeps 1996, 343). Den „Radau-Antisemitismus“ in Frankreich kommentiert Herzl bereits am 31. August 1892 in einem mit Französische Antisemiten betitelten Essay in der Neuen Freien Presse ironisch: „Die Juden eignen sich von altersher vortrefflich dazu, für Fehler und Mißbräuche der Regierenden, für Unbehagen und Elend Regierter, für Pest, Mißwachs, Hungersnoth, öffentliche Corrup-
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tion und Verarmung verantwortlich gemacht zu werden. Darum wird jeder conservative Staatsmann ihnen immer einen mäßigen Schutz angedeihen lassen, um sie zu erhalten“ (Herzl 1892, 2). Herzls Beschreibung, so ironisch sie auch formuliert ist, wurde in der neueren Forschung weitgehend bestätigt. Infolge wirtschaftlicher, sozialer und politischer Umwälzungen verhelfen die „Lügen der Antisemiten“, die die Rolle der Juden uminterpretieren in Parasitentum, auch im deutschen Reich der „höchst verderbten Gesellschaft“ zu einem „höchst gefährlichen Alibi“ (Arendt 2009, 230f.). In Österreich werden die Juden als „Entlastungsträger“ vereinnahmt, und es wird ihnen der Wille zur Weltbeherrschung unterstellt. 1897 warnt Arthur Schnitzler vor dem „Wahn des Geborgenseins“ und mutmaßt, es werde bald wieder Zeit, „die Tragödie der Juden zu schreiben“ (Abels 1982, 27). Der in Europa unterschwellig herrschende Antisemitismus tritt im 19. Jahrhundert durch eine Reihe von Ereignissen offen zutage und entlädt sich in gewaltsamen Aktionen gegen Juden (Damaskus-Affäre, 1840, Mortara-Affäre, 1858, Bankrott der Union Générale, 1882, Panama-Affäre, 1892. Vgl. hierzu Nordaus Essay Blutmärchen; ferner Meyer 1992, 63f., Benbassa 2005, 19f.). Mit Blick auf diese gesamteuropäischen Tendenzen ist es nicht überraschend, dass sich der Antisemitismus auch im französischen Offizierskorps „mit ansteckender Geschwindigkeit“ verbreitet (Duclert 1994, 13). Bereits vor der Dreyfus-Affäre hat Herzl sich mit Édouard Drumonts La France juive (1886) beschäftigt, in der dieser mit beispiellosem verlegerischen Erfolg (bis 1914 200 Auflagen, Benbassa 2005, 23) ein geschlossenes System des Antisemitismus entwickelt; fünf Jahre vor Drumont hat Eugen Dühring in Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Kulturfrage den Juden abgesprochen, je Deutsche werden zu können. Es ist symptomatisch für seine relativ späte Wahrnehmung des Antisemitismus, dass Herzl dieses Werk nicht zur Kenntnis genommen hat. Noch Anfang 1895 ist Herzl durch die Zunahme judenfeindlicher Angriffe zwar „bitterlich gekränkt“ (Herzl 1984, 44), dennoch hält er den Antisemitismus für eine vorübergehende Begleiterscheinung jüdischer Existenz, die in der Evolution entweder zu vollkommener Anpassung führe, oder aus der die Juden, besäßen sie erst ein eigenes Land, gestärkt hervorgehen würden: „Der Antisemitismus, der in der grossen Menge etwas Starkes und Unbewusstes ist, wird aber den Juden nicht schaden. Ich halte ihn für eine dem Judencharakter nützliche Bewegung. Er ist die Erziehung einer Gruppe durch die Massen und wird vielleicht zu ihrer Aufsaugung führen. Erzogen wird man nur durch Härten. Es wird die Darwinsche mimicry eintreten. Die Juden werden sich anpassen. Sie sind wie Seehunde, die der Weltzufall ins Wasser warf. Sie nehmen Gestalt und Eigenschaften von Fischen an, was sie doch nicht sind. Kommen sie nun wieder auf festes Land und dürfen da ein paar Generationen bleiben, so werden sie wieder aus ihren Flossen Füsse machen“ (ebd., 49f.). Nordau wird Herzl in seiner ersten zionistischen Schrift in darwinistischer Diktion sekundieren: „Die Lebenskraft eines Organismus misst sich nach der Stärke seiner Reaktionen gegen feindliche Reize. Trotz und Entrüstung wurzeln in Selbstachtung, in Ehrgefühl, in
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Kraftbewusstsein. Das sind drei ausreichende Quellen nationaler Empfindung“ (Ein Tempelstreit). Durch die Lektüre von Drumonts Pamphlet lernt Herzl „den Antisemitismus als historisches und soziales System“ (Schoeps 1995a, 14) verstehen und korrigiert seine Auffassung dahingehend, „daß die Judenfeindschaft nicht etwa als ein voremanzipatorisches Relikt, sondern als eine direkte Folge der Emanzipation zu gelten habe. Das bedeutete, daß er zu der Überzeugung gelangt war, daß die Emanzipation als Integrationsmaßnahme versagt und das Streben der Juden nach Assimilation an ihre nicht-jüdische Umwelt ein zum Scheitern verurteilter Irrweg sei“ (Schoeps 1995b, 88f.). Auch Nordau sieht die Gründe für das Scheitern in der „Selbsttäuschung“ der Nationen über ihr „Gefühl“, das dem Verstand habe nicht folgen können; die gesetzlich verordnete Emanzipation sei dadurch wirkungslos geblieben (I. Kongressrede). Selbst der Jude, „der bis über die Ohren assimiliert“ sei, könne die Folgen des daraus entstandenen Antisemitismus spüren (Israel unter den Völkern). Noch 1920 beklagt er am Beispiel von Albert Ballins Schicksal Die Tragödie der Assimilation, die für ihn das bösartigste Werk des Teufels darstellt, den „Seelenschacher“. Allerdings widerspricht Nordau der These des Sozialneides vehement und bietet stattdessen eine phylogenetische Erklärung an: Abgesehen davon, dass prozentual gesehen kaum von „Judenreichtum“ gesprochen werden könne, sei gerade dort, wo Juden zu Ansehen und Geld gekommen seien, weniger Judenhass zu beobachten als dort, „wo die Juden als wirtschaftlicher Faktor gar nicht in Betracht kommen“ (Die psychologischen Ursachen des Antisemitismus). Die Gründe führt er 1899 in einer in Wien gehaltenen Rede aus. Unter dem lebhaften Beifall seiner Zuhörer stellt Nordau fest: „In Geldsachen hört, wie die Gemütlichkeit, so das Rassenvorurteil auf“; der Christ habe vor dem Finanzjuden, einer großen „Ziffer auf zwei Beinen“, stets Hochachtung, und strebe der christliche Aristokrat als Vater einer heiratswilligen Tochter „nach Judengeld“, so sei er „vor der Welt und vor sich selbst verpflichtet, dieses Geld vorher durch ein Achtungsbad für die Großjuden zu reinigen“. Umgekehrt glaube er den jüdischen Millionären deswegen auch, keinen Judenhass zu „fühlen“ (Vortrag gehalten in Amsterdam). Generell aber, so führt Nordau wiederum in sozialdarwinistischer Diktion aus, sei der Antisemitismus nicht auszumerzen: „Der Hass gegen die Juden wurzelt in einer der ursprünglichsten und allgemeinsten Eigentümlichkeiten des menschlichen und selbst des tierischen Denkens. […] Dies ist eine der Formen des Misoneismus, jenes Verteidigungsmittels des Organismus gegen die Anstrengung der Anpassung, das von meinem großen Lehrer Cesare Lombroso meisterhaft analysiert und benannt wurde. […] Was speziell uns Juden betrifft, so gesellen sich zu jener allgemeinen Ursache der fortlebende alte Fanatismus gegen die ‚Gottesmörder‘ und ein Widerhall der abergläubischen Fabeln des Mittelalters über allerhand jüdische Missetaten wie den Ritualmord, den Hostiendiebstahl usw.“ (Die psychologischen Ursachen des Antisemitismus).
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Weniger die Ursachen als die Folgen des Antisemitismus werden Nordau und Herzl allerdings in der Folgezeit beschäftigen; beide beklagen – neben Armut, Rechtlosigkeit und Schmähung – die psychischen und physischen Deformierungen vieler Juden in ihren Geburtsländern. „Die Emanzipation hat die Natur des Juden vollständig umgewandelt und aus ihm ein anderes Wesen gemacht“, stellt Nordau fest. „Der emanzipierte Jude ist haltlos, unsicher in seinen Beziehungen zu den Nebenmenschen, ängstlich in der Berührung mit Unbekannten, misstrauisch gegen die geheimen Gefühle selbst der Freunde. Seine besten Kräfte verbraucht er in der Unterdrückung und Ausrottung oder mindestens in der mühsamen Verhüllung seines eigensten Wesens, denn er [ist] besorgt, dass dieses Wesen als jüdisch erkannt werden möchte, und er hat nie das Lustgefühl, sich ganz zu geben, wie er ist, er selbst zu sein […]“ (I. Kongressrede). Auch Herzl hält in seinem Zionistischen Tagebuch fest: „Ich begreife den Antisemitismus. Wir Juden haben uns, wenn auch nicht durch unsere Schuld, als Fremdkörper inmitten verschiedener Nationen erhalten. Wir haben im Ghetto eine Anzahl gesellschaftswidriger Eigenschaften angenommen. Unser Charakter ist durch den Druck verdorben, und das muss durch einen anderen Druck wieder hergestellt werden. Thatsächlich ist der Antisemitismus die Folge der Judenemancipation“ (Herzl 1984, 48).
Abb. 6: Theodor Herzl auf einem Balkon des Hotels „Drei Könige“, Basel. Aufnahme von Ephraim Moses Lilien. 1901. JMS 326-1.
Auch diese Position Herzls wird von der neueren Forschung bestätigt. Der Begriff des Antisemitismus wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts populär. Charakteristisch
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ist, dass er eine besondere Kategorie sozialer Beziehungen beschreibt zwischen „‚Wirts‘-Population“ und der relativ kleinen in ihr lebenden Gruppe der Juden. Die Antisemiten definieren diese Gruppe als stigmatisierenden Antagonismus zum ‚WirGefühl‘ der Mehrheit. Die Juden wiederum fassen ihre „unumkehrbare Heimatlosigkeit seit Beginn der Diaspora als integralen Bestandteil der eigenen Identität auf“. Wird die „Demarkationslinie“, die beispielsweise durch Segregation oder Kleidung gewährleistet wird, infolge kultureller Osmose oder Nivellierung überschritten, kann sich die friedliche Koexistenz in eine „potentiell explosive Situation“ verändern: „Die Intensität des Antisemitismus verhält sich in der Regel proportional zur Heftigkeit des Bestrebens nach Grenzziehung und Grenzdefinition einer Gesellschaft“ (Bauman 1992, 48f.). Diese prekäre historische Situation gibt zur Selbstprüfung Anlass und kann zu zwei gegensätzlichen Selbstwahrnehmungen der Juden führen: Der Antisemitismus kann „leichter oder schwerer empfundene Minderwertigkeitsgefühle hervorrufen“ (Meyer 1992, 48) und im extremen Fall zum pathologischen Phänomen des Selbsthasses führen. Hierbei werden die klischeehaften Zuweisungen der privilegierten Gruppe auf das Selbstbild übertragen: „Selbsthaß entsteht, wenn die Trugbilder der Stereotypen mit der Wirklichkeit verwechselt werden, wenn der Wunsch, akzeptiert zu werden, die ‚Einsicht‘ in die eigene ‚Andersartigkeit‘ erzwingt“ (Gilman 1993, 15). Herzl und Nordau registrieren die Komponenten des Selbsthasses als Folge der Anpassungsleistung und erklären deshalb die Assimilation für gescheitert. Folge dieses Scheiterns, bzw. dessen Anerkennung, ist wiederum die Emanzipation eines spezifischen jüdischen Selbstbewusstseins. Generell ist in Deutschland seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine „Wiederbelebung des Judentums“ (Meyer 1992, 67) zu beobachten. Dazu gehört die Gründung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der zum „geschworenen Feind des Zionismus“ (ebd., 68) wird, ebenso wie Herzls aufkeimende Idee des Judenstaates. So wird die Dreyfus-Affäre für Juden in Deutschland (anders als in Frankreich) zwar nicht zu einem ersten, wohl aber entscheidenden Initial, sich ihrer jüdischen Identität bewusst zu werden und geschlossen sowohl dem Antisemitismus als auch der Assimilation entgegenzutreten, auch wenn vielen ein Zugang zum religiösen oder kulturellen Erbe fehlt. Gerade unter den intellektuellen Juden ist ein mehr oder minder stark ausgeprägtes jüdisches Bewusstsein vorhanden (Beller 1993, 85–90). Ein kausaler Nexus zwischen der Dreyfus-Affäre und der Hinwendung zum politischen Zionismus besteht also weder für Herzl noch für Nordau, aber die Zeremonie der Degradierung und Verhöhnung des jüdischen Offiziers wirken auf beide wie ein „Schock“ mit „kathartische[r] Wirkung“ (Schoeps 1995a, 36; vgl. ferner Wistrich 1996, 51–68). Als Nordau am 3. November 1899 für Die Welt vom zweiten DreyfusProzess und der erneuten Verurteilung berichtet, ist seine Empörung grenzenlos: „Diese Männer“, so urteilt er über Ankläger und Richter, „sind Monstra im teratologischen Sinne des Wortes. […] Und diese Tatsache, dass die Verbrecher schon als körperliche Erscheinung außerhalb der Menschheit stehen, bewirkt, dass man den
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Renner Gerichtssaal nicht als Verächter, sondern als Schätzer der Menschheit verlässt“ (Renner Eindrücke). Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre greift Herzl 1895 die Ideen des politischen Zionismus auf. Gegenüber dem jüdischen Philanthropen Baron Maurice de Hirsch, der jüdische Wohlfahrtsorganisationen unterstützt, spricht er von der Notwendigkeit eines radikalen Umdenkens: „Wenn wir nun eine einheitliche politische Leitung hätten [...], könnten wir an die Lösung der Judenfrage herangehen. […] Sie züchten Schnorrer“, wirft er Hirsch vor, der mit großzügigen Spenden arme Glaubensbrüder unterstützt. „Charakteristisch ist, dass bei keinem Volk so viel Wohlthätigkeit und so viel Bettel vorkommt, wie bei den Juden. Es drängt sich Einem auf, dass zwischen beiden Erscheinungen ein Zusammenhang sein müsse. So dass durch die Wohlthätigkeit der Volkscharakter verlumpt“ (Herzl 1984, 58). Herzls Notizen verdeutlichen, dass für ihn die politische Selbstbestimmung nicht nur eine wirtschaftliche Existenzsicherung armer Juden, insbesondere der osteuropäischen, sondern zu allererst die Stärkung des mentalen Selbstbewusstseins voraussetzt. Von der Idee der „Exportjuden“, die Baron Hirsch und der bereits erwähnte Loewenthal mit der Ansiedlung in Argentinien vertreten, hält Herzl nichts. An „Ort und Stelle“ müsse man „sie kriegsstark, arbeitsfroh und tugendhaft machen“ (Herzl 1984, 59), erst dann sollten die Juden in ihre politisch autarke „historische Heimat“, Palästina, übersiedeln (Herzl 1986, 69). Herzl setzt auf die Unterstützung durch europäische Großmächte und auf die Finanzierung des Projekts durch Nationalanleihen und die als Aktiengesellschaft arbeitende „Jewish Company“, mit der auf einem zunächst noch nicht näher bezeichneten Territorium die Infrastruktur aufgebaut werden soll (Gründung der Jüdischen Kolonialbank 1899 und des Jüdischen Nationalfonds 1901). Zudem hofft Herzl auf die Unterstützung durch Baron Edmond de Rothschild, der bereits 1883 einige Siedlungen in Palästina gegründet hat, um Glaubensbrüder vor Verfolgung zu bewahren. Rothschild, den er am 18. Juli 1896 aufsucht, verhält sich Herzls nationaler Idee gegenüber allerdings reserviert. Ende Juli verlässt Herzl Paris. „Es endigt ein Buch meines Lebens. [/] Es beginnt ein neues. [/] Welches?“ (Herzl 1984, 230). Überzeugt hat er zuvor Max Nordau: „Nordau geht, glaube ich, mit mir durch Dick und Dünn. Er war am leichtesten zu erobern u. ist vielleicht die bisher werthvollste Eroberung“ (ebd., 277). Mit Nordau bespricht er das Manuskript, das 1896 als Herzls Hauptwerk erscheint, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, mit dem er das Fundament für einen politischen Zionismus legen will. Wie Nordau ist auch Herzl davon überzeugt, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl vor allem durch den Antisemitismus definiert wird (Herzl 1986, 44). In Palästina müssten zunächst die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen geschaffen werden, um die Juden „mit dem ganzen Wurzelwerk vorsichtig aus[zu]heben und in einen besseren Boden über[zu]setzen“. „Der Judenstaat ist ein Weltbedürfnis“, so Herzl, „folglich wird er entstehen“ (ebd., 45). „Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben und sie werden ihn verdienen“ (ebd., 46, vgl. auch Tagebucheintrag vom 18. Februar 1896, Herzl 1984, 304).
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Abb. 7: Zionistischer Congress in Basel. 29. 30. und 31. August 1897. Theilnehmer-Karte für Herrn stud. med. Hirschkopf. JMS-1432.
1897 beruft Herzl in Basel den I. Zionistischen Kongress ein, der als internationales Diskussionsforum und „jüdisches Parlament“ die Idee der Ansiedlung von Juden im eigenen Land vorantreiben soll. Auf diesem Kongress findet auch jene Fahne ihren Platz, die Herzl gegenüber Baron de Hirsch bereits 1895 zum unerlässlichen Requisit zur „(moralischen) Trainirung zum Marsch“ nach Erez Israel erklärt hatte: „Mit einer Fahne führt man die Menschen, wohin man will, selbst ins gelobte Land. Für eine Fahne leben und sterben sie, es ist sogar das Einzige, wofür sie in Massen zu sterben bereit sind – wenn man sie dazu erzieht“ (Herzl 1984, 64f.). Nichts überlässt Herzl dem Zufall. Auf den Einladungskarten zum Kongress vermerkt er, „dass man im Frack u. weisser Halsbinde zur Eröffnungssitzung kommen müsse“. Über die Gründe gibt ein Tagebucheintrag Auskunft: „Die Feiertagskleider machen die meisten Menschen steif. Aus dieser Steifheit entstand sofort ein gemessener Ton.“ Zum Missfallen Herzls erscheint Nordau dennoch im Gehrock (Redingote): „Ich zog ihn bei Seite, bat ihn, es mir zu Liebe zu thun. Ich sagte ihm: heute ist das Präsidium des Zionisten-Congresses noch gar nichts, wir müssen Alles erst etabliren. Die Leute sollen sich daran gewöhnen, in diesem Congress das Höchste und Feierlichste zu sehen. Er liess sich umstimmen, wofür ich ihn dankbar umarmte. Nach einer Viertelstunde kam er im Frack wieder“ (ebd., 539). Herzl wird mit „Beifallsstürmen empfangen“, und als er seine Rede beendet hat, tritt Nordau ans Pult, bekräftigt die Forderungen seines Vorredners, benennt aber nicht die Ziele, sondern die Ursachen der jüdischen Misere. Es gelte, Abhilfe zu schaffen von jener Not, „die die Juden nicht als Menschen, sondern als Juden erleiden“ (I. Kongressrede).
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Herzl wird zum Präsidenten der Zionistischen Organisation gewählt, und das sogenannte „Baseler Programm“ wird verabschiedet; der stets zu Radikalverbalisierungen neigende Nordau hält es bewundernd für „ein Meisterwerk der Umschreibung“: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlichrechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina[.] Zur Erreichung dieses Zieles nimmt der Congress folgende Mittel in Aussicht: I. Die zweckdienliche Förderung der Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden. II. Die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen. III[.] Die Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewusstseins[.] IV[.] Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmung, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.“
Abb. 8: Handschriftlich fixierte Programmpunkte des Baseler Programms von 1897.
Das Baseler Programm ist deswegen „ein Meisterwerk der Umschreibung“, weil es aus diplomatischen Gründen – sowohl innerzionistisch, da die Chibbat-Zion-Gruppen ihre Kolonisationsprojekte gefährdet sehen (siehe Abschnitt 4), als auch mit Rücksicht auf die Interessen des Osmanischen Reichs und der europäischen Großmächte, die gleichermaßen eine massenhafte Einwanderung der Juden in Palästina argwöhnisch beäugen – auf die Maximalforderung eines souveränen Staates verzichtet. Bereits bei seinem ersten Besuch in Konstantinopel 1896 hatte Herzl konstatieren müssen, dass ein unabhängiger Judenstaat nicht zu realisieren sei, auch wenn dieses seinem und Nordaus Wunsch entspräche. Die aus diesen Rücksichten resultierende Formulierung lautet „Heimstätte“; und auch das zunächst vorgesehene Epitheton „völkerrechtlich“ wird aus Vorsicht in „öffentlich-rechtlich“ korrigiert. Der Begriff „Heimstätte“ ist dennoch aussagekräftig für Herzls und Nordaus Zionismus-Verständnis. Ihnen geht es vor allem um einen gesicherten Zufluchtsort für die
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von antisemitischen Anfeindungen und Pogromen bedrohten Juden, ungeachtet der unterschiedlich konnotierten Übersetzungen in den Heimatländern mit entsprechendem Bedeutungs- und Handlungsspielraum. Interessant ist dabei, dass der Begriff „Moledet“ (Heimat) im Hebräischen auch „geboren werden“ bedeutet und auf diese Weise Assoziationen an das Ursprungsland Erez Israel freisetzt. Diplomatischen Spielraum verspricht die Bezeichnung „öffentlich-rechtlich“ auch deshalb, weil es gilt, sowohl Sultan Abdul Hamid II., das Oberhaupt des hochverschuldeten Osmanischen Reichs, als auch seine Gläubiger, die europäischen Großmächte, von der Unbedenklichkeit der „Heimstätte“ zu überzeugen. Befürchtet der Sultan eine Abspaltung der Territorien und einen Einfluss der Großmächte, da Zuwanderer im Osmanischen Reich weder der Jurisdiktion noch der Steuergesetzgebung unterliegen, so mutmaßen die Großmächte, dass ihre unterschiedlichen Interessen von der Zionistischen Organisation gegeneinander ausgespielt werden. Russland, in dem die meisten Juden leben und das auf Auswanderung dringt, macht zudem deutlich, den Zionismus – gegen die Interessen des Osmanischen Reichs – nur zu unterstützen, wenn dieser seiner Forderung nach einem unabhängigen Staat Nachdruck verleiht. Das verlangt einen diplomatischen Drahtseilakt, denn Herzl und seine Nachfolger müssen eine möglichst weitgehende Autonomie für die angestrebte „Heimstätte“ aushandeln, hinsichtlich des judikativen, staatsbürgerlichen und verwaltungsrechtlichen Status, der geographischen Grenzen, vor allem aber der Finanzierung. Damit ist zuallererst die – in welcher Form auch immer – zu zahlende Ablösungssumme an das Osmanische Reich gemeint, aber auch die Aufwendung für die fehlende Infrastruktur in der künftigen Heimstätte. Bis 1902 hofft Herzl auf einen Charter, der über Entwürfe, an denen auch Nordau beteiligt ist, allerdings nie hinauskommt. Kein Zweifel kann daran bestehen – dieses wird auch Herzl spätestens 1902 klar –, dass die vom Osmanischen Reich gesetzte Ablösungssumme für ein abzutretendes Territorium vom Sultan in die Höhe getrieben wird, um eine Realisierung der Pläne der Zionistischen Organisation auszuschließen (1896 veranschlagt Herzl 2 Millionen englische Pfund für die Konzession, 1909 erhält Wolffsohn ein Angebot des Sultans von 28 Millionen Pfund für die Ansiedlung von 50 000 jüdischen Familien). Erst 1917, als Palästina durch britische Truppen erobert ist, wird mit der Balfour-Deklaration für die Zionistische Organisation ein entscheidender Schritt getan, „die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ in Palästina zu erleichtern. Um die Finanzierung der Arbeit des Aktionskomitees der Organisation zu ermöglichen, beschließt der Kongress – in Anlehnung an die antike Tempelsteuer – die Erhebung des Schekels, mit dessen Zahlung gleichzeitig das aktive und passive Wahlrecht erworben wird. Entscheidendes Organ zur Finanzierung der Auswanderungspläne ist die Gründung der Jüdischen Kolonialbank (Jewish Colonial Trust), das „finanzielle Instrument, durch das die Ideen des Zionismus praktisch auszuführen sind“ (§ 114), worunter zumindest Herzl und Nordau die Erlangung der öffentlich-
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rechtlichen Konzession verstehen. 1901 wird der Jüdische Nationalfonds gegründet, der nicht als Konkurrenzunternehmen zur Kolonialbank verstanden wird, sondern aus dem nach Erhalt der Konzession der Erwerb von Land finanziert werden soll.
Abb. 9: Die Welt. Nr. 1., 1. Jahrgang. Wien, 4. Juni 1897.
Neben der Notwendigkeit eines eigenen Finanzwesens der Zionistischen Organisation erkennt Herzl noch vor der Einberufung des I. Zionistenkongresses, dass es eines eigenen Presseorgans bedarf. In der Neuen Freien Presse ist die Berichterstattung über den Zionistischen Kongress nicht möglich. Daher gründet Herzl 1897 die Wochenschrift Die Welt. Am 14. Mai 1897 schreibt er an Nordau: „Die NFP ist gleichsam meine legitime Frau. In der ‚Welt‘ schaffe ich mir eine Maitresse an – ich will nur hoffen, dass mich die nicht ruiniren wird“ (Herzl 1990, 261). Die erste Nummer der Welt erscheint am 4. Juni 1897, Herzl stellt sie mit den Worten vor: „Unsere Wochenschrift ist ein ‚Judenblatt‘. Wir nehmen dieses Wort, das ein Schimpf sein soll, und wollen daraus ein Wort der Ehre machen“ (Herzl 1897, 1). Bis 1914 bleibt Die Welt das wöchentlich erscheinende Zentralorgan der Zionistischen Organisation. Der I. Zionistenkongress, der mit tumultartigen Szenen der Begeisterung endet, offenbart allerdings nicht nur Zustimmung, sondern auch divergente Zielrichtungen ost- und westeuropäischer Juden und disparate Vorstellungen von der Art und Wei-
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se einer Besiedlung Palästinas, die je nach politischer, weltanschaulicher oder religiös akzentuierter Überzeugung zu mehr oder minder starken Gruppierungen innerhalb der zionistischen Bewegung führen.
Abb. 10: Max S. Nordau und Theodor Herzl. Historische Grußkarte. Um 1900.
Herzls und Nordaus Position innerhalb der Zionismen Herzl initiiert mit dem I. Zionistischen Kongress die Zionistische Organisation als Institution, der neben dem zunächst jährlich, dann alle zwei Jahre stattfindenden internationalen Kongress das Große sowie das Engere Aktionskomitee als Gremien angehören, wobei die Kompetenzen nicht eindeutig geregelt sind. Allerdings pflegt Herzl bis zu seinem frühen Tod 1904 einen autoritären Führungsstil, der weder Aufgabenverteilung noch Meinungsvielfalt zulässt, sodass in seiner Person nahezu alle wichtigen Funktionen vereint sind. In seiner Eigenschaft als Präsident und Botschafter der Zionistischen Organisation führt Herzl zahllose Verhandlungen mit dem Ziel, die „rechtlich gesicherte Heimstätte des jüdischen Volkes“ in Palästina zu gründen. „[I]n Basel habe ich den Judenstaat gegründet“, notiert er selbstbewusst am 3. September 1897. „Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es Jeder einsehen“ (Herzl 1984, 538f.). Herzls Selbsteinschätzung eines Alleinstellungsmerkmals in der Geschichte des modernen Zionismus hat die Geschichtsschreibung relativiert; vielen Historikern gilt er als Begründer des Zionismus als politischer Organisation, nicht aber als Initiator der zionistischen Bewegung – wie sich auch „die Zionistische Organisation unter Herzl und später unter Wolffsohn neben und in Abgrenzung zu weiteren jüdischen Organisationen“ entwickelte (Meybohm 2013, 53). Dieses differenzierte Bild
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entspricht – auch wenn dies sicher nicht für die Palästinaarbeit gilt – tendenziell der Auffassung Nordaus. Zehn Jahre nach Herzls Tod, 1914, räumt er ein, Judenstaat sei die „literarische Kristallisation der Stimmung, aus der der Zionismus erwachsen sollte, er ist nicht die Darstellung des Zionismus. […] Der ‚Judenstaat‘ ist der Schlüssel der zionistischen Organisation, der Kongresse, der Kolonialbank, des Nationalfonds, der Palästinaarbeit. Er verhält sich zum Zionismus wie die platonischen ‚Ideen‘ zu ihren Verkörperungen in der Welt des Stoffes“ („Judenstaat“ und Zionismus). Herzls Judenstaat und auch das Gedankengebäude, das Herzl und Nordau in Reden und Schriften auf seiner Basis in den folgenden Jahren aufrichten werden, gründet gleichwohl auf Vorarbeiten prominenter Ideologen und auf politischen Aktivitäten von Gruppen, die sich der Assimilation strikt verweigern. Dieses räumt Nordau 1909 bei der ersten Druckfassung der Zionistischen Schriften (anders als in der ersten Fassung des Essays) auch ein (vgl. Kommentar). Bereits 1862 propagiert der jüdische Philosoph Moses Hess in seinem Werk Rom und Jerusalem, die Lösung des Judenproblems sei keine individuelle Aufgabe, sondern könne nur im Sinne einer Nationalbewegung erfolgen; der Gründung von Kolonien misst er einen Übergangsstatus bei. Er fordert eine „politische Wiedergeburt“ und präzisiert „im Lande der Väter“ (Hess 1935, 109); kein Jude, „ob orthodox oder nicht“, könne sich der Aufgabe entziehen, an der „Erhebung des Gesamtjudentums mitzuwirken“ (ebd., 130), um damit zur „definitiven Abhilfe unseres Elends“ beizutragen (ebd., 131). Dieses würde „der jüdischen Nation zum ewigen Ruhme, der gesamten Menschheit zum Heile gereichen“ (ebd., 133). Ferner erscheint 1881 anonym ein frühzionistischer Essay Judah Leib Pinskers, der 1882 unter dem Titel Autoemanzipation in deutscher Sprache als Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden veröffentlicht wird. In diesem fordert der Autor dazu auf, „sich selbst zu emanzipieren und sich auf die national-jüdischen Wurzeln zu besinnen“ (Schoeps 2005, 10). Als 1882 in Wien einige Korporationsverbände Juden auszuschließen beginnen, gründen nationaljüdische Studenten die Verbindung Kadimah, mit der sie die Assimilation bekämpfen, das jüdische Selbstbewusstsein stärken und die Juden zur Rückkehr nach Palästina aufrufen wollen (Schoeps 1995b, 102). 1883 tritt der Rabbiner Isaak Rülf mit der Schrift Aruchas Bas-Ammi: Israels Heilung: ein ernstes Wort an Glaubens- und Nichtglaubensgenossen in Erscheinung, in der er dezidiert von der Notwendigkeit eines jüdischen Staates in Palästina spricht. 1891 veröffentlicht Max Bodenheimer eine Broschüre mit dem Titel Wohin mit den russischen Juden?, in der er – allerdings in seiner Wortwahl verhaltener – die Forderung unterstreicht (Meybohm 2013, 45). Fünf Jahre später finden sich ähnliche Forderungen wie im Baseler Programm bereits in den „Kölner Thesen“ der von Max Bodenheimer und David Wolffsohn gegründeten Nationaljüdischen Vereinigung: „Die staatsbürgerliche Emanzipation der Juden innerhalb der anderen Völker hat, wie die Geschichte zeigt, nicht genügt, um die soziale und kulturelle Zukunft des jüdischen Stammes zu si-
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chern, daher kann die endgültige Lösung der Judenfrage nur in der Bildung des jüdischen Staates bestehen, denn nur dieser ist in der Lage[,] die Juden als solche völkerrechtlich zu vertreten und diejenigen Juden aufzunehmen, die in ihrem Heimatland nicht bleiben können oder wollen. Der natürliche Mittelpunkt für diesen auf legalem Wege zu schaffenden Staat ist der historisch geweihte Boden Palästinas“ (zit. n. ebd., 46). Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Palästina als Siedlungsgebiet auf einer Projektion von „Zion“ als Sehnsuchtsort des jüdischen Volkes beruht, wobei das tatsächlich angestrebte Territorium wenig mit der Messias-Version zu tun hat und neben der religiösen vor allem emotionale und mentale Bedeutung erlangt als symbolischer Ort, an dem die Diaspora endet (vgl. Der Zionismus sowie Halpern 1969, 95f.). Dieser Auffassung ist auch Herzl, wenngleich mehr aus strategischen Gründen: „Ich denke daran, der Bewegung ein näheres territoriales Ziel zu geben, unter Beibehaltung Zions als Endziel“ (Herzl 1984, 593). Von den genannten ideologischen Vordenkern soll Herzl aber erst später erfahren haben, als er den „Zionismus in seinem Herzen“ bereits gefunden und „in seinem Geiste systematisch ausgebaut“ hatte, so Nordau in seiner Trauerrede auf Herzl vor dem VII. Zionistischen Kongress am 27. Juli 1904, eine Feststellung, die durch einen Tagebucheintrag Herzls vom 10. Februar 1896 gestützt wird (Herzl 1984, 300). Allerdings ist auch Herzl für die bereits seit vielen Jahren bestehenden zahlreichen jüdischen Gruppierungen bis zu seiner Schrift der Judenstaat ein Unbekannter und in gewisser Weise Unwissender, der – Wolffsohn zufolge – von der berechtigten Beteiligung russischer Juden an der Verwirklichung des Projektes erst überzeugt werden muss (Meybohm 2013, 52). Zweifellos sind Herzl und Nordau in ihrem Denken zutiefst europäisch ausgerichtet; dieses bildet die Grundlage ihrer Vorstellung vom Judenstaat. Religiöse und kulturelle Aspekte sind dem nachgeordnet. Stark differierende Lebensumstände und erheblich divergierende mentale Unterschiede – und die damit verbundenen von Stereotypen geleiteten wechselseitigen Projektionen – führen zu einer starken Dichotomisierung von Ost- und Westjuden und prägen die Auseinandersetzungen in der zionistischen Bewegung (ebd., 63ff.). Dank seiner charismatischen Führung gelingt es Herzl, virulente oppositionelle Bewegungen innerhalb der Zionistischen Organisation zu beschwichtigen und zumindest nach außen ein Bild der Geschlossenheit zu vermitteln. Die Angriffe, denen sich Nordau nach Herzls Tod ausgesetzt sieht, weil er ungeachtet der divergierenden Meinungen den Zionismusbegriff seines Freundes unverdrossen zum allein Gültigen erklärt, sind zum einen durch die Ablehnung allen Personenkults seitens der jüngeren Generation zu erklären, zum andern durch deren Forderung nach demokratischen Gremien. Neben dem sich dezidiert politisch definierenden Zionismus bestehen bei Gründung der Zionistischen Organisation seit vielen Jahrzehnten jüdische Kolonisationssowie Wohltätigkeitsvereine, die sich einem praktischen Zionismus verschrieben haben. Dazu gehören u. a. die 1860 gegründete französische Alliance Israélite und die 1891 von Baron Maurice de Hirsch gegründete Jewish Colonization Association.
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1884 wird in Berlin der Verein Esra, Sammelbüchse für Palästina gegründet und findet in den folgenden Jahren rasch Nachfolger in vielen deutschen Städten. Ende der achtziger Jahre organisiert das Netzwerk der sogenannten Zionsfreunde unter dem hebräischen Namen Chibbat Zion Hilfe für Auswanderungswillige und finanzielle Unterstützung für landwirtschaftliche Kooperationen in Palästina (vor allem von Baron Rothschild). Bodenheimer und Wolffsohn gründen 1894 den Verein zur Förderung der jüdischen Ackerkolonien in Syrien und Palästina. Ab dem Winter 1881/82 werden zudem in vielen Städten Russlands Sektionen gebildet, die eine Kolonialisierung in Palästina fordern. Der Grund liegt in der beispiellosen Hetze gegen Juden, die nach der Ermordung von Zar Alexander II. im Jahr 1881 einsetzt. Sie löst mehrere Pogromwellen aus, denen Tausende Juden zum Opfer fallen und die die Zahl der Migranten und Migrationswilligen stark ansteigen lässt. Neben dieser Ansiedlungsarbeit verfolgen die sogenannten Kulturzionisten das Ziel, in Palästina ein kulturelles Zentrum für die in den Heimatländern bedrohte jüdische Kultur zu schaffen, von der Impulse zur Stärkung des Judentums ausgehen sollen – unter anderem auch eine verbesserte mentale und rechtliche Stellung in den Heimatländern. Der Siedlungsgedanke infolge der Bedrohung durch den Antisemitismus steht hierbei im Hintergrund, vor allem geht es um eine „nationale Erziehung“ der Juden, um auf religiöser Basis eine säkularisierte jüdische Kultur zu revitalisieren. 1901 wird diese Gruppierung sich als Opposition etablieren und nicht nur die „Altneuland-Kontroverse“, sondern auch die Auseinandersetzungen infolge des sogenannten „Uganda-Plans“ bestimmen, der die Zionistische Organisation endgültig zu spalten droht. Aufgrund der divergierenden Auffassungen von der Beschaffenheit des Zionismus ist es daher grundsätzlich richtig, statt von dem Zionismus von Zionismen zu sprechen (Brenner 2002, 76). Die unterschiedlichen Definitionen von Mitteln und Zielen sind die Ursache der zunehmend geschwächten Position Nordaus nach Herzls Tod. Nordau lehnt die von den sogenannten „Chowewe Zion“ propagierten „Infiltrations“-Bestrebungen Palästinas ohne rechtliche Grundlage als politisches Ziel ab, wenngleich er den praktischen Zionismus als Mittel durchaus anerkennt.
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Abb. 11: Herzls erster Entwurf für eine Fahne des „Judenstaats“. Eigenhändige Zeichnung in einem Brief an den Londoner Gesinnungsfreund Jacob de Haas vom 27. Juli 1896.
Während sich Herzl – in seiner Mission als Vorsitzender der Zionistischen Organisation und der Kolonialbank – unermüdlich dafür einsetzt, territoriale und finanzielle Grundlagen zu schaffen, gilt Nordau bei einigen Zionisten bald als der „grosse deutsche Philosoph“ des Kongresses (Herzl 1985, 605). Eintragungen im „Zionistischen Tagebuch“, das Herzl ab 1895 führt, verraten gewissen Animositäten zum Trotz, dass das Verhältnis beider loyal und freundschaftlich ist: „Ueberhaupt war es während dieser drei Tage meine beständige Sorge, Nordau vergessen zu machen, dass er auf dem Congress der zweite war, worunter sein Selbstgefühl sichtlich litt. Ich betonte bei jeder Gelegenheit, dass ich nur aus rein technischen Gründen der Personen- u. Sachkenntnis den Vorsitz führe, dass ihm vor mir sonst unter allen Umständen der Vortritt gebühre. Das besserte seine Stimmung einigermassen, auch hatte zum Glück seine Rede mehr Erfolg als meine rein politische u. ich ging überall herum u. rief seine Rede als die beste des Congresses aus“ (Herzl 1984, 539). Herzl trägt Nordau den Vorsitz des II. Zionistenkongresses an, was dieser ablehnt (ebd., 542). Nordau tritt neben seiner Rolle als „spiritus rector“ auch als Agitator für die Ideen Herzls und als Kongress-Redner in Erscheinung, der die charismatische Rolle von Herzl als (relativ unbekannter) Gründungsvater der Organisation um seine eigene als international renommierte Persönlichkeit ergänzt. Zudem kommt Nordaus elaborierte Textproduktion und seine Mehrsprachigkeit der Organisation zugute; Konzeptionen, Korrekturarbeiten und Übersetzungen von Reden und Korrespondenzen fallen ihm zu. Den Vorsitz der Organisation sowie Gremienarbeit lehnt er ab. Das ist zum Teil seinen Autonomiebestrebungen als Journalist geschuldet, der seine Berufung nicht ausschließlich im Zionismus sieht, sicher aber auch seiner familiären Situation und seinem Lebensstil, den viele Zionisten als „a mockery of Jewish-
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ness“ missbilligen (zit. n. Meybohm 2013, 108). Weder sein Auftreten noch seine unbeugsame Auffassung von Herzls einzig richtigem Weg zum Zionismus sind geeignet, oppositionelle Gruppierungen zu integrieren, zumal diese sich nach Herzls Tod vehement zu Wort melden und eine Demokratisierung der Organisation und Neudefinition der Ziele einfordern. Eine mehrheitliche Unterstützung für eine Präsidentschaftskandidatur zu gewinnen, wäre vermutlich nicht möglich gewesen. Mordechai Ehrenpreis bemerkt in der hebräischsprachigen russischen Zeitschrift HaShiloach: „In seiner elementaren Eigenschaft ist Nordau in keiner Weise geeignet[,] ein Parteimensch zu sein, und noch weniger als das: auch nicht ein Führer oder Kopf. Ein Parteimensch muss weniger subjektiv sein, weniger cholerisch, muss geduldiger sein, höflicher und involvierter in die Gesellschaften. […] Er ist kein fester und aktiver Parteimensch nach dem normalen Verständnis. Er ist zwar immer ein Zionist; aber er ist nur ein für den Zionismus tätiger Mensch, wenn er es will und wie er es will“ (zit. n. ebd., 108). Duldsamkeit und Contenance sind Nordaus Sache nicht. Seine verbalen und schriftlichen Aktivitäten zur Verbreitung, Erläuterung und Verteidigung des zionistischen Gedankens zeigen ihn als einen von der historischen Notwendigkeit des Judenstaates überzeugten Propagandisten (Der Zionismus). Über die Frage, ob der Weg Nordaus vom Sozialdarwinisten zum Zionisten eine direkte Entwicklungslinie beschreibt, ist die Forschung uneins; die Bewertungen umfassen die gesamte Spannbreite zwischen vorbehaltloser Bejahung („profoundly solidaritarian in nature“, Ben-Horin 1956, 211) und entschiedener Ablehnung („Ben-Horin completely vitiates the sense of problems and urgency which surrounded Nordau’s thought“, Baldwin 1980, 119). Die genaue Lektüre der Reden und Schriften zum Zionismus vermag zwischen diesen divergenten Beurteilungen vielleicht zu vermitteln: Weder die Nationalität noch die Zugehörigkeit zum Judentum, die Nordau bis in die 90er Jahre primär als religiöse und kulturelle (aber anders als die Kulturzionisten lediglich im Sinne von Bräuchen, Zeremonien, Konventionen) versteht, sind für ihn in der ersten Lebenshälfte identitätsstiftend. Der Grund für den Weg in den Zionismus besteht für Nordau definitiv in der persönlichen Kränkung, die er aber objektiviert und als globale Folge unausrottbaren Antisemitismus zu verstehen lernt, als er den Dreyfus-Prozess beobachtet und mit Herzl diskutiert. Der seiner Meinung nach aus phylogenetischem Misoneismus, Chauvinismus, Konfessionsfundamentalismus, Sozialneid und degeneriertem Denken gespeiste Antisemitismus widerspricht seiner ethischen Einstellung zutiefst. Der Dringlichkeit eines Judenstaates (und es gibt keinen Zweifel, dass er einen Staat für Juden meinte und nicht einen jüdischen Staat) wird wiederum in den Reden und Schriften rhetorisch Nachdruck verliehen. Nordau verteidigt die Idee des Judenstaates im Sinne seiner sozialdarwinistisch fundierten Weltanschauung, das heißt, er weist seine Notwendigkeit anhand der Lebensbedingungen der Juden beziehungsweise des Scheiterns der Assimilation nach und zeigt Wege zur Verbesserung psychischer und physischer Konstitution des jüdischen Volkes
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auf, von dessen evolutionärem Potential er überzeugt ist. Den Juden unterstellte Degenerationserscheinungen – Körperschwäche, Willensschwäche, mentale und intellektuelle Schwäche – sind seiner Überzeugung nach sekundär und werden mit einer gezielten Erziehung zur Tüchtigkeit zu beheben sein. Eine religiöse Grundierung des Judenstaates ist für Nordau obsolet; die in den Conventionellen Lügen der Kulturmenschheit aufgeführte „Religionslüge“ gilt gleichermaßen für Christen wie für Juden. Ebenso stellen dezidiert jüdische Werte, Normen, Konventionen, Bräuche und Rituale für ihn keinen Wert an sich dar, sondern spielen eine marginale subkulturelle Rolle im Fortschrittsgedanken. Unbeirrt spricht Nordau vom „Judenvolk“, zu dessen Mitgliedern sich alle Individuen zählen können, deren genealogische Herkunft in Erez Israel wurzelt, deren mentale Übereinstimmung auf einer vage formulierten (zu revitalisierenden) intellektuellen, physischen und psychischen Leistungsfähigkeit beruht und deren Zusammengehörigkeitsgefühl vom Antisemitismus gespeist wird. Seine in den Reden und Schriften vertretene „völkische“ Auffassung der Juden ist in der Forschung umstritten. Die einen zählen sie zu den „am meisten irrationalen Ideen“ Nordaus (Baldwin 1980, 115); andere meinen, dass Nordaus Begriff von Nationalität lediglich durch die Zugehörigkeit zu einer Sprache gespeist werde, der Begriff des Volkes also gar nicht berührt sei (Stanislawski 2001, 8). Wenn Nordau vom „jüdischen Volk“ spricht, geht das auf eine biblische Formulierung zurück. Beabsichtigt ist, Zusammenhalt historisch zu begründen; es bedeutet aber nicht, dass Nordau von einer historisch definierten Nation ausgeht. Nordau vertritt einen dezidiert politischen Zionismus aus einem einzigen Grund: Der grassierende Antisemitismus werde dazu führen, dass das „goldene Zeitalter des reinen Menschentums und der allgemeinen Brüderlichkeit keine Juden mehr vorfinden [würde], die sich seines Sonnenscheins erfreuen könnten“ (Der Zionismus und seine Gegner). Die Prophezeiung, der Antisemitismus sei eine Tagesmode, ist für ihn „nichts anderes als eine Form des betrügerischen Bankerotts“ (II. Kongressrede). Mit einer gesicherten Heimat in Palästina verbindet er einen Wechsel von der „Degeneration“ zur „Regeneration“ (Klinger 2013). Vor allem wegen seiner Überzeugung, der Antisemitismus sei erst am Anfang einer Entwicklung, die in ein katastrophales Szenario münden würde, und der daraus resultierenden Forderung nach dringlichen Maßnahmen zur Rettung des bedrohten Volkes wird Nordau noch heute gewürdigt. Bis zu seinem Tod ist die Judenfrage für ihn primär eine Frage der Humanität, nicht eine der Politik: „Wir sagen euch mit blutendem Herzen: Das ist nur der Anfang! Es wird schlimmer kommen! Viel schlimmer!“ (IV. Kongressrede).
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Abb. 12: Porträt Dr. Max Nordaus. Zeichnung von Ephraim Moses Lilien. Um 1900.
Reden und Schriften zum Zionismus Die zwischen 1897 und 1920 entstandenen Reden und Schriften zum Zionismus weisen Nordau als geschulten Rhetoriker aus. Er beginnt mit einer grundsätzlichen Einleitung, dem prooemium. Dieses zielt darauf ab, die Aufmerksamkeit (attentum parare) und das Wohlwollen zu erlangen (captatio benevolentiae), und zudem der „Herstellung einer souveränen Sprecherposition“ (Kaiser 2007, 51). Sodann greift er gegnerische Argumente auf und widerlegt diese in einer zwischen sachlicher Darstellung, umgangssprachlicher Radikalität und Causerie wechselnden Diktion in Einzelbeispielen (argumentatio / refutatio). Nordau versteht und inszeniert sich nicht nur als Mahner, sondern auch als Prophet, der eine Heilsbotschaft zu vermitteln hat und dafür zunächst die Geltungsansprüche falscher Propheten neutralisieren muss, indem er sie der Unsachlichkeit überführt, der Lächerlichkeit preisgibt und mittels einer „finalen Überbietung“ (Kaiser 2007, 211) unschädlich macht. Er folgt mit seiner Darstellung, die sich aller genera dicendi bedient, der Wirkungsintention der antiken Rhetorik, zu überreden und zu überzeugen (persuasio), indem er deren Wirkungstaktiken, – Logos-, Ethos-, und Pathos-Strategie – nutzt. Der Schlussteil seiner Reden und Schriften entspricht den Gepflogenheiten der peroratio: Sie soll das in den Hauptteilen Gesagte zusammenfassen (recapitulatio), Kernthesen wiederholen (repetitio) und zum Handeln aufrufen (movere/concitare). Diese Struktur und Wirkungsfunktion zeigt bereits exemplarisch der erste Essay mit dem einer Fanfare gleichenden Titel Ein Tempelstreit (1897). Nordau wendet sich darin gegen den in Wien tätigen Oberrabbiner Moritz Güdemann, der sich gegen das „Nationaljudentum“ in seiner gleichnamigen Broschüre ausgesprochen hatte.
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Ihn diffamiert Nordau zunächst, indem er seine eigene Position – in naturwissenschaftlicher Diktion – als unzweifelhafte, weil gleichsam die evolutionäre Krönung repräsentierende Meinung des intelligenten Kollektivs darstellt. Güdemann habe sich gedrängt gefühlt, „der Bewegung entgegenzutreten, die tiefe Schichten der Bevölkerung ergriffen hat, der sich entwickeltere Geister unter den Juden in tagtäglich wachsender Zahl anschließen, deren Ziel die Gewinnung eines lebenssichernden Wurzelbodens für den Volksorganismus ist, der bis jetzt einer Jerichorose gleich mit ewigem Wechsel von kurzen Augenblicken der Entfaltung und langen Zeiträumen des Welkens und Schrumpfens umgetrieben wurde“. Diese nun als Prozess natürlichen Aufblühens und Gedeihens dargestellte Entwicklung eines historischen Vorgangs, wird – so suggeriert Nordau – von Güdemann in Zweifel gezogen. Das wiederum legitimiert den Verfasser, jenen eines Besseren zu belehren und damit zugleich an das „jüdische[.] Zusammengehörigkeitsgefühl“ zu appellieren. In gewagten, Güdemanns Ausführungen stets desavouierenden Epitheta (z. B. „wunderliche[.] Verschlingungen der Gedankengänge“) und ironischen Seitenhieben auf die Widersprüchlichkeit von dessen Argumentation wird das gegnerische Gedankengebäude, das im Wesentlichen auf einem Verständnis des Judentums als Glaubensgemeinschaft beruht, demontiert. Allerdings gewinnt Nordau aus der gemeinsamen ethisch-religiösen Vergangenheit der Juden ein Zusammengehörigkeitsgefühl, aus dem sich über den Umweg des Antisemitismus ein positives Nationalbewusstsein gewinnen lässt. In einer kühnen rhetorischen Volte folgt er der Argumentation Güdemanns nun scheinbar: „Gesetzt, der Zionismus lasse sich aus Talmud und Bibel nicht begründen; das würde an der Bewegung nicht das Geringste ändern, denn es ist für sie vollkommen unerheblich. [/] Der Antisemitismus erschwert das nackte, körperliche Dasein der unbemittelten Juden, bedroht es mancherorten sogar mit Vernichtung; er kränkt die gutgestellten Juden in ihren Gefühlen und lässt sie ihres Lebens nicht froh werden; er nimmt den besten, vorbildlichsten Juden die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten bis zu deren natürlichen Grenzen zu entfalten, da allseitig freie Betätigung und das Streben nach den höchsten Zielen organische Bedingungen der vollen Entwicklung aller Kräfte sind. Aus diesem unleidlichen Zustande streben die Juden mit leidenschaftlichem Drange heraus. Die energischen unter ihnen sehen das einzige Heil in der Gründung eines Judenstaates“ (Ein Tempelstreit). Ohne die entsprechende Begrifflichkeit aufzunehmen, verficht Nordau jene These, die bereits Entartung prägt. Bezeichnungen wie „Degeneration“, „Verfall“ und „Niedergang“ stellt er die – fest im Glauben an die positiven Werte der Geschichtsentwicklung wurzelnden – optimistischen Antonyme „Evolution“ und „Fortschritt“ gegenüber. Diese Losungsworte werden für die Idee des Judenstaates dienstbar gemacht: Durch die Gründung eines jüdischen Nationalstaates gelte es, das geistige und handwerkliche Potential der Juden zu revitalisieren und für die Menschheit zu retten. Dass die „sentimentalen, die frommen, die diplomatisch klugen wollen, dass der geographische Rahmen dieses Judenstaates Palästina sei“, ist für Nordau zu diesem Zeitpunkt nachvollziehbar, aber noch unwesentlich.
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Auch Güdemanns Hinweis einer weltweiten „Mission“ der Juden fällt dem Naturwissenschaftler zum Opfer, der von dieser „nebelige[n] Phrase“ nichts wissen will und seinen Gegner bezichtigt, „Kausalität und Finalität“ zu verwechseln: „Sie unterstellt, dass einem Volke bestimmte Aufgaben von vornherein zugewiesen sind und dass es im Hinblick auf die Lösung dieser Aufgaben lebt und wirkt. Die Wahrheit ist, dass es bestimmte kulturgeschichtliche Erscheinungen schafft, indem es lebt und wirkt, wie es kraft seiner natürlichen Anlage und des Einflusses aller äußeren Verhältnisse kann und muss. Ein Volk hat keine andere Mission, als zu leben und alle in ihm keimenden Fähigkeiten voll zu entwickeln. Ohne Absicht und Bewusstsein erfüllt es dann ganz von selbst menschheitliche Geschichtsaufgaben. Ein gedrücktes, verfolgtes, verachtetes Judentum inmitten antisemitischer Völker ist ohne Wert für die Menschheit; ein freies, starkes, lebensfreudiges Judentum wird zu einem nützlichen Mitarbeiter an dem Werke des Fortschrittes der Gesamtmenschheit“ (Ein Tempelstreit). Unermüdlich warnt Nordau vor dem Antisemitismus und wirbt für die zionistische Idee. In der IV. Kongressrede am 13. August 1900 in London führt er Beispiele an – vor allem jenes Beispiel der rumänischen Katastrophe (s. Kommentar) – die das Fortschreiten des Antisemitismus belegen. Damit steht er Herzl in dessen Bemühen zur Seite, die von Anfang an bestehenden Differenzen unter den Delegierten mit dem Appell zur Zusammengehörigkeit zu glätten (Schoeps 1995b, 177). Eine Bitte des an der Bukarester Universität tätigen Constantin Rădulescu-Motru, den Rumänen „zu rathen, den Juden eine vollständige Gleichheit der bürgerlichen und politischen Rechte zu gewähren“, mag er nicht erfüllen. Den Juden die bürgerlichen Rechte zu verwehren, sei niederträchtig, und die politischen per Dekret zu übertragen, sei falsch, da hierfür die Zeit nicht reif sei: „Warten Sie mit der Emanzipation, bis das rumänische Volk begriffen hat, dass Langfinger es unterjochen und ausplündern wollen, indem sie es gegen die Juden hetzen“ (Die politische Gleichstellung der Juden). Während Herzl auf zahlreichen Reisen versucht, Geldmittel aufzutreiben und mit diplomatischem Geschick einen Charter zu erwerben – Verkauf oder Verpachtung von Siedlungsberechtigungen für eine Kolonialgesellschaft mit dem Ziel, mit einer groß angelegten Ansiedlung der Juden zu beginnen – (Schoeps 1995b, 178), lässt Nordau keine Gelegenheit verstreichen, mit journalistischem Eifer für die zionistische Bewegung einzutreten. Jegliche Hoffnung auf Assimilation hat Nordau bereits verloren, bevor er Herzl kennenlernt; entsprechend deutlich fällt sein Urteil über Assimilierungstendenzen aus; vielfach sei die „Emancipation“ um einen hohen Preis „erkrochen“. Jegliches Anbiedern spreche gegen die Ethik des Stammes, und wenn ein Jude in den Staatsdienst träte, dann unter besonderer Betonung seines Judentums. Die Alternative zur politischen Assimilation ist für Nordau klar: „Wer ein Amt will, der suche es in der jüdischen Gemeinde-Organisation“ (Die politische Gleichberechtigung der Juden). Erst wenn die Juden in einem Land vereinigt seien, „welches sie als ihr Besitztum ansehen können und in welchem sie die Mehrheit bilden“, könnten sie sich „pfle-
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gen und entwickeln, ihren Geist bilden und in der Gesittung fortschreiten […] entsprechend der Eigenart, die ihnen verliehen“ sei (Israel unter den Völkern). Bereits in der I. Kongressrede, die Nordau am 29. August 1897 hält, führt er die „Judennot“ als zwingenden Grund für die Bildung des Judenstaates an, die er unterscheidet in zwei Formen: „eine sachliche und eine sittliche“. 1. Die sachliche Form besteht in der Armut und Rechtlosigkeit, die der Redner geographisch in Osteuropa, Nordafrika und Westasien ansiedelt; sie werden mit großer Detailfülle nachgewiesen. 2. Die sittliche Form wurzelt in der französischen Aufklärung, die die Juden aus „Prinzipienreiterei“ emanzipiert habe. Andere Staaten seien dem aus dem Gefühl gefolgt, ein „europäisches Gesittungsideal“ pflegen zu müssen, ohne den Juden die Bruderhand zu reichen. Die Folgen der Assimilationslüge würden sich nach Nordau als fatal erweisen: Erstens seien den Juden faktisch „die edleren Rechte, die der Begabung und Tüchtigkeit“ verwehrt; zweitens habe die fragmentierte Identität zur Entfremdung von den „Stammesgenossen“ geführt. In der Wortwahl „autoritärer Biologie“ (Helmuth Plessner) sozialdarwinistischer Provenienz formuliert Nordau eine potentielle Gefahr: „Und es kann zu einer großen Gefahr für die Völker werden, willensstarke Menschen, deren Maß im Guten wie im Schlechten über den Durchschnitt hinausreicht, durch unwürdige Behandlung zu verbittern und durch Verbitterung zu Feinden der bestehenden Ordnung zu machen. Die Mikrobiologie lehrt uns, dass kleine Lebewesen, die harmlos sind, solange sie in der freien Luft leben, zu furchtbaren Krankheitserregern werden, wenn man ihnen den Sauerstoff entzieht, wenn man sie, wie der Fachausdruck lautet, in anaërobische Wesen verwandelt“ (I. Kongressrede). Folgende Gegner der „jung-jüdische[n] Bewegung“ (Zionismus und Antisemitismus) sind Nordau zufolge nicht von der Idee zu überzeugen: 1. Die Juden, „die ihres Judentums überdrüssig sind und nur die eine Sehnsucht haben, spurlos, unkenntlich unter ihren christlichen Volksgenossen zu verschwinden“; ihnen spricht er das Recht ab, in zionistischen Fragen mitzureden; 2. die Juden, die „angeblich die Erhaltung des Judentums wünschen“. Die beiden Einwände, dass der „Zionismus der Vorsehung“ vorgreife und „die Mission der Juden“ störe, verweist er in den Bereich des Mystischen, für das er sich nicht zuständig erklärt. Die Religion als Grundlage des „Zusammengehörigkeitsgefühls“ zu bemühen, ist Nordaus Sache nicht, im Gegenteil, naturwissenschaftliches Denken verweist seiner Auffassung nach auf die höchste, religiöses Denken auf die niedrigste Stufe der menschlichen Entwicklung (Baldwin 1980, 99). Einen Zusammenschluss aller auswanderungswilligen Juden in einem eigenen Land begründet Nordau auf evolutionistischer und ethisch-moralischer Basis. Es geht ihm allein darum, dem jüdischen Volk – unbesehen der religiösen Aspekte – das Überleben und Gedeihen zu sichern. Dabei bleibt Nordau bis zu seinem Tod.
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Denjenigen, die behaupten, der Zionismus sei „unausführbar“ und „eine Gefahr für das Judentum“, gilt Nordaus Überzeugungsarbeit. Sie besteht im Wesentlichen darin, auf den grassierenden Antisemitismus hinzuweisen und daraus seine Forderungen abzuleiten: „Die Erhaltung des Judentums ist bei der Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes unmöglich. Die gebildeten Juden werden abfallen, die ungebildeten verkommen, wenn ihnen keine besseren sittlichen und wirtschaftlichen Daseinsbedingungen geschaffen werden. Der Zionismus ist für viele Juden das Heil, für keinen Juden eine Gefahr. Die Unausführbarkeit des Zionismus ist eine Fabel von Kleinmütigen, die sich kein Haus vorstellen können, solange es nicht ganz fertig gebaut, ja sogar trocken gewohnt ist. Und mein letztes Wort ist: Das Judentum wird zionistisch sein oder es wird nicht sein!“ (Der Zionismus und seine Gegner).
Abb. 13: Reden des Dr. Theodor Herzl und des Dr. Max Nordau, gehalten am Zionisten-Congress in Basel (1. Sitzungstag, 29. August 1897). JMS-0593.
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Immer wieder betont Nordau die Unverbindlichkeit einer Auswanderung in den Judenstaat (Zionismus und Antisemitismus) und stellt zudem bilaterale fruchtbare Beziehungen in Aussicht (Der Zionismus und seine Gegner; vgl. ferner Patriotismus und Zionismus). 1899 begegnet er dem Vorwurf, „dass die Zionisten das gleiche Ziel wie die Antisemiten erstreben und deren Alliierte seien“ oder vor den Problemen feige die Flucht ergriffen, erneut mit dem Hinweis auf die unwürdigen Lebensbedingungen der russischen und rumänischen Juden und appelliert an die Pflicht der privilegierten Westjuden, sich solidarisch zu zeigen. Die Bildung eines Judenstaates, das ist eine Grundüberzeugung Nordaus, ist die Voraussetzung, die „Rasse“ der Juden zu einem Volk zu verschmelzen. Einwänden gegen die Begriffe „Rasse“ und „Volk“ hält Nordau entgegen: „Man kann über diesen Punkt akademisch endlos streiten. Der Anthropologe zögert sehr lange, bis er den Begriff der Rasse wissenschaftlich definiert. Aber der Gassenjunge auf den äußeren Boulevards, welcher unter der Nase des von ihm als Juden erkannten Vorübergehenden sein ‚Nieder mit den Juden‘ ruft, bezeugt, dass für ihn diese Schwierigkeit nicht besteht. Und seine ethnographische Diagnose, wenn sie nicht unfehlbar ist – die der Gelehrten ist es wohl auch nicht immer –, täuscht ihn doch nur äußerst selten. Die Sicherheit des Blickes der Gassenjungen genügt allein, um festzustellen, dass die Juden wohl eine Rasse oder wenigstens eine Varietät oder […] meinetwegen eine ethnographische Unter-Varietät sind“ (Zionismus und Antisemitismus). Im selben Jahr formuliert Nordau vor Zuhörern in Wien die gegnerischen Fragen so: „‚Von dem amtlichen Judentum, den Rabbinern und Gemeindevorstehern, werden Sie verleugnet. Von den reichen, den gesellschaftlich angesehenen Juden werden Sie bekämpft. Selbst unter den armen Juden sehen wir noch nicht den großen, allgemeinen Zug zu Ihnen hin. Wo sind denn also die zionistischen Juden? Für welche Juden arbeiten Sie eigentlich?‘“ Die Rede ist insofern beachtenswert, weil sie gegenüber 1898 einen deutlich aggressiveren Duktus aufweist, der in der überarbeiteten Version dieser Rede, die in die Zionistischen Schriften aufgenommen wird, noch einmal verschärft ist (s. Kommentar). Vom „Standpunkte eines jüdischen Freidenkers“ urteilt Nordau hier über die „Protestrabbiner“: „Ihre Bedeutung im Judentume ist gleich null.“ Den „feigen Ausreißer[n]“ dagegen lege sich der Zionismus „wie eine sonderbare Verbindung von Schwimmgürtel und Zwangsjacke um den wohlgenährten Leib“. Selbst diejenigen unter den „Finanzjuden“, die sich ein „Fünkchen jüdischen Gefühls unter dicken Ascheschichten bewahrt“ hätten, würden die Anstrengungen des Zionismus als Angriff auf ihre „Lebensidylle“ verstehen und sich dagegen verwahren. In der überarbeiteten Version der Rede fällt die Kritik an den jüdischen Reichen sehr viel drastischer aus; Nordau bezichtigt sie, der Organisation jene Mittel vorzuenthalten, „ohne die eine große, friedliche, zugleich wirtschaftliche und politische Volksbewegung nun einmal nicht durchzuführen ist“. Aufgrund dieses unsolidarischen Verhaltens gerate erstens der Zionismus in der „christlichen Welt“ in den Verdacht, „keine ernst zu nehmende jüdische Volksbewegung zu sein, da die staatlich und gesellschaftlich allein anerkannten Vertreter des Judentums
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ihn geringschätzig oder entrüstet“ ablehnten. Zweitens werde die Zionistische Organisation genötigt, bei „kleinen und mittleren Leuten unseres Stammes“ Geldmittel einzuwerben und – dieses Vorgehen kommt Nordau zufolge nahezu einem Volksverrat gleich – „die christliche Teilnahme und Unterstützung anzurufen“. Deutlich formuliert Nordau: „Unsere Schamröte komme über das Haupt der Reichen, durch deren Schuld wir dem Erröten ausgesetzt werden!“ (Strömungen im Judentum; Die Welt, 3.2.1899, H. 5, S. 2–6; Vortrag gehalten in Amsterdam, 17. April 1899). Umworben werden von Nordau dagegen die „jüdischen Proletarier, die Sozialisten geworden sind“; sie stünden infolge des Missverständnisses, dass Sozialisten „vaterlandslose Gesellen“ seien, dem Zionismus ablehnend gegenüber. Sie würden aber übersehen, dass jüdische Arbeiter auf der untersten Stufe der Klassenhierarchie stünden. Gerade aber auf diese Gruppe jüdischer Sozialisten könne der Zionismus nicht verzichten, ihnen müsse klargemacht werden, dass der „philosophische Kern des Sozialismus“ das alte jüdische Ideal von „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ darstelle (Strömungen im Judentum; Vortrag gehalten in Amsterdam, 17. April 1899). Nordaus Positionen, die er in den Reden und Schriften verficht, lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Der Versuch der Assimilation ist gescheitert. 2. Der grassierende und in Zukunft nach immer neuen Legitimationen suchende Antisemitismus wird die Juden in Zukunft vernichten. 3. Einzig ein Judenstaat bietet die Möglichkeit einer gesicherten Heimat für Juden. 4. Daraus folgen zwei Aufgaben für den Zionismus: a) möglichst Palästina für das jüdische Volk zu erwerben und b) das jüdische Volk auf seine „palästinensischen Aufgaben“ vorzubereiten (Die Aufgaben des Zionismus). 5. Dieses sichert nicht nur das Überleben, sondern der eigene Staat ist die Vorbedingung psychischer, geistiger und körperlicher Erneuerung des Judentums, die sowohl zu einem neuen „Selbstgefühl“ des Einzelnen als auch zum „Volksbewusstsein“ führen (Die Aufgaben des Zionismus). 6. Handwerkliche, bäuerliche und intellektuelle Leistungen des modernen Judenstaates werden zur evolutionären Weiterentwicklung der Gesamtmenschheit beitragen. 7. Das religiös fundierte messianische Versprechen wird säkularisiert werden (Das unentbehrliche Ideal), anstelle von Religion tritt das „Nationalgefühl“ (Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert). 8. Dringlichste Aufgabe, um die Idee des Judenstaates in die Tat umzusetzen, ist die Beschaffung finanzieller Mittel, um die notwendige Infrastruktur bereitzustellen.
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Abb. 14a und 14b: Postkarte, Herzl schreibt an seine Tochter Trude, Basel (CH), 29.8.1897. JMS 1268-1 und -2.
Um seine Ziele zu erreichen, gibt Nordau die Parole aus: „Wir müssen unausgesetzt predigen, lehren, werben“ (III. Kongressrede). Die Beschaffung von Vermögen und die mentale Vorbereitung des verstreuten Volkes stehen bei ihm zuoberst auf der Agenda. Die finanzielle Grundlage des Judenstaates: Mit finanziellen Mitteln sind dezidiert nicht Almosen gemeint, welche die Not in den bestehenden armen Kolonien in Palästina lindern; im Gegenteil, von den „praktischen Zionisten, die einfach nur Wohltätigkeit üben“, wendet sich Nordau ab (Der Zionismus und die Kolonien in Pa-
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lästina). Er schlägt dagegen vor, der osmanischen Regierung Abgaben zu garantieren, die nach der Anzahl der tatsächlich angesiedelten Zuwanderer bemessen werden oder gegebenenfalls sofort mithilfe einer Anleihe gewährleistet werden. Auf die Unterstützung der Großmächte zählt Nordau aus deren eigenem Interesse, sich der unbequemen Juden zu entledigen (Rede). Auf dem II. Zionistenkongress wird die Gründung eines national-jüdischen Bankinstituts, der „Jüdischen Nationalbank“ (Jewish Colonial Trust) beschlossen und 1899 ausgeführt; auf dem V. Kongress (1901) wird ein Nationalfond gegründet (vgl. Zionismus). Zudem fordert Nordau eine „anthropologische, biologische, ökonomische und intellektuelle“ statistische Erhebung des jüdischen Volkes, um genaue Kenntnisse des „Menschenmaterials“ zu erlangen, das die Grundlage des Zionistischen Staates bilden soll (V. Kongressrede). Die mentale Grundlage des Judenstaates: Da das jüdische Volk noch nicht darauf vorbereitet sei, einen „geschlossenen Wirtschaftskörper mit allen Organen zu bilden“, sodass es sich als „Volk mit eigenem Bauern- und Bürgerstand, mit eigener Polizei, Rechtspflege, Steuerverwaltung, Post-, Bauten-, Unterrichtswesen in Ehren“ sehen lassen könne, fordert Nordau: „Jeder einzelne Jude muss vor allem zwei Dinge lernen: die Angelegenheiten des ganzen jüdischen Volkes als seine eigenen, persönlichen zu empfinden und Führern eisern zu gehorchen, die er sich selbst setzt.“ Das sei Voraussetzung, damit aus „Menschenstaub“ wieder ein Volk entstehe. Die in der Argumentation fehlende religiöse Komponente des beschworenen „Zusammengehörigkeitsgefühls“ findet zu guter Letzt wieder Eingang in die Überlegungen: Erst wenn das Volk eine Heimat habe, könne es sich Geschichte, Bräuche und „heilige Bücher“ als identitätsstiftende Faktoren wieder aneignen (Die Aufgaben des Zionismus). Vor allem müssten zwei sittliche Reformen durchgeführt werden, um die Höherentwicklung des jüdischen Volkes zu gewährleisten. Zum einen die Verhinderung früher Eheschließungen, deren Folge zu frühe und zu reichliche Schwangerschaften seien, die die Gesundheit der Frau schwächen würden; und zum anderen die frühe Einschulung der Knaben, die gesundheitswidrig sei, zumal das Cheder die körperliche Ertüchtigung verhindere (V. Kongressrede; vgl. ferner Herzl 1985, Bd. III, 325). Die in der II. Kongressrede formulierte Forderung nach einem „Muskeljudentum“ wird anlässlich der Gründung des Berliner Turnvereins „Bar Kochba“, – „ein Held, der keine Niederlage kennen wollte“–, bekräftigt. Nordau erinnert an den erforderlichen Ehrgeiz, dessen die Juden bedürften (Muskeljudentum). 1902 wiederholt er diese Überzeugung mit Nachdruck (Was bedeutet das Turnen für uns Juden?) und beklagt die infolge der „tausendjährigen Ghettohaft“ verlorengegangene „körperliche Tüchtigkeit“. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass Turnübungen in erster Linie Leistungen des Gehirns (Koordination) und des Geistes (Willensstärke) seien; Selbstgefühl, Sicherheit und Kraftbewusstsein seien der Lohn für die Anstrengung, und diese kämen der zionistischen Bewegung zugute. In der „großen Einwanderung“ (Der Zionismus und die Kolonien in Palästina) sieht Nordau daher vor allem die Chance der Verjüngung und Auffrischung des Judentums (II. Kongressrede).
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Nordaus Differenzierungen von West- und Ostjuden offenbaren, dass der unerschrockene Vorkämpfer für den Zionismus keineswegs frei von Vorurteilen ist und sich in Widersprüche verwickelt: „Der Zionismus kann auf den Westen nicht verzichten, obgleich dessen Juden dem Judentum völlig verloren scheinen. Das Heer der Zionisten rekrutiert sich naturgemäß im Osten. Aber ein großer Teil seines Offizierskorps muss ihm aus dem Westen kommen. Denn Offiziere können ihm nur aus solchen jüdischen Volkselementen erwachsen, die sich in Freiheit entwickelt, zu Wohlstand erhoben und aus allen Quellen moderner Bildung getrunken haben. Solche Elemente sind aber in einiger Häufigkeit eben nur in den Ländern der Gleichberechtigung zu finden“ (Der Zionismus der westlichen Juden). Vor allem jene Schicht wohlhabender akkulturierter westeuropäischer Juden – und zu ihnen zählt sich Nordau bis 1894 – begründe ihre eigene Überlegenheit, indem sie Stereotype des intellektuell rückständigen, körperlich schwächlichen und arbeitsscheuen osteuropäischen Stetl-Juden bemühe (Meybohm 2013, 68; Mosse 1992, 567). Allerdings beurteilt Nordau – wie auch Herzl – jegliche Devianz als Degenerationserscheinung infolge erzwungener Anpassungsleistungen an die Erfordernisse in den „Heimatländern“, die sowohl die Möglichkeit des gänzlichen Verschwindens als auch jede des Widerstands böte (Stanislawski 2001, 95). Verändern sich die Lebensbedingungen, so Nordaus Überzeugung, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, ein positives Potential zutage zu fördern. Deshalb verspricht sich Nordau von der Gründung eines Judenstaates einen Regenerationsprozess, der allerdings, wie Mosse überzeugend herausstellt, an eine Vorstellung von Körperschönheit geknüpft ist, die sich an Winckelmanns klassischem Ideal einer Allianz von innerer und äußerer Schönheit orientiert und der das Männlichkeitsideal der weißen Mittelschicht zugrunde liegt (Mosse 1992, 579; vgl. ferner Spoerk 1996, 259–269). Insofern wird in der Körperbildung, die Nordau im „neuen“ Juden verwirklicht sehen will, jene Argumentation gegen die Degeneration verwendet, die er bereits in Entartung vertreten hat: Willenskraft als Allheilmittel gegen die Degeneration. Der Vorstellung vom gestählten Männerkörper ist sowohl das Bild eines die brachliegenden Felder Palästinas urbar machenden Bauern eingeschrieben als auch das des Soldaten. Allerdings ist das Militärische dem Denken Nordaus fremd; für ihn zählt allein der Kampf um die eigene Würde (575), der mit der körperlichen und mentalen Ertüchtigung beginnt und der mit der Gewinnung von eigenem Boden und neu erwachtem nationalen Stolz der Degeneration entgegenwirken kann (Penslar 1996b, 221). 1901 erfährt Nordau mit seinen Vorbehalten gegenüber den Ostjuden zunehmend die Kritik junger russischer Intellektueller, die kulturnationalistische Ziele verfolgen, das heißt nicht nur eine zügigere Kolonisierung Palästinas anstreben, sondern auch Projekte, die eine „nationale Erziehung“ der Juden in Anlehnung an die Religion, aber unter säkularisiertem Vorzeichen der Juden fordern. Am Vorabend des V. Kongresses treffen sie sich zu einer „Vorkonferenz der Jugend“ und bilden unter dem Vorsitz von Chaim Weizmann eine eigene „Demokratische Frak-
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tion“. Der bereits seit der Gründungsphase schwelende Ärger der jungen Generation über Herzls autoritären Führungsstil und das Demokratiedefizit der Organisation droht in offene Rebellion umzuschlagen. Ideologischer Vordenker ist Achad Haam (Ascher Hirsch Ginzberg). Bereits 1889 hat er in Lo seh ha-Derech (engl. The Wrong Way, 1962) scharfe Kritik am Gedanken einer sofortigen Besiedlung Erez Israels geübt und stattdessen den Vorrang geistig-kultureller Erziehung vor politisch-wirtschaftlichen Aufgaben gefordert. In der VI. Kongressrede am 24. August 1903 übermittelt Nordau zunächst gute Nachrichten. Vier Großmächte, das deutsche Kaiserreich, die britische Regierung, die russische Regierung und die Vereinigten Staaten von Nordamerika, hätten ihre Unterstützung bei der Gründung des Judenstaates zugesagt. Dringende zukünftige Aufgaben sieht Nordau in der „Vermehrung der Machtmittel des Zionismus“, der „Vervollständigung des Aktienkapitals der Jüdischen Kolonialbank“ und der „Vergrößerung des Nationalfonds“, vor allem aber in der „Eroberung der Gemeinden und der meist von ihnen abhängenden bestehenden jüdischen Einrichtungen“. Da die Verwirklichung der politischen Pläne noch in weiter Ferne liege, spricht Nordau nun zum ersten Mal von einer „Haltestelle“, einem „Nachtasyl“ und der „Errichtung eines Notbaus für Hunderttausende unglücklicher Brüder“. „Uganda“, damit gemeint war ein Gebiet im heutigen Kenia, soll über die Funktion eines „augenblicklichen Unterschlupfs“ hinaus „ein politisches und geschichtliches Erziehungsmittel“ zum Volksbewusstsein sein. Der sogenannte Uganda-Plan wird fortan die Diskussion bestimmen und schließlich der Grund für das Attentat auf Nordau sein. Die Ursachen für den eskalierenden Streit liegen zweifellos tiefer als in einer (für viele Zionisten unantastbaren) symbolischen Bedeutung Palästinas. Vielmehr ist er in einer fehlenden mehrheitsfähigen Programmatik und der daraus resultierenden Opposition gegen die Charter-Politik Herzls zu sehen. Mit dem „Uganda“-Angebot verbindet Herzl die Anerkennung seines politischen Ziels einer gesicherten Heimat für Juden; zugleich muss er sich eingestehen, dass die Gewinnung Palästinas auf diplomatischem Weg faktisch auf absehbare Zeit gescheitert ist. Nordau begegnet dem „Uganda-Plan“ mit jenem „Sceptizismus“, von dem Herzl aus Erfahrung fürchtet, dass er sich „wie Mehlthau“ (Herzl 1985, 564) auf die Entwicklung lege. Aber es zeugt von Nordaus unverbrüchlicher Loyalität gegenüber Herzl, sich trotz interner Differenzen in der Öffentlichkeit vor seinen Weggefährten zu stellen. So bemüht er sich, die Delegierten von der Notwendigkeit zu überzeugen, eine Kommission zur Prüfung des Plans einzusetzen, aber er ist sich bewusst, dass er um ein „Vertrauen mit schweren Hypothesen“ wirbt. Andere Zionisten sehen die Gefahr einer nicht rückgängig zu machenden Abspeisung mit einem „Stief-Zion“ und beklagen einen Verrat des Baseler Programms; vor allem die osteuropäischen Juden empören sich gegen den „Uganda“-Plan. Die Aussprache, die in der Welt am 25. August 1903 in einer Separat-Ausgabe veröffentlicht wird, illustriert die Unruhe, die der Plan entfacht; nur unter heftigen
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Protesten der Gegner kommt eine Mehrheit zustande, die einer Prüfung des Angebots zustimmt. Herzl ist erschöpft und entmutigt, hält aber an der Möglichkeit eines anderen Territoriums als Palästina fest, wenn es die Not erfordert. „Ich will Euch jetzt“, gesteht er seinen Freunden Zangwill, Nordau und Cohen, „meine Rede vom siebten Kongress – wenn ich ihn erlebe – sagen. Ich werde bis dahin entweder Palästina haben oder die vollkommene Aussichtslosigkeit jeder weiteren Bemühung eingesehen haben. Im letzteren Falle wird meine Rede lauten: Es war nicht möglich. Das Endziel ist nicht erreicht u. wird in absehbarer Zeit nicht erreicht werden. Aber ein Zwischenresultat liegt vor: dieses Land, in welchem wir unsere leidenden Massen auf nationaler Grundlage mit Selbstverwaltung ansiedeln können“ (Herzl 1985, 610). Die Debatte um den „Uganda“-Plan spiegelt auch die Spaltung zwischen Ostund Westjudentum wider, die mit der „Meuterei von Charkow“ ihren Höhepunkt findet, wo sich die russischen Zionistenführer zu einer separaten Konferenz zusammenfinden und mit Abspaltung drohen, würde je wieder eine Alternative zu Palästina verhandelt werden. Verworfen wird der Plan endgültig 1905 auf dem VII. Zionistenkongress, die Schäden sind allerdings schon 1903 beträchtlich. Herzl büßt seine bis dahin unangefochtene Position ein, Nordau avanciert zum „meistgehaßten Mann des Kongresses“ (Schulte 1997, 336) und wird wenige Wochen später Opfer eines Attentats; Israel Zangwill verlässt die Bewegung.
Abb. 15: Brief Nordaus vom 26. Juli 1904 aus Paris, in dem er den Tod Herzls als „terrible shock“ beklagt.
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1904 stirbt Herzl, „ein nationales Unglück“, schreibt Nordau in L’Echo Sioniste und beklagt: „Wir wissen, was ihn getötet hat.“ Nordau spielt an auf die Angriffe und Verleumdungen, denen Herzl durch sein mutiges Eintreten für die zionistische Idee ausgesetzt gewesen sei, und stilisiert den Freund als Märtyrer (Was Herzl uns bedeutet). Nordaus Trauerrede auf Herzl vor dem Zionistenkongress am 27. Juli 1905 hebt die Charaktereigenschaften des Kampfgefährten hervor, um in einer rhetorischen Volte von jedem Juden einzufordern, der sich zur zionistischen Idee bekennt: „stählernen Willen“, „sittlichen Ernst“, „ideale Begeisterung“, „unbegrenzte Selbstlosigkeit“, „Opfermut“. Deutlicher wird hier formuliert, was den Freund das Leben kostete: „die dauernde Gleichgültigkeit des jüdischen Volkes“. Die ihm angetragene Führerschaft der zionistischen Bewegung lehnt Nordau ab, stattdessen wird zu seiner Freude David Wolffsohn zum Präsidenten gewählt (David Wolffsohn), der dem Kongress 1907, 1909 und 1911 vorsteht. Mit Herzls Tod gerät der Zionismus in eine „schwere Krise“, da die führende und einigende Kraft für die bedrohte Bewegung fehlt. „Feindliche Parteien“, so Nordau in der VII. Kongressrede, „innerhalb des Zionismus bedeuten seinen Selbstmord“. Gemeint sind die erbitterten Kämpfe, die nach wie vor über den „Uganda“Plan ausgetragen werden. Sieben Jahre nach dem Baseler Programm hat sich eine „nervöse Ungeduld“ ausgebreitet, die zu drei großen Gruppierungen führt (vgl. Brenner 2016). Die eine drängt auf eine zügige Umsetzung früher Modelle der Kolonisation, die dem Chowewe-Zionismus nahekommen, was Nordau strikt ablehnt, weil auf diese Weise „mit einer gewaltigen Anstrengung des ganzen Judenvolks einige Dutzend Familien als subventionierte Trost- und Hoffnungs-Kolonisten in Palästina angesiedelt“ würden. Eine zweite lehnt sowohl die Kolonien als auch den „Uganda“-Plan ab und verfolgt strikt die Linie der staatspolitisch grundierten Ansiedlung in Palästina. Eine dritte hält an der Forderung fest, ein nationales kulturelles Zentrum in Palästina zu gründen. Nordau ist freilich nicht der Mann, die verschiedenen Gruppierungen unter dem Dach des Zionismus zu vereinen; und auch Wolffsohn dankt 1911 unter dem Druck der jungen Generation ab.
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Abb. 16: Karte des Osmanischen Reiches um 1900.
Hier ist ein Wort angebracht über die Haltung Nordaus zu den in Palästina ansässigen Arabern. Prinzipiell vermeiden die Zionisten aus diplomatischen Gründen in der Öffentlichkeit jede Mutmaßung über zu erwartende Konflikte, sodass kaum Zeugnisse darüber vorliegen, welche Einstellung die einzelnen Zionisten gegenüber den Einwohnern Palästinas einnehmen. Nordau ist sicher nicht der Überzeugung gewesen, „in einem politischen Vakuum zu agieren“ (Schoeps 1995b, 208), aber seine Ausführungen bleiben auf philosophischer Ebene und werden nicht konsequent auf ihre praktische Umsetzung geprüft. „Internationale Probleme sollen durch kooperative Intelligenz, nicht durch Gewalt gelöst werden“ (Ben-Horin 1956, 196). Allerdings folgt auch Nordau einem Zeitgeist, der osteuropäische und erst recht außereuropäische Kulturen nicht als gleichwertig mit westeuropäischen ansieht. Zudem dominiert in der Palästina-Frage die Auseinandersetzung mit dem osmanischen Protektorat. Nordaus Sorge gilt vor allem der Wahrung des „Nationalitätenprinzip[s]“ (Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert), das heißt der Gewährleistung einer Selbstverwaltung, die – wohl aus taktischen Gründen – zunächst nicht auf staatlicher Unabhängigkeit besteht (III. Kongressrede). Vielen Zionisten ist überdies der Konkurrenzgedanke fremd, da „alle Einwohner Palästinas, unabhängig von ihrer Konfession und ethnischen Herkunft den jeweiligen Machthabern des Osmanischen Reichs unterstehen und somit Bürger desselben Staates sein würden“ (Meybohm 2013, 335). Zweifellos wird aber Nordaus Vorstellung vom Zusammenleben mit der arabischen Bevölkerung von der ursprünglichen Idee eines autonomen Judenstaates ge-
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speist. „Wenn die Juden nach Palästina zurückkehren wollen, so soll das nicht geschehen, um in asiatische Barbarei unterzutauchen“ (Zionismus und Antisemitismus) oder „um als ottomanische Staatsangehörige palästinensische Juden zu sein, nicht um uns irgendwo in Mazedonien oder Kleinasien zu Türken zu machen“ (IX. Kongressrede). Den Gewinn für die osmanische Regierung sieht er vor allem in den in Aussicht gestellten jährlichen Abgaben oder in der Bereitstellung eines durch eine Anleihe möglich gemachten Kapitals. „Das heilige Land liegt heute zu vier Fünfteln wüst und zählt nur 600 000 Bewohner, von denen reichlich 450 000 bettelarme, meist nomadische Beduinen sind. Es bringt der Pforte so gut wie nichts ein.“ Die in rascher Folge angesiedelten Millionen Juden würden in Palästina „einen blühenden Acker-, Wein- und Gartenbau, Groß- und Kleinindustrien und einen entsprechenden lokalen und Durchgangshandel schaffen“, der das notwendige Kapital ohne weiteres erwirtschaften könne (Rede, gehalten im Haag, 10. April 1900). Nordau fühlt sich zu keiner Legitimation genötigt, die Einwanderung des Judenvolks in Palästina zu begründen, wenn er von der „Wiedergewinnung“ des „Vaterlandes“ (im Gegensatz zu den „Heimatländern“ verstreuter Juden) (Ein Brief Nordaus) oder der „Sammlung der Juden auf dem geschichtlichen Boden ihrer Urheimat“ (III. Kongressrede) spricht. Zweifler, die unzureichende Siedlungsräume, eine Konkurrenz zu den Arabern oder eine Sprachbarriere befürchten, bezichtigt er der „Gespensterfurcht“. „[W]ir wollen niemand verdrängen und wir haben schon jetzt Beweise, dass die sechsmalhunderttausend Araber, die heute im heiligen Lande hausen mit den einziehenden Juden gute Nachbarschaft halten werden“, begründet er seinen Optimismus (Der Zionismus und seine Gegner). Kein Zweifel befällt Nordau hinsichtlich des moralisch-kulturellen Gefälles: „Wir würden uns bemühen, in Vorderasien zu tun, was die Engländer in Indien getan haben – ich meine die Kulturarbeit, nicht die Herrschaft –; wir gedenken, nach Palästina als Bringer von Gesittung zu kommen und die moralischen Grenzen Europas bis an den Euphrat hinauszurücken“ (VIII. Kongressrede). Betont wird die axiale Stellung des Westens, die die Alterität der Einheimischen generiert (Dieckhoff 1996, 285–296). Beseelt ist Nordau von der Idee eines friedlichen Nebeneinander, die faktische Probleme schlichtweg ignoriert (Baldwin 1980, 119). Seine Philosophie entsteht aus der dialektischen Spannung zwischen darwinistischer Dystopie (drohende Auslöschung der Juden infolge des Antisemitismus) und liberaler Utopie (Heimstätte) (Penslar 1996a, 338). Deutlich wird Nordaus Position in einer Erwiderung auf Achad Haams Kritik an Herzls Altneuland. 1902 erscheint dieser Schlüsselroman, der in erster Linie als „Propagandaschrift für Nichtjuden“ gedacht ist und in dem er ein utopisches Bild eines hochentwickelten Judenstaates in Palästina entwirft. Die Handlungsebene des Romans dient dazu, „seine mehr oder weniger theoretischen Anschauungen umzusetzen“ (Schoeps 1996, 353f.). Auf die von Achad Haam erhobene Kritik am Roman reagiert Nordau (auf Herzls Bitte) mit einem erbosten Essay in der Welt am 13. März 1903 (Achad Haam über „Altneuland“), der insofern bezeichnend ist, als er zeigt,
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wie sechs Jahre nach dem Baseler Programm die Frustration über die stagnierende Bewegung zugenommen hat und deren Verteidiger in Legitimationsdruck geraten. Zu Recht ist die Kontroverse über Altneuland als „eine Art Vorspiel zur UgandaKontroverse“ gewertet worden (Schäfer 1995, 296). Achad Haam äußert die Befürchtung, dass es nicht möglich sein werde, „hinreichenden Boden für die aus der ganzen Welt zusammengeströmten Millionen Juden zu erwerben“. Dagegen setzt Nordau seine Auffassung: „Heute gilt in Palästina als Getreideland nur dasjenige, das den Getreidebau nach arabischen Methoden lohnt. Alles Land, was Bewässerung, Düngung und Pflügung erfordert, um sich zum Anbau zu eignen, ist nicht urbar für die Araber, die weder bewässern noch düngen noch pflügen; es ist dies aber für Landwirte, die sich vorgeschrittener Werkzeuge und Methoden bedienen. So können also die Araber ihr Land behalten und die neue Gesellschaft kann doch neben ihnen hinreichenden Boden für die Einwanderer erwerben“ (Achad Haam über „Altneuland“). Und noch eine weitere, für das Verständnis des politischen Zionismus wichtige Auffassung tritt in diesem Essay zutage. Der Verfechter des Kulturzionismus, der keine Gründung eines Zionistischen Staates, sondern vielmehr das Ziel einer Verinnerlichung und Belebung jüdischen Geistes verfolgt, Achad Haam, konfrontiert Herzl mit dem Vorwurf, es fehle seinem sich an das christliche Europa anbiedernden Roman an jüdischer Substanz. Wie berechtigt seine Kritik ist, zeigt Nordaus Erwiderung: „‚Altneuland‘ ist ein Stück Europa in Asien: […] Wir wollen, dass das wiedergeeinte, befreite jüdische Volk […] ein Kulturvolk wird, soweit es dies noch nicht ist. Wir ahmen dabei niemand nach, wir benützen und entwickeln nur unser Eigentum. […] Wir gestatten nicht, dass man einen Gegensatz zwischen Jüdisch, unserem Jüdisch, und Europäisch konstruiere.“ Ausdrücklich wird Altneuland als Hochburg der Toleranz (gegenüber den Christen) und Stätte der „All-Freiheit“ und Gastfreundlichkeit definiert; „[d]as neuerstandene Judenvolk soll kein Volk von Boxern sein, sondern ein gastfreundliches, nächstenliebendes, allen Brudergefühlen zugängliches Volk. Sicher in seiner Eigenart und stolz auf sie, wird es ohne Misstrauen und Furcht Fremde in seiner Mitte siedeln sehen, überzeugt, dass es nicht die geringste Gefahr läuft, von ihnen entnationalisiert zu werden“ (Achad Haam über „Altneuland“). Mittelfristig, so perspektiviert Nordau die Entwicklung im Vorderen Orient, würden sowohl die Türkei als auch Europa es begrüßen, wenn „das jüdische Volk durch seine friedliche, doch energische Besetzung Palästinas gewaltsame Änderungen der dortigen Souveränitätsverhältnisse verhüten und eine Intervention der Mächte überflüssig machen würde, deren Gefahren der Diplomatie nur zu bekannt sind“ (VII. Kongressrede). In seiner VIII. Kongressrede hofft Nordau auf eine „diplomatische Konferenz nach dem Muster der Haager Zusammenkünfte von 1899 und 1907 zur internationalen Regelung der Judenfrage“ und mahnt erneut: „Zionismus oder nationale Liquidation. Alles andere ist Halbheit und beunruhigt die Logik“ (VIII. Kongressrede). In der folgenden Kongressrede sieht auch er im Aufstand der Jungtürken gegen die
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Herrschaft des Sultans (1908) eine größere Hoffnung für einen jüdischen Staat in Palästina. Dennoch wird er seiner Rolle als Mahner gerecht, dem zuallererst an der „Verbreitung des zionistischen Gedankens“ gelegen ist. Wieder und wieder erinnert er an den ersten Punkt des Baseler Programms, mit dem kein vertraglich gesichertes „Einschleichen“ gemeint sei, sondern die Gründung eines autonomen Staates. „Mein Ideal ist“, so ruft er den Kongressteilnehmern zu, „ein jüdisches Volk im Lande seiner Väter zu sehen, geadelt durch seine zweitausendjährige Charakterfestigkeit, geachtet wegen seiner ehrlichen und ersprießlichen Kulturarbeit, ein Werkzeug des weisen Fortschritts, ein Streiter der Gerechtigkeit, ein Verkünder und Über der Bruderliebe. […] Mein Ideal ist unverjährbar. Es gestattet jede Hoffnung. Endgültig hoffnungslos aber ist die Selbstaufgabe. […] In einer Bewegung aber, die nicht nur ihre Mittel, sondern auch ihr Ziel einem Wechsel des türkischen Regierungssystems zuliebe ändern würde, würde ich keinen Zionismus mehr erkennen, sondern Assimilation, türkische Assimilation. Dieser Zionismus wäre nicht länger mein Zionismus“ (IX. Kongressrede; vgl. auch Der erste Kongress). Nordaus letzte Kongressrede, die auf „[z]wei Jahrsiebente“ zionistischer Bewegung zurückblickt, führt Klage über eine Unzahl von Rückschlägen. Aber sie schließt mit Worten, die einem Vermächtnis gleichen: „Ich beklage, dass wir an die Abwehr ruchloser Angriffe die Kraft vergeuden müssen, deren wir zu unserer positiven Arbeit so sehr bedürfen, aber für einen Zweifel an der Größe, der Notwendigkeit und dem schließlichen Gelingen unseres Werkes ist in meiner Seele kein Raum. Ich würde kein Jude sein, wenn ich nicht bis in die innersten Fasern meines Wesens Optimist wäre“ (X. Kongressrede). Für den XI. Zionistischen Kongress – es ist der letzte unter der Präsidentschaft Wolffsohns – verfasst Nordau ein Grußwort, in dem er noch einmal den Zionismus im Sinne Herzls beschwört und der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass „möglichst zahlreiche Juden zu dem Bestreben erzogen werden, in dem für sie vorbereiteten Palästina Aufnahme zu suchen“ (Brief von Dr. Nordau an den XI. Zionistenkongress). Das Jahr 1913 ist überschattet von einem Eklat. Grund ist ein am 30. Dezember 1912 in der Times veröffentlichter Essay Nordaus, Jews and the Balkan Settlement. Dr. Nordau’s Views, der mit „Dr. Max Nordau, President Tenth Zionist Congress“ unterzeichnet ist. Sachlich ist das richtig, aber Die Welt verzichtet auf Wunsch des Engeren Aktionskomitees auf den Abdruck des Artikels, weil Nordau sein persönliches Statement mit dem abschließenden Hinweis auf seine Präsidentschaft zur offiziellen Meinungsäußerung erhoben hätte, obwohl das Engere Aktionskomitee anderer Meinung sei. Der Eklat weitet sich 1913 anlässlich einer Rede aus, die Nordau auf einer Gedenkfeier zum Todestag Herzls in Paris hält. Am 8. August 1913 (Nr. 32, XVIII Jg.) wird auf diese unter der Überschrift Eine seltsame Herzlfeier in der Jüdischen Rundschau empört Bezug genommen. Der Artikel zeigt, dass Nordau zu diesem Zeitpunkt bereits heftigen Angriffen ausgesetzt ist. Nordau, ein Mann von „autoritative[r] Stellung“, habe die Leitung der zionistischen Bewegung angegriffen, indem er ihr Misserfolg und Verheimlichung von Geldverlusten vorgeworfen habe, und dieses sei an-
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gesichts seiner „wiederholten, höchst liebenswürdig gehaltenen Zustimmungskundgebungen zur Politik des E.A.C.“ (325) in besonderer Weise befremdlich. Kurz: Nordau wird unterschwellig Verrat und offen Missbrauch seiner legendären Stellung vorgeworfen, was als mangelnde Solidarität gewertet wird (326). Seine anschließend wiedergegebene Rede bezieht sich auf einen seit dem ersten zionistischen Kongress schwelenden Zwist zwischen den politischen (den Charter-Gedanken verfolgenden) und den praktischen (auf Kolonien vertrauenden, „Bilu“- oder „Choweve“-) Zionisten, die, so Nordau, von einem „hochherzigen Dilettanten [gemeint ist Rothschild], der da eine Art ‚Nationalpark‘ für Menschen schaffen wollte“, finanziert würden. Gegen diese „Praktischen“ der ersten Stunde richtet sich Nordaus Kritik jedoch nicht (vgl. auch Grand Rabbin Zadoc Kahn und Dr. Max Nordau über die Kolonisten und Arbeiter in Palästina). Auch jenen Oppositionellen, die von Anfang an den politischen Zionismus kritisieren – vor allem jene Fraktionen, die für die sofortige Autarkie des Zionistischen Staates oder für einen kulturellen Zionismus eintreten –, bringt er lediglich Unverständnis entgegen. Nun aber, nach der Times-Welt-Affäre, meint Nordau in der aus praktischen Zionisten bestehenden Leitung der Zionistischen Organisation jene wahren Widersacher und Quertreiber zu enttarnen, deren Haltung er als „Negation des politischen Zionismus“ interpretiert und deren Handeln – Misserfolge und deren Verschleierung – er missbilligt. Nordau schließt mit einem Credo, das ihn als verbitterten und kompromisslosen Visionär zeigt. Er fordert die Zionisten auf, „der großen Idee Herzls“ treu zu bleiben, „denn nur mit dieser Idee und durch diese Idee werden wir siegen“ (Die Reden Dr. Marmoreks und Dr. Nordaus). Über Nordaus Essay und die daraus entstehende Frage von Haltung und Selbstverständnis der Zeitung, die dem Vorwurf der Parteilichkeit und Unterdrückung bestimmter Meinungen innerhalb des Zionismus ausgesetzt ist, wird auf dem XI. Zionistenkongress (2.–9. September 1913 in Wien) heftig debattiert. Der Streit zeigt erstens, dass Nordau nach wie vor unbeugsam ist und an seinen seit Ende des 19. Jahrhunderts an der Seite von Herzl entwickelten Überzeugungen festhält, und zweitens, dass der große alte Zionist der ersten Generation zwar für seine Verdienste in Ehren gehalten, für seine im Alleingang vorgebrachten Ansichten aber kritisiert wird: „Wir stimmen nicht mit ihm darüber ein“, so Joseph Chasanowitz in der Generaldebatte über die Angriffe gegen die Leitung, „daß die Idee, auf welche er sich, als das Erbe Herzls beruft, der wichtigste Teil des Erbes sei. Wir denken nicht, damit steht und fällt die ganze Gedankenarbeit Herzls. Wir hätten am wenigsten erwartet, von einem Manne, wie Nordau, der die ‚Konventionellen Lügen‘ schrieb, daß er von einer Botschafterkonferenz in London Hilfe für das jüdische Volk erwartet hätte. Disziplin muß in jeder Organisation sein und für jeden ist sie maßgebend, groß oder klein. Wenn er einen Brief schrieb in der ‚Times‘ und ‚Präsident des X. ZionistenKongresses‘ zeichnete, dann hätte er zuerst das A. C. fragen sollen, ob es damit einverstanden ist und da er es nicht tat, so beging er damit einen Disziplinbruch. Aber trotzdem durfte das A. C. Nordau nicht zum alten Eisen werfen. Wir sind gegen den
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Personenkultus, der seit je im Zionismus betrieben wird, deshalb macht es aber einen umso peinlicheren Eindruck, daß ein Mann, der Herzl fast gleichgestellt und wie ein Halbgott verehrt wurde, mißhandelt wird, im Momente, wo er in die Opposition tritt. Warum wurde die Rede Nordaus nicht in der ‚Welt‘ abgedruckt, dagegen aber eine Unzahl von Preßstimmen gegen ihn zitiert?“ (Die Welt. Kongress-Ausgabe III. XVII. Jg. Wien, 5.9.1913, 44) Die Bezeichnung der Welt als „gelbes Käseblättel“ (ebd.) ruft den Publizisten Richard Lichtheim auf den Plan. Er verteidigt die Entscheidung, den Times-Artikel nicht aufzunehmen und erinnert an die dringlichste Aufgabe des jüdischen Volkes, „sich eine Heimstätte in Palästina zu schaffen und dort durch Belebung der hebräischen Sprache ein nationales Zentrum zu bilden“ (ebd., 45). Letztlich belegen die Debatten am Vorabend des Ersten Weltkrieges einerseits grundlegende Probleme: „Die Umsetzung der Gründerträume in die Realität und die Aufgabe der Realität für neue Träume gaben Raum für Konflikte und Widersprüche, die bis heute die israelische Gesellschaft spalten und ihr Bild nach außen prägen“ (Brenner 2016, 22). Andererseits zeigen sie aber auch, dass allen Differenzen zum Trotz eine Grundüberzeugung nie in Zweifel gezogen wird: Die „Erlösung des Judenvolkes, seine Verjüngung, seine Erhöhung, kurz: ‚die Geulah‘“: („Judenstaat“ und Zionismus).
Abb. 17: Max Nordau. Atelieraufnahme. Ohne Datierung. Um 1912.
Bibliographie
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Bibliographie Schriften Max Nordaus (im Nachwort genannte Auswahl in chronologischer Reihenfolge) Aus dem wahren Milliardenlande. 2 Bde. Leipzig 1878. Vom Kreml zur Alhambra. 3 Bde. Leipzig 1880. Paris unter der dritten Republik. Leipzig 1880. (mit Ferdinand Gross) Die neuen Journalisten. Bremen 1880. Paris. Studien und Bilder aus dem wahren Milliardenlande. Leipzig 1881. Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit. Leipzig 1883. Ausgewählte Pariser Briefe. Wien 1884. Paradoxe. Leipzig 1885. Pariser Briefe. Kulturbilder. Leipzig 1887. Die Krankheit des Jahrhunderts. Leipzig 1887. Seelenanalysen. Berlin 1892. Entartung. Berlin 1892/93. [Berlin, Boston 2013; s. auch Tebben, Karin: Nachwort]. [Ohne namentliche Kennzeichnung zum „Fall Dreyfus“ am 7.11.94]. In: Vossische Zeitung, 10.11.1894, 10. Drohnenschlacht. 2 Bde. 1897 u. 1898. Doktor Kohn. Berlin 1898. Zeitgenössische Franzosen. Berlin 1901. Der Prozeß der Kritik. In: Neue Freie Presse. Morgenblatt. Nr. 13850, 18.3.1903. Von Kunst und Künstlern. Leipzig 1905. Der Sinn der Geschichte. Berlin 1909. Zionistische Schriften. Köln 1909. Französische Staatsmänner. Berlin 1916. Die Biologie der Ethik. Leipzig 1920. Zionistische Schriften. Berlin 1923 [darin: Meine Selbstbiographie].
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760 Teil III: Anhang
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Bibliographie
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Allgemeine Verweise Vorsitzende der Zionistenkongresse (bis 1935) 1.-6. Kongress: Theodor Herzl (1897, 1898, 1899, 1900, 1901, 1903) 7. Kongress: Max Nordau (1905) 8. Kongress: David Wolffsohn u. Max Nordau (1907) 9.-10. Kongress: Max Nordau (1909, 1911) 11. Kongress: David Wolffsohn (1913)
Bibliographie
12.-16. Kongress: Chaim Weizmann (1921, 1923, 1925, 1927, 1929) 17.-19. Kongress: Nahum Sokolow (1931, 1933, 1935)
Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation (bis 1935) 1897–1904: Theodor Herzl 1905–1911: David Wolffsohn 1911–1920: Otto Warburg 1921–1931: Chaim Weizmann 1931–1935: Nahum Sokolow
763
764 Teil III: Anhang
Abbildungsnachweise Abb. 1: https://www.google.de/imgres?imgurl=http://www.udo-leuschner.de/nordau/nordau.jpg&imgrefurl=http://www.udo-leuschner.de/nordau/entartung1.htm&h=250&w=204&tbnid=2HXjl64NJ5QqM:&tbnh=154&tbnw=125&usg=__Opp_kT9YW6Rs2G74Mg5LaSlG8to% 3D&vet=10ahUKEwiBivW0_73ZAhXM_qQKHc3AAgUQ_B0InQEwCg..i&docid=KmkBP_cBmRxESM&itg=1&client=firefox-b&sa=X&ved=0ahUKEwiBivW0_73ZAhXM_qQKHc3AAgUQ_B0InQEwCg#h=250&imgdii=OCQJSxBHNr0WlM:&tbnh=154&tbnw=125&vet=10ahUKEwiBivW0_73ZAhXM_qQKHc3AAgUQ_B0InQEwCg..i&w=204
Abb. 2: https://www.google.de/search?client=firefox-b&dcr=0&tbm=isch&sa=1&ei=0n2NWs2qEsKtkwXg44_wDA&q=Max+Nordau+&oq=Max+Nordau+&gs_l=psyab.3..0i19k1j0i30i19k1.11321.11321.0.11673.1.1.0.0.0.0.209.209.2-1.1.0....0...1c.1.64.psyab..0.1.206....0.2mBmqx5JwQ8#imgrc=LP_f5hX8kXx2mM
Abb. 3: http://www.europeofdiasporas.eu/points-of-interest/alfred-dreyfus
Abb. 4: https://www.google.de/search?client=firefox-b&dcr=0&tbm=isch&sa=1&ei=xn-NWsbCCIuasAfh7q3IBg&q=Emile+Zola+nadar&oq=Emile+Zola+nadar&gs_l=psyab.3...35884.40904.0.41520.16.11.0.0.0.0.0.0..0.0....0...1c.1.64.psy-ab..16.0.0....0.capwFfF6AAk#imgrc=46sJNJby06SuyM
Abb. 5: https://www.google.de/search?client=firefox-b&dcr=0&tbm=isch&sa=1&ei=xn-NWsbCCIuasAfh7q3IBg&q=Emile+Zola+nadar&oq=Emile+Zola+nadar&gs_l=psyab.3...35884.40904.0.41520.16.11.0.0.0.0.0.0..0.0....0...1c.1.64.psy-ab..16.0.0....0.capwFfF6AAk#imgrc=46sJNJby06SuyM:
Abb. 6: Jüdisches Museum der Schweiz, Basel. Nr. JMS 326-1
Abb. 7: Jüdisches Museum der Schweiz, Basel. Nr. JMS 1432
Abb. 8: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/33/The_%22Basel_Program%22_at_the_First_Zionist_Congress_in_1897.jpg
Abb. 9: https://www.google.de/search?q=Die+Welt+4.+Juni+1897+Abbildung&client=firefoxb&dcr=0&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwiu8sSkobfZAhWK7BQKHfbLBYMQ_AUICygC#imgrc=Jc75cQyGjGJdWM:)
Abb. 10: http://www.mannbarry.net/Lithuania/Beyachad/Postcards%20Eastern%20European/album/ slides/E-MaxNordau%20and%20Herzl.html
Abb. 11: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/cd/Herzl_Flag.jpg
Abbildungsnachweise
765
Abb. 12: https://es.wikipedia.org/wiki/Max_Nordau
Abb. 13: Jüdisches Museum der Schweiz, Basel. JMS 0593
Abb. 14: Jüdisches Museum der Schweiz, Basel. JMS 1268-1 und JMS 1268-2
Abb. 15: http://www.shapell.org/manuscript/zionist-max-nordau-mourns-theodor-herzl
Abb. 16: https://www.google.de/search?q=karte+des+osmanischen+Reiches+Um+1900&client=firefoxb&dcr=0&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwituPy_pbfZAhXD16QKHU1PBMAQsAQINg&biw=1227&bih=618#imgrc=WjzFXlsP8Fc1OM
Abb. 17: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:VETERAN_ZIONIST_LEADER,_DR._MAX_NORDAU._%D7% 94%D7%9E%D7%A0%D7%94%D7%99%D7%92_%D7%94%D7%A6%D7%99%D7%95%D7% A0%D7%99_%D7%9E%D7%A7%D7%A1_%D7%A0%D7%95%D7%A8%D7%93%D7%90%D7% 95.D403-174.jpg
Wir danken dem Jüdischen Museum der Schweiz, Basel, für die Bereitstellung der Bildvorlagen.
Personenregister Wegen des ausführlichen Kommentars wurde auf ein Sachregister verzichtet. Im Personenregister werden ausschließlich diejenigen Personen aufgeführt, die in den edierten Texten Max Nordaus namentlich erwähnt werden. Abdülhamid II. 369, 490, 584, 617, 665–666, 670–672 Achad Haam, Pseudonym von → Ascher Hirsch Ginzberg Ahlwardt, Hermann 252, 602 Alexander der Große 177, 552–553 Alexander III. von Russland 252, 470, 512, 602 Alighieri, Dante 62, 483 Apion 256, 606 Apponyi von Nagy-Apponyi, Graf Albert 321, 638 Aristoteles 136, 432, 460, 475, 516, 533, 537, 676 Arndt, Ernst Moritz 189, 563, 632 Aron, Léopold Émile (genannt Émile Arton) 257–258, 607 Astor (Familienname) 335, 651 Auffray, Jules 306, 629 Bahar, Jacques 53, 472, 494 Bajasid II. (genannt Veli) 129, 530, 680, 685 Ballin, Albert 193, 415–418, 569, 703 Bamberger, Ludwig 189, 564 Bar Kochba (eigentl. Sim(e)on Bar Kosiba) 58, 136, 291, 372, 428, 478, 490 Barkóczy, Baron Sándor (ungar. Barkóczy Sándor) 321, 638 Barth, Wilhelm Theodor (Pseudonyme: Junius u. Ferdinand Svendsen) 186, 559, 602 Baruch, Joseph Marcou 374, 675 Bayle, Pierre 345, 658 Bazaine, François-Achille 112, 520 Beauvais, Charles Louis Rémi 107, 515 Beilis, Menahem Mendel 392, 689 Benedictus Levita (auch Benedikt der Diakon von Mainz) 204, 577 Berl, Alfred 93, 507 Bernstein, Elsa (geb. Porges, Pseudonym: Ernst Rosmer) 201, 574 Bertillon, Alphonse 301, 625 Billot, Jean-Baptiste 111, 519 Billroth, Christian Albert Theodor 219, 586 Bindewald, Friedrich 252, 603
Bismarck-Schönhausen, Otto Eduard Leopold Fürst von 189, 221, 417, 430, 433, 466– 467, 550, 560, 563–564, 568, 586, 618, 704 Bjørnson, Bjørnstjerne Martinius 53, 473 Bleichröder (Familienname) 335, 650 Bloch, Joseph Samuel 4, 30, 425, 480 Bodenheimer, Max Isidor 412, 643, 702 Boisdeffre, Raoul François Charles Le Mouton de 111, 519 Bonnefond, Pierre de 303, 626 Börne, Carl Ludwig (geb. als Juda Löb Baruch) 76, 447, 493 Boucicaut, Marguerite 77, 493 Bréon, Charles François de Lancrau de 109, 517–518 Brisson, Eugène Henri 301, 624 Brody, Sigmund (ungar. Bródy Zsigmond) 321, 638 Brogniart, François Paul 109, 517 Bulova, Josef Adolf 304–306, 627, 629 Bülow, Bernhard Heinrich Martin Karl von 32, 454, 702 Burstein, N. S. 386, 683 Callot, Jacques 109, 518 Calvin, Johannes (eigentl. Jean Cauvin) 322, 345, 640 Capistranus, Johannes (eigentl. Giovanni da Capistrano) 345, 657 Carnegie (Familienname) 335, 651, 680 Cassel, Edmond van 306, 629 Cerf Beer von Medelsheim, Herz (urspr. Naphtali Ben Dov Beer, auch Cerfbeer) 169, 549 Cernuchy-Lazarovich, Eugène Lazar de (auch Edler von Černucky bzw. Cernuschi-Lazarovich) 306, 629 Cervantes Saavedra, Miguel de 211, 440, 582 Chamberlain, Houston Stewart 306, 459, 629 Chamberlain, Joseph 276–277, 369, 608, 614 Chamoin, Achille Arthur 111, 520 Chmielnicki, Bogdan 100, 460, 512
768 Personenregister
Cincinnatus, Lucius Quinctius 294, 621 Clemenceau, Georges Benjamin 53, 302, 473, 628 Cohn, Baron Moritz von 320, 637 Conybeare, Frederick Cornwallis 53, 474 Corneille, Pierre 40, 434, 462–463 Cornelius Cinna Magnus, Gnaeus (bei Nordau Cinna) 8, 434 Cornély, Jules 302, 625 Crémieux, Fernand 187, 560 Crémieux, Isaac Adolphe (geb. als Isaac Moïse Crémieux) 47, 51, 185–186, 468, 471, 559 Cromwell, Oliver 55, 168, 474–475 David 230, 398, 426, 513, 528, 591–592, 610, 693 Delegorgue, Albert 306, 628 Deloya 111, 520 Demange, Edgar 303, 626 Descartes, René 345, 441, 581, 657 Desmoulins, Benoît Camille 311, 632–633 Diesenhof 273, 613 Dietrichstein zu Nikolsburg, Ferdinand Joseph 3. Fürst von 169, 549 Dimante 393, 690 Disraeli, Benjamin (1. Earl of Beaconsfield) 47, 58, 173, 184, 187, 287, 291, 468, 478, 558, 620 Dohm, Christian Konrad Wilhelm 347, 661 Dreyfus, Alfred 32, 51–54, 107–108, 110–112, 185, 252, 259, 289, 301, 303–305, 322– 324, 425–426, 453–454, 461, 471–474, 507, 515–516, 518–520, 558, 574, 603, 619–620, 624–629, 635, 640, 674 Drummond-Wolff, Henry 188, 562 Dumas, Alexandre (der Jüngere, auch Dumas fils) 58, 478 dʼAurevilly, Jules Amédée Barbey 210, 582 Eduard I. von England 378, 679 Eger, Akiba 329, 646 Elbogen, Friedrich 305, 627 Eliot, George (Pseudonym von Mary Ann Evans, auch Mary Anne o. Marian) 58, 286–287, 478, 618 Erdtracht, Davis (eigentl. Lucian Frank Erdtracht) 419, 700, 703–704 Euklid 206, 441, 578 Ferdinand I. von Österreich (genannt der Gütige) 193, 570
Ferdinand II. von Aragón (genannt der Katholische) 83, 343, 497, 539, 548, 655 Field, Cyrus West 193, 568 Fischhof, Adolf Ephraim 190, 329, 565 Fould, Achille 189, 564 France, Anatole (geb. als François Anatole Thibault) 105, 514 Franck, L. 358, 666 Frank, Jakub Leijbowicz 7, 71–72, 432–433 Franz I. Stephan von Lothringen 347, 660–661 Freudenberg 330, 647 Friedrich I. (genannt Barbarossa, bei Nordau Rotbart) 370, 435, 671–672 Friedrich II. (genannt der Große) 346, 500, 566, 658 Friedrich III. (von Preußen) 179, 554 Friedrich Wilhelm I. (genannt Soldatenkönig) 149, 540 Gabirol, Salomo ben Jehuda ibn 24, 447, 597 Georg III. 55, 475 Germain, Georges 110, 519 Ginsburg, Simon 316, 392, 399, 635 Ginzberg, Ascher Hirsch (Pseudonym: Achad Haam) 70, 245–253, 488–489, 599, 697– 698 Glaser, Eduard 26–27, 30, 449 Gobineau, Joseph Arthur de 306, 459, 629 Goethe, Johann Wolfgang von 116, 148, 210– 211, 502, 522, 539–540, 582, 629, 658, 660, 663, 703 Goette, Alexander Wilhelm 63, 484 Gonse, Charles Arthur 111, 519 Gorki, Maxim (eigentl. Alexej Maximowitsch Peschkow) 273, 613 Gottheil, Emma (auch Emma Leon Gottheil) 277, 615 Gottsched, Johann Christoph 346, 632, 659 Goudchaux, Michel 189, 195, 564 Gould (Familienname) 335, 651 Graetz, Heinrich 200, 573 Greenberg, Leopold Jacob 276–277, 614–615, 701 Grégoire, Henri Jean-Baptiste (auch Abbé Grégoire) 347, 661 Gregorig, Josef 187, 561 Gresham, Sir Thomas 193, 567 Grillparzer, Franz 60, 481, 634 Grünau, Heinrich von (Pseudonym von Heinrich Grünzweig) 207, 579
Personenregister 769
Güdemann, Moritz 3–10, 12, 423, 433, 504 Guérin, Jules 306, 629 Gumpertz, Aaron Samuel (auch Aaron Emmerich Gomperz) 346, 659 Gumplowicz, Ludwig 340, 654 Guyot, Yves 53, 93, 473, 507 Haas, Jacob de 19, 442 Halske, Johann Georg 193, 568 Hänel, Albert 186, 559 Hartmann, Gaston 110, 518 Hartmann, Karl Robert Eduard von 184, 557 Hasselriis, Louis (auch Ludvig) 211, 581 Haynau, Julius Jakob Freiherr von 112, 302, 520, 625 Hebbel, Christian Friedrich (Pseudonym: J. F. Franz) 246, 600 Heine (Familienname) 336, 652 Heine, Christian Johann Heinrich (geb. als Harry Heine) 24, 46, 58–59, 76, 209–211, 287, 291, 331, 333, 447, 479–480, 535, 581– 582, 618, 621, 649, 652, 663 Herder, Johann Gottfried von 346, 429, 660 Herschell, Farrer (1. Baron Herschell) 188, 562 Herz, Kornelius (auch Cornelius) 257–258, 607 Herz, Markus 346, 660 Herzl, Theodor (ungar. Herzl Tivadar) 4, 13, 55, 115, 126, 128, 154–155, 238–239, 245–248, 252, 270, 275–277, 285–294, 296–297, 308–309, 317, 325, 328, 330, 359–360, 368–374, 376, 382, 392–397, 399–401, 408–412, 420, 425–426, 428, 436–438, 442, 469, 480, 489–490, 510, 512, 527, 529, 534–535, 596, 598–599, 602, 608– 609, 611, 613–614, 618–620, 622, 633– 635, 642–645, 670, 673, 675, 689–692, 695, 699–702, 705 Hess, Moses 237, 290, 428, 447, 500, 580, 596, 643 Hill, Clement Lloyd 277, 615 Hillel (auch Hillel der Alte) 24, 446 Hilsner, Leopold 301–306, 538, 624, 626–627 Hindenburg, Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff u. von 416, 703 Hirsch (Familienname) 335, 650 Hirsch, Emil Gustav 117, 524 Hirsch, Moritz/Maurice (de) (geb. als Moritz Freiherr von Hirsch auf Gereuth) 193, 197, 287, 369, 392, 525, 570, 613 Homer 209, 332, 581–582
Hrůzová, Agnes (bei Nordau Hruza) 305, 538, 624, 627 Hugo, Victor 188, 562, 617 Hutten, Ulrich von 344, 656 Ignatius von Loyola 345, 555, 657 Imbriani, Vittorio 210, 582 Isabella I. von Kastilien (genannt die Katholische) 83, 343, 497, 539, 548, 655 Jacobson, D. 392, 689 Jacoby, Johann 46, 189, 466 Jaffé, Robert (Pseudonym: Max Aram) 207, 580 Jahn, Friedrich Ludwig (genannt Turnvater Jahn) 189, 563 Jaurès, Jean 53, 302, 473 Jehuda ben Schmuel Halewi 24, 287, 291, 447, 597 Jesus 348, 459, 463, 638, 662 Joseph II. 346–347, 659–660 Jouaust, Albert 107, 110, 516 Judas Makkabäus 291, 372, 478, 620, 673 Juvenal (lat. Decimus Iunius Iuvenalis) 71, 485, 489 Kahn, Leopold 374, 675 Kahn, M. 196, 572 Kahn, Zadoc 32, 196, 198, 454, 572 Kant, Immanuel 345–346, 432, 440, 471, 495, 629, 658–660 Karl I. (genannt der Große) 322, 455, 546, 638, 670 Karl V. (auch Karl I. von Spanien) 322, 345, 449, 639, 656 Karl VI. 169, 511, 549 Karl IX. von Frankreich 322, 639 Kasimir III. (genannt der Große) 46, 378, 465, 680 Katzenelsohn, Nissan 412, 702 Kellner, Leon (Pseudonym: Leon Rafaels) 368, 670 Klotz, Louis-Lucien 185, 558 Koch, Robert 175, 550 Kohler, Kaufmann 13, 437 Kokesch, Oser 374, 675 Kolumbus, Christoph (ital. Cristoforo Colombo) 145, 536–537 Konstantin I. (genannt der Große, eigentl. Flavius Valerius Constantinus) 321, 638– 639 Krall, Carl Ritter von 305, 627 Kruger, Stephanus Johannes Paulus 177, 552
770 Personenregister
Labori, Fernand Gustave Gaston 53, 108, 305, 473, 507, 515, 576 Lagarde, Paul Anton de (Pseudonym von Paul Anton Bötticher) 184, 557 Lamoral, Charles-Joseph (7. Fürst von Ligne) 346, 660 Langenscheidt, Gustav 144, 536 Lasker, Eduard 46, 189, 467 Lassalle, Ferdinand (eigentl. Ferdinand Johann Gottlieb Lassal) 88–89, 502, 535, 588 Lazare, Bernard (eigentl. Lazare Marcus Manassé Bernard) 53, 302, 374, 472, 494 Lebon, André 302, 625 Leitner, Gottlieb William 152, 542 Leo, Heinrich 184, 557 Leopardi, Giacomo Graf 62, 483 Leroy-Beaulieu, Anatole 184, 557 Lesseps, Ferdinand de 257–259, 606 Lessing, Gotthold Ephraim 346, 658 Levin, Schimarjahu (auch Shmarya) 272–273, 612–613, 692, 697–698 Levy, Emil Nathan 358, 666 Lieber, Philipp Ernst Maria 186, 560 Lilien, Ephraim Moses 207, 579, 586 Lister, Joseph (1. Baron Lister, bei Nordau Zister) 175, 551 Liszt, Franz (eigentl. Ferencz o. Ferenc) 290, 620, 627 Lloyd, Edward 193, 567 Locke, John 345, 658 Lombroso, Cesare 110, 337, 518 Lorberbaum von Lissa, Jacob ben Jacob Moses (auch Ba'al HaChavas Da'as, bei Nordau Chawath Daath) 329, 646 Loria, Achille 334–335, 650 Lubetzky, Judah 196, 572 Lublinski, Samuel (bei Nordau Lubitzki) 70, 489 Ludendorff, Erich Friedrich Wilhelm 416, 703 Ludwig XVI. August von Frankreich 169, 549 Ludwig, Otto 600 Lueger, Karl 187, 252, 425, 430, 561, 603, 638 Luther, Martin 89, 322, 345–346, 484, 503, 555, 611, 656 Luzzatti, Luigi 47, 190, 468, 565 Mac-Mahon, Marie Edme Patrice Maurice (Comte de Mac-Mahon, Duc de Magenta) 189, 322, 564–565 Maimon, Salomon (geb. als Salomon ben Josua) 346, 535, 659
Maimonides, Moses (eigentl. Mosche ben Maimon) 7, 24, 345, 431, 657, 659–660, 676 Manasse ben Israel 55, 168, 287, 475 Manesse, Rüdiger 46, 465–466 Mannheimer 330, 647 Marmorek (Familienname) 369 Marmorek, Alexander 285–286, 316, 392, 618, 635, 689, 692 Marmorek, Oskar Adolf 374, 675 Marx, Karl 88–89, 502, 588, 596, 651 Mazzini, Guiseppe 55, 476 Mendelssohn, Moses 7–8, 234–235, 287, 346, 432, 471, 597, 647, 659, 661 Mercier, Auguste 110–111, 306, 519 Merle, Émile 109, 517 Mezei, Ernst 254–255, 604 Michelet, Jules 200, 311, 573 Milton, John 246, 600 Mintz, Alexander 16, 439 Mirabeau, Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de 347, 661 Mithridates VI. Eupator 203, 575 Molière (eigentl. Jean-Baptiste Poquelin) 125, 527 Momigliano, Felice 334, 336–337, 650 Montagu, Lilian Helen 205, 577 Montefiore, Claude Joseph Goldsmid (bei Nordau Montague) 205, 577 Morelli, Michele 62, 483 Morgan (Familienname) 335, 651 Mornard, Henry 303, 626 Mortara, Edgardo 206, 579 Napoleon I. (eigentl. Napoleon Bonaparte) 163, 170, 322, 348, 430–431, 468, 475–476, 484, 514, 520, 545–546, 574, 595, 616, 640 Napoleon III. 189, 564, 569 Naquet, Alfred Joseph 187, 189, 560 Nelson, Horatio (1. Viscount Nelson, 1. Baron Nelson of the Nile, Herzog von Bronte) 106, 514 Netter, Charles 395, 469, 597, 690 Nikolaus von Lyra 89, 503 Nordau, Max (geb. als Maximilian Simon Südfeld) (ausschließlich Nennungen in Teil I der Edition) 13–14, 28–32, 70, 73– 74, 91, 118, 177, 195–196, 198, 270, 273, 275–277, 316–317, 329, 339, 365, 386– 387, 392–393, 401–403, 405–406, 420
Personenregister 771
Nordau, Maxa 420, 705 Nossig, Alfred 207, 579 Nußbaum, Arthur 305, 627 Oppenheimer, Franz 395, 636, 667, 691 Ottolenghi, Giuseppe 47, 468 Pachnicke, Hermann (bei Nordau Pachnitzky) 186, 560 Paganini, Niccolò 290, 620 Paine, Thomas (geb. als Thomas Pain) 311, 633 Pálffy ab Erdöd, Johann III. Anton 169, 549 Pasmanik, Daniel 366, 668 Pasteur, Louis 175, 493, 550, 618 Paty de Clam, Armand Auguste Charles Ferdinand Marie Mercier du 32, 453, 519 Pellico, Silvio 62, 302, 483, 625 Péreire, Eugène 193, 569 Périvier, Samuel 306, 628 Peter der Einsiedler (frz. Pierre l'Ermite) 202, 574 Philipp II. von Spanien 345, 656 Philipp IV. (genannt der Schöne) 9, 83, 202, 343, 378, 434, 474, 497, 575, 679 Philo Judaeus (auch Philon von Alexandria) 7, 24, 431, 606 Photios 322, 639 Picquart, Marie-Georges 53, 110, 302, 305, 473, 519, 624, 628 Pines, Fishel 277, 615 Pinsker, Leon (auch Leo Pinsker, Juda bzw. Jehuda Löb oder Leib Pinscher) 237, 290, 392, 596, 643 Pinto, Aaron Adolf de 316, 635 Platon 124, 314, 318, 410, 431, 522, 526, 575, 634, 636, 641, 700 Pobedonoscev, Konstantin Petrovič 354, 470, 663 Pollonais, Gaston (auch Pollonnais) 201, 574, 576 Polyakov (Familienname) 335, 650 Pomeranz, Rosa 207, 580 Potin, Felix 77, 493 Pressencé, Francis Charles de Hault de 305, 627 Pückler-Muskau, Graf Walter von 252, 603 Racine, Jean Baptiste 246, 600 Rădulescu-Motru, Constantin (bei Nordau Motru) 159, 544 Rapoport, Solomon Judah Löb 329, 646 Raynal, David 187, 189, 560
Reinach, Jacques de 257–259, 607 Reinach, Joseph 53, 305, 472, 507, 627, 629 Reinach, Salomon 204, 577 Reinach, Théodore (Salomon von) 200–203, 573–576 Reuchlin, Johannes (auch Kapnion) 344, 503, 656 Rhodes, Cecil John 193, 568 Richard I. (genannt Richard Löwenherz) 9, 83, 343, 435, 497 Richter, Eugen 186, 559 Rickert, Heinrich Edwin 186, 559 Riesser, Gabriel 46, 189, 466, 610 Rockefeller (Familienname) 335, 651 Roget, Gaudérique 111, 306, 519 Röntgen, Wilhelm Conrad 175, 551 Roosevelt, Theodore (genannt Teddy) 371, 672 Rothschild (Familienname) 193, 335–336, 454, 569, 650, 652 Rothschild, Baron Edmond Benjamin James de 32, 197–198, 395, 454, 469, 525, 569– 570, 597, 690 Rousseau, Jean-Jacques 18, 345, 441, 658 Salz, Abraham Adolph 16, 439, 529 Schapira, Zvi Hermann 395, 598, 690, 694 Schebat 39, 461 Scheurer-Kestner, Auguste 53, 302, 453, 473 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 28, 61, 71, 346, 409, 436, 449, 479, 482, 484, 489, 658, 660, 699 Schneider, Ern(e)st 187, 561 Schur, William (eigentl. Wolf Zeev Schur) 117, 491, 524 Selim I. (genannt Yavuz) 129, 378, 530, 680 Shakespeare, William 76, 246, 485, 492–493, 498, 591, 600 Siemens, Ernst Werner 193, 568 Simon von Trient 303, 626 Simon, August Heinrich 189, 563 Simon, Jules François 189, 564–565 Simson, Martin Eduard von 46, 173, 189, 287, 466–467, 618 Singer, Michael 13, 437 Singer, Paul 185, 558 Sinzheim, David Josef 348, 546, 662 Sofer, Moses (auch Chatam Sofer u. Moses Schreiber) 329, 646 Sokolow, Nahum 183, 188, 191, 195, 403, 407, 556, 599, 691–692, 697, 704
772 Personenregister
Spinoza, Baruch de (auch Bento oder Benedict) 24, 291, 294, 345, 432, 447, 535, 617, 621, 657 Stahl, Friedrich Julius (geb. als Julius Jolson) 184, 557 Stoecker, Adolf 252, 430, 596, 602 Straus, Oscar Solomon 187, 561 Strousberg, Bethel Henry (eigentl. Baruch Hirsch Strousberg, später Barthel Heinrich Strausberg) 193, 570 Südfeld, Gabriel ben Asser 28, 61, 329, 450, 646 Südfeld, Rosalia Sarah (geb. Nelkin) 28, 329– 330, 645 Süleiman I. (genannt Kanunî, bei Nordau Soliman) 129, 525, 530 Süßkind von Trimberg 46, 345, 465 Syrkin, Nachman 275, 501, 505, 614 Taft, William Howard 386, 678, 683 Thomas von Aquin 345, 657 Titus (eigentl. Titus Flavius Vespasianus) 33, 174, 233, 455–456, 496, 637 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch Graf 271, 612 Toynbee, Arnold 228, 589 Traeger, Christian Gottfried Albert 186, 559 Trarieux, Ludovic 53, 302, 305, 473 Tschlenow, Echiel Wolfowitsch 366, 668, 697 Uhland, Johann Ludwig (Pseudonyme: Der Rezensent Spindelmann u. Florens) 189, 563 Ussischkin, Abraham Menachem Mendel 366, 668 Vanderbilt (Familienname) 335, 568, 651 Vanderbilt, Cornelius 193, 568 Vespasian (eigentl. Titus Flavius Vespasianus) 81, 455–456, 496 Viktor Emanuel II. 107–108, 456, 516
Villard, Henry (eigentl. Ferdinand Heinrich Gustav Hilgard) 193, 569 Viola, Max (Pseudonym von Max Veigelstock) 207, 580 Vogel, Julius 188, 562 Voltaire (eigentl. François Marie Arouet) 53, 429, 441, 474, 659 Walsin-Esterházy, Marie Charles Ferdinand 32, 453, 473, 518–519, 627 Weismann, Friedrich Leopold August 63, 484 Weizmann, Chaim 366, 587, 668, 692–693 Wertheimer, Samson 169, 549 Weyler y Nicolau, Valeriano 112, 520 Wilhelm I. 189, 467, 563–564, 637 Wilhelm II. 189, 416–417, 501, 510, 564, 587, 609, 633, 649, 670, 703–704 Windisch-Graetz, Alfred Candidus Ferdinand Fürst zu 302, 625 Wolffsohn, David 312, 366, 396–399, 411–414, 513, 631, 633, 667, 677, 691, 693, 701, 705 Worms, Henry de (1. Baron Pirbright, auch Heinrich Worms) 188, 562 Wortsmann, Jecheskel (auch Yecheskiel Charles Wortsman) 272, 612 Zangwill, Israel 142, 144–146, 535, 622, 643, 700 Zewi, Sabbatai 37, 71–72, 242, 345, 459–460, 513, 593 Zlocisti, Theodor 207, 579 Zobel, Moriz (auch Moritz) 183, 188, 191, 195, 556 Zola, Émile Édouard Charles Antoine 53, 302, 304–305, 453, 461, 472–473, 505, 507, 515, 519, 627–629 Zwingli, Ulrich (eigentl. Huldrych Zwingli) 345, 656