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German Pages 253 Year 1984
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung
Band 57
Rechtssoziologie für Juristen Eine Aufsatzsammlung Von
Ernst E. Hirsch
Duncker & Humblot · Berlin
ERNST E. HIRSCH
Rechtssoziologie für Juristen
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung HerausgegebeD VOD Em.t E. Hirsch UDd MaDfred RebhiDder
Band 57
Rechtssoziologie für Juristen Eine Aufsatzsammlung
von
em. o. Prof. Dr. iur. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch
DUNCKER
&
HUMBLOT I BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Hirsch, Ernst E.: Rechtssoziologie für Juristen: e. Aufsatzsammlung I von Ernst E. Hirsch. - Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Bd. 57) ISBN 3-428-05672-8 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany
© 1984 Duncker
ISBN 8-,428-05672-8
Motto: Es ist uns aufgetragen, am Werk zu arbeiten, aber es ist uns nicht gegeben, es zu vollenden.
Talmud
Vorwort Im Jahre 1966 erschien als erster Band dieser Schriftenreihe unter dem Titel "Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge" eine Sammlung von Beiträgen zur Rechtssoziologie, die aus verschiedenen Anlässen verfaßt und an verstreuten, für viele Juristen fast unzugänglichen Stellen veröffentlicht worden waren. Trotz meiner Emeritierung am 1. 4. 1967 habe ich meine wissenschaftlichen Bemühungen auf diesem Gebiet fortgesetzt. 1968/69 erschien eine kurze zusammenfassende Darstellung unter dem Schlagwort "Rechtssoziologie" in dem von Wilhelm Bernsdor/ herausgegebenen "Wörterbuch der Soziologie", 1969 ein Beitrag mit einer ausführlichen Bibliographie zu dem von Gott/ried Eisermann unter dem Titel "Die Lehre von der Gesellschaft" herausgegebenen Lehrbuch der Soziologie. Abgesehen von diesen Zusammenfassungen konnte ich in dieser Reihe zwei einschlägige Monographien veröffentlichen, und zwar: "Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters" (Berlin 1979) und "Rezeption als sozialer Prozeß. Erläutert am Beispiel der Türkei" (Berlin 1981). Daneben sind in den abgelaufenen zwei Jahrzehnten einige Vorträge und Abhandlungen in Zeitschriften und Festgaben erschienen, von denen ich eine Anzahl im vorliegenden Buch als Fortsetzung der oben erwähnten Sammlung meiner Beiträge zur Rechtssoziologie zusammenfasse. Jeder dieser Beiträge bildet ein in sich geschlossenes selbständiges Ganzes, das aufs engste mit meinen allgemeinen Gedanken zur Rechtssoziologie zusammenhängt, worauf ich in den Fußnoten hingewiesen habe. Damit hängt es auch zusammen, daß die Beiträge die verschiedensten Rechtsgebiete berühren, vom Verfassungsrecht Finnlands bis zum internationalen Urheberrecht, wobei die wiederholten Hinweise auf die Verhältnisse in der Türkei, in der ich zwei Jahrzehnte als Jurist gewirkt habe, und die Vergleichung mit den Regelungen in der DDR deutlich machen sollen, wie stark das Sozialleben und die jeweilige Rechtsordnung wechselseitig voneinander abhängen.
Vorwort
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Das einschlägige Schrifttum der letzten Jahre habe ich, soweit ich dazu in meinem abgelegenen Altersrefugium in der Lage war, in den Fußnoten nachgetragen, am Text der einzelnen Beiträge außer einigen Streichungen nur gelegentliche Änderungen angebracht. Der Titel des Buches soll deutlich machen, daß die Rechtssoziologie für einen Juristen ein unentbehrliches Teilgebiet der Rechtswissenschaft bildet, eine Betrachtungsweise, die ich in vier Jahrzehnten durchgehalten habe und zu der ich auch heute noch stehe. Daß Vertreter der Sozialwissenschaften sowie die von diesen als "aufgeschlossen" und "progressiv" gekennzeichneten oder sich selbst so einschätzenden Juristen andere Vorstellungen und Ziele haben, liegt in der Natur der Sache. Ebensowenig, wie es eine Rechtsphilosophie gibt, kann es eine Rechtssoziologie geben. Für die Erlaubnis zum Abdruck habe ich den Verlagen Duncker & Humblot, Berlin, J. C. B. Mohr, Tübingen, und Verlag Vereinigte Druckereien Chmielorz & A. H. Hayn's Erben GmbH, Berlin, zu danken. Zum Schluß ist es mir ein echtes Bedürfnis, Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Johannes Broermann, der vor zwei Jahrzehnten die Reihe in seinen Verlag genommen, die bisher erschienenen Bände betreut und auch dieses Buch in der Reihe willkommen geheißen hat, für diesen Beweis uberrimae fidei herzlichst zu danken. 7744 Königsfeld im Schwarzwald, 1. September 1984
Ernst E. Hirsch
Inhalt Erster Teil Aufgaben der Rechtssoziologie 1. Rechtssoziologie für Juristen ......................................
9
2. Rechtssoziologie im Rechtsunterricht ..............................
39
3. Jhering als Reformator des Rechtsunterrichts (Die Jurisprudenz des täglichen Lebens) .................................................
54
Zweiter Teil Das Recht als Regulator des Soziallebens
4. Die Steuerung des menschlichen Verhaltens .......................
69
5. Die Interdependenz von Gesetzgebung, Rechtslehre und Rechtsprechung ........................................................
86
6. Zum sogenannten Rechtsgehorsam ................................
95
7. Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums in juristischer und soziologischer Sicht ...................................................... 110
Dritter Teil Das Recht als Funktion des Soziallebens
8. Sozialer Sachverhalt und rechtliche Regulierung als Interdependenzproblem .......................................................... 127 9. Krise des internationalen Urheberrechts? ......................... 143 10. Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze ........................ 159
8
Inhalt
11. Die Bindung des Rechtsstabs an das Gesetz als Garantie des Rechtsstaats 200 12. Interessen und Gegeninteressen im Urheberrecht .................. 218
Personenregister
245
Sachregister
248
ERSTER TEIL
Aufgaben der Rechtssoziologie 1. Rechtssoziologie für Juristen * I. Im politisch geteilten Berlin sieht sich ein Jurist in seiner täglichen Arbeit zwei Rechtsordnungen gegenübergestellt, deren eine diesseits, deren andere jenseits des Brandenburger Tores in Geltung stehen. Er wird dauernd an das bekannte Wort Pascals erinnert: "Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluß begrenzt. Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum." Und dies um so eindringlicher in den Bereichen, in denen diesseits und jenseits der Mauer dieselben juristischen Fachausdrücke in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung verwandt werden, aber Bedeutung, Sinn und Tragweite des wörtlich Identischen sachlich auseinanderfallen. Die sprachliche Hülle ist ein und dieselbe, was sie birgt, miteinander unvereinbar. Für den Rechtsdogmatiker, auch wenn er dem Gesetzespositivismus abgeschworen hat, mag dieser Umstand nicht aufregender sein als die Feststellung, daß schweizerische und österreichische Gesetze schließlich ebenfalls in deutscher Sprache abgefaßt sind und zum Teil die nämlichen Fachausdrücke verwenden, auch wenn deren Bedeutung, Inhalt und Tragweite manchmal verschieden sind, ein Umstand, den jeder Rechtsvergleicher in Rechnung stellt. Dies mag dazu beigetragen haben, daß in unseren gängigen, allein auf die Dogmatik des bei uns geltenden Rechts ausgerichteten Lehrbüchern und Grundrissen sowie im übrigen juristischen Schrifttum vom Recht jenseits der Mauer ebenso viel - offen und ehrlich gesagt: ebenso wenig - die Rede ist wie zum Beispiel vom Recht der Schweiz, Österreichs, Frankreichs oder eines anderen für uns nicht unwichtigen Landes. Vom bundesdeutschen Standpunkt aus gesehen läge es nahe, die Rechtsentwicklung in Mitteldeutschland ähnlich wie das nationalsozia-
* Wesentlich veränderte und erweiterte Fassung einer am 3. 7. 1967 vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. gehaltenen Gastvorlesung.
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I. Aufgaben der Rechtssoziologie
listische Recht als eine "Perversion von Rechtsordnungen"1 zu qualifizieren, das heißt als eine widernatürliche, bewußt herbeigeführte Abweichung vom Normalen. In Wahrheit aber haben wir es - ähnlich wie bei der Rezeption fremder Rechtsnormen in den Entwicklungsländern2 - mit einem sogenannten Wandel des Rechts, d. h. einem sozialen Prozeß zu tun, dessen Faktoren und Wirkungen empirischen Forschungen zugänglich sind und Gesetzmäßigkeiten enthüllen und bestätigen, die anderenorts durch entsprechende Vorgänge und soziologische Untersuchungen gewonnen worden sind. Triebfeder des sozialen und damit auch des rechtlichen Wandels, der sich vor unseren - meist allerdings blinden - Augen in Mitteldeutschland vollzieht, ist der Versuch, politische Doktrinen, die in einer bestimmten Ideologie wurzeln, in die Wirklichkeit umzusetzen. Zu diesem Zweck bemühen sich die Inhaber der politischen Macht, fremdes, d.h. in concreto aus der UdSSR importiertes "rechtliches Gedankengut" der Bevölkerung Mitteldeutschlands aufzupfropfen und einzupflanzen3 • Diese seit vier Jahrzehnten mit dem Einsatz aller das Denken und Handeln der Menschen beeinflussenden Mittel geführte Kampagne schafft sogenannte Anpassungsprozesse, die ihrerseits Spannungszustände hervorrufen. Intensität und Ergebnisse dieser Anpassungsprozesse sind ihrerseits sowohl von der Stärke der den Wandel verursachenden Faktoren als auch von dem Grade des Widerstandes oder der Bereitschaft der betreffenden Bevölkerung abhängig, sich gegen den Wandel zu sperren oder sich für ihn einzusetzen. Der Anpassungsprozeß führt bald zu einem Nachhinken der Rechtsnormen gegenüber der sozialen Wirklichkeit, bald zum Nachhinken dieser gegenüber jener. Derartige soziale Prozesse wie die Rezeption fremder politischer Systeme und fremden rechtlichen Gedankenguts führen je nach der Stärke dieser sogenannten Akkulturation, wie man in der Fachsprache diesen Kulturwandel nennt, zur Integration, d. h. zur Einfügung fremder Elemente in die eigene Kultur oder zur Assimilation derart, daß die ursprünglich fremden Elemente gar nicht mehr als fremd empfunden werden. Was seit vier Jahrzehnten in Mitteldeutschland vor sich geht, sind keine Experimente eines wildgewordenen Diktators oder einer experimentierfreudigen Funktionärsschicht. Es handelt sich vielmehr um einen auf der Erkenntnis sozialer Gesetzmäßigkeiten beruhenden und 1 Fritz von Hippel, Perversion von Rechtsordnungen, Tübingen 1955. Dies Buch ist auf den Nationalsozialismus gemünzt. 2 Vgl. Ernst E. Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß erläutert am Beispiel der Türkei, Berlin 1981 und das dort zitierte einschlägige Schrifttum. Ferner Manfred Rehbinder, Die Rezeption fremden Rechts in soziologischer Sicht, in: Rechtstheorie 14 (1983) 305-315. 3 Vgl. insbesondere Peter Christian Ludz (Hrsg.), Soziologie der DDR, Sonderheft 8 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (1964).
1. Rechtssoziologie für Juristen
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danach klar gesteuerten Wandlungsprozeß, an dessen Planung und Durchführung gerade die Soziologen entscheidenden Anteil haben4 • Daß neben politischen Kräften aller Art auch religiöse Dogmen und weltanschauliche Prinzipien für den Wandel oder die Erstarrung der Rechtsentwicklung ebenso ursächlich sind wie wissenschaftliche Erkenntnisse und Lehrmeinungen, braucht als soziologischer Lehrsatz wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden. Immerhin scheint es mir nicht unangebracht, die auf der Beobachtung der Rechtswirklichkeit beruhenden kriminologischen Ansichten hervorzuheben, auf die gestützt Hans Schultz5 der hergebrachten Rechtfertigung der Strafe durch die Strafrechtstheorie eine, wie er selber es ausdrückt, deutliche Absage erteilt: "Das Srafrecht läßt sich nicht verstehen als ein Einzelgänger unter der Vielzahl von Rechtsdisziplinen, sondern als ein systematisch in das Gesamte der Rechtsordnung eingefügter Teil mit einer durch diese Stellung bestimmten Aufgabe: die Sicherung der Rechtsordnung. Dazu soll das Strafrecht dienen, und nur insoweit Strafe zur Bewährung der Rechtsordnung notwendig ist, ist sie gerechtfertigt. Strafen ist kein metaphysisches Geschehen, noch eine Verwirklichung der Sittlichkeit, sondern eine bittere Notwendigkeit in einer Gemeinschaft unvollkommener Wesen, wie sie die Menschen nun einmal sind. Die Begründung der Notwendigkeit und die Rechtfertigung der Strafe fällt zusammen mit der Begründung der Notwendigkeit und der Rechtfertigung des Rechts als eine mit Zwang verbundene Friedensordnung und damit als ein Ordnungsgefüge, welches zu seiner Bewährung auf die Strafe angewiesen ist."
ß. Gehen wir in diesem Zusammenhang einen Schritt weiter. Im Jahre 1962 veröffentlichte ich im Juristen-Jahrbuchs einen Aufsatz mit dem ironisch-aggressiven Titel: "Was kümmert uns die Rechtssoziologie?". Unter anderem wies ich darauf hin, daß die rechtliche Regelung eines jeden sozialen Sachverhaltes Ausdruck der Lebensbedingungen einer bestimmten Gesellschaft ist, d. h. der zu einem bestimmten Zeitpunkt 4 Vgl. hierzu einerseits Lothar Schultz, Der Einfluß der marxistischen Soziologie auf das die Rechtsumwandlung widerspiegelnde Straf- und Familienrechtsschrifttum im Ostblock, in: Recht in Ost und West 1967, S. 59-68, andererseits den Beitrag von Grandtke. Kuhrig und Weise im Sammelband Rechtssoziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 11, 1967, S. 310 ff. S Hans Schultz, Kriminalpolitische Bemerkungen zum Entwurf eines Strafgesetzbuches, in: Juristenzeitung 1966, S. 113-123. 8 Ernst E. Hirsch, Was kümmert uns die Rechtssoziologie?, in: JuristenJahrbuch 3 (1962/63), Seite 131-148; ders., in: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, 1966, Seite 3B-54.
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1. Aufgaben der Rechtssoziologie
für sie maßgebenden religiösen, sittlichen und geistigen Strömungen, der politischen Herrschaftsverhältnisse und der materiellen Lebensbedingungen. Alle diese einen konkreten Rechtszustand determinierenden sozialen Faktoren sind, so schrieb ich, seit langem Gegenstand empirischer Forschungen und theoretischer Analysen seitens der Soziologen; eine Verwaltungsverfügung erlassen, ein Urteil in einer Rechtssache sprechen bedeutet nicht bloß, so behauptete ich, Anwendung einer durch normatives Denken geschulten Technik, sondern Lösung eines sozialen Problems unter Berücksichtigung aller dabei in Betracht kommenden Faktor,en. Ich zitierte wörtlich den Satz des damals noch lebenden großen französischen Soziologen Georges Gurvitch: "Der Jurist kann keinen einzigen Schritt mehr tun, ohne zugleich die Arbeit des Soziologen zu machen, ohne die Rechtssoziologie zu Hilfe zu rufen." Schließlich wandte ich mich an die Adresse der deutschen Juristen mit der Aufforderung, die Rechtssoziologie nicht den Soziologen allein zu überlassen mit der Begründung, daß dergleichen Dinge nicht zur Rechtswissenschaft gehörten. Während mein Aufsatz diesseits der Mauer kaum einen Widerhall fand, wurde ein Jahr später - gewiß post hoc, nicht propter hoc - das eben zitierte Wort Gurvitchs jenseits der Mauer zur rechtlichen Wirklichkeit: Dort wurde unter dem 4. April 1963 ein Erlaß des Staatsrats "über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege" veröffentlicht, der im Gerichtsverfassungsgesetz vom 17. April 1963 in rechtlich bindender Weise konkretisiert wurde. Nach § 2 dieses Gesetzes haben die Organe der Rechtspflege nicht nur konkrete Rechtsstreitigkeiten entsprechend den Besonderheiten eines jeden einzelnen Falles rechtlich zu entscheiden, sondern darüber hinaus die Aufgabe, "die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Umstände von Rechtsverletzungen allseitig und gTÜndlich zu erforschen". Um mit Gurvitch zu reden: Der Richter kann keinen einzigen Schritt mehr tun, ohne zugleich die Arbeit des Soziologen zu machen. Berücksichtigt man die amtlichen und privaten Darstellungen und Erläuterungen7 , welche den Zweck und die Durchführungsweise dieser 7 Vgl. den Bericht von Walther Rosenthal, Der "Erlaß" des Staatsrates über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege, in: Recht in Ost und West 1963, S. 112-118; ferner: Heinz Püschel, Grundzüge der Thesen zum künftigen erstinstanzlichen Zivilverfahren vor den Kreisgerichten, in: Neue Justiz 1962, S. 144-152; ders., Die Erziehungs aufgaben im Zivilprozeß und die Rolle der gerichtlichen Entscheidungen, in: Neue Justiz 1962, S. 301-306; ders., Zur Durchsetzung des Staatsratsbeschlusses über die Rechtspflege, ebd., S. 489-491; Hans Neumann, Erfahrungen aus der Durchsetzung der Rechtspflegebeschlüsse des Staatsrates in der Rechtsprechung, ebd., S. 653-654; Satzung des Staatsrates der DDR über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege, ebd., S. 753-758; ferner vor allem Hans-Heinrich Jescheck,
1. Rechtssoziologie für Juristen
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für den "westlichen" Juristen höchst eigenartigen Funktion der Rechtspflegeinstanz zu verdeutlichen suchen, so trifft man auf folgenden Gedankengang: Die bloße Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens bis zum Urteil entscheidet sowohl im Straf- als auch im Zivilprozeß nur den jeweils zur Verhandlung stehenden einzelnen konkreten Fall. Ebensowenig wie Straftaten bloß als "individueller Sündenfall"8 betrachtet werden dürfen, sondern eine gesellschaftliche Erscheinung bilden, geht es bei Zivilprozessen nicht lediglich um Mein und Dein, um Nichterfüllung oder Schlechterfüllung eines konkreten Vertrages, um Scheidung einer Ehe oder dgl., sondern zugleich auch ganz allgemein um rechtserhebliche Konfliktsituationen und Rechtsverletzungen schlechthin, deren Ursachen (jedenfalls z. T.) außerhalb der Individualsphären der am Prozeß beteiligten konkreten Parteien liegen und im Leben der Gesellschaft zu suchen sind. Begnügt sich das Rechtspflegeorgan nur mit der Entscheidung des einzelnen konkreten Falles, so ist den im Streit befindlichen Interessen und den am Streit beteiligten Individuen vielleicht Genüge getan. Das Verbrechen als Einzelakt erscheint durch die ausgesprochene Strafe und deren Vollzug als gesühnt, der Kläger durch ein obsiegendes Urteil und dessen Vollstreckung befriedigt. Diese auf den Einzelfall abstellende, rein individualistische Betrachtungsweise übersieht aber, daß das Recht als eine Friedensordnung tür alle diese Funktion nur dann voll erfüllen kann, wenn es nicht bloß auf geschehene Rechtsverletzungen im Einzelfall reagiert, sondern nach Möglichkeit Rechtsbrüche überhaupt verhindert oder ihnen jedenfalls im größtmöglichen Umfange vorbeugt. Dies aber ist, wie eine vieltausendjährige Erfahrung zeigt, mit der Aufstellung und zwangsweisen Durchsetzung von rechtlichen Geboten und Verboten nicht zu erreichen. Es ist vielmehr, wie es der Präsident des Obersten Gerichts in OstBerlin, Heinrj-ch Toeplitz, ausdrückt, "notwendig, die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Umstände der Rechtsverletzungen zu erforschen. Diese Aufgabe dient dem Ziel, die Ursachen und begünstigenden Bedingungen der Rechtsverletzungen zu beseitigen und damit zukünftigen Verletzungen der Gesetze vorzubeugen"'. "Ob es sich um die gerichtliche Beurteilung einer Straftat handelt, ob das Gericht im Zusammenhang mit einer beliebigen Leistungsklage tätig wird oder eine Konfliktkommission rechtliche Streitigkeiten oder Die neuere Entwicklung des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts in der SBZ, in: Die Lage des Rechts in Mitteldeutschland, Bd. 23 der Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Abhandlungen, Karlsruhe 1965, S. 79100.
S So Hans-Joachim Semler und Herbert Kern (Hrsg.), Rechtspflege Sache des ganzen Volkes, Berlin (Ost) 1963, S. XII. 9 Heinrich Toeplitz, Zur Leitung der Rechtsprechung durch die oberen Gerichte, in: Neue Justiz 1963, S. 32 und in: Neue Justiz 1967, S. 692-697.
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1. Aufgaben der Rechtssoziologie
geringfügige Verletzungen von Strafgesetzen zu klären hat, ob die Organe der Volkspolizei über eine Übertretung befinden oder ob durch die zuständigen örtlichen Organe über den Widerruf einer Gewerbeerlaubnis entschieden werden soll - überall muß der zu beurteilende Lebensvorgang allseitig erforscht werden, und es darf keine von gesellschaftlichen Zusammenhängen isolierte, auf abstrakt-juristische Momente reduzierte "Fallbehandlung Platz greifen"!o. Gewiß muß nach wie vor jeder Rechtsstreit unter der Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalles vom Richter entschieden werden, jedoch ist das Gericht darüber hinaus gleichzeitig verpflichtet, "alle die Gesetzesverletzungen begünstigenden Bedingungen und Ursachen aufzudecken, die zu der Straftat und zu anderen Gesetzesverletzungen führten oder die die Möglichkeit neuer Kriminalität bzw. Gesetzesverletzungen eröffnen" 11. Werden im Prozeß die Ursachen des Rechtsstreites über den konkreten Einzelfall hinaus aufgedeckt, so wird damit auch die Voraussetzung zu einer Einrichtung geschaffen, die man jenseits der Mauer als "Gerichtskritik" bezeichnet. Nach dem Staatsratserlaß dient die Gerichtskritik dazu, "die in Gerichtsverfahren gewonnenen Erkenntnisse besser für die Mobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte im Kampf gegen Gesetzesverletzung und zur Beseitigung von Mängeln, insbesondere in der Leitung der Volkswirtschaft und in der Arbeit staatlicher Organe zu nutzen". Das bereits erwähnte GVG vom Jahre 1963 und ein gleichzeitig erlassenes Gesetz zur Änderung und Ergänzung strafrechtlicher und verfahrensrechtlicher Bestimmungen enthalten die entsprechenden Vorschriften über die Einrichtung der Gerichtskritik in Zivil- und Familienverfahren und im Verfahren in Arbeitsrechtssachen; über die Erstreckung der Gerichtskritik auch auf sozialistische Betriebe und Einrichtungen und sozialistische Genossenschaften; über die Verpflichtung der kritisierten Stellen zu einer Stellungnahme binnen zwei Wochen und schließlich über die Information des übergeordneten Organs und der Staatsanwaltschaft, die bei Nichtberücksichtigung der Gerichtskritik mit dem Mittel des Protestes gegen die Gesetzesverletzung vorgehen kann. Selbst wenn man sich vergegenwärtigt, daß sich die soeben skizzierten Vorschriften und Maßnahmen auf eine von der unsrigen prinzipiell völlig verschiedene Gesellschaftsordnung beziehen und dem Versuch 10 Vgl. Rudolf Herrmann, Rolf Schüsseler und Friedrich-Karl Winkler, Zu einigen theoretischen Grundfragen der sozialistischen Rechtspflege und ihre Entwicklung unter den Bedingungen des umfassenden Aufbaus des Sozialismus, in: Staat und Recht 1964, S. 1044-1067, 1056. 11 So Charlotte Wesner und Karl Richter, Die Gerichtskritik in: Richard Schindler (Hrsg.), Grundfragen der Durchführung des Rechtspflegeerlasses, Berlin (Ost) 1964, S. 194.
1. Rechtssoziologie für Juristen
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dienen, den Gesamtprozeß der RechtsverwirkZichung staatlich und gesellschaftlich totalitär zu leiten, so sollte doch nicht übersehen werden, was in unserem Zusammenhang allein interessiert: daß der Rechtspflege und ihren Organen Aufgaben übertragen und zugemutet werden, die nach unserer Auffassung und Terminologie schlechthin als "wissenschaftliche" gelten und obendrein nicht zum Fachbereich der Jurisprudenz, sondern zur Soziologie, insbesondere zur Rechts- und Kriminalsoziologie, gerechnet werden. Im sogenannten Ostblock ist der Schritt von der politischen Doktrin einer "Sozialistischen Gesetzlichkeit"12 zur wissenschaftlich anerkannten und von der politischen Führung als praktisch verwertbar gehaltenen sozialen Gesetzmäßigkeit getan worden. Die Verankerung des Rechts im Bereich des Sozialen, d. h. die Interdependenz von Rechts- und Sozialleben, bildet den Ausgangspunkt einer Ursachenforschung von Rechtsstreitigkeiten und führt zu einer empirischen Untersuchung derjenigen Faktoren und Elemente im Sozialleben, welche - abgesehen von den individualisierenden Besonderheiten des jeweiligen konkreten Falles - die rechtlich erhebliche Konfliktsituation als Wirkung bestimmter im Sozialleben allgemein oder jedenfalls typisch anzutreffender Ursachen erscheinen läßt. Auch wenn die Gelehrten im Ostblock noch darüber streiten, ob die Soziologie - insbesondere die Rechtssoziologie - nur ein Ableger des historischen Materialismus oder ein bereits selbständig gewordener Wissenschaftszweig ist 13 , so sind ihre wissenschaftlichen Funktionen für die Erkenntnis des Rechts und ihre praktische Bedeutsamkeit für den Aufbau, die Einhaltung und Sicherung einer Rechtsordnung als einer für alle verbindlichen Friedensordnung heutzutage allgemein anerkannt. Es ist demgemäß nur folgerichtig, wenn in allen amtlichen und privaten Äußerungen zu der "Ursachenerforschung" als einer gerichtlichen Aufgabe von allen Angehörigen der Rechtspflege gefordert wird, ihr Allgemeinwissen zu vervollkommnen, ihre kulturelle Bildung zu erhöhen, sich die Grundsätze der Pädagogik und Psychologie anzueignen und nicht nur über juristische, sondern auch über ökonomische Kenntnisse zu verfügen, weil es keine juristischen Probleme "an sich" gibt, keine Rechtsfrage, die isoliert von der gesellschaftlichen Entwicklung und ihren Gesetzmäßigkeiten behandelt werden könnte 14 . I! Vgl. hierzu Ernst E. Hirsch, Was bedeutet "sozialistische Gesetzlichkeit"? in: ders., Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, S. 275-291. 13 Die entsprechenden Hinweise von Lothar Schultz (Anm. 4) werden bestätigt durch die Aufsätze von Oleg MandiC, Jan Szczepanski und Iwan Rankoff in dem von Gottfried Eisermann herausgegebenen Sammelwerk: Die gegenwärtige Situation der Soziologie, Stuttgart 1967, S. 193 f.; 209 f. und
221; 233 ff. 14
Semler-Kern, FN 8, S. 189-196.
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1. Aufgaben der Rechtssoziologie
Diese Feststellungen zeigen, daß angewandte Rechtssoziologie nicht praktiziert werden kann, solange es an ausreichenden Forschungsergebnissen der sogenannten "reinen" oder theoretischen Rechtssoziologie fehlt. Einzelbeobachtungen - mögen sie noch so interessant und richtig sein - sind der Verallgemeinerung zu einem Lehrsatz nur dann fähig, wenn sie durch kombinierende Betrachtung zahlreicher empirischer Forschungsergebnisse zu einem in sich geschlossenen System der Rechtssoziologie zusammengefaßt werden können, einem System, das seinerseits zu den theoretischen Grundhypothesen der allgemeinen Soziologie nicht in Widerspruch steht 15 • Dies zeigt sich, wenn man sich mit den zeitgenössischen Bemühungen der französischen und amerikanischen Rechtssoziologie beschäftigt.
III. Der Inhaber des Lehrstuhls für Rechtssoziologie an der Rechtsfakultät Paris, J ean Carbonnier, zeigt in seiner Abhandlung über "Die großen Hypothesen der theoretischen Rechtsoziologie" 16, wie grundlegend gerade die Entwicklungshypothese als umfassender Forschungsrahmen für die Rechtssoziologie ist. Die Evolutionstheorie ist nicht nur in der allgemeinen Soziologie, sondern in zahlreichen anderen Fachwissenschaften seit den Tagen Herders, auf den Carbonnier ausdrücklich hinweist, insbesondere im 19. und in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts mannigfache Irrwege gegangen, belastet mit zahlreichen philosophischen und politischen Postulaten und Ideologien. Für die Rechtssoziologie genügt die - jedenfalls insoweit - allgemein gebilligte und von mir oben an dem Beispiel Mitteldeutschlands illustrierte Hypothese vom Wandel des Rechts in Raum und Zeit, unbelastet von metaphysisch verankerten Naturrechtsgedanken oder politischen Wunschvorstellungen des "Fortschritts", des "Rückschritts" oder der "zyklischen Bewegungen". Mit dieser durch den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse determinierten Hypothese vom Wandel und von der Veränderlichkeit des Rechts ist nur klargestellt, daß das Recht kein unveränderliches "Sein", sondern ein unaufhörliches "Werden" bedeutet 17 • Diese Erkenntnis stellt an die Rechtsdogmatik die Forderung, die Rechts15 Wie stark die Nichtbeachtung dieser wissenschaftlichen Selbstverständlichkeit als schwerer Mangel der zeitgenössischen Soziologie in allen Ländern - unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Entwicklung und ihrem konkreten Herrschaftssystem - empfunden wird, erhellt aus allen Beiträgen zu dem in Anm. 13 genannten Sammelwerk. 1e Vgl. die übersetzung dieser Abhandlung in dem in FN 4 zitierten Sonderheft 11, S. 135 ff. l? So auch ganz allgemein Gottfried Eisermann und Sabine S. Acquaviva, Die gegenwärtige Situation der italienischen Soziologie, in: G. Eisermann (FN 13), hier S. 89.
1. Rechtssoziologie für Juristen
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begriffe nicht statisch, sondern funktional zu definieren, vom Seinsdenken also den Schritt zum funktionalen Denken zu tun und gleichsam in einem ständig bewußten Bewegungszustand die lex continui auf die normative Problematik anzuwenden, wie es C. A. Emge in seinem Beitrag über "Die Bedeutung der rechtssoziologischen Sachverhalte für die Rechtsdogmatik" näher ausführt1 8 • Hiermit allein ist es aber nicht getan. Es bedarf außer der Genesishypothese auch einer Strukturhypothese, um rechtssoziologisch eine sichere Grundlage für die Feststellung zu gewinnen, worauf der jederzeit und überall feststellbare sogenannte Rechts-Pluralismus zurückzuführen ist. Hierzu stellt Carbonnier zwei Lehrsätze auf, die einander zu widersprechen scheinen und die doch in ihrer Nüchternheit unbestreitbar sind. Einmal entspricht die in der Dogmatik übliche Rechtsquellenlehre nicht der Wirklichkeit des Rechts. Das Recht ist weit umfassender als die formellen Rechtsquellen; denn das Recht geht überall über den Begriff der Rechtsregel und erst recht über dasjenige hinaus, was die Rechtsprechung uns an rechtlich relevanten Vorgängen zu bieten hat. Die Tätigkeit der Gerichte beschäftigt sich, wie Carbonnier sagt, mit "pathologischen" Dingen, die nur einen ganz geringen Bruchteil der normal ablaufenden rechtlichen Beziehungen und Verhältnisse ausmachen. Aus dem Umstand, daß die stets latente Möglichkeit eines gerichtlichen Prozesses mit dem Begriff des Rechts verbunden wird, folgt keineswegs, daß die Realität des Rechts sich allein in den Rechtsstreitigkeiten manifestiert. Zum anderen ist das Recht viel enger als die Gesamtheit der zwischenmenschlichen Beziehungen. Einen sogenannten Pan-Jurismus, der das gesamte gesellschaftliche Leben rechtlich erfassen will, stellt Carbonnier die "heilsame Hypothese" des "non-droit" des "Nicht-Rechts" oder sachlich genauer der "Nichtbeachtung des Rechts" entgegen, ein Theorem, mit dem sich schon Julius Kraft unter der Bezeichnung "Soziale Rechtsrealität" beschäftigt hat lD • Gemeint ist folgendes jederzeit und überall feststellbares Phänomen: Es gibt eine sehr große Anzahl kollektiver und individueller Verhältnisse und Beziehungen, welche zwar entweder rechtlich normiert sind oder rechtlicher Regelung, sei es durch einen "Gesetzgeber", sei es durch die unmittelbar Beteiligten, zugänglich wären, de facto aber im Sozialleben ihre Wirksamkeit durch Negieren des Rechts oder durch Ausschlagen gerade einer rechtlichen Regelung zugunsten einer nichtrechtlichen (metajuristischen) entfalten. Es handelt sich nicht allein um die Fallgruppen, die in einem konkreten 18 18
Vgl. das in FN 4 zitierte Sonderheft 11, S. 182 f.
Julius Kraft, Art. Rechtssoziologie, in Alfred Vierkandt (Hrsg.), Hand-
wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, Neudruck Stuttgart 1959, S. 466 ff., hier S. 468 ff. unter 11. 1. 2 Hlrsdi
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1. Aufgaben der Rechtssoziologie
Gesellschaftsintegrat eo ipso anderen sozialen Ordnungen, z. B. der Religion, Moral, Sitte oder Konvention zugeordnet sind 20 ; auch nicht in erster Linie um Vorgänge und Handlungen, die man unter die Begriffe des "Illegalen" oder des "Illegitimen" subsumieren kann. Vielmehr ist an die zahlreichen kollektiven oder individuellen Verhältnisse und Beziehungen zu denken, die zwar in einer rechtlich regulierten Sphäre gelegen sind, aber vom Recht deshalb nicht "tangiert" werden, weil die Mittel und Wege des Rechts in praxi versagen. Wieviele Rechtssätze stehen von Anfang an auf dem Papier, wieviele werden im Laufe der Zeit zu toten Buchstaben! Wie groß ist die Anzahl gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Situationen und Verhaltensweisen, welche rein faktisch bestehen und als verbindlich geachtet werden, obwohl sie keine rechtliche Sanktionierungsform haben, ja sozusagen praeter legern sich abspielen, z. B. Trennung ohne Ehescheidung, freie Verbindung ohne Eheschließung, Gentleman's Agreement, Gewährung von Asyl, Unterlassung von Vollstreckungshandlungen zu gewissen Zeiten u. a. m. Die Ursachen dieses Phänomens der "Nichtbeachtung des Rechts" aufzudecken, bedeutet den Funktionszusammenhang erkennen, der zwischen dem Gegenstand, dem Ziel und dem Mittel jeder rechtlichen Regelung einer sozialen Beziehung, einer sozialen Situation, eines sozialen Verhältnisses oder sozial erheblichen Verhaltens sachnotwendig (man ist versucht zu sagen: naturnotwendig) besteht und deshalb der wissenschaftlichen Untersuchung bedarf.
IV. Ob und gegebenenfalls wieweit derartige Untersuchungen praktisch durchführbar sind und wissenschaftlich haltbare Ergebnisse liefern können und sollen, ist vor allem in der amerikanischen Soziologie stark umstri tten. Folgt man den Ausführungen Werner Starks über die "Gegenwärtige Situation der amerikanischen Soziologie"21 so sind "die Hoffnungen, die man auf ihn (sc. Talcott Parsons) setzen konnte, weitgehend enttäuscht worden", und zwar die Hoffnungen auf eine "fruchtbare Verbindung von Theorie und Empirie". Zwar wird die theoretische Ausgestaltung von Parsons akzeptiert, insbesondere sein Begriff der "Internalisierung" oder Verinnerlichung der Normen22 . Jedoch soll ein Schema der Orien20 Vgl. den Beitrag von Rene König, Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in dem in FN 4 zitierten Sonderheft 11, S. 36 ff. 21 Werner Stark, Die gegenwärtige Situation der amerikanischen Soziologie, in: Gott/ried Eisermann, (Hrsg.), FN 13, S. 1-36; siehe auch H. Hartmann, Hrsg., Moderne amerikanische Soziologie. Neue Beiträge zur soziologischen Theorie, Stuttgart 1967.
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tierungsalternativen ("pattern variables") weit davon entfernt sein, den "naiven Empirismus überwunden und den theoretisch fundierten Empirismus an seine Stelle gesetzt zu haben". Das genannte Schema sei blutlos, viel zu weit von der Wirklichkeit entfernt. Die von Parsons dargebotenen 5 Paare von Alternativentscheidungen ergäben 32 mögliche Kombinationen, die sowohl zuwenig als auch zuviel seien; zuwenig in Anbetracht der unübersehbaren Vielfalt der sozialen Formen; zuviel, weil einige dieser Kombinationen in der Wirklichkeit nicht anzutreffen seien und Leerformen darstellten. "Der vermeintlich erste Schritt auf die Tatsachenwelt stellt sich bei näherer Betrachtung als ein NichtSchritt dar: Er bleibt im Spekulativen, Nur-Rationalen gefangen, ganz ebenso wie die Nur-Empirie der landläufigen amerikanischen Soziologie nie wirklich eine entscheidende Annäherung an eine wahrhaft theoretische Position zustande gebracht hat." Stark schließt seine Darstellung mit dem Satz: "Dem kritischen Beobachter bleibt darum letzten Endes nur die Hoffnung, daß die besten Leistungen der amerikanischen Soziologie noch in der Zukunft liegen." Hat diese Zukunft nicht doch bereits begonnen? Jedenfalls glaube ich, entsprechende Anzeichen dafür gerade auf dem Gebiet der amerikanischen Rechtssoziologie sehen zu können. Im Jahre 1964 wurde unter der Führung von Fachsoziologen eine Vereinigung von Soziologen, Politologen und Juristen unter dem Namen "Law and Society Association" zu dem Zweck gegründet, den Sozial wissenschaftlern und Juristen ein Forum für interdisziplinäre Gespräche zur Verfügung zu stellen. Auf einigen Tagungen, die vor allem den Formalitäten der Gründung dieser Vereinigung dienten, wurde zunächst von Soziologen, Juristen und Politologen die Notwendigkeit einer engen, die einzelnen Fachgebiete wechselseitig durchdringenden Zusammenarbeit gefordert und im Prinzip anerkannt. Richard D. Schwartz, Professor für Soziologie an der Northwestern University, betonte 23 , daß wir mehr darüber lernen und wissen müßten, in welcher Weise das Recht die mannigfachen Institutionen einer modernen, höchst verwickelten Gesellschaft schaffe, stütze und reguliere; wie der Rechtsmechanismus seine eigene Stellung in der Gesellschaft beeinflusse; welche Umstände zu der Anerkennung der Legitimität und Effektivität rechtlicher Sanktionierung führten; wie diese Wirkungen umgekehrt in Beziehung ständen zu den Einflüssen, die durch die öffentliche Meinung, die Interessentengruppen und den Regierungsapparat ausgeübt werden und wie diese Einflüsse nun ihrer22 über eine entsprechende italienische Theorie vgl. Francesco Alberoni, Verso una teoria dell'azione sociale in: Studi di sociologia 111 (1965); hierzu Eisermann und Acquaviva, FN 17, S. 84 ff. 23 Richard D. Schwartz, Introduction to Law and Society. A Supplement to the Summer Issue of Social Problems 1965, S. 1-3.
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seits in Handlungen umgesetzt würden. Ein derartiges Modell unterscheide sich sicherlich von den Denkmodellen, wie sie gegenwärtig stillschweigend von den praktischen Juristen und ausdrücklich von den Rechtsgelehrten vertreten würden. Sobald die juristischen und sozialwissenschaftlichen Denkmodelle aber miteinander vereinbar seien und in der Rechtsentwicklung zum Ausdruck kämen, hätten wir im ewigen Kampf um die Mehrung der rationalen Erkenntnis menschlicher Dinge einen Schritt vorwärts getan. Während diese Zielvorstellungen, wie bereits betont, allseitig gebilligt wurden, begann der eigentliche Dialog mit einer Abhandlung über die Entwicklung und die heutigen Grundtendenzen der Rechtssoziologie in Amerika aus der Feder von J erome H. Skolnick, Professor für Soziologie an der University of California, Berkeley, und Mitarbeiter des Center for the Study of Law and Society in Berkeley24. Gegen diese Abhandlung eines Fachsoziologen polemisierte in der ersten, im November 1966 erschienenen Nummer der von der genannten Vereinigung herausgegebenen neuen Zeitschrift "Lawand Society Review"25 der Jurist Carl C. Auerbach von der Rechtsfakulät der Universität Minnesota unter der Überschrift "Juristische Aufgaben für den Soziologen". Im unmittelbaren Anschluß daran replizierte Skolnick unter der Überschrift "Soziale Forschung über das Rechtliche" (wie ich den Ausdruck legality übersetzen möchte). Ohne auf Einzelheiten einzugehen, erlaubt dieses höchst anschauliche Streitgespräch folgende Feststellungen: Die Fachsoziologen sehen ein, daß sie sich etwas mehr, als dies bisher der Fall war, mit dem Recht als einem der Regulatoren des Soziallebens beschäftigen und hierbei die Juristen als aktive Teilnehmer am soziologischen Forschungsprozeß berücksichtigen müssen. Die Juristen, jedenfalls die "reform-minded law professors", wie Auerbach sie nennt, erwarten ihrerseits von den Soziologen nicht so sehr theoretische Grundlagenforschung darüber, was "das Rechtliche" eigentlich ist, als vielmehr praktische Zweckforschung über solche soziologischen Zusammenhänge, die für den in Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung tätigen Juristen zwecks besserer Erfüllung seiner Berufsaufgaben erheblich sind. Während der Jurist Auerbach sich den Satz des Soziologen Gurvitch zu eigen macht, daß jeder praktische Jurist ein Rechtssoziologe sein müsse, wenn er seine Aufgaben richtig erfüllen wolle, hebt der Soziologe Skolnick hervor, daß die Rechtssoziologie sich nicht auf eine Beschreibung des lebenden Rechts, der sogenannten 24 Jerome H. Skolnick, The Sociology of Law in America: Overview and Trends, in: Law and Society. A Supplement to the Summer Issue of Social Problems 1965, S. 4-38. 25 Carl C. Auerbach, Legal Tasks for the Sociologist, in: Law and Society Review 1, Nr. 1 (1966), S. 91-104.
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Rechtswirklichkeit, beschränken dürfe, sondern zugleich und vor allem eine theoretische Analyse der Bedeutung und Funktion des "Rechtlichen" in Gesellschaften verschiedener Art herausarbeiten müsse. Wie die politische Soziologie die Voraussetzungen und Bedingungen untersuche, unter denen verschiedene politische Formen zur Verbreitung geeignet seien, müsse die Rechtssoziologie fragen, welche sozialen Voraussetzungen und Bedingungen in der Rechtswelt verschiedene materielle und prozessuale Phänomene hervorrufen. Eine zweite Feststellung läßt sich treffen: Das "ganze der amerikanischen Soziologie zur Verfügung stehende Arsenal", um eine Formulierung von Richard Lange zu verwenden 26 , ist zwar quantitativ gesehen überwältigend 27 • Liest man von den für deutsche Verhältnisse unvorstellbar hohen Geldmitteln, welche in den abgelaufenen Jahrzehnten von den großen privaten Stiftungen für rechts soziologische Forschungen auf interdisziplinärer Grundlage zur Verfügung gestellt worden sind, so begreift man die Sehnsucht jüngerer deutscher Wissenschaftler nach diesen Forschungszentren und ihre bei der Rückkehr in unsere Verhältnisse manchmal feststellbare Enttäuschung oder Überheblichkeit. Doch "le jeu ne vaut pas la chandelle" , wie die diesbezüglich sehr kritischen Äußerungen Skolnicks hervorheben. Vor allem zeigt sich, daß sich mangels einer gefestigten soziologischen Fachsprache eine Fülle von angeblichen Problemen und Streitfragen in nichts auflöst, sobald man klar und für den Gesprächspartner verständlich sagt - notfalls unmißverständlich definiert - , was man mit einem Ausdruck sagen, unter einem terminus technicus verstanden haben will. In dieser Hinsicht ist dank einer seit Jahrtausenden gepflegten Begriffsarbeit die normative Rechtswissenschaft sowohl national als auch, soweit sie auf dem römischen Recht fußt, universal allen sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen erheblich überlegen, auch wenn sie selbst in ihren jüngeren Sparten und international ebenfalls an sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten leidet. Davon abgesehen darf man nicht vergessen, daß eine Fülle von Ausdrücken, welche für die Juristen einen bestimmten Sinngehalt haben, von den Angehörigen der anderen sozialwissenschaftlichen Fächer zwar ebenfalls, aber meistens in einem ganz anderen Sinn verstanden werden. Erst recht fehlt es an einer für alle Sozialwissenwissenschaftler national oder gar universal verbindlichen einheitlichen Terminologie28 . Solange dieser Zustand anhält, können die Juristen die 26 Richard Lange, Konstanz und die Rechtswissenschaft, in: Juristen-Zeitung 1965, S. 735. 27 über die tieferen Ursachen der literarischen Massenproduktion auf dem soziologischen Sektor vgl. Stark, FN 21 (S. 27). 28 Vgl. hierzu Aaron V. Cicourel, Kinship, Marriage and Divorce in Comparative Family Law, und die Kritik dieses Artikels von Marvin B. Sussman, in: Law and Society Review 1, Nr. 2 (1967), S. 103-129 bzw. 131-138.
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Soziologen und die Soziologen die Juristen nicht verstehen. Zum Beispiel entspricht die Vieldeutigkeit des deutschen Wortes "Recht" (groß oder klein geschrieben) drüben die Zweideutigkeit der englischen Ausdrücke "legal" und "legality". Während der Soziologe Skolnick den Ausdruck "legality" für das Rechtliche schlechthin gebraucht, darunter aber nicht eine bestimmte rechtliche Struktur, sondern einen Idealtyp des Rechtswesens versteht, dessen Natur und Funktionen zu untersuchen Aufgabe der Soziologie sei, versteht der Jurist Auerbach diesen Ausdruck normativ-natur rechtlich und bestreitet energisch die Zuständigkeit der Rechtssoziologie für die Beurteilung der Frage, ob zum Beispiel die Gesetze der Nazi-Zeit "legal" gewesen seien oder nicht. Ein typisches Scheinproblem infolge terminologischer Unklarheit. Und schließlich noch eine dritte und letzte Feststellung aufgrund des in den Vereinigten Staaten geführten Dialogs zwischen Soziologen, Juristen und Politologen: Auf allen Seiten sieht man ein, daß die besondere AufgabensteIlung der einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen nicht von der Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit entbindet. Noch so viele, auch wissenschaftlich beachtliche Einzelstudien auf einem Gebiet sind für die anderen sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen bedeutungslos, wenn sie einseitig lediglich auf eine Disziplin zugeschnitten sind und die Interdependenz von Recht und Sozialordnung nicht berücksichtigen. So ist zwar eine "Rechtstatsachenforschung" im Sinne Arthur Nußbaums 29 , d. h. eine Erforschung dessen, 29 Vgl. insbesondere: Arthur Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung, Tübingen 1914; ders., Ziele der Rechtstatsachenforschung, in: Leipziger Zeitschrift 1920, S. 874 ff., 911 ff.; ders., Die Rechtstatsachenforschung, in: Archiv für die civilistische Praxis 154 (1955), S. 456 ff. Lediglich zur Behebung irrtümlicher Auffassungen sei darauf hingewiesen, daß allein mit Hilfe der Rechtstatsachenforschung rechtssoziologische Forschung auf empirischer Grundlage möglich ist. Die internationalen und supranationalen Abkommen, die staatlichen Rechtsnormen sowie die autonomen Rechtssätze in Satzungen, Ordnungen, Allgemeinen Geschäftsbedingungen, standardisierten Massenverträgen, Formularen u. dgl. lassen allein aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Interdependenz im Rahmen des rechtlichen Gesamtprozesses und aller ihn determinierenden Einzelprozesse eine Aussage darüber zu, was in einem gegebenen Augenblick in einem konkreten Gesellschaftsintegrat rechtens ist und warum es "heute", "hier", "so" und nicht anders ist. Daß z. B. das in der Bundesrepublik geltende Mietrecht nicht aus dem BGB entnommen werden kann - auch nach der Änderung seiner mietrechtlichen Vorschriften durch die Gesetze von 1963 und 1964 -, ist zwar eine richtige Feststellung. Mit dieser allein aber ist nichts gewonnen, selbst wenn man hinzufügt, daß diese Bestimmungen ergänzt werden durch die Gesetze und Verordnungen auf den Gebieten der Wohnungszwangswirtschaft, des Bauund Siedlungswesens. Der sogenannte Einheitsmietvertrag mag noch für einige Wohnungen eine Rolle spielen, für Neubauwohnungen wird er nicht mehr verwandt. Vielmehr gibt es verschiedene Standard-Typen je nachdem, ob die Neubauten im sozialen oder im privaten Wohnungsbau erstellt worden sind. Was sich in diesen Verträgen an einzelnen Klauseln findet, ist ein Konglomerat von Vorschriften, deren Entstehungszeit, Entstehungsgrund und praktische Bedeutsamkeit völlig verschieden sind. Das diesbezügliche
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was in der Lebenswirklichkeit rechtens ist, für den Juristen sehr belangvoll, für den Soziologen aber nur unter zwei Voraussetzungen interessant: einmal dann, wenn die Ursachen untersucht und aufgedeckt werden, welche für das Auseinanderfallen von Gesetzestext und Rechtswirklichkeit, für die Ersetzung des dispositiven Gesetzesrechts durch Allg. Geschäftsbedingungen oder Satzungen autonomer Verbände, für die Neubildung von Rechtsnormen praeter oder sogar contra legern, für das völlige Brachliegen gesetzlich eingehend geregelter, aber in der Praxis gar nicht vorkommender Einrichtungen und Verhältnisse determinierend sind; zum anderen dann, wenn derartige Feststellungen geeignet sind, wissenschaftliche Hypothesen über soziale Gesetzmäßigkeiten zu prüfen, zu ergänzen, abzuändern, neu aufzustellen. Umgekehrt ist dem Juristen mit soziologischen Modellanalysen nicht gedient, in denen "das Rechtliche" mit der Formel "ceteris paribus" aus dem Modell ausgeklammert wird. Die Ursachen dieser Einstellung dürften darin zu suchen sein, daß viele Soziologen mangels juristischer Grundkenntnisse sich weigern, das Normative auch als Faktizität anzuerkennen, die sich in jedem Gesellschaftsintegrat irgendwie fühlbar macht. Skolnick drückt dies sehr schön mit dem Satz aus: "There is confusion of legal with legality, of rules of law with the rule of law" (zu deutsch: man verwechselt "gesetzlich" mit "rechtlich", "RechtsregeIn" mit der "Herrschaft des Rechts"). Es kommt somit nicht so sehr darauf an, was wissenschaftlich untersucht wird, sondern in welcher Weise und mit welcher Blickrichtung es geschieht. Für den Rechtssoziologen bildet die rechtliche Ordnung den Mittelpunkt, auf den sich alle seine wissenschaftlichen Untersuchungen beziehen müssen. Wahlanalysen, Studien über unorganisierte spontane soziale Kräfte, über das Verhalten der Juristen bei dem Erlaß von Entscheidungen, über Sexualverhalten innerhalb einer Gesellschaft mögen an sich betrachtet interessant und als Mittel für eine rechtssoziologische Betrachtung erheblich sein. Aber erst, wenn und soweit derartige Studien wissenschaftlich in Beziehung gesetzt werden zu einer konkreten rechtlichen Ordnung unter dem Gesichtspunkt der Interdependenz, können sie als Rechtssoziologie qualifiziert werdenSO. Material zu sammeln und mit Hilfe der auf diesem Weg gewonnenen Dokumentation das "heute", "hier", "so" rechtlich Belangvolle festzustellen und nachzuweisen, ist Aufgabe der Rechtstatsachenforschung, die - unter diesem Blickwinkel betrachtet - eine juristische Disziplin zwecks Erkenntnis des ,.lebenden", d. h. des tatsächlich geltenden, befolgten, angewandten, durchgesetzten und durchsetzbaren Rechtes ist. Erst von dieser Basis aus ist eine soziologische (insbesondere rechtssoziologische) Fragestellung sinnvoll. 30 über die Bemühungen in den Vereinigten Staaten um interdisziplinäres Verständnis und interdisziplinäre Zusammenarbeit berichtet Richard D. Schwartz, Personal and Progress in Sociological Research, in: Law and Society Review I, Nr. 2 (1967), S. 3-6.
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v. Nach dieser kursorischen Bestandsaufnahme der Rechtssoziologie in "Ost und "West" möchte ich zum Schluß noch einen kurzen Blick werfen auf Stand und Aufgaben der Rechtssoziologie in der Bundesrepublik. Bevor ich meine eigenen Auffassungen äußere, referiere ich kurz die Meinung von Gott/ried Eisermann, eines Soziologen vom Fach. In einern 1965 erschienenen Artikel über "die Probleme der Rechtssoziologie"31 stellt er nach kurzen Hinweisen auf die für die Rechtssoziologie im deutschen Sprachraum grundlegenden Arbeiten von Eugen Ehrlich und Max Weber, von Theodor Geiger und Karl Marx fest, "daß über die wertvollen Einsichten und Errungenschaften ihrer Begründer hinaus die Rechtssoziologie nur zu einer vertieften Analyse der Rechtswirklichkeit vorstoßen kann, wenn sie sich, wie es auch andere Zweige der Soziologie zuvor getan haben, die Möglichkeit der modernen Forschungstechnik zunutze macht". Nach der Ansicht Eisermanns müßte eine solche Forschungsintention, die sich dieses Rüstzeuges bedient, dabei vorzugsweise auf folgende Probleme abzielen, die sich als für die Struktur der Rechtswirklichkeit besonders relevant herauskristallisiert haben; einmal auf die Erforschung der jeweiligen Justizmaschinerie, und zwar im Hinblick auf das allgemeine Schema der regionalen Justizorganisation; auf die Rekonstruktion des jeweiligen Entscheidungsprozesses; auf den Umfang der staatlich bereitgestellten Mittel für die jeweilige Justizorganisation und auf einige organisatorische Einzelprobleme wie insbesondere den Arbeitsumfang des Rechtsstabs, die Struktur und Verteilung der verschiedenen Exekutiv-Kader und das Ausmaß der sachlichen Arbeitsausstattung; zum anderen ist nach der Meinung Eisermanns der Rechtsberuf einer rechtssoziologischen Forschung dringend bedürftig, und zwar mit dem Ziel, die Richter "als Mitglieder eines bestehenden sozialen Systems zu betrachten, das ihnen spezifische Chancen einer institutionalisierten Laufbahn bietet in Verbindung mit der Möglichkeit, aus der Erfüllung einer Funktion Befriedigung in Form sozialer Belohnung abzuleiten. Sicherlich braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß das Studium der Richter als sozialer Gruppe innerhalb des Rechtspersonals eines sozialen Systems kaum vollständig wäre, ohne eine entsprechende Erforschung der Rollen der Anwälte und anderer Rechtsberufe" . Eisermann empfiehlt als maßgebliche Gesichtspunkte und Forschungsleitlinien die soziale Herkunft der Richter und ihre Laufbahn, die Laufbahn-Aspirationen und die Analyse des Grades sozialer Befriedigung, den sie durch ihre Arbeit erzielen, die Ideologie der 31 Gottfried Eisermann, Die Probleme der Rechtssoziologie, in: Archiv für Verwaltungssoziologie - Beilage zum gemeinsamen Amtsblatt des Landes Baden-Württemberg, 2. Jahrgang, Nr. 2 v. 12.8. 1965, S. 5.
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Richter und schließlich die Analyse der Haltung und Verhaltensweisen der Anwälte gegenüber der Justizmaschinerie32 • Weitere Themen rechtssoziologischer Forschung sind nach Eisermann die Haltung des Publikums gegenüber der Justizmaschinerie, die sozio-ökonomischen Effekte der Justizverwaltung und schließlich "die Erforschung der Tendenzen innerhalb eines sozialen Systems, Gerechtigkeit vermittels inoffizieller Mittel zu suchen". Auch Eisermann plädiert für eine enge Zusammenarbeit zwischen Soziologen und "geschulten" Juristen, weil nur auf der Grundlage interdisziplinärer Forschung ein Vorstoß zu der tiefsten Schicht der sozialen Realität, d. h. zu der "stets potentiell präsenten Kollektivmentalität möglich erscheint, die sich jedoch in den verschiedenen sozialen Gebilden und in der Struktur der verschiedenen sozialen Systeme mit sehr unterschiedlicher Stärke auswirkt und auch die Gestaltung des Rechts mittelbar oder unmittelbar beeinflußt". Soweit der Fachsoziologe Eisermann. Auch wenn der rechts soziologisch interessierte Jurist sich mit der eben skizzierten Aufgabenstellung einverstanden erklären kann, ja sie sogar erheblich erweitern könnte, so muß er doch darauf hinweisen, daß es zur Bewältigung dieser Aufgaben zur Zeit sowohl an rechtlich geschulten Soziologen als auch an soziologisch geschulten Juristen fast völlig fehlt. Dieser Mangel zeigt sich ganz deutlich z. B. an den Arbeiten Ralf Dahrendorfs und seiner Mitarbeiter über die Herkunft und soziale Stellung der Richter. Bei diesen Arbeiten handelt es sich im Grunde genommen um berufssoziologische Fragestellungen, die den Soziologen hauptsächlich wegen der Schichtungsproblematik interessieren, während die rechtssoziologisch wesentliche Fragestellung, die ich mit den Schlagworten "Klassenjustiz" bzw. "volksnahe Justiz", "Laienrichter", "Volksrichter" u. dgl. andeuten kann, nur am Rande gestreift und mangels ausreichender Kenntnis der Fakten des Rechtswesens wissenschaftlich unergiebig behandelt wird. Geradezu erschreckend ist es aber, wenn wir bei einem Fachsoziologen in einem Aufsatz über "Die Krise der Universität" folgende Charakterisierung des zeitgenössischen Rechtsgelehrten lesen müssen: "Für den Rechtsgelehrten ist die Frage nach der gesellschaftlichen Natur und Herkunft des Rechts, ebenso wie des Staates als eines Organs der sozialen Gewalt, abgetan. Der Zuschnitt des Faches selbst züchtet den Typus eines im letzten grundsatzlosen Gesetzespositivisten, der auf eine höchst unphilosophische und problemlose Manier dem Satz von Hegel huldigt, wonach das Bestehende zugleich das Vernünftigste sei33 ." 82 Vgl. zu diesem Problemkreis die Abhandlung von Abraham S. Blumberg, The Practice of Law as Confidence Game: Organizational Cooptation of a Profession, in: Law and Society Review 1, Nr. 2 (1967), S. 15-39.
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Wenn dies als Standardansicht der Fachsoziologen gelten sollte, so müßten sie sich den Vorwurf gefallen lassen, noch nicht einmal den Sinn und Zweck des in Ost und West gleichermaßen geltenden Verfassungsgrundsatzes von der Gesetzesgebundenheit des von den Rechtsgelehrten auszubildenden praktischen Juristen zu kennen. Kant hat den soziologisch relevanten Rollenunterschied zwischen den gesetzgebenden und praktischen Juristen sehr deutlich gesehen. Er spricht von "der Art ächter Juristen (vom Handwerk, nicht von der Gesetzgebung) ... , deren Geschäfte nicht ist, über Gesetzgebung selbst zu vernünfteIn, sondern die gegenwärtigen Gebote des Landrechts zu vollziehen"M. Die Gesetzesgebundenheit der praktischen Juristen soll, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe35 , nicht nur willkürliche Verwaltungs- und Justizakte verhindern, sondern gleichzeitig den praktischen Juristen die Last abnehmen, die Angemessenheit und Gerechtigkeit der gesetzlichen Lösung in Frage zu stellen, damit jede Einzelentscheidung, die im konkreten Fall zu treffen ist, im Rahmen der vom Gesetzgeber vollzogenen allgemeinen Entscheidung bleibt. Diese allgemein im Gesetz formulierte Entscheidung ist (muß man dies wirklich den Soziologen sagen?) politischer Art, d. h. in ihrer sachlichen Angemessenheit und (oder) wertmäßigen (Gerechtigkeit) determiniert durch die politischen Ziele, Anschauungen und Werturteile derer, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb eines konkreten Gesellschaftsintegrates die politische Macht haben, Gesetze zu erlassen und deren Verwirklichung durchzusetzen. Nicht weil "das Bestehende zugleich das Vernünftige" ist, sondern weil ohne Gesetzesgebundenheit des praktischen Juristen die politischen Machthaber ihre in Gesetzesform erlassenen Regulierungsmaßnahmen und Verhaltensmuster nicht verwirklichen können, ist die den Rechtsgelehrten übertragene Ausbildung der künftigen Juristen für ihren praktischen Beruf (das juristische "Handwerk" im Sinne Kants) überall in der Welt mit Notwendigkeit an dem im Zeitpunkt und am Orte der Ausbildung geltenden (positiven) Recht ausgerichtet. Soweit die Rechtsgelehrten dagegen sich nicht in der Rolle des Lehrers, sondern des Forschers betätigen, existiert der "im letzten grundsatzlose Gesetzespositivist" heutzutage nicht mehr als Typus, sondern nur noch als Ausnahme eines ganz anderen Typus, nämlich des im letzten gegenüber dem Gesetzgeber kritisch eingestellten Gesetzesrelativisten, der das Bestehende keineswegs als der Weisheit letzten Schluß, sondern als das durch die jeweilige Machtkonstellation bedingte und dem ständigen Wandel unterworfene Ergebnis politischer Machtkämpfe ansieht und 33 Werner Hofmann in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 7. 1967, Nr. 161 ("Bilder und Zeiten"). 34 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Königsberg 1795, S. 75. 35 Siehe FN 6.
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nicht müde wird, in seinen wissenschaftlichen Äußerungen - Vorlesung, Lehrbuch, Kommentar, Abhandlung - sowohl das Gesetz als auch dessen Anwendung unter einem ganz bestimmten, weltanschaulich und axiologisch bestimmbaren Blickwinkel kritisch zu beleuchten. Gewiß kann und soll nicht geleugnet werden, daß nicht nur die Rechtspraktiker, sondern auch die Rechtsgelehrten in ihrer Mehrheit noch weit davon entfernt sind, soziologisch geschulte Juristen zu sein. Das Verhältnis von Jurisprudenz und Soziologie wird infolge mangelnder Informiertheit der Juristen über Methoden und Forschungsstand der zeitgenössischen Soziologie als ein Verhältnis der miteinander unvereinbaren Standpunkte angesehen, anstatt, um mit Helmut Schelsky zu sprechen, den Streit zwischen den Realitäts- und den Sollensaspekten unserer Welt als Kooperation der Wissenschaften auszutragen. Auch wenn man im Grundsatz die Berechtigung einer Rechtstatsachenforschung anerkennt, so ist doch, wie Werner Krawietz mit Recht bemerkt, "die den Bestand von Rechtsnormen voraussetzende Rechtswirklichkeit, die aus der Verwirklichung, der Anwendung des Rechts erwächst, heute weitgehend unbekannt, ebenso wie die soziale Wirklichkeit des Rechts, die den sozialen Unterbau der Rechtsregelungen beinhaI tet" 30. VI.
Auf dem ersten Nordischen Kongreß für Rechtssoziologie in Kopenhagen im Jahre 1967 hat Vilhelm Aubert, Inhaber des Soziologischen Lehrstuhls an der Universität Oslo, bei einer zusammenfassenden Betrachtung des Kongreßverlaufs die Referate danach klassifiziert, ob sie zur "Rechtssoziologie des Juristen" oder zur "Rechtssoziologie im Sinne der Soziologen" gehören. Ich halte diese Trennung für zweckmäßig und für sachlich gerechtfertigt, weil hierdurch von vornherein ein Aneinander-Vorbeireden vermieden wird. Bildet für die Rechtssoziologie des Juristen das Phänomen Recht den Bezugs- und Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses, so steht für den Fachsoziologen die Gesellschaft im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit. Die Rechtssoziologie im Sinne der Fachsoziologen um faßt den Zusammenhang zwischen "lawand society", die Rechtssoziologie des Juristen daraus nur denjenigen Teilaspekt, der für die auf die Rechtspraxis bezogene Rechtswissenschaft erheblich ist. Die Rechtssoziologie des Juristen ist ein die Jurisprudenz, die sogenannte Rechtsdogmatik, zur Rechtswissenschaft ergänzender juristischer FachS8
Werner Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, 1967, S. 24,
FN20.
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bereich, die Rechtssoziologie im Sinne der Fachsoziologen dagegen nur ein spezieller Anwendungsbereich der Soziologie als Sozialwissenschaft. Während sich die Rechtssoziologie des Juristen darauf beschränkt, die Interdependenz zwischen Rechtsordnung und Sozialleben wissenschaftlich aufzudecken und zu erklären, ist die Aufgabe der Fachsoziologen, die sich mit Recht befassen, sowie der von diesen als "aufgeschlossene Juristen" bezeichneten Wissenschaftler, "das heißt solche, die ihre Argumente der Soziologie entnehmen, um innerhalb der Jurisprudenz eine progressive Interpretationsvariante durchzusetzen" auf Veränderung der politischen Machtverhältnisse37 mit Hilfe soziologischer Gedankengänge und ideologischer Propaganda gerichtet. Daß derartige Soziologen der Politik näher stehen als der wissenschaftlichen Forschung, ist evident. Aber angesichts eines Zweiges der Soziologie, die zur ideologischen Propaganda für gegenwärtige oder zukünftige Macht herabgesunken ist, braucht man nicht wie der kürzlich verstorbene Sozialwissenschaftler Helmut Schelsky zum Antisoziologen zu werden. Der Werturteilsstreit hat deutlich gemacht, daß die Soziologie als Gesellschaftswissenschaft mehr als andere wissenschaftlichen Disziplinen Gefahr läuft, die Grenze zwischen forschender Aufklärung und politischer Propaganda oder ideologischer Bevormundung zu mißachten. Nach wie vor tut sich die Soziologie schwer mit der Bestimmung des Punktes wo, um Max Weber zu zitieren, "der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen". Normen und Werte sind als Abstracta keine sozialen Tatsachen. Vielmehr tragen erst die Reaktionen, ob und in welchem Grade sie im zwischenmenschlichen Sozialleben Beachtung finden, den Stempel der sozialen Tatsachen. Man darf nicht die doppelte Idealität des Normativen, daß es, ethisch gesehen, gültig ist und, rechtlich gesehen, gelten soll, mit der Realität der Anwendung der Normen auf einen sozialen Sachverhalt gleichsetzen. Sollen und Sein liegen auf verschiedenen Ebenen, so daß es auf eine offenbare Täuschung hinausläuft, wenn man Normen und Werte dadurch zu sozialen Tatsachen umzugestalten glaubt, wenn man sie mit Hilfe empirischer Aussagen beschreibt. Daß Rechtsnormen beachtet werden sollen, also als geltend anzusehen sind, und auf den Ablauf des zwischenmenschlichen Soziallebens wirken sollen, versteht sich von selbst. Ob und wie sie aber tatsächlich beachtet werden, bedarf der empirischen Untersuchung und Aufklärung der sozialen Tatsachen, die als Faktoren für das Ergebnis ursächlich sind. Wer "progressive Interpretationsvarianten" durchsetzen will, verwandelt das Katheder im Hörsaal in eine politische Tribüne, auf der politische Parolen für das einzig wesentliche Wissen von der eigentlichen Wirklichkeit ausgegeben wer37
So Blankenburg und Treiber in JZ 1982,543.
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den. Das aber ist eitel Spiegelfechterei und hat mit Wissenschaft nichts mehr zu tun. Wenn Blankenburg, Lautmann und Rotterll 8 das Thema "sozialer Wandel durch Recht" nicht als eine Frage der Faktizität, sondern als Programm verstehen und die Frage nach der faktischen Effektität von Rechtsregeln zur Frage danach umgestalten, "wie Recht als Mittel zu sozialen Veränderungen eingesetzt werden kann", so wird die wissenschaftliche Sphäre des Forschens, Erklärens und Verstehenwollens zu Gunsten einer einseitigen, auf ein politisches Ziel gerichteten Propaganda verlassen. Die namentlich genannten Soziologen und ihre intellektuellen Glaubensgenossen aus dem Kreis der Juristen diffamieren zwar alle diejenigen Rechtssoziologen, die diese willkürliche Ausrichtung nicht mitzumachen bereit sind, als Vertreter eines einseitigen Herrschaftswissens für partikulare Interessen, ohne sich bei diesem Vorwurf des Balkens im eigenen Auge bewußt zu sein. Dies ist besonders in der anfangs der 70er Jahre geführten Diskussion um die Reform oder den Neuaufbau der Juristenausbildung deutlich geworden, als die Forderung nach Berücksichtigung der allgemeinen Soziologie und insbesondere der Rechtssoziologie im Sinne der Fachsoziologen sowohl innerhalb des bisher gesetzlich vorgeschriebenen Zwei-Stufen-Ausbildungsgangs als auch im Zuge der sogenannten einstufigen Ausbildung eine erhebliche Rolle spielte. Einer Auffassung, nach welcher Rechtssoziologie (noch) kein lehrbares Wissenschaftsfach seP9, standen positive Meinungen gegenüber, die ihrerseits sich untereinander erheblich unterschieden, und zwar danach, ob allgemeine Soziologie oder lediglich Rechtssoziologie als Grundlagenfach, Hauptfach oder Wahlfach anzubieten sei, ob die Lehrveranstaltungen von Fachsoziologen oder Fachjuristen abzuhalten seien, nach welchen Methoden und in welchem Umfang - im Verhältnis zu den dogmatischen Lehrveranstaltungen - Soziologisches gelehrt werden solle oder ob nicht überhaupt die streng rechtsdogmatisch gehaltenen Vorlesungen durch soziologische Denkansätze ergänzt oder völlig umgewandelt werden sollten40 • Daß bei manchen dieser Vorschläge ideologische Verkrampfungen und politische Ziele im Spiele waren, ist weniger verwunderlich als der Umstand, daß man sich über die Realisierungsmöglichkeiten der jeweils empfohlenen Vorschläge kaum Gedanken machte. Das hat 38 In Band III des Jahrbuchs für Rechtssoziologie und Rechtstheorie (1972) S. 600 f. 39 Vgl. z. B. Achterberg, Gedanken zur Einführung rechtssoziologischer Lehrveranstaltungen in den Rechtsunterricht, JZ 1970, 281 ff. 40 Vgl. einerseits Thomas Raiser, Was nutzt die Soziologie dem Recht? JZ 1970, 665 ff.; andererseits die Entgegnungen auf den in Anm. 39 angeführten Aufsatz von mir bzw. von Klaus Dammann und Gerd Winter, JZ 1970, 679 ff.
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I.
Aufgaben der Rechtssoziologie
sich gerächt. Die durch bedenkliche Praktiken der ASJ manipulierten41 Blütenträume des 48. Deutschen Juristentags von Mainz sind ausgeträumt. Die durch das Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes vom 10. 9. 1971 eingeführte und ursprünglich nur bis zum Ablauf des 15. 9. 1981 befristete sogenannte Experimentierklausel (§ 5 b DRiG), die durch Gesetz vom 16. 8. 1980 bis zum 15. 9. 1984 verlängert worden war, ist abgelaufen. Dieeinstufige Juristenausbildung wird wieder abgeschafft. Die herkömmliche Ausbildung wird mit gewissen Änderungen auf Grund der während der Experimentierphase gewonnenen Erkenntnisse aufrecht erhalten 42 • Das bedeutet praktisch, daß Soziologie bzw. Rechtssoziologie bestenfalls zu Wahlfächern gemacht werden, so daß der Student die diesbezüglichen Lehrveranstaltungen zwar besuchen kann, aber sie, weil sie nur fakultatives Prüfungsfach sind, großenteils unbeachtet lassen wird. Soll man unter diesen Auspizien der von Juristen gepflegten Rechtssoziologie noch Chancen geben? Wie bereits betont, besteht die wissenschaftliche Aufgabe einer für die Rechtswissenschaft und das soziale Ordnungsgefüge theoretisch und praktisch bedeutsamen Rechtssoziologie darin, die gesellschaftliche Bezogenheit des Rechts neben seiner von den Fachjuristen allein als Arbeitsbereich zur Kenntnis genommenen normativen Bestimmungen aufzudecken43 • Die wissenschaftliche Pflege der Rechtssoziologie dient der Erweiterung der Kenntnisse und Erkenntnisse im Bereich der Interdependenz von Recht- und Sozialleben. Dies zwingt allerdings den Fachsoziologen, "in die Untiefen juristischer Praxis vorzudringen""; denn eine Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz hat für Rechtslehre und Rechtspraxis keinerlei Bedeutung und bleibt im Elfenbeinturm blutleerer, im berüchtigten Soziologenjargon geführter Diskussionen eingeschlossen. Die Rechtssoziologie "des" Juristen ist eine Rechtssoziologie "von" Juristen "für" Juristen unter der Voraussetzung, daß die als Rechtswissenschaft bezeichnete Vgl. meinen Beitrag: Experimentierklausel, in: JZ 1971, 286-288. Vgl. Reimer Schmidt / Man!red Baum / Rudol! Mögele, Juristenausbildung - jetzt wie einst, in: JZ 1984, 364-370. 43 "Soziologische Erkenntnisse, vor allem solche der angewandten Sozialwissenschaften, spielen für die Beurteilung rechtlicher Regeln, rechtlich relevanter Vorgänge und dabei vor allem rechtlich bedeutsamer menschlicher Verhaltensweisen eine große Rolle. Die Ergebnisse der empirischen Soziologie dienen zur Aufhellung rechtlich aufzuklärender Sachverhalte und der Auswirkungen der rechtlichen Folgebestimmungen des Zivil-, Verwaltungsund Strafrechts ..." So Reimer Schmidt: Einige Bemerkungen zu den Methoden der Rechtswissenschaft, der Naturwissenschaften und der technischen Wissenschaften, in: AcP 184 (1984) 1 ff. (7). 44 So Hinz am Schluß einer Sammelbesprechung über die ersten vier Bände der von Ernst E. Hirsch und Man!red Rehbinder herausgegebenen Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung, in: Kölner Z. f. Soziologie und Sozialpsychologie 1968/4. 41
4!
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Rechtslehre die ihr im Gesamtbereich der wissenschaftlichen Forschung und Lehre nach heutiger Auffassung zukommenden Aufgaben erfüllt. Dies bedarf der Erläuterung. VII.
In dem ersten wissenschaftlichen Vortrag, den ich nach dem Ende der Naziherrschaft an einer deutschen Universität hielt45 sprach ich über "die Rechtswissenschaft und das neue Weltbild"46. Ich wies auf die Tatsache hin, daß das Hauptkontingent der mit Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung beschäftigten Personen aus Juristen bestehe, die von psychologischen Tatsachen nichts, von ökonomischen, biologischen und soziologischen Tatsachen und Beziehungen in der Regel fast nichts wüßten, so daß man sich höchstens darüber wundern könne, daß die Krämpfe, von denen die Sozialkörper ununterbrochen heimgesucht werden, nicht noch schrecklichere Folgen zeitigten, als es tatsächlich der Fall sei. Ebenso wie die Heilkunde erst in dem Augenblick zu einer Wissenschaft vom gesunden und kranken menschlichen Organismus geworden sei, in dem sie Physik, Chemie und Biologie als selbstverständliche und unentbehrliche Grundlagen der Forschung am menschlichen Körper anerkannte, könne auch die Rechtslehre erst dann zur Rechtswissenschaft werden, wenn die Rechtsgelehrten aufhörten, "Nurjuristen" zu sein und sich entschlössen, Anthropologie, Biologie, Psychologie, Nationalökonomie und Soziologie als selbstverständliche und unentbehrliche Grundlagen der Forschung am sozialen Lebewesen Mensch anzuerkennen. Denn eine Rechtswissenschaft im wahren Sinne des Wortes sei nur möglich, wenn man den Menschen als soziales Lebewesen in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Bemühungen rücke und sich auch als Jurist bereitfände, die benachbarten Wissenschaftszweige als selbstverständliche und unentbehrliche Grundlagen der Rechtsforschung anzuerkennen. Ich sah mich in dieser Ansicht bestätigt, als ich bei dem auf zellbiochemischer Grundlage forschenden Biologen Jacques Monod 47 las, den Wissenschaftlern sei heute mehr denn je die Pflicht auferlegt, ihre Fachdisziplinen im Zusammenhang der modernen Kultur zu sehen.
Monod hält den überkommenen mythischen und philosophischen Deutungen und Glaubenssätzen über die Entstehung und die EntwickGastvorlesung an der Universität München am 25. 10. 1948. Der Vortrag ist in deutscher Sprache in: Annales de I'Universite d'Ankara, Band 3 (1949) 275 ff., eine Neufassung anläßlich eines Vortrages im Rahmen der Universitätswoche der Stadt Mülheim (Ruhr) im November 1964 im ersten Sammelband meiner Beiträge zur Rechtssoziologie: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge , Berlin 1966, S. 65-87 veröffentlicht worden. 47 Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit, München 1971 S. 5. 45 4G
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I. Aufgaben der Rechtssoziologie
lung des Menschengeschlechts die Ergebnisse der molekularbiologischen Forschungen der letzten Jahrzehnte entgegen. Zu den großen Erfolgen der Molekularbiologie und Genetik zählt er die 1965 gelungene Strukturaufklärung der biologischen Invariante DNS (= natürliche Bestandteile von Zellkern und Bakteriophagen von sehr hohem Molekulargewicht), 1967 die Synthese einer kompletten DNS und 1970 die erstmalige Synthese eines Gens. Nur durch diese Entdeckungen konnte die Evolutionstheorie zu ihrer vollen Bedeutung und Bestätigung gelangen. "Heute weiß man, daß der chemische Apparat von der Bakterie bis zum Menschen im wesentlichen der gleiche ist - in seiner Struktur und seiner Funktionsweise" (Monod). Der Mensch wird bald als die "Krone der Schöpfung" sublimiert ("Es gibt nichts Gewaltigeres als den Menschen" nach Sophokles) , bald als "le plus sot animai" diffamiert auf Grund einer Tradition, nach welcher die Werte, die Moral, die Pflichten, Rechte und Verbote über die Verstandeskraft des Menschen hinausgehen und ihm nach den überkommenen mythischen oder philosophischen Ontogonien durch höhere Mächte au/gezwungen werden müssen. Nun ist zwar in jedem objektiven System jegliche Vermischung von Erkenntnis und Wertung verboten. "Aber dieses ,erste Gebot', durch das die objektive Erkenntnis begründet wird, ist selber nicht objektiv und kann es nicht sein: es ist eine moralische Regel, eine Verhaltensvorschri/t (hierin liegt grundsätzlich das logische Verbindungs glied zwischen Erkenntnis und Wertung). Die wahre Erkenntnis kennt keine Wertung, doch um sie zu begründen, bedarf es eines Werturteils oder vielmehr eines wertenden Axioms. Die Aufstellung des Objektivitätspostulats als Bedingung wahrer Erkenntnis stellt offensichtlich eine ethische Entscheidung und nicht ein Erkenntnisurteil dar, denn dem Postulat zu/olge konnte es vor dieser unausweichlichen Entscheidung keine "wahre" Erkenntnis geben. Das Objektivitätspostulat stellt die Norm für die Erkenntnis auf und legt dafür einen Wert fest, der in der objektiven Erkenntnis selbst besteht. Wenn man das Objektivitätspostulat akzeptiert, dann trifft man folglich das grundlegende Urteil einer Ethik - der "Ethik der Erkenntnis"48. Wie sollte eine dem Postulat der "Ethik der Erkenntnis" angemessene rechtliche Regelung der durch die zeitgenössische Technologie und The48 Monod (FN 47) S. 214/215; auch Leszek Kolakowski kommt zu dem Ergebnis, daß es eine spezielle Wissenschaftsethik gibt (siehe "Zweifel an der Methode", Stuttgart 1977, S. 50). Wenn Kolakowski meint, mit dieser Auffassung in Widerspruch zu Monod zu stehen, so dürfte das ein Mißverständnis sein; denn daß es keine "wissenschaftliche" Ethik gibt, folgt aus der von beiden Gelehrten vertretenen Auffassung einer radikalen Trennung zwischen den Bereichen der Ethik (Werturteile) und der Erkenntnis (empirische Urteile).
1. Rechtssoziologie für Juristen
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rapeutik revolutionierten und in Bedrängnis geratenen zwischenmenschlichen Beziehungen und Verhältnisse des Soziallebens ohne Kenntnis und Berücksichtigung der während der letzten Jahrzehnte seitens der physikalischen, chemischen und biologischen Grundlagenforschung gewonnenen Erkenntnisse vom Menschen und seiner natürlichen und sozialen Umwelt möglich sein? Es ist an der Zeit, von der Gesinnung des "Nurjuristen" loszukommen, der ein soziales Problem für erledigt ansieht, wenn das Parlament ein Gesetz beschlossen, der Landrat eine Verfügung erlassen, der Richter ein Urteil gesprochen hat. Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung haben heutzutage Aufgaben zu erfüllen, deren Risiken alle bisher gewohnten Vorstellungen übersteigen. "Datenschutz" und "Umweltschutz" als Rechtsprobleme zeigen, was gemeint ist. Das Recht ist nicht in der Logik des Rechtssystems, sondern im Strom des sozialen Lebens zu finden. Nicht die Paragraphen, sondern die Menschen als natürliche und soziale Lebewesen müssen in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zueinander Gegenstand der Rechtswissenschaft sein, wenn sie dieser Bezeichnung würdig werden will. An Anfängen fehlt es nicht 49 • Aber wir sind noch weit davon entfernt, eine derartige Denkweise als selbstverständlich zu betrachten. Die Juristen sind dank ihrer einseitigen Ausbildung und Erziehung im normativen Denken verhaftet und betrachten alt überkommene Begriffe und ihre logischen oder metaphysischen Herleitungen als unumstößliche Wahrheiten. Die folgenden Beispiele dürften zur Klarstellung des Sachverhalts ausreichen. 1. Der Begriff "person" in der amerikanischen Verfassung Als im Jahre 1973 der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten darüber zu entscheiden hatte, ob der 14. Zusatz artikel der Verfassung, in dem allen Staaten verboten wird, "irgendeine Person ohne ein angemessenes Verfahren um Leben, Freiheit und Besitz zu bringen oder ihr gleichen Schutz durch Gesetze zu versagen", auch auf nascituri anzuwenden sei, weil nach heute herrschender biologischer Auffassung das Leben des menschlichen Individuums mit der Empfängnis beginne, weigerten sich alle neun Mitglieder des Gerichts, von dieser naturwissenschaftlichen Erkenntnis Notiz zu nehmen. Dies sei, so erklärten sie, Sache der Theologen, Mediziner und Genetiker 50 • Diese Einstellung 49 Als Beispiele seien genannt: Jahn M. Brockmann, Recht und Anthropologie, 1979; Chaim Ferelman, Juristische Logik als Argumentationslehre, 1979; Fritjof Haft, Juristische Rhetorik, 1981; Manfred Rehbinder, Fragen an die Nachbarwissenschaften zum sogenannten Rechtsgefühl, JZ 1982, S. 1 ff. Margaret Gruter und Manfred Rehbinder (Hrg.), Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, Berlin 1983.
3 Hirsch
1. Aufgaben der Rechtssoziologie
läßt sich aus dem Umstand erklären, daß der Ausdruck "person" nicht im biologischen Sinn als "Mensch", sondern auch im Rechtsleben seit Jahrhunderten im überhöhten christlich-theologischen Sinn nach der Definition des römischen Philosophen Boethius verstanden wird 51 , woran die neuere Erkenntnis der Naturwissenschaft nichts ändert. Aber auch abgesehen von derartigen Fällen, in denen das Übergreifen rechtlicher Erwägungen auf außerrechtliche Sachgebiete vor allem im Hinblick auf die Methodenreinheit abgelehnt wird, ist bei den Versuchen der Reform des juristischen Curriculums durch Einbeziehung nicht-normativer Sachgebiete deutlich geworden, wie ablehnend das Korps der Juristenschaft derartigen Bemühungen gegenübersteht. Bereits der Versuch, in Forschung und Lehre die Rechtswissenschaft zur Sozialwissenschaft umzuformen, ist auf allgemeine Ablehnung gestoßen. Die jahrtausendalten Bindungen an Theologie und Philosophie sowie die rein mentale und abstrakte Denkweise nach den Regeln des logischen Schlußverfahrens machen das Recht zum Selbstzweck und verhindern das Eindringen von Erkenntnissen und Erwägungen, die nicht normativer Natur sind.
2. Die Reaktion von Juristen auf meine Schrift über das Gewissen In meiner 1979 erschienenen Schrift: "Zur juristischen Dimension des Gewissens ... " habe ich versucht, dasjenige an Realität, was unter dem Ausdruck "Gewissen" im Sinne von "sittlichem Bewußtsein" verstanden wird, mit Hilfe neurobiologischer und humanethologischer Überlegungen und Erkenntnissen klarzustellen. Die Reaktion von Juristen in den mir bekannt gewordenen Rezensionen ist aufschlußreich: a) Zur "wölfischen Natur" des Menschen Entweder geht man über diesen wesentlichen und entscheidenden Teil meiner Schrift (S. 52-84) mit Stillschweigen hinweg52 • Oder man behauptet5S , daß mein Denkansatz (seil. der biosoziologische) "überhaupt nicht oder noch nicht ergiebig" sei. Dies versucht der Rezensent z. B. 50 Vgl. zu dem neu aufgeflammten Streit den Bericht von Sabina Lietzmann in F. A. Z. Nr. 121 vom 26. 5. 1981. 51 "Persona est naturae rationalis individua substantia". Vgl. auch das Stichwort "Person" im Evangelischen Staatswörterbuch, Stuttgart 1966. 52 So Scholz in der Deutschen Richterzeitung 1979, S. 258. Vgl. auch Scholler in: DöV 1980, S. 697, der zwar darauf hinweist, daß ich im Gewissen eine biologische und ethologische Komponente zu differenzieren versuchte und hier wohl die kritische Auseinandersetzung mit meiner These einsetzen müsse, dies aber im Rahmen einer Rezension nicht möglich sei. 53 SO Z. B. Hans-Ulrich Evers in seiner Rezension in Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 105 (1980), S. 316-320.
1. Rechtssoziologie für Juristen
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damit zu beweisen, man erfahre aus meiner Studie nicht, "wo die wölfische Natur des Menschen lokalisiert ist, die Hobbes seiner Staatstheorie zu Grunde legt und die als Selbsterhaltungstrieb und als Trieb zur Erhaltung der Gruppe - und nicht der Art - zur Entwicklung mutmaßlich einen nicht geringeren Beitrag geleistet hat und leistet wie die elementaren Tugenden des biologischen Gewissens". Ich kann darauf nur erwidern, daß der Verhaltensforschung eine "wölfische Natur des Menschen" in dem von Evers gemeinten Sinn nicht bekannt ist, da im Wolfs rudel jede Aggressionshandlung der Mitglieder untereinander ausgeschlossen ist. Gesellige Tiere leben, was Irenäus Eibl-Eibesfeldt ausdrücklich hervorhebt54, ihren Aggressionsneigungen zu Trotz verträglich in Verbänden. Dieser Umstand war offensichtlich dem Autor dieser Metapher, dem römischen Lustspieldichter Plautus (um 254--184 v. ehr.) ebensowenig bekannt wie 1800 Jahre später seinem Nachahmer Hobbes 55 • Der Gedanke ist 300 Jahre nach dem Erscheinen des "Leviathan" von Sgondi 56 in der Form wiederholt worden, daß der Mensch von einem Kainstrieb beherrscht werde, der ihn dazu dränge, seine Mitmenschen zu morden und zu quälen. Diese Auffassung ist aber, wie Irenäus Eibl-Eibesfeldt ausdrücklich betont57 , aus der Sicht des Verhaltensforschers "unhaltbar". Für die Annahme eines primären, den Menschen angeborenen Aggressionstriebs gibt es keine strengen Beweise, wohl aber eine Reihe starker Indizien. Die Mechanismen, die aggressivem Verhalten zu Grunde liegen, seien in den ältesten Hirnteilen lokalisiert, was keineswegs erstaunlich sei, da aggressives Verhalten sehr alt sei58 • Trotzdem akzeptierten und exkulpierten die Ethologen das aggressive Verhalten keineswegs als naturgegebenes, triebbedingtes Verhalten, sondern bemühten sich um das Aufzeigen der Aggressionskontrollen: "Wir haben guten Grund, die intraspezifischen Aggressionen in der gegenwärtigen historischen und technologischen Situation der Menschheit für die schwerste aller Gefahren zu halten. Aber wir werden unsere Aussichten, ihr zu begegnen, gewiß nicht dadurch verbessern, daß wir sie als etwas Metaphysisches und Unabwendbares hinnehmen, vielleicht aber dadurch, daß wir die Kette ihrer natürlichen Verursachung verfolgen. Wo immer der Mensch die Macht erlangt hat, ein Naturgeschehen willkürlich in bestimmte Richtung zu lenken, verdankt er sie seiner Einsicht in die Verkettung der Ursachen, die es bewirken. Die Lehre vom normalen, seine Art erhaltenden leistungserfül54 Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch, 1976 (dtv), S.159. 55 Vgl. Büchmanns Geflügelte Worte, 32. Aufl. S.602: homo homini lupus. 56 Gestalten des Bösen, Bern 1969. 57 FN 54, S. 161. 68
3'
FN 54, S. 105.
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I. Aufgaben der Rechtssoziologie
lenden Lebensvorgang, die sog. Physiologie, bildet die unentbehrliche Grundlage für die Lehre von seiner Störung, für die Pathologie59 ." Unter Hinweis auf diese Sätze betont Eibl-Eibesfeldt60 , es sei wohl klar genug ausgedrückt, daß Ethologen die Aggression keineswegs als unabwendbares Schicksal hinzunehmen gedächten. Kanrad LaTenz habe den Aggressionstrieb nie als "killer instinct" - einen auf die Tötung des Artgenossen abzielenden Trieb also - deformiert. Im Gegenteil habe er immer betont, daß die Aggression nie auf das Töten abziele, sondern daß dort, wo dies die Folge sein könnte, besondere Ritualisierungen (Turnierkampf, Tötungshemmungen) eben den Mord am Artgenossen verhinderten. Der Mensch kann zwar seinem biologischen Normenfilter, der zu töten verbietet, einen kulturellen Normenfilter überlagern, der zu töten gebietet. Das führt aber zu einem Normenkonflikt, den der Mensch als schlechtes Gewissen empfindet, sobald er bei Konfrontation den Feind auch als Mitmenschen wahrnimmt 61 • Das war es, was ich in meiner Schrift klar machen wollte (S. 72-74). Denn im Gegensatz zu dem juristischen geisteswissenschaftlichem Denken, das nach Grund und Folge fragt, kann nur Einsicht in die kausalen Zusammenhänge, wie sie dem naturwissenschaftlich eingestellten Verhaltensforscher eigen ist, aus den Wirkungen auf die Ursachen und umgekehrt wissenschaftliche - und keine philosophischen - Ergebnisse ermöglichen. b) Die Internalisierung neuer Wertetafeln An einer anderen Stelle seiner Rezension erklärt EveTs, es leuchte schwer ein, daß ein politisches System wie der Nationalsozialismus binnen weniger Jahre durch Indoktrination neuer Wertetafeln eine Internalisierung mit den von mir geschilderten tiefgreifenden Wirkungen für das biologische Gewissen auslösen könne, obwohl die alten Wertetafeln in einem Jahrtausende währenden Entwicklungsprozeß entstanden seien und von den Individuen nach einem Programm erworben würden, das genetisch bedingt sei und daher das Lernen durch die Struktur des Programms bedingt und gelenkt sei. Auch daß die westdeutsche Bevölkerung unter dem Eindruck des Zusammenbruchs diese Indoktrinationen in kürzester Zeit wieder abschütteln konnte, lasse vermuten, daß die von mir referierten Erkenntnisse der Verhaltenslehre noch allzu lückenhaft seien, um das Phänomen der Umwertung der Werte im Falle revolutionärer Systemveränderung hinreichend zu erklären. 59
Konrad Lorenz, Das sog. Böse, Wien, 1963, S. 47.
ao FN 54, S. 113/114. 61 Irenäus Eibl-Eibesjeldt, Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltens-
forschung, München 1975, S. 286.
1. Rechtssoziologie für Juristen
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Ich lasse dahingestellt, ob Evers die Entwicklung der "Bewegung" überhaupt miterlebt hat. Jedenfalls habe ich in meiner Schrift darauf hingewiesen, daß der uralte biologische Normenfilter durch einen kulturellen Normenfilter überlagert werden kann, was zu einem Normenkonflikt führt, den der Mensch als schlechtes Gewissen empfindet, sobald der Normenkonflikt offenbar wird. In dieser Hinsicht war der völlige Zusammenbruch 1945 und die damit verbundene Enthüllung des falschen Wegs, den man gegangen war, für die Mehrheit der Bevölkerung wohl hinreichend. Was die Frage der "Inkubationszeit" betrifft, so sollte man zur K}enntnis nehmen, wie eine Indoktrination zustande kommt. Eibl-Eibesfeldt führt dazu aus 62 , der Mensch als Fantasiewesen besitze die besondere Fähigkeit, in seinem Hirn "Wirklichkeiten" aufzubauen. Er könne sich z. B. einreden, daß die Mitglieder einer anderen Gruppe gar keine Menschen seien. Und redete er sich das oft genug ein, dann glaube er auch daran, d. h. er bildete in seinem Hirn Strukturen aus, Verknüpfungen von Ganglien oder molekulare Bindungen, auf Grund derer er die Wirklichkeit in einer subjektiv verzerrten Art wahrnehme. Seine Gedanken bewegten sich in eingeprägten Schablonen, und ein so Indoktrinierter nehme die Mitleid auslösenden Appelle der anderen nicht wahr. Bemerkenswert sei nur, daß jede Gruppe, die sich mit einer anderen aggressivauseinandersetze, nach diesem Prinzip verfahre 8s • Es mag sein, daß der Umfang meiner Kenntnisse über die Ergebnisse der Verhaltensforschung gering und lückenhaft ist. Aber damit, daß man die Richtigkeit dessen, was ich berichtet habe, bezweifelt, ohne sich die Mühe zu machen, auch nur eine einzige einschlägige Spezialarbeit aus einem dem normativ denkenden Juristen noch immer fernliegenden Bereich der naturwissenschaftlich ausgerichteten Forschung heranzuziehen, hat man nur seine Abneigung kund getan, nach tieferen Ursachen für Phänomene zu suchen, die man mit alt überkommenen theologischen oder philosophischen Glaubenswahrheiten dogmatisch erklären zu können glaubt. FN 54, 8. 101. Vgl. zu dieser Frage auch meine Ausführungen in Juristenzeitung 1980, 8. 801, 802 und als Beispiel die folgende Äußerung aus einer 88-Zeitung, die dem Buch von W. Hofer, Der Nationalsozialismus - Dokumente 1933-1945, Fischer Taschenbuch 6084, 8. 280 entnommen ist: "Der Untermensch - jene biologisch scheinbar völlig gleichgeartete Naturschöpfung mit Händen, Füßen und einer Art Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen - geistig, seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier. Im Innern dieses Wesens ein grausames Chaos wilder, hemmungsloser Leidenschaften: namenloser Zerstörungswille, primitivste Begierde, unverhüllteste Gemeinheit. Untermensch - sonst nichts! Denn es ist nicht alles gleich, was Menschenantlitz trägt." G2
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1. Aufgaben der Rechtssoziologie
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Als weiteres einschlägiges Beispiel verweise ich auf die Rezension eines Anonymus 84 • Dort wird - offensichtlich vom Standpunkt der als allein wahr und richtig geglaubten katholischen Morallehre aus gegen die auf Grund der Verhaltensforschung ermittelten ethologischen Ergebnisse nach dem Schema argumentiert, es könne nicht sein, was nach der Lehre nicht sein dürfe: Man könne wohl nicht bestreiten, daß die moralische Anlage auf Seinsinhalte hin bei allen Menschen die gleiche sei, weil man sonst im Recht den völligen Willensdeterminismus supponieren, in der Folge auch das Strafrecht rundweg abschaffen müßte. Eine geradezu abenteuerliche Behauptung, wenn man meine Ausführungen über die Kernbereichslehre (S. 24-31) und die dort zur Stützung meiner relativierenden Ansicht über die Variabilität der Moral herangezogenen Äußerungen von Leszek Kolakowsky und Hans Küng, um nur diese zu nennen, gelesen hat.
M
In: Bibliographie der Sozialethik Bd. XI (1977-1979) S. 516.
2. Rechtssoziologie im Rechtsunterricht * I. Zahlreiche Vorurteile und Fehlurteile von Soziologen und Juristen haben dazu geführt, daß die Frage der Juristenausbildung trotz aller Denkschriften, Vorschläge und Experimente in Wahrheit kaum einen Schritt vorangekommen ist. Man sieht nicht oder will nicht sehen, "daß jedes Gesetz eine gezielte Aktion des Gesetzgebers im Hinblick auf empirisch erfaßbare oder jedenfalls vorstellbare Zwecke ist, als Lenkung menschlichen Verhaltens mit Mitteln des Rechs. Dies setzt das kausaltheoretische Verständnis der Wirklichkeit voraus, weil die konsequente ZweckeinsteIlung zum Recht sich nur dann wirksam zu entfalten vermag, wenn sie in der Einsicht auf Kausalzusammenhänge aufbaut. Der Gesetzgeber kann nicht die Realisierung genau umgrenzter Zwecke in Angriff nehmen, d. h. Rechtsregeln zur Verwirklichung seiner Zielvorstellungen erlassen, wenn er sich nicht zuvor einen überblick über die Möglichkeiten ihrer Umsetzung in die soziale Wirklichkeit verschaft hat"1. Deshalb läßt eine bloß normative Theorie des Rechts, welche die soziale Funktion der Rechsnormen nicht beachtet, völlig unberücksichigt, daß das mit den Mitteln des Rechts zu bewältigende Ordnungsproblern mehrdimensional ist. Aus diesem Grunde ist auch jene Ansicht unhaltbar, welche die Rechtssoziologie zu einer Spielart der Allgemeinen Rechtslehre stempelt. Die Identifizierung der Rechtssoziologie mit einer soziologischen Theorie des Rechts ist ebenfalls zu eng, weil sie den empirischen Aspekt ausklammert, der zu jeder Spezial-Soziologie gehört und diese erst sinnvoll macht. Trotzdem geht, soweit ich die Situation zu überschauen vermag, der Trend im Gegensatz zu allen gegenteiligen Versicherungen dahin, Studium und Ausbildung auf den Idealtypus des Fallentscheidungsrichters abzustellen. Am Ende der Juristen-Ausbildung steht auch künftig2 der einseitig normativ geschulte Nur-Jurist, von dem bereits Luther gesagt hat, er sei ein armselig Ding. Wie armselig gerade heutzutage: Das könnten alle Professoren und Studenten
* Erstmals teilweise veröffentlicht in Festschrift für Rudolt Reinhardt zum 70. Geburtstag, 1972, S. 437-449. I Werner Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, Berlin 1957, S.26. 2 Ebenso Reimer Schmidt I Mantred Baum I Rudolt Mögele, Juristenausbildung - jetzt wie einst, JZ 1984, S. 364-370.
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1. Aufgaben der Rechtssoziologie
merken, wenn sie sich nur die geringe Mühe machten, die Juristen-Ausbildung jenseits der Mauer und jenseits der Grenzpfähle mit der bundesdeutschen zu vergleichen. Dies könnte allen Beteiligten, wenn sie nur wollten, die Augen öffnen: einmal dafür, daß ungeachtet der Verschiedenheit der politischen Herrschaftssysteme in der westlichen und in der östlichen Welt das Studium des Rechts nicht auf die Rechtsregeln und ihre Anwendungstechnik beschränkt bleibt, sondern das Substrat des Rechts, nämlich das Sozialleben und die es bestimmenden Faktoren geistiger, politischer und wirtschaftlicher Art mit umfaßt; zum anderen dafür, daß den philosophisch-weltanschaulichen, den soziologischen, historischen und ökonomischen Fächern in Unterricht und Prüfung der gleiche Rang eingeräumt wird wie den rein juristischen Fächern; und schließlich dafür, daß nur echte Zwischenprüfungen die Studenten zum Lernen - und sei es auch zum Auswendiglernen für diese Prüfungen in jedem einzelnen Fach - anzuhalten geeignet sind. Die Aneignung des erforderlichen Wissens ist Sache eines jeden einzelnen Studenten. Jeder mitteldeutsche, französische, amerikanische Student, der dies nicht begreift oder zu bequem oder zu unbegabt ist, erfährt dies nicht erst nach dem zehnten, sondern bereits nach dem zweiten Semester und weiß, woran er ist. Gewiß hat auch diese Art und Weise der Juristenausbildung ihre Schattenseiten und Mängel, die ich selbst sehr genau aus meiner 20jährigen praktischen Erfahrung unter einem derartigen System kenne. Aber dieses System, wie es auch immer im einzelnen gestaltet sein mag, hat einen großen und unbestreitbaren Vorzug: Dem Jünger des Rechts werden vom ersten Semester an zwei Wahrheiten deutlich gemacht: einmal daß das, was wir Recht nennen, die Rechtsordnung und der ganze Reichtum des gesellschaftlichen Daseins zusammen ist, wie es vor mehr als fünfzig Jahren Juristen vom Range eines Franz Klein und eines Eugen Ehrlich eindringlich hervorgehoben haben. Und die zweite Wahrheit: daß derjenige, der ein berufsbezogenes Studium betreibt, nicht nur für sich allein, sondern auch für die Gesellschaft studiert, in der er später einmal den Beruf ausüben will. Diese aber, welche durch die Bereitstellung erheblicher Mittel das Studium überhaupt erst ermöglicht, hat einen legitimen Anspruch darauf, daß die junge Juristengeneration eine sachgemäße, d. h. wissenschaftlich sachbezogene Schulung durchmacht und mit einem entsprechenden Ethos, d. h. mit einem sittlichen Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft und gegenüber jedem einzelnen Menschen, den Juristenberuf auszuüben bereit und in der Lage ist.
2. Rechtssoziologie im Rechtsunterricht
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IL Um Tragweite, Bedeutung und Sinn einer Rechtsnorm, einer rechtlichen Institution, einer Vertragsklausel, einer Verwaltungsverfügung, einer gerichtlichen Entscheidung und dergl. richtig bestimmen zu können, muß man sie in Beziehung setzen zu demjenigen Gesellschaftsintegrat, innerhalb dessen sie in irgendeiner Weise bedeutsam sein sollen, d. h. dazu bestimmt sind, soziale Folgen oder Wirkungen bestimmter oder bestimmbarer Art hervorzurufen oder zu verhindern. Denn mit dieser Absicht werden Rechtsgesetze vom Parlament verabschiedet, rechtliche Institutionen geschaffen, Verträge abgeschlossen, Verwaltungsverfügungen erlassen, richterliche Entscheidungen gefällt. Das gesamte, heute-hier-so geltende Recht, als soziales Gesamtphänomen betrachtet, dient der Steuerung und Regulierung sozialer Sachverhalte, d. h. solcher durch äußerliche Merkmale bestimmbarer Zustände und Verhältnisse, die für die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb eines konkreten Gesellschaftsintegrats als rechtserheblich angesehen werden 3• Jeder soziale Sachverhalt, den man zwecks rechtliche Regelung oder rechtlicher Beurteilung mit Hilfe bestimmter Merkmale typisieren und auf diese Weise künstlich isolieren kann, ist in Wirklichkeit eingebettet in die Gesamtheit des sozialen Geschehens, muß also stets unter diesem Gesichtspunkt gewürdigt werden. Entsprechend ist jedes Gesetz, jede einzelne Rechtsnorm, jede Rechtseinrichtung, jeder Vertrag, jede Verwaltungsverfügung, jede gerichtliche Entscheidung, auch wenn sie von allen anderen Rechtsakten individuell unterscheidbar ist, ihrerseits eingebettet in die Gesamtrechtsordnung des konkreten Gesellschaftsintegrats, muß also ebenfalls unter diesem Gesichtspunkt gewürdigt werden. Die rechtliche Regelung eines jeden sozialen Sachverhalts sowohl in abstracto als auch in concreto ist Ausdruck der gesamten Lebensbedingungen eines konkreten Gesellschaftsintegrats, d. h. der in ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt wirksamen religiösen, moralischen und geistigen 3 Auf diesen in der rechtsvergleichenden und rechtssoziologischen Theorie allzuleicht übersehenen Umstand, daß die in einem Lande wissenschaftlich ermittelten sozialen Fakten, Verhältnisse und Beziehungen und ihre rechtliche Regelung als solche nicht ohne weiteres verallgemeinert werden dürfen, wird mit Recht auch von Zwingmann in seiner Rezension (KZfS 1971, 166 ff.) des von mir und Manfred Rehbinder herausgegebenen Sonderheftes der KZfS "Studien und Materialien zur Rechtssoziologie" (Köln und Opladen 1967) mehrfach hingewiesen. So heißt es z. B. auf S. 169 r, Spalte: "Bei allen ausländischen Beiträgen erweist sich die Schwierigkeit, diese auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Regelmäßig gehen sie von für uns fremden Rechtsvorstellungen aus, die bei näherem Zusehen von der andersartigen Struktur des Rechtsbetriebes herrühren,"
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I. Aufgaben der Rechtssoziologie
Strömungen, der politischen Herrschaftsverhältnisse und der geographischen, demographischen, ökonomischen und sonstigen materiellen Gegebenheiten. Diese Faktoren determinieren die faktisch (real) vorhandenen, irgendwie individualisierbaren und meßbaren Beeinflussungsund Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den miteinander lebenden Menschen. Die hierdurch bedingte wechselseitige Bezogenheit des menschlichen Verhaltens in der Gesellschaft, die von Theodor Geiger sogenannte Koordination des Gebarens, ist kein fixer Zustand, sondern das dauernd wechselnde und sich bald stärker, bald schwächer verändernde Ergebnis eines sozialen Prozesses. Dieser soziale Prozeß spielt sich unaufhörlich sowohl innerhalb eines jeden Gesellschaftsintegrats als auch im Verhältnis der verschiedensten Gesellschaftsintegrate zueinander ab und wird durch den Antagonismus der miteinander ringenden sozialen Kräfte hervorgerufen und in Gang gehalten. Als Steuerungs- und Regulierungsinstrument muß und kann das Recht den tatsächlichen Gegebenheiten des konkreten Gesellschaftsintegrats angepaßt werden. Je besser dies gelingt, um so sicherer kann erwartet werden, daß das Sozialleben auch faktisch so abläuft, wie es nach der Rechtsordnung ablaufen soll. Aus der wechselseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung einerseits der realen Gegebenheiten, welche auf den Ablauf des Soziallebens eines konkreten Gesellschaftsintegrats einwirken, andererseits der Bemühungen um Durchsetzung der als verbindlich postulierten Rechtsnormen ergibt sich bald eine Konkordanz, bald eine Divergenz von Faktizität und Normensystem. Aus dem geringeren oder größeren Grad der Konkordanz bzw. Divergenz läßt sich ablesen, ob dieses Interdependenzproblem zwischen sozialem Sachverhalt und rechtlicher Regulierung von Anfang an hinreichend und zutreffend beachtet und, was wegen des oben erwähnten Dauerprozesses der sozialen Veränderungen ebenso wichtig ist, im Hinblick auf etwa notwendige Korrekturen oder Reparaturen immer wieder gestellt und sachentsprechend gelöst worden ist. Die bisherigen theoretischen Ausführungen beruhen auf empirisch festgestellten und nachprüfbaren Erfahrungen, welche im Laufe der Geschichte mit der rechtlichen Regulierung sozialer Sachverhalte gemacht worden sind. Das "Laboratorium" des Rechtssoziologen, wenn ich so sagen darf, bildet die Menschheitsgeschichte, soweit darin rechtliche Regulierungsversuche sozialer Sachverhalte erkennbar sind; eine Feststellung, deren Richtigkeit in dem bereits vor mehr als 200 Jahren erschienenen Werk "De l'Esprit des Lois" von Montesquieu hinreichend bewiesen wird. Etwaige Gesetzmäßigkeiten der wechselseitigen Abhängigkeit von Sozialleben und rechtlicher Regulierung zu erforschen und zu beschreiben: dies ist - jedenfalls nach meiner Meinung - die
2. Rechtssoziologie im Rechtsunterricht
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Hauptaufgabe der Rechtssoziologie, wenn sie nicht den praktischen Endzweck des akademischen Rechtsstudiums verfehlen will 4 • Studium der Rechtswissenschaft an einer Universität (§ 5 DRiG) bedeutete deshalb für mich als akademischen Lehrer die Verpflichtung, neben der normativen Seite auch die anderen Bezüge des Phänomens "Recht" meinen Hörern nahezubrngen. Nach meiner Meinung läßt die Berücksichtigung des nach kausalen oder funktionalen Implikationen alogisch ablaufenden Soziallebens neben dem streng logisch aufgebauten normativen Rechtssystem den Studenten von Anfang an erkennen, daß das heute-hier-so in Geltung gesetzte und zur Anwendung kommende Recht nicht etwas Absolutes, sondern etwas Relatives ist, d. h. sich auf ein heute-hier-so strukturiertes und verfaßtes Gesellschaftsintegrat bezieht. Und dies in dreifacher Hinsicht: Einmal hinsichtlich des konkreten Gesellschaftsintegrats, das als Substrat gegeben sein muß, damit eine bewußte Regulierung des Soziallebens durch eine positive rechtliche Ordnung sinnvoll ist; zum anderen im Hinblick darauf, daß die rechtliche Ordnung den Bestand des konkreten Gesellschaftsintegrats garantieren soll; und schließlich hinsichtlich des oft übersehenen Umstandes, daß eine rechtliche Ordnung auf die materiellen und immateriellen Lebensbedingungen des konkreten Gesellschaftsintegrats zugeschnitten sein muß, um diejenigen Ziele zu erreichen, welche nach dem maßgebenden Willen des höchsten Gewaltinhabers angesteuert und erreicht werden sollen. Bei einer derartigen Betrachtungsweise des Rechts wird schon dem juristischen Anfänger klar gemacht, daß das nicht allein, aber sehr wesentlich durch das Recht und seine Anwendung hervorgerufene, als "Sicherheit und Ordnung" bezeichnete soziale Gleichgewicht ein dynamisch-labiles ist. Auch bei Aufrechterhaltung der äußeren Sicherheit und Ordnung innerhalb des konkreten Gesellschaftsintegrats handelt es sich nicht um einen "Zustand", sondern um einen unaufhörlichen sozialen "Prozeß", der vereinzelt und gelegentlich zu individuellen oder kollektiven Störungen von Sicherheit und Ordnung führt, in der Regel aber den Rahmen des sozialen Ordnungsgefüges nicht sprengt. Diese evidente Einsicht in die Relativität, d. h. in die Sozialbezogenheit alles Rechtlichen, hat mit dem philosophischen Relativismus oder gar Nihilismus nichts zu schaffen. Es bleibt jedem , In Abwandlung eines Wortes Rudalph v. Jherings aus dem Jahre 1884 über die damalige Jurispnldenz könnte man sagen: "Das meiste von demjenigen, was die heutige Rechtssoziologie auf dem Wege einer eingehenden Kritik und Analyse der soziologischen Grundbegriffe zutage gefördert zu haben glaubt, ist für Unterrichtszwecke nicht zu verwenden. Der Aufwand geistiger Kraft, welche die Wissenschaft in dieser Richtung aufgeboten hat, hat sich m. E. noch nicht einmal für die Schule bezahlt gemacht. Wo soll er sich dann bezahlt machen, wenn weder für das Leben, noch für die Schule? Ich finde keine andere Antwort als: nur für diejenigen, welche an derartigen Untersuchungen Vergnügen finden."
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1. Aufgaben der Rechtssoziologie
unbenommen, die Absolutheit dieses oder jenes höchsten Wertes zu behaupten und zu verfechten oder zu verneinen und abzulehnen, eine gegnerische Auffassung zu bekämpfen oder einen neuen höchsten Wert zu postulieren. Aber höchste Werte sind nicht identisch mit irgendeiner rechtlichen Ordnung, sie beeinflussen nur - zusammen mit anderen Faktoren - deren jeweiligen Inhalt. Gerade wenn man gegenüber der auf eine bestimmte Weltanschauung als absoluten Wert festgelegten totalitären Juristenschulung in den Ostblockländern den einer freiheitlichen demokratischen Verfassung angemessenen Pluralismus der Weltanschauungen und Werte anerkennt, muß man den Studenten auch den Sinn dafür öffnen, daß dieser Pluralismus zahlreiche Möglichkeiten unterschiedlicher Rechtsgestaltung eines und desselben sozialen Sachverhalts erlaubt und zur Folge hat. Dieses war das Ziel meiner vier Versuche, die Rechtssoziologie dem Rechtsunterricht nutzbar zu machen. III. 1. Nach zehnjähriger Tätigkeit als Inhaber des Lehrstuhls für das gesamte Land- und Seehandelsrecht an der Universität Istanbul folgte ich im Jahre 1943 einer Einladung der Rechtsfakultät in Ankara und übernahm dort neben dem handels rechtlichen Lehrstuhl auch den neu errichteten für Rechtsphilosophie. Auf meine Veranlassung hin wurde in den Lehrplan für das dritte Studienjahr eine wöchentlich dreistündige Vorlesung "Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie" aufgenommen und als volles Prüfungsfach für die Jahresabschlußprüfung anerkannt. Diese Vorlesung, die ich von 1945 an bis zu meiner Berufung an die Freie Universität Berlin (1952) regelmäßig abhielt, gliederte sich in drei Teile: Allgemeine Rechtslehre, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, die ihrem Umfange nach im Verhältnis von 1/6 zu 3/6 zu 2/6 standen. Der rechtssoziologische Teil zerfiel in vier Abschnitte, dessen erster als Einführung einen allgemeinen überblick gab über die Entstehung und Entwicklung der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin. Der zweite Abschnitt befaßte sich mit dem wissenschaftlichen Charakter, der Aufgabe, dem Gegenstand und der Methode speziell der Rechtssoziologie. Der dritte Abschnitt war der reinen oder theoretischen Rechtssoziologie gewidmet und behandelte die im Vergleich zur normativen Rechtswissenschaft abweichenden Besonderheiten terminologischer, typologischer und perspektivischer Art der soziologischen Denkweise. Auf dieser Grundlage wurde die "Rechts realität" dargestellt, wobei die dafür maßgebenden konstanten und variablen Faktoren des Soziallebens analysiert wurden. Der vierte Abschnitt zeigte an einigen wichtigen Beispielen das Ziel der sog. angewandten oder praktischen Rechtssoziologie.
Die didaktische Aufgabe, die ich durch diesen Aufbau der Vorlesung zu lösen versuchte, bestand vor allem darin, den im islamisch-orientali-
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schen Milieu aufgewachsenen und mit dem westlichen Kulturgut nicht oder nur wenig vertrauten türkischen Studenten die in diesem Kulturgut wurzelnden Prinzipien des aus der Schweiz, aus Deutschland, Frankreich und Italien in Gesetzesform übernommenen rechtlichen Gedankenguts entwicklungsgeschichtlich und wertrational zu erläutern. Es ging mir darum, den türkischen Jurastudenten am Beispiel dieser zur Erneuerung und Reformierung des türkischen Rechts- und Soziallebens eingeleiteten Rezeption die Gesellschaftsbezogenheit des positiven Rechts, d. h. die Interdependenz von Sozialleben und Recht, vor Augen zu führen. Bereits im rechtsphilosophischen Teil der Vorlesung konnte ich auf die Situationsbedingtheit philosophischer Lehrmeinungen über den Begriff und die Idee des Rechts, über die Gerechtigkeit und das Naturrecht hinweisen. Deshalb ließ sich die Rechtssoziologie im Anschluß an die sozialphilosophische Gedankenwelt der Aufklärungszeit und des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig einfach in die Systematik der Vorlesung einbauen. Der didaktische Kunstgriff, den ich dabei anwandte, bestand darin, die verschiedenen philosophischen und soziologischen Doktrinen sowohl mit den in Geltung gesetzten türkischen Gesetzen als auch mit der von diesen mehr oder weniger abweichenden türkischen Rechtsrealität zu konfrontieren. Auf diese Weise gelang es mir, den Studenten die doppelte Idealität des Rechts einerseits, die Realität des Rechts andererseits begreiflich zu machen. Anfängliche Verständigungsschwierigkeiten waren darauf zurückzuführen, daß die Studenten Römisches Recht, Strafrecht, Personen- und Familienrecht als in sich geschlossene logische Normensysteme bereits gehört und in diesen Fächern die Prüfung mit Erfolg abgelegt hatten. Sie waren mit dem ihnen übergeworfenen Normennetz, das sie dank seiner Logik auch für sachlich angemessen und richtig hielten, gleichsam wie mit geistigen Fesseln gebunden. Deshalb verstanden sie zunächst gar nicht die Fragestellung, ob diese oder jene gesetzliche Regelung dem "Naturrecht" oder den konkreten Verhältnissen und Bedürfnissen der Türkei angemessen sei oder nicht. Der Weg führte also von den typisch juristischen Denkansätzen und Begriffen, welche den Studenten in den ersten beiden Studienjahren - wenn auch unbewußt und unreflektiert - geläufig geworden waren, über die für das Recht bedeutsame Welt der Werte zu den das Recht in seinem So-Sein bedingenden Fakten. Ein Student, der dieser Vorlesung gefolgt war, hatte nicht nur Definitionen und Theorien, philosophische Reflexionen und Systeme, Namen großer Denker und ihrer Werke in sich aufgenommen, sondern darüber hinaus auch gelernt, die gesellschaftliche Bezogenheit aller rechtlichen Phänomene und der zu ihrer Rechtfertigung vorgebrachten rationalen Argumente oder irrationalen Glaubenswahrheiten zu beachten und weder die Postulate des sog.
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Naturrechts noch die Regeln des positiven Rechts als absolute, von Zeit und Ort unabhängige Wahrheiten logischen Charakters hinzunehmen. Nach den Ergebnissen zu urteilen, welche in den Jahresschlußprüfungen erzielt wurden, hat die Vorlesung den von mir beabsichtigten Zweck erreicht, durch Darstellung der philosophischen Lehrmeinungen und soziologisch relevanten Faktoren, auf denen das Recht ruht, das allgemeine Kulturniveau der Jurastudenten zu heben". 2. Einen anderen Weg, Rechtssoziologie zu lehren, mußte ich an der Freien Universität Berlin gehen, deren Juristische Fakultät als erste die Vorlesung "Rechtssoziologie" im Jahre 1953 in ihren Lehr- und Vorlesungsplan aufgenommen hatte. Die Ursache lag in der Situationsbedingtheit nicht nur des positiven Rechts, sondern vor allem seiner Lehr- und Prüfungsmethoden. Diese unterschieden sich sehr erheblich von den auf französische Vorbilder zurückgehenden türkischen Lehrund Prüfungsvorschriften: Während nach diesen am Schlusse eines jeden Studienjahres Abschlußprüfungen über alle im Studienjahr abgehaltenen Vorlesungen mit eliminatorischer Wirkung stattfinden, bei denen der akademische Lehrer zugleich auch der Prüfer ist, gibt es derartige Zwischenprüfungen im bundes deutschen Raum bis heute noch nicht. Die Jahresabschlußprüfungen in der Türkei dienen der Feststellung, ob der Student die notwendigen Kenntnisse erworben hat, um den Anforderungen der Lehrveranstaltungen der nächst höheren Klasse gewachsen zu sein bzw. als wissenschaftlich ausreichend vorgebildet von der Universität entlassen zu werden. In der Bundesrepublik dagegen umfaßt die erte juristische Prüfung den gesamten Rechtsstoff. Sie ist keine Universitätsabschlußprüfung, sondern eine Justizeingangsprüfung und dient deshalb der Feststellung, ob der Kandidat für den Vorbereitungsdienst in der Praxis des Rechtslebens geeignet erscheint. Der Hauptakzent und, von der Beurteilung der Prüfungsleistungen aus betrachtet, das ausschlaggebende Gewicht liegt bei den positiv-rechtlichen Hauptfächern. Die natürliche Folge dieses Zustandes ist leicht verständlich: Die Lehrveranstaltungen über Fachbereiche, die nicht normativdogmatisch auf das positive Recht ausgerichtet sind, werden von den Studenten in dem Maße ignoriert, in welchem sie in den Prüfungen gering geschätzt oder ganz vernachlässigt werden. Bei dieser Sachlage war und ist einer Spezialvorlesung über Rechtssoziologie im Rahmen des Vorlesungsprogramms einer Juristischen Fakultät das gleiche Los beschieden wie den Vorlesungen über Rechtsphilosophie oder Rechtsgeschichte. Sie finden nur einen relativ kleinen Hörerkreis, selbst wenn sie als Pflichtvorlesungen gelten und von allen 5 Diese Vorlesung ist in tÜrkischer Sprache unter dem Titel HUKUK FELSEFESI ve HUKUK SOSYOLOJISI DERSLERI (Ankara 1949) erschienen.
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Studenten pro forma "belegt" werden. Die Vorlesung über Rechtssoziologie kann nur mit denjenigen Studenten rechnen, die nicht lernökonomische Prüfungserwägungen anstellen, sondern echtes wissenschaftliches Interesse haben. In der Regel handelt es sich um Studenten in höheren Semestern, bei denen man bereits fundierte Rechtskenntnisse voraussetzen darf. Jedoch galt die Vorlesung in Berlin zugleich als Spezialvorlesung für diejenigen Studenten, welche Soziologie im Hauptfach studieren und in der für dieses Fach vorgesehenen Diplomprüfung Rechtssoziologie als eines der möglichen Gebiete der sog. speziellen Soziologie (wie z. B. Familiensoziologie, Religionssoziologie, Betriebssoziologie) wählen konnten. Die Studenten im Hauptfach Soziologie haben in der Regel überhaupt keine juristische Vorlesung gehört. Ihre Vorstellung von der Beschaffenheit und der Funktion des Rechts und der Rechtseinrichtungen sind laienhaft und oft noch überdies durch Ressentiments und Emotionen fehlgeleitet. Für sie ist das Phänomen "Recht", wissenschaftlich und didaktisch betrachtet, ein Buch mit sieben Siegeln. Sollen trotzdem auch diese Studenten von der Vorlesung über Rechtssoziologie profitieren, so muß man ihnen einen Elementarunterricht über juristische Begriffe und die typisch juristischen Denkweisen erteilen, bevor sie die soziologischen Fragestellungen hinsichtlich des Verhältnisses von Recht und Gesellschaft überhaupt begreifen. Der akademische Lehrer muß sich also dauernd vergewissern, ob die Terminologie, die er gebraucht, und die Rechtsinstitute, von denen er spricht, auch von den Studenten der Soziologie richtig verstanden werden, und, was in der Regel notwendig ist, die erforderlichen Aufklärungen geben. Durch diese Ausgangssituation wurde der Aufbau meiner an der Freien Universität Berlin alljährlich im Wintersemester wöchentlich zweistündig abgehaltenen Vorlesungen über Rechtssoziologie bestimmt. Aus dem im Druck vorliegenden "Aufriß"8 dieser Vorlesung ist zu ersehen, daß in den Kapiteln I-VI das wissenschaftliche Fundament gelegt wird, auf dem allein sowohl für die Jurastudenten als auch für die Studierenden der Soziologie die rechtssoziologischen Fragestellungen sinnvoll erklärt werden können. Erst auf dieser Grundlage wird die Interdependenz von Recht und Sozialleben unter den beiden wesentlichen Gesichtspunkten behandelt: nämlich das Recht einerseits als Regulator, andererseits als Funktion des Soziallebens. Dieser "Aufriß" einer Vorlesung über "Rechtssoziologie" sollte als Beispiel dafür dienen, daß eine derartige Lehrveranstaltung möglich ist, und den Anlaß zu einer didaktischen Auseinandersetzung darüber bieten, wie man eine derartige Vorlesung am zweckmäßigsten anlegt. In den mir bekanntgewordenen Besprechungen wird zwar der Aufriß in der Regel erwähnt, ohne daß zu ihm in I Als selbständige Broschüre unter dem Titel "Rechtssoziologie. Aufriß einer Vorlesung" 1966 erschienen.
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didaktischer Hinsicht Stellung genommen wird. Nur in einer Rezension wird darauf hingewiesen, daß der "Abriß"7 für sich allein nicht überall gut verständlich sei, aber gewinne, wenn man ihn mit dem 1967 von mir und Man/red Rehbinder herausgegebenen Sammelband "Studien und Materialien zur Rechtssoziologie" zusammennehme. Soweit ich selbst über den Erfolg meiner Bemühungen ein Urteil habe gewinnen können, läuft es darauf hinaus, daß ein kleiner Teil der Juristen an der Thematik so sehr interessiert war, daß er in meinem Seminar für Rechtssoziologie die in der Vorlesung gewonnenen Kenntnisse zu vertiefen bemüht war, was dann sogar zu einigen Doktorarbeiten geführt hat. Dagegen scheint die Vorlesung bei den Studenten der Soziologie nicht angekommen zu sein. Zwar haben einige Hörer dieser Fachrichtung ebenfalls mein Seminar besucht. Aber nicht ein einziger hat in den soziologischen Diplomprüfungen "Rechtssoziologie" als Prüfungsfach gewählt, geschweige denn mit einer Arbeit über ein rechtssoziologisches Thema promoviert. Die große Masse der Jurastudenten hat die Vorlesung zwar pro forma belegt, weil ohne diese Formalität kein Kandidat zur ersten Staatsprüfung zugelassen wurde, ist aber der Vorlesung ferngeblieben, um sich statt dessen lieber die für die Prüfung erforderlichen Kenntnisse des positiven Rechts eintrichtern zu lassen. 3. Bei einem dritten Versuch bemühte ich mich, rechtssoziologisches Verständnis bei möglichst allen Studenten zu wecken, ohne sie zu dem Besuch der Spezialvorlesung zu veranlassen. Als mir 1953 an der Freien Universität Berlin die Aufgabe zufiel, die Studenten der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät in das auch für ihr Fachstudium grundlegende Gebiet des Bürgerlichen Vermögensrechts einzuführen, sah ich mich in der sehr reichhaltigen Unterrichts-Literatur zum Bürgerlichen Recht nach einem geeigneten Hilfsbuch um. Da alle Lehrbücher und Grundrisse des Bürgerlichen Rechts nach Anlage und Zweck rein dogmatisch-technisch für das Studium der Juristen aufgebaut und bestimmt sind, entschloß ich mich zu einem anderen Weg. Ich erinnerte mich an die Diskussion auf dem ersten Deutschen Soziologentag im Jahre 1910 über die Frage, "ob für den rein praktischen Rechtsunterricht an den sog. Fachhochschulen" die rechtssoziologische Methode gegenüber der rein rechtsdogmatischen Methode den Vorzug verdiene, um, wie es Kantorowicz formuliert hat8 , "getreu dem synthetischen 7 Ich habe bewußt das Wort "Aufriß" im übertragenen Sinne einer didaktischen Projektion gewählt, weil der Ausdruck "Abriß" die kurze Darstellung eines Wissenszweiges bedeutet hätte, was ich weder geben wollte noch konnte. Ein derartiger "Abriß" ist mittlerweile als selbständiges Kapitel "Rechtssoziologie" in der 2. Auflage des von Gottfried Eisermann herausgegebenen Werkes "Die Lehre von der Gesellschaft" (Stuttgart 1969, S. 147-217) erschienen.
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Geist der Soziologie überhaupt die Lebensverhältnisse in ihrer ungebrochenen Einheit darzustellen". Allerdings war ich mir auch der Gefahren bewußt, die einem Methodendualismus innewohnen. Der richtige Weg schien mir der von Kantorowicz 9 empfohlene kritische Weg zu sein, "der sich gleich weit entfernt hält von der alten Buchstaben-Jurisprudenz, die den Tatsachen des Lebens überhaupt keine Bedeutung schenkt, alle Jurisprudenz als totes Rechnen mit starren Begriffen auffaßt, und von modernen Übertreibungen, die den Charakter der Jurisprudenz als einer Normwissenschaft verkennen". So entstand im Jahre 1956 die "Einführung in das Bürgerliche Vermögensrecht für Studierende der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften". In dem Vorwort zur 1968 erschienenen und gemeinsam mit Klemens Pleyer vorbereiteten vierten Auflage lO heißt es, daß das Büchlein nun auch für junge Juristen geeignet sei, "denen die Zusammenhänge zwischen den Rechtsnormen und dem Sozial- und Wirtschaftsleben klarzumachen zu einer wissenschaftlichen Notwendigkeit geworden ist". Dementsprechend muß der Student von Anfang an einige Gesichtspunkte beherzigen, auf die er ausdrücklich hingewiesen wird. Den Hörern und Lesern werden u. a. folgende Sätze "ins Stammbuch" geschrieben: ,,1. Das Recht dient der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen.
Seine Normen sind notwendig allgemein und abstrakt, jedoch praktisch bedeutsam nur für den konkreten, individuellen Sachverhalt.
2. Jeder zum Zwecke der rechtlichen Beurteilung künstlich isolierte Sachverhalt ist in Wirklichkeit eingebettet in die Gesamtheit des sozialen Geschehens, darf also nur unter diesem Gesichtspunkt gewürdigt und beurteilt werden. (Ein Kaufvertrag über 1 Pfund Butter in West-Berlin und in Ost-Berlin ist jeweils ein anderer sozialer Sachverhalt.) 3. Jeder Rechtssatz, der auf einen sozialen Sachverhalt Anwendung findet, ist eingebettet in die Gesamtheit der Rechtsordnung und muß unter diesem Gesichtspunkt ausgelegt werden ... 4. Zweck und Tragweite eines Rechtssatzes zeigen sich bei seiner Anwendung auf einen Sachverhalt des Soziallebens, Wesen und Sinngehalt innerhalb des wissenschaftlichen Rechtssystems." 8 Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, herausgegeben von Thomas Würtenberger, Karlsruhe 1962, S.137. • FN 8, S. 139. 10 1. Aufl., Berlin 1957; 6. Aufl., München 1975.
4 Hirsdl
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Die Auswahl und Anordnung des Stoffes weicht bewußt von dem üblichen Schema ab: a) Der Stoffkreis "Bürgerliches Vermögensrecht" wird nicht durch juristische, sondern durch soziologische Kriterien abgegrenzt. In der Einführung zum ersten Kapitel heißt es u. a.: "Nach dem bekannten Wort des Aristoteles ist der Mensch von Natur aus ein soziales, d. h. ein nur innerhalb menschlicher Gesellschaft existenzfähiges Lebewesen. Menschliche Gesellschaften können enger und weiter sein. In jeder Gruppe, gleichgültig ob Familie, Horde, Staatsvolk, Verein oder dergl. führt das Zusammenleben von Menschen zum Sozialleben. Jedem Sozialleben ist das Bedürfnis nach Ordnung immanent. ,Geselliges Leben und soziale Ordnung bedingen sich gegenseitig und sind notwendigerweise simultan' (Th. Geiger). Jede Gesellschaft fordert eine Ordnung der Gewaltverhältnisse und der Tätigkeitsverhältnisse (Gewaltenordnung = Zuständigkeitsregelung = Verfassung; Handelnsordnung = Tätigkeitsregelung = Regelung menschlichen Verhaltens). Die soziale Ordnung beruht auf dem Funktionieren verschiedener Ordnungsmechanismen. Zu diesen gehört auch das Recht . .. . Das Verhältnis von Recht und Wirtschaft ist nicht, wie Marx in seinem Gleichnis vom Überbau meinte, einseitige, sondern wechselseitige Abhängigkeit (Interdependenz) ... Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, leuchtet ohne weiteres ein, daß das sog. ,Vermögens recht' als der Inbegriff aller Rechtsregeln, welche sich auf das Verhältnis von Menschen zu wirtschaftlichen Werten beziehen, zwar einen notwendigen Teil der Rechtsordnung einer jeglichen Gesellschaft bildet, ohne Rücksicht darauf, wie sie strukturiert und organisiert ist. Aber ein "bürgerliches" Vermögensrecht ist in einer ständischen, sozialistischen, kommunistischen Gesellschaft nicht möglich, sondern nur in einer "bürgerlichen Gesellschaft" in dem Sinne, wie dieser Begriff im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte, beginnend mit Ferguson, Adam Smith, über Hegel, L. v. Stein, Marx, Riehl u. a. entwickelt worden ist. Deshalb ist Kenntnis der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und der zeitgenössischen Wirtschafts- und Sozialstruktur für das Verständnis des heutigen Rechtszustandes unentbehrlich." b) Bei der Anordnung des Stoffes wird die enge Verknüpfung von Recht und Gesellschaft dadurch hervorgehoben, daß jede rechtlich organisierte Kollektiveinheit als "Rechtsgemeinschaft" qualifiziert wird, die in "ihrer" Rechtsordnung lebt. c) Auch die Gliederung des Stoffes weicht sowohl von der Legalordnung als auch von der in der Rechtswissenschaft üblichen Systematik ab. Nach der jedem Kapitel vorangestellten "Soziologischen Einfüh-
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rung" folgt ein in knappster Form gehaltener "Leitsatz", der nicht mehr geben will als die allgemeine Marschrichtung für die dann folgende in sechs Kapitel eingeteilte Darstellung. Diese befaßt sich zunächst mit der Stellung des Menschen (bzw. einer Kollektiveinheit) als "Person" im Rechtssinne; alsdann mit dem rechtserheblichen Verhalten, ein Kapitel, in welchem sowohl die Rechtsgeschäftslehre (unter Ausschluß der Willenserklärung und des Vertrags) als auch die Rechtsmißbrauchs- und Schadensersatzlehre ihre Aufnahme finden. Das Kapitel "Sachenrecht" behandelt außer der Güterordnung die als Ausgleichsordnung qualifizierte Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung. Nach einem sehr kurzen Kapitel über die vermögensrechtlich bedeutsamen Bestimmungen des Familien- und Erbrechts folgt das sehr ausführliche Kapitel über "Schuldverhältnisse". Dieses bringt zunächst die allgemeine Grundlegung und die Vertragsfreiheitslehre sowie das Problem der faktischen Rechtsverhältnisse, dann die Lehre von der Willenserklärung, der Stellvertretung und dem Vertrag. Es folgt das Allgemeine Schuldrecht, wobei das Umsatzgeschäft immer im Blickfeld steht, so daß auch bei den Leistungsstörungen die Sach- und die Rechtsmängelhaftung beim Kauf mitbehandelt werden. Das Kapitel schließt mit einer Klassifizierung der Vertragstypen, deren typische Merkmale und Besonderheiten kurz aw gedeutet werden, und der Behandlung der Geschäftsführung ohne Auftrag. Im letzten Kapitel werden die Kreditsicherungsgeschäfte unter einheitlichen Gesichtspunkten dargestellt, wobei nicht nur die an den verschiedensten Stellen des BGB gesetzlich geregelten Typen, sondern auch die praeter oder contra legern im Verkehr rechtlich anerkannten Formen der Sicherungsübereignung, des Eigentumsvorbehalts in seinen verschiedenen Nuancen und dergl. berücksichtigt werden. d) Angesichts des mir hier zur Verfügung stehenden knappen Raumes muß ich interessierte Leser, die sich einen Eindruck von der gewählten Darstellungsweise verschaffen wollen, auf das Büchlein selbst verweisen. Soweit mein Versuch, im Rahmen einer Vorlesung über positives Recht die Sozialbezogenheit des Rechts und die Rechtsbezogenheit des Soziallebens für den Bereich des Bürgerlichen Vermögensrechts den Studierenden der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und den juristischenAnfängern klarzumachen. Zu diesem Versuch liegt aus soziologischer Sicht überhaupt keine Meinungsäußerung vor. Aus juristischer Sicht sind mir drei Stellungnahmen bekannt geworden l l , welche den von mir gemachten Versuch übereinstimmend sehr positiv bewerten. Zur 1. Aufl. durch Schultze-v. Lasaulx, JZ 1957, 455; zur 2. Aufl. durch in der Laudatio zu der mir gewidmeten Ehrengabe der UFITA "Persönlichkeit und Technik im Lichte des Urheber-, Film-, Funkund Fernsehrechts" (Schriftenreihe der UFITA, Heft 26, Baden-Baden 1963); zur 4. Aufl. durch Fritz Sturm, JR 1969 Heft 8. 11
Hans earl Nipperdey
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über den Lehrerfolg kann ich keine präzisen Angaben machen. Bei einem Vergleich zwischen den Leistungen der Juristen in der ersten juristischen Staatsprüfung mit den Leistungen der Studierenden der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in der für diese vorgesehenen Diplomprüfung habe ich den Eindruck gewonnen, daß rechtssoziologische Fragen bei den Juristen höchst unbeliebt sind und in der Regel gar nicht verstanden werden, während die Kandidaten aus dem Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in dieser Hinsicht durchaus ansprechbar sind. Dies mag damit zusammenhängen, daß diese Studenten von vornherein damit rechnen mußten, von mir geprüft zu werden, während diese Möglichkeit von den Rechtskandidaten aus den bereits erwähnten Gründen nicht als Risiko einkalkuliert zu werden brauchte 4. Den vierten Versuch, die Rechtssoziologie entsprechend ihrem Charakter als Grundlagen/ach im Rechtsunterricht zur Geltung zu bringen, machte ich in der Vorlesung "Einführung in die Rechtswissenschaft". Sie war für Juristen, Wirtschaftswissenschaftler, Politologen und Publizisten bestimmt und gehörte ebenso wie die "Einführungsvorlesungen" anderer Wissenschaftszweige zu den didaktisch schwierigsten Aufgaben. Will man dem Studienanfänger eine feste und sichere Grundlage für das wissenschaftliche Studium des Rechts bieten, so scheint mir eine kritische Klärung dessen, was man als "Berufsbild" des Juristen bezeichnen kann, didaktisch der am besten geeignete Ausgangspunkt zu sein. Die Studenten einer Juristischen Fakultät wollen später einmal einen der juristischen Berufe ergreifen, für deren Ausübung die "Befähigung zum Richteramt" die notwendige Voraussetzung bildet. Studenten anderer Fakultäten steuern zwar auf einen anderen Beruf hin, benötigen aber zu dessen Ausübung ebenfalls juristische Grundkenntnisse. Deshalb müssen die Studenten beider Kategorien zunächst einmal darüber unterrichtet werden, aus welchen Gründen es eines Studiums der Rechtswissenschaft an einer Universität bedarf, um später einen so praktischen und praxisnahen Beruf wie denjenigen eines Juristen ausüben zu können. Bereits diese Fragestellung ist rechtssoziologisch, weil die Beantwortung nur auf der Grundlage der wechselseitigen Bezogenheit von "Recht" und "Gesellschaft" erfolgen kann. Ist dem Anfänger auf diese Weise die gesellschaftliche und politische Bedeutung jeder rechtlichen Regelung für die Vorbildung und Ausbildung künftiger Juristen und damit implicite die Einbettung seines individuellen Fachstudiums in das Sozialleben und in die für dieses maßgebende Rechtsordnung klar geworden, so begreift er auch, daß man das Phänomen "Recht" nicht isoliert für sich betrachten kann und darf, sondern es nur im Zusammenhang mit allen für dieses soziale Phänomen relevanten anderen sozialen Erscheinungen "begreifen" kann. Eine echte "Einführung in die Rechtswissenschaft" muß demnach zunächst um die Klärung
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des "Rechts" als eines den menschlichen Gesellschaften eigentümlichen Phänomens bemüht sein, bevor man die Studienanfänger mit der "Wis~enschaft vom Recht" konfrontiert. Dieser Grundkonzeption entsprach der Aufbau der Lehrveranstaltung, deren Kapitel und Paragraphen jeweils unter dem Gesichtspunkt einer wechselseitigen Abhängigkeit von Recht und Sozialleben behandelt wurden. Um die Studenten zur Mitarbeit anzuregen, erhielten sie nicht nur eine ausführliche übersicht über die einschlägige Primär- und Sekundärliteratur ausgehändigt, sondern wurden auch Woche für Woche auf wohlfeile Ausgaben "klassischer" Werke "metajuristischer" Art hingewiesen, die zu den in der Vorlesung jeweils behandelten Fragen engen Bezug hatten. über den Erfolg dieser rechtssoziologisch "gefärbten" Vorlesung "Einführung in die Rechtswissenschaft" können nur die Hörer berichten, deren Interesse, wenn man die Besucherzahlen am Beginn und am Ende des Semesters zugrunde legt, nur unerheblich abnahm.
3. Jhering als Reformator des Rechtsunterrichts (Die Jurisprudenz des täglichen Lebens)* Rudolph von Jherings "Jurisprudenz des täglichen Lebens" ist eine Sammlung von Rechtsfällen für den akademischen Unterricht, gehört also zu einer Gattung des juristischen Schrifttums, die für die heutigen Professoren und Studenten der Rechte - jedenfalls in Deutschland und Österreich - ebenso selbstverständlich ist wie die Gattung der Kurzlehrbücher. Derartige Sammlungen von Rechtsfällen in didaktischer Absicht - sei es ohne, sei es mit Lösungen - sind eng verknüpft mit der Gestaltung des Rechtsunterrichts und der juristischen Prüfungen. Die Universitätsreform und die Reform des juristischen Studiums sind in allen Staaten der sog. westlichen Welt sozusagen zur Losung des Tages geworden. Aber darüber ist ganz in Vergessenheit geraten, daß die wichtigste Reform des Rechtsunterrichts im Gesamtbereich des kontinentalen Rechtskreises im Wintersemester 1854/55 an der Juristischen Fakultät Gießen von Jhering eingeleitet worden ist und sich dank der Ausstrahlungskraft seiner Persönlichkeit im Laufe von etwa vier Jahrzehnten in Deutschland und Österreich durchgesetzt hat: nämlich die Einführung praktischer Obungen (mit oder ohne schriftlichen Arbeiten) neben den theoretischen Vorlesungen der überkommenen Unterrichtsmethode. Bereits in einem Brief an Gerber vom 17. 7. 1852 schreibt Jhering 1 • "Es gab vor noch nicht langer Zeit eine Weise des naturwissenschaftlichen Studiums, die mit der noch heutzutage üblichen Methode des juristischen die größte Ähnlichkeit hatte - man studierte die Natur nicht aus sich selbst, sondern aus Aristoteles, Plinius, das Recht nicht aus sich selbst, sondern aus Ulpian und Paulus." Der Versuch, das Recht aus sich selbst zu studieren, wird erstmals 1854 gewagt. In einem Brief an Gerber vom 2. 4. 18542 heißt es u. a.:
* Erstmals veröffentlicht in: Jherings Erbe, Göttinger Symposion zur 150. Wiederkehr des Geburtstages von Rudolph von Jhering, Göttingen 1970, S. 89-100.
1 Rudolf von Jhering in Briefen an seine Freunde (herausgegeben von Helene Ehrenberg), Leipzig 1913, S. 14. 2 FN 1, S. 46 ff. Vgl. auch Rudolf von Jhering, Briefe der Göttinger Zeit, ausgewählt, herausgegeben und eingeleitet von Christian Wollschläger, mit einem verbindenden Text von Franz Wieacker; Georgia Augusta, Nachrichten aus der Universität Göttingen, 10. Jg. Oktober 1968, S. 5, Brief Nr. 5.
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"Der Grund, warum die Vorlesungen mir diesmal soviel zu schaffen machen, liegt teilweise darin, daß ich manche Unterlassungssünden aus früherer Zeit nachzuholen habe, teils darin, daß ich meine Zuhörer schriftliche Arbeiten anfertigen lasse. Neben den Pandekten halte ich noch ein Exegetikum, und in beiden Vorlesungen gebe ich Aufgaben auf, deren Korrektur mir ziemlich viel zu schaffen macht und mich umbringen würde, wenn alle Zuhörer sie bearbeiteten. In den Pandekten habe ich 25 Meldungen, im Exegetikum 29, ich habe aber noch einige Leute bemerkt, die sich, wie die Unsitte hier einmal ist, noch nicht gemeldet haben. Den Pandektisten gebe ich nun noch unentgeltlich eine Extrastunde zum Zwecke der Repitition und, um letztere fruchtbarer zu machen, Aufgaben zur schriftlichen Ausarbeitung - etwa 4 bis 6 die Woche - und Du kannst Dir denken, daß es eben kein sehr angenehmes onus ist, das ich mir damit aufgeladen." Vierzehn Jahre später enthält ein Brief aus Wien vom 25. 10. 1868 an Oskar Bülow 3 folgende Hinweise auf das "Praktikum", wie Jhering
selbst diese Lehrveranstaltung benennt:
"Die Eröffnung des Praktikums vor einem ebenfalls kolossal gedrängt vollem Auditorium war Kinderspiel dagegen. Es ging mir glatt von der Zunge, und es gelang mir, die Leute gleich bei dem ersten Rechtsfall, den ich ihnen vortrug, so ins Feuer zu bringen, daß sich sofort eine Diskussion entspann. Das Praktikum ist nach allem, was ich höre, hier vollkommen gesichert. Ich habe den Studenten anempfohlen, die Aufgaben schriftlich auszuarbeiten, obschon ich sie nicht korrigieren könne; sie könnten mich dann in der Vorlesung über Punkte, die nicht zur Sprache gekommen seien, befragen. Wahrscheinlich wird noch eine andere Anordnung getroffen werden, nämlich die Bildung von Sektionen, von denen jede ihren Referenten ernennt, der die Arbeiten der Sektion durchsieht und mir darüber berichtet. Die Sache ist in gutem Gang." Soweit Rudolf von Jhering selbst. Sehen wir uns nach einem Zeugen um, der uns von diesem "Praktikum" vor genau 100 Jahren aus eigener Anschauung berichten kann, so ist es kein geringerer als Ernst Zitelmann. Dieser hat seine "Rechtsfälle für bürgerlich-rechtliche übungen" , die im Jahre 1917 erschienen, Victor Ehrenberg gewidmet "in Erinnerung an unvergeßliche Jahre der Jugendfreundschaft, da wir als Göttinger Privatdozenten uns gemeinsam für Rudolf v. Jherings Zivilrechts-
praktikum begeisterten und an seinem leuchtenden Beispiel Wesen und Wert des Obungsunterrichts begreifen lernten". Und in den Nachbemerkungen zu diesem Buche heißt es wörtlich (S. 202 f.):
"Eine Pflicht tiefer Dankbarkeit erfülle ich, indem ich hier noch einmal
Rudolf v. Jherings erlauchten Namen nenne. Auf ihn gehen die übungen,
wie sie heute an allen Rechtsfakultäten veranstaltet werden, zurück. In den siebziger Jahren hielt er in Göttingen allsommerlich sein viel bewundertes Zivilrecht-Praktikum; damit stand er in gewissem Sinne in Deutschland allein . " Jhering stellte die Rechtsfallübungen als ebenbürtige Unterrichtsart den theoretischen Vorlesungen zur Seite, was sich auch äußerlich darin ausprägte, daß er sie als Privatvorlesung an drei Vormittagen hielt, und 3
FN 1, S. 225 ff.
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erzwang ihnen durch seine hinreißende Persönlichkeit die allgemeine Teilnahme: Dieses Verdienst darf ihm nie vergessen werden. Daß ich damals die Ausgestaltung des Universitätsunterrichts nach der Richtung der übungen hin sofort als eine Lebensaufgabe begriff, muß ich, wie so vieles, dem großen Manne danken ... Die übungen sollen ein notwendiges Stück des gesamten, für jeden Studierenden bestimmten und unerläßlichen Universitätsunterrichts sein; sie sollen gleichberechtigt und gleichwertig neben den theoretischen Vorlesungen stehen. Ganz anders das Seminar: Hier soll ausgesuchten, geübteren Studierenden Anleitung zu wissenschaftlicher Forschung, zu eigener wissenschaftlicher Arbeit gegeben werden. Endlich schien es mir damals bereits wünschenswert, neben den allgemeinen übungen für ältere auch solche für jüngere Studierende zu veranstalten und erprobte die Richtigkeit dieses Gedankens, indem ich Pandekten in der Form las, daß ich fast an jedem Tag einer Stunde Vorlesung eine Stunde Anfängerübungen hinzufügte. Dieselben Einrichtungen habe ich dann hier in Bann einführen und durchführen können, zuerst - wenigstens was die allgemeinen übungen betrifft - gegen den Widerstand mancher Älterer, dann, als der Erfolg den Bestrebungen Recht gab, mit ihrer Nachahmung; seitdem sind diese übungen Gemeingut aller Universitäten geworden, leider durch Zeugnisvorschriften und andere Maßnahmen ihres freien Adels beraubt. Der Gefahr der Veräußerlichung müssen wir Universitätslehrer durch immer wirksamere innere Ausgestaltung begegnen. Das ist auch die beste Waffe, um das selbst heute noch nicht ganz geschwundene Vorurteil zu besiegen, daß die übungen den theoretischen Vorlesungen wissenschaftlich nicht ebenbürtig seien. Beide sind in Wahrheit unvergleichbar miteinander; jede Unterrichtsart erfüllt ihre besondere Aufgabe: Fehlt der übung die Systematik, so erlaubt sie dafür eine Vertiefung in die Einzelfragen, wie sie in der theoretischen Vorlesung unmöglich sein würde ... Noch immer wird an übungen nicht genug getan ... Dafür lassen sich die theoretischen Vorlesungen ohne Schaden für sie, ja mit der Hoffnung auf Mehrung ihrer Wirksamkeit durch straffere Gestaltung und Heranziehung gedruckter Hilfsmittel abkürzen. Die Fortentwicklung der übungen jeglicher Art unter gleichzeitiger Zusammendrängung der theoretischen Vorlesungen gehört die Zukunft des Rechtsunterrichts."
So Ernst Zitelmann vor mehr als sechzig Jahren (1917)4! Auch ich erfülle nur eine Pflicht tiefer Dankbarkeit, wenn ich bei dieser Gelegenheit nicht nur den Namen Ernst Zitelmann genannt, sondern seine wohl nur wenigen bekannte Hymne auf Jhering als den Hauptreformer des Unterrichts an den deutschen Rechtsfakultäten jedenfalls bruchstückweise - wiedergegeben habe. War es doch Ernst Zitelmann, der diese seine Begeisterung im Jahre 1922 auf einen jungen Studenten im 5. Semester übertrug, dem dadurch erstmals der Gedanke kam, akademischer Lehrer im Geiste Ernst Zitelmanns, d. h. Jherings zu werden. 4 Vgl. auch den von Christian Helfer (JZ 1966, 506 ff.) mitgeteilten Brief eines amerikanischen Studenten aus den 70er Jahren, aus dem sich ergibt, daß Jhering in seinen Vorlesungen nicht an einen bestimmten Studenten, sondern an die Zuhörerschaft zur Sache gehörige rechtliche Fragen richtete, die von jedem beantwortet werden konnten, welcher die Lust dazu verspürte. Auch diese methodische Besonderheit wurde von Ernst Zitelmann getreulich nachgeahmt, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann
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Diesem Vorsatz bin ich treu geblieben. Eine meiner ersten Veröffentlichungen als Privatdozent war eine Sammlung handelsrechtlicher Fälle mit Lösungen, der Versuch eines induktiven, vom Fall ausgehenden Lehrbuchs, das die Ehre hatte, 1933 auf dem Römerberg in Frankfurt verbrannt, aber dessenungeachtet auch während des Dritten Reiches von allen Kollegen, die ein Exemplar wohl versteckt hatten, weiterhin benutzt zu werden. Das Büchlein hat überlebt und liegt in 4. Auflage vor. Aber dies war nur der Anfang. Als ich infolge der politischen Ereignisse 1933 in die Türkei ging und zunächst 10 Jahre in Istanbul und dann ein weiteres Jahrzehnt in Ankara als Professor der Rechte tätig war, gab der Name Jherings, des großen, auch schon damals einigen türkischen Professoren bekannten deutschen Rechtsgelehrten, den Bemühungen des ach noch so jungen deutschen Professors um die Reform des Rechtsunterrichts in der Türkei allein den notwendigen Nachdruck. Bereits nach kurzer Zeit standen die praktischen Übungen im Studienplan, wenn auch zunächst nur in vielen Fächern auf dem Papier, weil die Technik der Übung den türkischen Kollegen nicht vertraut war, z. T. auch die Scheu vorherrschte, sich von dem in Vorlesungen wörtlich vorgelesenen Kollegheft zu trennen und den Studenten in freier, nicht an das Heft gebundenen Weise Rede und Antwort zu stehen. Da die Studenten sehr rasch die Übungen der deutschen Professoren goutierten, sahen sich auch jüngere türkische Professoren bald veranlaßt, unserem Beispiel zu folgen. Als Beweis zitiere ich in wörtlicher Übersetzung einen Satz aus dem Vorwort einer Fallsammlung zum Handelsrecht (ohne Lösungen), die ich gemeinsam mit meinem leider viel zu früh verstorbenen langjährigen Assistenten, Dozenten und Nachfolger auf meinem Istanbuler Lehrstuhl, Prof. Dr. Halil Arslanli, im Jahre 1940 herausgab: "Wenn dieses Buch trotz der heutigen außergewöhnlichen Umstände erscheinen kann, so verdanke ich dies der wertvollen und verständigen Unterstützung und Förderung seitens des Dekans der RechtsfakuItät Istanbul, des ordentlichen Professors Siddik Sami Onar, der als Erster die Bedeutung der praktischen Übungen im Rechtsunterricht erkannte und hierzu ermutigte." Heute sind die Übungen an den türkischen RechtsfakuItäten so selbstverständlich wie hierzulande, nachdem die Schüler von Andreas B. Schwarz und mir die bei uns erlernte Technik auf allen Lehrstühlen und in allen Rechtszweigen anzuwenden wissen. Doch zurück in die Zeit vor 100 Jahren: Jherings Fallsammlung erschien erstmals als Anhang zu der im Jahre 1870 veröffentlichten 2. Auflage seiner "Zivilrechtsfälle ohne Entscheidungen" und erlebte
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dann als selbständiges Werk viele Auflagen. In dem noch von ihm selbst 1891, also ein Jahr vor seinem Tode verfaßten Vorwort zur 8. Auflage, das insoweit wörtlich dem Vorwort zu der im Jahre 1882 erschienenen 5. Auflage entspricht, schreibt Jhering: "Im täglichen Leben kommen viele Rechtsverhältnisse und Rechtsgeschäfte vor, die wegen der Geringfügigkeit des Gegenstandes kaum je zu einem Prozeß führen, die sich aber gleichwohl für den Unterricht mit hohem Nutzen verwenden lassen, weil sie dem Anfänger Anleitung geben, auch die Vorfälle des gewöhnlichen Lebens mit juristischem Auge zu betrachten." Verweilen wir ein wenig bei diesem, wie ich glaube, für Jherings Auffassung von Recht und Rechtswissenschaft sehr charakteristischen Satz. Schimmert hier nicht - wenn auch unausgesprochen und vielleicht sogar unbewußt - ein Gedanke noch einmal durch, der im Geist des Römischen Rechts (Band 11, 385 ff.) und in dem Einleitungsaufsatz zum 1. Band der "Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen Römischen und Deutschen Privatrechts" (1857) in der Form einer Unterscheidung "zwischen höherer und niederer Jurisprudenz, zwischen höherem und niederem Aggregatzustand des Rechts" seinen Ausdruck gefunden hat? Jener "Gegensatz der höheren zur niederen Jurisprudenz", der sich "durch den Gegensatz des Rechtsbegriffs zur Rechtsregel" bestimmt, wobei "den Übergang des Rechts aus dem niederen in einen höheren Aggregatzustand die juristische Konstruktion vermittelt, indem sie den gegebenen Rohstoff zu Begriffen erhebt". Und nun vergleiche man damit die bittere Selbstpersiflage in seinem 1861, d. h. nur 4 Jahre später, in der "Preußischen Gerichtszeitung" erschienenen ersten vertraulichen Brief über die heutige Jurisprudenz, der die Überschrift trägt: "Über die zivilistische Konstruktion". "Was ist konstruieren? Vor etwa 50 Jahren wußte man noch nichts davon, man lebte harmlos und in Freuden und das Geschoß war auf PandektensteIlen nur gerichtet! Aber das hat sich gewaltig geändert! Wer sich heute nicht auf die ,zivilistische Konstruktion' versteht, der möge nur zusehen, wie er durch die Welt kommt; so wenig, wie eine Dame heutzutage ohne Krinoline zu erscheinen wagt, so wenig ein moderner Zivilist ohne Konstruktion. Von wem sich eigentlich diese neue zivilistische Mode herschreibt, weiß ich nicht, nur soviel ist mir bekannt, daß einer sogar das Konstruieren selbst wieder konstruiert und eine eigene Anweisung dazu gegeben, ja sogar zur Vornahme dieser Arbeit ein höheres Stockwerk der Jurisprudenz angelegt hat, welches danach den Namen der ,höheren Jurisprudenz' erhalten hat" (Jhering in seinem Geist des Römischen Rechts, Band 2, S. 385 ff. und seinen und Gerbers Jahrbüchern Bd. I, Abt. 1).
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An dieser Stelle sieht sich Jhering in der unter dem Titel "Scherz und Ernst in der Jurisprudenz" 1884 erschienenen Buchausgabe zu folgender Fußnote veranlaßt: "Ich benutze die Gelegenheit, um den Anteil der Schuld, den man mir selber an dieser Verirrung wegen meiner Ausführungen an den oben zitierten Stellen zumessen könnte, abzulehnen. Unius positio non est alterius exclusio. Die Betonung des hohen Werts der formaltechnischen Seite des Rechts, der juristischen Technik, verträgt sich vollkommen mit der Erkenntnis, an der es mir nie gefehlt hat, daß das Endziel der Jurisprudenz und damit aller theoretischen-dogmatischen Untersuchungen ein praktisches ist, und ich glaube, dies bei meinen eigenen Arbeiten nie außer acht gelassen zu haben; dogmatische Untersuchungen, bei denen nicht irgendein brauchbares praktisches Ergebnis abfällt, wird für mich nicht die mindeste Anziehungskraft haben. Schon in meinem Geist des Römischen Rechts, Bd. III, Abt. 1, § 59 habe ich gegen ,den Kultus des Logischen, der die Jurisprudenz zu einer Mathematik hinaufschraubt', die Lanze eingelegt und das Ungesunde dieser ganzen Richtung an einzelnen eklatanten Beispielen nachzuweisen versucht, und mein Werk über den ,Zweck im Recht' ist nur darauf berechnet, die praktische Auffassung des Rechts der formaljuristischen und aprioristischphilosophischen gegenüber zur Geltung zu bringen, indem es sich zur Aufgabe gesetzt hat, überall die praktischen Motive der Rechtsinstitute und Rechtssätze aufzudecken. Daß ich mir den dankbaren Stoff zur Persiflage, den die heutige Begriffsjurisprudenz mir darbot, in dieser Schrift nicht habe entgehen lassen, wird der Leser bald merken." Bedenkt man, daß die 1. Auflage des ersten Bandes vom "Geist des Römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung" 1852, die "Briefe eines Unbekannten" zwischen 1861 und 1867, d. h. noch in der Gießener Zeit, die 1. Auflage des ersten Bandes vom "Zweck im Recht" 1877, also bereits in der Göttinger Zeit erschienen sind, und erinnert man sich daran, daß die "Jurisprudenz des täglichen Lebens" erstmals 1870, also noch in der Wiener Zeit und erst nach Annahme des Göttinger Rufs als selbständige Schrift in mehreren Auflagen erschienen ist, so belegt dieses kleine Werk in seiner Wendung zu den "Rechtsverhältnissen des täglichen Lebens", zu "den Vorfällen des gewöhnlichen Lebens" in Verbindung mit dem aus eigener Anschauung gewonnenen Eindruck Ernst Zitelmanns von dem "viel bewunderten Zivilrecht-Praktikum", das Jhering all sommerlich in den siebziger Jahren in Göttingen hielt und mit dem er in gewissem Sinne in Deutschland allein stand, die durch die "vertraulichen Briefe" vorbereitete und in der Vorrede zur ersten Hälfte vom "Zweck im Recht" deutlich gemachte Umkehr von der "treibenden Kraft des Begriffs" zu dem "Zweck, das ist einem praktischen Motiv", dem jeder Rechtssatz "seinen Ursprung verdankt". Vergleicht man unter diesem Gesichtspunkt die zahlreichen Auflagen, die das Büchlein nacheinander erlebt hat - die 8. Auflage von 1891 ist noch von Jhering selbst ein Jahr vor seinem Tode besorgt worden, die
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folgenden sind nacheinander, soweit ich feststellen konnte, von Otto Lenel (11./12.), Detmold (13.) und Paul Oertmann (14J15.) letztmalig 1927 herausgegeben worden - so wird in den Vorworten jeweils zur neuen Auflage auf die Wandlungen hingewiesen, durch welche die Herausgeber zu Streichungen, Veränderungen, Zusätzen, ja sogar zu textlichen Veränderungen gezwungen wurden: 1897 war es "die Rücksicht auf das demnächst in Kraft tretende BGB", 1921 schien eine "durchgängige weitere Anpassung an das geltende Recht und besonders an die moderne deutsche Rechtssprache" erforderlich. 1897 wurde ein Abschnitt "Eine Gebirgsreise" , 1921 wurden zwei Abschnitte "Im geschäftlichen Leben" und "In und nach dem Kriege" hinzugefügt, weil nach den Worten Oertmanns "der Völkerkrieg sich als ein so gewaltiger Lehrmeister und Anreger für das Rechtsleben erwiesen hat, daß unser Büchlein unmöglich daran achtlos vorbeigehen darf". Daß die Herausgeber hierbei durchaus im Sinne Jherings gehandelt haben, ergibt sich aus seinem bereits erwähnten Einleitungsaufsatz zum ersten Band der Jahrbücher (1857). Trotz seiner damaligen Konstruktionsbegeisterung und naturhistorischen Methode stellt er in Anlehnung an die Formulierung Ulpians (Dig. 50. 17. 1.) fest: Die Regel ist eine Abstraktion des tatsächlichen Rechts; ex iure, quod est, regula fiat, sie hat sich mithin jeder Änderung des tatsächlichen Zustands zu akkomodieren, stets auf der Höhe der Zeit zu halten". Welch klare Formulierung einer Grundhypothese der modernen Rechtssoziologie, der sog. Entwicklungshypothese von der Wandelbarkeit des Rechts5 ! Auf welche Faktoren diese Wandelbarkeit des Rechts zurückzuführen ist, mag im einzelnen strittig sein. Fest steht jedenfalls, daß das Recht nicht nur ein Regulator des sozialen Lebens, sondern vor allem auch dessen Funktion ist: Veränderungen immaterieller oder materieller Art, d. h. in den Bereichen der Religion, ethischer Postulate, philosophischer Systeme, politischer Spekulationen, wissenschaftlicher Theoreme, geistiger und künstlerischer Strömungen müssen ebenso wie Verschiebungen auf den Gebieten politischer Herrschaft, sozialer Schichtung, demographischer und wirtschaftlicher Gegebenheiten, technischer Entwicklung und dgl. zu Veränderungen der entsprechenden rechtlichen Regelungen führen. Als Beleg für die entsprechende Auffassung Jherings diene der Auszug eines Briefes aus Göttingen an Frau Auguste von LittrowBischof! vom 28. Mai 18766 • 5 Hierüber unter Hinweis auf Jhering und seine naturhistorisch-organistische "Körper"-lehre eingehend: Carbonnier: Die großen Hypothesen der theoretischen Rechtssoziologie, in: Hirsch-Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Sonderheft 1111967 zur Kölner Z. f. Soziologie und Sozialpsychologie S. 135-150. 6
FN 1, S. 317.
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"Richtig aufgefaßt ... ist diese Frage gewiß eine von denen, die auf der Tagesordnung der sozialen Gestaltung des nächsten Jahrtausends stehen. Arbeiterfrage, Frauenfrage und noch einige andere werden viele von denen, mit denen die letzten Jahrhunderte sich abgemüht haben, in den Hintergrund drängen. Das Recht wird bei der Frauenfrage gar wenig zu tun haben, es handelt sich um eine Gestaltung der faktischen Verhältnisse, für welche eine Änderung des Rechts zunächst gar nicht nötig ist. Wie diese Umgestaltung dermaleinst auf das Recht zurückwirken wird, das vermag niemand jetzt auch nur von ferne zu ahnen - aber ich glaube, wenn ich nach tausend bis zweitausend Jahren auf die Erde zurückkäme, ich würde auch das Recht so wesentlich umgestaltet finden, daß ich es kaum mehr verstehen würde." Blättert man die letzte, vor 50 Jahren durch Paul Oertmann besorgte 15. Auflage der "Jurisprudenz des täglichen Lebens" durch, so werden einem Maß, Bedeutung und Umfang der Veränderungen, die sich im Laufe von rund hundert Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage vollzogen haben, erst voll und ganz bewußt. Und zwar in persönlichsozialer Hinsicht ebenso wie in sachlich-wirtschaftlicher. Noch in der letzten Auflage von 1927 spiegelt die Fallsammlung die Mentalität eines Universitätsprofessors wider, dessen sachlicher Horizont durch seinen eigenen Lebenskreis, seine Lebensgewohnheiten und seine Umgebung begrenzt ist? Bei manchen Fällen kann man mit Gewißheit sagen, in welcher Stadt sie konzipiert worden sind: in Kiel, Gießen, Wien oder Göttingen. Es ist nicht das tägliche Leben schlechthin, das den Fällen die besondere Note gibt; es ist das tägliche Leben eines in guten Einkommens- und Vermögensverhältnissen lebenden, gern reisenden, den Tafelfreuden ergebenen8 , musikliebenden und selbst ausübenden, hoch gebildeten, national-liberalen Bourgeois, dem Marx und seine Schriften wohl ebenso unbekannt geblieben sind wie die politischen Schriften Lassalles. Womit keinesfalls gesagt sein soll, daß Jhering den sich anbahnenden sozialen Wandel nicht gesehen hätte. In einem Brief9 an Ernst Neukamp vom 8. 10. 1889 heißt es: "Unser bisheriges Recht konnte damit ausreichen, Ausschreitungen von Individuen gegen die gesellschaftliche Ordnung zu bekämpfen (abgesehen von Aufständen, wo aber die Mitwirkung des Rechts nur sekundärer Art ist und die Hauptwirkung auf die bewaffnete Macht entfällt). Anstelle der Individuen sind jetzt die Massen getreten - das auf die Individuen berechnete Recht paßt jetzt nicht" (es handelt sich um Ausführungen über 7 Vgl. hierzu Christian Helfer, Rudolf von Jhering als Rechtssoziologe, Kölner Z. f. Soziologie und Sozialpsychologie 1968, S. 553 ff., insbesondere 563,
565.
8 Vgl. hierzu: Rudolf von Jhering, Zur Philosophie der gemischten Getränke. Aus dem Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von Christian Helfer, Georgia Augusta, Nachrichten aus der Universität Göttingen, 10. Jg. Oktober
1968, S. 13-26. 9 FN 1, S. 418.
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1. Aufgaben der Rechtssoziologie
die rechtliche Möglichkeit, gegen Streik einstellung - ein Mittel zu finden).
Jhering spricht von Arbeits-
Aus den Fällen spricht aber auch objektiv das gesellschaftliche Leben, wie es in Gustav Freytags Soll und Haben, in Thomas Manns Buddenbroks geschildert ist. Der Sachverhalt zahlreicher Fälle entspricht zwar dem damaligen täglichen Leben, ist aber für den Studenten unserer Zeit ebenso unwirklich, wie es zahlreiche Sachverhalte des Corpus Juris für den Studenten vor 100 Jahren gewesen sind. Nur einige Kostproben aus der 5. Auflage von 1883, die, bis auf die Anpassung an die moderne deutsche Rechtssprache, wörtlich wenn auch in anderer Folge noch in der von Paul Oertmann besorgten 15. Auflage von 1927 wiederkehren: ,,1,27-31 Wir steigen in ein Coupe und belegen einen Platz, steigen sodann wieder aus, um noch etwas zu besorgen; ist unsere Absicht, uns diesen Platz anzueignen, dadurch deutlich genug an den Tag gelegt? 28. Inzwischen hat ein anderer unseren Platz eingenommen; können wir denselben als den unsrigen in Anspruch nehmen? Ist unser Anspruch nach Grundsätzen der Besitzeslehre zu beurteilen? Wenn das Institut des Besitzes den Zweck hat, die Persönlichkeit (Puchta) oder den Willen der Person (Bruns) zu schützen, würde hier nicht die Voraussetzung dazu vorliegen? Liegt nicht in dem Wegwerfen unserer Sachen eine Mißachtung unseres durch das Belegen des Platzes dokumentierten Willens und damit unserer Persönlichkeit? 29. Wenn ein solcher Anspruch überhaupt begründet werden soll, welchen Weg muß man dabei einschlagen? Hat die Eisenbahn-Gesellschaft uns einen bestimmten Platz zugesichert oder, wenn nicht, nicht wenigstens denjenigen, den der Schaffner uns angewiesen hat, oder den wir mit stillschweigender Zustimmung desselben in Besitz genommen haben? 30. Dürfen wir den Fahrgast, der unseren Platz eingenommen hat, gewaltsam von demselben verdrängen? Braucht die Furcht vor den römischen Strafen der Selbsthilfe uns davon abzuhalten? Oder die vor den Bestimmungen unseres Strafgesetzbuches über Beleidigung? 1,54,55. Wegen überfüllung der 2. und 3. Klasse werden Passagiere der 3. Klasse von den Schaffnern in die 1. verwiesen; müssen letztere sich dies gefallen lassen? War deren Absicht bloß darauf gerichtet, bequemere Sitzplätze zu erhalten, oder worauf sonst noch, und hat die Eisenbahnverwaltung ihnen bloß erstere zugesichert, im übrigen sich in bezug auf die Verfügung über die Räume der 1. Klasse völlig freie Hand vorbehalten, so daß sie z. B. aus der 3. Klasse Individuen der untersten Volksschichten in die 1. Klasse setzen dürfte? 55. Darf sie einem derartigen Individuum, das, aus welchem Grunde es immerhin sei, ein Billet der 1. Klasse begehrt, dasselbe verweigern?
II, 70. In einer schleswigen Stadt hatte der Inhaber eines sehr frequentierten und im ganzen Lande bekannten Gasthofes, dem die Ehre widerfahren war, daß der Gouverneur der Provinz, der Landgraf von Hessen, in demselben logiert hatte, bei demselben um die Erlaubnis nachgesucht, den bisherigen Namen des Gasthofs ,Zum grauen Esel' mit dem ,Zum Landgrafen von Hessen' vertauschen zu dürfen und dieselbe erhalten. Ein Concurrent nahm den freigewordenen Namen an und erhielt in Folge davon außerordentlichen Zuspruch. Konnte der bisherige Inhaber es ihm verwehren?
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Konnten die Fremden, welche in Unkenntnis dieses Umstandes bei dem zweiten Wirt Zimmer bestellt hatten, die Bestellung rückgängig machen? In dem obigen Fall hatte der erste Wirt, nachdem er durch Schaden klug geworden war, um ferneren Irrungen vorzubeugen, zu der Bezeichnung: ,Zum Landgrafen von Hessen' den Zusatz hinzugefügt: ,Das ist der wahre graue Esel'; war dies unbedenklich? 111,43-45. Der Vermieter verbietet einem Freund des Mieters, der gegen ihn grob geworden ist, das Betreten seiner Wohnung; hat der Mieter sich das gefallen zu lassen? Oder er verleugnet den Mieter, wenn der Freund kommt; gibt es eine Rechtshilfe dagegen? 45. Ist es in dieser Beziehung von Einfluß, wie die Person des Dritten ist? Man denke z. B., daß es liederliche Dirnen sind. IV,55-57. Die Köchinnen-Moral mancher großer Städte erblickt in dem sog. Marktgroschen (ein Aufschlag, den die Köchin zu ihren Gunsten auf alles macht, was sie einkauft) kein Unrecht, es ist in den Augen der Köchinnen eine ihnen gebührende Nebeneinnahme, der Küchenzehnte, dessen (nach der Höhe der durchschnittlichen Einkaufssumme bemessenen) Betrag sie sogar bei Annahme des Dienstes im Voraus mit in Anschlag bringen. Liegen hier die Voraussetzungen eines partikulären Gewohnheitsrechts vor? 56. Auch in dem Naschen findet die Domestiken-Moral nichts Unrechtes; stimmt das römische Recht damit überein? Ist hier der Satz: minima non curat praetor zur Anwendung zu bringen? 57. Die Kammerzofe hat sich während der Abwesenheit der Herrschaft der Toilette der Hausfrau bedient, um einen Bürgerball zu besuchen, wie ist die Handlung juristisch zu charakterisieren? IV, 32. Bei den Zeugnissen, welche eine Herrschaft den Domestiken bei ihrer Entlassung auszustellen pflegt, wird es regelmäßig mit der Wahrheit nicht sehr streng genommen. Wenn die neue Herrschaft durch ein solches Zeugnis in Schaden kommt (es war z. B. dem Dienstmädchen bezeugt, daß es ,treu und ehrlich' gedient habe, während dasselbe wegen fortgesetzter Diebereien entlassen war und dieselben auch bei der neuen Herrschaft wiederholt hat), kann sie die frühere Herrschaft auf Schadensersatz belangen? 33. Wird es von Einfluß sein, ob sie sich bei derselben noch speziell erkundigt hat? 34. Nach dem Lokalrecht mancher Orte muß die Annahme eines Dienstboten sofort bei der Polizei angezeigt werden; ist die Gültigkeit eines Kontrakts von der Befolgung dieser Vorschrift abhängig? 35. Zu welcher Klasse von Gesetzen gehört das Gesetz im Falle der Bejahung, zu welcher im Falle der Verneinung dieser Frage? VI, 23. Eine scharfe Recension kann für den Absatz eines Buches oft wahrhaft verderblich werden. Haben Verleger und Verfasser gegen den Urheber der Recension nicht wenigstens dann eine Klage, wenn letztere ungerecht und hämisch ist, oder wenn, wie es gar nicht selten vorkommt, der Recensent das Buch gar nicht einmal gelesen, gleichwohl aber über dasselbe abgeurteilt hat? VI, 32. Eine Dame, welche sich scheut, einen schlüpfrigen Roman auf eigenen Namen zu beziehen, bedient sich dabei der Vermittlung eines vertrauten Herrn. Später tritt zwischen beiden ein Zerwürfnis ein, und der Herr, dem der Roman von der Buchhandlung auf seine Rechnung bestellt war, teilt derselben den obigen Sachverhalt mit und fordert sie auf, der Dame die Rechnung zu übersenden. Es sind folgende Fragen zu beantworten:
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1. Muß die Buchhandlung statt des Herrn die Dame in Anspruch nehmen? 2. Kann sie es tun, wenn sie will oder wenn sie den Preis von dem Besteller
nicht erlangen kann? 3. Kann sie vielleicht das vorhandene Exemplar vindici ren? 4. Kann die Dame den Herrn wegen der begangenen Indiskretion in Anspruch nehmen?
XIII, 5,6. Auf dem Ball wird einer Tänzerin von einem wild dahintanzenden Herrn ihr Ballkleid abgetreten. Kann sie Ersatz verlangen? Der Herr wendet ein: Wer auf dem Ball erscheine, müsse auf solche Unfälle gefaßt sein; einen Ball dürfe man nicht unter dem Gesichtspunkt der culpa bringen, sonst höre alles Vergnügen beim Tanzen auf. Zu Bällen habe die Jurisprudenz keinen Zutritt; sonst könnte man am Ende noch gewärtigen, wenn man mit einem anderen Paar zusammengestoßen sei oder dasselbe umgetanzt habe, mit einer actio injuriarum belangt zu werden. Es sei eine stillschweigende Übereinkunft aller, welche einen Ball besuchen, daß alles, was dort geschehe, nicht unter dem juristischen Gesichtspunkt betrachtet werden solle und man könne auf jeden, der den Ball besuche und dem derartige Unannehmlichkeiten zustießen, den Satz der 1. 72 pro socio (17.2): Qui parum diligentem socium acquirit, de se queri debet anwenden, - auf schlechte Tänzer müsse sich jeder gefaßt machen. XVI, 17. Auf den Wartesälen im Bahnhof befindet sich häufig der Anschlag: ,Hunde dürfen nicht mitgenommen werden.' Darf ein Bärentreiber seinen Bären, ein Bauer sein Schwein, der Metzger sein Kalb mit in den Wartesaal bringen, weil vermittels des argumentum a contrano sich ergebe, daß alle anderen Tiere mit Ausnahme der Hunde mitgebracht werden dürfen? Warum werden im Anschlag nur Hunde, nicht auch Katzen, Schweine, Kälber etc. namhaft gemacht? Was ergibt sich hieraus für die Lehre von der Interpretation der Gesetze und für die Art der Abfassung der Gesetze?" Sieht man von der zeitbedingten Einkleidung der Fälle und von den Hinweisen auf das römische Recht ab, die - vor 1900 durchaus angebracht - in der Auflage von 1927 wohl nur aus falch verstandener Tradition mitgeschleift wurden, und betrachtet man die Aufgaben unter dem Gesichtspunkt der juristischen Problematik, so zeigt sich, daß die meisten Fälle, wenn man den Sachverhalt zeit ge recht schneidert, auch heute noch, um mit Jhering zu sprechen, "für den juristischen Unterricht sich mit hohem Nutzen verwenden lassen, weil sie dem Anfänger Anleitung geben, auch die Vorfälle des gewöhnlichen Lebens mit juristischem Auge zu betrachten". Diese Feststellung belegt einerseits die von Max Salomon in seiner Grundlegung zur Rechtsphilosophie (2. Auflage 1925, S. 56 ff.), wohl unter dem Einfluß von Nikolai Hartmann vertretene Auffassung, daß der bleibende und unveränderliche wissenschaftliche Kern der Rechtswissenschaft die von ihm so genannte "Rechtsproblematik" ist, d. h. ein systematisch aufgebauter Katalog aller möglichen Rechtsprobleme, während die im "Rechts system" zusammengefaßten, jeweils nach Ort und Zeit verschiedenen rechtlichen Lösungen nur vergängliche, durch die tatsächlichen Verhältnisse des jeweiligen Gesellschaftsintegrats de-
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terminierte, d. h. pragmatische Lösungsversuche sind, deren wissenschaftliche Behandlung, um mit Hermann v. Kirchmann zu reden, mit drei berichtigenden Worten des Gesetzgebers zu Makulatur wird. Unsere Feststellung belegt darüber hinaus die neue re rechtssoziologische Erkenntnis, daß nicht alles Rechtliche dem Wandel unterliegt, daß mit anderen Worten die Entwicklungshypothese ihre Grenzen hat, die aufzufinden und abzustecken eine wesentliche Aufgabe der künftigen rechtssoziologischen Arbeit sein wird1o • Ein letztes darf in diesem Zusammenhang erwähnt werden: Im Vorwort zur 8. noch von ihm selbst besorgten Auflage von 1891 betrachtet Jhering es als eine Bewährung des didaktischen Wertes seiner "Jurisprudenz des täglichen Lebens", daß sie in mehrere Sprachen übersetzt worden ist. Er erwähnt eine italienische, eine ungarische, eine griechische und eine portugiesische übersetzung l l • Diese übertragungen in fremde Sprachen konnten aber nur unter der Voraussetzung sinnvoll sein, daß in den praktischen Fällen eine rechtliche Problematik eingefangen war, die auch in Italien, Ungarn, Griechenland und Brasilien als solche gelten konnte. Mochte dies für Griechenland, wo damals das byzantinische bzw. römische Zivilrecht galt, kaum zweifelhaft sein, so war doch am 1. 1. 1866 das auf dem code civil fußende italienische Zivilgesetzbuch in Kraft getreten. In Ungarn galt damals nach der Abschaffung des österreichischen ABGB im Jahre 1861 das aus ganz anderen Quellen gespeiste ungarische Gewohnheitsrecht, während die Grundlagen in Brasilien durch die sog. Philippinischen Ordonanzen von 1603 gebildet wurden. Abgesehen von diesen erheblichen Unterschieden hinsichtlich der Art und des Alters der Rechtsquellen muß man berücksichtigen, wie verschiedenartig die tatsächlichen Lebens- und Gesellschaftsverhältnisse der erwähnten Länder sowohl im Verhältnis zueinander als auch im Verhältnis zum Deutschen Reich nach dem deutsch-französischen Krieg 1870171 gewesen sind. Wenn trotzdem nicht etwa ein grundlegendes Lehrbuch oder eine tiefgründige Monographie, sondern eine für den Rechtsunterricht bestimmte Fallsammlung in vier Sprachen übersetzt wurde, so bedeutete dies abgesehen von der Annahme einer überall mehr oder weniger gleiChen "Rechtsproblematik" - wenn ich richtig sehe - noch etwas weiteres: Nämlich die Erkenntnis jedenfalls 10 Vgl. in diesem Zusammenhang den Vorschlag von C. A. Emge, "alles zu sammeln und zu veröffentlichen, was im Laufe der Geschichte und bei den verschiedensten Völkern in Forderungen, Theorien, Praktiken an sog. Menschen- oder Grundrechten mit überpositivem Geltungsanspruch behauptet worden ist (Erinnerungen eines Rechtsphilosophen, in: Studium Berolinense, Berlin 1960, Bd. 2, 37 ff. (105). 11 Außerdem gibt Mario G. Losano in seiner sehr verdienstlichen Bibliographie Rudolph von Jherings bibliographische Nachweise einer russischen übersetzung (Moskau 1881) und einer englischen übersetzung (Oxford 1904).
5 Hirsdl
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I.
Aufgaben der Rechtssoziologie
der übersetzer, daß die damalige Methode des Rechtsunterrichts didaktisch unzureichend war. Man studierte, um die Formulierung Jherings aus dem Jahre 1852 zu wiederholen, "das Recht nicht aus sich selbst, sondern aus Ulpian und Paulus". Die in der Schülerszene im 1. Teil des Faust von Mephistopheles-Goethe sehr realistisch dargestellte Art des mittelalterlichen Universitätsunterrichts hatte sich vor allem in der romanistischen Rechtsgelehrsamkeit, "wie eine ewige Krankheit" bis in die letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts fortgeerbt. Man hatte den praktischen Endzweck des akademischen Rechtsstudiums aus den Augen verloren. "Für Unterrichtszwecke habe ich" - so Jhering in der 4. Abteilung seines Buches: "Scherz und Ernst in der Jurisprudenz"12 das meiste von demjenigen, was die heutige (1884) Jurisprudenz auf dem Wege einer eingehenden Kritik und Analyse der juristischen Grundbegriffe zutage gefördert zu haben glaubt, gar nicht verwenden können. Der Aufwand geistiger Kraft, welche die Wissenschaft in dieser Richtung aufgeboten hat, hat sich meines Erachtens noch nicht einmal für die Schule bezahlt gemacht. Wo soll er sich dann bezahlt machen, wenn weder für das Leben, noch für die Schule? Ich finde keine andere Antwort als: Nur für diejenigen, welche an derartigen Untersuchungen Vergnügen finden." Angesichts dieser an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Sätze ist es unverständlich, wie Arthur Nußbaum 13 behaupten konnte, Jhering sei nicht nur nach seiner Vorbildung, sondern auch nach seiner Anlage dem wirklichen Rechtsleben ebenso fremd gegenüber gestanden wie die, die er befehdete. Mag das Urteil Nußbaums hinsichtlich des Dogmatikers Jhering zutreffen; hinsichtlich des akademischen Lehrers war es ein grobes Fehlurteil, Jhering vorzuwerfen, "eine angebliche Rechtswirklichkeit aus dem überkommenen Material der Juristischen Buchgelehrsamkeit aufzubauen". Gerade dies hat Jhering, wie oben gezeigt, seit 1852 immer wieder deutlich abgelehnt und als falsche Methode gekennzeichnet. Es hat den Anschein, als ob Nußbaum bei seiner Beurteilung Jherings durch Ausführungen von Ernst Fuchs 14 beeinflußt worden ist, der mit denselben Argumenten operierte, in maßloser Weise gegen "das alte Rechtsprofessorentum" zu Felde zog und in Jhering "die Verzweiflung" desselben "an sich selbst" Zitiert nach der 12. Auflage 1921, S. 360. "Theorie und Wirklichkeit in den allgemeinen Lehren des bürgerlichen Rechts", in: Arch. Bürgerl. Recht 42 (1916) 136-193 (139). U Holdheims Monatsschrift 1911, 82 ff. und wieder abgedruckt in: "Juristischer Kulturkampf" 1912, 187 ff. über die Bedeutung Jherings für die sog. Freirechtsbewegung und über die wissenschaftlichen Leistungen von Ernst Fuchs siehe jetzt: Riebschläger, Die Freirechtsbewegung, Bd. 11 der Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung (herausgegeben von E. E. Hirsch), Berlin 1968, S. 29 ff., 52 ff. 12
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erkennen zu müssen glaubte. Ebenfalls ein grobes Fehlurteil angesichts des Umstands, daß Jhering bereits 188415 von seinen Kollegen die Abhaltung von Rechtsfallübungen mit folgender Begründung verlangt hatte: "Nicht bloß der Zuhörer wegen verlange ich sie sondern auch des Dozenten wegen, - als Korrektiv gegen theoretische Einseitigkeit. Er soll dasjenige, was er gelehrt hat, selber zur Anwendung bringen, dann wird sich zeigen, ob es dazu geeignet ist. Er wird sich dann überzeugen, daß es ein anderes Ding ist, einen Unterschied in abstracto aufzustellen, ein anderes Ding, Rede und Antwort darüber zu stehen, woran er in concrete erkannt werden soll, - daß es für den Theoretiker gar leicht ist, sich etwas zu denken, gar schwer aber für die Partei, etwas zu beweisen, daß es ein anderes Ding ist, die Verantwortung für die logische Korrektheit, und ein anderes, für die praktische Angemessenheit des Resultates zu übernehmen. Ich spreche hier aus Erfahrung. Seit länger als vierzig Jahren halte ich ein solches Pandektenpraktikum, und ich kann nicht genug rühmen, wie sehr es mich gefördert hat; es ist mir dadurch zur zweiten Natur geworden, bei allen Rechtssätzen, Begriffen, Unterschieden mir ihre Anwendung an einem konkreten Fall zu veranschaulichen und sie daran die Probe bestehen zu lassen, kurz das abstrakte Denken durch das kasuistische zu kontrollieren ..." Es bleibt also bei dem Urteil Ernst Zitelmanns: "Dieses Verdienst darf ihm nie vergessen werden."
15
"Scherz und Ernst ...... S. 366.
ZWEITER TEIL
Das Recht als Regulator des Soziallebens 4. Die Steuerung des menschlichen Verhaltens * I.
Joachim Hellmer hat kürzlich in einem Aufsatz l bedauernd festgestellt, der Mensch ohne Schuld und Gewissen sei die Schöpfung der modernen Theorie. Das Individuum werde wegen seines biologisch angelegten Soseins von Schuld und Verantwortung freigesprochen, oder man suche die Ursachen menschlichen Verhaltens in der Gruppe, in der Gesellschaft, "ja in der Definition dieses Verhaltens durch die Organe der Sozialkontrolle". Gewiß gibt es Vertreter dieser Auffassungen, die den Menschen einreden wollen, zum Nulltarif das Sozialleben durchfahren zu können. Aber auf Ideologen, Scharlatane und Beglückungsapostel dieser Sorte sollte man nicht hören; denn weder die Biologie noch die Soziologie können, soweit ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht leeres Theorienspiel im Elfenbeinturm, sondern gesichertes Erfahrungswissen bilden, das Individuum von der Verantwortung für sein Tun und Lassen freistellen. Die "moderne Theorie", auf die Hellmer abstellt, wäre, selbst wenn sie, was nicht der Fall ist, allgemein anerkannt wäre, schon allein deshalb unhaltbar, weil es im Rahmen der für uns überschaubaren Menschheitsgeschichte nirgendwo und niemals eine Menschengruppe (Gesellschaftsintegrat) gegeben hat, deren Mitglieder sich nicht um eine auf den Bestand der Gruppe bezogene zwischenmenschliche Ordnung, d. h. um Aufrechterhaltung und Internalisierung bestimmter Formen und Normen des zwischenmenschlichen Verhaltens bemüht haben und nach wie vor bemühen. Mögen die dazu eingeschlagenen Wege und angewandten Mittel in ihrer Vielfalt verwickelt und 1.
• Erstmals veröffentlicht in JZ 1982, S. 41-47 und in GruterlRehbinder (Hrg.), Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, 1983, S. 275 bis 291. über die Beziehungen der Verhaltensforschung zum Recht vgl. F.-H. Schmidt, Verhaltensforschung und Recht, 1982; Hagen Hof, Verhaltensforschung zum Recht in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 349-373. 1 über die Glaubwürdigkeit des Strafrechts und die Bedeutung des zwischenmenschlichen Verhältnisses für die Kriminalitätsbekämpfung, JZ 1981, S.153.
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verwirrend, in ihrer Angemessenheit und Zweckmäßigkeit umstritten sein, die Ziel richtung war und ist letztlich überall und stets dieselbe. 2. Gerade die Ergebnisse der Verhaltensforschung über die Steuerung des menschlichen Verhaltens durch Einflüsse der angeborenen und der durch Erfahrung und Erziehung erlernten bzw. erlernbaren Formen und Normen des Verhaltens zeigen, daß der Mensch für verschiedene Verhaltensweisen vorprogrammiert ist. In meiner Schrift "Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters"2 habe ich klarzustellen versucht, daß der Mensch nicht ausschließlich durch die Konditionierung beeinflußt wird, der er im Laufe seiner Ontogenese durch seine jeweilige kulturelle Umwelt unterliegt, vielmehr sein soziales und moralisches Verhalten vor allem durch die stammesgeschichtlich evolvierte Organisation seinesNervensystems und seiner Sinnesorgane mitbestimmt wird. Das bedeute aber nicht, daß er sich auf bestimmte Weise verhalten müsse, vielmehr könne er unter der Einwirkung der verschiedensten Beeinflussungsfaktoren dazu gebracht werden, sich anders zu verhalten; denn der Mensch sei universell betrachtet ein animalisches, unter dem Gesichtspunkt des Gesellschaftsintegrats, in dem er lebe, ein soziales Lebewesen. Man müsse deshalb zwischen biologisch bedeutsamen, d. h. ererbten, angeborenen Formen und Normen des Verhaltens und kulturellen, d. h. dem Menschen im Wege der Internalisierung sozialer Werte und Normen angewachsenen und anerzogenen oder durch eigene Erfahrung erworbenen Formen und Normen des Verhaltens unterscheiden.
11. 1. Das "moralische Gesetz in uns", das den Philosophen Kant zu stets neuer Bewunderung veranlaßte, ist ebenso wie der gestirnte Himmel über uns den Fragestellungen und der Methodik der Naturforschung zugänglich. Auch wenn es von philosophischer Seite als Blasphemie bewertet wird, darf man heutzutage die banale Wahrheit aussprechen, daß auch der Mensch wie alle Lebewesen stammesgeschichtlich erworbene und erblich festgelegte Verhaltensweisen hat'. Es handelt sich um phylogenetisch programmierte und erblich festgelegte Normen des Verhaltens. Wie Eibl-Eibesfeldt4 betont, ist es Gewißheit, daß die Menschen wie alle Organismen mit Verhaltensprogrammen ausgerüstet sind, die man ablaufen lassen kann und die in gesetzmäßiger Weise ablaufen. Die Verhaltensprogramme sind als Anpassungen aufzufassen, die in geI I
Berlin 1979, insbesondere S. 52-84.
Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, München 1977, dtv S. 32.
4 Menschenforschung auf neuen Wegen. Die naturwissenschaftliche Betrachtung kultureller Verhaltensweisen, Wien 1976, S. 261 ff.
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wisser Weise die Umweltbedingungen widerspiegeln. In welchem Umfang stammesgeschichtliche Anpassungen menschliches Verhalten vorprogrammieren, weiß man noch nicht. "Wir wissen jedoch durch die ethnologische Forschung der letzten Jahre, daß stammesgeschichtliche Anpassungen vor allem das menschliche Sozial verhalten determinieren5 ." 2. Man muß deutlich unterscheiden: "angeboren" hat in der Verhaltensbiologie dieselbe Bedeutung wie "genetisch bedingt", während erfahrungsbedingtes Verhalten davon abhängt, was das Lebewesen individuell erlebt und was es dadurch lernt 6 . "Genetisch bedingt" bedeutet, daß mit der Erbsubstanz in Samen und Ei den Nachkommen vorgeprägte Ribonukleinsäuren übermittelt werden, die in den Nervenzellen als Gedächtnis wirken 7 • Vieles, was wir für Leistungen vernunftmäßiger verantwortlicher Moral hielten, dürfte nach Meinung von Eibl-Eibesfeldt 8 auf angeborene Aktions- und Reaktionsnormen aufgebaut sein. Der Mensch überlege im allgemeinen nicht, ob er sein Handeln zum allgemeinen Gesetz erheben könne, er handle vielmehr spontan und rationalisiere erst sekundär.
111. Die von Hellmer erwähnten beiden Schulen des Positivismus, die entweder den Sozialbereichoder den verhaltensbiologischen Bereich jeweils ausschalten oder ausblenden, sind alles andere als "positiv" im Sinne von wirklichkeits bezogen. Der Mensch ist nicht nur homo sapiens, sondern gleichzeitig auch animal sociale, ein animalisches Wesen'. Die animalische Beschaffenheit des Menschen kann nicht mit dem Hinweis darauf geleugnet oder verkümmert werden, daß man die Glaubenswahrheit von der unkörperlichen Substanz!O, die den Menschen von allen anderen animalischen Lebewesen unterscheide und unabhängig von dem körperlichen Leben existiere, auch heute noch als unumstößliche wissenschaftliche Lehrmeinung gelten läßt. Der angebliche Dualismus von Leib und Seele, von Körper und Geist hat außer bei christlichen Theologen und der in ihrem Fahrwasser Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch, 1976, dtv S. 276 ff. Bernhard Hassenstein, Instinkt, Lernen, Spielen, Einsicht. Einführung in die Verhaltensbiologie. Serie Piper, 1980, S. 11. 7 Hedi Fritz-Niggle, Die Geheimschrift der Biologie, München 1967, S. 65. 8 FN 5, S. 11, 17, 56, 63. g Malinowsky, Dynamik des Kulturwandels, 1951, S. 92. 10 Diese Auffassung geht auf den römischen Philosophen Boethius (480525) zurück, der den Menschen als "Person" qualifizierte mit der Definition: 5
B
"Persona est naturae rationalis individua substantia." Siehe dazu auch das Stichwort "Person" im Evangelischen Staatswörterbuch, Stuttgart 1966.
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segelnden Philosophen im naturwissenschaftlichen Denken keine Stütze mehr l l • Schon Nicolai Hartmann 12 formulierte: "Der Geist ist und bleibt leibgebunden, er kommt nur im organischen Wesen vor, ruht auf dessen Leben auf, lebt von seinen Kräften." Nach Konrad Lorenz 13 sind wir, allen verstandesmäßigen Erwägungen zum Trotz, gar nicht imstande, an der grundsätzlichen Einheit von Leib und Seele zu zweifeln. "Auch die höchsten seelischen und geistigen Leistungen des Menschen, Sittlichkeit und soziales Verhalten sind an somatische Gegebenheiten gebunden.... Nicht viele Zusammenhänge der Biologie sind so eindeutig gesichert wie die Abhängigkeit des Seelischen von zentralnervösen Funktionen, auch wenn diese morphologisch nicht an einer Stelle in den Strukturen der Einzelzellen festlegbar sind l4 • Lernen, Denken, kreative Gesamtimpulse sind nach Werner Freitag 15 stoffliche Vorgänge. Seele und Geist sowie die Willensbestimmung seien untrennbare Reaktionen im Zusammenhang von körperlichen determinierten Vorgängen mit solchen des Zentralnervensystems. Nach Hassenstein 16 ist das, was wir "Geist" nennen, ein durchaus materielles, an Proteinen engrammiertes "Etwas", was auf Reizsignale hin Geist-Akte auslöst. Vor allem Frederic Vester 17 macht immer wieder deutlich, daß es keinen geistigen Ablauf im Menschen gibt, der nicht von körperlichen Vorgängen begleitet ist. Die stoffliche Speicherung für etwas Geistiges greife zwar oft in die ideologisch fixierten Anschauungen über die conditio humana, die geistige Wesenheit des Menschen, ein. Sie sei daher zwar ungeheuer revolutionär, aber deshalb noch lange nicht unwahrscheinlich, vor allem nicht mehr seit den großen Entdeckungen der letzten Jahre über den genetischen Code und über die faszinierenden Vorgänge bei seiner Entzifferung. Auch schöpferisches Denken, Einfälle und Intuitionen entständen aus stofflichen, also materiell gespeicherten Informationen. Diese Informationen seien in vielen einzelnen Neuronen und ihren Fasern kodifiziert, also in einer ungeheuren Vielzahl gleichzeitiger Speicherungen von Code-Molekülen diffus über die ganze Großhirnrinde verteilt, aber nicht streng lokalisiert. "Unsere wesentliche Erkenntnis ist, daß kein Gefühl, kein Gedanke für sich allein existiert, sondern immer von biologischen Vorgängen in unseren Körperzellen 11 Über den Streitstand in philosophischer Sicht vgl. neuestens: Jerry A. Fadar, Das Leib-und-Seele-Problem in: Spektrum der Wissenschaft, 1981, S.27-37. 12 Neue Wege der Ontologie, 1949, S. 29. 13 FN 3, S. 215. 14 Rudolf Rabl, Das Bewußtsein und die zentralnervösen Funktionen in Universitas 1979, Heft 11, 1129-1134 (1130). 15 Werner Freitag, Die Welt als Sein und Schein, 1978, S. 139, 159. 16 FN 6, S. 50. 17 Denken, Lernen, Vergessen. 1978, dtv S. 55, 67, 76, 93.
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begleitet wird"18. In seinem unlängst erschienenen Werk19 wiederholt er, daß unsere "Gehirntätigkeit" , das Denken und Lernen, nicht etwas rein Geistiges, sondern immer eng mit zellularen, hormonellen, biochemischen und biophysikalischen, also mit materiellen Vorgängen verknüpft sei. Es sei deshalb ein Unding zu glauben, daß sich die Erkenntnis unserer Welt und eine vernünftige Handhabung unserer Mittel lediglich mit den paar Neuronen unseres kognitiven Gehirnbereichs bewerkstelligen lassen könne. Richard Huber 20 formuliert: "Auch die Neuhirn-Funktion gehört zunächst noch dem biologischen Bereich an, der Welt des Lebendigen. Das, was man ,geistig' zu nennen pflegt, ist ja wohl nur ein anderer Aggregatzustand, eine andere Form des Lebendigen."
IV. Man muß die menschliche Sozialstruktur als eine Einheit von vitalen Abläufen und sozialen Einflüssen sehen. "Wenn gesellschaftliche Lösungen echte Lösungen sein sollen, können diese ebensowenig an den naturwissenschaftlichen Gegebenheiten, vor allem den biologischen Grundprinzipien vorbeigehen21 ." 1. Das beste Beispiel für die Notwendigkeit einer einheitlichen Sicht bietet die Sprache und das Sprechenlernen. Die Sprache und das Sprachvermögen eignen von Natur aus unter allen Lebewesen allein dem Menschen. Wie Adolf Portmann 22 betont, kann die Sprache nicht ohne Sozietät entstehen und hat ohne Sozietät keinen Sinn. Wir werden erst zum vollen sozialen Menschen, indem wir die Sprache erlernen, die von der Gruppe geformt ist, in der wir heranwachsen. "Die Mitwirkung einer Menschengruppe mit ihrer Tradition ist die erste Voraussetzung für die normale Entwicklung des einzelnen Menschen. Das ist nicht eine zufällige Kombination: unser sozialer Kontakt ist obligatorisch23 ." Auch die Erbanlagen können nur unter dem Einfluß der sozialen Gruppe voll ausgeformt werden. Die Eigenart des menschlichen Entwicklungsgeschehens, in dem Leib und Geist so sehr von der Lebensform der 18
19
FN 17, S. 93. Frederic Vester, Neuland des Denkens, Stuttgart 1980, S. 473.
20 Richard Huber, Animalisation oder Cerebralisation; in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 72 (Juni 1981) S. 15-25. 21 FN 19, S. 489. 22 An den Grenzen des Wissens. Vom Beitrag der Biologie zu einem neuen Weltbild. Wien 1974, S. 88. Siehe auch Joachim Illies, Das Geheimnis des Lebendigen. Leben und Werk des Biologen Adolf Portmann, München 1975, S. 185, 189, 210, 212, 249, 274, 304 jeweils mit Hinweisen auf wörtliche Zitate und Publikationen von Adolj Portmann. Vgl. auch Arthur Koestler, Der Mensch - Irrläufer der Evolution, Zürich 1978, S. 26 und 27. 23 Adolj Portmann, FN 22, S. 86. Siehe auch das in der vorstehenden Fußnote zitierte Werk von Illies, S. 24.
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Gruppe, von der Tradition und Sprache mitgestaltet werden, öffnet Möglichkeiten der Beeinflussung, die man nicht gering achten darf. Auch wenn die Sprache nicht eine reine Sonderleistung der Gehirnstruktur ist, so sind Sprachspeicherung und Sprachentfaltung Gehirnvorgänge, die das Leben in Gesellschaft zur notwendigen Voraussetzung haben. Ohne die Funktion des Sprachhirns gäbe es kein logisches und begrifliches Denken. Andererseits wäre es völlig unfähig, lieferte ihm nicht die kulturelle Tradition das Vocabularium einer in jahrtausendlanger Kulturgeschichte gewachsenen Sprache24 • Denn die Sprache hat eine doppelte Natur: sie ist einmal genetisch programmiert, als in den Gehirnfeldern niedergelegte Komponente, zum anderen aus individuell erfahrenen Eindrücken zusammengesetzt 25 • 2. Nur ein Denken innerhalb der realen Wechselbeziehungen der Dinge, das den naturgesetzlichen Gegebenheiten entspricht, kann vor den Fehlern bewahren, wie sie bei dem bisherigen Fachdenken gemacht worden sind. Zu den naturgesetzlichen Gegebenheiten im Bereich des menschlichen Verhaltens gehören auch die instinktiven Antriebe. Befreit man das Wort "Instinkt" von seinem metaphysischen Gehalt, so erkennt man deutlich die Gesetze der Naturwissenschaft 26 • Mit den Worten von Arnold Gehlen: Die Biologie, insbesondere die Verhaltensforschung lehrt, daß die instinktiven Antriebe und deren kulturbedingte verantwortliche Beherrschung ein System bilden, in dem die Funktionen beider Untersysteme gen au aufeinander abgestimmt sind. Zwar hat Konrad Lorenz in früheren Veröffentlichungen formuliert, der Mensch sei ein Instinkt-Reduktionswesen. Diese Auffassung hat er mittlerweile aufgegeben. In übereinstimmung mit Eibl-Eibesfeldt27 betont er, daß der Mensch nicht nur über weniger, sondern über mehr echte instinktive Antriebe verfüge als irgendein Tier. Auch Werner Freitag28 hebt hervor, daß der Mensch durchaus Instinkte besitzt, wenn auch bei ihm durch seine Gehirninformationen diese nicht mehr so deutlich ansprechen wie beim Tier. Die Instinkte seien auch beim Menschen mit ihrem wesentlichen Sitz im Zwischenhirn besonders bei StreßsituaHonen voll aktiv29 • Bernhard Hassenstein 30 weist darauf hin, daß auch der verstandes gesteuerte Mensch noch sein volles Instinktrepertoire besitze; aber er gebrauche es nur noch teilweise. Daß mit der Fähigkeit, in einem instinktiven Verhaltensbereich die Lern- und Verhaltenssteue24
25 H
27
28 29
30
FN FN FN FN FN FN FN
3, S. 238. 15, S. 173. 7, S. 202. 5. S. 276 f. 15, S. 129. 15, S. 28. 6, S. 93.
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rung anzuwenden, jedoch die Instinktsicherheit verlorengehe, beruhe darauf, daß Lernen und Verstand neue Verhaltensmöglichkeiten erschließen, so daß sich der Mensch zwischen den mehr instinktbetonten und den mehr verstandesbetonten Verhaltenstendenzen entscheiden müsse. Er sei prinziell unsicherer geworden, obwohl die Möglichkeit, nach dem Instinkt zu handeln, im Prinzip weiter bestehe. Der Instinkt sei nicht mehr der "sichere Instinkt". Auf diese Labilität weist auch Schischkoffl hin. Feststehe, daß einerseits bei schöpferischen Völkern und Persönlichkeiten auch das bewußte Denken und Wollen durch Instinkte im tiefsten Grund gelenkt werde, daß andererseits aber die viel beklagte Labilität des modernen Kulturmenschen auf Verkümmerung der auch ihm vital unentbehrlichen Instinktgrundlage seiner Lebensführung beruhe. Gerade diese Labilität, dieses im Gleichgewichtsein aller Anlagen und Fähigkeiten, eröffne der Intelligenz die Möglichkeit uneingeschränkter Betätigung und sei für das Phänomen Mensch wesentlich. Jedoch macht Konrad Lorenz 32 darauf aufmerksam, daß, wenn alles phylogenetisch Programmierte ipso facto unbeeinflußbar durch Lernen und Erziehung wäre, der Mensch der verantwortungslose Spielball seiner instinktiven Antriebe wäre. Alles kulturelle Zusammenleben habe zur Voraussetzung, daß der Mensch seine Triebe zu zügeln lernt. Richard Huber 33 weist darauf hin, daß der Mensch mit Hilfe seines Neuhirns seine im Althirn einprogrammierten Instinkthandlungen teilweise hemmen oder ganz unterdrücken kann. Jede Erziehung, insbesondere jede elitäre Erziehung schließe ein intensives dahin gehendes Training unbedingt ein, ein Umstand, der in der heutigen Pädagogik allerdings weitgehend vergessen zu sein scheine. An anderer Stelle betont Huber die relative Freiheit des Menschen vom Instinktzwang, die größere Informationsfülle, die besseren Speicherungsmöglichkeiten für Information ("Gedächtnis"), die noch immer wachsenden Möglichkeiten zur sprachlichen Verständigung und damit die Möglichkeit, individuelle Erfahrungen an andere Menschen, vor allem auch an die Nachkommen weiterzugeben. 3. Das Gewissen ist ein Organ im Menschen, das automatisch-instinktiv das Verhalten steuert. Es arbeitet ähnlich einem Computer und besitzt wie dieser einen selbständigen Reglermechanismus. Daß die Menschen der Einwirkung von mannigfaltigen Einflüssen ausgesetzt sind und sich von diesen in ihrem Verhalten bestimmen lassen, hängt von dem jeweils verschiedenen Ansprechen des einzelnen Menschen auf 31 32
In Philosophisches Wörterbuch unter dem Stichwort: Instinkt. Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 6. Aufl. München 1973,
S.55. 33 FN 20, S. 23/24.
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Reize ab, die zum Gehirn geleitet und dort im Nervensystem be- und verarbeitet werden. Inwieweit hierbei das Gewissen, d. h. das sittliche Bewußtsein mitspricht, hängt von dem Regler ab, auf den das Gewissen hinsichtlich der Bewertung "gut" und "böse" von Natur aus und (oder) durch Lernen eingestellt ist 34 • Gerade die Ergebnisse der Verhaltensforschung über die Steuerung des menschlichen Verhaltens durch Einflüsse der angeborenen und der durch Erfahrung erlernten Formen und Normen des Verhaltens zeigen, daß der Mensch für verschiedene Verhaltensweisen vorprogrammiert ist. "Der Kompaß, der in diesem Feld die Richtung zeigt, ist das ,moralische Gesetz' in uns. Wie jeder Kompaß hat auch dieser nur am Scheideweg Bedeutung. Wenn zwischen zwei verschiedenen Neigungen zu wählen ist, dann zeigt dieses moralische Gesetz uns die einzuschlagende Richtung, ohne uns aber in sie zu zwingen35 ." Denn der Mensch hat, wie gezeigt, die Fähigkeit zur Distanzierung. Diese Fähigkeit, die ein Abwägen erst ermöglicht, ist die eigentliche Wurzel der menschlichen Freiheit. "Beim Menschen wächst die Distanzierungsfähigkeit mit der Einsicht in die Gründe seines HandeIns. Selbsterkenntnis trägt in diesem Sinne zur Freiheit des Menschen bei. Die Biologie sieht darin ihren entscheidenden Beitrag36 ." 4. Determinismus und Indeterminismus sind Glaubenswahrheiten, mit deren Hilfe man den Menschen von der Verantwortung für sein Tun und Lassen freisprechen oder seine Verantwortung dafür dogmatisch und rein kognitiv begründen will. Die Verhaltensforschung zeigt, daß diese aus ethischen Postulaten der Religion, Philosophie oder Weltanschauung (Ideologie) hergeleiteten Glaubenswahrheiten der Realität des in Gesellschaft lebenden Menschen mit seinen phylogenetisch programmierten und erblich festgelegten Normen des sozialen Verhaltens und den von der Tradition seiner jeweiligen Kultur vorgeschriebenen Lernaufgaben und Lernzielen nicht entsprechen. Der Mensch hat, biologisch gesehen, als animalisches Wesen nicht nur die Möglichkeit, Instinkte steuern, kanalisieren und sublimieren zu können, sondern auch, soziologisch gesehen, als soziales Lebewesen im Rahmen eines Gesellschaftsintegrates die durch die Interdependenz des Verhaltens erzwungene Pflicht dazu. In seinem Werk über die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise macht
Ulrich Pothast37 darauf aufmerksam, daß nach der heutzutage in der Einzelheiten siehe in meinem zu FN 2 zitierten Buch, S. 57 ff. Christa Meves, Joachim Illies, Mit der Aggression leben. 3. Aufl. Freiburg 1977, S. 108 ff. 31 FN 5, S. 278. S7 Frankfurt 1980. Vgl. auch die von demselben Autor herausgegebene Sammlung von Aufsätzen: Seminar, Freies Handeln und Determinismus, 1978. 34
ss Vgl. hierzu auch
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analytischen Philosophie maßgebenden "Theorie der Vereinbarkeit" der Determinismus mit einer Freiheit vereinbar sei, die entwickelte Menschen für ihre Handlungen verantwortlich zu machen erlaubt. Auch wenn die Vertreter der "Vereinbarkeits-Theorie" nur eine Freiheit von der Art nachweisen, wie sie auch Tiere haben, so ist damit bereits deutlich gemacht, daß der Determinismusstreit um ein Scheinproblem geführt wird, das ausschließlich für Theologen und Philosophen zur logischen Begründungen ihrer Dogmen, Theoreme und Glaubenswahrheiten von Bedeutung ist. Denn die als absolut, d. h. von Zeit, Ort und Umständen unabhängig gedachten Gebote der Ethik setzen ein autonomes sittliches Bewußtsein des als frei ("indeterminiert") vorgestellten Menschen voraus. Die Gebote dieser Ethiken beruhen auf der Annahme von höchsten Werten, die auf einer Skala ("Wertetafel") geordnet sind. Der Hierarchie der Werte entspricht eine Hierarchie der Ordnungen. Dieser ganze Bereich einer Gesamtordnung für das sittliche Handeln des Menschen unter Annahme seiner Handelnsfreiheit und seiner daran geknüpften persönlichen Verantwortung für sein Tun und Lassen ist metaphysischer Natur und knüpft die Forderung: "Du sollst" an die Annahme eines: "Du kannst". Aber diese Annahme, die von anerkannten Lehrern des Strafrechts für die Herleitung von "Schuld" und deren Vorwerfbarkeit zur Grundlage ihrer Erwägungen gemacht wird, ist mit der Wirklichkeit unvereinbar. "Ein Sollen, das nicht auf Sand gebaut ist und erreichbare Ziele setzt, läßt sich nur formulieren, wenn es dem Menschen - unbeeindruckt von dem, was Propheten und Ideologen von ihm zu sollen verlangen - gelingt, sich zu den Erfahrungen zu bekennen, die er mit sich selbst ein Leben lang zu machen Gelegenheit hat 38 ." Soweit keine Streßsituation vorliegt, die jede Reaktion der in der Großhirnrinde gespeicherten Lerninhalte ausschließt39, ist der Mensch frei in seinen Entscheidungen und verantwortlich für ihre Folgen. Wie diese Folgen aber sozial beantwortet werden und wie weit oder wie eng die Verantwortlichkeit zu bestimmen ist, ist keine Frage einer metaphysisch formulierten Ethik, sondern regelt sich nach den sozialen Machtverhältnissen und ihrer Spiegelung in den jeweils sozial relevanten Normen 4o •
38 Gerhard Sczesny, Das sogenannte Gute, 1971, S. 28. Siehe dort auch über idealistische und traditionelle Ethiken, S. 44 ff., 73 f. 39 "Wenn der Hypothalamus brüllt, schweigt der Cortex, bei jedem Instinkt." Konrad Lorenz, Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen, 1978, S. 312. 40 "Alle Rechtsnormen zielen auf ein Verhalten ab. Die Rechtsregeln drükken im allgemeinen die kollektive Entscheidung aus, daß die Gesellschaft oder deren herrschende Gruppe das Verhalten in eine bestimmte Richtung lenken will." Lawrence M. Friedman, Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaften. Berlin 1981, S. 52.
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v. Aus den vorstehenden Gründen vermag ich die Ansicht Hellmers nicht zu teilen, daß die wichtigste Frage der Einhaltung von Gesetzen sei, ob der Bürger die strikte Überzeugung von der sittlichen Notwendigkeit und moralischen Werthaftigkeit der in den Gesetzen enthaltenen Verbote habe. Für ein zuverlässiges kriminal politisches Konzept komme es in erster Linie darauf an, daß das Strafrecht echtes, d. h. ethisch markiertes Unrecht definiere und nicht nur ein Verhalten, das irgendwelchen mehr oder weniger erforderlichen Ordnungsvorstellungen widerspreche. 1. Wer bestimmt denn die "Ethik", nach der man sich zu richten hat, die Werttafeln, an denen man die moralische Werthaftigkeit eines Verbots oder eines Gebots ablesen kann? Die einzige ehrliche Antwort, die man auf diese Frage geben kann, lautet: diejenige Gruppe, welche die politische Macht besitzt zu dekretieren, was rechtens sein soll. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte klargestellt hat 41 , gibt es keine einheitliche europäische Moralauffassung. Hellmer selbst weist mit Recht darauf hin, daß die Internationalität der Normen dort ihre Grenzen hat, wo die Mentalität der Menschen oder die Struktur der Gesellschaft wechsel t 42 •
2. Wesentlich ist vielmehr die Erkenntnis, daß die Feststellung dessen, was als "sozial schädliches Verhalten" zu qualifizieren ist, von Zeit zu Zeit, von Land zu Land, von Ort zu Ort wechselt, und wir angesichts der Berliner Mauer doch wohl zugeben müssen, daß strafbares Unrecht diesseits der Mauer und jenseits der Mauer nicht identisch sind. Wenn die zuständigen Behörden ein Verhalten, das als strafbares Unrecht dekretiert ist, nicht als solches behandeln und ihm nicht entgegentreten oder ihm vorzubeugen bemüht sind, dann kann man nicht erwarten, daß die Täter oder gar die Masse der Bevölkerung von der sittlichen Notwendigkeit und moralischen Werthaftigkeit der entsprechenden Verbote überzeugt sind oder werden. Was man als Jurist klarstellen muß, ist der Umstand, daß die Einhaltung von Gesetzen nicht Sache der Ethik oder der moralischen Anschauungen ist, sondern von der Wahrung der Gesetze durch die zuständigen Staatsorgane abhängt. Versagen diese und setzen sie keine deutlichen Zeichen, dann ist die Theorie vom psychologischen Zwang und der Gedanke der Generalprävention eine utopische Vorstellung. Denn Generalprävention bedeutet doch wohl nichts anderes als die Wahrscheinlichkeit, daß die Bevölkerung oder ein Teil von ihr, ·41 Siehe Seite 26 meiner zu FN 2 zitierten Schrift und die dortigen Nachweise. n Vgl. FN 2, S. 76 ff.
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welche von einer Sanktion hört oder vielleicht ihre Anwendung sieht, ihr Verhalten entsprechend einrichtet, auch wenn alle Theorien über Sanktionen von der bloßen Annahme ausgehen, die Strafdrohung als solche bereits diene dem Abschreckungseffekt. "Ius vigilantibus est scriptum" ist zwar ein sehr alter Satz. Aber er trifft heute nicht mehr zu, da die Bürger die Gesetze nicht nur nicht kennen, sondern angesichts der Gesetzesflut gar nicht kennen können. Die obligatorische Verkündung und Bekanntmachung von Gesetzen und Verordnungen, die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen und allgemeinen Verwal' tungsverfügungen dienen nicht so sehr der Unterrichtung der Bürger als vielmehr der Speicherung des entsprechenden Rechtsstoffs für die Juristen, die das Recht anzuwenden haben. 3. Noch immer stellt man sich den Zusammenhang so vor, daß der Gesetzgeber Gesetze erläßt, damit die Bevölkerung sich danach richtet und sie befolgt, wobei niemals gefragt wird, wie denn das möglich sein soll, daß Menschen in ihrem Verhalten durch Regeln motiviert werden, die sie nicht zur Kenntnis genommen haben und nehmen können. Klammert man die Juristen vom Fach nebst die Angehörigen anderer Berufe, die Rechtsunterricht genossen haben, sowie alle diejenigen aus, die zwecks Umgehung bestimmter Rechtsnormen sich auf Teilgebieten Rechtskenntnisse aneignen wie z. B. die von Diekmann 43 untersuchten Kategorien der Schwarzfahrer, der Steuerhinterzieher, der Verletzer von Rauchverboten und ähnlichen Kreisen, so kommt man zu dem Ergebnis, daß von der Gesamtheit der Rechtsregeln ganz abgesehen, noch nicht einmal Teilbereiche wie die Normen des Bürgerlichen Rechts, des Handelsrechts, des Verwaltungsrechts, ja selbst des Strafrechts gros so modo, geschweige denn in ihren Einzelheiten der großen Masse der Bevölkerung bekannt sind. Dies ist unbestritten und unbestreitbar. Ich führe als Beleg nur folgende Äußerung von Werner Rother44 an, der weitaus überwiegende Teil des Rechtsstoffs ruhe gespeichert, einerseits präsent im Sinne von abrufbar, andererseits aber durchaus vergessen oder besser gesagt, von der Mehrheit der Bürger nie zur Kenntnis genommen - (Hervorhebungen von mir) - in den Büchern. Im deutschsprachigen Schrifttum sind empirische Studien selten, die sich mit den Wirkungen von Gesetzen im Hinblick auf ihre Befolgung, d. h. mit der Frage befassen, wie es zu erklären ist, daß trotz weitestgehender Unkenntnis der Normen und ihres Inhalts in der Regel normgemäß gehandelt wird 45 • Anders ausgedrückt: Es fehlen empirische 43 U
Andreas Diekmann, Die Befolgung von Gesetzen, Berlin 1980. Recht und Bewußtsein, München 1979, S. 6; siehe auch Friedman, FN 40,
S.75.
45 Was bisher an Einzelstudien über die "Effektivität des Rechts" in deutscher Sprache vorliegt, ist nicht sehr aufschlußreich und überzeugend, zumal
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Nachweise für die Richtigkeit der noch immer geglaubten Auffassung, normalerweise würden alle Gesetze befolgt, weil sie darauf angelegt seien. Die landläufige allgemeine Meinung auch bei Juristen geht dahin, daß Gesetze zu dem Zweck gemacht werden, daß sie von denen, die es angeht, befolgt werden. Zwar erklärt Friedman 46 , eine entscheidende Funktion der Regeln sei die Verhaltenslenkung. Folglich sei es ein Ziel jeder rechtswissenschaftlichen Untersuchung, die Wirkung des Rechts auf das menschliche Verhalten zu ergründen. Er stellt (op. cit. S. 65) die Frage, welche Wirkung das Rechtssystem erzeugt, und gibt die wohl richtige Antwort: "Niemand weiß es bis dahin."
4. Angeblich wird das Tun und Lassen der Menschen durch die Gesetze motiviert. Obwohl Rother, wie oben angeführt, klarstellt, daß die Masse unserer Gesetze von der Mehrheit der Bürger nie zur Kenntnis genommen wird, erklärt er nur wenige Seiten danach: "Daß Gesetze dazu bestimmt sind, Menschen bei ihrem rechtsbezogenen Handeln positiv zu beeinflussen, sie auch allgemein moralisch aufzurichten und zum Guten zu leiten, ist allgemeine überzeugung und der staatlichen Rechtssetzung als Devise unentbehrlich." Dies habe man sich so vorzustellen, daß der aus Gesetz oder Gewohnheitsrecht herrührende Rechtssatz durch Unterricht oder praktische Erfahrung in das Bewußtsein des einzelnen Rechtsgenossen trete und sich hier als Wissensbestandteil etabliere. Als solcher wirke er bei künftigen Entscheidungen motivierend mit. Die Sollensstruktur der Norm entfalte dann ihre eigentliche, vom Gesetzgeber beabsichtigte Wirksamkeit. Der Mensch tue zumindest gut daran, nach den Gesetzen zu handeln, weil er sich damit vor materiellem Schaden bewahre. Darüber hinaus jedoch solle die nachdenkende Beschäftigung mit dem Recht die tieferen Schichten der Persönlichkeit formen und den gewissenhaften, sorgfältig abwägenden, konsequenten, redlichen Menschen schaffen, der als der ideale Staatsbürger gelte. Ob es in der Lebenswirklichkeit Verkörperungen dieses idealen Staatsbürgers gibt, mag dahingestellt bleiben. Die entscheidende Frage lautet, wie es möglich ist, daß grob und pauschal geschätzt, mindestens 90-95 Prozent der Bevölkerung zeitlebens mit den Gesetzen die für empirische Untersuchungen gewählten Themen nicht typisch für den Gesamtbereich des Rechts sind. Außer der in FN 43 zitierten Schrift von Diekmann seien erwähnt: U. Krüger, Der Adressat des Rechtsgesetzes, Berlin 1969. Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder, Studien und Materialien zur Rechtssoziologie. Sonderheft 11/1967 zur Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 271 ff. Manfred Rehbinder und Helmut Schelsky (Hrg.), Zur Effektivität des Rechts (Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. III), Bielefeld 1972. Ferner das in FN 40 zitierte Werk von Lawrence M. Friedman. 41 FN 40, S. 59.
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nicht in Konflikt kommen, ohne über ihre Geltung und ihren Inhalt informiert zu sein. Man unterstellt kurzerhand, daß die Menschen als Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft nach Maßgabe der Rechtsnormen handeln, ja sogar, wie auch Hellmer meint, sich philosophische Gedanken darüber machen, ohne zu berücksichtigen, wie dies denn angesichts der mangelnden Kenntnis dieser Rechtsnormen möglich sein soll. Mit Recht weist Zippelius 47 darauf hin, daß verhaltensleitende Sinngehalte Veränderungen in der realen Welt nur dadurch bewirken, daß sie von einem Bewußtsein zur Kenntnis genommen werden und in ihm Motivationskraft für menschliches Handeln gewinnen. Auch Friedman 48 betont, daß jeder Rechtsakt eine Wirkung nur erzeuge, sofern er in kausaler Verbindung mit dem Verhalten einer Person stehe. Rechtsakte gelten als wirksam, wenn das Verhalten in die gewünschte Richtung geleitet werde und die Rechtssubjekte ihnen Folge leisteten. An dieser Wirksamkeit mangele es vielen Normen, deren Befehle mißachtet würden. "Jemand befolgt ein Gesetz nur dann, wenn er wissentlich und in sichtbarer Weise einen Teil seines Verhaltens ändert. Befolgen ist demnach wissentliches, nicht unbewußtes oder unvermeidbares Verhalten. .. . Unwiderlegbar ist, daß niemand sein Verhalten nach einem Gesetz richten kann, ohne es zu kennen." 5. Von mehr oder weniger Ausnahmen abgesehen, handeln die Menschen nicht nach Maßgabe der Normen, die ihnen unbekannt sind, sondern werden in ihrem Verhalten mit Hilfe der Normen beurteilt und behandelt. Rechtsnormen sind in rechtliche Anordnungen gekleidete Verhaltenserwartungen, die der Gesetzgeber hegt und erfüllt sehen möchte. Sie beziehen sich auf das Verhalten der Menschen "in Gesellschaft". Sie enthalten Erwartungen (Postulate) dahingehend, wie die Menschen sich verhalten sollten oder wie sie von Amts wegen behandelt werden sollen. Da die Verhaltenserwartungen sich an Menschen richten, sind sie nur sinnvoll, falls sie und solange sie im Rahmen dessen bleiben, was menschenmöglich, d. h. mit der Natur des Menschen vereinbar ist. Denn die Menschen sind, um es nochmals zu betonen, wie alle Lebewesen Geschöpfe der Natur und als solche "von Natur aus" in ihrem Verhalten beeinflußbar. Diesen Einflüssen sind die Menschen ausgesetzt; und sie lassen sich in ihrem Verhalten von diesen Einflüssen bestimmen, nicht aber von Normen, die ihnen größtenteils unbekannt sind, zumal dann, wenn diese Normen bereits vor ihrer Geburt vorhanden waren und sich ohne ihr Zutun und Wissen wandeln. Die Menschen wissen nur, daß es für die meisten Sachverhalte des Soziallebens in allen Zivilisationen rechtliche Regeln gibt, die zur Ordnung 47
4S
Reinhold Zippelius, Gesellschaft und Recht. München 1980, S. 82.
FN 40, S. 59, bzw. 67 und 70.
6 Hirsm
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dieser sozialen Sachverhalte bestimmt sind und zur Anwendung kommen, wenn ein Streit über die Regelung eines konkreten Sachverhalts entschieden werden muß. Die Probleme, die im Interaktionensystem des zwischenmenschlichen Lebens auftreten können und einer rechtlichen Lösung zugeführt werden müssen, sind vor allem hinsichtlich des Strafrechts in ihrer übergroßen Anzahl seit tausenden von Jahren bekannt, als gesetzliche Tatbestände sprachlich formuliert und stofflich gespeichert. Deswegen werden die Tatbestandsmerkmale, die eine gesetzliche Regelung als erforderlich oder zweckmäßig erscheinen lassen, nicht von jedem Gesetzgeber neu erfunden oder gefunden, sondern von bestehenden oder überlieferten Texten abgeschrieben. In allen Strafgesetzbüchern der Welt finden sich zahlreiche Tatbestände wieder, die bereits im Codex Harnrnurabi formuliert sind. "Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ew'ge Krankheit fort"; der Jurist Goethe wußte Bescheid. Adressaten der gesetzlichen Vorschriften sind aber nicht, wie meistens angenommen wird, die handelnden Personen, sondern die Richter und Beamten, die nach Maßgabe der vom Gesetzgeber getroffenen Verhaltenserwartungen und Anordnungen bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale die rechtliche Norm anzuwenden berufen sind. Friedman 49 formuliert, der materielle Inhalt einer Norm bestehe in einer Mitteilung an das Publikum, derjenige, der die Rechtsfolgen nennt, in einer Anweisung an einen Teil der öffentlichen Verwaltung. Regeln hätten immer zwei Seiten - sie wenden sich sowohl an Beamte als auch an das Publikum oder einen Teil davon. Max Salomon hat in seiner Grundlegung zur Rechtsphilosophie 50 sehr eingehend diese Rechtsproblematik erörtert, welche die Feststellung erlaubt, daß man über der Vielfalt der möglichen Lösungen (= rechtliche Beurteilungsnormen) eines sozialen Sachverhalts nicht die Einheitlichkeit und Gleichgerichtetheit der dabei auftauchenden Probleme übersehen darf. Die Menschen sind in ihrer psychosomatischen Grundverfassung gleich veranlagt 51 • Die Gleichheit oder Ähnlichkeit der bei jedem rechtserheblichen Akt des HandeIns oder Unterlassens auftauchenden Probleme schließt aber keineswegs die Verschiedenheit und Variabilität der Lösungsmöglichkeiten aus. "Die ethnische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Völker ist in so verschiedenartiger Weise verlaufen, daß die Bildung der Bewußtseinsinhalte in Richtung auf einzelne rechtliche Gestaltungen ebenfalls in äußerster Differenziertheit von statten gegangen ist 52 • Man legt den Rechtsvorschriften motivierende Kraft bei, ohne zu bedenken, daß der Mensch in seinem (9
50
51 52
FN 40, S. 41 und passim. 2. Aufl., 1925, S. 56 ff. FN 44, S. 93. FN 44, S. 94.
4. Die Steuerung des menschlichen Verhaltens
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Tun und Lassen im zwischenmenschlichen Verkehr spontan handelt und - abgesehen von außergewöhnlichen Fällen - sein Verhalten auf angeborene Aktions- und Reaktionsnormen, nicht aber auf vernunftmäßige Überlegungen aufbaut. Die Macht der Gewohnheitsbildung reicht zur instinktiven Steuerung der Handlungsabläufe ohne Einschaltung des Bewußtseins und Willens aus. Die Massengeschäfte des täglichen Lebens beweisen diese Feststellung ebenso wie die zahllosen strafbaren Handlungen der Alltagskriminalität. Die Masse der Bevölkerung wird in ihrem Verhalten durch den Inhalt von Rechtsnormen weder motiviert noch determiniert, weil die in jedem konkreten Fall einschlägigen Rechtsnormen dem juristischen Laien unbekannt sind. Die Masse der Menschen handelt, wie betont, in der Regel spontan und nicht rational, so daß unter Rechtsbewußtsein nur die vage Vorstellung des einzelnen Menschen zu verstehen ist, daß es so etwas wie eine rechtliche Regelung für die Sachverhalte des Soziallebens gibt, die im wesentlichen dem entsprechen, was infolge der Gewöhnung als recht und billig empfunden wird. Erst im Streitfall oder bei Verhandlungen über Rechtsgeschäfte wird man auf den Inhalt von Rechtsregeln aufmerksam und erfährt dann von den Rechtskundigen, was von Seiten "des" Rechts erwartet wird. Nach Barkun 53 ist das Recht mehr oder weniger ein Nachschlagewerk richtigen Verhaltens. Die Leute benutzen Nachschlagewerke, obwohl niemand deren Richtlinien durchsetzt. Das Recht ist einer von vielen dieser Verhaltenskodices. Es ist ein Nachschlagewerk wie die Bücher mit Regeln über Tennis, Bridge oder Patience. Was letztlich ein Gesetzbuch als Kodifikation von anderen Regelbüchern unterscheidet, ist die Sanktion, ist die Tatsache, daß seine Bestimmungen im Gegensatz zu anderen die Drohung amtlicher Bestrafung oder das Versprechen offizieller Belohnung in sich tragen. VI.
Wenn die Sozialforschung, auf die Hellmer unter Bezugnahme auf Diekmann verweist, empirisch feststellt, daß das Ausmaß der norma-
tiven Abweichungen des einzelnen, das soll heißen: das Maß der Entfernung der (durch Moral, Brauch, Sitte) geprägten Anschauung des Individuums vom dekretierten Recht dafür entscheidend ist, ob das Gesetz befolgt wird oder nicht, so hat dies mit der Kenntnis und Unkenntnis des Gesetzes nichts zu tun. Vielmehr ist dieses Auseinanderklaffen von dekretiertem Recht und tatsächlich geübtem Verhalten darauf zurückzuführen, daß die im Gesetz verkörperten und uns überkommenen An53
Michael Barkun,
FN40).
Law Without Sanctions, 1968 (zitiert nach Friedman,
11. Das Recht als Regulator des Soziallebens
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schauungen über "inhumanes" und "sozial schädliches" Verhalten von der heutigen Generation oder eines Teils von ihr nicht geteilt werden. Dies Ergebnis stellt die Politiker und ihre intellektuellen Berater vor die Alternative, entweder das Gesetz den derzeitigen durch Moral, Brauch, Sitte oder auch Unmoral, Mißbrauch und Unsitte geprägten Anschauungen anzupassen oder unter Aufgabe utopischer und irrealer Zielvorstellungen dafür zu sorgen, daß die seit Jahrtausenden als tragende Pfeiler des menschlichen Zusammenlebens in Gesellschaft anerkannten Gebote, welche sich auf die fünf immer wiederkehrenden kritischen Stellen im Sozialleben beziehen54 , nämlich auf Traditionsübermittlung (Autorität), insbesondere Beachtung der Alten, das Töten von Artgenossen, die sexuellen Partnerbeziehungen, Besitz und Eigentum, zuverlässige "wahre" Verständigung als für jedermann verbindlich geachtet, beachtet und eingehalten werden. Ich rufe nicht nach der Zensur, wenn ich behaupte, der Bürger wisse vom Recht nicht das, was im Gesetz steht, sondern nur das, was darüber in Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, im Rundfunk zu hören und im Fernsehen zu sehen ist. Die "Krimis" und "Fictions", nicht die Lehrbücher und Kommentare zum Strafrecht sind die Quellen, denen der Bürger seine Vorstellungen von Recht und Unrecht, seine Anschauungen von humanem und kriminellem Verhalten entnimmt. Negative Sanktionen beeinflussen die Bereitschaft, gesetzentsprechend zu handeln, nur unter der Voraussetzung, daß dem Bürger das Gesetz und das Urteil in den Einzelheiten bekannt sind, und auch dann nur, wenn die Gesetzesverletzung nach der Volksmeinung nicht unter die sog. Kavaliersdelikte fällt. Echte Kriminelle lassen sich nicht abschrecken, gewitzte "ehrenwerte" Leute dann nicht, wenn die Aufklärungsquote niedrig und die Dunkelziffer hoch sind. Gewiß kann eine Massengesellschaft nicht ohne Gesetze leben, wie Hellmer schreibt, aber nicht deshalb, weil die Mitglieder der Massengesellschaft nach den ihnen nicht bekannten Gesetzen handeln (sollen), sondern weil und soweit sie sich von den zuständigen Behörden und Gerichten unter staatlichem Zwang nach Maßgabe dieser Gesetze behandeln lassen müssen. Man muß einsehen, daß Gesetze sich nicht unmittelbar an die Bürger richten. Die gesetzlichen Normen sind weder Befehle wie der Dekalog im alten Testament noch Imperative, sondern Anordnungen und Erwartungen, die das Verhalten des als mündig vorgestellten Individuums in der Form bedingter Urteile betreffen. Die Fällung, Vollziehung und Vollstreckung dieser Urteile bleibt denjenigen überlassen, die sich im konkreten Fall entweder auf entsprechende Unterrichtung hin den gesetzlichen Normen unterwerfen oder, weil die 54
Vgl. Wickler, Die Biologie der 10 Gebote, 1971, S. 51-74.
4. Die Steuerung d~s menschlichen Verhaltens
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öffentliche Gewalt sie dazu zwingt, unterwerfen müssen. De facto wird das Recht nicht deshalb beachtet, weil man es kennt, sondern weil man im Vertrauen auf das nichtbewußte, stammesgeschichtlich erworbene und angeborene und das im Wege der Erziehung, persönlichen Erfahrung und des allgemeinen Brauchs erworbenen Wissens bemüht ist, mit dem Strom zu schwimmen. Da der Masse der Bevölkerung, auf die es letzten Endes ankommt, das Recht in seiner Gänze und seinen Einzelheiten unbekannt ist, haben nur die allgemein bekannten und durch Erziehung, Schule und Religion eingeimpften moralischen Grundmahnungen eine gewisse, heutzutage höchst unsichere Chance, das Tun und Lassen der Menschen innerhalb eines räumlich und zeitlich begrenzten partikulären Gesellschaftsintegrats zu motivieren. Die Einsicht und überzeugung von der sittlichen Notwendigkeit und der moralischen Werthaftigkeit der in den Gesetzen enthaltenen Verbote verlangen heißt: die soziale Wirklichkeit nicht sehen und wahrhaben wollen.
5. Die Interdependenz von Gesetzgebung, Rechtslehre und Rechtsprechung * 1. Die Klassifizierung von Erkenntnissen führt leicht zu Formulierungen, die zwar nicht antithetisch gemeint sind, aber leicht so verstanden und dadurch auch mißverstanden werden können. Wenn ich im Folgenden von "Gesetzesrecht" , "Professorenrecht" und "Richterrecht" spreche, so muß ich zur Vermeidung von Mißverständnissen einige Klarstellungen machen:
a) Die Ausdrücke "Richter" und "Professor" sind hier als Bezeichnungen für die Exponenten bestimmter Funktionen gemeint. "Richter" meint alle diejenigen, die kraft ihres Amtes im konkreten Fall juristisch zu entscheiden haben, d. h. an der praktischen Rechtspflege teilnehmen. "Professor" meint alle diejenigen, die sich theoretisch mit juristischen Fragen beschäftigen, d. h. an der Wissenschaftspflege in Forschung und Lehre kraft Amtes oder aus Neigung teilnehmen. Hiermit soll keineswegs gesagt werden, daß ein Richter nicht theoretisieren, ein zum Verfassungsrichter gewählter Professor nicht praktizieren dürfe oder könne. Es wird lediglich behauptet, daß dieselbe Person, wenn sie z. B. Mitglied des Lehrkörpers einer Juristischen Fakultät und Rechtsanwalt ist, in jedem der beiden Bereiche unterschiedliche Aufgaben wahrnimmt und deshalb unter verschiedenen faktischen Bedingungen arbeitet. Wer als Professor auftritt, hat sich in der Lehre an den Erfordernissen der zeitgenössischen Wissenschaft und Technologie zu orientieren, während er frei forschen und publizieren kann, soweit er nicht gegen die Strafgesetze verstößt. Wenn aber dieselbe Person sich als Rechtsanwalt betätigt, muß sie ihr Verhalten an anderen Kriterien ausrichten, insbesondere sich an den konkreten Fall halten, die Interessen des Mandanten vertreten und die prozessualen Vorschriften ebenso beachten wie die Bestimmungen des Anwaltsgesetzes. Entsprechend ist ein Richter, wenn er in dieser seiner Eigenschaft Entscheidungen zu fällen hat, an die Verfassung, die Gesetze und das Recht gebunden, während er als Autor eines wissenschaftlichen Werks ebenso frei ist wie jedermann. Diese Auffassung hat mit Schizophrenie nichts
* Bisher nur in türkischer Sprache unter dem Titel: "Yasama He ögreti ve yargl arasmdaki kar~lhkli baghhk" erschienen in: Istanbul üniversitesi Hukuk Fakültesi 50 yll Armaganl. Cumhuriyet döneminde Hukuk. Istanbul 1973, S. 173-189.
5. Gesetzgebung, Rechtslehre und Rechtsprechung
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zu tun, sondern wird hinlänglich durch den soziologischen Begriff der "Rolle" erklärt. "Rolle" in diesem Sinne ist der Inbegriff derjenigen Verhaltensweisen, die dem Inhaber einer sozialen Position innerhalb einer bestimmten Gesellschaft aufgegeben sind und von der Gesellschaft erwartet werden. b) Schon aus diesen Ausführungen dürfte sich ergeben haben, daß die Nebeneinanderstellung von Gesetzesrecht, Professorenrecht und Richterrecht nicht antithetisch gemeint ist. Ich will vielmehr damit erklären, daß der Inbegriff alles dessen, was unter dem Ausdruck Recht verstanden wird, genetisch, d. h. unter dem Gesichtspunkt der Entstehung betrachtet, ein gemeinsames Werk von Gesetzgebung, Rechtslehre und Rechtsprechung bildet, die in dauernder Interdependenz, d. h. in wechselseitiger Bezogenheit, Abhängigkeit und Beeinflussung zu- und voneinander stehen. Für die jeweils erforderliche konkrete Analyse des Inhalts und der Tragweite abstrakter Rechtsregeln ist diese dauernde wechselseitige Beeinflussung unentbehrlich. Das, was man "Recht" nennt, ist kein statischer Block, sondern ein dynamisches Wellensystem; nicht ein Sein, sondern ein unaufhörliches Werden; nicht etwas Abgeschlossenes, sondern etwas dauernd sich Wandelndes. Hierfür brauche ich einem heutigen Juristen keine Beispiele zu geben. Er weiß aus der Rechtsgeschichte, wie bestimmte Rechtsgedanken, die von "Professoren" vorgeformt waren, durch Vermittlung der Anwälte in den Prozeßschriften von den Richtern aufgenommen oder umgewandelt, von den Professoren kritisiert und umgeschliffen, von den Gerichten erneut aufgegriffen und schließlich als Leitsätze richterlicher Entscheidungen verkündet und in die Lehrbücher als Rechtssätze aufgenommen oder zum Anlaß für neue gesetzliche Vorschriften betrachtet worden sind. 2. Wenn ich also, wie bereits geschehen, die Behauptung aufstelle, daß das "Recht" unter den heutigen und hiesigen Gegebenheiten genetisch betrachtet ein gemeinsames Werk der Gesetzgeber, Professoren und Richter, also Gesetzesrecht, Richterrecht und Professorenrecht ist, so steht diese Aussage zwar scheinbar in Widerspruch zu der normativen Ordnung der Verfassung und den in ihr zum Ausdruck kommenden Prinzipien der Aufklärung und des Vernunftsrechts, zu dem Postulat der Gewaltenteilung, zu der Idee einer Rechtsordnung, die lückenlos, geschlossen und vollständig ist, Willkür, Zufall und menschliche Unzulänglichkeiten ausschließt und dadurch Gerechtigkeit und Freiheit gewährleistet. Trotzdem gibt meine Analyse einen empirisch feststellbaren und hinsichtlich der Richtigkeit nachprüfbaren sozialen Sachverhalt wieder. Dies mag zwar für manche Theoretiker und Praktiker ein ÄrgerniS sein. Nichtsdestoweniger aber sollte diese Feststellung endlich allgemein zur Kenntnis genommen werden. Es bleibt jedem un-
II. Das Recht als Regulator des Soziallebens
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benommen, an unvergängliche, unveränderliche göttliche Gesetze, Gebote und Verbote zu glauben. Das darf ihn aber nicht daran hindern, einzusehen, daß Rechtsgesetze Menschenwerk sind, um den Ablauf des Soziallebens in bestimmter Weise zu regulieren und zu manipulieren. Nach heutiger Auffassung sind Rechtsgesetze nicht "Imperative" einer als Emanation höchster Vernunft hypostasierten "volonte generale" noch "Befehle" eines Herrschers an seine Untertanen. Sie sind vielmehr Richtschnuren, deren Einhaltung der von den Bürgern gewählte und sie repräsentierende "Gesetzgeber" von allen Bürgern erwartet und durch Androhung und Vollstreckung von Sanktionen als für alle verbindlich kennzeichnet. "Die Gesetze sind, wie Alois Troller! es ausdrückt, in Worte gefaßte, schriftlich festgehaltene und in verschiedener Weise bekannt gemachte Anweisungen für das Verhalten der Menschen in ihren Beziehungen, ... kurz gefaßte Anmerkungen zum Verhalten der Menschen in allen Lebenslagen, die dazu dienen, die Rechtsordnung in großen Zügen festzuhalten." 3. Woher aber kommen diese in die Form des Gesetzes gekleideten Anweisungen und Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens der Menschen in ihren Beziehungen zueinander? Welche Umstände rechtfertigen die vom Gesetzgeber gehegten Erwartungen, daß die Menschen zwar nicht ausnahmslos und immer, aber doch in der Regel und meistens in ihrem Verhalten normentsprechend = "normal" reagieren werden, normwidriges Verhalten dagegen als "anormal" die Ausnahme bildet, deren Häufigkeit man mit der Androhung und Vollziehung von Sanktionen möglichst niedrig zu halten sucht? a) Eine Rechtsschöpfung aus dem "Nichts" gibt und gab es nirgends und niemals; alles Recht, auf welchem Weg es sich auch bildet und in welcher äußerlichen Form auch immer es in Erscheinung tritt, leitet sich nach Inhalt und Geltungsanspruch aus soziologisch feststell baren und verifizierbaren konstanten und variablen Faktoren her, welche für das Ordnungsgefüge einer räumlich-zeitlich-personell abgrenzbaren, konkreten menschlichen Gesellschaft determinierend sind. "Ubi societas, ibi ius", d. h. wo eine Gesellschaft, dort gibt es auch Recht. Jedoch darf der Ausdruck "Recht" in diesem Zusammenhang nicht bloß in der engen Bedeutung eines in sich geschlossenen Systems abstrakter gesetzlicher Regeln verstanden werden. Er umfaßt vielmehr das gesamte rechtliche Gedankengut, d. h. die Gesamtheit rechtlicher Vorstellungen, Ideen, Ideale, Gedanken, welche in einer konkreten menschlichen Gesellschaft leben und wirken. Wie oft berufen sich Gesetzgeber, Richter und Professoren zur Begründung und Rechtfertigung dieses oder jenes 1
95.
Alois Troller, Rechtserlebnis und Rechtspflege, Frankfurt(M) 1962, S. 94,
5. Gesetzgebung, Rechtslehre und Rechtsprechung
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Rechtssatzes auf "Rechts anschauungen" oder "Rechtsgrundsätze" oder auf "Wandlungen der Rechtsanschauungen und des Rechts", als ob Rechtsanschauungen, Rechtsgrundsätze, Rechtsgedanken nicht ebenso zum objektiven Recht gehörten wie die Vorschriften der Gesetze! Dieses gesamte rechtliche Gedankengut ist entweder das Ergebnis rechtsphilosophischer Spekulationen, soweit es in den Ideologien zum Ausdruck kommt, durch welche die Rechtssätze und Rechtseinrichtungen ihre eigenartige politische, weltanschauliche oder religiöse Färbung und Rechtfertigung erhalten. Oder es handelt sich um das Ergebnis der Rechtstechnik, die ihren Ausdruck in Gesetzen, Verordnungen, Gerichtsentscheidungen, Formularbüchern, Allgemeinen Geschäftsbedingungen gefunden hat und die sich dank ihrer rechtstechnischen Formulierung als Material zum Einbau in ein neues Gesetz, eine neue Verordnung, eine neue Gerichtsentscheidung besonders leicht verwenden lassen. Dieses rechtliche Gedankengut kann auch rechtswissenschaftlicher Natur sein, soweit es seinen Ausdruck in der Rechtsliteratur findet oder an den Universitäten, in öffentlichen Vorträgen und auf Tagungen mündlich übertragen und diskutiert wird. Schließlich ist es rechtspraktischer Natur, soweit es bei Gerichtsverhandlungen in der Form von Schriftsätzen, Plädoyers oder Gutachten zu den Gerichtsakten kommt und durch Rede und Gegenrede in den Beratungszimmern der Richter zu einer bestimmten Entscheidung mit oder ohne Sondervoten führt. Ein richterliches Urteil ist somit etwas ganz anderes als eine lediglich logische Subsumtion des Sachverhaltes unter das Gesetz. Der Ausdruck "Prozeß" stellt für sich allein schon klar, daß es sich um einen räumlich-zeitlich ablaufenden Vorgang handelt, bei dem rechtliches Gedankengut verarbeitet wird. Jedem Urteil geht ein geistiges Ringen voraus, dessen Ergebnis sich in den schriftlichen Begründungen findet. Ob das Urteil Bestand hat oder von der höheren Instanz aufgehoben wird, ob es Schule macht oder der Vergessenheit anheimfällt, ob es in der Presse oder in der wissenschaftlichen Diskussion gelobt oder gescholten wird, ändert nichts daran, daß wir es mit einer Emanation des Rechts zu tun haben. Recht in diesem Sinne verstanden ist eine nicht abreißende Diskussion, ein dauerndes Spiel von Herausforderung und Antwort (challenge and response), von Behauptung, Replik, Duplik usw. usw. Der Gegensatz von Recht in diesem Sinne ist das, was man mit Carbonnier 2 das "Nicht-Recht" (Non-Droit) nennen könnte, d. h. die weiten Gebiete des 2 Jean Carbonnier, Die großen Hypothesen der Theoretischen Rechtssoziologie (Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder, Sonderheft 11/1967 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 135 ff.). Jean Carbonnier, Hypothese du non-droit (Arch. de phi!. du droit 8 [1963], p. 55 ff.).
11. Das Recht als Regulator des Soziallebens
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Soziallebens, deren Ordnung vom Rechtsmechanismus nicht berührt wird, sondern anderen Arten von "social control" überlassen bleibt. Dagegen gehört das, was man als "Unrecht" bezeichnet, zum objektiven Recht, da es Unrecht im Sinne von Rechtsverletzung nur sein kann unter dem Gesichtswinkel einer räumlich-zeitlich-personell abgrenz baren konkreten Rechtsordnung. Es gibt menschliches Verhalten, das hier als strafbares Unrecht, anderswo aber als rechtlich erlaubt gilt (und umgekehrt!). Wenn das oberste Gericht das Urteil eines Instanzgerichts aufhebt mit der Begründung, der Rechtsauffassung der unteren Instanz könne aus Rechtsgründen nicht gefolgt werden, die Urteilsbegründung sei rechtsirrig, so kann man dem Urteil der ersten Instanz den Rechtscharakter ebensowenig absprechen wie einer Gesetzesbestimmung, die vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig für nichtig erklärt wird. In diesen Fällen handelt es sich um "richtiges" oder "unrichtiges" Recht, wobei zum Beurteilungskriterium ein typisch juristisch-normativer Maßstab dient. Ein Gesetzessatz oder ein Urteil kann "angemessen" oder "unangemessen", d. h. sachgemäß oder sachwidrig sein; es kann auch unter dem Gesichtspunkt des sog. Rechtsgefühls "befriedigend" oder "unbefriedigend", unter dem Gesichtspunkt der Ethik "gerecht" oder "ungerecht" sein. Auch wenn derartige Rechtssätze oder Gerichtsurteile als unangemessen oder ungerecht bewertet oder als unbefriedigend empfunden werden, so stehen sie trotzdem innerhalb dieses unaufhörlichen Prozesses, dem das Recht als soziales Phänomen notwendig unterworfen ist. Wie anders sonst sollte realisiert werden können, was das deutsche Reichsgericht 3 einmal als die erste und vornehmste Aufgabe des Richters dahin umschrieben hat, sie "gehe dahin, in seiner Rechtsprechung den unabweislichen Bedürfnissen des Lebens gerecht zu werden und sich in dieser Beziehung von Erfahrungen des Lebens leiten zu lassen". b) Auch der Vorgang der Gesetzgebung, mag es sich um eine umfassende Kodifikation oder um ein einzelnes Gesetz handeln, besteht darin, bereits vorhandenes rechtliches Gedankengut ohne Rücksicht auf seine Herkunft und die Form seiner Fixierung nach bestimmten Gesichtspunkten auszuwählen und in die Form eines Gesetzentwurfes zu bringen. Dieser wird in wissenschaftlichen, politischen und parlamentarischen Diskussionen gesiebt, ergänzt, abgeändert, um schließlich in derjenigen Gestalt und mit demjenigen Inhalt in Kraft zu treten, die der zur letzten Entscheidung verfassungsmäßig berufenen Gesetzgebenden Körperschaft angemessen erscheinen. 4. Um jede gesetzliche Regel und um jeden in dieser Regel gebrauchten Begriff rankt sich eine Fülle juristischer und metajuristischer Vor3
RGZ 100, 130 ff. (132).
5. Gesetzgebung, Rechtslehre und Rechtsprechung
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stellungen, Meinungen, Gedanken und Ideen, die ebenfalls nicht aus dem "Nichts" stammen, sondern als Ergebnisse der Wissenschaftspflege und der Rechtspflege in der Form von bewährter Rechtslehre und Rechtsprechung ihren Niederschlag gefunden haben. Das meiste, was uns im Wortgewande des Gesetzes entgegentritt, ist umgeformtes rechtliches Gedankengut, das teils geordnet, teils ungeordnet als Rechtsprechung und Lehre schon bereit lag und dem Gesetzgeber eine Auswahl aus der Fülle möglicher Verhaltensmuster erlaubte. Man lese die Begründungen zu den diesbezüglichen Gesetzesentwürfen! Immer wieder wird auf die Literatur und die höchstrichterliche Rechtsprechung verwiesen, um zu begründen, warum man dieses oder jenes vorschlage, dieses oder jenes ablehne, die Lösung dieses oder jenes Interessenkonfliktes lieber der Gerichtspraxis oder der wissenschaftlichen Lehre überlasse. Dies gilt selbst dann, wenn der Gesetzgeber, wie man zu sagen pflegt, Neuland erschließt; denn wer auch immer den Entwurf vorbereitet, muß selbst Sachkenner sein oder Sachkenner zu Rate ziehen. Er muß aber vor allem auch die vielfältigen, meist einander widersprechenden Interessen derjenigen berücksichtigen, die unmittelbar oder mittelbar von dem neuen Gesetz positiv oder negativ berührt werden. Ein "Technokratenminister" , der die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse bei seinen Entwürfen nicht berücksichtigt, wird seinen technisch noch so gut ausgearbeiteten Entwurf bei den parlamentarischen Verhandlungen nicht durchsetzen; denn der Vorgang der Gesetzgebung ist ebenfalls ein Kampf, der sich vor allem in den sachlich zuständigen Parlamentsausschüssen abspielt und in der Regel mit einer im Bericht des Ausschusses erläuterten und begründeten neuen Fassung abschließt, welche dem Plenum zur Annahme vorgeschlagen wird. Sind mehrere Ausschüsse mit dem Entwurf befaßt, so entstehen oft mehrere Fassungen als das Ergebnis politischer Machtkämpfe, die in den Ausschüssen ausgetragen worden sind. Wenn schließlich die in den Ausschüssen durchberatenen Entwürfe entsprechend der Verfassung im Plenum behandelt werden, spielt sich erneut ein geistiges Ringen ab, in dem nicht die besseren Argumente, sondern meistens die Stärke der Fraktionen von entscheidendem Gewicht sind. Daß bei der Stimmabgabe der Abgeordneten und Senatsmitglieder die Vorstellungen vom "Glück des Volkes", für das zu arbeiten sie sich unter Eid verpflichtet haben, nicht einheitlich ist und sein kann, ist ein soziales Faktum, das in den Programmen der verschiedenen politischen Parteien seinen Niederschlag gefunden hat, aber auch durch die jeweilige politische Situation, insbesondere durch die öffentliche Meinung und die offenen oder versteckten Pressionen der außerhalb des Parlaments stehenden Machtgruppen beeinflußt wird. Auch in diesen Fällen also entsteht ein Gesetz nicht aus dem "Nichts". Die aus dem
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11. Das Recht als Regulator des Soziallebens
juristischen Begriffsschatz stammenden Argumente der Interessenten sind ebenfalls Gedankengut, das aus Lehre und Rechtsprechung stammt. Sie dienen als "Baumaterialien", die der mit der Gesetzesvorbereitung betraute Jurist rechtstechnisch und rechtssystematisch sachgemäß bearbeiten muß. Dies aber erfordert eine möglichst ausgiebige Berücksichtigung der einschlägigen rechtswissenschaftlichen Literatur und der Rechtsprechung, weil nur auf diese Weise eine klare theoretische Grundkonzeption zu gewinnen und ein für die praktische Anwendung des Gesetzes übersichtlicher und geschlossener Aufbau des ganzen Gesetzes zu erreichen ist. 5. Daß dies oft nicht gelingt, wissen wir. Aber selbst dann, wenn es gelingt, ist der reine Gesetzestext, für sich allein betrachtet, bestenfalls ein Gerüst. Der Gesetzestext erhält seinen Inhalt, seine Tragweite, kurzum die Möglichkeit zur Entfaltung als Richtschnur und verbindliche Norm für den Ablauf des Soziallebens erst durch die Handhabung, d. h. durch das, was die Juristen - und nicht nur diese - aus ihm machen. Es ist oft ziemlich schrecklich, wenn Nicht juristen sich mit Eifer über die Ausdeutung juristischer Klauseln hermachen. Mit dem Gesetzestext allein kann nur derjenige zu sachgemäßen und richtigen Entscheidungen gelangen, der den "Kommentar" zu jeder einzelnen Bestimmung, d. h. die Ergebnisse der Rechtsprechung und Lehre kennt. Das bedarf für Gesetze, die seit langem in Kraft sind, keines weiteren Beweises. Aber gerade erst erlassene neue Gesetze können sachgemäß und richtig nur befolgt und angewandt werden, wenn man das gesamte rechtliche Gedankengut kennt, das der Gesetzgeber in den dürren Worten des Gesetzes aufgefangen oder aufgespeichert zu haben glaubt. Die Gesetzesmaterialien und die einführenden Aufsätze von Sachkennern sind unentbehrlich, solange die Bestimmungen neuer Gesetze der richterlichen Praxis und der wissenschaftlichen Forschung noch nicht in einem derartigen Umfang ausgesetzt worden sind, daß sich daran und darüber eine eigenständige Rechtsprechung und Lehre hat bilden können. 6. Unter rechtssoziologischem Gesichtswinkel betrachtet, besitzt jedes vom Gesetzgeber neu beschlossene und verkündete Gesetz bei seinem Inkrafttreten die Qualität von "Recht" als verbindliche Richtschnur ("Norm") für das Verhalten der Normadressaten nur insoweit, als seine Bestimmungen dem zeitgenössischen Standard des rechtlichen Gedankenguts entsprechen, jedoch die Qualität von bindendem Recht insoweit erst erwerben muß, als seine Bestimmungen den Niederschlag neuer Wertungen, Begehrungen, Interessen bilden, denen der Gesetzgeber sein Einverständnis erteilt hat. Gesetze haben, wie Fritz Werner4, der ver4
Verhandlungen des 43. Deutschen Juristentags, Bd. 11, D 129.
5. Gesetzgebung, Rechtslehre und Rechtsprechung
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storbene Präsident des Bundesverwaltungsgerichts es formuliert hat, nur dann einen Sinn, wenn sie sich durchsetzen. Das aber hängt von zahlreichen Faktoren ab, unter denen Rechtslehre und Rechtsprechung deshalb eine besondere Bedeutung beanspruchen, weil nur mit ihrer Hilfe ermittelt werden kann, welchen Inhalt und welche Tragweite die formell als Gesetz in Geltung gesetzten Rechsnormen haben können und in welchem Umfang sie den Ablauf des Soziallebens faktisch beeinflussen. Bei dieser Betrachtungsweise ist das förmliche, vom Gesetzgeber erlassene Gesetz nicht das A und 0 des Rechts, sondern nur ein Faktor, der für sich allein objektives Recht zwar zu setzen, aber nicht durchzusetzen vermag. Man sollte das Verhältnis von Gesetzgebung, Rechtslehre und Rechtsprechung weder als Partnerschaft noch als Arbeitsteilung bezeichnen und qualifizieren, sondern zugestehen, daß die Ausdrücke Gesetzesrecht, Professorenrecht, Richterrecht nichts andere besagen, als daß - genetisch betrachtet - "Recht" als Gesamtbegriff für rechtliches Gedankengut nur als Inbegriff der Ergebnisse verschiedenartiger, aber in Wirkungszusammenhang stehender Funktionen des Gesetzgebers, der Professoren und der Richter verstanden werden kann. Die Art des Zusammenspiels dieser Funktionen und die größere oder geringere Bedeutung der einen oder der anderen hängt von den jeweiligen Herrschafts- und Machtverhältnissen innerhalb einer Rechtsgemeinschaft ab. 7. Aus den vorstehenden Ausführungen lassen sich einige Folgerungen ziehen, die ich wie folgt formulieren möchte: Der heute und hier mit der Rechtspflege betraute Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt, Beamte ist der nach den einschlägigen Gesetzen auf einer Universität wissenschaftlich ausgebildete Jurist. Die in der Verfassung den Gesetzgebenden Körperschaften als Monopol vorbehaltene Zuständigkeit zur Rechtssetzung ist nur sinnvoll, weil es, wie der schweizerische Jurist Liver5 sagt, die Wissenschaft ist, welcher der Gesetzgeber die Kodifikation verdankt. Ohne wissenschaftliches System und ohne wissenschaftlich erarbeitete Begriffe ist Gesetzgebung im heutigen Sinne unerfüllbar. Aus dem gleichen Grund kann sich der Gesetzgeber, öfter als man glaubt, der gesetzlichen Regelung sozialer Interessenkonflikte und zwischenmenschlicher Beziehungen enthalten und die Regulierung der Wissenschaft und der von dieser bald gesteuerten, bald kontrollierten Praxis überlassen. Wenn Arthur Kaufmann6 meint, Gesetz und Recht verhielten sich wie Möglichkeit und Wirklichkeit, so möchte ich noch darüber hinausgehen und behaupten, daß auch die Gesetze zur Wirk5 Feter Liver, Kodifikation und Rechtswissenschaft (Zeitschrift für schweizerisches Recht), Neue Folge Bd. 80 (1960), S. 199. • Arthur Kaufmann, Freirechtsbewegung, lebendig oder tot?, JuS 1965, 1 ff. (7).
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Ir. Das Recht als Regulator des Soziallebens
lichkeit gehören, soweit sie nicht bloße Proklamation und Postulat bleiben oder zum toten Buchstaben geworden sind. Die Unterscheidung von "law in the books" und "law in action" scheint mir sinnvoller zu sein, weil es für den Entstehungsvorgang des Rechts als einem unaufhörlichen Prozeß nicht darauf ankommt, ob ein Rechtsgedanke faktisch angewandt wird, sondern allein darauf, ob er, wenn auch nur latent und virtuell vorhanden ist und seine Anwendung im Konfliktsfall nicht unwahrscheinlich ist. Hiermit ist bereits gesagt, daß eine weitere Aufgabe der Rechtslehre darin besteht, Entscheidungen der Gerichte und Verwaltungsbehörden sowie gesetzgeber ische Akte vorzuformen. Deswegen muß die Rechtslehre sich unaufhörlich mit der Rechtsprechung auseinandersetzen, so wie diese, um wissenschaftlich zu bleiben, die Angemessenheit ihrer Entscheidungen immer wieder neu anhand der in freier Forschung und Lehre gewonnenen theoretischen Lehrmeinungen kontrollieren muß. 8. Da somit Gesetzgebung und Rechtsprechung in engsten funktionellen Beziehungen zur Rechtslehre stehen, hängt die Qualität von Gesetzgebung und Rechtsprechung von der Qualität der wissenschaftlichen Forschung und Lehre und der Verwendung ihrer Ergebnisse ab. Hieraus ergeben sich drei Folgerungen: a) Da die Wissenschaftspflege in Forschung und Lehre den Universitäten und hinsichtlich des Rechts den Juristischen Fakultäten anvertraut ist, müssen diese durch Gewährung ausreichender Sach- und Personalmittel in den Stand gesetzt werden, ihre dreifache Aufgabe, nämlich Bereitstellung von "Baumaterial" für gesetzgeberische Akte, Vorformung der richterlichen Entscheidungen und Ausbildung des juristischen Nachwuchses ordnungsmäßig zu erfüllen. b) In gleicher Weise müssen aber auch die Richter in den Stand gesetzt werden, sich über den jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Arbeiten zu informieren, wobei es vor allem darum geht, den Richtern hierfür ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Fortbildung zu geben. c) Die Ausbildung des juristischen Nachwuchses muß den Funktionen entsprechen, deren Erfüllung von einem wissenschaftlich ausgebildeten Juristen erwartet wird. Das Ausbildungsziel und der zu diesem Ziel hinführende Lehrplan muß garantieren, daß der von der Universität abgehende junge Jurist ausreichende Kenntnisse vom Recht und seiner Wissenschaft, juristisches Denkvermögen, Einsicht in politische, wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge und die technische Fertigkeit zu praktischer juristischer Tätigkeit besitzt. Reformversuche, die diesen Aufgaben nicht voll Rechnung tragen, entsprechen nicht der Funktion, die im Staat zu erfüllen den Juristischen Fakultäten, d. h. den Mitgliedern der Lehrkörper und den Studenten obliegt.
6. Zum sogenannten Gesetzesgehorsam * I. Die Faktizität der Rechtsordnung
1. Die Sozialgebundenheit des Menschen als Korrelat seiner Erdgebundenheit Wenn man den Statistiken Glauben schenken darf, kommen tagtäglich etwa 350000, d. h. jährlich mehr als 100 Millionen Menschenkinder "zur Welt", wie der Volksmund sagt. Sie werden aber nicht, wie manche Philosophen gemeint haben, in die Welt geworfen, sondern in die den Erdball mit z. Z. rund viereinhalb Milliarden Menschen bevölkernde menschliche Gesellschaft hinein geboren. Das bedeutet ein Doppeltes: Als organische Lebewesen können sie von der Geburt bis zum Tode nur dank und innerhalb der Luftatmosphäre existieren, welche die Erdkugel umgibt (sog. Biosphäre). Sie sind biologisch und physikalisch betrachtet erdgebundene Wesen. Aber zugleich sind sie von Kultur aus in die Menschliche Gesellschaft im Rahmen eines bald größeren bald kleineren Gesellschaftsintegrats ("Gruppe") integriert und deshalb, soziologisch betrachtet, gesellschaftsgebundene (= soziale) Wesen. Die Sozialgebundenheit des Menschen ist das Korrelat seiner Erdgebundenheit. Beide Bindungen sind in ihrer Faktizität offenkundig und bedeuten für jeden Menschen auf Lebenszeit eine natürliche Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen für das organische Leben und eine soziale Abhängigkeit von der Gruppe, deren Mitglied er ist. Kein Mensch kann "aussteigen", sondern gegebenenfalls "umsteigen"; denn wohin er sich auch immer wendet, er ist dem Planeten Erde verhaftet. A change of air and scenery mag zu einer Änderung der atmosphärischen und sozialen Lebensbedingungen führen, aber an der natürlichen Grundlage der als solcher unaufhebbaren Erd- und Sozialgebundenheit des Menschen ändert sich nichts. Dieser Sozialgebundenheit ist eine soziale Ordnung immanent. Denn ohne Ordnung ist das Miteinanderleben von Menschen in Gruppen nicht möglich. Gesellschaftliches Leben bedarf zu seinem Bestand einer Ord-
* Erstmals
veröffentlicht in JZ 1983, S. 1-6.
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Das Recht als Regulator des Soziallebens
nung, d. h. eines Regelmechanismus' , ohne den das Geflecht der sozialen Beziehungen sich gar nicht knüpfen ließe l • Gesellschaftliches Leben und soziale Ordnung bedingen sich gegenseitig und sind notwendigerweise simultan2 • Das soziale Ordnungsgefüge ist ein automatischer Dauerprozeß, der nur bis zu einem gewissen Grade durch menschliche Bemühungen in bestimmter Absicht mitbestimmten Zielen beeinflußt, gesteuert, reguliert, kurzum einer final gerichteten künstlichen Regelung unterworfen werden kann. Eine alle Menschen befriedigende und deshalb das Sozialleben auf dem Erdball befriedende Ordnung, der sog. "ewige Frieden", bedeutet nach der Meinung des Philosophen Kant das höchste politische Gut, die größte und schwerste Aufgabe, welche die Natur dem Menschengeschlecht zur Lösung aufgetragen hat. Der Lösung dieser Aufgabe dient der jederzeit und aller Orten feststellbare Kampf um die politische Macht, der ebenfalls eine natürliche Folge der Sozialgebundenheit des Menschen, ein Dauerprozeß ist, dessen wechselreiche Entscheidungen in der jeweiligen Rechtsordnung als - um mit Eugen Ehrlich zu sprechen - "rissiges, brüchiges, armseliges" Menschenwerk in Erscheinung tritt. Jede Rechtsordnung ist nur ein Sonderfall der allgemeinen Erscheinung "soziale Ordnung". Die Rechtsordnungen der zahllosen Gesellschaftsintegrate weisen zwar zeitlich, örtlich, gegenständlich, inhaltlich und strukturell gesehen jeweils starke Unterschiede auf, ziehen aber in ihrer jeweiligen Gegebenheit ebenso wie die atmosphärische Luft jeden Menschen, ob er will oder nicht, in ihren Bann, ja belegen ihn mit ihrem Bann. Niemand existiert, zu dem das Recht seiner Intention nach nicht spräche (Merkel). 2. Die Rechtsordnung als institutionelle Daseinsverfassung des Menschen
Man kann deshalb die Rechtsordnung (= das Recht) auch als "Daseinsverfassung des Menschen"3 bezeichnen, wodurch in diesem Zusammenhang, vom ursprünglich theologisch gemeinten Sinne abgesehen, ein Doppeltes deutlich wird: Einmal handelt es sich um einen faktischen Zustand, in dem sich der Mensch als animalisches Lebewesen von seiner Empfängnis bis zu seinem Tode jederzeit und überall auf dem Erdball befindet, ohne daß er an dieser Seinsweise als solcher etwas ändern oder ihr entrinnen kann. Zum andern aber ist außer diesem faktischen Zustand mit dem Ausdruck "Daseinsverfassung des Menschen" zugleich 1 2
Günter Dux, Der Ursprung der Normen, ARSP 1980, 53 ff. Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts,
1947, S. 14.
Kopenhagen
S Der Ausdruck stammt von Ernst Wolf, Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 1966, S. 1643.
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auch die soziale Institution gemeint, die zwangsläufig für jeden Menschen irgend wie verbindlich ist. Das Merkmal der Institutionalisierung besagt, daß es dem Recht eigentümliche soziale Fakten und Einrichtungen gibt, welche Verhaltensregeln und Handlungsmuster nicht nur in Geltung setzen, sondern auch im Interesse der Verwirklichung und Aufrechterhaltung der angestrebten Ziele die Einhaltung der Verhaltenserwartungen vor allem mit Hilfe eines monopolistisch gehandhabten Apparates, des sog. "Rechtsstabs"4, irgendwie garantieren.
3. Gefäß und Inhalt Recht im Sinne von Rechtsordnung ist also etwas qualitativ anderes als lediglich die Gesamtheit (der Inbegriff) der Rechtssätze und sonstigen Rechtsnormen. Um ein Wort Bismarcks über die Staatsverfassung abzuwandeln: Die Rechtsordnung ist das Gefäß, dem erst die Persönlichkeit der Herrschenden Inhalt verleiht. Anders ausgedrückt: Die im Sozialleben gewohnheitsmäßig entstehenden Normen sowie die von Gesetzgebern erlassenen Rechtsgesetze bestimmen zwar großenteils den jeweiligen Inhalt einer Rechtsordnung, bilden aber, für sich allein als Normenmasse genommen, nicht das Recht selbst, auch wenn die üblichen Definitionen und Umschreibungen dies behaupten5 • Sie verstehen unter "Recht" nur einen Inbegriff (= Gesamtheit = ensemble = body) von Regeln, deren Funktion in der Ordnung von Beziehungen im zwischenmenschlichen Bereich eines Gesellschaftsintegrats besteht. Damit ist aber das, was das Recht seinem Sein und Wesen nach ist, nur umschrieben, aber nicht erklärt. Die Rechtsregeln allein machen das Recht nicht aus 6 , ebenso wenig wie die Artikel eines Verfassungsgesetzes die 4 Dieses Wort bezeichnet im Sinne von Max Weber den Inbegriff aller derjenigen Personen, welche mit der praktischen Anwendung des Rechts im Bereich der Rechtspflege "rollenmäßig" zu tun haben so wie die dazu bestimmten sachlichen Einrichtungen und Mittel vom Justizpalast bis zum Grundbuchamt. S Beispiele: Nach dem Rechtswörterbuch von Creifels ist Recht die Gesamtheit der Rechtsvorschriften, durch die das Verhältnis einer Gruppe von Menschen zueinander und zu oder zwischen den übergeordneten Hoheitsträgern geregelt ist. Nach dem Vocabulaire Juridique von Henri CapHant wird Recht umschrieben als "ensemble des regles munies de sanctions regissant les relations des hommes vivant en societe". Schließlich heißt es im Coneise Oxford Dictionary of current English unter dem Stichwort Law: "Body of enacted or customary rules recognized by a community as binding, this personified" . 8 Vgl. eingehende Ausführungen zu dieser Frage in meiner Abhandlung: Einheitliches Wechsel gesetz oder einheitliches Wechselrecht? NJW 1961, 1089 bis 1094 und in meinem Buch: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, 1966, 210-223; ferner meine Abhandlung, Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, AcP 175 (1975), 471-511 (486 ff.) und unten S. 159 ff. und mein Buch: Rezeption als sozialer Prozeß, Berlin 1981, S. 9, 53, 132 ff.
7 Hirsm
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H. Das Recht als Regulator des Soziallebens
Verfassung bedeuten. Das, was man üblicherweise Recht nennt, ist nicht ein in sich abgeschlossenes System abstrakter Rechtsregeln; Recht ist vielmehr das gesamte Gedankengut rechtlichen Inhalts, welches in einem konkreten Gesellschaftsintegrat lebt und wirkt. Rechtsanschauungen, Rechtsprinzipien, Rechtsgedanken, Richterspruche gehören ebenso zum objektiven Recht wie gesetzliche Vorschriften. Die Gesamtheit der Rechtsnormen ist mit der Rechtsordnung nicht identisch. Das formelle, vom Gesetzgeber erlassene Gesetz ist nicht das A und 0 des Rechts, sondern nur ein Faktor, der für sich allein objektives Recht zwar zu setzen, aber nicht durchzusetzen vermag. Genetisch betrachtet kann Recht (= Rechtsordnung) als Gesamtbegriff für rechtliches Gedankengut nur als Resultat verschiedenartiger, aber in wechselseitigem Wirkungszusammenhang stehender Funktionen der Gesetzgebung, der Lehre und der Rechtsprechung sowie der außergerichtlichen Rechtspraxis verstanden werden. Die Art des Zusammenspiels dieser Funktionen und die bald größere, bald geringere Bedeutung der einen oder der anderen hängen von den jeweiligen Herrschafts- und Machtverhältnissen innerhalb einer konkreten Rechtsgemeinschaft ab. Ein justitium kann es nur als Stillstand der Rechtspflege, nicht des Rechts geben, wenn der durch den Rechtsstab zu bedienende Rechtsmechanismus durch höhere Gewalt behindert ist. Auch Krieg und Terror stehen im Recht ebenso wie alle Rechtsbrüche, die per definition em das Vorhandensein der Rechtsordnung voraussetzen. Das in jedem geschichtlichen Augenblick der Rechtsgesellschaft verbindliche Recht ist Funktion eines kollektiven Systems und seiner gesamten Struktur7 • "Denn das Recht ist", um mit Fritz Kleins zu sprechen, "nicht die Rechtsordnung allein, sondern es ist die Rechtsordnung und der ganze Reichtum und Wechsel des gesellschaftlichen Daseins zusammen; das Recht hat dieses ganze ruhelose Leben als ewig unbefriedigten, heischenden, nörgelnden und neuerungssüchtigen Genossen neben sich." Daraus erklärt sich, daß das Recht als institutionelle Daseinsverfassung der Menschen solange Bestand hat, als das Gesellschaftsintegrat besteht, dem es als sozialer Ordnungsmechanismus immanent ist. 11. Die Verbindlichkeit der Rechtsgesetze Unterscheidet man, wie geschehen, die dem Menschenleben immanente Sozial gebundenheit durch die Rechtsordnung von deren in dauerndem Wandel und Wechsel befindlichen Bestand an Rechtsgesetzen und sonstigen Rechtsnormen, so stellt sich die Frage nach der Ursache 7
FN 2, S. 233/234.
Die gesellschaftlichen und sozialen Grundlagen des Rechts der Erwerbsgesellschaften, Wien 1914, S. 7. 8
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(kausal) oder dem Grund (logisch) der Verbindlichkeit dieser Rechtsgesetze, wobei Verbindlichkeit ein Doppeltes meint: Einmal die Bindung des Rechtsstabs an das Gesetz und zum anderen das Gebundensein derjenigen, deren Verhalten, Tun und Lassen im Sozialleben nach diesen Rechtssätzen rechtlich zu beurteilen ist.
1. Die Bindung des Rechtsstabs an das Gesetz Diese Zweiteilung ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Gesetze. Während die Bindung der Richter an das Gesetz nicht weniger als dreimal in gesetzlicher Form zum Ausdruck kommt, nämlich in Art. 97 GG, § 1 GVG, § 25 DRiG (vgl. auch die §§ 35-40 des Beamtenrechtsrahmengesetzes), ist keine ausdrückliche gesetzliche Vorschrift ersichtlich, wonach die Rechtsnormen für jedermann verbindlich sind. Daß die Mitglieder des Rechtsstabs an das Gesetz gebunden, dem Gesetz unterworfen, an die Ketten des Gesetzes gelegt sind, ergibt sich aus dem dienstrechtlichen Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Richtern und Beamten, die zur Ausführung der staatlichen Aufgaben im Bereich von Rechtsprechung und Verwaltung berufen sind. Ohne die postulierte Gesetzesbindung der Mitglieder des Rechtsstabs wäre die Verwirklichung der Staatsaufgaben, die Steuerung und Regelung des Soziallebens mit Hilfe rechtlicher Anordnungen faktisch unmöglich. Die Bindung an das Gesetz oder in anderer Formulierung die Unterwerfung unter das Gesetz ist in Wirklichkeit nur der Ausdruck für eine politische und soziale Selbstverständlichkeit, welche den Mitgliedern des Rechtsstabs in der Regel vor Beginn ihrer Amtstätigkeit durch den von ihnen zu leistenden Eid ins Gedächtnis gerufen wird9 • Die Bindung des Richters und sonstigen Staatsdieners an das Gesetz oder ihr Unterworfensein unter das Gesetz ist eine für jedes politische Regime unentbehrliche Leerformel, deren wechselnder Inhalt durch wechselnde Wertvorstellungen über die Ausübung politischer Macht bestimmt werden10 • Daß für die Mitglieder des Rechtsstabs die Rechtsgesetze verbindlich sind, ist eine universelle Rechtstatsache, die als solche mit dem Prinzip der Gewaltenteilung ebensowenig zu tun hat wie mit der Rechtsstaatlichkeit. Diese Umstände sind u. a. nur die Ursachen dafür, wie kurz und straff oder wie lang und elastisch die Kette beschaffen ist, welche die Mitglieder des Rechtsstabs an das Gesetz bindet, bestimmen also 8 Über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides, vgl. meine Schrift, Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters, Berlin 1979, S. 140 ff. 10 Vgl. hierzu meine Abhandlung, Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze (oben FN 6), S. 496 und meine dort in FN 45 angeführten Aufsätze. Siehe auch meinen Vortrag: "Die Bindung des Rechtsstabs an das Gesetz", unten S. 200 ff .
."
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11. Das Recht als Regulator des Soziallebens
nur die Modalitäten der Bindung und den Umfang des erlaubten Ermessens.
2. Die Verbindlichkeit der Rechtsgesetze für die Rechtsgesellschaft Die Verbindlichkeit der Rechtsgesetze für die Rechtsöffentlichkeit ist in der Rechtslehre ein bereits seit den Anfängen des Naturrechts immer wieder behandeltes dogmatisches Themal l • Die heute gängige Auffassung mag an dem folgenden Zitat veranschaulicht werden12 : "Daß Gesetze dazu bestimmt sind, die Menschen bei ihrem rechtsbezogenen Handeln positiv zu beeinflussen, sie auch allgemein moralisch aufzurichten und zum Guten zu leiten, ist allgemeine überzeugung und der staatlichen Rechtssetzung als Devise unentbehrlich. Dies hat man sich so vorzustellen, daß der aus Gesetz oder Gewohnheitsrecht herrührende Rechtssatz durch Unterricht oder praktische Erfahrung in das Bewußtsein des einzelnen Rechtsgenossen tritt und sich hier als Wissensbestandteil etabliert. Als solcher wirkt er bei künftigen Entscheidungen motivierend mit. Die Sollensstruktur der Norm entfaltet dann ihre eigentliche vom Gesetzgeber beabsichtigte Wirksamkeit. Der Mensch tut zumindest gut daran, nach den Gesetzen zu handeln, weil er sich damit vor materiellen Schäden bewahrt. Darüber hinaus jedoch . .. soll die nachdenkende Beschäftigung mit dem Recht die tiefen Schichten der Persönlichkeit formen und den gewissenhaften, sorgfältig abwägenden, konsequenten redlichen Menschen schaffen, der als der ideale Staatsbürger gilt." Zu diesen Ausführungen sei es erlaubt, einige kritische Bemerkungen zu machen: Daß der Gesetzgeber mit seinen Gesetzen die Menschen motivieren will, im Sinne der Gesetze zu handeln, d. h. sich gesetzmäßig zu verhalten, und daß diese Auffassung der staatlichen Rechtssetzung als Devise unentbehrlich ist, kann als allgemeine Meinung und herrschende Lehre angesehen werden. Es ist die allgemeine Anschauung, daß der Gesetzgeber von der Allgemeinheit oder denjenigen, die es angeht, ein im Gesetzessatz formuliertes Verhalten verlangt. Auf diese Auffassung komme ich unten zurück. Daß der Gesetzgeber darüber hinaus durch seine gesetzgeberische Tätigkeit die Menschen moralisch aufzurichten und zum Guten zu leiten bestrebt sei, kann nur als Meinung von Moralphilosophen qualifiziert werden13 • Auch der Erklärungsversuch, auf 11 Vgl. Binder, Der Adressat der Rechtsnorm und seine Verpflichtung, Leipzig 1927, S. 4-24; ferner Uwe Krüger, Der Adressat des Rechtsgesetzes, Berlin 1969, passim. Siehe auch Hagen Hof, Verhaltensforschung zum Recht; in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 349-373. 12 Werner Rother, Recht und Bewußtsein, München 1979, S. 23. 13 Beispiel: Joachim Hellmer, über die Glaubwürdigkeit des Strafrechts und die Bedeutung des zwischenmenschlichen Verhältnisses für die Kriminalitätsbekämpfung, JZ 1981, 153 ff. und dazu meinen Aufsatz, Die Steuerung des menschlichen Verhaltens, JZ 1982,41 ff. und oben S. 69 ff.
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welchen Wegen denn die Motivierung wirksam wird, ist eine Vorstellung, die nur im Elfenbeinturm des sich vor den Wirklichkeitszusammenhängen des Soziallebens verschließenden Gelehrten ersonnen werden kann, hat aber mit der Wirklichkeit nicht das Mindeste zu tun. Denn nicht die Gesamtheit der Rechtsgenossen, sondern nur die im Verhältnis zum Volksganzen zahlenmäßig kaum in Betracht kommende kleine Gruppe der Fachjuristen gelangt durch Unterricht und praktische Erfahrung zu einem Teilwissen des Rechtsstoffs, während die Nicht juristen nur insoweit etwas vom Recht wissen, als sie sich bei oder zur Ausübung ihres Berufs oder Gewerbes sachbezogene Rechtskenntnisse in beschränktem Ausmaß verschaffen. Daß der Mensch gut daran tut, nach den Gesetzen zu handeln, weil er sich damit vor materiellen Schäden schützt, wäre eine Binsenwahrheit, wenn der Mensch die Gesetze, nach denen er handeln soll, und alles, was sich an Wissenswertem um eine Gesetzesnorm rankt, zur Kenntnis nähme und wissen könnte. Aber Rother sagt selbst an einer anderen Stelle seiner Schrift (S.6), der weitaus überwiegende Teil des Rechtsstoffes ruhe gespeichert, einerseits präsent im Sinne von abrufbar, andererseits aber durchaus vergessen oder besser gesagt von der Mehrheit der Bürger nie zur Kenntnis genommen (Hervorhebung von mir) in den Büchern 14 • Ich habe bereits an anderer StelleiS darauf hingewiesen, daß empirische Nachweise für die Richtigkeit der noch immer geglaubten Auffassung fehlen, normalerweise würden alle Gesetze deshalb befolgt, weil sie darauf angelegt seien. Die landläufige allgemeine Meinung auch bei Juristen geht dahin, daß Gesetze zu dem Zwecke gemacht werden, daß sie von denen, die es angeht, befolgt werden. Man unterstellt, daß die Menschen als Mitglieder einer Rechtsgesellschaft nach Maßgabe der Rechtsnorm handeln, ohne daß man berücksichtigt, wie dies denn angesichts der mangelnden Kenntnis dieser Rechtsnormen möglich sein soll. Theodor Geiger 16 hat diese schwache Stelle der üblichen Rechtslehre zwar nicht gesehen, aber jedenfalls gefühlt. Während er an einer Stelle ausführt, als "geltendes Recht" erscheine der Inbegriff der Ge barensmodelle, die innerhalb eines unter einer politischen Zentralgewalt organisierten Gesellschaftsintegrats tatsächlich beobachtet werden, und der Norm, sofern ihr Inhalt tatsächlich den Handlungsverlauf innerhalb des Gesellschaftsintegrats beeinflußt (Hervorhebung von mir), wird in der Folge der Möglichkeit Raum gegeben, daß die Befolgung einer gesetzlichen Rechtsnorm nicht durch ihre Kenntnis motiviert sein muß. U Dies hat schon Max Ernst Mayer 1903 in seinem Werk, Rechtsnormen und Kulturnormen, deutlich ausgesprochen und dabei betont, die Rechtsgesetze seien schon nach der Art ihrer Redaktion nicht an das Volk gerichtet. 16 Mein in FN 13 erwähnter Aufsatz auf S. 45. 16 FN 2, S. 157/158.
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Ir. Das Recht als Regulator des Soziallebens
"Der Einzelne verhält sich entweder unreflektiert in Übereinstimmung mit der Norm, deren Gebarensmodell ihm zweite Natur ist, oder er befolgt motivisch bewußt die Norm als eine Forderung des Gemeinwesens 17 ." "Wie in jedem beliebigen Ordnungsgefüge, so erfolgen auch im rechtlichen die meisten normgemäßen Handlungen zwangsfrei und ohne daß der Handelnde an die Reaktionsdrohung überhaupt denkt. Er handelt rechtsmäßig, weil er an die Gebarensmodelle der Rechtsordnung dem Inhalt nach gewöhnt ist." Mit anderen Worten: Trotz weitestgehender Unkenntnis der Rechtssätze und ihres Inhalts wird in den allermeisten Fällen normgemäß gehandelt. Dieser Sachverhalt läßt sich nicht etwa als Folge einer aus ethischen Gründen ableitbaren freiwilligen Achtung des Rechts erklären, sondern beruht auf Reaktionen der psychisch-physischen Natur des Menschen. Rechtmäßiges und rechtswidriges Verhalten sind nicht so sehr von Gesetzeskenntnis oder -unkenntnis, als vielmehr von dem Umfang an Erfahrung und Wissen hinsichtlich dessen bestimmt, welches typische Verhalten in typischen Situationen gefordert wird. Wenn, wie Rother aaO mit Recht hervorhebt, der weitaus überwiegende Teil des Rechtsstoffs durchaus vergessen oder besser gesagt von der Mehrheit der Bürger überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird, dann können die nicht zur Kenntnis genommenen Gesetze mitsamt ihren Sanktionen als Motivationsmittel für das Verhalten nicht in Betracht kommen. Immerhin meint Theodor Geiger (aaO), die Sanktionierung sei, auch wenn sie nicht den Normgehorsam der Einzelnen motiviere, doch die unerläßliche Voraussetzung für ein soziales Milieu, in dem freiwilliger Normgehorsam überhaupt möglich sei. 3. Die Figur des freiwilligen Normgehorsams
Mit der Figur des freiwilligen Normgehorsams wird unterstellt, der Mensch handle in diesen Fällen entsprechend dem ihm geläufigen Brauch gemäß der Gewohnheit. Aber diese Figur des freiwilligen Normgehorsams, die auch in der kürzlich erschienenen Monographie von Frank-Hermann Schmidt 18 wiederholt auftaucht, scheint mir eine sprachliche Hülse zu sein, in der nichts steckt. Theodor Geiger selbst lehrt 19 , die Rechtsordnung setze ihrem Wesen nach Allgemeinverbindlichkeit ihrer Normen für deren sämtliche Adressaten voraus. Sie sei eine soziale Massenordnung. Unter Verbindlichkeit könne man entweder eine faktisch-äußere, auf der sozialen Interdepen17
18 19
FN 2, S. 166.
Verhaltensforschung und Recht, Berlin 1982, S. 129, 150 und passim. FN 2, S. 270 ff.
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denz innerhalb der Rechtsgemeinschaft beruhende, oder man könne darunter eine innere, aus gebieterischen Vorstellungen hergeleitete verstehen. Die Rechtsordnung setze sich jedoch letzten Endes (im Original hervorgehoben) nicht kraft des inneren Respekts der Bürger von ihren Inhalten durch, sondern dank dem äußeren Faktum der sozialen Interdependenz, notfalls mit Hilfe richterlicher Sanktionen. Die Allgemeinverbindlichkeit der Rechtsgesetze beruht somit nicht auf einem Überund Unterordnungsverhältnis zwischen einem Gesetzgeber und den Gesetzunterworfenen, die Geiger20 "Adressaten" nennt, auch nicht auf der inneren Einstellung, um aus ethischen Gründen einem Befehl zu gehorchen, sondern schlicht und einfach auf dem äußeren Faktum der durch den Rechtsstab in Gang gehaltenen sozialen Interdependenz. Auch wer ein Gebot oder Verbot, was ihm bekannt ist, befolgt, gehorcht niemandem, weder dem entsprechenden Rechtssatz, dem er nachkommt, noch dem Normsetzer, dessen Erwartungen er entspricht. Die noch immer gängige Vorstellung über das Verhältnis des Normsetzers zum Bürger als ein Verhältnis von Obrigkeit und Untertan ist mit den politischen Zuständen in den Staaten, die keine autokratische oder autoritäre Verfassungsstruktur kennen, nicht zu vereinbaren. Wo die Staatsgewalt vom Volk ausgeht und durch die von der wahlfähigen Bevölkerung gewählten Repräsentanten ausgeübt wird, ist die Vorstellung absurd, die Wähler müßten den als Gesetzgeber auftretenden gewählten Abgeordneten in ihrer Zusammenfassung als Parlament oder den von diesem erlassenen Gesetzen "gehorchen". Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die aus Repräsentanten des Volks bestehende gesetzgebende Versammlung beschließt im Interesse des Gemeinwohls, wie dieses von der Mehrheit verstanden wird, Rechtsgesetze als Verhaltensregeln und erwartet vom Bürger die Einsicht, daß er sich in seinem Tun und Lassen innerhalb der Volks- und Rechtsgemeinschaft nach diesen Regeln richtet, widrigenfalls er vom Rechtsstab im Interesse eines ordnungsmäßig funktionierenden Soziallebens dazu im Rahmen der Gesetze mit staatlichem Zwang angehalten wird 21 • Wer z. B. als Kraftfahrer die Verkehrsschilder beachtet oder nicht beachtet, den Weisungen eines den Verkehr regelnden Beamten folgt oder nicht folgt, zeigt nicht Gehorsam oder Ungehorsam, sondern vorhandene oder mangelnde Einsicht. Es ist an der Zeit, die Vorstellung vom Kadavergehorsam aus der Sprache der Juristen und aus dem Rechtsdenken einer Bevölkerung zu verbannen, die sich vor mehr als 30 Jahren in der Staatsform der repräsentativen Republik als demokratischer und sozialer Rechtsstaat orZO
Vgl. zu diesem Ausdruck Uwe Krüger, FN 11, S. 27 und Hagen Hof
21
Ebenso Uwe Krüger, FN 11, S. 17.
(FN 11), S. 354.
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11. Das Recht als Regulator des Soziallebens
ganisiert hat. Es liegt im Wesen dieser staatlichen Organisation die Erwartung beschlossen, daß jeder Bürger die verfassungsmäßige Ordnung achtet, die verfassungsmäßig zustande gekommenen Rechtsgesetze befolgt und bei Nichtbefolgung die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen hinnimmt. Diesem Wesen der staatlichen Organisation entspricht der tatsächliche Wirkungszusammenhang der Wirklichkeit des Soziallebens in der Bundesrepublik. Unfriedliche Demonstrationen, Terrorakte und sonstige Exzesse sind nur partielle "Geschwüre" am sonst gesunden Gesamtkörper. Kurz zusammengefaßt: Der Bürger ist weder einem Gesetzgeber noch irgendeinem Rechtsgesetz untertan und deshalb zu Normgehorsam verpflichtet; sondern er befolgt aus Einsicht - man könnte auch Demokratieverständnis sagen - in die soziale Notwendigkeit die Verhaltensregeln oder muß, wenn er uneinsichtig ist, bei Nichtbefolgung die "Sanktionen" genannten unangenehmen Folgen seiner mangelnden Einsicht auf sich nehmen und sie erdulden. Ist schon für denjenigen, der die Rechtsgesetze kennt, die Figur des freiwilligen Normgehorsams eine sachlich unzutreffende Beschreibung der Wirklichkeit, so wird sie zur nichtssagenden Phrase in den im Sozialleben häufigsten Fällen der Unkenntnis der Rechtssätze. Es ist geradezu unsinnig, bei Beachtung eines gesetzlichen Gebots oder Verbots, das man nicht kennt, von Gehorsam zu sprechen. Die Verwendung der Ausdrücke "Gehorsam" und "gehorchen" setzen schon rein sprachlich voraus, daß derjenige, von dem Gehorsam und Gehorchen erwartet wird, auf etwas hört, das ihn angeht, und dem Gehörten entspricht oder nicht entspricht. Dies wäre die bekannte Imperativentheorie, die eine dem Menschen übergeordnete persönliche oder personifizierte Autorität rechtliche Befehle und rechtliche Sollensgebote oder -verbote erteilen läßt. Diese Imperativentheorie22 , die noch immer die herrschende Rolle im rechtsdogmatischen Schrifttum spielt, ist nicht nur eine Frucht obrigkeitlicher Gesinnung und Einstellung, sondern eine Verkennung des nicht vorhandenen Kausalnexus' zwischen der Überordnung des Rechts und seiner Beachtung durch alle diejenigen, die ihm "unterworfen" sind. Voraussetzung für die Annahme eines Kausalnexus' zwischen "Befehl" und "Gehorsam" wäre die Kenntnis des konkreten Rechtssatzes seitens derjenigen, die ihn befolgen sollen. Befolgen eines Befehls "ist wissentliches, nicht unbewußtes oder unvermeidbares Verhalten ... Unwiderlegbar ist, daß niemand sein Verhalten nach einem Gesetz richten kann, ohne es zu kennen 23 ." Derselbe Gedanke wird von Zippelius in der Weise ausgedruckt, daß verhaltensleitende Sinngehalte Veränderun22 Vgl. dazu ausführlich die in FN 11 angeführte Monographie von Uwe Krüger. 23 Lawrence M. Friedman, Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaften, Berlin 1981, S. 70.
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gen in der realen Welt nur dadurch bewirken, daß sie von einem Bewußtsein zur Kenntnis genommen werden und in ihm Motivationskraft für menschliches Handeln gewinnen24 • Die Befolgung von Rechtsnormen durch Menschen, die diese Normen nicht kennen, als "freiwilligen Normgehorsam" zu deklarieren, um damit zu erklären, in welchem Wirklichkeitszusammenhang die unbekannte Norm und ihre unbewußte Befolgung steht, ist also eine Wortkulisse, hinter der nichts steckt.
4. Die Ursache normgemäßen Verhaltens Es bleibt also die Frage nach der Ursache oder den Ursachen für normentsprechendes Verhalten trotz Unkenntnis der Norm zu klären. Ich habe oben (I, 1) bereits darauf hingewiesen, daß der wechselnde Inhalt der Rechtsordnung das Ergebnis politischer Machtkämpfe ist. Auf welche Weise, mit welchen Mitteln und um welcher Werte und Ziele willen dieser Kampf um die Macht und damit um die inhaltliche Ausgestaltung der Rechtsordnung geführt wird, kann an dieser Stelle auf sich beruhen 25 • Wesentlich ist nur, daß wie bei jedem Kampf der Sieger das Sagen hat. Diese simple Erfahrungstatsache macht die zahlreichen Erwägungen und Theorien über die Gründe und Ursachen, warum die Menschen den jeweiligen Gesetzen des an der Macht befindlichen obersten Gewaltinhabers entsprechen, zu einem müßigen Gedankenspiel. Zum Menschen gehört nun einmal die Eigenschaft, die sein Leben mitbestimmt: nämlich die Fähigkeit und Notwendigkeit, sich normgemäß zu verhalten26 • Der oberste Gewaltinhaber, er sei, wer er sei, kann nur deshalb auf die Befolgung seiner gesetzlichen Anordnungen rechnen, weil diese Anordnungen nur den wechselnden Inhalt einer Sozialordnung bilden, die als solche dank der Sozialgebundenheit des Menschen stets vorhanden ist. Man kann darüber streiten, wer letzthin den Inhalt der Rechtsordnung bestimmen soll und nach welchen höchsten Werten dieser Inhalt auszurichten ist. Man kann aber nicht über das Faktum streiten, daß die Menschen kraft ihrer Sozialgebundenheit realiter in die jeweilige Ordnung eingebunden sind, mag der Inhalt sein, wie er wolle. Darauf beruhte während der nationalsozialistischen Herrschaft die faktische Geltung der damaligen Rechtsnormen, auch wenn man diese - post festum! - aus sittlichen, religiösen, weltanschaulichen oder philosophischen Gründen als rechtliches Unrecht qualifiziert. Der Terror Reinhold Zippelius, Gesellschaft und Recht, München 1980, S. 82. Vgl. dazu meine Abhandlung, Macht und Recht, JZ 1962, 1-16, und in meinem Buch: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, BerUn 1966, S. 24324
25
259. 26
Uwe Krüger, FN 11, S. 51, 52.
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II. Das Recht als Regulator des Soziallebens
von Staats wegen sorgte für die Einhaltung dieser Gesetze. Eine auf den Tatsachen des Soziallebens fußende vergleichende Betrachtung des Inhalts der Rechtsordnungen in Raum und Zeit bestätigt diese Auffassung, auch wenn man sie als Wertnihilismus zu brandmarken sucht. Es geht ja in diesem Zusammenhang nicht darum, die Werthaftigkeit oder Wertwidrigkeit dieser Gesetze zu diskutieren, sondern allein um die Klarstellung, warum diesen Gesetzen in der nationalsozialistischen Zeitspanne tatsächlich auch von den Richtern entsprochen worden ist 27 • Der um die Klärung der Abläufe des Soziallebens bemühte Wissenschaftler hat die sozialen Fakten als solche festzustellen und nachzuweisen, ohne sich um ihre Wertung nach Wertmessern aus anderen Bereichen des Geisteslebens zu kümmern. Die moralische Entrüstung kann er getrost anderen überlassen. Nur die Erfahrung liefert uns Fakten, während wir beim bloßen Spekulieren auf die Theorie angewiesen bleiben, die noch nie zu verläßlichen Prognosen verholfen hat 28 • Man muß also die dem Menschenleben immanente Sozialgebundenheit durch die jeweilige Rechtsordnung von deren zufälligem und wechselndem Inhalt klar unterscheiden. Die Rechtsordnung ist per definitionem selbst in ihren Frühformen und erst recht in der Hochzivilisation eine weitgehend veranstaltlichte Ordnung 29 • Deshalb habe ich oben (I, 2) von der institutionellen Daseinsverfassung gesprochen, der der Mensch, jeder Mensch von Natur aus zeitlebens unterworfen ist. Man kann also von einer Überordnung des Rechts nur in dem übertragenen Sinne sprechen, als der Mensch durch die Rechtsordnung gebunden ist, gleichgültig, ob er sie kennt oder nicht kennt, er die Bindung hinnimmt oder sich dagegen wehrt und empört. Die Sozialgebundenheit des Menschen ist, wie ich ausführte, ein Korrelat seiner Erdgebundenheit. Die Primärnormen sind größtenteils in keinem Gesetz zu finden. "Sie sind älter als alle Gesetzgebung. Man braucht sie nicht zu kodifizieren, weil sie selbstverständlich sind. Diese ihre Selbstverständlichkeit liegt darin, daß sie als struktureller Grundzug das gesamte soziale Milieu der Rechtsgesellschaft prägen3o ." Norbert Hoerster3 1 spricht von jenem Grundbestand sozialer Normen, die jede neu heranwachsende Generation über Erziehung und Sozialisation auf die selbstverständlichste Weise zu internalisieren lernt. Auch dann und dort, wann und wo es Vgl. dazu eingehend meine in FN 9 angeführte Schrift S. 85-116. Jonathan Schell, Das Schicksal der Erde, München 1982, S. 29. 29 Als Institution werden bekanntlich soziale Gebilde und Organisationen verschiedenster Art bezeichnet, die sich überall dort entwickeln, wo das Zusammenleben einer Gruppe Ordnung und Regelung erfordert. Die Institutionen sind von normativen Verhaltensmustern getragen und können durch Sanktionen geschützt werden. 30 FN 2, S. 170. 31 Rechtsethik ohne Metaphysik, JZ 1982, 265 ff. (27l). 27
28
6. Zum sogenannten Gesetzesgehorsam
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keine gesetzten Rechtsnormen gegeben hat oder gibt, bestand und besteht Recht als Gefäß und Rahmen für phylogenetisch programmierte und erblich festgelegte Normen des Verhaltens, d. h. als Verhaltensprogramm, das vor allem das menschliche Sozialverhalten determiniert 32 • 5. Der Adressat der Rechtsnormen
Bei dieser unbestreitbaren Sachlage ist die Frage, wer als Adressat der gesetzlichen Normen anzusehen ist, nicht damit beantwortet, daß man allgemein die Rechtsgenossen oder diejenigen, die es angeht, nennt 33 • Bei einer nur oberflächlichen Lektüre vieler Gesetze ist ganz offensichtlich, daß der Gesetzgeber sich an den Richter wendet, bei verwaltungsrechtlichen Gesetzen an die Verwaltungsbehörden, bei Steuergesetzen an die Finanzämter und nicht, wie immer wieder behauptet wird, an diejenigen, auf die die Norm, weil sie im konkreten Fall anwendbar ist, angeblich gemünzt sei. Die Vorschriften des BGB wenden sich an die jurisconsulti (im weitesten Sinne) und besagen, wie ein zivilrechtlicher Streitfall zu entscheiden ist3 4 • Sie schreiben aber nicht vor, wie der Einzelne handeln soll. Auch der berühmte Satz: nullum crimen, nulla poena sine lege, wendet sich an den Richter, um die Gleichheit vor dem Gesetz zu garantieren und Willkür auszuschalten. Es kommt nicht so sehr darauf an, daß der Täter den Rechtssatz kennt, als vielmehr darauf, daß dieser bereits existiert hat, als die Tat begangen wurde. Denn jede Rückwirkung im Einzelfall wäre Willkür, weil während des Rückwirkungszeitraums eine Anzahl gleicher Handlungen begangen worden sind oder hätten begangen werden können, ohne daß auch sie betroffen worden sind oder wären. Bei diesen Vorschriften ebenso wie bei dem Verbot der Rückwirkung läßt sich ein Befehl des Gesetzgebers, ein Imperativ bestenfalls gegenüber der Richterschaft konstruieren, keinesfalls aber gegenüber denjenigen, die durch die Anwendung oder Nichtanwendung dieser Gesetze in ihren Interessen betroffen werden können. Die Rechtsnorm als verbindlich vorgestellte Regel für soziales Verhalten ist weder Befehl eines Vorgesetzten an die ihm zu Gehorsam verpflichteten Untergebenen noch ein Satz, der ein Sollen als objektive Nötigung der Handlung impliziert ("Imperativ"), sondern gesellschaft32 Vgl. hierzu Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch, dtv, S. 276 ff. und meinen in FN 13 angeführten Aufsatz unter Ziffern 11, IV, V. 33 Vgl. über die Problematik die in FN 11 angeführte Monographie von Krüger und den Aufsatz von Hof (FN 20). 34 "Der hermeneutische Sinn eines Rechtssatzes liegt ... in der Sache, auf die er verweist, konkret: in der Regelung einer potentiell streitigen Rechtssache, einer Streitsache." So Ralf Gröschner, Das Hermeneutische der juristischen Hermeneutik, JZ 1982,622-626 (626).
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Ir. Das Recht als Regulator des Soziallebens
lich verbindliche Verhaltenserwartung. "Das Moment der Aufforderung in der normativen Erwartung ist für eine soziologische Betrachtung von herausragender Bedeutung. Auf eben diese Weise nämlich wird die Normativität in der Ebene realen Geschehens faßbar, ohne etwas von ihrer Normativität einzubüßen35 ." Denn die Normativität, das Sollen, ist nicht anders als die grundlegenden Erkenntnisformen dem menschlichen Dasein vorgegeben. Mit Recht weist Uwe Krüger 36 darauf hin, daß überall, wo der Mensch mit seinesgleichen zusammen trifft, sich Normen bilden, die notwendig zum sozialen Leben gehören und daher auch notwendig mehr oder weniger vollständig und bewußt angenommen werden. Auch die Rechtsnormen "gehören zum Normengeflecht, das den Menschen durchdringt und das zu einer Grundbedingung seines sozialen Lebens zählt". Der Ursprung auch der Rechtsnormen liegt im Ursprung des Interaktionensystems, auch dann und dort, wenn und wo die Rechtsnormen durch das pluriforme und heterogene Gebilde 37 des derzeitigen Gesetzgebers beschlossen und verkündet werden. Dieser Gesetzgeber geht von der Voraussetzung aus, daß das ordnungsmäßig verkündete Gesetz zur Kenntnis des Rechtsstabs kommt und gegebenenfalls auch zur Kenntnis derjenigen, deren Interessen davon unter Umständen betroffen sein können. Er erwartet, daß im Wege des "sozialen Mechanismus" die jeweils zuständige staatliche Behörde sei es unmittelbar, sei es auf Antrag dessen, der ein Interesse an der Einhaltung der gesetzlichen Regelung hat, sich einschaltet und dafür sorgt, daß der im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Erwartung entsprochen wird. Mit anderen Worten: Adressaten der gesetzlichen Normen sind nicht diejenigen, auf die sie nur deshalb angewandt werden, weil sie für den konkreten Fall zutreffen, sondern die Richter und Beamten, die nach Maßgabe der vom Gesetzgeber getroffenen Regelung bei Vorliegen der gesetzlichen Sachverhaltsvoraussetzungen die rechtliche Norm anzuwenden berufen sind. Bei dieser Sicht kommt es also gar nicht auf den Rechtsgehorsam der Rechtsgenossen, sondern auf die ordentliche Amtsausübung durch den Rechtsstab an. Die Fragen von Frank-Hermann Schmidt38 , woher die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen zu gehorchen, sich unterzuordnen und sich einzufügen komme, sind also falsch gestellt. Es kommt vielmehr auf die Beantwortung der Frage an, wie es zu erklären ist, daß die Menschen, von mehr oder weniger Ausnahmen abgesehen, gesetzentsprechend handeln, obwohl sie die fraglichen Gesetze nicht kennen. 35
3e 37
38
So wörtlich Günter Dux, FN 1, S. 59 FN 12. FN 13, S. 51/52. Krüger in FN 13, S. 13. Verhaltensforschung und Recht, Berlin 1982, S. 129.
6. Zum sogenannten Gesetzesgehorsam
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Die Menschen sind wie alle Lebewesen Geschöpfe der Natur und als solche von Natur aus in ihrem Verhalten beeinflußbar. Diesen Einflüssen sind die Menschen ausgesetzt; und sie lassen sich in ihrem Verhalten von diesen Einflüssen bestimmen, nicht aber von rechtlichen Gesetzen, die ihnen großenteils unbekannt sind, zumal dann, wenn diese Normen bereits vor ihrer Geburt vorhanden waren und sich ohne ihr Zutun und Wissen wandeln. Die Menschen wissen nur, daß es für die meisten Sachverhalte des Soziallebens in allen Zivilisationen rechtliche Regeln gibt, die zur Ordnung dieser sozialen Sachverhalte bestimmt sind und zur Anwendung kommen, wenn ein Streit über die Regelung eines konkreten Sachverhalts entschieden werden muß. Der Mensch ist, wie Schmidt3U mit Recht hervorhebt, von Natur aus auf Gemeinschaft angelegt und auf sie angewiesen - weit intensiver und länger als jedes andere Lebewesen. Ob man daraus auf eine anlagebedingte Bereitschaft zur Unterordnung unter Personen schließen darf, wie Schmidt meint, mag dahinstehen. Jedenfalls läßt sich die Entstehung und Beachtung von Normen nicht losgelöst von den natürlichen Anlagen und Bedürfnissen des Menschen erklären. An anderer Stelle40 habe ich bereits hervorgehoben, daß der Mensch in seinem Tun und Lassen im zwischenmenschlichen Verkehr spontan handelt und, abgesehen von außergewöhnlichen Fällen, sein Verhalten auf angeborene Aktions- und Reaktionsnormen aufbaut. Die Macht der Gewohnheitsbildung reicht zur instinktiven Steuerung der Handlungsabläufe ohne Einschaltung des Bewußtseins und Willens aus. Man muß sich, wie Schmidt41 deutlich macht, von einer Sicht lösen, die die Normen allzu einseitig nur als Produkte verstandesmäßiger, an Gerechtigkeitsprinzipien orientierter Setzung sieht, statt wahrzunehmen, daß sie funktional auf menschliche Grundbedürfnisse bezogen und durch sie bestimmt sind. Die Masse der Menschen handelt in der Regel spontan, nicht rational. De facto wird das Recht im täglichen Leben nicht deshalb beachtet, weil man es kennt, sondern weil man im Vertrauen auf das nichtbewußte, stammesgeschichtlich erworbene und angeborene sowie das im Wege der Erziehung, der persönlichen Erfahrung und des 'allgemeinen Brauchs erworbene Wissen bemüht ist, mit dem Strom zu schwimmen und nicht in die Risikozone zu geraten42 •
FN 38, S. 147. JZ 1982, 46 und oben S. 83. ~1 FN 38, S. 176. 42 Vgl. Maria BOTUcka-Arctowa, Die gesellschaftliche Wirkung des Rechts, Berlin 1975; Antony N. Allott, The Limit of Law, London 1980. S9
40
7. Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums in juristischer und soziologischer Sicht * 1. Helmut Schelsky, ein Vorkämpfer für interdisziplinäre Wissenschaftspflege, hat nicht nur postuliert, sondern auch dem Postulat entsprechend gehandelt, "den Streit zwischen den Realitäts- und Sollensaspekten unserer Welt als Kooperation der Wissenschaften auszutragen"1. Dies verlangt von demjenigen, der einen Beitrag zu dem genannten Thema leisten will, Beachtung und Betrachtung beider Aspekte mit Hilfe des für jeden von ihnen zur Verfügung stehenden speziellen "Handwerkszeugs" und den Versuch einer koordinierenden Zusammenschau der auf verschiedenen Wegen ("Methoden") ermittelten Erkenntnisse.
Dies ist für einen Juristen, der die Befähigung zum Richteramt erworben und in der Rechtsanwendung Praxis-Erfahrungen gesammelt hat, leichter zu bewerkstelligen als für einen rein theoretisch eingestellten Soziologen, auch wenn dieser empirisch forscht; denn ein Jurist kann den Sollensaspekt einer zwischenmenschlichen Beziehung, eines sozialen Vorgangs, eines gesellschaftlichen Verhältnisses nur dann erkennen und bestimmen, wenn er zuvor den Realitätsaspekt des ihm zur rechtlichen Beurteilung überlassenen Sachverhalts festgestellt hat. Die genaue Ermittlung des "Tatbestandes" ist oft weit schwieriger und langwieriger als die rechtliche Beurteilung; denn der Jurist ist hierbei auf die Unterrichtung durch andere Personen (Prozeßparteien, Zeugen, Sachverständige) angewiesen, deren Aussagen und Darstellungen von ihm als "richtig", d. h. als der Realität entsprechend hingenommen werden, soweit sie miteinander vereinbar sind oder nach der Lebenserfahrung eine hohe Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen können. Rein soziologische Untersuchungen z. B. über "Entscheidungsprozesse" in der Justiz nehmen oft nicht zur Kenntnis, daß die Richter hinsichtlich der Aufklärung und Feststellung der Realitätsaspekte normative Grenzen einzuhalten haben; so gilt z. B. im Zivilprozeß die sog. Verhandlungsmaxime, d. h. die Regel, daß es allein Sache der Parteien ist,
* Erstmals erschienen als Beitrag zur Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag (Berlin 1978), S. 211-227. 1 Vgl. seine "Soziologiekritischen Bemerkungen zu gewissen Tendenzen von Rechtssoziologen" , in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie III (1972), S. 603-611.
7. Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums
111
darüber zu entscheiden, welche Tatsachen sie dem Gericht unterbreiten und welche sie ihm nicht zur Kenntnis bringen wollen, welche Tatsachen sie bestreiten und damit beweisbedürftig machen wollen und welche Tatsachenbehauptungen sie durch Nichtbestreiten als unstreitig oder zugestanden zu akzeptieren bereit sind. Einschränkungen und Ausnahmen von dieser Regel gelten in Eheprozessen sowie in Kindschafts- und Entmündigungssachen. Hier ist ebenso wie in allen anderen gerichtlichen Verfahrensarten, insbesondere im Straf-, Verwaltungsund Steuerverfahren, die sog. Untersuchungsmaxime maßgebend, d. h. die Regel, daß das Gericht die für die Entscheidung des Einzelfalles erheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln, in den Prozeß einzuführen und ihre Realitätsaspekte festzustellen hat. Aber auch in diesen Verfahren gibt es rechtliche und tatsächliche Schranken der Aufklärung·smöglichkeit von Fakten. Zahlreiche Personen haben nach den Prozeßgesetzen ein Zeugnisverweigerungsrecht. Wer wegen einer angeblich begangenen Straftat rechtlich verantwortlich gemacht wird, kann von der ersten polizeilichen Vernehmung ab bis zum Ende des Verfahrens sich in Schweigen hüllen und den Strafverfolgungsbehörden die Aufklärung und Feststellung der Fakten überlassen. Ein Beamter darf über Vorgänge, die amtlich zu seiner Kenntnis gelangt sind, nur aussagen, wenn er von seiner vorgesetzten Dienstbehörde die Aussagegenehmigung erhält. Steuerbeamte und Richter haben ein besonders hohes Maß von Amtsverschwiegenheit zu wahren. Tatsächliche Schranken der Aufklärungsmöglichkeit ergeben sich aus der Kompliziertheit der Lebensverhältnisse, die nur unter Heranziehung von Sachverständigen auf ihre Realitätsaspekte hin zu klären sind, derart daß der Richter dem Sachverständigen die Aufgabe zuweist, kraft seiner besonderen Fachkunde festzustellen, ob im konkreten Fall bestimmte Tatsachen oder Sachzusammenhänge vorliegen, welche für die rechtliche Beurteilung wichtig sind. Entsprechendes gilt bei fremdsprachlichen Erklärungen oder Urkunden und für den Nachweis ausländischen Rechts, falls es darauf für die rechtliche Beurteilung durch den inländischen Richter ankommt. Eine tatsächliche Schranke für die Erfassung der Realitätsaspekte ist schließlich die Deutung des menschlichen Innenlebens. Auch wenn es in einem alten römischen Sprichwort heißt: de internis non judicat praetor, so gehört doch auch das Innenleben des Menschen, jenes Labyrinth seines Glaubens und Wissens, seiner Gedanken, Vorstellungen, Gewissensregungen, Gefühlsempfindungen und Erinnerungen, zur "Realität" und ist in dem Umfang auch faßbar, als es sich in Äußerungen irgendwelcher Art zu erkennen gibt. Jahrhunderte lang galt das Geständnis als Krone des Beweises, selbst wenn es durch die
112
11. Das Recht als Regulator des Soziallebens
damals rechtlich zulässige Folter erpreßt war. Die heute als Museen zugänglichen Folterkammern mit ihren Werkzeugen lehren nicht nur das Gruseln, sondern sind der augenscheinliche Hinweis darauf, wie sehr die Interna des Menschen als realiter erfaßbar schon damals ge,;. golten haben. Diese Auffassung und Einstellung ist auch heute trotz weitverbreiteten Verbots der Folter, trotz Erklärung der Menschenwürde zum höchsten Wert und trotz aller rechtlichen Bemühungen zum Schutze der Persönlichkeit in den zwar ausdrücklich untersagten2 , aber nichtsdestoweniger ab und zu ruchbar werdenden zeitgenössischen Vernehmungsmethoden erkennbar. Die Feststellung derartiger Interna als Fakten mit bestimmten Rechtsfolgen bereitet zwar manchmal Schwierigkeiten wie z. B. bei der Verweigerung des Wehrdienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen oder bei der Frage nach der Verfassungstreue von Beamtenanwärtern. In manchen Fällen hilft der Gesetzgeber im Interesse der Rechtssicherheit durch Tatsachen- oder Rechtsvermutungen, die widerlegbar oder unwiderlegbar sind. Von diesen Fällen abgesehen bleibt die Frage nach der Beachtlichkeit von ignorantia juris - sei es als Unkenntnis rechtserheblicher Tatumstände oder als Irrtum darüber, sei es als-Unkenntnis von Gebots- oder Verbotsnormen oder als Irrtum darüber - ein soziales Problem, bei dessen Lösung Realitäts- und Sollenaspekte miteinander aufs engste verwoben sind. 2. Zur Veranschaulichung der Bedeutung des Problems gehe ich von einem praktischen Fa1l3 aus. Unter Weglassung aller für den vorliegenden Zweck unerheblichen Einzelheiten läßt sich der tatsächliche Vorgang dahin zusammenfassen: a) Ein in der Bundesrepublik Deutschland tätiger türkischer Gastarbeiter A ist mit Frau A verheiratet. Drei Kinder aus dieser Ehe leben in der Türkei. Er hat sich von seiner ebenfalls in Deutschland als Gastarbeiterin tätigen Ehefrau getrennt und lebt seit einigen Jahren zusammen mit einer unverehelichten Frau U, die ebenfalls türkische Staatsangehörige ist. Auch aus dieser Verbindung sind zwei, in der Türkei als ehelich registrierte Kinder hervorgegangen. Als Frau U in einem deutschen Krankenhaus von einem dritten Kind entbunden wurde, hat die Krankenhausverwaltung die ihr von A und U gemachten Angaben dahin verstanden, daß das Neugeborene das Kind des A und seiner Ehefrau A sei. Auf eine entsprechende Anzeige der Kranken2 Vgl. Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte; §§ 136 a, 163 a Abs. 3-5; § 69 c Abs. 3 StPO. 3 Rechtsgutachten des Instituts für internationales und ausländisches Privatrecht an der Universität Köln, in: IPR 1974, Tübingen 1975, Nr. 24, S. 237-
249.
7. Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums
113
hausverwaltung wurde das Kind als eheliches Kind des A und seiner Ehefrau A in das Geburtsregister eingetragen. Die Entbindungskosten wurden von der Betriebskrankenkasse des Unternehmens bezahlt, bei dem A beschäftigt ist. Als sich herausstellte, daß nicht die Ehefrau A, sondern Frau U die Mutter des Kindes ist, wurde gegen A und U Anklage wegen Personenstandsfälschung, Betrugs und mittelbarer Falschbeurkundung (§§ 169, 263, 271 StGB) erhoben. In der Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht beriefen sich beide Angeklagten darauf, ihre Angaben gegenüber der Krankenhausverwaltung entsprächen dem geltenden türkischen Recht. b) Abstrakt formuliert handelt es sich somit realiter um die Abgabe einer Erklärung, die zur Eintragung eines im räumlichen Bereich der Bundesrepublik Deutschland geborenen nichtehelichen Kindes eines verheirateten türkischen Gastarbeiters und einer unverheirateten türkischen Frau als eheliches Kind des Vaters und seiner Ehefrau im deutschen Geburtsregister geführt hat. Man wird mir vielleicht entgegenhalten, ich hätte den Realitätsaspekt bereits mit normativen Gesichtspunkten vermengt, da ich den Geburtsort und das Geburtsregister des Standesamts räumlich durch den Hinweis auf die Bundesrepublik Deutschland, d. h. auf deren Rechtsordnung lokalisiert und durch die Angabe der Staatsangehörigkeit und des Familienstandes von Vater und Mutter des Kindes rechtlich qualifiziert hätte. Ein derartiger Einwand wäre nicht stichhaltig: Als Anknüpfungsgesichtspunkte für rechtliche Folgen sind der Geburtsort des Kindes und der rechtliche Status von Vater und Mutter ebensolche Faktizitäten wie der Geburtsakt als solcher, sobald dieser seinem Wesen nach biologische Sachverhalt der Geburt eines Menschen als sozialer Sachverhalt betrachtet wird: Spielt er sich doch im Rahmen eines konkreten Gesellschaftsintegrats ab, das räumlich, zeitlich, gegenständlich und personell durch rechtlich normierte Merkmale von anderen Gesellschaftsintegraten abgegrenzt ist. Mit anderen Worten: Sobald das biologische Faktum "Geburt eines Menschen" als gesellschaftlicher Sachverhalt im Rahmen eines realen Interaktionensystems betrachtet wird, impliziert dieser Rahmen bestimmte Strukturelemente, die, obwohl normativer Herkunft, nicht aus dem Sollensaspekt, sondern aus dem Realitätsaspekt zu beurteilen sind. Gerade dadurch, daß reales Sein oder Geschehen wie Geburt, Leben und Tod eines Menschen nicht bloß als biologische, d. h. natürliche Fakten und Prozesse von der Gesellschaft, innerhalb deren sie angetroffen werden, abstrahiert werden, sondern als in die konkrete Gesellschaft integrierte soziale, d. h. kulturelle Fakten und Prozesse vorgestellt werden, wird durch die Änderung der Betrachtungsweise lediglich die Richtung der wissenschaftlichen Untersuchung verändert, während die Fakten und Prozesse als solche unverändert bleiben. 8 Hirsch
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II. Das Recht als Regulator des Soziallebens
c) Die Staatsanwaltschaft ist bei Erhebung ihrer Anklage von dem oben formulierten sozialen Sachverhalt ausgegangen und hat den beiden Angeschuldigten vorgeworfen, sich in der konkreten Situation nicht so verhalten zu haben, wie es nach Maßgabe der einschlägigen Rechtssätze gefordert, d. h. "von Rechts wegen" erwartet wird. Das Amtsgericht hat durch seinen Beschluß über die Eröffnung des Haupt.., verfahrens vor dem zuständigen Schöffengericht zu erkennen gegeben, daß A und U "einer Straftat dringend verdächtig erscheinen" (§ 203 StGB). Staatsanwaltschaft und Gericht sind davon ausgegangen und durften und mußten davon ausgehen, daß nach § 3 StGB das deutsche Strafrecht für Taten gilt, die im Inland begangen werden, ohne daß es auf die Staatsangehörigkeit der Täter ankommt. d) In der Hauptverhandlung haben die Angeklagten das ihnen zur Last gelegte tatsächliche Verhalten nicht bestritten, aber sich zu ihrer Verteidigung darauf berufen, ihr Verhalten entspräche ihrem Heimati·echt, d. h. der ihnen aus eigener (zweimaliger) Erfahrung bekannten türkischen Rechtsordnung. Mit anderen Worten: Die Anmeldung eines nichtehelichen Kindes als eheliches Kind zum Geburtsregister sei nach türkischem Recht angesichts ihrer persönlichen Situation zulässig und nicht mit Strafe bedroht. Die Angeklagten wollten also darauf hinweisen, daß ihnen als türkischen Staatsangehörigen ein Vorwurf deshalb nicht gemacht werden könne, weil nach den für sie (als Mitgliedern der türkischen Rechtsgemeinschaft) üblichen Rechtsvorstellungen ihr Verhalten kein kriminelles "Unrecht" gewesen sei. Wie steht es nun hinsichtlich dieser Einlassung mit den Realitäts- und Sollensaspekten? 3. Aus dem Gesichtspunkt der sozialen Realität ist es für die Verbindlichkeit einer Rechtsnorm unerheblich, ob diejenigen, auf die sie gemünzt ist, von ihr positive Kenntnis haben. Niemand ist imstande, die Gesamtheit der innerhalb eines konkreten Gesellschaftsintegrats zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden Rechtssätze zu kennen 4 • Trotz weitestgehender Unkenntnis der Rechtsnormen und ihres Inhalts wird in den meisten Fällen normgemäß gehandelt. Rechtmäßiges und rechtswidriges Verhalten sind nicht so sehr von der Gesetzeskenntnis oder -unkenntnis, als vielmehr von dem Umfang an anerzogenem Wissen und an Erfahrungswissen hinsichtlich dessen bestimmt, welches typisches Verhalten in typischen Situationen innerhalb eines bestimmten Gesellschaftsintegrats erwartet wird. Jeder Mensch ist großenteils das, was in ihm als Reaktionen seiner eigenen Erfahrungen be• Vgl. hierzu vor allem Manfred Rehbinder, Rechtskenntnis, Rechtsbewußtsein und Rechtsethos als Problem der Rechtspolitik, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie III (1972), S.25--46. Siehe auch meinen Aufsatz "Zum sogenannten Gesetzesgehorsam" in: JZ 1983, S. 1-6 und oben S. 95 ff.
7.
Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums
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wußt oder unbewußt als Erinnerung gespeichert ist, aber auch das, was während seines Wachstums durch Familienleben, Nachbarschaft, Schule, Arbeitsstelle, Presse, Rundfunk, Fernsehen u. a. m. aus ihm "gemacht" worden ist und auch nach Beendigung seiner Wachstumsperiode unaufhörlich aus ihm "gemacht" wird. a) Ich habe mehrfach zu zeigen versucht 5 , daß die rechtliche Realordnung eine "Funktion" des jeweiligen Gesellschaftsintegrats ist, Funktion im mathematisch-physikalischen Sinne verstanden. Die Verschiedenheit der rechtlichen Zustände nach Ort und Zeit in den einzelnen Gesellschaftsintegraten ist nichts weiter als der Ausdruck dafür, daß der Mensch als körperlich-geistig-seelisches Wesen kraft seiner Zugehörigkeit zur Spezies "Mensch" zwar Eigenschaften hat, die als konstante, d. h. von Ort und Zeit unabhängig gedachte Faktoren für das Sozialleben (und damit zwangsläufig für seine Ordnung) bedeutsam sind, daß aber jeder Mensch als Individuum in seinem Verhalten durch die materiellen und immateriellen Bedingungen des Soziallebens der Gruppe beeinflußt wird, deren Element er ist. b) Betrachtet man aus diesem Gesichtspunkt der sozialen Realität die oben mitgeteilte Einlassung der Angeklagten, daß sie sich als türkische Staatsangehörige aufgrund ihres in der Türkei gemachten Erfahrungswissens auch in Deutschland so verhalten hätten, wie es in der Türkei rechtens sei, so muß man beachten, daß innerhalb des Gesellschaftsintegrats "Bundesrepublik Deutschland" die türkischen Gastarbeiter eine eigene soziale Gruppe bilden. Die Angehörigen dieser Gruppe nehmen im Verhältnis sowohl zu der deutschen Bevölkerung als auch zu den anderen Fremdarbeitsgruppen die gesellschaftliche Sonderstellung einer Minderheit ein, deren Gruppenmerkmale faktisch durch Sprache, Religion, Volkssitten und Nationalität einerseits, rechtlich durch Beschränkungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer, der Berufsausübung, der staatsbürgerlichen (politischen) Rechte andererseits bestimmt werden. Typologisch betrachtet gehört diese Minderheit zu den "zeitweiligen", "großen", "unfreiwilligen", "offenen", "egalitären", "unorganisierten" Gruppen, deren Mitglieder sich zwar zu einzelnen Interessenvereinigungen kultureller oder wirtschaftlicher Art zusammenschließen können, aber abgesehen von den manchmal getto artigen Wohngebieten keine umfassende soziale Lebensgemeinschaft bilden. Sie besitzen keinen eigenen sozialen Status innerhalb der sozialen Schichtung der deutschen Bevölkerung, wobei besonders zu beachten ist, daß eine Assimilation an das deutsche Wirtsvolk 6 Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, Berlin 1966, S. 315-345 (339 ff.) und: Rechtssoziologie, in: G. Eisermann (Hrsg.), Die Lehre von der Gesellschaft, 2. Auf!. Stuttgart 1973, S. 147-217 (200 f.).
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II. Das Recht als Regulator des Soziallebens
von keiner der beiden Seiten beabsichtigt oder nur als erwünscht betrachtet wird. Die fortdauernde äußerliche und innerliche Bindung an die türkische Heimat und das Nichtaufgehen im deutschen Milieu kommt vor allem in den in Deutschland erscheinenden Nebenausgaben zahlreicher türkischer Tageszeitungen zum Ausdruck, deren regionaler Teil sich sogar fast ausschließlich auf "Türkisches" in Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport bezieht. Die gesellschaftlichen Kontakte zu deutschen Bevölkerungskreisen sind so gering, daß die Möglichkeit des Erlernens des in typischen Situationen erwarteten typischen Verhaltens auf dem Weg über Erziehung und persönliche Erfahrung nicht sehr groß ist. Vor allem die Schwierigkeiten der sprachlichen Verständigung sind erheblich und können leicht zu Mißverständnissen und Irrtümern führen, ein Sachverhalt, der im vorliegenden konkreten Fall durchaus möglich gewesen ist, und zwar auf bei den Seiten: Die Erklärung der Angeklagten, das Neugeborene sei ein eheliches Kind des A, kann die Krankenhausverwaltung zu dem für deutsche Verhältnisse richtigen Rückschluß veranlaßt haben, die Mutter des Kindes für die Ehefrau des A zu halten, während andererseits die Angeklagten aufgrund ihrer in der Türkei gemachten Erfahrungen davon ausgingen, daß auch nach deutschem Recht ein nichteheliches Kind ohne besondere Formalitäten als eheliches Kind des Vaters ins Geburtsregister eingetragen werden könne. c) Wir haben es hier also, soziologisch gesehen, mit einer Spielart des "abweichenden Verhaltens" zu tun, d. h. mit einem "Verhalten, das von den gesamtgesellschaftlich akzeptierten und gültigen Normen abweicht, auch dann, wenn es nach den gruppenspezifischen Mustern konformes Verhalten ist"', denn die Gruppe "türkische Gastarbeiter" besitzt ihr gruppenspezifisches subkulturelles Normen- und Wertsystem im Verhältnis zu dem gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Normen- und Wertsystem des Gesellschaftsintegrats Bundesrepublik Deutschland. Für das Schöffengericht, das sich dieser Einlassung gegenübersah, war zunächst zu entscheiden, ob nach geltendem deutschen Strafrecht die Schutzbehauptung der Angeklagten über ihr gruppenspezifisches abweichendes Verhalten zu beachten war. Dies ist eine juristische Frage, die allgemein, also ohne Berücksichtigung des Wann-Wo-Wie gestellt, den Sollensaspekt betrifft und eine Antwort erheischt, ob ignorantia juris vom Richter zu beachten ist. In dieser Form handelt es sich um ein bekanntes Problem, für dessen Lösung schon Platon und Aristoteles Vorschläge gemacht haben. Für 6 Fritz Sack unter dem Stichwort "Abweichendes Verhalten", in: Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der. Soziologie, 2. Aufl. Stuttgart 1969 = Fischer Handbücher Bd. 1, Frankfurt (M) 1972.
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den Richter im konkreten Fall dagegen ist die vom Gesetzgeber getroffene Regelung ein Faktum, das er entsprechend seiner Bindung an Gesetz und Recht in der Regel hinzunehmen haF. Für ein deutsches Gericht ist die Bestimmung von § 17 StGB eine Realität: "Fehlt dem Täter bei der Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden." Der deutsche Jurist weiß, daß diese Beurteilung der ignorantia juris im Bereich des deutschen Strafrechts erst seit dem 1. Januar 1975 gesetzliche Geltung beanspruchen kann, während sie zuvor seit 1952 nur Richterrecht war. Im vorliegenden Fall war somit die Einlassung der Angeklagten relevant: Das Gericht mußte aufklären, ob die aus der nichtehelichen Lebensgemeinschaft der beiden Angeklagten bereits früher in der Türkei geborenen Kinder als eheliche Kinder des Angeklagten A und seiner Ehefrau in ein türkisches Geburtsregister eingetragen worden waren und ob dies der türkischen Rechtsordnung entsprach. Auch dieses Problem betrifft aus dem Gesichtswinkel des Gerichts nicht den Sollensaspekt, sondern den Realitätsaspekt: Der Satz "jura novit curia" bedeutet lediglich, daß die anzuwendenden Rechtsnormen bei dem Gericht offenkundig sind, also keines Beweises bedürfen. Diese praesumptio juris et de jure bezieht sich aber allein auf das räumlich, sachlich, zeitlich und personell geltende Recht desjenigen Gesellschaftsintegrats, in dem und für das im konkreten Fall die Gerichtsbarkeit ausgeübt wird. Das in einem anderen Staat geltende Recht bedarf aber ebenso wie eine bei dem Gericht nicht offenkundige Tatsache des Beweises insofern, als es dem Gericht unbekannt ist. Selbst im Zivilprozeß kann das Gericht von Amts wegen die ihm zweckmäßig erscheinenden "Erkenntnisquellen" benutzen und zum Zweck einer solchen Benutzung das Erforderliche anordnen (§ 293 ZPO). 4. Dies hat das Schöffengericht getan, indem es von einem deutschen Universitätsinstitut für internationales und ausländisches Recht ein Rechtsgutachten über folgende Fragen erbat8 : 1. Ist die Mehrehe in der Türkei noch gestattet?
2. Falls ja, welchen Namen erhalten die Kinder der Nebenfrau? 3. Ist es nach Recht oder Gewohnheit in der Türkei zulässig und üblich, daß nichtehelich geborene Kinder als ehelich geboren registriert 7 Über die Ausnahmen von dieser Bindung vgl. meinen Aufsatz: Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, in AcP 175 (1975), S. 471 (482 ff.) und unten S. 159 ff. 8 Siehe FN 3.
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H. Das Recht als Regulator des Soziallebens
werden, damit sie in den Genuß des Erbrechts nach ihrem Vater kommen? a) Es lohnt sich, diesen Beweisbeschluß sprachlich und inhaltlich näher zu betrachten: Erbeten wird ein Rechtsgutachten, d. h. eine sachverständige Auskunft darüber, in welcher Art und Weise bestimmte zwischenmenschliche Beziehungen und damit zusammenhängende gesellschaftliche Vorgänge heutzutage innerhalb des als "Türkei" bezeichneten Gesellschaftsintegrats rechtlich geordnet sind. Da der Sachverständige keine rechtliche Entscheidung fällen soll, sondern nur als "Erkenntnisquelle" benutzt wird, muß er entsprechende Feststellungen darüber treffen, was ist, nicht darüber, was sein soll. Es handelt sich trotz des rechtlichen Gegenstandes also um den Realitätsaspekt, nicht um den Sollensaspekt. Rechtssätze erscheinen in der äußeren Form sprachlicher Gebilde. Diese enthalten Fachwörter ("termini technici") zwecks Bezeichnung von Rechtsbegriffen, deren Gegenstand, Inhalt und Umfang durch die jeweils in Geltung befindliche Rechtsordnung festgelegt sind. Die in Betracht kommenden Rechtssätze sind somit Quellen der Rechtseinsicht nur für denjenigen, der außer der Sprache auch die juristische Terminologie beherrscht und außerdem den Stellenwert kennt, den diese Rechtssätze in der Rechtswirklichkeit, d. h. in der Rechtspraxis der Türkei haben. Die Formulierung der ersten Frage zeigt, daß die Mitglieder des Schöffengerichts und der Staatsanwaltschaft gelegentlich gehört oder gelesen haben, daß die Türkei das Schweizer ZGB und damit das Prinzip der Einehe vor dem staatlichen Standesbeamten übernommen haben. Deshalb das Wörtchen "noch" in der Fragestellung, ob die "Mehrehe in der Türkei noch gestattet" sei. Hätte der Gutachter nur nach dem Wortlaut der Frage und der Regelung des Eherechts im türkischen ZGB geantwortet, so hätte er die Frage unter Hinweis auf die Bestimmungen in Art. 93 und 112 des genannten Gesetzes verneinen müssen. Damit wären die weiteren Fragen des Gerichts gegenstandslos geworden. Es war voreilig, die sozialen Beziehungen zwischen einem Mann, der mit mehreren Frauen in Gemeinschaft lebt, aber nur mit einer von ihnen standesamtlich getraut ist, als "Mehrehe" rechtlich zu qualifizieren. Die Frage hätte lauten müssen: "Wie ist das Verhältnis zwischen einem in Einehe verheirateten Mann und einer anderen, mit ihm lebenden, ihm aber standesamtlich nicht angetrauten Frau und den mit dieser gezeugten KiIl!dern zu beurteilen?" Nur dann wären die in den Fragen 2 und 3 gebrauchten Ausdücke "Nebenfrau" und "nichteheliches" Kind, die ja bereits rechtliche Qualifizierungen und Wertungen enthalten, am Platz gewesen. Wäre die Mehrehe in der Türkei noch gestattet, so gäben die Begriffe "Nebenfrau" und "nichteheliches" Kind keinen Sinn. Man ersieht aus diesen Erwägungen, wie schwierig es ist, eine Rechtsver-
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gleichung durchzuführen, wenn ein zwischenmenschliches Verhältnis innerhalb eines fremden (ausländischen) Gesellschaftsintegrats nicht als soziale Beziehung, d. h. als Faktum betrachtet wird, sondern von vornherein mit denselben rechtlichen Maßen untersucht wird, mit denen ein entsprechendes zwischenmenschliches Verhältnis im eigenen (inländischen) Gesellschaftsintegrat rechtlich beurteilt wird9 • b) Für den praktischen Juristen, der einen konkreten sozialen Sachverhalt rechtlich beurteilen soll, ist das als Beurteilungsgrundlage dienende Normensystem in seinem Dasein und seinem Sosein eine gegebene Größe, ein Faktum. Die Positivität einer heute-hier-so geltenden Rechtsordnung ist eine notwendige Bedingung für die normative Beurteilung eines sozialen Sachverhalts. Jedoch ist zu beachten, daß die Erwartungen, die der Gesetzgeber an die Regulierungswirkung seiner Gesetze geknüpft hat, sich gelegentlich nicht erfüllen, weil die Adressaten der Gesetzessätze sich anders verhalten, als sie sich verhalten sollen. Entweder sind die Wertvorstellungen der Bevölkerung andere als diejenigen des Gesetzgebers. Oder die Umweltbedingungen, d. h. die Gegebenheiten des Soziallebens sind stärker und mächtiger als der gesetzgeberische Wille und die Bemühungen des Rechtsstabes, diesem Willen Geltung zu verschaffen. Beide Ursachenreihen können auch nebeneinander wirksam sein. Und sie sind es nach der übernahme des schweizerischen ZGB in der Türkei gewesen. e) Dies an dieser Stelle im einzelnen darzustellen, dürfte angesichts der darüber auch in deutscher Sprache im Laufe der letzten vier Jahrzehnte erschienenen und allgemein zugänglichen Veröffentlichungen überflüssig sein10 • Ich begnüge mich mit folgenden Angaben: An die Stelle des bis zum 3. 10. 1926 seit Jahrhunderten für die islamische Bevölkerung des Osmanischen Reichs und seines Restbestandes Türkei in Geltung gestandenen islamischen Eherechts, das die Mehrehe (und zwar nach Art. 14 des osmanischen Familienrechtsgesetzes von 1917 bis zu vier Frauen) zuließ, ist am 4. 10. 1926 das aus der Schweiz übernommene Türkische Zivilgesetzbuch (TZGB) getreten. Danach soll 9 Vgl. zu diesem Problembereich insbesondere Ulrich Drobnig / Man[red Rehbinder (Hrsg.), Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, Berlin 1977, insbesondere M. Rehbinder, Erkenntnistheoretisches zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, S. 56-71, und Andreas Heldrich, Sozial-
wissenschaftliche Aspekte der Rechtsvergleichung, S. 178-192. 10 Vgl. außer den Nachweisen in dem oben in FN 3 erwähnten Rechtsgutachten die zeitlich später erschienenen und mit zahlreichen Hinweisen auf das Schrifttum versehenen Aufsätze in Z. f. Schweiz. Recht, N. F. 95 I (1976), S. 221-341 und unten S. 129; ferner Ernst E. Hirsch, Türkisches Recht vor deutschen Gerichten, Berlin 1981; derselbe: Rezeption als sozialer Prozeß, Berlin 1981; ferner Man/red Rehbinder, Die Rezeption fremden Rechts in soziologischer Sicht, in: Rechtstheorie 14 (1983) 305-315.
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die vor dem staatlichen Standesbeamten abzuschließende monogame Zivilehe die allein als rechtlich legitim anerkannte Organisationsform der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau sein. Nur die aus einer solchen Lebensgemeinschaft stammenden Kinder haben die Rechtsstellung eines ehelichen Kindes, alle anderen Kinder dagegen sind nichtehelich. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung vor allem auf dem Lande lehnte diese "Idealordnung" nicht nur unter Berufung auf Religion und Tradition, sondern auch aus sozialen und wirtschaftlichen, in den Gegebenheiten des Landes wurzelnden Gründen ab. Die Eheschließung erfolgte vielfach nach altem Brauch in der Form der sog. "Imam"-Ehe, ohne daß hierbei die zwingenden Vorschriften der Art. 93 und 110 TZGB (Verbot der Mehrehe, Verbot der religiösen Trauung vor der standesamtlichen Eheschließung) beachtet wurden. Die zivilrechtlich vorgesehenen Folgen (absolute Nichtigkeit der Ehe, Nichtehelichkeit der Kinder) und auch zahlreiche einschlägige Strafdrohungen erwiesen sich nicht nur als wirkungslos, sondern wurden in den betroffenen Bevölkerungskreisen als ungerecht empfunden. Entsprechend den alt überkommenen Sitten und Gewohnheiten wurden im sozialen Leben der Dorfgemeinschaften die zweite, dritte, vierte Frau eines Mannes nicht als "Nebenfrau" und deren Kinder nicht als nichtehelich, sondern als zur Familiengemeinschaft des Mannes gehörig betrachtet, zum al sie auch innerhalb der häuslichen Gemeinschaft in diesem Rahmen faktisch lebten. Erst bei der durch den Tod des Mannes und Vaters eintretenden gesetzlichen Erbfolge trat das "gesetzliche Unrecht" zutage, daß entgegen dem früheren, aber 1926 gesetzlich aufgehobenen islamischen Erbrecht die zweite, dritte, vierte Frau und deren Kinder nicht erbberechtigt waren. Hinzu kam, daß selbst monogame Lebensgemeinschaften, die nicht vor dem Standesbeamten abgeschlossen waren, nicht als Ehen anerkannt und zahlreiche Geburten überhaupt nicht oder unrichtig in das Geburtsregister eingetragen wurden. d) Um der Sicherung des sozialen Friedens willen sah sich der türkische Gesetzgeber veranlaßt, in den Jahren 1933, 1945, 1950, 1956, 1965 und letztmals 1974 jeweils zeitlich befristete, im wesentlichen gleichlautende Gesetze "über die straflose Registrierung von nichtregistrierten Verbindungen und den daraus hervorgegangenen Kindern" zu erlassen. Der wesentliche Inhalt dieser Gesetze läßt sich dahin zusammenfassen, daß monogame, auf Dauer angelegte faktische Lebensgemeinschaften zwischen einem Mann und einer Frau bei dem örtlich zuständigen Standesamt als vom Beginn des Zusammenlebens ab gültige Ehen registriert werden können mit der Folge, daß durch die Registrierung die aus derartigen Lebensgemeinschaften stammenden Kinder von ihrer
7. Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums
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Geburt ab als eheliche Kinder gelten. Ist der Mann bereits eine Zivilehe eingegangen und steht er außer mit seiner Ehefrau noch mit einer oder mehreren anderen Frauen in einer auf Dauer angelegten faktischen Lebensgemeinschaft, so dürfen diese faktischen Gemeinschaften zwar nachträglich nicht als Ehen registriert werden; jedoch können Kinder aus derartigen Verbindungen auf Antrag als eheliche Kinder ihres Vaters registriert werden, so daß sie die Rechtsstellung eines ehelichen Kindes auch in erbrechtlicher Hinsicht erlangen, unbeschadet ihrer entsprechenden Rechtsstellung gegenüber ihrer Mutter, nicht aber gegenüber der Ehefrau ihres Vaters. Da die Geltung der erwähnten Sondergesetze zeitlich beschränkt ist, läßt sich die "Realordnung" (law in action) dahin bestimmen, daß die im TZGB vorgesehene, zivilrechtlich vor dem Standesbeamten geschlossene Einehe als Regel aufrechterhalten bleibt, daß aber auch sog. "Imam-Ehen" ohne Nachholung der zivilen Eheschließung vor dem Standesbeamten lediglich durch nachträgliche Registrierung zu echten Ehen werden können, wenn es sich um faktische monogame Lebensgemeinschaften handelt, während Lebensgemeinschaften eines Mannes mit mehreren Frauen nur als Konkubinate geduldet werden. Trotzdem aber können die Kinder auch aus diesen Konkubinaten durch Registrierung die Stellung eines ehelichen Kindes ihres Vaters erwerben. Die Durchführung derartiger Registrierungen hat, wie sich aus dem Gutachten (vgl. Fn. 3) ergibt, wiederum zu einer Abweichung der Realordnung von der Idealordnung geführt. Während nach Wortlaut und Sinn der Sondergesetze Kinder aus einer Lebensgemeinschaft eines verheirateten Mannes mit einer unverheirateten Frau lediglich als eheliche Kinder des Mannes zu registrieren sind, nicht aber als eheliche Kinder des Mannes und seiner Ehefrau, weil dies auch nach türkischem Recht strafbare Kindesunterschiebung wäre, ist die türkische Verwaltungspraxis in dieser Frage sehr "großzügig". Nach dem erwähnten Gutachten "muß davon ausgegangen werden, daß in praxi die bloße Behauptung des Vaters, das Kind sei von seiner Ehefrau geboren worden, ausreicht, um ein Kind als eheliches Kind der Eheleute (und nicht des Ehemannes und der Konkubine) in das Personenstandsregister einzutragen. Nähere Untersuchungen durch die Personenstandsbehörden werden regelmäßig nicht angestellt, um keinen der Beteiligten (Eheleute wie Kindesmutter) zu kompromittieren. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, daß der Angeklagte A seine von der Angeklagten U in der Türkei geborenen Kinder in seiner Heimatgemeinde ... als Kinder seiner Ehefrau hat registrieren lassen, obgleich dies unzulässig ... und gemäß Art. 445, 447 TStGB strafbar ist, ohne daß die Personenstandsbehörden daran Anstoß genommen haben"l1.
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II. Das Recht als Regulator des Soziallebens
e) Man kann die erwähnten Regelungen durch Sondergesetze als "Kapitulation vor der Volksmeinung"12 bezeichnen. Man kann mit Hilmar Krüger 18 beklagen, daß die "wichtigsten Ursachen der Misere eine höchst unzureichende Organisation des Personenstandswesens, bürokratische Schikanen der zuständigen Behörden, die informelle Art der Ziviltrauung und schließlich die kaum verhängten oder nur sehr geringen Strafen für Geistliche, die contra legern zivile Ehen schließen - ... nicht beseitigt" werden, so daß zu befürchten steht, daß sich der heutige Zustand des Ehe- und Kindschaftsrechts in der Türkei nicht ändern wird. Man kann nach den Ursachen für den Abstand zwischen Gesetzestext und Rechtspraxis forschen, wie es Mary Zwahlen in ihrem Aufsatz "L'application en Turquie du Code civil rec;u de la Suisse" und Zajer Gören-Ataysoy in ihrem Aufsatz "Die Fortbildung rezipierten Rechts"14 getan haben. Wesentlich ist allein die Feststellung, daß das aus der Schweiz importierte staatliche Familienrecht auf bestimmte Widerstände gestoßen ist, die im Laufe von 50 Jahren bei einem Großteil der Bevölkerung nicht beseitigt werden konnten und die zu beseitigen weder der Gesetzgeber noch die vollziehende Gewalt durch entsprechende Regelungen und Maßnahmen bisher gewagt haben. Die Internalisierung der gesetzlichen Vorschriften auf den Wegen der Eigenerfahrung oder der Nachahmung fremder Erfahrungen und Verhaltensweisen ist blockiert durch überkommene Vorstellungen, ohne daß die zuständigen Behörden daran auch nur zu rühren wagen. 5. Wenn der Gesetzgeber und die Behörden durch zeitlich befristete amnestieartige Sondergesetze bzw. durch eine nicht am Gesetz, sondern an der Volksmeinung orientierte Verwaltungsübung lediglich zu pardonnieren und zu rehabilitieren suchen, was angesichts des Gesetzes widerrechtlich, aber nach der Volksmeinung rechtmäßig ist, so fallen diese Fakten bei der Beantwortung der Frage nach der Erheblichkeit eines Normirrtums stärker ins Gewicht als die diesbezüglichen Rechtssätze. "Das" Recht ist nicht so, wie es im Gesetz gefordert, sondern wie es in der Wirklichkeit unter ausdrücklicher oder stillschweigender Duldung der zuständigen Mitglieder des Rechtsstabes praktiziert wird. 11 Vgl. nähere Ausführungen zu diesem Problem in meinen Aufsätzen: Das Schweizerische ZGB in der Türkei, Schweiz. Juristenzeitung 50 (1954), S. 337 ff. = Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, Berlin 1966, S. 122 ff., jeweils unter IV A b; Die Gesetzgebung in der Türkei auf dem Gebiete des Privatrechts 1939-1956, in RabelsZ 23 (1958), S. 81 ff. (86 Nr. 5); vgl. auch Hilmar Krüger, Fragen des Familienrechts: Osmanisch-islamische Tradition versus Zivilgesetzbuch, in ZSR (FN 10), S. 287 ff. 12 Pritsch, ZvglRWiss. 59 (1957), S. 178. 13 FN 11, S. 299. 14 FN 10, S. 249 ff. (258 f.) und S. 285 ff. (278 f.).
7. Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums
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a) Man kann einwenden, das möge in der Türkei so sein; aber für die Anwendung von § 17 des deutschen StGB über die Beachtlichkeit des Normirrtums könne das Erfahrungswissen eines in Deutschland tätigen türkischen Gastarbeiters angesichts der übereinstimmung in der gesetzlichen Beurteilung einer Personenstandsfälschung in der Türkei und in Deutschland keine Bedeutung haben; denn die Gleichheit vor dem Gesetz gelte als Prinzip in der Türkei nach Art. 12 der Verfassung von 1961 ebenso wie nach Art. 3 GG. Ebensowenig wie ein wegen Personenstandsfälschung in der Türkei angeklagter Türke sich vor einem türkischen Strafgericht auf falsche und gesetzwidrige Verwaltungsübung in der Türkei zur Begründung eines Normirrtums berufen könne, dürfe ihm dies hier in Deutschland als Schutz behauptung abgenommen werden. Aus der Sicht des Juristen mag dies dem Postulat der Allgemeinverbindlichkeit des Gesetzes vor allem unter der Voraussetzung entsprechen, daß ein bestimmter Sachverhalt im Heimatland des Angeklagten gesetzlich in derselben Weise beurteilt wird wie im Gastland. Ob im konkreten Fall das Schöffengericht aufgrund des ihm erstatteten Gutachtens zu diesem Ergebnis gekommen ist und die Angeklagten verurteilt hat, oder ob es einen Normirrtum zugunsten der Angeklagten als erwiesen angesehen hat, ist mir nicht bekannt. b) Gerade das letztgenannte Ergebnis läßt sich nämlich rechtfertigen, wenn man das Spannungsverhältnis berücksichtigt, das zwischen Idealordnung und Realordnung besteht und hinsichtlich des Personenstandswesens in Deutschland ein anderes ist als in der Türkei. Die obligatorische Zivilehe vor dem staatlichen Standesbeamten als zwingende, mit Strafandrohung bewehrte Vorbedingung für die erst danach zulässige religiöse (kirchliche) Eheschließung wurde während des sog. Kulturkampfes zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche vor rund hundert Jahren zunächst durch ein preußisches Gesetz von 1874 und dann durch ein Gesetz des Deutschen Reiches von 1875 eingeführt. Diese Regelung ist in allen Kreisen der Bevölkerung bekannt und anerkannt. Die Gefahr von Fälschungen des Personenstandes anläßlich von Geburten ist gering, weil Wöchnerinnen heute in der Regel in Krankenhäusern entbunden werden und die Krankenhausverwaltungen für richtige Angaben gegenüber dem Standesamt zu sorgen wissen. Hinzu kommt, daß uneheliche Geburt kaum mehr als sozialer Makel empfunden wird und die in Art. 6 GG vorgesehene rechtliche Gleichstellung nichtehelicher Kinder mit ehelichen Kindern durch das entsprechende Änderungsgesetz zum BGB vom 19.8.1969 realisiert worden ist. Man kann deshalb davon ausgehen, daß hinsichtlich der rechtlichen Ordnung des Personenstandswesens zwischen der gesetzlich vorgesehenen Idealordnung und der faktisch bestehenden Realordnung kein
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11. Das Recht als Regulator des Soziallebens
Spannungsverhältnis besteht, soweit die deutsche Bevölkerung in Betracht kommt. Niemand würde sich auf ein Nichtwissen oder einen Irrtum über den Inhalt der Begriffe "Ehe", "Ehelichkeit", "Nichtehelichkeit" , "Personenstand" berufen, auch wenn er die einschlägigen Gesetzesnormen niemals gelesen hat, geschweige denn im einzelnen kennt. Ganz anders steht es damit in der Türkei: Das Ziel der maßgebenden Politiker, die im Jahre 1926 die übernahme des in die türkische Sprache übersetzten schweizerischen ZGB als türkisches ZGB in der gesetzgebenden Versammlung durchsetzten, bestand nach einem Worte Atatürks darin, die türkische Gesellschaft auf die Höhe der zeitgenössischen Zivilisation Westeuropas zu heben. Vor allem das Verbot der Mehrehe und der jederzeitigen Scheidungsmöglichkeit des Mannes von der Frau sowie der Grundsatz der Eheschließung vor einem staatlichen Beamten sollten diesem Zweck dienen, was 35 Jahre später ausdrücklich in Art. 153 Ziff.4 der türkischen Verfassung von 19611 5 und wieder 20 Jahre später in Art. 174 Ziffer 4 der türkischen Verfassung von 1982 erneut besonders hervorgehoben wurde. Aber die einschlägigen Rechtssätze, als Richtschnur und Hebel für den sozialen Wandel gedacht und bestimmt, entsprachen - und entsprechen auch heute noch - nicht den Lebensvorstellungen und Lebensweisen von Millionen von Menschen. Eine tiefgreifende Wandlung darin kann sich, wenn überhaupt, nur im Laufe von Generationen bei Anwendung geeigneter Mittel entwickeln. Mögen die Verhältnisse bei der - allein aus wirtschaftlichen Zwängen - schon zur osmanischen Zeit monogam lebenden Bevölkerung der türkischen Groß-und Mittelstädte den diesbezüglichen deutschen Verhältnissen bis zu einem gewissen Grade entsprechen, so ist dies hinsichtlich der Bevölkerung in den türkischen Dörfern und Kleinstädten, aus denen die Schar der Gastarbeiter überwiegend stammt, nicht der Fall. Die oben erwähnten sechs Sondergesetze zeigen mit aller Deutlichkeit, daß die gesetzlichen Bestimmungen des TZGB über die obligatorische Eheschließung vor einem staatlichen Beamten und über das Verbot der Mehrehe in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung noch nicht die Qualität von "Recht" gewonnen haben. In den Sitten und Gebräuchen der ländlichen Bevölkerung lebt noch als "Recht", was durch eine ausdrückliche Gesetzesbestimmung vor rund fünfzig Jahren seine rechtliche Verbindlichkeit verloren hat, während die mit Allgemeinverbindlichkeitsanspruch erlassenen gesetzlichen Vorschriften 15 Deutsche Übersetzung nebst Erläuterungen in meinem in der Schriftenreihe "Die Staatsverfassungen der Welt" als Band 7 erschienenen Buch "Türkei", Frankfurt (M.) 1966. Deutsche Übersetzung der Verfassung von 19S2 nebst Einführung dazu in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart,
N. F. 32 (19S3) S. 50S-551.
7. Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums
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für diesen Teil der Bevölkerung lettres mortes sind. Die staatliche ldealordnung ist insoweit nicht zur Realordnung geworden. Dies vor allem auch deswegen nicht, weil die Sondergesetze den zwingenden Charakter des TZGB hinsichtlich der Einehe, die vor dem staatlichen Beamten zu schließen ist, in den Vorstellungen der Bevölkerung keineswegs stärken, sondern im Gegenteil ins Zwielicht geraten lassen 16 • Die durch diese Sondergesetze gegebene Möglichkeit, nichteheliche Kinder durch bloße Registrierung zu ehelichen Kindern ihres Vaters zu machen, ohne aber der Mutter zugleich die Qualität einer "Ehefrau" zu geben, widerspricht so sehr den überkommenen Vorstellungen, daß es durchaus naheliegt, wenn der Mann bei der Anmeldung eines von einer anderen Frau als seiner Ehefrau geborenen Kindes dieses als sein "eheliches" Kind und bei der Frage nach der Mutter den Namen seiner Ehefrau nennt. An anderer Stelle 17 habe ich darauf hingewiesen, daß ein Normirrtum nur in solchen Gesellschaftsintegraten einen "Schuld- oder Unrechts-Ausschließungsgrund" bilden kann, deren soziale Struktur sehr differenziert und deren Sozialleben diskontinuierlich, labil und unübersehbar ist, so daß wegen der faktischen Schwierigkeiten in der Koordination des Verhaltens die Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums als unvereinbar mit Billigkeit und Gerechtigkeit erscheint. Diese Voraussetzung ist nach der türkischen Realordnung gegeben, so daß es unter Berücksichtigung der mangelnden Integration türkischer Gastarbeiter in das gesellschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland gerechtfertigt gewesen wäre, die Bestimmung von § 17 des deutschen StGB über die rechtlichen Folgen des Normirrtums im gegebenen Fall anzuwenden. Betrachtet man den Normirrtum aus dem Gesichtspunkt des Sollens, so steht seiner Beachtlichkeit die jeder Rechtsordnung immanente Allgemeinverbindlichkeit der Gesetze und die verfassungsrechtlich garantierte Gleichheit vor dem Gesetz entgegen. Ignorantia juris nocet. Normative Ausnahmen von dieser Regel können infolgedessen juristisch nur gerechtfertigt werden, wenn der Gleichheitssatz im Sinne eines Willkürverbots ausgelegt wird derart, daß Gleiches gleich zu behandeln ist, Ungleiches aber ungleich behandelt werden darf, falls dies aus ethischen Gründen oder aus Opportunitätsrücksichten zu rechtfertigen ist. Betrachtet man dagegen den Normirrtum aus dem Gesichtspunkt der Rechtsrealität, so ist er dann beachtlich, wenn das generell miß16 Nach der wohl zutreffenden Meinung von Krüger (FN 11, S. 300) sind energische Maßnahmen zur Durchsetzung und Erzwingung der monogamen obligatorischen Zivilehe nicht zu erwarten, weil die politischen und sozialen Verhältnisse offenkundig entgegenstehen. Auch dies ist eine "Sperre" der Verhaltenstransparenz im Sinne von Heinrich Popitz, über die Präventivwirkung des Nichtwissens (Recht und Staat, Heft 350), Tübingen 1968, S. 7 ff. 17 Vgl. meine Rechtssoziologie bei Eisermann (FN 5), S. 182.
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11. Das Recht als Regulator des Soziallebens
billigte Verhalten des Individuums als Ausdruck eines gruppenspezifisch entstandenen und vorhandenen abweichenden Verhaltens zu qualifizieren ist, was dem einzelnen Gruppenmitglied nicht als persönliche "Schuld" oder persönliches "Verschulden" anzulasten ist. Für diese Fälle gilt der Ausnahmesatz: Ignorantia juris non nocet.
DRITTER TEIL
Das Recht als Funktion des Soziallebens 8. Sozialer Sachverhalt und rechtliche Regulierung als Interdependenzprohlem· Die rechtliche Regelung eines jeden sozialen Sachverhalts sowohl in abstracto als auch in concreto ist Ausdruck der gesamten Lebensbedingungen eines konkreten Gesellschaftsintegrats, d. h. der in ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt wirksamen religiösen, moralischen und geistigen Strömungen, der politischen Herrschaftsverhältnisse und der geographischen, demographischen, ökonomischen und sonstigen materiellen Gegebenheitenl • In der folgenden Darstellung werden einige besonders charakteristische neuere Untersuchungsergebnisse vorgelegt, die m. E. typisch sind und eine wissenschaftliche Generalisierung erlauben, auch wenn sie sich, entsprechend der Berufsrolle, die ich vier Jahrzehnte lang etwa je zur Hälfte in der Türkei und in Deutschland gespielt habe, auf den Bereich des türkischen und des deutschen Soziallebens beschränken. Das Interdependenzproblem von sozialem Sachverhalt und rechtlicher Regulierung tritt in der Türkei Atatürks besonders deutlich hervor, weil hier eine der besten Kodifikationen des neue ren Privatrechts, das schweizerische ZGB und OR, zur rechtlichen Regulierung des Soziallebens eines Landes dienen sollte, dessen gesamte Lebens-
* Erstmals veröffentlicht in: "Multitudo legum ius unum", Festschrift für
Wilhelm Wengler, BerUn 1973, Bd. I. S. 209-230.
1 Auf diesen in der rechtsvergleichenden und rechtssoziologischen Theorie allzuleicht übersehenen Umstand, daß die in einem Lande wissenschaftlich ermittelten sozialen Fakten, Verhältnisse und Beziehungen und ihre rechtliche Regelung als solche nicht ohne weiteres verallgemeinert werden dürfen, wird mit Recht auch von Zwingmann in seiner Rezension (KZfS 1971, 166 ff.) des von mir und Man/red Rehbinder herausgegebenen Sonderheftes 11 der KZfS "Studien und Materialien zur Rechtssoziologie" (Köln und Opladen 1967) mehrfach hingewiesen. So heißt es z. B. auf S. 169 r. Spalte: "Bei allen ausländischen Beiträgen erweist sich die Schwierigkeit, diese auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Regelmäßig gehen sie von für uns fremden Rechtsvorstellungen aus, die bei näherem Zusehen von der andersartigen Struktur des Rechtsbetriebes herrühren."
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III. Das Recht als Funktion des Soziallebens
bedingungen in dem von mir umschriebenen Sinn, nämlich die geographischen, demographischen und ökonomischen Gegebenheiten, die Herrschaftsverhältnisse und die religiösen und geistigen Strömungen, sich sehr wesentlich von denjenigen der Schweiz unterscheiden. Darüber habe ich ausführlich in meinem 1981 erschienenen Buch: "Die Rezeption als sozialer Prozeß. Erläutert am Beispiel der Türkei" gehandelt und vor allem klargestellt, daß die oft vertretene Ansicht, die Rezeption sei ein einmaliger Akt, unhaltbar ist2 • Im folgenden bringe ich lediglich einige Beispiele, welche die Interdependenz zwischen sozialem Sachverhalt und rechtlicher Regulierung besonders deutlich machen und den Prozeßcharakter des Vorgangs beleuchten. 1. Wenn man sich zunächst dem Personen- und Familienrecht zuwendet, wird man an Montesquieu erinnert, der im 16. Buch seines Werkes "L'Esprit des Lois" die Frage erörtert, "comment les lois de l'esclavage domestique ont de rapport avec la nature du climat", wobei er mit dem Ausdruck "esc1avage domestique" die rechtliche Stellung der Frau in einigen Ländern, vor allem im Orient, charakterisieren will. Seine rechtssoziologisch relevanten Feststellungen über die determinierenden Faktoren bei der rechtlichen Regelung der Ehefähigkeit, insbesondere hinsichtlich der Festsetzung des für Mann und Frau verschiedenen Heiratsalters und bei der Beantwortung der Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Polygamie, haben sich anläßlich der übernahme des schweizerischen ZGB in das türkische Recht als richtig erwiesen.
a) Die Altersstufen sowohl für das Mündigkeitsalter als auch für das Ehefähigkeitsalter wurden zwar gegenüber dem schweizerischen Vorbild herabgesetzt, weil die frühere Geschlechtsreife eine derartige Herabsetzung erforderlich machte; und zwar hinsichtlich der Ehefähigkeit des Mannes auf 18, der Frau auf 17 Jahre, doch konnte in außergewöhnlichen Fällen Eheerlaubnis erteilt werden, wenn Mann oder Frau mindestens 15 Jahre alt waren. Als im Jahre 1937 nicht weniger als 61806 Anträge auf vorzeitige Ehemündigkeitserklärung gestellt worden waren, sah man ein, daß man bei der übernahme des Gesetzbuches aus der Schweiz die türkischen Verhältnisse falsch ein2 Vgl. zu dieser Frage eingehend: Ernst E. Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Band 1), Berlin 1966, S. 89-120; ders.: Vier Phasen im Ablauf eines zeitgenössischen Rezeptionsprozesses, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft Band 69 (1968), 182-223 und die dortigen Hinweise auf einschlägiges Schrifttum; ders.: Rezeption als sozialer Prozeß, Berlin 1981; zustimmend Man/red Rehbinder, Die Rezeption fremden Rechts in soziologischer Sicht, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 305~315. Zu meiner Auffassung kritisch: Zentaro Kitagawa, Rezeption und Fortbildung des europäischen Zivilrechts in Japan (Arbeiten zur Rechtsvergleichung Bd. 45, Frankfurt/M. 1970), S. 16 ff.
8. Sozialer Sachverhalt und rechtliche Regulierung
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geschätzt hatte. Durch ein Abänderungsgesetz wurden 1938 die Altersstufen derart geändert, daß das Ehefähigkeitsalter für den Mann 17 Jahre, für die Frau mindestens 15 Jahre beträgt, in außergewöhnlichen Fällen aber die Eheerlaubnis bereits einem 14jährigen Mädchen erteilt werden kanns. Da Eheschließung mündig macht, kann bereits eine 14jährige Frau durch Eheschließung mündig werden, obwohl das normale Mündigkeitsalter bei 18 Jahren liegt und für eine vorzeitige Mündigkeitserklärung für beide Geschlechter die Vollendung des 15. Lebensjahres verlangt wird. b) Seit dem Inkrafttreten des ZGB im Jahre 1926 mußten immer wieder Gesetze erlassen werden, die sich auf die straflose Registrierung nicht registrierter und verheimlichter Veränderungen des Personenstandes beziehen. Die soziale Ursache dieser Gesetze lag in der Ersetzung der nach dem bisherigen islamischen Recht zulässigen Polygamie durch die Einehe und in der Einführung der staatlichen Eheschließung vor dem Standesbeamten anstelle der religiösen Trauung. Der übergang von der Polygamie zur Einehe bedeutete einen außerordentlich scharfen Bruch mit der Vergangenheit, allerdings nicht so sehr in den größeren Städten, als vielmehr auf dem Lande und in den Kleinstädten, wo weder die Bevölkerungsstruktur noch die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch auch der Behördenapparat für eine so plötzliche Wandlung reif und vorbereitet waren. Die Folge war eine erhebliche Anzahl von Lebensgemeinschaften, die nicht vor dem Standesbeamten geschlossen wurden, sondern sich entweder mit einer vor der standesamtlichen Trauung zwar rechtlich verbotenen, aber jedenfalls zunächst nicht strafbaren Trauung im alten Stil vor dem Imam oder auch nur mit den üblichen Hochzeitsbräuchen begnügten und begnügen konnten, weil niemand an diesen alten Herkommen Anstoß nahm. Die Kinder aus diesen Lebensgemeinschaften wurden entweder überhaupt nicht oder als unehelich in den Registern der Standesämter registriert. Die Folgen zeigten sich nicht nur statistisch bei den Volkszählungen, sondern für die Betroffenen vor allem bei jedem Erbfall, da die im Personenstandsregister nicht als Ehefrauen bzw. als ehelich eingetragenen Kinder entgegen dem bisherigen Recht sich ihres Erbrechts beraubt sahen. Zur Beseitigung dieser von der Bevölkerung mit Unverständnis und Empörung aufgenommenen Folgen ist die nachträgliche Registrierung einer Lebensgemeinschaft 3 Auch diese Regelung hat sich als nicht sachgemäß erwiesen, wie sich aus dem 1971 vom türkischen Justizministerium veröffentlichten Vorentwurf nebst Begründung eines Türkischen Zivilgesetzbuches ergibt (TüRK MEDENI KANUNU ÖN TASARISI VE GEREKC;ESI, Ankara 1971, S. 80/81 Dazu Zajer Gören-Ataysoy, Die Fortbildung rezipierten Rechts; ein amtlicher Vorentwurf zu einem türkischen Zivilgesetzbuch, in: Z. f. schweiz. Recht Bd. 95 (1976) 1. Halbband S. 265-286.
9 Hirsd!.
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IH. Das Recht als Funktion des Soziallebens
ohne standesamtliche Trauung für gesetzlich zulässig erklärt worden, wenn aus der Verbindung ein Kind hervorgegangen ist, kein Ehehindernis der Verwandtschaft besteht und keiner der beiden Partner anderweitig rechtsgültig verheiratet ist. Ferner werden die Kinder aus derartigen Verbindungen als eheliche eingetragen und dies selbst dann, wenn der Mann bereits mit einer anderen noch lebenden Frau nach neuem Recht gesetzmäßig verheiratet ist und infolgedessen die Beziehungen zu der zweiten, manchmal auch· dritten und vierten Frau nicht als Ehe registriert werden können, sondern nur als geduldetes Konkubinat gelten. Die als ehelich registrierten Kinder aus derartigen Konkubinaten haben in vollem Umfange die rechtliche Stellung ehelicher Kinder, erlangen also z. B. die gleiche Erbberechtigung am Nachlaß des Vaters wie dessen Kinder aus der legitimen Ehe 4 • Die Tatsache, daß in relativ kurzen Abständen immer wieder derartige Gesetze zur "Ehrlichmachung" erforderlich waren, zeigt deutlicher als dickleibige Folianten die Grenzen, die staatlicher Macht durch Herkommen, Erziehung, Volksgeist, aber auch, was gerade in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden darf, durch klimatische und wirtschaftliche Gegebenheiten gezogen sind. Obwohl das Verbot, die religiöse Trauung vor der standesamtlichen zu vollziehen, nachträglich unter strafrechtliche Sanktion gestellt worden ist, wird es noch viele Jahre dauern, bis der Umwandlungsprozeß vollendet sein wird. Besonders betont sei, daß hierbei die Motorisierung der Landwirtschaft und die Verhesserung der ärztlichen und hygienischen Versorgung der Landbevölkerung eine entscheidende Rolle spielen, um "l'esclavage domes tique de la femme" zu erleichtern. 2. Ein anderes Beispiel: Für die Bevölkerung eines Staates, dessen Wirtschaftskraft hauptsächlich auf Ackerbau und Viehzucht beruht, ist, solange der Grundsatz des Privateigentums und der Privatwirtschaft gilt, ein wirksamer Besitzschutz sowohl bei Grundstücken gegen Störungen durch verbotene Eigenmacht, als auch bei Vieh gegen die Gefahren des Diebstahls und der Unterschlagung von großer Wichtigkeit. Aber die besten zivilrechtlichen Vorschriften sind wirkungslos, wenn die Organisation des Rechts- und Gerichtswesens nicht genügend ausgebaut und entwickelt ist, um gestützt auf materielle Rechtsansprüche sein Recht verwirklichen zu können. Dies erkennt man deutlich an den beiden folgenden Sachverhalten: 4 Vgl. Hilmar Krüger, Fragen des Familienrechts: Osmanisch-islamische Tradition versus Zivilgesetzbuch, in Z. f. schweiz. Recht Bd. 95 (1976) I. Halbband S. 287-301. Siehe auch als ein Beispiel aus der deutschen Gerichtspraxis den Aufsatz: "Zur Rechtserheblichkeit des Normirrtums in juristischer und soziologischer Sicht", oben S. 110.
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a) Nach Art. 895 des aus der Schweiz übernommenen Zivilgesetzbuches ist derjenige, der einem anderen eine Sache durch verbotene Eigenrnacht entzogen hat, verpflichtet, sie zurückzugeben, auch wenn er ein besseres Recht an der Sache zu haben behauptet. Das Ziel einer entsprechenden Zivilklage besteht darin, die durch Eigenrnacht gestörte faktische Situation wieder herzustellen. Nicht der Bestand eines subjektiven Rechts ist wesentlich, sondern die Aufrechterhaltung und Sicherung des tatsächlichen Zustandes, d. h. des öffentlichen Friedens. Während eine derartige Besitzschutzklage in der Schweiz zweckentsprechend ist, hat sie in der Türkei praktisch keinen Wert, weil sie mangels der erforderlichen Einrichtungen der Rechtspflege nicht effektiv sein kann. Deshalb mußte etwa 7 Jahre nach dem Inkrafttreten des ZGB ein Spezialgesetz über die Abwehr verbotener Eigenmacht ergehen, das aufgrund der gemachten Erfahrungen 15 Jahre später novelliert worden ist. Nach diesem Gesetz kann nicht nur der Grundstücksbesitzer selbst innerhalb von 60 Tagen, nachdem er von der Besitzstörung oder der verbotenen Eigenrnacht Kenntnis erlangt hat, sondern auch der gesetzliche Vertreter des Dorfes oder irgend ein Dorfbewohner sich an die örtlich zuständige Verwaltungsbehörde wenden, die an Ort und Stelle von Amts wegen Erhebungen anstellen läßt, binnen 15 Tagen eine Entscheidung trifft und dem im Besitz gestörten Besitzer das Grundstück an Ort und Stelle zurückgibt. Wenn trotzdem neue Eingriffe oder Störungen erfolgen, wird unverzüglich und ohne neue Erhebungen seitens der Verwaltungsbehörde eingeschritten. Der Störer, der an dem Grundstück ein besseres Recht zu haben behauptet oder Ansprüche wegen etwaiger Verwendungen auf das Grundstück erhebt, wird auf den gerichtlichen Klageweg verwiesen. Man ersieht daraus, daß die Aufrechterhaltung einer tatsächlichen Besitzlage im öffentlichen Interesse liegt und nicht bloß als privatrechtlicher Schutzanspruch zu betrachten ist. Die polizeiliche Sicherung des Rechtsfriedens ist vordringlicher als die richterliche Entscheidung darüber, wer im Recht ist. b) Ein Gesetz von 1950 über die Verhinderung des Viehdiebstahls beruht auf ähnlichen Erwägungen und Erfahrungen. Es regelt den Kauf und Verkauf von Groß- und Kleinvieh (ausschließlich des Federviehs) sowie die Verfolgung des Viehdiebstahls entsprechend den faktischen Verhältnissen in einer von den allgemeinen privatrechtlichen Kauf- und Besitzschutzvorschriften abweichenden Weise. Der Kaufvertrag erfolgt aufgrund eines sog. Verkaufsscheines, für den Formulare kostenlos von der Orts- oder Gemeindebehörde ausgegeben werden; auf diesem Formular sind die Individualisierungsmerkmale sowohl des Tieres als auch seines Eigentümers anzugeben. Beim Verkauf gibt der Steuereinnehmer, der mit der Einziehung der Verkaufsabgabe betraut ist, diesen
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Verkaufsschein dem Käufer, nachdem er dessen Namen und Adresse auf dem Schein vermerkt und diesen Vermerk amtlich beglaubigt hat. Alle Polizeikräfte sind verpflichtet und befugt, bei Viehverkäufen nachzuprüfen, ob derartige Verkaufsscheine vorhanden sind. Bei diesen Vorschriften handelt es sich nicht um eine besondere Form des Vertragsabschlusses, sondern vielmehr um eine Vorbeugungsmaßnahme gegen Viehdiebstähle, was sich bereits aus dem Titel des Gesetzes ergibt. Die übrigen Vorschriften über das Verfahren bei Viehdiebstählen lassen die Vorschriften des ZGB über Besitzschutz völlig unbeachtet und erinnern stark an die dem alten deutschen Recht wohlbekannten Institutionen des "Gerüftes", der "Spurfolge" und des "Anefangs", wenngleich anstelle der Selbsthilfe die Tätigkeit der Polizei und ihrer Hilfsorgane getreten ist. 3. Wenn ich mich nunmehr deutschen Verhältnissen zuwende, welche die Interdependenz von sozialem Sachverhalt und rechtlicher Regulierung verdeutlichen sollen, so liegt der Unterschied zu den bisher gebrachten Beispielen aus der Türkei darin, daß es im deutschen Raum - abgesehen vom sowjetischen Herrschaftsbereich - nicht um die Aufstülpung importierter fremder Rechtsgedanken auf das heimische Sozialleben zwecks dessen Umgestaltung, sondern darum geht, daß das Sozialleben tiefgreifende Wandlungen politischer, technischer und ökonomischer Verhältnisse bereits durchgemacht hat, ohne daß die einschlägigen Gesetze diesem Wandel gefolgt sind. Auch hierdurch treten Spannungszustände auf, die zu Anpassungsprozessen führen. Dauer, Intensität und Ergebnis dieser Anpassungsprozesse sind sowohl von der Stärke der für den Wandel ursächlichen Faktoren als auch von dem Widerstand oder der Bereitschaft der letztlich bestimmenden Gruppen des konkreten Gesellschaftsintegrats abhängig, sich gegen den Wandel zu stemmen oder ihn hinzunehmen oder sich positiv für ihn einzusetzen. Im Gegensatz zur Problematik in der Türkei, wo das Gesetz der sozialen Wirklichkeit vorauseilen sollte und mit der Absicht erlassen wurde, das soziale Leben in andere Bahnen zu lenken, liegt die Ursache der nunmehr zu besprechenden Anpassungsprozesse darin, daß das Sozialleben dem Gesetzgeber davongelaufen ist. Es geht hier um die Frage, ob und wie das Gesetz der sozialen Wirklichkeit angepaßt werden soll. Dies kann auf zwei Wegen geschehen: Entweder kann von seiten des "Rechtsstabes"5 der Versuch gemacht werden, das überkommene Gesetzes- oder Gewohnheitsrecht "fortzu5 Unter "Rechtsstab" ist zu verstehen: der Inbegriff aller derjenigen, welche faktisch mit der Anwendung des Rechts berufsmäßig (d. h. rollenmäßig) zu tun haben, sei es unmittelbar wie die Richter, Verwaltungsjuristen, Rechtsanwälte, Notare, sei es mittelbar wie die wissenschaftlich mit dem
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bilden", d. h. den Sinn der geltenden Rechtsregeln mit Hilfe von Auslegungs-Kunststücken zu verengen, zu erweitern oder inhaltlich so zu verändern, daß trotz äußerlicher Aufrechterhaltung der alten Norm ihre rechtliche Bedeutung dem durch den sozialen Wandel veränderten sozialen Sachverhalt Rechnung trägt. Es ist also die Rechtspraxis, aus der heraus die Impulse kommen, um Tragweite, Inhalt und Bedeutung der Rechtsnormen entsprechend den Bedürfnissen des sozialen Lebens umzugestalten oder nach den ideologischen Postulaten des höchsten Gewaltinhabers umzubiegen6 • Der zweite Weg führt über den Gesetzgeber: Dieser kann seinerseits eine neue Wertung des sozialen Sachverhalts vornehmen und entweder die durch die Praxis geschaffenen Neubildungen und Veränderungen des Rechts durch Gesetz bestätigen oder sie als gefährliche Fehlentwicklung ansehen und deshalb Gesetze zur Unterbindung der von ihm als Mißbräuche gewerteten Praktiken erlassen. Bei dieser Gelegenheit kann der Gesetzgeber eine neue Marschrichtung bestimmen, um nicht nur den Mißbräuchen zu steuern, sondern zugleich auch den neu aufgetretenen Bedürfnissen in anderer Weise Rechnung zu tragen. Dies sind, ähnlich wie bei der Rezeption, gesetzgeberische Versuche, mit der Hilfe neuer Rechtsnormen das Sozialleben nach dem Ziele hinzulenken, das der Gesetzgeber als erwünscht ansieht. Für beide Möglichkeiten fehlt es nicht an Beispielen: a) Zunächst für die durch politische Veränderungen bedingten sachlichen Inhaltsänderungen einer im Wortlaut gleichgebliebenen Rechtsnorm durch Interpretationskünste der Gerichte: Bernd Rüthers hat in seiner Berliner Antrittsvorlesung über "Institutionelles Rechtsdenken im Wandel der Verfassungsepochen" (Bad Homburg 1970) die Aussagen des Reichsgerichts zur Zeit des Nationalsozialismus, des Bundesgerichtshofes und des Obersten Gerichts der DDR zum gesetzlichen Begriff "Wesen der Ehe" einander gegenübergestellt. Dies war deshalb möglich, weil das Ehegesetz von 1938 mit nur unwesentlichen Streichungen einiger typisch nationalsozialistischer Vorschriften im Jahre 1946 vom Alliierten Kontrollrat als neues Gesetz für das Gesamtgebiet des ehemaligen Deutschen Reiches erlassen wurde und infolgedessen sowohl in der Bundesrepublik als auch bis zum Erlaß des Familiengesetzbuches von 1965 in der DDR zur Anwendung kam. Bei Ehescheidungsprozessen war zu prüfen, ob bei "richtiger" Würdigung des "Wesens der Ehe" das Recht beschäftigten Personen ("Professoren") durch Bereitstellung von praktisch verwertbaren Theorien und Musterlösungen. 8 Vgl. Fritz von Hippel, Die Perversion von Rechtsordnungen, Tübingen 1955; Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus), Tübingen 1968. Vgl. auch: "Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze", unten S. 159 ff.
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Scheidungsbegehren "sittlich gerechtfertigt" war. Die von der nationalsozialistischen Ideologie durchtränkte Rechtsliteratur gab dem Reichsgericht die für die Rechtsanwendung brauchbaren Formulierungshilfen, um die Generalklausel "Wesen der Ehe" in dem von der politischen Führung verkündeten und in der Begründung zum Ehegesetz von 1938 niedergelegten ideologischen Sinne aufzufüllen. Das Reichsgericht suchte das rassenpolitische Programm des Gesetzgebers durch seine Ausdeutung des Begriffes "Wesen der Ehe" zu verwirklichen. Es folgte dem Grundsatz der "gemäßigten Scheidungsfreundlichkeit" , wie es ein Mit glied des damals für Scheidungsprozesse zuständigen Senats selbst formuliert hat. Wo völkische Gesichtspunkte in Frage standen, wurden hinderliche Ehen den "höheren" Zwecken geopfert. Da der Alliierte Kontrollrat seinem Ehegesetz von 1946 keine Begründung mit auf den Weg gegeben hatte, welche für die richterliche Auslegung einen Ausgangspunkt hätte bilden können, stand, wie Rüthers formuliert, die richterliche Interpretation des Begriffs "Wesen der Ehe" vor einem Vakuum. Materiale Wertentscheidungen des Gesetzgebers fehlten. Nach anfänglicher Zurückhaltung und Behutsamkeit der Formulierungen trat in der Rechtsprechung des BGH ein radikaler Tendenzumschwung gegenüber dem Reichsgericht im Sinne einer rigorosen Scheidungsfeindlichkeit ein. Hatte sich das RG zur Ausfüllung der Leerformel vom "Wesen der Ehe" der nationalsozialistischen Ideologie bedient, so griff der BGH auf eine absolute, vorgegebene sittliche Ordnung und das in ihr wurzelnde Institut der Ehe im Sinne der Naturrechtslehre zurück. Aus dem institutionellen Sinn der Ehe wurde ihre wesenhafte, d. h. prinzipielle Unauflöslichkeit abgeleitet, so daß die im Gesetz vorgesehene Scheidungsmöglichkeit rigoros beschränkt wurde. Das Oberste Gericht der DDR dagegen holte sich bei der Auslegungsfrage nach dem "Wesen der Ehe" die erforderliche Wertgrundlage bei der für es maßgebenden Ideologie. Man müsse, so meinte das Oberste Gericht, von dem Inhalt des Wesensbegriffs ausgehen, den die Ehe in der antifaschistisch-demokratischen Ordnung des neuen Staates habe. § 48 EheG sei ein Beispiel dafür, wie ein Gesetz gleichen Wortlauts verschiedenen Inhalt gewinnen könne, je nach der Staatsordnung, der es zu dienen habe (OGZ 1, 72 ff.). Rüthers faßt das Ergebnis seiner Untersuchung in folgenden Sätzen zusammen: "Sämtliche Gerichte, das Reichsgericht, der BGH und das OG, sehen die Ehe als ein Institut an, das bestimmte Funktionen in einem übergreifenden Sinnzusammenhang oder einem höheren Ganzen erfüllt. Die Auslegungsmethode des Reichsgerichts, des Bundesgerichtshofes und des Obersten Gerichts der DDR hat bei aller Gegensätzlichkeit der Ergebnisse zweierlei gemeinsam:
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(1) Alle drei Gerichte gehen von einem außergesetzlich vorgegebenen "Institut" der Ehe aus. (2) Sinn und Funktion dieses "Instituts" ergeben sich für die drei Gerichte aus einem "Höheren Ganzen", einem "übergreifenden Sinnzusammenhang" : Für das Reichsgericht folgt das Wesen der Ehe aus der "klaren, alle Lebensgebiete umfassenden Weltanschauung" des Nationalsozialismus. Der BGH sieht die Ehe als Institut einer unangreifbar vorgegebenen Sittenordnung; das OG sieht die Ehe inhaltlch bestimmt durch die antifaschistisch-demokratische Ordnung im neuen Staat."
Rüthers meint nun, die Synopse der Auslegung des Begriffs "Wesen eier Ehe" bei gleichem Gesetzeswortlaut in drei verschiedenen Verfassungsepochen sei .. verblüffend". Sie rufe nicht nur beim einfachen Hechtsgenossen, sondern regelmäßig auch beim Fachjuristen ein gewisses Unbehagen und Mißtrauen gegenüber den geheimnisvollen Funktionsweisen solcher Interpretationsalchimie hervor und lenke die Aufmerksamkeit auf die methodische Grundlage dieser Auslegungskünste. Im Gegensatz zu dieser Auffassung finde ich als Rechtssoziologe weder die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse noch die Einheitlichkeit in der Methode "verblüffend", sondern notwendig und sachgerecht: und zwar einmal aus rein juristischer Sicht wegen des in allen Staaten der Welt und unter jedem Herrschaftssystem maßgebenden Rechtsprinzips der sog. "Bindung des Rechtsstabes an Gesetz und Recht"; zum anderen aber vor allem aus soziologischer Sicht, weil das eben genannte Rechtsprinzip nur Ausdruck der sozialen Notwendigkeit ist, den in den Gesetzen zum Ausdruck kommenden Regelungswillen des obersten politischen Gewaltinhabers, er sei, wer er sei, mit Hilfe des Rechtsstabes zu realisieren7 , und weil dieser Realisierungsprozeß sich unter den Bedingungen der Interdependenz abspielt, die ich oben geschildert habe. b) Unter dem Gesichtswinkel der Konkordanz oder Divergenz von Faktizität und Normativität sind einige Untersuchungen bedeutsam, die unter meiner Betreuung entstanden und in der "Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung" erschienen sind. aal Die allgemeine Vorschrift, daß ein Mensch mit Erreichung einer bestimmten Altersstufe mündig wird und damit die volle Handlungsund Geschäftsfähigkeit im Rechtsleben erwirbt, bedarf im Hinblick auf sachliche Gegebenheiten mancher Ausnahmen. Bei Erörterung der türkischen Verhältnisse habe ich auf die durch klimatische Gegebenheiten bedingte Herabsetzung der Altersstufen für die Ehemündigkeit hingewIesen. Im deutschen Raum haben ökonomische Gegebenheiten und sozialpolitische Anschauungen zu der sog. "Arbeitsmündigkeit" geführt, 7 Vgl. hierzu ausführlich meinen Vortrag "Die Bindung des Rechtsstabes an das Gesetz als Garantie des Rechtsstaates". (Tidskrift, utgiven av Juridiska Föreningen i Finland, häfte 1-2/1970) und unten S. 200 ff.
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die ihren gesetzlichen Ausdruck in § 113 BGB gefunden hat. Diese Bestimmung besagt, daß ein Minderjähriger, der mit Ermächtigung seines gesetzlichen Vertreters, d. h. seiner Eltern oder seines Vormundes, in Dienst oder Arbeit tritt, für solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig ist, welche die Eingehung oder Aufhebung eines Dienstoder Arbeitsverhältnisses der gestatteten Art oder die Erfüllung der sich aus einem solchen Verhältnis ergebenden Verpflichtungen betreffen. Die für einen einzelnen Fall erteilte Ermächtigung gilt im Zweifel als allgemeine Ermächtigung zur Eingehung von Verhältnissen derselben Art. Um diese Vorschrift verstehen zu können, muß man sich folgendes vor Augen halten: Während die Ausdrücke "Zivilrecht" und "Zivilgesetzbuch" wirtschafts- und sozialpolitisch neutral sind und einen Rückschluß auf eine bestimmte Gesellschaftsordnung nicht zulassen, bezieht sich ein "Bürgerliches Gesetzbuch" auf eine "bürgerliche Gesellschaft" in dem Sinne, wie dieser Begriff im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte, beginnend mit Ferguson, Adam Smith über Hegel, Lorenz v. Stein, Marx, Riehl und anderen entwickelt worden ist. Der Inhalt des deutschen BGB spiegelt in sehr vielen Bestimmungen die wirtschafts- und sozialpolitischen Auffassungen wider, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der privatrechtlichen Ordnung einer "bürgerlichen Gesellschaft" in den für die Gesetzgebung maßgebenden Kreisen herrschten. In den privatrechtlichen Kodifikationen des BGB und des HGB über Dienst- und Arbeitsverhältnisse wurde trotz der Warnungen und Bemühungen Dtto von Gierkes und Anton Mengers ein Begriffsapparat verwendet, welcher der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit der Parteien kaum Rechnung trug. Ein Beispiel hierfür ist § 113 BGB. Wie W. Ge/aeLZerS nachweist, sind die Vorstufen zu dieser Bestimmung in der vorindustriellen Arbeitswelt zu suchen, nämlich im Recht, das auf das sog. Gesinde Anwendung fand. Diese Personen gehörten einem politisch und wirtschaftlich unterdrückten sowie sozial nicht geachteten Stand von Arbeitskräften an. Die Benachteiligung dieses Standes hatte auch in zahlreichen Vorschriften der Polizei- und Gesindeordnung ihren Ausdruck gefunden. So war die rechtliche Handlungsfreiheit der noch nicht mündigen Gesindepersonen nicht primär vom Grundsatz des Schutzes des noch nicht mündigen Menschen vor den Gefahren im Rechtsverkehr geprägt; sie war vielmehr erweitert worden, um der sog. "Herrschaft" die Ausbeutung der Arbeitskraft des Gesindes in rechtlicher Hinsicht zu erleichtern. Der Gesindestand war in der Phase der beginnenden Industrialisierung vom Arbeiterstand verdrängt worden, 8 W. Getueller, Entstehung und Bedeutung der Arbeitsmündigkeit (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Band 10), Berlin
1968.
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dessen politische, wirtschaftliche und soziale Lage sich anfangs kaum von der des Gesindes unterschieden hatte. So war auch die Benachteiligung des Arbeiterstandes in zahlreichen Vorschriften der privatrechtlichen Gesetze zum Ausdruck gekommen, u. a. auch in der erwähnten Bestimmung des § 113 BGB. Die erweiterte rechtliche Handlungsfähigkeit des minderjährigen Arbeiters diente nicht primär seinem Schutz vor den Gefahren des Rechtsverkehrs, sondern eher dem Unternehmer und Arbeitgeber zur Erleichterung der übervorteilung im Kleide des Rechts. Im Laufe der Entwicklung hat sich die wirtschaftliche, politische und soziale Stellung des Arbeiters erheblich verbessert; er hat bessere Arbeitsbedingungen im kollektiven Vorgehen erkämpft; der Staat hat unabdingbare Mindestarbeitsbedingungen für Minderjährige gesetzlich festgelegt. Die Einzelvereinbarung hat ihre Bedeutung verloren. Damit eng verbunden zeichnet sich eine Entwicklung ab, die den Geltungsbereich der Vorschrift einengt. Die Kinder sind aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Der größte Teil der heranwachsenden Jugend ist dem Geltungsbereich entzogen, da er sich Ausbildungsverhältnissen zugewendet hat, auf die § 113 BGB seinem Wortlaut nach nicht anwendbar ist. Da aber einerseits die in der Regel mit 18/19 Jahren voll in das Erwerbsleben tretende Person volljährig und weitgehend selbständiger geworden ist, andererseits das Arbeitsverhältnis die Vornahme von zahlreichen Rechtsgeschäften notwendig mit sich bringt, die, wie z. B. der Beitritt zu einer Gewerkschaft, die Anschaffung eines Motorrades oder Kleinwagens nicht unter § 113 BGB fallen, kann § 113 BGB heutzutage nur als Ausdruck einer mit der Arbeitstätigkeit notwendigerweise verbundenen rechtlichen Selbständigkeit, d. h. als "Arbeitsmündigkeit" gewertet werden. Deswegen ist die Fortgeltung der Vorschrift gerechtfertigt unter der Voraussetzung, daß sie über den Wortlaut hinaus ausgelegt wird und auch für alle gilt, welche das 18. Lebensjahr vollendet haben. bb) Ein instruktives Beispiel dafür, daß der Rechtsstab nicht immer bereit ist, ein durch den Wandel des Sozial- und Wirtschaftslebens notwendig gewordenes Anpassungsgesetz so anzuwenden, wie der Gesetzgeber es gewollt hat, bietet die Geschichte des § 1811 BGB über die Anlage von Mündelgeld. Eine Untersuchung von Klotzt über die rechtstatsächliche und rechtspolitische Bedeutung der Vorschriften über die sog. "Mündelsicherheit" zeigt, daß ursprünglich allein der Staat das Privilegium der "Mündel sicherheit" für sich in Anspruch nahm. Diese Verquickung der Mündelgelder mit den Staatsfinanzen war bei der Schaffung des BGB gerechtfertigt, da sie die beste Gewähr dafür bot, 9 K. U. Klotz, Die rechtstatsächliche und rechtspolitische Bedeutung der Vorschriften über die Anlage von Mündelgeld (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Band 3), Berlin 1966.
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daß Mündelgelder nicht verspekuliert wurden. Als Nachteil dieser Verquickung stellte sich jedoch in der Inflation nach dem ersten Weltkrieg heraus, daß ein bis dahin undenkbarer Staatsbankrott auch die Mündelgelder vernichtet hatte. Der deutsche Gesetzgeber änderte deshalb auf dem Höhepunkt der Inflation im Jahre 1923 die Bestimmung des § 1811 BGB dahin ab, daß eine Anlegung von Mündelvermögen in anderer Weise als in Staatspapieren vom Vormundschaftsgericht gestattet werden kann. Wörtlich heißt es im Satz 2 der Bestimmung: "Die Erlaubnis soll nur verweigert werden, wenn die beabsichtigte Art der Anlegung nach Lage des Falles einer wirtschaftlichen Vermögensverwaltung zuwider laufen würde." Diese Änderung ist toter Buchstabe geblieben. Die Vormundschaftsrichter, welche Juristen, aber keine Kaufleute sind, haben sich de facto auf die durch die Neufassung verlangte Prüfung der Wirtschaftlichkeit aus Sorge vor dienstlichen oder haftungsrechtlichen persönlichen Nachteilen im Falle einer etwaigen Fehlentscheidung überhaupt nicht eingelassen. Zwar konnten sie sich nicht weigern, die gesetzliche Vorschrift in ihrer Neufassung anzuwenden. Deshalb geben sie ihr eine - von den im Instanzenzug übergeordneten Gerichten, insbesondere vom Kammergericht, auch heute noch gebilligte Auslegung, welche einer Abschaffung gleichkommt. Man interpretiert die Vorschrift entgegen dem Wortlaut dahin, daß die anderweitige Anlegung nicht bereits dann zu gestatten ist, wenn sie einer wirtschaftlichen Vermögensverwaltung nicht zuwiderläuft; vielmehr müsse die anderweitige Anlegung wirtschaftlich günstiger sein als die Anlegung in Staatsanleihen u. dgl. Was aber wirtschaftlich günstiger sei, entscheide sich nicht nach der sachverständigen Auffassung des Wirtschaftslebens, sondern die wirtschaftlichste Anlegung von Mündelgeld sei generell die mündelsichere Anlage in Staatspapieren und dgl., wie die Aufzählung in § 1807 erkennen lasse. Aufgrund der von Klotz angestellten Untersuchungen kann gesagt werden, daß die Gerichte bei der Auslegung von § 1811 BGB unverhüllt nach dem Risiko einer persönlichen Haftung des Richters bei einer etwaigen Fehlentscheidung differenzierento . Eine Anlage in Aktien scheidet damit praktisch aus. So durften z. B. bei der Emittierung von VW-Aktien diese mit Mündelgeldern nicht erworben werden! Mit diesen und ähnlichen Entscheidungen wird eine wirtschaftliche Mündelgeldverwaltung faktisch preisgegeben, obwohl der Gesetzgeber eindeutig gerade dies gewollt hat. Die 10 Charakteristisch ist folgender Satz in einem Beschluß des Kammergerichts vom 3. 5. 1967 (NJW 1968, 55): Diese (seil. Mündelsicherungsvorschriften) erfordern sowohl im Interesse des Mündels als auch im Hinblick
auf die Haftung des Vormundes, des Pflegers und des Vormundschaftsgerichtes nach den §§ 1833, 1848, 1915 BGB eine zurückhaltende Anwendung
dieser Ausnahmebestimmung". Vgl. auch die eingehende Anmerkung zu diesem Beschluß von Eberding in NJW 1968, 943 ff.; ferner Beschluß des OLG Saarbrücken in OLGZ 70, 212.
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Bindung des Richters an das Gesetz kann, wie man sieht, eine Auslegung gegen den Sinn des Gesetzes nicht verhindern, wenn man dem Richter die Entscheidung in einer wirtschaftlichen Frage zumutet, die er mangels entsprechender Vorbildung nicht treffen kann, ohne sich dem Risiko eines persönlichen Regresses auszusetzen. Auch Richter sind schließlich Menschen! Eine rechtssoziologische Binsenwahrheit, die oft nicht beachtet wird. cc) Eine besonders eindrucksvoIle Herausarbeitung des Interdependenzproblems zwischen sozialem Sachverhalt und rechtlicher Regulierung findet sich in einer Studie von Frau Dr. Limbachll • Das deutsche Gesetz über die GeseIIschaft mit beschränkter Haftung stammt aus dem Jahre 1892. Im Gegensatz zu den gesetzlichen Vorschriften über die anderen HandelsgeseIIschaften, die großenteils nur Umwandlung von Gewohnheitsrecht gewesen sind, handelt es sich bei dem GeseIIschaftstyp der GmbH und den dafür gegebenen Rechtsvorschriften um die Schreibtischarbeit eines Ministerialbeamten. Es spricht für die Güte dieser Arbeit, daß die Rechtsform der GmbH in vielen Staaten Nachahmung gefunden hat und für die verschiedensten wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Zwecke verwendet wird. Trotzdem ist ihre sachentsprechende Einordnung in das Rechtssystem noch ebenso umstritten wie die Frage nach dem empirischen Normaltyp "d er" GmbH. Ohne Klärung dieser Frage aber wäre eine Gesetzesreform ebenso ein Sprung ins Dunkle, wie es der Erlaß des Gesetzes im Jahre 1892 gewesen ist. Ein Sprung ins Dunkle deswegen. weil damit gerechnet werden müßte, daß rechtsdogmatische Konstruktionen auf der einen Seite und wirtschaftspolitische Ideologien auf der anderen Seite zu Fehlschlüssen über die künftige Entwicklung und demgemäß zu sachlich unrichtigen oder unzweckmäßigen rechtlichen Regelungen führen müßten. Um dieses "Dunkel" aufzuhel1en, geht Frau Limbach zwei Wege: Einmal werden dem gesetzlichen Normaltypus der GmbH, so wie er dem Gesetzgeber laut den Gesetzesmaterialien vorgeschwebt hat, aufgrund einer eingehenden rechtstatsächlichen Untersuchung fünf empirische NormaItypen gegenübergestel1t, welche sich dank der nachgiebigen Vorschriften des Gesetzes in der Rechts- und Wirtschaftspraxis herausgebildet haben, nämlich die personengesel1schaftlich aufgebaute GmbH, die Kapitalvereinigung, das Einzelunternehmen mit beschränkter Haftung, die GmbH als Rechtsträger und die GmbH als Wirtschaftsverband. Zum anderen wird durch eine ideologiekritische Untersuchung über das fast als evidentes Axiom angesehene Postulat einer notwendiII Theorie und Wirklichkeit der GmbH. Die empirischen Normaltypen der GmbH und ihr Verhältnis zum Postulat von Herrschaft und Haftung (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Band 2), Berlin
1966.
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IH. Das Recht als Funktion des Soziallebens
gen Verbundenheit von Herrschaft und Haftung die Fehlerquelle des Gesetzgebers von 1892 bloßgelegt, um einen künftigen Gesetzgeber vor entsprechenden Fehlern zu warnen. Hierbei geht es keinesfalls darum, dem Gesetzgeber sozusagen die Marschrichtung aufzuzwingen derart, er müsse, was sich als soziologischer Befund ergeben hat, nunmehr durch eine gesetzliche Regelung anerkennen und sanktionieren. Die Beobachtung der Rechtswirklichkeit ist keineswegs mit dem Verzicht auf die rechtliche GestaItungsmöglichkeit der Wirklichkeit verbunden. Dem Gesetzgeber wird lediglich das empirische Material bereitgestellt, welches das Verhältnis zwischen dem sozialen Sachverhalt und den verschiedenen Wertvorstellungen aufzeigt und dem Gesetzgeber erlaubt, die Wirkungschance der von ihm zu treffenden Entscheidungen und Anordnungen zu schätzen. Derartige Erwägungen werden leider meistens nicht angestellt, geschweige denn beachtet. In amtlichen Begründungen zu Gesetzesvorlagen und in den Ausführungen der Berichterstatter und Abgeordneten anläßlich parlamentarischer Beratungen trifft man häufig auf die Vorstellung, daß rechtliche Gestaltungen der Interessenten, welche von einem Teil der Rechtslehre und der höchstrichterlichen Judikatur gebilligt worden sind, nunmehr der Weihe des Gesetzgebers würdig sind, als ob der Umstand, daß irgendeine rechtliche Gestaltung sich im Verkehr durchgesetzt hat, für sich allein ein rechtfertigender Grund dafür wäre, daß es dabei sein Bewenden haben müsse. Die Funktion des Parlaments als Gesetz-"Geber" und die Bindung des Rechtsstabes an das Gesetz haben nur dann einen Sinn, wenn das Gesetz auf einer Abwägung von Werten und auf der Entscheidung für einen Wert und gegen einen anderen Wert beruht. Welche Werte im Spiel sind, worauf Wertvorstellungen und Werturteile zurückzuführen sind, was letzten Endes ursächlich oder mitursächlich ist für diese oder jene rechtliche Gestaltung, für dieses oder jenes Postulat, für diese oder jene "Begründung", für diese oder jene Maxime: alles dies sind Fragen, die vor jeder rechtlichen Normierung geklärt und beantwortet werden müssen, wenn der Gesetzgeber "in Freiheit" sich für oder gegen eine bestimmte rechtliche Regelung soll entscheiden können. dd) Schließlich ein Beispiel dafür, daß, wenn zwei das gleiche tun, es nicht dasselbe ist, d. h. eine Rechtseinrichtung sehr verschiedene Bedeutung haben kann je nach dem politischen Regime des Gesellschaftsintegrats, innerhalb dessen sie in Tätigkeit gesetzt wird. In einer Studie von Klemens Pleyer 12 über die sog. Betriebsjustiz wird mit Recht darauf 12 Gemeinsam mit Joachim Lieser, in: Deutschland-Archiv 1968, S. 674689. Vgl. auch Michael Benjamin, Konfliktskommissionen, Strafrecht, Demokratie. Eine theoretische Untersuchung zur Stellung und zu den Aufgaben der Konfliktskommissionen nach der neuen Strafgesetzgebung der DDR (Berlin-Ost). Klemens Pleyer Betriebsgerichte für Arbeitsstreitigkeiten? in: Festschrift für Ulrich Klug und die dortigen Zitate, Köln 1983, S.551-560.
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hingewiesen, daß im geteilten Deutschland sich zunehmend die Tendenz beobachten läßt, gewisse Funktionen der Jurisdiktion in die Unternehmungen und Betriebe zu verlagern, sie also der staatlichen Gerichtsbarkeit zu entziehen. Im Westen spricht man von Betriebsgerichten und auch von Betriebsjustiz, im Osten von Konfliktskommissionen oder Schiedskommissionen. Den Anstoß zur Bildung einer innerbetrieblichen Gerichtsbarkeit haben hüben wie drüben teilweise analoge Bedürfnisse der Wirtschaft gegeben. Maßgeblich war u. a. die Erkenntnis, daß sich bei gewissen Streitigkeiten das Eingreifen der allgemeinen staatlichen Gerichte ungünstig auswirken kann, und zwar sowohl auf den Ablauf des Arbeitsprozesses im Betrieb als auch auf die Arbeitsleistung des in ein gerichtliches Verfahren verstrickten Betriebsangehörigen. Prävaliert im Westen das wirtschaftliche Interesse des privaten Unternehmers, so in der DDR das Interesse des Staates als des Hauptarbeitgebers an der pünktlichen und vollständigen Erfüllung des als Hoheitsakt erlassenen zentralen Wirtschaftsplans. In der Bundesrepublik ist die Freiheit des Einzelmenschen, in der DDR die Gesamtgesellschaft aller Werktätigen der Grundwert. Deshalb ist in der Bundesrepublik die Bildung von Betriebsgerichten der Initiative der Beteiligten, d. h. den Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder ihren Verbänden überlassen. Diese können im Rahmen von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen Buß- und Strafordnungen auf der Grundlage des Privatrechts unter Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze vereinbaren und darin die Zuständigkeit, die Zusammensetzung des Spruchkörpers und das Verfahren in ähnlicher Weise festlegen, wie dies z. B. bei der privaten Schiedsgerichtsordnung üblich ist. In der DDR dagegen ist sowohl die Errichtung als auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers und das Verfahren für alle Betriebe durch Gesetz zwingend vorgeschrieben. Während die Betriebsjustiz im Westen nur Handlungen umfaßt, die im Betrieb selbst gegen den Arbeitgeber oder gegen Arbeitskollegen begangen worden sind oder nichts weiter als Verstöße gegen innerbetriebliche Vorschriften (z. B. gegen ein Rauchverbot) darstellen, werden in der DDR alle Handlungen irgend eines Betriebsangehörigen erfaßt, auch wenn sie keinerlei Beziehungen zum Betrieb haben. Dient die Betriebsjustiz im Westen vor allem dem inneren Frieden des Betriebes und vermeidet sie die Peinlichkeiten, die eine öffentliche Gerichtsverhandlung wegen Diebstahls, Unterschlagung, Betrügerei, Schlägerei, Beleidigung und Sachbeschädigung im Betrieb für den Täter mit sich bringt, so dienen in der DDR die Konfliktskommissionen sowohl der gesellschaftlichen ErAlbin Eser, Gesellschaftsgerichte in der Strafrechtspflege. Neue Wege zur Bewältigung der Kleinkriminalität in der DDR, Tübingen 1970. Walfgang Zöllner, Betriebsjustiz, Z. f. Zivilprozeß 83 (1970), S. 365 ff. mit eingehenden Literaturnachweisen. Werner Reiland, Die gesellschaftlichen Gerichte der DDR (Studien des Instituts für Ostrecht, München, Bd. 23), Tübingen 1972.
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III. Das Recht als Funktion des Soziallebens
ziehung des Täters, der sich vor der gesamten Belegschaft des Betriebes öffentlich zu verantworten hat, als auch der Generalprävention durch sozialen Druck auf die Belegschaft, deren Teilnahme nicht nur als Zuhörerschaft, sondern als am Verfahren aktiv beteiligte Gruppe postuliert wird. Deswegen nennt man diese Kommissionen "gesellschaftliche" Gerichte, obwohl sie in Wirklichkeit einen wesentlichen Teil der staatlichen Gerichtsbarkeit ausüben. Doch genug der Einzelheiten! Man ersieht aus den gemachten Angaben die fundamentalen Unterschiede dessen, was man in beiden Teilen Deutschlands als Betriebsjustiz bezeichnet. Diese Unterschiede ergeben sich zu wesentlichen Teilen aus der andersartigen politischen Zielsetzung, der die rechtliche Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft in West und Ost zu dienen bestimmt ist. Wenn beide Teile Deutschlands noch bis vor rund 35 Jahren hinsichtlich ihrer Lebensbedingungen ein einheitliches Gesellschaftsintegrat gebildet haben, so zeigt gerade das Beispiel der Betriebsjustiz die Wichtigkeit des Interdependenzproblems: Um Tragweite, Bedeutung und Sinn einer rechtlichen Institution und dgl. richtig bestimmen zu können, muß man sie in Beziehung setzen zu demjenigen Gesellschaftsintegrat, innerhalb dessen sie in irgendeiner Weise bedeutsam sein kann, d. h. dazu dienen soll, soziale Folgen oder Wirkungen bestimmter oder bestimmbarer Art hervorzurufen oder zu verhindern. Die hierbei waltenden Gesetzmäßigkeiten der wechselseitigen Abhängigkeit von Sozialleben und rechtlicher Regulierung zu erforschen und zu beschreiben: dies ist - jedenfalls nach meiner Meinung - die Hauptaufgabe der Rechtssoziologie.
9. Krise des internationalen Urheberrechts?* "Die einzigartige wirtschaftliche Potenz des Westens geht zusammen mit seiner gesellschaftspolitischen Impotenz. Und diese ist die Folge seiner soziologischen Ignoranz, seiner Verständnislosigkeit für die grundlegenden und umfassenden Wandlungen und Umstürze, die er selbst überall auf der Erde ausgelöst hat." Richard F. Behrendt**
I. Ausgangsposition Das Urheberrecht, im Sinne eines Teilgebietes des objektiven Rechts innerhalb einer staatlichen Rechtsordnung verstanden, hat sich im Laufe der letzten hundert Jahre zu einer höchst komplizierten Materie entwickelt, die nur noch von Spezialisten übersehen werden kann .. Erst recht gilt diese Feststellung für den als "Internationales Urheberrecht" bezeichneten Komplex: Seine juristische Beherrschung verlangt die Kenntnis der nicht nur in ihren Einzelheiten, sondern auch in ihren Grundkonzeptionen voneinander mehr oder weniger abweichenden nationalen Rechtsordnungen und außerdem der zwei- und mehrseitigen völkerrechtlichen Verträge und Abkommen, welche einen über die jeweils nationalen Grenzen hinausgehenden, im Idealfall einen weltumfassenden Urheberrechtsschutz garantieren sollen. Wer die Berichte über die Vorbereitung, die Durchführung und die Auswirkungen der in den Jahren 1967 und 1971 stattgefundenen Staatenkonferenzen in Stockholm und in Paris zur Revision der Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst (RBÜ)l und zur Revision des Welturheberrechtsabkommens (WUA) studiert 2 ,
* Erstmals veröffentlicht in UFIT A 63 (1972) S. 49-66.
** Richard F. Behrendt, Zwischen Anarchie und neuen Ordnungen. Soziologische Versuche über Probleme unserer Welt im Wandel. Freiburg 1967, S.421. 1 Vgl. hierzu das von Georg Roeber dankenswerter Weise als Heft 35 der Schriftenreihe der UFITA herausgegebene Buch: Das Stockholmer Vertragswerk zum internationalen Urheberrecht, München 1969. ! Vgl. außer dem in Anm. 1 genannten Sammelwerk insbesondere den Bericht von Ulmer in GRUR Int. 1965, 539 bis544; die von Beier und Ulmer herausgegebenen "Vorbereitende Dokumente zur Stockholmer Konferenz" in GRUR Int. 1967, 115 bis 189; ferner "Die Stockholmer Konferenz für geistiges Eigentum 1967" in GRUR Int. 425 bis 535, ein von Mitgliedern der
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III. Das Recht als Funktion des Soziallebens
inuß die juristische Technik bewundern, mit deren Hilfe nicht bloß Kompromisse ausgehandelt und erreicht, sondern manche miteinander unvereinbare Grundkonzeptionen "elegant" überbrückt worden sind jedenfalls nach der festen überzeugung der Spezialisten, die als Delegationsmitglieder mit großer Zähigkeit die für ihren Staat als wesentlich betrachteten Positionen mit juristischen Waffen zu "halten" bzw. zu "erobern" suchten, um nach zum Teil recht harten Auseinandersetzungen im Verhandlungsweg zu einem anscheinend für alle tragbaren Ergebnis zu gelangen 3 • Lediglich als charakteristisches Beispiel für eine derartige Euphorie sei auf das Vorwort von Gerhard Schneider, einem Mitglied der deutschen Delegation bei der Stockholmer Konferenz, zu dem in Anmerkung 1 genannten Werk (S.6) hingewiesen. Dieser zur Schau getragene und von den Regierungen Schwedens und der Bundesrepublik geteilte Optimismus 4 war unberechtigt, weil man schon aus dem Umstand, daß Großbritannien, Kanada und Australien noch nicht einmal zur Zeichnung des Stockholmer Vertragswerks bereit waren, an einer hinreichenden Anzahl von Ratifizierungen durch die Industrieländer zweifeln mußte 5 • Jedenfalls konnte man von diesen Staaten nur eine Teilratifizierung erwarten, wie sie schließlich auch durch das vom Bundestag am 18. März 1970 verabschiedete Gesetz (BGBl. 1970 11 293 ff. = UFITA Bd. 58 [1970] S. 201) erfolgt ist, nämlich "mit Ausnahme der Artikel 1 bis 21 und des Protokolls betreffend die Entwicklungsländer". Die Zulässigkeit einer derartigen Teilratifikation war in Art. 28 Abs. 1 lit. b Nr. I der RBÜ in der Stockholmer Fassung ausdrücklich vorge· deutschen Delegation zusammengestellter "Bericht aus erster Hand, der die persönlichen Eindrücke und Meinungen der Verfasser wiedergibt": die Berichte von Ulmer in NJW 1968, 1009 bis 1017; GRUR Int. 1969, 375 bis 381; 1970, 167 bis 171, 329 bis 334 nebst Vertragsentwürfen Seite 337 bis 348. Siehe auch die für die Pariser Staatenkonferenz von 1971 vorbereitete Zusammenstellung von Texten mit einem Vorwort von Schulze in Band 46 der Schriftenreihe der INTERGU: "Revision des internationalen Urheberrechts", München 1971; vgl. auch die Berichte in Droit d'Auteur 1968, 23 bis 32; 1969, 48 bis 53; 146 bis 156; 214 bis 228; 1970, 21 bis 27; 149 bis 160. Schließlich Henri Desbois, La conference diplomatique de revision des Conventions de Berne er de Geneve, RIDA LXVIII Avril 1971, p. 3 bis 68. 3 Ulmer spricht in seinem Bericht über die Stockholmer Konferenz für geistiges Eigentum in NJW 1968, 1009 von "fünf Wochen der Beratungen, der Kämpfe und der Kompromisse". Vgl. speziell zum Protokoll betreffend die Entwicklungsländer die aufschlußreiche Darstellung von Oekonomidis in dem in Anm. 1 genannten Werk, S. 217 bis 256; ferner in demselben Werk S. 128 bis 134 den Aufsatz von Äke Lögdberg über die Hintergründe und Protagonisten bei der Vorbereitung und Durchführung der Stockholmer Konferenz. 4 Vgl. Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, Drucksachen V/3582 und 4511, auch abgedruckt in dem in Anm. 1 genannten Werk, S. 479 bis 516. o Vgl. hierzu vor allem Schulze, Förderung des Welturheberrechts durch Lntwicklungshilfe, Bd. 44 der Schriftenreihe der INTERGU, Berlin 1970, und das dort auf S. 11 aufgezählte Schrifttum; ferner Feter: Das Stockholmer Protokoll für die Entwicklungsländer, Frankfurt/Main 1970, Schriftenreihe des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Bd. V.
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sehen worden, um einerseits auf alle Fälle die Ratifizierung derjenigen Bestimmungen zu ermöglichen, welche sich auf die Neuregelung der organisatorischen Struktur der RBü bezogen, andererseits aber im Interesse der Entwicklungsländer zu verhindern, daß die Änderungen und wesentlichen Verbesserungen der materiellen Vorschriften der RBü ohne gleichzeitige Ratifizierung des Protokolls zu Gunsten der Entwicklungsländer in Kraft treten konnten. Dieses Junktim, mit dessen Hilfe man den angedrohten Austritt einiger Entwicklungsländer aus der RBü verhindern wollte, führte dazu, daß die Stockholmer Fassung der RBü in ihrem materiellen Teil als von Anfang an obsolet betrachtet werden muß. Im Oktober 1969 mußte Ulmer, der als Delegierter der Bundesrepublik das Stockholmer Vertragswerk unterzeichnet hatte, im Eingang zu einem Bericht über die sogenannten Washingtoner Vorschläge für das internationale Urheberrecht feststellen 8 : "Die Auseinandersetzung um das Stockholmer Protokoll für die Entwicklungsländer hat zu einer Krise des internationalen Urheberrechts geführt." Unter Bezugnahme auf den erwähnten Bericht meint Ulmer in seiner Abhandlung über "Die Revision der Urheberrechtskonventionen im Zeichen der Washingtoner Empfehlungen"7, mit diesen Empfehlungen die Hoffnung verbinden zu dürfen, "die Krisis des internationalen Urheberrechts zu überwinden, die durch die Auseinandersetzungen über das Stockholmer Protokoll für die Entwicklungsländer entstanden ist". Vom 5. bis 24. Juli 1971 tagte in Paris die in den Washingtoner Empfehlungen vorgesehene Staatenkonferenz zur erneuten Revision der RBü in der Stockholmer Fassung und zur Revision des WUA, um einen Ausweg aus dieser angeblichen Krise des internationalen Urheberrechts auf dem Wege eines Ausgleichs der einander widersprechenden Interessen der Entwicklungsländer auf der einen Seite und der westlichen Industriestaaten auf der anderen Seite zu suchen. Dies ist, selbst äußerlich gesehen, kaum gelungen, wenn man bedenkt, daß die in Paris vereinbarte Fassung der RBü bei einem Mitgliederbestand von 59 (siehe Droit d'auteur Nr. 1/1971 S. 9) Staaten nicht einmal von der Hälfte der Mitglieder, nämlich von 29 Staaten, gezeichnet worden ist, während die Stockholmer Fassung der RBü immerhin von 39 Staaten unterzeichnet worden war. Zwar haben die Vertreter Großbritanniens, Kanadas und Australiens, welche sich in Stockholm geweigert hatten, die damalige Fassung auch nur zu zeichnen, die Pariser Fassungen unterschrieben, während auffallender Weise 6 Staaten die Pariser Fassungen nicht unterzeichnet haben, obwohl ihre Vertreter Mitglieder der Studiengruppe , GRUR Int. 1969, 375. 7 GRUR Int. 1970, 167. 10 Hirsdl
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zur Vorbereitung der Pariser Konferenz gewesen sind, nämlich Japan, Nigeria, Peru, die Philippinen, Rumänien und die Tschechoslowakei. Charakteristisch ist auch, daß bei der Unterzeichnung der Pariser Fassung die Indische Delegation eine Erklärung verlas, daß Indien sich den Austritt sowohl aus der RBü als auch aus dem WUA vorbehalte, wenn die Neufassungen den Bedürfnissen Indiens auf dem Gebiet der Erziehung nicht ausreichend Rechnung tragen würden8 .
11. Maßstab der faktischen Effizienz Angesichts dieser Umstände drängt sich die Frage auf, ob wir es wirklich mit einer "Krise" des internationalen Urheberrechts zu tun haben oder ob wir nicht auch hier einem Beispiel mehr für jene Denkweise gegenüberstehen, mit juristischen Formeln machtpolitische Interessenkonflikte lösen zu können, ohne dabei in Rechnung zu stellen und zu prüfen, ob die Normen, über die man sich rechtlich geeinigt hat, auch in der sozialen Wirklichkeit praktisch anwendbar und faktisch durchsetzbar sind. Bedenkt man den Gesamtbetrag an Kosten, welche seit über einem Jahrzehnt für die Vorbereitung und Durchführung der Staatenkonferenzen von Stockholm und Paris von den beteiligten Ländern unmittelbar oder mittelbar (über BIRPI oder UNESCO) aufgewendet werden mußten, so kommt man zu einer Summe, welche einen recht ansehnlichen Grundstock für ein internationales System zu Gunsten der durch vorübergehende Einschränkung von Urheberrechten in Entwicklungsländern geschädigten Inhaber von urheberrechtlichen Nutzungsrechten hätte bilden könnenD. Von dieser rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise abgesehen, scheint mir der Hinweis nicht überflüssig zu sein, daß der Wert von Rechtsvorschriften, welcher Art auch immer sie sein mögen, allein an ihrer Effizienz gemessen werden kann. Werden sie doch mit dem Ziel in Kraft gesetzt und als für die Normadressaten rechtsverbindlich erklärt, weil der zur Normsetzung legitimierte jeweils oberste Gewaltinhaber bestimmte zwischenmenschliche Beziehungen und Verhältnisse derart geordnet wissen will, wie es in den Rechtsvorschriften vorgesehen ist. Die Umsetzung der abstrakten Rechtsnormen in das konkrete 8 Nach DROIT d'Auteur 1970, 23/24 hatten sich Indien, Japan, Nigeria und Rumänien sogar mit den Empfehlungen von Washington im Prinzip einverstanden erklärt. 9 Vgl. hierzu Mentha: Die weltweite Organisierung des Urheberrechts. Ein Existenzproblem: in dem in Anm. 1 genannten Werk, S. 109 ff., insbesondere die Ausführungen auf S. 124 unter Nr. 27. Ferner ders. in seinem Aufsatz "Urheberrecht und Entwicklungsländer. Ein Zusatzvorschlag" in UFITA Bd. 61 (1971) S. 1 ff.
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zwischenmenschliche Sozialleben hängt aber nicht so sehr von der juristischen Konstruktions- und Formulierungstechnik ab, obwohl auch deren Bedeutung keineswegs unterschätzt werden darf, als vielmehr von den sozialen Fakten und Implikationen, die bei dem rechtlichen Ordnen ("Regulieren") sozialer Sachverhalte als metajuristische Faktoren zu beachten sind. Die "Krise des internationalen Urheberrechts" wird selbst dann nicht überwunden sein, wenn die in ihrem nationalen Urheberrechtsschutz führenden und infolge der weltweiten Verbreitung ihrer Landessprache am stärksten betroffenen Staaten - wie England, USA, Kanada, Australien, Frankreich und Spanien - die auf der Pariser Tagung ausgehandelten Kompromisse durch Ratifizierung als für den Bereich ihrer nationalen Rechtsordnungen verbindlich anerkennen. Man verkennt noch immer die Situation, wie sie in dem diesem Aufsatz vorangestellten Motto umrissen istl°. 10 Aus dem Werk von Richard F. Behrendt seien noch einige Absätze wörtlich wiedergegeben, deren Richtigkeit durch die Entwicklung auf dem hier behandelten Teilgebiet im vollen Umfang bestätigt worden sind: "Ein erheblicher Teil der außenpolitischen Bemühungen und Anliegen unserer Zeit spielt sich so gleichsam in einem Schattenreich von formellen Veranstaltungen, Kombinationen und Konventionen ab, welches mit der Wirklichkeit sozialer Substrate wenig gemein hat. Mehr als einmal hat sich ja in der kürzlichen Vergangenheit unmißverständlich gezeigt, wie verfehlt diese Anliegen gewesen waren, wenn die Stunde der Bewährung heranrückte." (5. 363). "Solange die Nation der Brennpunkt vitaler zwischenmenschlicher Beziehungen ist, müssen übernationale Solidaritätsbeziehungen schwach und vom ,vaterländischen' Gesichtspunkt aus verdächtig bleiben. Alle internationalen Probleme unserer Zeit erhalten ihren gefährlichen Charakter - mit der Möglichkeit der Gewaltanwendung - dadurch, daß die Nationen nach wie vor wie Rangierbahnhöfe der weltweiten Beziehungen sind. Hier werden die Weichen gestellt, die diese Beziehungen entweder zu leistungsfähigeren Kombinationen oder zu zerstörerischen Zusammenstößen leiten. Die Ohnmacht der internationalen Organisationen beruht darauf, daß sie eben nur internationale Ideen symbolisieren, aber nicht übernationale. Sie werden nur dann ihre Aufgabe erfüllen können, wenn sie nicht mehr als Prothesen nationalstaatlicher Aspirationen mißbraucht werden, sondern zu Fixierungsobjekten eigenen Rechts werden." (5. 366 f.). "Infolgedessen hat man sich ein Gerüst von Vorstellungen, Begriffen, Formeln, Schemata, Institutionen gezimmert, die ein höchst kostspieliges, ja gefährliches Scheinleben führen. Kostspielig, weil jetzt die zahllosen Symbole und Zubehöre nationalstaatlicher Existenz, Würde und Macht angestrebt und vorgeführt werden, ohne daß die betreffenden Länder auch nur annähernd die wirtschaftlichen und personellen Voraussetzungen dafür besäßen: unfähige, dafür aber aufgeblähte Verwaltungsapparate, machtlose Parlamente, unrentable internationale Fluglinien und Handelsflotten, nutzlose Armeen (die höchstens für Putsche stark genug sind) und diplomatische Missionen, Verwaltungs- und Luxuspaläste in den Hauptstädten und, am bedeutendsten, eine ,nationale' Wirtschaftspolitik, die auf Autarkie und möglichst rasche Industrialisierung abzielt, unter Vernachlässigung der Landwirtschaft und des Exports, und die so gerade die wirtschaftliche Entwicklung den politischen Affekten opfert. Dabei wird hier der zweifelhafte Mantel der nationalen Unabhängigkeit Gebieten umgehängt, die oft völlig willkürlich und zufällig als Folgen der Rivalitäten westlicher Kolonialmächte im vorigen
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Zwar haben die Delegierten der Entwicklungsländer aus allen politischen Lagern bei den Vorbereitungen und den Beratungen in den Spezialkommissionen und in den Plenarsitzungen die dringenden und drängenden Bedürfnisse ihrer Staaten immer wieder ausführlich und eindringlich zur Sprache gebracht und entsprechende Forderungen und Wünsche unter Berufung auf ethische Postulate in Verbindung mit politischen Drohungen erhoben. Jedoch wurden die Probleme, die sich für die verschiedenen Entwicklungsländer sowohl hinsichtlich der Transformierung der von ihnen gezeichneten internationalen Abkommen in ihr nationales Landesrecht als auch hinsichtlich der praktischen Anwendbarkeit und faktischen Effizienz der in Landesrecht transformierten Rechtsnormen ergeben, in ihrer wirklichen Bedeutung nicht erkannt, obwohl Schulze l1 darauf hingewiesen hatte. Formaljuristisch gesehen ist zwar alles in bester Ordnung: Nach Art. 36 Abs. 1 RBü und Art. X Abs. 1 WUA hat sich jeder Mitgliedstaat verpflichtet, entsprechend seiner Verfassung die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung des Abkommens zu gewährleisten. Diese Verpflichtung zur Transformierung der völkerrechtlich übernommenen Verpflichtungen in landesrechtliche Vorschriften, welche den Benefiziaren der Abkommen die Geltendmachung und Ausübung der ihnen zugedachten Rechte und Befugnisse auf dem Boden und im Rahmen des jeweiligen Landesrechts ermöglichen sollen, trifft alle Vertragsländer gleichmäßig; aber Inhalt und Umfang dieser Verpflichtung sind völlig verschieden, je nach dem, ob es sich um ein Land handelt, das den Sonderstatus eines Entwicklungslandes für sich in Anspruch nimmt oder nicht. Die äußerliche Gleichheit der Verpflichtung verdeckt die materielle Ungleichheit um so mehr, als sogar die übliche völkerrechtliche Regel der Gegenseitigkeit zu Gunsten der Entwicklungsländer ausdrücklich ausgeschlossen worden ist. Entsprechendes gilt für die Bestimmung von Art. 36 Abs. 2 RBü bzw. Art. X Abs. 2 WUA: "Es versteht sich von selbst (il est entendu que ... = it is understood, however, that ...) daß jedes Land im Zeitpunkt der Hinterlegung seiner Ratifikations- oder Beitrittsurkunde entsprechend seiner inneren Gesetzgebung (conjormement a sa legislation interne = under its domestic law) in der Lage sein muß, den Bestimmungen dieser übereinkunft Wirkung zu verleihen." Die Hinterlegung der RatifiJahrhundert zustande gekommen sind, die einen viel zu uneinheitlich und groß, um unter gegenwärtigen Umständen eine tatsächliche Nation zu bilden (wie etwa Kongo und Nigeria und vielleicht auch Indien), andere (wie Ruanda, Burundi, Togo, Gambia, die bisher britischen Gebiete in Westindien) viel zu klein, arm oder unterbevölkert, um selbständige Wirtschafts- und Verwaltungseinheiten zu bilden." (S. 417 f.). 11 Vgl. das in Anm. 5 genannte Werk auf S. 17,43,68 f., 93.
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kationsurkunden hat somit nicht nur die in Art. 30 RBü Art. IX WUA vorgesehene Wirkung, nämlich die Annahme aller Bestimmungen und die Zulassung zu allen Vorteilen des Abkommens, sondern enthält zugleich die völkerrechtliche Zusicherung, daß der ratifizierende Staat auch alles in seiner Möglichkeit stehende getan hat, um jedenfalls durch Rechtsvorschriften den Bestimmungen der übereinkunft Wirkung zu verleihen. Auch diese äußerlich dem Gleichheitssatz entsprechende Bestimmung ist wiederum materiell nach Inhalt und Tragweite völlig verschieden je nachdem, ob es sich um ein Entwicklungsland handelt oder nicht. Hierbei darf nicht übersehen werden, daß der Niederlegung der Ratifikationsurkunde die Wirkung einer praesumptio iuris et de iure zukommt, ohne daß die Signatarstaaten von RBü oder WUA unmittelbar oder auf dem Wege über ihre gemeinsamen Organe eine rechtliche Möglichkeit haben, die Wirklichkeit nachzuprüfen und bei Verletzung der in Art. 36 RBü bzw. Art. X WUA genannten Verpflichtungen bei dem vertragsuntreuen Mitgliedstaat vorstellig zu werden 12 • Geht man davon aus, daß diese praesumptio iuris et de iure im praktischen Einzelfall keine Fiktion ist, sondern jeder Mitgliedstaat entsprechend seiner Verfassung sowohl die Transformierung des internationalen Abkommens in Landesrecht veranlaßt als auch die nach seiner Meinung erforderlichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften erläßt, um den Bestimmungen der übereinkunft faktische Wirksamkeit zu verleihen, so bleibt angesichts der gemachten Erfahrungen die Frage berechtigt, ob es objektive Kriterien gibt, an denen die Effizienz der von dem jeweiligen Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen gemessen werden kann. Diese Frage ist um so mehr berechtigt, als selbst in den höchst entwickelten Staaten die Rechtsrealität nicht immer der Rechtsidealität entspricht, d. h. die nach der Verfassung ordnungsgemäß erlassenen und in Kraft gesetzten Rechtsnormen vom Rechtsstab entweder überhaupt nicht oder unvollständig oder im Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers ausgeführt und angewandt werden. In weit höherem Maße und Umfange ist dieses Phänomen dort anzutreffen, wo landfremdes Gedankengut in der Formulierung ausländischer oder internationaler Rechtssätze in das heimische Recht eines Entwicklungslandes übernommen und rezipiert werden soll. Kein Rechtssatz hat den Charakter eines aller Zeiten und aller Orten gültigen mathematischen Satzes, sondern entfaltet im Sozialleben nur dann Wirkung, wenn er den Lebenssachverhalt, für den er gelten soll, in seiner zeitlichen, örtlichen, sachlichen, politischen, geistigen Konkretheit erfaßt und ange12 Art. 33 bezieht sich nur auf Streitigkeiten zwischen zwei und mehreren Verbandsländern über die Auslegung oder die Anwendung der übereinkunft und eröffnet dafür den Rechtsweg vor dem internationalen Gerichtshof, allerdings nur für diejenigen Länder, die sich durch diese Bestimmung als gebunden betrachten.
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messen meistert. Gerade die Fachjuristen, welche sich auf Staatenkonferenzen mit Lösungsmöglichkeiten und Entwürfen abplagen, um einzelstaatlich verschieden normierte Sachverhalte von überstaatlicher und zwischenstaatlicher Bedeutung zu vereinheitlichen oder jedenfalls zu harmonisieren, sollten sich einer wissenschaftlichen Feststellung und Einsicht nicht verschließen, die man wie folgt formulieren kann: "Nicht eine Gesetzesvergleichung, sondern nur eine echte Rechtsvergleichung auf soziologischer Grundlage, welche außer dem sprachlich formulierten Rechtssatz sowohl die hinter ihm stehenden wie auch die sich seiner Anwendung entgegenstemmenden Kräfte und das immaterielle und materielle soziale Milieu heranzieht, in dem der Rechtssatz wirken soll oder wirkt, hat wissenschaftliche Bedeutung und praktischen Wert1 3 ." Auf Entwicklungsländer angewandt, welche ausländische Gesetze übernehmen wollen oder sollen, lauten meine Forschungsergebnisse in Leitsätzen: ,,1. Es genügt nicht, fremdsprachliche Gesetzestexte zu übersetzen;
man muß sie auch gen au übersetzen.
2. Es genügt nicht, ausländische Gesetze zu übernehmen; man muß auch die Voraussetzungen und Einrichtungen schaffen, ohne die eine sachgemäße Anwendung nicht möglich ist. 3. Es genügt nicht, ausländische Gesetze korrekt zu übersetzen und die zu ihrer Anwendung erforderlichen Voraussetzungen und Einrichtungen zu schaffen; man muß auch dem Rechtsstab und der Bevölkerung eine reichlich bemessene Zeitspanne lassen, um sich den neuartigen Rechtsgedanken anzupassen und umzudenken. 4. Es genügt nicht, dem Rechtsstab und der Bevölkerung die erforderliche Zeit zur Anpassung und zum Umdenken zu gewähren; man muß auch a) die im Amt befindlichen Mitglieder des Rechtsstabs umschulen; b) die künftige Juristengeneration durch Lehrer ausbilden lassen, die im neuartigen Rechtsdenken erzogen sind; c) die gesamte Bevölkerung in geeigneter Weise ausreichend informieren14 ." 13 Vgl. meinen Aufsatz "Die Einflüsse und Wirkungen ausländischen Rechts auf das heutige türkische Recht," in ZHR 116 (1953/54) 201 ff. (217). 14 Vier Phasen im Ablauf eines zeitgenössischen Rezeptionsprozesses, in ZvergIRW 69 (1968), 182 ff. (222).
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III. Landesgesetzgeberische Rezeption
Welche praktische Bedeutung diesen 4 Punkten zukommt, wird selbst derjenige ermessen, der zwar niemals persönlicher Zeuge eines derartigen Rezeptionsprozesses gewesen ist, aber sich vergegenwärtigt, welche Aufgaben dem Landesgesetzgeber durch RBÜ und WUA in der Stockholmer bzw. in der Pariser Fassung zugemutet werden. Ich begnüge mich mit einigen Beispielen: 1. Die in Art. 2bis , 7, 8, 9, 10, 10bis , llbis, 13, 14bis , 141er RBÜ formulierten Vorbehalte zu Gunsten der Landesgesetzgeber enthalten zahlreiche "Leerformeln" , d. h. Generalklauseln, deren Ausfüllung teils dem Gesetzgeber, teils dem Rechtsstab eines jeden Mitgliedlandes überlassen bleibt. So ist z. B. in Art. 9 Abs. 2 RBÜ dem Landesgesetzgeber das Recht eingeräumt, die Vervielfältigung des Werks "in gewissen Sonderfällen (dans certains cas speciaux) zu gestatten unter der Voraussetzung, daß hierdurch weder die "normale Auswertung" "beeinträchtigt" noch die "berechtigten Interessen" des Urhebers "unzumutbar" "verletzt" werden. Selbst wenn der Landesgesetzgeber diese "gewissen Sonderfälle" ausdrücklich in dem Transformierungsgesetz aufzählt, muß er die Ausfüllung der Leerformeln, welche die von mir in Anführungszeichen gesetzten Voraussetzungen umschreiben, den Mitgliedern des Rechtsstabs (Gericht{!, Verwaltungsbehörden) überlassen. Diese werden bei der Beurteilung dessen, welche Interessen des Urhebers berechtigt oder unberechtigt, welche Verletzungen zumutbar oder unzumutbar sind, nach den für ihr eigenes Land jeweils allein in Frage kommenden Wertmaßstäben zu Ergebnissen kommen, die nicht nur untereinander verschieden sind, sondern den Wertmaßstäben widersprechen können, welche die Spezialjuristen vor Augen hatten, als sie diese Formulierung fanden. Was unter "normaler" Auswertung und deren "Beeinträchtigung" zu verstehen ist, wird nicht nur von der Eigenart des Werks, sondern vor allem davon abhängen, welche faktischen Aussichten und Möglichkeiten für die Auswertung des Werks nach den jeweiligen Verhältnissen und Bedürfnissen des in Frage kommenden Landes bestehen.
2. Nach Art. 5 RBÜ gilt sowohl hinsichtlich der inländergleichen Behandlung als auch hinsichtlich der Rechte iure conventionis vorbehaltlich ausdrücklicher Ausnahme als Regel, daß der Umfang des Schutzes und die Rechtsbehelfe sich nach den Rechtsvorschriften des Landes richten, in dem der Schutz beansprucht wird. Dies wird hinsichtlich des Folgerechts in Art. 14ler Abs. 3 und hinsichtlich der Rechtsbehelfe für den Schutz der persönlichkeitsrechtlich{!n Befugnisse in Art. 6bis Abs. 2 und 3 RBÜ ausdrücklich wiederholt. Abgesehen von
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der ausfüllungsbedürftigen Leerformel, was unter den Begriffen "Entstellung", "Verstümmelung", "sonstige Änderung oder Beeinträchtigung" des Werks zu verstehen ist, ist es wiederum eine allein nach den Wertmaßstäben eines jeden Mitgliedslandes zu beurteilende Abwägungsfrage, ob und inwieweit die genannten Tatbestände der Ehre oder dem Ruf des Urhebers "nachteilig sein können". Was sind "anständige Gepflogenheiten" (Art. 10 Abs. 1 und 2 RBÜ), welche Vergütungen sind "angemessen" (Art. llbis Abs.2; 13 Abs.1 RBÜ)? Im Stockholmer Protokoll bzw. in der Pariser Zusatzakte zu Gunsten der Entwicklungsländer erreichen die Leerformeln, deren Ausfüllung jedem Entwicklungsland überlassen bleibt, einen derartigen Grad von Unverbindlichkeit, daß selbst der noch übrigbleibende minimale Urheberrechtsschutz in den meisten Fällen lediglich auf dem Papier stehen wird. In seinem Kurzbericht über die Pariser Revisionskonferenzen zum Urheberrecht1 5 spricht Handl hinsichtlich der Stockholmer Fassung von gewissen "weitherzigen" Formulierungen, von einer "sehr weit gehenden Aushöhlung des Schutzes der Urheber" und führt hinsichtlich der Pariser Fassungen wörtlich aus: "Die übrigen Einzelheiten der neugeschaffenen Bestimmungen bei der Konventionen betreffen vorwiegend technisch-administrative Vorschriften und sind zum Teil außerordentlich kompliziert." Aber gerade im Detail steckt der Teufel, wie der Volksmund sagt. Und auch Handl kann nicht umhin, seine Zweifel an der Effizienz des in Paris erreichten Ergebnisses zu äußern, wenn er auf die "schwierigen" Sonderfragen der Landessprache, der Exportschranken und des droit moral ausdrücklich hinweist. 3. Hinzu kommt, daß jedes "nach der bestehenden Praxis der Generalversammlung der Vereinten Nationen als Entwicklungsland angesehene" Land - ein, wie allgemein zugegeben wird, für den Urheberrechtsschutz irrelevantes und irreführendes Kriterium - die Vorbehalte des Entwicklungsländerprotokolls (Stockholm) bzw. der Zusatzakte (Paris) in Anspruch nehmen kann, wenn es "sich auf Grund seiner wirtschaftlichen Lage und seiner sozialen oder kulturellen Bedürfnisse außerstande sieht, unverzüglich den vollen Verbandsschutz zu gewährleisten". Abgesehen davon, daß die Entscheidung über das Vorliegen dieser Voraussetzung ein nicht nachprüfbares Werturteil bildet, trifft die Formulierung nicht den Kern der Sache. Auf Grund ihrer wirtschaftlichen Lage und ihrer sozialen oder kulturellen Bedürfnisse sind die Entwicklungsländer nicht etwa "außerstande, unverzüglich den vollen Verbandsschutz zu gewährleisten", sondern vielmehr darum bemüht, fremde Geistes- und Kulturgüter bestimmter Art unentgeltlich nutzen zu können, ohne sich dem Vorwurf eines Rechtsverstoßes auszusetzen. 15
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Eine sachentsprechende Formulierung hätte also etwa lauten müssen: "Ein Entwicklungsland ... , das sich auf Grund seiner wirtschaftlichen Lage und seiner sozialen oder kulturellen Bedürfnisse veranlaßt sieht, von allen oder einigen Mitgliedstaaten, die keine Entwicklungsländer sind, vorübergehende Befreiung von den vorgesehenen Verpflichtungen im Rahmen der folgenden Bestimmungen zu verlangen, kann durch eine ... " Bei einer derartigen Fassung wäre klar geworden, daß es sich hierbei einmal vor allem um ein Spezialproblem im Verhältnis zwischen den anglophonen, frankophonen oder hispanophonen Entwicklungsländern zu ihren seinerzeitigen "Mutterländern" handelt 16 , wo z. B. dem Vervielfältigungsrecht von Sprachwerken eine ganz außerordentlich große Bedeutung zukommt, während dieses Recht im Verhältnis zur Bundesrepublik kaum eine Rolle spielt. Zum anderen wäre klar geworden. daß es sich um eine Art befristeter Exemption handelt, welche die entwickelten Staaten nicht deshalb in Kauf nehmen, weil die Entwicklungsländer wegen ihrer Zuruckgebliebenheit einen Rechtsanspruch darauf hätten, sondern nur zu dem Zweck gewähren, den Entwicklungsländern auf diesem Wege bei ihren Bestrebungen um Hebung ihres sozialen und kulturellen Niveaus eine sachgemäße Entwicklungshilfe zu leisten.
IV. Praktische Durchführung Betrachtet man die Einzelheiten des Protokolls bzw. der Zusatz akte für die Entwicklungsländer, so kann man nur bedauern, daß den Entwicklungsländern der von diesen angedrohte Austritt aus RBü bzw. WUA nicht freigestellt worden ist, um damit klare Verhältnisse zu schaffen17 • Die Ausweitung des Systems der Zwangslizenzen durch eine dafür als zuständig bezeichnete Behörde eines fremden Landes und nicht etwa des Ursprunglandes, sofern der Antragsteller gemäß der innerstaatlichen Rechtsvorschriften nachweist, daß er die Erlaubnis einzuholen versucht hat, daß er aber den Berechtigten trotz gehöriger Bemühungen nicht ermitteln konnte oder seine Erlaubnis nicht hat erlangen können, war hinsichtlich des übersetzungsrechts bereits in Art. V der ursprünglichen Fassung des WUA (1952) vorgesehen. Auch in diesem Bereich spielen die erheblich weitergehenden Bestimmungen 16 Vergl. zu diesem Problem im allgemeinen Christian Kahler: Zivilrecht und Zivilgerichtsbarkeit in den frankophonen Neustaaten Afrikas in: Verfassung und Recht in übersee 4. Jg. (1971), S. 123 ff.; auf den hier behandelten Komplex bezogen: Bericht des Direktors von BIRPI, in Droit d'Auteur 1969, 153 bis 156, unter Ziffer 3. 11 Ebenso Mentha in dem in FN 1 genannten Werk S. 118 unter Ziffer 15.
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des Entwicklungsländerprotokolls bzw. der Pariser Zusatzakte mit ihrem ausfüllungsbedürftigen und in jedem Entwicklungsland nach seiner Fa