Rechtssoziologie [Reprint 2019 ed.] 9783110903102, 9783110038170


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German Pages 189 [192] Year 1977

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Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
I. Gegenstand und Aufgabe der Rechtssoziologie
II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie
III. Rechtssoziologie als Gesellschaftswissenschaft
IV. Rechtsstruktur und Gesellschaftsstruktur: Die Entwicklungstendenzen des Rechts in der Gegenwartsgesellschaft
V. Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts
VI. Recht und sozialer Wandel: Zur Effektivität des Rechts
VII. Anfänge und Fortschritte einer Soziologie der Justiz
Personenregister
Sachregister
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Rechtssoziologie [Reprint 2019 ed.]
 9783110903102, 9783110038170

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Rechtssoziologie Manfred Rehbinder

w DE

G 1977

Walter de Gruyter • Berlin • New York

SAMMLUNG GÖSCHEN 2 8 5 3

Dr. jur. Manfred Rehbinder, o. Professor an der Universität Zürich und Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Rehbinder, Manfred Rechtssoziologie. - 1. Aufl. — Berlin, New York: de Gruyter, 1977. (Sammlung Göschen; Bd. 2853) ISBN 3-11-003817-X

© Copyright 1977 by Walter de Gruyter 8c Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., 1000 Berlin 30 - Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden — Printed in Germany — Satz und Druck: Saladruck, 1 Berlin 36 - Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe-GmbH, 1 Berlin 61

Vorbemerkung Rechts-Soziologie ist eine Bindestrich-Wissenschaft. Sie hat das Recht zum Gegenstand und ist daher ein Spezialgebiet der Rechtswissenschaft. Und sie untersucht das Recht als Bestandteil des sozialen Ordnungsgefüges und ist daher ein Spezialgebiet der Soziologie. Dementsprechend ist Rechtssoziologie bisher mit verschiedener Akzentuierung betrieben worden, je nachdem ob die betreffenden Wissenschaftler vorwiegend juristisch oder ob sie vorwiegend soziologisch interessiert waren. Die juristisch orientierten Rechtssoziologen betreiben Rechtssoziologie in pragmatischer Absicht. Sie wollen ihre Ergebnisse für die Rechtsanwendung und Rechtspolitik nutzbar machen und versuchen daher, eine angewandte, d. h. auf die Rechtspraxis bezogene Rechtssoziologie zu bieten. Demgegenüber wollen es die soziologisch orientierten Rechtssoziologen mit dem Aufzeigen sozialer Gesetzmäßigkeiten, mit einem besseren Verständnis der sozialen Wirklichkeit oder des ideologischen Hintergrundes des Rechts bewenden lassen. Entscheidungshilfe zu geben, liegt nicht in ihrer Absicht. Die vorliegende Darstellung ist eine Rechtssoziologie für den Juristen, obwohl sie auch über die soziologisch ausgerichtete Rechtssoziologie orientiert. Sie wendet sich an den Studenten der Rechtswissenschaft und den juristischen Praktiker. Die Studienreform der letzten Jahre hat der Rechtssoziologie die Anerkennung als ordentliches Lehrfach sowie als Wahlprüfungsfach im ersten juristischen Staatsexamen gebracht. Zwar ist sie als Prüfungsfach, da meist mit dem Fach Rechtsphilosophie kombiniert, wenig attraktiv, weil man sich auf diese Weise im Kampf um den Einstieg in praktische Berufe kaum qualifizieren kann. Aber die für alle Juristen geforderte „Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Rechtswissenschaft" — viel beredet, wenn auch schwer zu bewerkstelligen — ist heute deutlich auf dem Vormarsch. Die Vermittlung rechtssoziologischer Kenntnisse erfolgt dabei auf zwei Ebenen. Einmal werden die Aspekte des Faktischen bei der Behandlung des Normativen,

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Vorbemerkung

also im Rahmen der einzelnen rechtsdogmatischen Lehrveranstaltungen zunehmend berücksichtigt. Zum anderen werden die allgemeinen Grundlagen — belegt durch ausgewählte Einzelprobleme — im Rahmen einer eigenständigen Lehrveranstaltung nach dem Beispiel der Rechtsphilosophie und der Rechtsgeschichte behandelt. Für einen Unterricht der letzteren Art möchte diese Darstellung ein literarisches Hilfsmittel sein. Das erklärt, warum auf Detailprobleme nur wenig eingegangen werden konnte und warum die Darstellung einiger klassischer Ansätze der Rechtssoziologie einen verhältnismäßig breiten Raum einnimmt. Zürich, im Juni 1977

Manfred

Rehbinder

Inhalt Vorbemerkung I. Gegenstand und Aufgabe der Rechtssoziologie 1. Erkenntnisziel und Abgrenzung des Forschungsbereichs a) Forschungsgegenstand: Rechtssoziologie als Wirklichkeitswissenschaft vom Recht b) Erkenntnisinteresse: Gesellschaftstheoretische und praktische Rechtssoziologie c) Forschungstechnik: Theoretische und empirische Rechtssoziologie d) Erkenntnisziel: Eigenständigkeit der Rechtssoziologie als Wissenschaft

....

2. Nutzen für die Rechtspraxis: Soziologische Jurisprudenz ... a) Rechtssoziologie und Rechtsprechung aa) Sachverhaltsermittlung bb) Normfindung ( 1 ) Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe 2) Rechtslücken (3) Die teleologische Auslegung cc) Grenzen der Sozialforschung bei der Rechtsanwendung b) Rechtssoziologie und Rechtspolitik aa) Effektivitätsprognosen bb) Legitimationsargumente c) Grenzen der Rechtssoziologie: Die Relevanz rechtssoziologischer Argumente II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie 1. Zur geschichtlichen Entwicklung der Rechtssoziologie a) Vorläufer der Rechtssoziologie b) Begründer der Rechtssoziologie c) Bedeutende Rechtssoziologen der letzten 5 0 Jahre 2 . Themen rechtssoziologischer Forschung und rechtssoziologische Studienliteratur 3. Drei Klassiker der Rechtssoziologie a) Eugen Ehrlich aa) Das Recht als selbsttätige Ordnung der Gesellschaft (gesellschaftliches Recht)

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Inhalt (1) Rechtals Organisation menschlicher Verbände (2) Die Entstehung des Rechts aus den Rechtstatsachen 3) Das Verhältnis des Rechts zu den anderen gesellschaftlichen Ordnungssystemen Das Recht als Schöpfung der Juristen (Juristenrecht) (1) Die Entscheidungsnorm (2) Die Entwicklung der Entscheidungsnorm zum Rechtssatz Das Recht als staatliche Zwangsordnung (staatliches Recht) Das lebende Recht (1) Die Interdependenz von gesellschaftlichem Recht, Juristenrecht und staatlichem Recht (2) Das Recht als Hebel des Soziallebens (3) Der soziologische Rechtsbegriff Ehrlich und die Freirechtslehre

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b) Max Weber aa) Der Begriff des Rechts (1) Der soziologische Rechtsbegriff (2) Die Abgrenzung des Rechts von anderen Sozialordnungen bb) Die These von der zunehmenden Rationalität des Rechts (1) Die Idealtypen der Rationalität des Rechts (2) Die Entstehung neuen Rechts durch neuartiges Gemeinschaftshandeln cc) Die Entstehung neuen Rechts durch Oktroy (1) Offenbarung (2) Satzung dd) Der unaustragbare Gegensatz zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege

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c) Karl N. Llewellyn aa) Recht als Institution bb) Recht als Mittel sozialer Kontrolle cc) Recht als Verhalten des Rechtsstabes dd) Recht als normative Technik ee) Recht als Interaktion von Rechtsstab und Rechtsunterworfenen ff) Die Entstehung neuen Rechts aus dem Gruppenleben und aus dem Handeln des Rechtsstabes gg) Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik

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Inhalt III. Rechtssoziologie als Gesellschaftswissenschaft 1. Grundbegriffe der Soziologie 2. Der soziologische Rechtsbegriff 3. Die Methoden der Rechtstatsachenforschung a) Untersuchungsgegenstand aa) Untersuchungsobjekt bb) Fragestellung b) Untersuchungsanordnung aa) experimentell oder nicht-experimentell bb) historisch oder komparativ c) Untersuchungstechnik aa) Dokumentenanalyse bb) Befragung cc) Beobachtung

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IV. Rechtsstruktur und Gesellschaftsstruktur: Die Entwicklungstendenzen des Rechts in der Gegenwartsgesellschaft 1. Die Tendenz zur Vereinheidichung des Rechts 2. Die Tendenz zur Sozialisierung des Rechts 3. Die Tendenz zum Anwachsen des Rechtsstoffes 4. Die Tendenz zur Spezialisierung und Bürokratisierung des Rechtswesens 5. Die Tendenz zur Verwissenschaftlichung des Rechts 6. Ergebnis

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V. Diegesellschafdichen Funktionen des Rechts 1. Die Bereinigung von Konflikten 2. Die Verhaltenssteuerung 3. Die Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft . . . . 4. Die Gestaltung der Lebensbedingungen 5. Die Rechtspflege 6. Zusammenfassung

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VI. Recht und sozialer Wandel: Zur Effektivität des Rechts 1. Mängel der Sozialisation durch Rechtsentfremdung 2. Rechtsentfremdung und Sozialstruktur 3. Grundlagen für die Effektivität des Rechts a) Rechtskenntnis b) Rechtsbewußtsein c) Rechtsethos 4. Mittel zur Gewährleistung der Effektivität des Rechts a) Maßnahmen gegenüber dem Rechtsstab b) Maßnahmen gegenüber der Öffentlichkeit

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Inhalt

VII. Anfänge und Fortschritte einer Soziologie der Justiz 1. Die Anfänge der Justizsoziologie in Deutschland 2. Die Justizsoziologie in den USA 3. Das Wiedereinsetzen der Justizforschung in der Bundesrepublik

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Personenregister Sachregister

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I. Gegenstand und Aufgabe der Rechtssoziologie 1. Erkenntnisziel und Abgrenzung des Forschungsbereichs Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Recht kann im Hinblick auf drei unterschiedliche Erkenntnisziele erfolgen. Man kann (1) nach der Gerechtigkeit des Rechts fragen, sich also mit den Wertvorstellungen beschäftigen, die hinter bestimmten rechtlichen Regelungen stehen, und diese Wertvorstellungen auf ihre Angemessenheit überprüfen. Untersuchungsgegenstand ist dann die Idealität des Rechts. Im Regelfall fragt der Jurist (2) danach, was in einer bestimmten Situation als Recht gilt. Er beschäftigt sich mit dem Sinngehalt bestimmter rechtlicher Regelungen. Untersuchungsgegenstand ist dann die Normativität des Rechts. Schließlich kann (3) nach der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Rechts gefragt werden, nach der Realität bestimmter rechtlicher Regelungen, nach dem Rechtsleben. Untersuchungsgegenstand ist dann die Faktizität des Rechts. Demgemäß unterteilt heute die internationale Rechtstheorie die Rechtswissenschaft erkenntnistheoretisch in drei getrennte Sphären: in Wertwissenschaft, in Normwissenschaft und in Erfahrungswissenschaft (Lehre von der Dreidimensionalität des Rechts). Das Nachdenken über das „richtige" (gerechte) Recht ist Sache der Rechtsphilosophie. Sie fragt nach dem Wohin (rechtspolitische Zielsetzung) und dem Warum (Wertehierarchie). Die Bestimmung des normativen Sinngehalts des Rechts (die Entscheidung über das „Sollen" im Recht) ist Sache der Rechtsdogmatik. Sie fragt nach dem Wie (also nach dem Inhalt des „Sollens" und den Methoden und Techniken seiner Ermittlung). Die Erforschung der sozialen Wirklichkeit des Rechts (die Aussage über das „Sein" des Rechts) ist Sache der Rechtssoziologie. Sie fragt nach dem Was (beschreibt und erklärt also das „Sein" des Rechts). a) Forschungsgegenstand: Rechtssoziologie als Wirklichkeitswissenschaft vom Recht Rechtssoziologie ist also die Wirklichkeitswissenschaft vom Recht. Wir verstehen darunter abkürzend alle Zweige der Wirklichkeits-

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I. Gegenstand und Aufgabe der Rechtssoziologie

Wissenschaft, obwohl die Bezeichnung Soziologie (Lehre von der Gesellschaft) im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr alle Sozialwissenschaften umfaßt. Denn auch die Wirtschaftswissenschaften wie Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre, auch Anthropologie und Ethnologie, Sozialpsychologie, Verhaltenswissenschaften und andere Teilgebiete der Sozialwissenschaften untersuchen Ausschnitte aus der sozialen Wirklichkeit, die rechtlich relevant sein können. Rechtssoziologie in diesem umfassenden Sinne untersucht die Entstehung des Rechts aus dem Sozialleben und begreift damit das Recht als Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse {genetische Rechtssoziologie). Sie untersucht ferner die Wirkung des Rechts im Sozialleben und begreift damit das Recht als Regulator gesellschaftlichen Handelns (operationale Rechtssoziologie). Während bei den Klassikern der Rechtssoziologie wie Eugen Ehrlich und Max Weber (vgl. u. II 3) noch der genetische Aspekt im Vordergrund stand, hat sich jetzt zunehmend das Interesse auf den mehr praktischen, operationalen Aspekt verlagert (Rechtswissenschaft als social engineering = Sozialtechnik oder — in der sozialistischen Terminologie — als Leitungswissenschaft, vgl. M. Rehbinder/H. Schelsky, Hrsg.: Zur Effektivität des Rechts, 1972). Beide Untersuchungsrichtungen gehören jedoch eng zusammen. Forschungsgegenstand der Rechtssoziologie ist demnach die wechselseitige Abhängigkeit (Interdependenz) vom Recht und Sozialleben. Rechtssoziologie untersucht also nicht das Recht als Summe der geltenden Rechtsnormen (law in books), sondern das lebende Recht (law in action). Lebendes Recht sind nur diejenigen Rechtsnormen, die in der Rechtspraxis durchgesetzt werden können. Normgefüge und Realordnung müssen identisch sein. Normativität und Faktizität des Rechts sind damit zwar erkenntnistheoretisch getrennte Sphären. Für eine Wirklichkeitswissenschaft vom Recht (Rechtsrealismus) gehören sie jedoch beide zum Rechts begriff: lebendes Recht ist geltendes Recht, das wirksam ist. Eine Wirklichkeitswissenschaft beobachtet aber nicht nur das lebende Recht, wie es sich an der Rechtspraxis ablesen läßt, d. h. am Verhalten derjenigen, die sich speziell mit der Aufstellung, Anwendung und Durchsetzung von Rechtsnormen beschäftigen, des sog. Rechtsstabes. Auch das Verhalten der Rechtsunterworfenen muß beobachtet werden, d. h. das Verhalten derjenigen, auf die das

1. Erkenntnisziel und Abgrenzung des Forschungsbereichs

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Recht Anwendung findet. Denn das Recht ist ein Herrschaftsinstrument, das dazu bestimmt ist, das Sozialleben zu steuern und zu korrigieren. Ob es diese Aufgabe tatsächlich erfüllt, kann nur durch Beobachtung des Soziallebens festgestellt werden. Gelingt es nicht, die in den Rechtsnormen zum Ausdruck kommenden Verhaltenserwartungen im Sozialleben zu realisieren, hat das Recht seine Aufgabe verfehlt. Es kommt daher im Sozialleben oft zu einem Kampf zwischen Rechtsstab und Rechtsunterworfenen, von dessen Ausgang der Erfolg des Rechts abhängt. Als Rechtswirklichkeit ist deshalb das Interaktionsfeld von Rechtsstab und Rechtsunterworfenen anzusehen oder - wie oben definiert — die Interdependenz von Recht und Sozialleben. Schaubild zur Dreidimensionalität des Rechts RechtsIdealität philosophie: (Gerechtigkeitsvorstellungen, Werte) totes Recht ^

Rechtsdogmatik:

Normativität (Sollen)

RechtsSoziologie:

Rechtspraxis Faktizität / ^ (law-ways) (Sein) \ > Gruppenleben (folkways)

, , . lebendes Recht

b) Erkenntnisinteresse: Gesellschaftstheoretische und praktische Rechtssoziologie Der spezielle Blickwinkel, das Recht als Ergebnis und als bestimmenden Faktor des Soziallebens zu sehen, macht die Rechtssoziologie nicht nur zu einem von Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik deutlich abgegrenzten Spezialgebiet der Rechtswissenschaft, sondern zugleich zu einem Spezialgebiet der Soziologie, der Wissenschaft vom Zusammenleben der Menschen in Gesellschaft, vom menschlichen Sozialleben. Denn das Recht ist eines der vielen Ordnungsmuster, nach denen menschliches Verhalten in Gesellschaft abläuft; es gehört zum sozialen Ordnungsgefüge, das den einzelnen in die Gesellschaft integriert, und damit zum Sozialisationsprozeß, den die Soziologie mit dem Ausdruck „soziale Kontrolle" kennzeichnet (vgl. u. III 1).

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I. Gegenstand und Aufgabe der Rechtssoziologie

Rechtssoziologie, als Soziologie betrieben, kann aber ein anderes Erkenntnisziel haben als die Rechtssoziologie des Rechtswissenschaftlers. Die Entdeckung sozialer Gesetzmäßigkeiten bei der Entstehung und "Wirkung von Recht in der Gesellschaft wird von Soziologen oft dazu benutzt, sie zu einer Theorie sozialen Handelns oder zu einer Theorie sozialer Systeme zu verallgemeinern und diese allgemeine Theorie dann — in historischer Perspektive — mit einer evolutionären Theorie der Gesellschaft zu verbinden. Diesem gesellschaftstheoretischen Erkenntnisinteresse, das in der Rechtssoziologie in erster Linie eine soziologische Theorie des Rechts (sociological theory of law) zu erarbeiten wünscht (reine Rechtssoziologie als Erklärungswissenschaft, z. B. Max Weber: Rechtssoziologie, hrsg. /. Winckelmantt, 3. Aufl. 1973, oder Niklas Luhmann: Rechtssoziologie, 2 Bde. 1972), steht das Erkenntnisinteresse des Rechtswissenschaftlers gegenüber, der die Erforschung des Zusammenhanges von Recht und Sozialleben für die Rechtspraxis nutzbar machen will {angewandte Rechtssoziologie als Handlungswissenschaft, z. B. /. Carbonnier: Rechtssoziologie, 1974, Ernst E. Hirsch: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, 1966). Erkenntnisziel ist hier eine soziologische Rechtslehre (sociological jurisprudence), die die sociology of law zu einer sociology in law verwandelt, indem sie wissenschaftliche Erkenntnisse in praktische Rechtsanwendung und Rechtssetzung umsetzt und damit Entscheidungshilfe bietet (vgl. F. K. Beutel: Die Experimentelle Rechtswissenschaft, 1971). Auch der soziologisch orientierte Rechtssoziologe mag zuweilen praktische Ziele verfolgen, doch fehlen ihm meist die erforderlichen Kenntnisse der Rechtstechnik, um praxisnahe Ergebnisse zu erzielen. Dies legt den Gedanken an interdisziplinäre Zusammenarbeit nahe, die gelegentlich auch versucht wurde, aber nur selten zu nennenswertem Erfolg geführt hat, so daß gegenwärtig gesellschaftstheoretische und praktische Rechtssoziologie oft recht beziehungslos nebeneinander stehen. c) Forschungstechnik: Theoretische und empirische Rechtssoziologie Der Gegensatz von reiner (gesellschaftstheoretischer) und angewandter (praxisbezogener) Rechtssoziologie fällt nicht mit dem Gegensatz von empirischer und theoretischer Rechtssoziologie zu-

1. Erkenntnisziel und Abgrenzung des Forschungsbereichs

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sammen. Letzterem liegt die Unterscheidung der Forschungstechniken in Empirie und Theorie zugrunde. Theoretische Arbeit erfolgt im Wege der Verallgemeinerung durch Konstruktion von Fakten, sozialen Gesetzmäßigkeiten und Hypothesen (Forschungsannahmen) zu einem System, aus dem neue Hypothesen abgeleitet werden können (Beispiel einer solchen theoretischen Rechtssoziologie: Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, hrsg. von Trappe, 2. Aufl. 1970). Empirische Arbeit erfolgt im "Wege der Verifizierung und Falsifizierung von Hypothesen durch systematisch, methodisch-kontrolliert erhobene Tatsachen (Beispiel einer solchen empirischen Rechtssoziologie: Bundesrechtsanwaltskammer, Hrsg., Tatsachen zur Reform der Zivilgerichtsbarkeit, 2 Bde. 1974). Empirische Rechtssoziologie wird daher auch im Gegensatz zur theoretischen Rechtssoziologie als Rechtstatsachenforschung bezeichnet (vgl. Arthur Nussbautn: Die Rechtstatsachenforschung, hrsg. von M. Rehbinder, 1968, und dazu M. Rehbinder: Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, Jahrbuch für Rechtssoziologie 1, 1970, S. 334—359). Rechtstatsachenforschung hat die Aufgabe festzustellen, ob bestimmte theoretische Aussagen über die Entstehung und Wirkung des Rechts in der Gesellschaft der Wirklichkeit entsprechen oder nicht. Sie entscheidet über die wissenschaftliche Wahrheit rechtssoziologischer Aussagen. Allerdings besteht über den Stellenwert der Rechtstatsachenforschung, wie über den der empirischen Sozialforschung überhaupt, Streit. Die Vertreter einer erfahrungswissenschaftlichen (neopositivistischen oder analytischen) Soziologie sehen das Ziel und die Möglichkeit soziologischer Erkenntnis in der Beschreibung und Erklärung sozialer Phänomene. Sie lassen daher nur solche theoretischen Aussagen als wissenschaftlich zu, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit empirisch überprüfbar ist. Für sie steht daher die empirische Arbeit im Mittelpunkt des Erkenntnisprozesses. Anders die Vertreter einer dialektischen (neomarxistischen oder philosophisch-kritischen) Soziologie, die nicht nur beschreiben und erklären, sondern— als Wissenschaft - auch kritisch beurteilen will. Die von ihren Anhängern aus der Natur des Menschen und historischen Entwicklungsnotwendigkeiten abgeleiteten Wertmaßstäbe der Kritik sind empirisch nicht überprüfbar. Empirische Forschung ist für sie deshalb zwar notwendig, soweit sie den zu beurteilenden Sachverhalt

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I. Gegenstand und Aufgabe der Rechtssoziologie

beschreibt und erklärt, aber nur sozusagen als erster Schritt für die entscheidende „kritische" Beurteilung (zu diesem sog. Werturteilsstreit der beiden sich befehdenden soziologischen „Weltanschauungen" vgl. den Sammelband H. Albert/E. Topitsch: Werturteilsstreit, 1971). d) Erkenntnisziel: Eigenständigkeit der Rechtssoziologie als Wissenschaft Die Rechtstatsachen, die die empirische Rechtssoziologie erhebt, können aus allen Bereichen des Soziallebens stammen. Denn es gibt kaum einen Sachverhalt, der nicht Gegenstand rechtlicher Regelungen sein könnte. So haben sich z. B. die mittelalterlichen Kleiderordnungen mit Fragen der M o d e befaßt. Die Rechtstatsachen, die im Einzelfall benötigt werden, werden daher häufig soziale Daten sein, die in anderen Spezialgebieten der Soziologie erhoben werden. Eine rechtssoziologische Untersuchung bestimmter Vorschriften aus dem Familienrecht wird z. B. Daten aus der Familiensoziologie verwenden können. Diese Erkenntnis hat bei einigen Autoren zu der Folgerung geführt, es gäbe im Grunde keine eigenständige Rechtssoziologie, sondern nur soziologische Aspekte der Rechtswissenschaft (so J. Stone: Lehrbuch der Rechtssoziologie, Bd. 1, 1976, S. 4 8 - 5 6 ) . Hier wird jedoch Erkenntnisobjekt und Erkenntnisziel verwechselt. Sicher haben rechtssoziologische Untersuchungen zur Stellung des unehelichen Kindes dasselbe Untersuchungsobjekt wie entsprechende Untersuchungen der Familiensoziologie. Ihr Tatsachenmaterial ist jedenfalls in weiten Teilen dasselbe. Doch über die Eigenständigkeit einer wissenschafdichen Disziplin entscheidet nicht ihr Erkenntnisobjekt, sondern ihr Erkenntnisziel. Sobald bestimmte soziale Sachverhalte Gegenstand von Rechtsnormen sind, können sie unter dem Erkenntnisziel „lebendes Recht" untersucht werden, was andere (meist begrenztere, dafür aber spezifischere) Erkenntnisse vermittelt als zum Beispiel das Erkenntnisziel „lebende Familie".

2. Nutzen für die Rechtspraxis: Soziologische Jurisprudenz Die Rechtswissenschaft bedarf der Einbeziehung der Sozialwissenschaften; denn die Kenntnis der Rechtswirklichkeit ist für die

2. Nutzen für die Rechtspraxis: Soziologische Jurisprudenz

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Rechtspraxis unabdingbar, soll das Recht seine sozialen Funktionen erfüllen. Die Umsetzung rechtssoziologischer Erkenntnisse in die Rechtspraxis geschieht durch die soziologische Jurisprudenz, eine angewandte Rechtssoziologie, nämlich die Lehre von der soziologisch orientierten Aufstellung, Anwendung und Durchsetzung der Rechtsnormen durch den Rechtsstab. Die Aufstellung von Rechtsnormen, d. h. die Rechtssetzung, erfolgt innerhalb des Rechtsstabes schwerpunktmäßig durch die Legislative. Doch kommt sie auch in der Verwaltung (Rechtsverordnungen) und in der Rechtsprechung vor (Richterrecht). Sie ist wissenschaftlich betrieben Gegenstand der Rechtspolitik (Gesetzgebungslehre, Planung). Die Anwendung und Durchsetzung von Rechtsnormen hingegen, d. h. die Rechtspflege, erfolgt schwerpunktmäßig in der Verwaltung und in der Rechtsprechung. Sie ist wissenschaftlich betrieben Gegenstand der Lehre von der Sachverhaltsermittlung (Beweiserhebung und Beweiswürdigung) und der Rechtsdogmatik. Wir behandeln im folgenden aus der Rechtspflege nur die Tätigkeit der Gerichte. Sie steht für die Frage nach dem Nutzen der Rechtssoziologie für die Rechtspraxis im Vordergrund der Betrachtung; denn im Konfliktsfall entscheidet über die Rechtmäßigkeit (Rechtsgültigkeit) der Rechtspflege durch die Verwaltung die Spruchtätigkeit der Gerichte.

a) Rechtssoziologie und Rechtsprechung Die Rechtsverwirklichung durch Rechtsprechung geschieht auf der Ebene der Sachverhaltsermittlung und auf der Ebene der Normfindung; denn Rechtsprechung bedeutet die Subsumtion eines Sachverhalts unter den Tatbestand einer bestimmten Rechtsnorm. Nicht immer bedarf eine derartige Rechtsverwirklichung der soziologischen Orientierung. In einer Vielzahl von Gerichtsfällen liegt der Sachverhalt klar zu Tage und sind die in Betracht kommenden Rechtsnormen hinreichend deutlich. Auch können viele Unklarheiten im Normengefüge ohne Hilfe sozialwissenschaftlicher Abklärungen durch grammatische oder systematische Auslegung sachentsprechend gelöst werden. Dennoch bleibt eine Fülle von Fällen, insbesondere solche von grundsätzlicher Bedeutung übrig, in denen die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse erforderlich ist, um Rechtsprechung auf wissenschaftlicher Grundlage zu betreiben.

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I. Gegenstand und Aufgabe der Rechtssoziologie

Sachverhaltsermittlung

Liegen die Probleme eines Falles bei der Sachverhaltsermittlung, so ist eine mehr oder weniger abstrakt gehaltene Norm, die generell für alle gleichliegenden Fälle gilt, an sich bekannt. Die Frage ist nur, ob im konkreten Streitfall rein tatsächlich eine Situation gegeben ist, die zur Anwendung dieser Norm führen muß. So ist z. B. darüber zu entscheiden, ob ein Kind aus geschiedener Ehe besser bei der Mutter oder bei dem Vater aufgehoben ist. Hier geht es um Beweiserhebung und Beweiswürdigung. Dabei werden meist Einzeltatsachen eine Rolle spielen, d. h. Tatsachen, die sich auf einen einzelnen Menschen oder eine einzelne Sache beziehen. So kann es darauf ankommen, ob — wie behauptet—die Mutter wegen Trunksucht den Haushalt vernachlässigt. Doch können auch generelle Tatsachen Gegenstand der Sachverhaltsermittlung sein. Das ist besonders der Fall, wenn eine Fallprognose Gegenstand der Beweiserhebung ist. Dann wird es z. B. darauf ankommen, ob bestimmte psychische oder soziale Gegebenheiten, etwa der Beruf als Kellnerin, typischerweise eine Frau daran hindern, ihren Mutterpflichten ausreichend nachzukommen. Auch die Beweiswürdigung wird recht häufig zu generellen Tatsachen Zuflucht nehmen müssen. So wenn man davon ausgeht, daß Zeugen unter bestimmten Voraussetzungen im allgemeinen glaubwürdig oder unglaubwürdig sind oder daß gewisse Verletzungen typischerweise bestimmte Folgeschäden nach sich ziehen. Während nun bei Einzeltatsachen als Beweismittel Augenschein, Zeugenaussagen und Urkunden im Vordergrund stehen und nur in schwierigen Fällen auf Sachverständigengutachten zurückgegriffen wird, sind die Richter bei generellen Tatsachen allein auf Sachverständigengutachten angewiesen, wollen sie nicht aus eigener Sachkunde entscheiden. Soll nun die Rechtsfindung auf wissenschaftlicher Basis geschehen, müssen Sachverständigengutachten ebenso wie die Entscheidung aus eigener Sachkunde alle verfügbaren Erkenntnisse heranziehen und fachgerecht als Erkenntnisquelle ausschöpfen. Zwar fehlt es heute noch weitgehend an einem anerkannten Kanon psychologischer und soziologischer Techniken der Beweiserhebung und Beweiswürdigung. Die Praxis wird hier von Alltagstheorien beherrscht, die wissenschaftlicher Überprüfung nicht immer standhalten (vgl. Karl-Dieter Opp: Soziologie im Recht,

2. Nutzen für die Rechtspraxis: Soziologische Jurisprudenz

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1974). Doch gibt es ein Gebiet der Sachverhaltsermittlung, wo Sozialforschung bereits häufig geübt wird und sich allem Anschein nach ausgezeichnet bewährt. Auf dem Gebiete des gewerblichen Rechtsschutzes nämlich werden heute die Verkehrsgeltung von Warenzeichen, Firmen- und Geschäftszeichen sowie die Verwechslungsgefahr von Warenzeichen, Ausstattungen oder Werbeslogans oft durch demoskopische Sachverständigengutachten ermittelt, die die Kenntnisse und Reaktionsweisen des Publikums untersuchen (W. Sauberschwarz: Gutachten von Markt- und Meinungsforschungsinstituten als Beweismittel im Wettbewerbs- und Warenzeichenprozeß, 1968). Beweiserhebung und Beweiswürdigung können auch mittelbar die Rechtsfindung beeinflussen, wenn sie zu richterlichem Fallrecht führen. Das ist um so eher möglich, je mehr sie auf sozialwissenschaftlicher Grundlage erfolgten. Wenn z. B. im Regelfall bei jüngeren Kindern die Mutter für geeigneter gehalten wird, die elterliche Gewalt auszuüben, dann entsteht bald ein Richterrecht des Inhalts, daß jüngere Kinder der Mutter zuzusprechen sind, es sei denn, daß der Vater aus besonderen Gründen als geeigneter erscheint. bb)

Normfindung

Liegen die Probleme eines Falles weniger bei der Sachverhaltsermittlung als bei der Normfindung, so bedeutet Rechtsverwirklichung durch soziologische Orientierung die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in das System des geltenden Rechts. Mit dieser Art der Normfindung betreten wir den Kernbereich der soziologischen Jurisprudenz; denn nur die Normfindung, nicht die Ermittlung des im Einzelfall zu beurteilenden Sachverhalts gehört in den Bereich der Rechtsdogmatik, die ja mit der Bezeichnung Jurisprudenz, d. h. Rechtsgelehrsamkeit, gemeint ist. Rechtsdogmatik als Lehre vom Sinngehalt der Rechtsnormen (von griechisch: dogma = Lehrsatz; dokei moi = es leuchtet ein) bietet im Interesse der Rechtsfindung und des Rechtsunterrichts ein System aufeinander bezogener Rechtsnormen. Die Einbeziehung rechtssoziologischer Erkenntnisse in dieses System von Sollenssätzen geschieht schwerpunktmäßig an drei Stellen: Bei der Konkretisierung generalklauselartiger Verweisungsnormen und unbestimmter Rechtsbegriffe, bei 2 Rehbinder, Rechtssoziologie

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I. Gegenstand und Aufgabe der Rechtssoziologie

der Rechtsschöpfung im Falle von Rechtslücken und bei der teleologischen Auslegung. (1) Die Konkretisierung generalklauselartiger Verweisungsnormen und unbestimmter Rechtsbegriffe Eine Fülle von Rechtsnormen verweist den Rechtsanwender auf außerrechtliche Verhaltensmuster wie Treu und Glauben, Verkehrssitte, Handelsbräuche oder gute Sitten. Das Vorhandensein und die Geltung derartiger außerrechtlicher Sozialordnungen werden von der Rechtsordnung vorausgesetzt, weil diese das Sozialleben nur teilweise regeln kann und im Interesse größerer Flexibilität auch nur teilweise regeln will. Derartige Verweisungen, die vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgenommen werden, ermächtigen die betroffenen Kreise, sich in den außerrechtlichen Sozialordnungen ihr Recht selbst zu schaffen. Theodor Geiger spricht deshalb in diesen Fällen von legislatorischer Autorisation. Hier ist der Bereich freier Rechtsbildungen, die sich nach den Vorstellungen des Gesetzgebers in dem von ihm zugestandenen Rahmen zu bewegen haben, die aber gelegentlich diesen Rahmen sprengen und sich gegenüber entgegenstehenden Normen des gesetzten Rechts durchsetzen. Damit tritt eine Uberlagerung des gesetzten Rechts durch neues „freies" Recht ein, das dem gesetzten Recht seine Wirksamkeit und damit seine faktische Existenz nimmt (siehe unter (2)). Das Bestehen derartigen untergesetzlichen Rechts, das seine Rechtsqualität aus der rechtlichen Verweisungsnorm bezieht, kann mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung festgestellt werden. Dabei scheint es auf den ersten Blick, als ob es zwei prinzipiell verschiedene Arten von Verweisungen geben würde, nämlich die Verweisungen auf Faktisches mit zusätzlicher Bewertung und die Verweisungen auf Faktisches ohne zusätzliche Bewertung. Als Beispiele für diese beiden Arten seien hier die Verweisungen auf die Verkehrssitte (§§ 157, 242 BGB, 346 HGB) und die Verweisungen auf die guten Sitten (SS 138, 826 BGB, 1 UWG) gegenübergestellt. Verkehrssitten, insbesondere die Handelsbräuche und die Bräuche in der Arbeitswelt (die sog. Betriebsübung), scheinen sich auf faktisches Verhalten zu beschränken, während die guten Sitten nur solche Sitten sind, die mit dem Werturteil „gut" versehen werden können. So einfach jedoch liegen die Dinge nicht. Auch die Verkehrssitte ist näm-

2. Nutzen für die Rechtspraxis: Soziologische Jurisprudenz

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lieh mehr als eine rein faktische Übung, mehr als bloße Regelhaftigkeit des Verhaltens. Sie liegt nur bei Regelmäßigkeit vor, d. h. bei Wertung durch die Betroffenen als verbindlich. Die Verkehrssitte ist also nicht nur Seinsgesetzlichkeit, sondern echte Sollensnorm. Es müssen deshalb zwei Dinge empirisch festgestellt werden: die tatsächliche Übung und die opinio necessitatis. Beide Untersuchungsgegenstände führen aber zu weiteren Problemen. Tatsächliche Übungen lassen sich als Verkehrsgebräuche feststellen oder als typische Rechtsgeschäfte, wenn ein Vertrag im Wege sog. „Auslegung" nach §§ 157, 2 4 2 BGB ergänzt werden muß. Neben den gesetzlichen Normaltypen bestimmter Rechtsgeschäfte, die im dispositiven Recht verankert sind, entstehen im Laufe der Zeit neue, im Wege der Vertragspraxis entwickelte Normaltypen. Es handelt sich hier um die typisch „atypischen" oder gemischt-typischen Verträge, d. h. um neue Durchschnittstypen, die die gesetzlichen Normaltypen in der Rechtswirklichkeit ergänzen oder gar verdrängen. Die Normen dieser neuen typischen Rechtsgeschäfte wie Leasing, Factoring, der Reiseveranstaltungsvertrag oder der Tankstellenvertrag, müssen faktisch erst einmal ermittelt werden, um derartigen Erscheinungen bei der rechtlichen Beurteilung dieser Verhältnisse nach den § § 1 5 7 , 2 4 2 BGB gerecht werden zu können. Die Frage für das empirische Vorgehen ist hier nur: mit welcher Häufigkeit müssen derartige Übungen eigentlich festgestellt werden können, um berücksichtigt zu werden? Und was soll geschehen, wenn unterschiedliche, sich widersprechende Übungen festgestellt werden? Ferner: sollen nur regional feststellbare Übungen auch für die übrigen Regionen berücksichtigt werden? Oder: sollen auch kurzfristige Erscheinungen Beachtung finden? Die letzteren beiden Fragen werden heute allgemein verneint. Auch in der Region, zu der die Beteiligten gehören, müssen die festgestellten Übungen, z. B. die Handhabung von Schönheitsreparaturen im Mietverhältnis, aufzuweisen sein. Auch bedarf es eines „gewissen" Zeitraumes - wie der BGH (NJW 1952, S. 257) sagt — bis man von einer Verkehrssitte sprechen kann. Keine Klarheit herrscht jedoch darüber, welcher Häufigkeitsgrad festgestellt werden muß, damit die Übung als Verkehrssitte Beachtung finden kann. Typisch ist hier die Kommentierung im Großkommentar zum HGB: „Die Übung muß eine herrschende sein. Sie muß also über die Handlungsweise 2*

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I. Gegenstand und Aufgabe der Rechtssoziologie

einzelner, vielleicht auch vieler Personen hinausragen. Wenn neben der Übung derselbe Gegenstand in beachtlichem Umfange auch anders gehandhabt wird oder wenn der Handhabung von einem beachtenswerten Teil des betreffenden Verkehrskreises wiederholt widersprochen oder tatsächlich entgegengehandelt worden ist, ,herrscht' die Übung nicht" (Ratz in Komm. HGB, 3. Aufl. 1968, § 346 Anm. 29 c). Welchen Nutzen exakte Sozialforschung bei derart unbestimmten Entscheidungskriterien haben soll, kann man sich schwer vorstellen. Kein Wunder also, daß man hier in der Praxis auf die Hilfe der Sozialforschung weitgehend verzichtet. Die Gerichte urteilen entweder aufgrund ihrer sog. Lebenserfahrung oder sie verstecken sich hinter den Feststellungen von Industrie- und Handelskammern und ähnlichen Organisationen, deren Entscheidungskriterien im Einzelfall ebenfalls in wohltuendes Dunkel gehüllt sind. Wären die Voraussetzungen, die man an die Geltung von Übungen zu stellen hat, dagegen klar, könnten die Sozialwissenschaften viel zur Objektivierung des Rechtsfindungsvorganges beitragen. Ähnliche Unklarheit wie über die Feststellung einer Übung herrscht hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung der erforderlichen opinio necessitatis, damit die Übung als Verkehrssitte anerkannt werden kann. Tatsächliches Verhalten muß in den betroffenen Kreisen als richtig, der Rechtsgeschäftstyp, wie er sich z. B. in Allgemeinen Geschäftsbedingungen ablesen läßt, muß als gerecht empfunden werden. Dazu gehören bei Normen, die Pflichten und Rechte verteilen, natürlich immer zwei, so daß sowohl der Normadressat als auch Normbenifiziar befragt werden müssen. Doch weiß man nicht, wie hoch der Anteil der Gruppenmitglieder sein muß, der der Übung zustimmt und der ihre Einhaltung erwartet. Die sog. „subjektive" Komponente der Verkehrssitte liegt also im juristischen Dunkel, zu dessen Aufhellung die Sozialwissenschaften nichts beizutragen vermögen, dessen Aufhellung aber notwendig wäre, um Sozialforschung im Recht hier als sinnvoll erscheinen zu lassen. Wir treffen auf dieselbe Problematik, wenn wir jetzt zu denjenigen Verweisungen übergehen, die ausdrücklich außerrechtliche Wertvorstellungen zum Gegenstand haben. Der Hauptfall ist hier die Verweisung auf die guten Sitten. Art. 2 GG verweist auf das Sittengesetz, das AktG in den Rechnungslegungsvorschriften auf die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung. Strafrecht, aber auch

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Zivilrecht und hier besonders das Arbeitsrecht verweisen auf die Sozialadäquanz. § 1 der BaugestaltungsVO bemüht die „anständige Baugesinnung". Hier geht es jeweils um normative Standards, die empirisch ermittelt werden müssen, und sofort taucht die Frage auf: Wer ist Träger der hier zu ermittelnden Wertvorstellungen? Sind es alle Mitglieder der relevanten Gruppe unter Ausschluß lediglich der Außenseiter etwa in dem Sinne, wie das Reichsgericht bei den guten Sitten auf das Anstandsgefühl aller gerecht und billig Denkenden abstellte, oder ist es die Mehrheit im Sinne von „herrschenden" Wertvorstellungen oder ist es eine besonders qualifizierte Gruppe, die auch eine Minderheit sein kann, wie die viel zitierte Formel Hans Wüstendörfers von der „führenden Kulturschicht" der betreffenden sozialen Gruppe besagt, oder sind es gar die Richter selbst, weil sie dazu berechtigt sind, im Namen des Volkes zu judizieren? Auch darüber herrscht unter den Juristen keine Einigkeit. Neben den Verweisungen finden wir als Mittel, Rechtsvorschriften möglichst elastisch zu halten, die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Zum Teil wollte man damit bewußt Freiräume für die Rechtsentwicklung schaffen, zum Teil sah man sich wohl auch außerstande, präzisere Entscheidungskriterien aufzustellen, oder wollte Auseinandersetzungen darüber im Gesetzgebungsverfahren vermeiden. Viele der daraus resultierenden unbestimmten, aber bestimmbaren Begriffe lassen sich mit Hilfe der Sozialwissenschaften für eine wissenschaftliche Rechtsanwendung praktikabel machen. Doch haben sie dann zugleich mit Wertvorstellungen zu tun. Was versteht z. B. das GG unter Menschenwürde (Art. 1), Wohl der Allgemeinheit (Art. 14) oder Sozialstaat (Art. 20) ? Was bedeutet im BGB eheliche Lebensgemeinschaft (§ 1353), was ist ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung (§ 626)? Wann hat eine Schrift jugendgefährdende Wirkung im Sinne des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften? Wer ist Arbeitnehmer, wer ist leitender Angestellter? Hier versucht man, mit Hilfe von Typenbildungen zu konkretisieren, wobei die Typen deskriptiv aus der Wirklichkeit entwickelt werden. Doch werden derartige faktischen Typen erst dann zu Rechtstypen, wenn ein Akt der Wertung hinzutritt. Aus dem Wesen tatsächlicher Erscheinungen, aus der „Natur der Sache" lassen sich keine Rechtsnormen folgern. Aus dem Sein kann ohne wertenden Akt kein Sollen abgeleitet werden. Doch wer

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nimmt diesen wertenden Akt vor? Der Richter selbst oder die Verkehrsanschauung, wie sie vom Richter ermittelt werden muß? Nach hier vertretener Ansicht ist beides maßgebend: die Verkehrsanschauung und die richterliche Wertung, und beide stehen in einem bestimmten Wechselverhältnis zueinander. Doch muß, bevor dieses Wechselverhältnis näher beschrieben wird, noch einmal betont werden, daß es hier nicht um die Sachverhaltsermittlung im Einzelfall geht. Über die Verwechslungsfähigkeit eines bestimmten Warenzeichens hat allein die Verkehrsanschauung zu entscheiden. Für eine Eigenwertung des Richters ist dabei kein Raum. Hier geht es hingegen allein um die Normfindung, und dabei können wir von dem schwierigeren Fall ausgehen, daß es nämlich für die Norm nicht nur auf Verhaltensregelmäßigkeiten wie bei der Verkehrssitte, sondern zugleich um hinzugefügte Werturteile wie bei den guten Sitten oder gar allein auf Wertvorstellungen wie bei der „anständigen Baugesinnung" ankommt. Wüstendörfer hat in seinen heute noch führenden Erörterungen über die Methode soziologischer Rechtsfindung, wie erwähnt, eine Eigenwertung des Richters abgelehnt und ihn an die herrschenden Anschauungen der führenden Kulturschicht der betroffenen sozialen Gruppe binden wollen (H. Wüstendörfer: Zur Methode soziologischer Rechtsfindung, hrsg. M. Rehbinder, 1971, S. 100). Dies entspricht auch heute noch einem Teil der juristischen Methodenlehre. Daß eine empirische Ermittlung derartiger Wertvorstellungen in der Bevölkerung möglich ist, sollte von den Juristen nicht bestritten werden. Doch muß bei derartigen Erhebungen über einiges Klarheit bestehen: Wertvorstellungen sind nicht Anschauungen darüber, was üblich ist, sondern Anschauungen darüber, wie man sich richtig verhalten soll. Eine verbreitete Übung kann also den guten Sitten widersprechen, kann Unsitte sein. Auch kommt es nicht darauf an, ob der einzelne sich selbst an die von ihm generell für richtig gehaltenen Wertsetzungen in seinem privaten Verhalten tatsächlich hält, ob er also auch nach seiner inneren Überzeugung handelt. Was man bei anderen für richtig hält, danach muß man sich — so lautet ja die goldene Regel — auch selbst beurteilen lassen (G. Spendet: Die goldene Regel als Rechtsprinzip, FS Fritz von Hippel, 1967, S. 491-516). Weiter kommt es auf den Sinn der jeweils anzuwendenden Rechtsvorschrift an, ob als Bezugsgruppe der empirischen Erhebung die Gesamtheit

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der Staatsbürger oder einzelne soziale Gruppen gemeint sind. Wird auf die im Handelsverkehr üblichen Standards verwiesen, kommt die Meinung einer Hausfrau nicht in Betracht. Ist der Rechtsnorm aber keine Beschränkung zu entnehmen, so ist Bezugsgruppe die Gesamtheit der Staatsbürger, auch wenn sehr viele zu den betreffenden Rechtsfragen keine Beziehung haben. Bei der Frage, ob die Schlägermensur eine sittenwidrige Körperverletzung sei, ist also auch die Meinung der Hausfrau relevant. Häufig werden Nichtbetroffene gar keine Meinung oder eine kaum sehr kompetente Meinung äußern können. Bei der Erhebung muß die Sozialforschung den Betreffenden dann notfalls eine gewisse Aufklärung geben. Nicht immer wird das zum Erfolg führen. So wurde z. B. in den USA eine Untersuchung über die Meinung der Bevölkerung zu den verschiedenen Besteuerungsarten abgebrochen, weil ein allzu großer Personenkreis trotz Aufklärung nicht in der Lage war, die jeweiligen Unterschiede in den Besteuerungsarten zu verstehen. Das ist jedoch im staatlichen Willensbildungsprozeß kaum anders, wo man gleichwohl ein Absprechen des Wahlrechts wegen Inkompetenz nicht in Erwägung zieht. Wir müssen also oft mit einem beachtlichen Anteil von Meinungslosen rechnen. Sie dürfen bei strittigen Fragen nicht etwa — je nach Fragestellung — der einen oder anderen Seite hinzugerechnet werden, sondern haben vielmehr außer Betracht zu bleiben. Auch das politische Leben gestalten ja nur die aktiven Minderheiten. Eine Stimmabgabe von 20—30 % bei den vielen Referenden in der Schweiz gilt dort durchaus noch als demokratisch legitimierend. Eine andere Frage ist die, ob sich die Sozialforschung im Rahmen eines Stichprobenverfahrens nicht sogleich auf die sog. opinion leaders beschränken kann. Das ist in der Tat angängig, solange sichergestellt ist, daß es sich dabei wirklich um die jeweils relevanten Meinungsführer handelt. Da in einer pluralistischen Gesellschaft mit divergierenden Wertvorstellungen zu rechnen ist, entscheidet unter den jeweils verschiedenen Auffassungen die einfache Mehrheit, nicht etwa eine „herrschende Auffassung" in dem Sinne, daß es sich um eine besonders qualifizierte Mehrheit handeln müsse. Das hätte sonst als Abweichung von der Regel demokratischer Willensbildung in der anzuwendenden Rechtsnorm besonders zum Ausdruck gebracht werden müssen. Es ist daher unrichtig, wenn der BGH auch heute noch die

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guten Sitten als das „Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" definiert ( B G H Z 5 2 / 1 7 , 2 0 ) . Als nämlich seinerzeit der Verkauf von Präservativen in Außenautomaten vom B G H (BGHSt 13, 16) ohne jede sozialwissenschaftliche Begründung für sittenwidrig erklärt wurde, mußte sich der B G H vom Bundesverwaltungsgericht zu Recht entgegenhalten lassen, beim Bestehen abweichender Anschauungen könne man den Andersdenkenden nicht schlechthin die Verständigkeit oder billige und gerechte Denkungsart absprechen (BVerwGE 1 0 , 1 6 4 ) , d. h. tolerant und aufgeklärt Urteilende gleichsam zur Outgroup erklären. Im Grunde geht es hier nicht um Probleme der Sozialwissenschaften, sondern um Probleme der Demokratie als Lebensform. Willensbildungen in der Demokratie haben mit Wissenschaftlichkeit des Entscheidens ja solange nichts zu tun, als nicht an die Frage nach der Fachkompetenz der Entscheidungsträger gerührt werden darf (F. K. Beutel: Experimental Jurisprudence and the Scienstate, Bielefeld 1975). Zwar können die Sozialwissenschaften nicht selbst über die Richtigkeit von Wertsetzungen entscheiden. Sie können aber die Rolle von Wertentscheidungen durch Aufklärung des zu bewertenden Sachverhalts erheblich verringern. Werden unzutreffende Sachverhalte der Wertung zugrunde gelegt, werden zumeist falsche Entscheidungen gefällt. Der Staat muß daher bestrebt sein, die Entscheidungspositionen nur mit Fachleuten oder mit fachlich unterrichteten Personen zu besetzen. So gesehen erscheint es unzweckmäßig, die Normfindung in den hier behandelten Fällen allein vom Urteil der Bevölkerung abhängig zu machen und den Richter an dieses Urteil zu binden. Der Richter ist in den meisten Fällen entscheidungskompetenter als die breite Masse, zumal wenn er sich vorher die erforderlichen Informationen verschafft. Es ist daher gerade im Interesse der Sozialwissenschaften, die aufgeklärte Urteile anstreben, wünschenswert, den Richter nicht vollständig an die gesellschaftlichen Werturteile zu binden, wie sie von der Empirie mit einer für den demokratischen Entscheidungsprozeß ausreichenden Zuverlässigkeit erhoben werden können. Der Richter hat daher nach der hier vertretenen Auffassung zwar von den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen auszugehen und sie als solche festzustellen. Im Regelfall hat er ihnen auch zu folgen. Er ist aber nicht an sie gebunden. Er hat vielmehr ein

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Recht der „Zensur" (so Jean Carbonnier: Rechtssoziologie, 1974, S. 261). Er wird von dieser Zensur Gebrauch machen, (a) wenn das Urteil der Mehrheit in seinen Voraussetzungen durch die Sozialwissenschaften widerlegt erscheint, (b) wenn ein Wandel in den Anschauungen manipuliert wurde und keine Aussicht auf längere Dauer hat, so daß der Rechtssicherheit der Vorzug zu geben ist, oder (c) wenn die gesellschaftlichen Wertungen in Widerspruch zu anerkannten Prinzipien der Rechtsordnung treten. Der Richter hat in diesen Fällen sein Abweichen von den gesellschaftlichen Anschauungen jedoch offenzulegen und zu begründen. Denn das Argumentieren mit Gründen ist das Kennzeichen jedes Entscheidens durch Fachleute. Die hier vertretene Auffassung von der Pflicht des Richters zur Information über gesellschaftliche Sachverhalte, jedoch von seiner fehlenden Bindung an gesellschaftliche Wertvorstellungen, von dem Recht des Richters zur „Zensur", das jedoch mit einer Pflicht zur Begründung verbunden ist, stimmt überein mit der Theorie zum Gewohnheitsrecht, wie sie insbesondere von Bernhard Rehfeldt entwickelt wurde. Rehfeldt nannte sie Einstimmungstheorie (ß. Rehfeldt/M. Rehbinder: Einführung in die Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1973, S. 112—115). Soziale Gewohnheiten erlangen danach trotz opinio necessitatis im Sozialleben nur dann Rechtsqualität, wenn die Gerichte ihnen zustimmen. Umgekehrt erstarken richterliche Einzelentscheidungen nur dann zu richterlichem Gewohnheitsrecht, wenn der konstant geäußerten Meinung der Gerichte im Sozialleben im Sinne einer opinio necessitatis zugestimmt wird. Da die betroffenen sozialen Gruppen sich oft nicht mit den fachmännischen Äußerungen in Gerichtsentscheidungen auseinandersetzen können, steht ein beachtlicher Protest im Fachschrifttum repräsentativ für die mangelnde Zustimmung der Gesellschaft, öffentliche Meinung und Gerichte müssen also jeweils in die Forderungen des anderen nach Verbindlichkeit einer bestimmten Regel einstimmen. Diese Einstimmungstheorie macht es hier bei der Frage nach der Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Rechtspraxis notwendig, etwas Näheres über die Wertung des Richters für den Fall auszusagen, daß er sich über die Bewertung der betreffenden sozialen Gruppe hinwegsetzt. Das ist am besten möglich, indem wir nunmehr zu den übrigen Einbruchstellen sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in das Rechtssystem übergehen.

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(2) Die Rechtsschöpfung im Falle von Rechtslücken Der zweite Typ von Einbruchstellen des Soziallebens in das Rechtssystem ist die Rechtsschöpfung im Falle von Rechtslücken, die von Theodor Geiger sog. judikatorische Option. Hier lag der Schwerpunkt der Freirechtslehre, die das Dogma von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung überwand und dem Richter die Aufgabe der Rechtsfortbildung zusprach. Hier auf dem Gebiete des Judizierens sine lege glaubte Hermann Kantorowicz die wichtigste Konsequenz für das Verhältnis von Rechts- und Sozialwissenschaften zu sehen, da die schöpferische Findung freien Rechts einer rechtssoziologischen Begründung bedürfe. Er sah diese Begründung in den „jeweilig im Volke herrschenden Werturteilen", die als Tatsachen des Soziallebens vom Richter „auf soziologischem Wege zu erkennen" seien (H. Kantorowicz: Rechtswissenschaft und Soziologie, hrsg. Würtenberger, 1962,S. 126-129).Dabei verwies erwie alleübrigen Freirechtler auf den berühmten Art. 1 Abs. 2 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, demzufolge bei Lücken in der Rechtsordnung der Richter nicht nach Willkür, sondern nach derjenigen Rechtsnorm zu entscheiden habe, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Muß der Richter in diesem Sinne als Gesetzgeber tätig werden, um echte Lücken zu schließen, so wird er wie jeder Gesetzgeber, der auf wissenschaftlicher Grundlage vorgeht, zunächst eingehend den sozialen Sachverhalt erforschen, die Interessengegensätze und — soweit er keine entsprechenden Wertungen der Rechtsordnung vorfindet — die Wertvorstellungen der betreffenden sozialen Gruppe, wie sie durch ihre opinion leaders geäußert werden. Nur eine umfassende Würdigung aller dieser in Betracht kommenden Faktoren der richterlichen Entscheidungsbildung sichert die sachliche Angemessenheit seiner „Gesetzgebung". Er kann dabei auch, wenn er dies plausibel begründet, von den Wertvorstellungen, die in den betreffenden sozialen Kreisen herrschen, abweichen. Allerdings setzt dies voraus, daß eine echte Lücke besteht und nicht nur eine scheinbare, wo in Wahrheit die erforderliche Wertung bereits dem Rechtssystem zu entnehmen ist. (3) Die teleologische Auslegung Die zentrale Einbruchstelle rechtssoziologischer Erkenntnisse in die Rechtsdogmatik ist jedoch die heute herrschende der vier klassi-

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sehen juristischen Auslegungsmethoden, nämlich die teleologische Auslegung. Sie steht neben der grammatischen, der historischen und der systematischen Auslegung. Ihr Bestreben, die konkrete Rechtsanwendung am jeweiligen Normzweck auszurichten, macht sie zur soziologischen Auslegung; denn eine Zweckforschung ist ohne soziologische Ursachenforschung nicht möglich. Sucht der Rechtsanwender nämlich die gesetzlichen Vorschriften teleologisch zu interpretieren und die Intention des Gesetzes optimal zu verwirklichen, so muß er wissen, bei welcher Auslegung er in der sozialen Wirklichkeit diejenige Wirkung erzielt, die das Gesetz bezweckt. Daher geht hier im Rahmen der teleologischen Auslegung die Rechtssoziologie von der beschreibenden Faktenforschung zur erklärenden Ursachenforschung über. Die eine Richtung dieser Ursachenforschung denkt genetisch. Sie erforscht diejenigen Interessen, die zur Normbildung geführt haben, um dann den Sinn der Norm in der Bewertung dieser Interessen zu sehen. Das war im wesentlichen das Vorgehen der älteren Interessenjurisprudenz (Tübinger Schule). „Jedem Gesetz liegt (jedoch) eine Interessenabwägung zugrunde, die in bestimmter Weise auf das soziale Leben einwirken will" (BGHZ 17/266, 276). Die zweite Richtung der Ursachenforschung untersucht daher die tatsächliche Wirkung der Norm auf das Sozialleben, sei es die bisher schon erfolgte oder die erst zu erwartende Wirkung. Auf diese Weise wird der Auslegende bei neuen Konfliktsituationen oder bei Veränderungen der sozialen Verhältnisse in die Lage versetzt, durch Veränderung der herkömmlichen Dogmatik diejenige Konkretisierung der abstrakten Norm wählen zu können, die in ihren Auswirkungen den mit der Norm verfolgten Zielvorstellungen gerecht wird. In einzelne methodische Schritte zerlegt, bedeutet soziologische Jurisprudenz in den Worten Wüstendörfers, „wenn möglich zu ermitteln: 1. Die geschichtlich feststellbare Vorstellung des sog. Gesetzgebers von der sozialen Interessenlage jener Gesetzesvorschrift, seine Zweckvorstellung und das Werturteil seiner Interessenabwägung (also zum Beispiel: woran dachte der Gesetzgeber des BGB bei einer bestimmten Regelung des Arbeitsverhältnisses im Dienstvertragsrecht des BGB?),

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2. die wirkliche — vielleicht abweichende — geschichtliche Interessenlage bei Erlaß des Gesetzes (also: wie war damals insoweit die Arbeitswelt wirklich?) und 3. die hiervon wiederum vielleicht abweichende heutige, soziale Interessenlage; 4. die tatsächlichen gesellschaftlichen Wirkungen der Gesetzesvorschrift und endlich 5. die Tatsachen, wie z. B. die Ursachen einer etwa heute bestehenden Rechtswirklichkeit in Ergänzung oder Abweichung von jener Gesetzesvorschrift, typische Vertragsschlüsse, Handelsbräuche und Verkehrssitten, neues Gewohnheitsrecht" (AöR 34, 1915, S. 421 f.). „Nur die genaue Kenntnis davon, inwieweit die nachgiebigen oder die zwingenden Gebote des Gesetzes vom Leben tatsächlich überholt sind, und aus welchen Ursachen dies geschah, vermag den Richter vor einer lebensfeindlichen Handhabung des Gesetzes zu bewahren" {Wüstendörfer: Zur Methode soziologischer Rechtsfindung, hrsg.M. Rehbinder, 1971, S. 181). Alle diese soziologischen Ermittlungen: Interessenforschung, Zweckforschung, Wirkungsforschung und Rechtswirklichkeitsforschung sind aber nur die Vorbereitung für die dann folgende richterliche Interessenwertung. Wenn man nun die entscheidende Frage stellt, wie diese Wertung auszusehen habe, so ist hier entgegen der verführerischen Vorstellung von der politischen Funktion des Richters mit aller Deudichkeit auf den Grundsatz der Bindung an Recht und Gesetz hinzuweisen. Dieser Grundsatz der Gebundenheit des Richters kann im Interesse der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit nicht stark genug betont werden. So darf der Grundbuchrichter nicht unter Berufung auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse der Städteplanung einem bekannten Grundstücksspekulanten die Eintragung als neuer Eigentümer eines Altbaues in der Innenstadt verweigern. So darf der Nachlaßrichter nicht die Ausstellung des Erbscheines für einen zur Unternehmensführung ungeeigneten Alleinerben eines Industriellen mit der Begründung verweigern, dies sei aus volks- oder betriebswirtschaftlichen Gründen unerwünscht (vgl.A. Heldrich, JuS 1974, S. 281,284). Wenn das Gesetz klar und eindeutig ist, ist für soziolo-

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gische Jurisprudenz kein Raum. Auch bei generalklauselartigen Verweisungen und unbestimmten Rechtsbegriffen ist dem Richter keine Blankovollmacht zu Billigkeitsentscheidungen gegeben. Er ist an die Wertentscheidungen des übrigen Rechtssystems und insbesondere der Verfassung gebunden. Er muß also bei der ihm aufgetragenen Interessenabwägung die Verkehrsanschauung in die Wertungen des positiven Rechts einordnen. Das gehört zu seinem Recht auf „Zensur". (Daher hat er auch bei der Auslegung entgegen heute verbreiteter Auffassung von der subjektiv-historischen Methode auszugehen, vgl. Hans Ryffel: Rechtssoziologie, 1974, S. 234). Allerdings ergibt die Untersuchung der Norm im Sinne der soziologischen Jurisprudenz häufig, daß sie entgegen ihrem Wortlaut enger auszulegen ist, so daß eine Wertung der Rechtsordnung, an die der Richter gebunden wäre, für den betreffenden Fall gar nicht vorliegt. Ein Abweichen jedoch von eindeutigen gesetzlichen Wertungen ist ihm allenfalls als eine Art richterliches Widerstandsrecht in besonders krassen Fällen möglich, wo von gesetzlichem Unrecht gesprochen werden kann. Kriterien für diesen Fall anzugeben, ist ungeheuer schwierig, wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der BGH-Rechtsprechung über das Schmerzensgeld bei immateriellen Schäden zeigt (BVerfGE 34, 269 ff.). Im Regelfall kommt eine richterliche Eigenwertung also nur in Betracht, wenn die anerkannten Mittel juristischer Interpretation kein klares Bild ergeben. Es ist z. B. zu entscheiden, ob jemandem Vertrauensschutz gewährt werden soll, weil die Anwendung größerer Sorgfalt ihm nicht zuzumuten war. Hier kann Sozialforschung typische Rollenbilder im Rechtsverkehr ermitteln und mit Hilfe der Rollentheorie zeigen, welche soziale Bedeutung diesen Rollen für die Beurteilung der Zumutbarkeit zukommt. Auf dieser Grundlage kann der Richter Rechtstypen bilden, indem er die sozialwissenschaftlichen Typen im Wege topischer Jurisprudenz mit Rechtsfolgen verknüpft (vgl. Th. Viehweg: Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974). Dabei kann er durch „Zensur" von den Wertungen der betroffenen sozialen Gruppen abweichen. Nur darf dies nicht dahin mißverstanden werden, als wäre angesichts der Möglichkeit einer richterlichen Interessenwertung die vorherige Aufhellung des sozialen Sachverhaltes bei der Normfindung an sich überflüssig.

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cc) Die begrenzten Möglichkeiten Rechtsanwendung

eigener Sozialforschung

bei der

Allerdings ist nicht zu bestreiten, daß die Rechtsanwendung, will sie die vom Ideal einer wissenschaftlichen Rechtsfindung her unbedingt erforderliche Rechtstatsachenforschung in den Rechtsverwirklichungsprozeß integrieren, sich in einem praktischen Dilemma befindet (vgl. Klaus F. Röhl: Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, 1974). Rechtstatsachenforschung für den einzelnen Problemfall kommt nämlich regelmäßig nicht in Betracht, und zwar wegen des erforderlichen Aufwandes an Zeit und Kosten. Der Grundsatz: doppelt gibt, wer schnell gibt, gilt auch für die Rechtsanwendung, bei der im folgenden wiederum nur die Justiz behandelt wird. Soweit nämlich die erforderlichen sozialwissenschaftlichen Kenntnisse nicht aus leicht zugänglichen und verständlichen Publikationen zu entnehmen sind, tritt auf jeden Fall eine Verzögerung des Verfahrens ein. Selbst wenn die Justiz zusätzlich sozialwissenschaftlich ausgebildetes Personal einstellen würde, würde dadurch die Verzögerung kaum beseitigt, weil dieses angesichts des gegenwärtigen Standes der Forschungsergebnisse in der Rechtssoziologie regelmäßig nicht auf relevante Literatur zurückgreifen könnte, sondern eigene Forschungen vornehmen müßte. Die Verzögerung wird noch größer, wenn aus ökonomischen Gründen Sachverständige bestellt werden. Sowohl Sachverständigengutachten wie eigenes sozialwissenschaftlich ausgebildetes Personal sind zudem außerordentlich teuer, so daß nur Grundsatzprozesse für dieses Vorgehen in Betracht kommen, will man Rechtspflege zu Preisen bieten, die für das rechtsuchende Publikum halbwegs akzeptabel sind. Es stellt sich daher die Frage, wie in dieser Situation die Einstimmungstheorie funktionieren soll, wie sie hier für den soziologischen Rechtsfindungsprozeß entwickelt wurde. Die Antwort auf diese Frage läßt sich nur durch einen Kompromiß zwischen dem Ideal einer soziologischen Rechtsfindung und den praktischen Notwendigkeiten finden. Dann aber braucht an der bisherigen Praxis nichts Umstürzendes geändert zu werden. Die meisten Fälle in den unteren Instanzen lassen sich ohnehin ohne be-

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sondere sozialwissenschaftliche Erhebungen sachentsprechend lösen. Sicher gibt es schwierig zu ermittelnde Sachverhalte. Deshalb haben wir uns auch bereits in der Sozialgerichtsbarkeit daran gewöhnt, daß heute etwa die Hälfte aller Fälle erster Instanz unter Hinzuziehung von medizinischen Sachverständigen entschieden werden. Im gewerblichen Rechtsschutz werden zunehmend Gutachten beigebracht. Dennoch sollte es den Gerichten weiterhin unbenommen bleiben, hier aufgrund anderer Beweismittel und eigener Sachkunde und notfalls aufgrund der sog. Lebenserfahrung zu entscheiden. Das gleiche gilt auch für die Ermittlung sozialer Sachverhalte bei der Normfindung im Sinne der soziologischen Jurisprudenz, solange nur in den Entscheidungsgründen deutlich gemacht wird, was als sozialer Sachverhalt angenommen wurde und ob gegebenenfalls eine abweichende Eigenwertung erfolgte. Nur in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung sollte man die Verzögerung des Verfahrens und die Kostenbelastung für die Parteien nicht scheuen, die mit Sachverständigengutachten verbunden sind. Da die Frage, ob eine bestimmte Handlung einen Verstoß gegen Treu und Glauben oder gegen die guten Sitten darstellt, als revisible Rechtsfrage behandelt wird (so schon R G Z 4 8 , 1 1 4 ) , kann ein Urteil, das ohne besondere Ermittlung sozialer Sachverhalte aufgrund der sog. Lebenserfahrung gefällt wurde, in die nächste Instanz gezogen werden. Hier muß dann allerdings, sollte die Entscheidung nicht aufgrund abweichender Eigenwertung, sondern aufgrund des angenommenen Sachverhaltes gefällt worden sein, Beweis erhoben werden. Zwar kann dann später gleichwohl trotz anderslautender Befunde noch eine abweichende Eigenwertung durch das Gericht vorgenommen werden. Dies muß aber plausibel in der üblichen juristischen Argumentationsweise begründet werden. Im internationalen Privatrecht ist die Situation ähnlich: Nach § 293 ZPO können über Rechtsnormen des Auslandes Gutachten eingeholt werden. Dem Richter bleibt dennoch die Möglichkeit, das Ergebnis dieser Gutachten als mit dem ordre public unvereinbar beiseite zu schieben. Diese Situation im IPR läßt sich ebenfalls in gewissem Sinne als Einstimmungstheorie bezeichnen. Der Richter muß in die Wertung des ausländischen Rechts einstimmen oder sie begründet als unannehmbar ablehnen. Aber er darf nicht einfach über die Norm des ausländischen Rechts hinweggehen oder gar etwas als Auslandsrecht ausgeben, was nicht den Tatsachen entspricht.

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Gegen dieses Vorgehen kann nicht eingewandt werden, soziologische Erhebungen seien ohnehin zu ungenau, weil sie sich beschränken müßten und deshalb kein umfassendes Bild bieten könnten. Es ist richtig, daß aus Gründen der Praktikabilität, der Zeit und Kosten oft nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit untersucht wird, der zur Verifizierung der überprüften Hypothesen im strengen Sinne nicht ausreicht, nur zu einer eindringlichen Illustrierung. Dadurch tritt aber etwas ein, was man im untechnischen Sinne eine Umkehr der Beweislast nennen kann. Wer immer dann das Gegenteil behauptet, muß dieses durch eine empirische Untersuchung belegen, die gegen die Ergebnisse der vorherigen Erhebung spricht. Ihm obliegt der Beweis des Gegenteils. Oder in den Worten Llewellyns: Knowledge does not have to be scientific, in order to be useful and important. Im wesentlichen kommt also soziologische Jurisprudenz im strengen Sinne nur für die oberen Gerichte und das Bundesverfassungsgericht in Betracht. Aus der sozialwissenschaftlichen Literatur ist dabei insgesamt nur wenig unmittelbare Hilfe zu erwarten, da diese in der Empirie kein umfassendes Bild der Wirklichkeit geben kann, sondern nur punktuelle Untersuchungen anstellt, die oft wenig verallgemeinerungsfähig sind. Es wird deshalb häufig, zumindest zusätzlich, zu Einzelfalluntersuchungen kommen müssen, die mangels speziell ausgebildeten Justizpersonals durch Sachverständige auszuführen sind. Die entscheidende Forderung an die Praxis betrifft daher die Begründung ihrer Entscheidungen, was die Verwendung sozialwissenschaftlicher Argumente angeht, und zwar auch in den unteren Instanzen. Wo nämlich ein Eingehen auf sozialwissenschaftliche Voraussetzungen für die Rechtsfindung erforderlich ist, aber auch nur dort, da muß dies bewußt geschehen und in den Entscheidungsgründen offengelegt werden. Nur so können sich die Parteien gegen unrichtige Annahmen wehren und die betreffende Frage in der nächsthöheren Instanz überprüfen lassen. Nur so ist auch eine nützliche Kritik der Rechtsprechung durch die Rechtssoziologie möglich, wie sie sich langsam in den Universitäten etabliert. Von einer sozialwissenschaftlichen Urteilskritik ist jedenfalls, wenn die Gerichte sich mit ihr auseinandersetzen, für die Zukunft soziologischer Jurisprudenz und für eine fruchtbare Zusammenarbeit von Rechtssoziologie und Rechtsprechung viel zu erhoffen. Sicher wird die ver-

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stärkte Berücksichtigung der Sozialwissenschaften in der Rechtsprechung Verzögerungen und zum Teil auch hohe Kosten verursachen. Aber das ist der „Preis, den wir für den Fortschritt der Wissenschaft zu zahlen haben" (Peter Arens: Gutachter im Prozeß, in M. Rehbinder: Recht im sozialen Rechtsstaat, 1973, S. 2 6 1 , 278). b) Rechtssoziologie und Rechtspolitik Soziologische Jurisprudenz ist nicht nur soziologische Rechtsanwendung, sie ist auch soziologische Rechtssetzung und damit angewandte Rechtspolitik. Rechtspolitik fragt und entscheidet, welche sozialen Ziele mit welchen rechtlichen Mitteln und auf welchen rechtlichen Wegen erreicht werden sollen. Sie ist wie jede Politik die Kunst des Möglichen. aa)

Effektivitätsprognosen

Was aber im Recht und mit den Mitteln des Rechts praktisch möglich ist, das zu erkunden ist Aufgabe der Rechtssoziologie. Sie ist es, die dem Gesetzgeber Erkenntnisse bereitstellt, die es ihm erlauben, die Wirkungschancen der von ihm zu treffenden Entscheidungen und Anordnungen abzuschätzen. Denn erst bei voller Kenntnis der Rechtstatsachen ist dem Gesetzgeber die politische Entscheidung möglich, wie hohe Anforderungen er an den Rechtsstab und an den Bürger stellen kann und wie weit er sich um seiner eigenen Wirksamkeit willen dem sozialen Sachverhalt anpassen muß. Werden die in der Gesetzgebung dekretierten Verhaltenserwartungen von den Rechtsgenossen mit Umgehung und Boykott beantwortet, weil die faktischen Gegebenheiten oder die Wertvorstellungen der Rechtsadressaten in zu hohem Maße entgegenstehen, dann hat das Recht seine Steuerungsaufgabe verfehlt. Derartiges Recht birgt zudem die Gefahr, daß der Rechtsstab seine Autorität verliert. Diese Autorität (gestützt auf die Zustimmung zum Rechtsstabhandeln im allgemeinen, nicht im Einzelfall) ist aber notwendig, damit die Rechtsordnung normativ verbindlich ist (vgl. u. III 2). Soll also verhindert werden, daß ein Gesetz — wie das heute noch weithin der Fall - ein Schuß ins Dunkle ist, dann muß Gesetzgebung auf wissenschaftlicher Basis und damit rechtssoziologische Effektivitätsforschung betrieben werden. Deshalb gehörten auch zum Pro3 Rehbinder, Rechtssoziologie

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I. Gegenstand und Aufgabe der Rechtssoziologie

gramm von Pourtd's Sociological Jurisprudence, die sich das social engineering zur Aufgabe gemacht hatte, soziologische Untersuchungen zur Vorbereitung von Gesetzgebungsaufgaben, die Erforschung der Mittel, Rechtsvorschriften schlagkräftig (effective in action) zu machen sowie die Errichtung eines Rechtspflegeministeriums, das sich mit der systematischen Überwachung des Rechts u n d seiner Anpassung an die soziale Wirklichkeit beschäftigen sollte (vgl. u. II 1 b). Der Gedanke ständiger Anpassung der Rechtsnormen an die Bedürfnisse des Tages setzt natürlich ein Umdenken voraus, das dem Recht seinen relativen Ewigkeitswert nimmt. Recht wird — wie Luhmann sagt - variabel. Das ist auch der Gedanke von Frederick K. Beutel's Experimental Jurisprudence, die jedes Gesetz als soziales Experiment ansieht. Beutel unterscheidet bei einer Gesetzgebung, die sich die bewußte Steuerung des Soziallebens durch Experimente zur Aufgabe gemacht hat, die folgenden Stufen: Z u n ä c h s t werden die sozialen Phänomene erforscht, die das Recht regeln sollen. D a n n wird eine N o r m aufgestellt, die das betreffende soziale Problem lösen soll. Darauf wird die Auswirkung dieser N o r m im gesellschaftlichen Leben festgestellt. N u n m e h r wird eine Hypothese aufgestellt, die die Gründe für die betreffende Reaktion des Soziallebens erklärt. Diese Hypothese wird dann durch ihre Erweiterung auf ähnliche Probleme zu einer rechtlichen Gesetzmäßigkeit verdichtet. Falls die betreffende N o r m ganz oder teilweise wirkungslos war, wird ein neues Gesetz in Kraft gesetzt und der Prozeß wiederholt. Gegebenenfalls werden auch gleich oder später nach mehrmaligen Versuchen die gewünschten sozialen Ziele als unerreichbar zugunsten anderer Ziele aufgegeben. bb)

Legitimationsargumente

Rechtssoziologie bietet aber nicht nur die Mittel, Gesetze mit hoher Effektivitätsquote zu entwickeln. Der Rechtspolitiker braucht rechtssoziologische Erkenntnisse vielmehr auch zu dem Zweck, seine Entscheidungen bei den Rechtsgenossen rational zu legitimieren. Bei der Entscheidung f ü r oder gegen die Freigabe von Pornographie z. B. trägt der Gesetzgeber im untechnischen Sinne die Beweislast. Er m u ß nämlich den staatlichen Strafanspruch durch Beweis von sozialschädlichen Folgen der Pornographie legitimieren.

2. Nutzen für die Rechtspraxis: Soziologische Jurisprudenz

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Lassen sich aber—wie kürzlich am dänischen Experiment einer Aufhebung des Pornographieverbotes eingehend belegt (B. Kutschinsky: Pornographie und Sexualverbrechen, 1972) - die behaupteten sozialschädlichen Folgen gar nicht nachweisen, dann bleibt dem Gesetzgeber als Begründung für sein Pornographieverbot nur der Rückzug auf Wertungen des Geschmacks. Ob eine solche Begründung dann in der Rechtsgemeinschaft als ausreichend angesehen wird, erscheint in einer aufgeklärten und pluralistischen Gesellschaft mehr als fraglich. So wurde auch in der Bundesrepublik die Pornographie im begrenzten Umfang freigegeben. c) Grenzen der Rechtssoziologie: die Relevanz rechtssoziologischer Argumente Die Notwendigkeit einer Einbeziehung der Sozialwissenschaften in die Rechtswissenschaft bedeutet jedoch nicht, daß Rechtsdogmatik und Rechtspolitik durch Rechtssoziologie zu ersetzen seien. Als Erfahrungswissenschaft kann Rechtssoziologie nur sagen, was ist, nicht sagen, was sein soll. Wollte man die bloße Faktizität des Rechts auch als erstrebenswert und richtig hinstellen, das ideale Recht zum Beispiel mit einer schlechten Rechtspraxis gleichsetzen, würde man die ureigene Funktion des Rechts verkennen, das Sozialleben zu steuern und zu korrigieren (vgl. u. II 3 c gg). Es gibt nicht nur eine normative Kraft des Faktischen (G. Jellinek), sondern auch eine faktische Kraft des Normativen. Soziologische Jurisprudenz bedeutet also nur eine Berücksichtigung der Rechtstatsachen bei der erforderlichen juristischen Wertung, nicht eine Ersetzung dieser Wertung. Wertungen sind stets politische Entscheidungen, für die die Sozialwissenschaften nur die erforderlichen Unterlagen bereitstellen, die sie aber nicht mit wissenschaftlichen Mitteln als richtige oder unrichtige Wertsetzungen vorschreiben können. Je genauer man aufgrund der Sozialwissenschaften die konkreten Entscheidungsmöglichkeiten und ihre Auswirkungen analysieren kann, desto kleiner wird zwar der Bereich echter Wertentscheidung. Aber stets bleibt ein solcher Bereich, in dem es kein Richtig oder Falsch, sondern nur ein mehr oder weniger Plausibel oder Vertretbar gibt. Für das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik folgt daraus, was der Jurist Hermann Kantorowicz auf dem Ersten Deutschen Soziologentag im Jahre 1910 in Anlehnung an Kant als Leit3»

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II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie

satz prägte: „Dogmatik ohne Soziologie ist leer, Soziologie ohne Dogmatik ist blind". Allgemeiner gefaßt bedeutet das: Rechtssoziologie, die Grundlagenwissenschaft der soziologischen Jurisprudenz, ist eine echte Seins-Wissenschaft, die über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Wertentscheidungen nichts aussagen kann. Soziologische Jurisprudenz dagegen nimmt Wertungen vor, aber eben nur aufgrund umfassender Kenntnis des sozialen Befundes. Denn ohne die Kenntnis des lebenden Rechts, seiner Entwicklungsgesetze und der „Gesetze" seiner Wirksamkeit ist eine wissenschaftlich begründete Gesetzgebung und Rechtsfindung nicht möglich. Rechtswissenschaft i. e. S. (soziolog. Jurisprudenz)

Rechtssoziologie

Wertung sozialer Sachverhalt empirisch

Rechtstatsachenforschung

theoretisch

II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie 1. Zur geschichtlichen Entwicklung der Rechtssoziologie a) Vorläufer der Rechtssoziologie Es ist wenig sinnvoll, von einer Rechtssoziologie zu sprechen, bevor die eigentliche Soziologie begründet wurde. Wollte man nach Äußerungen suchen, die in rechtssoziologischer Fachsprache interpretiert werden könnten, so müßte man bereits bei Aristoteles mit seiner Nikomachischen Ethik und seiner Politik oder noch früher anfangen. Die Geschichte der Rechtssoziologie würde in diesem Falle mit der Geschichte der Rechtsphilosophie zusammenfallen; denn solange man sich über das Wesen des Rechts Gedanken gemacht hat, sind auch Äußerungen getan worden, die in das Gebiet der Rechtssozio-

1. Zur geschichtlichen Entwicklung der Rechtssoziologie

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logie fallen. Doch das beiläufige Erarbeiten einer Idee ist nicht dasselbe wie die präzise Formulierung und systematische Anwendung einer Theorie (Mertott). Als Beginn der Rechtssoziologie wird von vielen das Jahr 1748 angegeben, in dem Montesquieu sein berühmtes Werk „De l'esprit des lois" veröffentlichte. Das-ist insoweit berechtigt, als Montesquieu bereits die Interdependenz von Recht und Sozialleben beschrieb und im Gegensatz zur damals herrschenden Vernunftsrechtslehre hervorhob, daß die Durchsetzbarkeit der von einem Gesetzgeber aufgestellten Gebote von einer Reihe sozialer Bedingungen abhängig ist, die nicht überall die gleichen, sondern je nach Gesellschaftstypen verschieden sind. Die Durchführung dieses Gedankenganges im einzelnen kann man jedoch mit Carbonnier nur als vorwissenschaftlich bezeichnen, so daß auch Montesquieu nur zu den Vorläufern der Rechtssoziologie gerechnet werden kann (vgl. E. Ehrlich: Montesquieu and Sociological Jurisprudence, Harvard Law Review 29, 1916, S. 5 8 2 - 6 0 0 ) . Auch die drei großen Begründer der allgemeinen Soziologie haben zur Rechtssoziologie kaum etwas beigetragen. Das liegt daran, daß die Soziologie aus einer rechtsfeindlichen Haltung heraus entstanden ist ( T i m a s h e f f ) . Auguste Comte sah unter dem Einfluß der historischen Rechtsschule die Gesetzgebung als einen zum Scheitern verurteilten Versuch an, das organisch sich entwickelnde Recht in seiner Entwicklung aufzuhalten und zu ändern. Er prophezeite daher in irriger Identifizierung von Recht und Gesetz das allmähliche Verschwinden des Rechts. Die gleiche Prophezeiung machte bekanntlich auch Karl Marx, indem er unter Recht ein System der Machtausübung in der politisch organisierten Gesellschaft verstand und glaubte, daß ein solches Ordnungssystem nur in einer Klassengesellschaft notwendig sei. Herbert Spencer hingegen sah das Recht als positivierten Brauch und entwickelte unter dem Einfluß von Maine und damit von Kant seine Idee von der Gerechtigkeit als dem „law of equal freedom". Auch zwei von der Rechtsgeschichte herkommende bedeutende Autoren, nämlich Henry Sumner Maine (Ancient Law, 1861) und Rudolph von Jhering (Der Zweck im Recht, 2 Bde. 1877/83) gehören nur zu den Vorläufern der Rechtssoziologie, und zwar Jhering we-

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II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie

gen seiner mangelnden Kenntnis der Soziologie (Chr. Helfer in Kölner Zeitschrift für Soziologie 20,1968, S. 558: „Musterstück eines gelehrten Dilettantismus") und Maine wegen seiner Beschränkung auf die Erforschung von Entwicklungstendenzen des Rechts. b) Begründer der Rechtssoziologie Die Rechtssoziologie im strengen Sinne begann erst um die Jahrhundertwende, und zwar zunächst schwerpunktmäßig in fünf Ländern. Klammert man nämlich die kriminologisch arbeitende soziologische Schule des Strafrechts aus, die von Lombroso, Ferri, Tarde und Franz v. Liszt bis zur heutigen défense sociale reicht, so erschienen die ersten größeren rechtssoziologischen Arbeiten, weitgehend unabhängig voneinander, im deutschsprachigen Raum (Eugen Ehrlich), in Frankreich (Emile Dürkheim), in Rußland (Leo von Petrazycki), in Schweden (Axel Hägerström) und in den USA (Roscoe Pound). (1) Eugen Ehrlich unterteilt den Rechtsstoff in staatliches Recht, Juristenrecht und gesellschaftliches Recht. Diese vermischen sich zum außerstaatlichen „lebenden Recht", dem Forschungsgegenstand der Rechtssoziologie. Die treibende Kraft der Rechtsentwicklung liegt aber schwerpunktmäßig beim gesellschaftlichen Recht. Daher ist in der Regel eine kulturelle Verspätung der Rechtssysteme hinter den sie tragenden sozialen Systemen festzustellen. (2) Auch Dürkheim bekämpft die Gleichsetzung von Recht und Gesetz, betrachtet das Recht als „soziale Tatsache" und untersucht die Beziehungen zwischen den verschiedenen Rechtstypen und den Gesellungsformen. Dabei kommt er jedoch über die Einteilung der Rechtstypen in repressives und restitutives Recht und die entsprechende Unterteilung der Gesellungsformen in die mechanische Solidarität durch Interessengleichheit und die organische Solidarität durch Funktionsteilung nicht hinaus. (3) Der im vorrevolutionären Rußland lebende polnische Rechtslehrer Petrazycki sucht das Recht „in der Psyche des das Recht erlebenden Objekts". Er sieht es daher als eine besondere Art psychischer Erfahrung an, die dem einzelnen befiehlt, etwas zu tun, und ihm andererseits (im Gegensatz zur Moral) das „Recht" gibt, eine Befolgung von anderen zu verlangen. Dabei wird zwischen vertei-

1. Zur geschichtlichen Entwicklung der Rechtssoziologie

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lender und organisatorischer Wirkung rechtlicher Motivationen unterschieden. (4) Der große Anreger der skandinavischen Rechtssoziologie und Begründer der sog. Uppsala-Schule war Axel Hägerström, dessen erkenntnistheoretische Arbeiten ihn zur Ablehnung jeglicher Metaphysik und zur Negation eines Absolutheitsanspruchs von Werturteilen führten und der in seinen rechtssoziologischen Schriften gegen Naturrecht und Rechtspositivismus kämpfte. Er betrachtete es als Aufgabe der Rechtssoziologie, die Ideen zu erforschen, die das Rechtsleben konstitutiv bestimmen. (5) Roscoe Pound, der das berühmte Wort vom Recht als social engineering prägte, stellte der von ihm vertretenen sociological jurisprudence acht Aufgaben, nämlich 1. Untersuchung der jeweiligen sozialen Wirksamkeit rechtlicher Institutionen, rechtlicher Vorschriften oder Lehrmeinungen. 2. Soziologische Untersuchungen zur Vorbereitung von Gesetzgebungsarbeiten. 3. Erforschung der Mittel, Rechtsvorschriften effektiv zu machen. 4. Studium der juristischen Methode, und zwar psychologische Untersuchung richterlicher, verwaltender, gesetzgeberischer und rechtsgeschäftlicher Vorgänge sowie philosophische Untersuchung der diesen zugrunde liegenden Wertvorstellungen. 5. Erarbeitung einer soziologischen (kausalen) Rechtsgeschichte. 6. Erforschung des Spannungsfeldes zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit. 7. Einrichtung eines Rechtspflegeministeriums, das sich mit der systematischen Überwachung des Rechts und seiner Anpassung an die soziale Entwicklung beschäftigt. 8. Verstärkte Bemühungen, die Zielvorstellungen der Rechtsordnung zu verwirklichen. c) Bedeutende Rechtssoziologen der letzten 50 Jahre (1) Max Weber, der bedeutendste Soziologe deutscher Sprache, hat in seinem großen Nachlaß werk „Wirtschaft und Gesellschaft" auch Ausführungen über das Recht gemacht, die zu den klassischen Darlegungen der Rechtssoziologie gehören. Er zieht aus historischer Rechtsvergleichung die Folgerung, daß die Rechtsschöpfung sich regelmäßig von charismatischer Offenbarung durch den rechtsfindenden Propheten zur rationalen Rechtsschöpfung und Verwaltungspraxis durch einen spezialisierten Rechtsstab, die Rechtstechnik sich demgemäß von magischem Formalismus zu utilitaristischem Rationalismus entwickelt.

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II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie

Arthur Nussbaum forderte „die systematische Untersuchung der sozialen, politischen und anderen tatsächlichen Bedingungen, aufgrund derer einzelne rechtliche Regeln entstehen, und die Prüfung der sozialen, politischen und sonstigen Wirkungen jener Normen". Er begründete die von ihm sog. Rechtstatsachenforschung, eine empirische Rechtssoziologie, die „auf die besonderen Bedürfnisse des Juristen" ausgerichtet ist. Nach dem zweiten Weltkrieg (1947) erschienen die in der Emigration entstandenen Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts von Theodor Geiger. Geiger zeigt die metaphysischen und ideologischen Elemente verschiedener Rechtslehren auf und versucht, im Wege „differenzierender Begriffsanalyse" einen „klar gestimmten und eindeutigen Begriff des Rechtes als soziale Erscheinung" herauszuarbeiten, indem er in „verstehender, explikativer Konstruktion" den historischen Entwicklungsprozeß des Rechts nachzeichnet. Dabei kommt es ihm darauf an, den theoretischen Wertnihilismus der Uppsala-Schule zu einem praktischen Wertnihilismus zu machen. Werturteile sind wissenschaftlich unzulässige Objektivationen positiver oder negativer Gefühle, die eine Erfahrungswissenschaft nur als „psychologische Merkwürdigkeiten verzeichnen und analysieren" kann. Deshalb ist auch dem Recht keine objektive Geltung eigen. Die Wirklichkeit des Rechts besteht vielmehr nur in seiner Wirkungschance. Besonders interessante Einzelthemen der Vorstudien sind die Probleme: Recht und Moral, Recht und Macht sowie Rechtsbewußtsein. Die Wiederbegründung der deutschen Rechtssoziologie nach dem Kriege ist Ernst E. Hirsch zu danken, der dieses Fach nach seiner Rückkehr aus der Emigration an der Freien Universität Berlin zum ordentlichen Lehr- und Prüfungsfach machte und das im deutschsprachigen Raum zeitlich erste Institut für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung begründete. Konfrontiert mit den Problemen der Rezeption europäischen Rechtsguts in der Türkei betonte er den Unterschied zwischen der doppelten Idealität und der Realität des Rechts, d. h. zwischen dem, was nach angeblich absoluten, jedoch nach Religion, Weltanschauung, Kulturkreis verschiedenen Wertvorstellungen rechtens sein sollte, dem, was nach den kollektiven Wertvorstellungen einer wechselnden, jeweils konkreten rechtssetzenden Gewalt als mit Sanktionen bestückte Verhal-

1. Zur geschichtlichen Entwicklung der Rechtssoziologie

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tensnorm rechtlich postuliert wird, und dem, was von der Bevölkerung realiter als Recht betrachtet und respektiert und im Konfliktsfall von den Mitgliedern des Rechtsstabes als Recht anerkannt und angewandt wird. Das jeweilige So-Sein der Rechtsordnung in einem bestimmten Gesellschaftsintegrat ist eine Funktion des Soziallebens, d. h. es wird durch bestimmte, wissenschaftlich feststellbare konstante und variable Faktoren beeinflußt. Diese gilt es festzustellen und in ihrem Wirkungszusammenhang zu erforschen; denn nur so läßt sich das Recht als „ H e b e l " für gezielte Veränderungen des Soziallebens verwenden. Bemerkenswert ist auch der Versuch von Niklas Luhmann, die soziologische Systemtheorie für die Analyse des Rechts fruchtbar zu machen und Rechtssoziologie als Systemtheorie zu betreiben, ferner die philosophisch orientierte, „verstehend-nachkonstruierende" Rechtssoziologie von H. Ryffel. (2) Die französische Rechtssoziologie wurde zunächst durch die Durkheim-Schule bestimmt ( M a r c e l Mauss, Paul Fauconnet, Geor-

ges A. Davy, Léon Duguit, Henri Lévy-Bruhl), die in Franz Jerusa-

lem auch ein Mitglied in Deutschland hatte. Auch die juristische Institutionenlehre von Maurice Hauriou kann zur Rechtssoziologie gezählt werden. Der heute führende Rechtssoziologe ist Jean Car-

bonttier.

(3) Aus der Auseinandersetzung mit der sociological jurisprudence von Roscoe Pound entstand der legal realism von Karl N. Llewellyn. Recht ist für Llewellyn eine im Sozialleben wirkende Institution, die die Aufgabe der Gruppenintegration mit Hilfe verschiedener Teilfunktionen (law-jobs) erfüllt. Diese Institution wird durch den Rechtsstab (die law-men) gelebt, dessen Praktiken die Rechtssoziologie zu erforschen hat. Dieser Rechtsstab versucht, die rechtlich vorgeschriebenen Verhaltensmuster in der Rechtsgemeinschaft durchzusetzen. Es kommt daher häufig zu einem Kampf zwischen law-supporter und law-consumer, von dessen Ausgang die Wirksamkeit der Rechtssätze abhängt. Stärker empirisch ausgerichtet und als Hilfe für die Gesetzgebung gedacht ist die experimental jurisprudence von Frederick K. Beutel (vgl. o. I 2 b); eine enzyklopädische Zusammenschau findet sich bei

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II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie

Julius Stone. Der heute führende amerikanische Rechtssoziologe ist Lawrence M. Friedman. (4) Auch in den übrigen Rechtskreisen sind bedeutende rechtssoziologische Arbeiten erschienen. Neben den Petrazycki-Schülern Timasheff, Sorokin und Gurvitch ist für Skandinavien Vilhelm Aubert, für Italien Renato Treves, für Polen Adam Podgorecki und für die Schweiz Dietrich Schindler zu nennen. Zur Situation in den einzelnen Ländern vgl. des näheren Manfred Rehbinder: Sociology of Law. A Trend Report and Bibliography (Current Sociology Vol. X X No. 3), 1975.

2 . Themen rechtssoziologischer Forschung und rechtssoziologische Studienliteratur Die folgende Gliederung stellt den Versuch dar, die Gesamtthematik der Rechtssoziologie im Überblick zu bieten. Dazu sei hervorgehoben, daß die einzelnen Untergliederungen nicht als erschöpfende Aufzählung gedacht sind, sondern nur Spezialgesichtspunkte darstellen, die Raum für weitere Untergliederungen lassen. A. Das Recht als soziales Handlungssystem I. Allgemeines 1. Der soziologische Rechtsbegriff a) Die Abgrenzung des Rechts von den anderen Sozialordnungen (Moral, Sitte, Konvention usw.) b) Die verschiedenen Rechtsarten (Pluralismus der Rechtsordnungen in der Gesellschaft) 2. Die Aufgaben (Funktionen) des Rechts 3. Das Recht im Zusammenspiel mit anderen Sozialordnungen II. Das Rechtswesen 1. Die Organisation des Rechtswesens a) Die verschiedenen Institutionen des Rechtswesens (Parlamente, Gerichte, Behörden, Gefängnisse, Polizei, Universitäten, Rechtsanwaltskammern, Bibliotheken usw.) b) Ihre Beziehungen untereinander

2. Themen rechtssoziologischer Forschung; Studienliteratur

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2. Der Rechtsstab (die Positionen im Rechtssystem) a) Der Gesetzgeber b) Die Justiz (der Richter — Berufsrichter, Laienrichter —, der Rechtspfleger, der Schiedsmann) c) Die Verwaltung (Polizei, Staatsanwalt, Strafvollzugsdienst, Gerichtsvollzieher) d) Die Rechtsberatung (Rechtsanwälte, Prozeßagenten, Steuerberater) e) Das Notariat f) Wirtschafts- und Verbandsjuristen g) Juristische Fachschriftsteller h) Rechtslehrer 3. Ausbildung und Zugang zu den Rechtsberufen 4. Der Rechtsgang (legal procedure) III. Das Handeln des Rechtsstabes 1. Eigenart und Verschiedenheit der Rechtstechniken (legal process) 2. Die praktische Bedeutung einzelner Kategorien des juristischen Denkens (z. B. subjektives Recht, juristische Person) 3. Gesetzgebungstätigkeit (legislative behavior = stateways) 4 . Die Rechtspflege (law-ways) a) Richterrecht b) Verwaltungshandeln (einschließlich Handeln der Staatsanwaltschaft, der Polizei, des Vollzugsdienstes usw.) c) Kautelarjurisprudenz d) Verbandsrecht e) Professorenrecht B. Das Recht als Funktion des Soziallebens (genetische Rechtssoziologie) I. Soziale Einflüsse auf das Handeln des Rechtsstabes 1. Gesetzgebung (öffentliche Meinung, Interessengruppen, Sachverständige) 2 . Rechtsprechung (Sachverständige, Fachliteratur) 3. Verwaltung (Interessengruppen, Sachverständige)

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II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie

II. Recht als Ausdruck von Wertvorstellungen 1. Recht als Legitimierung der Macht 2. Gerechtigkeitsgefühl (Rechtsbewußtsein) 3. Naturrecht 4. Recht und Ideologie a) Nationalsozialismus im Recht b) Marxismus im Recht (Vorwurf der Klassenjustiz) III. Auswirkungen sozialen Wandels auf das Recht 1. Makrosoziologisch (Evolutionstheorie des Rechts) 2. Mikrosoziologisch (Wandel einzelner Rechtsnormen) IV. Typologie von Rechtssystemen (Recht und Kultur) C. Recht als Regulator des Soziallebens (operationale Rechtssoziologie) I. Die Wirkungsweise des Rechts (Recht als Ordnungstyp) II. Die Wirksamkeit des Rechts (das Verhalten der Rechtsunterworfenen = folkways) III. Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Rechts 1. Rechtskenntnis (Lernen von Rechtsnormen) 2. Rechtsethos (Achtung vor dem Recht) 3. Der Legitimitätsglaube 4. Die Bedeutung rechtlicher Sanktionen 5. Die Absicherung durch außerrechtliche Normen IV. Gründe für die Unwirksamkeit des Rechts 1. Grenzen der Wirksamkeit des Rechts 2. Recht und abweichendes Verhalten V. Insbesondere: Recht als Hebel sozialer Veränderungen Eine Zusammenstellung der internationalen Literatur, die bisher zu den einzelnen Gliederungspunkten erschienen ist, findet sich bei M. Rehbinder: Internationale Bibliographie der rechtssoziologischen Literatur, 2. Aufl. 1977. Abschließend seien einige Werke aufgeführt, die sich gut als weiterführende Studienliteratur eignen. Die Liste ist notwendig unvollständig. Mit der Aufnahme oder Nichtaufnahme einzelner Titel ist keine besondere Wertung verbunden. Niemand sollte jedoch an der heute immer noch führenden Rechtssoziologie von Theodor Geiger vorübergehen.

2. Themen rechtssoziologischer Forschung; Studienliteratur Frederick

K.

Beutel:

Erhard Blankenburg: Jean Carbonnier: Eugen Ehrlich: Eugen

Ehrlich:

Lawrence M. Friedman/ Stewart Macaulay: Lawrence M. Friedman: Theodor

Geiger:

Georges

Gurvitch:

Oskar Hartwieg: Ernst E. Hirsch: Ernst E. Manfred

Hirsch/ Rehbinder:

Stig ] Orgensen: Karl N. Llewellyn: Niklas Luhmann: 'Werner Maihofer: Arthur Nußbaum: Roscoe Thomas

Pound: Raiser:

Hans Ryffel: Geoffrey Sawer: Julius Stone: Nicholas S. Timasheff: Max Weber: Hans

Wüstendörfer:

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Experimentelle Rechtswissenschaft, 1 9 7 1 ; Experimental Jurisprudence and the Scienstate, 1975 Empirische Rechtssoziologie, 1975 Rechtssoziologie, 1974 Grundlegung der Soziologie des Rechts, 3. Aufl. 1967 Recht und Leben, hrsg. von M . Rehbinder, 1967 Law and the Behavioral Sciences, 2. Aufl. 1977 The Legal System. A Social Science Perspective, 1975 Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, hrsg. von Trappe, 2. Aufl. 1972 Grundzüge der Soziologie des Rechts, 2. Aufl. 1974 Rechtstatsachenforschung im Übergang, 1975 Rechtssoziologie, in Gottfried Eisermann: Die Lehre von der Gesellschaft, 2. Aufl. 1969 Studien und Materialien zur Rechtssoziologie. Sonderheft 11 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2. Aufl. 1971 Recht und Gesellschaft, 1971 Jurisprudence. Realism in Theory and Practice, 1962 Rechtssoziologie, 2 Bde. 1972 Ideologie und Recht, 1969 Die Rechtstatsachenforschung, hrsg. von M . Rehbinder, 1968 Sociology of Law, in Georges Gurvitch: Twentieth Century Sociology, 1945 Einführung in die Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1973 Rechtssoziologie, 1974 Law in Society, 1965 Lehrbuch der Rechtssoziologie, 3 Bde. 1976 An Introduction to the Sociology of Law, 1939 Rechtssoziologie, hrsg. von J. Winckelmann, 3. Aufl. 1973 Zur Methode soziologischer Rechtsfindung, hrsg. von M . Rehbinder, 1971

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II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie

3. Drei Klassiker der Rechtssoziologie a) Eugen Ehrlich Die Pionierarbeit der internationalen Rechtssoziologie war das Werk des Österreichers Eugen Ehrlich (1862-1922). Leben und Wirken dieses bedeutenden Gelehrten sowie die Bewertung seiner Arbeit aus heutiger Sicht werden ausführlich dargelegt in M. Rehbinder: Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 1967. Ehrlich stellte seiner berühmten „Grundlegung der Soziologie des Rechts" ( 1 9 1 3 , 3. Aufl. 1967) die folgenden Worte voran: „Es wird oft behauptet, ein Buch müsse so sein, daß man seinen Sinn in einem einzigen Satz zusammenfassen könne. Wenn die vorliegende Schrift einer solchen Probe unterworfen werden sollte, so würde der Satz etwa lauten: der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst. Vielleicht ist in diesem Satz der Sinn jeder Grundlegung einer Soziologie des Rechts enthalten." Auf diesen Grundsatz im wahren Sinne des Wortes baut Ehrlich sein System der Rechtssoziologie auf. Dieses System wiederzugeben ist deshalb besonders schwierig, weil Ehrlich im Grunde ein ganz „unsystematischer" Denker war, der es liebte, seine Ideen mit vielen Exkursen in mehr oder weniger essayistischer Form vorzutragen. Gleichwohl soll versucht werden, das Wesentliche in Kürze zusammenzufassen. aa)

Das Recht schaftliches

als selbsttätige Recht)

Ordnung

der Gesellschaft

(gesell-

(1) Recht als Organisation menschlicher Verbände Wenn die Rechtsentwicklung vornehmlich durch die Gesellschaft bestimmt wird, so ist unter Gesellschaft die Gesamtheit der menschlichen Verbände zu verstehen. Diese Verbände sind entweder einfach und ursprünglich wie die Sippe, die Familie oder die Hausgemeinschaft, oder sie sind größer und zusammengesetzt wie der Verein, die Kirche, die Gemeinde, der Staat oder rein wirtschaftliche Verbände wie ein Landgut oder eine Fabrik. Die älteste und ursprünglichste Form des Rechts ist nichts weiter als die innere Ord-

3. Drei Klassiker der Rechtssoziologie: a) Eugen Ehrlich

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nung dieser Verbände. Ein Verband kann nur bestehen, wenn es ordnende Regeln gibt, die jedem Verbandsangehörigen seine Stellung innerhalb des Verbandes, seine Über- und Unterordnung und seine Aufgaben anweisen: „Im herrschenden Privatrechtssystem kommt jedoch der Verband nur sehr unvollkommen zum Ausdruck. Die analytische Methode der privatrechtlichen Juriprudenz hat es mit sich gebracht, daß die meisten Verbände in Stücke gerissen worden sind, um ihre Bestandteile als Rechtssubjekte und -objekte, als dingliche und persönliche Rechte einzeln unter das Vergrößerungsglas zu nehmen. Das mag praktisch geboten sein, ist aber jedenfalls unwissenschaftlich: ebenso wie die alphabetische Ordnung des Wörterbuches praktisch geboten, aber unwissenschaftlich ist. Die soziologische Rechtswissenschaft, durch keinerlei praktische Rücksichten gebunden, muß daher die auseinandergerissenen Glieder wieder zu einem Ganzen zu vereinigen suchen" (S. 34). (2) Die Entstehung des Rechts aus den Rechtstatsachen Mit der Inhaltsbestimmung des Rechts als Verbandsordnung ist noch nichts über die Rechtsquelle ausgesagt. Diese muß, da das Recht als gedankliches Gebilde nur in den Vorstellungen der Menschen lebt, in der greifbaren, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit liegen, die wie allen menschlichen Vorstellungen, so auch hier der Vorstellung vom Recht zugrunde liegt und aus deren Stoff die Rechtsvorstellung geformt wird. Die „Werkstätte des Rechts" ist also in bestimmten Tatsachen zu suchen, die sich beobachten lassen. Wenn nun das Recht als Organisation menschlicher Verbände eine Regel ist, die dem einzelnen seine Stellung und seine Aufgaben innerhalb eines Verbandes zuweist, dann kann es sich nur um solche Tatsachen handeln, an die der menschliche Geist derartige Regeln anknüpft. Diese Tatsachen lassen sich nach Ehrlich auf 4 Grundtypen beschränken, nämlich auf Übung, Herrschaft, Besitz und Willenserklärung. Zur letzteren gehören insbesondere der Vertrag, die Satzung und die letztwillige Verfügung. Jede Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung eines Verbandes beruht auf diesen Tatsachen, und die Rechtsordnung schließt sich notwendigerweise an sie an.

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II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie

Will man also das Verhältnis des Rechts zur Gesellschaft untersuchen, dann muß man mit dem Studium der Tatsachen des Rechts beginnen. Allerdings handelt es sich bei den Rechtsnormen, die unmittelbar aus den Rechtstatsachen fließen, nicht um Rechtssätze, mit denen sich die Rechtswissenschaft ausschließlich beschäftigt hat. Wenn frühere Bemühungen, das Recht ursächlich durch die Gesellschaft zu bestimmen und die Wechselwirkung von Recht und Gesellschaft aufzuhellen, bisher im wesentlichen erfolglos gewesen sind, so nach Ehrlich nur deshalb, weil man versucht hat, den Rechtssatz aus der Gesellschaft zu erklären. Der Rechtssatz ist dabei eine typische Erscheinungsform des später zu behandelnden Juristenrechts und der Gesetzgebung und entsteht nirgends unmittelbar aus der Gesellschaft selbst. Rechtssatz ist nämlich eine in Worte gefaßte, weitgehend abstrakte Norm, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Aus der Gesellschaft, d. h. aus den Tatsachen des Rechts innerhalb eines Verbandes, entsteht aber zunächst nur die konkrete Ordnung eines bestimmten Verhältnisses, die Rechtsnorm. Erst von dieser Rechtsnorm wird später für bestimmte Zwecke und in einem verwickelten sozialen Prozeß (Juristenrecht) der Rechtssatz abgeleitet. Sein Zusammenhang mit der Gesellschaft ist folglich viel loser und mittelbarer. Der Ableitungsprozeß ist kein rein geschichtlicher Vorgang. Auch heute findet sich ein Nebeneinander von Rechtssatz und Rechtsnormen, die oft ohne wörtliche Fassung unmittelbar aus den Rechtstatsachen entstehen und zuweilen nur in Kleinstverbänden gelten. Kein Gesetzbuch gibt ein richtiges Bild von der wirklichen, gelebten Ordnung innerhalb eines bestimmten Verbandes. Nur ein kleiner Bruchteil der Lebenssachverhalte kommt vor Behörden oder Gerichte. Im täglichen Leben entscheiden überwiegend die Tatsachen des Rechts. Trotz desselben Gesetzestextes gibt es kaum zwei gleiche Familien, Gemeinden, Vereine, Fabriken, Verträge und dergl. In jedem Verband herrscht eine andere Ordnung. Jeder Verband bekommt erst sein spezifisches Gesicht durch die Ordnung, die er sich selbst gibt. (3) Das Verhältnis des Rechts zu den anderen gesellschaftlichen Ordnungssystemen Die von den Rechtstatsachen erzeugten Rechtsnormen werden im wesentlichen mit gesellschaftlichen Mitteln durchgesetzt. Es gehört

3. Drei Klassiker der Rechtssoziologie: a) Eugen Ehrlich

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zu Ehrlichs Hauptthesen, daß rechtliche und außerrechtliche Normen artverwandt sind, weil alle Normen Regeln des menschlichen Handelns sind und dadurch Organisationsfunktion haben. Infolgedessen wendet er sich mit aller Schärfe gegen die hergebrachte und heute herrschende Unterscheidung, die Rechtsnorm sei im Gegensatz zu anderen Normen erzwingbar, wobei die Erzwingbarkeit im spezifischen Rechtszwang, nämlich im Straf- und Vollstreckungszwang gesehen wird. Dieser Rechtszwang, so meint Ehrlich, spielt keinesfalls die Rolle, die man ihm weithin zugesteht: „Wird ein Mitglied den Vereinsvorstand klagen, weil er ihm das Lesezimmer nicht zur Verfügung stellt, der Dienstgeber das Stubenmädchen, weil es die Wohnung nicht aufgeräumt hat? Was könnte ihm eine solche Klage nützen? Der Schadenersatzanspruch gewährt auch keinen Schutz; soviel auch einem an seinem Rechte gelegen sein mag, nachträglich wird er doch keinen Schaden nachweisen können, der der Rede wert wäre. Erst wenn der Verpflichtete durch ein derartiges Vorgehen das Verhältnis zu einem unhaltbaren gemacht hat, wird dem Berechtigten in wirksamer Weise das Rechtsmittel gewährt, die Auflösung und Schadenersatz zu verlangen; ein Rechtszwang gegen den anderen Teil, seine Pflichten zu erfüllen, liegt darin umsoweniger, als er ja sehr häufig gerade die Lösung des Verhältnisses gegen Schadensersatz herbeizuführen durch sein rechts- und vertragswidriges Verhalten beabsichtigt. Die Ordnung in der menschlichen Gesellschaft beruht darauf, daß Rechtspflichten im allgemeinen erfüllt werden, nicht darauf, daß sie klagbar sind" (S. 17). Wenn man das Zwangsmoment als dem Recht begriffswesentlich ansieht, so ist daran soviel richtig, daß es ohne einen gewissen Zwang, d. h. zumindest ohne die Vorstellung von Nachteilen bei Zuwiderhandlung, keine gesellschaftliche Regel gibt. Das gilt insbesondere auch für andere gesellschaftliche Ordnungssysteme. Auch die Normen der Sitte, der Sittlichkeit, der Religion, des Taktes, des Anstandes, des guten Tones und der Mode werden, zumindest was das äußere Befolgen ihrer Gebote anlangt, durch Zwang der Verbände, durch sozialen Druck durchgesetzt; denn wer sich ihnen beharrlich widersetzt, wird aus den Kreisen, für die sie gelten, ausgeschlossen. Zwang, verstanden als sozialer Druck, ist also keine Eigentümlichkeit der Rechtsnorm. „Die Frage nach dem Gegensatz der Rechtsnorm und der außerrechtlichen Normen ist nicht eine 4 Rehbinder, Rechtssoziologie

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II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie

Frage der Gesellschaftswissenschaft, sondern der gesellschaftlichen Psychologie. Die verschiedenen Arten von Normen lösen verschiedene Gefühlstöne aus, und wir antworten auf Übertretung verschiedener Normen nach ihrer Art mit verschiedenen Empfindungen. Man vergleiche das Gefühl der Empörung, das einem Rechtsbruch folgt, mit der Entrüstung gegenüber einer Verletzung des Sittengebotes, mit der Ärgernis aus Anlaß einer Unanständigkeit, mit der Mißbilligung der Taktlosigkeit, mit der Lächerlichkeit beim Verfehlen des guten Tones, und schließlich mit der kritischen Ablehnung, die die Modehelden denen angedeihen lassen, die sich nicht auf ihrer Höhe befinden. Der Rechtsnorm ist eigentümlich das Gefühl, für das schon die gemeinrechtlichen Juristen den so bezeichnenden Namen opinio necessitatis gefunden haben. Danach muß man die Rechtsnorm erkennen" (S. 132). Der Grund für die Verschiedenheit der Gefühlstöne bei den einzelnen Normenarten liegt in der verschieden großen Wichtigkeit dieser Normen für das Sozialleben. bb) Das Recht als Schöpfung der Juristen

(Juristenrecht)

(1) Die Entscheidungsnorm Recht ist also in erster Linie eine Organisationsform der Gesellschaft. Diese wird erst durch einen geistigen Umwandlungsprozeß zu dem, was der juristische Praktiker allein im Recht sieht, nämlich die Grundlage für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten. Letztere ist ein bloßes Schutzrecht, das nur dann in Erscheinung tritt, wenn die Verbandsordnung gestört wird. Seine Funktion ist, das durch einen Rechtsbruch in Unordnung geratene Verbandsleben, in dem das rechtlich geordnete Lebensverhältnis zu einem Streitverhältnis geworden ist, wieder zu befrieden. Es handelt sich hier also um eine Rechtsart zweiter Ordnung, die diejenigen Normen enthält, nach denen die Gerichte ihre Urteile fällen, die sog. Entscheidungsnormen. „Die Entscheidungsnorm ist wie alle gesellschaftlichen Normen eine Regel des Handelns, aber doch nur für die Gerichte, sie ist, wenigstens in erster Linie, nicht eine Regel für die Menschen, die im Leben wirken, sondern für die Menschen, die über diese Menschen zu Gericht sitzen. Insoweit die Entscheidungsnorm eine Rechtsnorm ist, erscheint sie daher als Rechtsnorm besonderer Art, verschieden von den Rechtsnormen, die allgemeine Regeln des Handelns enthalten"

3. Drei Klassiker der Rechtssoziologie: a) Eugen Ehrlich

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(S. 98). Im Gegensatz zu den Organisationsnormen entstehen die Entscheidungsnormen auch nicht unmittelbar aus der Gesellschaft. Sie sind vielmehr das Ergebnis der Rechtsschöpfung durch den Staat und durch die Juristen. Die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten, d. h. von Krankheitsfällen des Rechtslebens, ist in den Anfängen staatlicher Rechtspflege stets eine Entscheidung über Tatfragen, nämlich über die Tatsachen des Rechts. Rechtsfragen kann es noch nicht geben, weil es noch keine Rechtssätze gibt. Aber neben der Entscheidung über die Tatfrage, die die innere Ordnung des Verbandes feststellt, tritt noch die Entscheidung über die Rechtsfolge einer Verletzung dieser sich aus der Koordination des Gebarens selbsttätig entwickelnden Verbandsordnung. Diese letztere Entscheidung muß der Richter aus sich selbst heraus finden. Beide Entscheidungen zusammen ergeben die Entscheidungsnorm. (2) Die Entwicklung der Entscheidungsnorm zum Rechtssatz Nach dem Gesetz der Stetigkeit der Entscheidungsnormen dient die einmal gefundene Entscheidungsnorm als Richtschnur für künftige Entscheidungen. Zu diesem Zweck muß sie allerdings noch in die Form des Rechtssatzes gebracht werden, indem das dem Einzelfall Eigentümliche ausgesondert und das Allgemeingültige herausgearbeitet wird. Diese Umwandlung der Entscheidungsnorm in den Rechtssatz wird von den Juristen vorgenommen, und zwar durch den Richter in der Begründung späterer Entscheidungen (richterliches Juristenrecht), durch den Schriftsteller oder Lehrer (literarisches Juristenrecht), durch den Kautelarjuristen in der Neugestaltung von urkundlichen Klauseln oder durch den Gesetzgeber. Das gesetzliche Juristenrecht kommt dabei geschichtlich immer erst auf späterer Stufe auf, und zwar mit der staatlichen Aufzeichnung von Gewohnheitsrecht oder Richterrecht. Worin besteht aber nun die Tätigkeit der Juristen? „Im Sinne des heutigen juristischen Sprachgebrauches könnte man sagen: Jede Entwicklung der Jurisprudenz besteht in der Umwandlung einer Tatfrage in eine Rechtsfrage. Nur versteht man heute unter Tatfrage zwei Dinge, die einigermaßen verschieden sind. Einerseits ist es die innere Ordnung der Verhältnisse durch Übung, Satzung, Vertrag, Erbe, letzten Willen; andererseits ist Tatfrage die Verletzung dieser inneren Ordnung, die zum Rechtsstreit oder Strafverfahren Anlaß 4*

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II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie

gibt. Aber die Tatfrage im ersten Sinne ist ein Bestandteil der Tatfrage im zweiten Sinne . . . Die Tatfrage wird zur Rechtsfrage dadurch, daß sie dem juristischen Prozeß der Verallgemeinerung, Vereinheitlichung und freien Normenfindung unterworfen wird. Solange das nicht geschehen ist, gibt es keinen Gegensatz zwischen Tat- und Rechtsfragen. Der Jurist einer grauen Vergangenheit hatte mit lauter Tatfragen zu tun, da noch keine juristisch gefaßten Entscheidungsnormen vorhanden waren. Das Recht, das er zur Entscheidung der Fälle, die ihm vorkamen, brauchte, mußten ihm Herkommen, Zeugen und Urkunden liefern. Das waren lauter Tatfragen. Erst die Grundsätze, die sich aus den Entscheidungen über Tatfragen, erkannt und verallgemeinert, ergaben, waren die ersten Rechtssätze" (S. 281). Liegt eine Entscheidungsnorm oder ein Rechtssatz vor, dann scheint der Richter keine neuen Entscheidungsnormen mehr zu finden, sondern das Vorhandene anzuwenden. Aber auch hier findet er in Wirklichkeit stets neue Entscheidungsnormen; denn er muß immer neu darüber befinden, ob die vorhandene Norm oder der Rechtssatz auf den vorliegenden Einzelfall anwendbar ist. Auch die so gefundene neue Entscheidungsnorm wirkt dann nach dem Gesetz der Stetigkeit und verwandelt sich schließlich in einen Rechtssatz, so daß sich die Zahl der Rechtssätze in einer Gesellschaft fortwährend vermehrt. Bei der Normfindung und Verallgemeinerung steht der Jurist stets unter der Herrschaft gesellschaftlicher Einflüsse: der Machtverhältnisse, Zweckmäßigkeitserwägungen und gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen. Der Jurist ist insoweit nur ein Organ der Gesellschaft kraft amtlicher Stellung oder aufgrund des Ansehens und Vertrauens, das ihm entgegengebracht wird. Seine Ansicht ist aber zunächst nur ein Vorschlag, der sich im Kampf der Meinungen bewähren muß. cc) Das Recht als staatliche (staatliches Recht)

Zwangsordnung

Unter staatlichem Recht versteht Ehrlich alles Recht, das seinem Inhalt nach vom Staat ausgeht: „Es ist ein Recht, das nur durch den Staat entstanden ist und ohne Staat nicht bestehen könnte" (S. 110). Dabei ist gleichgültig, ob es sich in einem Gesetz, in einer Verordnung oder in der Rechtsprechung findet. Als Beispiel für die Entste-

3. Drei Klassiker der Rechtssoziologie: a) Eugen Ehrlich

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hung staatlichen Rechts in der Rechtsprechung erwähnt Ehrlich die Entstehung des Strafrechts in England. Wir würden heute etwa auf die Bemühungen der Verwaltungsgerichte um die Entwicklung eines Allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts hinweisen. „Die Grenze zwischen staatlichem Recht und Juristenrecht wird meist leicht zu bestimmen sein. Juristenrecht besteht zunächst in den von den Juristen durch Verallgemeinerung gewonnenen Entscheidungsnormen. Das staatliche Recht besteht in den Befehlen des Staates an seine Behörden" (S. 152). Staatliches Recht kommt also erst dann vor, wenn es eine zentral gelenkte, auf militärische und polizeiliche Machtmittel gestützte Rechtspflege und Verwaltung gibt. Es ist im Gegensatz zu den aus der Gesellschaft entstandenen Rechtsnormen in seiner Wirksamkeit entscheidend vom staatlichen Vollstreckungszwang abhängig. Das hat seinen Grund darin, „daß der Staat und ein großer Teil der Gesellschaft zueinander in Gegensatz getreten sind" (S. 60), so daß die Normen des Staates nicht mehr von der Gesellschaft einmütig akzeptiert und durch ihre eigenen Zwangsmittel durchgesetzt werden. Innerhalb des staatlichen Rechts können wir das Organisationsrecht als Inbegriff der Handlungsnormen des Staatsapparates und das Schutzrecht unterscheiden, das das gesellschaftliche oder staatliche Leben bei Streitfällen durch Handeln des Staatsapparates aufrechterhält. Sowohl im Organisationsrecht als auch im Schutzrecht finden sich die sog. Eingriffsnormen, die die Behörden anweisen, in das Sozialleben einzugreifen, ohne Rücksicht darauf, ob sie angerufen sind. Diese Eingriffsnormen nehmen entsprechend Adolf Wagners Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit ständig zu. Ehrlich glaubte aber zunächst, daß der Anteil dieser Eingriffsnormen mit dem Abbau des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft in Zukunft zurückgehen würde. Als er jedoch nach dem ersten Weltkrieg die Entwicklung zum sozialen Rechtsstaat beobachtete, gab er seinen Begriff der Eingriffsnormen auf und sprach von Verwaltungsnormen (Rehbinder, S. 52). dd) Das lebende Recht (1) Die Interdependenz von gesellschaftlichem Recht, Juristenrecht und staatlichem Recht

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II. Geschichte und Literatur der Rechtssoziologie

Ehrlich unterteilt den Rechtsstoff also in drei, dem Ursprünge nach verschiedene Normenkomplexe. Der erste besteht aus dem in der Gesellschaft selbsttätig entstandenen Organisationsrecht der menschlichen Verbände. Es enthält der Normenstruktur nach Handlungsnormen. Diese Handlungsnormen entstehen unmittelbar aus den Rechtstatsachen. Der zweite Normenkomplex ist das Juristenrecht. Es enthält zum kleinen Teil Handlungsnormen, die die Juristen schöpferisch (erstmals) aus den Rechtstatsachen ableiten. Zum überwiegenden Teil enthält es jedoch Entscheidungsnormen, die den durch Konflikt in Unordnung gebrachten Verband im Wege autoritativer Streitentscheidung wieder neu ordnen sollen. Ihrem Ursprünge nach handelt es sich jeweils um „Entdeckungen" des Juristenstandes. Der dritte Normenkomplex ist das seinem Inhalt nach staatliche Recht, das den Staat als übergeordneten Gesamtverband betrifft. Es besteht seiner Struktur nach aus Handlungsnormen, Entscheidungsnormen und Eingriffsnormen (Verwaltungsnormen). Staatliche Handlungsnormen sind diejenigen Regeln, durch die der Staat sich und seinen Behörden Stellung und Aufgaben vorschreibt: das Organisationsrecht des Staates. Staatliche Entscheidungsnormen sind diejenigen Regeln, nach denen der Staatsapparat auf Antrag, staatliche Eingriffsnormen (Verwaltungsnormen) diejenigen, nach denen er von Amts wegen in das gesellschaftliche Leben befehlend und gewährend eingreift. Quelle des staatlichen Rechts ist der Staat selbst, in erster Linie der Gesetzgeber. Alle diese drei Normenkomplexe stehen jedoch nicht unvermittelt nebeneinander. Wie das Verhältnis zwischen Rechtsnorm und Rechtssatz zeigt, sind gesellschaftliches Recht und Juristenrecht voneinander abhängig und inhaltlich miteinander verwoben. Denn jeder Rechtssatz entsteht als Gesamtwerk der Gesellschaft und der Juristen. Die Handlungsnormen der gesellschaftlichen Verbände werden von Juristen zu Rechtssätzen verallgemeinert und vereinheitlicht, die dabei als Organ der Gesellschaft wirken. Auch Juristenrecht und staatliches Recht stehen miteinander in Verbindung. So enthält jedes staatliche Gesetzbuch überwiegend legalisiertes Juristenrecht, da es im wesentlichen Umfang die bisherige Rechtsprechung und Literatur übernimmt oder nur abändert und ergänzt. Auch das gesellschaftliche Recht ist mit dem staatlichen Recht verknüpft, denn alle staatlichen Rechtssätze nehmen eine bestimmte

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Stellung zu den ständig in den Einzelverbänden neu entstehenden Handlungsnormen ein. (2) Das Recht als Hebel des Soziallebens Viel zu wenig im Werke von Ehrlich beachtet sind seine Ausführungen darüber, daß die Reaktion des staatlichen Rechts auf das aus den Rechtstatsachen fließende, gesellschaftliche Recht auch negativ sein kann. Ehrlich betont sehr nachdrücklich, daß es auch Rechtssätze gibt, die bestehende Tatsachen des Rechts verneinen oder neue Tatsachen des Rechts schaffen. Aufgrund dieser Rechtssätze greifen Behörden und Gerichte in die freie gesellschaftliche Entwicklung ein und zerstören bzw. ändern Übungen, Herrschaftsverhältnisse, Besitzlagen und Willenserklärungen oder begründen solche neu. Denn „der Rechtssatz ist nicht nur das Ergebnis, er ist auch ein Hebel der gesellschaftlichen Entwicklung, er ist für die Gesellschaft ein Mittel, in ihrem Machtkreise die Dinge nach ihrem Willen zu gestalten. Durch den Rechtssatz erlangt der Mensch eine wenn auch beschränkte Macht über die Tatsachen des Rechts; im Rechtssatz tritt eine gewollte Rechtsordnung der in der Gesellschaft selbsttätig entstandenen Rechtsordnung gegenüber" (S. 164). „So kommt es, daß das Gesetz, in wirtschaftlich oder politisch bewegten Zeiten, immer Wirkung und Ursache zugleich, als wichtigster Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts gelten kann. Deswegen haben auch revolutionäre Parteien, die den Staat, von dem es ausgeht, kräftig bekämpfen, noch oft genug nach gesetzlichen Eingriffen gerufen, während konservative Richtungen, die den Staat stützen, seinem Werk in der Stille mißtrauen. Aber auch im ruhigen Flusse der Ereignisse, wie oft hat sich das Gesetz als ein unentbehrliches Werkzeug erwiesen, um rückständige Einrichtungen zu beseitigen und berechtigte, nach Anerkennung ringende Interessen zur Geltung zu bringen" (S. 149 f.). (3) Der soziologische Rechtsbegriff Ein Rechtssatz, mag er zum staatlichen Recht oder zum Juristenrecht gehören, hat aber nur dann gesellschaftliche Wirkung (Rechtsrealität), wenn er auf die Tatsachen des Rechts wirkt, d. h. wenn er die in der Gesellschaft herrschenden Übungen, Herrschafts- und Besitzverhältnisse, Verträge, Satzungen oder letztwilligen Verfügungen in seinem Sinne formt und gestaltet. Hinsichtlich dieser gesellschaftlichen Wirkung muß zwischen den teils dem Juristenrecht,

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teils dem staatlichen Recht angehörigen Rechtssätzen unterschieden werden, die bloß die Gerichte und die staatlichen Behörden anweisen, wie sie Rechtsstreitigkeiten entscheiden, die durch die Beteiligten vor sie gebracht werden (Entscheidungsnormen), und den ausschließlich staatliches Recht enthaltenden sog. Eingriffsnormen (Verwaltungsnormen), die den staatlichen Behörden in bestimmten Fällen ein Vorgehen von Amts wegen ermöglichen. Bei einer bloßen Entscheidungsnorm ist die tatsächliche Wirksamkeit immer sehr fraglich; denn wenn die Parteien ihren Rechtsstreit gar nicht oder nur vereinzelt vor die Gerichte bringen, so fällt der Rechtssatz ins Leere. Jedes Gesetzbuch enthält eine Unmenge von Entscheidungsnormen, die am Leben spurlos vorbeigehen. Viel wirksamer sind dagegen in der Regel die Eingriffsnormen. Diese sind aber nur in beschränktem Umfange zu verwenden, weil sie mit einem hohen Aufwand an Mitteln und mit großer Belästigung der Bevölkerung verbunden sind. Das bedeutet, daß Änderungen des Rechts im wesentlichen nicht in den Rechtssätzen, sondern meist unabhängig von den Rechtssätzen in den Tatsachen des Rechts vor sich gehen. Diese Veränderung aufgrund gesellschaftlichen Wandels wirkt notwendigerweise auf die Rechtssätze zurück, vor allem auf die des Juristenrechts, die ja nur eine Verallgemeinerung gesellschaftlicher Rechtsnormen im engeren Sinne sind, aber auch auf die des staatlichen Rechts, die sich im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung auf ganz andere Tatsachen beziehen, als zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Das Gesamtbild dieser ständig im Fluß befindlichen Rechtswirklichkeit, die das Ergebnis des Zusammenspiels von gesellschaftlichem Recht, Juristenrecht und staatlichem Recht ist, wird von Ehrlich mit dem oft mißverstandenen Ausdruck „lebendes Recht" gekennzeichnet. Da die Rechtswirklichkeit allein in den Rechtstatsachen beobachtet werden kann, definiert Ehrlich das lebende Recht als „das nicht in Rechtssätzen festgelegte Recht, das aber doch das Leben beherrscht" (S. 399). Das darf nicht dazu verleiten, das lebende Recht mit dem gesellschaftlichen Recht gleichzusetzen. Gesellschaftliches Recht sind nur die in der Gesellschaft selbsttätig entstandenen Lebensformen. Lebendes Recht ist dagegen ein gesellschaftliches Recht auf höherer, nämlich auf einer durch Reaktion auf Juristenrecht und staatliches Recht beeinflußten Stufe. Auf dieser höheren Stufe ist Recht eine tatsächlich gelebte Ordnung, die

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Rechtsnorm eine Regel des gesellschaftlichen Handelns: „Nur was ins Leben tritt, wird lebende Norm, das andere ist nur Lehre, Entscheidungsnorm, Dogma oder Theorie" (S. 33). Der Rechtsbegriff einer Wirklichkeitswissenschaft vom Recht ist damit nicht der „praktische Rechtsbegriff" (Kap. I) der nur die Rechtssätze berücksichtigenden praktischen Jurisprudenz, sondern ein wissenschaftlicher Rechtsbegriff. Dieser wissenschaftliche Rechtsbegriff sieht allein auf den aktuellen Zustand der gesellschaftlichen Rechtstatsachen. Ist aber der Staat ein Organ der Gesellschaft und folgt dementsprechend das staatliche Recht der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung und Machtlage und ist ferner der Jurist ein Vertreter der Gesellschaft, der die Rechtssätze aus den gesellschaftlichen Rechtsnormen formt, dann kann der Schwerpunkt jeder Rechtsentwicklung, wie Ehrlich in seiner Vorrede sagt, weder in der Staatstätigkeit noch in der Tätigkeit der Juristen gesehen werden, sondern nur in der Gesellschaft selbst. ee) Ehrlich und die Freirechtslehre Ehrlichs Rechtssoziologie behandelt also den Fragenkreis: Wie wächst und entsteht das Recht in der Gesellschaft; von welcher Art sind die gesellschaftlichen Kräfte, die es gestalten, bis es die Form des Rechtssatzes annimmt; wie entwickelt es sich in dieser Form weiter und wie wirkt es auf die Gesellschaft zurück? Er nannte sein Werk bewußt: Grundlegung der Soziologie des Rechts, weil er sah, daß er diesen Fragenkreis in einem Buch nicht erschöpfend behandeln konnte. Als eine der seiner Meinung nach notwendigen Ergänzungen empfand er die Behandlung der Frage, wie nun die Rechtsrealität, d. h. das in den Rechtstatsachen wirksame „lebende Recht", das die Rechtssoziologie als theoretische (reine) Rechtswissenschaft zu erforschen habe, im Rahmen der praktischen Rechtsanwendung, also, bei einer Streitentscheidung mit Hilfe der Rechtsidealität, zu berücksichtigen sei. Mit dieser Frage, der Kernfrage der soziologischen Jurisprudenz, hatte sich Ehrlich bereits in seiner Jugendschrift „Über Lücken im Rechte" beschäftigt und war damit zum Vorkämpfer und Hauptvertreter der sog. Freirechtsschule geworden, der er mit seiner Programmschrift „Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft" (Leipzig 1903) den Namen gab. Diese Schule kämpfte mit großer Erbitterung und oft über das Ziel hinausschie-

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ßend gegen die in Begriffsmathematik und leere Sophistik erstarrte Jurisprudenz der damaligen Zeit. Ehrlich selbst widmete der Methodenlehre dieser sog. Begriffsjurisprudenz seine Monographie über „Die juristische Logik" (3. Aufl. 1966), in der er zu dem Ergebnis kam: „Mit der wirklichen Logik hat die juristische Logik nichts gemein als den Namen. Sie ist überhaupt keine Logik, sondern eine Technik, denn sie will gar nicht den Prüfstein für die Richtigkeit der Methoden der juristischen Rechtsfindung liefern, sondern ist selbst nur ekie solche Methode, die erst auf ihre Richtigkeit geprüft werden muß. Die Prüfung hat ergeben, daß das Ziel, das sie allenfalls erreichen kann, eine Entscheidung ohne richterliche Interessenabwägung, wichtige gesellschaftliche Interessen schädigt, und daß das ihr zuweilen vorschwebende Ziel, das wirklich anstrebenswert wäre, eine aus richtiger Interessenabwägung hervorgegangene Entscheidung zu finden, ihr nur auf einem weiten, unnützen, zwecklosen Umweg zugänglich ist. An der Logik gemessen, kann eine Technik, die einem Rechtssatze mehr zu entlocken sucht, als darin eingestandenermaßen enthalten ist, nur in Trugschlüssen bestehen. Auf Trugschlüsse laufen daher alle die Hilfsmittel der juristischen Logik hinaus, und dadurch erklärt sich die jedem Juristen bekannte Tatsache, daß sich so ziemlich für jede Entscheidung eine juristische Begründung finden läßt" (S. 299). Immer wieder hat sich Ehrlich gegen den Vorwurf wehren müssen, daß er mit seiner Rechtssoziologie jedes normative und damit doch das spezifisch juristische Denken unmöglich mache, insbesondere daß er mit seiner Aufforderung zur freien Rechtsfindung den Richter dazu ermuntere, nach Belieben contra legem zu entscheiden. Daß dieser Vorwurf selbst heute noch gelegentlich erhoben wird, ist ein wissenschaftlicher Skandal. Eine freie Rechtsfindung, die als soziologische Rechtsfindung auf das gesellschaftliche Recht zurückzugreifen hat, kommt für Ehrlich nur in den relativ seltenen Fällen in Betracht, in denen eine Lücke im Rechtssystem besteht: „Eine Lücke im Recht bedeutet nichts anderes, als das Fehlen eines Rechtssatzes, wo er notwendig wäre. Es möge nachdrücklichst hervorgehoben werden, daß es sich um das Fehlen eines Rechtssatzes, nicht etwa eines passenden Rechtsatzes handelt. Ist ein Rechtssatz vorhanden, dann muß er angewendet werden, er mag passen oder nicht . . . Der

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Schein, daß aus einem Rechtssatz keine brauchbare Entscheidung gewonnen werden könne, entsteht meistens dadurch, daß der moderne Gesetzgeber, um möglichst viele Fälle zu entscheiden, für den Rechtssatz häufig einen so allgemeinen Ausdruck wählt, daß er bei oberflächlicher Betrachtung auf Interessengegensätze bezogen werden kann, die der Gesetzgeber gar nicht treffen will. Dann muß aber das Gesetz nach der wahren Absicht des Gesetzgebers einschränkend ausgelegt werden" (S. 215). Bei näherem Studium ergibt sich, daß Ehrlichs Freirechtslehre in Wahrheit mit der sog. Interessenjurisprudenz übereinstimmt, die später in die Rechtsprechung des Reichsgerichts Eingang fand und heute in Form der Wertungsjurisprudenz zur herrschenden Richtung innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft geworden ist. Ehrlich hatte diese Wertungsjurisprudenz im Auge, als er in seiner „Juristischen Logik" (S. 309 f.) schrieb: „Wem immer aber das Würdigen der Interessen in der Gesellschaft und die Bestimmung darüber, welches von ihnen gefördert werden sollte, obliegt, dem ist damit ein Stück der Leitung der Gesellschaft anvertraut. Die Leitung der Gesellschaft setzt die Kenntnis der in der Gesellschaft wirkenden Kräfte, die geleitet werden sollen, voraus, gerade so wie der Maschineningenieur die natürlichen Kräfte kennen muß, die die Maschine bewegen. In diesem Sinne ist Gesetzgebung, Jurisprudenz, Rechtspflege angewandte Gesellschaftswissenschaft".

b) M a x Weber Max Weber (1864—1920), von Haus aus Jurist, wird heute unbestritten als der bedeutendste deutsche Soziologe angesehen. Uber Leben und Wirken dieser außergewöhnlichen Gelehrtenpersönlichkeit Näheres bei M. Rehbinder: M a x Weber zum 100. Geburtstag, in Juristenzeitung 1964, S. 3 3 2 - 3 3 4 ; zur Darstellung und Kritik seiner Rechtssoziologie vgl. M. Rehbinder: M a x Webers Rechtssoziologie - eine Bestandsaufnahme, in

René

König/]. Winckelmann:

S. 4 7 0 - 4 8 8 .

Max Weber zum Gedächtnis,

1963,

Max Webers Hauptwerk: Wirtschaft und Gesellschaft enthält eine breit angelegte Rechtssoziologie, die zu den klassischen Darstellungen unseres Faches gehört. Sie wurde als Studienausgabe von Winckelmann gesondert herausgegeben (Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967). Wie das Gesamtwerk, so ist auch die Rechtssoziologie stilistisch schwierig geschrieben und inhaltlich

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nicht leicht überschaubar, so daß angesehene Autoren darüber uneins sind, was in ihr eigentlich alles behandelt wird. aa) Der Begriff des Rechts Den Anfang der rechtssoziologischen Überlegungen Webers bilden seine Ausführungen über den soziologischen Rechtsbegriff und die Abgrenzung des Rechts von den außerrechtlichen Sozialordnungen. Recht ist für Weber diejenige Sozialordnung, deren Geltung ein Apparat durch Zwang garantiert. Es weist also drei spezifische Merkmale auf, nämlich erstens die Eigenschaft als erzwingbare Ordnung, zweitens die durch Zwang garantierte Geltung und drittens die Ausübung dieses Zwanges durch einen eigens dafür gebildeten Zwangsapparat. (1) Der soziologische Rechtsbegriff Recht im soziologischen Sinne ist damit ein „Komplex von faktischen Bestimmungsgründen realen menschlichen Handelns" (S. 70), im Gegensatz zum juristisch geltenden Recht also nur das lebende Recht. Zum Recht gehören damit nur solche Verhaltensnormen, die soziologische Geltung besitzen. Soziologische Geltung ist die Chance, das heißt die Wahrscheinlichkeit der Beachtung im Einzelfall. Sie ist aber nicht mit Befolgung gleichzusetzen. Es genügt, daß sich die Umwelt in ihrer Einstellung zu den Verhaltensnormen orientiert und demgemäß hinsichtlich ihrer Befolgung gewisse „Erwartungen" hegt. Während also die Frage nach der Geltung einer Norm vom Juristen nur mit ja oder nein beantwortet werden kann, muß der Rechtssoziologe stets einen bestimmten Grad (zum Beispiel überwiegend) oder einen Prozentsatz angeben. Diese soziologische Geltung, nämlich die Chance der Orientierung, ist im Einzelfall garantiert durch die Chance des Eintritts von psychischem oder physischem Zwang eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen, des Zwangsapparates. Der Zwang darf aber nicht nur aus materiellen Gründen, sondern muß rein formal um der als geltend in Anspruch genommenen Ordnung selbst willen ausgeübt werden (S. 71). (2) Die Abgrenzung des Rechts von anderen Sozialordnungen Als „Komplex von faktischen Bestimmungsgründen realen menschlichen Handelns" ist das Recht „in lückenloser Stufenleiter" (S. 80) verbunden mit den anderen Sozialordnungen, die Weber unter die

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beiden Begriffe Sitte und Konvention subsumiert. Hier muß jedoch gleich nachdrücklich betont werden, daß Webers Terminologie sehr eigenwillig ist und als solche keine Anhänger gefunden hat. Webers „Konvention" ist das, was im allgemeinen „Sitte" genannt wird, während seine „Sitte" das ist, was man gewöhnlich „Brauch" oder „Herkommen" nennt. Sitte ist nämlich für Weber die durch Gewohnheit, unreflektierte Nachahmung oder Anpassung an äußere Lebensumstände bedingte faktische Regelmäßigkeit des Verhaltens. Als bloß faktische Regelmäßigkeit („Massenhandeln") kann sie infolge Traditionsbildung zur sozialen Norm („Einverständnishandeln") werden, wenn sich nämlich an die Regelmäßigkeit die Konzeption der Verbindlichkeit knüpft. Denn diese Konzeption der Verbindlichkeit führt zu einer Reaktion der Umwelt des Handelnden, und zwar zur Billigung oder Mißbilligung. Wird auf diese Weise das Seiende zum Gesollten, ohne daß es zur Anwendung von psychischem oder physischem Zwang kommt, beschränkt sich die Reaktion also auf die bloße Billigung oder Mißbilligung einer spezifischen Umwelt, dann ist aus der Sitte Konvention geworden. Innerhalb der Konventionairegeln wird ein Teil durch die Chance der Reaktion eines besonderen Zwangsapparates garantiert. Dieser Teil gehört dann zum Recht. Neben der Entwicklung von Sitte über Konvention zum Recht findet zugleich eine Rückwirkung dergestalt statt, daß auch das Recht über die Konvention auf die Sitte einwirkt, daß zum Beispiel altes Recht sich gegen neu aufkommende Sitten wendet. So kommt es, daß Recht und Konvention nicht etwa Kreisringe im Kreis der Sitte sind, sondern daß sich alle drei Bereiche nur teilweise überschneiden und sich zum Teil feindlich gegenüberstehen. Außerdem ist die Interdependenz von Recht und Sitte keine ausschließliche in dem Sinne, daß die Rechtsentwicklung nur als Traditionalismus anzusprechen wäre. Weber kennt im Gegenteil fünf verschiedene Rechtsquellen. Neben der Sitte nennt er die Vereinbarung der Interessenten, den Richterspruch, die Offenbarung und die oktroyierte Satzung. Diese können dann durch ihre Rückwirkung das Sozialleben ändern und gestalten. bb) Die These von der zunehmenden Rationalität des Rechts Hatte Ehrlich den Inhalt seiner Rechtssoziologie in die These zusammengefaßt, daß der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung weder

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in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung liege, sondern in der Gesellschaft selbst, so lautet diese Zusammenfassung bei Weber: „Die allgemeine Entwicklung des Rechts und des Rechtsgangs führt, in theoretische Entwicklungsstufen' gegliedert, von der charismatischen Rechtsoffenbarung durch ,Rechtspropheten' zur empirischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch Rechtshonoratioren (Kautelar- und Präjudizienrechtsschöpfung), weiter zur Rechtsoktroyierung durch weltliches Imperium und theokratische Gewalten und endlich zur systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen, auf Grund literarischer und formal logischer Schulung sich vollziehender Rechtspflege' durch Rechtsgebildete (Fachjuristen). Die formalen Qualitäten des Rechts entwickeln sich dabei aus einer Kombination von magisch bedingtem Formalismus und offenbarungsmäßig bedingter Irrationalität im primitiven Rechtsgang, eventuell über den Umweg theokratisch oder patrimonial bedingter materialer und unformaler Zweckrationalität, zu zunehmend fachmäßig juristischer, also logischer Rationalität und Systematik und damit — zunächst rein äußerlich betrachtet — zu einer zunehmend logischen Sublimierung und deduktiven Strenge des Rechts und einer zunehmend rationalen Technik des Rechtsgangs" (S. 331). (1) Die Idealtypen der Rationalität des Rechts Weber mißt also das Recht unter „Feststellung der allgemeinsten Entwicklungszüge" (ebd.) nach Art und Ausmaß seiner Rationalität. Zu diesem Zweck entwirft er bereits zum Anfang seiner eigentlichen Rechtssoziologie (S. 124 f.) ein am Maßstab der Rationalität ausgerichtetes Schema möglicher Rechtsstrukturen. Nach diesem Schema können die rechtstechnischen Mittel der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung I. irrational sein, nämlich ohne Anwendung abstrakter Regeln, und zwar einmal 1. in formeller Hinsicht, wenn andere als verstandesmäßig zu kontrollierende Mittel angewandt werden (zum Beispiel Orakel und deren Surrogate), und zum anderen 2. in materieller Hinsicht, wenn konkrete ethische, gefühlsmäßige oder politische Wertungen des Einzelfalles maßgebend sind;

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II. oder sie sind rational, da abstrakte Regeln angewandt werden, und zwar wiederum 1. in formeller Hinsicht, wenn ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale beachtet werden — diese können gewonnen werden a) durch sinnliche Anschaulichkeit (Unterschrift, Wahl bestimmter Worte, symbolische Handlungen) oder b) durch logische Generalisierung abstrakter Sinndeutungen (durch Begriffssystematisierung gewonnene Allgemeinbegriffe) —, oder 2. in materieller Hinsicht, wenn inhaltlich allgemeine Gebote (ethische oder utilitaristische Postulate oder Maximen) die Formalentscheidung durchbrechen. Um nun zu zeigen, daß das Recht entgegen den Vorstellungen des Vulgärmarxismus nicht als Überbau ausschließlich ökonomisch bedingt ist, auch nicht, wie Rudolf Stammler meinte, nur die Form für den wirtschaftlichen Inhalt, versucht Weber, die Rechtsentwicklung zur formellen Rationalität in ihrer Abhängigkeit von der Rechtstechnik zu zeigen, wobei er betont, daß die Formen der Rechtstechnik wenn überhaupt, dann nur sehr indirekt von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Zu diesem Zweck konzentriert er sich wie Ehrlich auf das Privatrecht als das „ökonomisch relevante Recht" (S. 123) und behandelt in diesem Rahmen die eben genannten fünf Rechtsquellen in historischer Reihenfolge. Dabei kommt er zu folgenden Feststellungen: (2) Die Entstehung neuen Rechts durch neuartiges Gemeinschaftshandeln Die Entstehung neuer Rechtsregeln erfolgt nur in seltenen Fällen unbewußt im Wege eines unbemerkten Bedeutungswandels. In der Regel geschieht sie bewußt durch ein neuartiges Gemeinschaftshandeln. Dieses neue Handeln beruht auf der „Erfindung" einzelner und hat sich durch Nachahmung und Auslese verbreitet. Neben die Sitte tritt daher als „primäre Quelle der Rechtsnormbildung" (S. 217) die zweckrationale Vereinbarung der Interessenten zur Abgrenzung ihrer Interessensphären, meist unter Mithilfe des geschulten „Anwalts", ferner als „zweite selbständige Instanz" (S. 215), die

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die Ausbreitung individueller Vereinbarungen steuert, der für den Zwangsapparat stehende Richter. Der Interessentenvereinbarung, dem Vertrag, widmet Weber ein besonderes Kapitel (§ 2). Darin schildert er die "Wandlung vom Status-Kontrakt zum Zweck-Kontrakt, eine Wandlung, die nur sehr zögernd vor sich ging, da erst einmal die rationalen rechtstechnischen Verkehrsschemata erfunden werden mußten, die eine Kontraktgesellschaft im Sinne des Zweckkontraktes ermöglichen; denn „ökonomische Situationen gebären neue Rechtsformen nicht einfach automatisch aus sich, sondern enthalten nur eine Chance dafür, daß eine rechtstechnische Erfindung, wenn sie gemacht wird, auch Verbreitung finde" (S. 153). Doch schließlich wird der numerus clausus bestimmter Interessengegensatzverträge unter dem Druck nach Markterweiterung zum Grundsatz der Vertragsfreiheit erweitert, und das Sonderrecht monopolistisch abgegrenzter Personenverbände wird infolge der ökonomischen Interessen der Marktinteressenten, vor allem aber infolge des politischen Machtbedürfnisses von Herrschern und Beamten der erstarkenden politischen Staatsanstalt, zum Grundsatz der formalen Rechtsgleichheit beim Abschluß sonderrechtsbegründender Interessenvergemeinschaftungsverträge des Privatrechts eingeebnet. Daraus entsteht aber keinesfalls eine materielle Rechtsgleichheit; denn eine Kontraktgesellschaft eröffnet bei aller Freiheit des Zugangs in Wahrheit nur dem Besitzenden die Chance, seine Marktmacht zu mehren. Dem Nichtbesitzenden werden die Vertragsbedingungen oktroyiert. Bei ihm kann von Freiheit meist nicht die Rede sein. Nur bei formeller Betrachtung ist also eine solche „Dezentralisation der Rechtsschöpfung" (Andreas Voigt) auf die einzelnen Rechtsgenossen gegenüber den sozialistischen Rechtsordnungen mit ihrer zentralen Lenkung freier. Materiell gesehen können nämlich die rein ökonomischen „Gesetze" des Marktkampfes für alle Beteiligten zu unausweichlichen Zwangslagen führen und „je umfassender . . . die kapitalistischen gewerblichen Betriebe anwachsen, desto rücksichtloser kann unter Umständen autoritärer Zwang in ihnen geübt werden und desto kleiner wird der Kreis derjenigen, in deren Händen sich die Macht zusammenballt, Zwang dieser Art gegen andere zu üben und diese Macht sich durch Vermittlung der Rechtsordnung garantieren zu lassen" (S. 207 f.).

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cc) Die Entstehung neuen Rechts durch Oktroy Neben die primären Rechtsquellen, nämlich Interessentenvereinbarung und Richterspruch, treten zwei Rechtsquellen, durch die neue Regeln, die nicht in der Rechtsgemeinschaft selbst entstanden sind, dieser vielmehr oktroyiert werden. Das sind Offenbarung und Satzung. (1) Offenbarung Gegenüber der Stabilität des Rechtstraditionalismus, für den die Normen als überkommen nur richtig gefunden werden müssen, ist die Offenbarung, die bewußt neue Regeln schafft, ein revolutionierendes Element. „Der Übergang von der Interpretation der alten Tradition zur Offenbarung neuer Ordnungen ist dabei natürlich flüssig" (S. 219). Für die Legitimierung alter und neuer Ordnungen kennt Weber in Ubereinstimmung mit seinen vier Typen des sozialen Handelns, nämlich dem traditionalen, affektuellen, wertrationalen und zweckrationalen Handeln, vier verschiedene Legitimationsformen. Dies sind erstens die Tradition, das heißt der Glaube an die Geltung des immer Gewesenen; zweitens der affektuelle Glaube, in erster Linie der Glaube an das Charisma des Normenautors beim Offenbarungsrecht; drittens der wertrationale Glaube, in erster Linie der Glaube an die Vernunftmäßigkeit der Norm beim weltlichen Naturrecht und viertens die Legalität, das heißt der Glaube an die Legitimität positiver Satzung. In Verfolgung der „Wege und Schicksale der Rationalisierung des Rechts" vertritt Weber dann die These, daß „ein Recht in verschiedener Art, und keineswegs notwendig in der Richtung der Entfaltung seiner .juristischen' Qualitäten, rationalisiert werden kann. Die Richtung, in welcher diese formalen Qualitäten sich entwickeln, ist aber bedingt direkt durch sozusagen,innerjuristische' Verhältnisse: die Eigenart der Personenkreise, welche auf die Art der Rechtsgestaltung berufsmäßig Einfluß zu nehmen in der Lage sind, und erst indirekt durch die allgemeinen ökonomischen und sozialen Bedingungen" (S. 237). Zum Beleg untersucht er unter der Überschrift „Die Typen des Rechtsdenkens und die Rechtshonoratioren" die Bedingungen und unterschiedlichen Auswirkungen der von ihm sogenannten empirischen und der rationalen Rechtslehre. Empirische Rechtslehre ist für ihn die zunftmäßige Rechtslehre durch Praktiker. 5 Rehbinder, Rechtssoziologie

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Sie führt zu einem formalistischen Fallrecht; denn „der rein empirische Betrieb der Rechtspraxis und Rechtslehre schließt immer nur vom einzelnen auf das einzelne und strebt nie vom einzelnen zu allgemeinen Sätzen, um dann aus diesen die Einzelentscheidung deduzieren zu können. Vielmehr ist er einerseits an das Wort gebannt, welches er nach allen Seiten wendet, deutet, dehnt, um es dem Bedürfnis anzupassen, andererseits, soweit dies nicht ausreicht, auf die ,Analogie'oder technische Fiktionen verwiesen" (S. 241). Anders ist es bei der rationalen Rechtslehre, bei der zwischen materialer und formaler Rationalisierung zu unterscheiden ist. Material-rationales Recht ist das Sakralrecht, das in den Priesterschulen gelehrt wird, und formalrationales Recht ist das systematische Rechtsdenken der Universitätsschulung. Beim material-rationalen Recht scheitert Weber allerdings in seiner Beweisführung, da dieses — wie gleich zu zeigen ist - noch andere Formen als das Sakralrecht umfaßt, die mit keiner speziellen Rechtsschulung verbunden sind. Daher beginnt Weber das nächste Kapitel mit dem Hinweis, daß die Form der Rationalisierung in enger Beziehung zur politischen Herrschaftsstruktur steht. Bei autoritärer Herrschaft haben die rationalen Rechte meist materialen Charakter, denn „nicht die formal-juristisch präziseste, für die Berechenbarkeit der Chancen und die rationale Systematik des Rechts und der Prozedur optimale, sondern die inhaltlich den praktisch-utilitarischen und ethischen Anforderungen jener Autoritäten entsprechendste Ausprägung wird erstrebt; eine Sonderung von ,Ethik' und ,Recht' liegt . . . gar nicht in der Absicht dieser, jeder selbstgenügsam und fachmännisch Juristischen' Behandlung des Rechts durchaus fremd gegenüberstehenden Faktoren der Rechtsbildung" (S. 262). Das gilt nicht nur für die sakralen Rechte der Theokratien, sondern insbesondere auch für die oft mit naturrechtlichen Argumenten arbeitenden Rechte patriarchalischer oder demokratischer Herrschaftsformen. Offen bleibt allerdings, welche politische Herrschaftsform das formal-rationale Recht bewirkt hat. Hier muß Weber neben dem Hinweis auf „alle ideologischen Träger solcher Bestrebungen, welche gerade die Brechung autoritärer Gebundenheit oder irrationaler Masseninstinkte zugunsten der Entfaltung der individuellen Chancen und Fähigkeiten herbeiführen möchten" (S. 266), auf wirtschaftli-

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che Ursachen, nämlich auf die Interessen der „ökonomisch Mächtigen und daher an der freien Ausbeutung ihrer Macht Interessierten" zurückgreifen: „Und da die Honoratiorenjustiz mit ihrer unvermeidlich wesentlich empirischen Rechtspraxis, ihrem komplizierten Prozeßmittelsystem und ihrer Kostspieligkeit auch ihren Interessen starke Hemmnisse bereiten kann: — nicht durch, sondern zum Teil auch trotz der Struktur seines Rechts gewann England den kapitalistischen Primat - , so pflegen die bürgerlichen Schichten im allgemeinen am stärksten an rationaler Rechtspraxis und dadurch auch an einem systematisierten, eindeutigen, zweckrational geschaffenen formalen Recht interessiert zu sein, welches Traditionsgebundenheit und Willkür gleichermaßen ausschließt" (S. 267). Es zeigt sich also, daß die drei potentiellen Triebkräfte jeder Rechtsentwicklung, nämlich: Eigengesetzlichkeiten des Rechtsdenkens, politische Herrschaft und ökonomische Macht interdependent sind und in ihrer aktuellen Wirksamkeit außerordentlich schwanken. (2) Satzung Bei der Behandlung der Satzung als der zweiten sekundären, neue Regeln oktroyierenden Rechtsquelle zeigt Weber, daß sie einen Eingriff in die Rechtspflege aus politischen Gründen darstellt, der auf dem Imperium der politischen Gewalt beruht. Dabei schildert er die mit zunehmender Machtfülle des Imperiums eintretende Wandlung von der ständischen Rechtspflege, die es mit Privilegien zu tun hat und formal-irrationalen Charakter aufweist, zur patriarchalen Rechtspflege, die eine materialrationale „Wohlfahrtspflege" ist. „Alle Schranken zwischen Recht und Sittlichkeit, Rechtszwang und väterlicher Vermahnung, legislatorischen Motiven und Zwecken und rechtstechnischen Mitteln sind niedergerissen" (S. 298). „Klassisches Denkmal" dieser Wohlfahrtspflege ist das preußische Allgemeine Landrecht. Es stellt mit seiner „minutiösen Kasuistik" den Versuch dar, „durch direkte Belehrung des Publikums von Seiten des Gesetzgebers" eine „Emanzipation von der Fachjurisprudenz" zu bewirken (S. 311 f.). Dieser Versuch mußte scheitern; denn die Fachjurisprudenz war die Voraussetzung für die zunehmende Formalisierung des rationalen Rechts, die seit der Rezeption einsetzte und letztere auch maßgeblich bewirkt hatte. Der Trend zur Formalisierung war das Ergebnis des Zusammenfallens von utilitarischem Rationalismus der Beamtenverwaltung (Übersichtlichkeit des 5*

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Rechts), von privatwirtschaftlichem Rationalismus der bürgerlichen Schichten (Sicherheit der Rechtsfindung) und fiskalischen und verwaltungstechnischen Interessen der Fürsten (Einheit und Geschlossenheit des Reiches) (S. 2 9 8 ff.). Daraus entstand auch der Wunsch nach Vereinheitlichung und Systematisierung des Rechts in einer Kodifikation. Diese Kodifikation mußte allerdings die formalen Qualitäten des Rechts weiter ausbauen, und zwar nach der logischen Seite. Für diese „Logisierung des Rechts waren aber keineswegs, wie bei der Tendenz zum formalen Recht an sich, Bedürfnisse des Lebens, etwa der bürgerlichen Interessenten nach einem berechenbaren' Recht entscheidend beteiligt. Denn dieses Bedürfnis wird, wie alle Erfahrung zeigt, ganz ebensogut und oft besser durch ein formales empirisches, an Präjudizien gebundenes Recht gewahrt. Die Konsequenzen der rein logischen juristischen Konstruktion verhalten sich vielmehr zu den Erwartungen der Verkehrsinteressenten ungemein häufig gänzlich irrational und geradezu disparat: die vielberedete,Lebensfremdheit' des rein logischen Rechts hat hier ihren Sitz. Sondern es waren interne Denkbedürfnisse der Rechtstheoretiker und der von ihnen geschulten Doktoren: einer typischen Aristokratie der literarischen ,Bildung' auf dem Gebiet des Rechts, von welcher jene Entwicklung getragen wurde" (S. 3 0 9 f.). Die erste erfolgreiche Kodifizierung, die allen diesen Anforderungen gerecht wurde, war der Code Civil. Die Legitimität der von ihm neu geschaffenen Rechtssätze wurde wie bei den Kodifikationen vor und nach ihm aus dem Naturrecht (Vernunftrecht) hergeleitet, das als Maßstab allen positiven Rechts ausgegeben wurde. Diese naturrechtlichen Maßstäbe waren jedoch beherrscht von der Antinomie von formal-rationalen und material-rationalen Grundsätzen. Formal-rational war vor allem der Grundsatz der Vertragsfreiheit, material-rational vor allem die sozialistischen Theorien von der ausschließlichen Legitimität des Erwerbs durch eigene Arbeit. Dies führte zu unauflöslichen Widersprüchen, die Weber soziologisch so interpretiert: „Natürlich haben ebenso das formale rationalistische Naturrecht der Vertragsfreiheit wie das materiale Naturrecht der ausschließlichen Legitimität des Arbeitsertrages sehr starke Klassenbeziehungen. Die Vertragsfreiheit und alle Sätze über das legitime Eigentum, welche daraus abgeleitet wurden, waren selbstverständlich das Naturrecht der Marktinteressenten als der an endgül-

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tiger Appropriation der Produktionsmittel Interessierten. Daß umgekehrt das Dogma von der spezifischen Unappropriierbarkeit des Grund und Bodens, weil ihn niemand durch seine Arbeit produziert habe, also: der Protest gegen die Schließung der Bodengemeinschaft, der Klassenlage ländlicher proletarisierter Bauern entspricht, deren verengerter Nahrungsspielraum sie unter das Joch der Bodenmonopolisten zwingt, ist klar" (S. 322). Durch die Erkenntnis der „unausgleichbaren Kampfstellung formaler und materialer Naturrechtsaxiome gegeneinander" und die „fortschreitende Zersetzung und Relativierung aller metajuristischen Axiome überhaupt" hat das Naturrecht seine „Tragfähigkeit als Fundament eines Rechts verloren". „Es ist heute allzu greifbar in der großen Mehrzahl und gerade in vielen prinzipiell besonders wichtigen seiner Bestimmungen als Produkt und technisches Mittel eines Interessentenkompromisses enthüllt" (S. 326 f.). Es ist daher nicht verwunderlich, daß der heutige Juristenstand, soweit er heute „überhaupt typisch ideologische Beziehungen zu den gesellschaftlichen Gewalten aufweist, . . . viel stärker als je früher in die Waagschale der ,Ordnung' und das heißt praktisch: der jeweils gerade herrschenden ,legitimen' autoritären politischen Gewalten" fällt (S. 328). dd) Der unaustragbare Gegensatz zwischen formalem rialem Prinzip der Rechtspflege

und mate-

Auf den letzten 18 von den insgesamt etwa 280 Textseiten der Sonderausgabe von Johannes Wtnckelmann (2. Aufl.) wendet sich Weber dann dem modernen Recht zu. Hier betont er zunächst, daß auch das moderne Recht noch eine Fülle von Sonderrechten aufweise. Den Grund dafür sieht er einmal in der steigenden Rücksichtnahme auf das Bedürfnis nach fachmäßig-sachkundiger Erledigung der Rechtsangelegenheiten der immer stärker differenzierten Berufszweige. Zum anderen sieht er ihn aber vor allem in dem „Wunsch, den Formalitäten der normalen Rechtsprozeduren zu entgehen im Interesse einer dem konkreten Fall angepaßteren und schleunigeren Rechtspflege. Praktisch bedeutet dies eine Abs