Rechtssprichwort und Erzählgut: Europäische und afrikanische Beispiele [1 ed.] 9783428509003, 9783428109005

Der vorliegende Band enthält die Vorträge, die auf der 28. Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung vom 19.-22. Se

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Rechtssprichwort und Erzählgut: Europäische und afrikanische Beispiele [1 ed.]
 9783428509003, 9783428109005

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HEINRICH SCHOLLER I SILVIA TELLENBACH (Hrsg.)

Rechtssprichwort und Erzählgut

Schriften zum Internationalen Recht Band 135

Rechtssprichwort und Erzählgut Europäische und afrikanische Beispiele

Herausgegeben von

HeinrichSchollerund Silvia Tellenbach

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 3-428-10900-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort Mit dem Thema Rechtssprichwort und Erzählgut - Europäische und afrikanische Beispiele greift die Sektion 6 (Vergleichende Rechtsgeschichte, orientalische Rechte und ethnologische Rechtsforschung) der Gesellschaft für Rechtsvergleichung bei ihrer Sitzung bei der Tagung in Harnburg vom 19.-22. September 2001 ein rechtshistorisches und rechtspolitisches Problem auf, das in den letzten Jahrzehnten umstritten war. Ausgangspunkt für die neue Problemstellung und das neue Interesse war weniger die immer noch nicht zu einem Abschluss gekommene Diskussion in Deutschland, als die Beschäftigung mit autochthonen Rechtssystemen insbesondere in Afrika. Wenn verschiedene neue Verfassungen dieses Kontinentes, z. B. die Verfassung der Federal Democratic Republik of Ethiopia von 1994 oder die südafrikanische Verfassung, ausdrücklich die Möglichkeit eröffnen, traditionelles Recht vor sogenannten cultural courts geltend zu machen, so dokumentiert sich hierin ein Wiedererwachen des traditionellen Gewohnheitsrechtes, das aufs Engste mit der Entwicklung der Rechtssprichwörter in diesen Ländern verbunden ist. Der berühmte Code Civil Äthiopiens, das Werk des großen Rechtsvergleichers Rene David, wurde in großen Teilen Äthiopiens insbesondere hinsichtlich des Personen-, Familien- und Erbrechtes außer Kraft gesetzt. Nicht nur sind die neugeschaffenen Bundesstaaten, die sich im Wesentlichen nach ethnischen Gesichtspunkten reorganisieren, kompetent für Personen-, Familien- und Erbrecht, sondern im Rahmen ihrer Kompetenz öffneten sie sich auch in verstärktem Maße dem alten Gewohnheitsrecht einschließlich der Spruchweisheiten der jeweiligen Ethnien (Art. 34 IV und 78 äthiop. Verf. v. 1994). Auf Bundesebene hat zwar das äthiopische Parlament als Rahmengesetz ein einheitliches Familienrecht neu erarbeitet und beschlossen, doch liegt es in der Hand der einzelnen Mitgliedsstaaten, dieses Rahmen- oder Modellgesetz zu übernehmen. Weitere Gesichtspunkte kommen hinzu, um das Interesse am neuerwachten Gewohnheitsrecht zu verstärken. Die neuen jural postulates, die für die neuen afrikanischen Staaten von Bedeutung sind, finden sich stärker in der alten Spruch- und Rechtssprichwortweisheit verankert, als in den westlich orientierten Präambeln der modernen afrikanischen Gesetzgebung. An die Stelle von Negritude oder Ujama, die oft nur politische Hülsen waren, tritt stärker ein weiterentwickeltes, mündlich tradiertes Gewohnheitsrecht. Hinzu kommt die wachsende Bedeutung der Rechtsprechung und des einzeln entschiedenen Rechtsfalles für die Entwicklung eines an sozialer und endlicher Gerechtigkeit orientierten Rechtswesens. Allerdings gab es genügend fehlgeschlagene Versuche, das Gewohnheitsrecht der neuen Staaten, das bisher nur mündlich tradiert war, schriftlich zu fixieren. Dabei erkannte man aber, dass die Ummünzung von mündlichem Gewohnheitsrecht in schriftlich fixierte Gesetze gerade den Lebensnerv des

Vorwort

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oral tradierten und damit flexiblen Rechtes trifft. Verhält es sich anders mit den Rechtssprichwörtem? Ist es ein unabänderliches historisches Gesetz, dass sie durch technisch immer ausgefeiltere, oft dem Rechtsvolk völlig unverständliche Gesetzestexte ersetzt werden? Kann das Rechtssprichwort im Richterspruch die Akzeptanz des Rechtes wieder erhöhen? Diesen Fragen widmete sich die diesjährige Tagung der Sektion. München, im Dezember 2001

Heinrich Scholler

Inhaltsverzeichnis Ruth Schmidt-Wiegand Rechtssprichwörter im Gericht. Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in mittelalterlichen Rechtsquellen 0

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Wilhelm Jo Go Möhlig Der Stellenwert von Sprichwörtern im rechtlichen Kontext bei dem Bantuvolk der Kerewe (Ostafrika) 0

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Harald Sippel Die Bedeutung von Sprichwörtern als Quelle afrikanischen Gewohnheitsrechts im Rahmen des deutschen kolonialen Rechts- und Gerichtssystems 0

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Bairu Tajla The Role of Proverbs in Litigation in Traditional Ethiopia and Eritrea

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Heinrich Scholler Recht und Sprichwort in Äthiopien

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Silvia Teilenbach Diskussionsbericht

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Rechtssprichwörter im Gericht Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in mittelalterlichen Rechtsquellen Von Ruth Schmidt-Wiegand* Als ich nach längerer Zeit die Unterlagen zu den Rechtssprichwörtern wieder zur Hand nahm, 1 wurde mir sehr viel stärker als früher bewusst, dass die Impulse oder Motive für Entstehen und Vergehen von Rechtssprichwörtern in ihrer mündlichen Weitergabe zu suchen sind und nicht so sehr in ihrer mehr oder weniger zufälligen Fixierung in schriftlichen Quellen. Der Untertitel zu meinem Thema "Rechtssprichwörter im Gericht" muss von daher lauten: "Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in mittelalterlichen Rechtsquellen" und nicht - wie ursprünglich geplant - umgekehrt. Daraus ergibt sich für meine Ausführungen ein vierteiliger Aufbau. Ich werde zunächst über das Rechtssprichwort als "altes gesprochenes Wort" handeln und erst dann über seine Verschriftlichung seit dem 13. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum. In einem dritten Abschnitt werde ich danach fragen, was der schriftlichen Überlieferung für ihre Verwendung im Gericht zu entnehmen ist. In einem vierten Abschnitt werde ich von einem konkreten Beispiel aus nach den Veränderungen fragen, die Rechtssprichwörter durch ihren Übertritt von der Rechtssprache in die Umgangssprache durch Variantenbildung erfahren können. Für die historischen Teile stütze ich mich auf die deutschsprachigen RechtsbÜcher des 13. bis 16. Jahrhunderts, während der letzte Teil, der dem ldiomatisierungsprozess der Neuzeit gilt, bis zur Gegenwartssprache führt. 2

I. Rechtssprichwörter als gesprochenes Wort Rechtssprichwörter sind kurze, prägnante Regeln, die sich auf das Recht beziehen, und meist auch aus einer bestehenden Rechtsordnung stammen.3 Mit dem

* Prof. Dr. Dr. h.c. Ruth Schmidt-Wiegand, Westfälische Wilhelms-Universität Münster/ Marburg. t Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Ein Lexikon, hg. von Ruth SchmidtWiegand unter Mitarbeit von Ulrike Schowe, München 1996. 2 Schowe, Mit Haut und Haar. Idiomatisierungsprozesse bei sprichwörtlichen Redensarten aus dem Bereich des mittelalterlichen Strafrechts, 1994. 3 Röhrich/Mieder, Sprichwort, 1977, S. 72.

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Typ des Sprichworts in einem allgemeinen Verständnis haben sie bestimmte Merkmale4 wie die Abgeschlossenheit und Isolierbarkeit des Satzes gemeinsam: Recht muss Recht bleiben. Beiden, Sprichwort und Rechtssprichwort, eignet Allgemeingültigkeit und eine lehrhafte Tendenz wie bei Unrecht Gut/tut selten gut. Hinzu kommen Schmuckformen wie der Endreim (sofern es sich um einen Zweizeiler handelt), die Bildhaftigkeit oder Metaphorik, oft verbunden mit einer "übertragenen Bedeutung" (d. h. einer nicht mehr wörtlich zu nehmenden Bedeutung) wie bei Den Meineidigen hängt man über alle Diebe. Und schließlich haben Sprichwort und Rechtssprichwort eine weite Verbreitung gemeinsam, die auf Akzeptanz in breiten Bevölkerungsschichten beruht. Hier hat man früher von sogenannter Volksläufigkeit gesprochen, wofür man heute lieber Umlaufcharakter sagt, weil Volksläufigkeit die romantisch bedingte Vorstellung vom Ursprung der Sprichwörter im Volke zu stützen scheint, die man weitgehend ablehnt, weil eine Reihe von Rechtssprichwörtern ihr Vorbild in Regeln des gelehrten römischen Rechts haben können. 5 Von den gerade genannten Merkmalen ist für die gegenwärtige Forschung, die Phraseologie,6 die es mit den festgefügten Wendungen wie Sprichwort und Redensart zu tun hat vom Muster jemanden auf die Folter spannen oder jemanden an den Pranger stellen der sogenannte Umlaufcharakter das wichtigste Merkmal. Denn die weite Verbreitung beruht auf der zwischenmenschlichen Kommunikation, die sich in der Mündlichkeit vollzieht und vollzogen hat und deshalb vor und neben der Schriftform des Rechts einhergegangen ist, laufend auf sie einwirkend und sie umgestaltend. Die mündliche Form der Rechtsregel reicht damit in einen Zustand und in eine Zeitstufe zurück, als das Recht noch ohne Schrift auskommen musste. 7 Bezeichnend hierfür ist das römische Zwölftafelgesetz (ca. 451 I 50 v. Chr.), dessen Prozessregelung ein rein mündliches Verfahren vorsieht, bei dem von einem schriftlichen Akt nirgends die Rede ist und bei dem bestimmte Formeln auswendig gelernt und aufgesagt werden mussten. - Das im "Sachsenspiegel" Anfang des 13. Jahrhunderts beschriebene Verfahren des gerichtlichen Zweikampfes8 geht ähnlich als ein rein mündliches Verfahren vor sich. Termini wie versprechen, gespreche, reden belegen den Zusammenhang zwischen Recht und Rede. Analog zum Zwölftafelgesetz wird das Verfahren auch beim gerichtlichen Zweikampf des 13. Jahrhunderts durch eine Wette (d. h. die Hinterlegung von Pfändern) eingeleitet. 4 Zusammenfassung der Diskussion bei Schmidt-Wiegand, Sprichwörter und Redensarten aus dem Bereich des Rechts, 1996, S. 277 - 296, insb. S. 282; Kaufmann, Rechtssprichwort, in: HRG IV, 1990, Sp. 64-367. s Bausinger; Formen der Volkspoesie, 2 1980, S. 151-156. 6 Pilz, Phraseologie, 1978; Burger/Lucke, Historische Phraseologie, 1998, S. 743-755; Schowe, Jemandem aufs Dach steigen - Von der losen Wortverbindung zum Phraseologismus, 1994, S. 235-247; Munske, Wie entstehen Phraseologismen?, 1998, S. 481-515. 7 Bühler; Wenn das Recht ohne Schrift auskommen muss, 1982, S. 79-91. s Sachsenspiegel, Land- und Lehnrecht, hg. von F. Ebel, 1993, S. 66-68 (Ldr. I, 63).

Rechtssprichwörter im Gericht

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Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund ist auch der Begriff Sprichworf zu sehen, der erst zu Beginn des 12. Jahrhunderts, zunächst in der analytischen Form altez gesprochen wort, aufkam und sich gegenüber älteren Bezeichnungen wie bfspel, wörtlich "Beispiel", aber auch "Fabel, Sage, Gerücht" vom Elsaß bis Kärnten durchsetzte. Das Kompositum Sprichwort, wie Diebstahl und Tragbahre eine tautologische Wortbildung mit der Bedeutung "das viel gesprochene Wort", belegt generell die Herkunft der Sätze aus der Mündlichkeit, wobei die sprichwörtlichen Redensarten, Worte und Wendungen, die in einen Satz gefügt werden, von den Sprichwörtern heute nicht mehr zu trennen sind, seit 1780 Adelung die Ableitung sprichwörtlich mit dieser umfassenden Bedeutung für "alle im Volksmund verbreiteten Redensarten" eingeführt hat. Die Geschichte des Wortes Sprichwort, 10 die sowohl die Verbindung mit einer alten Tradition wie die Herkunft aus der Mündlichkeit in den ältesten Belegen wie ein altez gesprochen wort hat deutlich werden lassen, legt von hier aus die Frage nach ihrer soziokulturellen Funktion nahe. Sprichwort ist eine Äußerung von kulturellem Gedächtnis, 11 das weit in die Vergangenheit zurückreichen kann und sich in bestimmten einfachen Formen 12 wie Sprichwörtern äußert. Sprichwörter haben es von hier aus mit Gemeinsinn als Common Sense zu tun. Ihr Anliegen ist es, Solidarität des einzelnen mit dem Gemeinwesen durch Werte und Normen zu erzeugen, durch "Gelingensregeln des alltäglichen Zusammenlebens", eine "Axiomatik des kommunikativen Handelns" wie Assmann es genannt hat. Diese Funktionen des Sprichworts sind unter dem Begriff des Normativen zusammenzufassen. Sie geben auf die Frage eine Antwort "Was sollen wir tun?" Sie dienen von hier aus der Urteilsbildung, der Rechtsfindung wie der Entscheidung; sie vermitteln Orientierungswissen und weisen Wege zum rechten Handeln. Diese Funktionalität der Sprichwörter allgemein trifft für die Rechtssprichwörter im besonderen Maße zu und erklärt den hohen Anteil, den sie am Sprichwortgut haben, wie auch die Nachhaltigkeil ihrer Wirkung. Hier werden also Grundstrukturen des Rechts greif~ bar, die in der Mündlichkeil liegen und von hier aus den interkulturellen Vergleich von Volkern und Zeiten erlauben, ja geradezu herausfordern.

II. Die Verschriftlichung von Rechtssprichwörtern Die Frage nach der Herkunft der Rechtssprichwörter, nach ihrer Etymologie, wie man auch sagen kann, hat die Forschung lange vorrangig beschäftigt, ohne dass man hier von Seiten der Rechtshistoriker und Philologen zu eindeutigen 9 Trübners Deutsches Worterbuch Bd. VI, 1955, S. 489; Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Worterbuch, Nachdruck Bd. 17, 1984, Sp 62-69. 10 Kluge/Seebold, Etymologisches Worterbuch der deutschen Sprache, 22 1989, S. 691. II Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1997, S. 141 f. 12 Jolles, Einfache Formen, 5 1974.

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Ergebnissen und Erkenntnissen gekommen wäre. 13 Insofern sei im Folgenden nur ein Diskussionspunkt herausgegriffen: die denkbare Abhängigkeit deutscher Rechtssprichwörter von der gelehrten Rechtsregel, dem sogenannten Brocardum. Ferdinand Elsener 14 betonte diesen Zusammenhang mit der römischen Regularjurisprudenz und sah deshalb generell in den deutschen Rechtssprichwörtern "Memorialverse in Form eines registrierenden Kommentars zu einem bestimmten Faktum". Die Wissenschaftler, darunter auch der Germanist und Volkskundler Hermann Bausinger, 15 folgten ihm in dieser Auffassung. Die Tatsache, dass vor 1200 keine deutschsprachigen Rechtssprichwörter belegt sind, schien diese Auffassung zu stützen. Was ist hierzu anzumerken? Zweifellos gibt es eine Reihe von Regeln für rechtes Verhalten vor Gericht, die mit der Rezeption solcher regulae juris aus dem gelehrten römisch-kanonischen Recht und ihrer Einführung in den deutschrechtlichen Prozess zusammenhängen. Dies ergibt sich z. B. aus den lat./ dt. Parallelen wie Ein Zeuge-kein Zeuge I Unus testis-nullus testis oder Man muss auch die andere Seite hören/Audiatur et altera pars. 16 Daneben muss aber das Rechtssprichwort als eine einfache Form von Lehre und Unterweisung bereits bestanden haben, so dass es als ein Medium der zwischenmenschlichen Kommunikation zur Wissensvermittlung genutzt werden konnte. Diese erfolgte aber nur selten in Form einer wortwörtlichen Übersetzung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Satz Prior tempore potior jure 11 charakterisiert den Vorzug des Zuerstkommenden treffend. Er könnte bei der deutschsprachigen Rechtsregel "Welches urteils man von erst vraget, das sal man von erst vinden" (Ldr. I 62 § 8) Pate gestanden haben. 18 Indessen handelt es sich bei dem Prioritätsprinzip um einen so klaren, allgemeingültigen Grundsatz menschlichen Zusammenlebens, dass auch Entstehung unabhängig von einem Vorbild gelehrter Schriftkultur möglich erscheint, wie sie etwa in dem bekannten Mühlensprichwort Wer zuerst kommt, mahlt zuerst naheliegend ist. 19 Für dieses Rechtssprichwort, in dem das Prioritätsprinzip ebenfalls befolgt wird, gibt es in den sogenannten Sprüchen von Scheftlam (also außerhalb des gelehrten Schrifttums) schon Ende des 12. Jahrhunderts eine Entsprechung, die auf mündlicher Überlieferung beruhen muss.20 13 Kaufmann, HRG IV, Sp. 364-367 (wie Anm. 4). Zum Grundsätzlichen Weizsäcker, Rechtssprichwörter als Ausdrucksformen des Rechts, 1955, S. 9-40. 14 Elsener, Regula iuris, Brocardum, Rechtssprichwort, 1964; Foth, Gelehrtes römischkanonisches Recht in deutschen Rechtssprichwörtem, 1971. 15 Bausinger (wie Anm. 5). 16 Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 5 1991; Schott, Ein Zeuge, kein Zeuge, 1977. 17 Wacke, Wer zuerst kommt, mahlt zuerst- Prior tempore potior iure, 1981, S. 94-98. 18 Röhrich, Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 1991/92, S. 990f.; Ek, Den som kommer till kvarnsett ordsprak och dess bakgrund, Lund 1964, S. 1-60. 19 Qui capit ante molam, merito molit ante farinam, Nachweis bei Röhrich (wie Anm. 18) s. 990.

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Die Verschriftlichung des mündlich überlieferten und in Sitte und Brauch angewandten Gewohnheitsrechts setzt erst im 13. Jahrhundert mit den Rechtsbüchern ein. An erster Stelle ist hier der "Sachsenspiegel" zu nennen, der wohl zwischen 1224 und 1233 von dem sächsischen Freien Eike von Repgow aufgezeichnet worden ist und eine große Wirkung auf andere Rechtsbücher hatte, wie den Deutschenund Schwabenspiegel, das Kleine Kaiserrecht und den sogenannten Holländischen "Sachsenspiegel" bis weit in den mittel- und osteuropäischen Raum hinein. Im "Sachsenspiegel" haben sich über hundert Merksätze sprichwörtlichen Charakters nachweisen lassen. 21 Sie betreffen das Erb- und Familienrecht, das Nachbarschafts- und Dorfrecht, aber auch die Gerichtsverfassung oder das Verhältnis der Lehnsleute zum König wie untereinander. Häufig werden damit alte Institutionen angesprochen wie die Morgengabe, die ein Mann seiner Frau ohne Zustimmung der Erben nach der Brautnacht zuwenden konnte, in dem Satz (Ldr. I 20 § 9): Morgengabe mus ein wip wol behalden uf den heiligen ane getug, "Morgengabe kann eine Frau (gemeint ist die Witwe) behalten mit Eid ohne Zeugen". Diese Regelung reicht weit in die Zeit der Leges oder Stammesrechte zuriick, gehört also mit ihrem Wortschatz einer langen, mündlichen Tradition an, die an dieser Stelle in das Rechtsbuch eingegangen ist. Sätze wie diese, bei denen die Bestellung der Morgengabe als bekannt vorausgesetzt werden konnte, bedurften keiner weiteren Erklärung. Sie blieben im Sachsenspiegel kommentarlos. Sie sind durch unpersönliche Pronomina wie man oder swer ,jeder" allgemein gehalten und besitzen durch bestimmte Modalverben wie müssen, sollen, dürfen einen imperativischen Charakter: Man sal auch dem erbin gelden, was man deme toten schuldig was, "Man muss dem Erben bezahlen, was man dem Toten schuldig war" (Ldr. I 6 § 4). Meist haben diese Sätze, die aus einer längeren gewohnheitsrechtliehen Tradition stammen, eine Spitzenstellung, indem sie weiteren differenzierenden Regelungen vorangestellt sind. Ihre Zahl macht ein Viertel des Gesamtbestandes der Rechtsregeln im Sachsenspiegel aus. Eine ebenso umfangreiche Gruppe bilden die Rechtssprichwörter, bei denen ein undurchsichtig gewordener Begriff wie musteil "Speisevorrat" erklärt werden muss (Ldr. III 38 § 3) oder undurchsichtig gewordene Rechtsverhältnisse wie das der Vollgeschwister zu den Halbgeschwistern (Ldr. I 3 § 3) einer zusätzlichen Erläuterung bedürfen. Diese kommentierten Rechtssprichwörter entstammen wie die kommentarlosen meist einer älteren, mündlichen Tradition. Von den übrigen Stilgruppen der Rechtssprichwörter im Sachsenspiegel sollen hier nur noch die wenigen Merksätze genannt werden, in denen sich Eike mit sprichwörtlich gewordenen Meinungen auseinandersetzt, um sie schließlich abzulehnen. 22 Dass er auch hier auf die mündliche Überlieferung zuriickgreift, hat er 20 Lieberwirth, Die Wirkungsgeschichte des Sachsenspiegels, in: ders., Rechtshistorische Schriften, 1997, S. 427 -468; Lück, Über den Sachsenspiegel, 1999, S. 55-79. 21 Hierzu und zum Folgenden: Janz, Rechtssprichwörter im Sachsenspiegel, 1989. 22 Ebd. 497-521. Es handelt sich um insgesamt fünf Sätze. Zur Interpretation: SchmidtWiegand, Wissensvermittlung durch Rechtssprichwörter, 1993, S. 266f.; Eisenhart, Von dem

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selbst unverhohlen (Ldr. I 51 § 2) ausgesprochen. 23 Men seget, dat ken kint siner muder keves kint si, d. h. "Man sagt, dass kein Kind seiner Mutter Kebskind sei". Das Kebskind war ursprunglieh der Abkömmling24 einer unfreien Nebenfrau, dann das uneheliche Kind schlechthin. Ein (nicht belegtes) Sprichwort *Ken kint ist siner muder keveskint, auf das Eike hier anspielt, könnte die Gleichstellung der unehelichen Kinder mit den ehelichen in Bezug auf das Erbe der Mutter propagiert haben - eine Innovation, die aus dem römischen Recht kam und sich im Laufe des 13. Jahrhunderts nur zögerlich durchsetzte. Eike lehnt sie vehement ab, indem er zugleich nach dem Stand der Mutter zwischen ehelichen und adligen Kindern, unfreien Kindem und Kebskindem unterscheidet. Wesentlich ist in unserem Zusammenhang, dass auch hier wieder das Rechtssprichwort oder die Meinung, die es enthielt, mündlich vermittelt worden ist: Men seget, "man sagt". Wir fragen, wo und auf welche Weise erfolgte diese Vermittlung, und ich behaupte: Im Gericht, wo bei der Klageerhebung, bei der Verhandlung, bei Urteilstindung und Verkündung, bei Urteilschelte, Eid und Gelöbnis sprichwortähnliche Formeln in mannigfacher Weise verwendet werden konnten. Diese These habe ich Ihnen nun im dritten Teil meiner Ausführungen zu beweisen.

111. Rechtssprichwörter im Gericht Die Beispiele, die bisher angeführt worden sind, betrafen meist einfache, durchaus merkbare Regelungen für das richtige Verhalten in einer Rechtsgemeinschaft wie Dorf, Stadt oder ·Land. Es sind auch (wie die Brocarda) Memorial- oder Merksätze, die im Gericht jederzeit zitiert werden konnten, hierin den gelehrten Regulae juris durchaus verwandt. Das Verfahren selbst war zur Zeit des Sachsenspiegels ein streng formalisiertes mündliches Verfahren, das der Richter zwar zu leiten hatte, aber ohne an der Urteilstindung selbst unmittelbar beteiligt zu sein.25 Rede und Gegenrede der Parteien, der Schöffen bis zur Urteilsfrage des Richters, dem Urteilsvorschlag der Schöffen und dem Endurteil boten reichlich Gelegenheit für die Verwendung solcher Merksätze. Erst zu Anfang des 14. Jahrhunderts tritt neben das zunächst rein mündliche Verfahren die schriftliche Form der Anfrage mit der Bitte um Rechtsbelehrung an einen benachbarten Schöffenstuhl oder Oberhof. Die Antwort wurde aber dann im anfragenden Gericht wie ein selbstgefundenes Urteil mündlich behandelt und verkündet. Es überrascht nicht, dass sich so im "Sachsenspiegel" auch eine ganze Reihe von Sätzen findet, die sich auf den Richter und seine Amtsführung wie das mündBeweise durch Sprichwörter, Nachdruck 1962, S. 157 Anm. 6; Hillebrand, Deutsche Rechtssprichwörter, 1858, S. 23. 23 Eckhardt, Sachsenspiegel, Landrecht, S. 108; Janz, S. 498. 24 Kluge/Seehold (wie Anm. 10), S. 364; Strätz, Kebsehe, in: HRG II, Sp. 695f. 25 Buchda, Gerichtsverfahren, in: HRG I, Sp. 1551-1563.

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liehe Verfahren vor Gericht beziehen. Ein Teil dieser Merksätze ist zum Sprichwort geworden, das sich bis in die Gegenwart hinein gehalten hat, wie etwa Wo kein Kläger, da kein Richter. Es hat im "Sachsenspiegel" in einem noch sehr allgemein formulierten Satz Man sal nimande twingen zu keiner clage (Ldr. I 62 § 1) seinen Ausgangspunkt- gemeint ist auch hier der Richter. Oder die Regelung Der richter mag beide cleger unde richter nicht gesin (Ldr. III 53 § 2), die in dem Rechtssprichwort Kein Richter kann Richter und Kläger zugleich sein ihre heute noch gängige Fassung erhalten hat. Diese Sätze können die Ethik des Richterstandes überhaupt betreffen wie der Gleichheitsgrundsatz Der Richter muss allen Leuten ein gleicher Richter sein, ein Satz der ebenfalls im Sachsenspiegel (Ldr. III 30 § 2) sein Vorbild hat: Der richter sal ouch glich richter sin allen luten - ein Satz, der im Rahmen einer europäischen Rechtsvergleichung seinen Platz bis auf den heutigen Tag behauptet hat. 26 Dafür, dass Rechtssprichwörter im Gericht tatsächlich verwendet worden sind, gibt es in der Dichtung indirekte Zeugnisse. Hier sind vor allem die deutschen und niederländischen Bearbeitungen des altfranzösischen "Roman de Renart" um den Wolf Ysengrim und Reinhart Fuchs zu nennen, die für den Formalismus des Rechtsgangs vor der Rechtsbücherzeit und für den frühen Strafprozess höchst aufschlussreich sind.Z7 So hat der Elsässer Heinrich um 1191 I 92 den Stoff seiner Vorlage umgestaltet, 28 indem er den Aufbau seiner Erzählung der Abfolge von Fehde, Sühnevertrag und Gericht folgen ließ, wodurch der Hoftag des Königs auch durch die Verknüpfung mit der Erkrankung des Löwen in das Zentrum geriet und das Thema des Hochverrats in den Vordergrund trat. Die Wortwahl im Gericht, z. B. bei Hegung (V. 1325) und Ächtung (V. 1232 f.) ich verteile im ere vnd gvt, entspricht dabei dem, was auch in sehr viel jüngeren Rechtsquellen enthalten ist. 29 Zwischen 1230 und 1240- und damit kommt man in die Zeit des "Sachsenspiegels" - entstand in Gent eine mittelniederländische Fassung von Willem, einem Stadtschreiber und Kanzlisten geistlichen Standes, die für den mündlichen Vortrag bestimmt gewesen ist. 30 In ihm finden sich zahlreiche Paar- und Zwillingsformeln rechtlichen Inhalts wie recht ende ghnade (V. 67), ban ende vrede (V. 3436) und recht te nemene endete ghevene "Recht zu nehmen und zu geben", dem in lateinischen Quellen ein iustitiam facere et recipere entspricht. Diese Formel meinte die Unterordnung von Kläger und Beklagten unter das Gericht und seinen Urteilsspruch. In Willems Erzählung "Van den vos Reynaerde" ist die Formel in die 26 Schneider, Daz ein recht mac vromen. Der Sachsenspiegel, ein Rechtsbuch von europäischer Bedeutung, Wolfenbütteler Hefte 15, 1994. 27 Kaufmann, Deutsches Recht, 1984, S. 151-164; Schmidt-Wiegand, "Von den vos Reynaerde", Reinhart Fuchs und seine Verwandten, 1996, S. 81-93. 28 Düwel, Der Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich, 1984; ders., Heinrich, Verfasser des Reinhart Fuchs in: Verfasserlexikon Bd. 3, 21983, Sp. 660-677. 29 Widmaier, Das Recht im ,,Reinhart Fuchs", 1996. 30 Lulofs, Van den vos Reynaerde, 1983, insb. S. 43 - 46f. und 52f.

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Schilderung der Vorladung im Haus des Fuchses eingebunden. Ihre lateinischen Entsprechungen aber führen bis in das 6./7. Jahrhundert, bis zu den Schutzurkunden merowingischer Könige zurück, ohne dass sich dabei eine Herleitung aus dem römischen oder kanonischen Recht hätte nachweisen lassen. 31 Vielmehr haben das traditionelle Rügeverfahren und das neu aufkommende Inquisitionsverfahren auf den Gang der Erzählung von Willern Einfluss gehabt. Schließlich geht es in den Epen um mehrfachen Treuebruch und Hochverrat (crimen majestatis). Um Treuebruch und Verrat geht es auch im Sachsenspiegel (um von den Rechtserkenntnisquellen wieder zu den Rechtsquellen im engeren Sinne zurückzukehren). Im Lehnrecht (76 § 6) steht das Rechtssprichwort32 Herren und mannes valsehe rat Geliket wo! ungetruwer dat .. .

"Herren und Mannes falscher Rat gleicht der ungetreuen Tat." Die Regel betrifft, in ihrem Kontext gesehen, die Forderung gegenseitiger Treue zwischen dem Lehnsherrn und seinen Lehnsleuten und damit ein tragendes Prinzip des Lehnswesens wie der mittelalterlichen Lebensordnung überhaupt. In den mitteldeutschen Bilderhandschriften des "Sachsenspiegels", die aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammen, wird dieser Satz wie folgt illustriert. 33 Aus ihren Burgen brechen Herr und Mann an der Spitze bewaffneter Reiter hervor, bereit, einander mit Feuer und Schwert zu schaden. Der Herr ist durch seine farbige (grüne) Kleidung und dem Hersenier mit goldenem Schapel von den Mannen im braun-grauen Waffenrock, Hersenier und Eisenhut deutlich unterschieden. Allein der äußere Vorgang, der Angriff mit Waffengewalt, wurde ins Bild gesetzt, während die rechtliche Beurteilung des Verrats oder falschen Rats allein im Sprichwort zum Ausdruck kommt. Seine äußere Form, ein Stück Dichtung im Recht, das mit Endreim ausgestattet ist, dient hier zweifellos der Befestigung des Satzes im Gedächtnis. Hierfür bestand für die Benutzer des Textes in der Tat eine Notwendigkeit. Dies zeigt die Einrichtung der wohl besten Handschrift des "Sachsenspiegels" aus dem Jahr 1369, die Carl Gustav Homeyer seiner Ausgabe des Sächsischen Rechtes zugrunde gelegt hat. Es handelt sich um eine sehr gut geschriebene, besonders umfangreiche Handschrift, die wohl für Schöffen und Richter bestimmt gewesen ist und durch Randnotizen, sogenannten Marginalien mit Hinweisen auf einschlägige Parallelen im Rechtsbuch, die Urteilstindung unterstützen wollte. 34 Sie enthält auf 31 Krause, Mittelalterliche Anschauungen vom Gericht im Licht der Formel iustitiam facere et recipere, Recht geben und nehmen, 1974. 32 Eckhardt, Sachsenspiegel Lehnrecht, 3 1975, S. 116f.; Schmidt-Wiegand, Rechtssprichwörter und ihre Wiedergabe in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, 1980, S. 609f. Die Bestimmung soll nicht zur ältesten Fassung des Sachsenspiegels gehören. 33 Amira, Die Dresdener Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, 1902, fol. 90r 1; SchmidtWiegand, Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, 1993, fol. 84r 1. 34 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Mgf 10. Oppitz, Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters, Bd. II: Beschreibung der Handschriften, 1990, Nr. 110, S. 365 f.;

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Blatt llOv (s. Abb.), parallel zu dem Satzherren vnde mannesvalsehe rat. Geliket wo/ vngetruwer dat als Randnotiz die Worte Merke dat. Kein Zweifel: Hier wird das Rechtssprichwort zum Memorieren und Zitieren im situationsbedingten Zusammenhang empfohlen.

Eine Bestätigung für diese These findet man in einer bisher ungedruckten Handschrift des 16. Jahrhunderts der ehemaligen Stadtbibliothek Erfurt in Form einer Anweisung für rechtes und kluges Verhalten vor Gericht mit dem Titel "Processus in moelheusischen gericht, so man bei sanct joergen helt", also in einer der Vorstädte der freien Reichsstadt Mühlhausen, die dem Erzbischof von Mainz unterstand.35 Hier heißt es unter der Überschrift Von Vrteyl, nachdem der Rechtsgang B. Müller, Die Berliner Sammelbandschrift Mgf 10 und ihre Bedeutung für die überlieferungskritische Ausgabe des Sachsenspiegels, 1991. 35 UB Leipzig, Rep. V 25, fol. 176r-184r. Dazu Janz, Dan nach Sprichwortten pflegen die Bauren gerne zu sprechen, Proverbium 9, 1992, S. 81-106. 2 Scholler /Tellenbach

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mit seinen einzelnen Stationen erklärt worden ist und empfohlen wurde, den Rechtsgrund der Klage, obwohl Basis der Argumentation, doch erst am Ende der Ausführungen zu nennen: Wan die selben mennen (gemeint sind die Schöffen) auffgestanden, so sage ihnen worauf deyne sache stehet, und wan du kanst ein sprichwart anhengen, so thu eß, dan nach sprichwortten pflegen die bauren gerne zu sprechen (183r). Diese Angabe fußt wohl auf der Erfahrung des Autors und Schreibers, dass die regelmäßige sprichwörtliche Wiederholung eines Arguments besonders am Ende der Ausführungen für die Entscheidung im Urteil Wirkung haben kann, indem sie die Aufnahmefähigkeit und die Gedächtnisleistung der beteiligten Personen in eine bestimmte und zugleich gewünschte Richtung zu lenken vermag.

IV. Die ldiomatisierung von Rechtssprichwörtern Der "Sachsenspiegel" und seine Bilderhandschriften gehören in eine Zeit des Umbruchs, in der sich im Gefolge von Land- und Gottesfrieden ein neues Strafrecht herauszubilden begann und privates, öffentliches und gemischtes Recht auseinanderzutreten begannen, Neues neben Altem zu stehen kam. Waren Fehde und Blutrache auf die Vernichtung des Gegners gerichtet gewesen und wurden sie im frühen und hohen Mittelalter durch ein Bußen- und Sühnesystem notdürftig eingedämmt, so trat im beginnenden Spätmittelalter ein System öffentlicher Strafen hinzu, sogenannter peinlicher Strafen, die an Leib und Leben gingen. Einen Beleg für diese Entwicklung bieten die Bilderhandschriften des "Sachsenspiegels" mit ihrer Illustration zu Ldr. II 13 § I, 36 einer Zusammenstellung über Ungerichte, d. h. "Verbrechen", die mit dem Diebstahl und hier gleich mit einem Merksatz beginnt: den dip sal man hengen. Die Allgemeingültigkeit des Satzes wird durch den Deutschen- und Schwabenspiegel bestätigt, die ihn fast unverändert übernommen haben?7 Bei Eike gehört er zu den Sätzen, die eingeschränkt werden, indem nach der Schadenshöhe, nach dem Wert der gestohlenen Sache (weniger als drei Schillinge) und dem Zeitpunkt der Tat (am Tage) gefragt wird. Im Grunde ist dies bereits die Unterscheidung von großem Diebstahl (z. B. bei der Nacht) und kleinem Diebstahl (bei Tage), der zu einer Minderung der Strafe (z. B. in Form der Prangerstrafe) oder auch zur Ablösung durch Zahlung einer bestimmten Summe an den Bauermeister führen konnte. Der Illustrator der Bilderhandschrift hat beide Möglichkeiten der Bestrafung des Unrechtstäters in einem Bildstreifen zusammengefasst, indem am linken Bildaußenrand des 3. Bildstreifens der Galgen mit dem Gehenkten daran, mit Augenbinde und auf dem Rücken gebundenen Händen, dargestellt ist und auf der Bildinnenseite die Androhung der Prangerstrafe durch den Hier nach der Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels (Anm. 33), fol. 29r. Janz (wie Anm. 21) S. 453 f.; Nachweise auch bei Graf/Dietherr; Deutsche Rechtssprichwörter, 1869, S. 341- 362; Scheele, di sal man alle radebrechen. Todeswürdige Delikte und ihre Bestrafung in Text und Bild der Codices picturati des Sachsenspiegels, 1992. 36

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Büttel mit der Schere, beziehungsweise auch dem Brett für die Zahlung der Ablösungssumme an den Bauermeister als Minderung des Strafmaßes gezeigt wird. Die Frage, wie ein Dieb zu bestrafen sei, hat bis in die Zeit der Aufklärung und darüber hinaus die Öffentlichkeit wie die Juristen vom Fach wiederholt beschäftigt. Soll man den Dieb hängen? Unter diesem Titel hat Ekkehard Kaufmann unlängst auf Urteile der Göttinger Juristenfakultät hingewiesen, die Professor Georg Jacob Meister in den Jahren 1791 bis 1795 verfasst und für ein aufgeklärtes Publikum auch veröffentlicht hat. 38 Die Abkehr von der Todesstrafe und die Strafmilderung bei Diebstahl waren allgemein Antwort auf die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Tat und Strafe, die freilich eine Theorie zur Voraussetzung hatte, wonach die mildere Strafe generell auch die wirksamste ist. In unserem Zusammenhang kann darauf nicht näher eingegangen werden. Hingegen ist etwas anderes bemerkenswert: Die große Zahl der Rechtssprichwörter um den Dieb, Formen des Diebstahls und seine Bestrafung.39 Ihre Häufung beginnt in der Rechtsbücherzeit mit Merksätzen, ja führt hinter sie zuriick, wenn man die Spruchsammlung Freidanks, die "Bescheidenheit" (1. Hälfte 13. Jahrhundert)~ miteinbezieht: 40 Die diebe so1 man bähen, diu miuse in vallen vähen.

"Die Diebe muss man hängen, die Mäuse in Fallen fangen." Stehlen ist bei Hängen verboten, Wer zum Stehlen ist geboren, ist zum Hängen auserkoren; Wer nachts Korn stiehlt, verschuldet den Galgen sind Rechtssprichwörter, die Eingang in die

klassischen Sprichwörtersammlungen von Franck (1541), Eisenhart (1759), Graf/ Dietherr (1869), Wander (1867 -1880) u. a. gefunden haben. Und auch für Sammlungen aus jüngster Zeit hat sich feststellen lassen, dass Rechtssprichwörter mit dem Kernwort Dieb besonders zahlreich vertreten sind. In übertragener Bedeutung, versteht sich, wie dies nach der Beendigung der Diskussion über die Todesstrafe im allgemeinen und die Bestrafung des Diebstahls im besonderen allein möglich ist. Das Kernwort des Satzes, wie Pranger, Folter; Galgen, hengen oder Dieb, ist zum Bildspender geworden, zu einer Metapher, die eine Übertragung von einer rechtlichen Bedeutung zu einer allgemeinen Bedeutung ermöglicht hat: Jemanden auf die Folter spannen wird im Sinn von "Jemanden in höchste Erwartung setzen" gebraucht, Jemanden an den Pranger stellen entsprechend für ,jemanden öffentlich bloßstellen, dem Spott der Menge aussetzen" u. ä. Man spricht hier von einem Idiomatisierungsprozess,41 dem das Sprichwort unterworfen gewesen ist, der bei 38

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Kaufmann, Soll man den Dieb hängen?, 2000, S. 401-426. Schmidt-Wiegand, Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 1996, S. 68-73. Bezzenberger; Fridankes Bescheidenheit, 1872, Reprint 1962; Neumann, Freidank, in:

Verfasserlexikon (wie Anm. 28), Bd. 2, 1980, Sp. 897-903. 41 Schowe, Mit Haut und Haar (wie Anm. 2) 1994; Scheele, Strafvollzug und Illustration. Das Beispiel der Strafe zu Haut und Haar in den illuminierten Rechtsbücherhandschriften des Sachsenspiegels, 1997. 2*

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den Rechtssprichwörtern zu einer Aufgabe der rechtlichen Bedeutung zugunsten einer allgemeinen Bedeutung geführt hat, bei der dem einzelnen Sprachteilnehmer überhaupt nicht mehr bewusst ist, dass dem Sprichwort einmal eine rein rechtliche Bedeutung zugrunde gelegen hat wie etwa bei Aller guten Dinge sind drei die Zahl der Gerichtsversammlungen im Jahr, dann die Zahl der dreifachen Ladung etc., ehe durch die Verbindung mit der Drei als Glückszahl die Verallgemeinerung perfekt wurde. Dieser ldiomatisierungsprozess wird in der lebendigen Sprache in der Regel von der Entstehung immer neuer Varianten begleitet, die bis zu Spielformen vom Muster eines Freidank die diebe solman hO.hen! diu muise in vallen w1hen reichen. Ein Nährboden dafür sind die Mundarten, an denen man das Weiterleben von Rechtssprichwörtern bis in die Gegenwart hinein beobachten kann. Das gilt auch für das hier gewählte Beispiel den dip sal man hengen. Im Westfälischen42 knüpfen bestimmte Sagsprichwörter an die Vorstellung von der strengsten Bestrafung des Diebes an, wie die folgenden drei Beispiele zeigen: Nun leb wohl, saggte Pastour taum Deif, die ehanget wären salZ (Lüdenscheid) "Nun leb wohl, sagte der Pastor zum Dieb, der erhängt werden sollte." Oder: Iek bin oower dat Irdische erhaben, sech Dääf, daor hönk he an' n Galgen (Beesten) "Ich bin über das Irdische erhaben, sagte der Dieb, da hing er am Galgen." De Wieke fängt jä guet an, mende en Deiw, dau wörd he maundages upehangen (Lienen), "Die Woche fängt ja gut an, meinte ein Dieb, da wurde er montags gehenkt." Aber auch Rechtssprichwörter mit Grundanschauungen über Recht und Unrecht, die sich über Jahrhunderte gehalten haben wie Recht muss Recht bleiben (Psalm 94,15) erhalten in den Mundarten Varianten, wie im Westfälischen mit Recht mott Recht bliewen. Unrecht wedd min Dag kfn Recht (Vechta), "Recht muss Recht bleiben, Unrecht wird meine Tage (=niemals) Recht". Nimmt man heute ein modernes Sprichwörterlexikon zur Hand,43 so stößt man bereits auf den ersten Seiten auf eine Reihe von Sätzen, die durch ein bestimmtes Kernwort oder einen besonderen Kernbegriff wie Buße, Rache, Prozess, Klage, Eid ihre Herkunft aus dem Recht nahe legen. Abbitte ist die beste Buße, Auf Rach' folgt Ach, Je mehr Advokaten, je mehr Prozesse mögen hier als Beispiele genügen. Für den Laien ist dieser Zusammenhang nicht immer ohne weiteres zu durchschauen. Nur der juristisch geschulte Benutzer weiß, dass mit dem Kernwort Gerücht "Gerufe" in dem Sprichwort Gerücht ist der Klage Anfang ursprünglich die Verfolgung eines Handhafttäters mit Schreimannen gemeint gewesen ist. 44 Der Laie wird dem Satz, nachdem Gerücht die Bedeutung "mündlich verbreitete Nachricht" 42 Für die angeführten Belege ist Frau Dr. lrmgard Simon, Leiterin des Westfälischen Sprichwortarchivs bei der Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens in Münster zu danken. 43 Beyer, Sprichwörterlexikon, 1985. 44 Ebd. S. 40; Schmidt-Wiegand, Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter (wie Anm. 1), S. 133 f.

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angenommen hat, einen ganz anderen Sinn unterlegen.45 Das Rechtssprichwort hat durch seine ldiomatisierung, die bis in unsere Tage reicht, eine tiefgreifende, semantische Veränderung, eine Verallgemeinerung erfahren. Quellen und Literatur (Auswahl) I. Ausgaben, Fachenzyklopädien, Wörterbücher (nach Herausgebern geordnet) Adelung, J. G., Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Theil1-4, Zweite vermehrte und verbesserte Ausgabe, Leipzig 1793 ff., Nachdruck mit einer Einführung und Bibliographie von H. Henne, Hildesheim/New York 1970.

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Der Stellenwert von Sprichwörtern im rechtlichen Kontext bei dem Bantuvolk der Kerewe (Ostafrika) Von Wilhelm J. G. Möhlig*

I. Übersicht über das Thema In diesem Beitrag soll untersucht werden, welche Funktionen Sprichwörter und sprichwortähnliche Sentenzen im Rahmen afrikanischer Rechtsdiskurse erfüllen. Rechtliche Diskurse sind zumindest bei den Kerewe nicht nur auf Gerichte beschränkt, sondern kommen auch in alltäglichen Gesprächen, etwa beim Warenaustausch auf dem Markt oder bei Verhandlungen anlässtich der Anbahnung einer Heirat vor. Es liegt in der Natur des Gegenstandes "Sprichwort", dass sich die empirische Grundlage zu seiner Untersuchung auf Sprachtexte beziehen muss, die weit über den Wortlaut eines bloßen Sprichworts hinausgehen. Sprichwörter können in der Regel ohne den textlichen Zusammenhang, in den sie eingebettet sind, auch von einem einheimischen Hörer nicht verstanden werden. Der Kulturfremde, der sich mit afrikanischen Sprichwörtern befasst, benötigt außerdem zum Verstehen von Sprichwörtern einen sogenannten "Interpretationsrahmen". Dieser besteht im wesentlichen aus dem kulturellen, dem historischen und dem situativen Zusammenhang, in denen ein Sprichwort konkret verwendet wird. Einheimische Benutzer und Adressaten von Sprichwörtern handeln stets in diesen Kontexten. Es ist daher auch wenig fruchtbar, die Funktionen von Sprichwörtern - und darum geht es hier letztlich - auf einer allgemein-afrikanischen Ebene abzuhandeln. Diese Studie wird sich daher auf die Kerewe-Gesellschaft beziehen, zu der eine hinlänglich breite Sammlung von Sprichwörtern samt sprachlichen Kontexten vorliegt und deren Geschichte und Kultur ethnologisch gut erforscht ist (Hartwig 1971 ; Hartwig 1976; Kitereza & Möhlig 1991 u. 1993).

* Prof. Dr. Wilhelm J. G. Möhlig, Universität zu Köln.

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II. Die Kerewe: Wohngebiet, Kultur, Gesellschaft und Quellen 1. Wohngebiet, Kultur und Gesellschaft Die Kerewe (in einheimischer Sprache baKerewe genannt) sind ein bantusprachiges Volk von etwa 70-80.000 Individuen, das auf der Insel Ukerewe (alternative Schreibweise: Bukerewe) in Tansania, im Südostabschnitt des Viktoria-Sees lebt. Die Insel hat eine Ost-West-Ausdehnung von ca. 45 km. Ihre größte Strecke in nord-südlicher Ausdehnung beträgt nur 24 km.

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• Traditionell leben die Kerewe von Ackerbau und Haustierhaltung. Die Bewohner in Seenähe haben sich auf den Fang von Fischen spezialisiert, die sie an die Bewohner im Inneren der Insel verkaufen. Im 18. Jahrhundert waren die Kerewe als Elefanten- und Flusspferdjäger bekannt, so dass die Händler von der ostafrikanischen Küste bis nach Ukerewe kamen, um dort Elfenbein sowie Tran und Häute von Flusspferden gegen orientalische und europäische Handelswaren einzutauschen. Inzwischen sind die Elefanten auf der Insel völlig ausgerottet, und die Flusspferdpopulationen sind so weit zurückgegangen, dass sich eine auf sie spezialisierte Jagd nicht mehr lohnt. Die patrilinear strukturierte Gesellschaft wurde bis zur Unabhängigkeit Tanganyikas im Jahre 1962 von einem König mit ausgeprägten sakralen Eigenschaften und absolutistischen Attributen regiert. Ihm unterstanden eine Reihe von DorfHäuptlingen, die auch als Richter in erstinstanzliehen Gerichten fungierten. Im übrigen war die Kerewe-Gesellschaft in eine Oberschicht von Freien, und eine Unterschicht von Individuen mit eingeschränkten politischen Rechten stratifiziert. Diese gesellschaftliche Zweiteilung geht darauf zurück, dass die Vorfahren des Königs und die der Oberschicht, in der örtlichen Geschichte als Volk der Sese

Der Stellenwert von Sprichwörtern bei dem Bantuvolk der Kerewe

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bekannt, in der Mitte des 17. Jahrhunderts vom Westufer des Viktoria-Sees aus die Insel besetzten und die Vorbewohner, die vor allem zu den Volksgruppen der Kara und Jita gehörten, unter ihre Herrschaft brachten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts missionieren Weiße Vater aus Montreal (Kanada) die Inselbewohner und machen sie mit westlicher Bildung vertraut. Vor allem ihrer Initiative ist die Sammlung des Quellenmaterials, das dieser Studie zugrunde liegt, zu verdanken.

2. Das Quellenmaterial Der ursprüngliche Sammler des Sprichwortgutes ist Aniceti Kitereza (18961981). Er schuf auf Veranlassung der Weißen Vater in der ersten Hälfte der 40er Jahre zwei Roman-Manuskripte, die dem Genre des ethnographischen Romans, einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion, zuzurechnen sind. Diese in einheimischer Sprache, d. h. in kiKerewe verfassten Texte enthalten etwa 200 Sprichwörter und sprichwortähnliche Sprüche, die jeweils in längere Diskurse und Situationsbeschreibungen eingebettet sind. Es handelt sich damit genau um die Art von Quellenmaterial, die sich jeder Sprichwortforscher optimal wünscht. In den Texten finden sich u. a. Beschreibungen ganzer Rechtsfälle sowie zahlreiche Diskurse über rechtliche Alltagsthemen. Sie bilden im engeren Sinn das QuellenmateriaL Es gibt von dem Material eine swahilisprachige Version, die der Autor selbst angefertigt hat. Außerdem wurden die beiden Romane in mehrere europäische Sprachen, nämlich ins Französische (Pater Almas Simard \ ins Deutsche (Wilhelm J. G. Möhlig2 ), ins Niederländische3 (Anita Ketels) übersetzt. Die hier vorgelegten Analysen beziehen sich stets auf die von Kitereza ursprünglich in kiKerewe niedergeschriebene Fassung. Die Urfassung, insgesamt 600 Schreibmaschinenseiten, wurde von Kitereza bereits 1945 fertiggestellt Der kanadische Missionar Pater Almas Simard fertigte davon bis zu seinem Tod im Jahre 1954 eine französische Übersetzung an, die allerdings niemals publiziert wurde. Wahrscheinlich auf Anraten des amerikanischen Ethnologen-Ehepaars Charlotte und Gerald Hartwig, das 1968 ein Jahr lang zu Feldstudien auf der Insel Ukerewe weilte, übersetzte Aniceti Kitereza den Text innerhalb eines Jahres ins Swahili (Hartwig, Charlotte M. & Gerald W. 1972). Es entstanden 874 handgeschriebene Seiten, die nach längeren Verhandlungen schließlich dem Tanzania Publishing House zur Veröffentlichung übergeben wurI Der erste Teilroman wurde offenbar weitgehend auf der Grundlage der deutschen Fassung von Sirnon Bagumo Mweze und Olivier Barlet 1997 nochmals ins Französische übersetzt und bei L'Harrnattan veröffentlicht. 2 Der erste Teilroman erschien 1991 unter dem Titel ,,Die Kinder der Regenmacher" und der zweite Teilroman 1993 unter dem Titel "Der Schlangentöter" beim Peter Hammer Verlag, Wuppertal. 3 Diese Übersetzung betrifft nur den ersten Teilroman. Sie lehnt sich mit ausdrücklicher Billigung des deutschen Bearbeiters ebenfalls an die deutschsprachige Fassung an.

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den. Das war in den 70er Jahren, als Tanzania seine bisher tiefste Wirtschaftsdepression durchlebte. Nicht nur Nahrungsmittel waren knapp, es gab auch kein Druckpapier oder Druckerschwärze, um das Manuskript Kiterezas im Lande drucken zu können. Die Chinesen nahmen sich des Projekts an, und so konnte der Doppelroman während des Jahres 1980 in China als zweihändiges Buch hergestellt werden. Als die ersten Exemplare im Mai 1981 per Schiffspost nach Tansania gelangten, war Aniceti Kitereza gerade 14 Tage vorher, d. h. am 20. 4. 1981, in Ukerewe 85jährig, völlig verarmt und vereinsamt gestorben.

111. Grundbegriffe der semantischen Sprichwortforschung 1. Klärung des BegritTs "Sprichwort" Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition der sprachlichen Ausdrucksform, die wir im Deutschen als ,,Sprichwort" bezeichnen. Bei Gero v. Wilpert (1989, S. 879 ff.) findet sich unter dem Stichwort ,,Sprichwort (Proverb)" folgender Eintrag: " ... [ein] im Volksmund verbreiteter, volkstümlich und leicht fasslich formulierter ... Spruch von kurzer, geschlossener, oft durch Rhythmus, Alliteration oder Reim gebundener und über die Alltagssprache erhobener Form zum Ausdruck einer allgemein anerkannten Lebenslehre, -weisheit und -erfahrung oder einer Sittenlehre in bildstarkem sprachlichem Gleichnis, das die Schärfe direkter Aussage mildert und den sinnlichen Einzelfall dem gegenständlichen Denken einfügt."

Die sehr dichte Formulierung enthält folgende sechs Elemente: 1Verbreitung im Volksmund, 2kurze und einfache Formulierung, 3gebundene Sprache, 4 Bildhaftigkeit, 5Ausdruck einer Lebenserfahrung oder einer sittlichen Maxime und 6die rhetorische Funktion, einer Aussage die Schärfe zu nehmen, den derselbe Inhalt in Alltagssprache haben würde. Diese Merkmale treffen sicherlich auf einen zentralen Bereich vor allem des deutschen Sprichworts zu. Aus afrikanistischer Sicht ist jedoch zu bemängeln, dass alle von der Prämisse ausgehen, als sei der Wortlaut eines Sprichworts schon ein vollständiger Sinnträger, der sich einem Adressaten ohne weitere Kontextangabe erschließt. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass dies gelegentlich der Fall sein kann. - Gerade die Gruppe der Rechtssprichwörter fällt mehrheitlich unter die Kategorie der aus sich heraus verständlichen Sprichwörter. - Die meisten Sprichwörter stellen jedoch, wie gleich noch näher auszuführen sein wird, jeweils nur ein sprachliches Teilelement unter mehreren innerhalb eines längeren Textes dar. Ganz überwiegend tragen der einhüllende Text und das Sprichwort gemeinsam den Sinn, der in einem konkreten Diskurs vom Sprecher ausgedriickt werden soll. Ruth Finnegan4 , eine international anerkannte Autorität in Fragen der oralen Literatur Afrikas, bietet folgende Definition an: 4

Oral Literature in Africa, OUP 1976, repr. 1978, 393.

Der Stellenwert von Sprichwörtern bei dem Bantuvolk der Kerewe

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"It is a saying in more or less fixed form marked by ,shortness, sense, and salt' and distinguished by the popular acceptance of the truth tersely expressed in it."

Finnegan's an und für sich griffige Definition lässt sich bei näherem Zusehen auf nur zwei Elemente reduzieren: 1Formelhaftigkeit, d. h. feststehender, kurzer Ausdruck, verbunden mit Sinngehalt, und 2allgemeine Akzeptanz, nämlich dass der mit der Sprachform verbundene Sinngehalt in der betreffenden Sprachkultur eine weite Geltung habe. Auffällig ist, dass in dieser am Aspekt der Wortkunst ausgerichteten Definition sowohl das Element des gleichnishaften Inhalts als auch ein Hinweis auf die Diskursabhängigkeit fehlen. Aufgrund langjähriger Beschäftigung mit afrikanischen Sprichwörtern in vielen Wortkulturen Afrikas kommt es vor allem auf folgende vier definitorische Konstituenten an: 1. die formelhafte syntaktische Struktur,

2. der oft metaphorische, bildhafte oder gleichnishafte Inhalt, 3. die Kontextabhängigkeit des Sinns, 4. die konventionelle Geltung von Sprichwörtern. Zu jedem dieser Konstituenten wird in den folgenden Unterabschnitten ein Beispiel mit einer Erläuterung gegeben. a) Formelhafte syntaktische Struktur

Die Sprichwörter in Afrika weisen ähnliche Strukturen auf wie die deutschen Sprichwörter. Sie bestehen meistens nur aus einem einzigen Satz oder auch nur aus einer Anreihung von Wörtern, die syntaktisch nicht einmal zu einem vollständigen Satz verbunden sind. Reime - Wortreime, Tonreime - und Rhythmik spielen, wohl aus mnemotechnischen Gründen, eine Rolle, sind allerdings kein konstitutives Merkmal für das Genre "Sprichwort" an sich. Man vergleiche zur syntaktischen Form das typische Sprichwort: (1)

EliUbata likuga, elikdr'aho liz{mb'enda. Wer läuft der findet, wer sitzen bleibt dem bläht [sich] der Leib. Das heißt: Wer sucht der findet. Wer rastet, der rostet.

Das Sprichwort hat erkennbar zwei prosodische Phasen, die nach dem Komma durch eine kurze Pause markiert sind. Beide Phasen gleichen sich in der Abfolge der Ton-Akzente und erzeugen so einen bestimmten Rhythmus. Außerdem beginnen beide Phasen syntaktisch mit dem Relativpronomen eli-, was zu einer Alliteration der beiden Teile führt. Häufig werden in Afrika Zitate von Sprichwörtern durch bestimmte Floskeln eingeleitet, so auch bei den Kerewe:

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nimw6 abakuru bagtimbirire btiti: Hierzu die Altvorderen sagten dass: [hier folgt das Zitat eines Sprichworts]

An dieser recht stereotyp gebrauchten Text-Markierung kann jedenfalls auch ein Kulturfremder Sprichwörter leicht erkennen. Es bleibt festzuhalten, dass afrikanische Sprichwörter, auch wenn es in den Wortkulturen häufig keinen eigenen Terminus dafür gibt, an ihrer Form sowie ihrer unmittelbar vorausgehenden textlichen Umgebung meistens gut erkennbar sind. b) Gleichnishafte Bedeutung (Inhalt)

Das Merkmal "gleichnishafte (metaphorische) Bedeutung" ist zwar optional, d. h. nicht zwingend für das Genre "Sprichwort", kommt aber trotzdem sehr häufig vor. Von den Einheimischen selbst wird es im Zusammenhang mit Sprichwörtern als ein charakteristisches Merkmal der Wortkunst und des Wortwitzes angesehen, das man auch in anderen Sprachformen als dem Sprichwort antreffen kann und was man wohl am besten den allgemeinen Stilmitteln afrikanischer Wortkunst und Rhetorik zuordnet. Unter dem Gesichtspunkt der Gleichnishaftigkeit lassen sich die Sprichwörter nicht nur bei den Kerewe5 in drei Arten einteilen: 1. Die einen stellen im Wortlaut eine Analogie zwischen einem alltäglichen Sachverhalt und einem sachverhaltsfremden Gegenstand her. Wir bezeichnen sie als "analogische Sprichwörter". 2. Die anderen, von uns "gleichnishafte Sprichwörter" genannt, stellen in ihrem gesamten Wortlaut ein Gleichnis dar. 3. Neben den analogischenund gleichnishaften Sprichwörtern gibt es in geringer Zahl Sprichwörter, die ihren Sinn, zumindest für Einheimische, ohne Interpretation unmittelbar zum Ausdruck bringen. Wir bezeichnen sie als "nicht-metaphorische Sprichwörter". Analogische Sprichwörter Zu dieser Gruppe gehört m.E. folgendes Beispiel: (3)

Ekigambo ni muti, bagusuma ha bandi. Das Wort ist wie eine Medizin, die für verschiedene Dinge verwendet wird.

s Man vergleiche dazu beispielsweise die Sammlung amharischer Sprichwörter bei SchaUer 1984, 153 ff., wo zwar unter dem Gesichtspunkt der Funktion eine andere Dreiteilung vorgenommen wird, das Korpus in seiner Gesamtheit sich aber entsprechend seiner metaphorischen Anteile ebenfalls die hier vorgeschlagene Einteilung subsumieren lässt.

Der Stellenwert von Sprichwörtern bei dem Bantuvolk der Kerewe

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Thema dieses Sprichworts ist das Konzept "Wort". Das damit qualitative Aussage verbundene Konzept ..~edizin" gehört deutlich einem anderen semantischen Feld an, das im Alltag mit dem Konzept "Wort" nicht kompatibel ist. Die metaphorische Brücke zwischen beiden ist aus der Sicht der Kerewe m.E. folgendermaßen zu konstruieren: So wie eine Medizin heilen oder vergiften kann, so kann ein Wort sowohl Gutes bewirken, z. B. trösten oder ermuntern, als auch schaden, z. B. durch üble Nachrede und Beleidigung oder - was im afrikanischen Kulturkontext viel schwerwiegender ist, durch Verfluchen. Das Gleichnis wird hier vom Wortlaut des Sprichworts selbst nach der syntaktischen Strukturformel X = a6 hergestellt, so wie man etwa auch den unmetaphorischen Aussagesatz "Halima ist ein Mädchen" bilden würde. Vergleicht man beide Sätze miteinander, wird man erkennen, dass sich der unmetaphorische Aussagesatz von der Gleichsetzung zwischen ,;Wort" und "Medizin" ganz wesentlich dadurch unterscheidet, dass das analogische Sprichwort auf Seiten des Adressaten, ähnlich wie ein Rätsel, notwendigerweise der Interpretation bedarf. Gleichnishafte Sprichwörter Als Beispiel für Sprichwörter, die insgesamt ein Gleichnis darstellen, sei das folgende Sprichwort aus dem Kerewe zitiert: (4)

Ahalala niwe ailira ha muliro.

Der vor Kälte Zitternde rückt ans Feuer.

Auf den ersten Blick drückt dieser Satz eine allgemeine Lebenserfahrung aus. Der Textzusammenhang, in dem dieses Sprichwort verwendet wurde, hat jedoch weder etwas mit Kälte und Frieren noch mit einem wärmenden Feuer zu tun. Wenn man voraussetzt, dass der betreffende Diskurs sinnvoll ist, kann man nur folgern, dass das Zitat des Sprichworts ein Gleichnis darstellt. In der Tat wollte der Benutzer dieses Sprichworts mit diesem Zitat seinen unverhofften Besuch beim Angesprochenen erklären bzw. rechtfertigen. Er befürchtete nämlich, bei diesem mit einem früher geäußerten Anliegen in Vergessenheit zu geraten. Setzt man diese Situation voraus, erkennt man auch als Kulturfremden das Gleichnis. Der Sprecher setzt sich mit einem vor Kälte Zitternden gleich und den Angesprochenen mit einem wärmenden Feuer. So wie es sinnvoll ist, dass ein Frierender näher ans Feuer rückt um sich aufzuwärmen, so erscheint es dem Besucher sinnvoll, den Angesprochenen zu besuchen. Das Bild soll außerdem die soziale Konstellation zwischen beiden veranschaulichen. Der Sprecher befindet sich in der Position eines Bittstellers, und der Angesprochene in der Position eines Menschen, der aus der Sicht des Sprechers etwas geben kann. Der weitere Verlauf des Diskurses bestätigt diese Interpretation, denn der Besucher bittet den Adressaten des Sprichworts kurz darauf auch im Klartext, 6

Wobei X den Kern der Aussage repräsentiert, und a die ihm zugeordnete Eigenschaft.

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endlich sein Werben um dessen Tochter zu erhören und ihm diese zur Frau zu geben. Im Unterschied zur vorgenannten Gruppe stellen hier alle Teile des Sprichworts gemeinsam eine Metapher, ein Gleichnis dar, während bei den analogischen Sprichwörtern nur die Qualitätsaussage metaphorischen Charakter hat, der Aussagekern aber als real verstanden werden soll. Nicht-metaphorische Sprichwörter Es wurde bereits erwähnt, dass es neben den gängigen Typen von analogischen und gleichnishaften Sprichwörtern auch eine vergleichsweise geringe Anzahl von Sprichwörtern gibt, die ihren Sinn - auf jeden Fall für einen Einheimischen - unmittelbar erkennen lassen. Dazu gehören insbesondere die Sprichwörter, die einen Rechtsgrundsatz ausdrücken. Man vergleiche folgendes Beispiel: (5)

Akanyama marungu, akahu mu bakama.

Das Fleisch [verbleibt] im Busch, das Fell beim König.

Der hiermit ausgedrückte Rechtsgrundsatz besagt, dass ein Jäger das Fleisch eines getöteten Leoparden oder das einer anderen Raubkatze zwar im Busch zurücklassen kann, weil es von Menschen nicht gegessen wird, dessen Fell aber bei Strafe unbedingt beim König ausliefern muss, weil dieser das alleinige Verwertungsrecht daran hat. Das Sprichwort als solches enthält für einen Einheimischen bereits die gesamte RechtsregeL Der Fremde muss lediglich aus dem kulturellen Inventar der Kerewe das Wissen beziehen, dass sich dieser Rechtssatz nur auf Raubkatzen bezieht. c) Abhängigkeit des Sinns vom jeweils aktuellen Kontext

Es handelt sich bei dieser Konstituente m.E. überhaupt um das wichtigste Merkmal von Sprichwörtern. Diese haben nämlich nicht nur eine sprachliche Form und eine Bedeutung, sie haben zusätzlich zu diesen zwei Komponenten auch einen Sinn. Wahrend die sprachliche Form und der unmittelbar davon getragene Inhalt wie die zwei Seiten einer Münze eine mehr oder weniger vorgegebene Einheit bilden, ist der Sinn eines Sprichworts abhängig vom jeweiligen aktuellen Gebrauch. Was erfahrungsgemäß in diesem Zusammenhang Verständnisschwierigkeiten bereitet, ist die begriffliche Unterscheidung von "Bedeutung" und "Sinn", da beide Ausdrücke im Deutsch umgangssprachlich oft als inhaltlich identisch verwendet werden. Nach der hier vertretenen Auffassung7 handelt es sich bei "Bedeutung" um sprachliche Inhalte, die konventionell mit bestimmten Formen verbunden sind und zwar losgelöst von ihrer praktischen Verwendung. Bedeutungen werden je 7

Möhlig 1986; ders. 1994.

Der Stellenwert von Sprichwörtern bei dem Bantuvolk der Kerewe

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nach Sprachmodell zur Tiefenstruktur gerechnet und werden typischerweise auch für einen Nicht-Linguisten im Lexikon bzw. im Wörterbuch aufgelistet. In Zweifelsfallen zieht man ein solches Werk zu Rate, um sich über die Bedeutung eines bestimmten Wortes zu informieren. Bedeutungen, eng mit bestimmten Formen verbunden, sind sozusagen die Fertigbauteile der Sprache, unabhängig von ihrer praktischen Verwendung. Erst bei ihrer Benutzung in einer konkreten Gesprächssituation, d. h. in einem aktuellen Diskurs, werden sie mit einem bestimmten Sinn, im Falle längerer Textabschnitte, mit einer Botschaft versehen. Wir unterscheiden in dieser sogenannten pragmatischen, d. h. die Lebenssachverhalte angewandten Perspektive der Art nach mehrere sinngebende bzw. sinngestaltende Kontexte. Besonders wichtig sind folgende: 1. die konkrete Situation, der sogenannte situative Kontext,

2. der Textkontext, d. h. die Einbettung eines Sprichworts in einen Diskurs,

3. der kulturelle und gesellschaftliche, evtl. auch der historische Kontext. Beim situativen Kontext sprechen wir die konkrete Situation an, in der ein Sprichwort zitiert wird. Fragen, ob es sich dem Charakter nach um ein Streitgespräch, eine Gerichtsverhandlung oder ein belehrendes Gespräch handelt, gehören hierher. Wir schauen unter dem pragmatischen Gesichtspunkt auch auf die Akteure des Diskurses, wer ein bestimmtes Sprichwort zitiert und wer der Adressat ist. Um die Bedeutung des situativen Kontextes für die Interpretation des Sinns zu veranschaulichen, sei ein Sprichwort herangezogen, zu dem im Kerewe-Material zwei Fallgeschichten vorliegen. Aus ihnen lassen sich zwei unterschiedlich Sinngebungen desselben Sprichworts ableiten. (6)

Ekilya isoke, kilya n'obwongo. Was die Haare frisst, frisst auch das Gehirn.

Die erste Fallgeschichte betrifft einen rechtlichen Diskurs. Es geht dabei um eine Gerichtsverhandlung, in der eine Frau von den Verwandten ihres Ehemannes der Zauberei beschuldigt wird. Ihre eigenen Verwandten, die ihr im Prozess beistehen, verlangen, dass ein Wahrsager als Gutachter hinzugezogen wird. Dieser bringt durch seine Kunst ans Licht, dass die Kläger selbst die Beschuldigte verzaubert haben. Die Verwandten der Frau fordern die falschlieherweise Beschuldigte daraufhin unter Zitieren des obigen Sprichworts auf, ihre Ehe aufzugeben und sich sofort von ihrem Ehemann und dessen Familie zu trennen. Ihre Vorstellung ist, dass die Sippe des Mannes der Frau mit ihren Machenschaften bisher nur gesundheitlich geschadet hat. Es ist aber zu erwarten, dass sich die Sippenangehörigen des Mannes damit nicht begnügen und nicht rasten werden, bis am Ende die Frau getötet ist. Man beachte, dass es sich beim Gebrauch des Sprichworts in dieser Situation nicht nur um rechtliche Zusammenhänge handelt, sondern darüber hinaus um die rechtlich relevante Begrundung für die Scheidung einer Ehe. 3 Scholler /Tellenbach

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In der zweiten Fallgeschichte zitiert eine Mutter das betreffende Sprichwort, um ihre erwachsenen Kinder von der Schwere der Erkrankung des Familienoberhauptes zu überzeugen und, obwohl es tiefe Nacht ist, sie zum sofortigen Herbeiholen eines Arztes zu veranlassen. Der Sinn des Sprichworts ist im Zusammenhang der zweiten Fallgeschichte, dass die äußeren Symptome der Erkrankung bereits so bedrohlich sind, dass der weitere Verlauf der Krankheit unweigerlich zum Tode des Erkrankten führen wird, falls es nicht sofort zur Einleitung einer Heilbehandlung kommt. Dasselbe Sprichwort hat in diesem Zusammenhang keinerlei rechtliche Aussage. Es soll nur die offenbar noch Unentschlossene zum sofortigen Handeln veranlassen. d) Konventionelle Geltung

Sprichwörter kann man als Individuum nicht erfinden. Sie gehören zum tradierten Allgemeingut der eigenen Wortkultur, das man mit der Sprache und anderem Kulturwissen während der Kindheit und Jugend erlernt. Im Kerewe lässt sich die konventionelle Geltung eines Spruchs auch daran erkennen, dass das Zitat eines Sprichworts meist mit der Formel nimwo abakuru bagambirire bati "Wie unsere Altvorderen sagten" eingeleitet wird. Dem sich anschließenden Wortlaut des Sprichworts wird auf diese Weise eine lange Tradition und zugleich auch das Gütesiegel der Bewährung verliehen, wodurch die normative Kraft des betreffenden Spruchs zweifellos erhöht wird.

IV. Diskussion einzelner Typen von Rechtssprichwörtern bei den Kerewe Schaut man in den dokumentierten Rechtsdiskursen auf die Funktionen, welche die Sprichwörter dort erfüllen, kann man die folgenden vier Kategorien ableiten: 1. Sprichwörter, die Zitat eines Rechtsgrundsatzes sind, materiell-rechtlicher oder prozessrechtlicher Art8 ; 2. allgemeine Sprichwörter, die der rechtlichen Argumentation dienen; 3. Sprichwörter, die eine stilistische bzw. rhetorische Funktion erfüllen; 4. Sprichwörter, die einen wahren Sachverhalt verschleiern sollen. Zu jeder dieser vier Kategorien soll im folgenden ein Beispiel mit einer kurzen Erläuterung gegeben werden.

8

Vgl. Scholler 1984, 147ff. entspricht dort der Gruppe II.

Der Stellenwert von Sprichwörtern bei dem Bantuvolk der Kerewe

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1. Sprichwörter, die von sich aus bereits einen rechtlichen Inhalt tragen Ein eindeutiges Beispiel für die erste Kategorie dürfte folgendes Sprichwort sein: (7)

Owiake, tahendwa mukono Einem Eigentümer wird die Hand nicht gebrochen.

Zum Verständnis dieses Sprichworts muss man aus dem kulturhistorischen Kontext lediglich die Kenntnis haben, dass die traditionelle Bestrafung für einen Dieb darin bestand, ihm die rechte Hand zu brechen bzw. zu verkriippeln. Ansonsten ist das Sprichwort aus sich selbst heraus eindeutig verstehbar. Sein in allen Kontexten vermittelter Sinn besteht darin, die alleinige und ausschließliche Sachherrschaft des Eigentümers als Maxime des traditionellen Kerewe-Rechts zu formulieren. Auch wenn sich die Bestrafungsformen für den Dieb längst geändert haben, wird dieser Rechtsgrundsatz weiterhin durch das Sprichwort ausgedrückt. Die historische Erinnerung, die jedem einheimischen Kerewe als Interpretationsrahmen zur Verfügung steht, verhindert, dass das Sprichwort in den Bereich der gleichnishaften Sprichwörter absinkt. Aus dem Quellenmaterial liegt zu diesem Sprichwort folgende Fallgeschichte vor: Die Fischer der Insel Kerewe haben aufgrund ihrer geringen Zahl gegenüber der mehrheitlich von Landwirtschaft lebenden Bevölkerung eine Art Monopol beim Verkauf ihrer Fische. Denjenigen, der Fische von ihnen erwerben will, pflegen sie im allgemeinen arrogant und abweisend zu behandeln, so dass dieser sich recht erniedrigen muss, um von ihnen die begehrte Ware zu erwerben. Anlässlich einer solchen Verhandlung zwischen einem Fischer und einem Kaufwilligen wird letzterer wegen dieser Arroganz der Fischverkäufer zornig. Er wird jedoch von seinem Nachbarn, der als Zeuge zu dem Kauf mit hinzugezogen worden ist, durch das Zitat des Sprichworts auf die stärkere Rechtsposition des Verkäufers hingewiesen und damit zur Geduld und indirekt zur Einhaltung des Rechtsfriedens ermahnt.

2. Allgemeine Sprichwörter, die der rechtlichen Argumentation dienen Wie bereits oben dargelegt wurde, haben Sprichwörter nicht nur eine Form und eine Bedeutung, sondern sie haben unabhängig von diesen zwei Komponenten auch einen Sinn. Bei vielen Sprichwörtern ergibt sich der rechtliche Charakter erst aus der kontextuellen Sinnzuweisung. Auch in solchen Fällen handelt es sich um Rechtssprichwörter, aber- anders als bei der zuvor besprochenen Kategorie - eben um solche, denen erst der konkrete Zusammenhang der Fallgeschichte diese Eigenschaft verleiht. Zur Veranschaulichung sei das folgende gleichnishafte Sprichwort zitiert: 3*

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lbega tilikira mutwe. Die Schulter ragt nicht über den Kopf hinaus.

Die übertragene Bedeutung dieses Sprichworts bezieht sich ganz allgemein auf einen sozialen Sachverhalt, nämlich auf die soziale Rangordnung. Das Oberhaupt einer Gruppe, im Sprichwort sinnbildlich der Kopf, hat das Sagen und nicht etwa eines der nachgeordneten Mitglieder, im Sprichwort bildhaft die Schulter genannt. Dieses Sprichwort ist in folgende Fallgeschichte eingebettet: Nach dem Ableben des Familienvaters übernimmt sein einziger Sohn die Führung des Gehöftes. Er hat noch eine jüngere Schwester, die er verheiraten möchte. Als entsprechende Bewerber um die Hand der Schwester anhalten und mit dem Sohn des verstorbenen Familienvaters in Verhandlungen eintreten, um einen Ehevertrag abzuschließen, interveniert die Witwe des Verstorbenen mit dem Sprichwort "Die Schulter ragt nicht über den Kopf hinaus." Sie bestreitet damit dem Sohn die Legitimation, im Namen der Familie für seine Schwester einen Ehevertrag abschließen zu können. Es leben nämlich noch mehrere Brüder des verstorbenen Vaters. Der Älteste von ihnen hat nach einhelliger Rechtsvorstellung vom Verstorbenen die Vertretungsmacht für die gesamte Großfamilie geerbt. Folglich müssen die Verhandlungen auch mit ihm geführt werden. Der Sinn des Sprichworts bezieht sich hier eindeutig auf einen rechtlichen Kontext, indem es in einem konkreten Zusammenhang feststellt, wer die Vertretungsmacht in Familienangelegenheiten, d. h. konkret beim Abschluss eines Ehevertrags zwischen zwei Großfamilien, innehat. Der Sinn des betreffenden Sprichworts muss aber nicht immer rechtlicher Natur sein. Man kann sich auch andere Sachverhalte vorstellen, in denen sich das Sprichwort nur auf die soziale Rangordnung ohne rechtlichen Hintergrund bezieht, zum Beispiel wenn ein Jugendlicher, der in die Flegeljahre gekommen ist, von seinen Eltern durch Zitat dieses Sprichworts ermahnt wird, seine Pläne stets mit dem Familienoberhaupt abzustimmen.

3. Sprichwörter, die aus rhetorischen Gründen im Rechtsdiskurs verwendet werden Zur Gruppe der Sprichwörter, die im rechtlichen Kontext zitiert werden, ohne selbst einen Rechtssinn zu tragen, findet man in allen Wortkulturen die meisten Belege. Sie erfüllen allgemein rhetorische Funktionen, etwa um einem Argument die Schärfe zu nehmen oder einen komplizierten Sachverhalt zu veranschaulichen, d. h. für die Gesprächspartner leichter fasslich zu machen. Als Beispiel für diesen Sachverhalt sei folgendes Sprichwort zitiert: (9)

Enzoga tesiga kigambo. Der Bierkrug behindert nicht die Rede9 .

9 Kitereza (1980, 31) hat in seiner Swahili-Übersetzung selbst folgende Interpretation von dem Sprichwort gegeben: Malulli palipo na pombe, lulpafichi siri! "Der Ort, an dem es Bier gibt, verbirgt nicht Geheimnisse."

Der Stellenwert von Sprichwörtern bei dem Bantuvolk der Kerewe

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Das Sprichwort wird von einem Dorfrichter verwendet, um eine Runde von einigen Männern, die sich bei ihm mehr oder weniger zufallig zum Biertrinken eingefunden haben, in die Pflicht zu nehmen, als Schöffen in einem Schiedsgericht mitzuwirken. Hätte er sie wie in diesem Fall den Kläger und den Beklagten ausdrücklich durch seinen Gerichtsdiener laden lassen, wären sie seiner Bitte wahrscheinlich nicht nachgekommen, wobei jeder von ihnen einen triftigen Grund vorgeschoben hätte. Der Richter griff daher zu einer List. Zunächst erweckte er den Anschein, dass es bei ihm Freibier gäbe. Und als genügend Leute vom Bier angelockt waren, gab er unter Zitat des Sprichworts sein eigentliches Interesse zu erkennen. Es ist unschwer nachzuvollziehen, dass in dem Gleichnis der Bierkrug für den Biergenuss steht. Das Verb -siga bedeutet wortwörtlich "behindern, anhalten". In Verbindung mit der Negation te- wörtlich: "nicht behindern" entsteht die positive Bedeutung "aktiv fördern" d. h. in Verbindung mit dem Objekt kigambo "Rede, Angelegenheit, Diskurs" die Bedeutung "die Rede fördern, schwatzhaft machen". Die Grundbedeutung des Sprichworts knüpft somit an die bekannte Erfahrung an, dass der Genuss von Alkohol die Zunge löst und der Alkoholisierte Dinge sagt, die er normalerweise für sich behalten hätte. Im konkreten Anwendungsfall spielen die beiden Konstituenten des Sprichworts "Bier" und "schwatzhaft werden, Geheimnisse ausplaudern" zwar auch eine Rolle, jedoch in einem ganz anderen Sinnzusammenhang. Der Dorfrichter lässt kein Geheimnis raus, weil er alkoholisiert wäre, sondern er lässt - um ein anderes Bild zu gebrauchen - allenfalls seine Maske als uneigennütziger Gastgeber von Freibier fallen. In Klartext bedeuten seine Worte: Die Leute haben sein Bier getrunken, jetzt sollen sie ihm auch einen Dienst erweisen und ihm bei seinen Amtspflichten helfen, indem sie bei einem Schiedsgericht mitwirken. Das Sprichwort wird von ihm strategisch verwendet, um im Sinne der Definition Gero v. Wilperts 10 für die Adressaten die Schärfe der direkten Aussage abzumildern. Hätte er die Leute aus der Situation heraus in alltäglichen Worten zum Dienst als Schöffen aufgefordert, wären sie sich vielleicht übertölpelt oder gar betrogen vorgekommen und hätten entsprechend unwillig reagiert. Der schiefe, weil situativ nicht ganz stimmige Gebrauch des Sprichworts erregt indessen bei den Leuten eine gewisse Heiterkeit und hilft ihnen über eventuell aufkommende negative Gefühle hinweg, so dass sich alle zu dem Dienst bereit erklären. In der geschilderten Situation dient das Sprichwort dem Benutzer demnach allein dazu, auf politisch behutsame Weise seinen Willen durchzusetzen, was er auch auf dem Verordnungswege bei erwartbar sehr viel mehr Widerstand hätte tun können. Für die hier angestellten Überlegungen ist es wichtig festzustellen, dass das Sprichwort zwar in einem rechtlichen Rahmen verwendet wird, nicht jedoch zum Ausdruck eines rechtlichen Gedankens.

10

op. cit. 879.

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4. Sprichwörter, die einen wahren Sachverhalt verschleiern sollen Sprichwörter lassen sich vortrefflich als Mittel der Sprachverschleierung einsetzen, d. h. dort, wo ein Sprecher absichtlich seine Rede vieldeutig gestaltet. Der Grund kann sein, dass er es vermeiden möchte, für seine Worte gesellschaftlich oder gar gerichtlich verfolgt bzw. zur Verantwortung gezogen zu werden oder einfach, dass er die Zielperson seiner Rede schonen, den betreffenden Sachverhalt bei seinen Mitmenschen aber dennoch kundtun möchte. In dieser Funktion reihen sich die Sprichwörter in ein Arsenal von vielen Ausdrucksmitteln ein, die in Afrika auch sonst verbreitet sind. Zu denken ist etwa an die Namensgebung von Tieren. Vom Kavango, wo die Dienstehe praktiziert wird, d. h. der Schwiegersohn auf dem Gehöft des Schwiegervaters nach der Heirat noch ein bis zwei Jahre mit seiner jungen Frau wohnen muss, um vor allem dem Schwiegervater bei der Feldarbeit zu helfen, ist der Brauch bekannt (Möhlig 1987: 51 ff.) dass der Schwiegersohn, wenn er sich allzu ausgebeutet fühlt, seinen Hund etwa "Blutsauger" oder "Sklaventreiber" nennt. Die Nachbarn können ihn häufig seinen Hund unter diesem Namen rufen hören, wobei sie alle wissen, wer wirklich gemeint ist und um welch sozialen Missstand es sich auf dem betreffenden Gehöft handelt. Um bei seinen Mitmenschen nicht völlig in Verruf zu kommen, wird der Schwiegervater schnell handeln und sein Verhalten ändern oder gar seinem Schwiegersohn gestatten, nunmehr wegzuziehen, um sein eigenes Gehöft zu begründen. Ein bekanntes Beispiel, wo kaschierte Sprache sogar mittels Sprichwörtern ausgeführt wird, sind die Umschlagtücher - Leso genannt, welche die Swahilifrauen an der ostafrikanischen Küste üblicherweise tragen (Beck 2001,33 ff.). Auf den Tüchern ist am unteren Rand der Text eines Sprichworts oder einer sprichwortähnlichen Sentenz aufgedruckt, mit der beim Verschenken oder beim Tragen kaschierte Botschaften an die Umwelt oder auch an bestimmte Personen übermittelt werden können. Entscheidend ist, dass die Tücher nur potentiell diese Funktion haben. Trägeein oder Schenker eines solchen Tuches können sich auch nur an dessen Schönheit erfreuen wollen und deswegen dem darauf befindlichen Spruch keinerlei Bedeutung beimessen. Interessant ist, dass die Beteiligten in der Regel genau wissen, wann mit dem Tragen oder Verschenken der Tücher Botschaften verbunden sind und wann nicht. Aber auch im Fall des Austauschs von kaschierten Botschaften bleibt diese stets mehrdeutig, so dass der Sender dafür vom Adressaten niemals zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Im Kerewe-Material findet sich folgendes Beispiel von gewollter Mehrdeutigkeit in einem rechtlichen Kontext: In einem Rechtsstreit fordert der Kläger Schadensersatz dafür, dass die Rinder des Beklagten in sein Feld eingedrungen sind und ihm die Ernte zerstört haben. Das Gericht ist einstimmig der Meinung, dem Kläger trotz Anerkennung dieser Tatsachen den Schadensersatz zu verweigern, weil er den Hütejungen zusammengeschlagen und dabei lebensgefährlich verletzt hat, anstatt zu helfen, die Rinder wieder einzufangen und dadurch seinen Schaden

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zu mindern. Als der Richter ihn kurz vor Verkündung seines Urteils fragt, ob er das Unrechtmäßige seines Verhaltens einsähe, antwortet er mit einem Sprichwort: (10)

Asingwa bukindo tibamuseka Wer vor Gericht unterliegt, den schauen sie [d. h. die Mitmenschen] nicht freundlich an.

Interpretationsbedürftig ist in dem Satz die Verbform tibamuseka. Sie setzt sich aus dem Grundverb -seka "lachen, lächeln, freundlich anschauen" und den Elementen ti- ,,Negation", ba- ,,Pronomen 3. Person Plural der Menschenklasse" und -mu- "Objektpronomen 3. Person Singular". Auch hier wird durch die Verbindung des Grundverbs mit der Verneinungspartikel die Bedeutung nicht nur in das Gegenteil verkehrt, sondern das Verb zusätzlich mit einer aktiven Bedeutungskomponente versehen, was in etwa dem deutschen Verb "verspotten" entspricht. Hätte der Kläger im konkreten Fall die Frage des Richters einfach bejaht, wäre er in den Augen der anderen auf die Stufe eines unmündigen Kindes, dem seine Eltern ins Gewissen reden, hinabgesunken. Dadurch hätte er jegliches Ansehen bei seinen Nachbarn verloren. Hätte er die Frage indessen verneint, wäre ihm das als Widerstand gegen die einhellige Rechtsauffassung all seiner Nachbarn ausgelegt worden. Er hätte vielleicht Berufung beim Königsgericht einlegen können allerdings mit der Wahrscheinlichkeit, auch dort zu unterliegen. Dieser Ausgang aber hätte ihn in Gegensatz zum ganzen Inselvolk gebracht mit der weiteren Folge, die Insel verlassen zu müssen. In diesem Dilemma greift er zu einer Vernebelungstaktik, indem er statt einer eindeutigen Antwort das betreffende Sprichwort zitiert. Nach der einen Lesart kann es sich dabei um ein verklausuliertes Eingeständnis seiner Schuld handeln. Nach einer anderen Lesart kann es sich aber auch um eine versteckte Drohung handeln, insofern als er auf eine drohende Verletzung seiner Würde, die Verspottung, hinweist. Mit der Verletzung der Würde ist nach Auffassung der Kerewe ein Persönlichkeitsrecht verletzt, was ernsthafte juristische Konsequenzen nach sich ziehen kann. Der Dorfrichter lässt sich auf diesen neuen Kriegsschauplatz allerdings nicht ein. Er verkündet sofort im Anschluss an diesen Diskurs seinen Spruch, wonach dem Kläger der Schadensersatz für sein zerstörtes Feld verweigert wird. Außerdem werden ihm die Kosten des Verfahrens im Wert eines Ziegenbocks auferlegt.

V. Ergebnis und Vorausschau Die empirisch am Kerewe ausgerichtete Untersuchung hat einige Ergebnisse zutage gefördert, die sich m.E. in die allgemeine Diskussion über die Rolle von Rechtssprichwörtern einbringen lassen. Der leichteren Handhabbarkeil wegen werden sie nachfolgend in Form von drei Thesen formuliert:

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Wilhelm J. G. Möhlig

These 1:

Nur in wenigen Fällen erfüllen die Rechtssprichwörter der Kerewe die Funktion von Rechtsmaximen im Sinne von Isaac Schapera (1966). Dieser Autor führt aus seinem Tswana11 -Fundus sowohl prozessrechtliche als auch materiell-rechtliche Sprichwörter an. Auch andere einschlägige Abhandlungen wie beispielsweise die Abhandlungen zum Recht der Chagga12 (Gutmann 1923/24 und 1926) enthalten Sprichwörter sowohl zum Verfahrensrecht als auch zum materiellen Recht. Es ist insofern bemerkenswert, dass die im Kerewe-Material zusammengefassten Sprichwörter ausschließlich das materielle Recht betreffen. Es bleibt die zunächst offene Frage, warum das so ist. These 2:

Viele Kerewe-Sprichwörter werden erst durch ihre Einbindung in die rechtliche Argumentation zu Rechtssprichwörtern, d. h. durch ihre situative oder textliche Einbindung in einen rechtlichen Kontext. Außerhalb desselben können sie auch andere, d. h. nicht-rechtliche Funktionen erfüllen. Wir vermuten, dass dies kein Sonderfall ist. In vielen traditionellen Rechtskulturen Afrikas dürften Sprichwörter erst durch ihre situative Einbettung zu Trägern von Rechtsgedanken, Maximen oder rechtlichen Argumenten werden. Bei der Analyse von Sprichwörtern, insbesondere von Rechtssprichwörtern, käme es also für die Zukunft darauf an, die situative und textliche Einbindung anlässlich konkreter Fallgeschichten stärker mit auszuwerten, mit anderen Worten neben Form und Bedeutung den Schwerpunkt auf die pragmatische Dimension von Sprache, d. h. auf die Erforschung des Sinns zu verlagern. These 3:

Die Mehrzahl der im rechtlichen Kontext verwendeten Sprichwörter dient wie auch im alltäglichen Leben rhetorischen, d. h. stilistischen Zwecken. Diese Sprichwörter könnten auch aus ihren jeweiligen textlichen Zusammenhängen herausgestrichen werden, ohne dass der betreffende Text-Sinn, technisch gesprochen die Botschaft Schaden nähme. Eine mikroperspektivische Studie wie die hier vorgelegte bedarf dringend der Ergänzung durch ähnlich ausgerichtete Untersuchungen in anderen Rechtskulturen Afrikas. Nur so ergibt sich eine genügend breite empirische Basis, anhand derer Verallgemeinerungen oder gar Ableitungen von Gesetzmäßigkeiten und Korrelationen zu anderen gesellschaftlichen oder kulturellen Parametern möglich sind. Besonders wichtig erscheint uns auch die Beteiligung muttersprachlicher oder quasi muttersprachlicher Kompetenz. Sprichwörter haben zwar, wie einzelne Lexeme auch, in der Regel einen weiten pragmatischen Anwendungsbereich. Dennoch können sie nicht Träger einer jedweden Botschaft sein. Mit anderen Worten, ihr prag11 12

Die Tswana leben im zentralen Südafrika in Botswana. Die Chagga siedeln an den Hängen des Kilimandjaro und in der Ebene südlich davor.

Der Stellenwert von Sprichwörtern bei dem Bantuvolk der Kerewe

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matischer Anwendungsbereich ist irgendwo beschränkt. Der Verlauf dieser Grenzen lässt sich zwar durch viele kasuistische Studien auch von außen her in etwa skizzieren, jemand mit muttersprachlicher Kompetenz könnte hier jedoch mit weit größerer Trennschärfe und Sicherheit zu Aussagen gelangen. Erst in jüngerer Zeit ist uns ein englischsprachiges Manuskript (Schlee & Sahado im Druck) zur Kenntnis gelangt, das die Rechtssprichwörter der Rendille im Nordosten Kenias behandelt. Viele der dort diskutierten Sprichwörter sind unter der Kategorie "Gebrauch" (use) mit allgemeinen Angaben zu ihrem pragmatischen Anwendungsbereich versehen. Die Teilhabe des muttersprachlichen Karaha Sahado verleiht solchen Aussagen kennerschaftliehe Autorität und hebt dadurch diese Studie in vielen Abschnitten von ihrer ebenfalls vorhandenen mikroperspektivischen Basis deutlich auf eine mehr makroperspektivische Ebene an.

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Die Bedeutung von Sprichwörtern als Quelle afrikanischen Gewohnheitsrechts im Rahmen des deutschen kolonialen Rechts- und Gerichtssystems Von Harald Sippel*

I. Sprichwörter als Rechtsquelle ·In diesem Beitrag wird die Relevanz afrikanischen Gewohnheitsrechts im Rahmen des kolonialen Rechtssystems in den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika (Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Kamerun und Togo) thematisiert. Dabei erfolgt eine Fokussierung auf den Bereich der sogenannten "Eingeborenengerichtsbarkeit". Im Mittelpunkt steht insbesondere die Natur des von der "Eingeborenenrechtsprechung" herangezogenen Rechts unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Maße Rechtssprichwörter afrikanischer autochthoner Gemeinschaften nachweislich in die Urteilstindung eingeflossen sind. Neben anderen Formen oraler Literatur, wie etwa Fabeln, Märchen, Parabeln oder Rätsel, in denen afrikanische Rechtsangelegenheiten zum Ausdruck kommen, sind in gleicher Weise Sprichwörter grundsätzlich dazu geeignet, als rechtliche Quelle zu dienen. 1 Wie andere Völker in aller Welt und wohl zu allen Zeiten seit Anbeginn der Menschheit haben auch die Völker des afrikanischen Kontinents stereotype Redewendungen, gebräuchliche Zitate und idiomatische Ausdrücke benutzt, um bestimmte Erkenntnisse und Verhaltensregeln in kurzer einprägsamer Form zu umschreiben. 2 Die Redewendungen, Zitate und Ausdrücke werden zum Sprichwort,

* Wissenschaftlicher Assistent an der Rechts-und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth. t Siehe dazu Wilhelm J.G. Möhlig: Sprichwörter als Quelle des traditionellen Rechts in Afrika, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 78 (1979), S. 221-237, und Bruno Gutmann: Das Rechtsleben der Wadschagga im Spiegel ihrer Sprichwörter, in: Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen 14 (1923), S. 44-68. Siehe auch Carl Velten: Märchen und Erzählungen der Suaheli, Stuttgart, Berlin 1898, und C.J. Bender: Die Volksdichtung der Wakweli. Fabeln und Märchen, Parabeln, Rätsel und Sprichwörter, Berlin 1922, insbesondere

s. 5-16.

2 Afrikanische Sprichwörter sind von der Kolonialzeit bis heute häufig Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses geworden. Siehe beispielsweise E. Bürgi: Sammlung von EweSprichwörtern, in: Archiv für Anthropologie 41 (1915), S. 415 -450; Nazaire Diatta: Proverbes j6ola de Casamance, Paris 1998; H. Fokken: Spruchweisheit der Masai, Leipzig 1914;

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Harald Sippel

wenn sie einen allgemein bekannten, festgeprägten Satz aufstellen, der eine partiell gültige Lebensregel oder -weisheit in kurzer Form treffend zum Ausdruck zu bringen vermag. 3 Der Zweck eines Sprichwortes liegt darin, vom Benutzer im richtigen Moment herangezogen zu werden, um eine gewichtige Stellungnahme zu einem bestimmten Sachverhalt abzugeben, mit dem Ziel, die Zustimmung anderer Personen zu erhalten. Dabei steht die interaktive Verwertbarkeit eines Sprichwortes in engem Zusammenhang mit dem Grad seiner sozialen Wertigkeit. Nicht jedes Sprichwort stellt sich als Rechtssprichwort dar. Es wird vielmehr zu einem solchen, wenn es einen Bezug zum Recht herstellt, sein Aussagewert also eine rechtliche Qualität aufweist. Man kann also Rechtssprichwörter als kurze, prägnante, in sich abgeschlossene und in einer Gemeinschaft umlaufende Sätze charakterisieren, die auf eine Rechtsregel, einen Rechtssatz oder ein Rechtsprinzip zurückgehen, über eine eindeutige und vollständige Aussage verfügen und entweder schriftlich belegt sind oder mündlich überliefert werden. 4 Eine klare Trennung zwischen Sprichwort und Rechtssprichwort ist freilich im Einzelfall nicht einfach und zuweilen unmöglich. 5 Henri Gaden: Proverbes et maximes Peuls et Toucouleurs traduits, expliques et annotes, Paris 1931; Patrick lbekwe (Hrsg.): In stillen Teichen lauem Krokodile. Afrikanische Sprichwörter, Wuppertal 2000; J. lttmann: Sprichwörter der Nyang, in: Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen 22 (1931/32), S. 120-155, S. 215-230, S. 281-312; Elise Kootz-Kretschmer: Die Safwa in Ostafrika, Band II: Geistiger Besitz, Berlin 1929, S. 20-51; Matti Kuusi: Ovambo Proverbs with African Parallels, Helsinki 1970; Gerard Meyer: Proverbes malinke, Paris 1985; Rene Mavoungou Pambou: Proverbes et dictions du Loango en Afrique centrale: Iangue, culture et societe, Jouy-le-Moutier 1997; Andre Ryckmans/C. Mwelanzambi Bakwa: Droit coutumier africain. Proverbes judiciaires Kongo (Zaire), Paris, Mbandaka 1993; Johannes Stöckle: Traditions, Talesand Proverbs of the Bali-Nyonga, Köln 1994; Ferdinand Walser: Luganda Proverbs, Berlin 1982; Hans-lngolfWeier: Luba-Sprichwörter, Köln 1992; Carl Velten: Prosa und Poesie der Suaheli, Berlin 1907, S. 313-332. Siehe auch William Bascom: Folklore Research in Africa, in: Journal of American Folklore 77 (1964), S. 12-31; Otto E. Moll: Sprichwörterbibliographie, Frankfurt am Main 1958, S. 502-518; Heinrich Vedder: Die Bergdama, II. Teil, Harnburg 1923, insbesondere S. 49-61 und S. 106-131. 3 So Ruth Schmidt-Wiegand: Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München 1996, S. 7. Siehe zu den unterschiedlichen Definitionsansätzen des Sprichworts und seine Abgrenzung zu benachbarten Literaturgattungen Alan Dundes: On the Structure of the Proverb, in: Proverbium 25 (1975), S. 961-973; Günter Grundmann/Michael Strich/Wemer Richey: Rechtssprichwörter, Leipzig 1980, S. 138 f.; Gerhard Peukes: Untersuchungen zum Sprichwort im Deutschen. Semantik, Syntax, Typen, Berlin 1977, S. 11-18; Hans Ruef: Sprichwort und Sprache. Am Beispiel des Sprichworts im Schweizerdeutschen, Berlin, New York 1995, S. 5-59; Areher Taylor: The Proverb, Cambridge (Massachusetts) 1931. Nach Ansicht von Brigitte Janz: Rechtssprichwörter im Sachsenspiegel. Eine Untersuchung zur Text-Bild-Relation in den Codices picturati, Frankfurt am Main 1989, S. 24, steht allerdings eine "objektiv benutzbare, allgemein gültige und anerkannte Definition von Sprichwort noch aus." Ähnlich Ruth Finnegan: Oral Literature in Africa, Oxford 1979, S. 393: "The exact definition of ,Proverb' is no easy matter. There is, however, some general agreement as to what constitutes a proverb. It is a saying in more or less fixed form marked by ,shortness, sense, and salt' and distinguished by the popular acceptance of the truth tersely expressed in it." 4 So Schmidt-Wiegand, Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, S. 15.

Die Bedeutung von Sprichwörtern als Quelle afrikanischen Gewohnheitsrechts

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Rechtssprichwörter können in einer Gesellschaft ohne Schriftkultur, wie es in den vorkolonialen Gesellschaften Afrikas zumeist der Fall war, als Bestandteil der oralen Literatur eine ungeschriebene Sammlung von Rechtsnormen darstellen, 6 die sich aufgrund ihrer einprägsamen Ausdrucksform, der oftmals herangezogenen Bildhaftigkeit und der sich auf das Wesentliche beschränkenden Aussage bei den Rechtsadressaten schnell verbreiten und gleichsam als Bestandteil eines kollektiven Gedächtnisses in der Form von Merksätzen an die nachfolgenden Generationen unschwer weitergeben lassen. 7 Außer zu belehrenden8 oder erzieherischen9 Zwecken können Rechtssprichwörter vor allem in der mündlichen Gerichtsverhandlung ihr eindrucksvollstes Wirkungsfeld finden, um bei passender Gelegenheit in prägnanter Form die Rechtsposition des Anwenders zu stärken. Gerade im afrikanischen Prozeß kommt es regelmäßig im besonderen Maße auf einen Ausgleich zwischen den streitenden Parteien an. Ein "gutes Urteil" ist daher eine Entscheidung, mit der sämtliche Beteiligte sowie die anwesende, gemeinhin an der Verhandlung sehr interessierte Öffentlichkeit zufrieden sind. Rechtssprichwörter, die zum richtigen Zeitpunkt in der mündlichen Verhandlung eingesetzt werden, können dazu beitragen, daß es zu einem solchen Ergebnis kommt.

s Auch das Rechtssprichwort entzieht sich bislang einer allgemeinen Definition (vgl. Janz, Rechtssprichwörter im Sachsenspiegel, S. 24). Ekkehard Kaufmann: Rechtssprichwort, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, IV. Band, Berlin 1990, Spalte 364, definiert es als .~m Volk umlaufende Rechtsregel". Siehe zu dem Begriff und die Bedeutung von Rechtssprichwörtern im allgemeinen den Beitrag von Ruth Schmidt-Wiegand und im afrikanischen Kontext die Beiträge von Wilhelm J.G. Möhlig, Bairu Tafla und Heinrich Scholler in diesem Band. 6 Vgl. J. Olowo Ojoade: Proverbial Evidences of African Legal Customs, in: International Folklore Review 6 (1988), S. 26-38. 7 Dies wird allerdings von Missionar Wandres für die Nama und Bergdamara in Südwestafrika bestritten: "Da sowohl die Naman als auch die Bergdaman keine Schriftsprache hatten, kann von einem geschriebenen Gesetz keine Rede sein. Auch hatten sie weder Zeichen, noch Sprüche oder Verse, um die Rechtssätze im Gedächtnis zu behalten." Siehe C. Wandres: Über das Recht der Naman und Bergdaman, in: Zeitschrift fiir Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 11 (1909), S. 657-686 (658). s Vgl. Mathilde Hain: Sprichwort und Volkssprache. Eine volkskundlich-soziologische Dorfuntersuchung, Gießen 1951, S. 50f. 9 Siehe dazu Wemer R. Herzenstiel: Die gewöhnende Erziehung in deutschen Sprichwörtern, phil. Diss. Saarbrücken 1%8; Alben Wittstock: Die Erziehung im Sprichwort oder die deutsche Volks-Pädagogik, Leipzig 1889; Michal Wulff: Das Sprichwort im Kontext der Erziehungstradition. Dargestellt am Beispiel deutsch-jüdischer Sprichwörter, Frankfurt am Main 1990. Siehe auch am Beispiel der Dschagga in Ostafrika O.F. Raum: Chaga Childhood, London 1940, S. 217 und 333 f.

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II. Die "Eingeborenenrechtsprechung" als Bestandteil des deutschen kolonialen Rechts- und Gerichtssystems 1. Die duale Rechts- und Gerichtsordnung Vor Gericht kann es bekanntlich um viel gehen, im Extremfall sogar um existenzielle Rechtsgüter wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit oder Eigentum. Die Ausübung von Gerichtsbarkeit ist daher immer auch eine Ausübung von Herrschaft. Dies gilt im besonderen Maße in den Kolonialgebieten, wo die Kontrolle der Gerichtsbarkeit auch dazu diente, die Macht des Kolonialstaates zu demonstrieren. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, wer das anzuwendende Recht gesetzt, wer es angewendet und wer es durchgesetzt hatte. Diese Aspekte sind wesentliche Bestandteile des Gewaltmonopols, 10 das jeder Staat für sich zu beanspruchen pflegt. In den deutschen Kolonien bestand eine duale Rechts- und Gerichtsordnung, d. h. es erfolgte eine rechtliche Differenzierung zwischen sogenannten "Eingeborenen" und ,,Nichteingeborenen". 11 Mit dem "Gesetz, betreffend die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete," 12 das als "Schutzgebietsgesetz" das koloniale Grundgesetz darstellte, und dem Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit 13 wurden w Der Begriff des "staatlichen Gewaltmonopols" wird auf Max Weber zurückgeführt (Max Weber: Wissenschaft als Beruf 1917/1919, Politik als Beruf 1919, in: Max Weber Gesamtausgabe, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Abt. 1: Schriften und Reden, Band 17, Tübingen 1992, S. 158f.). Siehe auch F. G. Schwegmann: Idee und Entstehung des staatlichen Gewaltmonopols, in: Verwaltungsrundschau 33 (1987), S. 217-221. Siehe zum Gewaltmonopol im kolonialen Kontext am Beispiel von Togo die Ausführungen von Trutz von Trotha: Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des "Schutzgebietes Togo", Tübingen 1994, S. 32-44. II Eine brauchbare Definition, wann eine Person als "eingeboren" oder "nichteingeboren" anzusehen war, existierte in den deutschen Kolonien nicht. Siehe dazu Harald Sippel: "Im Interesse des Deutschtums und der weißen Rasse": Behandlung und Rechtswirkungen von "Rassenmischehen" in der Kolonien Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika, in: Jahrbuch für afrikanisches Recht 9 (1995), S. 123-159 (S. 133 f.). 12 Vom 17. April 1886 (Reichsgesetzblatt 1886, S. 75). Änderungen erfolgten durch die Novellen vom 7. Juli 1887 (Reichsgesetzblatt 1887, S. 307) und vom 15. März 1888 (Reichsgesetzblatt 1888, S. 71). Die dementsprechende Neubekanntmachung vom 19. März 1888 befindet sich in Reichsgesetzblatt 1888, S. 75. Weitere Novellen erfolgten am 2. Juli 1899 (Reichsgesetzblatt 1899, S. 365) und am 25. Juli 1900 (Reichsgesetzblatt 1900, S. 809). Unter dem Namen "Schutzgebietsgesetz" wurde die neue Fassung am 10. September 1900 (Reichsgesetzblatt 1900, S. 812) veröffentlicht. Die letzten Änderungen geschahen unter dem 16. Juli 1912 (Reichsgesetzblatt 1912, S. 443), dem 22. Juli 1912 (Reichsgesetzblatt 1912, S. 583) und dem 22. Juli 1913 (Reichsgesetzblatt 1913, S. 599). 13 Vom 10. Juli 1879 (Reichsgesetzblatt 1879, S. 197) in der Fassung vom 7. Apri11900 (Reichsgesetzblatt 1900, S. 213). Dieses Gesetz war ursprünglich nicht für die Kolonien,

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für die aus Europa stammenden Kolonisten reichsdeutsches bzw. hilfsweise preußisches Recht zur Anwendung in den deutschen Kolonialgebieten rezipiert. Für die afrikanische Bevölkerung galt dieses Recht hingegen nicht. 14 Die Kompetenz zu einer den vorkolonialen Status verändernden Regelung der Rechtsverhältnisse und der Gerichtsbarkeit der afrikanischen Bevölkerung lag vielmehr aufgrund der umfassenden Ermächtigung durch das Schutzgebietsgesetz 15 in kolonialen Angelegenheiten allein beim Kaiser und seinen Beauftragten. 16

2. Die "Eingeborenengerichtsbarkeit" In den deutschen Kolonien existierte eine duale Gerichtsbarkeit. Wahrend über die straf- und zivilrechtliehen Streitigkeiten der europäischen Kolonisten grundsätzlich die ordentliche Gerichtsbarkeit mit ausgebildeten Juristen als Richter urteilte, waren in diesen Angelegenheiten für die afrikanischen Kolonisierten je nach Bedeutung des Falles autochthone Streitschlichtungsinstanzen und deutsche Verwaltungsbeamte oder Militärpersonen zuständig. Die "Angehörigen fremder farbiger Stämme" (afrikanische Angehörige fremder Kolonien, Araber, Inder) waren den autochthonen Gemeinschaften gerichtlich grundsätzlich gleichgestellt. 17 sondern eigentlich für den Fall geschaffen worden, daß ein deutscher Konsul in einem anderen Staat über dort befindliche Reichsangehörige die Zivil- und Strafrechtspflege nach reichsdeutschen oder preußischen Vorschriften ausüben durfte, wenn dies ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem ausländischen Staat vorsah. 14 Nach § 4 Satz 1 Schutzgebietsgesetz unterlagen die dort nicht näher definierten "Eingeborenen" der im übrigen lediglich für die "Nichteingeborenen" geregelten Gerichtsbarkeit sowie der anzuwendenden Vorschriften über das Straf- und Zivilrecht nach dem Schutzgebietsgesetz "nur insoweit, als dies durch Kaiserliche Verordnung bestimmt wird." Eine solche Verordnung wurde freilich im Hinblick auf Afrikaner nie erlassen. IS Siehe § 1 Schutzgebietsgesetz: "Die Schutzgewalt in den deutschen Schutzgebieten übt der Kaiser im Namen des Reichs aus." 16 Vgl. Karl Münstermann: Die Rechtsstellung des Kaisers in den deutschen Schutzgebieten, (jur. Diss. Halle) Jena 1911, S. 93. Sein diesbezügliches Verordnungsrecht übertrug der Kaiser in § 1 der "Verordnung, betreffend die Einrichtung der Verwaltung und die Eingeborenen-Rechtspflege in den afrikanischen und Südsee-Schutzgebieten" vom 3. Juni 1908 (Reichsgesetzblatt 1908, S. 397) im wesentlichen auf den Reichskanzler bzw. auf das Reichskolonialamt. Von dort konnte eine Subdelegation an die Gouverneure in den Kolonien vorgenommen werden. 17 Japaner wurden gemäß § 2 Satz 2 der Kaiserlichen Verordnung über die Rechtsverhältnisse in den deutschen Schutzgebieten vom 9. November 1900 (Reichsgesetzblatt 1900, S. 1005, Deutsches Kolonialblatt 1900, S. 859) nicht als "Eingeborene" angesehen. In Deutsch-Ostafrika galt dies aus politisch-religiösen Gründen auch für die der Religion des Zoroaster angehörenden Parsen sowie für die christlichen Goanesen und die nicht-mohammedanischen Syrer. Siehe hierzu die auf § 2 Satz 1 der Verordnung vom 9. November 1900 beruhenden Gleichstellungsverordnungen des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika vom 3. Oktober 1904 (Goanesen und Parsen) und vom 10. Juni 1910 (Syrer), abgedruckt in: Landesgesetzgebung des deutsch-ostafrikanischen Schutzgebietes, hrsg. durch das Kaiserliche Gouvernement von Deutsch-Ostafrika, Tanga/Daressalam 1911, S. 194.

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a) Autochthone Autoritäten

In unbedeutenderen zivilrechtliehen und teilweise auch in geringfügigen strafrechtlichen Angelegenheiten waren autochthone Autoritäten mit der Wahrnehmung der Gerichtsbarkeit über die eingesessenen Völker in den Kolonien befaßt. Die Prozeßparteien wandten sich im Streitfall direkt an die entsprechenden "Häuptlinge", "Sultane" oder "Ältesten" oder sonstigen Rechtshonoratioren, die entweder nach altem Brauch zur kollektiven Rechtsprechung befugt oder von der Kolonialmacht speziell zu diesem Zweck zur Schlichtung meist geringfügiger Rechtsstreitigkeiten eingesetzt worden waren. 18 Die Streitbeilegung erfolgte unter Heranziehung des jeweiligen afrikanischen Gewohnheitsrechts der entsprechenden autochthonen Gemeinschaft. Für muslimische Bevölkerungsgruppen, beispielsweise in den Küstengebieten von Deutsch-Ostafrika, wandten sogenannte Kadigerichte islamisches Recht an. Streitgegenstand, Namen der Prozeßbeteiligten, Richterspruch und Datum der Urteilsverkündung waren neben einem Vermerk über die Höhe der eingezahlten Gerichtsgebühren in ein Verzeichnis einzutragen, welches von deutschen Beamten in regelmäßigen Abständen einer Kontrolle unterzogen wurde. 19 Gegen die Urteile dieser "Eingeborenengerichte" ("Stammesgerichte", "Häuptlingsgerichte", "Eingeborenenschiedsgerichte") konnten die Prozeßbeteiligten Beschwerde beim deutschen ,,Eingeborenenrichter" einlegen. Im Laufe der Zeit wurden solche "Eingeborenengerichte" von der Kolonialmacht aus politischen Griinden zunehmend als unerwünscht angesehen - freilich mit Ausnahme von Kamerun20 -, so daß man ihre schrittweise Abschaffung anstrebte. 21 Eine Besonderheit bestand in dieser Hinsicht in Deutsch-Südwestafrika, wo den dort ansässigen einheimischen Autoritäten aufgrund von sogenannten Schutz- und Freundschaftsverträgen mit der deut18 Siehe Alfred Mansfeld: Urwald-Dokumente. Vier Jahre unter den Crossflußnegern Karneruns, Berlin 1908, S. 169 f.; Günter Winke/mann: Die Eingeborenenrechtspflege in Deutsch-Ostafrika, Karnerun und Togo unter deutscher Herrschaft, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 53 (1939), S. 189-221 (218-221). 19 Im Nationalarchiv von Tansania ist noch ein solches Verzeichnis erhalten, das "Schauribuch Karema" des "Sultans" Nsongo Bugabo aus der Landschaft Bugabo arn Karema im Residenturbezirk Bukoba, Deutsch-Ostafrika (Tanzania National Archives, Dar es Salaarn, German Records 52/1). 20 Hier wurde schon friihzeitig eine "Eingeborenengerichtsbarkeit" durch afrikanische Spruchkörper per Verordnungsrecht geregelt. Sie scheint sich nach Auffassung der Kolonialverwaltung offenbar bewährt zu haben. Vgl. beispielsweise die "Verordnung des Kaiserlichen Gouverneurs von Karnerun, betreffend Einführung eines Eingeborenen-Schiedsgerichts für den Viktoriabezirk" vom 9. Dezember 1893 (Deutsches Kolonialblatt 1894, S. 103). Siehe hierzu die Ausführungen von Gotthilf Walz: Die Entwicklung der Strafrechtspflege in Karnerun unter deutscher Herrschaft 1884-1914, Freiburg 1981, S. 113-121. 21 Siehe dazu die Stellungnahme des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika an das Reichskolonialamt über die Neuregelung der Eingeborenengerichtsbarkeit vom 27. August 1910. Vgl. Bundesarchiv Berlin (BArch. Berlin), Bestand R 1001 (Reichskolonialverwaltung), Band 5489, BI. 55-64.

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sehen Kolonialmacht eine umfangreiche Gerichtsbarkeit in eigenen Angelegenheiten eingeräumt worden war?2 Mit der weitgehenden Zerschlagung der Sozialstrukturen der Herero und Nama im Gefolge der Aufstände gegen die Kolonialherrschaft ( 1904 bis 1907) wurde die Ausübung dieser Gerichtsbarkeit von der kolonialen Administration beansprucht. 23 Neben der Rechtsprechungsbefugnis der von der Kolonialmacht anerkannten autochthonen Autoritäten hat es vor allem in ländlichen Gebieten in nicht unerheblichem Ausmaß eine informelle Gerichtsbarkeit unter Anwendung afrikanischen Gewohnheitsrechts gegeben, die sich einer Kontrolle durch die deutsche Verwaltung entzog. Eine Überwachung der autochthonen Gerichtsbarkeit war zudem in den Überseegebietsteilen nicht möglich, welche von den Deutschen faktisch nicht oder lediglich marginal kolonisiert worden waren, wie beispielsweise "Ovamboland" im Norden von Deutsch-Südwestafrika und die Residenturbezirke Ruanda und Urundi in Deutsch-Ostafrika sowie Adamaua und Deutsche Tschadseeländer in Nordkamerun. b) Deutsche Verwaltungsbeamte und Militärpersonen als "Eingeborenenrichter"

Die Beschwerden gegen Urteile der von der Kolonialmacht anerkannten afrikanischen Streitschlichtungsinstanzen und die gewichtigeren Streitfälle, insbesondere solche auf dem Gebiete des Strafrechts und zivilrechtliche Klagen mit größeren Streitwerten, wurden von den "Eingeborenenrichtem", teilweise unter Zuziehung erfahrener und angesehener afrikanischer Beisitzer mit beratender Funktion, entschieden. Dieses Richteramt hatten grundsätzlich die Bezirksamtmänner und, wo vorhanden, die Leiter der Militärstationen inne, oftmals aber auch die Vorsteher von Verwaltungsnebenstellen und Beamte mit besonderen Aufgaben (Arbeiter-, Distrikts- und Eisenbahnkommissare). Diese "Eingeborenenrichter" übten die richterliche Tätigkeit neben ihren eigentlichen Aufgaben als Verwaltungsbeamte oder Militärpersonen aus. Sie verfügten in aller Regel weder über eine juristische Ausbildung, noch hatten sie - in Ermangelung bislang stattgefundener entsprechender Untersuchungen - besondere ethnologische Kenntnisse. Zudem besaßen sie nicht 22 Diese Verträge befinden sich im Abschrift im Bundesarchiv Berlin, Bestand R 1001, Band 2025, und im Abdruck in Hermann Hesse: Die Schutzverträge in Südwestafrika, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 6 (1904), S. 899-950, sowie 7 (1905), S. 1-48 und 89-154. Eine Übersicht zum Inhalt der Schutzverträge liefert Imre Josef Demhardt: Von der Schutzgewalt zur Kolonialgewalt Die Schutzverträge und die rechtliche Entstehung des kolonialen Staatsraums, in: Heinrich Lamping (Hrsg.), Föderative Raumstrukturen und wirtschaftliche Entwicklungen in Namibia, Frankfurt am Main 1993, S. 17-58 (29). Siehe auch Eduard Dannert: Zum Recht der Herero, insbesondere über ihr Familien- und Erbrecht, Berlin 1906, S. 6-8. 23 Siehe Jürgen Zimmerling: Die Entwicklung der Strafrechtspflege für Afrikaner in Deutsch-Südwestafrika 1884-1914, Bochum 1995, S. 114.

4 Scholler /Tellenbach

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selten keine oder nur eine unzureichende Praxis der afrikanischen Sprachen und waren daher auf Dolmetscher angewiesen. Dieser Umstand hatte freilich den entscheidenden Nachteil, daß die zur Übersetzung herangezogene Person den Prozeß verfälschen und instrumentalisieren konnte. 24 Eine Gerichtsbarkeit durch Privatpersonen war in den deutschen Kolonien nicht statthaft. Allerdings war in der Friihzeit der deutschen Kolonisation die Befugnis zur Ausübung der Gerichtsbarkeit gegenüber Afrikanern zuweilen von Vertretern des Deutschen Reiches an Private verliehen worden, beispielsweise an die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft, an Missionsstationen und an Pflanzungsleiter in Deutsch-Ostafrika.25 Diese Befugnisse wurden noch in den frühen 1890er Jahren zurückgenommen. In der Folgezeit dürfte jedoch auf entlegenen Missionsstationen sowie Plantagen- und Farmbetrieben - sicherlich nicht nur in DeutschOstafrika - schon aus Gründen der Praktikabilität eine Anmaßung der Gerichtsbarkeit durch europäische Privatpersonen stattgefunden haben, die von den Kolonialbehörden stillschweigend geduldet wurde. 26 Gemeinsame Rechtsgrundlage für die "Eingeborenengerichtsbarkeit" in Strafsachen in den deutschen Kolonialgebieten in Afrika war die "Verfügung des Reichskanzlers wegen Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten von Ostafrika, Kamerun und Togo" vom 22. Aprill896. 27 Mit der Bestimmung vom 8. November 1896 erfolgte ihre Ausdehnung auf Deutsch-Südwestafrika.28 Diese Verordnung regelte bestimmte Verfahrensgrundsätzen und Strafbefugnisse und stellte somit ein Mindestmaß an Rechtssicherheit für die kolonisierte Bevölkerung zur Verfügung, die Willkürmaßnahmen seitens deutscher Verwaltungsbeamter zu begrenzen beabsichtigte. Ihr Erlaß beruhte auf den von dem Kanzler Leist und dem Bezirksamtmann Wehlan in Kamerun im Jahre 1893 verursachten Kolonialskandalen. 29 Für die "Eingeborenengerichtsbarkeit" in Zivilsachen gab es zuweilen Sondervorschriften der Gouverneure in den einzelnen Kolonien.30 Vgl. dazu Bruno Gutmann: Das Recht der Dschagga, München 1926, S. 725. Siehe dazu am Beispiel der christlichen Mission in Deutsch-Ostafrika Harald Sippe[: Mission und Gewalt in Deutsch-Ostafrika. Das Verhältnis zwischen Mission und Kolonialverwaltung, in: Ulrich van der Heyden I Jürgen Becher (Hrsg.), Mission und Gewalt, Stuttgart 2000, s. 525-538 (529 f.). 26 Ein Beispiel findet sich bei Wilhelm Rothhaupt: Habari. Von schwarzen und weißen Afrikanern, Stuttgart 1925, S. 32-35. 27 Deutsches Kolonialblatt 1896, S. 241. 28 Mit geringfügigen Modifikationen, vgl. die "Änderung der Verordnung, betreffend die Strafgerichtsbarkeit der Eingeborenen in Südwestafrika" (Deutsche Kolonialgesetzgebung, Band 2, S. 294). 29 Siehe dazu Martin Schröder: Prügelstrafe und Züchtigungsrecht in den deutschen Schutzgebieten Schwarzafrikas, Münster 1997, S. 50-53. In diesem Zusammenhang erging auch die "Verfügung des Reichskanzlers, betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den afrikanischen Schutzgebieten" vom 27. Februar 1896 (Deutsche Kolonialblatt 1896, S. 339), wodurch geregelt wurde, daß in den Gerichtsverfahren gegenüber Afrikanern 24

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Der jeweilige "Eingeborenenrichter" hatte dabei in Strafsachen gleichzeitig die Funktion eines Staatsanwaltes und nahm dessen Aufgaben für und gegen die afrikanischen Angeklagten wahr. Für die afrikanische Bevölkerung der Kolonien gab es mithin keine Trennung zwischen der judikativen und der exekutiven Gewalt. Bei Überschreitung eines bestimmten Strafmasses durch den ,,Eingeborenenrichter" mußte vor der Vollstreckung die Genehmigung des Gouverneurs zur ausgeworfenen Strafe eingeholt werden. 31 Daneben konnten auch die Leiter von Expeditionen zu administrativen oder militärischen Zwecken zur Gewährleistung der Disziplin sowie der öffentlichen Sicherheit und Ordnung von den Gouverneuren mit strafrichterliehen Befugnissen ausgestattet werden. 32 Ein Rechtsmittel war gegen die Urteile des "Eingeborenenrichters" in Strafsachen überhaupt nicht und in Zivilsachen nur bei bedeutendem Streitwert zulässig.33 In solchen Angelegenheiten entschied der zuständige Oberrichter der jeweiligen Kolonie. Das Gnadenrecht wurde vom Gouverneur ausgeübt. Das von den "Eingeborenenrichtern" augewandte Verfahrensrecht war nur in strafrechtlicher Hinsicht rudimentär gesetzlich geregelt. 34 Ein besonderes koloniales Zivilprozeßrecht für die afrikanischen Prozeßparteien existierte überhaupt nicht. Eine ausdrückliche Regelung hatte schließlich der Bereich der Strafvollstreckung gegenüber Afrikanern erfahren, so daß das Strafensystem in den deutschen Kolonien in Afrika neben der Geldstrafe und der zeitigen Freiheitsstrafe mit und ohne Zwangsarbeit auch die Prügelstrafe, die Kettenhaft sowie die Todesstrafe umfaßte. 35 Da eine Niederschrift der Urteilsgründe nur in Ausnahmefallen vorzur Herbeiführung von Geständnissen und Aussagen nur die in den deutschen Prozeßordnungen zugelassenen Maßnahmen zulässig und die Verhängung von außerordentlichen Strafen, insbesondere von Verdachtsstrafen, verboten waren. 30 Beispielsweise in Deutsch-Ostafrika die "Verordnung über die Gerichtsbarkeit und die Polizeibefugnisse der Bezirkshauptleute" vom 14. Mai 1891 (Landesgesetzgebung des deutsch-ostafrikanischen Schutzgebiets, S. 196). 31 Dies waren Geldstrafen, welche den Betrag von 300 Mark überstiegen, sowie Freiheitsstrafen von mehr als sechs Monaten Dauer. Vgl. § 10 der "Verfügung des Reichskanzlers wegen Ausübung der Strafgerichtsbarkeit und der Disziplinargewalt gegenüber den Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten von Ostafrika, Kamerun und Togo" vom 22. April 1896. 32 Vgl. §§ 14 und 15 der "Verfügung des Reichskanzlers vom 22. Aprill896. 33 In Deutsch-Ostafrikamußte z. B. ein Streitwert von 1000 Rupien- etwa 1330 Markerreicht werden. 34 So waren etwa zur Herbeiführung von Geständnissen und Aussagen andere als die in der Strafprozeßordnung des Deutschen Reiches vom 1. Februar 1877 (Reichsgesetzblatt 1877, S. 253) zugelassenen Maßnahmen sowie Verdachtstrafen untersagt. Siehe hierzu die "Verfügung des Reichskanzlers, betreffend die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen in den afrikanischen Schutzgebieten", vom 27. Februar 1896. 35 Vgl. §§ 2 bis 13 der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896. Siehe hierzu auch die "Verfügung des Staatssekretärs des Reichs-Kolonialamts, betreffend die Anwendung körperlicher Züchtigung als Strafmittel gegen Eingeborene der afrikanischen Schutzgebiete", vom 12. Juli 1907 (Deutsches Kolonialblatt 1907, S. 790). In den deutschen Staaten war 4*

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gesehen war,36 insbesondere dann, wenn eine Genehmigung des Strafurteils durch den Gouverneur erwirkt werden mußte oder eine Berufungseinlegung in Zivilsachen möglich war, existieren nur wenige aussagekräftige Unterlagen, aus denen die vor den "Eingeborenenrichtem" verhandelten Fälle nachvollzogen werden können. 37

3. Die Quellen des "Eingeborenenrechts"

a) Afrikanisches Gewohnheitsrecht Das "Eingeborenenrecht" bestand zunächst aus afrikanischem Gewohnheitsrecht. 38 Wahrend die Anwendung afrikanischen Strafrechts mit der fortschreitenden kolonialen Durchdringung der deutschen Überseegebiete allmählich zurückgedrängt und durch die Rechtsanschauungen der Kolonialmacht ersetzt wurde, so daß es im allgemeinen nur noch in manchen Bezirken und vielfach lediglich bei kleineren Vergehen herangezogen konnte, wurde in die auf gewohnheitsrechtlicher Grundlage beruhenden zivilrechtliehen Verhältnisse der afrikanischen Bevölkerung kaum eingegriffen. Dies galt insbesondere für die bis auf den heutigen Tage für das Zusammenleben in Familie und Gemeinschaft relevanten Personen-, Familienund Erbrechtsverhältnisse. Afrikanisches Gewohnheitsrecht setzt sich aus Normen zusammen, die von nichtstaatlichen Institutionen wie etwa Verwandtschaftsgruppen oder semi-autonomen gesellschaftlichen Gruppen aufgestellt werden, welche über eine regelnde Gewalt hinsichtlich der Begründung und Kontrolle von sozialen Beziehungen verfügen.39 Im Laufe der Zeit entwickelten sich innerhalb der verschiedenen ethnidagegen die körperliche Züchtigung als Rechtsfolge der Straftat im Laufe des 19. Jahrhunderts abgeschafft worden. 36 Vgl. Winkelmann, Eingeborenenrechtspflege, S. 210f. 37 In Strafsachen abgesehen von den Strafbucheinträgen gemäß §§ 12 und 13 der Verfügung des Reichskanzlers vom 22. April 1896 und den formularmäßigen Verhandlungsprotokollen, die sich als Muster in der Anlage zur Verfügung des Reichskolonialamts vom 12. Juli 1907 befinden. 38 Für den Begriff "Gewohnheitsrecht" werden im afrikanischen Kontext verschiedene Bezeichnungen verwendet. Der Terminus "afrikanisches Recht" ist zu weit, weil man darunter sämtliches in Afrika bestehende Recht verstehen kann. Der Begriff "traditionelles Recht" weist auf den vorkolonialen Rechtszustand hin und berücksichtigt daher nicht die Dynamik des sich weiterentwickelnden Gewohnheitsrechts. Die Bezeichnungen "indigenes Recht" bzw. "autochthones Recht", die eine gewisse Nähe zu den wohl allgemein als diskriminierend empfundenen Begriffen ,,Eingeborenenrecht" und "Starnrnesrecht" aufweisen, sind hingegen unscharf, da sie von einer in einem bestimmten Gebiet seit langer Zeit eingesessenen (ethnischen) Gemeinschaft ausgehen, was vor allem im Hinblick auf das südliche Afrika nur schwer bestimmbar ist. Im folgenden wird daher die Bezeichnung "afrikanisches Gewohnheitsrecht" verwendet, um die Dynamik und den prozeßhaften Charakter der auf vorkolonialen Traditionen beruhenden Rechtsgewohnheiten afrikanischer Gemeinschaften herauszustellen.

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sehen Gemeinschaften in den einzelnen späteren Kolonialgebieten oral tradierte Rechtsgebräuche, denen die Aufgabe zukam, die komplexen Verhältnisse im afrikanischen Familien- und Gemeinschaftsverband zu reglementieren. Dieses Recht befand sich im allgemeinen im Einklang mit den sozio-ökonomischen Strukturen der jeweiligen vorkolonialen Gesellschaften. Die Gebräuche basierten daher auf allgemein akzeptierten konkreten sozialen Übungen, die in engem Bezug zu der ökonomischen, kulturellen und natürlichen Situation einer Gemeinschaft standen und zudem eng mit dem religiösen und sozialen Wertesystem verbunden waren.40 Aufgrund der Vielzahl ethnischer Gemeinschaften in den jeweiligen Kolonialgebieten differierten die Inhalte der verschiedenen afrikanischen gewohnheitsrechtlichen Normen trotz gewisser struktureller Gemeinsamkeiten in Detailfragen mehr oder weniger stark voneinander Daher ist es zutreffender, von afrikanischen Gewohnheitsrechten zu sprechen. Die Gewohnheitsrechte sind nicht in Gestalt eines Gefüges abstrakter Rechtsregeln gefaßt, sondern sind zum einen als Bestandteil einer umfassenden Philosophie zu sehen, welche unter anderem auch Rechtsprinzipien enthält. Zum anderen sind sie als Rechtspraxis zu begreifen, die insbesondere im Verlauf von Streitschlichtungen immer wieder neues Recht schafft. Afrikanisches Gewohnheitsrecht weist daher eine prozeßhaften Charakter auf. Eine mangelnde schriftliche Fixierung von Norminhalten verhindert, daß das Gewohnheitsrecht statisch wird. Die orale Tradierung von Rechtsnormen ist grundsätzlich geeignet, in Streitschlichtungsverfahren eine ständige Anpassung des "traditionellen Rechts" an veränderte gesellschaftliche, ökonomische und politische Rahmenbedingungen herbeizuführen.

b) Das von dem deutschen .,Eingeborenenrichter" angewandte Recht

Gemäß der dualen kolonialen Rechtsordnung hatten die deutschen "Eingeborenenrichter" grundsätzlich das Recht der betreffenden autochthonen Gemeinschaften anzuwenden, regelmäßig also das Gewohnheitsrecht der in ihrem Verwaltungsbezirk ansässigen Gemeinschaften. Bei der Feststellung des geltenden Gewohnheitsrechts wurden sie gemeinhin von rechtskundigen Angehörigen der entsprechenden Gemeinschaft beraten. 41 Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege sowie in Angelegenheiten, in denen die herkömmlichen Rechtsgebräuche den "unter gebildeten Volkern geltenden Rechts39 Vgl. Sally Falk Moore: Social Factsand Fabrications. "Customary Law" on Kilimanjaro, 1880-1980, Cambridge 1986, S. 317-319. 40 Vgl. Harald Sippe[: Die Bedeutung afrikanischen Gewohnheitsrechts im Nationalstaat: Entwicklungen in Tansania und Südafrika, in: Afrika Spectrum 33 (1998), S. 39-56 (41). 41 Dies war durch Rechtsvorschriften in den einzelnen Kolonien vorgeschrieben; siehe beispielsweise Abschnitt I. (Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten), Absatz I, Satz 2 und 3 der "Verordnung, betreffend die Gerichtsbarkeit und die Polizeibefugnisse der Bezirkshauptleute" vom 14. Mai 1891 in Deutsch-Ostafrika.

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grundsätzen" und deoi .,gesunden Menschenverstand" entgegenstanden,42 wurde das regelmäßig oral tradierte Recht allerdings aus machtpolitischen und ethischen Gründen von dem Rechtsempfinden der Kolonialmacht zurückgedrängt. In solchen Fällen hatten die deutschen .,Eingeborenenrichter" nach .,billigem Ermessen unter Heranziehung der Grundsätze des deutschen Rechts",43 aber auch nach .,einer gerechten Würdigung der traditionellen Anschauungen"44 zu urteilen. 45 Da in strafrechtlicher Hinsicht für die afrikanische Bevölkerung nur sehr wenige von der deutschen Kolonialmacht aufgestellte Normen existierten und afrikanisches Gewohnheitsrecht insoweit kaum zur Anwendung kommen durfte, wurde durchweg auf die Rechtsgedanken des Strafgesetzbuches des Deutschen Reiches zurückgegriffen. Innerhalb des Regelungsrahmens des Reichsstrafgesetzbuches hatte der als .,Eingeborenenrichter" fungierende Verwaltungsbeamte oder Soldat freie Hand, Taten von Afrikanern zu ahnden, die ihm nach seiner rechtlichen Überzeugung strafbar erschienen. 46 Mithin erfolgte eine Vermengung von Elementen des deutschen Rechts und der in Frage stehenden .,traditionellen Anschauungen" bzw. was der - zumeist juristisch nicht vorgebildete - Eingeborenenrichter jeweils 42 Eine gesetzliche Regelung fanden diese Kriterien in Abschnitt I. (Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten), Absatz 7, Satz 1 der "Verordnung, betreffend die Gerichtsbarkeit und die Polizeibefugnisse der Bezirkshauptleute" vom 14. Mai 1891 in Deutsch-Ostafrika: "Für die Entscheidungen sind die unter gebildeten Völkern geltenden Rechtsgrundsätze, der gesunde Menschenverstand und die landesüblichen Gewohnheiten und Überlieferungen maßgebend." In Togo galten diese Kriterien als ungeschriebene Grundsätze. Siehe auch den "Erlaß des Auswärtigen Amts - Kolonial-Abteilung -, an den Gouverneur von Kamerun, betreffend die Eingeborenen-Zivilrechtspflege" vom 15. Januar 1907, wo in diesem Zusammenhang auf die "gesunde Vernunft" und die "guten Sitten" hingewiesen wird (Deutsche Kolonialgesetzgebung Band 11, S. 54). 43 Vgl. Johannes Gerstmeyer: Die Regelung der Rechtspflege in den früheren und in den künftigen deutschen Kolonien, in: Deutsches Recht vereint mit Juristische Wochenschrift 10 (1940), s. 2197-2204 (2199). 44 Vgl. Franz Oskar Karstedt: Beiträge zur Praxis der Eingeborenenrechtsprechung in Deutsch-Ostafrika, Daressalam 1912, S. 51. 45 Siehe dazu den patriarchalisch anmutenden Erfahrungsbericht des Chefs des Militärbezirkes Iringa in Deutsch-Ostafrika, Hauptmann Ernst Nigmann (Schwarze Schwänke. Fröhliche Geschichten aus unserem schönen alten Deutsch-Ostafrika, Berlin 1922, S. 137 f.): ,,Eine sehr praktische und außerordentlich weitsichtige Verfügung bestimmte über die Handhabung der Eingeborenenrechtsprechung: ,Nächst dem gesunden Menschenverstand ist, unter weitester Berücksichtigung der Eingeborenensitten und -gebräuche, das heimische Recht als Anhalt zu benützen.' Wer diese drei Faktoren in der angegebenen Reihenfolge walten ließ, vor allem die Eingeborenengebräuche kannte und berücksichtigte, dessen Rechtsprechung fand ein unbegrenztes Vertrauen. Zu solch einem Bezirkschef pilgerten dann wohl die beiden streitenden Parteien oft viele Tagemärsche friedlich zusarnrnen zur Station, in dem festen Vertrauen, daß dieser ihren Rechtshandel unbedingt richtig lösen würde und trollten dann ebenso beruhigt wieder seibander nach Hause." 46 Der Grundsatz "nulla poena sine lege" (keine Strafe ohne Gesetz) besaß in den Kolonien für die autochthone Bevölkerung keine Geltung. Siehe hierzu Thomas Kopp: Nichtdeutsche Angeklagte im deutschen Strafverfahren. Ihr Schutz im Normal-, Kolonial- und Militärzustand seit der Reichsgründung 1871, Baden-Baden 1997, S. 109.

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dafür hielt. Damit schuf er einen neuen Teilbereich des "Eingeborenenrechts" auf richterrechtlicher Grundlage, das nur für seinen Verwaltungsbezirk galt und eng an seine Person gebunden war. Eine Garantie der Einheitlichkeit der Rechtsprechung innerhalb einer Kolonie war bei dieser in der Rechtssoziologie als "Kadijustiz" bezeichneten Judikatur durch den deutschen "Eingeborenenrichter" nicht möglich. 47 Das Prinzip der nahezu grenzenlosen Freiheit der Rechtsprechung durch die Person eines bestimmten Verwaltungsbeamten oder einer Militärperson, das im Extremfall freilich leicht in Willkür ausarten konnte, existierte in sämtlichen deutschen Kolonien in Afrika. Sehr ausgeprägt war dies allerdings in Togo der Fall. Dort ergab sich die Besonderheit, daß die vorstehenden Verwaltungsbeamten der Bezirke - in Togo Bezirksleiter genannt - im Gegensatz zu den anderen Überseegebieten des Deutschen Reiches außergewöhnlich lange Dienstzeiten- zehn Jahre waren hier kein Einzelfall - am gleichen Ort absolvierten. Erst dadurch konnte sich ein an die Person des Bezirksleiters gebundenes, mit einer gewissen Beständigkeit versehenes Recht entwickeln. In den anderen Kolonien, wo die Beamten in entsprechenden Positionen regelmäßig spätestens nach etwa zwei bis drei Jahren den Einsatzort wechselten, war eine derartige personelle Kontinuität in der "Eingeborenenrechtsprechung" gemeinhin nicht zu verzeichnen, so daß auch das daraus entspringende Richterrecht nur kurzlebiger Natur war und sich folglich nicht zur dauerhaften, eine gewisse - wenngleich zweifelhafte - Rechtssicherheit ausstrahlenden Norm entwickeln konnte. Kolonialzeitliche Stimmen hatten an dieser personengebundenen Rechtsprechung durchaus nichts auszusetzen, denn, wie der Missionar Jakob Spieth verkündete, "die Eingeborenen sind noch nicht so weit, dass sie Person und Sache voneinander zu trennen verstehen. "48 Im kolonialen Togo hatte sich für das hier näher umschriebene, mit der Person des Bezirksleiters verflochtene Richterrecht eine treffende Bezeichnung herausgebildet. Der in Togo tätige Kolonialjurist Rudolf Asmis,49 der dieses Phänomen näher untersuchte, wählte dafür den zweckmäßigen Ausdruck "Bezirksleiterrecht" und definierte die sich aus diesem ergebenden Rechtssätze folgendermaßen: 5° 47 Vgl. Harald Sippel: Typische Ausprägungen des deutschen kolonialen Rechts- und Verwaltungssystems in Afrika, in: Rüdiger Voigt I Peter Sack (Hrsg. ), Kolonialisierung des Rechts. Zur kolonialen Rechts- und Verwaltungsordnung, Baden-Baden 2001, S. 351- 372 (359). Ähnlich Horst Hammen: Kolonialrecht und Kolonialgerichtsbarkeit in den ehemaligen deutschen Schutzgebieten- Ein Überblick, in: Verfassung und Recht in Übersee 32 (1999), S. 191-209 (206). Zum Begriff "Kadijustiz" in rechtssoziologischer Hinsicht siehe Thomas Raiser: Das lebende Recht, Rechtssoziologie in Deutschland, Baden-Baden 2. Autl 1995, S. 123. 48 V gl. Jakob Spieth: Die Rechtsanschauungen der Togoneger und ihre Stellung zum europäischen Gerichtswesen, in: Jahrbuch über die deutschen Kolonien 1 (1908), S. 132-141 (140). 49 Dr. jur. et phil. Rudolf Asrnis (1879-1945) war ab 1906 als juristischer Kolonialbeamter und Bezirksrichter in Togo tätig; 1912 wurde er in den diplomatischen Dienst des Auswärtigen Amtes übernommen. so Siehe Rudolf Asmis: Zur Technologie im Kolonialrecht, in: Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre 4 (1908), Spalte 129-133.

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,.Diese bilden eine Mischung von deutschem Recht mit Eingeborenen-Anscluluungen. In Ennangelung irgend welcher gesetzlicher Bestimmungen - die wenigen Verfügungen, die bisher in dieser Richtung ergangen sind, fallen nicht ins Gewicht- bildet sich doch in den verschiedenen Bezirken jeder Bezirksleiter sein eigenes Recht. Deutsche Grundsätze überwiegen; aber man hält sich nicht starr an sie; häufig müssen sie sich recht weitgehenden Umbildungsprozessen aussetzen. Wieweit dies geschieht, ist in jedem Falle von der Persönlichkeit des Bezirksleiters abhängig. Die Gesamtheit derartiger Rechtssätze wird man daher am besten mit ,Bezirksleiterrecht' bezeichnen können. Sie sind der Ausfluß der in der Persönlichkeit des Bezirksleiters liegenden Gerichtshoheit bei der Entscheidung der vor sie gebrachten Rechtsfälle, eine Art Gerichtsgebrauch, aber gebunden an die Person des jeweiligen Bezirksleiters, der es gewissennaßen mit sich trägt. "

111. Sprichwörter in der Praxis der "Eingeborenengerichtsbarkeit" 1. Autochthone Gerichtsbarkeit Es steht zu vennuten, daß in den deutschen Kolonien Rechtssprichwörter insbesondere vor den sogenannten "Eingeborenengerichten" zur Anwendung kamen, also vor den Streitschlichtungsinstanzen, die ausschließlich mit autochthonen Rechtshonoratioren besetzt waren. Leider ist die Quellenlage hierzu sehr dürftig. a) Gerichtliche Dokumente

Wie bereits erwähnt, wurden von den von der deutschen Kolonialmacht anerkannten und kontrollierten "Eingeborenengerichten" nur sehr rudimentäre Aufzeichnungen zu den verhandelten Angelegenheiten angefertigt. Diese Dokumente haben zudem lediglich in ganz seltenen Fällen den Ersten Weltkrieg überstanden. Ein Beispiel hierfür ist das "Schauribuch Karema" aus Deutsch-Ostafrika.51 Dieses Gerichtsbuch gibt Auskunft über die Natur der vor einem "Eingeborenengericht" unter Leitung der als "Sultan" bezeichneten Richterperson Nsongo Bugabo in dem Gebiet von Bugabo am Karema im Residenturbezirk Bukoba verhandelten Fälle. Allerdings werden in dem "Schauribuch Karema" die Sachverhalte der Rechtsstreitigkeiten ebenso wie die Entscheidungsgründe und der Urteilstenor nur äußerst kurz geschildert, ohne auf Sprichwörter oder andere Formen oraler Literatur einzugehen. Zwar ist es durchaus vorstellbar, daß in den mündlichen Verhandlungen Rechtssprichwörter verwendet wurden. In der Niederschrift wurden solche jedoch aufgelöst, d. h. ihr Aussagewert mußte aufgrund der gebotenen kurzen schriftlichen Wiedergabe als knapper und präziser Rechtssatz umschrieben werden. 51 Tanzania National Archives, Dar es Salaam, Bestand German Records, Band 52/1. Die Bezeichnung "Schauribuch" ist ein für die deutsche Kolonialzeit typischer Neologismus, der sich aus dem Begriff "shauri" (Swahili für "Rat", "Verhandlung") und dem deutschen Wort "Buch" zusammensetzt. Hier wird dafür die Übersetzung "Gerichtsbuch" verwendet.

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Auch die wenige wissenschaftliche Literatur, die sich seinerzeit ausschließlich mit der Tätigkeit von "Eingeborenengerichten" in den deutschen Kolonien befaßte, gibt keinen Hinweis auf die Verwendung und die Relevanz von Rechtssprichwörtern im afrikanischen Prozeß.52 Wenn solche in der Gerichtsverhandlung eine Rolle gespielt haben sollten, floß folglich allenfalls ihr rechtlicher Aussagewert in die wissenschaftliche Schrift ein, nicht aber der konkrete Wortlaut eines Sprichwortes selbst.

b) Rechtsethnologische Forschungsvorhaben Weitere wichtige schriftliche Quellen für afrikanisches Gewohnheitsrecht aus der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft stellen die verschiedenen wissenschaftlichen Projekte zur Erforschung des "Eingeborenenrechts" in den deutschen Kolonien dar. Die Zentrale der Kolonialverwaltung in Berlin, die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes bzw. seit 1907 das Reichskolonialamt, interessierte sich schon wenige Jahre nach den ersten Kolonialerwerbungen für die Bestandsaufnahme einheimischer Rechtsgewohnheiten durch die Beamten und Offiziere vor Ort. In einem ausführlichen Circular-Erlaß vom 31. Oktober 1891 forderte ihr Direktor Paul Kayser die Chefs der deutschen Verwaltungen in den Kolonien auf, über das Gewohnheitsrecht der dort ansässigen Bevölkerung zu berichten: 5 3 "Ueber die Rechtsgewohnheiten der Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten sind bisher nur spärliche Mitteilungen hierher gelangt. . .. Ich lege Werth darauf, die Grundsätze festzustellen, welche unter den Eingeborenen der Schutzgebiete in öffentlichrechtlicher wie in privatrechtlicher Beziehung gelten. Auch bei den weniger entwickelten Stämmen werden mit Bezug auf das Strafrecht, das Sachenrecht, das Familien- und Erbrecht, das Verhältniß der Sklaven zu ihren Herren, die Formen, in welchen sich der Abschluß von Verträgen vollzieht u. a. mehr oder minder bestimmte Normen bestehen, während bei den entwickelteren z. B. den Arabern und den Indem bereits ausgebildetere Grundsätze und Gewohnheiten, namentlich auch in Bezug auf das Handelsrecht in Geltung sind. Euer pp. ersuche ich ergebenst, diesem Gegenstande Ihre besondere Aufmerksamkeit zu widmen und die Beamten, namentlich die mit der Gerichtsbarkeit betrauten, sowie die Stationsleiter anzuweisen, über ihre Erfahrungen auf diesem Gebiete zu berichten. Insbesondere wird es erwünscht sein, die Grundsätze kennenzulernen, nach denen von den Kaiserlichen Beamten in den Streitigkeiten der Eingeborenen entschieden wird und auch darüber unterrichtet zu werden, in wie weit sich unser Einfluß bereits nach den angegebenen Gesichtspunkten erstreckt. "

Der Erlaß dieser Verfügung war nicht vom wissenschaftlichen Erkenntnisstreben bestimmt, sondern die Sammlung von Informationen über die Rechtsgewohnheiten 52 Siehe dazu am Beispiel von Togo Viktor Toso: Ewe-Texte. Einige Rechtsgebräuche der Eweer, in: Zeitschrift für Kolonialsprachen 7 (1916), S. 1-10. 53 Bundesarchiv Berlin (BArch. Berlin), Bestand R 1001 (Reichskolonialverwaltung), Band 5000, BI. 5 f., und Band 5002, BI. 4 f.

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der autochthonen Bevölkerung in den Kolonien sollte vielmehr den Zwecken der Administration zur Ausübung einer effektiven Kolonialherrschaft dienlich sein. Die Anordnung war freilich zu allgemein gehalten, denn sie enthielt keinerlei Hinweis über Inhalt, Umfang sowie Methode der gewünschten Erhebungen. Sie erging zudem zu einem Zeitpunkt, als es in den deutschen Kolonien noch kaum Verwaltungspersonal gab und von einer gesicherten Herrschaftsausübung noch gar keine Rede sein konnte. So verwundert es wenig, daß dem Circular-Erlaß nur ein verhältnismäßig geringer Erfolg beschieden war. 54 Etwa zur gleichen Zeit richtete auch die Wissenschaft in Deutschland verstärkt ihr Augenmerk auf das Gewohnheitsrecht autochthoner Volker. 55 Im Jahre 1895 wurde für die ,Jntemationale Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre zu Berlin" ein Fragebogen über "die Rechtsgewohnheiten der afrikanischen Naturvölker" von Albert Hermann Post56 entworfen.57 Durch Vermittlung der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, der Union Coloniale Fran~aise sowie verschiedener Missionsgesellschaften gelangte dieser Fragenkatalog an Beamte, Missionare und Privatpersonen in verschiedenen europäischen Kolonien in Afrika und Ozeanien.58 Die aus dieser Befragung gesammelten Daten wurden von dem Rechtsgelehrten S.R. Steinmetz aus Haag (Niederlande) bearbeitet und im Jahre 1903 als wissenschaftliche Kompilation veröffentlicht. 59 Aufgrund der weiten Ausdehnung des Untersuchungsgebiets auf afrikanische und ozeanische Überseegebiete der verschiedenen Kolonialmächte und der begrenzten Zahl der beantworteten Fragebogen war dieses Projekt für eine umfassende Bestandsaufnahme der Rechtsgewohnheiten autochthoner Volker nicht geeig54 So antwortete der Gouverneur von Deutsch-Ostafrika z. B. in seinem Schreiben vom 27. Dezember 1891, daß den mit der "Ausübung der Gerichtsbarkeit betrauten Persönlichkeiten theils die Muße theils die Fähigkeit mangelt, die befohlenen Ermittlungen mit der erforderlichen Gründlichkeit anzustellen und schriftlich niederzulegen" (BArch. Berlin, R 1001, Band 5000, Bl. 7). Bis zum l. Juli 1895 ergingen daher nur sechs Berichte über die Rechtsgewohnheiten ostafrikanischer Völker. 55 Siehe dazu auch das Vorwort bei Erich Schultz-Ewerth/Leonhard Adam (Hrsg.): Das Eingeborenenrecht - Sitten und Gewohnheitsrechte der Eingeborenen der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und in der Südsee, Band 1, Ostafrika, geordnet und bearbeitet von Bernhard Ankermann, Stuttgart 1929, S. V- IX, Band 2, Togo, Kamerun Südwestafrika, die Südseeko1onien, geordnet und bearbeitet von A. Schlettwein, Julius Lips, Berengar von Zastrow, Max Schmidt, Hermann Trimborn, Richard Thurnwald und Erich Schultz-Ewerth, Stuttgart 1930. 56 Richter in Bremen und Rechtsethnologe ( 1839- 1895). 57 Dieser Fragebogen befindet sich im Abdruck bei S.R. Steinmetz: Rechtsverhältnisse von eingeborenen Völkern in Afrika und Ozeanien, Berlin 1903, S. 1-13, sowie in BArch. Berlin, R 1001, Band 4989, Bl. 20-23. Laut Schultz-Ewerth/Adam, Eingeborenenrecht, Band 1, S. V, war auch Kammergerichtsrat Felix Meyer an der Erstellung dieses Fragebogens beteiligt. 58 Vgl. Rüdiger Schott: German Ethnological Jurisprudence, in: Journal of Legal Pluralism 20 (1982), s. 37-68 (45). 59 Die Antworten befinden sich bei Steinmetz, Rechtsverhältnisse, S. 15-455.

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net. 60 Nach Rechtssprichwörtern wurde in dem Fragenkatolog nicht ausdrücklich gefragt. Die aus den eingehenden Berichten zusammengestellte Publikation enthält solche gleichfalls nicht. Etwa um 1895 begann der Berliner Rechtslehrer Josef Kohler61 seine ethnologischen Rechtsforschungen unter Benutzung eines Fragenkatalogs in enger Zusammenarbeit mit der deutschen Kolonialverwaltung. 62 Als Herausgeber des namhaften Fachorgans "Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft" veröffentlichte er daselbst seinen "Fragebogen zur Erforschung der Rechtsverhältnisse der sogenannten Naturvölker, namentlich in den deutschen Kolonialländem".63 Diese sicherlich von den ähnlichen Arbeiten von Albert Hermann Post inspirierte Fragensammlung wurde im Auftrag der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes erstellt und durch dieselbe im Jahre 1896 an die Gouvernements der einzelnen deutschen Kolonien zur Verteilung an geeignete Beamte, Soldaten sowie Missionare zwecks Beantwortung versandt. 64 Dort stieß diese arbeitsintensive ethnologische Rechtsforschung offenbar auf zurückhaltendes Interesse, denn es sind nur wenige Rückmeldungen auf den umfangreichen Fragenkatalog bekannt.65 Die so gewonnenen Informationen flossen teilweise in die wissenschaftlichen Publikationen Josef Kohlers ein.66 Der Fragebogen erhält keinerlei Hinweis auf Rechtssprichwörter, und auch die rücklaufenden Berichte enthalten solche nicht. 60 Drei Jahre später erschien infolge der zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse zwar eine verbesserte Fassung des Fragebogens, jedoch gelangte diese nicht mehr zur Anwendung in der Praxis. Vgl. Internationale Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Berlin: Ethnologische Fragesammlung zur Erforschung des sozialen Lebens der Völker außerhalb der modernen europäisch-amerikanischen Kulturreiche, Berlin 1906. Dieser von den Rechtsethnologen S. R. Steinmetz und Richard Thurnwald zusammengestellte Fragenkatalog war offenbar nur für die einschlägig vorgebildeten Gelehrten, nicht aber für die beantwortenden Verwaltungs- sowie Militärpersonen und Missionare in den Kolonien verständlich. Siehe hierzu Schultz-Ewerth/Adam, Eingeborenenrecht, Band I, S. VII f. 61 Siehe zur Person Josef Kohlers (1849-1919) die Beiträge von Günter Spendet: Josef Kohler - Bild eines Universaljuristen, Heidelberg 1983, sowie Andreas Gängel/Michael Schaumburg, Josef Kohler-Rechtsgelehrter und Rechtslehrer an der Berliner Alma Mater um die Jahrhundertwende, in: Archiv für Rechts- und Staatsphilosophie 75 (1989), S. 289-312. 62 Siehe dazu Bernhard Großfeld I Margitta Wilde: Josef Kohler und das Recht der deutschen Schutzgebiete, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 58 (1994), s. 59-75. 63 Vgl. Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 12 (1897), S. 427-440. 64 Siehe dazu den Runderlaß des stellvertretenden Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, von Bennigsen, vom 21. Juli 1896, in BArch. Berlin, R 1001, Band 5001, BI. 23, mit dem der Fragebogen an die untergeordneten Dienststellen ausgegeben wurde: "Ich ersuche ... , ein Exemplar zu den Akten zu nehmen, die weiteren aber an geeignete Personen im Bezirke, welche für die Sache Interesse zeigen, insbesondere an die Missionsstationen und Reisende zu verteilen." 65 Siehe dazu die entsprechenden zehn Berichte in BArch. Berlin, R 1001, Bände 4889 und4990. 66 So beispielsweise Josef Kohler: Das Recht der Herero, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 14 (1900), S. 294-319; Josef Kohler: Das Banturecht in Ostafrika, in:

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Mit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte neben der Wissenschaft auch die Kolonialpolitik ein gesteigertes Interesse an der Erforschung der Rechtsverhältnisse der autochthonen Volker in den deutschen Kolonien. Ab 1907 wurden in diesen Kolonialgebieten umfangreichere Erhebungen über den Inhalt der ungeschriebenen Gewohnheitsrechte durchgeführt.67 Derlei Forschungsvorhaben sollten im wesentlichen dem Zweck dienen, mittels einer wohlüberlegten Beeinflussung der Rechtsgebräuche einen allmählichen friedlichen Übergang der traditionellen Gesellschaften in eine den Vorstellungen der Obrigkeit entsprechend angepaßte, berechenbarere soziale Ordnung zu ermöglichen. Die Kolonialmacht hatte ihre Gründe für die verstärkte Berücksichtigung afrikanischen Gewohnheitsrechts in der kolonialen Rechtspolitik. Bei ihr setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß eine dauerhafte, friedliche Beherrschung der Kolonien weitaus schwieriger zu bewerkstelligen war als deren Okkupation. Als ein wichtiger Faktor zur Beherrschung der unterworfenen Kolonialvölker erwies sich die Kenntnis ihrer Rechtsverhältnisse. Ihre Rechtsgewohnheiten regelten die sehr komplexen sozio-ökonomischen Verhältnisse im traditionellen Familienund Gemeinschaftsverband. Unbedachte Eingriffe durch die kolonialen gesetzgebenden und rechtsprechenden Organe konnten daher leicht zu unerwünschten Ausschreitungen führen. Auf diesen Aspekt wies am Beispiel der kolonialen Rechtspolitik in Deutsch-Südwestafrika eindrucksvoll Felix Meyer68 in seiner unfassenden Schrift "Wirtschaft und Recht der Herero" hin. Darin arbeitete er heraus, daß eine wesentliche Ursache für den Krieg der Herero69 gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Südwestafrika eine leichtfertige und mißverständliche Rechtspolitik war, die den Herero allmählich ihre ökonomische Existenzgrundlage entzogen Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 15 (1902), S. 1-83; Josef Kohler: Das Recht der Betschuanen, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 15 (1902), S. 321- 336; Josef Kohler: Das Recht der Hottentotten, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 15 (1902), S. 337-360. 67 Siehe dazu Margitta Boin: Die Erforschung der Rechtsverhältnisse in den "Schutzgebieten" des Deutschen Reiches, Münster, Harnburg 1996; Alison Redmayne/Christine Rogers.· Research on Customary Law in German East Africa, in: Journal of African Law (27) 1983, S. 22-41; Harald Sippe/: Der Deutsche Reichstag und das "Eingeborenenrecht": Die Erforschung der Rechtsverhältnisse der autochthonen Volker in den deutschen Kolonien, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 61, 1997, S. 714-738; Harald Sippe[: Customary Family Law in Colonial Tanganyika: a Study of Change and Continuity, in: Comparative and International Law Journal of Southern Africa 31, 1998, s. 373-383. 68 Karnrnergerichtsrat (1851-1925). Zur Person von Felix Meyer siehe den Beitrag von Elmar Wadle: Wegbereiter der Rechtsvergleichung. Die internationale Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 17 (1995), S. 50-59. 69 Zu den Kriegen der Herero, Nama und anderer südwestafrikanischer Volker gegen die deutsche Kolonialherrschaft von 1904 bis 1907 siehe z. B. Helmut Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914, Harnburg 1968, S. 189-208; JanBart Gewald: Herero Heroes. A Socio-political History of the Herero of Namibia 18901923, Oxford, Cape Town, Athens 1999, S. 141-191.

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hatte. 70 In seiner Abhandlung forderte Felix Meyer nachdriicklich die Bereitstellung finanzieller Mittel zur Erforschung des "Rechtslebens der Eingeborenen".71 Seine Anregung erhielt Eingang in einer vom Deutschen Reichstag angenommenen Resolution,72 welche zur Einrichtung einer "Kommission zur Erforschung des Eingeborenenrechts" führte, die mit der Durchführung der Sammlung der Rechtsgewohnheiten der in den deutschen Überseegebieten lebenden Menschen im amtlichen Auftrag betraut wurde?3 Die vielen Daten, die mittels eines von der Kommission auf der Grundlage des Kohler'schen Fragenkatalogs von 1897 entworfenen Fragebogens von Verwaltungsbeamten, Missionaren, Siedlern und Soldaten in den deutschen Kolonien gesarnrnelt worden waren, trafen bis 1913 beim Reichskolonialamt ein. 74 Zu ihrer Auswertung kam es aufgrunddes Ersten Weltkrieges und seinen Nachwirkungen, die für Deutschland gemäß den Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles den Verlust des Kolonialreiches zur Folge hatten/5 erst in den 1920er Jahren. 70 Vgl. Felix Meyer: Wirtschaft und Recht der Herero, in: Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre 8 (1905), S. 439539. Dieser Beitrag thematisiert die Kreditvergabe an die Herero durch europäische Händler sowie die damit eng zusammenhängende Landfrage in Deutsch-Südwestafrika und die sich daraus ergebenden rechtlichen Problemstellungen (S. 502- 512). Siehe in diesem Zusammenhang auch Felix Meyer: Die Erforschung und Kodifikation des Eingeborenenrechts, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 9, 1907, S. 847-869 (848 f.). 71 Vgl. Meyer, Wirtschaft und Recht der Herero, S. 536: "Die Regierung ist rege1mässig bereit, für jede wirtschaftliche Exploitation des Landes und die diesen Zwecken förderlichen Versuche materielle Hilfe zu bieten, wissenschaftliche Unternehmungen etwa zur Erforschung von Flora oder Fauna der Schutzgebiete pekuniär zu subventionieren, zur Aufhellung des Rechtslebens der Eingeborenen, welches, wie gezeigt, für die Wissenschaft und die EiDgeborenenpolitik von so eingreifender Bedeutung ist, sind, soweit dem Verfasser bekannt geworden ist, bisher erhebliche Mittel noch nicht bewilligt worden." 72 Resolution zur zweiten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes, betreffend die Feststellung des Reichshaushalts-Etats für das Rechnungsjahr 1907, vom 2. Mai 1907 (Deutscher Reichstag, Drucksache Nr. 386, 12. Legislatur-Periode, I. Session 1907). 73 Zu den Tätigkeiten und Ergebnissen der Kommission siehe Sippel, Der Deutsche Reichstag und das ,.Eingeborenenrecht", S. 719-735. 74 Die Berichte befinden sich in BArch. Berlin, R 1001, Bände 4998 und 4999. Von der Erhebung ausgenommen war freilich die kleine westafrikanische Kolonie Togo, wo Assessor Rudolf Asmis in seiner Eigenschaft als juristischer Kolonialbeamter beim dortigen Gouvernement mit der Erhebung der lokalen Rechtsgebräuche befaßt war. Siehe dazu das Schreiben des Gouverneurs von Togo, Julius Graf von Zech auf Neuhofen, an das Reichs-Kolonialamt vom 8. Februar 1908 (BArch. Berlin, R 1001, Band 4992, BI. 115f.). Der Fragebogen sollte daher im Hinblick auf die Rechtsgewohnheiten der in Togo lebenden Volker auf der Grundlage der bereits vorgenommenen juristischen Untersuchungen von Rudolf Asmis beantwortet werden. Vgl. Schultz-Ewerth/Adam, Eingeborenenrecht, Band 2, S. 11. 75 Nach Art. 119 des Versailler Vertrages vom 28. Juni 1919 hatte das Deutsche Reich zugunsten der alliierten und assoziierten Hauptmächte entschädigungslos auf alle seine Rechte und Ansprüche bezüglich seiner überseeischen Gebiete verzichtet. Vgl. hierzu das "Gesetz über den Friedensschluß zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten" vom 16. Juli 1919, Reichsgesetzblatt 1919, S. 687-1335 (895).

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Die Abschlußpublikation, die ursprünglich als Grundlage für ein einheitliches "Eingeborenenrecht" oder zumindest für ein Rechtsbuch für die jeweiligen Kolonialgebiete hatte dienen sollen, erschien gar erst 1929 I 30 in zwei Teilen.76 Neben dem ausschließlich auf juristische Inhalte fixierten Fragebogen von Josef Kohler erkundigte sich der Fragenkatalog von 1907 in der Einleitung auch nach dem kulturellen und religiösen Umfeld der zu befragenden ethnischen Gemeinschaft:77 ,.Es soll zuerst eine allgemeine Schilderung von Land und Leuten nach ethnologischer und winschaftlicher Seite hin gegeben werden. Wünschenswert sind Angaben über Körperbeschaffenheit, Bevölkerungszahl, Nahrung, Kleidung, Wohnung und sonstige Lebensverhältnisse, über Zusammenleben, über Geistestätigkeit, namentlich Religion, Sprache, Geschichte, Sagen und Märchen. Von der Religion soll insbesondere der Ahnenkult und seine Formen und Betätigungen untersucht werden."

Die Einleitung des "Fragebogens über die Rechte der Eingeborenen in den deutschen Kolonien" weist damit zwar auf die Bedeutung von Sprache, Sagen und Märchen hin, um die orale Literatur für die Erforschung afrikanischen Gewohnheitsrechts nutzbar zu machen, allerdings wird nicht ausdrücklich nach Rechtssprichwörtern gefragt. Weder in den Berichten noch in den publizierten Berichtsbänden finden sich verwertbare Hinweise auf solche Sprichwörter. Auch hier scheinen etwa mitgeteilte Rechtssprichwörter entweder schon vor oder zumindest nach der Übersetzung in die deutsche Sprache durch präzisere Rechtssätze aufgelöst worden zu sein. Eine ebenso umfangreiche wie detaillierte Erhebung afrikanischen Gewohnheitsrechts hat der Kolonialjurist Rudolf Asmis für Togo im Jahre 1907 vorgenommen. Er bereiste sämtliche Verwaltungsbezirke dieser Kolonie und erstellte im amtlichen Auftrag mittels Befragung von autochthonen Rechtshonoratioren umfängliche Berichte, die einen guten Einblick in afrikanische Rechtsverhältnisse dieser Zeit erlauben.78 Zwar konnte auch für dieses Vorhaben das eigentliche Ziel, nämlich eine Kodifikation afrikanischer Rechtsgewohnheiten,79 nicht erreicht werSchultz-EwerthlAdam, Eingeborenenrecht, Band I und 2. Der Fragebogen erschien als Broschüre bei der Hofbuchdruckerei Julius Sittenfeld in Berlin, siehe BArch. Berlin, R 1001, Band 4999. Ein Abdruck des Fragenkatalogs befindet sich bei Boin, Erforschung der Rechtsverhältnisse, S. 163-184. Eine englische Fassung des Fragebogens liefern Redmayne I Rogers, Customary Law in German East Africa, S. 28-36. 78 Einige der Berichte wurden veröffentlicht; siehe Rudolf Asmis: Die Stammesrechte des Bezirks Atakpame (Schutzgebiet Togo), in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 25 (1911), S. 67 -130; Rudolf Asmis: Die Stammesrechte der Bezirke Misahöhe, Anecho und Lomeland (Schutzgebiet Togo), in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 26 (1911), S. 1-133; Rudolf Asmis: Die Stammesrechte des Bezirks Sansane-Mangu (Schutzgebiet Togo), in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 27 (1912), S. 71-128. Die Berichte über die ,.Stammesrechte" in den Bezirken Kete-Kratschi und Sokode-Basari durften aufgrund von Vorbehalten des Reichskolonialamtes nicht veröffentlicht werden (BArch. Berlin, R 1001, Band 5007, Anlage 2). 79 Vgl. Spieth, Die Rechtsanschauungen der Togoneger, S. 140. 76

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den, jedoch stellt die Untersuchung eine wichtige Quelle für das seinerzeit in Togo existierende afrikanische Gewohnheitsrecht dar. Trotz der umfangreichen Erhebung afrikanischer Rechtsgewohnheiten, der wörtlichen Wiedergabe von Dialogausschnitten und der Erwähnung von Erzählgut, wie beispielsweise Legenden über die Herrschaftserlangung hochgestellter autochthoner Persönlichkeiten und ihrer Familien, finden Rechtssprichwörter in den Berichten von Rudolf Asmis keine Berücksichtigung. Vermutlich sind hierfür die gleichen Gründe wie bei dem Forschungsprojekt des Deutschen Reichstages von 1907 ausschlaggebend. Deutliche Hinweise über die Existenz und den Gebrauch von Sprichwörtern zum afrikanischen Gewohnheitsrecht in den ehemaligen deutschen Kolonien finden sich in den Schriften von Missionaren. Als Sprach- und Landeskenner fiel ihnen der Zugang zu Informationen über afrikanische Rechtsverhältnisse oftmals leichter als anderen Kolonistengruppen. 80 So finden sich einige nützliche Kompilationen von Sprichwörtern mit mehr oder weniger rechtlichem Bezug zu verschiedenen kulturellen Gemeinschaften in den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika.81 Diesen Sammlungen ist allerdings gemein, daß sie nicht unmittelbar auf konkrete Gerichtsverhandlungen Bezug nehmen. Das Material scheint vielmehr eher durch Befragungen gesammelt, als durch Prozeßbeobachtung erhoben worden zu sein. Über die Anwendung und Wirkung von Rechtssprichwörtern im Prozeß wird jedenfalls nirgends berichtet. Das gleiche gilt auch für die wissenschaftliche Literatur zu Rechtsgewohnheiten afrikanischer Völker in den ehemaligen deutschen Kolonien,82 und sogar für die seltenen Fälle, in denen Aussagen von Afrikanern 80 Vgl. Harald Sippe[: Mission und Kodifikation: Der missionarische Beitrag zur Erforschung des afrikanischen Gewohnheitsrechts in der Kolonie Deutsch-Ostafrika, in: Wilfried Wagner (Hrsg.), Kolonien und Missionen, Münster/Harnburg 1994, S. 493-510 (498-502). 81 Siehe beispielsweise C. J. Bender: Die Volksdichtung der Wakweli. Fabeln und Märchen, Parabeln, Rätsel und Sprichwörter, Berlin 1922; Bruno Gutmann: Das Rechtsleben der Wadschagga im Spiegel ihrer Sprichwörter, in: Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen 14 (1923), S. 44-68; Phitipp Hecklinger: Dualasprichwörter, in: Zeitschrift für EingeborenenSprachen 11 (1920/21), S. 35-70, S. 125-160, S. 220-239, S. 306-315 (insbesondere S. 37-60); J. lrle: Herero-Sprichwörter, in: Zeitschrift für Kolonialsprachen 4 (1913/14), S. 1-19; Ernst Johanssen/ Paul Döring: Das Leben der Schambala beleuchtet durch seine Sprichwörter. Ein Beitrag zum Verständnis der Eingeborenen Deutsch-Ostafrikas, in: Zeitschrift für Kolonialsprachen 5 (1914), S. 137-150, 190-226,306-318 (215-222); Paul Scheib/er: Basa-Sprichwörter, in: Zeitschrift für Kolonialsprachen 8 (1917/18), S. 1-35 (insbesondere S. 23- 32); Friedrich Storbeck: Pulsprichwörter aus Adamaua, Nord-Kamerun, in: Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen 19 ( 1919/20), S. 106- 122. 82 Siehe beispielsweise H. Autenrieth: Recht der Kissibaleute (Bezirk Bukoba), in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 21 (1908), S. 354-392; Dannert: Zum Recht der Herero; Ulrich F. Delius: Das traditionelle Zivilrecht der Herero, eines Stammes von Rindernomaden im Südwesten Afrikas, jur. Diss. Göttingen 1989; von Eberstein: Über die Rechtsanschauungen der Küstenbewohner des Bezirks Kilwa, in: Mitteilungen aus den Deutschen Schutzgebieten 9 (1896), S. 170-183; Bruno Gutmann: Das Recht der Dschagga, München 1926; Ernst Henrici: Das Volksrecht der Epheneger und sein Verhältnis zur deutschen Colonisation im Togogebiete, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 11 (1895), S. 131-152; von Kalben: Über die Rechtsverhältnisse der Eingeborenen in der Um-

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über ihre Rechtsverhältnisse in wörtlicher Rede wiedergegeben werden. 83 Auf die häufige Verwendung von Sprichwörtern im ostafrikanischen Alltag weist allerdings der in seiner Art einzigartige ethnographische und autobiographische Roman von Aniceti Kitereza hin. 84 Dort wird auch über die Anwendung von Rechtssprichwörtern im Prozeß berichtet. 85

2. Deutsche "Eingeborenenrichter" Über die Tätigkeit von deutschen "Eingeborenenrichtern" finden sich in der Literatur nur kärgliche Hinweise. Die sehr wenigen einschlägigen Schriften aus der Feder von als "Eingeborenenrichter" fungierende Verwaltungsbeamten und Militärpersonen geben zwar Auskunft über die Art der Rechtsstreitigkeiten, sie enthalten allerdings keinen Hinweis auf die Bedeutung von Rechtssprichwörtern in der "Eingeborenenrechtsprechung". 86 Mehr noch, afrikanische Rechtssprichwörter finden in diesen Publikationen überhaupt keine Erwähnung. gebung von Bukoba, in: Mitteilungen aus den Deutschen Schutzgebieten 9 (1896), S. 38-40; Josef Kahler: Über das Negerrecht, namentlich in Karnerun, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft S. 413-475; Kahler; Recht der Herero; Kahler; Banturecht in Ostafrika; Kahler; Recht der Betschuanen; Kahler; Recht der Hottentotten; Ernst Kotz: Im Banne der Furcht. Sitten und Gebräuche der Wapare in Ostafrika, Harnburg et al. 1922, S. 105 -129; Moritz Merker: Rechtsverhältnisse und Sitten der Wadschagga, Gotha 1903; Moritz Merker: Die Masai, 2. Aufl. Berlin 1910, S. 211-221, S. 260-264; Ernst Nigmann: Die Wahehe. Ihre Geschichte, Kult-, Rechts-, Kriegs- und Jagd-Gebräuche, Berlin 1908, S. 44-73; Georg Riegner: Das Sachenrecht der Herero vor dem Eindringen fremder Rechtsbegriffe, jur. Diss. Heidelberg 1911; Walter von St. Paul-lllaire: Über die Rechtsgewohnheiten der im Bezirk Tanga ansässigen Farbigen, in: Mitteilungen aus den Deutschen Schutzgebieten 8 (1895), S. 191-209; A. Schlettwein: Die Stammesrechte in Togo, in: Mitteilungen aus den Deutschen Schutzgebieten 36 (1928/29), S. 13 -26; Kavugha Fanuel Simeon: Desturi na rnila za Wapare, Soni 1977; Storch: Sitten, Gebräuche und Rechtspflege bei den Bewohnern Usarnbaras und Pares, in: Mitteilungen aus den deutschen Schutzgebieten 8 (1895), S. 310-331; Carl Velten: Sitten und Gebräuche der Suaheli nebst einem Anhang über die Rechtsgewohnheiten der Suaheli, Göttingen 1903, insbesondere S. 347-354; C. Wandres: Über das Recht der Narnan und Bergdarnan, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 11 (1909), S. 657 -686; C. Wandres: Über Rechtsbewußtsein und Recht unserer Eingeborenen, besonders der Hottentotten, in: Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft 12 (1910), S. 269-281; Hans Wedell: Das Sachen- und Vertragsrecht und die politische Organisation der Suaheli, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 18 (1905), S. 119-183; Heinrich Vedder: Die Bergdarna, I. Teil, Harnburg 1923, s. 143-152. 83 Siehe dazu Otto Dempwolff: Die Sandawe. Linguistisches und ethnographisches Material aus Deutsch-Ostafrika, Harnburg 1916, S. 116-124. 84 Siehe seine Familiensaga in zwei Bänden aus dem vorkolonialen und kolonialen nordwestlichen Tansania (übersetzt von Wilhelm Möhlig): Die Kinder der Regenmacher, 2. Aufl., Wuppertal1991, und Der Schlangentöter, Wuppertal1993. 85 Kitereza: Die Kinder der Regenmacher, S. 41-49. 86 Siehe dazu Karstedt, Praxis der Eingeborenenrechtsprechung; Hans Poeschel: Bwana Hakimu-: Richterfahrten in Deutsch-Ostafrika, Leipzig o.J.

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Der Bezirksamtmann und ,,Eingeborenenrichter" von Tanga in Deutsch-Ostafrika, Walter von St. Paul-Illaire, verwendete in seinem "Swahili-Sprachführers" vielerlei Redewendungen, die einen deutlichen Bezug zur "Eingeborenenrechtsprechung" aufweisen. 87 Trotz der zahlreichen Sprachformeln und Dialogmuster, die er in seinem Vokabularium lebensnah wiedergegeben und damit der Nachwelt erhalten hat, wurden von ihm Rechtssprichwörter jedoch nicht beriicksichtigt. Nur wenige Niederschriften der von den "Eingeborenenrichtern" behandelten Streitigkeiten haben den Weg in die Archive gefunden. Zumeist handelt es sich dabei um Strafsachen. Zwar finden sich in den nachgelassenen Akten durchaus bedeutsame Dokumente, die in Einzelfällen einen interessanten Einblick in die von den deutschen "Eingeborenenrichtern" ausgeübte Gerichtsbarkeit erlauben. 88 Allerdings werden weder in den selten angefertigten Verhandlungsprotokollen, noch in den Urteilsausfertigungen afrikanische Rechtssprichwörter wiedergegeben. Selbst in den wenigen überlieferten Fällen, in denen afrikanisches Gewohnheitsrecht eine Rolle spielte, kommt eine ausdriickliche Bezugnahme auf Sprichwörter nicht vor. 89 Solche haben, selbst wenn sie in der mündlichen Verhandlung vorgebracht sein sollten, weder Eingang in die Niederschriften über den Verfahrensablauf noch in die abschließende Entscheidung des "Eingeborenenrichters" gefunden. Das bereits genannte Vorhaben zur Erforschung des "Eingeborenenrechts" in Togo durch den Kolonialjuristen Rudolf Asrnis im Auftrag des Gouvernements aus dem Jahre 1907 umfaßte auch das sogenannte Bezirksleiterrecht, also das von den deutschen ,,Eingeborenenrichtern" in den verschiedenen Bezirken Togos geschaffene und angewandte Richterrecht Der entsprechende Bericht gibt zwar viele aufschlußreiche Erkenntnisse zum Umfang und zum Inhalt dieses Rechts, jedoch sind dort Rechtssprichwörter nicht verzeichnet. 90 Die Forschungsergebnisse waren übrigens so heikel, daß das Reichskolonialamt eine Veröffentlichung aus politischen Griinden untersagte.91 Die Zentrale der Kolonialverwaltung befürchtete 87 Dar-es-Salaam 1896, S. 9-93. Siehe dazu auch den Beitrag von Harald Sippe[: Vom Vokabularium zur Jurisdiktion: Der "Swahili-Sprachführer" des Bezirksamtmannes Walter von St. Paul-Illaire als Quelle für die vom "Eingeborenenrichter" behandelten Rechtsangelegenheiten in der Kolonie Deutsch-Ostafrika, in: Axel Fleisch I Dirk Otten (Hrsg.), Sprachkulturelle und historische Forschungen in Afrika, Köln 1995, S. 283-303. 88 Siehe z. B. die "Gerichtsakten für Farbige (1907/1908)" der Militärstation Kilimatinde in Deutsch-Ostafrika (Tanzania National Archives, German Records, G 55/25). 89 Siehe Bezirksamt Wilhelmstal (Deutsch-Ostafrika), "Gerichtsbarkeit über Farbige", Strafsachen 1901-1903, öffentliches Schauri vom 16. Januar 1903 (Tanzania National Archives, German Records, G 54/17, o.Bl.). 90 BArch. Berlin, R 1001, Band 5007, Anlage I. 91 Siehe dazu das Schreiben des Staatssekretärs des Reichskolonialamts Friedrich von Lindequist an den Gouverneur von Togo vom 3. März 1911 (BArch. Berlin, R 1001, Band 5006, BI. 102): ". . . Von einer Veröffentlichung des von Assessor Dr. Asmis zusanimengestellten Bezirksleiterrechts sowie des Stammesrechts habe ich Abstand genommen, da das Material vieles

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offenbar, die sehr großen richterlichen Freiheiten der mit der "Eingeborenenjustiz" befaßten Beamten könnte den kolonialkritischen Kreisen in Deutschland, vor allem aber den Oppositionsparteien im Reichstag, weitere Argumente gegen die deutsche Kolonialpolitik liefern. Der ebenso interessante wie umfängliche Bericht von Rudolf Asmis über das "Bezirksleiterrecht" in Togo fand daher in den Archiven der Kolonialzentralverwaltung eine unverdiente Endlagerstätte.92

IV. Afrikanische Rechtssprichwörter ein Problem der Semantik Die Bedeutung afrikanischen Gewohnheitsrechts, insbesondere auf dem Gebiet des Familien- und Erbrechts, war in sämtlichen südlich der Sahara gelegenen Regionen des afrikanischen Kontinents ganz erheblich, und daran hat sich übrigens bis auf den heutigen Tag kaum etwas geändert.93 Allerdings ist die Anwendung von Rechtssprichwörtern, aber auch von anderem Erzählgut mit rechtlichem Gehalt, vor den "Eingeborenengerichten" und vor den "Eingeborenenrichtern" zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft und eine Beriicksichtigung der daraus entspringenden Weisheiten in die Urteilsfindung aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht nachweisbar. Der Grund für die spärliche Quellenlage ist keineswegs allein in der unzureichenden Dokumentation von "Eingeborenenprozessen" oder in dem Desinteresse früher Rechtsethnologen zu finden. Auch in afrikanischen Gerichtsverhandlungen ist nämlich nicht so sehr ein passendes Sprichwort für den Ausgang des Prozesses entscheidend, sondern vielmehr die Beweislage, vor allem die Zeugenaussagen, und die Rechtslage. 94 Wenn die Beweise und die Rechtslage eindeutig sind, dann kann auch das treffendste Rechtssprichwort das Urteil nicht verhindern. Zwar wird in einem Rechtssprichwort aus Kamerun auf die Redegewandtheit einer Prozeßpartei abgestellt, die im Einzelfall das Urteil günstig zu beeinflussen vermag: enthält, was zu Mißverständnissen und zu Angriffen gegen die Verwaltung Anlaß geben könnte...." 92 BArch. Berlin, R 1001, Band 5007, Anlage 1. Eine Veröffentlichung dieses Berichts und weiterer Arbeiten von Rudolf Asmis wird derzeit von Peter Sebald und Harald Sippe! vorbereitet und soll demnächst unter dem Titel "Recht und Kolonialpolitik. Die Arbeiten des Dr. jur. & phil. Rudolf Asmis über "Eingeborenenrecht" in Togo und Westafrikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts" erscheinen. Siehe dazu auch den Beitrag von Peter Sebald: Recht und Politik im kolonialen Westafrika, in: Rüdiger Voigt/Peter Sack (Hrsg.), Kolonialisierung des Rechts, Baden-Baden 2001, S. 157-166. 93 Vgl. Harald Sippe!: Afrikanische Rechtssysteme im Entwicklungsprozeß: die Stellung der Frau im Erb- und Familienrecht im östlichen und südlichen Afrika, in: Afrika Spectrum 32 (1997), S. 255-280, m. w. N. 94 So auch Kwesi Yankah: Proverb Rhetoric in African Judicial Processes, in: The Journal of American Folklore 99 (1986), S. 280-303 (285).

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Ntan amak, o ngo ndak. (Du streitest mittels des Unterkiefers und rettest dich vom Tode.)

Das bedeutet: "Ist einer so mundfertig, daß er im Prozeß den andem gar nicht zu Wort kommen läßt, dann heißt es: Dein Mundwerk hat dich gerettet." 95 Jedoch wird in mehreren Rechtssprichwörtern auf den zweifelhaften Wert von Parteiaussagen und die größere Bedeutung von Beweismitteln hingewiesen. In einem Sprichwort der Ful aus Adamaua im nördlichen Kamerun heißt es: Djauo woto soiba ta. (Ein Armring allein klingt nicht.)

Als Erklärung wird dazu mitgeteilt: "Ein gutes Mundwerk hilft manchmal bei Gericht nicht wenig, besser ist es noch, wenn ich andere Zeugen mit aufbiete; denn eine derartige Übermacht kann den Prozeß gewinnen helfen, während der Ankläger, der allein dasteht, aber seine Sache nicht so geschickt darlegen kann, mit seiner Wahrheit verurteilt wird. Ja, sagt man dann: ,Ein Armring klingt eben nicht', hätte er ebensoviel Zeugen als sein Gegner gehabt, hätte er auch recht bekommen." 96 Auch die Dschagga in Ostafrika haben dafür ein Sprichwort parat: Miso avi ni kilema. (Zwei Augen- das ist Widerstand.)

Dazu gibt es folgende Erläuterung: "Ein deutlicher Zeuge ist von großer Bedeutung. Sein Auftreten kann viele Listen kundiger Rasensprecher97 zunichte machen."98 Ein Rechtssprichwort aus Kamerun knüpft an diese Aussage an und gibt den Gerichtspersonen folgenden Ratschlag: 0 ke deb ngumbok manyuen! (Schlag den Ratten nicht auf die Nasen- sonst gehen sie wieder in ihre Löcher zurück!)

Als Erklärung hierzu wird berichtet: ,,zeugen auszufragen, erfordert besondere Geschicklichkeit. Leicht kann einer durch seine Fragen den Zeugen zum Verschweigen einer Sache veranlassen. Darum sei als Richter vorsichtig wie beim Rattenfang. " 99 Auf die überragende Bedeutung der Beweislage und den Umstand, daß sich eine redegewandte Prozeßpartei ihres Erfolges nicht zu sicher sein sollte, stellt ein weiteres Rechtssprichwort der Dschagga (Ostafrika) ab: Vgl.lttmann, Sprichwörter der Nyang, S. 293. Vgl. Friedrich Storbeck: Pulsprichwörter aus Adamaua, Nord-Kamerun, in: Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen 19 (1919/20), S. 106-122 (114f.). 97 Damit ist eine Prozeßpartei oder ihr Vertreter gemeint. 98 Gutmann, Rechtsleben der Wadschagga, S. 68. 99 lttmann, Sprichwörter der Nyang, S. 289. 95

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Harald Sippel Kulahambe tsa kulainutsya. (Brauche den Entrüstungsruf tsa nicht vor dem Ende.)

Die Erläuterung hierzu lautet: "Die gut geschauspielerte sittliche Entrüstung mancher Prozeßpartei hat schon manchmal ein lächerliches und rasches Ende gefunden, wenn der Gegner mit seinem zurückgehaltenen entscheidenden Wahrheitsbeweis hervortrat." 100 Wenn schon Sprichwörter in der Gerichtsverhandlung herangezogen werden, dann müssen sie auch auf die besondere Situation zutreffen, wie man einem Rechtssprichwort der Schambala (Ostafrika) entnehmen kann: \ryehuna nombe ni hihula: mkowa woshe nkauhuna nombe, hambu hakimosoka utahahatika. (Wenn du nun zu reden hast, so rede nicht vielerlei, sondern Treffendes, denn "es ist nicht der ganze Riemen, sondern nur die Schlinge, womit man ein Rind führen kann.") 101

Dies heißt aber nicht, daß man mit Sprichwörtern, selbst wenn sie treffend sein sollten, seine Rechtsposition im Prozeß stets günstig beeinflussen kann. Von den Nama in Südwestafrika ist eine Redensart überliefert, das einerseits auf die Geschmeidigkeit des Rechts und auf die Beeinflußbarkeit der Richterpersonen abstellte, andererseits aber auch auf das Faktum hinweist, das einem Sprichwort oftmals ein anderes mit konträrem Aussagegehalt gegenübersteht: "Das Namagesetz ist gewunden wie ein Kuduhom." 102

Die deutschen "Eingeborenenrichter" dürften sich mit der Anwendung von Rechtssprichwörtern besonders schwer getan haben. Wie bereits dargelegt, verfügten sie aus durchaus nachvollziehbaren Gründen weder über besondere juristische noch über ethnologische Kenntnisse, oftmals auch nicht über die erforderlichen Fertigkeiten in afrikanischen Sprachen. Gerade bei Rechtssprichwörtern kommt es aber auf die sprachliche und kulturelle Kompetenz des Rechtsanwenders an, denn Rechtssprichwörter sind aus sich heraus nicht selten nur für die Personen verständlich, die über den gleichen sozialen, historischen, kulturellen, religiösen und ökonomischen Hintergrund der jeweiligen Gemeinschaft verfügen, in deren Mitte das Sprichwort entstanden ist und dort auch angewendet wird. Und selbst dann kommt es auf den Kontext an, in dem das Sprichwort Verwendung findet, wie wiederum am Beispiel eines Rechtssprichworts der Dschagga (Ostafrika) aufgezeigt wird: Oha lukamewuka na kosia mafuda loewasefo. (Wenn die Glatze einmal entstanden ist, so wird sie nicht wieder, auch wenn du sie mit Butter salbest.) Gutmann, Rechtsleben der Wadschagga, S. 61. Johanssen/Döring, Leben der Schambala, S. 218. 102 Vgl. Wandres, Über das Recht der Naman und Bergdaman, S. 659. Bei den Kudu handelt es sich um eine im südlichen Afrika vorkommende Antilopenart, die mit einem bis zu 152 cm langen, gewundenen Gehörn bewehrt ist. 100

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Als Erklärung hierzu wird mitgeteilt: "Ein Rechtsstreit zerstört die Freundschaft; sie läßt sich nach dem Ende des Prozesses nicht wieder herstellen." 103 Hier wird deutlich, daß sich das herangezogene Sprichwort trotz der allgemeinen Aussage nur auf Rechtsstreitigkeiten bezieht. Offenbar wird dieses Rechtssprichwort nur in dem situativen Zusammenhang einer Gerichtsverhandlung verwendet und von den Adressaten auch nur in diesem Kontext verstanden. Für den Außenstehenden ergibt sich damit die Schwierigkeit, daß ihm selbst bei guten Sprachkenntnissen der Sinngehalt eines Sprichwortes verborgen bleibt, da er nicht über den besonderen kulturellen, religiösen, sozio-ökonomischen und historischen Hintergrund verfügt wie die bestimmte Gemeinschaft, die das Sprichwort anwendet. Auf diese Verständnisschwierigkeiten wiesen bereits ethnologisch und linguistisch interessierte Missionare hin. So schreibt etwa Heinrich Vedder von den Bergdamara in Südwestafrika: 104 .,Der Sprichwörterschatz der Bergdama ist nicht groß. Da sie sich zum Teil an die Eigenart des Landes und die dadurch bedingte eigenartige Lebensweise des Volkes anschließen, zum Teil sich an Erzählungen und Fabeln anlehnen, sind sie ohne Erklärung nurdem verständlich, der Land und Volk aufs genaueste kennt. Welcher Europäer könnte sich dessen rühmen?"

Missionar Ernst Kotz ergänzt diese Feststellung in seiner Beschreibung des Pare-Volkes in Ostafrika treffend: 105 .,Solche Gedankenverbindungen sind es auch, die uns Europäern zuerst oft völlig ratlos vor vielen ihrer Sprichwörter oder Rätsel stehen lassen, weil uns das Verständnis für das, worauf es ankommt, durchaus fehlt, während bei ihnen jedes Kind den Zusammenhang sofort sieht. "

Und dieser für Außenstehende mißliche Umstand führt zu einem besonderen Problem, das ein weiteres afrikanisches Sprichwort grausam verdeutlicht: Nur ein Narr begehrt die Erklärung eines Sprichwortes. (,,According to an Ashanti proverb it is only a fool, who, when told a proverb will require it tobe explained to him.") 106

Diese eindeutige Aussage ist auch für Außenstehende sofort verständlich und bedarf somit keiner weiteren Erklärung. Aber welcher deutsche "Eingeborenenrichter" wollte sich schon in einer Gerichtsverhandlung, die zur Demonstration der Macht des Kolonialstaates öffentlich stattfand, als Narr zu erkennen geben, indem er um die Erklärung eines Rechtssprichwortes nachsuchte? Und welcher landes-, Gutmann, Rechtsleben der Wadschagga, S. 58. Vedder, Die Bergdama, II. Teil, S. 106. 105 Vgl. Kotz, Im Banne der Furcht, S. 111. 106 Vgl. Ojoade, Proverbial Evidences of African Legal Customs, S. 27. Hier wurde zwar ein Sprichwort eines Volkes bemüht, das nicht im den früheren deutschen Überseegebieten in Afrika beheimatet war, jedoch dürfte seine Aussage allgemeiner Natur sein. 103

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Harald Sippe!

sprach- und volkskundige Berichterstatter machte sich bei der Beantwortung der rechtsethnologischen Fragebogen schon die Mühe, Rechtssprichwörter aufzunehmen und umständlich vor dem speziellen Hintergrund der Gemeinschaft der befragten autochthonen Informanten zu erklären, wenn auch eine kurze formelhafte Umschreibung des Aussagewertes des Sprichwortes den Anforderungen der Auftraggeber genüge zu leisten vermochte und von diesen sogar besser verstanden wurde?

V. Fazit Sprichwörter waren als Quelle afrikanischen Gewohnheitsrechts im Rahmen des deutschen kolonialen Rechts- und Gerichtssystems allenfalls von untergeordneter Bedeutung. Sie spielten weder in den Prozessen vor dem deutschen "Eingeborenenrichter" noch bei den rechtsethnologischen Forschungsprojekten eine Rolle. In der wissenschaftlichen Literatur werden sie zwar zuweilen behandelt, jedoch wird dort nicht ihre Anwendung in der Gerichtsverhandlung und ihr Einfluß auf die Urteilstindung thematisiert. Die tatsächliche Anwendung von Rechtssprichwörtern vor Gericht ist daher kaum nachweisbar. Es ist gleichwohl sehr wahrscheinlich, daß sie zumindest vor den "Eingeborenengerichten" verwendet wurden, obwohl auch hier die Rechtslage und die Beweismittel, insbesondere die Zeugenaussagen, einen erheblich stärkeren Anteil an der Urteilstindung hatten, als dies für Rechtssprichwörter angenommen werden kann. Über die Anwendung von afrikanischen Rechtssprichwörtern in Gerichtsverhandlungen vor deutschen "Eingeborenenrichtern" ist nichts bekannt. Hier ist der Einfluß von afrikanischen Rechtssprichwörtern auf den Ablauf des Prozesses und die Entscheidung aufgrund der Sprach- und Verständnisprobleme auf Seiten des deutschen Beamten eher unwahrscheinlich. Das Sprichwort, aber auch anderes Erzählgut, als Quelle afrikanischen Gewohnheitsrechts im Rahmen der deutschen kolonialen Rechts- und Gerichtsordnung stellt sich vor allem als ein semantisches Problem dar. Sein rechtlicher Bedeutungsgehalt offenbart sich zumeist nicht von selbst, sondern erschließt sich vielmehr erst durch Erklärung mittels Iandes-, sprach- und volkskundiger Informanten. Diese Aussage beansprucht freilich universale Geltung und beschränkt sich daher nicht auf afrikanische Rechtssprichwörter. In Ergänzung zu der eingangs herangezogenen Definition des Sprichworts kann folglich festgestellt werden, daß eine Redensart zu einem Sprichwort wird, wenn sie Weisheiten und Lebensregeln prägnant aufstellt, welche durch mündliche oder schriftliche Überlieferung im Volk verbreitet sind und vor dem kulturellen, sprachlichen, sozialen, religiösen und ökonomischen Hintergrund der jeweiligen Gemeinschaft, in der sie zur Anwendung kommen, bei den Benutzern aus sich heraus ohne weitere Erläuterungen allgemein verstanden werden. Diese Erkenntnis beansprucht auch für das Rechtssprichwort Geltung.

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Manche deutschen "Eingeborenenrichter" waren indes durchaus geneigt, weniger auf für sie unverständliche afrikanische Rechtssprichwörter zu achten, sondern vielmehr im Rahmen der richterlichen Rechtsfortbildung auf dem Gebiete des "Bezirksleiterrechts" selbst formelhafte Redewendungen zu schaffen, die insbesondere vor ihrem eigenen sozialen Hintergrund als Kolonisten aus Europa zu verstehen waren. So nahm der Bezirksamtmann und "Eingeborenenrichter" Hans Georg von Doering 107 gerne einen Vorschlag seines Kollegen Hans Gruner108 auf, wie mit afrikanischen Kreditbetrugern in Togo zu verfahren sei: .,Betrügerisches Schuldenmachen; rein in's Loch 109 - ran an die Kette 110 - rüber über's Bund Stroh 111 !" 112

Eine solche Neuschöpfung einer Rechtsregel aus dem Bereich des Strafrechts und der Rechtsfolgen der Straftat im Gewand der formelhaften Redewendung, die offenbar auch von den vorgenannten "Eingeborenenrichtern" in der Gerichtsverhandlung angewendet wurde, ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Ihr fataler Bedeutungsgehalt erschloß sich auch den afrikanischen Rechtsadressaten ohne weitere Erklärung umgehend. Ein Beitrag zur Hebung der afrikanischen Rechtskultur, eines der Argumente, das auch von der deutschen Kolonialmacht zur Rechtfertigung der Kolonisation angeblich "unzivilisierter" Überseegebiete bemüht wurde, war dies allerdings nicht.

107 Der Offizier Hans Georg von Doering (1866-1921) war langjähriger Bezirksleiter in Atakparne, Togo. lOS Der Naturwissenschaftler Dr. Hans Gruner (1865 -1941) war langjähriger Bezirksleiter in Misahöhe, Togo. 109 Gemeint war die Gefängniszelle. no Gemeint war die sogenannte Kettenstrafe, d. h. mehrere Gefangene wurden aneinander gekettet zur Ausführung öffentlichen Arbeiten veranlaßt 111 Damit war die Auspeitschung des Delinquenten gemeint. 112 Siehe das Schreiben von Hans Georg von Doering an Rudolf Asmis vom 2. Dezember 1908: "Mir ist die Grunersche Praxis sehr sympathisch, Leute wegen betrügerischen Schuldenmachens zu bestrafen. Ich habe sofort als gelehriger Schüler Gebrauch gemacht. Gerade solch Gesindel, gegen das sich Ihr Korrektionshafterlaß richtet, beginnt seine Laufbahn gewöhnlich mit ungedeckten Pumpereien. Ich habe immer schon bedauert, keine Handhabe dagegen zu haben. Jetzt kommt es durch Gruner, dem Doktor aller Deutschen, wie eine Erleuchtung über mich: betrügerisches Schuldenmachen; rein in's Loch, ran an die Kette, rüber über's Bund Stroh!" Vgl. den privaten und dienstlichen Briefwechsel Togo zwischen November 1906 und Oktober 1909 im Nachlaß von Rudolf Asmis im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin (Nachlaß Asmis, Paket Nr. 13, IV /17, o.Bl.).

The Role of Proverbs in Litigation in Traditional Ethiopia and Eritrea By Bairu Tafla*

I. Introduction The institution of justice is quite ancient in Northeast Africa, though the development of the legal system by no means matches the length of time. Among the historical remains of the Aksumite kingdom are to be found twelve stone-seats known by tradition as the seats of the judges. One of the attributes of the King of Kings' authority was that he could utter the ultimate judgement of an important case. 1 This tradition was practised as late as Emperor Haile Selassie's reign, 1930-1974. The Kebrä Nägäst [The Glory of Kings], written in the fourteenth century to justify the legitimacy of a new dynasty, also lists the chief justice as being one of the 21 offleials brought to the country from Jerusalem by Menilek I. This work is fictitious as far as its historical contents go, but its symbolic meaning is not to be underestimated. It lists the most important institutions of the country, though it dates their origin 2000 years back in order to enhance their authority. Justice has been inextricably intertwined with religion. It is widely believed by the society that justice is derived from God, and a good judgement was a revelation from the Almighty; the good judge was one who was guided by the spirit. When a highly respected Ethiopian jurist, Bälachäw Asrat who attained a westem degree in law, declared in the mid-1960s that "The dispensation of justice is not man's; it is God's. Hence, all those engaged in the administration of justice ought to refrain from partiality, arbitrary judgement and intrigues," 2 he was only affirming an old and weil entrenched belief of the society. This belief has possibly inhibited the development of an elaboratelegal system in Northeast Africa. The Fetha Nägäst (the code of law of a Byzantine origin introduced in the fifteenth century) was scarcely modified throughout the five centuries of its use in the Imperial and provincial courts. On the lower Ievel, each community established its own principles and pro-

* Prof. Dr. Bairu Tafla, Universität Hamburg.

For the procedure of Iitigation at the Imperial court of justice, see Ya 'eqob Haylä Maryam: "Fetha Nägästenna Yätentu Yäferd Ser'at" ="The Fetha Nägäst and the Traditional I

Procedure of the Administration of Justice" in: Sämenna Wärq 1.2 (Säne 1979 A.Mis. June-July 1987) pp. 31-42. 2 CfYäzareytu Ityopeya = "Ethiopia ofToday" (24 Hamle 1957 A.Mis. = 30 July 1965).

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cedures, some of which were written down; but most of them were perpetuated by memory and practice. The historical development of this legal structure and its characteristics lie beyond the scope of this presentation. Sufflee it to say that proverbs were used on all Ievels (but more frequently in the lower instance) as means of clarification, techniques of establishing arguments and to some extent as evidence. I shall attempt in this paper to show briefly the significance of proverbs in the traditionallegal process and suggest the need to study them in depth for further understanding.

II. Significance of Proverb lt seems to me that there is a discrepancy between the phraseology of my topic and the substance I attempt to present in a European language. The discrepancy arises from cultural and linguistic differences between the European and the African (particularly the Amharic and Tegrefifia-speaking) societies. Hence, a brief glance at the definition and implication of the term "proverb" and its equivalents is necessary.

The European standard reference works define a proverb something like "a brief saying that presents a truth or some bit of useful wisdom." As far as the Semitic languages of Ethiopia and Eritrea are concerned, this definition contains only a part of their concept of adage. The term "messale" (Amharic) or "messela" (Tegrefifia) denotes image and analogy as weil. An Eritrean writer describes proverbs as "The best expression of cultural wisdom or philosophy of ancestors, and they contain in a few words customs and opinions, law and procedures, usages and traditions of a particular people or country".3 He adds that the term "messela" is of Semitic origin and connotes comparison, resemblance, reflection, relationship, etc. His study shows that within the context of the Tegrefifia-speaking society, "messela" reflects basically five elements: contradictions in life or nature, duality or relationships of numerous things, warning or advice to people, fundamental traditions, and general truth derived from experience or observation.4 In other words, any exemplar (long or short) intended to elucidate something or instruct people to behave in a certain way falls at least by comrnon use in this category. Hence, The Book of Proverbs and the parables in the Gospels are translated with the same term. In many cases, there is scarcely a more fitting rendering for such conceptual terms as adage, aphorism, epigram, maxim and saying, as weil as for simile, allegory, image, symbol and metaphor.

3 Cf Sälomon Gäbräkrestos: Messela nedäläyti Lebbona = "Proverbs for the Knowledge Seekers" (Asmara 1995) pp. 14f. 4 Sälomon, 1995, pp. 14f.

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111. Practical Applications of Proverb In the traditional Ethiopian and Eritrean societies, proverbs always featured prominently in the daily communication as well as in the court Iitigation process of the village, known to scbolars as the "open air court".5 Tbe judge (usually, the village cbief) sits at tbe verandah of bis bouse or under a distinct tree of tbe village to hear the case. The village elders sit to bis rigbt and left, and the young sit next to or behind them - all making a kind of half a circle. Dressed in a particular manner, the plaintiff and defendant stand in front of the judge, keeping some distance from him to allow enough space for their spectacular movement. Then, they "pour" their case before tbe judge and the spectators. Literally the equivalent of the word "pour" is used in all the Semitic languages of Ethiopia and Eritrea to express vividly the fluent utterances of the plaintiff and the defendant, as the presentation has necessarily to be eloquent and lucid, for this judge decides not according to articles of a written code of law, but according to bis conviction. The code functioned until recent decades mainly in the high instances. Here rhetoric, dignity and gestures are more useful tban anything else, as the Amharic maxim affirms: "Justice may be served depending on presentation; things may break depending on how they are handled." A Britisb diplomat, stationed in Ethiopia in the 1920s and 30s, took interest in the traditional court procedure (whicb was just beginning tobe replaced by tbe Western system) and recorded bis observation in a book. In tbis book, tbe diplomat let bis informants speak and, thereby, he created a rieb Ethiopian document on the laws, procedures and customs. Tbe central figure in the "open court" was, according to tbis document, obviously the judge wbo conducted tbe Iitigation. His knowledge and prestige are derived from bis natural talent and bis practical experience: tbe judge is "one who knows tbe 'fird' or verdict- one wbo bas digested talk, wbo from bis boyhood bas passed the day near ajudge. He will have listened to tbe interpreter and will bave beard the plaintiff cry to the jurors, 'Know forme!' and tbe accused cry to them, 'Know not against me!' So day by day knowledge will enter into bim and be will know all in bis beart as a paper, even if be cannot read or write."6 If the case is complicated, the judge seeks the assistance of the elders wbo sit there as spectators. At bis request, they act as jurors without remuneration: "tbese ancients ... receive not even two or three dollars for tbeir pains, since God created the elder to be a reconciler and a judge. Therefore do tbey bear labour and make reconciliations, knowing that God loves tbem and will reward them."7 5 For further descriptions of this institution, see Girma Fiseha and Heinrich Scholler: "Ethiopian Open Air Courts in Popular Paintings" in: Afrika und Übersee 68/2 (1985) pp. 161-85. See also Alfred /lg: "Über das Gerichtswesen in Ethiopien" in: Jahresbericht der Geograph.-Ethnographischen Gesellschaft in Zürich pro 1911-1912 (Zürich 1912) pp. 1-33. 6 C. H. Walker: The Abyssinian at Horne (London 1933) p. 138. 7 Walker, pp. 43 f.

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If the plaintiff or the defendant is not talented in speaking, he or she has to find someone to act as an advocate on his or her behalf: "If a suitor knows not the 'mouth' and is ignorant of pleading, he will seek out an advocate and give him three or four dollars as a 'männasho' for the rising up and will agree to pay from seven to ten dollars acording to the suit. Also he will buy him hydromel, for he may speak all day long in the assemblyo 000There is a saying, 'The pleader and the minstrel are one, for their voice is never still' 0" 8 If such a substituteturnsout tobe successful, he or she gains popularity and eventually becomes a prestigious advocateo This talent of speaking is highly esteemed if enriched by sirniles and proverbs applied appropriately, "For the wise man speaks in sirniles and proverbs, separating the good from the bad, so that all praise him as he knits together the issueso"9 A typical and illurninating example of court presentation enriched by maxims has been recorded by an Ethiopian academic from the rerniniscences of elderly people who witnessed the Iitigation in Addis Ababa in the early years of the 20th centuryo A dispute arose in a village to the northeast of the capital, as some dissidents built houses on a site reserved by tradition exclusively for the common use of the inhabitants as a wholeo The villagers then destroyed the newly built hQuses at the instruction of the village judge, and the dissidents appealed to the high court: ''The plaintiffs and defendants 000went to the court of the Chief Justice and bowed down before himo In response, the Chief Justice said, 'Good morningo Are these the persons that you alleged have invaded your humble abode?' The defendants replied: 'It is said that truth and dawn become clearer as time passeso So will our position be in this proceedingo' They have accused us of having committed a crimeo As the saying goes: 'An enemy smears with soot, or, when slashing it is the whip that makes most noiseo ' These men have, likewise, accused us of being invaderso We are neither invaders nor instigators of any offenceo As our forefathers say: 'From the trees, the best for the tabemacle from amongst the good men, the best for leadershipo' In like manner, we are the best sons of our communityo That was why the duty of maintaining peace and administering the common property of our community was entrusted to uso It is because of the acts that we performed to discharge these responsibilities that we have been accused of trespasso As to whose assertion is true, it will be scrutinized and sifted by your honour, Chief Justice, for it is the rule that 'Ajudge is for all as a pillar is the centre of a house 'o " 10

In this example, proverbs are used to strengthen argumentso But they were also applied in other circumstances to express such as indirect insults, hints and admonitiono There is very little evidence for proverbs being included in legal codes as principleso The Fetha Nägäst (the medieval code of law) as weil as the civil s Walker, po 175o 9 Walker, Po 1340

10 Aberra Jembere: Legal History of Ethiopia, 1434-1974: Some Aspects of Substantial and Procedural Laws (Rotterdam/Leiden 1998) po 2630 The setting in italics within the quotation is mineo

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and penal codes of the 20th century are translations and adaptations of European codes of law; and, hence, there has been no chance for proverbs to creep in to the written laws. An exception (a thorough research may reveal otherwise) seems to be a communal code of law of highland Eritrea which once contained (later rescinded) the maxim: "The sky has no pillars; the Muslim has no country," on the basis of which Muslims were denied the ownership of land in the region and bad to live only on trade.

IV. Sampies of Amharic and Tegrefifia Proverb It is not easy altogether to assess what proportion of the collected proverbs is related to the judicature. In part the difficulty arises from the fact that the collection is not yet categorized. But there is also the difficulty of associating many proverbs with a particular institution, as they tend to fit in various contexts under different circumstances. A saying applied under a particular circumstance may be understood to convey an insult from which a lawsuit can ensue. The plaintiff or the defendant may also use aphorisms of praise in the course of the Iitigation in order to win the favour of the judge. For our present purpose, however, it is possible to Iist a few examples directly related to the judiciary and judicial procedures. The selection has been made at random from the Arnharic and Tegreiiiia publications. The translation is placed within inverted commas, followed by explanatory remarks to indicate the sense of the expression which often is devoid of a verb:

The Judge and bis Authority 1. Dannoch kämärämäru, yenagäral medru (Arnh.) "If the judges investigate, the earth speaks." Evidences may be found for or against a case for which there are no obvious witnesses, provided that the authorities meticulously investigate. An anecdote is told in this connection regarding an investigation conducted by the govemor of Harär in the 1920s: two men were arrested foramurder and brought to him, but there were no witnesses. The govemor told the suspects that the earth could be a witness and one of them should go to the place of act with a couple of soldiers to hear the earth speak while the other should remain with him in bis office. After a while, the govemor suddenly asked the accused: "Do you think your friend and my men have by now reached the place where you murdered the man?" The accused replied: "No, I don't think so; it's very far". 2. Daiiiia simärämer, käras yezo eskä eger (Amh.) "When a judge examines, [he does it] from head to foot." A good judge investigates a case thoroughly.

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3. Dafifia zefärädo, bälih zeqädädo (Tegr.) "That which is decidedby the judge [is like] that tom by ablade." The verdict of a judge is clear and irreversible. Most cases ended with the decision of the first instance, because the higher instances were rather difficult to reach in the olden days for geographical, financial and administrative reasons. The verdict was thus regarded as final. 4. Dafifia yäwäl, Mesässo yämähal (Amh.) "A judge in common, a pillar of the centre." A fair judge is like a middle pillar which keeps balance. 5. Dafifia Yafärädäbät, märkäb yätäsäbäräbät (Amh.) "One who's given ajudge's verdict [is like] one whose ship is broken-down." Losing a case has a devastating effect. 6. Dafifia yafäsäsulät, färäs yäkäsäkäsulät (Amh.) "The judge, what is presented before him; the horse what is foddered to it." As the horse eats the fodder given to it, so does the judge handle only the case presented before him. 7. Dafifia lädafifia yawärsal, gum tärara yaläbsal (Amh.) "Ajudge bequeaths [matter] to ajudge; the fog covers the mountain." Just as the fog conceals the mountain, so does a judge pass information secretly to another judge or authority. 8. Ferd yawq dafifia, tägän yawq erräiiiia (Amh.) "A judge knows the administration of justice [as] the shepherd knows a shelter." The judge, being knowledgeable in the law and endowed with authority, is expected to readily dispense justice just as the shepherd easily finds a shelter in time of bad weather. 9. Lamna etewäldon, negusna zefärdon ayfelläten (Tegr.) "What our cow may bring forth and what verdict our king may give are unknown." There is a great deal of secrecy in nature and authorities.

Criticism against the Judge 10. Dafifia biqotta, mar yezo kädäju (Amh.) "If a judge is angry, take honey and be at his threshold." Honey was one of the highly valued items in Northeast Africa, as one needed it to make a noble drink. Hence, the proverb admonishes one to bribe the judge if he tums out to be unfavourable.

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11. Daiüia säbbär, bä'ej käbbär (Amh.) "Ajudge that breaks the law exalts himself." A corrupt judge pretends to be magnanimous. 12. Daiiiia biyagadel bädaiiiia, aheyya siyagadel bämätchaiiiia (Amh.) "A partial judge by a judge; strap up the Ioad if the donkey tends to lose it." A corrupt judge should be disciplined by another judge just as one fastens a donkey's Ioad that has become loose. 13. Daiiiia men yadäla! Kätärätta sibäla (Amh.) "Why shouldn't be the judge partial, when he eats from the loser!" A bribed judge decides in favour of a would-be loser. 14. Daiiiia zezäräyon hawwi zäqwräyon hadä (Tegr.) "One discrirninated by a judge is like one whose hands have been shrivelled by fire." The negative decision of a judge has a far-reaching impact on the victim. 15. Daiiiia kezäryäka aytemägwet; hayli zäybelka ayte'at'et (Tegr.) "Litigate not if the judge is biased against you; attack not if you have no strength." Observe circumstances and act accordingly. Undertake only those that you can master or manage. 16. hadä etchäyti aynäded, hadä säb ayfäred (Tegr.) "A single piece of wood kindies not; a single person passes no verdict." A concerted effort is more reliable than the attempt of a single person. 17. Qältifu zefared, qältifu yetä'as (Tegr.) "One who passes judgement in a hurry regrets it quickly." Think twice before undertaking something important.

Advice and Admonition 18. läbbam yehrädka, wa'ela yefrädka (Tegr.) "Let an intelligent slay you; Iet a council judge you." The intelligent person is likely to have weighed everything before taking the action; the decision of a council or group is likely to be objective and fair. 19. Daiiiia aynäqfu, esat aytaqäfu (Amh.) "One criticises not a judge; one embraces not a fire." As one cannot embrace fire, so can one not criticise a judge. In other words, do not scom a judge unless you want trouble.

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20. Feräd länäfseh, bla läkärseh (Arnh.) "Give a verdict for the sake of your soul; eat [food] to fiil your beily." As you eat food to sustain your body, so be just in your verdict to satisfy your soul, i.e. be fair. 21. Ferd lälej, terrabi lödäj (Arnh.) "Verdict for the children; scraps for the threshold." Sins and virtues are believed at least by the Christian society to be inheritable. Hence, the simile: whatever you do in the administration of justice, your children will suffer from or benefit by it just as the place before the house may be used for throwing scraps. In other words, do justice so that your children may live weil. 22. Hassät binnagäru, weqabi yereqal (Arnh.) "lf one teils a lie, one Iooks disgraceful." Never teil a lie, lest you will suffer. 23. Kab azzärareba yiferäd, kab atähahiza yeqhdäd (Tegr.) "Justice may be served depending on presentation; things may break depending on how they are handled." Be cautious about what you say or do. 24. Kahsa aykhla'e, kahsa aybla'e (Tegr.) "One should not withhold compensation; one should not take indemnity." The usual practice (at least in the north) was that the winner demanded of bis adversary every bit of the compensation set by the court, only to retum everything back at the end for fear of losing prestige within the community and in order not to perpetuate enmity with the loser. Hence, demand ail that is due to you, but be magnanimous at the end. 25. leqäq zäymäretka, weräd zäybäqlekha (Tegr.) "Vacate the land of others; descend the mule that's not yours." Do not be a trespasser; if you have done wrong, rectify it. 26. Weray zäybelka edaga ayträd; zäräba hadä särni'eka aytifräd (Tegr.) "Do not go to the market without a purpose; do not judge on the basis of the report of one person." Do not involve yourself anywhere unnecessarily nor should you rely on the report of only one person.

Truth and Facts 27. Ewnät lä'egzer, weshät läsatna'el (Arnh.) "Truth for God; lie for Lucifer." Telling the truth is a virtue; telling a lie is a sin.

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28. Ewnät yätänagärä, bämärkäb yätäshagärä (Amh.) "He who teils the truth [is like] one who traverses [water] by a ship." As long as you teil the truth, you are on the safe side. 29. Ewnätenna negat eyyadär yetayal (Amh.) "Truth and daylight become eventually brighter." People may not believe you at first when you teil the truth, but they will certainly accept it sooner or later. 30. Ewnätun tänagro, emmäshäbbät yadrwal (Amh.) "Speak the truth and spend the night wherever darkness falls." Do not worry about what may happen if you teil the truth. 31. Haqqi nezälaläm senqi (Tegr.) "Truth [is] an everlasting provision." Tell always the truth. 32. lam hadä gonna aytesebeh, hadä gonna ayte'aber (Tegr.) "A cow cannot be fat on one side and lean on the other." A person cannot be kind and cruel, clever and foolish, etc., at the same time. 33. Dafiiia hallaw gega, amora hallaw sega (Tegr.) "A judge watches for blunders; an eagle Iooks for meat." Be careful when presenting your case at the court of justice, for the judge always Iooks for discrepancies.

LieandLiar 34. hadä qumal serrä yefeteh, hadä hassawi hagär yefäteh (Tegr.) "A louse makes one pull out the trousers; a liar ruins a country." Underestimate none on the basis of size. 35. hasoten senqen ennahadärä yefäkus (Tegr.) "Lie and provision lose weight in the course of time." A liar does not last long just as a provision taken for a journey may eventually be exhausted. 36. Hassät seläbäzza, ewnät honä waza (Amh.) "Due to excessive lie, truth became a joke." There are situations where the majority maintains a false impression. 37. Hassät nägär kefu, gähannäm esat terfu (Amh.) "Lying is evil; its dues are fire in hell." Never teil a lie, lest you will suffer. 6 Scholler /Tellenbach

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38. Hassätäfifia bäqalu, seddätäfifia bäqelu yetawäqal (Amh.) ''The liar is recognized through his words and the fugitive by his goard." In Northeast Afnca, fugitives travelling in search of food and I or refuge usually carried more than anything eise a goard for the purpose of carrying drinking water. Hence the simile: one recognizes a liar through the discrepancies of his own Statements just as one would recognize a fugitive through the goard hel she carries. 39. Hassätäfifia, bertu wänjäläfifia (Amh.) "A liar, a serious crirninal." A liar is a major crirninal. 40. Hassätäfifian sirätu, bäwändem bä'ehitu (Amh.) "One defeats a liar by his brothers and sisters." There is none who would know a liar better than his own brothers and sisters who may directly or otherwise expose him. 41. hassawi zäwräyo färäsäfifia näymalso (Tegr.) "The rumour a liar spreads cannot be regained by a horseman." Rumour spreads fast, and even if the truth is revealed, the lie cannot be easily corrected. The horse was the fastest vehicle and, hence, the comparison. 42. hassawis yedrär embär aymesahen (Tegr.) "A liar may win a supper, but cannot have a lunch." His lie may be unveiled overneight or in such a short time as between two meals. 43. Weshät däg näbbär, tataw balnäbbär (Amh.) "Lying would not have been so bad, if no problems were attached to it." The translation is self-evident. 44. Weshät yedaregallämot (Amh.) "Lying is a cause of death." Lying is dangerous. 45. Weshätam qumnägär binagärem täqäbaynnät ayagäfiem (Amh.) "lf a liar teils a serious matter, no one accepts it." Once a person falls into disrepute, people will never trust him I her.

Witnesses 46. Messekker yalläw muget, ayadagetem lämärtat (Amh.) "A dispute, where witnesses are available, is not difficult to clear." Always Iook around for witnesses.

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47. Hasot meseker berki yesäbber (Tegr.) "False witness breaks the knees." In a case where a false witness is given, one suffers a double shock: loss of the case and hearing a lie being presented as the truth. Justice 48. Fethi fäwsi mot, ekhli fäwsi temet (Tegr.) "Justice medicine against death; grain medicine against hunger." Justice is as essential as food. 49. Daiiiia siggäii tänagär, weha sitära täshagär (Amh.) "Speak out when ajudge is available; traverse [river] when the water is clear." lt serves no purpose to complain where there is no justice just as it is dangerous to attempt crossing a flooded river. 50. Ferdenna fetfet, bäyyäfit (Amh.) "Justice and prepared meal to the fore." Justice is as welcome as delicious food. 51. ferd goddälä, deha täbäddälä yämil negus aytata (Amh.) "May no ruler be wanting who says justice is lacking and the poor are oppressed." A popular prayer. Its significance is self-evident.

V. State of Proverb There is no indication that proverbs in Northeast Africa were collected in a written form by local writers before the 20th century, though the chroniclers and other writers occasionally used some in their writings. Perhaps the riebest collection was contained in the communal codes 11 of Eritrea (some of which were as old as the Fetha Nägäst's Ge'ez translation) which accommodated for hundreds of proverbs. Proverbs were otherwise transmitred primarily by word of mouth, but they were so frequently used in the daily Iife that most people could memorize them. Proverbs are poetic in nature. They are usually short and striking. Hence, they are relatively easy to learn, and as such they are rather appealing to the common people, the majority of whom was illiterate. On the other band, Northeast African proverbs attracted the attention of foreign and local collectors and writers alike now for more than a century. For the Semitic II For a bibliographical description of these codes, see Friederike Kemink: Die TegreiiiiaFrauen in Eritrea. Eine Untersuchung der Kodizes des Gewohnheitsrechts 1890-1941 =Studien zur Kulturkunde 101 (Stuttgart 1991) pp. 269-83.

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Bairu Tafla

languages of Ethiopia and Eritrea (esp. Amharic and Tegreiiiia) Franz Praetorius, who published apart of bis collection in the 1880s (see bibliography below), was perhaps the pioneer. He was followed in the field by lgnazio Guidi, Casimir Mondon-Vidailhet, Eugen Mittwoch, Carlo Conti Rossini and many others in the next century. The collection and publication of proverbs by African writers, however, gained popularity only in the second half of the 20th century, and the nurober of books and articles increased astoundingly in the last two decades. In 1948, the Catholic bishop of Eritrea, Abuna Ya'eqob, initiated the interest in collecting proverbs by publishing a collection of more than 2300 Tegreiiiia proverbs (interspersed by a few Tegre and Amharic entries). His example was followed by numerous collectors ofvarying calibre and diligence. By 1990, Mäkuriya Wärqu (see bibliography) came up with a book containing around 6000 proverbs. He bad of course the advantage of several earlier collections, many of which he incorporated in bis book. The field is by no means exhausted, as later publications indicate. With the exception of M. Griaule (or bis editor, J. Tubiana), who attempted to classify bis collection thematically, both the scholars and hobbyist collectors have not been systematic either in the process of their collection or in making their works easi1y accessable. None of them indicates bis source of information or when, where and how the collection was made. Hence, in most cases we do not know whose values the collection of proverbs reflect. 12 Ethiopia and Eritrea are the homes of many peoples with different cultures, customs and habits. There has also been very little attempt to facilitate access to the proverbs once they have been collected. Some have arranged them in alphabetical order like a dictionary, in which case they have used the first word of the first line as a key word. That word may for all intents and purposes be a preposition or even an interjection and, hence, we have no alternative to reading the whole book in order to cull out those relevant to a particular subject. Brother Sälomon Gäbrä Kristos, an Eritrean Catholic Friar, recognized this problern and adopted the usual Semitic lexicographical system for bis proverbs in which the main verb or cognate is used as a heading under which all the related proverbs are recorded, regardless of the letters or words with which the lines commence. The reader is then expected to imagine under what main word bis subject of interest could possibly come. An index of all the verbs and cognates as weil as adjectives would of course have greatly facilitated a researcher 's access to the jungle of proverbs.

12 The worst of them all is Negussay Ayele's production- Wit and Wisdom of Ethiopia (Los Angeles 1998) 136 pages- which attempts to present some (presumably Amharic) proverbs merely in English translation without any supplement or explanation.

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VI. Conclusions Proverbs by their very nature contain a great deal of material of legal, cultural, sociological and linguistic significance. A meticulous research may no doubt contribute to a better understanding of the societies in question. The process of collecting them should continue, as there is the danger of their being forgotten in the face of societal transformation. But a reasonable way will have also to be devised to access the collection.

An Annotated Bibliography of Amharic and Tegreiiiia Publications Andämika'el Sälomon: Messe1atat Tegreiiiia = ''Tegreiiiia Proverbs" (Asmara 2001); 125 pages. The author is an ex-fighter and claims to have compiled the proverbsout of interest, as bis fatber's frequent use of proverbs bad impressed bim. The collection is alleged to amount to 2340, on1y a certain part of whicb is said to be unpublisbed. Anonymous: Messale. Lägermawi negus Tafäri bäräkät yätäsättä = "Proverbs. A Present to His Majesty, Negus Täfäri" (Addis Ababa 1921 A.Mis. = 1928/29) 71 pages. A collection of proverbs in Amharic. This book was perbaps the first pub1ication of co11ected proverbs by a native writer. It was not followed by a sirni1ar publication for another two decades. Armstrong, W. H./ Fisseha Demoz Gebre Egzi: "Amharic Proverbs," in: Ethiopia Observer 12/1 (1968) pp. 44-57. Berhanu Gäbrätsadiq Bäfeqadu: Ya'amareiia Missaleyawi Annägagärocb Sebesseb. 6790 Missa1eyawi Annägagärocb = "A Collection of Amharic Proverbia1 Expressions. 6790 Proverbia1 Expressions" (Addis Ababa 1992 A.Mis. 1999/2000) 4 + 156 pages. This work contains perhaps tbe riebest collection of Amharic proverbs. Like other national publications on the subject, the proverbs are arranged in alpbabetica1 order, based on the frrst word of the first line.

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Conti Rossini, Car1o: Proverbi, tradizioni e canzoni tigrine =Collezione scientifica e documentaria dell' Africa ltaliana 5 (Verbania 1942); 328 pages. This book includes poems, 1egends, anecdotes and proverbs together with their respective trans1ations. The texts are mostly in transliterated Latin script. - Principi di diritto consuetudinario della co1onia Eritrea (Roma 1916). This collection of customary 1aws of Eritrea in ltalian trans1ation includes many proverbs in Tegrenna.

Emmawayesh Mälläsä/Sälomon Wdldu/Mäsfen Mässälä: Ya'amareiiiia Messaleyawi negegerocb = "Amharic Proverbial Expressions" (Addis Ababa 1982 A.Mis. = 1989/90); 266 pages. This book is one of the monograpbs produced by the Ethiopian Academy of Languages. Thougb compiled and edited by a team, tbe substance is by no means more gratifying than that of the works of the individual collectors.

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Bairu Tafla

Jacques: Yahabasha Tarat- Proverbes Abyssins. Traduits, expliques et annotes (Paris 1907); 86 pages. The author visited the Ethiopian Jews on behalf of the Jewish League in Europein 1904 and brought with him some young Ethiopians to study in France and ltaly. It is not clear whether he collected the proverbs during bis trip or from the students. His collection is primarily from the Gondär area.

Fai~lovitch,

Fusella, Luigi: "Proverbi amarici" in: Rassegna di Studi Etiopici 2/3 (1942); pp. 282-311. A collection of Arnharic proverbs with ltalian translation. Guidi, Ignazio, "Proverbi, strofe e favole abissine" in: Giomale della Societa asiatica italiana 5 (1891) pp. 27- 66. A collection of Arnharic proverbs with ltalian translation.

- "Nuovi proverbi, strofe e racconti abissini" in: Giomale della Societa asiatica italiana 6 (1992) pp. 3-29. A collection of Arnharic proverbs with ltalian translation. - Proverbi, strofe e racconti abissini (Roma 1894). A collection of 366 arnharic proverbs with Italian translation and annotation are reproduced on pp. 1-65 and 99-131. Littmann, Enno, "Tigriiia-Sprichwörter" in: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 97 (1943) pp. 208-38.

- "Nachtrag zu "Tigriiia-Sprichwörter"," in: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 98 (1944) pp. 105-08. Mahtämä Setlase Wäldä Mäsqäl: Yä'abbatoch qers = "The Heritage ofthe Ancestors"; 181 ed. 1945 A.Mis. = 1952/ 53; 3'd ed. (Addis Ababa 1961 A.Mis. = 1968/69); 149 pages. A collection of Arnharic proverbs in alphabetical order without comments. Mäkuriya Wärqu: Messaleyawi Annägagär = "Proverbial Expressions" (Addis Ababa, 1982 A.Mis. = 1989/90); 219 pages. Contains around 6000 Arnharic proverbs in alphabetical order, most of which are to be found in earlier publications. Mäsfen Gäbräheywät: Mäkhzän Wäg'i = "Conversation reservoir". Book 2 (Addis Ababa 1997). This book is an anthology of tales and anecdotes. Relatively a few proverbs are listed on pages 121 - 26, most of which are of the type that make Statements of facts or general truth as weil as those which reflect biases against women. Mittwoch, Bugen: "Proben aus amharischem Volksmunde" in: Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen zu Berlin. Zweite Abteilung - Westasiatische Studien (1907); pp. 185-241. The collection includes anecdotes and couplets. All are provided with translations. Mogäs Equbägiyorgis: Nay Abbotat Tentawi Messale (BeTegreiiiia) = "Traditional Proverbs of the Ancestors (in Tegreiiiia)" (Asmara 1958; 2nd ed. 1989); 152 pages. The author believes that "Culture, law, tradition, customs, and languages are contained in the proverbs and tales of a country." Hence, he decided to compile the proverbs of bis ancestors. He also argues that every one in the society should leam them.

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Mogäs Equbä Giyorgis: Ya'ityopeya tentawi Messale (bä'amarefifia) = "Traditional Ethiopian Pro-.:erbs (in Amharic)" (Asmara 1959 A.Mis. = 1966/67); 152 pages. Contains about 3000 proverbs in alphabetical order. The collection is very sirnilar to that of the previous book, but the Tegrefifia version includes epigrarnrnatic proverbs which do not seem to be common in Amharic. Mondon-Vidailhet, Fran~ois Marie Casirnir: "Proverbes abyssins" in: Journal Asiatique, ser. 10/4 (1904) pp. 487-95. A collection of 25 Amharic proverbs with French translation. Praetorius, Franz: "Tigrifia-Sprichwörter" in Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 37 (1983) pp. 443-50; 38 (1884) pp. 481-85; 39 (1885) pp. 322-26; 42 (1888) pp. 62-67.

Sälomon Gäbräkrestos: Messela nedäläyti Lebbona ="Proverbs for the Knowledge Seekers" (Asmara 1995); 308 pages. A collection of proverbs in Tegrefifia. On the cover is an illustration of a man looking at a rnirror. The significance of this picture is explained with a quotation from the work of another Eritrean author who likened proverbs to a mirror. Translations of some European proverbs are included allegedly with the intention of conveying European concepts.

Savoia-Genova, Eugenio di, and Giovanni Simonini, "Proverbi tigrini" in Rassegna di Studi Etiopici 3 (1943) pp. 3-35. 432 Tegrefifia proverbs with Italian translation. Schreiber, J., Manuel de Ia Langue Tigrai (Vienna 1893). Tegrefifia proverbs with French translation are reproduced on pp. 191 - 97. Ser'at Adkämä Melega'e = "Statute of the Adkämä Melega'e" (Asmara 1936) 128 pages. On pages 65-128 are 679 proverbs in Tegrefifia with ltalian translation. Tubiana, Joseph: "Proverbes Abyssins. Recueilles et traduits par Marcel Griaule" in: Journal de Ia Societe des Africanistes 42/1 (1972) pp. 55 -88; 43/1 (1973) pp. 112-149; 45/12 (1975) pp. 149-180. The French anthropologist, M. Griaule, collected Amharic proverbs during bis research trip to Ethiopia in the 1930s, but he died before publishing them. Prof. Tubiana of Sorbonne University edited and published them. Winquist, C., Sillahario nella lingua tigrinja (Asmara 1896). Contains 471 Tegrefifia proverbs without translation on pp. 46-60. Ya'eqob Gäbrä lyyäsus: Zennan, Täräten, Messelan nay Qäddärnot. 2300 Messelatat = "Narratives, Tales, and Proverbs of the Ancestors. 2300 Proverbs" (Asmara [ca. 1948)). The book includes tales and legends, but proverbs have a prominent place. They are in alphabetical order. The compiler adrnits that he included a few Ge'ez, Amharic and Tegrä proverbs. He also wams that some are only variations in regional phraseology while others are sirnilar in construction, but different in connotation.

Yusuf Abdurähman: Yamarefifia Mert Messalenna Tärät = "Select Amharic Proverbs and Parables" (Addis Ababa 1942 A.Mis. = 1949/ 50; repr. 1948 A.Mis. = 1955/ 56) 85 pages. The booklet contains around 1500 proverbs in alphabetical order.

Recht und Sprichwort in Äthiopien1 Von Heinrich Scholler*

I. Allgemeine Einführung 1. Die amharische Tradition2 Äthiopien ist ein Museum, in dem viele Völker, schriftführende und nichtschriftführende, seit Jahrhunderten und Jahrtausenden zusammenleben. Nachfolgende Ausführungen sollen sich nicht auf die Gesamtheit des Erzählgutes Äthiopiens, sondern sich im wesentlichen auf das amharische Erzählgut beziehen und die Verbindung zum Rechtssprichwort nachzeichnen. Es ist natürlich eine erhebliche Einschränkung der Thematik, vor allem weil dadurch auch die ganze Welt der Sprichwörter, Weisheiten und Märchen der Oromo ausgelassen wird? Mein eigener Forschungsansatz aber ist auf die Amhara-Literatur, ihre Erzählgut- und Sprichwörtertradition beschränkt, weshalb ich auch hier nur darüber berichten kann.

2. Erzählgut und Sprichwort Der Zusammenhang zwischen Erzählgut und Sprichwort bedarf noch einer weiteren Erläuterung. Vom europäischen Kulturraum her und der europäischen Märchenerzählung und Märchenforschung wissen wir, dass viel mündliches Erzählgut, das zur Kategorie der Märchen gehört, mit einer Moral endete: Die Moral von der

* Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Scholler, Ludwig-Maximilians-Universität München. I Siehe meinen gleichlautenden Vortrag zur Festveranstaltung des völkerkundlichen Institutes der Ludwig-Maximilians-Universität München anlässlich des Eintritts in den Ruhestand von Prof. Hermann Amborn in München im Juni 1999. Allgemein siehe hierzu: Renate Richter I Eshetu Kebbede, Sprichwörter aus Äthiopien, Köln 1994. 2 In amharischer Sprache liegen viele Sammlungen von Sprichwörtern vor, unter welchen sich auch eine erhebliche Anzahl von Rechtssprichwörtern befinden. In einem Anhang habe ich in meinem Beitrag "Das afrikanische Rechtssprichwort als hermeneutisches Problem" in: Dimensionen der Hermeneutik. Arthur Kaufmann zum 60. Geburtstag, 1984, S. 135 ff. darauf hingewiesen. 3 Zu den "Weisheiten" der Oromo-Kultur gibt es eine ausführliche Publikation von Claude Sumner; Oromo Wisdom Literature, Volume I (Proverbs, Collection and Analysis), Addis Ababa 1995.

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Heinrich Scholler

Geschieht' ! Wir kennen das noch heute in dieser Formulierung, doch steht dahinter ein ernst gemeintes Resümee, eine Handlungsanleitung, die in der Regel auf der Ebene der Ethik, also der Moral, liegt. Allerdings darf man nicht vergessen, dass in der Zeit, in der dieses mündliche Erzählgut entstanden ist, also der Zeit des Ursprungs der Märchen, Recht und Moral kaum geschieden waren. Auch das arabische Erzählgut zeigt häufig eine Hinordnung zu einer Handlungsanweisung, woraus aber noch nicht entnommen werden kann, dass diese Handlungsanweisungen rechtliche und nicht rein moralische Relevanz hatten. 4

3. Der Forschungsansatz von Detlef Müller Die Beschäftigung mit dem Erzählgut in Äthiopien und mittelbar auch mit den Handlungsanweisungen oder daraus resultierenden Sprichwörtern ist relativ jung. Müller berichtet in seiner Sammlung der Märchen Äthiopiens folgendes 5 : Aufgrund der bedeutenden und umfangreichen äthiopischen, klassischen Literatur hat die Erforschung des äthiopischen Erzählgutes erst spät eingesetzt. Die Erforschung der Volkssprache, des lebendigen Erzählguts, und hier gerade die Erforschung der Motiv- und Rezeptionsforschung befindet sich noch in den Anfängen. Die systematische Sammeltätigkeit setzte mit der Arbeit der italienischen geographischen Mission (A. Cecchi) ab 1870 ein. Knapp 20 Jahre später veröffentlichten Missionare und Reisende ihr erfasstes Material. Weitere Veröffentlichungen des äthiopischen Erzählguts erbringen die Reisen der italienischen Äthiopisten Ignazio Guidi und Carlo Conti Rossini. Um 1901lässt sich der Franzose C. MondonVidailhet unter Kaiser Menelik II. Volkserzählungen aufschreiben, 1903 sammelt der britische Major J.I. Eadie Erzählungen, die er von einem Unbekannten erhalten hat. Enno Littmann sammelte aus seiner Äksum-Expedition zwischen 1905-06 zahlreiche Überlieferungen. E. Mittwoch erkannte in Berlin den Aläqa Taje als ergiebige Quelle für Volkserzählungen. Danach sammelte jeder, der konnte, so auch der führende Äthiopist Enrico Cerulli. Die Sammlungen, die aus fast allen Teilen Äthiopiens vorliegen, bieten einen guten Einblick in die Erzähltradition und machen deutlich, dass die äthiopische Literatur von jeher von der Volkstradition beeinflusst wurde. 6 4 Was im Kontext der Sprichwörter mit Handlungsanweisungen bezeichnet wird, ist im Raum des Rechtes der "Rechtsbefolgungsbefehl", mit welchem ein Tun oder Unterlassen verlangt wird. Das Wesen einer Rechtsnorm ist daher im Kern dieser Imperativ dieser Handlungsanweisung. Interessant wäre es, die äthiopischen Märchen mit den Märchen des Tschad zu vergleichen, was aber der bekannte Philologe und Ethnologe Hermann Jungraithmayr; Märchen aus dem Tschad, 1. Auflage, Düsseldorf I Köln 1981, nicht in Angriff genommen hat. Im Tschad befindet sich der Spannungsbereich zwischen einer arabisierenden islamischen Bevölkerungsschicht im Norden und einer afrikanischen Kultur im Süden. s Detlef Müller; Märchen aus Äthiopien. München 1992. 6 Müller; S. 300.

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4. Grundstrukturen in Moral, Sitte und Recht In jüngster Zeit hat Braukämper ebenfalls in seinen Forschungsgebieten mündliches Erzählgut gesammelt. Ähnlich habe auch ich in Zusammenarbeit mit Bairu Tafla versucht, Sponsoren für eine Märchensammlung zu gewinnen, zumal mir von meinen äthiopischen Counterparts die Wichtigkeit einer solchen Aktion immer wieder bestätigt wurde. Unternimmt man nicht bald etwas Grundsätzliches, so geht viel von dem Kulturgut verloren. Der Grund für meine eigenen Versuche, Erzählgut und Rechtssprichwörter zu sammeln, lag in der Tatsache, dass mir im Rahmen meines Rechtsunterrichts in den Jahren 1972-1975 bewusst wurde, dass wir modernes äthiopisches Recht oder rechtsvergleichend europäisches (römischgermanisches) Recht kaum sinnvoll unterrichten können, wenn wir nicht die Grundstrukturen der Gerechtigkeitsvorstellungen unserer Schüler kennen. Zum Beispiel was "fair trial" oder "due process of law" bedeuten, kann nur durch eine sehr umfangreiche Kasuistik von Entscheidungen dargestellt werden bzw. man muss auf einen Korpus von Rechtsregeln analytisch verweisen. Der Unterricht wird aber nur dann Erfolg haben, wenn auch in der eigenen Rechtskultur der jeweiligen Studenten ähnliche Vorstellungen vorhanden sind. Man wird kaum die Einrichtung der Verjährung verständlich machen können, wenn die heimische Kultur eine solche nicht kennt und solche als amoralisch abqualifiziert. Man kann natürlich das Fairness-Prinzip im Prozessrecht viel besser verdeutlichen, wenn ich nicht nur das römisch-rechtliche "audiatur et altera pars" erwähne, sondern das deutsche rechtliche Sprichwort "Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede, man soll sie hören alle beede" hinzufüge. Noch eindeutiger ist natürlich, wenn man auf das afrikanische Rechtssprichwort verweisen kann: "Hähne müssen einander gegenüber" (also gleichsam Auge in Auge) "krähen."7 . Hier wird Gleichmäßigkeit und Öffentlichkeit der Parteianhörung auf anschauliche afrikanische Weise dargestellt. Wirkt aber in der jeweiligen Rechtskultur des heimischen autochthonen Rechtes keine solche Vorstellung, wird es schwer werden, westliches Recht als Ausdruck von Gerechtigkeitsvorstellungen zu vermitteln. Bei der Suche nach den autochthonen Gerechtigkeits- und Rechtsvorstellungen kann man entweder eigene ethnologische Forschungen anstellen, die einen aber lebenslang beschäftigen, oder, wofür ich mich entschlossen habe, das mündliche Erzählgut zusammen untersuchen und für den Zweck des Rechtsunterrichts nutzbar machen. 8 7 Wilhelm Möhlig, Die Erforschung der traditionellen Rechtssysteme in Afrika als Aufgabe einer speziellen Semantik, in: Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 73, Heft 2, 1979; ders.: Sprichwörter als Quelle des traditionellen Rechts in Afrika, in: Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft, Heft 3, 78. Bd. August 1979, S. 221. s Heinrich Scholler, Das afrikanische Rechtssprichwort als hermeneutisches Problem, in: Dimensionen der Hermeneutik. Artbur Kaufmann zum 60. Geburtstag, Heidelberg 1984, S. 135 ff. und ders., Rules, Principles and Judicial Policy, in: Essays on Third World Perspectives in Jurisprudence, M. L. Marasinghe/William E. Conklin eds., Singapore 1984, s. 327ff.

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Später fand ich bei meinen rechtsvergleichenden Studien, dass der große deutsche und bayerische Jurist Paul Anselm Feuerbach schon an der Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts bei seinen Forschungen zum Hindu-Recht eine ähnliche Methode anwandte. Er erkannte, dass das Hindu-Recht nur verständlich gemacht werden könnte, wenn man auf die Hindu-Mythologie zurückgreife. 9 Natürlich war die Situation im äthiopischen traditionellen Recht insofern etwas anderes, als wir es dort mit geschriebenen Rechtsbüchern zu tun haben, die wie die Fetha Nagast10, auf das römisch-syrische Gesetzbuch zurückgehen. Damit lag die das Gewohnheitsrecht überlagemde kirchlich-kaiserliche Rechtstradition vor, die als ratio scripta ähnlich wie das römische Recht in Europa ihren Einfluss ausgeübt hat. Diese Fetha Nagast galt vornehmlich vor den kaiserlichen Gerichten in bezug auf die Kirche, also den Ichege, den weltlichen Arm der äthiopisch-orthodoxen Kirche. Dennoch hat sich darunter die gewohnheitsrechtliche Schicht in Äthiopien in den verschiedenen Teilkulturen sehr stark erhalten, so dass es weiterhin Sinn machte, sich dem mündlichen Erzählgut zuzuwenden.

II. Die gegenwärtige Beschäftigung mit dem Erzählgut und dem Rechtssprichwort in Europa und den USA 1. Die Bewegung "Literature as Law" Die Bewegung in den Vereinigten Staaten, die als Literature as Law von Richard Rorty ausging, hat wohl auf das Problem des Rechtssprichwortes und seiner Analyse im Prozess ein neues Licht geworfen. Auch Lüdeessen hat in seiner vor einigen Jahren erschienenen Untersuchung auf diesen Bedeutungswandel hingewiesen. 11

9 Paul Johann Anselm Feuerbach, Versuch einer Kriminaljurisprudenz des Koran, in: Bibliothek für die Peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde, 2. Band, 1800, S. 163192. Dort (S. 163) führte er aus, dass er bald über das Kriminalrecht der Hindus eine ausführliche Abhandlung vorlegen wolle. s. dazu auch die Biographie von Gustav Radbruch: P. J. A. Feuerbach - Ein Juristenleben. Abgedruckt in der Gustav-Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 6, Heidelberg 1997, bearbeitet von G. Haney, S. 234. 10 Zum Zusammenhang zwischen der Fetha Nagast und dem Römischen Recht, s. Peter Sand, Roman Origins of the Ethiopian "Law of the Kings" (Fetha Nagast), in: Journal of Ethiopian Law, Vol. 11 (1980), S. 71-82. Aberra Jembere geht dagegen nicht auf die Zusammenhänge mit dem syrisch-römischen Gesetzbuch ein, behandelt vielmehr nur den Mythos der Fetha Negast; s. Aberra Jembere, An Introduction to the Legal History of Ethiopia, Münster 2000. 11 Klaus Lüderssen, Die Juristen und die schöne Literatur - Stufen der Rezeption, NJW 1997, s. 1106.

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2. Richard Rortys Position Zunächst wendet sich Rorty gegen die historischen Vorgegebenheiten, die er vor allem auch in Gesetzen und im Recht im allgemeinen erblickt. Er behauptet, dass ein solcher Rückgriff auf ewig Vorgegebenes oder Naturrechtliches durch die großen Umdenker Kopernikus, Darwin und Nietzsche sowie Freud widerlegt worden seien. Danach gibt es keinen voraussetzungslosen, kritischen Ansatz, vielmehr sind alle diese Konzeptionen nur innerhalb einer Sprach- und Geschichtsgemeinschaft möglich. Als pragmatische Rückzugsebene gilt eben nur das Sentiment oder das Pragma "Wir tun das oder wir tun dieses nicht". Dabei erscheint der Mensch als formbares Lebewesen, was Rorty unter bezug auf Nietzsche und Freud zu belegen versucht. Hierbei erwähnt er nicht den ihm wohl unbekannten Arnold Gehlen und dessen Theorie vom Menschen als dem nicht festgelegten Tier. Sein Bezugspunkt ist das Gefühl, das Sentiment, aber auch hier erwähnt er nicht den Vorläufer JeanJacques Rousseau. 12 Von seinem Gefühlsstandpunkt aus wendet er sich gegen die Syllogismen 13 des Rechtes und formuliert ungefähr wie folgt: Onkel Toms Hütte oder Solzenizyns Archipel Gulag bezeugen weit aus mehr Solidarität und solidaritätsauslösende Kraft, als ein von Begriffserklärungen und begründenden Syllogismen ausgehender Text. Die Nähe zu Rousseau wird eben in Rortys Solidaritätsdefinition erkennbar: Solidarität ist nach ihm einfühlsame Identifikation mit den Einzelheiten im Leben anderer. Die Vorstellung von der anzustrebenden liberalen Gesellschaft mündet in das Credo, dass anzustreben ist, dasjenige wahr zu nennen, was sich als Ergebnis fairer und offener Kämpfe herausstellt. Damit taucht die Frage auf, ob das Sprichwort und insbesondere das Rechtssprichwort eine Funktion in diesen "fairen Kämpfen" eine Rolle spielt, ob es also zu den literarischen Kraftquellen des gesellschaftlichen Lebens gehört, oder ob es zu den Syllogismen zu zählen sei. Es ist wohl unverfänglich, dem Rechtssprichwort eine Vermittlungsposition einzuräumen, zumal das Sprichwort als solches ja immer als Resümee auch einer Erzählform oder eines Erzählgutes anzusehen ist, das als solches in den Rechtsgang nicht eingeführt wird. Eine weitere Frage ist, ob das Gefühl oder der Ausdruck oder Ausspruch des Gefühls nicht in die Nähe des Gewissensspruches gerät, und weiterhin, wenn zwischen beiden kein entscheidender Sentimentsunterschied besteht, ob nicht der Einwand Luhmanns gegen die Störung durch den Gewissensspruch auch hier erhoben werden muss? 14 Die Zurückweisung der Geschichte, auch der Rechtsgeschichte, 12 Elisabeth Hinterdobler, Zur personalen Struktur des Rechts, München 1996, insb. zum "Sentiment de l' existence" S. 161 ff. 13 Nachfolgend sollen nur zwei wichtige Hauptwerke angegeben werden: ls Natural Science a Natural Kind? in: Objectivity, Relativism, and Truth. Philosophical Papers, Bd. 1, Cambridge 1991; Deconstruction and Circumvention, in: Essays on Heidegger and Others. Philosophical Papers, Bd. 2, Cambridge 1991; u. a. erschienen: Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, 4. Aufl. 1997, Frankfurt am Main.

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ist offenkundig auch gegenüber den Menschenrechten manifest. Auch sie können nur für die Zukunft postuliert, nicht aber aus der Vergangenheit begründet werden. Dann ist auch für die Menschenrechte wiederum nur die Gefühlslage von Bedeutung und von Entscheidung. Überträgt man diesen Gedanken auf das Rechtssprichwort, so wird diesem sicher auch die Bedeutung für die Gegenwart, zumindestens in oralen Gesellschaften, nicht abgesprochen werden können. Lehnt man das Gesetz ab, so würde dem Rechtssprichwort auch im modernen Prozess eine überhöhte oder größere Bedeutung zukommen. Auch der gegenteilige Standpunkt wird vertreten, zumal große Juristen auch die geistigen Wegbereiter der Gesetzgebungsbewegung und der Volkskunde waren. 15 Gilt Rortys Angriff gegen das Gesetz, aus dem man auch ein Wort zugunsten des Sprichwortes als Literatur herauslesen kann, nur dem Common Law, das eben auf Richtersprüchen und Syllogismen beruht, oder auch den großen Kodifikationen des Kontinents? Diese Frage muss hier offengelassen werden, weil Rorty sich dazu nicht ausgesprochen hat. Sieht man aber darin eine allgemeine Rückwendung vom Juristenrecht, so mag inzwischen der Literatur und dem Sprichwort in der modernen Rechtskultur des postmodernen Zeitalters eine größere Bedeutung zukommen, als dies in den letzten zwei Jahrhunderten der Fall war. In diesem Zeitraum entwickelte sich der Gesetzgeber als überragender Faktor der Normsetzung und drängte den Richterspruch als Rechtsquelle völlig zurück. Mit dem Wiedererstarken des Richterrechtes aus dem Postulat volksnaher Rechtsprechung könnte das Verständnis für das Rechtssprichwort wieder wachsen. Vor allem wird man aber bei der Modernisierung der Rechtssysteme der sozialistischen Länder der Dritten Welt oder der Kultursysteme, die bisher mehr oder weniger nach Gewohnheitsrecht oder überfremdetem westlichen Recht gelebt haben, auf diesen Aspekt mehr Rücksicht nehmen als bisher. Deshalb ist es wohl nicht nur von rechtshistorischen Interesse, danach zu fragen, welche Funktion das Rechtssprichwort in autochthonen Kulturen auch heute noch hat. Dies soll am Beispiel des äthiopischen oder - besser gesagt - des amharischen Rechtssprichwortes im nächsten Abschnitt untersucht werden. In den autochthonen Rechtskulturen Afrikas hat der informelle Gerichtssektor immer eine große und wohl auch wachsende Rolle gespielt. Es wird von Bedeutung sein, auf dem informellen Sektor die Entwicklung ins Auge zu fassen, zumal die modernen Verfassungen einiger Staaten wie z. B. von Nigeria und Äthiopien ausdrücklich die Anwendung autochthonen Gewohnheitsrechtes vor spezialisierten Spruchkörpern vorsehen. 16

14 Heinrich Scholler, Gewissensanspruch als Störung, in: Jenseits des Funktionalismus, Arthur Kaufmann zum 65. Geburtstag, Hrsg. Scholler I Philipps, Heidelberg 1969, S. 175 ff. 15 Judith Laeverenz, Märchen und Recht, Frankfurt 2001; Annette Sabbanl Jan Wirrer Hrsg., Sprichwörter und Redensarten im interkulturellen Vergleich, Opladen 1991 . 16 Constitution ofthe Federal Republic ofEthiopia, Art. 34 IV, 78 IV (1994).

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111. Das amharische Rechtssprichwort 1. Die Sonderstellung des kritischen, amharischen Rechtssprichwortes Wie Äthiopien im allgemeinen oder wie die Amhara und Tigre eine Sonderstellung in Äthiopien und Afrika einnehmen, so nimmt auch das amharische und tigrische Rechtssprichwort eine Sonderstellung ein. Verfügt eine Kultur über keine schriftlichen Rechtsdokumente, wird selbstverständlich die Bedeutung und Wirkung des mündlichen Erzählgutes für das Rechtsleben wesentlich bedeutungsvoller. Da im Falle der amharischen Kultur aber Rechtsdokumente vorhanden sind, die ins 15., ja sogar ins 13. Jahrhundert zurückreichen, 17 entwickelte sich gerade in diesem Kulturbereich eine besondere Gattung von Rechtssprichwörtem, auf die ich gezielt eingehen möchte. Es ist das kritische Rechtssprichwort.

2. Möhligs Klassifikation der afrikanischen Rechtssprichwörter Zuvor muss aber noch ein Blick auf die Rechtssprichwörter in Afrika im allgemeinen geworfen werden. Möhlig hat hierzu einen sehr interessanten Beitrag in seinem Artikel "Sprichwörter als Quellen des traditionellen Rechtes" geliefert. Er führt folgende drei Klassifikationen ein: die rhetorische Funktion, die belehrende und die rechtliche Funktion, wobei letztere eine materiell-rechtliche oder prozessual-rechtliche sein kann. "Meistens haben die Sprichwörter einen weiten Anwendungsbereich, unter dem die rechtliche Funktion nur eine von mehreren Anwendungsmöglichkeiten ist." 18 Möhlig bringt zwei interessante Sprichwörter, bei welchen er mit Recht einen unmittelbaren rechtlichen Bezug annimmt. Das erste soll den Beweis nach Hörensagen (hearsay) ausschließen und lautet: "Du hörst nicht eine Sache sie ist im Wind und nimmst und arbeitest nicht." 19 Das zweite wurde in einem Prozess vom Beklagten eingeführt, um eine drohende Verurteilung abzuwenden, die ebenfalls auf einem Sprichwort des Klägers basierte. Der Kläger hatte seinen Antrag auf Verurteilung wie folgt begründet: "Ein Hund, welcher pflückt Palenfrüchte von der Staude, fürchtet nicht das Stachelschwein."20 17 Bairu Tafla/Heinrich Scholler; Sera'ta Mangest, An Early Ethiopian Constitution, in: Verfassung und Recht in Übersee 1976, S. 489 ff., s. dem gegenüber den Beitrag von Heinrich Scholler/Girma Fiseha, Ethiopian Open Air Courts, in: Afrika und Übersee, 1985, S. 11 ff., s. hierzu auch Heinrich Scholler; From Pre-Colonialism to the modern African State, in: Law and State 1984 S. 73 ff. 18 Wilhelm Möhlig, Sprichwörter als Quelle des traditionellen Rechts in Afrika, in: Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 78, 1979, S. 232. 19 Möhlig, Sprichwörter, Sprichwort Nr. 12. 2o Möhlig, Sprichwörter, Sprichwort Nr. 14.

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"Das einzelne Buschhuhn hinterlässt nach dem Fliegen, Schneise schließt sich. " 21 Mit diesem Sprichwort hat der Beklagte mit Erfolg sein Recht verteidigt, wonach im Zweifel ein Angeschuldigter oder Beklagter freizusprechen ist. Dieser Grundsatz "in dubio pro reo" kommt auch in dem afrikanischen Sprichwort "Männer zwei binden sich nicht gegenseitig" 22 vor.

3. Das Sprichwort im Rechtsfindungsprozess Wie erfolgt nun der Rechtsfindungsprozess, den das Rechtssprichwort abschließt, voraussetzt oder in dem das Rechtssprichwort mittendrin steht? Ist Rechtsfindung der Vorlauf, der im Rechtssprichwort endet, oder ist Rechtsfindung etwas, was sich an das Rechtssprichwort anschließt? Ist Rechtssprichwort Entscheidung, also eine Entsprechung von Sollen und Sein im konkret-materiell-Positiven und für eine Situation geltend und damit geschichtlich, oder ist das Sprichwort ein "in-die-Entsprechung-bringen", also eine Assimilation im Rahmen wirklicher Lebenssachverhalte, induktiv oder deduktiv, oder steht das Rechtssprichwort auf der Seite der Assimilation aus möglichen Lebenssachverhalten und damit auf der Ebene der generell abstrakten Rechtsnorm des Gewohnheitsrechtes, des Richterrechtes und damit konkretisierter allgemeiner Formen? Rechtssprichwörter haben von all diesen drei möglichen Aspekten des hermeneutischen Prozesses etwas, und es mag ganz auf die geschichtliche Situation ankommen, ob sie bereits als gewohnheitsrechtlicher Rechtssatz begriffen werden, ob sie in hermeneutischen Prozess als Rechtsentscheidung zitiert werden, oder ob sie ihre eigentliche Funktion noch innehaben, nämlich die Assimilation als ein "in-die-Entsprechung-bringen" von Sein und Sollen darstellen. Diese Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm, die von beiden Seiten, von Lebenssachverhalt und von der Norm als Prozess in Gang gesetzt wird, findet den Vergleichspunkt dieser Gleichsetzung in der Auslegung23 • Möhlig hat in einer anderen Studie gerade die Bedeutung des situativen Kontextes besonders herausgehoben. 24

4. Das kritische amharische (Rechts-)Sprichwort Neben diesen auf den Rechtsprozess und ihre Anwendung gerichteten Rechtssprichwörtern gibt es das kritische amharische Rechtssprichwort, das eben nicht Möhlig, Sprichwörter, Sprichwort Nr. 15. Möhlig, Sprichwörter, Sprichwort Nr. 16. 23 Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl.1977, S. 57f.; ders., Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl.1963, S. 33; Arthur Kaufmann, Analogie und Natur der Sache- zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 2. verb. Aufl. 1982, S. 18. 24 Möhlig, Traditionelles Rechtssystem. 21

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im Verfahren angewandt wurde, weil im Verfahren die Fetha Nagast oder andere geschriebene Rechtsquellen unter Verdrängung des Gewohnheitsrechtes anzuwenden waren. Dort, wo sozusagen das archaische Recht galt - im Gegensatz zum sogenannten autochthonen - entwickelt das autochthone Recht mittels des Erzählguts und der Rechtssprichwörter eine kritische Diskussionsebene gegenüber dem geschriebenen Recht. Das mündliche Erzählgut ist damit nicht unmittelbar auf Rechtsanwendung, sondern auf Rechtskritik gerichtet. Diese Rechtskritik findet sich beispielsweise in den Sprichwörtern Nr. 8 bis Nr. 23 in meinem Beitrag: "Das Afrikanische Rechtssprichwort als hermeneutisches Problem"25 • "Wenn du einen Dieb schlägst, vergiss nicht, auch seinen Anwalt zu schlagen". Dieses Sprichwort ist Ausdruck einer großen Skepsis gegenüber der Gerichtsbarkeit einschließlich der Hilfsorgane und der Anwaltschaft. Während sich in den meisten Sprichwörtern die Skepsis nur gegen den Richter wendet ("wenn du einen bürgerlichen Richter hast, vergiss nicht ein Glas Honig mitzunehmen, oder: einen Richter kritisieren ist gleich einen Tiger umarmen"), so wendet sich dieses Sprichwort mehr gegen die missliche Lage der Rechtssuche. Ein Sprichwort lautet: "Wer in einem Rechtsstreit unterlegen ist, der ist dem gleich, der ein Bein verloren hat". Hier wird sehr bildhaft die Situation des nicht mehr Gehen-Könnens, des nicht mehr Prozessieren-Könnens geschildert. Die körperliche Unbeweglichkeit und Immobilität des Einbeinigen steht gleich der gesellschaftlichen Blockade desjenigen, der vor Gericht verloren hat. Ein anderes Sprichwort zeigt ebenfalls diese gesellschaftliche Schwierigkeit, obschon es auch gleichzeitig die Tatsache bekundet, dass die Gerichte nicht von sich aus tätig werden. So sagt es: "Wer einen Fluss überqueren will, muss schwimmen, wer einen Rechtsstreit führen will, muss klagen." Hier wird der Rechtsstreit mit seinen gesellschaftlichen und rechtlichen Problemen dem breiten starken Strom gleichgestellt, der das Land teilt. Mit der Prozesssituation befassen sich zwei weitere Sprichwörter, die hier deshalb von Interesse sind, weil sie eine gewisse Kritik mit einer Rechtsbelehrung verbinden. So sagt ein Sprichwort, dass genauso wie ein Geschäftsmann Profit sucht und suchen muss beim Abschluss von Geschäften, so wird der Richter seine Entscheidung begriinden. Bedeutet dies, dass der Richter durch seine Begrundung an Anerkennung in der Gesellschaft gewinnt, so wie eben auch der Geschäftsmann durch den Profit seine Stellung sichert? Dieses Sprichwort könnte aber auch negativ zu deuten sein und würde dann bedeuten, dass der Richter eigensüchtig handelt, wenn er belehrt, wie der Geschäftsmann nur vom Eigeninteresse getrieben wird, wenn er seinen Profit sucht. Das andere Sprichwort behandelt die Möglichkeit der Berufung. Eine solche Berufung an ein höheres Gericht ist nicht in allen autochthonen Rechtsordnungen gegeben. Das amharische Sprichwort lautet nun wie folgt: "Ist ein Richter störrisch oder unangenehm, dann gibt es immer noch ein höheres Gericht, so wie es immer noch die Straße zur Fortbewegung gibt, wenn 25

s. Anhang.

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der Esel nicht weitergehen will:'. Ein Esel ist also der erste Richter, der dem Kläger kein günstiges Urteil erlassen will, die Straße ist der weitere Weg zur nächsten Instanz, um Recht zu erhalten. Sie ist mühsamer, aber sie ist gangbar. Zur Rechtssprichwörtern, die den Prozess betreffen, gehört auch jenes Sprichwort, das besagt, dass eine Streitsache vor Gericht genauso sauber und klar ist, wie Holz, das in der Sonne getrocknet wurde. Vor dem Gericht erwartet man also durch den Richter eine Klärung des Sachverhaltes, ein Beiseiteräumen der vielen wortreichen Beschwörungen und Erklärungen, das Herausstellen des Wesenskernes des Rechtsproblems.

IV. Vom "wandernden Gehör" Vor einem Missverständnis soll hier gewarnt werden. Rechtssprichwörter sind - wie übrigens die Sprichwörter selbst- Ausdruck nicht von Rechtsregeln, sondern Prinzipien oder Rechtsgrundsätzen. Das Rechtssprichwort kennt als (Rechts-)Prinzip oder (Rechts-)Grundsatz selbstverständlich Ausnahmen von einem Prinzip, die ebenfalls wieder in Sprichwörtern oder Rechtssprichwörtern ausgedrückt werden. Hinzu kommt der argumentative Charakter nicht nur von Analogieerzählungen, sondern gerade von Rechtssprichwörtern, so dass eigentlich die Tatsache gar nicht Wunder nehmen kann, dass es für entgegengesetzte Verhaltensregeln entsprechende Rechtssprichwörter gibt, die dann im informellen oder formellen Konfliktbeilegungsverfahren gegeneinander aufgestellt werden. Eine besonders prägnante Erfahrung des afrikanischen Rechtssprichwortes ist nun die Tatsache, dass in ihm sich der Gedanke widerspiegelt, dass Recht und Gesetz immer mit den Erfahrungen des Lebens vergleichbar sein müssen und dass das Rechtsdenken sowie rechtliches Argumentieren nicht vom natürlich vernünftigen Denken zu sehr abstrahieren dürfen. Gerade das afrikanische Rechtssprichwort hält die Nähe zum "Sitz im Leben", also zu den Sachverhaltselementen, welchen das Problem zuzuordnen ist. So treten im afrikanischen Rechtssprichwort - ähnlich wie in den Analogien des Alten Testamentes oder in den Gleichnisreden - Bildhälfte und Sachhälfte zusammen. Die Rechtssprichwörter, die durch ihre gleichsam "eingebaute Analogie" die hermeneutische Methode, die anzuwenden ist, in sich tragen, sind somit Ausdruck eines doppelten Assimilationsprozesses. Dieser Assimilationsprozess wird einmal dadurch vollzogen, dass dargestellt wird, dass die allgemeine Lebenserfahrung eine Hilfestellung für die Situation vor Gericht gibt, also für das "im-Recht-Sein." Gleichzeitig umschließt und begründet das afrikanische Rechtssprichwort einen zweiten Assimilationsprozess, nämlich denjenigen vom Lebenssachverhalt zur gesollten normativen Ordnung. Stark tritt auch die proportionale - oder besser gesagt: funktionale - Analogie hervor, die sich in der Verbalform ausdrückt. In dem Sprichwort, das Klagen und Schwimmen, Streit und Fluss vergleicht, wird das deutlich, indem die funktionale Analogie die rechtliche Auseinandersetzung, den "Rechtsgang"- in diesem deut-

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sehen Wort liegt ja auch bereits der Gedanke des Sichfortbewegens genauso wie im Begriff des procedere - klar hervortreten lässt. Schwimmen I klagen - Fluss überqueren I vor Gericht auftreten und das Verfahren vor Gericht führen. Bildhaft steht auch die Normenanalogie vor den Augen der Menschen. Der das Land teilende Fluss ist der Streit, aber gleichzeitig auch die Gesellschaft, gegen welche ein Rechtsanspruch durchgesetzt werden soll.

V. Hermeneutik oraler Tradition, insbesondere des Märchens und des Sprichwortes Das Sprichwort muß, wie schon die Fabel von Reineke Fuchs zeigt, mit der Fabel zusammen betrachtet werden. Wenn man das Märchen als fabula incredibilis26 auffaßt, dann wird für die Auslegung solcher Erzählgutgattungen sicher auch ein Vorverständnis legendärer und fabulöser Art gesucht werden müssen. Aber diese Auslegung ist eben schon eine verfälschte Betrachtung mündlichen Traditionsgutes, wie es sich in der Fabel findet. Bei dieser Gattung mündlicher Überlieferung geht es entweder um eine Moralität oder ,,Ethik des Handels", weil auf die Frage geantwortet wird: "Was muß ich tun?", oder um eine "Ethik des Geschehens", weil das Problem angesprochen wird: "Wie muß es zugehen in der Welt?"27 Diese zentrale Frage, die entweder mehr auf Handlungs- oder Geschehnisethik abstellt, wird als die "Geistesbeschäftigung des Märchens" bezeichnet. 28 Dem Märchen liege eine "Form vor ... , in der das Geschehen, der Lauf der Dinge so geordnet sind, daß sie den Anforderungen der naiven Moral völlig entsprechen, also nach unserem absoluten Gefühlsurteil gut und gerecht sind. 29 Im Gegensatz zu Andre Joles betont Max Lüthi, dass nicht "Gerechtigkeit im Geschehen", sondern die "Richtigkeit des Geschehens" überhaupt im Mittelpunkt stehe.30 Dem Juristen ist diese Gegensätzlichkeit von Gerechtigkeit und Richtigkeit durchaus bekannt. Die hermeneutische Methode könnte sich daher als Teil rechtsmethodologischer Forschung ebenfalls an die Fabel heranwagen und sie befragen, es sei denn, dass nicht die Hermeneutik, d. h. das Verstehen von Texten, sondern die Rhetorik als die zuständige Methode angesehen wird. Hans Georg Gadamer hat allerdings wohl zu Recht darauf hingewiesen, dass auch mündliches Traditionsgut der 26 Heinrich Scholler; Märchen, Recht und Rechtsentwicklung, in: Festschrift für Theodor Maunz, 1981, S. 317ff.; Max Lüthi, Das europäische Volksmärchen, Form und Wesen, 4. erw. Aufl. 1974, Anm. S. 76ff.; ders., Das Volksmärchen als Dichtung und Aussage (1956), abgedr. in: Wege der Märchenforschung (hrsg. von F. Karlinger) 1973, S. 295 ff. sowie ders., Aspekte des Volksmärchens und der Volkssage, ebd., S. 408 ff. 27 Lüthi, Europäische Volksmärchen, S. 10, 83. 28 Lüthi, Europäische Volksmärchen, S. 83. 29 K. Ranke, Betrachtungen zum Wesen und zur Funktion des Märchens, in: Wege der Märchenforschung, S. 320ff., insbes. S. 347. 30 Lüthi, Europäische Volksmärchen, S. 83, wo auch auf A. Joles hingewiesen wird.

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hermeneutischen Methode zugänglich ist und nicht auf die Rhetorik verwiesen werden muss. 31 Wie verhält es sich nun mit dem Rechtssprichwort, das ebenfalls wie das Sprichwort Teil der mündlichen Überlieferung nicht schriftführender Völker ist? Die Frage des Verhältnisses vom Rechtssprichwort zur Fabel ist schon für sich interessant. Es könnte eine Verbindungslinie vom Märchen zum Sprichwort über die Brücke der sogenannten "Märchenmoral" gefunden werden. Diese moralisierenden Schlussbemerkungen sind seit der Aufklärung an die Märchen interpretativ angehängt worden. So finden wir vor allem bei Perrault eine ganze Reihe von solchen "und die Moral von der Geschieht", die natürlich bei Perrault nicht in dieser simplen Wilhelm-Busch-Weise auftauchen. Aber auch die Wilhelm-Busch-Formulierung ist ja nichts anderes als eine Handlungsanweisung, also ein Sollenssatz, der sich als Resurne aus einer Geschichtserzählung ergibt, genau so wie die Moralia am Ende der Märchen, die die Aufklärung dort angefügt hat. Dass das Verstehen von Märchen oder Sprichwörtern eine besondere Problematik darstellt, eine besondere hermeneutische Aufgabe bedeutet, war der Märchenforschung schon immer bewusst, obwohl sie, soweit zu sehen ist, nicht ausdrücklich auf die Hermeneutik als Auslegungsmethode zurückgegriffen hat. In der Geschichte der Märchenforschung und der Methodik dieses Wissenschaftszweiges stehen sich zwei Richtungen hermeneutischer Versuche gegenüber: Die erste versuchte, aus inneren Elementen der Märchenerzählung wie den Sujets, den Motiven, der Symbolik oder der Morphologie und den Funktionen Interpretationselemente abzugewinnen. Das Vorverständnis, auf das das Märchen angewiesen ist, um verstanden zu werden, wurde in solchen Elementen des Erzählgutes selbst gesehen, die teils tatsächlich mehr intern, teils aber bereits auf den Übergang zu externen Bestandteilen standen, wie Funktion und Morphologie. Eine andere Richtung hat von vornherein und bewusst sich stärker an die Interpretation des Erzählgutes aus dem "Kontext" bemüht. Diese externe Märchenhermeneutik sieht Interpretationsansätze in der Religionswissenschaft, in der Ethnologie und der Märchengeographie. Wie sehr sich die Hermeneutik im Laufe der Zeit zum Umdenken gezwungen sah, erkennt man, wenn man die Interpretation von Jakob Grimm aus dem Jahre 180832 heranzieht, wo das sich selbst dichtende Märchen, von dem gesagt wurde, "es blühte, es klang von ihren Lippen, es führte sich von selbst ein", entstanden war. Die zweite unrichtige Interpretation der Gehrüder Grimm rückte die Märchen in den Innenbereich des biedermeierlich-bürgerlichen Hauses, wenn die Märchen 31 Hans-Georg Gadamer, Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: Kleine Schriften I, Philosophie- Hermeneutik, 1967, S. 59. 32 Jakob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 2 Bde. 1899, Nachdruck 1974; ders. Von der Poesie im Recht, 1818, Nachdruck 1972; Ludwig Denecke, Jakob Grimm und sein Bruder Wilhelm, 1971; Giuliano Marini, Jakob Grimm, Guida Editori, Napoli 1972; Wemer Spanner, Das Märchen als Gattung, in: Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 68(1939), S. 221, auszugsweise abgedr. in: Wege der Märchenforschung, S. 155 ff. unter dem Titel "Das Märchen als Gattung".

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als Kinder- und Hausmärchen begriffen wurden? 3 Wenn auch die neueren ethnologisch-religionsgeschichtlichen Arbeiten durch die Betonung des Archaischen und des Anthropologisch-Völkerkundlichen wieder eine gewisse Nähe zu den Gehrlidern Grimm herstellen, wurde doch eine neue Qualität erreicht, die Molme so formuliert hat: "Was Jakob und Wilhelm Grimm fanden, waren keine urdeutschen Mythen, sondern eine eigentümliche Form des Denkens des Menschen in seiner Friihzeit, das für alle Volker gemeinsam ist. 34 Wenn man dieses Ergebnis als richtig ansieht oder es als Arbeitshypothese akzeptiert, wird deutlich, dass das Märchenverstehen im wesentlichen eine hermeneutische Aufgabe ist, die verlangt, auf jene "eigentümliche F:orm des Denkens des Menschen in seiner Friihzeit" zuriickzugreifen, ein Denken, das allen Völkern gemeinsam sein soll. Claude Levi-Strauss hat dieses Denken etwas provozierend "wildes Denken" genannt, trifft aber damit für die Hermeneutik den entscheidenden Ansatzpunkt, nämlich die Notwendigkeit der Interpretation des Erzählgutes aus der konkret-generellen Verständniswelt der Friihzeit. 35 Dabei darf man nicht vergessen, dass die Märchen ständig fortgeschrieben wurden und deshalb den verschiedenen Gesellschaftszuständen entsprechen, so dass friihzeitige Elemente durch modernere verdrängt wurden. Das zeigt sich zum Beispiel sehr deutlich beim Rotkäppchen-Märchen, das eine ganz verschiedene französische und deutsche Version hat. Bei der bildliehen Beschreibung von deutschen und französischen Mädchen zwischen 10 und 12 Jahren in einer gemischten Schule kam dieser Umstand, aber auch ein weiterer, deutlich zutage, auf den L. Röhrich aufmerksam gemacht hat, nämlich dass aus der konkret-allgemeinen Situation eines jeden Volkes das Märchen seine Interpretation findet, indem der Wolf als Untier oder in der französischen Situation als Hofhund, das Mädchen als unschuldiges blondes Kind oder als schwarzhaarige junge Dame interpretiert wurden. 36 Nicht das mündliche Erzählgut Märchen, Sage oder Legende sind Gegenstand dieser Untersuchung, sondern das Sprichwort. Der Exkurs über das Märchen war nur erforderlich, um die Verbindung herzustellen, da das Sprichwort, wie oben schon angedeutet wurde, in einer engeren Beziehung zum Märchen steht, indem es oft als Quintessenz oder Moral des Märchens auftritt. Heinrich Scholler; Märchen, Recht und Rechtsentwicklung, S. 325. August Nitschke, Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen, Bd. 1: Das frühe Europa, 1976, Bd: II: Stabile Verhaltensweisen der Volker in unserer Zeit, 1977, Nitschke spricht von "analogen Konfigurationen". 35 Claude Levi-Strauss, Das wjlde Denken, 1973. Zu afrikanischen Sprichwörtern und Fabeln s. a. Jean Cauvin, Les Proverbes, Les classiques africains, Edition Saint-Paul 1981; ders., Les Contes, Les classiques africains, Ed. Saint-Paul1980; J. Scelles- Millie, Paraboles et contes d' Afrique du Nord, Les Litteratures populaires de toutes les Nations, Tome XXXI, Paris 1982; Bemth Lindfors (Hrsg.), Forms of Folklore in Africa. Narrative, Poetic, Gnomic, Dramatic, University of Texas Press, 1977; Richard M. Dorson, African Folklore, Indiana University Press, 1972. 36 Ottokar Grafv. Wittgenstein, Märchen, Träume, Schicksale, Autoritäts-, Partnerschaftsund Sexualprobleme im Spiegel zeitloser Bildersprache in Geist und Psyche, 2. Aufl. 1981, S. 211, insbes. S. 221. 33

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a) Es sei die Moral bei Perrault wiedergegeben: Kindersegen, welch ein glücklich Los! Wenn die Kinder alle schön und groß, wohlgestalt, voller Lust und Lachen! Doch ist schwächlich eins und spricht es nicht, höhnt und schilt man, nimmt ihm seine Sachen: Manchmal doch versteht solch kleiner Wicht ganz allein des Hauses Glück zu machen" 37

Derselbe Märchensammler hat zum Traditionsgut vorn Blaubart zwei Moralanweisungen geschrieben, wie man sie ja häufig bei dieser Märchengattung findet. Möglicherweise kommt die Redewendung von der doppelten Moral aus dieser Hinzuschreibung einer weiteren Moral zur ursprünglichen. In der weiteren Moral des Blaubartes bei Perrault lautet es: Sofern man klug ist und gescheit und kann der Welt Geschwätz verstehen, wird man in der Geschichte sehen ein Märchen aus der alten Zeit. Kein Gatte jetzt zu grausam wäre, und keiner, der Unmögliches begehre".38

Die Moral selbst bezeichnet die Erzählung als ein Märchen aus alter Zeit, das nicht mehr Gültigkeit habe und deswegen durch die Anfügung einer zweiten Moral im Grunde genommen entkräftet wird. Dies ist der typische Vorgang eines hermeneutischen Zuganges und einer hermeneutischen Beschäftigung mit einem Text, an dessen Ende der Moralgeber sich als klüger erweist als das mündliche Erzählgut b) Wenn die hermeneutischen Bemühungen in den Moralia deutlich erkennbar sind, ja wenn die zweite Moral, die als weitere Moral angefügt wird, eine Fortschreibung und Urninterpretation darstellt, wirft sich die Frage auf, ob das ein singulärer Vorgang der Aufklärungszeit war, oder ob diese Moralia, die mit Sprichwörtern eng zusammenzuhängen scheinen, einem Uranliegen des Märchens entsprechen. Das afrikanische Erzählgut kennt ebenfalls die Moral oder das Sprichwort, das an das Ende des Erzählgutes tritt und nicht als Interpretation eines Märchenerzählers aus neuerer "Aufklärerzeit" auftritt. Immerhin scheint das Einmünden des mündlichen Erzählgutes in eine Moral, Sentenz oder ein Sprichwort etwas Übliches, ja vielleicht sogar Notwendiges zu sein. Das Yoruba-Märchen (Nigeria): Der Sohn, der seinen Vater verschonte, und die Varianten der Wala in Ghana endet mit folgender Sentenz: ,,Deine Weisheit soll künftig mein Königreich leiten. Denn was ein alter Mann im Sitzen sieht, sieht ein junger nicht einmal im 37 Charles Perrault, Feenmärchen aus alter Zeit, aus dem Französischen übertragen unter Benutzung älterer Vorlagen von Helga Groß, München o. J., S. 129. Dazu auch die Aschenputtelerzählung, ebd., S. 89 und hierzu die Interpretation von Max Lüthi, Der AschenputtelZyclus, in: Vom Menschenbild im Märchen, 1980, S. 39ff. 38 Perrault, S. 45; dazu Claude Lecouteux, in: Vom Menschenbild im Märchen, S. 59ff.

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Stehen.39 Das Märchen Moremi, das von Ulla Schild als Sage bezeichnet wird und ebenfalls von den Yorubas stammt, endet mit einem Weisheitsspruch: "Die Weisheit der Mossi drückt das so aus: Niemand kann nehmen, was Gott gegeben, niemand kann gewähren, was Gott verweigert, Gott zahlt, ohne sich zu verpflichten.40

Das Märchen "Der Jäger und seine Gläubiger", eine Ibo-Erzählung aus Nigeria, endet wie die europäischen Märchen mit einer Moral: Verleihe niemals Geld, denn wenn der Gläubiger nicht zahlen kann, wird er dir auch nach deinem Leben trachten.41

Schließlich soll noch das weitere Yoruba-Märchen "Der Schwur der Verliebten" erwähnt werden, welchem das gleiche Motiv aus Gottfried v. Straßburgs "Tristan und Isolde" zugrunde liegt. Diese Fabel endet mit der Formel: "So hat sich das alte Sprichwort wieder einmal bestätigt: Nicht einmal Gott ist reif genug, eine verliebte Frau zu erwischen." 42

39 Ulla Schild, Westafrikanisches Märchen, 1975, Nr. 12, S. 39; s. dazu auch die Besprechung von Bengt Holbek, in: Fabula, Bd. 16, 1975, S. 391 ff. 40 Schild, Nr. 18, S. 61. 41 Schild, Nr. 21, S. 67. 42 Schild, Nr. 31 S. 95. Ähnliche Moral- und Weisheitssprüche zeigen auch die Märchen der Bantu, hrsg. und übersetzt von Airnut Seiler-Dieterich, 1980: Nr. 16: Tischlein deck dich, Knüppel aus dem Sack, S. 91 I S. 94 "Und das ist der Sinn dieses Märchens: Es gibt Menschen, die es trotz ..."; Nr. 6: Die Suche nach dem Tod, S. 65 "Wer Geld sucht, sucht den Tod", S. 69 "Das ist die Bedeutung dieser Geschichte... "; Nr. 25: Der Korb, S. 101 I 105 "Wohlstand kommt von der Medizin, das ist heute schon ein Sprichwort geworden." ,,Man sagt: hacke den Boden . .. ,,Ein junger Mann muß sich strecken, so hoch er nur reichen kann"; Nr. 30: Der Mann, der die Tiersprache verstand, S. 1691172 "Man soll also niemals jemanden auslachen, wenn er spricht"; Nr. 39: Der Zauberring, S. 1821190 "Darum sagt man: Wenn du einen Schatz besitzst, zeige ihn nicht deiner Frau, auch nicht, wenn du sie liebst"; Nr. 34: Die neugierige Frau, S. 191 I 195 "Und das ist die Moral dieses Märchens: hätte sie geglaubt, was man ihr sagte, wäre sie nicht so gestorben"; Nr. 37: Der Mann, der das Auge mit seiner Frau teilte, S. 202 I 205 ,,Man sagt: Vertraue keiner Frau!". Vgl. auch Märchen aus dem Tschad, in: Die Märchen der Weltliteratur, begründet von Friedrich von der Leyen, Köln 1981, zuletzt hrsg. von Hermann Jungraithmayr, Nr. 46: Tödin und Hyänerich, S. 2291230 "So bringt in jedem Fall der Tod den Tod"; Nr. 20b: Hyäne und Hündin, S. 243 I 245 "Das ist der Grund, warum man sagt, daß die Hündin die Männer liebt"; sowie Nubische Märchen, in: Die Märchen der Weltliteratur (hrsg. von Kurt Schier und Felix Herlinger), 1978, Nr. 1: Geschichte von dem einen Piaster, S. 1 I 7 ,,Möge so ein jeder durch harte Arbeit verdiente Piaster Früchte tragen".

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VI. Beispiele für die besondere Analogizität des amharischen Rechtssprichwortes Die Analogie ist vor allem im Prozess der Auslegung auch im modernen Rechtsanwendungsverfahren ein zentrales Problem. In diesem Rechtsanwendungsverfahren geht die Auslegung von der Norm her, indem sie die Norm "sachgerecht" zum Lebenssachverhalt in Beziehung setzt. Die Rechtshermeneutik spricht hier von einem "Zug-um-Zug-Verfahren", von einem ,,Sich-Öffnen" des Sachverhaltes zur Norm und der Norm zum Sachverhalt hin. Dieser hermeneutische Prozess scheint gerade eben dort von besonderer Bedeutung zu sein, wo sich Gesetz und Sachverhalt auf zwei verschiedenen Ebenen, der Ebene des Sollens und des Seins, auseinandergelebt haben, wo sich eine abstrakte Normwelt und eine konkrete Sachwelt gegenüberstehen. Das aber fehlt gerade im afrikanischen Rechtssprichwort. Es ist hier kein Auseinandertreten von Normativem und Lebenssachverhalt erkennbar, doch nicht in dem Sinne, daß es nur Normativität oder nur Natürlichkeit der Lebenssachverhalte gäbe. Vielmehr fassen das Sprichwort und das Rechtssprichwort in einem Satz das Normativ-Sein-Sollende und das Sein analog zusammen. Im afrikanischen, insbesondere im amharischen Rechtssprichwort ist diese Analogizität besonders erkennbar und tritt stärker hervor als im germanischen Rechtssprichwort. Im nachfolgenden werden einige äthiopische (amharische) Sprichwörter und Rechtssprichwörter vorgestellt, die nach ihrem Inhalt in drei Kategorien aufgeteilt wurden. Unter die erste Kategorie fallen Sprichwörter, die allgemeine Lebensweisheiten ausdrücken, in die zweite solche, die von Gerichtssituationen handeln, in die dritte solche, die sich mit Autorität im allgemeinen beschäftigen. Die erste Sprichwörtergruppe ist mehr ein Ausdruck allgemeiner Erfahrungen aus Rechtsstreitigkeiten. Diese Erfahrungssätze haben keine unmittelbare recht-· liehe Bedeutung. So betrifft das Rechtssprichwort ,,Lending money to a defeated Iitigant is like throwing it into fire" 43 nicht die Rechtssituation nach einem verlorenen Prozess, und die Sprichwörter "A fool keeps secrets from his own lawyer" und "One who could not get drinking water after a meal and one who could not get justice after injury are in similar positions" sind ebenfalls mehr der Ausdruck einer allgemeinen Lebensphilosophie und nicht von Rechtsdenken. Sie sind darüber hinaus Echo eines starken Rechtsgefühls, das durch einen Rechtsstreit und seine Entwicklung ausgelöst wird. Interessant ist nun, dass diese drei Gruppen von Rechtssprichwörtern eine gewisse Analogiestruktur aufweisen, die zwischen Naturerfahrung und gesellschaftlicher Erfahrung vermittelt; so die Analogie des Sprichwortes "Authority, just like human height, cannot extend beyond its Iimits", die zwischen der Größe des menschlichen Körpers und der Begrenzung der Autorität, die des Sprichwortes "A mule's character will depend on who trains it, a people's on who 43 Eine Aufstellung der amharischen Sprichwörter findet sich im Anhang zu: Heinrich Scholler, Das afrikanische Rechtssprichwort als hermeneutisches Problem, in: Dimensionen der Hermeneutik (Hrsg. Winfried Hassemer, Beideiberg 1984, S. 135 ff.).

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Ieads it", die zwischen der Abhängigkeit des Naturells eines Tieres (Esel) und dem eines Volkes vom (Tier-)Treiber oder dem Anführer hergestellt wird. Bei ,)udgement cannot be passed on a king, just as fire cannot burn over water" liegen Vergleiche zwischen der Position eines Königs gegenüber der rechtsprechenden Gewalt zum Verhältnis von Feuer und Wasser vor. Bei "Peace will reign as long as there is a king above, just as it will rain only as long as there is a cloud above" werden Frieden und königliche Autorität in Vergleich gesetzt zu Regen und Wolken. Ebenfalls in "lt is hard to sue a king, as it is hard to plough the sky" wird der Kläger in einem Verfahren gegen den König gleichgesetzt mit dem, der den Himmel pflügen will. Die zweite Gruppe von Rechtssprichwörtern handelt viel direkter von der Situation vor Gericht und vor den Richtern, so z. B. das Rechtssprichwort "Wood dried in fire (before it dries naturally) has durability, similarly information given a judge has stability" aus dieser Gruppe. Es betrifft eine Situation, die auch schon im römischen Recht ähnlich beschrieben worden ist: "quod est in actis, est in mundo". Das Rechtssprichwort "Once witnesses have testified and once a sacrifice is made, there is no going back" ist Ausdruck des Bewusstseins, dass Rechtsentscheidungen irreversibel sind. Gerichtsprozesse werden mit Lebensprozessen verglichen, eine Analogie, die in all diesen Sprichwörtern in der einen oder der anderen Weise transparent wird. Die dritte Gruppe von Rechtssprichwörtern, die sich mit dem Problem der Rechtspolitik beschäftigt, ähnelt also in der Konstruktion der Analogie der ersten und zweiten. Das erwähnte Rechtssprichwort "One neither adds to, nor takes away from the words of a king" ist ein Beispiel für die Grenzen des Rechtsverfahrens gegenüber der politischen Gewalt, während Rechtssprichwort "lt is hard to sue a king, as it is hard to plough the sky" die Grenzen des Rechtsprozesses gegenüber der öffentlichen Autorität darstellt. Interessant ist, dass diese Rechtssprichwörter aus einer schriftführenden Kultur sich auch mit der Frage des geschriebenen Rechtes beschäftigen; so das Rechtssprichwort "Ein Gesetz, das niedergeschrieben ist, ist wie ein Baum, der seine Wurzeln in den Grund schlägt". Hier wird die Festigkeit, aber auch die Unveränderlichkeit des geschriebenen Rechtes in den Vordergrund gestellt und wiederum durch eine Analogie mit der Natur und ihren Prozessen verdeutlicht. Interessant ist auch das Rechtssprichwort, "Dass ein einzelner Stock kein Feuer gibt, wie ein einzelner Richter nicht entscheiden kann". Die geistige Kollektivität im Rechtsfindungsprozess, das diskursive sich geistig Entzünden und Erhellen im Gespräch, wird hier wiederum in Analogie zum natürlichen Verfahren des Feuermachens gesehen, der Entzündung des natürlichen Funkens. Sprichwörter und Rechtssprichwörter sind Ausdruck von Prinzipien und nicht von Rechtsregeln. Das Rechtssprichwort als Rechtsprinzip kennt Ausnahmen vom Prinzip, die ebenfalls in Rechtsregeln ähnlichen Sprichwörtern ausgedrückt werden. Was aus diesen amharischen Rechtssprichwörtern oder anderen afrikanischen

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Heinrich Scholler

Rechtssprichwörtern gelernt werden kann, ist die Erfahrung, dass Recht und Gericht immer vergleichbar sein müssen mit der Erfahrung im Leben und in der Gesellschaft, und dass Rechtsdenken und rechtliches Argumentieren nicht so verschieden sein dürfen von natürlich-vernünftigem Denken. Ähnliche Analogiestrukturen finden sich auch in der zweiten Gruppe von Rechtssprichwörtern, so bei "Wood dried in fire (before it dries naturally) has durability, similarly information given a judge has stability", "When a judge decides, he is expected to comment; when one engages in business, he is expected to profit", "Mere wisdom does not qualify one as a judge; mere beauty does not qualify one as a bride", "A legally executed affair and a thing dried in the sun are both clean", "Just as you pay tax only in proportion to your earnings, give evidence in court only in proportion to what you have heard" oder "Criticizing a judge is like embracing a tiger". Letzteres Rechtssprichwort ist nicht gerade sehr schmeichelhaft für Rechtsfinder, wenn es die Urteilsschelte oder Gerichtskritik mit der Umarmung eines Tigers vergleicht. Schließlich werden im Rechtssprichwort "lf a judge is partial, there is always a higher judge to resort to, and if a donkey will not go straight, there is always the road" der parteiische Richter und die Möglichkeit der Berufung verglichen mit dem widerspenstigen Esel und der Möglichkeit, einen Umweg zu finden. Die Rechtssprichwörter, die durch ihre eingebaute Analogie die hermeneutische Methode, die anzuwenden ist, in sich tragen, zeigen einen doppelten Assimilationsprozess. Einmal wird von der allgemeinen Lebenserfahrung auf die Situation vor dem Gericht geschlossen und dort wieder vom Lebenssachverhaltsprozess zur Norm. Gerade das zeigt das Sprichwort "If one wishes to cross a river, one must swim; if one wants to contest a case, one must sue", wo gesagt wird, wer einen Fluss überqueren will, muss schwimmen, wer in einem Streitfall widerspricht, muss klagen. Hier wird die Situation vor dem das Land teilenden Fluss mit derjenigen des Familien- oder Dorf-teilenden verglichen. Der Landfahrer muss den Fluss mit eigener Kraft durchschwimmend überqueren, wenn er ans andere Ufer will. Ähnlich schwer wird es dem Rechtssuchenden gemacht: Er muss klagen. Hier ist die Analogie des landteilenden Flusses und des gemeinschaftsteilenden Streitfalles auf der einen Seite als Art Sachanalogie mit der funktionellen Analogie des Schwimmens und Klagens erkennbar. Dem Sprichwort liegt eine Umschreibung des faktischen Hintergrundes der Parteienmaxime zugrunde. Die Rechtsnorm, die in diesem Sprichwort angedeutet wird, wird also nur analogisch ins Spiel gebracht, namlich dass von Amts wegen der Streitfall nicht geklärt wird, sondern dass die Partei ihr Interesse, nämlich Klage vor Gericht, durchsetzen muss. Das Sprichwort "When a judge decides, he is expected to comment; when one engages in business, he is expected to profit" vergleicht den Richter bei der Urteilstindung mit dem Geschäftsmann beim Abschluss von vorteilhaften Käufen. Wie man beim Geschäftsmann annimmt, dass er Profit sucht, erwartet man vom Richter die Begrundung seiner Entscheidung. Diese Erwartung mag eine rechtsprichwörtliche, eine sozialadäquate Erwartung sein, sie kann sich aber bereits zur gewohnheitsrechtliehen und richterrechtlichen verfestigt haben. Ihre formale Seite der Legitimation zum

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Richter wird im Sprichwort ("Mere wisdom does not qualify one as a judge; mere beauty does not qualify one as a bride") ausgedrückt, wo gesagt wird, dass Weisheit jemand noch nicht zum Richter macht, genau so wie Schönheit kein Mädchen von sich aus zur Braut bestellt. Auch hier werden Richter und Braut, Weisheit und Schönheit, gegenübergestellt und es wird ausgesprochen die Richterwahl und die Brautnahme als funktionale Handlungen in der Gesellschaft miteinander verglichen. Diese doppelte Analogizität, nämlich auf der gesellschaftlichen Ebene mit der Rechtswelt vor Gericht auf der einen Seite, und der Funktionalen, die nur angedeutet wird, Brautwahl und Richterernennung oder Richterwahl, durchzieht all diese Sprichwörter. Das Wesen der Rechtskrjlft wird im Sprichwort "A legally executed affair and a thing dried in the sun are both clean" angesprochen, wo dort von einem Prozess gesagt wird, dass er genau so "sauber ist wie Holz, das im Sommer trocknete". Das Läuterungsfeuer des Prozesses wird mit dem Dörren des Holzes in der Sonne verglichen. Das Ergebnis beider Prozesse wird als Säuberung oder Reinigung verstanden.

VII. Schlussbemerkungen Vor einem Mißverständnis soll hier gewarnt werden. Rechtssprichwörter sind wie übrigens auch die Sprichwörter selbst - Ausdruck nicht von Rechtsregeln, sondern Prinzipien oder Rechtsgrundsätzen. Das Rechtssprichwort kennt als (Rechts-) Prinzip oder (Rechts-)Grundsatz selbstverständlich Ausnahmen von seinem Prinzip, die ebenfalls wieder in Sprichwörtern oder Rechtssprichwörtern ausgedrückt werden. Hinzu kommt der argumentative Charakter nicht nur von Analogieerzählungen, sondern gerade von Rechtssprichw