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German Pages 207 [210] Year 2009
Annette Brockmöller / Eric Hilgendorf (Hg.)
Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert – 100 Jahre Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
ARSP Beiheft Nr. 116 Franz Steiner Verlag
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert – 100 Jahre Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie
ARSP BEIHEFT 116
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy Archives de Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale Archivo de Filosofía Jurídica y Social
Annette Brockmöller / Eric Hilgendorf (Hg.)
Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert – 100 Jahre Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09285-2 Zugleich: 978-3-8329-4149-9 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany
INHALTSÜBERSICHT Vorwort ..............................................................................................................
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100 Jahre Rechtsphilosophie ............................................................................. Gerhard Sprenger, Berlin
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Rudolf Smend und der Kampf gegen den Ordnungsrelativismus .................. Andreas Anter, Leipzig/Bremen
37
Carl Schmitt im Archiv ..................................................................................... Reinhard Mehring, Heidelberg
51
Josef Kohler (1848–1919) .................................................................................. Günter Spendel, Würzburg
69
Arthur Baumgarten, Neueste Richtungen der allgemeinen Philosophie und die Zukunftsaussichten der Rechtsphilosophie ........................................ Matthias Kaufmann, Halle/Saale
87
Gustav Radbruch im Nationalsozialismus und im ARSP ............................... Hubert Rottleuthner, Berlin
101
Rechtsdynamik für Eilige – Hans Kelsen über Gewaltenteilung...................... Alexander Somek, Berlin
117
Arthur Kaufmann, Über die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft...... Rolf Gröschner, Jena
131
Theodor Geiger, Bemerkungen zur Soziologie des Denkens ........................... Klaus F. Röhl, Bochum
149
Viktor Cathrein S. J.: Naturrechtliche Strömungen in der Rechtsphilosophie der Gegenwart ..................................................................... Norbert Brieskorn, München Aleksander Peczenik über die Rationalität der juristischen Argumentation ... Matthias Klatt, Oxford
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VORWORT Die deutsche Rechtsphilosophie ist in keiner guten Verfassung. Kennzeichen der Krise sind die Zersplitterung der Diskussionslandschaft, mangelnde sprachliche Disziplin, praxisfremde Scholastifizierung, fehlende gesellschaftliche Resonanz und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – das Desinteresse der juristischen Fachkollegen und des wissenschaftlichen Nachwuchses. Die juristische Grundlagenforschung in Deutschland hat sich, so scheint es, wieder in den Elfenbeinturm zurückgezogen. Um diese Situation zu ändern, mag es hilfreich sein, sich auf den historischen Hintergrund der deutschen Rechtsphilosophie zu besinnen, deren Auf und Ab sich nicht zuletzt in der Geschichte des 1907 von Josef Kohler gegründeten Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie spiegelt. Die Rückbesinnung auf die Geschichte könnte es ermöglichen, an die Leistungen der Vergangenheit anzuknüpfen, an Problemstellungen und Lösungsversuche, die die große internationale Wirkung der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung in Deutschland hervorgerufen haben. Die hier abgedruckten Texte geben in überarbeiteter Form die Vorträge wieder, die im Rahmen der von Annette Brockmöller und Eric Hilgendorf veranstalteten Arbeitstagung über „Rechtsphilosophie im Wandel der Gesellschaft“ vom 25. bis 27. Oktober 2007 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld gehalten wurden. Neu aufgenommen wurde der Text über Josef Kohler, den der Würzburger Strafrechtslehrer und Biograf Günter Spendel dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat. Die Drucklegung der Texte wurde am Würzburger Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie betreut. Für ihre großartige organisatorische Hilfe danken wir Frau Karin Schmiedel. Celle/Würzburg, im August 2008 Annette Brockmöller/Eric Hilgendorf
GERHARD SPRENGER, BERLIN 100 JAHRE RECHTSPHILOSOPHIE EINE RÜCKBESINNUNG ENTLANG DES 1907 GEGRÜNDETEN „ARCHIV FÜR RECHTS- UND WIRTSCHAFTSPHILOSOPHIE“ Das Thema ist zu anspruchsvoll, um innerhalb des vorgegebenen Rahmens auch nur annäherungsweise vollständig und nicht nur an der Oberfläche behandelt zu werden. Es gilt, die einem bestimmten Zeitabschnitt innewohnenden Strukturen und Bewegungen aufzuzeigen. Das ist ohne eine Reduktion der Komplexität des Geschehens nicht möglich. Darum soll im Folgenden in zweifacher Hinsicht eingeschränkt werden: einmal durch eine Konzentration auf eine Leitfrage, genauer: die Leitfrage der Rechtsphilosophie, die Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts, die nicht aus dem Recht selbst kommen kann. Sie soll sodann – und dies ist die zweite Einschränkung – aus gegebenem Anlass überwiegend entlang der Zeitschrift verfolgt werden, an deren 100-Jähriges Bestehen zu erinnern, es gute Gründe gibt: des „Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie“ oder, wie ihr Titel anfangs lautete, „Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“. Da sich in ihr die Entwicklung der Rechtsphilosophie in dem hier untersuchten Zeitraum ziemlich zuverlässig widerspiegelt, ist diese zweite Einschränkung nur bedingt eine solche – im Gegenteil: Im Laufe der Ausarbeitung hat sich mehr und mehr gezeigt, dass eine Zeitschrift viel deutlicher und nachhaltiger auch vorübergehende Zeitströmungen und damit so etwas wie Stimmungen erkennen lässt, als rechtsphilosophische Lehrbücher oder einschlägige geschichtliche Aufarbeitungen in Monografien oder Sammelbänden dies vermögen: Momentaufnahmen aus der Zeitgeschichte werden sichtbar, deren Anlässe in aller Regel in der späteren, aus dem Rückblick erfolgenden, systematischen Aufarbeitung verblassen. Insofern wurde diese weitgehende Konzentration auf das „Archiv“ durch manchen Erkenntnisgewinn kompensiert. Und schließlich: Wie noch zu zeigen sein wird, markiert das Entstehen des „Archivs“ selbst einen nicht unbedeutenden Zeitpunkt in der Entwicklung rechtsphilosophischen Denkens. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung der Rechtsphilosophie in Deutschland, was nicht bedeutet, dass dies stets eine deutsche Rechtsphilosophie war. Es ist nicht immer leicht, die Herkunft eines Denkansatzes unter nationalen Gesichtspunkten zu ermitteln – warum auch? Zu erwähnen bleibt noch, dass mit den 100 Jahren, das heißt der Zeit von 1907 bis heute, etwas ungenauer: mit dem 20. Jahrhundert, keine Periode im klassischen historischen Sinne vor uns liegt. Die Zeitspanne ist dem erwähnten Anlass geschuldet, im Grunde einem beliebigen Abschnitt „aus dem wüsten Strom des Werdens“ (Nietzsche).1
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Eine generelle Ergänzung erfahren die nachfolgenden Ausführungen, ohne dass im Einzelnen darauf hingewiesen wird, durch den Aufsatz des Verfassers, Das Archiv für Rechts- und Sozial
Gerhard Sprenger
10 I. DIE LEITFRAGE
Wir nähern uns unserer Leitfrage über den Begriff „Rechtsphilosophie“. Von vereinzelten Vorläufern abgesehen ist er verbreitet erst im 18. Jahrhundert anzutreffen.2 Wir finden ihn etwa im Titel eines 1798 erschienenen Werkes des bekannten Göttinger Juristen (und Doktorvater Heinrich Heines) Gustav Hugo: „Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie des positiven Rechts, besonders des Privatrechts“3. Naturrecht als eine Philosophie des Rechts – dem Übergang von der ursprünglichen Bezeichnung (Naturrecht) zu der neuen (Rechtsphilosophie) lag ein Wandel in der Sache zugrunde, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts abgeschlossen zu sein schien. Was damit gemeint ist, lesen wir bei Hugo auf der ersten Seite seines Lehrbuchs: „Alles Philosophieren beruht auf Erforschen, auf Selbstdenken, auf Unabhängigkeit von fremden Vorschriften.“4 Mit den fremden Vorschriften waren kosmische Weisungen aus dem Naturrecht während der langen Epochen der Antike und die Gebote des Schöpfergottestums im Mittelalter gemeint. Im Zuge der Aufklärung war sich der Mensch einer bis dahin nicht vermuteten Kraft seiner eigenen Vernunft und damit zugleich der Aufgabe bewusst geworden, das Maß für das Gerechte selbst zu finden: Aufgegebenheit statt Vorgegebenheit – „Selbsteinkehr des Denkens“5 war fortan gefordert. So sehen wir uns bei dem Versuch, nach der Herkunft von Rechtsphilosophie zu fragen, zunächst auf das Naturrecht verwiesen. Das war in der frühen Neuzeit in seinem Charakter als ein Vorgegebenes kosmischer oder göttlicher Art erschüttert, war fraglich geworden und fand sich in dieser Fragwürdigkeit der menschlichen Vernunft überantwortet. In dem neuen Namen, in dem es nun auftrat, kam dies zum Ausdruck: Vernunftrecht. Mit der absoluten Vorgegebenheit hatte es auch die Dimension des Zeitlosen eingebüßt und war zu einem Phänomen der geschichtlichen Zeit geworden. Die in sich selbst erstarkte Vernunft begann nun, das Recht zu gestalten, und zwar unter Zugrundelegung von Maßstäben für Gerechtigkeit, die der jeweils aktuellen Ethik entnommen waren.6 Europaweit setzte eine gewaltige Kodifizierungswelle ein: in Preußen (das Allgemeine Landrecht von 1794), davor und danach in Bayern (1751–1756), in Frankreich (1804–1810), in Österreich (1768–1811). Die sehr umfangreichen und inhaltlich bedeutsamen Gesetzeswerke waren „Triumphe einer praktisch-moralischen Rechtskultur“7, in denen der Mensch dem ursprünglichsten aller Rechte, dem Naturrecht, von sich aus erkennbare Gestalt gegeben hatte. Es war in Gesetzen festgeschrieben worden und wurde – in tiefer Überzeugung von der Gerechtigkeit seines Inhalts – vor etwaigen Kommentierungen geschützt. Selbst Auslegungen durch die Gerichte wurden nur in sehr engen Grenzen gestattet. An die
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Vgl. Dietmar von der Pfordten, Die Entwicklung des Begriffs „Rechtsphilosophie“ vom 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Archiv für Begriffsgeschichte (1999), 151 ff. Gustav Hugo, Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie des positiven Rechts, besonders des Privatrechts, 4. Aufl. 1819 (Nachdruck 1997 Hugo (Fn. 3), 1 Joseph van der Ven, Das juristische Denken und das Juridische denken, ARSP 62 (1976), 45 Von der Pfordten (Fn. 2), 158
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100 Jahre Rechtsphilosophie
Stelle von Naturrecht waren in diesen „Vorentwürfen einer besseren Zukunft“8 Gerechtigkeitsvorstellungen der Zeit getreten. Hatte aber mit einem solchen „Abstieg“ aus der Dimension des Über-Positiven die aufgeklärte Vernunft angesichts des ihr von Kant aufgegebenen unbedingten, überzeitlich-verpflichtenden Sollens am Ende nicht ihre eigene Gesinnung verraten? Wenn auch außerhalb der genannten großen Codices und anderer Gesetze von Naturrecht keine Rede mehr war: Hatte man wirklich geglaubt, mit den durch angewandte Vernunft geschaffenen Normen der Gerechtigkeit Genüge getan zu haben? Vielleicht konnte man diese Frage aus der damaligen Perspektive bejahen. Galt die Antwort jener Zeit aber auch für alle Zeiten? Dies macht unsere Leitfrage aus, unter der die folgende Betrachtung steht. Denn das bedeutete „Rechtsphilosophie“ seitdem und wird „Rechtsphilosophie“ immer bedeuten: nach dem Maß für das Gerechte zu fragen. Die einschlägigen Bemühungen, die Erkenntnisse daraus und ihre Verwerfungen sind in der Folgezeit weitgehend unter die Antithese „Naturrecht oder Rechtspositivismus“ gerückt worden. Mit Genugtuung oder aber auch Verzweiflung – je nach dem – ist inzwischen die „ewige Wiederkehr“ des einen wie des anderen konstatiert worden.9 Der Streit zwischen den beiden Lagern war dabei – und es erscheint wichtig – dies zu betonen, zu keiner Zeit nur eine akademische Angelegenheit, sondern spiegelte sich zumeist auch in der rechtlichen und gesellschaftlichen Praxis wider, wobei vielleicht mehr noch das Umgekehrte gilt: Die Lebenswirklichkeit und ihre –Veränderungen, insbesondere die großen gesellschaftlichen und politischen Umbrüche innerhalb des hier behandelten Zeitraumes, zumal in Deutschland – vom Kaiserreich über die Republik zur Diktatur, danach zur Teilung Deutschlands und schließlich zur Zusammenführung beider deutscher Staaten – sind nicht ohne Auswirkungen auf die rechtsphilosophischen Fragestellungen geblieben. Für all dies finden sich im ARSP als einer Art „MitSchrift“ dieser Entwicklungen hinreichend Belege. II. DIE VORGESCHICHTE
DER
RECHTSPHILOSOPHIE
DES
20. JAHRHUNDERTS
Nicht nur die allgemeine Philosophie, sondern auch die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts hat eine unmittelbare Vorgeschichte, die für die Bestände und Entwicklungen im Zeitraum unserer Betrachtung wesentlich ist. Darum sei, wie eingangs mit Blick auf den Begriff „Rechtsphilosophie“, noch einmal zurück geblendet, wobei es jetzt um die Sache geht. Die Vorgeschichte beginnt um 1830 mit dem Ende des so genannten Deutschen Idealismus. Angesichts der geistigen und gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen, die mit der Aufklärung einhergegangen waren, war in ihm noch einmal der grundlegende Versuch unternommen worden, die Substanz der abendländischen
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Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 2004, 172 f. Vgl. etwa Ernst Landsberg, Zur ewigen Wiederkehr des Naturrechts, ARWP 18 (1924/25), 365 ff.; Dietrich Lang-Hinrichsen, Zur ewigen Wiederkehr des Rechtspositivismus, in: FS für Edmund Mezger zum 70. Geburtstag, in Gemeinschaft mit Paul Bockelmann, hg. von Karl Engisch/Reinhart Maurach, 1954, 1 ff.
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Gerhard Sprenger
geistigen Überlieferung zu bewahren.10 Der anthropologischen Wende, die in Kants Kritizismus kulminierte, hatten Fichte und Schelling, wenn auch mit weitgehend gegenläufigen Ansätzen, eine neue Philosophie des Absoluten entgegengesetzt, eine Art „höherer Religion“, die jedoch, „obwohl angeblich aus reiner Vernunft, noch ganz und gar christlich geprägt“ blieb.11 Während Kant den Menschen in zwei Hälften geteilt hatte: in das empirische „Ich“ mit seinen verwerflichen Neigungen und in das „eigentliche Selbst“, wollte Hegel die Einheit des ganzen Menschen wiedergewinnen. Er wollte überhaupt im Denken versöhnen: Gott und die Welt miteinander, und dazu mussten die Welt als vernünftig und die Vernunft als wirklich erwiesen werden. Das Absolute sei, so Hegel, weder abstrakt noch leer, vielmehr eine in sich unterschiedene lebendige Einheit, die sich in einem ewigen Werden befinde: Vernunft in der Geschichte. Es war der großartige Versuch, zeitliche Begrifflichkeit und geschichtlichen Wandel zusammenzuschmelzen, so dass die Geschichte der Philosophie als der notwendige Gang zum Sich-Begreifen des absoluten Geistes gesehen wurde. Diese Vorstellung, der zufolge sich die Erfahrung dem Prozess der Selbstverwirklichung der Idee zu unterwerfen habe, hatte indessen, wie sich bald zeigen sollte, die Kräfte des Idealismus als eines Systems offener Utopien, die auf Perfektion bestehender gesellschaftlicher Ordnungen abzielten, überspannt.12 Hegels grenzenloser Denkansatz wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von unterschiedlichen Standpunkten aus als Selbstverabsolutierung bekämpft (Schopenhauer, Kierkegaard, Feuerbach, Marx). Der absolute Geist wurde vom realen Menschen als Akteur der Geschichte abgelöst. Die Geschichte nämlich als unwiderruflicher Prozess der Veränderung, als eine Erklärung für soziale und psychologische Phänomene und als Quelle der Erfahrung erkannte man als bis dahin in hohem Maße vernachlässigt. Historisches Denken war von der optimistischen Grundeinstellung geprägt, dass das gesellschaftliche Geschehen seinen Sinn in sich selbst trage. Hinzu kamen Veränderungen in den Wissenschaften und in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft und zur Lebenspraxis. Die Philosophie, in der Aufklärung zu einer Art „Leitwissenschaft“ aufgestiegen, war zu einer Fachdisziplin unter vielen herabgesunken und wurde in der Öffentlichkeit nur noch wenig respektiert. Das allgemeine Interesse galt von nun an, wenn auch um den Preis eines gewissen Verlustes geistiger Orientierung (das Ziel Weltverständnis war zurückgetreten hinter das der Weltbeherrschung)13, primär den Naturwissenschaften, deren Exaktheit und Effektivität Anerkennung fanden und, im Zusammenhang damit, dem materiellen Fortschritt, den das sich rasch entfaltende industrielle System hervorbrachte. Unter einem solchen Aspekt exakter Wissenschaftlichkeit mussten ethische Grundeinstellungen und weltanschauliche Aussagen als nicht verifizierbar ins Unbedeutende abgleiten. Der Positivismus wurde beherrschend. 10 Hierzu und zu dem unmittelbar Folgenden: Werner Schneiders, Deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert, 1998, 9 ff. 11 Schneiders (Fn. 10) 12 Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, 182 13 Wolfgang J. Mommsen, Kultur und Wissenschaft im kulturellen System des Wilhelminismus: Die Entzauberung der Welt durch Wissenschaft und ihre Verzauberung durch Kunst und Literatur, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, II: Idealismus und Realismus, hg. von Gangolf
100 Jahre Rechtsphilosophie
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Für das Recht bedeutete dies, dass außerjuristischen: religiösen, moralischen, sozialen Wertungen eine Recht erzeugende Kraft nicht zugestanden werden konnte. Rechtssätze und ihre Anwendung, so der rechtswissenschaftliche Positivismus, seien nur aus System, Begriffen und Lehrsätzen der Rechtswissenschaft ableitbar. Dem Recht war mit der eigengesetzlichen Strenge naturwissenschaftlicher Prägung eine Systemstruktur unterlegt worden.14 Dies wurde besonders deutlich etwa bei Rudolf v. Jhering, der das System juristischer Begriffe mit dem zoologischen System verglich: so wie kein neues Tier entdeckt werden könne, das nicht in das Linnesche System einzugliedern sei, gebe es keinen neuen Rechtsfall, für den die begrifflich arbeitende Jurisprudenz nicht eine Lösung aus dem entwickelten System deduzieren könne.15 Und der Gesetzespositivismus, dessen bedeutendste Frucht das BGB darstellte, besagte, dass alles Recht vom staatlichen Gesetzgeber erzeugt werde. Für mehrere Juristengenerationen galt „unumstößlich die Wahrheit, dass die Rechtsmacht (Gesetzgeber, Staat, souveräne Macht) jeden beliebigen Rechtssatz setzen“ könne.16 Rechtsphilosophie war dort entbehrlich, wo man der Auffassung war, dass die Existenz von Recht mit seinem Wert nichts gemeinsam habe und ein Gesetz ein Gesetz bleibe, auch wenn es unsere Missbilligung errege, wie Karl Bergbohm behauptete.17 Neben ihm seien etwa noch Ernst Rudolf Bierling, Felix Somlò und vor allem Bernhard Windscheid genannt, dessen Lehrbuch des Pandektenrechts auch heute noch als klassisch für diese Einstellung gilt. Schließlich gehört in diesen Zusammenhang die besondere Rolle der Historischen Rechtsschule mit ihrer poetischsentimentalen Lehre vom „Volksgeist“ und ihrem eigentlichen Ziel auch hier: der Begründung des Wissenschaftscharakters des Rechts.18 Dabei sollten die in ihm enthaltenen allgemeinen Prinzipien und Wahrheiten sowie sittliche Grundsätze als Geltungsträger aufgezeigt werden. Es war die Stunde der Entstehung der „Rechtstheorie“.19 Weder die Freirechtsschule noch Otto von Gierkes sozialethisch begründete Kritik am Rechtspositivismus, auch nicht die schonungslose Enthüllung der Klassenfunktion des Rechts in der nachfeudalen bürgerlichen Gesellschaft durch Karl Marx und seine Schüler mochten der Herrschaft des Positivismus im Recht Entscheidendes anzuhaben. Dieser letztgenannten Philosophie war das programmatische Postulat der Veränderung durch eine Weltrevolution eigen, auf Grund deren sie dann selbst in philosophischer Praxis aufgehen und sich so aufheben würde. Ihre kritischen Ansätze sollten freilich nicht ohne Folgen bleiben, auch wenn ihr die staatlichen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse im 19. Jahrhundert fast jede unmittelbare Wirkung in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis verwehrten.20 14 Hermann Klenner, Systemstrukturen als Gegenstand von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, in: Probleme einer Strukturtheorie des Rechts, hg. von Karl A. Mollnau, 1985, 21 15 Rudolf von Jhering, Unsere Aufgabe, Jherings Jahrbücher, 1857, 16 16 Felix Somló, Juristische Grundlehre, 1917, 309 17 Karl Magnus Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892, 398 18 Ausführlich dazu: Gerhard Sprenger, Rechtsbesserung um 1900, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, II: Idealismus und Realismus, hg. von Gangolf Hübinger/Rüdiger vom Bruch/ Friedrich Wilhelm Graf, 1997, 142–147 19 Hierzu Annette Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland, 1997, 68 ff.; 273 ff.
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Gerhard Sprenger
Gerechtigkeit im positiven Recht auf der ganzen Linie – auf der ersten Seite der Deutschen Juristen-Zeitung des Jahres 1900 begrüßte der häufiger als „Dichter der Nation“ hervorgetretene Ernst von Wildenbruch das damals gerade in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch mit den Worten: „… vollendet ward es, und das Werk ist da./Beglückte Stunde, die es werden sah!/ Nun wandelt durch das deutsche Vaterland/Gerechtigkeit im heimischen Gewand.“ Noch 1927 hieß es in einer Entscheidung des Reichsgerichts, dass der Gesetzgeber selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden sei als an diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen habe.21 Die oben erwähnten, dem Positivismus gegenüber kritisch eingestellten Ansätze waren in erster Linie an der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientiert, nicht an einer Idee. Es erschien fraglich, ob eine ideelle Philosophie in einer Epoche vorherrschender Erfahrungswissenschaft überhaupt einen Maßstab für gerechtes Recht bereitstellen konnte.22 Aber das Denken auch in dieser Richtung ging weiter. Die entscheidende Abwendung vom Positivismus vollzog sich um die Wende zum 20. Jahrhundert mit der Wiederaufnahme von Ideengut aus dem Deutschen Idealismus, vor allem aus dem Denken Kants. Für das Recht aufbereitet wurde diese Bewegung durch Rudolf Stammler, dessen Ansätze sich aus einer Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung entwickelten.23 Darin wurde ein neuer, außerhalb des gesetzten Rechts liegender Maßstab angeboten, der indessen keine Zeit übergreifend gültige Orientierung aufwies, viel mehr ein „Naturrecht mit wechselndem Inhalt“. Stammler hatte sich mit dieser Theorie an den Neukantianismus der Marburger Schule (Natorp, Cohen), der Philosophie als Wissenschaftstheorie begründen wollte, angelehnt. Einen weitaus bedeutenderen, sich – wie noch zu zeigen sein wird – durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch ziehenden und bis in unsere Zeit reichenden Einfluss, auch auf die rechtsphilosophische Grundlagenbesinnung, hatte die neukantianische Lehre der sog. südwestdeutschen Schule. Sie gab vor allem den Geisteswissenschaften ihr Selbstbewusstsein zurück, das diese angesichts des Triumphzuges der Naturwissenschaften damals weitgehend eingebüßt hatten. Das 19. Jahrhundert gilt, wie bereits angedeutet, als Epoche der modernen Einzelwissenschaften, die auf dem Wege theoretisch-methodischer Verselbständigung aus der Philosophie entstanden waren oder sich im Zuge ihrer Spezialisierung aus älteren Formen der Naturbetrachtung und Naturerfahrung zu einzelnen Fachdisziplinen herausgebildet hatten. Der für die Naturwissenschaften maßgebende Begriff von „Natur“ war als Wirklichkeit „in Rücksicht auf das Allgemeine“ erkannt worden.24 Dabei kam nur dasjenige ins Blickfeld, was Exemplar einer Gattung war. Unberücksichtig blieb in einer solchen Sichtweise alles Individuelle in seiner unendlichen Vielfalt, in Gestalt und Ereignis, geprägt und selbst prägend vor dem Hintergrund von Sinn, der am tatsächlichen geschichtlichen Leben haftete. Dieser Sinn war mit den Methoden der exakten Wissenschaften nicht zu ermitteln, er ergab sich vielmehr aus der Beziehung der Individualität zu einer Wirklichkeit, die zu derjenigen, die Gegenstand der Naturwissen21 RGZ 118, 327 22 Anton Menger, Über die sozialen Aufgaben der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1905, 28 23 Hierzu Lothar Lotze, Rudolf Stammlers Marx-Kritik, in: Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, hg. i.V.m. Konrad Kramer/Ralf Dreier/Werner Maihofer von Gerhard Sprenger, 1991, 91 ff.
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100 Jahre Rechtsphilosophie
schaften war, ergänzend hinzutreten musste. Auf Grund dieser Erkenntnis waren die Geisteswissenschaften rehabilitiert. Erscheinungsform dieses Sinnes nun war der „Wert“. Werte waren Phänomene allgemeinen Interesses, deren Bedeutsamkeit offenkundig vorlag. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung hatte sich die Mannigfaltigkeit der Werte zu „Kultur“ verdichtet: sie gab sich, dynamisch, als die Verwirklichung von Werten zu erkennen.25 Dies war die Losung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der es offensichtlich eine kulturelle Desorientierung in der wirtschaftlich prosperierenden Wilhelminischen Gesellschaft zu kompensieren galt,26 und zwar in einem so unvorstellbar großen Ausmaß, dass es zu einer 1888 in Buchform erschienenen Klage kam (anders kann man es kaum nennen) mit dem Titel „Das Problem der Cultur“. Sein Autor, Robert von Nostitz-Rieneck, schrieb darin: „Wenn den Worten … auch immer die klarsten Begriffe entsprächen, dann müsste in der Tat nichts durchsichtiger sein, als das Problem der Cultur. Immer und überall ist doch von Cultur die Rede. Man begebe sich in Vereine und Versammlungen, höre Vorträge und Festtagsreden, mag es sich nun um Wissenschaft oder Kunst handeln, um Verkehr oder Industrie, um Schulsachen oder Socialreform, allenthalben wird das Culturleben der Culturmenschen, die Culturmission der Culturvölker, der Culturfortschritt unseres Zeitalters gefeiert und gepriesen. Man werfe einen Blick in die Spalten der großen Blätter: im politischen wie im literarischen Theil, in den Berichten von Markt und Börse – überall Cultur und kein Ende.“27
Auch Heinrich Rickert sprach mit Blick auf die enorme Fülle der zwischen 1875 und 1915 erschienenen „Kulturgeschichten“ von einem „Missbrauch“, der mit dem Wort „Kultur“ beim großen Publikum getrieben werde.28 Die Versuche, „Kultur“ zu definieren, sind so überaus zahlreich, dass auch nur eine repräsentative Auswahl hier nicht gegeben werden kann – es existiert eine bloße Zusammenstellung der Definitionen, die allein schon über 400 Seiten umfasst.29 Für das Verständnis unserer Darlegung bedienen wir uns einer Definition Max Webers, der Kultur als einen „vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung“ bedachten „Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ erkannt hatte.30 III. DER BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS: DIE GEBURTSSTUNDE RECHTS- UND WIRTSCHAFTSPHILOSOPHIE“
DES
„ARCHIV
FÜR
Von der alles mitreißenden Kulturströmung jener Zeit wurde schließlich auch das Recht erfasst, und im Umkreis dieses Geschehens ist nun das Motiv für das Erscheinen des „Archivs“ zu finden. Josef Kohler, einer der beiden Herausgeber, seinerzeit 25 Vgl. Sprenger(Fn. 18), 160, Fn. 103 26 Mommsen (Fn. 13), 30 f. 27 Zitiert nach Rüdiger vom Bruch/Friedrich Wilhelm Graf/Gangolf Hübinger, Einleitung: Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900, in: Kulturwissenschaften um 1900, 1989, 11 f. 28 Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 3. Aufl. 1985, 29 29 Vgl. hierzu im Einzelnen: Gerhard Sprenger, Recht als Kulturerscheinung, in: Deutsche Rechtsund Sozialphilosophie um 1900, hg. i.V.m. Konrad Kramer/Ralf Dreier/Werner Maihofer von Gerhard Sprenger, 1991, 138, mit weiteren Nachweisen.
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Gerhard Sprenger
Professor an der Berliner Universität, eröffnete das erste im Herbst 1907 erschienene Heft mit einem Aufsatz „Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie“. Darin heißt es: „Das Recht ist Kulturerscheinung“. „Jedes Kulturleben hat sein besonderes Recht, und jedes Recht hat sein besonderes Kulturleben.“31 „Die Kultur eines jeden Volkes soll dahin trachten, möglichst viele unvergängliche Werte zu erzeugen – sie gehen ein in die ‚Weltentwicklung‘ und kommen der Menschheit als einer ‚evolutionistischen Wesensgattung‘ zugute.“32 Das Recht sei ein unentbehrliches Element der Entwicklung, sei die „Vernunft des Unendlichen“, die sich im geschichtlichen Werden zutage ringe, es helfe dazu, „dieses Werden den Zielen des Weltprozesses zuzuführen, bis einst die Menschheit in unendlicher Aufhäufung der Kulturwerte zur Gottähnlichkeit gelangt ist und der Weltprozeß im Ewigen aufgeht.“33 „Den Organismus der Menschheit als eine sittliche Einheit in der Art aufgefasst zu haben, dass in ihm ein ständiges Streben des Ewigen waltet, ist die ungeheure Tat Hegels.“34 Was die Rechtsphilosophie jener Zeit anbelangte, die als solche kaum noch zu erkennen war, sahen Kohler und Fritz Berolzheimer, der andere Herausgeber, die Möglichkeit einer Befreiung von Historismus und Positivismus nur in einer Rückkehr zur Philosophie Hegels als einer Philosophie des Geistes und damit einer Metaphysik, die eine Wertung des Rechts möglich mache: das „Vernünftige“ des Wirklichen. Kohler ließ fortan nur Hegel (und sich selbst) gelten und rechnete scharf mit allen anderen Denkansätzen ab. Kants Philosophie nannte er eine „Gymnastik des Geistes mit den ungeheuersten Verrenkungen und Verzerrungen“,35 er verwarf den „Windscheidianismus“ als ein „Übel für die Jurisprudenz“,36 und was die Art der Historischen Rechtsschule angehe, so habe sie die philosophische Bildung zurückgedrängt.37 Hegels Rechtsphilosophie, heißt es an anderer Stelle, verhalte sich zu Jherings Tischgesprächen wie Spinozas Traktat zu Haeckels Welträtseln: an platter Gemeinverständlichkeit könnten diese mit Jherings Rechtsphilosophie konkurrieren.38 Was Stammler betreibe, sei Rückschritt, sei verkehrt.39 Zuweilen konnte er agitatorisch und verletzend werden: „Ja, erweckt das Naturrecht wieder! Erhitzt Euch über die Dienstmagd, der einmal Unrecht geschieht, und macht das Leiden des Schulmeisterleins, dem der Schulrat zusetzt, zu einer Weltaffaire! Eure weltgeschichtliche Tragik ist die Tragik der Kanzleiratfamilie, der das Brot zu knapp ist, und die Pfarrerfamilie der Ottilie Wildermuth [eine Frauen- u. Jugendschriftstellerin aus der Tradition des schwäbischen Pietismus, 1817–1877 – G.S.] ist der Ausgangspunkt Eures philosophischen Denkens! Menschenrechte, Kultur der Einzelperson, weltgeschichtliche Verherrlichung des Stallknechts und das Lied vom braven Mann mit Orgelton und Glockenklang!“40
Kohler war geradezu besessen von seiner Lehre, war ungehalten, wenn sie von anderen nicht beachtet wurde, und zu Diskussionen nicht bereit, wohl schon deswegen 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Josef Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP 1 (1907/08), 1 f. Kohler (Fn. 31), 3 Kohler (Fn. 31), 9 Kohler (Fn. 31), 8 Josef Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, ARWP 2 (1908/09), 30 ff., 37 Josef Kohler, Ein juristischer Kulturkampf, ARWP 6 (1912/13), 276 Josef Kohler, Hegels Rechtsphilosophie, ARWP 5 (1911/12), 105 Ebenda Kohler (Fn. 35), 41
100 Jahre Rechtsphilosophie
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nicht, weil er dafür keine Zeit hatte. Die erste Strophe eines von ihm als Dekan der Juristischen Fakultät aus Anlass der Hundertjahrfeier der Berliner Universität verfassten Gedichtes lautete: „Deine Zeit musst Du verstehen,/ willst Du Dauerhaftes schaffen, musst ergreifen, musst erraffen,/eh’ die Stunden rasch vergehen.“41
Dies schien für ihn selbst bezeichnend zu sein. Fast 2500 Titel weist seine Bibliographie aus, darunter über 100 selbständig erschienene Schriften, 80 davon juristischen Inhalts, „die er Jahr für Jahr in verschwenderischer Produktivität hinausschleuderte“, wie sein Biograf Günther Spendel schrieb.42 Daneben sind Gedichtsammlungen und musikalische Kompositionen von ihm erschienen. Zu seinen besonderen Auszeichnungen zählten die Verleihung der Würde eines Ehrendoktors der Berliner Technischen Universität, die seinerzeit viel galt, sowie des Ehrendoktorats der Universität Chicago. Zu letzterem gratulierten nicht nur Kaiser Wilhelm II., sondern auch der damalige amerikanische Präsident Theodore Roosevelt, der ihn im Weißen Haus empfing. Dies soll hier erwähnt werden, um die Konturen dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit nachzuzeichnen, bei dem sich zwar Max Weber habilitiert, der im Übrigen aber keine Schüler hatte.43 Bis zu Kohlers und Berolzheimers Tod (1919 bzw. 1920) wurde vor dem Hintergrund des oben angedeuteten Kultur-„Rauschs“ (Kultur als „Vergöttlichung des Menschen“44) unsere rechtsphilosophische Leitfrage, die Frage nach der Gerechtigkeit, dahingehend beantwortet: Rechtsphilosophie sei Kulturphilosophie.45 Das ist allein in den über 50 Aufsätzen von Kohler und mehr als einem Dutzend Abhandlungen von Berolzheimer, aber auch in anderen Beiträgen, im ARWP nachzulesen. Die Geschlossenheit des Systems ließ weder dem Naturrecht, auch nicht in der neukantianischen Gestalt, die Stammler ihm gegeben hatte, noch dem Utilitarismus, weder der Interessenjurisprudenz noch der Freien Rechtslehre Raum.46 Diese Rückkehr zu Hegel, von dem freilich nicht alles übernommen wurde – Wolfgang Schild hat von einer „geschrumpften Philosophie Hegels“ bei Kohler gesprochen,47 und bereits Gustav Radbruch hatte in seinen 1914 erschienenen „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ einen „nur sehr losen Zusammenhang mit Hegel“ festgestellt48 – bekam (durch Berolzheimer) auch einen Namen: Neuhegelianismus. In ihm, so Kohler, liege „das Heil der Rechtsphilosophie“.49 Wie immer man im Nachhinein über diese Bewegung denken mag: der gewaltigen Schubkraft, die hinter ihrer Idee steckte, hatte u. a. das ARWP (eine von 5
41 Günter Spendel, Josef Kohler – Bild eines Universaljuristen, 1983, 17 42 Spendel (Fn. 41), 38 43 Andreas Gängel/Michael Schaumburg, Josef Kohler, Rechtsgelehrter und Rechtslehrer an der Berliner Alma Mater um die Jahrhundertwende, ARSP 75 (1989), 289 ff., hier: 290 44 Josef Kohler, Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP 3 (1909/10), 503 45 Josef Kohler, Die Grenzen der Rechtsphilosophie, ARWP 7 (1913/14), 48 46 Vgl. hierzu Sprenger (Fn. 1), 3 f. 47 Wolfgang Schild, Die Ambivalenz einer Neo-Philosophie. Zu Josef Kohlers Neuhegelianismus, in: Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, hg. i.V.m. Konrad Kramer/Ralf Dreier/Werner Maihofer von Gerhard Sprenger, 1991, 63 48 Gustav Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, 9
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Zeitschriften, die Kohler herausgab)50 sein Entstehen zu verdanken. Die mit der neuhegelianischen Philosophie verbundene, wissenschaftlich vertiefte Behandlung aller Erscheinungen des Lebens bestimmte auch das Programm der Zeitschrift. Ihr damaliger Untertitel „mit besonderer Berücksichtigung der Gesetzgebungsfragen“ zeigte die angestrebte Verzahnung von Theorie und Praxis an. Aktuellen Rechtsfragen aus dem Alltag wurde in den einzelnen Heften viel Raum gewährt, etwa der Börsengesetzreform, der Vereinheitlichung des Wechselrechts, der Sozialisierung des Jagdrechts, dem Baugläubigerschutz wie dem Urheberrecht, der Abtreibung und der Landstreicherei und den Gefahren des Überhand nehmenden Feminismus in Österreich. Die (auf einen besonderen Wunsch Berolzheimers erfolgte) Einbeziehung der Wirtschaftsphilosophie bereits in den Titel der Zeitschrift sollte die Erkenntnis der Wechselwirkung zwischen Recht und Wirtschaft und den Stellenwert, dem man diesem Verhältnis zumaß, zum Ausdruck bringen.51 Erwähnenswert bleibt schließlich noch, dass das „Archiv“ von Beginn an in beachtlichem Maße die Rechtsvergleichung thematisierte und überhaupt international auftrat. Bereits in den ersten Jahrgängen konnte man dort die rechtsphilosophischen Entwicklungen etwa in Italien, Polen, Ungarn, Russland oder Spanien verfolgen, ein Artikel aus der Feder von Roscoe Pound stellte kurz vor dem Ersten Weltkrieg „The Philosophy of Law in America“ vor (1913/14). Es wurde Länder übergreifend rezensiert, und schon frühzeitig erschienen die ersten Beiträge in anderen Sprachen. Dieser internationale Auftritt der Rechtsphilosophie im „Archiv“ erhielt zwei Jahre nach dem Erscheinen der Zeitschrift noch deutlichere Konturen, und zwar durch die Gründung der „Internationalen Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ (IVR) zum Zweck – und noch einmal wird „Kultur“ hervorgehoben – der „Pflege und Förderung der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie in allen Kulturstaaten“.52 Die Vereinigung sollte die „strebenden Geister aller Kulturländer“ in sich begreifen, denn die wahren Fortschritte auf den in Aussicht genommenen Kulturgebieten resultierten aus einer gemeinsamen Arbeit, die als einheitliches Band alle Kulturvölker zusammenschließe. Wenn irgendwo die Erstreckung der Tätigkeit auf die gesamte Kulturmenschheit angezeigt und gerechtfertigt erscheine, so sei dies hier der Fall.53 Hierbei war zwar keine philosophische Richtung prinzipiell ausgeschlossen, jedoch – so hieß es in der am 1. Oktober 1909 beschlossenen Satzung dieser Vereinigung weiter – „…erscheinen die Ideen und Postulate neuidealistischer Philosophie besonderer Unterstützung wert.“54 Diese positionelle Verengung, die bis zur Änderung der Satzung im Jahre 1924 galt, relativierte sich indessen bald infolge der großen 50 Hierzu Gängel/Schaumburg (Fn. 43), 291. – Der Kultur-„Entdeckung“ hatten auch mehrere andere Zeitschriften ihr Entstehen zu verdanken, so etwa „LOGOS“, eine „Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“, die dem Aufbau einer „philosophischen Kultur“ als „Lebensorientierung“ dienen sollte. Sie war als deutsch-russisches Unternehmen 1910 begründet worden und erschien bis 1933; vgl. hierzu Rüdiger Kramme, „,Kulturphilosophie‘ und ‚Internationalität‘ des ‚Logos‘ im Spiegel seiner Selbstbeschreibung“, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, II: Idealismus und Realismus, hg. von Gangolf Hübinger/Rüdiger vom Bruch /Friedrich Wilhelm Graf, 1997, 122 ff. 51 Vgl. hierzu Lothar Lotze/Walter Schier, Fritz Berolzheimer und das Archiv, ARSP 73 (1987), 15 ff. 52 Statut der I. V. R., ARWP 3 (1909/10), 3 53 ARWP 3 (1909/10), 437
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internationalen Beteiligung in den Organen der Vereinigung (Vorstand, Beratender Ausschuß, Ehrenrat), in der Mitgliedschaft und durch die im ARWP veröffentlichten Beiträge aus anderen Ländern (obgleich neuhegelianische Strömungen auch in anderen Ländern, wie Italien, Frankreich und England zu verzeichnen waren). Während der Zeit des Ersten Weltkrieges ging dann die internationale Beteiligung an der Zeitschrift deutlich zurück, die Bände zwischen 1914 und 1918 wurden überhaupt schmäler. IV. DIE WEIMARER ZEIT Nach dem großen gesellschaftlichen und politischen Umbruch 1918 waren alle wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zunächst mehr oder weniger mit ideologischen verknüpft. Der politischen Philosophie kam in dieser Zeit eine besondere Rolle zu: das Erkenntnisinteresse wurde fast ausschließlich von jeweils aktuellen weltanschaulichen Bedürfnissen gespeist. Die geistesgeschichtliche Situation in der Weimarer Epoche gab sich als verworren wie nie zuvor.55 Der Philosoph Fritz Heinemann schrieb in einem seinerzeit viel beachteten Werk: „Heute erleben wir die Auflösung aller mythos- und religionsgebundenen, autarken und schulmäßigen Formen. Chaos und Richtungslosigkeit scheint das Signum der Zeit. Hie Kant, hie Nietzsche, hie Marx, hie Hegel, Untergang der Wissenschaft, Lebensphilosophie, Mystik, Metaphysik, Phänomenologie – wie ein Jahrmarktsgeschrei mischt sich der wüste Chor der Stimmen. Es ist wie bei einem Erdbeben, wo der sichere Halt des mütterlichen Bodens sich löst und die Menschen wie aufgescheuchtes Geflügel wirr durcheinander rennen und niemand weiß, wohin er sich retten soll. Die Not ist groß.“56 Und auch Karl Jaspers hielt als Ergebnis seiner Bestandsaufnahme „Die geistige Situation der Zeit“ fest: Untergangsstimmung und innere Haltlosigkeit auf der einen Seite und der Aufbruch zu neuen Werten, die Suche nach einer „Sinngebung des Sinnlosen“ (Theodor Lessing) auf der anderen.57 Soweit die allgemeine Philosophie. Ähnlich sah es in der Rechtsphilosophie aus. Zu beobachten war hier eine streng wissenschaftlicher Sichtweise geschuldete Systematisierung. So unterschied man zwischen (1) den einzelwissenschaftlich angelegten „enzyklopädischen“ Richtungen, zu denen die Allgemeine Rechtslehre, der Rechtshistorismus, die Rechtsvergleichung, die Rechtssoziologie und die Rechtspolitik gehörten, (2) der Rechtsphilosophie im engeren und (3) der Rechtsphilosophie im weiteren Sinne. Zu ersterer zählten der Positivismus, die Phänomenologie, der Psychologismus und der Logismus, dieser wiederum untergliedert in formalen, transzendentalen, normativen, apriorischen und axiologischen; zur Rechtsphilosophie im weiteren Sinne rechnete man neben der Kulturphilosophie (immer noch an erster Stelle!) die Ethik, Logik, Psychologie, Pädagogik, Ästhetik, Religionsphilosophie, Naturphilosophie, Soziologie, Sozialphilosophie, Geschichtsphilosophie und – be-
55 Vgl. Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Zeit und im Dritten Reich, Bd. I, 2002, 18 ff. 56 Fritz Heinemann, Neue Wege der Philosophie, 1929, 1 Karl der Zeit, ff.
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merkenswerter Weise an letzter Stelle genannt: die Metaphysik des Rechts.58 Es hatte den Anschein, als wagte sich in diesen speziellen Ansätzen nunmehr manche Idee ans Licht, die sich in den eineinhalb Jahrzehnten unter dem Druck neuhegelianischer Herrschaft verborgen gehalten hatte. Wilhelm Sauer und Arthur Baumgarten waren bemüht gewesen, in mehreren Artikeln eine Übersicht zu geben, wobei sie sich gleichzeitig über die Zukunftsaussichten der Rechtsphilosophie Gedanken gemacht hatten.59 Sauer nannte diese einzelnen Richtungen „Scheinwerfer“: sie seien zwar alle mehr oder weniger berechtigt, aber „einseitig und unzureichend. Sie werfen nur auf ein begrenztes Feld Licht.“60 Nicht verwunderlich, dass in einer solchen Zeit der Ratlosigkeit im Hintergrund auch immer wieder einmal der Naturrechtsgedanke aufflackerte. „Es muss … eine Idee des Naturrechts geben, die unbesiegbar ist, wenn auch ihre bisherigen Erscheinungsformen, insbesondere die des 18. Jahrhunderts und die der Gegenwart, methodisch widerlegt sind.“61 Eine solche Unruhe und Unübersichtlichkeit im geisteswissenschaftlichen Denken war offensichtlich ein Abbild des gesellschaftlichen und politischen Zustands jener Jahre. Bezieht man noch die Themen der Referate ein, die auf dem IVR-Kongress 1926 in Berlin gehalten wurden, so zeigt sich insgesamt etwa folgendes Bild: −
Die „Spätzeit der großen Gesamtentwürfe, der geistigen Zusammenschau, die unbewusst im Nachglanz der unerhört universalen Genialität Hegels stand“, wie sie Eduard Spranger bei seinem Bezug der Berliner Universität im Jahre 1900 noch wahrgenommen hatte, war vorüber,62 wobei der Kampf gegen Hegel eigentlich ein Kampf gegen den Idealismus in dieser Form des Absoluten als „Gipfel der Verstiegenheit“ war.63
−
Auch vom Neuhegelianismus hatte man sich still, fast heimlich, verabschiedet. Beinahe verschämt liest sich dies in einem Aufsatz „Hegel und die Gegenwart“ von Wilhelm Sauer, wo es heißt, dass „die laute Verkündung des letzteren [gemeint ist der Neuhegelianismus G.S.] in unseren Tagen soviel Selbstverständliches enthält und an sich so wenig Fortschritt bringt.“64
−
Auf den Philosophie-Lehrstühlen war inzwischen der Neukantianismus im Vordringen: in der methodologischen (Cohen, Natorp, Cassirer) und in der wertphilosophischen Ausrichtung (Rickert, Windelband). Neben dem beginnenden Einfluss dieser beiden Schulen ist die Phänomenologie (Husserl, der KelsenSchüler Felix Kaufmann und dann Adolf Reinach) zu nennen, daneben Hans Kelsen. Eine nicht unbedeutende Rolle wird in jener Zeit auch der Neuscholastik zugeschrieben. Gustav Radbruch sah die katholische Rechtsphilosophie als
58 Wilhelm Sauer, Übersicht über die gegenwärtigen Richtungen in der deutschen Rechtsphilosophie, ARWP 17 (1923/24), 284 ff. 59 Sauer (Fn. 58) sowie ders., Stand und Zukunftsaufgaben der Rechtsphilosophie, ARWP 26 (1932/33), 3 ff.; Arthur Baumgarten, Neueste Richtungen der allgemeinen Philosophie und die Zukunftsaussichten der Rechtsphilosophie, ARWP 16 (1922/23), 237 ff. 60 Wilhelm Sauer, Fruchtbarkeit der Rechtsphilosophie, ARWP 20 (1926/27), 193 61 Alfred Manigk, Wie stehen wir heute zum Naturrecht?, ARWP 19 (1925/26), 409 f. 62 Eduard Spranger, Eine Berliner Generation, in: Berliner Almanach 1947, hg. von Walter G. Oschilewski/ Lothar Blanvalet, 1946, 34 63 Werner Schneiders (Fn. 10), 25
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den einzigen Ort an, in dem das Naturrecht noch in der Gestalt lebendig war, in welcher es „das klassische Naturrechtszeitalter vorbereitet“ hatte.65 −
Und es wird mehr Lebens- und Wirklichkeitsnähe von der Wissenschaft verlangt: Tatsachenforschung. Es ist viel von „angewandter Rechtsphilosophie“ die Rede – die soziologische Betrachtungsweise begann, sich auch im Recht Raum zu schaffen.
V. DIE JAHRE 1933
BIS
1945
Der Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland brachte für das „Archiv“ zunächst äußere Veränderungen. Es wechselten die Herausgeber, die Zeitschrift nannte sich von nun an „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“, und an die Stelle des Verlages Dr. Walther Rothschild trat der Verlag für Staatswissenschaften und Geschichte GmbH. Bereits im ersten Heft dieser Periode wurde das Programm der neuen Zeit aufgerufen: „Schöpferisches Volkstum als national- und weltpolitisches Prinzip. Zur Klärung der rechts- und sozialphilosophischen Grundlagen der nationalsozialistischen Bewegung“. Sein Autor, Wilhelm Sauer, sprach darin von „volklich geeignetem Erbgut“, das sich in „Kraft-Monaden“ als „geheimen, im Volk aufgespeicherten, von erbgesunden Volksgenossen erzeugten und durch den Geschlechtsakt sich vererbenden Kraftteilchen“ äußere.66 Eduard Kern erklärte in einem Beitrag die Unabhängigkeit der Richter als im Widerspruch zum totalen Staat stehend,67 und Alexander Graf zu Dohna rechtfertigte politische Justiz am Beispiel des Überzeugungstäters.68 An anderer Stelle war von der Notwendigkeit der Einschränkung der Moral durch das Rasseprinzip die Rede.69 C. A. Emge breitete „Ideen zu einer Philosophie des Führertums“ aus,70 und Erik Wolf stellte „Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates“ vor.71 Diese Beispiele mögen genügen – sie sprechen für sich. Es gab aber auch andere Äußerungen, die von Wachsamkeit, Unbeirrbarkeit und Mut in dunkler Zeit zeugten und anklagten. Dies geschah zumeist in historischer Kaschierung. Der Jenaer Strafrechtler Heinrich Gerland etwa sprach in seinem Aufsatz „Schiller und die Revolution“ davon, dass die politische und bürgerliche Freiheit „immer und ewig das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen“ zu bleiben habe.72 „Wenn nun aber der Staat so durch die herrschende Macht seinem eigentlichen Endzweck entfremdet wird, wenn die einzelnen in ihrem Staat nicht mehr sich selbst entwickeln können, sondern durch Zwang und Unterdrückung geistig, ja auch körperlich gebrochen zugrunde gehen 65 Gustav Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, 3 66 Wilhelm Sauer, Schöpferisches Volkstum als national- und weltpolitisches Prinzip, ARSP 27 (1933/34), 19 ff., 21 67 Eduard Kern, Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit, ARSP 27 (1933/34), 309 ff., 316 f. 68 Alexander Graf zu Dohna, Kernprobleme der Rechtsphilosophie, ARSP 33 (1939/40), 56 ff., 139 69 Wilhelm Sauer, Recht, Rasse, Volksmoral, ARSP 28 (1934/35), 154 ff. 70 Carl August Emge, Ideen zu einer Philosophie des Führertums, ARSP 29 (1935/36), 175 ff. 71 Erik Wolf, Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates, ARSP 28 (1934/35), 348 ff.
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Gerhard Sprenger müssen, … dann hat die Macht, d. h. der Staat in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung, sein Recht, seine materielle Legitimität verloren.“73
Versteckte Kritik am Gebaren der Machthabenden jener Zeit war auch in einem Aufsatz Wilhelm Hofackers mit dem Titel „Keplers Betrachtungen über das Rechtswesen“74 zu finden. Er wies darin auf einen Exkurs Keplers im III. Buch seiner „Harmonice mundi“ hin, in dem der Astronom im Anschluss an Jean Bodin die arithmetischen, geometrischen und harmonischen Proportionen dem gesellschaftlichen und staatlichen Leben zugrunde gelegt und als Ergebnis dabei die Gefahren einer allzu umfassenden Abstraktion aufgezeigt hatte. Dies sei, so Hofacker, „wie für unsere Zeit geschrieben“, in der die Gedanken des Willensstrafrechts, des Vorrangs allgemeiner Rechtsgüter vor persönlichen und des gesunden Volksempfindens zu Leitsätzen gemacht worden seien.75 Erwin Riezler wies in einem Artikel „Naturgesetz und Rechtsordnung“ darauf hin, dass die Rechtsidee „nicht nur einer lediglich auf Kraft und Macht gegründeten Anmaßung der Superiorität des einzelnen über den andern, sondern auch einer nur auf die natürliche Stärke gegründeten Gewaltherrschaft eines Volkes über das andere“ widerstrebe. Und dann wurde er konkret: „Die Erhaltung erbschwacher und kränklicher Kinder, der Rechtsschutz des Lebens unheilbarer Kranker, die rechtlich geregelte Fürsorge für Geisteskranke, die Fürsorgeeinrichtungen für die wegen hohen Alters für die Gemeinschaft Leistungsunfähigen – alles dies müsste eine Rechtspolitik, der eine schrankenlose Anpassung an zoologische und biologische Gesichtspunkte das bedingungslos durchzuführende oberste Gesetz wäre, grundsätzlich ablehnen. Und doch, welches zivilisierte Volk möchte eine solche Rechtspolitik, in welcher der Humanitätsgedanke einer rein naturwissenschaftlichen Betrachtung völlig geopfert wird, wirklich zur seinigen machen?“76
Und schließlich sei Gustav Radbruch genannt, dessen letzter Aufsatz 1942 im „Archiv“ erschien, das ihm, wie er dankbar anerkannte, als einzige deutsche Fachzeitschrift während der NS-Diktatur ihre Spalten geöffnet hatte. In diesem Aufsatz mit dem Titel „Verdeutschter Cicero“77 bezog sich Radbruch auf Johann von Schwarzenberg, bekannt als Schöpfer der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507, der im Rahmen damaliger volkspädagogischer Aufklärungsbemühungen einige philosophische Schriften Ciceros übersetzt und unter dem Titel „Teutsch Cicero“ herausgegeben hatte. In dieser Übersetzung habe sich Schwarzenberg, so Radbruch, als „deutscher Cicero“ erwiesen, indem er nämlich den „Offizien“ nicht etwa nur seine Sprache, sondern auch seinen Geist verliehen habe – genau so, wie seinerzeit Cicero seine griechischen Vorbilder verrömert hatte. Zu den wenigen Beispielen, die Radbruch nennt, gehört dasjenige der Verurteilung des „Tyrannen“ Cäsar, dessen Ermordung Schwarzenberg – wie Cicero einst – gebilligt hatte, und er schließt seinen Aufsatz mit der nachdenklichen Betrachtung: „Cicero – der einem Manne von dem Wuchse Schwarzenbergs so viel bedeutete – sollte er nicht auch uns noch das eine oder andere zu sagen haben?“78 Der Nationalsozialismus hat bekanntlich keine eigene Rechtsphilosophie hervorgebracht, die einer bestimmten Tradition verpflichtet gewesen wäre. Bei der Aus73 74 75 76 77
Gerland (Fn. 72), 180 Wilhelm Hofacker, Keplers Betrachtungen über das Rechtswesen, ARSP 34 (1940/41), 137 ff. Hofacker (Fn. 74), 146 f. Hofacker (Fn. 74), 149 ff., 154 Gustav Radbruch, Verdeutschter Cicero, ARSP 35 (1942/43), 143 ff.
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richtung des neuen Rechts waren völkisch-rassische Gesichtspunkte leitend, methodologisch arbeitete man mit einem „konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken“ (Carl Schmitt) und „konkret-allgemeinen Begriffen“ (Karl Larenz).79 Die „Perversion des Rechts“ (Fritz von Hippel) vollzog sich weniger in der Neuschaffung von Unrecht, das man als Recht ausgab – das geschah freilich auch –, entscheidender war die extrem ungerechte Handhabung des geltenden Rechts in der Praxis. Um dies zu erreichen, war den Nationalsozialisten, wie Hubert Rottleuthner zutreffend festgestellt hat, die Sicherung der Konformität des Rechtsstabes allerhöchstes Anliegen.80 Dieser Stab hatte im Sinne einer Doppelstrategie zu verfahren: positives Recht oder an seiner Stelle ein „höheres Prinzip“ anzuwenden, je nachdem, welches für die Ziele der damaligen Staatsführung geeigneter erschien.81 Ab 1939, wie zu Beginn des Ersten Weltkrieges, verringerte sich die Zahl der Beiträge im „Archiv“ zunehmend, ohne dass sich dies zunächst auf den Umfang auswirkte, d. h. es erschienen, übrigens vorwiegend zu historischen, weil unverfänglicheren, Themen überlange Aufsätze. Auffällig ist die Anzahl der Sonderhefte zu Jubiläumsgeburtstagen: von René Descartes, Rudolf Stammler, Eduard von Hartmann, Heinrich Scholz, ferner ein „Ungarn-Heft“. Und dann ist jenes ungewöhnliche, fast 400 Seiten starke aphoristische, dem Andenken an Georg Christoph Lichtenberg aus Anlass seines 200. Geburtstages gewidmete Werk des Herausgebers C. A. Emge zu nennen mit dem beziehungsreichen Titel „Diesseits und jenseits des Unrechts“.82 All dies ist zu deuten als ein Zeichen von Verlegenheit, in der sich nicht nur die IVR und der damalige Herausgeber des ARSP, sondern das ganze Fach Rechtsphilosophie befanden. Mit Fortschreiten des Zweiten Weltkrieges wurden dann, wie während des Ersten Krieges, die Bände schmal, der letzte, 1944 erschienen, bestand schließlich nur noch aus einem Heft. VI. DIE SITUATION
IN DER
NACHKRIEGSZEIT
Nach fast vierjähriger Pause wurden am 6. August 1948 im Rahmen des zweiten deutschen Philosophen-Kongresses nach dem Krieg, der in Mainz stattfand, die Fortführung der IVR und die Wiederherausgabe des in ihrem Auftrag erscheinenden „Archiv“ beschlossen. Als neuer Verlag wurde die A. Francke AG in Bern gefunden.83 Angemerkt sei sogleich, dass auch jetzt, nach dem Neuanfang in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und das erscheint nach dem Krieg in besonderem Maße erwähnenswert – im „Archiv“ eine rege internationale Beteiligung verzeichnet werden konnte. Bereits die beiden ersten Jahrgänge enthielten Beiträge aus Bologna, London, Rom, New York, Paris, Fribourg, Lund, Innsbruck, Cambridge (Mass.), Aarhus, Helsinki, Jerusalem, Coimbra, Bern, Zürich, Utrecht, Buenos Aires, Oklahoma. 79 Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1969, 277 ff. 80 Hubert Rottleuthner, Substantieller Dezisionismus. Zur Funktion der Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus, in: Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, hg. von dems., 1983, 20 ff., 23 81 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, in: Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus (Fn. 80), 1 ff., 2, 15 82 Carl August Emge, Diesseits und jenseits des Unrechts, ARSP 36 (1943), 183–564
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Nach all dem in den Jahren 1933 bis 1945 Erlebten, das in seinem ganzen schrecklichen Ausmaß erst nach und nach erkannt wurde, galt es allgemein, und im Besonderen eben im Recht, das Bewusstsein für moralische Maßstäbe wieder zu erwecken und zu stärken. Karl Jaspers, einer der wenigen Philosophen, die schon bald nach dem Kriege die Frage der Schuld thematisierten, plädierte für einen neuen Humanismus,84 und Gustav Radbruch, dem das erste Heft des neu erstandenen „Archivs“ aus Anlass seines 70. Geburtstags gewidmet war, rief zu einer Erneuerung des Rechts auf durch Besinnung „auf die Jahrtausend alte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung“, darauf, „dass es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches Recht, an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es in die Form des Gesetzes gegossen ist.“85 Ehe nun Philosophie und Wissenschaft über eine neue Orientierung nachdenken und ein Maß für Gerechtigkeit im Recht benennen konnten, hatte sich noch im Spätherbst 1945, als begonnen worden war, die Gerichtshoheit aus der Macht der Alliierten schrittweise wieder den deutschen Behörden zurückzugeben, das Amtsgericht Wiesbaden in einer berühmt gewordenen Entscheidung zur Begründung des Unrechtsgehaltes eines während der NS-Zeit erlassenen Gesetzes auf das Naturrecht berufen.86 Dieser Entscheidung waren bald andere, auch oberer Gerichte, gefolgt. Es waren überwiegend Fälle, in denen nationalsozialistische Gesetze, Verordnungen oder Befehle für ungültig erklärt wurden, um begangenes, oft strafbares Unrecht, das durch solche Vorschriften gedeckt erschien, ahnden zu können. Solchem „Recht“ müsse immer dann, wie es beispielhaft in einem Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main hieß, die Geltung versagt werden, wenn „es mit den Forderungen in Widerstreit tritt, die als Naturrecht bezeichnet werden.“87 In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes schließlich, der in der Nachfolge des Reichsgerichts 1950 sein Arbeit aufgenommen hatte, wurde eine solche Heranziehung des Naturrechtsgedankens bestätigt und weiter ausgedehnt. Später folgte hierin auch das Bundesverfassungsgericht. Parallel zu der in der Rechtsprechung praktizierten Anrufung der Gerechtigkeit unter dem uralten Namen des Naturrechts waren in Deutschland die Beratungen zur Schaffung einer neuen Verfassung angelaufen. Auch hierbei war man auf der Suche nach Leitideen, nach neuen dauerhaften Orientierungsmalen für gerechtes Recht. Diese Beratungen auf Herrenchiemsee und in Bonn wurden ebenfalls in einer „naturrechtsfreundlichen“ Atmosphäre geführt. Man wollte „auf dem Naturrecht aufbauen“; es sollte zum Ausdruck kommen, dass „die Rechtsprechung diesen Untergrund des Naturrechts bei der Auslegung heranziehen kann.“ Schließlich sah man den Gedanken des „natürlichen Rechts“ unmittelbar in den Grundrechten verkörpert: „… der Kernbereich der Grundrechte, wie er sich aus den Artikeln 1, 2 und 3 84 85 86 87
Karl Jaspers, Über die Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus, 1949. Gustav Radbruch, Die Erneuerung des Rechts, in: Die Wandlung, 1947, 8 f. Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 369 Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 622. Vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen bei Kristian Kühl, Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Naturrechtsdenken des 20. Jahrhunderts, in: Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren, hg. von Karl Acham/Knut Wolfgang Nörr/
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des Grundgesetzes ergibt, ist weitgehend mit dem Kernbereich des Naturrechts identisch.“88 Dies galt ebenso für den Entstehungsprozess der Verfassungen der einzelnen Bundesländer.89 Solchen Impulsen aus der Judikatur und der Gesetzgebungspraxis folgte die Wissenschaft. Nach Gustav Radbruch war es der Jurist Thomas Würtenberger, der in einem Schlusswort auf dem bereits erwähnten Mainzer Philosophen-Kongess 1948 an die Philosophen die Bitte richtete, „uns zu helfen bei der Begründung einer neuen Naturrechtsauffassung“.90 Bis gegen Ende der fünfziger Jahre beherrschte die Auseinandersetzung mit dem „neuen“ Naturrecht die Diskussion. Eine Bibliographie zum Naturrechtsschrifttum in der Zeit von 1945 bis 1960 weist (international) mehr als 750 Titel aus.91 Wie war dieser „Rückfall“ in das Naturrecht zu erklären, das längst, und zwar für immer, von positivistischen Gerechtigkeitsauffassungen verdrängt zu sein schien? Zweifellos war die erste Nachkriegs-Rechtsprechung noch immer von dem Schrecken diktiert, den ein beispielloser Missbrauch des Rechts durch die nationalsozialistische Willkürherrschaft in den Jahren 1933 bis 1945 hervorgerufen hatte. Man wird von einer Sprachnot in der Richterschaft, aber auch in der Jurisprudenz ausgehen müssen, die sich bei der Suche nach einem neuen unerschütterbaren, nach Möglichkeit unverbrauchten Maß für Gerechtigkeit eingestellt hatte. In der Zielrichtung mag Einigkeit bestanden haben: weg von einem Recht, das menschlicher Willkür überlassen war – was daraus werden konnte, hatte die gerade erst überwundene Zeit gezeigt –, hin zu einem objektiven, überzeitlichen Maß, einem Maß, an das der Mensch nicht heranreichte. Man scheute sich in diesen ersten Jahren des Neuanfangs hinsichtlich der Legitimation von Recht auch nicht vor einem öffentlichen Bekenntnis zum Göttlichen.92 Relikte solcher Re-Konfessionalisierung dürften die Gottesbezüge sein, die sich in den Präambeln der meisten Verfassungen der alten Bundesländer und des Grundgesetzes finden. Die Muße für eine akademische Auseinandersetzung mit diesen Fragen fehlte, die Zeit drängte, es galt, Unrecht wieder gutzumachen. Bei der Suche nach einem Halt griff man, auch außerhalb des Rechts, in jenen Jahren gern nach Metaphern antiker oder spätidealistischer Denkungsart, und so machte man auch hier eine Anleihe bei jener Aura des Integren und Erhabenen, die nicht nur den Begriff des „Göttlichen“, sondern auch den des „Naturrechts“ von Anfang an umgeben hatte: „… die Verschwommenheit, die Verehrungswürdigkeit und die angebliche Heiligkeit des Naturrechts ließen diesen Begriff …zu einer Art Zauberwand werden, auf die … neue Ideen und Forderungen als legitime Nachkommen jener altehrwürdigen Vor88 Gebhard Müller, Naturrecht und Grundgesetz, 1967, 11; vgl. auch Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, Jahrbuch d. öff. Rechts, NF 1, 1951, 42, 48 89 Vgl. hierzu Jerzy Zajadlo, Überwindung des Rechtspositivismus als Grundwert des Grundgesetzes, Der Staat, 1987, 219. 90 Thomas Würtenberger, Das Naturrecht als philosophisches Problem, in: Philosophische Vorträge und Diskussionen. Bericht über den Mainzer Philosophenkongress 1948, hg. von Georgi Schischkoff, 1948, 118 f. (= Sonderheft der Zeitschrift für philosophische Forschung). 91 Bibliographie zum Naturrechtschrifttum 1945–1960, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, hg. von Werner Maihofer, 1972, 580–620 92 Hierzu mit Beispielen: Gerhard Sprenger, Das „Sittengesetz“ als Freiheitsschranke, in: Gesetz, Recht, Rechtsgeschichte, FS für Gerhard Otte, hg. von Wolfgang Baumann/Hans-Jürgen von Dickhuth-Harrach/ Wolfgang Marotzke, 2005, 402 f.
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stellung“ projiziert werden konnten.93 Es kann eben Situationen geben, in denen der Rückgriff auf das Naturrecht gegenüber der Arroganz staatlicher Macht effektiver erscheint als die subtilsten Begründungen anderer Art. Bei tief greifenden Veränderungen und Umbrüchen in der Lebenssituation der Menschen und in den gesellschaftlichen und politischen Strukturen wird der Ruf nach Erneuerung und Wiedergewinnung des Naturrechts immer wieder einmal erhoben.94 Man ahnte freilich bei all dem, dass es kein Zurück zum Naturrecht im traditionellen Sinne mehr geben könne, sondern nur den Weg einer Neubegründung des Rechts „durch Naturrecht und Rechtspositivismus hindurch“, wie es Werner Maihofer einmal formuliert hat. Es galt, ein nicht mehr abstraktes, sondern konkretes, nicht mehr geschichtslos absolutes, sondern historisch-relatives, nicht mehr zeitlos gültiges, sondern geschichtlich werdendes Naturrecht zu finden.95 Angesichts der Versuche einer solchen Neuorientierung, zu deren bedeutendsten auch das Werk „Naturrecht und menschliche Würde“ (1961) von Ernst Bloch zählt, ist es nicht verwunderlich, dass man in jenen Jahren auch wieder auf den Begriff der „Natur der Sache“ rekurrierte, dessen eigentliche „geschichtliche“ Stunde in der Spätaufklärung lag, als man erstmals Elemente von Wirklichkeit in die damals neuen Naturrechtslehren einbezog.96 Wenn wir im Rückblick auf diese Entwicklung von einer vorübergehenden „Naturrechtsrenaissance“ sprechen,97 können wir festhalten, dass dasjenige, was seinerzeit als „Naturrecht“ bezeichnet worden war, nichts anderes darstellte als eine „recht bunte, nicht selten widerspruchvolle und verwirrende Vielfalt von Wertvorstellungen“, und wo in ihnen überhaupt eine tragende Grundüberzeugung über das Wesen des Rechts durchschien, war diese kaum je etwas anderes „als das noch dem 19. Jahrhundert verhaftete bürgerliche Humanitätsideal, wie es auch in den Grund- und Menschenrechten unserer Verfassungen positiviert worden ist.“98 Spätestens seit der Mitte der fünfziger Jahre, nachdem sich erste konkretere Auswirkungen der in der neuen Verfassung verankerten Grundrechte bemerkbar gemacht hatten, verschwand das „Naturrecht“ aus der Diskussion um die Legitimität von Recht. Die Suche nach Letztprinzipien für Gerechtigkeit ging indessen weiter. Man begann, wie Klaus Stern zutreffend bemerkte, die Grundrechtsideen und –gehalte auszuloten.99 Bevor wir abschließend den Weg dieser Anstrengungen, der in eine im weitesten Sinne dem Recht übergeordnete, an der Idee der Gerechtigkeit orientierte Richtung verlief, weiter verfolgen, sei auf eine Reihe sich zeitlich parallel dazu zei93 Arthur Rauscher, Zum Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht in christlicher Denktradition, in: FS für H. Lampert, hg. von W. Bottke/A. Rauscher, 1990, 9 94 Arthur Nussbaum, Geschichte des Völkerrechts in gedrängter Darstellung, 1960, 17 95 Werner Maihofer, Einleitung in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, hg. von dems., 1972, X. 96 Hierzu Gerhard Sprenger, Naturrecht und Natur der Sache, 1976, 63 ff. 97 Hierzu Kristian Kühl, Rückblick auf die Renaissance des Naturrechts nach dem 2. Weltkrieg, in: Geschichtliche Rechtswissenschaft. Ars tradendo innovandoque aequitatem sectandi. Freundesgabe für Alfred Söllner zum 60. Geburtstag, hg. von Gerhard Köbler/Meinhard Heinze/Jan Schapp, 1990, 339 ff. 98 Arthur Kaufmann, in: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hg. von dems./Winfried Hassemer, 4. Aufl. 1984, 79 99 Klaus Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Handbuch des Staatsrechts der
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gender Strömungen hingewiesen, denen eine überwiegend an der Wirklichkeit oder an wissenschaftlicher Methodik orientierte Gerechtigkeitssuche eigen ist. In den Sozialwissenschaften allgemein war unmittelbar nach dem Zusammenbruch 1945 auch eine vermehrte Hinwendung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verzeichnen mit dem Ziel, die dieser wesenseigene Normativität zu thematisieren. Es galt, wie Helmut Schelsky dies 1954 einmal formuliert hatte, „die Schwaden der sozialen Unwirklichkeit, die über den Trümmern unserer Gesellschaftsordnung liegen, zu durchstoßen“, um den „fundamentalen Realitätsverlust“ jener Zeit wettzumachen.100 Man versuchte dabei unter anderem, die Entstehung und Wirkung von Recht, aber auch seine Geltungschancen in der Gesellschaft, mit einem neuen und weiterentwickelten Instrumentarium zu untersuchen, das die Sozialwissenschaften den Juristen zur Verfügung gestellt hatten: empirische Verfahrensanalysen, Effektivitätsmessungen, methodische Rechtsvergleichung, gesellschaftstheoretische Erklärungsmuster. Durch die Übernahme von Arbeitsweisen der Sozialforschung, die in der Empirie nach 1945 entscheidende Impulse aus den USA erhalten hatte,101 und durch den Einfluss sozialwissenschaftlicher Theorie und sozialwissenschaftlichen Denkens allgemein entstand so ein besonderes Instrumentarium der Kritik an der Rechtsdogmatik und der juristischen Methodenlehre. Auch dies wurde in durchgehender Regelmäßigkeit im „Archiv“ thematisiert. Seit dem Beginn der sechziger Jahre lässt sich sodann in der Rechtsphilosophie eine Entwicklung beobachten, die durch Vielfalt und Divergenz geprägt ist. Es entstehen zahlreiche, im Bereich der Sozialwissenschaften zumeist disziplinen-übergreifende Ansätze, die, in freilich unterschiedlichem Maße, sämtlich auch heute noch präsent sind. Eine eingehende Auseinandersetzung mit ihnen würde den hier vorgegebenen Rahmen sprengen – die bedeutendsten von ihnen seien hier wenigstens genannt: −
Eine sich in der Kommunikation entfaltende praktische Vernunft als Verfahrensgerechtigkeit vor dem Hintergrund eines liberalen und demokratischen Rechtsstaates ist das Ziel der Diskurstheorien. (Habermas)
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Ihre analytischen Ansätze sind auch in den sog. Argumentationstheorien unterschiedlicher Ausprägungen zu finden, deren Anfänge auf Aristoteles zurückgehen. (Alexy)
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Vor dem Hintergrund der Erfahrung von Komplexität und Kontingenz von Recht und Gesellschaft, ja von Welt überhaupt, entstand eine Theorie selbstreferentieller Systeme, die Gerechtigkeit als „adäquate Komplexität des Rechtssystems“ auswies. (Luhmann)
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Vom Pragmatismus amerikanischer Prägung herkommend (Dewey, Rorty), nahm der Rechtsrealismus die besondere Abhängigkeit des Rechts von politisch-rechtlichen Entscheidungsprozessen und arbeitsteiligen Strukturen moderner Organisationsgesellschaft zum Ausgangspunkt seiner Lehre.
100 Helmut Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit, 1965, 392
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Als neuere Gerechtigkeitstheorien werden liberale, sozialstaatliche und kommunitaristische Lehren etwa von Dworkin und Rawls bezeichnet, die sich inhaltlich im Maß der Bedeutung unterscheiden, die sie der Sozialstaatlichkeit zumessen.
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Die Wiederentdeckung und Fortbildung der analytischen Philosophie im weitesten Sinne (einschließlich des Kritischen Rationalismus von Karl Popper) sowie der Konstruktiven Wissenschaftstheorie und Ethik (Lorenzen, Schwemmer) führten zu entsprechenden Ausprägungen in der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (Kelsen, Hart). Sie verdankt ihre Anerkennung vor allem dem Bedürfnis, „sich kritisch mit demjenigen Teil der deutschen philosophischen Tradition auseinanderzusetzen, der dazu neigt, ‚Tiefe‘ durch Unklarheit zu erkaufen.“102
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In gewisser Weise wieder entdeckt wurden auch die antike Topik und Rhetorik. (Viehweg)
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In ihnen wie in den Denkansätzen auf der Grundlage philosophischer Hermeneutik ist eine Rückwendung zu materiell-ethischen Phänomenen zu erkennen. (A. Kaufmann, Esser)
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Auch die Marxistische Rechtstheorie brachte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederholt im „Archiv“ zur Sprache. Da die Auswirkungen des in den Jahren 1933 bis 1945 geführten Weltanschauungskampfes gegen den Marxismus im Bereich der westdeutschen Philosophie auch nach dem Ende des Krieges noch lange anhielten, kam es hier allerdings kaum zu Diskussionen.103 Sie wurden durch die politische Konstellation verstellt. Im letzten Jahrzehnt wurde die Frage aufgeworfen, ob der Zusammenbruch des sozialistischen Systems als Argument gegen die marxistische Rechtstheorie verwendet werden könne. Dies wird überwiegend, so weit zu sehen ist, mit dem Hinweis darauf verneint, dass bereits der Anfang, der ganz im Zeichen der Verdrängung bürgerlicher Rechtsauffassungen stand, nicht an einen Karl Marx anknüpfen konnte, der selbst tief in der antik-europäischen Kulturtradition wurzelte, sondern an einer „leninistisch interpretierten und dann noch durch die sowjetische Praxis verzerrten Marxschen Lehre.“104 Und später war dann mit der sog. Babelsberger Konferenz vom 2. und 3. April 1958 der Vorrang der Politik vor dem Recht zum programmatischen Auftrag für die Rechtswissenschaft geworden. So konnte es passieren, dass, wie Hermann Klenner auf dem Göttinger IVR-Weltkongress 1991 resümierte, der ursprünglich als Kritik an Religion, Recht und Ökonomie auf den Weg gebrachte Marxismus sich „als deren genaues Gegenteil, als Apologie, als Kosmetikum von Macht“ missbraucht werden konnte.105 Indessen läge, so fuhr Klenner seinerzeit fort, nach wie vor im ursprünglichen („intellektuellen“) Marxismus die große Chance, immer wieder einmal Korrekturen zugunsten des Humanen vorzunehmen.106
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Schließlich sei noch das existentielle Rechtsdenken genannt, das in der Ausprägung, die ihm Werner Maihofer gegeben hat, in der Weiterführung Kantischen Gedankenguts der Forderung nach dem Allgemein-Sein über ein funktionales Als-Sein ein lebensweltlich-bestimmtes Selbstsein-Können an die Seite stellt.
102 Ralf Dreier, Hauptströmungen gegenwärtiger Rechtsphilosophie in Deutschland, ARSP 81 (1995), 3 103 Martina Plümacher, Philosophie nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland, 1996, 31 104 Lothar Lotze, Wege und Irrwege der marxistischen Rechtstheorie, ARSP 78 (1992), 398 105 Hermann Klenner, Was bleibt von der marxistischen Rechtsphilosophie?, in: Praktische Vernunft und Theorien der Gerechtigkeit, hg. von Werner Maihofer/Gerhard Sprenger, 1992, 12
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Zu erwähnen sind ferner die evangelische Rechtstheorie (Erik Wolf), der Neuthomismus (A.F.Utz) – hier wurden zum Teil ältere Ansätze wieder aufgenommen und weitergeführt – sowie der Utilitarismus und theoretische Ansätze der Rechtsanthropologie. Eigen ist all diesen Strömungen das Bemühen, unter Ablehnung subjektiv willkürlicher oder lediglich für objektiv erklärter Gesichtspunkte verlässliche Maßstäbe für gerechtes Recht zu finden durch Einbeziehung wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse oder der Ergebnisse demokratisch ausdiskutierter individueller oder gesellschaftlicher Differenzen. Die hier erfolgte Aufzählung erhebt, dies sei noch einmal betont, weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch, soweit darauf eingegangen wurde, auf abschließende inhaltliche Richtigkeit, da vielfache Differenzierungen innerhalb einzelner Richtungen sowie Mischformen und Überschneidungen nicht berücksichtigt werden konnten. Der Zusammenstellung lagen mit zugrunde zwei prominente rechtsphilosophische Standortbestimmungen: ein von Robert Alexy, Ralf Dreier und Ulfrid Neumann herausgegebener Sammelband „Rechts- und Sozialphilosophie heute“, der in Vorbereitung des IVR-Weltkongresses in Deutschland (Göttingen) 1991 erschienen war, sowie eine Darstellung der „Hauptströmungen gegenwärtiger Rechtsphilosophie in Deutschland“, die Ralf Dreier als sog. „Kobe-Lecture“ im September 1992 in Kyoto präsentiert hatte. Erstaunlich nun ist, dass in diesen rechtsphilosophischen Standortbestimmungen und der Aufzeichnung neuerer Entwicklungen107 den Auswirkungen des Neukantianismus so gut wie keine Bedeutung zugemessen wurde. Dreier sah ihn als überholt an, und in dem erwähnten Sammelband wurden Phänomene des südwestdeutschen Neukantianismus wie „Werte“ oder eine „Wertordnung“ als „philosophische Sprechblasen“ oder „anspruchslose Kehrverse“108 abgetan. Wie ist dies zu erklären? Wir blenden ein weiteres Mal zurück. Für das Ende der sog. Naturrechtsrenaissance waren mitbestimmend gewesen die beginnenden Auswirkungen der neuen deutschen Verfassung, in der zentrale Elemente der liberalen und sozialstaatlichen Gerechtigkeitskonzeption wie Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, Demokratie als Prinzipien positiven Rechts verankert waren. Offen geblieben war die Frage, ob sich diese Prinzipien unter ein gemeinsames oberstes Prinzip bringen lassen würden. Der Staatsrechtler Günter Dürig fasste die Situation zusammen: „In der Erkenntnis, dass die Verbindlichkeit und die verpflichtende Kraft auch einer Verfassung letztlich nur in objektiven Werten begründet sein kann, hat sich der Grundgesetzgeber, nachdem ein Hinweis auf Gott als den Urgrund alles Geschaffenen nicht durchgesetzt werden konnte, zum sittlichen Wert der Menschenwürde bekannt.“ Die Verfassung stelle, wie es weiter hieß, einen „wertausfüllenden Maßstab für alles staatliche Handeln“ bereit, der die Legitimität von Recht und Staat aus den Werten personaler Ethik bestimme.109 Diesem Weg folgte bald das Bundesverfassungsgericht, indem es die Grundrechts-Artikel als „wertentscheidende Grundsatznormen“ interpretierte, deren Wertgehalt bei der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts zu beachten sei. In Anlehnung an Rudolf Smend wurde gar 107 Etwa bei Hasso Hofmann, Neuere Entwicklungen in der Rechtsphilosophie, 1996. 108 Gerd Roellecke, Wende der deutschen Rechtsphilosophie?, in: Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute. Beiträge zu einer Standortbestimmung, hg. von Robert Alexy/Ralf Dreier/Ulfrid Neumann, 1991, 288 f.
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von einer „Wertordnung“ des Grundrechtsabschnitts gesprochen, und im weiteren Verlauf der Spruchpraxis des Gerichts war dann immer häufiger von einer „allgemeinen Werteordnung der Verfassung“, einem „grundrechtlichen Wertesystem“, einer „wertgebundenen Ordnung“, dem „besonderen Wertgehalt eines Grundrechts“ und anderen Synonyma des Begriffs einer „Wertordnung“ die Rede. Und es wurde dieser Wertordnung (im sog. Lüth-Urteil) „Objektivität“ bescheinigt und innerhalb ihrer eine Rangfolge der Werte angenommen, die von der „Würde des Menschen“ angeführt wurde.110 Das spontan Einleuchtende einer Wertbegründung des Rechts lag darin, dass man in ihr eine gewisse Abkehr vom Rechtspositivismus erkannte, die nicht zu einer Rückkehr zum Naturrecht nötigte.111 Einmal mehr hatte, ähnlich wie bei der Naturrechtsrenaissance nach 1945, die Judikative den Anstoß zu einer neuen Orientierung gegeben – sie war, wie Christian Starck es nannte, zusammen mit der Dogmatik des Verfassungsrechts „angewandte Rechtsphilosophie“ geworden.112 Seit Beginn der 70er Jahre folgte in dieser Frage dann auch eine lebhafte Auseinandersetzung im Schrifttum, die durch die seit 1976 in der Bundesrepublik geführte, politisch akzentuierte, sog. Grundwertdebatte verstärkt wurde und später den Begriff „Wert“ zu einem unverzichtbaren Bestandteil auch der politischen Rhetorik machte. Die Deutsche Sektion der IVR hatte allen Grund, ihre Jahrestagung 1988 unter das Thema „Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts“ zu stellen. Der Wertbegriff schien an die Stelle des Naturbegriffs des Naturrechts getreten zu sein, der angesichts einer von den Naturwissenschaften unter kausalen Gesichtspunkten begriffenen „Natur“ jeden metaphysischen Bezug eingebüßt hatte.113 Der Berufung auf Werte und eine Wertordnung zur Legitimierung von Recht war von Beginn an von heftiger Kritik begleitet. Von „Sprechblase“ und „Kehrvers“ war oben bereits die Rede – man sprach von einem „Arkancharakter“ der Begriffe „Wertordnung“ und „Wertsystem“, von einer tendenziellen Gefährdung der freiheitlichen Ordnung durch ein Abwägungsdenken, das sich den Mantel angeblicher Evidenz, unmittelbarer Einsicht in „Werte“, „System“ und „Ordnung“ des Grundgesetzes und der Grundrechte umhänge.114 Eine Legitimation durch Wertbehauptung bedeute die Einnahme einer argumentativ unangreifbaren Position, da Werte wiederum nur durch Werte relativiert werden könnten; der Vorgang des Vorziehens bzw. Nachsetzens von Werten entziehe sich logischer Begriffsanstrengung.115 Hauptangriffsziel der Kritik war und ist die behauptete Objektivität der Wertordnung – sie
110 Vgl. hierzu mit den einzelnen Nachweisen: Gerhard Sprenger, Legitimation des Grundgesetzes als Wertordnung, in: Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, hg. von Winfried Brugger, 1996, 228 f. 111 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: Rechtspositivismus und Wertbegründung des Rechts, hg. von Ralf Dreier, 1990, 33 ff. 112 Christian Starck, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das positive Recht, in: Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute. Beiträge zu einer Standortbestimmung, hg. von Robert Alexy/Ralf Dreier/Ulfrid Neumann, 1991 , 386 113 Robert Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, 1977, 184 ff. 114 Helmut Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, 187 115 Erhard Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung, in: Der gebändigte Le-
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erscheine als eine „apokryphe ranghöhere Ordnung, die als Geist frei über den Wassern schwebe.“116 Der Berliner Philosoph Wilhelm Weischedel wies in einem 1955 vor der Richterschaft in Karlsruhe gehaltenen Vortrag in beeindruckender Klarheit nach, dass die Wertlehre Max Schelers in der Form, die ihr später Nicolai Hartmann gegeben hatte, die Grundlage dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung bildete. Schelers Denkansatz war seinerzeit gegen Kant gerichtet, dessen bloß formales Sittengesetz als eine „furchtbar erhabene Formel in ihrer Leere“ er durch eine Vielzahl und Vielfalt von konkreten Werten einschließlich einer Rangordnung dieser Werte auffüllen wollte, Werte, deren Objektivität, so Scheler, für jedermann erkennbar sei. Weischedel hatte nun diese Objektivität entlarvt: Schelers Ansetzung der Heiligkeit als höchsten Wert sei weitergeführtes Augustinisches Gedankengut und mache seine Wertlehre so zu nichts anderem als einer philosophisch formulierten platonisch-christlichen Ethik.117 Das – zugestanden: großartige – Denkgebäude einer materialen Wertethik zeigte sich so als das Ergebnis eines letzten spontanen Entschlusses, hinter dem nichts anderes als das Vorschlagswagnis des Denkers selbst stand,118 des großen Wanderers „von einer metaphysischen Dunkelheit in die andere“.119 Diese Erkenntnis war Wasser auf die Mühlen der Werte-Kritik. Unter ihrem sich verstärkenden Druck ging man schließlich nach und nach dazu über, neutralere, „vom Pathos der Wertordnung befreite“120 Formulierungen zu verwenden. Weniger war nun von „Wertordnung“ die Rede, dafür vom „objektiv-rechtlichen Gehalt“ der Grundrechte oder von „Elementen objektiver Ordnung“.121 Bei genauem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es sich hierbei lediglich um sprachliche, keineswegs um sachliche Korrekturen handelt. Der Begriff des Wertes, so das Resümee Niklas Luhmanns, scheint im Zusammenhang mit der Legitimation des Grundgesetzes unentbehrlich zu sein.122 Hinter all dem war und ist immer wieder das Bemühen zu erkennen, die vor-positive, überzeitliche Idee der Gerechtigkeit im positiven Recht selbst zu finden. Diesem gedanklichen „Spagat“ entspricht die den Werten eigene Seinsform des „Geltens“.123 Die massive Kritik an der Werte-Argumentation, die ihre Anerkennung – hier ist vor allem der unmittelbar nach dem Krieg an Scheler und Radbruch anknüpfende Ansatz Helmut Coings zu nennen124 – bei weitem überwog, mag der Grund dafür gewesen sein, dass die Legitimation von Recht durch ein Wertdenken als nicht hinreichend gesichert erschien und deswegen in den oben erwähnten Standortbestimmungen vernachlässigt wurde. Und diese Ungesichertheit scheint bis auf den heutigen Tag der Grund dafür zu sein, dass man sich mit ihrer Akzeptanz schwer tut. 116 Wolfgang Zeidler, zit. nach Hofmann, der von einer „unglücklichen philosophischen Liebe“ des Bundesverfassungsgerichts spricht; Hasso Hofmann, Die Aufgabe des modernen Staates und der Umweltschutz, in: Umweltstaat, hg. von Martin Kloepfer, 1989, 12 117 Wilhelm Weischedel, Recht und Ethik, 1956, 28 118 Hierzu Katharina Kanthack/Max Scheler, Zur Krisis der Ehrfurcht, 1948, 96 119 Hermann Klenner, Marxismus und Menschenrechte, 1982, 96 120 Horst Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, 23 121 Nachweise bei Sprenger (Fn. 110), 231. 122 Niklas Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1983, 18 123 Vgl. Sprenger (Fn. 110), 236 ff.
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VII. NEUKANTIANISCHE GEGENWART Dabei war der Wertbegriff seinerzeit nicht neu, auch nicht im Zusammenhang mit der Legitimation von Recht. Ursprünglich aus der Nationalökonomie kommend, war er durch Hermann Lotze um 1850 in die Philosophie gelangt125, wo er länger als ein halbes Jahrhundert als „Haupt- und Kernbegriff aller neueren, z. T. auch der ausländischen Philosophie“126 in den Geistes- und Sozialwissenschaften – man denke nur an den Werturteilsstreit – eine bedeutende Rolle spielte – man sprach von der Wertlehre. Nietzsche hatte ihr den Kampf angesagt, Max Weber Nietzsche wiederum korrigiert. Der Lotze-Schüler Wilhelm Windelband und dessen Schüler Heinrich Rickert legten dann die Wertlehre der kulturbetonenden südwestdeutschen Variante des Neukantianismus zugrunde, Max Scheler und Nicolai Hartmann der phänomonologischen Werttheorie.127 Davon war bereits oben die Rede. Emil Lask war es dann, der in der Folge Rickerts diese axiomatische Sichtweise in das Recht überführte. Sein Ansatz wiederum wurde von Gustav Radbruch übernommen. „Recht ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen.“128 Auch im Recht sollte sich über das bloße Vorhandensein einer normativen Erwartung hinaus Sinn offenbaren. Kultur war für Radbruch ein „Zwischengebilde“ zwischen Wert und Wirklichkeit, zwischen Sein und Sollen, zwischen Natur und Ideal. Zwischen die erklärenden (Natur-)Wissenschaften und die philosophischen Wertlehren ordnete er die wertbezogenen Kulturwissenschaften ein, zu denen die Rechtswissenschaft zählte. So gelangte er zu einem Methodentrialismus.129 Er ging weiter als seine beiden Vorgänger Rickert und Lask in seinem Bemühen, die formale Denkstruktur der Kulturwissenschaften inhaltlich auszufüllen. Durch eine Bereitstellung mehrerer Wertsysteme, die unterschiedlichen rechtsphilosophischen Aspekten entsprachen (Individuum, Gemeinschaft, objektive Kultur), versuchte er, materielle Gehalte für den offenen Wertbegriff zu finden. Er mahnte zum Verzicht auf endgültige, ausschließliche, vorwegnehmende Antworten – er wusste, dass die Welt, „dividiert durch die Vernunft, nicht ohne Rest aufgeht“. Absolute Wertstandpunkte, die „kompromissunfähige Erbarmungslosigkeit“, mit der sie die Wirklichkeit mit dem Ideal konfrontierten, seien voreilig; die Möglichkeit, der Gerechtigkeit näher zu kommen, liege allein im Relativismus, der von einer Richtigkeit jedes Werturteils nur in Beziehung zu einem bestimmten obersten Werturteil, nur im Rahmen einer bestimmten Wert- und Weltanschauung, ausgeht, nicht von der Richtigkeit dieses Werturteils, dieser Wert- und Weltanschauung selbst.130 Unbedingtes könne nie erkennend, sondern nur bekennend erfahren werden.131 125 Hermann Lotze, Metaphysik, 1841, 5, 8; ders., Seele und Seelenleben, in: Kleine Schriften II, 1886, 174 ff.; Mikrokosmos, Bd. I, 6. Aufl. 1923, 275. Hierzu: Jürgen Gebhardt, Die Werte. Zum Ursprung eines Schlüsselbegriffs der politisch-sozialen Sprache der Gegenwart in der deutschen Philosophie des späten 19. Jahrhunderts, in: Anodos. FS für Helmut Kuhn, hg. von Rupert Hofmann/Jörg Jantzen/Henning Ottmann, 1989, 44. 126 Joachim Ernst Heyde, Wert. Eine philosophische Grundkategorie, 1926, 7 127 Hierzu im Einzelnen: Gerhard Sprenger, Recht und Werte. Reflexionen über eine philosophische Verlegenheit, Der Staat, 2000, 1 ff. 128 Radbruch (Fn. 65), 2 129 Hierzu Erik Wolf, „Gustav Radbruch“, in: Große Rechtsdenker, hg. von dems., 4. Aufl. 1963, 737 130 Radbruch (Fn. 65), 24 ff.
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Dieser bei Radbruch von Beginn an erkennbaren Haltung eines „et – et“ anstelle eines „aut – aut“ entstammen seine später bereit gestellten Lehren von der „Natur der Sache“, d. h. der Aufdeckung eines Unverfügbaren, menschlichem Einfluss Entzogenen, im Recht selbst, und vom „gesetzlichen Unrecht“, sowie vor allem die nach ihm benannte „Formel“, die in den letzten Jahren zu besonderer Wirksamkeit gelangte, weil sie ein Maß für Gerechtigkeit anbot, zumindest schattenhaft wahrnehmbare Konturen davon. Seine bereits 1914 verkündete Wert-Bezogenheit des Rechts sollte auch mehr als ein dreiviertel Jahrhundert später noch (in den sog. Mauerschützen-Prozessen) diskutiert werden – mit Recht gilt Gustav Radbruch als der wohl bedeutendste Rechtsphilosoph unserer Epoche. Diese, dem Neukantianismus entstammende, Sicht auf Werte machte auch einen Teil des geistesgeschichtlichen Hintergrunds aus, vor dem die Weimarer Reichsverfassung entstand, die im Übrigen freilich noch immer weitgehend von positivistischem Denken geprägt war. Gegen diese positivistische Prägung nun hatte sich die sog. „geisteswissenschaftliche“ Richtung innerhalb der Staatsrechtslehre gewandt. Hier ist vor allem Rudolf Smend zu nennen, der in der Ausgestaltung seines Ansatzes auf die Kulturphilosophie Theodor Litts zurückgriff. Er ging von überindividuellen Sinngehalten aus, einer geistigen Gemeinschaft, die nur durch eine Besinnung auf gemeinsame Werte erhalten werden könne. Diese Auseinandersetzung begann etwa 1924 und erreichte ihren Höhepunkt auf der Staatsrechtslehrer-Tagung 1926 in Münster. Neben Smend seien hier noch Otto Kirchheimer, Hans Gerber, Ernst-Rudolf Huber, Albert Hensel und Gustav Giese genannt. Sie waren mehr oder weniger überzeugt davon, dass alles Rechts- und Staatsleben notwendigerweise auf einem „metajuristischen Wertsystem“ beruhe, das in den Grundrechten positiviert vorliege, und dass der Staat seinen Herrschaftsanspruch nur auf Grund einer Legitimation durch Werte durchsetzen könne – dies war eindeutig die Sprache des Neukantianismus. Der geisteswissenschaftliche Ansatz in der Weimarer Republik hat sich am Ende nicht durchsetzen können. Der staatsrechtliche Positivismus, entscheidend vor allem durch Laband geprägt, hatte dem Angriff standgehalten und einer transzendenten Legitimation jede Anerkennung versagt.132 Diese Hinweise mögen genügen, um deutlich zu machen, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung und ein Teil der staatsrechtlichen Dogmatik an bereits Vorhandenes anknüpften, als sie sich bei der Suche nach Gerechtigkeitsmaßstäben seit den Fünfziger Jahren auf Werte beriefen. Es zeigt sich ein direkter Weg von der Rechtsphilosophie des Neukantianers Emil Lask über den Relativismus Radbruchs (als „gedanklicher Voraussetzung der Demokratie“)133 und die „geisteswissenschaftliche Richtung“ der Weimarer Staatsrechtslehre zur Wertejudikatur des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes – bildhaft gesprochen: Karlsruhe liegt nicht weit von Heidelberg. Auch im „Archiv“ war bereits in der Weimarer Zeit die Diskussion um Werte und Wertlehren zu finden.134 Außerhalb der rechtlichen 132 Hierzu Gerhard Sprenger, Die Wertlehre des Badener Neukantianismus, in: Neukantianismus und Rechtsphilosophie, hg. von Robert Alexy/L. H. Meyer/S. L. Paulson/Gerhard Sprenger, 2002, 170 133 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, Vorwort. Zit. nach dem Wiederabdruck in: Gustav Radbruch, Studienausgabe, hg. von Ralf Dreier/Stanley Paulson, 1999, 4 134 Vgl. etwa Wilhelm Sauer, ARWP 18 (1924/25), 19 ff.; ARWP 19 (1925/26), 661 ff.; Pontes de
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Sphäre ist die Aktualität des Begriffs heute unübersehbar. In allen westlichen Gesellschaften gibt es große Debatten etwa über den Wertewandel oder den Werteverlust – „Wert“ ist zu einem Schlüsselbegriff politisch-sozialer Sprache in der Gegenwart geworden. In Wahrheit, so Hans-Georg Gadamer, ist er freilich noch immer der Ausdruck einer echten philosophischen Verlegenheit.135 Zugleich mit den oben erwähnten, nur mittelbar materiell-ethisch orientierten, Ansätzen macht die Werte-Diskussion einen wesentlichen Teil der rechtsphilosophischen Bemühungen seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts aus. Das ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. In all den aktuellen Problemen jedoch, die aus der Rechtspraxis oder der Politik an die Rechtsphilosophie herangetragen werden, geht es letztlich um Werte-Konflikte. Eine zunehmende Anwendungsorientierung in der praktischen Philosophie hat zu Bereichsethiken geführt, mit denen sich auch das Recht auseinandersetzen muss. Es sind dies Fragen der Ethik der Medizin, insbesondere der Fortpflanzungsmedizin, des Schwangerschaftsabbruchs, der Sterbehilfe und der bioethischen Selbstbestimmung überhaupt, der Geschlechterdifferenz, der Gen- und Tierethik, der religiösen Toleranz, ökologischer Verteilungssysteme, der Wirtschafts- und Technikethik etc. – in den letzten Jahrgängen des „Archivs“ wird zunehmend darüber diskutiert. Hier und in anderen Bereichen – genannt seien aus jüngster Zeit die Stichworte „Folter“ und „Flugsicherung“ – kommt es immer häufiger zu existenziellen Grenzfragen, die Entscheidungen aus dem ethischen Potential des Grundgesetzes fordern: aus den Werten, die ihm zugrunde liegen, allem voran aus der Menschenwürde, deren Wesen sich unserer Erkenntnis trotz mannigfaltiger Konturierungsversuche nach wie vor entzieht. Hat die Verfassungsrechtsprechung die Rechtsphilosophie verdrängt?, fragte Christian Starck vor einigen Jahren.136 Hat sich verwirklicht, was Rudolf Smend aus der Sicht der geisteswissenschaftlichen Richtung der Staatsrechtslehre bereits 1928 gefordert hatte: dass nämlich die positive Rechtsordnung ein für allemal „im Namen des Wertesystems“ legitim sein sollte?137 Die Diskussion darüber – und damit sind wir beim Heute angekommen – hält an. Und hierbei zeigt sich nun, dass sich ein Über-Positives, um eine möglichst neutrale Formulierung zu wählen, zumindest als Denkkategorie offensichtlich nicht verdrängen lässt. Das wird so nicht oder nur selten eingestanden. Man arbeitet hier zumeist mit einer Strategie zusätzlicher Gewichtung, indem man den Unterschied zwischen allem Metaphysischen und dem positiven Recht, der ein kategorialer ist, in einen nur graduellen umzuwandeln und ihn auf diese Weise zu verringern sucht (Grundwert, Grundnorm, Prinzip). Das mag logisch nicht aufgehen, bietet aber, anthropologisch gesehen, durchaus eine Chance, zu Antworten zu kommen. Antworten auf die Leitfrage der Rechtsphilosophie, der Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts, mögen nicht von Dauer sein. Wichtiger als die Antwort ist darum das Fragen, denn dieses ist aus seinem Wesen heraus unbegrenzt. Es ist vielleicht das einzige Grenzenlose im rings begrenzten Dasein des Menschen.138 Rechtsphilosophie ist 135 Hans-Georg Gadamer, Das ontologische Problem des Wertes, in: ders., Kleine Schriften IV, 205 ff. 136 Starck (Fn. 112), 376 ff. 137 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in:Staatsrechtliche Abhandlungen, hg. von dems., 2. Aufl. 1968, 260
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ständiges Fragen und Bemühen um Rechtsbesserung, denn – und nun mag das Schlusswort Josef Kohler gehören, das er im Vorwort zum ersten Band des „Archivs“ diesem mit auf den Weg gegeben hat: „Jedes Recht ist ein lebendes, sich fortbildendes; wer am Lebensprozess des Rechts fördernd mitarbeitet, dem gehört die Zukunft.“139
ANDREAS ANTER, LEIPZIG/BREMEN RUDOLF SMEND UND DER KAMPF ORDNUNGSRELATIVISMUS KRISENDIAGNOSE
ALS
GEGEN DEN
SELBSTVERSTÄNDIGUNG
IM JAHR
1943
Während die meisten deutschen Staatsrechtler im Jahr 1933 von hermeneutischer Euphorie beflügelt wurden und eine entsprechend rege Publikationstätigkeit entfalteten, trat Rudolf Smend abrupt kürzer. Er verstummte zwar nicht, aber er publizierte in der NS-Zeit nur fünf schmale Aufsätze. Als er im Jahr 1943 im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie seinen Aufsatz Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert veröffentlichte,1 lag sein letzter Text bereits vier Jahre zurück.2 Da er ohnehin kein Vielschreiber war und sein Oeuvre entsprechend übersichtlich blieb, ist auch dieser Aufsatz, dem ein Vortrag in der Göttinger Akademie zugrunde liegt,3 keine hastig hingeworfene Gelegenheitsarbeit, zwischen zwei oder drei anderen Studien verfaßt, sondern ein ebenso durchkomponierter wie verklausulierter Text. Rudolf Smend war, ähnlich wie Heinrich Popitz, ein Meister der kleinen Form; sein Gesamtwerk hätte in einem kleinen Rucksack Platz. Der Aufsatztitel Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert verspricht auf den ersten Blick eine ideengeschichtlich orientierte, staatstheoretisch und lebensphilosophisch inspirierte Abhandlung, die sich, wie das Wort „seit“ im Titel andeutet, bis in die Gegenwart erstreckt. Beides ist anscheinend auch der Fall, denn der Aufsatz ist auf das „Erlebnis“ und das „Staatsdenken“ in der politischen Ideengeschichte gerichtet und kommt überdies in seiner Gegenwart an, also im Jahr 1943. Smend beschreibt die gegenwärtige Ordnung als „neue Objektivität“ aber derart verklausuliert, daß man sich, wie so oft bei seinen Texten, zu einer deutenden Lektüre genötigt sieht. Welches „Erlebnis“ ist hier gemeint? Welche Rolle spielt das Kriterium der Ordnung? Was verbirgt sich hinter der sog. „neuen Objektivität“? Im folgenden soll gezeigt werden, daß Smend hier eine ideengeschichtlich gekleidete Selbstverständigung unternimmt, die sich gegenüber dem Nationalsozialismus in einer prinzipiellen Ambivalenz befindet.
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Rudolf Smend, Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert, ARSP 36 (1943), 359–374; zugleich erschienen in den Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Jg. 1943, 517–534; später abgedruckt in Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl., Berlin 1994, 346–362. Dieser Abdruck weicht an einigen Punkten von der Fassung im ARSP ab, nach welcher im folgenden zitiert wird. – Für Hinweise danke ich Prof. Dr. Wilhelm Hennis und Prof. Dr. Michael Stolleis. Smend, Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre des 19. Jahrhunderts auf das Leben in Verfassung und Verwaltung (1939), in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze (Fn. 1), 326–345 Smend war von 1944 bis 1949 der Präsident der Göttinger Akademie. Vgl. Gerhard Leibholz, Rudolf Smend. Gedenkrede gehalten am 17. Januar 1976 in der Aula der Georg-August-Univer-
Andreas Anter
38 I. DAS „POLITISCHE ERLEBNIS“
UND DER
STAAT
In der heutigen politikwissenschaftlichen und staatsrechtlichen Literatur würde man das Wort „Erlebnis“ wahrscheinlich vergeblich suchen. Für Rudolf Smend indes ist es kein „fremdes Wort“.4 Es ist in seinem Werk überall präsent. Vor allem in seiner Integrationslehre spielt der Lebens- und Erlebnisbegriff eine zentrale Rolle, denn sie ist ganz auf das Verständnis der „Lebenswirklichkeit des Staates“ gerichtet.5 So wie die Integration für Smend der grundlegende „Lebensvorgang des Staates“ ist, definiert er den Staat selbst als einen dauernden Prozeß der „Integration“, als eine „Erlebnisgemeinschaft“, die nur aus „Lebensäußerungen“ bestehe.6 Daher wendet er sich scharf gegen jedes vermeintlich „technische“ Staatsverständnis, vor allem gegen Max Weber, dem er vorwirft, mit seiner Sicht des Staates als „Anstaltsbetrieb“ das Wesen des Staates völlig zu verkennen.7 Auch die Verfassung ist für Smend weit mehr als nur die Grundordnung einer politischen Gemeinschaft, sondern vielmehr eine „Lebensordnung“, die den gesamten „Lebensvorgang des Staates ergreift“,8 die Grundordnung des „Lebens“ und der „Lebenswirklichkeit“ des Staates.9 Die ganz auf Leben und Erlebnis gerichtete Integrationslehre hat einen durchaus normativen, therapeutischen Impuls. Smend stellt der gespaltenen und polarisierten Weimarer Gesellschaft das Konzept der Integration gegenüber, wobei er unter „Integration“ den dauernden einigenden Zusammenschluß der Bürger versteht, einen Prozeß, der zugleich die Existenzbedingung des Staates sei.10 Sein Konzept ist 4
Vgl. Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt/M. 1979, 168 ff. 5 Smend, Integration (1966), in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze (Fn. 1), 482–486, 483. 6 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: Staatsrechtliche Abhandlungen (Fn. 1), 119– 276, 136 u. 158 7 Smend (Fn. 6), 184 8 Smend (Fn. 5), 484 9 Smend (Fn. 6), 189 10 Smend (Fn. 6), 120. Zur Integrationslehre vgl. Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, 2. Aufl., Tübingen 2007, 218 ff.; Marcus Llanque, Die politische Theorie der Integration: Rudolf Smend, in: Politische Theorien der Gegenwart I, hg. von André Brodocz/Gary Schaal, 2. Aufl., Opladen 2006, 313–340, 317 ff.; Die Integration des modernen Staates. Zur Aktualität der Integrationslehre von Rudolf Smend, hg. von Roland Lhotta, Baden-Baden 2005; Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration, München 2004, 40 ff. u. 166 ff.; Stefan Korioth, Europäische und nationale Identität. Integration durch Verfassungsrecht?, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 62 (2003), 117–155, 121 ff.; Hans Vorländer, Integration durch Verfassung? Die symbolische Bedeutung der Verfassung im politischen Integrationsprozeß, in: Integration durch Verfassung, hg. von dems., Wiesbaden 2002, 9–40, 14 ff.; Christoph Möllers, Staat als Argument, München 2000, 100 ff.; Roland Lhotta, Rudolf Smend und die Weimarer Demokratiediskussion, in: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, hg. von Christoph Gusy, Baden-Baden 2000, 286–325; Wilhelm Hennis, Integration durch Verfassung? Rudolf Smend und die Zugänge zum Verfassungsproblem nach 50 Jahren unter dem Grundgesetz, in: Regieren im modernen Staat. Politikwissenschaftliche Abhandlungen I, Tübingen 1999, 353–380, 353 ff.; Ingolf Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), 100–120, 113 ff.; Kay Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates. Über die rechtsphilosophische Auflösung der Einheit des Subjektes, Berlin 1994, 80 ff.; Stefan Korioth, Integration und Bundesstaat. Ein Bei-
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bis ins Detail von der Sehnsucht nach Einheit geprägt, vom Verlangen nach der „Verbindung und Verknüpfung geschiedener Dinge“.11 Sein bis heute viel diskutierter Ansatz fand sofort eine breite Resonanz,12 stieß aber auch auf polemische Kritik, am schärfsten bei dem von ihm selbst angegriffenen Hans Kelsen, der die Integrationslehre für „wissenschaftlich wertlos“ hielt und das „Erlebnis“ als einen Fetisch der Smendschen Theorie verspottete.13 Der Lebensbegriff zieht sich über die Integrationslehre hinaus durch Smends Gesamtwerk. So beklagt er auch in seinem Aufsatz über das Verhältnis von „Wissenschaft und Leben“ die „Lebensentfremdung“ des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert und moniert vor allem Paul Labands „mangelnden Ernst gegenüber den verfassungspolitischen Gewissens- und Lebensfragen des deutschen Volkes“.14 Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Smends Lebensbegriff eine biologistische oder irrationale Grundierung zu unterstellen.15 Ideengeschichtlich steht die Rede vom „politischen Erlebnis“ und vom „Lebensgefühl“ allerdings im Kontext der zeitgenössischen Lebensphilosophie, zumal Smend sich in seinem Erlebnisaufsatz oft genug auf einschlägige Autoren bezieht, etwa auf Philipp Lersch,16 Ernst Mally,17 Wilhelm Dilthey18 und Eduard Spranger.19 Diese positiven Bezugnahmen stehen jedoch in einem eigenwilligen Kontrast zu der Tatsache, daß er sich zugleich osten-
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Rudolf Smend 1882–1975, AöR 112 (1987), 1–26; Klaus Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, Berlin 1987, 141 ff. u. 214 ff.; Jürgen Poeschel, Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends. Die elementaren Kategorien Leben und Leistung, Berlin 1978; Peter Badura, Staat, Recht und Verfassung in der Integrationslehre. Zum Tode von Rudolf Smend, Der Staat 16 (1977), 305–325. Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994, 198. Vgl. Reinhard Höhn, Der Staatsaufbau im Jungdeutschen Manifest – ein bewußtes Integrationssystem, Der Meister 4 (1928/29), 195–223, 200; ders., Die kommende Demokratie und ihre Staatsform, ebd., 49–67; ders., Wahre Integration und Scheinintegration, ebd., 424–429; Otto Koellreutter, Integrationslehre und Reichsreform, Tübingen 1929; Otto Hintze, Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1929), in: ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. von Gerhard Oestreich, 3. Aufl., Göttingen 1982, 232–238; Ernst Wilhelm Eschmann, Moderne Soziologen III: Rudolf Smend, Die Tat 23 (1931), 139–152. Hans Kelsen, Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinandersetzung, Wien 1930, 62 u. 24. Kritisch auch Hanns Mayer, Die Krisis der deutschen Staatslehre und die Staatsauffassung Rudolf Smends, Diss. jur. Köln 1931. Smend (Fn. 2), 335, 326 u. 336. Smend spricht andeutungsvoll von einem „tieferen Grunde“ für den „mangelnden Ernst“ und die „Fremdheit“ Labands (ebd., 338). Für Michael Stolleis handelt es sich um eine „kaum verhüllte zeittypische, eines Mannes wie Smend unwürdige Anspielung auf Labands jüdische Herkunft“ (Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Zweiter Band: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992, 348). Siehe die einzelnen Belege bei Poeschel (Fn. 10), 128. Er spricht von einem „schillernden Begriff “ (ebd., 129). Vgl. Philipp Lersch, Der Aufbau des Charakters, 2. Aufl., Leipzig 1942 Vgl. Ernst Mally, Erlebnis und Wirklichkeit. Einleitung zur Philosophie der Natürlichen Weltauffassung, Leipzig 1935 (angeführt bei Smend, Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert, 372) Vgl. Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung (1905), 14. Aufl., Göttingen 1965; bei Smend (Fn. 1), 360
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tativ von der Lebensphilosophie distanziert.20 Wie läßt sich dieser Umstand erklären? Schließlich bezieht Smend sich ja durchaus positiv auf die Literatur. Man kann sich diese eigentümliche Diskrepanz eigentlich nur durch den Umstand erklären, daß er sich zwar im lebensphilosophischen Arsenal mit dem nötigen Rüstzeug eindeckt, aber um keinen Preis diesem Unternehmen zugerechnet werden will. Smend ist in der Tat nicht als Anhänger der Lebensphilosophie in die Literaturgeschichte eingegangen. Wilhelm Hennis hält es sogar für völlig „abwegig“, bei Smends Lebensbegriff „immer gleich an irgendwelche Zusammenhänge“ mit der Lebensphilosophie zu denken.21 Einige Korrespondenzen lassen sich gleichwohl nicht von der Hand weisen, da Smend sich fortwährend auf lebensphilosophische Autoren stützt. Hennis selbst bezeichnet den Erlebnisbegriff als „zentral für Smend“,22 und er betont, es gehe bei ihm stets um „die Wirklichkeit des politischen Lebens“, weshalb immer „vom Verfassungsleben, den Lebensprozessen des politischen Körpers, der Lebenswirklichkeit“ die Rede sei.23 In der Tat stellt Smend sich mit seinem inflationär verwendeten Lebensbegriff gegen eine formaljuristische Betrachtungsweise, die vor lauter Paragraphen die politische Wirklichkeit nicht sieht, und plädiert dafür, endlich das Buch des Lebens aufzuschlagen. Das Publikationsjahr des Erlebnisaufsatzes, 1943, kann für die Art des „Erlebnisses“ nicht belanglos sein. Smend sieht das bewußte politische Erleben, die „Wendung zum politischen Lebensgefühl“, als ein Produkt des 18. Jahrhunderts.24 Nicht weniger nachdrücklich betont er indes die Singularität der Lage des Jahres 1943, nämlich „daß wir heute bewußt politisch erleben, wie noch keine Generation in Deutschland vor uns, und daß auf diesem Erleben ein Staatsgedanke beruht, der bewußter entwickelt wird, als der Staatsgedanke irgendeiner deutschen Vergangenheit“.25 Hier sind eindeutig das nationalsozialistische „Erlebnis“ und der nationalsozialistische „Staatsgedanke“ gemeint, und beides wird von Smend im Superlativ beschrieben: Mehr bewußtes Erleben war nie. Aber welcher Art sind dieses Erleben und Staatsdenken? Smend gibt darüber keine weitere Auskunft. Überhaupt verliert er über den Nationalsozialismus kein Wort. Sein Aufsatz beginnt bereits stockend und introvertiert, als schaue er zu Boden, räuspere sich und komme nur sehr langsam in Fahrt. Dies hat auch mit dem Befund zu tun, den er am Anfang stellt, dem Befund einer radikalen Wandlung im Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat. Habe man früher gefragt, warum die eigene Freiheit der „Uebermacht des Staates weichen“ müsse, so frage man heute: „Wie findet sich mein Lebensgefühl mit der ungeheuren Lebenstatsache von Volk und Staat ab?“26 20 Ebd., 370 21 Hennis (Fn. 10), 376 22 Ebd. Die Notizen in Hennis’ Handexemplar der Staatsrechtlichen Abhandlungen, von ihm selbst zum Fünfzigsten Doktorjubiläum Smends herausgegeben und im Laufe der Jahrzehnte wiederholt durchgearbeitet, lassen seine große Aufmerksamkeit gegenüber diesem Motiv erkennen (Privatbesitz). 23 Ebd. Gleichlautend Roland Lhotta, Rudolf Smends Integrationslehre und die institutionelle Rückgewinnung des Politischen im modernen Staat des permanenten Übergangs, in: Die Integration des modernen Staates. Zur Aktualität der Integrationslehre von Rudolf Smend, hg. von dems., Baden-Baden 2005, 37–68, 55. 24 Smend (Fn. 1), 359 25 Ebd., 360
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Smend beschreibt hier nichts anderes als eine Kapitulation. Aus der einst trotzigen Frage „Warum sich dem Staat unterwerfen?“ ist ein resigniertes „Wie finde ich mich mit der Unterwerfung ab?“ geworden. Außerdem sind es jetzt gleich zwei Mächte, denen man sich unterwerfen muß: War es zuvor nur der Staat, so ist es jetzt zudem auch noch das „Volk“. Damit reflektiert Smend stillschweigend eine Mutation der politischen Einheit, die sich ab 1933 rasch vollzog. An die Stelle staatlicher Institutionen traten die verschiedenen Parteiorganisationen der NSDAP. Entsprechend wurde auch in der deutschen Rechtswissenschaft der Staatsbegriff bald durch das „Volk“ oder die „Bewegung“ ersetzt. Eine prominente Ratifizierung fand diese Entwicklung in Carl Schmitts „Dreigliederung der politischen Einheit“ in „Staat, Bewegung, Volk“.27 Spürbar affiziert und in militärischer Metaphorik stellte er die Dreigliederung als marschierende „Ordnungsreihen“ vor, wobei er der „Bewegung“ den klaren Primat zuwies, da sie den gesamten Staat und das ganze Volk durchdringe.28 Schmitt wurde nicht müde zu betonen, daß der Begriff des Staates ein alter Zopf sei, von dem man sich nun verabschieden müsse, weil der Staat sein einstiges Monopol verloren habe.29 Von dieser Entwicklung ist bei Smend allenfalls zwischen den Zeilen die Rede. Erst in der Nachkriegszeit räsoniert er darüber, wie die Staatlichkeit unter dem Nationalsozialismus degradiert wurde.30 Man kann jedoch davon ausgehen, daß Smend sich bereits 1943 dessen bewußt war, daß der „Staat“ seiner Gegenwart ein mutiertes Gebilde war, ein Oligopol von Paladinen einer zur Macht gekommenen Bürgerkriegspartei. Emigranten wie Emil Lederer und Franz L. Neumann kamen in ihren Analysen bereits zu dem klaren staatstheoretischen Ergebnis, daß es sich bei dem Regime um einen Unstaat handelte,31 der das exakte Gegenteil von dem praktiziere, was moderne Staaten tun. Statt Leib und Leben der Bürger zu schützen, entfesselte das Regime eine organisierte Tötungsmaschine. Dies ist zu berücksichtigen, wenn im Jahr 1943 vom „Staat“ die Rede ist. II. ORDNUNGSDENKEN
UND
ROMANTIK
Smend, der erst am Schluß seines Aufsatzes noch einmal die Gegenwart berührt, beschäftigt sich im überwiegenden Teil mit der Ideengeschichte des Themas, vor allem mit den romantischen Wegbereitern der Lebensphilosophie. Die Romantik, die das intellektuelle und politische Leben so tiefgreifend wie keine andere Bewegung jener Epoche prägte, entspringt für Smend einer Bewegung „gegen die autori27 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933 28 Ebd., 12. Die NSDAP komme die Führungsrolle zu, da sie als Organisation der nationalsozialistischen „Bewegung“ den Staat trage (ebd., 14). 29 Ebd., 15. Aus der Fülle der Literatur zu Schmitts Positionen im Nationalsozialismus vgl. Dirk Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001; Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995; Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 3. Aufl., Berlin 1995; Bernd Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung?, 2. Aufl., München 1990. 30 Vgl. Smend, Staat und Politik (1945), in: Staatsrechtliche Abhandlungen (Fn. 1), 363–379, 366 31 Vgl. Franz L. Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, New York 1942; Emil Lederer, State of the Masses. The Threat of the Classless Society, New York 1940. – Smend hat
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tären, transzendenten Bindungen der Ueberlieferung wie der Aufklärung zugunsten immanenter Instanzen, der inneren Seelenkräfte und des persönlichen Erlebnisses, gegen herkömmliche Ordnung und Form und gegen abstraktes Vernunftdenken zugunsten der ewig neuen und jungen Erfahrungen der Seele, des Gemütes, des Herzens, die in ursprünglichem, unmittelbarem, echtem Erleben zu sich selber kommen, sich selbst finden wollen“.32 All diesen romantischen Losungen aber steht Smend sichtlich indigniert gegenüber. Ob „Herz“, ob „Gemüt“, ob „sich selbst finden wollen“ – die romantischen Zauberformeln sind ihm verhaßt.33 Wenn er die romantische Literatur als negative Projektionsfläche, als Medium der Selbstverständigung benutzt, bedient er sich einer ähnlichen Strategie wie Carl Schmitt, der die Bewegung bereits 1919 in seinem Buch über die Politische Romantik unter die Lupe nahm,34 mit erkennbar innerer Beteiligung, was später immer wieder dazu herausforderte, sein Buch als einen Akt der Selbstverständigung zu lesen.35 In der Tat gewann er seine dezisionistische Position der zwanziger Jahre nicht zuletzt auf dem Wege einer vorangehenden (selbst)ironischen Kritik an den Romantikern, die nicht handeln, sondern im „ewigen Gespräch“ verharren, die „nicht leben, sondern vom Leben schwatzen“, „Tagebücher führen, Briefe schreiben, sich selbst und andere analysieren, besprechen, bespiegeln, charakterisieren“.36 Rudolf Smend kann im Grunde nahtlos an diese Kritik anknüpfen, denn er steht der romantischen Verspieltheit genauso ablehnend gegenüber. Was er der romantischen Bewegung insbesondere ankreidet, ist ihre spezifische Ordnungsvergessenheit, so daß er als Ergebnis der Bewegung nur einen Verfall der „politischen, rechtlichen, gesellschaftlichen Ordnungen überhaupt“ erblicken kann.37 Wie bei Schmitt ist auch bei Smend die Metaphorik stets aufschlußreich. Im Erlebnisaufsatz wie auch in anderen Publikationen stechen überall die Metaphern des Verfalls hervor. Insbesondere in seinen Schriften der Weimarer Zeit läßt Smend an seiner Gegenwart kaum ein gutes Haar. Ob die Staatslehre, die politische Literatur oder die gesellschaftliche Entwicklung – alles ist in seinen Augen im Verfall begriffen. Mit dieser Skepsis, die weit über bloßen Kulturpessimismus hinausgeht, nimmt Smend 32 Smend (Fn. 1), 360 33 Das einzige, was er an dieser Bewegung gelten läßt, sind der Pietismus und die Dichtung des jungen Goethe. – Seine Haltung bleibt jedoch inkonsistent. Nachdem er zunächst das „romantische Erlebnisdenken vom Staat“ kritisiert, räumt er ihm plötzlich „ein tiefes geschichtliches Recht“ ein, als „Eigenart deutschen politischen Lebens“. Seither hätten „Gefühl und Herz die entscheidenden politischen Argumente“ geliefert, und nicht mehr die Ratio (ebd., 363). Entsprechend habe sich „das politische Denken von seiner bis dahin rein staatlichen Ausrichtung zunehmend auf Volk und Volkstum“ verlagert (ebd.). Da das politische Denken sich im Nationalsozialismus auf eben diese Ebene verlagerte, könnte man hier eine historische Verbindungslinie zur Romantik ziehen. 34 Carl Schmitt, Politische Romantik (1919), 2. Aufl., München/Leipzig 1925 35 Vgl. Joseph W. Bendersky, Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton 1983, 27; ders., Politische Romantik: Intellectual Critique and Enduring Scholary Influence, in: Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, hg. von Helmut Quaritsch, Berlin 1988, 465–490; Ellen Kennedy, Carl Schmitt und Hugo Ball. Ein Beitrag zum Thema „Politischer Expressionismus“, ZfP 35 (1988), 143–162, 160. 36 Schmitt (Fn. 34), 132 u. 109
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spätere Diagnosen von Autoren wie Leo Strauss, Eric Voegelin oder die des jungen Wilhelm Hennis vorweg, die die Moderne als eine Verfallsgeschichte begreifen.38 Die Verfallsperspektive korrespondiert bei Rudolf Smend mit einer Sensibilität gegenüber den Gefährdungen gewachsener Institutionen und Ordnungen, insbesondere gegenüber dem Staat. Im Rückblick auf das 18. Jahrhundert liest er den seelischen Zustand am deutlichsten an der „Geringschätzung des Staates“ bei Lessing und Herder ab39 und zieht eine Parallele zu „Rousseaus Widerspruch gegen eine Welt der Ordnungen und Institutionen, in der die Rechte der Natur und des Herzens verkannt werden“, sowie zu Schiller, der im Sechsten Brief über die ästhetische Erziehung den Ordnungsgeist und Rationalismus des Staates moniert, der auf ewig „seinen Bürgern fremd“ bleibe, „weil ihn das Gefühl nirgends findet“.40 Ordnung vs. Herz, Staat vs. Gefühl, das sind die Konfliktlinien, die Smend auch in der Geisteswelt des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts beobachtet. Die Lösungsstrategie der Romantiker besteht darin, den Staat kurzerhand zu einem Gefühlsgegenstand oder sogar zu einem Kunstwerk zu erklären. In der Analyse dieses ästhetischen Vorgangs heftet Smend sich stillschweigend einmal mehr an Schmitts Spuren, sieht Schmitt doch in der romantischen Stilisierung des Staates zum Kunstwerk sogar den „Kern aller politischen Romantik“.41 So wie Schmitt insbesondere Novalis ins Visier nimmt, der den Staat wie eine Geliebte behandelt,42 ist auch Smend irritiert über Novalis’ Poetisierung des Staates, welche in der Maxime gipfelt, man müsse „im Staat leben in dem Sinne, wie man in seiner Geliebten lebt“.43 Den poetischen und literarischen Rang solcher Formeln stellt Smend keineswegs in Frage, aber der ins Politische gewendeten Gefühlsbewegung spricht er ihre Überzeugungskraft ab. Er hält die romantische Staatslehre überhaupt nicht für satisfaktionsfähig, da ihr, wie er moniert, die „Kraft des Gedankens und des Willens und damit der normative Ernst“ fehlten.44 Dies ist das entscheidende Stichwort: der mangelnde „normative Ernst“. Als leuchtendes Gegenbild führt Smend hier Hegel ins Feld, der in „kühler Großartigkeit“ die Gegenposition zur Romantik markiere, nämlich ein konkretes Ordnungs- und Staatsdenken. Wie um die Romantiker zu widerlegen, zitiert er Hegels berühmten Satz, daß „die politische Gesinnung, der Patriotismus überhaupt“, „nur Resultat der im Staate bestehenden Institutionen“ sei.45 Sowohl die Rede vom Ordnungsverfall als auch das Insistieren auf Ordnungsbewahrung sind charakteristische Topoi konservativen Denkens. Insofern könnte man bei den Verfallsdiagnosen und Ordnungsplädoyers auf eine spezifisch konservative 38 Vgl. Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956; Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, München 1959; Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie (1959/1963), in: Politikwissenschaft und politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen II, Tübingen 2000, 1–126 39 Smend (Fn. 1), 361 40 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, hg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, 24 41 Schmitt (Fn. 34), 172 42 Ebd., 173 ff. Vgl. Novalis, Glauben und Liebe oder Der König und die Königin (1798), Schriften. Bd. 2. Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel, 3. Aufl., Stuttgart 1981, 485–498. 43 Smend (Fn. 1), 362 44 Ebd., 366 45 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von Bernhard Lake-
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Lesart der Ideengeschichte schließen. So verhält es sich denn auch bei Smend, dem man ein „besonders ausgeprägtes konservativ-institutionelles Denken“ attestieren kann.46 Seine Sensibilität für Ordnungsfragen wie auch seine Ambivalenz gegenüber der schwärmerischen Romantik korrespondieren mit einer entschieden konservativen Haltung. Zwar ist nicht jedes Ordnungsdenken konservativ, aber neben Tradition und Autorität gehört Ordnung zu den prominenten Kernbegriffen der konservativen Ideenwelt.47 Smend, bis 1930 Mitglied der DNVP, ist tief „in der protestantischen Ethik, im geschichtlichen Bewußtsein und in einem konservativ-idealistischen Politikverständnis verankert“.48 Da ihm die Auflösung von Ordnungen nicht geheuer ist und ihm radikale Umgestaltungen suspekt sind, unterscheidet er sich auch von Carl Schmitts „konkretem Ordnungsdenken“.49 Schmitt konzipierte dieses „Ordnungsdenken“ 1934 als revolutionäre Kampfformel gegen die Rechtsstaatsidee und die „Herrschaft des Gesetzes“, nicht zuletzt um gesetzesenthobene Führerbefehle zu legitimieren.50 Für Smend dagegen ist „Ordnung“ ein Wert an sich. Der gesamte Erlebnisaufsatz ist vom Schlüsselbegriff der Ordnung durchzogen. Smend interessiert sich nicht so sehr dafür, um welche untergegangenen Ordnungen es sich handelt; entscheidend ist allein die Tatsache, daß es Ordnungen waren. In seinem wehmütigen Blick auf die vergangene Welt gleicht er dem Schiffer, der in Brahms’ Lied Vineta abends immer wieder auf das Meer hinausfährt, zu einer wundersamen untergegangenen Stadt, die auf dem Meeresgrund ruht: „Eine schöne Welt ist da versunken / ihre Trümmer blieben unten stehn.“ Smend richtet seinen Blick in die Tiefen der Vergangenheit, eine verlorene Ordnung. Das ist ein romantisches Motiv.
46 Leibholz (Fn. 3), 20. Smend war Ordnungsdenker und Ordnungspraktiker. 1944 wurde er zum Präsidenten der Göttinger Akademie gewählt, 1945 zum Rektor der Göttinger Universität sowie zum Ratsmitglied der EKD. Er war beauftragt, die vorläufige Ordnung der Evangelischen Kirche Deutschlands auszuarbeiten (ebd., 21). 47 Zur konservativen Ideenwelt vgl. Anter (Fn. 10), 65 ff.; Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001; Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland, München 1998, 9 ff.; Raimund von dem Bussche, Konservatismus in der Weimarer Republik, Heidelberg 1998, 1 ff.; Ted Honderich, Das Elend des Konservativismus, Hamburg 1994; Alexander Gauland, Was ist Konservativismus?, Frankfurt/M. 1991; Johann Baptist Müller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, Berlin 1992, 45 ff.; Panajotis Kondylis, Konservativismus, Stuttgart 1986. 48 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, 174 49 Vgl. Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934. Dazu Anter (Fn. 10), 194 ff.; Günter Meuter, Gerechtigkeitsstaat contra Rechtsstaat, in: Mythos Staat, hg. von Rüdiger Voigt, Baden-Baden 2001, 83–116, 85 ff.; Adalgiso Amendola, Carl Schmitt tra decisione e ordinamento concreto, Napoli 1999, 108 ff; Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 3. Aufl., Berlin 1995, 177 ff.; Lepsius (Fn. 11), 205 ff.; Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1994, 62 ff.; Joseph H. Kaiser, Konkretes Ordnungsdenken, in: Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, hg. von Helmut Quaritsch, Berlin 1988, 319–331; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Art. Konkretes Ordnungsdenken, Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter/ Karlfried Gründer, Bd. 6, Basel/Stuttgart 1984, Sp. 1312–1315.
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III. DER KAMPF
GEGEN DEN
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ORDNUNGSRELATIVISMUS
Der „Verfall der Autorität“, die „Verdiesseitigung aller Ordnungen“, all das verändert den Standort des Subjekts und bewirkt einen Prozeß der Subjektivierung. Smend sagt: „die Ordnungen leben nun zunehmend in der Bewußtheit des Einzelnen, fordern aber damit nicht nur seine kritische Reflexion und seinen Gestaltungswillen ihnen gegenüber heraus, sondern auch ein ganz neues Bedürfnis, sie persönlicher als bisher zu erfahren, zu fühlen, ja zu genießen. Bis dahin hat die Seele ihre Nahrung auch aus ihrem Leben in den Ordnungen gezogen, aber selbstverständlich, unbewußt.“ Es gab eine „unbewußte Selbstverständlichkeit inneren Lebens in und aus diesen überkommenen Ordnungen und Formen. Jetzt wird die Seele auch hier wach und bewußt, sucht und tastet auch hier nach Ersatz, nach einem neuen Nahrungsgrunde, setzt sich nunmehr fühlend, bewußt erlebend … mit den bisherigen Ordnungen … auseinander.“51 Das Wachwerden der Seele, ihre Suche nach Nahrungsgrund – die Darstellung ist durch eine pastorale Metaphorik geprägt, eine Hirtenmetaphorik. Smend spricht von der Suche der Seele nach Nahrungsgrund, das heißt, sie muß geweidet werden, das wiederum heißt: sie bedarf eines Hirten. Nur wo ist der Hirte? Smend beschreibt einen Prozeß der Emanzipation und der Säkularisierung. Was zuvor selbstverständlich war, wird hinterfragt. „Bewußtheit“, „kritische Reflexion“, „Gestaltungswille“, all das gehört heute zu den Zentralwerten moderner Gesellschaften. Auch Smend kann daran hier nichts Schlechtes finden. An dieser Stelle zeigt sich eine charakteristische Eigenart seiner Texte, die schon oft moniert worden ist: daß man ihren Standpunkt kaum klar fixieren kann. Schon der junge Hanns Mayer kritisiert: „die aphoristische, andeutende Schreibart Smends nötigt zu einer verstehenden Untersuchungsweise, die selbsttätig die vorhandenen Andeutungen ergänzt“.52 Auch Peter Badura moniert die „schwebende, sicher oft gesuchte Bezugsvielfalt der Ausdrucksweise“,53 und Gerhard Leibholz stellt nüchtern fest, Smend lasse „seinen eigenen Standort“ eigentlich immer „im Dunklen“.54 Wurde die konkrete politische und soziale Gegenwart bereits in den Weimarer Schriften zumeist sorgfältig überschrieben oder schlicht ausgeblendet,55 so setzte sich dieses Verfahren unter gewandelten Vorzeichen in den Texten der NS-Zeit fort. In methodischer Hinsicht ließ sich sein Ansatz nie wirklich schlüssig einordnen. Bei näherem Hinsehen erweist sich seine Methode als eine Melange aus z.T. heterogenen Positionen. Selbst sein überpointiertes Bekenntnis zur geisteswissenschaft51 Smend (Fn. 1), 361. – Allenfalls diese aphoristische Bemerkung böte einen Anhaltspunkt für Manfred Friedrichs These, Smends Aufsatz sei ein „Ansatz zur politischen Anthropologie auf geschichtlicher Grundlage“ (Friedrich [Fn. 10], 20). 52 Mayer (Fn. 13), 32 f. – In hermeneutischer Hinsicht war Hanns Mayer indes ein berufener Mann: Zwei Jahre später wechselte er, nach der erzwungenen Emigration, von der Jurisprudenz zur Philologie und wurde zu einem bedeutenden Literaturwissenschaftler seines Jahrhunderts. Zu seinem Verhältnis zu Smend, Kelsen und Schmitt vgl. ders., Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. 1, Frankfurt/M. 1994, 144 ff. 53 Badura (Fn. 10) 54 Auch Gerhard Leibholz seufzt: „Sympathien und Antipathien herauszufinden, mit denen er den von ihm selbst beschriebenen Personen und Institutionen gegenüberstand, war nicht leicht“ (Leibholz [Fn. 3], 40).
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lichen Methode Theodor Litts56 stellt sich bei näherem Hinsehen als aufgesetztes Design heraus, das mit Smends Lehre kaum etwas gemein hat. Nachdem über Jahrzehnte immer wieder bezweifelt wurde, ob seine Selbstzuordnung überhaupt zutreffend ist – etwa bei Hans Kelsen, Hanns Mayer, Karl Larenz und Manfred Mols57 –, hat Wilhelm Hennis überzeugend und wohl endgültig demonstriert, daß Litt für Smend eigentlich gar keine Rolle spielte.58 In der Geschichte des politischen Denkens kann Smend ein institutionelles Ordnungsdenken nur selten erkennen. Auch im Blick auf das „politische Erlebnis“ vermeldet er große Verlustanzeige. Nur kursorisch nennt er einige Stationen in der weiteren Entwicklung: das Scheitern der Paulskirche, die „Realpolitik“, die Reichsgründung und die folgende Bismarckbegeisterung.59 Im Zentrum seiner Kritik steht immer die politische Passivität der Deutschen, ihr Ästhetizismus, der in „Reichsverdrossenheit“60 umschlage – und im 20. Jahrhundert vollends in einer großen „Krisis“ kulminiere.61 Smend diagnostiziert hier eine Ordnungskrise, die noch radikaler als im 18. Jahrhundert „alle überkommene Form und Ordnung“ sowie die „vorgefundenen Institutionen und Autoritäten in Frage“ stelle.62 Wenn bei Smend von Ordnung und Autorität die Rede ist, dann ist der Begriff der „Krisis“ nicht weit, ein Begriff, der zu seinen Lieblingsworten gehört.63 Da Ordnung und Autorität ohnehin stets gefährdet sind, wird die „Krisis“ für Smend letztlich zum Dauerbefund. Ob Jugendbewegung, Gemeinschaftskult oder Lebensphilosophie – er erblickt nur Holzwege, die nicht herausführen „aus dem Kreislauf immer neuen Erlebens und Erlebenwollens, aus Heimatlosigkeit und Programmlosigkeit, aus Selbstgenuß und Aesthetisieren und unfruchtbarer Diskussion und Literatur“.64 Diese Rhetorik erinnert an Worte von der Kanzel,65 so daß es kein Zufall ist, wenn in der Literatur gelegentlich das Wort „Predigt“ assoziiert wird.66 Die krisenhaften Entwicklungen kulminieren in jenen beiden Erscheinungen, die Smend am meisten suspekt sind, nämlich in Autoritätsverfall und Ordnungsvergessenheit. Zu den Holzwegen zählt er auch die Gewaltphilosophie George Sorels; die Wissenssoziologie mit ihrer relativistischen Lehre von der Standortgebundenheit alles Denkens und ihrer „Entlarvung aller und jeder politischen Gedankenwelt, die schließlich alle Ord56 Smend (Fn. 6), 119. Vgl. Theodor Litt, Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie, 2. Aufl., Leipzig/Berlin 1924. Dazu Korioth, Integration und Bundesstaat (Fn. 10), 111 ff.; Waechter (Fn. 10), 82 ff.; Wolfgang Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, 2. Aufl., Baden-Baden 1983, 58 ff.; Poeschel (Fn. 10), 42 ff. 57 Belege bei Lepsius (Fn. 11), 354. 58 Hennis (Fn. 10), 379. In der Nachkriegszeit ging Smend selbst auf deutliche Distanz zu Litt. Vgl. Smend, Integrationslehre (1956), in: Staatsrechtliche Abhandlungen (Fn. 1), 475–481, 480 f. 59 Smend (Fn. 1), 366 f. 60 Ebd., 368. Hinsichtlich der Kritik an der politischen „Passivität des deutschen Volkes nach 1900“ beruft er sich auf Max Weber (ebd., 370). 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Zur Smendschen Krisendiagnostik vgl. bereits Mayer (Fn. 13), 1 ff. Auch Wilhelm Hennis attestiert seinem akademischen Lehrer Smend „ein seismographisches Gefühl für Krisen“ (Hennis [Fn. 10], 375). 64 Smend (Fn. 1), 370 65 Ebd.: „Es ist ein Teufelskreis, in dem Leben sich verfängt, wenn es nur sich selbst sucht.“
Rudolf Smend und der Kampf gegen den Ordnungsrelativismus
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nungen und Geltungen in Frage stellte“; und schließlich die Staatstheorie Max Webers, die für ihn ein rotes Tuch ist.67 Smend kann hier nahtlos an seine Polemik in Verfassung und Verfassungsrecht anknüpfen, die in dem Vorwurf gipfelt, Webers Theorie sei unpolitisch und staatsfremd.68 Diese absurden Vorwürfe sind repräsentativ für seine oft freihändige Argumentationsweise in der späten Weimarer Zeit. Im Rückblick auf diese Zeit sieht er sich auf einem „Trümmerfelde“, auf dem „der Neuaufbau nur langsam vor sich gehen“ könne.69 Wenn es um Krisendiagnosen geht, ist Smend ein Mann der starken Worte. „Zusammenbruch“, „Krisis“, „Abdankung“70 – das sind die Vokabeln, mit denen er im Jahr 1928 die Lage der Weimarer Staatslehre beschreibt. Diese starken Worte stechen aus seinen Texten um so mehr hervor, als er sonst ein meist zurückhaltender, im Urteil vorsichtiger, fast skrupulöser Autor ist. Die vornehme Zurückhaltung gibt er nur dann auf, wenn der Feind in Sicht ist, nämlich der Relativismus, vor allem in Gestalt des Wertrelativismus und des Ordnungsrelativismus. Daher seine Polemik gegen Max Weber, den er fälschlicherweise für einen Wertrelativisten und Agnostiker hält;71 daher seine Feindschaft gegenüber dem Positivismus; daher seine Aversion gegen die Wissenssoziologie mit ihrem Entlarvungsgestus gegenüber jedweder Ordnung. Hier zeigt sich: Der Ordnungsrelativismus ist sein eigentlicher Feind. Dreizehn Jahre zuvor hatte Kelsen ihm noch polemisch vorgeworfen, „seiner innersten Natur nach ein Staatstheologe“ zu sein.72 War dieser Vorwurf schon damals schief, so hatte Smend sich 1943 zu einem Ordnungstheologen entwickelt. IV. NEUE ORDNUNG, „NEUE OBJEKTIVITÄT“ Smends Krisenbeschreibung erstreckt sich jedoch nur bis in die späte Weimarer Zeit. Dann bricht seine Darstellung ab. Die weitaus einschneidendste Zäsur seiner Zeit, die Zäsur des Jahrhunderts, das Jahr 1933, das politische Erlebnis im Führerstaat, der bereits seit 10 Jahren existiert, das nationalsozialistische Staatsdenken, in welchem kein Stein auf dem anderen bleibt – über all das verliert er kein Wort. In seinem abschließenden Resümee wird die Gegenwart nur touchiert. Es wäre naiv, von einem Text, der in einem totalitären System verfaßt wurde, eine nüchterne Analyse der Gegenwart zu erwarten. In totalitären Systemen sind nur affirmative Publikationen möglich. Dabei setze ich voraus, daß Smend kein Anhänger des Regimes war. Obwohl er von bewegten Zeitgenossen emphatisch als Wegbereiter der Wende zum „autoritären Staat“ gefeiert wurde,73 ist seine Distanz gegenüber dem NS-Regime überdeutlich. Gleichzeitig ist er aber auch kein Antifaschist. 67 Smend (Fn. 1), 370 f. 68 Smend (Fn. 6), 123. Zum Verhältnis Smend/Weber ausführlich Andreas Anter, Hermeneutische Staats- und Verfassungslehre. Rudolf Smend, Max Weber und die soziologische Wirklichkeit des Staates, Die Integration des modernen Staates. Zur Aktualität der Integrationslehre von Rudolf Smend, hg. von Lhotta, Baden-Baden 2005, 71–89. 69 Smend (Fn. 1), 371 70 Smend (Fn. 6), 121 71 Vgl. nur Smend (Fn. 6), 122 f., 129, 185, 196, 218, 222 72 Kelsen (Fn. 13), 33
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Andreas Anter
Seine Faszination gegenüber dem italienischen Faschismus hat er 1928 klar genug formuliert; er erkannte in der Bewegung Mussolinis sogar eine Verwirklichung seiner Integrationslehre und zählte es „zu den starken Seiten des Faschismus“, daß dieser „die Technik funktioneller Integration mit Meisterschaft handhabt“.74 Otto Hintze meinte deutlich Smends Neigung zur „faschistischen Seite“ zu erkennen.75 Treffender scheint indes die Beschreibung des jungen Hanns Mayer, der Smend eine radikal konservative Haltung attestierte, die gegenüber der Weimarer Demokratie zutiefst reserviert blieb.76 Auf dieser Linie argumentiert auch mit Recht die Mehrheit der heutigen Autoren.77 Wenn Smend abschließend auf den „geschichtlichen Augenblick“ zu sprechen kommt, „in dem wir uns befinden“,78 erwartet man das Resümee mit einer gewissen Spannung. Sein Befund ist – im Jahr 1943, im Jahr von Stalingrad – schlechterdings verblüffend, nämlich: daß jetzt die „romantische Epoche des politischen Denkens und Fühlens zu Ende geht. Die Zeit des Subjektivismus ist überall vorbei. Wir wissen, daß uns der Agnostizismus im Denken und der Subjektivismus im Erleben von den Gehalten und Sinngebungen des Lebens entfernt hat. So ist es heute auch eine Zeit der in neuer Objektivität begriffenen und ergriffenen politischen Ordnungen und Normen …, in denen, wie Hegel es ausdrückt, ‚die Vernünftigkeit wirklich vorhanden ist‘, und denen gegenüber das subjektive Erleben jedenfalls nicht mehr die konstitutive Bedeutung der Vergangenheit hat.“79 Smends Text ist ein typisches „clair-obscur-Stück“ (Michael Stolleis). Alles bleibt in der Schwebe. Der Aufsatz endet genau so, wie er begonnen hat; jede Konkretion wird sorgfältig vermieden. Bei der Lektüre meint man die Anstrengung zu spüren, die diese Askese bereitet haben muß. Immerhin aber fällt Smends Fazit deutlich genug aus: Er sieht seine Feinde besiegt, insbesondere den Agnostizismus und den Relativismus, die er in der Weimarer Zeit für alle denkbaren Übel verantwortlich gemacht hatte. In der Gegenwart des Jahres 1943 dagegen registriert er nunmehr eine verbindliche Ordnung, die nicht mehr relativistisch in Frage gestellt, sondern in ihrer „Objektivität begriffen“ werde. Er sieht es jetzt – Ernst Mally zitierend – als die dringlichste Aufgabe, „die ursprüngliche Stellung zur Wirklichkeit“ wiederzugewinnen.80 Damit erfüllt sich sein größtes Anliegen. Hatte er in der Weimarer Zeit polemisch das Infragestellen der „Wirklichkeit“ in der deutschen Staatslehre moniert, so sieht er sich nun auf der Seite der Sieger. Mit Genugtuung registriert er die Rückkehr zur Wirklichkeit als „bewußte Ausrichtung der deutschen Gegenwart“.81 Er belegt diesen Wandel mit einem Verweis auf Ernst Wilhelm Eschmanns Buch Vom Sinn der Revolution, das eine Art philosophisches Fazit der nationalsozialistischen Revolution
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Smend (Fn. 6), 141 u. 175 Hintze (Fn. 12), 238 Mayer (Fn. 13), 89 f. Vgl. etwa Llanque (Fn. 10), 326; Lhotta, Rudolf Smend und die Weimarer Demokratiediskussion (Fn. 10), 286; Korioth, Integration und Bundesstaat (Fn. 10), 104 78 Smend (Fn. 1), 371 79 Ebd. 80 Ebd., 372. Das Zitat: Ernst Mally (Fn. 17), 25.
Rudolf Smend und der Kampf gegen den Ordnungsrelativismus
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zieht.82 Eschmann ist genau wie Smend ein Meister der schwebenden Darstellung; Begriffe wie „Nationalsozialismus“, „Hitler“, „Führer“ oder „Rasse“ kommen bei ihm überhaupt nicht vor.83 Gleichwohl zeigt er sich erkennbar beeindruckt von der Revolution von 1933, welche „den Raum für die Wiederbejahung der ewigen Ordnungen des Lebens“ freigemacht habe.84 Er begrüßt vor allem den Sieg über den Marxismus, welcher generell ein „Angriff auf das Leben in seiner ganzen Gestaltenfülle“, ja ein „Angriff auf das Leben überhaupt“ gewesen sei.85 Dies ist, wenn man so will, der Diskurszusammenhang, in dem Smends Erlebnisaufsatz zu lesen ist. Ihm geht es um die Verteidigung des „Lebens“; er befindet sich gegenüber dem Nationalsozialismus in einem Zustand der Ambivalenz; er begrüßt das Ende des Ordnungsrelativismus, hüllt sich aber ansonsten gegenüber dem Regime in Schweigen. Sein Aufsatz von 1943 ist gewissermaßen das letzte Dokument des Sprechens zwischen den Zeilen. Erst nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs ergreift er wieder das Wort, in seiner Göttinger Rede Staat und Politik im Herbst 1945.86 V. AUSBLICK Rudolf Smends Aufsatz ist als ideengeschichtliche Selbstverständigung eines Ordnungsdenkens zu lesen, welches sich gegenüber dem Nationalsozialismus in einer ambivalenten Position befindet. Seine Ordnungsformeln markieren zugleich die Distanz, die zwischen ihm und der heutigen Gegenwart liegt, die in Smends Augen vermutlich wenig Beifall gefunden hätte. Sein zeittypisches Fazit lautet: „Das politische Erleben will in die Zucht der sachlichen Einordnung genommen werden. Sonst zerfließt es in den Kreis der dem vitalen Leben als solchem und insbesondere dem Erlebnishunger des irgendwie entwurzelten Menschen gewidmeten Bereiches: der Unterhaltung, des Sports, der Geselligkeit – eine Entwicklung im Zeitalter der Zeitung und des Rundfunks, die eine schwere politische Entnervung und Entartung bedeutet. Wenn Erlebnisdrang schon überhaupt eine im tiefsten passive, intransitive Haltung ist, so kann er im politischen Bereich eine Krankheit zum Tode werden.“87 Dieses Fazit macht bereits auf der metaphorischen Ebene Smends Anliegen klar. Die unterschiedlichen Topoi korrespondieren mit einem Ordnungsdenken, das in zeittypischen Formeln („Entnervung und Entartung“) und Kierkegaardscher Terminologie („Krankheit zum Tode“) eine Diagnose stellt, die zugleich weit über seine 82 Ernst Wilhelm Eschmann, Vom Sinn der Revolution, Jena 1933 83 Die einzige Ausnahme ist eine Reflexion über das Wort „Gleichschaltung“, bei der es aber nur um das Wesen des Opportunismus geht (ebd., 15 f.). Wie Smend greift bereits Eschmann auf die Geschichte zurück, auf das 17., 18. und 19. Jahrhundert in ihren Auswirkungen auf die Deutschen (ebd., 17 ff.), und reflektiert über den „Verlust der Ordnung“ (ebd., 27). 84 Ebd., 11. 85 Ebd., 9. 86 Smend (Fn. 30). – Im Jahr 1957 greift Smend das Thema Politisches Erlebnis und Staatsdenken noch einmal in einem kleinen Beitrag für eine pädagogische Zeitschrift auf (Smend, Politisches Erlebnis und Staatsdenken, Gesellschaft – Staat – Erziehung 2 (1957), 316–319). Hier geht es um die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik. Die Ideengeschichte spielt kaum noch eine Rolle. Nichts steht mehr zwischen den Zeilen.
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Andreas Anter
Zeit hinausweist. Neil Postman hat diese Diagnose ein paar Jahrzehnte später wirkungsmächtig wiederholt: Wir amüsieren uns zu Tode.88 Es lag zweifellos in Smends Absicht, den unmittelbaren Zeitkontext zu transzendieren. Er wollte, daß sein Text auch nach dem Ende des Nationalsozialismus noch lesbar sein sollte. Auch darin liegt ein Grund für die verklausulierten Formeln, die dem Text jenen hermetischen Charakter verleihen.
88 Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie (1985),
REINHARD MEHRING, HEIDELBERG CARL SCHMITT
IM
ARCHIV
Das Archiv war für Schmitt nicht die erste Adresse. Denn er hielt auf seine juristische Autorschaft und veröffentlichte darüber hinaus nur spärlich und bedacht in Tageszeitungen oder Monatsschriften, die ordentlich zahlten, wie dem katholischen „Hochland“, oder in politisch exponierten „jungkonservativen“ Blättern. Immerhin publizierte er im Archiv aber zwei wichtige Aufsätze, die Schlaglichter auf zwei Epochen seines Werkes werfen. „Die Staatsphilosophie der Gegenrevolution“ steht Ende 1922 am Anfang der Bonner Zeit und Weimarer Wirkung; „Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes“ entstand 1937 bald nach Schmitts Sturz in der nationalsozialistischen Karriereleiter.1 Die folgende kleine Studie stellt diese Beiträge in ihren Entstehungskontext zurück, ohne sie in ihrer akademischen Wirkung und ihrem systematischen Gehalt hinreichend zu diskutieren. Sie will Schmitts Verhältnis zu philosophischen Fachzeitschriften und zum Archiv im Besonderen exemplarisch beleuchten. Es wird sich zeigen, daß Schmitt weit über seine beiden Beiträge hinaus auf das Profil des Archivs Einfluss nahm und das Medium philosophischer Fachzeitschriften strategisch und „dekonstruktiv“ nutzte, um den konfessionellen Geltungsanspruch philosophischer Diskurse primär als „Theologie“ zu lesen. I. VON
DER
„BESCHREIBENDEN“
ZUR
„BETREIBENDEN“ POLITISCHEN THEOLOGIE
Schmitt schrieb seine Studie „Die Staatsphilosophie der Gegenrevolution“ nach dem 18. Juni 1922 in wenigen Tagen. Die „Politische Romantik“ und „Die Diktatur“ waren zuvor erschienen. Schmitt war damals mit besonderer Unterstützung von Rudolf Smend von der Münchner Handelshochschule über ein kurzes Greifswalder Intermezzo nach Bonn auf Smends Nachfolge durchgestartet. Der Aufsatz ist seine erste Bonner Veröffentlichung. Erstmals hat er nach der Trennung von seiner ersten Frau Cari auch seinen Doppelnamen Schmitt-Dorotic abgelegt und firmiert schlicht als „Schmitt“. Die Vorbemerkung zur ersten Auflage der „Politischen Theologie“2 von 1922, dass die Broschüre parallel zu einem – in den „Dioskuren“ bereits angekündigten – „Aufsatz über ‚Die politische Idee des Katholizismus‘“, der ersten Fassung des Katholizismus-Essays,3 im März 1922 in Greifswald geschrieben wurde, ist 1
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Carl Schmitt, Die Staatsphilosophie der Gegenrevolution, ARWP 16 (1921), 121–131, hier auch zitiert nach: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 3. Aufl., Berlin 1979, 67–84; ders., Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes, ARSP 30 (1937), 622–632, hier auch zitiert nach: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 bis 1969, hg. von Günter Maschke, Berlin 1995, 139–147; die erste Seitenangabe betrifft jeweils die Zeitschrift, die zweite die späteren Ausgaben; zur Gesamtauffassung vgl. Verf., Carl Schmitt zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 2006. Im Folgenden werden unveröffentlichte Materialien aus Schmitts Nachlass zitiert: Landesarchiv NRW, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Nachlass Carl Schmitt, Bestandsnummer RW 265. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1922
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Reinhard Mehring
somit nicht ganz richtig. Die drei Kapitel der Weber-Erinnerungsgabe,4 in die „Politische Theologie“ übernommen, waren damals aber vermutlich fertig und der Katholizismus-Essay stand zumindest in einer Erstfassung. Schmitt zog die Schrift von der Zeitschrift „Dioskuren“ zurück und gab sie im November 19225 zum gleichen Honorar an den bibliophilen Reformverlag Jakob Hegners (1882–1962) in Hellerau.6 Der Beitrag „Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution“ erschien im Oktoberheft des Archivs, das damals noch Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie hieß. Schmitt übernahm ihn Ende 1922 als Schlusskapitel in seine Programmschrift „Politische Theologie“ und markierte damit seinen Schritt über Max Weber hinaus.7 Er setzte mit dem Wechsel aus dem erzprotestantischen Greifswald ins urkatholische Bonn ein gegenrevolutionäres Segel und distanzierte sich dabei zugleich vom scholastischen Naturrecht und restaurativen Ideologien. Die Herausgeber des Archivs waren damals Ernst Zitelmann, Leopold Wenger und Peter Klein. Zitelmann war ein prominenter Bonner Jurist. Er war Rektor der Bonner Universität gewesen und leitete auch nach seiner Emeritierung noch das Bonner Institut für internationales Privatrecht. Schmitt wechselte kurzfristig – vom Ruf erfuhr er am 1. Februar durch Smend8 – zum Sommersemester 1922 aus Greifswald nach Bonn und lehrte noch einige Zeit neben Zitelmann. Ein näheres persönliches Verhältnis hatten beide nicht. Zitelmann hatte aber Einfluss in der Fakultät und wirkte vermutlich positiv an Schmitts Berufung mit. Schmitt beteiligte sich dann 1923 mit seiner berühmten Schrift „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“9 an der Festgabe zum goldenen Doktorjubiläum, die die Bonner Fakultät10 Zitelmann am 1. August 1923 noch kurz vor dessen Tod überreichen konnte.
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Carl Schmitt, Soziologie des Souveränitätsbegriffs und politische Theologie, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. II., München 1923, 3–35 5 Brief Jakob Hegners vom 22.11.1922 an Schmitt (RW 265–5833) 6 Franz Blei, Briefe an Carl Schmitt 1917 bis 1933, hg. von Angela Reinthal, Heidelberg 1995, Brief Nr. 24: „Hegner hat es bis jetzt versäumt, mir Ihre politische Schrift zu schicken, trotzdem ich ihn schon daran erinnert habe.“ 7 Die Fassung der Zitelmann-Festgabe unterscheidet sich nur geringfügig von der Broschürefassung. Eine Abweichung betrifft den Titel des dritten Kapitels. In der Zitelmann-Festgabe heißt es: „Die rationalistische Diktatur im marxistischen Denken“. Das Adjektiv hat Schmitt in der Broschüre wohl aus stilistischen Gründen gestrichen. Die zweite Fassung der „Politischen Theologie“ vor 1934, die heute stets aufgelegt wird, hat Schmitt systematisch von allen längeren Ausführungen zu Erich Kaufmann bereinigt (dazu vgl. ders., Politische Theologie, München 1922, 14 f., 20, 26–28, 37). 8 Brief Smends vom 1.2.1922 an Schmitt (RW 265–15211) 9 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München 1923; Schmitt schrieb diesen Parlamentarismus-Text seit dem April/Mai 1923 in nahem Kontakt zu den Münchner Vorgängen von 1923. Kein Zweifel, dass seine Aussagen über Mussolini, über den Triumph des „nationalen“ Mythos, dort auch mit Seitenblick auf die deutsche „Revolution von rechts“ geschrieben sind. 10 Beteiligt waren Paul Krüger, Ernst Landsberg, Carl Crome, Heinrich Pflüger, Josef Heimberger, Fritz Schulz, Philipp Zorn, Heinrich Göppert, Albert Hensel, Ernst Isay, Günther Holstein, Hermann Nottarp, Carl Schmitt. Insbesondere mit Landsberg und Hensel hatte Schmitt näheren
Carl Schmitt im Archiv
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Das Oktoberheft des Archivs war in besonderer Weise als Themenheft konzipiert. Eine Voranzeige11 betont, dass dieses Themenheft die „katholische Rechtsphilosophie“ vom „katholischen Standpunkt aus“ behandelte. Es brachte die „katholische Rechtsphilosophie“ – laut Umschlagankündigung – „zu geschlossener Darstellung“. Das Heft enthält je drei Beiträge zu drei Abteilungen: „Naturrecht in Geschichte und Gegenwart“ (Otto Schilling, Martin Grabmann, Viktor Cathrein), „Recht und Ethik“ und „Recht und Staat“. Schmitt eröffnet die letzte Abteilung „Recht und Staat“. Es folgen ein Beitrag von Eduard Eichmann12 über „Kirche und Staat“ sowie ein Beitrag von Otto Schilling über „Die katholischen Eigentumslehren“. Der Beitrag des Münchner Theologen und Juristen Eichmann schließt eng an Schmitt an. Denn er skizziert die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von Kirche und Staat bis in die Gegenwart der Weimarer Republik. Betont Schmitt die gegenrevolutionären Motive eines Bündnisses der katholischen Staatsphilosophie mit dem Staat, so erörtert Eichmann die neuere Akkomodation der Kirche nach 1848 bis in die Gegenwart. Die Bonner Jahre gelten als Schmitts beste Zeit. Hier wirkte er an einer bedeutenden Fakultät mit Kollegen im „Richtungsstreit“ zusammen; hier arbeitete er seine Verfassungstheorie aus; hier formte er ein Seminar mit namhaften Schülern. Von Bonn aus ergriff Schmitt erstmals verfassungspolitisch konkret Partei und trat exponiert als Katholik auf. Vor 1918 hatte er in einer „scholastischen Erwägung“13 einen christlichen „Vorbehalt“ gegen Kirche und Staat formuliert. Er band sein Verhältnis zur Katholischen Kirche an deren Christlichkeit. Wie seine Münchner Bekannten Theodor Haecker, Franz Blei, Konrad Weiß, Hugo Ball und andere strebte er unter dem Eindruck Kierkegaards eine Überwindung des Ästhetizismus und erneuerte religiöse Bindung an. Die Kierkegaard-Editionen Haeckers waren ihm 1915 ein erster Rückruf ins Christentum. Diese Wendung entsprach einer breiten publizistischen Strömung über Deutschland hinaus. Es ging um eine neue Verhältnisbestimmung von Katholizismus und Moderne14 und eine neue katholische Intellektualität durch Aufnahme der literarischen Moderne. Man sprach von einer „Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis“.15 Die Religiosität wurde jenseits klerikaler Organisation gesucht. Die Religionsphänomenologie entdeckte „das Heilige“ (Rudolf Otto) als epiphanischen Einbruch jenseits allen moralischen Eigendünkels „bürgerlicher“ Subjektivität. Geschichtstheologie wurde zur Schicksalsfrömmigkeit. Baudelaire und Dostojewski waren zwei Väter dieser Moderne. Paul Claudel, Léon Bloy und Georges Bernanos waren einige Autoren einer radikalen Auslegung der Differenz von Religion und Moral. Sie spannten die Differenz bis zur Antithese von Moral und Religion und bis zum Satanismus als religiöse Haltung. Bloy begegnete einer Prostituierten und suchte sie in die Ehe zu retten. Doch die Hure wan-
11 ARSP 15 (1921/22), Heft 4, Rückumschlag 12 Ein erhaltener Brief Eichmanns vom 4.6.1922 (RW 265–3086) aus München geht nicht auf das geplante Heft ein. 13 Carl Schmitt, Die Sichtbarkeit der Kirche, Summa 1 (1917), 37–52; auch in ders., Die Militärzeit 1915 bis 1919, hg. von Ernst Hüsmert/Gerd Giesler, Berlin 2005, 445–452 14 Dazu vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt, Freiburg 1990.
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Reinhard Mehring
delte sich zur Heiligen und wurde verrückt.16 Nicht nur Schmitts erste Ehe, seine Liebe zu Cari, funktionierte annähernd nach diesem Modell. Mit großer Sympathie las Schmitt solche Literatur. Noch im April 1927 unterhielt er sich mit Hermann Heller freundschaftlich über den Typus des Heiligen und schenkte ihm ein Buch von Bernanos.17 Der französische Katholizismus wirkte damals in den deutschen Diskurs hinein.18 Schmitt nannte die Action Francaise „die interessanteste Zeitung, die es heute gibt.“19 Von 1928 bis 1939 stand sie auf dem kirchlichen Index. Ihre antisemitische Programmatik beeinflusste noch die Vichy-Regierung.20 Carl Muth und die Zeitschrift „Hochland“21 wurden damals zu gemäßigten Vorreitern erneuerter katholischer Publizistik in Deutschland. Hermann Platz22 formulierte seine katholische Nationalismuskritik in der Auseinandersetzung mit dem französischen Nationalismus. Ernst Robert Curtius23 vermittelte die neuere französische Literatur sowie Maurice Barrès. Schmitts damalige Geliebte Kathleen Murray promovierte im Mai 1922 bei Curtius. Schmitt schrieb Teile ihrer Dissertation und regelte alles mit Curtius. Nach erfolgter Promotion brach er den Kontakt ab. In Bonn hatte er näheren Umgang mit Hermann Platz, der ihn am 23. Januar 1928 noch zur gemeinsamen Herausgabe eines großen Sammelwerkes zur neueren französischen Geistesgeschichte aufforderte.24 Auch mit Victor Klemperer stand Schmitt in Verbindung.25 Er schrieb Klemperer zu einer Romantik-Studie und gratulierte später auch zu seiner Literaturgeschichte. Klemperer erbat am 27. Juni 1923 von Schmitt einen Beitrag und nahm 1930 noch eine Cortés-Studie freundlich auf. Schmitt freundete sich in Bonn auch mit den Theologen Erik Peterson und Karl Eschweiler an. Eschweiler arbeitete damals die neuere Theologiegeschichte auf und rezipierte mit Jacques Maritain einen Neuthomisten, der durch die französische Avantgarde hindurchgegangen war.26 16 Léon Bloy, Lés Désespéré, 1886; ders, Briefe an Veronika. Mit einem Vorwort von Jacques Maritain, Wien 1948; den Hinweis danke ich Prof. Norbert Brieskorn. 17 Brief Hellers vom 17.4.1927 an Schmitt (RW 265–5872); Schmitt schenkte vermutlich „Die Sonne Satans“ in der französischen Ausgabe. Dazu auch der eindrucksvolle Brief von Ludwig Oppenheimer vom 15.10.1929 über Bernanos (RW 265–10629). 18 Von dieser literarischen Bewegung ausgehend: Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action Francaise. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, München 1963. 19 Brief Schmitts vom 21.10.1924 an Feuchtwanger, in: Carl Schmitt – Ludwig Feuchtwanger. Briefwechsel 1918 – 1935, hg. von Rolf Rieß, Berlin 2007, 89 20 Das betont Saul Friedländer, Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden, München 2006, 138 ff., 198 ff. 21 Dazu Piet Tommissen (Hg.), Der Briefwechsel zwischen Carl Muth und Carl Schmitt, Politisches Denken. Jahrbuch 1998, 127–159 22 Hermann Platz, Geistige Kämpfe im modernen Frankreich, München 1922; ders., Um Rhein und Abendland, Burg Rothenfels 1924; ders., Deutschland-Frankreich und die Idee des Abendlandes, Köln 1924; Der geistige Umbruch in Frankreich, Breslau 1932 23 Ernst Robert Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, Potsdam 1919; ders., Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, Bonn 1921; vgl. noch Hugo Friedrich, Das antiromantische Denken im modernen Frankreich, München 1936. 24 Brief Hermann Platz vom 23.1.1928 an Schmitt (RW 265–11094) 25 Im Nachlass befinden sich vier Postkarten und Briefe Klemperers an Schmitt zwischen 1922 und 1930 (RW 265–7674–7677). 26 Dazu bes. Karl Eschweiler, Die zwei Wege der neueren Theologie: Georg Hermes-Matthias Scheeben. Eine kritische Untersuchung des Problems der theologischen Erkenntnis, Augsburg 1926; ders. (Hg.), Der Künstler und der Weise, Augsburg 1927; Jacques Maritain, Antimodern. Die Vernunft in der modernen
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Schmitt sprach seit frühen Tagen fast muttersprachlich Französisch und las die neueste Literatur in der Originalsprache. Mit Franz Blei, einem zentralen Vermittler, sprach er ständig über französische Literatur.27 Georges Bernanos28 und Leon Bloy gehörten zu seinen Hausautoren. Mit Jacques Maritain stand er einige Zeit in engerem Kontakt. Pierre Linn übersetzte seine „Politische Romantik“ ins Französische. Durch Ernst Jünger vertieften sich später die Berührungen mit der aktuellen französischen Literatur. Die Skizze der Gegenrevolution ist deshalb nur ein kleiner Ausschnitt aus einem breiten romanistischen Interesse. Bewußt verlegte Schmitt sein Interesse an der aktuellen Literatur in das 19. Jahrhundert zurück. Im breiten Strom katholischer Publizistik wurde damals Verschiedenes vertreten: katholische Laienreligiosität und Mystik am Rande der Kirche ebenso wie Ästhetizismus und autoritärer Etatismus und Atheismus. An Religion und Kirche sollte der Staat genesen. Theodor Haecker verschrieb sich der „Satire und Polemik“, um auf den Spuren Kierkegaards ein „Pfahl im Fleisch“ der Gegenwart zu sein.29 Von Charles Maurras ist die bekannte Formel überliefert: „Je suis atheè, mais je suis catholique.“ Schmitts enger Gefährte und Freund Blei münzte dieses Wort am 7. Dezember 1921 auch auf sich: „Ich habe gar keine Beziehung zu dem, was man Erlösung nennt und halte die Aufstellung, dass Christus ‚für uns‘ auf dem Kreuze sterben musste, für einen ordinären posterioren Schwindel, sich um diese Gemeinheit der Hinrichtung herumzudrücken. […] Ich bin also ein gottloser Kleriker. Wie Sie auch, lieber Freund.“30 Diese Formulierung ist etwas überraschend. Denn für Schmitts „scholastische Erwägung“ von 1917 trifft eher das Gegenteil zu: der christliche Vorbehalt gegen die Kirche. Blei nimmt Schmitt sein christliches Credo damals nicht ganz ab. Der Münchner Bekannte Heinrich Merk hofft im Februar 1922 noch auf baldige Rückkehr Schmitts und meint ironisch: „Wenn dereinst in München ein Lehrstuhl zur Verteidigung der spanischen Inquisition errichtet wird, dann müssen Sie ihn zieren und ich werde Ihr gläubigster Zuhörer.“31 Mit Karl Eschweiler, Hans Barion und Heinrich Oberheid wird Schmitt später immer wieder für einen politischen Primat des Staates über der Kirche argumentieren. 1919 war, wie erwähnt, die „Politische Romantik“ erschienen; Anfang 1921 folgte die große begriffsgeschichtliche Studie „Die Diktatur“, die Schmitt den Ruf nach Greifswald eintrug. Sie beschrieb die militärische Aktion als ein „Notwehrrecht“, das „durch die Tat selbst“ über die rechtlichen Voraussetzungen entscheidet. 27
Blei hatte Maurice Barrès, Claudel, Oskar Wilde und viele andere übersetzt, Stendhal und Casanova herausgegeben und war einer der besten Kenner der erotischen Literatur und Kultur des Rokoko. Er war seit Münchner Tagen die ganze Weimarer Zeit hindurch ein sehr enger Freund Carl Schmitts. 28 Nach 1945 verkehrte Schmitt eng mit Walter Warnach, auf dessen Bernanos-Ausgabe er vermutlich einigen Einfluss nahm: Georges Bernanos, Vorhut der Christenheit. Eine Auswahl aus den polemischen Schriften, hg. von Walter Warnach, Düsseldorf 1950. 29 Theodor Haecker, Satire und Polemik 1914–1920, Innsbruck 1922; Sören Kierkegaard, Kritik der Gegenwart, hg. von Theodor Haecker, Innsbruck, 2. Aufl. 1922; ders., Der Pfahl im Fleisch, hg. von Theodor Haecker, Innsbruck, 2. Aufl. 1922; Haecker grenzte sich dabei auch von Franz Bleis Kierkegaard-Rezeption ab (ders., Blei und Kierkegaard, in: Satire und Polemik, 19–27), um einen Schnitt zwischen dem Literaten und dem religiösen Schriftsteller zu machen. 30 Franz Blei, Brief vom 7.12.1921, in: ders., Briefe an Carl Schmitt 1917 bis 1933, hg. von Angela Reinthal, Heidelberg 1995, 32
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Im wirklichen Notfalle könne „derjenige, der die Nothandlung ausübt, nicht von demjenigen unterschieden werden, der darüber entscheidet, ob der Notfall gegeben ist“.32 Der Akteur sei zugleich Richter und Vollstrecker. Schmitt zitiert eine Bemerkung des Reichswehrministers zum Aufruf einer kommunistischen Revolutionsleitung von 1920: „‚Da finden Sie das neue Staatsrecht‘, ‚da kommt das Erschießen fast vor dem Urteil, möchte man meinen‘“.33 Schmitt verteidigt dagegen die Bemühungen des 19. Jahrhunderts um rechtstaatliche Limitierung und sah die Diktatur kritisch. Artikel 48 erteile die „Ermächtigung zu einer rechtlich nicht begrenzten Aktionskommission“. Er sei eine „sonderbare Regelung“, verschleiere seine Möglichkeiten hinter einer Fülle von Einschränkungen: „Das Recht über Leben und Tod wird implicite, das Recht zur Aufhebung der Preßfreiheit explicite erteilt.“34 Schmitt warnt damals vor der Entwicklung zur „souveränen Diktatur“. Am Phänomen der Diktatur macht er sich klar, dass die Unterscheidung von Macht und Recht durch elementare „Entscheidungen“ generiert wird und Rechtsnormen von fundamentalen Grundentscheidungen bestimmt sind. „Die Diktatur“ ging aus Erfahrungen im Verwaltungsdienst des Münchner Generalkommandos sowie der Revolutionswirren hervor. Die nächste größere Publikation antwortet dann auf Max Weber, den Schmitt als Teilnehmer an Webers Dozentenseminar35 noch kennengelernt hatte. Schmitt antwortet auf Webers „verstehende Soziologie“ mit seinem Programm einer „Politischen Theologie“. Er fragt in seiner Erinnerungsgabe nach den „metaphysischen“ Voraussetzungen des Personalismus und Dezisionismus.36 Der Zug der Zeit führt, so skizziert es das titelgebende dritte Kapitel, unter dem Druck der modernen Naturwissenschaften von Transzendenz- zu Immanenzvorstellungen, zum weltanschaulichen „Relativismus“ und zur identitären Demokratie. Schmitt läßt in seiner Erinnerungsgabe am Ende offen, ob seine „Politische Theologie“ – mit einer Unterscheidung Jan Assmanns37 – analytisch-beschreibend oder politisch-betreibend gemeint war. Er schließt mit Andeutungen zu Donoso Cortés, der „im Anblick der Revolution von 1848“ um der politischen Ordnung willen den Bruch mit der dynastische Legitimität vollzog und die offene Diktatur forderte. Im letzten Absatz der Erinnerungsgabe schreibt Schmitt: „Eine ausführliche Darstellung dieses Dezisionismus und eine eingehende Würdigung von Donoso Cortés gibt es noch nicht.“38 Schmitt nimmt diese Erinnerungsgabe für Weber, noch vor deren Erscheinen, als drei Kapitel zur „Lehre von der Souveränität“ in seine Programmschrift „Politische Theologie“ auf. Der Archivbeitrag von 1922, zunächst wohl als Studie zu Cortés geplant, bildet dann das letzte Kapitel der Programmschrift. Der unterschiedliche Kontext der Einzelveröffentlichung ist demnach 32 Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, München 1921, 179 33 Carl Schmitt (Fn. 32), 177; zu den damaligen Ausschreitungen an Rhein und Ruhr vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, Stuttgart 1984, 101 ff. 34 Carl Schmitt (Fn. 32), 203 35 Schmitt klebte seine von Weber unterschriebene Teilnehmerkarte in sein Handexemplar von „Wirtschaft und Gesellschaft“ ein. 36 Carl Schmitt, Politische Theologie, 3. Aufl., Berlin 1979, 44; dazu Verf., Macht im Recht. Zur Entwicklung von Carl Schmitts Rechtsbegriff, Der Staat 43 (2004), 1–23 37 Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000, 15 ff.
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nicht unwichtig: Schmitt unterscheidet zwischen seiner ersten akademischen Antwort auf Weber und seiner Bonner Positionierung zum Katholizismus. Seine Auffassung der „Gegenrevolution“ resultiert einer irgendwie „theologischen“ Lesart oder Vertiefung von Webers „verstehender“ Soziologie. Schon am 28. Oktober 1921 fragt Blei an: „Was macht Ihr Donoso?“39 Die Archiv-Studie von 1922 wird aber keine Spezialuntersuchung zu Cortés; sie leitet nur in weitere Cortés-Studien ein, indem sie die Gesamtentwicklung der „Staatsphilosophie der Gegenrevolution“ von De Maistre über Bonald zu Cortés skizziert. Die Fokussierung der Gegenrevolution auf Donoso Cortés ist eine ingeniöse Verschärfung. In der „Politischen Romantik“ ist Cortés noch nicht erwähnt. Die „Politische Romantik“ profiliert aber bereits die Differenz der politischen Romantik zur Gegenrevolution. Schmitt arbeitet diesen Unterschied dann in einem Aufsatz über „Politische Theorie und Romantik“ aus, der zunächst in den Preußischen Jahrbüchern erscheinen sollte40 und erst 1921 in der „Historischen Zeitschrift“ erscheint. 1920 erscheint damals in München eine Cortés-Ausgabe von Abel Ferner.41 Sie ist vermutlich ein Ausgangspunkt von Schmitts Entdeckung. Cortés passte gut in sein Geschichtsbild. Die Einordnung in die Reihen der Gegenrevolution ist auch nicht unzutreffend, wenn Cortés auch stärker katholisch gebunden war.42 Schmitt verwarf die „politische Romantik“, um sich der Staatsphilosophie der Gegenrevolution an die Brust zu werfen.43 Seine Romantikkritik war „nur ein Vorspiel“.44 Die katholische Gegenrevolution hatte sich in Frankreich als Erinnerung an die alte Ordnung von Kirche und Monarchie formiert. Erst mit dem letzten Kapitel „Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution“ bekennt Schmitt sich nun ziemlich unverhüllt zu einer interventionistischen Politischen Theologie, zur Gegenrevolution und offenen Diktatur.45 Der Etatismus ist der Fokus. Anders als etwa Hermann Platz vertritt Schmitt mit seiner Studie keine übernationale katholische „Idee des Abendlandes“, sondern er skizziert die Legitimitätsgeschichte der Gegenrevolution als Schritt zur offenen Diktatur. In seinem Beitrag profiliert er zunächst die Alternative zwischen den deutschen Romantiker und den katholischen Staatsphilosophen: „Diktatur“ sei der „Gegensatz zu Diskussion“ (128; PT 80). Er führt dann von Bo39 Franz Blei, Briefe an Carl Schmitt 1917 bis 1933, hg. von Angela Reinthal, Heidelberg 1995, 24 40 Dazu Carl Schmitt am 9.10.1919 (RW 165–13588) an einen Herausgeber der Zeitschrift für öffentliches Recht (Kelsen?); nur die erste Seite des dreiseitigen Briefes ist abgedruckt in: Schmittiana 7 (2001), 376. 41 Abel Ferner (Hg.), Die Kirche und die Zivilisation in Briefen von Donoso Cortés, München 1920; ders., Katholische Politik in Reden von Donoso Cortés, München 1920 42 Dazu stark von Schmitt beeinflusst: José María Beneyto, Apokalypse der Moderne. Die Diktaturtheorie von Donoso Cortés, Stuttgart 1988 43 Das betonte schon Hugo Ball, Carl Schmitts Politische Theologie, Hochland 21 (1924), 263– 285; zur scharfen Unterscheidung noch Schmitts Rezension in: ZgStW 79 (1925), 727–728; Schmitts Schüler Gurian beschreibt dann die Polarisierung des französischen Katholizismus nach 1924: Waldemar Gurian, Die Kirche und die Action Francais, Paderborn 1927; vgl. auch Gurians pseudonyme Besprechung der „Politischen Romantik“ in der Kölnischen Volkszeitung Nr. 343 vom 10.2.1925, 2–3. 44 Brief vom 8.12.1925 an Feuchtwanger, in: Carl Schmitt – Ludwig Feuchtwanger. Briefwechsel 1918 – 1935, hg. von Rolf Rieß, Berlin 2007, 151 45 Schmitts alter Weggefährte Eduard Rosenbaum nahm den Beitrag sehr zustimmend auf und empfahl ihn an Mussolini zu senden: Brief Eduard Rosenbaums vom 13.12.1922 an Schmitt
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nalds „Glaube an die Tradition“ (122; PT 70) über De Maistres Option für die „obrigkeitliche Autorität“ (123; PT 71) zu Cortés’ radikaler „Lehre von der absoluten Sündhaftigkeit und Verworfenheit der menschlichen Natur“ (124; PT 73). Schmitt optiert mit Cortés gegen das anarchistische „Axiom vom guten Menschen“ (124; PT 72). Der „systematische und metaphysische Kompromiss“ sei Sache der „liberalen Metaphysik“, einer „pantheistischen“ Philosophie des Lebens.46 Cortés vertrat dagegen einen anthropologischen Pessimismus und konnte deshalb auch im Anarchismus den schärfsten Widersacher finden.47 Anders als Marx habe Bakunin die Theologie ernst genommen und als Fundament der „politischen Idee“ erkannt. Mit Cortés mobilisiert Schmitt die Intensität der „Entscheidung“ und Reduktion des Staates auf einen diktatorischen Kern. Im Schritt „von der Legitimität zur Diktatur“ (123; PT 72) findet er die „Aktualität“ der Gegenrevolution. Erstmals bezieht er kaum verhüllt für die Diktatur Partei. Sein Schritt von der Weber-Erinnerungsgabe zur Schrift „Politischen Theologie“ bringt mit dem Archiv-Beitrag also eine wichtige Wendung von der „beschreibenden“ zur appellativ-„betreibenden“ „Politischen Theologie“. Die Parallelen zur Gegenwart von 1922 waren dem zeitgenössischen Leser derart deutlich, dass fast jeder diese historische Studie auch als aktuelle Intervention und Plädoyer für die „Diktatur“ las. Schmitt ging damit über die Rolle des Juristen hinaus und bekannte sich zu einem politisch engagierten Katholizismus. Bald legte er seinen berühmten Essay „Römischer Katholizismus und politische Form“ nach, der, wie erwähnt, in der Erstfassung vor der Studie zur „Gegenrevolution“ entstand. 1924 nahm Schmitt dann auf der Jenaer Staatsrechtslehrertagung48 erstmals auch verfassungsrechtlich eingehender für die präsidialen Diktaturbefugnisse Partei. Schmitt markierte 1922 mit der Gegenrevolution einerseits eine Absage an Liberalismus und Parlamentarismus, andererseits aber auch an die dynastische Legitimität der Hohenzollern und Wittelsbacher, die 1918/19 gekniffen hatten.49 So markierte er mit dem Schritt von der Legitimität zur Diktatur auch einen Bruch innerhalb des Konservatismus und eine Neujustizierung des Etatismus jenseits der konstitutionellen Monarchie und Legitimität. Zum katholischen Naturrecht bekannte Schmitt sich niemals. Den parlamentarischen Kurs der Zentrumspartei sah er skep46 Dazu Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., München 1926, 58 ff.; vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, 2. Aufl., Berlin 1995, 74 ff.; ders., Der Staat als Organismus. Zur staatstheoretisch-verfassungspolitischen Diskussion im frühen Konstitutionalismus, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt 1991, 263–272 47 Mit Otto Groß verwies Schmitt auch auf den Münchner Kontext des Anarchismus. Dazu rückblickend Hansjörg Viesel (Hg.), Jawohl, der Schmitt. Zehn Briefe aus Plettenberg, Berlin 1988. 48 Carl Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung, in: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 2. Aufl., München und Leipzig 1928, 214–259; zur Aufnahme des Vortrags als Anhang in die zweite Auflage der „Diktatur“ vgl. die Briefe Schmitts vom 20.6.1924, 15.6., 3.9. und 16.11.1927 an Feuchtwanger (Carl Schmitt – Ludwig Feuchtwanger. Briefwechsel 1918–1935,hg. von Rolf Rieß, Berlin 2007, 60, 209, 218, 225) und Feuchtwangers vom 24.12.1926 und 14.6.1927 an Schmitt (199, 208). 49 Dieser revolutionäre Bruch im deutschen Konservatismus etwa auch bei Hanns Johst, Schlageter. Schauspiel, München 1933, 29 (I.1.: „1918 konnte der deutsche Kaiser plötzlich kein Blut mehr sehen. Er entband uns unseres Eides. Das Gottesgnadentum…das Geheimnis…das Mysterium
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tisch. Ein Reichstagsmandat lehnte er 1925 ab. Nach seiner Scheidung und den scheiternden Bemühungen um eine Ungültigkeitserklärung seiner ersten Ehe war er mit der Kirche und dem Bonner katholischen Milieu überworfen. Verfassungsrechtlich bemühte er sich allerdings bis 1933 immer wieder um die Rückbindung der Diktatur an die Verfassung und Einschränkung auf die „kommissarische“ Diktatur. Wie so oft spielte er auf doppelter Bühne: Im Spiegel einer historischen Studie beleuchtete er die Gegenwart im Licht der Bürgerkriegslage von 1918/19. Das Recht zur Gegenrevolution reflektierte er theologisch. Schmitt stellte sich in die Linie der Gegenrevolution und bekannte sich zu einer interventionistischen Politischen Theologie. Seine Geschichte der französischen Gegenrevolution – „von der Legitimität zur Diktatur“ – und den theologischen Subtext führte dann sein ältester Bonner Schüler (und späterer Gegner) Waldemar Gurian weiter aus.50 Auch andere katholische Publizisten wie Heinrich Rommen51 saßen in seinem Bonner Seminar. Noch im März 1981 schreibt der 92jährige Schmitt einer Frau Bondy zur Studie ausführlich, dass er niemals eine systematische Arbeit zu de Maistre versucht habe. „Das hätte eine Arbeit über den Deismus und Atheismus des französischen 16.–18. Jahrhunderts (einschließlich Pascal) werden müssen“. Schmitt bekräftigt seine juristische Lesart der „Politischen Theologie“. Die rechtliche Entscheidung müsse den Anspruch auf „Unfehlbarkeit“ erheben. „De Maistre ist reiner Jurist; seine These gründet sich auf die evidente Wahrheit und Wirklichkeit des Rechts (jedes Rechts) als Vollstreckbarkeit und effektiver Durchsetzungsanspruch jedes inappellablen, d.h. rechtskräftig gewordenen Urteils, Befehls oder was es sei. Darauf hat bisher noch keiner verzichten können. Es muss eine letzte Instanz geben. Einmal müssen die ‚Prozesse‘ aufhören, trotz ‚Wiederaufnahme‘-Möglichkeiten.“52 II. VON
DER
SYSTEMPHILOSOPHIE
ZUM POLITISCHEN
MYTHOS
15 Jahre nach seiner ersten Archiv-Studie publizierte Schmitt im Descartes-Themenheft des Archivs einen Vortrag über den „Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes“. Anlass war der 300. Geburtstag von Descartes’ „Discours de la methode“, 50 Waldemar Gurian, Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus 1789–1914, Mönchengladbach 1929; ders., Der katholische Publizist, Augsburg 1931; vgl. dann Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L. G. A. de Bonald, München 1959; ders., Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, Stuttgart 1963; Hans Maier, Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie 1789–1850, Freiburg 1959; Schmitt korrespondierte eingehend mit dem Maier-Promovenden Gerhard Fröhlich über de Maistre (dazu die Briefe Fröhlichs vom 25.3.1968 bis 2.10.1968 (RW 265–4537–4545). 51 Heinrich Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez S. J., Mönchengladbach 1929; ders., Grundrechte, Gesetz und Richter in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ein Beitrag zur angelsächsischnordamerikanischen Staatsrechtskunde, Münster 1931; ders., Der Staat in der katholischen Gedankenwelt, Paderborn 1935; ders., Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, Leipzig 1936; Rommen tritt im Herbst 1926, etwa zeitgleich mit Otto Kirchheimer, in Schmitts Bonner Seminar ein, kann dort wegen Schmitts Wechsel nach Berlin aber nur bei dessen Nachfolger Richard Thoma promovieren. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung sucht er als Schmitts „Schüler“ noch, politisch verfolgt, dessen Rat. Dazu Rommens Brief vom 6.11.1933 an Schmitt (RW 265–11729).
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der breit begangen wurde. Schmitt regte die Entstehung des – von der theoretischen Philosophie ausgehenden, die Bewusstseinsphilosophie kritisch rekapitulierenden – Augustheftes an.53 Er stand damals in der Berliner Universität und der „Akademie für deutsches Recht“ im engen Kontakt mit Carl August Emge,54 der das Archiv, vom Nietzsche-Archiv kommend, seit 1935 herausgab, sowie mit Emges Assistenten und Redakteur Otto von Schweinichen, der es seit dem Februar 1936 bis zu seinem Freitod 1938 betreute.55 Emge war zum Wintersemester 1934/35 als Nachfolger des Vertriebenen Fritz Schulz nach Berlin gekommen. Ein erstes privates Treffen war für den Januar 1935 arrangiert.56 Von den Berliner Fakultätskollegen nahm nur Emge 1938 an Schmitts 50. Geburtstag teil. 1942 gab es dann einen vorübergehenden Bruch in den Beziehungen.57 Auch mit v.Schweinichens Nachfolger Jürgen von Kempski stand Schmitt lange in engerer Verbindung. Sein Beitrag zum DescartesSonderheft löste eine erneute Diskussion über den „totalen Staat“ aus, die ein weiteres Heft des Archivs prägte.58 Auch hier stand Schmitt redaktionell Pate. Unge53 Carl A. Emge, Dem Gedächtnis an René Descartes, ARSP 30 (1936/37), 465–466, hier: 465 54 Zu Emges Berufung nach Berlin vgl. Anna-Maria Lösch, Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999, 198 ff. 55 Dazu der Nachruf von Emge, ARSP 32 (1938/39), 1–4. Von Schweinichen war damals mit einer Gräfin Krockow befreundet (Brief Bernhard von Mutius vom 14.9.1958 an Schmitt; RW 265–10116) Mit Emge zusammen gab von Schweinichen heraus: Gedächtnisschrift für Arthur Schopenhauer, Berlin 1938. Auf Anraten Emges stellte sich von Schweinichen Schmitt am 2.2.1934 ausführlich brieflich vor (RW 265–15047). Von Schweinichen stammte offenbar von einem „Gut in der Steiermark“ (Brief an Frau Schmitt vom 5.7.1938 – RW 265–15052); er studierte Philosophie, Altphilologie und Rechtswissenschaft. Er begann sein Studium zum SS 1930 in Berlin und wechselte dann zum WS 1931/32 zu Hans Leisegang in Jena, wo er auch in Emges Seminar eintrat. Schon am 1. Mai 1931 war er in die NSDAP eingetreten. Er war Mitglied der SA. Zum WS 1932/33 kehrte er nach Berlin zurück. Im November 1933 legte er sein juristisches Staatsexamen ab. Zum SS 1934 trat er in Schmitts Seminar ein. Als erste Fingerübung schickte er am 26.5.1934 (RW 265–15048) Überlegungen und Exzerpte zum Begriff der „Ordnung“. Von Schweinichen wirkte als Opponent an der Disputation über den Rechtsstaat mit, die Schmitt in seiner Schriftenreihe „Der deutsche Staat der Gegenwart“ veröffentlichte. Die Drucklegung war sehr mühevoll, da die Manuskripte der Disputanten ausuferten und nicht rechtzeitig abgeliefert wurden. Schmitt diskutierte „einige Nächte“ mit von Schweinichen, um ihn zu einer kurzen Fassung zu bewegen. Schließlich übergab er seinem „Adjutanten“ Bernhard von Mutius die Texte zur Kürzung. Dazu Schmitts Briefe vom 6.4.1935 und 31.5.1935 und 2.8.1935 an Günther Krauß (RW 265–13198/13200) sowie Günther Krauß, Erinnerungen an Carl Schmitt. Nachträge, Schmittiana 3 (1991), 46–50. Von Schweinichen verteidigte Schmitts Werk in einer Besprechung gegen den Vorwurf theoretisch substanzloser oder politischer Diskontinuität. Otto von Schweinichen, Rezension von Hans Krupa, Carl Schmitts Theorie des ‚Politischen‘, Leipzig 1937, AöR 68 (1937/38), 373–378. Ein letzter Brief vom 5.7.1938 (RW 265–15052) dankt für die Einladung zu Schmitts 60. Geburtstag. Eine Personalakte von Schweinichens ist im Berliner Universitätsarchiv nicht erhalten (freundliche Mitteilung von Dr. Schulze, Universitätsarchiv der HUB). Biographische Angaben auch bei Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 2002, Bd. 2, 1025. 56 Dazu Briefe Heinrich von Gleichens vom 20.11.1934 und 11.12.1934 (RW 265–5049/50). 57 In einem Brief vom 19.6.1942 an Prof. Noack (Berlin) schreibt Schmitt, er habe zu Emge „keine persönlichen Beziehungen mehr“ (RW 265–13340). Dieser Bruch steht vielleicht im Zusammenhang mit Emges Ausstieg aus der nationalsozialistischen Karriere. Schmitt wollte den Umgang nun meiden, um sich nicht zu belasten. 58 Das ARSP-Heft 2 (1937/38) enthält u.a. einen Beitrag von Helmut Schelsky, Die Totalität des
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ahnte Aktualität: Heft 3, 2007, des Archivs holte Schelskys Replik aus dem Archiv59 und zeichnete damit auch Schmitts Initiative indirekt aus. Carl August Emge, seit 1935 der Herausgeber des Archivs, verdiente nicht weniger den Titel des „Kronjuristen“ als Schmitt. Christian Tilitzki60 widmete ihm im Archiv eine ausführliche spöttische Würdigung, die die Diskrepanz von persönlichem „Geltungsdrang“ und institutionellem Erfolg einerseits und wirkungsgeschichtlicher Folgenlosigkeit und sachlicher Bedeutung andererseits treffend herausstellte. Emge trat schon Ende 1931 aus einer Melange von Antimarxismus und philosophischem Totalitätsstreben in die NSDAP ein; er war nicht nur Mitglied der Akademie und Vorsitzender des wichtigen Ausschusses für Nationalitätenrecht, sondern seit 1937 auch stellvertretender Präsident und seit Kriegsbeginn mit Hans Franks Berufung zum „Generalgouverneur“ von Polen dessen kommissarischer Vertreter in der Akademie.61 Emges Kontakte zu Frank, einem notorisch verlogenen und skrupellosen Obernazi, waren damit nicht weniger eng als diejenigen Schmitts. Als Frank dann in Ungnade fiel und Thierack Präsident wurde, legte Emge im September 1942 aber seine Ämter in der Akademie nieder. Nachträglich sprach er von einer „Widerstandshaltung“,62 die ihn im schriftlichen Entnazifizierungsverfahren gänzlich entlastete. Gleichzeitig wechselte er die publizistische Strategie des Archivs. Emge suchte sich nun aus der Schlinge seiner nationalsozialistischen Verstrickung zu lösen, um auch ein Leben nach dem Nationalsozialismus zu haben. Er war ein typischer, zynischer „Wendehals“. So fragwürdig vieles war, was er tat – Tilitzki nennt ihn eine „proteische Existenz“63 –, ist dieser publizistische Rückzug aus dem „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“, wie es – Aktion Ritterbusch! – so schön hieß, auf eine ostentativ unpolitische Wissenschaft bemerkenswert. Das Archiv tauchte – wie Rottleuthner in diesem Band näher untersucht – in Emges ausufernde Aphoristik, ungarische Wissenschaft und Pessimismus-Forschungen ab. Es stellte sich damit allerdings nicht mehr der Aufgabe, das Kriegsgeschehen normativ zu reflektieren. Emge verschwand Anfang 1943 mit seiner Frau Lona in sein „Haus Wolfsbrunn“64 bei Kirchzell mitten im Odenwald. Nach 1945 suchte er den Kontakt mit Schmitt wieder zu erneuern. Er verglich sich mit „Nietzsche als Sündenbock“,65 wo
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lakis, Der totale Staat als Moment des Staates, 194–201; er enthält darüber hinaus auch einen Beitrag des Schmitt-Freundes William Gueydan de Roussel sowie des Schmitt-Schülers Hans Franzen. Helmut Schelsky, Die Totalität des Staates bei Hobbes, ARSP 93 (2007), 303–320 Christian Tilitzki, Der Rechtsphilosoph Carl August Emge. Vom Schüler Hermann Cohens zum Stellvertreter Hans Franks, ARSP 89 (2003), 459–496; vgl. schon ders., Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 2002, 1023 ff. Dazu vgl. Hans-Rainer Pinichot, Die Akademie für deutsches Recht. Aufbau und Entwicklung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft des öffentlichen Rechts, Dissertation, Kiel 1981, 110 f., 140. Brief Emges vom 15.12.1951 an Schmitt (RW 265–3214) Tilitzki (Fn. 60), 484 Emge lebte dort zusammen mit seiner Frau mindestens bis 1949. Später lud er Schmitt zu Gast in dieses Haus ein (Brief Emges vom 8.2.1952 an Schmitt – RW 265–3215; vgl. auch den Brief von Lona Emge vom 23.4.1949 an Schmitt – RW 265–3220). Die rückblickenden Briefe erinnern als gemeinsame Bekannte: Schmitts engen Freund Arnold Schmitz und Frau von Schnitzler, ferner den jungen Nikolaus Sombart und den Maler Werner Gilles. Carl August Emge, Nietzsche als Sündenbock, Berliner Hefte 2 (1947), 37–47 (zit. bei Tilitzki (Fn.
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Schmitt sich mit Hobbes als „Sündenbock“ identifizierte.66 Schmitt betrachtete Emge später aber – gegenüber Forsthoff – als einen typischen „Innenseiter“, wogegen er selbst „meistens Aussenseiter“67 gewesen sei. Nach Otto von Schweinichen hatte Emge eigentlich keinen engeren Schüler mehr. Immerhin beeinflusste er akademisch Ulrich Klug, Theodor Viehweg und Jürgen von Kempski.68 Nur Klug kann dabei formal als Emges Schüler betrachtet werden,69 da er eine Habilitation anstrebte, die aber vor 1945 scheiterte. Das Archiv gewann dann nach 1945 unter Viehweg, einem einstigen Berliner Fakultätsassistenten, ein neues Profil. Kempski blieb kritisch von Schmitt angeregt. Das Archiv öffnete sich Schmitts Texten nicht wieder. Schmitt publizierte nach 1945 zunächst in der Dominikanerzeitschrift „Die neue Ordnung“ und dann in der Zeitschrift „Universitas“ seines Berliner Schülers Serge Maiwalds. Nach Maiwald frühem Tod streckte er seine Fühler auch nach dem „Archiv“ aus. Klug lehnte 1952 aber eine Rezension von Schmitts Schriften (noch durch Maiwald) ab, weil sich sonst „verschiedene Mitglieder durch Publikationen über den genannten Autor in ihrer Ehre verletzt fühlen könnten“.70 Als Roman Schnur dann aber von 1953 bis 1959 Redaktionssekretär unter Viehweg war,71 saß Schmitt für einige Jahre sozusagen mit am Redaktionstisch. Denn es gibt kaum jemanden, der so eng als Schmitts Schüler auftrat, wie Roman Schnur. Er wirkte dort, wie Schmitt schon am 26. September 1955 an Forsthoff schreibt, „als kluger Taktiker in der Redaktion“72. Und so finden sich in den nächsten Jahrgängen nicht wenige Rezensionen und „schmittianische“ Beiträge aus Schülerkreisen, bis ab 1962 die Zeitschrift „Der Staat“ diese Aufgabe übernahm. Wenn Schmitt an die Philosophie dachte, so dachte er primär ans Archiv. Nur in den Kant-Studien73 publizierte er ansonsten einen – gelegentlich über den Berliner Kollegen Arthur Liebert74 arrangierten – Vortrag. Denn die enge Verbindung der Sozialwissenschaften mit der Philosophie war ihm Programm. In einem Brief an einen spanischen Kollegen weist Schmitt 1941 einmal die „Unterscheidung von ontologisch und deontologisch“ zurück: „Diese Unterscheidung ist durch die normativistische Betrachtungsweise zum Angelpunkt aller Rechtsphilosophie gemacht worden“, schreibt er: „Demgegenüber versucht meine Lehre vom konkreten Ordnungs66 Carl Schmitt, Dreihundert Jahre Leviathan, Universitas 1952, 179–181 (SGN 152–155, hier: 152) 67 Brief Schmitts vom 5.1.1966 an Forsthoff, in: Briefwechsel Ernst Forsthoff-Carl Schmitt (1926–1974), hg. von DorotheeMußgnug/Reinhard Mußgnug/Angela Reinthal, Berlin 2007, 216 68 Werner Gornickel stellt sich am 15.1.1943 aber auch als Schüler Emges vor und bittet Schmitt um die Übernahme des Korreferates seiner Dissertation über Stammler (Brief v. 15.1.1943 an Schmitt (RW 265–5077). 69 Dazu Tilitzki (Fn. 60), 479. 70 Ulrich Klug, Brief vom 4.1.1952 an Serge Maiwald, in: Piet Tommissen, Neue Bausteine zu einer Biographie Carl Schmitts, Schmittiana 5 (1996), 151–223, hier: 189; Schmitt empört sich darüber am 4.3.1952 gegenüber Forsthoff (Briefwechsel Ernst Forsthoff-Carl Schmitt, Berlin 2007, 86) 71 Dazu Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993, 282–283. 72 Schmitt am 26.9.1955 an Forsthoff, in: Briefwechsel Ernst Forsthoff-Carl Schmitt, Berlin 2007, 114, vgl. auch 126 73 Carl Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat, Kantstudien 35 (1930), 28–42 74 Dazu Verf., Arthur Liebert: ein Geschäftsführer des philosophischen Humanismus im Exil, in: Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration, hg.
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denken die Gefahr eines solchen Dualismus zu vermeiden und hält sich an eine mehr pragmatische, aus der konkreten juristischen Erfahrung gewonnene Betrachtungsweise. […] Ich verstehe unter Rechtsphilosophie nicht eine von der Philosophie her erfolgende Beurteilung der Jurisprudenz, sondern umgekehrt eine aus spezifisch juristischen Erfahrungen sich ergebende philosophische Betrachtung.“75 „Rechtsphilosophie ist für mich nicht ein aus einem vorhandenen philosophischen System auf juristische Fragen appliziertes Vokabularium“, schreibt Schmitt dann 1958, „sondern die Entwicklung konkreter Begriffe aus der Immanenz einer konkreten Rechts- und Gesellschaftsordnung.“76 Schmitt suchte die enge Verbindung und stand für die philosophische „Einheit“ der Staatswissenschaften.77 Wie so vieles in seinem ereignis- und wendungsreichen Leben ist auch der Beitrag von 1937 Programm. Voraus ging der Abschied von der juristisch-institutionellen Sinngebung des Nationalsozialismus, deren Ablösung durch die antisemitische Sinngebung von 1935/36, mit der Tagung über „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“, sowie der Absturz in der Ämterhierarchie Ende 1936. Schmitt hatte sich mit seinen Freund-Feind-Polarisierungen, seinem politischen Opportunismus, seinem Macht- und Geltungsdrang und seinen polemischen Auslassungen überall Feinde gemacht. Zudem hatte er mit Hans Frank auf das falsche nationalsozialistische Zugpferd gesetzt. Denn Frank und die Akademie konnten die Ministerialbürokratie als Ort der Gesetzgebung nicht entmachten. Die Abhängigkeit der Rechtswissenschaft und Justiz von der ministeriellen Gesetzgebung blieb auch im Nationalsozialismus erhalten.78 Mit der SS erwuchs ein neuer Gegner. Zwischen Ministerialbürokratie und expandierendem SS-Staat war die „beratende“ Tätigkeit der Akademie faktisch ziemlich überflüssig. Auch zeitlich hinkte sie hinterher. Von den konkurrierenden „Kronjuristen“ der NS-Polykratie wurde Karl August Eckhardt zwischenzeitig besonders mächtig, weil er als junger Ordinarius und altgedienter PG beide Schlüsselmächte, Ministerium und SS, vertrat. Bei Schmitts Sturz assistierten Eckhardt so unterschiedliche Konkurrenten wie der SS-Insider Reinhard Höhn und Otto Koellreutter. Die Kritik von Weggefährten und Emigranten wie Waldemar Gurian und Franz Blei lieferte zusätzliche Waffen. Schmitt war darüber Dezember 1936 als „Kronjurist“ gestürzt. Die Protektion Goerings erhielt ihm zwar seine Berliner Professur und den Titel des „Staatsrats“. Schmitt musste seine akademische Stellung 1937 aber neu sichern. Sein Aufsatz im Archiv markiert die Rückkehr zu seriösen Studien, eine Wendung zu den „Klassikern“ und den Auftakt seiner Hobbes-Studien. Arnold Gehlen sowie die Heidegger-Schüler Oskar Becker und – nur für eine Descartes-Bibliographie – Gerhard Krüger sind noch im Themenheft vertreten. Die
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Durchschlag Schmitts vom 21.7.1941 an Miguel Fenech/ Madrid (RW 265–12961) Carl Schmitt, Erläuterungen zu: Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, 427 Dazu auch Ernst Rudolf Huber, Die deutsche Staatswissenschaft, ZgStW 95 (1935), 1–65. Das betont prägnant Gerhard Otte, Die Rollen von Rechtswissenschaft, Rechtsprechung und Gesetzgebung im Nationalsozialismus, in: Wissenschaft im Einsatz, München 2007, hg. von Käte Meyer-Drawe/Kristin Platt; 128–131, bes. 131; Otte relativiert damit die von Bernd Rüthers wegweisend erforschte Bedeutung der juristischen Hermeneutik für die Politisierung des Rechts-
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anderen Autoren sind wenig prominent.79 Der Tenor des Themenheftes ist insgesamt kritisch. Emge zieht einleitend und abschließend80 die gesamte Bewusstseinsphilosophie in Zweifel: die Aktualität cartesianischer Meditationen, wie sie Edmund Husserl damals mit seiner Krisis-Schrift81 parallel an der (noch) freien deutschen Universität Prag82 vertrat. Schmitt ist damals alles andere als ein Anhänger von Hobbes’ Philosophie. Sein Aufsatz, sein erster Ansatz zum Hobbes-Buch83 von 1938, ist eine Fundamentalkritik. Schmitt stellt Hobbes in den Rahmen von Descartes mechanistischer Metaphysik. Dabei unterscheidet er drei verschiedene „Vorstellungen“: das mythische Bild, die juristische Vertragskonstruktion und den cartesianischen Mechanismus. Das mythische Bild habe Hobbes nur beiläufig aufgegriffen. Die juristische Vertragskonstruktion sei durch den Mechanismus überformt, weshalb der Personalismus „in den Mechanisierungsprozess hineingezogen“ (629; SGN 145) worden sei. Der Mechanismus des Staates wirkte auf das Menschenbild zurück: „Erst die Mechanisierung der Staatsvorstellung hat die Mechanisierung des anthropologischen Bildes vom Menschen vollendet.“ (631; SGN 146) Damit sei Hobbes auf der ganzen Linie gescheitert. Einleitend zitiert Schmitt zwei neuere französische Arbeiten (Viataloux, Capitand) für die Alternative einer „totalitären“ oder „individualistischen“ Deutung. Beide weist er zurück: Die individualistische Absicht (der Begründung einer „Relation von Schutz und Gehorsam“) sei an der Mechanisierung der Vertragskonstruktion gescheitert, die totalitäre Konsequenz an der ironischen Behandlung des mythischen Bildes. Schon Schelsky übersah in seiner Hobbes systematisch und affirmativ rekonstruierenden Replik,84 dass Schmitt damals – und auch im Hobbes-Buch von 1938 – Hobbes’ Denken grundsätzlich zurückweist, weil er auf eine Begründung politischer Totalität durch „Mythisierung“ zielt. Was Schmitt von Hobbes konstruktiv aufnimmt, ist einzig der Ansatz zum politischen Mythos. Aber gerade hier sei Hobbes gescheitert. Dem „Sinn“ und „Fehlschlag“ des LeviathanSymbols widmet Schmitt deshalb sein nächstes Buch. Im Aufsatz von 1937 zitiert er Emge für den Versuch, politische „Totalität“ mit Hegel zu stiften. Emges Name steht aber wohl mehr für Schmitts Meisterschüler Ernst Rudolf Huber, mit dem Schmitt damals noch überworfen ist. Allenfalls von Huber erwartete Schmitt eine hegelia79 80 81 82
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Nur Johannes Erich Heyde ist als Rostocker Professor in Kürschners Gelehrten Kalender von 1940/41 (Berlin 1941) verzeichnet. Ansonsten sind beteiligt: Wilhelm Hurkamp, Karl T. Buddeberg, Georg Katkov, Walter Witzenmann. Carl A. Emge (Fn. 53), 465–466; ders., Der metaphysische Gegenstand. Erste Ideen über seine Struktur, ARSP 30 (1936/37), 633–666 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Gesammelte Schriften, Hamburg 1992, Bd. VIII, 1–276 Veranstalter war Emil Utitz, der, von Halle vertrieben, den Nationalsozialismus in Theresienstadt überlebte und wohl der einzige deutsche Universitätsphilosoph ist, der das Konzentrationslager nicht nur überlebt, sondern auch näher beschrieben und ethisch reflektiert hat. Dazu Verf., Das Konzentrationslager als ethische Erfahrung. Zur Charakterologie von Emil Utitz, DZPhil. 51 (2003), 761–773. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938 Zu Schelskys Verhältnis zu Schmitt vgl. die Bemerkungen in: Verf., Enttäuschende Entwicklung? Arnold Gehlens Briefe an Carl Schmitt, Berliner Debatte Initial 18 (2007), 105–112, zu Schmitts Hobbes-Kritik vgl. Verf., Carl Schmitt, Leo Strauss, Thomas Hobbes und die Philosophie, Phil.
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nische Verfassungstheorie des nationalsozialistischen Staates. 1937 erschien Hubers „Verfassung“85. So anerkennend Schmitt sie aufnahm, fand er auch dort nicht die gewünschte Begründung politischer „Totalität“ und setzte fortan nur noch auf den politischen Mythos. Sein Aufsatz verwirft 1937 den gesamten systemphilosophischen Ansatz, die Auffassung vom Staat als „Mechanismus“ und auch Hobbes’ Versuch, den politischen Mehrwert des Leviathan-Mythos beiläufig mitzunehmen. Der Aufsatz ist ein Auftakt zu weiteren Studien. Am 21. Januar und 29. April 1938 hält Schmitt zwei zusammengehörige Hobbes-Vorträge in Leipzig und Kiel. Umgehend faßt er sie zu seinem Buch86 zusammen, das Anfang Juli 1938 pünktlich zum 50. Geburtstag, erscheint und von Schmitt zahlreich an seine Freunde und Bekannten, Diplomaten, Militärs und Parteigenossen verschickt wird. Die zwei Vorträge strukturieren den Aufbau: Schmitt spricht über den „Sinn und Fehlschlag“ des Leviathan-Symbols.87 Dieses Hobbes-Buch nimmt sich also die „Mythisierung“ kritisch vor. Es fragt danach, welche Theorie geeignet sei, den Staat als „Organismus“ und politische „Totalität“ zu rechtfertigen. Hobbes’ Systemphilosophie tauge dazu nicht. Die politische Mythologie, das „Symbol“ des Leviathan, wäre ein anderer Weg. Dazu müsste man aber die jüdisch-christliche Deutungstradition brechen. Schmitt nimmt deshalb, wie er einem „Deutschen Christen“ schreibt, den „Kampf gegen die jüdische Verfälschung des Christentums“88 auf. Eine besondere Betonung der staatlichen Schutzpflichten, wie sie Hinweisen auf die „Relation von Schutz und Gehorsam“ abgelesen wurde, war nicht die primäre Zielrichtung.89 Schmitt rechnet den „Fehlschlag“ des Symbols, die liberale Konstitutionalisierung des „absoluten“ Staates, auf das Konto einer jüdischen Deutungslinie und Rechtswissenschaft. Erik Peterson nimmt das im italienischen Asyl nicht zustimmend auf. Noch vom April und Juni 1938 datieren freundliche Karten an Schmitt. Als Schmitt dann sein Leviathan-Buch schickt, weist Peterson in einer kurzen Antwortkarte vom 13. Juli 1938 die antisemitischen Assoziationen zurück und trennt scharf zwischen dem platonisch-philosophischen Erbe und der heidnischen Mythisierung. „Das sind doch Begriffe aus d. Platonischen Kosmologie“, schreibt er, „die nicht beweisen, dass Hobbes den Staat zum Gott machen musste“. Schmitts Polemik gegen die potestas indirecta habe „nur dann einen Sinn, wenn man darauf verzichtet, ein Christ zu sein und sich für das Heidentum entschieden hat.“90 Peterson bestreitet Schmitt damit erneut sein Christentum. Den christlichen Sinn von Hobbes’ Werk wird Schmitt später für gescheitert erklären. Nur mit diesem Scheitern identifizierte er sich nach
85 Ernst Rudolf Huber, Vom Sinn der Verfassung, Hamburg 1935; ders., Wesen und Inhalt der politischen Verfassung, Hamburg 1935; ders., Verfassung, Hamburg 1937 86 Schmitt (Fn. 83). 87 Dazu vgl. Christian Tilitzki, Der Mythos des Leviathan. Presseberichte und Anmerkungen zu Vorträgen Carl Schmitts in Leipzig und Kiel, Schmittiana 6 (1998), 167–181; Tilitzki will die Distanz der Vorträge zum Nationalsozialismus belegen, was aber nur relativ gelingt. Zum Kieler Vortrag die Briefe von Graf Brockdorff (RW 265–2084–2090). 88 So Schmitts Brief vom 18.7.1938 an den Deutschen Christen Siegfried Leffler (RW 265– 13228). 89 Zur vollendeten Umstellung von Rechten auf einseitige Pflichten des „Volksgenossen“ noch Werner Weber, Die Dienst- und Leistungspflichten der Deutschen, Hamburg 1943.
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1945.91 Im Spätwerk revidiert er Hobbes’ Werk als Vollendung der Reformation.92 Nach 1938 macht er aber noch einen eigenen Ansatz zur politischen Mythologie und setzt den „Reichsmythos“93 und „Reichsbegriff “ gegen den „Fehlschlag“ des Leviathan-Mythos. Mit Kriegsbeginn zieht er sich dann aus der Legitimation des Nationalsozialismus zurück. Es trifft nicht zu, dass Schmitt das Kriegsgeschehen emphatisch legitimiert hätte. „Völkerrechtliche Großraumordnung“94 erschien schon im Mai 1939. Die späteren Auflagen dekonstruieren durch ihre Ausführungen zur technologischen „Raumrevolution“ die Legitimationsfunktion des „Reichsbegriffs“. Die „Raumrevolution“ sprengt nach Schmitts Auffassung jede rechtliche Hegung. Mit „Land und Meer“95 geht Schmitt deshalb von der „völkerrechtlichen“ zur „weltgeschichtlichen“ Betrachtung über auf Abstand zum Nationalsozialismus. Schmitts Beitrag von 1937 eröffnet also, kurz gesagt, einen Neuansatz im Nationalsozialismus: die Abkehr von der direkten juristischen Legitimierung und Wendung zum politischen Mythos. Damit kehrt Schmitt wohl auch irgendwie zur „Politischen Theologie“ zurück. Ganz eindeutig aber lehnt er das „mechanistische“ Staatsdenken und den Versuch systemphilosophischer Begründung mit den Mitteln des Hobbes ab. Im Archiv schiebt er systemphilosophische Begründungsansprüche beiseite und beruft sich auf „Theologie“ und politische Mythologie. Man mag seine beiden kleinen, schnell geschriebenen Archiv-Beiträge systematisch und ideengeschichtlich problematisch finden. Zweifellos markieren sie aber wichtige Epochen in Schmitts Werk. Beide wirkten auch akademisch anregend. Schmitts Betonung eines Schnittes und Schrittes von der dynastischen Legitimität zur rein diktatorischen Gegenrevolution wirkte auf die Konservatismusforschung. Auch seine Wendung von der mechanistischen Systemphilosophie zur politischen Mythologie des LeviathanSymbols wurde akademisch fruchtbar: Die Frage nach der funktionalen Bedeutung des Leviathan-Symbols ließ die Hobbes-Forschung nicht mehr ganz los. Mit seinen Archiv-Beiträgen restringierte Schmitt „Philosophie“ auf „Theologie“. Er las den konfessionellen Geltungsanspruch auf „Wahrheit“ primär als „Theologie“. Auch deshalb publizierte er nur selten in philosophischen Fachorganen. So problematisch diese Reduktion von Philosophie auf weit gefasste Theologie auch sein mag, repräsentierte Schmitt doch den ehrwürdig universitären Versuch, die Rechts- und Sozialwissenschaften normativ in ein Verhältnis zu setzen. Das Archiv hat das anerkannt, indem es den Kontroversen um Schmitt in den letzten Jahren wiederholt Platz gab. Schmitt hatte, wie erwähnt, über Jürgen von Kempski und dann Roman Schnur noch in den 50er Jahren engere Kontakte zum Archiv. Statt eines Schlusses sei dafür ein charakteristischer Briefschluss vom 19. März 195396 an Kempski zitiert, der dessen analytischen Stil ironisiert. Es heißt dort mit den üblichen Höflichkeitsformeln: „Erlauben Sie mir bitte, trotzdem noch, Ihnen eine schöne Art von Syllogismus
91 Carl Schmitt, Dreihundert Jahre Leviathan, Universitas 7 (1952), 179–181 92 Carl Schmitt, Die vollendete Revolution. Zu neuen Leviathan-Interpretationen, Der Staat 4 (1965), 51–69 93 Carl Schmitt, Neutralität und Neutralisierungen, Deutsche Rechtswissenschaft 4 (1939), 97–118 94 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Berlin 1939 95 Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Leipzig 1942
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mitzuteilen, der mir in diesen letzten Jahren häufig entgegengetreten ist. Ich möchte ihn als den humanitären Syllogismus signalisieren. Er lautet: Regel: Jeder Mensch ist mir sympathisch; Fall: C. S. ist mir nicht sympathisch; Resultat: C. S. ist kein Mensch“.
GÜNTER SPENDEL, WÜRZBURG JOSEF KOHLER (1848–1919)* I. EINLEITUNG Am 3. Aug. 1994 jährte sich zum 75. Male der Todestag des großen Universaljuristen Josef Kohler. Er zählte zu den hervorragendsten Rechtsgelehrten, die der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg angehört haben. Von der Alma Julia-Maximilianea nahm seine akademische Laufbahn ihren Ausgang, hier sind während seiner fast 10jährigen Forschungs- und Lehrtätigkeit die Keime zu seiner erstaunlichen Entwicklung und späteren über 30jährigen Wirksamkeit an der Universität Berlin gelegt worden, die ihn zu einer der berühmtesten und international bekanntesten Juristenund Gelehrtengestalten seiner an bedeutenden Wissenschaftlern wahrlich nicht armen Zeit werden ließ. Auf fast allen Gebieten des Rechts tätig, ob nun im Zivil- oder Strafrecht, im Prozess- oder Völkerrecht, in der Rechtsphilosophie oder Rechtsgeschichte, in der Rechtsvergleichung oder ethnologischen Rechtsforschung, hat er ein immenses schriftstellerisches Werk hinterlassen, vor dem schon seine Zeitgenossen staunend, ja fassungslos standen. Die von dem einen seiner beiden Söhne, dem Richter Arthur Kohler (1874–1964), angefertigte Bibliographie der Schriften seines Vaters, ein Buch von 160 Seiten, enthält rund 2500 Titel, darunter über 100 Bücher, davon über 80 juristischen Inhalts.1 Wenn auch bei dieser überbordenden Produktion sicherlich manchmal ein Weniger an Zahl ein Mehr an Wert gewesen wäre und zudem so manche Veröffentlichung das Schicksal vieler juristischen Arbeiten teilt, dass sie durch Gesetzesänderung und Rechtsentwicklung überholt ist, so bleibt doch noch genug, um Kohler zu den großen Vertretern der Jurisprudenz zu rechnen. Nicht allein auf den meisten Gebieten des inländischen Rechts bewandert, sondern auch mit den Rechten fremder und ferner Völker vertraut, war er ein Universaljurist, wie ihn die Geschichte nur ganz selten hervorbringt, und insofern eine völlig singuläre Erscheinung in der deutschen Rechtswissenschaft. Bahnbrechend war er im Erfinder- und Urheberrecht, führend in der Rechtsvergleichung, wegweisend in der Universalrechtsgeschichte und anregend in den verschiedensten Rechtsdisziplinen. So ist Kohlers Werk kaum noch überschaubar, so dass ihm ein Biograph nur schwer gerecht zu werden vermag, bietet andererseits immer wieder neue Anregungen und Aspekte, so dass er stets von neuem zu einer Betrachtung reizt. Darum darf auch der Verfasser noch einmal eine Würdigung dieser außerordentlichen Gelehrtenpersönlichkeit und ihrer Leistung aus Anlass des 75. Todestages Kohlers versuchen, obwohl er sich schon früher mit diesem Juristen beschäftigt hat.2 * 1 2
Die vorliegende Studie ist auch in Lebensbilder bedeutender Würzburger Professoren, hg. von Peter Baumgart (1995), 179 ff., und in Sav.-Zschr. Germ. Abt., 113. Bd. (1996), 434 ff. erschienen. Arthur Kohler, Josef Kohler-Bibliographie, Basel 1931 (Neudr. Aalen 1984). Zu ihm s. Walther Osterrieth, Arthur Kohler (1874–1964), Ekkhart-Jahrb. 1965 der „Badischen Heimat“, 173. Günter Spendel, Josef Kohler, Bild eines Universaljuristen, Heidelberg 1983; s. auch schon dens., Der Rechtsgelehrte Josef Kohler und die Universität Würzburg, in: Vierhundert Jahre Universität Würzburg, eine Festschrift, hg. von Peter Baumgart, 1982, 461; ferner ders., Kohler, Josef, in:
Günter Spendel
70 II. KOHLERS LEBENSLAUF
Geboren ist Josef Kohler am 9. März 1849 in Offenburg (Baden) als Sohn eines Volksschullehrers und jüngstes von sechs Kindern, von denen ihm nur zwei Schwestern erhalten blieben.3 Seine Geburt fällt also in das Jahr der revolutionären Bewegungen, die trotz ihres äußeren Scheiterns eine Änderung der politischen Verhältnisse anbahnen sollten. Der Tod ereilte den rastlos Schaffenden wenige Monate nach seinem festlich begangenen Jubiläum des 70. und nicht ganz ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zusammenbruch Deutschlands, mit dem auch seine schier unverwüstliche Vitalität plötzlich gebrochen war. Sein Leben umspannt damit die Epoche der deutschen Einheitsbestrebungen und des zweiten deutschen Kaiserreichs; die etwas über vier Jahrzehnte seines Gelehrtendaseins (1878–1919) umfassen die Zeit von Deutschlands industriellem und wirtschaftlichem Aufstieg und militärischem und politischem Fall. Wie er an dem letzten leidend Anteil nahm, so hatte er sich vorher an dem ersten stolz einen tätigen Anteil zugesprochen: 1900 schrieb der 51jährige in einem ersten Rückblick auf sein Leben selbstbewusst, mit seinem ersten großen Werk „Deutsches Patentrecht“ (1878) habe er „die Grundlage für ein Gebiet der Jurisprudenz“ geschaffen, „das der deutschen Industrie es erst ermöglichte, einen so riesigen Aufschwung zu nehmen, daß wir zur industriellen Weltmacht geworden sind“4. Kohler war Alemanne, fühlte aber auch ein schwäbisches Erbteil in sich, wie er zugleich die Beweglichkeit und Leichtigkeit seines Wesens mit einem Einschlag von Keltentum glaubte erklären zu können. Seine Vorfahren lassen sich bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts in der Schwarzwaldgegend Ortenau nachweisen, deren an der Kinzig gelegene Hauptstadt die ehemals freie Reichsstadt Offenburg ist. Seine Mutter kam aus dem Wallfahrtsort und ebenfalls einst freien Reichsstädtchen Zell am Harmersbach, einem Seitenflüsschen der Kinzig. Von Vaterseite stammte sein Geschlecht aber aus Schwaben, von wo Kohlers Ahnen in Friesenheim nahe bei Offenburg eingewandert waren.5 Aufgewachsen ist er, der ein Firmling des sozialpolitisch engagierten Mainzer Bischofs Wilhelm Emanuel Frhr. von Ketteler (1811–1877) war, im katholischen Glauben, von dem er sich als Mann später entfernte, aber immer voller Hochachtung sprach und in dem er „eine Kulturkraft ersten Ranges“ sah. Er selbst neigte einer pantheistischen Weltanschauung zu, wie sie bei Goethe anklingt und wie er sie in der indischen Philosophie antraf.6 Von größerem Eindruck in seiner kargen Jugend- und Schulzeit war für den 17jährigen ein mehrmonatiger Aufenthalt bei einem Bruder seiner Mutter, einem wohlhabenden Kaufmann in Porrentruy (Pruntrut) in der französischen Schweiz. Er diente nach dem Schul- und Sprachunterricht des damaligen humanistischen Gymnasiums, den der Sprachbegabte auch später noch für unzulänglich hielt, der Erlernung des Französischen und der Erweiterung des Gesichtskreises. Bei der Studienwahl entschied sich der junge Kohler nach einigem Schwanken, ob er sich der Natur-, 3 4 5
Vgl. Ingeborg Malek-Kohler, Im Windschatten des Dritten Reiches, Freiburg i. Br., 1986, 25 (ein Lebensbericht seiner Enkelin, der Tochter Arthur Kohlers). Josef Kohler, Vom Lebenspfad, Gesammelte Essays, Mannheim 1902, 8 (Aufsatz „Jugendzeit“ von 1900) Kohler (Fn. 4), 3
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Sprach- oder Geschichtswissenschaft zuwenden sollte, schließlich, wohl als Brotstudium, für die Rechtswissenschaft. In ihr wurde er bald heimisch, vermochte er doch in ihr seinen nüchternen Wirklichkeitssinn, seine Freude an begrifflichem und folgerichtigem Denken, aber auch seine oft visionäre Blickweise und intuitive Gestaltungskraft aufs glücklichste zu verbinden. Unbegreiflich war ihm daher, „wie man diese Wissenschaft jemals als trocken bezeichnen konnte“7. Seine sieben Studiensemester verbrachte er an den beiden altehrwürdigen Universitäten seines badischen Heimatlandes, drei Semester in Heidelberg, vier in Freiburg i. Br., wo er 1873 „insigni cum laude“ mit einer Arbeit über französisches Privatrecht promovierte. Merkwürdigerweise hat die schöne Breisgaustadt in seiner Erinnerung keinen, die romantische Neckarstadt nur einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen, in der man nach seinem späteren Urteil damals „alles andere kennenlernte, nur nicht die Welt“ und er – bezeichnend für sein Wesen – Politik, Industrie und Handel vermisste. Dieses tätige Leben fand er nun in Mannheim, nachdem er seine beiden juristischen Staatsexamina 1871 und 1873 – am Deutsch-französischen Krieg 1870/71 hatte er wegen zu schwacher körperlicher Konstitution nicht teilgenommen – jeweils mit Auszeichnung bestanden und damit in den Juristenkreisen des badischen Großherzogtums „geradezu Aufsehen“ erregt hatte. Hier in der Industrie- und Handelsstadt wirkte Kohler fünf Jahre als Anwaltsassessor, Amtsrichter und schließlich Kreisgerichtsrat. Im geschäftigen Treiben Mannheims wurde sein Blick für den Beginn einer neuen, durch Handel und Gewerbe, durch Technik und Industrie geprägten, von der sozialen Frage bewegten Zeit geschärft; in der Praxis des juristischen Alltags empfing er die Anregungen für seine ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen. In dieser Stadt konnte er seinen theoretischen Forschertrieb und seinen praktischen Rechtssinn fruchtbar verbinden. Schon als jungen Rechtsstudenten hatte ihn in den 60- und 70er Jahren, als in Deutschland noch die auf das römische Recht gegründete Pandektenwissenschaft herrschte, der Gedanke erfasst, dass die Gegenwart ganz anders aussehe und ein ganz anderes Recht brauche, dass er zu einer Generation nicht von juristischen Epigonen, sondern von Schöpfern eines neuen Rechts und Begründern einer neuen Zivilrechtswissenschaft gehöre. So hatte Kohler bei allem Sinn für das alte Recht immer ein besonderes Gespür für die Probleme und Bedürfnisse des modernen Rechtslebens. 1910 beginnt er sein Gedicht zum 100jährigen Bestehen der Berliner Universität mit der Strophe: „Deine Zeit mußt Du verstehen, Willst Du Dauerhaftes schaffen. Mußt ergreifen, mußt erraffen, Eh’ die Stunden rasch vergehen“.8
So nimmt es nicht wunder, dass dieser Rechtsgelehrte z. B. schon 1912 auch über Luftfahrtrecht schrieb. 1878 erschien Kohlers erstes großes Werk, das der Zivilrechtslehre ein neues Gebiet recht eigentlich erst erschloss, seinem Verfasser mit einem Schlage einen Namen in der Jurisprudenz verschaffte und ihm ohne Habilitation einen Ruf auf eine or7 8
Kohler (Fn. 4), 7 Josef Kohler, in: Die Juristische Fakultät der Universität Berlin von ihrer Gründung bis zur Ge-
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dentliche Professur an der Universität Würzburg einbrachte – seine systematische Darstellung „Deutsches Patentrecht“. Um der Bedeutung dieses umfangreichen Buches bewusst zu werden, muss man sich folgendes vergegenwärtigen: Das Patentrecht zum Schutze von Erfindungen ist verhältnismäßig jüngeren Datums. Die Er-findung, die als geistige Er-schaffung eines in der Natur Nichtvorhandenen etwas Neues hervorbringt, steht im Gegensatz zur Ent-deckung, die als Auf-finden und Erkennen von objektiv in der Natur Vorhandenem bereits Gegebenes aufdeckt. Wie diese auch heute noch als der Allgemeinheit gehörend angesehen wird, so wurde das früher auch für jene angenommen. Erst in der Neuzeit brach sich immer mehr der Gedanke Bahn, dass die geistige Schöpfung des Erfinders als Frucht seiner Arbeit und seines Ingeniums vorrangig zunächst ihm eine Zeitlang zur gewerblichen und industriellen Nutzung dienen soll. Nachdem anfänglich die Verwertung von Erfindungen durch Privilegien der Landesfürsten geschützt wurde, kam es schließlich im 18. Jahrhundert in Amerika (1790) und in Frankreich infolge der großen Revolution (1791), im 19. Jahrhundert in England (1852) zu einer gesetzlichen Regelung. In Deutschland erging erst nach der Einigung das erste Patentgesetz (1.7.1877), in dem Jahr, in dem nach der Reichsgründung schon durch den Erlass der vier großen „Reichsjustizgesetze“ von Anfang 1877 (Gerichtsverfassungsgesetz, Zivilprozess-, Strafprozess- und Konkursordnung) ein wichtiger Schritt zur deutschen Rechtsvereinheitlichung getan worden war. Um 1850 hatte es sogar eine Bewegung gegen die Erteilung von Patenten, d. h. amtlich verliehenen Rechten zur alleinigen wirtschaftlichen Nutzung einer Erfindung gegeben, weil diese als Ergebnis der zivilisatorischen Entwicklung Gemeingut sein müsse. Noch 1868 beantragte Bismarck als Kanzler des Norddeutschen Bundes die Prüfung der Frage, ob überhaupt ein Patentschutz im Bundesgebiet in Betracht käme.9 Knapp ein Jahrzehnt später war nun mit dem Patentgesetz der deutschen Privatrechtsdogmatik angesichts der bisherigen sehr stiefmütterlichen Behandlung der Materie die dringende Aufgabe gestellt, „diesem Rechtsinstitute eine systematische rechtliche Bearbeitung zu schenken, welche es mit andern Instituten des Zivilrechts auf gleiche Höhe stellt“.10 Die so umrissene große Aufgabe löste Josef Kohler mit seinem ersten grundlegenden Werk. Bereits in ihm hat er die Ansicht und Einsicht verfochten, dass wie das Eigentum(srecht) an Sachgütern so auch das Recht an wirtschaftlich verwertbaren geistigen Gütern seine letzte Rechtfertigung durch die Arbeit erfahre. Wie derjenige, der ein körperliches Gut erarbeite, so verbinde auch derjenige, der ein geistiges er-schaffe, es mit seiner Person und er-werbe es damit zum eigenen Nutzen.11 In einem späteren Essay über „Rechtswissenschaft und Technik“ kommt Kohler zu einer Apotheose der produktiven Arbeit und der schöpferischen Idee: „Das Recht der Arbeit … hat für immer der moderne Mensch auf seine Fahne geschrieben, … Der Satz: ,Was du erarbeitest, ist dein‘ verwandelt sich in den Satz: ,Dein ist auch die Idee, die du ersinnest, du bist ihr industrieller Herr‘“ 12. Immer wieder hat Kohler die Lehre vom Erfinderrecht weiter ausgebaut, so vor allem mit seinen „Forschungen aus dem Patentrecht“ (1889), seinem monumentalen „Handbuch des Deutschen Patentrechtrechts in rechtsver9 10 11 12
Wolfgang Bernhardt/Rudolf Kraßer, Lehrbuch des Patentrechts, 4. Aufl. München 1986, 52 Josef Kohler, Deutsches Patentrecht, Mannheim 1878 (Neudr. Aalen 1984),V (Vorwort). Kohler (Fn. 10), 6 f., 11 ff., 18 Josef Kohler, Aus Kultur und Leben, Gesammelte Essays, Berlin 1904, 159, 163, 165 (Aufsatz von
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gleichender Darstellung“ (1900), seinem „Lehrbuch des Patentrechts“ (1908) und mit der zusammen mit dem Berliner Patentanwalt Maximilian Mintz herausgegebenen Sammlung „Die Patentgesetze aller Völker“ (I. Bd. 1907, II. Bd. 1912).13 III. DIE WÜRZBURGER ZEIT Es gereicht der Würzburger Juristenfakultät zu Ruhm und Ehre, dass sie, auf Grund der bis dahin veröffentlichten Arbeiten, Kohlers Bedeutung erkannt und die Berufung des nicht habilitierten 29jährigen Richters auf ein vakantes Zivilrechtsordinariat empfohlen hat, einen Ruf, dessen „Annahme … der Universität einen Zuwachs verschaffen wird, auf welchen sie allem Vermuten nach in nicht zu ferner Zeit mit Stolz blicken kann“, wie es in der von dem Rechtshistoriker Richard Schroeder (1838–1917) als Dekan unterzeichneten, nach Form wie Inhalt gleich eindrucksvollen Berufungsbegründung vom 23. Mai 1878 geradezu prophetisch heißt.14 Am 2. Juli 1878 unterzeichnete der bayerische König Ludwig II. die Ernennungsurkunde mit Wirkung vom 1. Okt. 1878. Zum Wintersemester 1878/79 begann Kohler seine fast 10jährige Würzburger Forschungs- und Lehrtätigkeit. Mit dem Patent- oder Erfinderrecht verwandt, aber von ihm zu unterscheiden, ist das Urheberrecht an anderen geistigen Schöpfungen, d. h. an wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Werken. Zur rechtlichen Erfassung und Durchdringung dieses (wie Kohler auch sagte) „Autorrechts“ hat er in Würzburg ebenfalls den Grund gelegt. Stand seit Erfindung des Buchdrucks zunächst der Schutz der Drucker und Verleger vor Nachdruck im Vordergrund, da sie schließlich für die von Ihnen herausgebrachten Werke den Autoren Honorar gezahlt hatten, so führte naturrechtliches Denken zu einem Wandel der Auffassung: der Gedanke des Gewerbeschutzes trat zurück hinter dem Gedanken des Autorenschutzes. Dem Verfasser wurde ein natürliches Recht auf das von ihm geschaffene Werk zugebilligt. Man erkannte, dass zwischen dem Buch als körperlichem Gegenstand, als Sachgut, an dem ein Mensch das Sachenrecht „Eigentum“ erwerben kann, und dem geistigen Gehalt dieses Buches, an dem sein Verfasser eine Art „geistiges Eigentum“ erworben habe, zu unterscheiden sei. Auf Überlegungen von Philosophen wie Kant, Schopenhauer und anderen aufbauend, begründete Kohler die Lehre vom „Immaterialgüterrecht“, als deren „Altmeister“ er heute noch anerkannt ist.15 Ihm gebührt das große Verdienst, in der Jurisprudenz die Einsicht vertieft und vertreten zu haben, dass der Mensch durch seine geistige und schöpferische Tätigkeit Güter er-schafft, für die nicht die sie verkörpernde Sache, z. B. das Buch oder die Partitur (das Materielle), sondern die in der Sache, d. h. in dem Schrift-, Ton- oder Bildwerk verkörperte Idee (das Ideelle oder Immaterielle)
13 Zu Kohlers Bedeutung für das Erfinderrecht s. Barbara Dölemeyer/Diethelm Klippel, Der Beitrag der deutschen Rechtswissenschaft zur Theorie des gewerblichen Rechtsschutzes und Urheberrechts, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland, Festschrift, Weinheim 1991, I. Bd., 185, 208, 227 ff.; s. auch andere Beiträge wie den von Elmar Wadle, 93 ff., 169 f. 14 Vgl. zu dieser Berufungsschrift mit Faksimile-Auszügen näher Spendel (Fn. 2 und 6), 19 ff. 15 So Friedrich-Karl Beier/Rainer Moufang, Vom deutschen zum europäischen Patentrecht – 100 Jahre Patentrechtsentwicklung im Spiegel der Grünen Zeitschrift, in: Gewerbl. Rechtsschutz und
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das wesentliche Gut ist.16 Wie Kohler mit Nachdruck betont hat, verdienen diese Immaterialgüter nicht weniger als Grund und Boden, Hab und Gut den Schutz des Rechts. In seiner zusammenfassenden großen Darstellung „Urheberrecht an Schriftwerken und Verlagsrecht“ von 1907 konnte er im Vorwort selbstbewusst feststellen, dass die von ihm seit über 25 Jahren entwickelte Lehre vom Immaterialgüterrecht immer mehr in die Rechtslehre und Rechtspraxis Eingang gefunden habe.17 Wie sich Kohler um die Erfassung dieses Immateriellen oder „imaginären Gedanken- oder Ideenbildes“, das hinter der äußeren und inneren Form der Darstellung stehe, bemüht hat, zeigen z. B. seine Ausführungen, in denen er das Wesen des lyrischen Gedichts und die Verletzung des dichterischen Urheberrechts zu veranschaulichen sucht. In einer jetzt über 100 Jahre zurückliegenden „juridisch-ästhetischen Studie“, die er unter das Motto stellt: „Der richtige Weg zur Erkenntnis des Autorrechts führt durch die Erkenntnis der Kunst hindurch“, bringt er als Beispiel das bekannte Gedicht Goethes „An den Mond“, das beginnt: „Füllest wieder Busch und Tal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz; …“18
Sofern jemand diese Strophe dahin abgeändert hätte – so dichtet Kohler sie um – : „Mondlicht wieder still erfüllt Busch und Tal mit Nebelglanz, Löst das Herz, das nie gestillt, Endlich einmal ganz;“
wäre mit dieser Umbildung wohl die „innere Form“ der Goetheschen Verse verändert (und verschlechtert) worden, doch deren wesentlicher Inhalt, also das „imaginäre Ideenbild“ geblieben und darum eine Verletzung des dichterischen Urheberrechts gegeben. Das wäre dagegen dann nicht mehr der Fall, wenn der Verseschmied Goethes Strophe zum Anlass genommen hätte zu reimen: „Leise bangt des Wandrers Seele In dem nächtig stillen Hain, Und er weint, die Tränen quellen In des Mondes süßem Schein.“
Denn die sich in dem Goetheschen Gedicht ausdrückende, seinen idealen Gehalt ausmachende Stimmung wäre hier nicht nur abgeschwächt und verflüchtigt, sondern eine andere geworden, in der nur noch das Naturmotiv und eine gewisse Verwandtschaft in der Gemütslage mitschwinge.19 Neben dem Urheberrecht, das die geistige Schöpfung schützt, ist Kohler für ein Persönlichkeitsrecht eingetreten, das dem Schöpfer der geistigen Leistung als solchem Schutz gewährt. Er ist damit wegweisend auch für die Anerkennung eines allgemei16 Vgl. dazu auch Albert Osterrieth, Josef Kohler, Ein Lebensbild, Berlin 1920, 21 ff.; Spendel, Josef Kohler (Fn. 2 u. 6), 9 f. 17 Kohler, aaO. V; s. außerdem Kohlers Bücher Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung, Jena 1880; Kunstwerkrecht, Stuttgart 1908 18 Josef Kohler, Das literarische und artistische Kunstwerk und sein Autorschutz, eine juridisch-ästhetische Studie, Mannheim 1892, 122 ff., 125 f.
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nen, die persönlichen Interessen unabhängig von einem bestimmten Werk sichernden Persönlichkeitsrecht geworden, wie es die Rechtsprechung nach 1945 entwickelt hat.20 Während seiner Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Würzburg veröffentlichte Kohler ein weiteres Werk, das für die Jurisprudenz unter einem ganz anderen Gesichtspunkt bedeutsam wurde und seinen Verfasser berühmt, zugleich jedoch zu einem umstrittenen Autor machte. Es war für den Juristen wie für den Ästhetiker, „aber auch für das denkende Publikum bestimmt“21; es sollte einen Beitrag zur Universalrechtsgeschichte liefern und gleichzeitig den Ausblick auf eine neue Frage- und Aufgabenstellung eröffnen: Einsichten in das Recht auch in der Dichtung zu suchen und dichterisch gestaltete Themen unter rechtlichen Gesichtspunkten zu sehen – eine Sichtweise, die uns heute nicht mehr ungewöhnlich erscheint. Denn da der Dichter nicht zuletzt vom Wesen des Menschen handelt, für den das Recht „wesentlich“ ist, dürfen wir von ihm ursprüngliche Einblicke in die Eigenart und Bedeutung des Rechts erwarten. Das Buch, das hier kurz zu betrachten ist, ist Kohlers Monographie „Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz“ (1883), 1895 ins Russische übersetzt und 1919, kurz nach dem Tode des Verfassers, überarbeitet und umgestaltet in zweiter Auflage erschienen. Diese Untersuchung sollte gleich zu einer literarischen Kontroverse des jungen Würzburger Professors mit einem 30 Jahre älteren Kollegen führen, mit dem berühmten Rechtsgelehrten Rudolf (von) Jhering (1818–1892). Das erste Rechtsproblem, das Kohler näher erörtert, ist der Pakt zwischen dem jüdischen Geldverleiher Shylock und dem venezianischen Kaufmann Antonio mit der „Fleischpfand-Klausel“ in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“. Das Schauspiel wird als ein Stück des altertümlichen und grausamen Schuldrechts und als ein Fall für richterliche Rechtsschöpfung gegenüber einem überholten, unzeitgemäßen Gesetz behandelt.22 In eindrucksvollen rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Ausführungen weist Kohler nach, dass tatsächlich nach alten Rechten früher der Schuldner für die Erfüllung seiner Verpflichtung nicht nur mit seinem Hab und Gut, sondern auch mit seinem Leib und Blut gehaftet hat.23 Mit verfehlter, rabulistischer Begründung habe das Gericht zu einem richtigen Ergebnis gefunden und damit dem Rechtsfortschritt zum Durchbruch verholfen.24 Shakespeares Schauspiel „Maß für Maß“ – eine „Komödie mit dem Stoff einer Tragödie“, wie der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch gesagt hat25 – ist für Kohler 20 Zur geschichtlichen Entwicklung des Urheber- und des (allgemeinen) Persönlichkeitsrechts s. Heinrich Hubmann/Manfred Rehbinder, Urheber- und Verlagsrecht, 7. Aufl. München 1991, 7 ff., 14 f., 64 ff. 21 Josef Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, Würzburg 1883, V (Vorwort), 2. Aufl. Berlin – Leipzig 1919, IV. 22 Kohler (Fn. 21), 71 ff., 83 ff., 95 ff, Hervorheb. vom zitier. Verf. Zur etwas gekünstelten Gegenkritik s. Rudolf (von) Jhering, Der Kampf ums Recht, 7. Aufl. Wien 1883, XIV ff., dazu die polemische Antwort von Josef Kohler, Nachtrag zu Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, Würzburg 1884. 23 Kohler (Fn. 21), 7 ff 24 Kritisch dazu Günter Spendel, Der Würzburger Strafrechtler Friedrich Oetker und das ShylockProblem, in: Vom mittelalterl. Recht zur neuzeitl. Rechtswissenschaft, Festschrift für Winfried Trusen, hg. von Norbert Brieskorn u. a., 1994, 365, 373 ff. 25 Gustav Radbruch, Shakespeare, Maß für Maß (1931), in: Radbruch, Gestalten und Gedanken,
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„das Stück von der desuetudo“ (d.h. der Außer-Kraft-Setzung eines infolge fortdauernder Nichtanwendung in Vergessenheit geratenen Gesetzes) „und von der Gnade“. Auch hierin sieht er einen „Protest des Rechtsbewusstseins gegen veraltete Satzungen früherer Tage“26. Zumindest aber hätte der Statthalter Angelo nach Kohlers Ansicht Gnade üben müssen, die in einem solchen Falle zu den Regentenpflichten gehöre.27 Wie schon im „Kaufmann von Venedig“ wird auch in „Maß für Maß“ das Problem von Gesetz und Gnade berührt und kann der Jurist beherzigenswerte Worte über deren Wesen aus der Dichtung entnehmen. In Shakespeares „Hamlet“ sieht Kohler ein „Stück von der Blutrache“. Der gängigen Auffassung, dass der Dänenprinz ein Mann der Gedanken, nicht des Wollens und der Tat, eine Art von „geistigem Werther“ sei, stellt der Rechtsgelehrte die – problematische – These entgegen: In Hamlets Brust spiele sich ein tragischer Rechtskonflikt ab, der Kampf zwischen der alten Vorstellung von dem Recht, ja der Pflicht des Einzelnen zur Blutrache und der Idee vom Recht allein des Staates zur vergeltenden Strafe. Dem Gebot des väterlichen Geistes „Räch’ seinen schnöden, unerhörten Mord“ stehe des Sohnes „ethisch-rechtlicher Blick … in die Gedankenwelt künftiger Zeiten und Völker“ entgegen; Hamlet sei daher als „ein Kämpfer des Fortschritts … in der Entwicklungsgeschichte von Recht und Sittlichkeit“ aufzufassen28. Weitere Erörterungen zu anderen Schauspielen Shakespeares suchen „Ausblicke, welche uns der Dichter in das Wesen und Werden des Rechts geboten hat“29. Die Bedeutung des Kohlerschen Werkes liegt vor allem in dem Bestreben, die Entwicklung der verschiedenen Rechtsordnungen unter einem umfassenden Gesichtspunkt, dem der Universalrechtsgeschichte, zu sehen und als deren Grundlage die Rechtsvergleichung zu beachten. 20 Jahre nach seiner originellen Abhandlung hat Kohler eine zweite, heute leider vergessene Untersuchung veröffentlicht, die aus den Werken des von ihm so bewunderten englischen Dramatikers wieder Einsichten für die Rechtslehre zu gewinnen sucht, und zwar für ein Gebiet, auf dem sich auch „Jurist und Dichter berühren und Poesie und Wissenschaft befruchten“, für die Strafrechtswissenschaft im weitesten Sinne, genauer: für die Kriminalpsychologie. Sie ist ja ein Teil der Kriminologie, d. h. – im Gegensatz zur Rechtsdogmatik als Normwissenschaft – der Seinswissenschaft von den tatsächlichen Erscheinungsformen der Kriminalität, vor allem von den Ursachen und Wirkungen des Verbrechens sowie den Typen und der Umwelt der Kriminellen. Diese Untersuchung ist die seinem „verehrten Freunde“, dem Oberreichsanwalt beim Reichsgericht Justus (später von) Olshausen (1844–1924) gewidmete Monographie „Verbrecher-Typen in Shakespeares Dramen“ (o. J.) von 1903, in der ihr Verfasser eine Analyse der verschiedenen Straftäter in den Dichtungen des „größten poetischen Psychologen“ vornimmt.30 Kohler unterscheidet zwei große Gruppen von Verbrechern: die erste steht noch „innerhalb des sozialen Lebens“, die sich, durch eine übergroße Leidenschaft getrieben, von der bürgerlichen Gesellschaft entfernt, die aber ihre Taten „mit dem Schein sozialer Ordnung“ zu verdecken und „den Zusammenhang mit der menschlichen Gesellschaft nicht zu verlieren“ sucht 26 27 28 29
Kohler (Fn. 21), 101 ff., 103, Hervorheb. vom zitier. Verf. Kohler (Fn. 21), 106 Kohler (Fn. 21), 119 ff., 123, 189 Kohler (Fn. 21), 233 ff., 255
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und die noch Gewissensbisse hat. Zu diesen Tätertypen rechnet Kohler Leidenschaftsverbrecher aus egoistischen Trieben wie Macbeth (aaO., 13 ff.) oder aus altruistischen Motiven wie Brutus und Cassius (41 ff.), ferner Gelegenheits- bzw. Zufallsverbrecher wie Othello (59 ff.). Die zweite große Gruppe von Kriminellen bilden für den Autor diejenigen, die sich bewusst außerhalb der Rechtsordnung stellen und völlig gewissenlos handeln, die Gewohnheits- und Berufsverbrecher sind. Die vorstehende Einteilung muss problematisch und unzureichend erscheinen, wie schon daraus erhellt, dass Kohler König Richard III., der „gewillt“ ist, „ein Bösewicht zu werden“ (I. Akt, 1. Sz.), d.h. entschlossen ist, das kriminelle Handeln zum Prinzip zu machen31, zu den Leidenschaftsverbrechern wie Macbeth rechnet, obwohl der englische König doch zu der zweiten großen Gruppe des Autors gehören dürfte. Aber wie man auch zu Kohlers Klassifizierung stehen mag, seine anregenden psychologischen Deutungen heben sich um so mehr wohltuend von den z. T. ledernen soziologischen und statistischen Untersuchungen der modernen Kriminologie ab, als diese trotz der seit Ende des vergangenen Jahrhunderts bekannten Forderung und Bemühung des Kriminalpolitikers Franz von Liszt (1851–1919), zum Ausbau des von ihm propagierten „Täterstrafrechts“ eine Typik der Straftäter zu entwickeln32, bisher keine überzeugenden Ergebnisse zu liefern vermochte.33 Auch sonst hat sich Kohler mit dem von ihm so sehr bewunderten britischen Dramatiker beschäftigt. Noch ein Jahr vor seinem Tode – 1918 – erschien seine freie Übertragung von Shakespeares „König Richard II“, die allerdings geteilte Aufnahme fand: während sie für den einen „einen hohen Rang an Sprachkraft und Unmittelbarkeit beanspruchen“ durfte34, konnte sie einen anderen von Kohlers dichterischen Versuchen „am wenigsten befriedigen“35. Doch die Betrachtung einiger seiner Werke ist der Darstellung seines Lebens weit vorausgeeilt. In seiner Würzburger Universitätszeit hat Kohler nicht nur für die Lehre vom Immaterialgüterrecht die Grundlage geschaffen, sondern sich auch fremden Rechten zugewandt, besonders dem indischen Recht auf Grund seiner Begegnung mit einem badischen Landsmann in Würzburg, dem Indologen Julius Jolly (1849–1932). Er beschritt damit weiter wie schon in seiner ersten Monographie über Shakespeare das Gebiet der Rechtsvergleichung und Universalrechtsgeschichte. Seine kleine Würzburger Schrift „Das Recht als Kulturerscheinung“ (1885) ist geradezu die Devise für eine neue Anschauung vom Recht geworden, die dieses als Teil der Gesamtkultur und im Zusammenhang mit Völkerkunde und Kulturgeschichte zu sehen 31 Dazu Paul Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht, Berlin 1940, 2. Teil, S. 153, für den diese bewusst verfehlte Lebensentscheidung den Einzelnen zum kriminellen „Täter“, zum Verbrecher macht, d. h. dessen verbrecherisches „So-Sein“ – im Unterschied zur Straftat als dem verbrecherischen „So-Tun“ – begründet. 32 Franz von Liszt, Die psychologischen Grundlagen der Kriminalpolitik (1896), in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Berlin 1905, 2. Bd., 170 ff. 33 Vgl. z. B. Hans Göppinger, Kriminologie, 3. Aufl. München 1976, 115 f., 118 f., 330 ff. (116: „Die zahlreichen Versuche, einige spezielle Gruppen von Verbrechern in der Kriminologie herauszuarbeiten, führten bisher zu keinem einheitlichen Ergebnis.“); Hans Joachim Schneider, Kriminologie, Berlin –New York 1987, 384 ff., 394 ff. (386: „Die Vielfalt der von denselben Straftätern begangenen kriminellen Handlungen … sprechen gegen eine persönlichkeitszentrierte kriminologische Typologie.“). 34 Albert Osterrieth, Josef Kohler, Ein Lebensbild, Berlin 1920, 15/16 ob.
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lehrte. 1887 erschien seine Abhandlung über „Das Recht als das Lebenselement der Völker“, weiter eine über „Das Wesen der Strafe“ (1888), von der freilich später der namhafte Strafrechtsdogmatiker Robert von Hippel (1866–1951) nüchtern urteilte, dass ihre „Darstellung mehr poetisch als juristisch“ sei36. Welchen Klang Kohlers Name bereits in seiner Würzburger Zeit gewonnen hatte, davon zeugt folgendes ungewöhnliche Angebot: ein Vertreter der japanischen Regierung war 1886 auf Empfehlung zweier angesehener Mitglieder der damals berühmten Leipziger Juristenfakultät, des Pandektisten Bernhard Windscheid (1817– 1892) und des Prozessualisten Adolf Wach (1843–1926), an ihn herangetreten, ob er zu einer zunächst dreijährigen Übernahme einer Professur für römisches und deutsches Recht an der Universität Tokio bereit sei. Kohler ist diesem nicht alltäglichen Ruf – trotz einem Jahresgehalt von 18 000 M, dem Dreifachen seiner Würzburger Bezüge, nebst freier Wohnung – nicht gefolgt.37 IV. JOSEF KOHLER
IN
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Es nimmt nicht wunder, dass auf solch eine ungewöhnliche Gelehrtenpersönlichkeit auch das Augenmerk des allgewaltigen, die preußische Universitätspolitik maßgeblich bestimmenden Hochschulreferenten Friedrich Althoff (1839–1908) fiel. Er betrieb die von den Berliner Zivilrechtlern Heinrich Dernburg (1829–1907), Ernst Eck (1838–1901) und Levin Goldschmidt (1829–1897) und dem Kirchen- und Staatrechtler Bernhard Hübler (1835–1912) befürwortete Berufung des noch nicht 40jährigen Würzburger Gelehrten an die Universität Berlin. Dieser Ruf zum Sommer-Semester 1888, also im „Drei-Kaiser-Jahr“, war nach Kohlers eigenem Hinweis der wichtigste Einschnitt in seinem Leben.38 Es ist seltsam, daß er zu den drei wohl schönsten mittelgroßen Universitätsstädten Deutschlands, d. h. wie schon zu den beiden landschaftlich so reizvoll gelegenen Städten seines badischen Heimatlandes Freiburg i. Br. und Heidelberg so auch zu der alten Barockstadt Würzburg kein engeres Verhältnis gefunden hat. Und wie er den Industrie- und Handelsplatz Mannheim als die Stadt bezeichnete, in der er „die mächtigsten Anregungen“ für sein modernes Lebensgefühl und sein neues Rechtsdenken erfahren habe39, so erschien ihm nun die Metropole Berlin als die Stadt, in der er nach seinen eigenen Worten alles das fand, „was mir in wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung die äußerste Anregung gab, was mich zu dem führte, was ich bin“40. Das stärker pulsierende Leben der Groß- und Hauptstadt musste in der Tat dem lebhaften Naturell Josef Kohlers ganz besonders entsprechen. Mit ihren großen Bibliotheken, Museen und Theatern, mit ihrer Ansammlung von bedeutenden Gelehrten der eigenen und anderer Fakultäten, von angesehenen juristischen Praktikern und namhaften Künstlern bot die Metropole des Reiches dem wissenschaftlich so betriebsamen und künst36 Robert von Hippel, Deutsches Strafrecht, I. Bd., Berlin 1925, 475 37 Dazu Günter Spendel, Josef Kohler, Bild eines Universaljuristen, Heidelberg 1983, 29. 38 Josef Kohler, Das wichtigste Ereignis in meinem Leben, Berliner Morgenpost v. 24. Dez. 1911, Nr. 353, 6. Beil. 39 Kohler, Vom Lebenspfad (Fn. 4), 30; ders., Aus Kultur und Leben, Berlin 1904, 226, 228 ff. (Aufsatz „Heidelberg und Mannheim“ von 1901), 230 (Gedicht „An Mannheim“ von 1903).
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lerisch so leicht zu begeisternden Manne, dessen Forschungen immer mehr über sein Fach und Land hinausgriffen, viel größere Möglichkeiten als die fränkische Bischofs- und Universitätsstadt. Die Begegnung mit maßgebenden Vertretern von Industrie und Handel und mit erfahrenen Rechtsanwälten führte den Vorkämpfer der Wissenschaft vom Patentrecht auch zu einer größeren Gutachtertätigkeit. Als 1910 die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität ihr 100jähriges Bestehen feierte und aus diesem Anlass ihre Juristische Fakultät Kaiser Wilhelm II. den juristischen Ehrendoktor verlieh, war es Josef Kohler, der als Dekan den Promotionsakt vollzog. Wie in der Berliner Zeit sein Auftreten und Lebensstil weltläufig und aufwendig wurden, so seine Forschung und Lehre weltoffen und universal. Am Kurfürstendamm bezog er schließlich eine herrschaftliche Wohnung, in der allein vier große Zimmer der Aufstellung seiner Bücher dienten. Diese umfangreiche Privatbibliothek wurde nach seinem Tode von begeisterten japanischen Schülern erworben und in Tokio gesondert aufgestellt, wo sie dann durch das schreckliche Erdbeben vom 1. Sept. 1923 vernichtet wurde. Wie schon in seiner Würzburger Zeit unternahm Kohler in den Semesterferien oft weite Reisen. Sie führten ihn z. T. bis Nordafrika, wo er in Algier als Zuschauer an der Gerichtssitzung eines Kadi und in Kairo als Hörer an Rechtsvorlesungen in der dortigen Universität teilnahm, oder in die Türkei, wo er vor dem Top Kapu, dem „Kanonentor“ der alten Theodosianischen Stadtmauer von Byzanz, durch das 1453 die türkischen Heerscharen in die letzte Bastion des oströmischen Reiches Kaiser Konstantins XI. eingedrungen waren, über die Vergänglichkeit irdischer Macht und Pracht nachsann.41 Als einer der ersten machte Kohler – insoweit auch bereits ein Mensch der „Moderne“ – seit Anfang dieses Jahrhunderts Reisen mit dem Kraftwagen. Die durch das Auto(mobil) erlangte äußere Mobilität kam der geistigen Beweglichkeit seines Wesens aufs glücklichste entgegen. Dem „Rausch der Geschwindigkeit“, die damals kaum viel unser heutiges Stadttempo überschritten haben dürfte, war der rastlos vorwärts strebende und stürmende Mann erlegen, wie er schon 1908 ganz naiv eingestand.42 Vergnüglich ist es heute, seine Enkelin Ingeborg Malek-Kohler über diese Autoreisen mit all ihren technischen Hindernissen (z. B. häufiger Reifenwechsel) berichten zu hören.43 Eine kleine Anekdote gelegentlich solch einer Autoreise darf hier festgehalten werden: Als Kohler in den Ferien nach dem Wintersemester 1910/11 durch Freiburg i. Br. kam, hatte man vergeblich seinen Besuch bei dem angesehenen Staats- und Strafrechtler Richard Schmidt (1862–1944) erwartet, der in seiner „Zeitschrift für Politik“ eine recht kritische Besprechung des damaligen Heidelberger Privatdozenten und nachmaligen bedeutenden Rechtsphilosophen Gustav Radbruch (1878–1949) zu dem Kohlerschen „Lehrbuch der Rechtsphilosophie“ aufgenommen hatte.44 Auf die Frage, warum er denn auf seiner Autoreise dem Freiburger Kollegen nicht seine Aufwartung gemacht habe, antwortete Kohler, der äußerst abschätzige Urteile über andere 41 Josef Kohler, Aus vier Weltteilen, Reisebilder, Berlin u. Leipzig 1908, 72 ff., 76 ff. (Kap. „Top Kapu“); s. dazu die Schilderung „Die Eroberung von Byzanz“ von Stefan Zweig in seinen „Zwölf histor. Miniaturen“ unter dem Titel „Sternstunden der Menschheit“, Frankfurt a. M. 1962, 35 ff. Vgl. im Übrigen Kohler, 80 ff. und 147 ff. 42 Kohler (Fn. 41), 167 ff., 173 f. (Kap. „Auf Flügeln des – Auto“) 43 Vgl. auch Malek-Kohler (Fn. 3), 65 44 Gustav Radbruch, Ztschr. für Politik, 4. Bd. (1910), 427. Dazu scharfe Erwiderung von Josef Koh-
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Gelehrte fällen konnte, selbst aber gegen Kritik sehr empfindlich und dem Rezensenten seit dessen Berliner Doktorandenzeit alles andere als freundlich gesinnt war, schlagfertig und witzig, es sei ihm ein „Rad-bruch“ dazwischengekommen.45 Sein Schreiben und Schaffen ging in den über 30 Berliner Jahren immer mehr in die Breite, in Wort und Schrift schritt er immer weiter über sein Fach und Land hinaus. In verschwenderischer Produktivität legte er Jahr für Jahr Buch um Buch, Aufsatz um Aufsatz einer staunenden Mitwelt vor. Neben den schon angeführten Werken des Erfinder- und des Urheberrechts veröffentlichte er im Zivilrecht ein vierbändiges „Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts“ (1904–1915, ohne Erbrecht) und eine zweiteilige Aufsatzsammlung „Zwölf Studien zum BGB“ (I. Teil 1900, II. Teil 1909), zum Zivilverfahrensrecht „Prozeßrechtliche Forschungen“ (1889), „Gesammelte Beiträge zum Zivilprozeß“ (1894, Neudr. 1969) und einen „Grundriß des Zivilprozesses mit Einschluß des Konkursrechts“ (1. Ausg. 1907, 2. Ausg. 1909), zum Vollstreckungsrecht das zum Teil ins Französische übersetzte und seinem Freunde Heinrich Dernburg gewidmete große „Lehrbuch des Konkursrechts“ (1891), das dieses Rechtsgebiet als „eine soziale Erscheinung ersten Ranges“ auf breiter rechtsvergleichender Grundlage darstellt, ferner einen „Leitfaden des deutschen Konkursrechts für Studierende“ (1. Aufl. 1893, 2. Aufl. 1903) und aus dem Arch. f. Ziv. Prax., 80. Bd., S. 141– 300, den Sonderabdruck „Ungehorsam und Vollstreckung im Zivilprozeß. Zivilprozessuale Beiträge“ (1893). Im Strafrecht erschienen von ihm, der von Haus aus „Zivilist“ war, außer den schon im vorhergehenden genannten Arbeiten „Studien aus dem Strafrecht I“ (1890), die Schrift „Gedanken über die Ziele des heutigen Strafrechts“ (1909, Neudr. 1978), ein „Leitfaden des deutschen Strafrechts“ (1912) und das Werk „Internationales Strafrecht“ (1917), das trotz seines leicht missverständlichen, aber üblichen Ausdrucks die nationalen Vorschriften betrifft, die den räumlichen und persönlichen Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts für Inlandstaten ausländischer Täter und für Auslandstaten deutscher und fremder Delinquenten festlegt (heute §§ 3–7 StGB). Zur (Universal)Rechtsgeschichte sind vor allem zu nennen das dickleibige Werk „Das Strafrecht der Italienischen Statuten vom 12. bis 16. Jahrhundert“ (1897), dessen mühselige Abfassung nach dem Hinweis seines Autors selbst die unermüdliche Schaffenskraft eines Gelehrten wie Kohler fast verbraucht hat, und, zusammen mit Degli Azzi, „Das Florentiner Strafrecht des 14. Jahrhunderts“ (o. J., 1909), weiter, gemeinschaftlich mit Willy Scheel, „Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V.“, und zwar die bis dahin als verschollen geltende Regensburger Urhandschrift der Carolina aus den Kölner Reichstagsakten (1900)46, schließlich „Hammurabis Gesetz“ (aufgezeichnet auf der berühmten Basaltsäule des babylonischen Königs [1728 bis 1686 v. Chr.]), das Kohler in Zusammenarbeit mit namhaften Orientalisten in fünf Bänden mit Erläuterungen herausgab (1904–1911). Zur Rechtsvergleichung sind z. B. seine „Rechtsvergleichenden Studien über islamitisches Recht, das Recht der Berbern, das chinesische Recht und das Recht auf 45 Vgl. Gustav Radbruch-Gesamtausg., hg. von Arthur Kaufmann, 17. Bd.: Briefe I (1898–1918), eing. u. bearb. v. Günter Spendel, 1991, 141 unt. 46 Ediert als 1. Band des vierbändigen Werkes „Die Carolina und ihre Vorgängerinnen“ (1.–4. Bd.,
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Ceylon“ (1889), anzuführen, sodann die Schrift „Altindisches Prozeßrecht mit einem Anhang: Altindischer Eigentumserwerb“ (1891), die als Sonderabdruck erschienene Abhandlung „Das Recht der Azteken“ aus der Zeitschr. für vergleich. Rechtswissensch., 11. Bd. (1895), S. 1–111, oder das zusammen mit dem Philologen Erich Ziebarth (1868–1944) verfaßte Buch „Das Stadtrecht von Gortyn und seine Beziehungen zum gemeingriechischen Rechte“ (1912), dessen Wert umstritten war47, um nur einige der zahllosen Titel herauszugreifen. Außer all diesen Arbeiten, die allein schon die ganze Kraft eines oder sogar mehrerer Autoren in Anspruch genommen hätten, verfasste Kohler eine „Einführung in die Rechtswissenschaft“ (1. Aufl. 1902, 6. Aufl. 1929), ein sich am Neuhegelianismus orientierendes, auch ins Englische übersetztes „Lehrbuch der Rechtsphilosophie“ (1. Aufl. 1909, 3. Aufl. 1923) und – unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges – eine Gesamtdarstellung „Grundlagen des Völkerrechts. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“ (1918), daneben Bücher nichtjuristischen Inhalts, so zwei Essay-Bände „Vom Lebenspfad“ (1902) – eine Sammlung auch von autobiographischen Beiträgen – und „Aus Kultur und Leben“ (1904) sowie ein Reisebuch „Aus vier Weltteilen“ (1908). Aber nicht genug damit! Neben den selbständig erschienenen Publikationen stammt noch eine Unmasse von kaum überschaubaren Aufsätzen, Artikeln und Besprechungen aus seiner Feder, zahllose Beiträge in Fachzeitschriften besonders zur Rechtsvergleichung und Universalrechtsgeschichte, z. T. als längere Abhandlungen auch als Sonderabdruck in Buchform herausgekommen wie „Zur Urgeschichte der Ehe. Totemismus, Gruppenehe, Mutterrecht“ (1897 = ZVerglRW 12. Bd. [1897], S. 187–353); „Über das Recht der Australneger“ (ZVerglRW 7. Bd. [1887], S. 321– 368); „Über das Negerrecht, namentlich in Kamerun“ (1895 = ZVerglRW 11. Bd. [1895], S. 413–475); über „Das Banturecht in Ostafrika“ (ZVerglRW 15. Bd. [1902], S. 1–83) oder über „Eskimo und Gruppenehe“ (ZVerglRW 19. Bd. [1906], S. 423– 430). Der berühmte Autor, der so Erstaunliches über völlig unbekannte Rechte fremder und ferner Völker zu berichten wusste, wurde damit für den Berliner Studentenwitz zu „Deutschlands größtem Kohler“. Seine Aufsätze behandelten aber auch so aktuelle und interessante Themen wie „Das Recht an Briefen“ als besondere Ausgestaltung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Arch. für Bürg. Recht, 7. Bd. [1893], S. 94–149); „Der Prozeß des Sokrates“ (Goltd. Arch., 63. Bd. [1916], S. 209–216, griech. Übers.) oder „Die Tiere im Recht“ (Ztschr. „Gerichtssaal“, 47. Bd. [1892], S. 32–62). Gerade dieser letztgenannte längere Aufsatz zeigt, wie sehr Kohlers Überlegungen oft seiner Zeit vorauseilten. Denn er vertrat schon vor jetzt über 100 Jahren die Ansicht, dass das Tier als lebendes Wesen und Teil der Schöpfung zwar keine Rechte, aber wie der Mensch ein Interesse daran hat, nicht unnötig verletzt oder gequält zu werden, und daher auch von der Rechtsordnung zu schützen ist, eine Auffassung, für die wir heute besonders „sensibilisiert“ sind.48 Die Frage gewinnt z. B. bei Tierversuchen oder im Notwehrrecht besondere praktische Bedeutung. In letzterem geht ja die heute noch herrschende Positives Urteil von Ernst Heymann in: Josef Kohler zum Gedächtnis, hg. von Ernst Heymann/ Reinhold Seeberg/Karl Klee/Max Schmidt, Berlin 1920, 11, negative Beurteilung von Ernst Rabel, Rhein. Ztschr.f. Zivil- u. Prozessrecht 10. Jg., 1919/20, 123, 128; s. auch Spendel, Josef Kohler (Fn. 2), 5. 48 Vgl. dazu auch Arthur Kaufmann, Gibt es Rechte der Natur? in: Festschrift für G. Spendel, Berlin47
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Meinung dahin, dass z. B. für einen von dem Kutscher brutal geschlagenen Droschkengaul ein über die Tierquälerei empörter Passant Notwehr in Gestalt der gewaltsamen Hinderung des Peinigers nicht deshalb üben darf, weil das Pferd ein angegriffener „anderer“ im Sinne des § 32 StGB sei, sondern nur deswegen, weil der Zuschauer selbst in seinem menschlichen Mit-leid mit der mißhandelten Kreatur verletzt und damit angegriffen wird.49 Kohlers Forderung geht demgegenüber dahin, dass man Tiere gegen Quälereien nicht nur um des mit-leidenden und mit-fühlenden Menschen, sondern schon um des selbst leidenden Tieres willen schützen müsse, ohne ihm dabei Rechtspersönlichkeit zuschreiben zu wollen und zu können.50 Sein Weitblick in Fragen der rechtlichen und wirtschaftlichen Entwicklung zeigte sich z. B. auch bei einem uns heute so bewegenden großen Problem – zu einer Zeit, als man noch nicht von Umweltschutz und Umweltrecht sprach, noch nicht über Luftverpestung und Waldsterben, über das bedrohliche Abholzen der tropischen Regenwälder und die Verschmutzung unserer Gewässer durch Industrieanlagen klagte, betonte er bereits in einem Kapitel über „Die Schätze der Erde“ in seinem Buche „Recht und Persönlichkeit in der Kultur der Gegenwart“ von 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, daß „von ganz besonderer Bedeutung für die Volkswirtschaft Quellen und Wasserläufe“ seien (S. 169). Und weiter wies er darauf hin, welch „wichtiges Element der Kulturerhaltung der Fortbestand der Waldungen und eine gesunde Waldwirtschaft ist“ (S. 170). Es sei daher hier durch Gesetze erhaltend einzugreifen (S. 171). Kohler war aber nicht allein ein großer Gelehrter, er fühlte sich auch als Künstler und versuchte sich als Dichter und schließlich als Komponist.51 Er veröffentlichte zwei Bücher „Lyrische Gedichte und Balladen“ (1892) und „Neue Dichtungen“ (1895), eine „dramatische Dichtung in drei Akten“ zu der Märchengestalt „Melusine“ (1896), zu der ihn seine ethnologische Untersuchung „Der Ursprung der Melusinensage“ (1895) inspiriert hatte, eine dreibändige freie Nachdichtung von Dantes „Göttlicher Komödie“ (1901–1903), eine freie Übertragung „Aus Petrarcas Sonettenschatz“ (1902–1903) und einen autobiographische Züge tragenden Roman „Eine Faustnatur“ (o. J., 1908). Diese Werke fanden schon zur Zeit ihres Erscheinens nicht den erhofften Widerhall, ja, mehr Kritik als Anklang. So war besonders seine Nachdichtung von Dantes Werk sehr umstritten. Zur Enttäuschung ihres Verfassers blieb ihr der erwartete Erfolg versagt, da sie vielfach als „zu frei“ angesehen wurde und „mit dem Urtext und dessen hoher Eigenart gar keine unmittelbaren Berührungsflächen mehr“ habe.52 Kohlers Gedichte konnten bereits zur Zeit ihrer Entstehung oft nicht befriedigen; sie haben vor unserem heutigen Urteil meist keinen Bestand und sind für uns nur als Ausdruck eines Gelehrten von Interesse, der nicht nur die Gabe eines kritischen Intellekts besaß, sondern sich auch die einer künstlerischen Intuition zusprach.53 49 Dazu Günter Spendel in: Leipz. Komm., 11. Aufl. Berlin-New York, 3. Lfg. 1992, § 32 StGB Rn. 148, 189. 50 So noch einmal Josef Koh1er, Recht und Persönlichkeit in der Kultur der Gegenwart, Stuttgart u. Berlin 1914, 61/62. 51 Vgl. das Verzeichnis der Liedkompositionen von Kohler aaO. (Fn. 1), 149 f. 52 Daffner, Josef Kohler †, in: Deutsches Dante-Jahrb. 6. Bd. (1921), 75/76 53 Vgl. einige Gedichtproben bei Günter Spendel, Josef Kohler, Bild eines Universaljuristen, Heidel-
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Kohlers reiches wissenschaftliches Schaffen trug ihm manche Anerkennung und Ehrung besonders im Ausland ein. Er war Mitglied zahlreicher gelehrter Gesellschaften und – für einen an das nationale Recht gebundenen Juristen ungewöhnlich – eine internationale Berühmtheit. Ein Zeichen dieser großen Wertschätzung und ein Höhepunkt in seinem Gelehrtenleben war 1904 die Verleihung des juristischen Ehrendoktors der Universität Chicago. Sowohl der deutsche Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) als auch der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt (1858– 1919) sandten Glückwunschtelegramme. Der letztere empfing den berühmten Rechtsgelehrten einige Tage später im Weißen Haus. Er unterhielt sich so „formlos und traulich“ mit seinem deutschen Gast, berichtete dieser später54, „als ob zwei Gleichstehende ihre Ansichten austauschten“, so dass man „nicht das Gefühl der überwältigenden Macht des Mannes, der eine halbe Welt in seinen Händen trägt, hatte“. Kohler traf in dem amerikanischen Präsidenten, der als Vertreter eines „strenuous life“, d. h. eines tatkräftig-tätigen Lebens galt, auf eine gleichgestimmte Persönlichkeit und war überrascht, mit welcher Hochachtung er von der deutschen Wissenschaft und mit welcher Kenntnis er z. B. vom Nibelungenlied sprach. Dass der für alles Technische und Industrielle so empfängliche Jurist von Amerika und seiner „überschäumenden Lebenskraft“, von den Amerikanern und ihrem ungezwungenen und natürlichen Auftreten, das wohltuend von dem „schnarrigen Wesen“ vieler seiner deutschen Landsleute abstach, tief beeindruckt war, lässt sich leicht denken. Ironisch bemerkt er in seinen Reiseerinnerungen, daß man in einem der New Yorker Wolkenkratzer, über die man damals in Deutschland teilweise noch spötteln zu dürfen glaubte, schneller mit dem Fahrstuhl in den 18. Stock gelange, als man in der Alten Welt zwei Treppen in einem Gebäude ersteige.55 In Washington begegnete Kohler auch Amerikas großem Rechtsgelehrten und hohem Richter Oliver Wendell Holmes (1841–1935), der, nach längerer Anwalts- und nur dreimonatiger Lehrtätigkeit an der Harvard-Universität, 1883 in die richterliche Praxis gegangen war und dann von 1903 bis 1932 Mitglied des Obersten Bundesgerichts der USA gewesen ist. Dieser amerikanische Jurist wirkte wie sein deutscher Kollege für die Anpassung des Rechts an die sozialen Verhältnisse und wurde durch seine zukunftweisenden Minderheitsvoten (dissenting opinions) einer der bedeutendsten Vertreter des Supreme Court.56 Nach dem Besuch der Städte Philadelphia, wo er die 1822–25 erbaute und für die damaligen Verhältnisse vorbildliche Strafanstalt Eastern Penitentiary besichtigte, und Boston kehrte Kohler nach New York zurück, um von dort die Heimreise anzutreten. Nach 10tägiger Seefahrt wieder in die Heimat zurückgekehrt, zählte er sich nach der siebenwöchigen Abwesenheit von Berlin zwar um sieben Wochen älter, fühlte sich aber auch „um ebensoviel Jahre an Erfahrung reicher“.57 In der folgenden Zeit sollte der große Rechtsgelehrte weitere Ehrungen erfahren. 1909 wurden ihm zu seinem 60. Geburtstag zwei Festschriften, eine inländische und 54 Josef Kohler, Aus vier Weltteilen, Berlin u. Leipzig o. J. (1908), 96 ff., 130 55 Kohler (Fn. 54), 101/102 56 Zu Holmes s. die amerikanische Biographie von Catherine Drinker Bowen, Der Yankee vom Olymp, Richter Holmes und seine Familie (1943/44), dtsch. Übersetz. New York o. J. (1945/46?), und dazu Gustav Radbruch, Oliver Wendell Holmes, Zur Biographie eines amerikanischen Juristen, Süddtsch. Juristen-Zeit. (SJZ) 1946, 25.
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eine ausländische, dargebracht58, 1919 zu seinem 70. zwei deutsche Festgaben59. Die Technische Hochschule Berlin-Charlottenburg verlieh ihm aus Anlaß des letzten Jubiläums den Dr. Ing. e. h. Zwischen diesen beiden Höhepunkten seines Lebens liegt der Erste Weltkrieg und damit eine auch auf Kohlers Bild Schatten werfende Zeit. Es ist erstaunlich und kaum erklärlich, daß der für die Bedürfnisse des Rechtslebens so weitblickende Mann so kurzsichtig für die politische Entwicklung war. Noch zum Jahreswechsel 1913/14 glaubte er, der dem Ideal der Völkerverständigung und des Weltfriedens anhing, daß die Geißel des Krieges nur noch im Orient „ihre letzten Tage friste“ und staatliche Konflikte durch das Völkerrecht gelöst würden60, um nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in den Chor so mancher konservativer Professoren einzustimmen, die sich in betont nationalistischen, ja äußerst chauvinistischen Äußerungen nicht genug tun konnten. Er, der anglo-amerikanisches Wesen so schätzte und ein leidenschaftlicher Bewunderer von Englands größtem Dramatiker William Shakespeare war, erging sich nun in den übertriebensten, heute peinlich wirkenden Verdammungsurteilen über die Briten.61 Kohler soll diese bedauerlichen Entgleisungen noch an seinem Lebensende bereut und zu seinem alten Ideal der Völkerversöhnung zurückgefunden haben.62 Aber sie zeigen doch, wie ein sonst so kritischer Geist in seinem Urteil danebengreifen und auch einem unkontrollierten Gefühl erliegen kann. Der Kriegsausgang traf ihn jedenfalls schwer; mit dem militärischen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch seines Landes war auch Kohlers Lebenskraft gebrochen. Ein knappes Jahr nach Kriegsende, am 3. Aug. 1919, endete überraschend nach kurzer Krankheit sein rastloses Leben. Sein Leichnam wurde in Berlin eingeäschert. Die Feuerbestattung entsprach seinem pantheistisch gestimmten Glauben. Mit Nietzsche in seinem Gedicht „Ecce homo“ konnte Kohler von sich sagen: „Ja! Ich weiß, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr ich mich. …“
So kann für ihn ein Bild gelten, wie er es selbst ähnlich in einem Gedicht auszudrücken suchte: dass mit dem Tode der Geist gleich der auflodernden Flamme in eine höhere Sphäre aufstrebe und in anderen Elementen und Kräften aufgehe.63
58 Vgl. Studien zur Förderung des gewerblichen Rechtsschutzes, als Festgabe zum 60. Geburtstage zugeeignet von deutschen Praktikern, Berlin 1909, 508 S.; Juristische Festgabe des Auslandes zu Josef Kohlers 60. Geburtstag, hg. von Fritz Berolzheimer, Stuttgart 1909, 202 S. 59 Festgabe zum 70. Geburtstag Josef Kohlers am 9. März 1919, Berlin 1919 = Goltd. Arch. 67. Bd. (1919), H. 1–4; Festgabe für Josef Kohler zum 70. Geburtstage, dargebracht von Freunden, Schülern und der Verlagshandlung, Stuttgart 1919, 475 S. = ZVergleichRW 37. Bd. (1919). 60 Kohler, Recht und Persönlichkeit … (Fn. 50), IX 61 Vgl. die Zitate bei Günter Spendel, Josef Kohler, Bild eines Universaljuristen, Heidelberg 1983, 44. 62 So Leonhard Adam, ZVergleichRW 38. Bd. (1920), 14 ff., 17 f. 63 Vgl. das Gedicht Kohlers „Die Flamme des Todes“ (1896) in seinem Buche „Vom Lebenspfad“
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V. WÜRDIGUNG War Kohlers riesiges schriftstellerisches Werk in diesem kurzen Lebensbild nur in groben Strichen zu skizzieren, so soll wenigstens versucht werden, sein geistiges Wesen etwas näher zu zeichnen. Er war, ohne abwertenden Beigeschmack gesagt, eine „zwiespältige“, von Gegensätzen bestimmte Gestalt, in der wissenschaftlicher Verstand, aber auch künstlerisches Gefühl ausgeprägt waren, kritischer Intellekt und schöpferische Intuition miteinander rangen, ein bemerkenswerter Scharf- und Weitblick für die rechtliche und kulturelle Entwicklung und den technischen und industriellen Fortschritt mit einer auffallenden Kurzsichtigkeit für politische und persönliche Verhältnisse kontrastierte. Er selbst hat sich als eine „faustische Natur“ empfunden64, in deren Brust zwei Seelen wohnten, eine „idealistische“, nach einem höheren Reich des Geistes und der Erkenntnis strebende, und eine „materialistische“, auf die irdische Welt des Handels und des Erwerbes gerichtete. Und er hat es „als eine große Ungerechtigkeit“ bezeichnet, „wenn man mir solche widersprechenden Elemente meines Wesens stets zum Vorwurf machte“65. Denn wie in der Mischung der Farben so zeige die Natur in der Mischung der von den Eltern ererbten Geisteselemente viele Verschiedenheiten, ja sogar „große Widersprüche“; aber gerade in der Art dieser Verschmelzung offenbare sich „die ungeheure Weisheit und Mannigfaltigkeit der Schöpfung“.66 So erklärt es sich, daß Kohler einerseits die logisch-rationale Tätigkeit gerade in der Jurisprudenz und alles wissenschaftliche und technische Denken pries, andererseits negativ über den Rationalismus der Aufklärung urteilte und die Wiederentdeckung des Mythos und Märchens in der Kunst seiner Zeit begrüßte.67 Er war eine auf den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt bauende „moderne“ und doch zugleich eine sich in die Sagen- und Märchenwelt versenkende romantische Persönlichkeit. Auch in der Beurteilung seiner Mitmenschen und fremder Größe offenbart sich seine zum Teil widersprüchliche Natur. Sein Blick ist entweder sonderbar klar oder trüb, sein Urteil seltsam überschwenglich oder abwertend. Auf der einen Seite erkannte er im Gegensatz zu vielen seiner Zeit- und Fachgenossen die Bedeutung des Baslers Rechtsgelehrten Johann Jakob Bachofen (1815–1887) für die Rechtsgeschichte, auf den als den Entdecker des Mutterrechts und einen Vorläufer der modernen Rechtsvergleichung er nachdrücklich hinwies, des Schweizer Arnold Böcklin (1827–1901) in der Malerei, der ihm „den Wundergarten der Romantik wiedereröffnet“ habe, oder des Komponisten Richard Wagner (1813–1883) in der Musik, für dessen „Parsifal“ er sich einsetzte. Auf der anderen Seite stehen seine verfehlten und befremdlichen Urteile über große Rechtsgelehrte wie den Romanisten Rudolf (von) Jhering (1818–1892), über dessen Gegenkritik an seiner ersten Shakespeare-Monographie er sehr indigniert war, obwohl er sie durch seine eigene scharfe Kritik ausge-
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Vgl. auch seinen Roman „Eine Faustnatur“, Berlin o. J. (1908). Kohler, Vom Lebenspfad (Fn. 4 und 63), 4 (Aufsatz „Jugendzeit“ von 1900). Kohler (Fn. 65), 4. Josef Kohler, 78 ff., 83 (Aufsatz „Das Märchen“ von 1895); s. dazu schon Spendel (Fn. 61), 46 f. und das S. 47 abgedruckte Gedicht Kohlers.
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löst hatte68, den namhaften Pandektisten Bernhard Windscheid (1817–1892), dem er 1878 sein „Deutsches Patentrecht“ gewidmet und von dem er manche Förderung und Ermunterung auf seiner wissenschaftlichen Laufbahn erfahren hatte69, oder den geistvollen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch (1878–1949), gegen den er seit dessen Berliner Studenten- und Doktorandenzeit voller Animosität war70. Aber bedenken wir – „Große Leute fehlen auch“, sagt der Psalmist (Psalm 62,10). Bei bedeutenden Menschen stechen von ihren vorzüglichen Eigenschaften ihre Fehler um so mehr ab und enttäuschen uns daher besonders. Kohlers Vorzüge – so habe ich ihn bereits früher zu charakterisieren versucht – bedeuteten zugleich seine Mängel, seine Stärken auch seine Schwächen: das Überströmende seines Forschungs- und Gestaltungsdranges führte zu einem Ausufern seines Schaffens, das Unermüdliche seines Wirkens zur Ruhe- und Rastlosigkeit seines Wesens, die Leidenschaftlichkeit seines wissenschaftlichen und künstlerischen Strebens zur Subjektivität und Schroffheit vieler seiner Urteile, das Selbstbewußtsein des Genialen zur Selbstherrlichkeit und Selbstgefälligkeit des Gelehrten.71 Einer Persönlichkeit von so überschäumender geistiger Kraft musste es besonders schwerfallen, das richtige Maß zu halten, so dass sein Wirken zuweilen mehr in die Breite als in die Tiefe ging. Er selbst hat dies wohl unbewusst auch gefühlt, wenn er ein Gedicht verfasste, das mit den Strophen beginnt: „Im Wechselkreis die Jahre kamen Und leise von mir Abschied nahmen. Es war ein ernstes, tiefes Ringen, Ein kräftig Streben, kühn Vollbringen …“
und das mit dem Vers endet: „Und mancher Augenblick gedieh, Doch meine Ruhe fand ich nie“72
Das Urteil über Josef Kohler und seine Leistung für die Rechtswissenschaft kann man mit einem treffenden Wort des österreichischen Strafrechtlers Alexander Löffler (1866–1929) in dessen Nachruf auf den Universaljuristen dahin zusammenfassen, dass er ein Rechtsgelehrter war, „der Großes gewollt und in vielem auch Großes geleistet hat“73. Der Betrachter aber, der heute dieses außergewöhnliche Leben an sich vorüberziehen und sein wissenschaftliches Werk auf sich wirken läßt, möge eines Wortes Grillparzers eingedenk sein: „Glücklich der Mensch, der fremde Größe fühlt Und sie durch Liebe macht zu seiner eigenen.“
68 Kohler (Fn. 65), 42 ff. (Aufsatz „Jhering“ von 1893); zur literarischen Fehde s. Nachweise in vorsteh. Fn. 22 und Rudolf (von) Jhering, Der Kampf ums Recht, 7. Aufl. Wien 1883, XIV ff. 69 Kohler (Fn. 65), 32 ff. (Aufsatz „Windscheid“ von 1893). 70 Vgl. dazu Radbruch-Gesamtausg. (Fn. 45), 16. Bd.: Biographische Schriften, eingel. u. bearb. v. Günter Spendel, 1988, 210 f.; 17. Bd.: Briefe I (Fn. 45), 133 (dazu 367), 141, 160 ob., 295 unt. 71 Vgl. schon Spendel (Fn. 61), 9 72 Josef Kohler, Lyrische Gedichte und Balladen, Mannheim 1892, 156; Abdruck des Gedichts bei Spendel (Fn. 61), 49/50.
MATTHIAS KAUFMANN, HALLE/SAALE ARTHUR BAUMGARTEN, NEUESTE RICHTUNGEN PHILOSOPHIE UND DIE ZUKUNFTSAUSSICHTEN DER RECHTSPHILOSOPHIE ARCHIV
FÜR
RECHTS-
I. BIOGRAPHISCHES
UND
DER ALLGEMEINEN
WIRTSCHAFTSPHILOSOPHIE XVI (1922/23), 237–320
ZUERST
Arthur Baumgarten wird am 31. März 1884 in Königsberg, also gewissermaßen auf philosophisch imprägniertem Terrain, als Kind einer alten Akademiker-Familie geboren, wendet sich aber, anders als Vater und Großvater, der Jurisprudenz zu. Unmittelbar nach der Promotion in Berlin bei Franz von Liszt im Jahr 1909 erhält er einen Ruf nach Genf, 1920 wird er Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der neuen Universität Köln, im selben Jahr heiratet er Nina Helene von Salis aus einer Berner Bürgerfamilie, die u.a. eng mit Ricarda Huch befreundet ist. Vor allem die Universität Basel, an der er von 1923 bis 1930 Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht war, wird für sein Leben bedeutsam: er kann sich dorthin wenden, als er in Frankfurt am Main die Machtübernahme der Nationalsozialisten erlebt. Man richtet ihm mit Beginn des Wintersemester 1933/34 eine neue Professur für „Rechtsphilosophie und verwandte Gebiete” ein, wofür er Zeit seines Lebens dankbar blieb.1 Er blieb seit seiner Einbürgerung 1936 – auch später, als Professor in Diensten der DDR – stets Bürger der Schweiz. Den schweizerischen Behörden erschienen indessen manche der Aktivitäten Baumgartens, der sich u.a. 1944 an der Gründung der Schweizer „Partei der Arbeit“ beteiligte, eher beunruhigend, wie die dokumentierte kontinuierliche Observation erkennen lässt. Helene Baumgarten engagierte sich während des Krieges für Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland.2 Ob sich Baumgarten nach dem Krieg in die sowjetische Besatzungszone begab, weil er bei einer Vortragsreise durch die Westzonen keine Angebote für Professuren erhielt oder weil er sich am Aufbau des Sozialismus beteiligen wollte, scheint nicht ganz klar. Er erhält jedenfalls bald einen Lehrauftrag in Leipzig, wird 1949 Rektor der Landeshochschule für Pädagogik in Potsdam und Präsident der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ in Forst Zinna. Ab 1949 ist er ordentliches Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, von 1953 bis 1954 Sekretär der Klasse für Gesellschaftswissenschaften an der Berliner Akademie. Auf der berüchtigten Babelsberger Konferenz im Jahr 1958, auf der Walter Ulbricht einige Rechtswissenschaftler zurechtweist, die nach Stalins Tod allzu verwegen die „Reinigung [des Marxismus] von stalinistischen Verzerrungen“3 in Angriff nahmen und im Anschluss an diese Konferenz aus ihren Universitätsämtern entfernt 1 2 3
Arthur Baumgarten, Vom Liberalismus zum Sozialismus, Berlin 1967, 33 Hermann Klenner/Gerhard Oberkofler, Arthur Baumgarten. Rechtsphilosoph und Kommunist, Innsbruck u.a. 2003, 68 ff., 96 ff., 79 f. Hermann Klenner, Vorwärts, doch nicht vergessen: Die Babelsberger Konferenz von 1958, in:
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und langwierigen Verhören unterworfen werden, darunter Hermann Klenner, hält Baumgarten die Eröffnungsrede. Er plädiert für „Selbständigkeit, Spontaneität, Freiheit des Denkens“ und gegen „starren Dogmatismus“, doch erscheint seine Rede nicht im Protokollband.4 Er scheint angesichts seiner internationalen Reputation generell eher als Galionsfigur für das Regime zu dienen, einige seiner Arbeiten werden sogar ausdrücklich kritisiert. Doch bleibt er immerhin im Amt. Am 1. September 1957 war der ein Jahr jüngere Ernst Bloch – offiziell mit seinem Einverständnis, aber gewiss nicht auf seinen Wunsch – in den Ruhestand gedrängt worden. Im Wesentlichen war Baumgarten indessen linientreu. „Unvergeßlich“, so die Herausgeber einer Auswahl seiner Aufsätze, die 1972 im Akademie-Verlag erschien, ist „seine warmherzig-weise Stellungnahme, als der Weltimperialismus auf Ägypten den Bombenterror begann und gleichzeitig die Konterrevolution in Ungarn ihr Haupt erhob“5. Dieser warmherzig-weisen Stellungnahme zufolge „haben auf der ganzen Welt die Arbeiterschaft und wer immer Herz und Gehirn auf dem rechten Fleck hat, ihre tiefempfundene Sympathie mit dem ungarischen Volk, das seine sozialistischen Errungenschaften nicht preisgeben wollte, nicht nur in Worten kundgegeben und der Sowjetunion dafür gedankt, dass sie zur richtigen Zeit in der richtigen Weise gegen die faschistischen Banden Hilfe geleistet hat“6. Baumgarten scheint sich aber ein gewisses Maß an kritischem Geist bewahrt zu haben. In seiner 1967 publizierten Autobiographie spricht er die „schlimmen Dinge“ an, die „in den gespanntesten Zeiten des Klassenkampfes vorgekommen sind und heute von der Partei und von allen, die zu den sozialistischen Staaten stehen, zugegeben werden. Es handelt sich zum Teil um Irreparables, wie es im Lauf der Geschichte gerade beim Wechsel von extrem gegensätzlichen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung unvermeidlich werden kann.“7 II. DER TEXT Der Text, dessen Präsentation den Anlass und den Hauptgegenstand dieses Beitrags darstellt,8 dessen Reiz heute nicht zuletzt im Abgleichen der darin enthaltenen Diagnosen und Prognosen, in der erkennbaren Geisteshaltung und dem gesellschaftlichen Optimismus liegt, besteht zu drei Vierteln aus Reflexionen zur theoretischen Philosophie, will sagen zur Ontologie, zur Metaphysik, zur Erkenntnistheorie, auch zur Parapsychologie, in die Erwägungen aus dem Bereich der praktischen Philosophie und der Religionsphilosophie eingebettet sind. Gerade einmal die letzten 18 der 84 Seiten enthalten zusammenhängende Argumentationen zur Rechtsphilosophie im engeren Sinn. Natürlich wird sich angesichts der Thematik des vorliegenden Bandes diese Gewichtung bei der Präsentation deutlich verändern, doch gilt es zu4 5 6 7 8
Ebd. 295 ff. Helene Baumgarten/Gerd Irrlitz/Hermann Klenner, Zum Weg Arthur Baumgartens, in: Rechtsphilosophie auf dem Wege, hg. von Baumgarten/Irrlitz/Klenner, Berlin 1972, 1–17, 5 Arthur Baumgarten, Zu den Ereignissen in Ungarn und Ägypten in jüngster Zeit, in: Staat und Recht 5 (1956), 957–963, 959 Baumgarten (Fn. 1), 114 Bezugnahmen auf den Aufsatz Baumgartens im Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie
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gleich, dem von Arthur Baumgarten konzipierten Text als Ganzem gerecht zu werden. Zu diesem Zweck werden wir uns erst seiner sehr individuellen Auseinandersetzung mit drei zeitgenössischen philosophischen Richtungen widmen, sodann seinen in etwa die Hälfte des Aufsatzes umfassenden „Versuch eines transzendenten Evolutionismus“, dem man im heute populären Sprachgebrauch durchaus „esoterische“ Züge zuerkennen kann, und schließlich seine psychologistische, antiformalistische Rechtsphilosophie diskutieren. 1. Die „neuesten Richtungen der allgemeinen Philosophie“ a) Der „in Deutschland gegenwärtig im Mittelpunkt des philosophischen Interesses“ stehenden Phänomenologie nähert sich Baumgarten zunächst über ihren Gegensatz zum Psychologismus, an den sie den Vorwurf richtet, dass er nicht zwischen dem Urteilsakt als psychologischem Vorgang und dem beurteilten Sachverhalt differenziere (237). Baumgarten, der sich dem Psychologismus nahe sieht, hält dem entgegen, dass eine „von einer subjektivistischen Erkenntnistheorie beeinflusste Logik notwendigerweise psychologistischen Charakter erhält“. Den Subjektivismus charakterisiert er durch den Grundsatz, nach dem bei jeder Vorstellung „der vorgestellte Gegenstand psychischer Natur“ sei, „insofern er eingeht in die Vorstellung als etwas allein dem Subjekt gehöriges Psychisches“ (238). Dabei hält er den „Dualismus von Wirklichkeit und Denken“ für unentrinnbar, jede Suche nach sicheren und unverrückbaren Fundamenten der Erkenntnis für intellektuell fruchtbar, aber in der Sache vergeblich. Unter dieses Verdikt fällt Descartes’ methodischer Zweifel ebenso wie Kants Transzendentalphilosophie; den auf die „intellektuale Anschauung“ spekulierenden deutschen Idealisten hält Baumgarten mit leisem Spott entgegen, diese könne „nicht als ein jedem normalen Menschen zustehendes Vermögen angesehen werden. Der Durchschnittsmensch ist seiner geistigen Konstitution nach auf empirische Erkenntnis angewiesen“ (240). Der Phänomenologie, die ähnlich wie die deutsche idealistische Metaphysik ebenfalls „über den Standpunkt des empirischen Ichs hinausgelangen“ wolle, bescheinigt unser Autor einen „doppelten Fehler“: Zum einen sei es entgegen dem phänomenologischen Programm nicht möglich, im Bewusstsein den „Gegenstand der Vorstellung als etwas nicht Psychisches von der Vorstellung als etwas Psychischem“ zu unterscheiden. Zweitens sei es ein Irrtum, wenn die Phänomenologie weder das eine noch das andere als „etwas konkret Psychisches, empirische Wirkliches gelten lassen“ wolle. Jeder Versuch, den psychologistischen Zugang „im Dienst ewiger, absoluter Wahrheiten“ hinter sich zu lassen, bedeute letztlich nicht mehr als den Verzicht darauf, das Ich zum Gegenstand der Erfahrung zu machen (241). Allerdings lässt sich auch für den psychologistischen Empirismus das Problem der Existenz der „Außenwelt“ und ihrer Erkenntnis nicht durch eine Wendung in den Solipsismus oder einen anderen Weg ihrer Leugnung aus der Welt schaffen, sondern es bleibt ein kontinuierliches Problem mit dieser „Antinomie der Vorstellung“ bestehen, woraus wir nach Baumgartens Vorschlag „eine fruchtbare Bereicherung unserer Weltanschauung zu gewinnen suchen“ sollten (243). Es dürfte die
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Struktur dieser inneren Spannung unnötig vereinfachen, wenn man hier lediglich eine „dialektische Beziehung von Einheit und Vielheit“ am Werk sieht.9 Der Phänomenologie wirft Baumgarten vor, sich durch Hypostasierung einer „Wesensschau“ aus dieser schwierigen Aufgabe herausdefiniert zu haben und gewissermaßen eine Einladung zur intellektuellen Flunkerei auszusprechen. „Was werden da nun nicht die zahllosen Unberufenen, die sich gern als Jünger der Philosophie aufspielen, in sich zu lesen glauben und mit wohlklingenden Namen versehen als unanfechtbares Ergebnis ihrer Wesensschau öffentlich vorzutragen sich erdreisten.“ (246). Der Vorwurf weist gewisse Parallelen mit Kants Bedenken gegenüber dem „neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ auf, der sich der Mühsal der republikanischen Vernunft zu entziehen trachtet, indem er alles auf einmal erschaut.10 Die Parallele ist keineswegs zufällig, da es beide Male gegen den aufklärerischen Rationalismus gewendete Romantiker sind, deren „Überschwang der Gefühle“ den Glauben an besondere Quellen der Erkenntnis nährt. Laut Baumgarten passt die Phänomenologie mit ihrer Tendenz, „Worte für Gedanken passieren zu lassen“ (250) nur zu gut in diesen durch „Unehrlichkeit“ gekennzeichneten Zeitgeist. Stilistisch passt sich unser Autor dabei durchaus seiner Zeit an, wie einige mit sehr solidem Selbstbewusstsein vorgetragene Einschätzungen der Philosophiegeschichte verraten. In Hegels „Immanentismus“ etwa erscheint „kraft einer künstlichen Dialektik von der Art, dass man mit ihr alles und nichts beweisen kann, der in der Geschichte zu uns redende Geist, der, wenn er überhaupt eine gute Botschaft bringt, sie stammelnd und stotternd ausspricht, als die sich voll entfaltende Gottheit selbst“. Schopenhauer wird hingegen mit einem Schulterklopfen bedacht, als einer „der ehrlichsten Geister, die je gelebt haben“ (248). b) Bei der zweiten neuesten Richtung der Philosophie, der Baumgarten sich zuwendet, handelt es sich um den radikalen Empirismus und Pragmatismus in der Version von William James, dessen Charakteristikum die introspektive Methode, die „psychologische Selbstbeobachtung“ ist. Er erfährt Lob ob seiner bescheidenen Selbsteinschätzung als „Vorverkünder einer Ära“ und wird sogleich mit Reminiszenzen an Dantesche Wortgewalt gefeiert: „Freuen wir uns vorläufig an ihm, diesem Vergil, der uns in dem Inferno unseres eigenen Geistes ein Führer geworden ist“ (251). Die „Forschungsmethode“ der Selbstbeobachtung, besonders durch große Geister mit besonders geschärftem Auge erscheint dem philosophierenden Rechtsgelehrten auch in einer Zeit fruchtbar, die „vielleicht keine größere wissenschaftliche Tat, als die Entwicklung der Lehre vom Unbewussten aufzuweisen hat“ (252). Von dieser Selbstbeobachtung erhofft sich Baumgarten wesentlich mehr als von der Experimentalpsychologie, der er äußerst kritisch gegenübersteht, da ihre Versuchspersonen in der Regel nicht deutlich anzugeben vermögen, „was sich beim Urteilen oder Werten“ in ihnen „abspielt“ (ebd.). Als Ertrag der selbstbeobachtenden Forschungsmethode erwartet sich Baumgarten offenbar nachprüfbare Erkenntnisse über den von allen, oder zumindest den meisten Menschen geteilten Schatz innerer Erfahrung, über „ den reichen Besitz an inneren Gütern, den unendlich viele mitein9 Baumgarten/Irrlitz/Klenner (Fn. 5), 5 10 Immanuel Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, in: Aka-
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ander teilen“ (254), also allgemeingültiges Wissen über die psychische Struktur des Menschen. Besonders beeindruckt zeigt sich Baumgarten durch James’ psychologische Bearbeitung der religiösen Erfahrung, die seiner eigenen Form eines optimistischen Umganges mit dem transzendent Religiösen und dem transzendenten Glück der Menschheit entgegenkommt: „Die Weltanschauungstatsachen, die William James’ Geist lebendiger als der irgend eines seiner Zeitgenossen erfasste, scheinen mir vor allem zu sein: die Möglichkeit … einer sich bis ins Transzendente verlierenden Verbesserung und Erhöhung des Menschen- und Weltschicksals, das Vorhandensein übermenschlicher Mächte, die sich für einen glücklichen Ausgang des Weltdramas einsetzen, die dem Menschen kraft seiner Freiheit sich bietende Wahl, bei dem Kampf des Guten und Bösen als bloßer Zuschauer zu verharren oder für die eine oder andere Partei in die Schranken zu treten, die sich draus ergebende Mitverantwortung für den schließlichen Ausgang.“ (254) Diese Passage wurde relativ ausführlich zitiert, weil sie bereits wesentliche Elemente der besonderen, gewissermaßen manichäisch angehauchten Form religiöser Metaphysik bei Baumgarten erkennen lässt, die sich in sehr eigener Weise mit dem Empirismus verbindet. An William James stört Arthur Baumgarten der pragmatistische, durch den Willen bestimmte Wahrheitsbegriff. Generell gehe es nicht darum, dessen Lehre als Ganzes aufzugreifen, doch werden, so Baumgarten, „einzelne der von ihm unvergleichlich formulierten Gedanken zu den Grundpfeilern des Baus unserer zukünftigen Philosophie“ (256). c) Henri Bergson, dessen Werk unser Autor als dritte im Bunde der neuesten Philosophien anführt, teilt mit William James, dem er sich gedanklich verbunden fühlt, einen Antiintellektualismus, aber auch einen Fortschrittsoptimismus, sofern es denn dem Menschen gelingt, von den „in den Tiefen seiner Seele verborgenen Energien“ angemessenen Gebrauch zu machen (ebd.). Bergson fasst in Baumgartens Darstellung die Rolle des dem Menschen vom élan vital verliehenen Gehirns durch seine Vorteile für das Überleben aufgrund der Fähigkeit, „die unendliche Fülle der Perzeptionen auf das für die dem Individuum dienlichen Reaktionen erforderliche Maß“ zu reduzieren. Diese für das unmittelbar angemessene und vorteilhafte Reagieren hilfreiche Leistung des Intellekts verstellt dem Menschen die wahre Erkenntnis der Dinge, zu welcher er durch eine Rückbesinnung auf eine unmittelbare, ein integrales Weltbild ermöglichende Intuition gelangen kann. Baumgarten bezweifelt, dass es Bergson gelingt, mit seiner Differenzierung von intelligence und intuition die sich dem menschlichen Geist stellenden Antinomien, sei es die Paradoxie Zenons, sei es die Antinomie von Kausalität und Freiheit zu lösen. Schließlich führe die Intelligenz nicht lediglich eine Auswahl und Akzentuierung aus der Fülle, der „Totalität des ursprünglich Gegebenen durch“, sondern verhalte sich gegenüber der Intuition „in aggressiver Gegensätzlichkeit“ (259). Allemal hält sich sein Interesse für Bergsons Theorie in Grenzen, da sie bislang noch nicht zu einer für die Rechtsphilosophie anschlussfähigen „durchgebildeten Morallehre“ (260) geführt habe. Auch die „Beziehungslinien“ zwischen dem Recht und der Philosophie eines William James seien zumindest in Deutschland noch unbekannt (256). Hingegen gebe es mit dem Kelsen-Schüler Felix Kaufmann durchaus bereits einen phänomenologischen Rechtsphilosophen; doch sei die Auseinandersetzung
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zwischen den Phänomenologen und den Neokritizisten eher ein esoterischer Schulstreit, da die Phänomenologie im Unterschied zum Kritizismus zwar von Inhalten spreche, deren Bestimmung jedoch der jeweiligen Wesensschau überlasse (245). 2. Der „transzendente Evolutionismus“ Alle bisher dargestellten philosophischen Richtungen haben ihren Wert in der „bahnbrechenden … Wirksamkeit“ für ein System einer neuen Philosophie mit „transzendentem Charakter“ (260f.). Wie sich Baumgarten eine solche Philosophie denkt und was er von ihr erwartet, lässt sich aus dem gut vierzigseitigen Entwurf seiner „Entwicklungsphilosophie“ entnehmen, der mehr als die Hälfte des ganzen hier vorgestellten Aufsatzes ausmacht. Ein erstes Charakteristikum dieser Philosophie ist ihre schon angesprochene transzendente Anlage, der zufolge ebenso wie bei Bergson und William, das transzendente, vollkommene Göttliche erst im Entstehen begriffen ist. Dazu gehört ein „selbst vor Gott nicht haltmachender Meliorismus“ (262). Doch hat sehr wohl auch der Mensch seine Verantwortung für die Beförderung des „Weltheils“, das in enger Verbindung zur Gottesvorstellung Baumgartens steht, für den „Gott nichts anderes ist, als der in der Zerstreuung des jetzigen Universums lebende, im Menschen, wennschon nicht notwendiger-, so doch möglicherweise seine höchste Manifestation findende Weltgeist im Zustand höchster, vorläufig als Persönlichkeit vorzustellender Vereinheitlichung und Vollendung, zu dem er sich im Weltprozeß schließlich emporzuringen bestimmt ist“ (264). Arthur Baumgarten sucht für seine Entwicklungsphilosophie nun einen Weg zwischen Determinismus und Fatalismus und gelangt zu der Auffassung, der Sieg des Guten über die entgegenwirkenden Kräfte der Trägheit und Bosheit sei gewiss – hier weicht er auch explizit von William James ab – doch könne der Mensch sehr wohl an der „Herbeiführung eines Aufschubs“ oder auch an der Beschleunigung der Entwicklung mitwirken (265). „Das, worauf schließlich alles hinausläuft, ist das nicht in klarer Erkenntnis, sondern nur in der Vorahnung erfassbare, universelle, transzendente Glück.“ (266) Baumgarten verteidigt das Glück, die „Quintessenz des Lebens“ als ethischen Maßstab gegen einen „hochberühmten neueren Philosophen“, der statt dessen die „Tätigkeiten“ zum Kriterium erheben wollte, „eine Anregung …, für die Hampelmänner dankbarer sein werden als Menschen“ (ebd.). Das Glück liefere demgegenüber einen Maßstab zur Beurteilung verschiedener Arten von Gegenständen, ja sogar den einzigen, der sich überhaupt denken lasse, da nun einmal „Lust und Unlustgefühle des ganzen Lebens wechselvolles Spiel nicht nur begleiten, sondern im Innern durchdringen“ (ebd.). Das einzige Problem für eine zuverlässige Messung des Glücks, der Freude, die jemand etwa beim Anblick eines schönen Bildes erlebt, liege darin, dass sich die entsprechende Lustempfindung nicht zuverlässig von dem mit ihr verknüpften Wahrnehmungsprozess trennen lasse, ebenso wenig sei festzustellen, ob die Lust beim Betrachten einer Landschaft größer oder geringer sei als die beim gleichzeitigen Hören schöner Musik. Trotz aller einzuräumenden Schwierigkeiten wird dieses Vorgehen von Baumgarten als angemessener und zuverlässiger eingestuft als eine Abtrennung der Werte
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von den Gegenständen mit nachfolgender Hierarchisierung, wie er sie bei Max Scheler am Werke sieht,11 er hält auch die „Kardinalisierung“ der Glücksgefühle für erfolgversprechender als die Erstellung einer bloßen „Präferenzordnung“, um die Thematik einmal im Vokabular einer ähnlichen Debatte auszudrücken, die einige Jahrzehnte später innerhalb des Utilitarismus und im Anschluss an diesen stattfand.12 Als Autoritäten zur Bestätigung seiner Methodik beruft er sich auf „die eigene innere Schau“ und auf die „Weisheit der Sprache“, da die Ausdrücke mit denen wir die Wahl einer Handlung erläutern, darauf schließen lassen, dass „dem Akt des Vorziehens die Feststellung eines Mehr oder Minder vorausgeht“ (267f.). Dieser Verweis auf die Umgangssprache und auf die plausible These, dass das in ihr sich herausbildende Vokabular über unsere psychischen Vorgänge mit seinen begrifflichen Differenzierungen auf eine ungleich höhere Zahl von „Versuchen“ zurückgeht, als sie die Experimentalpsychologie anstellen kann, findet eine Parallele in der ordinary-language-philosophy, in der umgangssprachlichen Variante der analytischen Philosophie des Geistes, die sich vor allem mit Namen wie Ludwig Wittgenstein, Gilbert Ryle und John Langshaw Austin verbindet.13 Während sich diese Autoren allerdings intensiv darum bemühen, zu zeigen, wie unsere Sprache in diesem Sektor „arbeitet“, bleibt Baumgarten völlig im Abstrakten, gibt auch nicht ein einziges Beispiel. Wenn er sich hingegen zur Bestätigung seiner optimistischen Zukunftssicht daran macht, die Frage: „Geht es denn nun wirklich dem Glück entgegen?“ positiv zu beantworten, greift er auf einige empirische Daten zurück, um die gewachsene Zahl der „Glücksmöglichkeiten“ und den akzidentiellen Charakter der diversen Einbußen an Glück zu begründen: „Das Wehtun missfällt in immer höherm Grade“, das Strafrecht sei humaner geworden, man drohe nicht mehr im selben Maß mit Höllenstrafen, der Krieg werde immer stärker „als eine schwere Demütigung für Sieger und Besiegte und als etwas empfunden…, das auf jeden Fall vermieden werden sollte.“ Trotz ihrer unbestreitbar problematischen Nebenwirkungen sei auch die Technik mit ihren Errungenschaften positiv zu bewerten. Am wichtigsten sei jedoch die Gotteserfahrung, bei der heute immer weniger „das Gefühl der Sündhaftigkeit das der Gotteskindschaft“ überwiege (268f.). Der Weg auf dem sich diese Entwicklung vollziehen soll ist der des „Versuchs der Auflösung von Widersprüchen“ (270), die sich in der Wissenschaft in der Form von Antinomien stellen. Die Antinomien können zwar in dieser Welt niemals aufgelöst werden, doch treiben unsere Bemühungen um sie immer neue fruchtbare Entwicklungen hervor, Philosophie, generell Erkennen ist ein stets offenbleibender Prozess (288). Unser Autor nennt einige Beispiele für Antinomien: den Universalienstreit, das „Ansichsein der Welt“, die Antinomie „des Ich und Du“. Letztere ist die „in praktischer Hinsicht wichtigste“, da man den Menschen auch in einer individualisierten Welt nicht einfach als „isoliertes Interessenzentrum“ auffassen kann (274f.). Sie geht in die schwierige, in dieser Welt nicht lösbare Aufgabe ein, das Glück des Weltgeistes, also die gelungene Fortentwicklung der Welt, mit dem Glück des Indivi11 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle a.d.S. 1927 12 Vgl. z.B. J.J.C.Smart/Bernard Williams, Utilitarianism. For and Against, Cambridge 1973. 13 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausg. Bd. 1, Frankfurt/M. 1984; Gilbert Ryle, The Concept of Mind (1949), Harmondsworth 1984; John L. Austin, How to do things with
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duums zusammenzubringen, weder egoistisch, oder gar solipsistisch, noch „subaltern“ und knechtisch zu sein. Bei seinen Bemühungen um Klärung dieser Antinomie greift Baumgarten auch auf unorthodoxe Mittel wie die Parapsychologie aus Traugott Konstantin Oesterreichs „Der Okkultismus im modernen Weltbild“14 zurück, mit der These, der Mensch sei in seinem Bewusstsein auf die Individualität zurückgeworfen, jedoch in seinem Unbewussten der Universalität zugänglich. Doch lehnt er entschieden die Ansicht ab, das Unbewusste könnte die Gottheit sein. Gott wird in einer zweiten Definition vielmehr als „das persönliche Wesen“ gesehen, „das sein wird, wenn die ganze Fülle des im Unbewußten keimhaft Ruhenden zur hellen, bewussten Wirklichkeit sich entwickelt hat“ (278). Bezeichnet Baumgarten diese Reflexionen in seiner fast fünfundvierzig Jahre später verfassten Autobiographie als „überkühne Spekulationen“15, so schildert er doch nicht ohne jede Sympathie seine Gottesvorstellung und bekennt sich zu seiner Antinomienlehre, „der ich, von einem wichtigen Punkte abgesehen, bis heute treu bin“, die bereits ein Erfassen des „dialektischen Charakters der Wirklichkeit“16 enthielt. In einer 1944 im Baseler Exil gehaltenen Ansprache an die geladenen Gäste anlässlich seines 60. Geburtstages erläutert er die Motive und deren Enttäuschung: „So erwartete ich denn nach den furchtbaren Prüfungen des Weltkriegs, die gezeigt hatten, wohin ein militaristischer Nationalismus führen muß, einen mächtigen Auftrieb der Philosophie. Aber es kam ganz anders. Von einer Erhebung der Geister zu einer neuen metaphysischen Weltanschauung, wie sie mir vorschwebte, war nichts zu spüren.“17 Wie immer man die zitierten Äußerungen des Präsidenten der Akademie „Walter Ulbricht“ zum Ungarnaufstand deuten mag, es finden sich immer wieder Zeugnisse eines zutiefst humanistischen Denkens im Werk unseres Autors. Noch aber – um zur Schrift aus dem Jahre 1923 zurückzukehren – ist Arthur Baumgarten nicht bereit, sich durch die Erkenntnistheorie des Alleszermalmers Kant von seinem „freien Flug ins Metaphysische“ abhalten zu lassen (302). Bemerkenswert ist an seinem philosophischen Entwurf allemal die sehr originelle Verbindung zwischen der metaphysischen Spekulation und einem teilweise radikalen Empirismus, der im Gefolge von James trotz gegenteiliger Behauptungen dem Pragmatismus nahe kommt. Dies zeigt sich, wenn etwa die Frage, ob es nicht-euklidische Geometrien einzuführen gilt, an der praktischen Nützlichkeit ausgerichtet wird (292f.). Zugleich wird die philosophische Relevanz von physiktheoretischen Entwicklungen als eher begrenzt angesehen: Einsteins Relativitätstheorie hat zum Beispiel „nur mit der Messung, nicht mit dem Wesen der Zeit zu tun….Wer sich das Auge öffnen will für die Zeit, der gehe lieber bei Augustin als bei Einstein in die Schule“ (293). Die in diesem Aufsatz angesprochenen erkenntnistheoretischen und ethischen Themen scheinen Baumgarten kontinuierlich beschäftigt zu haben. Bei allem Selbstbewusstsein betont er stets die Vorläufigkeit seiner wie aller menschlichen Erkenntnis. Ferner, und das ist ein ausgesprochen moderner Zug in seiner Lehre, versteht er Philosophie als stets der Verbesserung fähige, aber auch der Verbesserung bedürftige 14 15 16 17
Traugott Konstantin Oesterreich, Der Okkultismus im modernen Weltbild, Dresden, 2. Aufl., 1921 Baumgarten (Fn.1), 22 Baumgarten (Fn. 1), 19, 22 Arthur Baumgarten, Mein Weg zum Sozialismus, in: Rechtsphilosophie auf dem Wege, hg. von
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rationale Bemühung. Es war insofern konsequent in seinem Sinne, dass die Herausgeber seiner gesammelten Aufsätze aus fünf Jahrzehnten den Titel „Rechtsphilosophie auf dem Wege“ wählten. In der erwähnten Autobiographie kommt er immer wieder auf erkenntnistheoretische Themen, auch auf die behandelten Autoren wie Bergson und James zu sprechen und hebt – mittlerweile als Marxist – hervor: „Der religiöse Mensch ist nicht unser Feind.“ (68). Von ihm wie von Kommentatoren wie Klenner und Oberkofler wird ferner eine Kontinuität seines Denkens in der Sympathie für die Ideale der französischen Revolution: liberté, egalité, fraternité konstatiert.18 3. Rechtsphilosophische Konsequenzen Wenden wir uns jedoch nunmehr den im engeren Sinn rechtsphilosophischen Aspekten unseres Textes zu. Bei der Erörterung des Verhältnisses zwischen dem Individuum, dem Unbewussten und Gott gelangt Baumgarten zu der Frage, ob es zwischen „der sich ins Transzendente steigernden Persönlichkeit Gottes“ und den menschlichen Individuen „personale Mittelglieder“ geben müsse oder könne. Dabei meint er in diesem Zusammenhang weniger die Engel, als vielmehr „menschliche Verbände“. Die von Otto Gierke vertretene Auffassung, es handle sich dabei um Personen, die „willensfähig, ja deliktfähig“ seien, scheint ihm ein „gefährlicher Irrtum“ (281f.). Wer etwa den Staat als „Überpersönlichkeit“ deute, gehe oft davon aus, dass ihm das Individuum alles zu opfern habe, das Leben wie die moralischen Grundsätze. Doch auch wer ihn nur als wertmäßig über dem Individuum stehendes transpersonales Wesen ansehe, treibe „einem fanatischen Molochdienst entgegen. Vergebens bemüht sich Gierke hier Einhalt zu tun.“ (283). Baumgarten will also keineswegs dem von ihm hoch geschätzten Hauptvertreter der Genossenschaftslehre derartige Ziele unterstellen, ist nur mit einigem Recht skeptisch, ob man mit einem derartigen theoretischen Ansatz den befürchteten Konsequenzen zu entrinnen vermag: „Das ist die Frucht, die der Baum der Theorie von dem persönlichen oder überpersönlichen Gesamtwesen bisher immer noch getragen hat, und nach dieser Frucht soll er beurteilt werden“ (ebd.). Nicht als Persönlichkeiten, wohl aber als soziale Organismen, die „mit den natürlichen Organismen …eine unleugbare Verwandtschaft“ haben (284), will auch Baumgarten die menschlichen Verbände verstanden wissen. Die Gemeinsamkeit bestehe vor allem darin, dass zur Erklärung beider Art Organismen jede rein mechanistische Zugangsweise unzulänglich sei, vielmehr „organisierende Zielkräfte, Entelechien am Werk sein müssen“ (ebd.). Zur Erforschung dieser Sozialentelechien mit ihren enormen Kraftpotentialen sei am ehesten die Soziologie Durkheims geeignet. In jedem Fall bleibt der bewusste Menschengeist aller Sozialentelechie überlegen: „Sie ist Gigant, er ist Götterkind.“ (286) Wie bereits erwähnt, beginnt Baumgarten erst im letzten Viertel seines Aufsatzes, in zusammenhängender Weise die „Folgerungen für die Ausgestaltung des Rechts“ aus seiner metaphysischen Weltanschauung zu ziehen. Eckpunkte sind zunächst einmal die Erforderlichkeit der Friedenssicherung, die Förderung der Wirt-
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schaft, ohne dass damit ein „schrankenloser Egoismus großgezogen“ werden dürfe (303), und die rechtliche Absicherung des Familienlebens. Interessant ist hier seine Stellungnahme zur Ehescheidung. Diese käme bei Verlust der Harmonie in Betracht, wenn es nur um die Ehegatten ginge. Angesichts der schlimmen Schädigungen, die eine Scheidung für die Kinder mit sich bringt, die „der unersetzlichen Gelegenheit, die Wirkung der höchsten menschlichen Fähigkeit, der Liebe, an sich zu verspüren, beraubt“ werden (ebd.), sei es jedoch die Aufgabe des Staates, sich für die Bewahrung der Ehe einzusetzen. Allerdings müsse der Gesetzgeber sehr genau darauf achten, wie es um die „Entwicklungsaussichten des sittlichen, kulturellen Volkslebens“ bestellt sei. Einer vorübergehenden Abschwächung des Sinnes für den Wert der Ehe könne man vermöge des Rechts entgegensteuern. „Weist aber die Entwicklung auf ein allmähliches Absterben, dann ist die Anwendung gesetzlicher Heilmethoden nur unnütze Quälerei“ (304). Die in diesen Kontexten bereits erkennbare, für Baumgarten typische Verbindung aus einer klaren moralischen Orientierung und einer liberalen Geisteshaltung prägt auch seine Haltung zur staatlichen Erziehung. Er hält Schulzwang für erforderlich, doch hat der Schulunterricht „weltanschauungsfrei“ zu sein, für die Herausbildung einer Weltanschauung nur die Grundlagen zu schaffen. Eine Ausnahme bildet der Religionsunterricht, der für das „eigentliche Kindesalter … die zuträglichste geistige Nahrung“ bietet, während in der späteren Jugend durchaus der Sinn für die Rätsel geweckt werden soll, mit denen der „Menschengeist .. heute noch ringt“, damit jeder eine seinen Anlagen entsprechende Weltanschauung entwickeln könne (305). Seine sehr spezifische Metaphysik führt Baumgarten demnach zu einer nach heutigen Maßstäben beachtlich modernen Rechtsauffassung. Zwar heißt es zwischendurch wieder, der Staat habe in allen Anordnungen die Erziehung der Bürger zur Tugend vor Augen zu haben; doch gilt erstens als Tugend die Beförderung der Entwicklung des Geistigen und wird zweitens davor gewarnt, mit staatlicher Überregulierung das „für die Erreichung des höchsten Ziels ganz unentbehrliche Mittel, die Auferziehung freier Persönlichkeiten“ zu gefährden (305f.). Den Abschluss unseres Textes bildet eine harte Abrechnung Baumgartens mit der Rechtsphilosophie seiner Zeit. Eigentlich verdienen nur zwei Varianten überhaupt diesen Namen: die zeitgenössische Adaption der Ansichten des Aquinaten und die Lehre Leonhard Nelsons, die allerdings auch nicht als „zukunftsreich“ angesehen werden kann. Deutlich schlechter noch kommt Josef Kohler weg, der ebenfalls im vorliegenden Band Berücksichtigung findet: „Wenn er nicht unglücklicherweise eine Rechtsphilosophie geschrieben hätte, würden wir kaum wagen, ihm die Befähigung dazu abzustreiten.“ (307) Der Neukantianismus wird in der „eigentlichen Rechtsphilosophie“ als „der Vergangenheit angehörige Erscheinung“ angesehen und bekommt in der Fassung von Kelsens Hauptproblemen ein frühes Ende prophezeit (ebd.). Inhaltlich wird an Kelsen die Trennung der Jurisprudenz von Disziplinen wie Soziologie und Psychologie kritisiert und die Möglichkeit bezweifelt, sie als normative Disziplin gegenüber der Ethik selbständig zu halten. Nach einer Spekulation über die Motive für das „Kesseltreiben der Juristen gegen alles, was Mark und Blut des Rechts ausmacht“ – eifersüchtiges Bewachen eines eigenen Forschungsgegenstandes, „dekadente Unfähigkeit, das Ineinander der Dinge zu schauen“, aber auch die Besonderheiten der Rechtswissenschaft selbst – macht sich Baumgarten an sein zentrales Anliegen: „den Juristen vor der Täuschung zu
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bewahren, das Wesen seiner Wissenschaft in einer formalistischen Betrachtungsweise zu sehen.“ (308). Dazu greift er einige Beispiele auf, anhand deren er glaubt zeigen zu können, dass die formalistische Rechtsauffassung unangemessen ist. Das erste ist der rechtliche Umgang mit dem Begriff der Schuld, der nach Baumgartens Ansicht in Anlehnung an das allgemeine sittliche Bewusstsein eng mit dem freien Wollen verbunden ist, wodurch Fahrlässigkeit nicht als Schuld angesehen würde. Nach der formalen Definition der Schuld als „vom Gesetz missbilligter Willensfehler“ kann Fahrlässigkeit hingegen unter Schuld gezählt werden. Die immerhin noch feststellbare Verbindung zum psychologischen Phänomen des Willens wird, so Baumgarten, auch noch eliminiert, damit man schuldhaftes Handeln von Gesamtpersönlichkeiten konstatieren könne. Nach Baumgarten liegt es auf der Hand, dass der Schuldbegriff und seine Bestimmung nach seiner Ablösung von allen traditionellen Bedeutungselementen und „aller Sprachlogik“ der Willkür des Gesetzgebers unterliegt (309ff.). Zweiter Kritikpunkt ist die Annahme eines eigenen, spezifisch juristischen Kausalbegriffs, durch den etwa auch eine Unterlassung zur Verursachung werde. Hier führe die Ablösung des rechtlichen Sprachgebrauchs von seinen alltagssprachlichen Verbindungen in eine „rücksichtslose Politik der Generalprävention“, bei der eine Haftung ohne Verursachung zugelassen werde (312). „Den weitaus gefährlichsten Verbündeten findet jener Formalismus… in der über dem Begriff des rechtlichen Sollens schwebenden Unklarheit“ (ebd.). Dieser vermeintlichen oder tatsächlichen Unklarheit versucht Baumgarten anhand eines wiederum sehr spezifischen, psychologistischen Sollensbegriffs zu begegnen, mit der zugleich die scharfe Trennung von Sein und Sollen eingeebnet werden soll: „Das konkrete Moment, aus dem in letzter Linie alles Sollen seine Lebenskraft zieht, ist der Druck, den die motivierende Vorstellung auf den Willen ausübt, ein Druck, der den Willen, ohne dabei seine Freiheit zu vernichten, auf einen Entschluß hindrängt“ (313). In letzter Instanz sind es, so Baumgarten unsere wohlverstandenen Bedürfnisse, „die da in gebieterischem Ton zu uns sprechen“. Moral ist demnach ein zunächst durch die Gesellschaft von außen ausgeübter, später verinnerlichter Druck, der sich somit auch mit den Gesetzen der Psychologie erklären lässt. Ein an Ludwig Wittgenstein ausgerichteter Rechtsphilosoph wie Hart erklärt diese Ansicht zu Recht schon deshalb für falsch, weil auch diejenigen das vom Recht Gebotene tun sollen, die wenig oder keinerlei Druck verspüren.19 Hier wird ein psychologischer Mechanismus, der mitunter festzustellen sein mag, irrtümlich als Erklärung für das Phänomen des Regelfolgens gesetzt. Doch dürfte er nicht einmal auf alle zutreffen, die der Regel freiwillig folgen, da einige dies sicherlich rein gewohnheitsmäßig tun, somit gleichfalls keinen Druck empfinden. Wer der Rechtsregel zuwider handelt, nicht tut, was er soll, wird gerade bestraft, möglicherweise, ohne inneren Druck erlebt zu haben. Bei der Art, wie Baumgarten das „aprioristische Sollensprinzip des Eudämonismus“ als Gegenentwurf zu Kant inszeniert (315), könnte sich das eine oder andre Missverständnis einstellen. So unterstellt er eine Gebotsauffassung – statt der heute überwiegend vertretenen Kriteriumsauffassung – des kategorischen Imperativs, die sich mit den psychologischen Daten nicht vereinbaren lasse, was gegen Kant spre-
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che. Baumgartens Eudämonismus verbindet sich mit einem Moralgesetz, das „die Bestrebungen der Menschen auf ein gemeinsames Ziel konvergieren lässt“ (315f.). Kants „inappellables Vernichtungsurteil gegen den Eudämonismus“ sei damit zurückgewiesen. Schließlich ist es auch nicht selbstverständlich, dass man die Ansicht, das rechtliche Sollen entspringe den „Bestrebungen und Interessen der jeweiligen Machthaber“ abgelehnt werden muss, weil man sich damit „knechtisch in den Dienst der augenblicklich herrschenden Strömung“ stelle (317), sofern es sich um einen demokratischen, argumentativ erwägenden Machthaber handelt. Wenngleich einige der Auffassungen, die Baumgarten in seinem Aufsatz ausbreitet, heute eher eigenwillig, teilweise natürlich auch argumentativ überholt erscheinen, so lässt sich doch nicht die Originalität und Kreativität seines Denkens bestreiten, ebenso wenig die Aufrichtigkeit und Intensität seines moralischen Anliegens, das er mit seiner Rechtsphilosophie vertritt. Bemerkenswert ist allemal die vielseitige und weltoffene Interessiertheit, mit der er die internationalen philosophischen Debatten seiner Zeit verfolgt. III. BEMERKUNGEN
ZUR
REZEPTIONSGESCHICHTE
Arthur Baumgarten wird in den zwanziger Jahren durchaus als wichtiger Vertreter der Rechtsphilosophie wahrgenommen. Helmuth Plessner rechnet seine Schrift „Grenzen der Gemeinschaft“ „jener Bewegung“ zu, „die, um die produktivsten Männer zu nennen, in der Ontologie Nicolai Hartmanns, in der Metaphysik des Rechts Arthur Baumgartens … jeweils für sich harmonische Formungen in dem Streben nach Unbefangenheit, in dem Mut zur Wirklichkeit findet“.20 Die Berufung Baumgartens auf den Lehrstuhl in Frankfurt, begründet mit seiner Rolle als Gelehrter von europäischem Rang, wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „bedeutsame und Aufsehen erregende Berufung“ angekündigt.21 Es nimmt daher auf den ersten Blick wenig Wunder, dass Arthur Baumgarten von Hermann Klenner, zumindest in einer Schrift aus Anlass seines 100. Geburtstags als „der bedeutendste Rechtsphilosoph, den das deutsche Bürgertum in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hervorgebracht hat“, bezeichnet wird.22 Klenner beweist seine Wertschätzung für Baumgarten indessen auch nach dem Mauerfall, in einer jüngeren Veröffentlichung. In Michael Stolleis’ Juristenlexikon taucht Baumgarten hingegen nicht auf.23 Mit Sicherheit kann man sagen, dass zunächst der kalte Krieg den Blick von Westen auf sein Werk verstellt hat. Später geriet er in Vergessenheit. Allerdings wurde Baumgarten nicht nur vom bürgerlichen Klassenfeind schmählich vernachlässigt, sondern auch von Gleichgesinnten wie Jürgen Kuczynski nicht in entsprechende Sammlungen aufgenommen, von anderen DDR-Größen wie Ha20 Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: Gesammelte Schriften V, 1924, 7–133, 13 21 Klenner/Oberkofler, Arthur Baumgarten. Rechtsphilosoph und Kommunist, Innsbruck 2003, 40 22 Hermann Klenner, Arthur Baumgarten und die deutsche Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag des Rechtswissenschaftlers, in: Staat und Recht 3, 1984, 202–210, 202 23 Michael Stolleis, Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Mün-
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rich angefeindet und Klemperer notierte sich 1953: „ Ein greisenhafter, meckernder, langsamer, einschläfernder Marx-Vortrag von dem sehr senilen Baumgarten“24. Insofern ist Klenners Stellungnahme keineswegs so selbstverständlich, wie es zunächst den Anschein haben mag. Nach Leo Oberkofler unterstreicht Baumgartens „Persönlichkeit den Wissenschaftsprozeß in der Frühzeit der Deutschen Demokratischen Republik ebenso…wie Leo Stern“25. Ob dieser Vergleich nach heutigen Maßstäben so besonders glücklich gewählt ist, sei angesichts der unrühmlichen Rolle, die eben jener Leo Stern 1950 bei der Vertreibung des Austromarxisten Leo Kofler von der Universität Halle gespielt hat, etwa, indem er bezahlte Stenographen in Koflers Vorlesungen setzen ließ, dahingestellt.26 Jedenfalls scheint eine nicht-tendenziöse ernsthafte Auseinandersetzung mit Baumgartens Werk noch auszustehen.
24 Klenner/Oberkofler (Fn. 21), 90 25 Leo Oberkofler, Die Wahl von Leo Stern in die Deutsche Akademie der Wissenschaften, 1955, http://www.klahrgesellschaft.at/Mitteilungen/Oberkofler_1_99.html (16.10.07)
HUBERT ROTTLEUTHNER, BERLIN GUSTAV RADBRUCH I. DER AUFSATZ
VON
IM
NATIONALSOZIALISMUS
UND IM
ARSP*
RADBRUCH
Um es gleich vorweg zu sagen: bei dem Aufsatz von Radbruch „Verdeutscher Cicero. Zu Johann von Schwarzenbergs Officien-Übersetzung“1 handelt es sich nicht um einen inhaltlich bedeutsamen Beitrag im ARSP. Er gehört in die Reihe der Arbeiten von Radbruch zur Strafrechtsgeschichte, mit der er sich öfters und auch in der NSZeit beschäftigt hat.2 Speziell mit Johann von Schwarzenberg hatte sich Radbruch bereits in einem Beitrag in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht ein Jahr zuvor befasst.3 Von diesem Aufsatz, nicht von dem im ARSP, sagte Radbruch, dass er „mir beinahe die liebste unter meinen Arbeiten“ sei.4 Man kann den ARSP-Beitrag darauf durchgehen, ob er im rechtshistorischen Gewand eine geheime Botschaft zur aktuellen Lage enthält. Dann stößt man vielleicht auf folgende Passage zum Tyrannenmord (S. 149f.): „Wie Cicero selbst hält auch er [Schwarzenberg] in seinen Reimsprüchen nicht zurück mit seiner Verurteilung des „Tyrannen“ Cäsar, er sagt, daß „Julius in seinem Trutz hat unterdrückt gemeinen Nutz“ (…); wie Cicero billigt er sogar den Mord an Cäsar: „Tyrannen und ein Hund, der tobt – Wer die ertödt, der wird gelobt“, und diesem Spruch ist ein drastisches Bild beigegeben: „einem Tyrannen, der seinen Ratgebern Schlösser vor den Mund gelegt hat und ihre Herzen unter einer Presse hält, nähert sich ein Mörder“ (…). Das kann ein ganz abstrakter Tyrannenhaß sein; aber da die Beziehung Cäsars zu den deutschen Kaisern jedermann geläufig war und da gerade Kaiser Maximilian und Kaiser Karl V. es liebten, sich in diese Beziehung gebracht zu * 1
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Jenny Mahr danke ich für die Unterstützung bei den Recherchen. Verdeutschter Cicero. Zu Johann von Schwarzenbergs Officien-Übersetzung, ARSP 35 (1942), 143–154. – Dieser Aufsatz wurde unter dem Titel „Cicero deutsch“ in die 2. Aufl. von Elegantiae Juris Criminalis von 1950 aufgenommen und erscheint so auch in der GRGA Bd. 11, 395–407 (Editionsbericht, 702–711, Textabweichungen, 744 f.). Die wichtigsten strafrechtsgeschichtlichen Schriften Radbruchs sind gesammelt in GRGA, Bd. 11. Nicht geschlossen in diesen Band wurde aufgenommen: Elegantiae Juris Criminalis. Sieben Studien zur Geschichte des Strafrechts, Basel( (Verlag für Recht und Gesellschaft), 1938 – gesammelte Aufsätze, die fast alle schon früher erschienen waren. Gustav Radbruch, Aus Lieb der Gerechtigkeit und um gemeines Nutz willen. Eine Formel des Johann von Schwarzenberg, SchwZStr 55 (1941), 113–133 (Stämpfli-Verlag, Bern); unter „Lieb der Gerechtigkeit und gemeiner Nutz“ wieder abgedruckt in GRGA Bd. 11, 379–395. – Schwarzenberg und Radbruch bringt zusammen Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. Tübingen 1963, 102 ff., 713 ff. – Indirekt hatte sich Radbruch mit Schwarzenberg beschäftigt als Autor der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507 als dem unmittelbaren Vorbild der Carolina, mit der sich Radbruch mehrfach befasst hat: Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), GRGA, Bd. 11, 255–336. Die von Radbruch besorgte Ausgabe erschien nach Verlagsangaben 1926 (GRGA, Bd. 11, 640; im Inhaltsverzeichnis zu GRGA, Bd. 11 ist seltsamerweise 1930 angegeben); 2. Aufl. 1963, hg. von Arthur Kaufmann; daraus ist wohl der Hinweis in der GRGA auf die Veröffentlichung von 1939: Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), hg. von Hermann Maschek, Leipzig: Reclam, 1939. – S. auch den Brief an Spendel v. 27.4.1942 (GRGA, Bd. 18, 193 f.) zum Plan Radbruchs einer neuen Auflage der Carolina, der aber nicht realisiert wurde.
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sehen, kann es unmöglich ohne jeden Seitenblick auf das Kaisertum gesagt und wird zu erklären sein aus Schwarzenbergs reichsständischer, erst ritterschaftlicher, dann territorialstaatlicher, Oppositionsstellung.“
Unwahrscheinlich, dass Radbruch hier eine Verbindungs-Linie von Caesar über die Kaiser Maximilian und Karl V. zu Hitler ziehen wollte. – Oder – eine weitere Stelle (S. 153): „Cicero stellt sich mit völliger Unbefangenheit auf den Standpunkt der besitzenden Klasse. Er redet von der „todeswürdigen Propaganda“ der Gleichmachung des Besitzes: „welche Pest kann größer sein als diese“ (…) und verankert das Privateigentum in den letzten Tiefen von Staat und Recht.“
In einer Fußnote verweist Radbruch auf die sozialistische Kritik an Cicero. Das ist alles, was ich an politisch Brisantem in diesem Aufsatz entdecken kann. Der weitere Inhalt mag den Strafrechtshistoriker noch interessieren, ist aber unter rechtsphilosophischen Gesichtspunkten eher belanglos. Der Aufsatz ist aber in den Sammelband aufgenommen worden, weil sich an ihm eine Menge über Radbruch in der Zeit nach 1933 und auch über die Geschichte des ARWP/ARSP in diesen Jahren zeigen lässt. Nach Stammler und Kelsen war Radbruch zwar der im ARWP in den Jahren 1919 bis 1932 am häufigsten zitierte Autor5, aber er selbst hatte dort 1923/24 nur einen Aufsatz publiziert: „Rechtsidee und Rechtsstoff “6. Es gibt keine Rezensionen von ihm. Der „deutsche Cicero“ ist der zweite Beitrag Radbruchs im ARSP und er bleibt der letzte. – Radbruch ist dann das erste Heft von Band 39 des ARSP nach dessen Wiedererscheinen 1949/50 zu seinem 70. Geburtstag gewidmet (ab dann ist die IVR korporativ verantwortlich für die Herausgabe des ARSP). Es konnte ihm noch vor seinem Tod (am 23.11.1949) überreicht werden. Er wird für den einen Band auch Mit-Herausgeber des ARSP. Auf dem Frontdeckel des gesamten Bandes 39 ist er angeführt, aber schon mit einem Sterbe-Kreuz versehen. Im folgenden möchte ich zunächst einige Anmerkungen zu den Publikationen von Radbruch in der Zeit des NS machen, um den exzeptionellen Charakter seines ARSP-Beitrags von 1942 zu verdeutlichen. – Ich gehe dann der Frage nach, wie dieser Artikel überhaupt in das ARSP gelangen konnte und mache abschließend Ausführungen zur Entwicklung des ARSP bis 1944. II. RADBRUCHS VERÖFFENTLICHUNGEN
IM
NATIONALSOZIALISMUS
Es könnte die Vorstellung bestehen, dass Radbruch als eines der ersten Opfer des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Beamtentums“ vom 7. April 1933 nach seiner Entlassung7 nicht mehr in Deutschland publizieren konnte. Diese Vorstellung ist im großen und ganzen korrekt. Allerdings gibt es noch eine ganze Reihe von kleineren
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Maja Bleckmann, Barrieren gegen den Unrechtsstaat? Kontinuitäten und Brüche in den rechtsphilosophischen Lehren Alfred Manigks, Gustav Radbruchs und Felix Holldacks angesichts des Nationalsozialismus, Baden-Baden 2004, Tabelle auf S. 22 und Fn. 29. ARWP XVII/3 (1923/24), 343–350
Gustav Radbruch im Nationalsozialismus und im ARSP
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Beiträgen aus dem Jahr 19338, die anscheinend noch nicht irgendwelchen gleichgeschalteten Schriftleitern zum Opfer fielen.9 Die große Zahl von Radbruchs Veröffentlichungen in der Zeit des NS erschien in Österreich (bis 1936), in Frankreich, England, Italien, Niederlande, vor allem aber in der Schweiz und dort beim Stämpfli-Verlag Bern, der auch die Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht herausgab, auf dessen Titelblatt Radbruch ab 1935 (49. Jahrgang) als „ständiger Mitarbeiter“10 erscheint. Es bedarf einer sehr peniblen Analyse, um weitere Veröffentlichungen Radbruchs im Deutschen Reich zu ermitteln. Mein Fund umfasst vier Beiträge. Der eine ist natürlich der „Verdeutschte Cicero“ von 1942. Bekannt ist wohl auch das Buch von 1941: Der deutsche Bauernstand zwischen Mittelalter und Neuzeit. Ein kunstgeschichtlicher Versuch begonnen von Renate Maria Radbruch, ausgeführt von ihrem Vater.11 Etwas versteckt in der GRGA findet sich ein winziger Gedenkartikel für Gertrud Hermes 1872–194212. Nicht in der GRGA abgedruckt, aber Radbruch zugeschrieben13 werden können „Betrachtungen über englische und amerikanische Rechtsphilosophie“, die sich anonym14 im Anhang zu Giorgio del Vecchios Lehrbuch der Rechtsphilosophie finden (mit einem Geleitwort von C.A.Emge, deutsche Übersetzung der dritten italienischen Auflage).15 8
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Veröffentlichungen von Gustav Radbruch in Deutschland im Jahr 1933 (mit Angabe der Verlage): Die IKV in Frankfurt a. M., Die Justiz, 8, 58–60, im Verlag Rothschild, Berlin-Grunewald (=GRGA, Bd. 10, 80); Rezension von: Anton Hess, Die Phantasie im Leben der Völker der Wissenschaft, insbesondere im Recht, Juristische Wochenschrift (1933), 31, Moeser, Leipzig (=GRGA, Bd. 15, 340); Vorwort zu: Max Laserson, Die russische Rechtsphilosophie, Verlag Rothschild, BerlinGrunewald (=GRGA, Bd. 2, 504); Anselm Feuerbach, der Jurist, zu seinem hundertsten Todestag am 29. Mai 1933, Forschungen und Fortschritte, 19. Jg. (Nr. 15 v. 20.5.1933), 225–226, Akademie-Verlag, Berlin (=GRGA, Bd. 9, 246); Fascistisches Strafrecht, Der Morgen, Bd. 8, 433–437, Philo-Verlag, Berlin (=GRGA, Bd. 8, 221); Autoritäres oder soziales Strafrecht?, Die Gesellschaft, 10. Jg., 217–229, Dietz, Berlin (=GRGA, Bd. 8, 226); Lesefrüchte, in: MSchrKrimPsych, 24. Jg., 92–97, Verlag Lehmann, München/Berlin (=GRGA, Bd. 10, 84). Das Schriftleitergesetz erging am 4. Oktober 1933 (RGBl I, 713). Nach dessen § 47 hatte der Minister für Volksaufklärung und Propaganda (Goebbels) den Zeitpunkt des Inkrafttretens zu bestimmen. Das geschah zum 1. Januar 1934. Vgl. GRGA, Bd. 16, S. 451. Münchener Beiträge zur Kunstgeschichte, Band 10, Filser-Verlag, München (=GRGA, Bd. 5, 35). Es handelt sich um die kunstgeschichtliche Dissertation der Tochter Radbruchs, Renate Maria, die im März 1939 durch eine Lawine in den bayerischen Bergen umgekommen war. Gustav Radbruch, in: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit, 50. Jg. (1942/43), 53–54, F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung, Berlin-Grunewald (=GRGA, Bd. 16, 157– 159), unterzeichnet mit „Radbruch“. – Gertrud Hermes war keine Frauenrechtlerin (in neueren Arbeiten wird sie als „Erwachsenen- oder Volksbildnerin“ bezeichnet), aber eine, die „in ihren Werken beispielhaft schöpferische Frauenarbeit geleistet“ hat (GRGA Bd. 16, S. 157). Die persönliche Verbindung zur Familie Radbruch bleibt unklar. Diese Veröffentlichung wird Radbruch zugeschrieben bei Erik Wolf (Fn. 3), 760 (unter dem Titel „Rechtsphilosophie in England und USA“). Es heißt dort „… die folgenden mir freundlichst mitgeteilten Betrachtungen eines befreundeten Fachkollegen …“. Giorgio del Vecchio, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Verlag für Staatswissenschaften und Geschichte, Berlin-Grunewald, 1937, Anhang I, 480–483 (fehlt in der 2. Aufl. von 1951). Bei diesem Lehrbuch handelt es sich um Beiheft 34 des ARSP. Die Übersetzung besorgte der 1933 als „Nicht-
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Nicht ganz klar ist schließlich das Erscheinungsjahr der Aufsatzsammlung Gestalten und Gedanken. Acht Studien. Radbruch vermerkt in seiner autobiographischen Skizze Der innere Weg16, dass der Leipziger Verlag Koehler & Amelang der erste deutsche Verlag gewesen sei, der sich mit dem Wunsch nach Arbeiten aus seiner Feder an ihn gewandt habe. Er war ihm besonders dankbar dafür, dass er eine Aufsatz-Sammlung unter dem Titel „Gestalten und Gedanken“ veröffentlichen wolle. D.h., als Radbruch dies schrieb – wir wissen aber nicht genau, wann das geschah –, war das Buch noch nicht erschienen. Radbruch hatte allerdings schon im August 1943 ein Vorwort zu diesem Buch verfasst. Da könnte schon eine Anfrage vorgelegen haben. Die verschiedenen Bearbeiter der GRGA scheinen sich freilich nicht einig zu sein, ob das Buch noch 1944 oder erst 1945 erschienen ist.17 Im Original-Exemplar, das mir zur Verfügung steht, ist als Erscheinungsjahr jedenfalls 1944 angegeben.18 III. WIE
IST DER
ARTIKEL „VERDEUTSCHTER CICERO“
IN DAS
ARSP
GEKOMMEN?
Die Veröffentlichung von Radbruchs Artikel geht auf eine Anfrage des Herausgebers des ARSP, Carl August Emge (1886–1970), zurück. Mit Emge stand Radbruch anscheinend schon lange in Kontakt. In einem Brief an Hermann Kantorowicz vom 1. August 1917 schreibt er u.a.: „Mit Emge – Gießen – dem Kritiker unsres Relativismus – stehe ich in öfterem Briefwechsel; er macht einen klugen und sympathischen Eindruck.“19 Der Kontakt muss gewahrt worden sein. Nach späterer Bekundung von Emge habe die persönliche Beziehung, der Gedankenaustausch ohne Unterbrechung bis zum Tode Radbruchs angehalten.20
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– In einer Rezension des Lehrbuchs betont Radbruch die Verwandtschaft der Rechtsphilosophie del Vecchios mit seiner eigenen (SchwZStr (1937), 422–425 [= GRGA, Bd. 3, 35–38]). Postum erschienen 1951 (GRGA, Bd. 16, 167 ff.); unklar ist, wann diese autobiographischen Aufzeichnungen verfasst wurden. In einer Fußnote zu „Der innere Weg“ in der GRGA (Bd. 16, 282) wird vom Herausgeber vermerkt, dass Gestalten und Gedanken 1945 erschienen sei, zugleich mit Theodor Fontane oder Skepsis und Glaube „als erste Bücher nach dem Zusammenbruch“. Allerdings erkundigte sich Radbruch bei seiner Schwester Aline mit Schreiben vom 12. November 1944, ob sie das Fontane-Büchlein erhalten habe; GRGA, Bd. 18, 238. Für ein Erscheinen nach Kriegsende spricht vielleicht die gravierende Papierverknappung in den letzten Kriegsjahren und die gezielte Zuteilung nach dem Mai 1945 durch die Alliierten. In der editorischen Notiz zum Vorwort von Gestalten und Gedanken, das schon vom August 1943 stammt, wird hingegen vermerkt, dass das Buch 1944 erschienen sei (GRGA, Bd. 5, 15, 355). In der Bibliographie bei Erik Wolf (Fn. 3), 761, wird das Erscheinungsjahr mit 1945 angegeben (und so auch in vielen anderen bibliographischen Übersichten). Auf der letzten Seite des Buches wird angekündigt: „Vom gleichen Verfasser erscheint demnächst: Theodor Fontane oder Skepsis und Glaube“. GRGA Bd. 17, 252. Von einer „dauernden persönlichen Beziehung zu Radbruch und Cantorovicz (sic!)“ nach dem Erscheinen seiner Giessener (zweiten) Habilitationsschrift von 1916 Über das Grunddogma des rechtsphilosophischen Relativismus spricht Emge in: Erinnerungen eines Rechtsphilosophen an die Umwege, die sich schließlich doch als Zugänge nach Berlin erwiesen, an die dortige rechtsphilosophische Situation und Ausblicke auf Utopia, Gedenkschrift der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960, 48.
Gustav Radbruch im Nationalsozialismus und im ARSP
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Emge erwähnte Radbruch als ersten Autor in seiner Abhandlung über Sicherheit und Gerechtigkeit, die er am 18. Januar 1940 der Preußischen Akademie der Wissenschaften nach seiner Aufnahme in diese im Frühjahr 1939 vorgelegt hatte21. Im weiteren Gang der Abhandlung bezieht er sich mehrfach auf ihn.22 Diese Abhandlung und weitere Arbeiten hatte Emge an Radbruch übersandt, wie wir der in der GRGA überkommenen Korrespondenz entnehmen können. Für diese Sendung (und die begleitenden freundlichen Worte) bedankte sich Radbruch in einem Schreiben vom 27. Oktober 194023 und ging näher auf die von Emge angesprochene Antinomie von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit ein. Emge muss sofort geantwortet haben und ihn nach Publikationsmöglichkeiten gefragt haben. Auch Radbruch antwortete unverzüglich am 3 November 1940.24 Er ist ihm sehr dankbar dafür, dass er ihm das ARSP „eröffnen“ wolle, wie er es Emge auch hoch anrechnet, dass er Darmstaedter noch so lange am Archiv mitarbeiten ließ. Eine Publikation ihres Briefwechsels, den Emge auch vorgeschlagen hatte, hält Radbruch für ausgeschlossen. Dankbar wäre er, wenn sein Buch „Elegantiae Juris Criminalis“, das 1938 in Basel erschienen war, im Archiv besprochen werden könnte. Dieser Bitte kam Emge nach: Eugen Wohlhaupter durfte Radbruchs „Elegantiae iuris criminalis“ 1940 in Band 34 des ARSP rezensieren.25 1941 hatte Radbruch in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht eine Arbeit über Johann von Schwarzenberg veröffentlicht.26 Ich vermute, dass aus dieser Beschäftigung der Aufsatz für das ARSP entsprang. Jedenfalls wurde der Beitrag über den von Schwarzenberg verdeutschten Cicero im ARSP Heft 1/1942 veröffentlicht. Am 12. Oktober 1942 bedankte sich Radbruch für die große Zahl von „Sonderabdrucken“ und kommentierte eine Arbeit von Emge.27 Am 14.10.1942 schickte Emge an Radbruch eine Karte, in der er ihn aufforderte, etwas „Grundsätzliches“ für das ARSP zu schreiben. Da muss Radbruch eine Absage erteilen, in einem Brief an Emge vom 1. November 1942: er sei mit historischen Stoffen beschäftigt.28 Belustigt
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Arthur Kaufmann, Göttingen 1968, 44–49 (45). Er spricht dort (S. 44) von einer „sehr guten menschlichen Beziehung zu Radbruch“. C.A. Emge, Sicherheit und Gerechtigkeit – ihre gemeinsame metajuristische Wurzel, Berlin 1940 (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1940, Philosophisch-historische Klasse, Nr. 9); zur Aufnahme in die Akademie vgl. auch Emge (Fn. 19), 79, 94. Ebd., 10, 13, 14, 17, 24, 27; die erste Erwähnung von Radbruch findet sich schon auf S. 3; übrigens erwähnt er u.a. auch die verfemten Leibholz und E. Husserl. Darauf bezieht sich wohl Radbruchs Bemerkung in dem Brief an Emge („vorurteilslose Art Ihres Zitierens“); dies zu GRGA Bd. 18, 449: der Herausgeber meint, dies bezöge sich nur darauf, dass Radbruch angeführt werde. GRGA, Bd. 18, 165 f. (Zu den vermutlich übersandten Aufsätzen s. ebd., 449) GRGA, Bd. 18, 166 f. Radbruchs Buch war erschienen im Verlag für Recht und Gesellschaft, Basel/Leipzig 1938; die Rezension findet sich im ARSP 34 (1940), 187–191. Wohlhaupter merkt dazu an, dass die Radbruchschen Aufsätze „hier etwas spät zur Besprechung gelangen“ (S. 187). – Zu Wohlhaupter vgl. Rechtswissenschaft im NS-Staat – Der Fall Eugen Wohlhaupter, hg. von Hans Hattenhauer, Heidelberg 1987 und auch Radbruchs Schreiben an Wohlhaupter vom 24. März 1946, GRGA, Bd. 18, 247. Radbruch, Aus Lieb der Gerechtigkeit (Fn. 3) GRGA Bd. 18, 199 GRGA Bd. 18, 200 – Auf diese Einladung zur Mitarbeit am ARSP verweist Radbruch in einem
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wies Radbruch am Ende des Schreibens noch auf einen Druckfehler in seinem ARSPAufsatz hin, in dem statt von Eklektizismus von Elektrizismus die Rede ist. „Man ist bisweilen geistreich, ohne es zu wollen und zu wissen!“ Im Herbst 1943 schickte Emge seinen Aphorismen-Band Diesseits und jenseits des Unrechts aus dem ARSP von 1942 an Radbruch mit folgender Widmung29: „Wo Leben erstarrt, türmt sich das Gesetz“. (Nietzsche) ob aber dieses gesetz- und formlose das missing-link für jemanden darstellt? oder „un bel tacere“ vorzuziehen wäre? Denn der Rat „in verbis simus faciles“ ist gern befolgt worden. Es ist also in mehrfacher Hinsicht Nachsicht nötig des sehr verehrten Collegen Herrn Gustav Radbruch!
______________________________ in alter Verbundenheit überreicht vom Verf. Herbst 1943
Der Brief-Kontakt brach nicht ab. 1944 schickte Emge den Sonderdruck einer weiteren Abhandlungen für die Preußische Akademie („Über die Problematik im Begriffe der Situation“, 1944), für die sich Radbruch in einem Schreiben vom 14. Oktober 1944 bedankt.30 „Man muß sich angesichts der erschütternden Ereignisse mühsam zur Arbeit zwingen und weiß nicht, ob diese Arbeit in der kommenden Welt noch Geltung haben wird. Dennoch darf man die Hand nicht vom Pflug lassen.“ Auch nach dem Zusammenbruch der Hitler-Herrschaft blieben Radbruch und Emge in Kontakt. Emge wurde nach der Kapitulation von den Amerikanern inhaftiert wohl vor allem aufgrund seiner Position als Vize-Präsident der Akademie für Deutsches Recht (hinter Hans Frank) in den Jahren 1937 bis 1942. Der Frau Emges (Lona Emge) bot Radbruch einen Persilschein für ihren Mann an.31 Radbruch bat zu seinem 70. Geburtstag am 21. November 1948 auch Carl August Emge zu sich; bei der Ehrung durfte der dann neben dem Jubilar Platz nehmen.32 Bei dieser Gelegenheit überbrachte Ulrich Klug als dritter Vorsitzender der
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Sein Aufsatz über die Natur der Sache – also doch etwas „Grundsätzliches“ – solle in veränderter Gestalt im ARSP erscheinen – was allerdings nicht geschah. Gemeint ist vermutlich Radbruchs Aufsatz „La natura della cosa come forma giuridica di pensiero”, Rivista internazionale di filosofia del diritto, 21 (1942), 145–146 (bei Giuffrè, Milano). Eine erweiterte deutsche Fassung erschien dann in der Laun-Festschrift 1948. In diesem Band des ARSP war auch Radbruchs Aufsatz erschienen. – Eintragung im Exemplar aus den Beständen der Radbruch-Bibliothek, die ich Anfang der 1980er Jahre im Bundesministerium der Justiz in Bonn einsehen konnte. Zu weiteren Einzelheiten s. H. Rottleuthner, Substantieller Dezisionismus – Zur Funktion der Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus, in: Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, hg. von dems., ARSP Beiheft Nr. 18, Wiesbaden 1983, 20–35 (34). GRGA Bd. 18, 236 Beigefügt seinem Schreiben an Lona Emge vom 5. Juli 1944 (GRGA, Bd. 18, 241). – Für das spätere Spruchkammer-Verfahren hat Radbruch im März 1947 anscheinend eine weitere Erklärung verfasst (s. GRGA Bd. 18, 502). – Zu Emges Entnazifizierung s. Stefan K. Pinter, Zwischen Anhängerschaft und Kritik. Der Rechtsphilosoph C.A. Emge im Nationalsozialismus, jur. Diss. Berlin 1994, 90 ff. Emge (Fn. 20), 47: „Ich konnte, von ihm neben sich placiert, die Ehrungen vernehmen, Huldi-
Gustav Radbruch im Nationalsozialismus und im ARSP
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IVR deren herzliche Glückwünsche. „Er erinnerte daran, dass die Kontinuität der Veröffentlichungen Radbruchs im ‚Archiv‘ auch während der NS-Zeit gewahrt worden sei.“ (Tatsächlich gab es aber nur zwei Veröffentlichungen von Radbruch im Archiv.) – „Radbruch erwiderte, er sei für die Ehrung um so dankbarer, als das vor 1945 von dem Rechtsphilosophen Carl August Emge geleitete Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie die einzige deutsche Fachzeitschrift gewesen sei, die ihm während der NS-Diktatur ihre Spalten geöffnet habe.“33 Zum 70. Geburtstag von C.A.Emge gab Ulrich Klug eine Festschrift heraus – Philosophie und Recht34 –, in der Aphorismen und ein kurzes Fragment von Radbruch veröffentlicht wurden, die Lydia Radbruch dem Herausgeber zur Verfügung gestellt hatte.35 Im Jahr 1968, zwei Jahre vor seinem Tod, legte Emge in der Gedächtnisschrift für Radbruch noch ein „Bekenntnis zu Gustav Radbruch“ ab, in dem er die enge menschliche Beziehung zu Radbruch bis an sein Ende betonte.36 IV. ZUR ENTWICKLUNG
DES
ARSP
IN DER
NS-ZEIT37
Mit Heft 1 von Band XXVII, der im Oktober 1933 erschienen sein dürfte38, wurde das Archiv umbenannt: von Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, mit besonderer Berücksichtigung der Gesetzgebungsfragen, in Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Auch der Verlag wechselte vom Verlag Walther Rothschild, Berlin, zum Verlag für Staatswissenschaften und Geschichte, Berlin – wobei nicht klar ist, warum das so schnell geschah.39 Zu einem Wechsel der Herausgeber kam es dann erst ab April 1935.40 An die Stelle von Goetz Briefs, Wilhelm Sauer und Leopold Wenger trat nun allein Carl
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Radbruchs kann der heutige Leser vernehmen in GRGA, Bd. 16, 322 ff. – Ulrich Klug (zu ihm s. auch unten Fn. 63) schloss seine Erinnerungen an Emge (ARSP 72 [1986], 130–132 [132]) mit der Bemerkung, dass Emge das ARSP „unter Umgehung totalitärer Zensur NS-Verfolgten offenhielt. Friedrich Darmstaedter, Gustav Radbruch und andere haben es ihm nach der Befreiung von Hitler und seinen Komplizen gedankt.“ GRGA Bd. 16, 335 – Im Vorwort zur 2. Aufl. von Elegantiae iuris criminalis hob Radbruch hervor, dass die deutschen Zeitschriften sich ihm zwischen 1933 und 1945 „mit der rühmlichen Ausnahme des von Professor Emge geleiteten Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie“ verschlossen hätten. (GRGA Bd. 11, 429 f.) Wiesbaden 1960 Aphorismen über die Ungeduld (S. 51 f.); ein Fragment über den Intellektualismus (S. 53 ff.) – In der Festschrift tauchen auch Namen aus dem Kreis des ARSP auf: Friedrich Darmstaedter, Giorgio del Vecchio und Leopold von Wiese. Emge (Fn. 20) Zur Rolle des ARSP und insbes. von Carl August Emge, seines Herausgebers ab 1935, s. Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 2002, 1023–1037; nur kurz bei Gerhard Sprenger, Das Archiv für Rechts- und Sozial(Wirtschafts)philosophie als Zeit-Schrift des Rechtsdenkens 1907–1987, ARSP 73 (1987), 1–14 (9, 13). Mit wenigen Ausnahmen erschienen vier Hefte pro Jahr: H.1: Okt/Nov. – H.2 Jan-März – H.3 April/Mai – H.4 Juli/Aug. Tilitzki (Fn. 37), S. 1027
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August Emge. Der Soziologe Goetz Briefs (1.1.1889 – 1974)41 war als „Jude“ aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen worden und bereits im Sommer 1934 in die USA emigriert. Der österreichische Rechtshistoriker Leopold Wenger (4.9.1874 – 21.9.1953), Professor in München,42 übernahm 1935 eine Professur in Wien, blieb dem ARSP aber als Mit-Herausgeber erhalten. Das widerfuhr dem dritten und eigentlich verantwortlichen Herausgeber Wilhelm Sauer (1879– 1962) nicht. Er hatte sich zwar gleich 1933 bei den neuen Machthabern angedient mit einem Artikel in Heft 3/XXVII vom April 1933: „Die nationale Revolution im rechts- und sozialphilosophischen Licht“43; und dann im folgenden Band mit „Schöpferisches Volkstum als national- und weltpolitisches Prinzip. Zur Klärung der rechts- und sozialphilosophischen Grundlagen der nationalsozialistischen Bewegung“.44 Aber das half ihm nicht dagegen, dass er – wie er später in seiner Autobiographie schrieb45 – „unter unwürdigen Umständen entlassen“ wurde (und zum Sommer-Semester 1935 von Königsberg nach Münster versetzt wurde).46 Die Betrachtung spitzt sich erneut auf Carl August Emge zu als dem ab 1935 alleinigen Herausgeber des ARSP und als Vorsitzenden der IVR.47 Nur kurz einige berufliche Stationen: er hatte sich 1916 für Rechtsphilosophie und Bürgerliches Recht habilitiert. Von 1931 bis Dezember 1935 war er wissenschaftlicher Leiter des Nietzsche-Archivs in Weimar; am 1. März 1931 trat er in die NSDAP ein. Am 1. Oktober 1932 wurde er Kurator der Universität Jena, dort zum 1. April 1933 endlich zum ordentlichen Professor ernannt. In einem Artikel der Deutschen Richterzeitung aus dem Jahr 1933 wurde er als der „führende Vorkämpfer einer nationalsozialistischen Rechtsphilosophie“ bezeichnet.48 Zum 1. November 1934 übernahm er an der Berliner Universität als Nachfolger Stammlers den Lehrstuhl für Rechtsphiloso41 Seit 1926 Prof. für Sozialpolitik, Soziologie und Gewerkschaftswesen an der TU Berlin; Mitglied des Zentrums. 42 Seit 1909 Prof. München (Papyrusforschung und antike Rechtsgeschichte), 1935 Wien; 1938 von seinen Amtspflichten entbunden. 43 ARSP XXVI (1932/33), 453–455 44 ARSP XXVII (1933/34), 1–43; abgeschlossen am 1. August 1933. Der Untertitel entfällt in seinen späteren Bibliographien. Aus seinem Beitrag „Recht und Volksmoral im Führerstaat“, ARSP XXVIII (1934), 230–274 wird nach 1945 „Recht und Volksmoral“. Und sein Beitrag „Recht, Rasse, Volksmoral“, ARSP XXVIII (1934), 154–156 verschwindet komplett nach 1945 aus seinen Bibliographien. 45 W. Sauer, Leben und Lehre. Eine Selbstdarstellung als Lehrmittel und Zeitbild, Berlin 1958, 150. 46 Zur Versetzung s. Tilitzki (Fn. 37), 1023; zu W. Sauer s. die ziemlich unkritische Darstellung bei Christoph M. Scheuren-Brandes, Der Weg von nationalsozialistischen Rechtslehren zur Radbruchschen Formel, Paderborn 2006, S. 49–71. 47 Zu Emge s. vor allem Tilitzki (Fn. 37), S. 1023–1037; Hubert Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler, Hamburg 1974, insbes. 267 ff.; Pinter (Fn. 31). – Versuche einer inhaltlichen Beschäftigung mit Emges Rechtsphilosophie finden sich bei Hans Schröder, Rudolf Launs und C.A. Emges Rechtsphilosophie, ARSP 40 (1952/53), 115–128; Ulrich Klug, C.A. Emge, ARSP 72 (1986), 130–132; Hans Ryffel, C.A. Emges „Richtigkeitslehre“: Tragweite und Problematik, ARSP 58 (1972), 69– 96; Christian Tilitzki, Der Rechtsphilosoph Carl August Emge. Vom Schüler Hermann Cohens zum Stellvertreter Hans Franks, ARSP 89 (2003), 459–496. – Über eine Lokalisierung von Emges Philosophie in einem Irgendwie zwischen „absoluten Richtschnuren“ des „echt Gesollten“ und der aktuellen Gegebenheit der „Situation“ kommen diese Bemühungen nicht hinaus. 48 DRiZ (1933) 241 (zu Emges Vortrag „Aufgaben einer nationalsozialistischen Rechtsphiloso-
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phie (es handelte sich dabei um ein Berufungspaket zusammen mit Graf Gleispach und Carl Schmitt). – In Berlin machte sich Emge breit: 1934 wurde er stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Rechtsphilosophie der Akademie für Deutsches Recht (Vorsitzender war Hans Frank); im April 1935 wurde er alleiniger Herausgeber des ARSP und war Vorsitzender der IVR; ab August 1935 war er Vorsitzender des Ausschusses für Nationalitätenrecht der Akademie für Deutsches Recht.49 Im Oktober 1937 wurde Emge stellvertretender Präsident der Akademie für Deutsches Recht (weil er sich „schon frühzeitig der Bewegung angeschlossen und sich um sie verdient gemacht“ habe – wie es in der Begründung hieß50). Im September 1939 bevollmächtigte ihn Hans Frank, der mit anderen Angelegenheiten im Generalgouvernement beschäftigt war, mit der Führung der Geschäfte des Präsidenten der Akademie.51 Nach der Ablösung Franks durch Thierack (der im Sommer 1942 Reichsjustizminister geworden war) ließ sich Emge im Oktober 1942 von seinen Aufgaben in der Akademie entbinden. Im Frühjahr 1939 war Emge Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften geworden.52 Die Umstände der Übernahme des ARSP bleiben unklar. In seinen Erinnerungen von 1960 schreibt Emge, dass er das ARSP „auf Wunsch von Walther Rothschild und dem neuen Verleger, dem Schweizer Auckenthaler, einem Neffen unseres verehrten Frankfurter philosophischen Lehrers Cornelius, übernehmen musste“.53 Emge vermerkt dort auch stolz, dass er das ARSP und die IVR ohne „Gleichschaltung“ hatte durchhalten können. Aber warum sollte eine Gleichschaltung nötig sein, wenn man doch einen alten Kämpfer, Partei-Mitglied seit 1931, auf die Spitzenpositionen plazieren konnte? Emge betonte später, dass keinem Mitglied der IVR auch nur angedeutet worden sei, „jener ominöser Gesetze wegen auszuscheiden“54. Das war auch gar nicht nötig: der Mitherausgeber Goetz Briefs verließ als Jude Deutschland 1934. Der (jüdische) Mitbegründer des Archivs, Fritz Berolzheimer (Herausgeber von Bd. I bis XIII), wird als solcher noch bis 1937/38 (Bd. XXXI)55 neben Josef Kohler auf dem Titelblatt aufgeführt; mit Heft 2 von Bd. 32 (März 1939) entfällt die Erwähnung der beiden Begründer. In Band XXXIII (1939/40) wird im Innern des Heftes nur noch Kohler als Begründer des ARSP erwähnt.56 Emge teilte später57 mit, dass es ihm gelungen sei, die IVR ohne Statutenänderungen fortzuführen, obwohl er dauernd dazu gedrängt wurde. Zum Lobpreis des ARSP (und seiner selbst) vermerkte Emge: „Radbruch schickte noch zuletzt einen Beitrag; v.Wiese war zu engerer Mitwirkung aufgefordert worden. Auch unser Gießener Habilitationsvater Fischer wirkte weiter unter den Editoren mit. Hier fand man freilich vorübergehend auch andere Namen, deren Träger aber niemals darauf einzu49 Tilitzki (Fn. 37), 1032 ff. 50 Vgl. H.-R. Pichinot, Die Akademie für Deutsches Recht, jur. Diss. Kiel 1981, 97, 111, 121. 51 C.A. Emge, Die rechtspolitische Arbeit der Akademie für Deutsches Recht im Kriege, ZAkDR (1939) 661–664. 52 Vgl. Emge (Fn. 19), 79, 94 und den oben (Fn. 21) erwähnten Akademie-Beitrag. 53 Emge, ebd. 84 (Hervorhebung von mir, H.R.) 54 Ebd. – S. dazu auch den Brief Emges an May von 1955 bei Pinter (Fn. 31), 84. 55 Darin auch S. VIII die Ehrenliste der verstorbenen Herausgeber (Kohler, Berolzheimer, Zitelmann, Peter Klein, v. Wieser). 56 Ehrenliste in Bd. XXXIII, 214. Diese Seite fehlt im Reprint; angeblich waren die S. 215/216 leer und wurden deshalb nicht reproduziert. Darüber ging wohl auch die S. 214 verloren.
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wirken suchten.“58 Neben die Mitwirkung von Radbruch und von Wiese verweist Emge auch auf die von del Vecchio.59 Und immer wieder erwähnt Emge den ARSPBand (XXXV/2) von 1942 mit seinen Aphorismen, die ihn als widerständig zeigen sollen.60 Da ist etwas dran. Die Beiträge im ARSP sind zwar nicht kritisch, gar systemkritisch; das wäre unmöglich gewesen. Viele Beiträge sind von einer schon aufreizenden Neutralität.61 Und Emge hat zahlreichen nicht-konformen Autoren Publikationsmöglichkeiten im ARSP geboten. Tilitzki62 führt folgende Namen an: Heinrich Scholz, Günther Jacoby, Heinz Maus, Gerhard Weisser, Ulrich Klug63, Arthur Wegner, Eugen Wohlhaupter, Julius Ebbinghaus, Karl Petraschek und weitere katholische Denker, Gustav Radbruch, Gerhard Stammler (der der Bekennenden Kirche nahe stehende Sohn Rudolf Stammlers), Friedrich Lenz. – Das „Lehrbuch der Rechtsphilosophie“ von G. del Vecchio ließ Emge als Beiheft 34 (1937) des ARSP von dem „nicht-arischen“ Friedrich Darmstaedter übersetzen. Das erfährt man aber erst in der 2. Aufl. von 1951; in der ersten Auflage ist überhaupt kein Übersetzer erwähnt, wie es ja überhaupt darin sehr „anonym“ zuging64. Statt dessen schwärmte Emge im Vorwort von seiner Begegnung mit dem Duce. Das konnte er auch später nicht lassen.65 Im ARSP ging es durchaus „bunt“ zu. Schriftleiter war ab Bd. XXX (1936/37) Otto von Schweinichen (1911–1938), den Emge wohl aus Tagen in Jena als dortigen NS-Studentenbundführer kannte. Schweinichen trat am 1. Mai 1931 in die NSDAP ein. In Berlin wurde er zum engsten Schüler Emges. Seine Habilitation bei Emge in Berlin scheiterte am Widerstand von Rektor und Fakultät.66 Von Schweinichen starb am 25. August 1938. Emge lässt es in späteren Erinnerungen offen, ob Schweinichen sich selbst tötete oder einem Fememord zum Opfer fiel.67 An seine Stelle als Schriftleiter trat ab Anfang September 1938 Jürgen von Kempski (1911–1998). Der war vor 1933 linker Studentenpolitiker in Freiburg. Ab Oktober 1940 firmierte er als Mitherausgeber des ARSP neben Emge. Er trat 1939 in die Dienste des Auswärtigen Amtes 58 Emge (Fn. 19), 84 59 Emge (Fn. 20), 46 60 Z.B. Emge (Fn. 19), 39, 75; Emge (Fn. 20), 46; vgl. auch Klug (Fn. 47), 130; Tilitzki (Fn. 37), 1031 f. 61 Ausgerechnet im letzten Heft des ARSP von 1944 finden sich statt markiger Durchhalteappelle Beiträge zur aristotelischen Theorie der modalen Schlüsse, zum Problem des Intensionalen in der Logik und zur Theorie empirischer Sätze. 62 Tilitzki (Fn. 37), 1029 f.; Tilitzki, Der Rechtsphilosoph (Fn. 47), 481 63 Ulrich Klug (1913–1993) promovierte 1938 bei Karl Klee in Berlin (GRGA, Bd. 16, 462); die weitere akademische Karriere, d.h. die Habilitation bei Emge, scheiterte, weil Klug – obwohl Parteimitglied seit 1. Mai 1933 – mit einer „Halbjüdin“ liiert war (vgl. Tilitzki (Fn. 37), 1025 f.). – Tilitzki behauptet, dass Klug bei Emge promovierte (so auch Tilitzki, Der Rechtsphilosoph (Fn. 47), 479). Sollte dies nicht zutreffen, war der einzige Doktorand bei Emge Werner Gornikkel, geb. 1911, SS-Obersturmführer im RSHA, ab 1943 SS-Hauptsturmführer, Promotion 1943 (vgl. Tilitzki (Fn. 37), 1025 f.). 64 S.o. zu Fn. 15 zum anonymen Beitrag von Radbruch. 65 Emge (Fn. 19), 74 66 Tilitzki (Fn. 37), 1025 67 Emge (Fn. 19), 90. – Ein Nachruf von Emge (als C.A. Engel im Inhaltsverzeichnis!?) erschien in
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als Referent am Deutschen Institut für Außenpolitische Forschung in Berlin (–1945), war stellvertretender Hauptschriftleiter von „Auswärtige Politik“ (1942–1945).68 Bemerkenswert am ARSP neben der relativen personellen Offenheit sind die Interdisziplinarität und Internationalität. Ich will und kann das nicht an den einzelnen Beiträgen zeigen, sondern möchte den Blick richten auf die Personen, von denen es heißt, dass „in Verbindung mit“ oder später „unter Mitarbeit von“69 ihnen das ARSP herausgegeben worden sei von Carl August Emge und später auch von Jürgen von Kempski. Unter diesen „Mit-Herausgebern“ finden sich Rechtshistoriker wie Hans Fehr und Leopold Wenger, Zivilrechtler wie Ernst Heymann und Hans Albrecht Fischer. Bei diesen beiden ist eine Erklärung für die Aufnahme in den Mit-Herausgeber-Kreis einfach. Heymann (1870–1946) war der akademische Lehrer von Emge in Marburg70, bei Fischer hatte sich Emge habilitiert.71 Paul Ritterbusch (1900–26.4.1945) war im Oktober 1933 ordentlicher Professor in Königsberg geworden; im Oktober 1935 erhielt er in Kiel eine ordentliche Professur für Verfassungs-, Verwaltungs-, Völkerrecht und Rechtsphilosophie. Er war wohl eher hochschulpolitisch tätig (1937–1941 als Rektor der Kieler Universität und ab Mai 1941 als Ministerialdirigent im Kultusministerium in Berlin berufen. Warum er im letzten Band des ARSP 1944 nicht mehr aufgeführt wird, kann ich nicht erklären. Schließlich ist der Kölner Soziologe Leopold von Wiese zu erwähnen, der auch seine Schwierigkeiten im Dritten Reich hatte.72 Ansonsten nahm Emge mit seiner Herausgeberschaft die bekannten Rechtsphilosophen Roscoe Pound und Rudolf Stammler in den Kreis des ARSP auf. Julius Binder kam mit Bd. XXIX (Ende 1935) hinzu. Karl Larenz mit Bd. XXX (Ende 1936). Mit Band 32 (1938/39) kommt es im Herbst 1938 zu einer beachtlichen Internationalisierung. Neben den Deutschen Ebbinghaus, Fischer und von Wiese tauchen nun Fachvertreter aus Italien, Portugal, Spanien und Belgien auf. (Der Schweizer Fehr, der US-Amerikaner Pound und der Österreicher Wenger gehörten ja schon seit 1935 dazu.) Zu den ausländischen Mit-Herausgebern möchte ich noch ein wenig erzählen. Zu den Rechtshistorikern Hans Fehr und Leopold Wenger wäre allenfalls zu fragen, was sie in den Kreis der Herausgeber oder Mit-Herausgeber gebracht haben mag; ihr allgemeines wissenschaftliches Renommee, bei Fehr vielleicht auch seine
68 Tilitzki (Fn. 37), 1027; J.v. Kempski, Gefährdung der Wissenschaft durch die politische Macht. Reflexionen zum Schicksal der Wissenschaft im Dritten Reich, in: Wissenschaftliche Verantwortung und politische Macht, hg. von Klaus Jürgen Gantzel, Berlin/Hamburg 1986, 427–441 und das Personenregister 451. 69 Ab Bd. 28 (1934/35): „in Verbindung mit …“, ab Bd. 33 (1939/40): „unter Mitarbeit von ..“. 70 Emge (Fn. 19), 47, 91. Nach 1933 schwang er sich zu Emges wichtigstem Fürsprecher an der Berliner Fakultät auf (so Tilitzki, Der Rechtsphilosoph (Fn. 47), 464. 71 Hans Albrecht Fischer, 31. Mai 1874– 21. Okt. 1942. Nachruf von Hedemann in ARSP 36 (1943), 309–313. Fischer war Zivilist, obwohl er Nachfolger auf den Lehrstühlen von Binder und Stammler wurde: 1903 ao. Prof. Rostock (Nachfolger Binders); 1909 Gießen, Halle 1916 (Nachfolger Stammlers), Jena 1918, Breslau 1929. Zum Habilitationsverfahren vgl. Tilitzki, Der Rechtsphilosoph (Fn. 47), 465 f. 72 S. seine Erinnerungen, Köln u. Opladen 1957, insbes. 63 ff. – Von Wiese schrieb zahlreiche Beiträge für das ARSP: XXXI, 3 u. XXXII; XXIV; XXV (1942), 34–54 (Das Problem einer Ethik auf
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kunsttheoretischen Interessen.73 Nach 1945 wird Fehr, aber nicht Wenger – warum auch immer – wieder in den Mit-Herausgeberkreis aufgenommen. Der erste ausländische Rechtsphilosoph im weiteren Herausgeberkreis war Roscoe Pound (27.10.1870–1964), Professor in Harvard seit 1916 und dort lange Jahre auch Dean der Law School. Zeitgleich mit Emge gelangte er in den Herausgeberkreis des ARSP. Pound war wohl germanophil; er war des Deutschen mächtig.74 Mit Eintritt der USA in den Krieg verschwindet Pound als Mitarbeiter in Bd. XXXIV (1940/41). Beim Wiedererscheinen des ARSP mit Bd. XXXVIII (1949/50) taucht er erneut im Kreis der Mit-Herausgeber auf.75 Weniger bekannt dürften heute bei uns die ausländischen Philosophen und Rechtsphilosophen sein, die mit Heft 2 oder 3 von Bd. XXXII (also im ersten Halbjahr 1939) in den Mit-Herausgeberkreis aufgenommen wurden: Felice Battaglia (1902–1977) war seit 1938 Professor für “Filosofia morale“ an der philosophischen Fakultät der Universität in Bologna und lehrte zeitweise zugleich Rechtsphilosophie an der juristischen Fakultät. Von ihm stammt ein dreibändiger Corso di filosofia del diritto aus den Jahren 1940/41. In der Zeit des Faschismus hatte er über Thomasius und Staatstheoretisches publiziert.76 Kontinuierlich ist er nach 1948 im Mit-Herausgeberkreis des ARSP vertreten. Battaglia starb 1977 hochgeehrt. Ein weiterer Bezug zu Radbruch ergibt sich über Luis Cabral de Moncada (1888– 1974), Professor in Coimbra. Er hatte 1933 Radbruchs „Rechtsphilosophie“ von 1932 ins Portugiesische übersetzt. Dafür bedankte sich Radbruch in einem Schreiben vom 11. August 1934 bei ihm: „Solches Interesse im Ausland ist ein wohltuender Ersatz dafür, daß meiner Wirksamkeit im eigenen Land ein Ende gesetzt ist.“77 1937 hielt Moncada in Berlin einen Vortrag „Der deutsche Idealismus in der portugiesischen Rechtsphilosophie“.78 Bei dieser Gelegenheit dürfte Moncada seine Beziehung zu Carl Schmitt (und vielleicht auch die zu Emge79) vertieft ha73 74 75 76
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(1874–1961) Nach einer akademischen Karriere in Deutschland (Habil. 1904 in Leipzig, 1912 o.Prof. Halle, 1917 Heidelberg) ging Fehr in sein Heimatland nach Bern, wo er 1944 emeritiert wurde. N.E.H. Hull, Roscoe Pound and Karl Llewellyn. Searching for an American Jurisprudence, Chicago/ London 1997, 46, Fn. 40. Bis Bd. XLIX (1963); im folgenden Band von 1964 bis Bd. LIII (1967) wird er als verstorbener Mitarbeiter aufgeführt. 1936: Christiano Thomasio, Filosofo e giurista; 1939: Scritti di teoria dello Stato; 1940: Corso di filosofia del diritto (2 vol.) (3. vol. 1941); 1942: Il dogma della personalità giuridica dello Stato; 1948: Il valore nella storia (s. Franco Polato, La bibliografia degli scritti di Felice Battaglia, Bologna: Ediz. Clueb, 1987). – Als Felix Battaglia (Siena) wird er von Emge, Sicherheit und Gerechtigkeit (Fn. 21), 19 angeführt; s. auch dort S. 3. Dazu s. Erik Jayme, Luis Cabral de Moncada (1888–1974) und seine Beziehungen zu Deutschland, in: Deutsch-Lusitanische Rechtstage. Symposium in Heidelberg 1991, hg. von dems., BadenBaden 1993, 15–36. Zur Radbruch-Übersetzung und zu dem Dankesschreiben Radbruchs, 18 f. – Ein weiteres Schreiben Radbruchs an Moncada vom 30. April 1948 ist dort S. 19 abgedruckt. Erschienen in Europäische Revue 1938. Die Beziehung zwischen Emge und Carl Schmitt lohnte eine detaillierte Aufarbeitung, allein schon unter dem wissenschaftspsychologischen Gesichtspunkt des Zusammentreffens zweier Ober-Narzissen in einer Fakultät. Emge war kein Freund von Schmitts „Freund-Feind“-Definition des Politischen (Nachweise bei Tilitzki, Der Rechtsphilosoph (Fn. 47), 492). Emge gab
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ben.80 Moncada veröffentlichte noch 1944 und 1945 eine zweibändige Ausgabe seiner Übersetzung von Radbruchs Rechtsphilosophie.81 Wenig vermag ich zu sagen über Alfonso Garcia Valdecasas (1904–1993). Bei ihm dürfte es sich um einen überzeugten Franquisten gehandelt haben, der zunächst in Granada, dann in San Sebastian lehrte. Im letzten Band des ARSP vor Kriegsende (Bd. XXXVII, 1944) erscheint er nicht mehr unter den Mit-Herausgebern. Auch danach scheint es keine Verbindung mehr zum ARSP gegeben zu haben. Die abenteuerlichste Gestalt ist wohl Hermann Jan (auch Jean, Melania) de Vleeschauwer (1899–1986): Promotion 1923; schon 1925 Professor für Logik, Metaphysik und Moderne Philosophie in Gent bis 1945. Berühmt geworden ist er mit seinem Werk La déduction transcendentale dans l’oeuvre de Kant (1934–37), dann mit L’Évolution de la pensée Kantienne (1939, engl. Üb. The Development of Kantian Thought: The History of a Doctrine, 1962); er war ab 1939 Mitherausgeber der Tijdschrift voor Philosophie. Der große Kant-Interpret wurde in der belgischen Kollaborationsverwaltung nach 1940 als Chef des belgischen Bildungswesens tätig82; dafür wurde er 1946 von einem belgischen Militärgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt; 1947 gelang ihm die Flucht in die Schweiz, von dort setzte er sich 1950 nach Südafrika ab, wo er Professor an der University of South Africa (Pretoria) wurde. Er organisierte philosophische Kongresse83 und als die Kantstudien 1954 wieder erschienen, war er gleich als Autor und als Herausgeber dabei. Mit Carl August Emge als Herausgeber bietet das ARSP in brauner Zeit ein erstaunlich buntes Bild. Dieser „ungewöhnlich eitle Mann“ und „konstitutionelle Opportunist“84 hielt ein breites Spektrum für Mitarbeiter und Themen offen, in das auch Gustav Radbruch noch hineinpasste. Die Analyse des ARSP in der NS-Zeit
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schon vor Emges Entlassung als stellvertretender Präsident der Akademie für Deutsches Recht zum 30. September 1942, kühlte die Beziehung zu Schmitt ab. Vgl. dazu die Ausführungen von Reinhard Mehring in diesem Heft S. 51 ff. Zur engen Beziehung Moncadas zu Carl Schmitt s. Jayme (Fn. 77), 24. Schmitt hielt am 16. Mai 1944 einen Vortrag in Coimbra („Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“), mit dem er auch in anderen Ländern auftrat (vgl. C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, Berlin 1958, 426, auch mit Hinweis auf Moncada). Eine ähnliche Reisetätigkeit in den besetzten Gebieten entfaltete anscheinend auch Emge (vgl. Tilitzki, Der Rechtsphilosoph (Fn. 47), 488). Vgl. Luis Cabral de Moncada, Zur Geschichte der Philosophie in Portugal im XX. Jahrhundert, ARSP 46 (1960), 375–389; darin S. 380 f. zu seiner eigenen Rolle. Archie L. Dick, Scholarship, identity and lies: the political life of H. J. de Vleeschauwer, 1940– 1955, Kleio 34 (2002), 5–27; zur Kollaboration S. 10 ff. Demnach war Vleeschauwer für die gesamte belgische Bildungspolitik unter der deutschen Militärverwaltung zuständig (einschließlich der Arbeitsdienstverpflichtungen für angehende Studenten). Nach Tilitzki (Fn. 37), 1109 war er für Schulpolitik verantwortlich; nach G.A. Rauche, Philosophy/Wysbegeerte, South African Journal of Philosophy, vol. 8, no.3/4, Nov. 1989, 123–128 (124)) war er seit 1940 Generaldirektor der tertiären Bildungsverwaltung. Rauche erwähnt in seiner Hagiographie die Verurteilung mit keinem Wort. Vgl. z.B. den Bericht über den zweiten South African Congress for the advancement of philosophy in Pretoria 1953 in Philosophy and Phenomenological Research Vol. 14 (1953), 137. So Tilitzki, Der Rechtsphilosoph (Fn. 47), 459 und 478. Tilitzki spricht auch von einer „proteischen Existenz“ 2002 (Fn. 37), 1032; 2003 (Fn. 47), 484). Proteus verfügte über die Gabe der Wandelbarkeit und der Prophetie. Wandelbar, opportunistisch war Emge sicherlich. Aber auch vorausschauend? Konnte er voraussehen, dass er sieben Jahre nach der Veröffentlichung von
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zeigt überdies, dass es eine Fülle von Rechtsphilosophen im Nationalsozialismus gab, aber keine Rechtsphilosophie des Nationalsozialismus.85
85 Vgl. dazu meine Rezension von Imke Schröder, Zur Legitimationsfunktion der Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus. Kontinuität und Diskontinuität rechtsphilosophischer Lehren zwischen Weimarer Republik und NS-Zeit, 2002 und des Buches von Bleckmann (Fn. 5), ARSP
XXVII (33/34)
XXVIII (34/35)
XXIX (35/36)
XXX (36/37)
XXXI (37/38)
gest. 25.8.38
XXXII (38/39)
gest. 28.8.39
gest. 25.4.38
XXXIII (39/40)
XXXIV (40/41)
XXXV (1942)
gest. 21.10.38
XXXVI (1943)
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XXXVII (1944)
ab Bd. XXXVIII (1949/50) herausgegeben „in Verbindung mit ….“ = den markierten Personen und zusätzlich von Rudolf Laun u. Theodor Viehweg
Verlag für Staatswissenschaften und Geschichte, Berlin Albert Limbach Verlag, BerlinWien-Braunschweig
Verlag
W.Sauer Otto v. Schweinichen J.v.Kempski
Schriftleiter/-walter
H.Fehr, Bern E.Heymann, Berlin R.Pound, Cambridge, Mass. P.Ritterbusch, Königsbg/Kiel R.Stammler, Wernigerode L.Wenger, München/Wien J.Binder, Göttingen/München K.Larenz, Kiel F.Battaglia, Bologna J.Ebbinghaus, Rostock/Marbg H.A.Fischer, Breslau L.C.de Moncada, Coimbra A.G.Valdecasas, San Sebastian H.J. de Vleeschauwer, Gent L.v.Wiese, Köln
in Verbindung mit/unter Mitarbeit von:
L.Wenger, München W.Sauer, Königsberg G.Briefs, Berlin C.A.Emge, Berlin J.v.Kempski
Herausgeber
ARSP 1933–1944
Gustav Radbruch im Nationalsozialismus und im ARSP
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ALEXANDER SOMEK, BERLIN RECHTSDYNAMIK
FÜR
EILIGE – HANS KELSEN
ÜBER
GEWALTENTEILUNG
I. DER TEXT Kelsens Aufsatz über Gewaltenteilung aus dem Jahr 19241 enthält einen Aufriss seiner gesamten Rechtslehre. Der Text beginnt mit einer Verbeugung vor Kant. Er endet mit Abbruch – gerade so, als habe Kelsen die letzten Seiten unwillig streichen müssen. Man mutmaßt, ihm seien Kürzungen abverlangt worden. Anders wäre nicht einzusehen, weshalb er gerade dann, wenn er zum richterlichen Prüfungsrecht kommt, erklärt, auf „diese Lehre von der Trennung der Gewalten“ soll nicht mehr eingegangen werden. Der thematische Zusammenhang des Textes ist zumindest verwegen. In den Eingangspassagen geht es ums Thema. Gegen Ende werden – weit abseits vom Thema – Grundlagenfragen des Völkerrechts erörtert. Das vermittelnde Glied zwischen Anfang und Ende ist Kelsens Theorie. Stilistisch nahm Kelsen Luhmann vorweg. Jedes Thema ist willkommener Anlass zur Reformation der Theorie. Nicht die Sache, sondern die Theorie weist den Weg von A nach B. Auf wenigen Seiten findet man ein staccato von Kelsens Positionen und Begriffen: das methodische Vertrauen auf die desillusionierende Kraft der begrifflichen Klärung, die Skepsis gegenüber der Naturrechtslehre, die ideologiekritische Dimension, Kernthesen des Rechtspositivismus sowie Liebkinder der Kelsenliteratur wie die Grundnorm. Ob Kelsens Text wegen der mannigfaltigen Exkurse und Abschweifungen in Zeiten des strengen peer reviews veröffentlicht werden könnte, darf bezweifelt werden. Kelsen würden wohl Revisionen aufgetragen werden. In mancherlei Hinsicht ist der Aufsatz historisch bemerkenswert. Zum einen findet sich der wiederholte Hinweis (ohne Fußnote2) auf die „herrschende Lehre“, welche die Verwaltung im rechtsfreien Raum agieren sieht, zum anderen die Bezugnahme auf die von Kelsen unermüdlich bekämpfte Lehre, wonach der Staat nicht von der Rechtsordnung verschieden sei. Zur historischen Erkundung von Kelsens zeitgenössischer Staatslehre fühle ich mich nicht berufen; nicht bloß deswegen nicht, weil mir dies zu aufwändig erschiene (dies ohnedies), sondern weil ich vermute, dass Kelsens Text einen anderen Interpretationsansatz verdient und erfordert. Wer Kelsen von innen verstehen will, muss sein Ausgangsproblem rekonstruieren. Dazu ist Kelsen so weit wie möglich darin zu folgen, die Antwort auf ein historisch vorgegebenes Problem in einer systematisch vermittelten Neubeschreibung des Phänomens zu vermuten. Kelsen untersucht die Gewaltenteilung aus systematischer Perspektive, indem er historisch vorgefundene Begriffsbildungen beiseite schiebt. Interessanter Weise wird er gerade dadurch dem Problem historisch gerecht.
1
Siehe Hans Kelsen, Die Lehre von den drei Gewalten oder Funktionen des Staates, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 17 (1923/24) 374–408. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Werk.
Alexander Somek
118 II. VON
DER
SOUVERÄNITÄT
ZUR SYSTEMATISCHEN
NORMERZEUGUNG
Kelsen deutet an, dass die überlieferte Lehre von der Teilung der Gewalten noch Züge der Mischverfassungstheorie trägt. Zumindest schreibt er Kant die Auffassung zu, wonach die Gewalten drei voneinander verschiedenen „moralischen Personen“ zuzuordnen seien (375).3 Aber was Kant dachte oder Kelsen Kant gedacht zu haben dachte, ist unerheblich. Wesentlich ist, dass Kelsen den Unterschied unterstreicht zwischen einer vorverfassungsrechtlichen Weise, über Gewalten zu denken, und dem aus rechtswissenschaftlicher Sicht durch die Teilung der Gewalten aufgeworfenen Problem. Die Mischverfassungstheorie geht von drei autochthonen Konstituenten der Verfassung aus. In der Verfassung stellt sich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Monarch, Adel und den Vielen her. Hätte ich eine Vorliebe für den Gebrauch systemtheoretischer Begrifflichkeit, würde ich behaupten, dass die Mischverfassungstheorie die Verfassung heterarchisch konzipiert.4 Denn jede Gewalt hat ihre eigene Verfassung, mit der sie an einem Ausgleich partizipiert, und aus deren Sicht die Vorteile der Partizipation der anderen Gewalten verständlich werden. Es gibt, um einen Ausdruck aus der Kelsenschen Bundesstaatslehre aufzugreifen, keine Gesamtverfassung. Wie nicht zuletzt die englische Verfassungskontroverse mit Karl I. gezeigt hat, funktioniert die Mischverfassung auch nur so lange, als die Souveränitätsfrage nicht aufkommt.5 Diese Frage markiert einen Wendepunkt. Mit der Souveränität kann die öffentliche Gewalt unter einem einheitlichen Gesichtspunkt rechtlich reguliert werden. Es wird vorstellbar, dass es eine homogene Staatsgewalt gibt, die der normativen Kontrolle zugänglich ist.6 Wie bedeutend dieser Gedanke ist, wird nicht zuletzt an der Selbstverständlichkeit deutlich, mit der James Madison in den Federalist Papers die Kompetenzen des Bundes als amorphe „general mass of powers“ charakterisiert. Dieser Masse ist durch Gewaltenteilung erst Form zu verleihen.7 Das moderne Verfassungsrecht denkt vom Ganzen der Staatsgewalt zu den Teilen. Die Verfassung gliedert und gestaltet eine an sich homogene Gewalt. Die Mischverfassungslehre sieht die Gewalt aus dem gelungenen Zusammenspiel der heterogenen Teile hervorgehen. Es bedarf nicht der Hervorhebung, dass wohl kaum ein anderer Gedanke in der europäischen Verfassungsgeschichte eine bedeutendere Rolle gespielt hat als jener
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Ich meine, dass Kelsen Kant in diesem Punkt nicht richtig deutet. Kant spricht davon, dass der Staat den allgemeinen Willen in dreifacher Person enthält. Das lässt sich so verstehen, dass der einheitliche Wille des Staates in drei verschiedenen Masken auftritt. Siehe Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Werke in zwölf Bänden, hrsg. W. Weischedel, Frankfurt/Main 1968, Bd. 8, 431 (§ 45). Würde ich dieser Vorliebe fröhnen, würde ich sagen, dass das wechselseitige Koordinationsverhältnis, das Kant für die Gewalten vorschwebte, eine solche „heterarchische“ Sichtweise zum Ausdruck bringt. Siehe Kant (Fn. 3) 434–435 (§ 48). Glenn Burgess, Absolute Monarchy and the Stuart Constitution, New Haven 1996. Siehe Dieter Grimm, The Constitution in the Process of Denationalization, Constellations 12 (2005) 447–463. Siehe auch Martin Loughlin, The Idea of Public Law, Oxford 2003, 75, 87.
Rechtsdynamik für Eilige – Hans Kelsen über Gewaltenteilung
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der gemischten Verfassung.8 Gleichwohl lässt sich das moderne Verfassungsrecht als Versuch verstehen, diese Verfassungskonzeption zu überwinden. Souveränität spielt in Kelsens Lehre nicht die Rolle der ungebundenen und vorgeblich unwiderstehlichen Handlungsmacht des Staates. Eine Rolle spielt sie dennoch. Kelsen eignet sich den Souveränitätsgedanken in normativer Form an, indem er behauptet, dass die von der traditionellen Staatslehre behauptete vorgebliche Allmacht des Staates nur den ideologisch verschobenen Ausdruck des nicht weiter ableitbaren Geltungsanspruchs des Rechts als eines normativen Systems darstellt.9 Die Geltung der Rechtsordnung ist für Kelsen das normative Äquivalent der Staatsgewalt — oder vielmehr, dialektisch gewendet, die Wahrheit dieser Gewalt (375). Jellineks Vorstellung, der Staat habe „unwiderstehliche Willensmacht“, ist nach Kelsen empirisch fiktiv und nur ein verdrehter Ausdruck für das in einer Normenordnung zum Ausdruck kommende Sollen.10 Eine „Ursprünglichkeit“ der staatlichen Macht kann es in der Welt des kausalen Geschehens nicht geben. Die Glorifizierung der „Ursprünglichkeit“ staatlicher Macht kann nichts anderes sein als das Vestigium der relativen Souveränität der Staaten aufgrund des Völkerrechts (also der rechtlichen Unabgeleitetheit der Macht von Staaten).11 Nach Kelsen hat die Organisation staatlicher Macht durch ein System von Normen vermittelt zu sein. Effektivität ist Effektivität von etwas. Sie beruht auf Rechtsanwendung und Normbefolgung.12 Das Recht ist für die Macht der Organisation konstitutiv. Befehle müssen ausgeführt und Aufgabenbereiche beachtet werden. Zwar ist die Normbefolgung nicht durch Normen verursacht; aber die Effektivität des Systems bedarf neben einer außersystematischen Ursache auch des systematischen Zusammenhangs von Normen. Über die Motivation zur Normbefolgung erteilt die Rechtslehre keine Auskunft. Sie kann aber erklären, dass die Unteilbarkeit der Staatsgewalt durch die Einheit des Normensystems konstituiert ist, auf der sie basiert. Den zutreffenden Kern der Auffassung von der Unteilbarkeit der Staatsgewalt bildet nach Kelsen daher die Lehre von der Einheit und Unteilbarkeit der Geltung. Kelsens Problemstellung wird damit deutlich. Die empirische Teilbarkeit der Staatsgewalt wirft für Kelsen kein Problem auf. Es mag sein, dass ein Staat insofern eine gemischte Verfassung hat, als die Gesetzgebung von armen religiösen Fundamentalisten dominiert wird, während die Justiz am Gängelband der Wirtschaft hängt. Die Staatsmacht ist unter den Gruppen geteilt. Insofern kann Kelsen die Mischverfassungstheorie zulassen. Allerdings muss er die Schlussfolgerung zurückweisen, wonach die religiösen Fundamentalisten ihr Recht haben, während die Gerichtsbarkeit ein anderes Recht anwendet. Kelsen kann dies deswegen nicht akzeptieren, weil, wenn er es akzeptierte, die Frage, was in diesem oder jenem Fall gelte, beantwortet würde mit der Feststellung, dass für die Gesetzgebung x und für die Gerichtsbarkeit y gelte. Eine solche Aussage lasse sich aber nicht für ein- und dieselbe 8 9
Siehe Alois Riklin, Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt 2006. Siehe Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer reinen Rechtslehre, Tübingen 1920, 93. 10 Siehe Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchungen des Verhältnisses von Staat und Recht, Tübingen 1928, 82–83, 128. 11 Siehe ebd., 129–130.
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Rechtsordnung treffen: „[D]er Gedanke einer Teilung der Geltung aber [ist] ein Ungedanke“ (375). Weshalb es sich bei diesem Gedanken um einen „Ungedanken“ handeln soll, macht man sich am Besten am Beispiel des moralischen Relativismus verständlich. Wenn moralische Gebote bloß „subjektiv“ gelten, dann gelten die Gebote, die A für geboten hält, eben nur für A und die Gebote, die B für geboten hält, nur für B. Nicht aber gelten die Gebote von B für A und umgekehrt. Deren Geltung ist nicht objektiv. Sie ist bloß subjektiv. Sie ist nicht einheitlich für A und B. Um einheitlich zu sein, müsste die Geltung der Gebote „objektiv“ sein. Wenn die Geltung unabhängig vom Für-Verbindlich-Halten der Adressaten besteht, ist sie objektiv (401). Objektive Geltung ist auf wenigstens zwei Arten möglich: durch intuitive inhaltliche Übereinstimmung oder durch systematische Vermittlung auf der Grundlage eines Normensystems.13 Als Rechtspositivist entscheidet sich Kelsen für letzteres. Von der Geltung des Rechts (Singular!) kann nur die Rede sein, wenn diese durch einen einheitlichen Prozess der Rechtserzeugung vermittelt ist. III. WIE
UNTERSCHEIDEN?
Das ist es also, was man aus der Sicht der Reinen Rechtslehre vom Staat und dessen Gewalten zu Gesicht bekommt: den systematisch vermittelten Prozess der Rechtserzeugung. Die Frage, die sich Kelsen für sein Thema vorlegen muss, ist daher die, wie man angesichts dessen noch Unterschiede zwischen „Gewalten“ sehen könne. Der herkömmlichen Staatslehre hält Kelsen entgegen, dass sie nicht aufklären könne, worin das einheitsstiftende Moment der drei Gewalten bestehe (376). Kelsen ersetzt deren heterogenes Bild durch die „klare und energische Bestimmung des zugrundeliegenden Einheitsprinzips“ (376). Dieses Einheitsprinzip ist der sich selbst regulierende Prozess der Rechtserzeugung (382–3). Dieser Prozess ist hierarchisch gestuft gemessen an den bedingenden und bedingten Rechtssatzformen wie Verfassung, Gesetz und Urteil. Die Schaffung neuen Rechts beruht auf der Subordination der bedingten Rechtssatzform (z.B. dem Gesetz) unter eine andere sie bedingende Rechtssatzform (z.B. die Verfassung) (382). Das Gesetz wird gemäß der Verfassung erlassen. Das Gesetz ordnet sich der Verfassung unter, um von dieser mit der Würde des Geltens ausgestattet zu werden. Gleichwohl sind diese Stufen institutionell gesichtslos. Das Gesetz könnte von einem Gericht gesetzt werden (378). Die Kelsensche Rechtsdynamik impliziert die relationale Relativierung der Rechtssatzformen. Was das Gesetz zum Gesetz macht, ist sein Verhältnis zum Urteil und nicht die Eigenschaft des Organs, von dem es erlassen wird. Indem er sich über die an Institutionen orientierte Lehre von der Gewaltenteilung hinwegsetzt, verliert er den traditionellen Ansatzpunkt für die Teilung. Alle Akte sind relational bestimmt. Kelsen meint, den für eine Rekonstruktion der Funktionenordnung maßgeblichen Gesichtspunkt in den beiden Momenten des Rechtserzeugungsprozesses zu finden: in der legis latio und der legis executio. Später wird Kelsen jene als Rechtserzeu-
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gung und diese als Rechtsanwendung bezeichnen. Beide garantieren die systematische Einheit des Rechts. Die diesbezügliche Unterscheidung ist für Kelsen „das Rückgrad der Funktionentheorie“ (378). Rückblickend betrachtet ist das vom Ansatz her ein großer Schritt, den zu nehmen noch heute einige sich vornehmen. Ich erwähne bloß ein Beispiel. Der amerikanische Verwaltungsrechtler Edward Rubin hält die überkommene Drei- oder Vierteilung der Gewalten für ein begriffliches Konstrukt, das dazu angetan ist, den Blick auf die tatsächliche Funktionsweise des modernen, interaktiven Verwaltungsstaats zu verstellen.14 Vielmehr sei die Funktionsweise dieses Staats von Netzwerken geprägt, denen sowohl Gesetzgebung als auch Gerichte zugehören. Rubin kommt es, anders als Kelsen, allerdings darauf an, die Kommunikationsprozesse freizulegen, auf denen Regulierung basiert. Bei Kelsen liegt der Akzent freilich auf dem Normativen. Die Teilung der Gewalten orientiert sich bei ihm am Grad des rechtsschöpferischen Charakters von Rechtsakten. Die Teilung der Gewalten wird unscharf. Sie wird unscharf, weil sie tiefenscharf die Unschärfe des Rechtserzeugungsprozesses in sich aufnimmt. Der Grund der Unschärfe ist die unscharfe Relation zwischen Anwendung und Erzeugung. Auf der Grundlage des Stufenbaus der Rechtssatzformen kann die Gewaltenteilung nicht anders als hierarchisch ausfallen. Sie ist nicht heterarchisch. Die Gewalten stehen auf einer homogenen Grundlage. Sie sind nicht heterogen. Die überkommenen drei Funktionen werden von Kelsen als von der Rechtsordnung ausgezeichnete „relative Ruhepunkte“ des Rechtserzeugungsprozesses bezeichnet (398). Der Einbau der überkommenen drei Funktionen in den Neuansatz ist eine zu große Konzession an die Tradition. Mit ihr unterschreitet Kelsen die Leistungsfähigkeit der eigenen Begriffsbildung. Die Rechtssatzform der Gesetzgebung ist bestimmt durch ihre Subordination unter die Verfassung. Es ist aber denkbar, dass die Verfassung in bestimmten Bereichen die Gesetzgebung sehr dicht vorprogrammiert, während sie in anderen Bereichen sich einer über das Gesetzgebungsverfahren hinausgehenden Normierung enthält. Die Gesetzgebung müsste demnach gemessen an dem Grad der verfassungsgesetzlichen Determination in sich differenziert werden. Auf eine Überlegung dieser Art lässt sich Kelsen leider nicht ein. Er unterscheidet im Wesentlichen zwischen der Gesetzgebung einerseits und der Rechtsprechung und der Verwaltung andererseits. 1923/24 hebt Kelsen hervor, dass die Verwaltung, wenn sie Recht vollziehe, von der Justiz nur hinsichtlich der Stellung des vollziehenden Organs verschieden sei. Wenn sie bloß „rechtsinhaltlich“ als Staatshandeln auftrete, indem sogenannte Staatsorgane planend oder wirtschaftlich tätig werden, bewege sie sich – wie Private auch – innerhalb des Bereichs der legalen Rechtsbefolgung (390– 1).15 Rechtsbefolgung ist sanktionsvermeidendes Verhalten. Der Unterschied zwischen Rechtserzeugung und Rechtsbefolgung ist wesentlich, denn es ist zweifelsfrei eine Sache, die Anwendung von Normen auf einzelne Fälle zum Zweck der Tätigkeit zu machen, und eine ganz andere Sache, irgendeinen Zweck zu verfolgen und dabei bestimmte Regeln nicht zu verletzen. Es wäre so, also ob ich die Katalogisierung ei14 Siehe Edward L. Rubin, Beyond Camelot. Rethinking Law for the Modern State, Princeton – Oxford 2005, 48–66.
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ner Musikaufnahme, für deren Datensatz ich bestimmte Kriterien entwickelt habe, auf eine Ebene stellte mit einer Autofahrt, bei der ich die Regeln der Straßenverkehrsordnung einhalte. Darin erschöpft sich Kelsens Theorie der Funktionenordnung. Sie ist eine Anwendung der Theorie des Stufenbaus auf die überkommenen Gewalten. Sie ist wenig originell. Sie ist sogar enttäuschend. Aber sie wirft eine interessante Frage auf. Sie lautet, wie tragfähig die sie tragende Unterscheidung ist. IV. ANWENDUNG
UND
ERZEUGUNG
Die Unterscheidung zwischen Rechtserzeugung und Rechtsanwendung ist rätselhafter, als sie vielleicht anmuten mag. Zunächst ist es denkbar, sie rein extensional aufzufassen. Jede erfolgreiche Rechtsanwendung bringt eine neue Norm hervor. Die Rechtserzeugung ist eine Wirkung der Rechtsanwendung. Wenn die Rechtsanwendung gelingt, wird die Menge der Normen um eine weitere Norm vergrößert. So versteht Kelsen die Unterscheidung nicht. Vielmehr unterscheidet Kelsens dynamischer Ansatz am Prozess der Normerzeugung eine anwendende Dimension und eine erzeugende Dimension im engeren Sinne. Rechtserzeugung im weiteren Sinne Rechtsanwendung
Rechtserzeugung im engeren Sinne
Kelsen hält das, was an der Normerzeugung im weiteren Sinne die Dimension der Rechtsanwendung ausmacht, für ein analytisches Urteil im Verhältnis zur Norm. Die Rechtsanwendung ist ein Erläuterungsurteil.16 Die Anwendung expliziert die Bedeutung der Norm im Einzelfall. Unser Wissen über die Bedeutung der Norm wird durch sie nicht erweitert. Auch wird das Recht durch die Anwendung nicht konkretisiert. Es wird bloß reproduziert. Demgegenüber enthält die Rechtserzeugung im engeren Sinne – als die der Normanwendung komplementäre Leistung der Rechtserzeugung im weiteren Sinne – eine Synthese im Verhältnis zur angewendeten Norm. Da sie nicht vom Gefühl der Notwendigkeit begleitet wird, handelt es sich um keine Synthese a priori,17 aber immerhin um eine Synthese. Im Akt der Rechtserzeugung wird zur die Erzeugung ermöglichenden angewendeten Norm etwas hinzugefügt, das den Prozess der fortschreitenden Individualisierung und Konkretisierung des Rechts erklärt. Die Rechtserzeugung bewegt sich in dem Bereich, der vom Recht nicht determiniert ist. Bloß durch den Einbau nicht determinierter Elemente lässt sich das Recht konkretisieren (382) und damit inhaltlich erweitern.
16 Siehe Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 11.
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Kelsen bringt den relevanten Unterschied zum Ausdruck, indem er sagt, dass die Qualität eines Aktes, Rechtserzeugung oder Rechtsanwendung zu sein, abhängig ist „von dem Grad, in welchem die Funktion des den Akt setzenden Organs durch die Rechtsordnung vorausbestimmt ist.“18 Leider ist diese Erläuterung nicht aufschlussreich. Aufgrund von Kelsens Prämissen muss jeder Akt sowohl Rechtsanwendung als auch Rechtserzeugung im engeren Sinne sein. Man kann den Sachverhalt auch so ausdrücken, dass die Rechtserzeugung, um möglich zu sein, sich als durch Rechtsanwendung vermittelt begreifen muss. Nach dem von Kelsen nicht vertretenen extensionalen Verständnis ist jeder Akt der Rechtsanwendung, wenn man vom letzten Vollstreckungsakt absieht,19 notwendig auch ein Akt der Rechtserzeugung, weil neues Recht gesetzt wird. Aber selbst aufgrund der von Kelsen bevorzugten Lesart der Unterscheidung muss jede Rechtsanwendung rechtserzeugend sein, weil seines Erachtens das Recht nie ganz vorausbestimmt sein kann.20 Das ist ein allgemeiner Erfahrungssatz. Die Rechtssatzformen unterscheiden sich danach, wie stark oder wie schwach jeweils das eine oder das andere Element ausgeprägt ist. Kelsen lässt uns darüber im Unklaren, wie man sich die Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtserzeugung vorzustellen habe. Es ist beispielsweise nicht klar, worin bei der Nicht-Durchsetzung einer Verabredung über sexuelle Dienstleistungen unter Berufung auf die Nichtigkeitssanktion von Verstößen gegen die „guten Sitten“ das Element der Rechtsanwendung und worin genau das Element der Rechtserzeugung besteht. Durch die Nichtdurchsetzung einer solchen Verabredung wird „konkretisiert“, was gegen die „guten Sitten“ verstößt. Daran besteht kein Zweifel. Aber woran erkennt man die Rechtsanwendung? Woran die Rechtserzeugung? Wollte man Kelsens Kriterium für die Unterscheidung heranziehen, nämlich den „Grad“ der Vorausbestimmtheit, dann relativiert sich die Angelegenheit gemessen am Verständnis des rechtsanwendenden Organs. Für manche mag es klar erscheinen, dass die Prostitution gegen die guten Sitten verstößt. Der Eindruck solcher Klarheit wäre eine bedrückende Erfahrung für Kelsens Lehre. Denn wenn klar wäre, dass die Vereinbarung sexueller Dienstleistungen gegen die „guten Sitten“ verstößt, dann würde man nach dem rechtserzeugenden Element vergeblich suchen. Die Rechtsanwendung wäre ein analytisches Urteil. Das Recht reproduzierte sich ohne Konkretisierung. Aber auch wenn unklar wäre, ob sexuelle Dienstleistungen gegen die guten Sitten verstoßen, würde sich die Frage stellen, was – angesichts der Unklarheit – es ermöglichen sollte, einer diesbezüglichen Vereinbarung die Rechtswirkung zu versagen. Wie kommen „sexuelle Dienstleistungen“ in den „Verstoß gegen die
18 Siehe Kelsen (Fn.13) 241–242. 19 Über die von Kelsen behauptete mangelnde Normativität des letzten Vollstreckungsakts ließe sich durchaus länger tiefsinnig werden. Ich will die Diskussion damit nicht belasten. 20 Kelsen (Fn. 13) 250: „In dem Verfahren, in dem eine positive generelle Rechtsnorm individualisiert wird, muss das die generelle Rechtsnorm anwendende Organ stets Momente bestimmen, die in der generellen Rechtsnorm noch nicht bestimmt sind und nicht bestimmt sein können. Die generelle Rechtsnorm ist stets nur ein Rahmen, innerhalb dessen die individuelle Rechts-
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guten Sitten“ hinein? Sie subsumieren sich nicht von selbst, wenigstens dann nicht, wenn eine Interpretation vorauszusetzen ist.21 Es ist zu beachten, dass die gesuchte rechtserzeugende Synthese zwei Dimensionen hat. Einerseits fügt sie Einzelfall und Norm zur konkretisierenden Rechtsanwendung zusammen, obwohl diese Synthese nicht von der angewendeten Norm bewirkt wird; zweitens stellt sie auch (im Verein mit Verfahrensnormen) die Verbindung her zwischen der erzeugenden und der erzeugten Norm. Durch die letztere wird die Geltung der erzeugten Norm konstituiert. Damit die Rechtserzeugung sich auch als Rechtsanwendung begreifen kann, muss sie ein ihr eigentümliches synthetisches Prinzip voraussetzen. In der dynamischen Version von Kelsens Lehre fungiert die Ermächtigungsnorm als dieses synthetische Prinzip. Die rechtserzeugende Synthese lässt sich als Kompetenzausübung verstehen. Dieses Prinzip ist im besten Fall „schwach“ transzendental. Die Ermächtigungsnorm ist die Bedingung der Möglichkeit einer Rechtserzeugung, die eine Rechtsanwendung einschließt. Das Prinzip ist schwach transzendental, weil es beileibe nicht das einzig denkbare darstellt.22 Man mag etwa die gültige Rechtserzeugung von Bedingungen der Handlungsrationalität abhängig sehen. Nach Kelsen liefe dies wohl auf eine statische Betrachtung der relevanten Synthese hinaus. Die Ermächtigungsnorm zum Prinzip zu erheben, schließt eine bestimmte Deutung des Rechtsmaterials ein. Der unklare Zusammenhang zwischen Einzelfall und Norm – der Mangel an vorgängiger Synthese – ist als Bedingung der Möglichkeit einer Rechtserzeugung zu verstehen, die ebenso Rechtsanwendung ist. Der Mangel an vorgängiger Synthese markiert den Rahmen, innerhalb dessen sich die Synthese bewegen darf. Die unklare Extension von „gegen die guten Sitten“ ist Ausdruck der Ermächtigung, etwas als gegen die guten Sitten verstoßend zu deuten. Was der Rechtserzeugung insgesamt Einheit verschafft, ist die Einheit von Rechtserzeugung im engeren Sinne und Rechtsanwendung. Das Einheitsprinzip ist die Kompetenzausübung. Sie wird durch prozessuale Regeln determiniert und durch die anzuwendenden Verhaltensnormen limitiert. Die Kompetenz zur Rechtserzeugung würde überschritten, wenn ein Gericht den Kauf einer Tageszeitung als gegen die guten Sitten verstoßend klassifizierte. V. DAS FOLGEPROBLEM Aber Kompetenzgrenzen bestimmen sich nicht von selbst. Die Rechtserzeugung ist nur möglich, wenn sie die Bedingung identifiziert, unter der sie auch Rechtsanwen21 Ich folge hier, weil es bequem ist, der Wittgensteinschen Rechten, die annimmt, dass es Regelbefolgen gibt, das nicht auf einer Interpretation beruht. Hauptvertreter dieser Position sind Baker und Hacker. Siehe G.P. Baker & P.M.S. Hacker, Skepticism, Rules and Language, Oxford 1984. In der Rechtstheorie hat Dennis Patterson diese These vertreten. Siehe Dennis Patterson, Recht und Wahrheit, dt. Baden-Baden 1999. 22 Dieser Einwand wurde zunächst von Stanley L. Paulson gegen den mangelnden transzendentalen Charakter der Grundnorm erhoben. Siehe Stanley L. Paulson, Lässt sich die Reine Rechtslehre transzendental begründen?, Rechtstheorie 21 (1990), 155–179; ders., Die unterschiedlichen Formulierungen der ,Grundnorm‘, in: Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit (=FS Krawietz), hrsg. v.
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dung ist. Mit dem Prinzip der Kompetenzausübung ist also wenig gewonnen. Die Rechtserzeugung ist möglich aufgrund des Verfahrensrechts. Begrenzt wird sie durch dieses selbst und durch die Bedeutung einer allenfalls angewendeten Verhaltensnorm. Die Ausübung von Kompetenz ist daher nur denkbar, wenn man schon vorverstanden hat, was Rechtsanwendung ist (vor allem die Anwendung von prozeduralen Normen). Kompetenzausübung klärt den Begriff der Rechtsanwendung nicht auf. Sie setzt ihn vielmehr voraus. Aus diesem Dilemma lässt sich ein rechtsdynamischer Ausweg nur finden, indem man mit dem synthetischen Prinzip ernst macht. Die Bestimmung der Rechtsanwendung (d.h., der Grenzen der Kompetenzausübung) ist selbst als Kompetenzausübung zu verstehen. Damit wird die Bestimmung der Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtserzeugung im engeren Sinne im Einzelfall zu einer Angelegenheit, die dem sich selbst setzenden Prozess der Rechtserzeugung immanent ist. Die Umfangsbestimmung dessen, was als Rechtsanwendung gilt, ist somit als Produkt der Rechtserzeugung zu betrachten, die sich selbst unterscheidet in ein nicht determiniertes Element der Erzeugung und in das Element der Rechtsanwendung, das die Erzeugung ermöglicht. Letztlich gibt es also bloß einen Erzeugungsprozess, der seine eigenen Voraussetzungen setzt. Seine Existenz schließt ein solches Setzen ein. Die Analyse der Rechtssatzformen des Stufenbaus (Gesetz, Verordnung, Urteil) hebt den Raum hervor, welchen das nicht determinierte Element erhält. Das Element der Rechtsanwendung bleibt dabei abgedunkelt. Diese Asymmetrie verleiht der Reinen Rechtslehre einen nachgerade dekonstruktiven Zauber. Die Rechtsanwendung muss möglich sein. Ihre Möglichkeit ist notwendig. Ihre Realität beruht auf einer Setzung, deren Gründe letztlich ins Unbestimmte auslaufen. Vor dem Hintergrund von etwas Unbestimmtem erzeugt sich die Rechtserzeugung die sie ermöglichende Grenze zwischen Anwendung und Erzeugung im engeren Sinne. Dem ungeschulten Ohr mag das abstrakt klingen. Damit verbunden ist wenigstens ein konkretes Problem. Es ist altbekannt und markiert den Punkt, an dem Kelsens denkwürdiger Aufsatz abbricht. Unlängst hat Alex Stone Sweet diesem Problem den Namen „juridical coup d’État“ gegeben. Damit meint er eine fundamentale Veränderung der normativen Grundlagen des Rechtssystems durch die Verfassungsrechtsprechung.23 Ein Höchstgericht oder Verfassungsgericht beginnt, Grundrechte in der Verfassung zu entdecken, obwohl der Text der Verfassung dafür keinen Anhaltspunkt bietet. Die Gesetzgebung findet sich mit Ermessensbegrenzungen konfrontiert, die aus dem Verfassungstext bislang nicht ablesbar waren. Man mag dem Verfassungsgericht entgegenhalten, dass es mit solchen Weistümern den Boden der Anwendung von Verfassungsrecht verlassen habe. Kelsen war solcher Wandlungsprozesse gewahr. Er nahm sie gelassen hin. (406– 407): Die als ‚Verfassungswandlung‘ bezeichnete Tatsache, dass sich die Handhabung der Verfassungsnormen allmählich und unmerklich dadurch ändert, dass den unverändert bleibenden Worten des Verfassungstextes ein anderer als der ursprüngliche Sinn beigelegt, oder dass sich eine zum Wortlaut in jedem möglichen Sinne der Verfassung in Widerspruch stehende Praxis bildet, ist 23 Alex Stone Sweet, The Juridical Coup d’État and the Problem of Authority, German Law Journal
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kein, den Verfassungsnormen spezifischer [sic], sondern ein auf allen Rechtsgebieten zu beobachtendes Phänomen.
In der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre spricht Kelsen aus, dass es höchste Organe geben müsse, deren Zuständigkeit nicht mehr durch noch höhere Organe überprüft werden könne:24 Sie erweisen sich als höchste Organe dadurch, dass die von ihnen gesetzten Normen im großen und ganzen wirksam sind. Denn dann wird die sie zur Setzung dieser Normen ermächtigende Norm als gültige Verfassung vorausgesetzt.
Es sieht so aus, als meinte Kelsen, dass es letztlich eine Frage der Effektivität sei, welche Akte die höchsten Organe als Akte der Rechtsanwendung ansehen. Aber so einfach ist das nicht. Das Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit, vor dessen Hintergrund die Bestimmung der Rechtsanwendung abläuft, ist ein vertracktes. Nehmen wir an, ein rechtsanwendendes Organ gelangt zur Überzeugung, jegliche Vereinbarung von sexuellen Dienstleistungen sei für nichtig zu erklären, weil solche Vereinbarungen gegen die guten Sitten verstoßen. Das Organ mag glauben, dass es von Rechts wegen verpflichtet sei, Nichtigkeitserklärungen dieser Art auszusprechen. Dieser Glaube ist naiv. Aus der Sicht der Kelsenschen Theorie verhält es sich so, dass das Organ seine Ermächtigung gebraucht, seinen Glauben zu Recht zu machen. Es ist unter der Bedingung dazu ermächtigt, dass aus der Sicht des Appellationsorgans sich von Rechts wegen kein Einwand dagegen erheben lässt, die Vereinbarung von sexuellen Dienstleistungen als gegen die guten Sitten verstoßend zu deuten. Das Appellationsorgan bestimmt für das untergeordnete Organ, was es bedeutet, sich bei der Rechtserzeugung im Rahmen der Rechtsanwendung zu bewegen. Die Schwierigkeit beginnt dann, wenn das Appellationsorgan sich in seiner Bestimmung des „Rahmens“ gültiger Rechtsanwendung über bestehende Konventionen hinwegsetzt. Was bleibt von der Normativität der Normen, wenn das Appellationsorgan den Ankauf der Berliner Morgenpost für einen Verstoß gegen die guten Sitten hält? VI. LASS DICH
ÜBERRASCHEN
Man mag geneigt sein, die Normativität der Normen in Regeln des Sprachgebrauchs zu verankern, und daraufhin schließen, dass semantisch absurde Rechtsanwendungen nichtig sein müssen. Das Appellationsorgan würde folglich nicht Recht sprechen, wenn es den Kauf der Berliner Morgenpost als gegen die guten Sitten verstoßend judizierte. Ich habe Zweifel, ob Kelsen mit dieser Antwort zufrieden gewesen wäre. Nach Kelsen müsste man schrittweise vorgehen: 1. Die rechtsanwendenden Organe können kraft positiven Rechts nur dann Rechtsakte setzen, wenn diese auf generellen Normen beruhen. 2. Diese Bedingung gilt auch für das Appellationsorgan.
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3. Sollte ein Akt des Appellationsorgans aus der Sicht der Normadressaten dieser Bedingung nicht genügen, ist der Akt als (absolut) nichtig zu betrachten. 4. Untergeordnete Organe, die Akte setzen, welche der Auffassung des Appellationsorgans widersprechen, müssen damit rechnen, ihre Akte durch das Appellationsorgan für nichtig erklärt zu erhalten. Es ist zu erwarten, dass die Normadressaten und die subordinierten Organe in der Regel aus Gründen der Klugheit der Auffassung des Appellationsorgans folgen werden. Die Auffassung des übergeordneten Organs wird – und das ist der entscheidende Gesichtspunkt – von ihnen so behandelt, als ob sie gilt.25 Präziser gesagt bestimmt nicht die Auslegung der Norm durch das Appellationsorgan die Norm, sondern jene weitere Norm, wonach man dessen Auslegung folgen soll. Ob eine solche Norm Bestandteil eine Rechtsordnung ist, ist eine quaestio facti. Ihre positive Beantwortung wirft die quaestio iuris auf, ob eine Regel dieser Art von der Verfassung autorisiert ist. Stone Sweet dürfte vermuten, dass richterliche Coups die Grundnorm der Verfassung ändern, insofern sie das Rechtssystem inhaltlich auf eine Weise verändern, die vom ursprünglichen Rechtserzeugungssystem nicht antizipiert gewesen war.26 Aber das ist nicht der entscheidende Gesichtspunkt. Die Verhältnisbestimmung von Anwendung und Erzeugung ist dem Rechtserzeugungsprozess immanent. Wesentlich ist, dass vorgebliche richterliche Coups dann geltendes Recht darstellen, wenn die Verfassung die Gerichte dazu ermächtigt, ihre Bestimmung des Umfangs der Rechtsanwendung als geltendes Recht zu setzen. Man mag geneigt sein, diese Kompetenz im Begriff der höchsten richterlichen Instanz enthalten zu sehen. Aber damit würde eine zweifelhafte begriffliche Notwendigkeit unterstellt. Zu demselben Ergebnis lässt sich auf anderen Wegen gelangen. Erstens ist wenigstens ungewiss, ob durch „überraschende“ gerichtliche Rechtserzeugung – sie ist beim EuGH notorisch – überhaupt die Kontinuität der Verfassung gebrochen wird. Einerseits mag man annehmen, dass, sobald die subordinierten Organe aus Gründen der Klugheit die Divinationen der höchsten Gerichte für geltendes Recht nehmen, die Verfassung um eine Erzeugungsregel ergänzt wird, die besagt, dass das höchste Gericht der Verfassung derogieren darf, wenn es vorgibt, die Verfassung anzuwenden. Das ist eine präzisere Formulierung dessen, was Stone Sweet als „Änderung der Grundnorm“ vorschwebt. Andererseits ist aber nicht zu entscheiden, ob eine solche Regel, sobald der ersten Erleuchtung des Verfassungsgerichts gefolgt wird, nicht ohnedies schon in der Verfassung enthalten war. Es lässt sich behaupten, dass diese bereits vorhandene Regel bloß zum ersten Mal angewendet wird. Insofern muss von einem Kontinuitätsbruch nicht im Entferntesten die Rede sein. Zweitens aber ist fraglich, ob ein Rechtssystem des Kelsenschen Typs überhaupt effektiv sein könnte, wenn es im Verhältnis zwischen subordinierten und superordinierten Organen nicht eine Regel zur Auflösung von Konflikten enthielte. Wenn die subordinierten Organe den schrägen Rechtsauffassungen des Appellationsorgans nicht folgen, droht das Rechtssystem auseinanderzufallen oder in einer Pattsituation zu verharren. Man mag daraus schließen, dass jeder Prozess der Rechtserzeugung 25 Dies ist übrigens der Art und Weise analog, wie Normenkonflikte gelöst werden.
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eine Regel zur Auflösung solcher Konflikte vorzusehen hat, weil andernfalls die Kontinuität des Prozesses nicht garantiert wäre. Die effektive Kontinuität ist eine Bedingung, wenn auch nicht der Grund, der Geltung. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass unter quasi-transzendentalen Vorzeichen es irgendeine Regel zur Auflösung der Pattsituation geben müsse, weil andernfalls das Rechtssystem nicht möglich wäre. Jedes Rechtssystem hätte somit eine Blankoermächtigung enthalten, eine auflösende Regel einzuführen, sofern man als Organwalter de facto die Autorität dazu hat, unabhängig davon, um was für eine Regel es sich handelt (man könnte das Obergericht auch an die Untergerichte binden, womit sich das Subordinationsverhältnis freilich umkehrte). Allerdings handelt es sich dabei letztlich um eine reine Konstruktionsfrage. Ob man Kontinuität oder Diskontinuität annimmt, ist eine Sache des Temperaments (sie ist insofern der Frage, welche Form des Monismus man bevorzugt, nicht unähnlich).27 Jedenfalls bestimmt die Effektivität dessen, was als Normanwendung aufgefasst wird, den Inhalt der geltenden Norm. Nichts gilt, ohne in einer bestimmten Bedeutung zu gelten. Daraus folgt nicht, dass nach Kelsen Geltung und Effektivität zusammenfallen. Die für die Geltung maßgebliche Effektivität einer Normauslegung unterscheidet sich von der Effektivität der Normen dadurch, in jener „reflective critical attitude“28 manifest zu sein, mit der Organe menschliches Verhalten im Hinblick auf anzuwendende Normen beurteilen. Es ist möglich, dass beide auseinanderfallen. Alle Organe mögen darüber Einverständnis haben, dass Abmachungen über sexuelle Dienstleistungen nach geltendem Recht gegen die guten Sitten verstoßen, aber niemand mag die Norm anwenden, weil sie allen hoffungslos veraltet erscheint. VII. ZWEIFACH
GRUNDLOSE
GELTUNG
Der Rechtserzeugungsprozess wird von Kelsen in Anschluss an Adolf Julius Merkl29 als Stufenbau gedacht. Die hierarchisch übergeordnete Norm umschreibt einen Tatbestand, der vorliegen muss, damit eine hierarchisch untergeordnete Norm erzeugt werden kann. Menschliche Akte erhalten damit ein Janusgesicht. Aus der Sicht der erzeugenden Norm sind bestimmte Handlungen rechtserzeugende Tatbestände. Sind diese Tatbestände geltungsbegründend gesetzt worden, erscheinen sie aus der Sicht der nächsten subordinierten Stufe als Norm (400). Ebene n ↓ Tatbestand Norm ↑ Ebene n+2 27 Siehe Kelsen (Fn. 13) 343–344. 28 H.L.A. Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. Oxford 1994, 57, 98. 29 Adolf J. Merkl, Prolegomena zu einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Gesellschaft, Staat und Recht (FS Kelsen), 1931, hier zitiert nach H. Klecatsky – R. Marcic – H. Schambeck (Hrsg.),
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Damit wird deutlich, weshalb der Tatbestand, dass die subordinierten Organe den schrägen Auffassungen des Appellationsorgans folgen, sich systemimmanent als Erzeugungsnorm darstellen muss. Sonst hätte die Praxis aus der Sicht derer, die sie für verbindlich halten, keinen Grund. Der Grund ist eine Rechtserzeugungsregel, der sie folgen. Die Grundnorm begründet die Einheit der Rechtsordnung in ihrer Selbstbewegung (399). Indem sie die Geltung der Verfassung begründet, stellt sie sich als erste Kompetenznorm dar. Sie besagt, dass wer auch immer die historisch erste Verfassung erließ, dazu ermächtigt war. Als erste Kompetenznorm repräsentiert sie die Kontinuität des Rechtserzeugungsprozesses und insoweit auch den Grund für die Unterscheidung zwischen Rechtserzeugung und Rechtsanwendung. Die Grundnorm ist Norm, ohne auf der Erfüllung eines Tatbestands einer noch höherrangigeren Norm zu basieren. Sie ist bloß Norm für die untergeordneten Normen, ohne aufgrund einer anderen Norm gesetzt worden zu sein. Norm ↑ Ebene 1 Über die Grundnorm und ihren Gehalt ist viel geschrieben worden.30 Ich will zu dieser Literatur keinen Beitrag leisten, sondern abschließend eine Deutung vorschlagen, die – zugegeben – an Hart gemahnt. Die Grundnorm gibt eine notwendige Effektivitätsbedingung als (unzureichende) Geltungsbedingung aus. Damit kontinuierliche Normerzeugung und damit die Effektivität der Rechtsordnung möglich sein kann, sind Rechtsnormen von den rechtsanwendenden Organen so zu behandeln, als ob sie gelten. Kelsen hat das Pferd beim Schwanz aufgezäumt, als er sagte, sobald man eine im großen und ganzen effektive Zwangsordnung vor sich habe, sei eine Grundnorm vorauszusetzen, damit diese Zwangsordnung sich als etwas Normatives beschreiben lasse. Dahinter verbirgt sich eine Verwechslung von Grund und Folge, die sogar Kelsen selbst am soziologischen Staatsbegriff gerügt hatte. Eine Rechtsordnung wäre als soziales Phänomen nicht zu haben (und also ineffektiv), wenn sie nicht als ein geltendes normatives System behandelt würde.31 Selbstverständlich ist die Grundnorm keine soziale Regel. Insoweit man Geltung als Verbindlichkeit versteht,32 ist sie vielmehr ein tiefsinniges Symbol für die Grundlosigkeit der Rechtsgeltung. Sie anzunehmen korrespondiert dem normativ grundlosen sozialen Einverständnis darüber, dass man dem Recht folgen soll. Ermöglicht wird die Existenz einer Rechtsordnung indes auch durch grundloses Einverständnis darüber, dass Akte der Rechtserzeugung sich in bestimmter Hinsicht als Akte der Anwendung verstehen lassen. Indem die Grundnorm dem Rechtserzeu30 Für eine glänzende Darstellung der unterschiedlichen Versionen der Grundnorm in Kelsens Lehre siehe unlängst Stanley L. Paulson, Ralf Dreiers Kelsen, in: R. Alexy (Hrsg.), Integratives Verstehen. Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, Tübingen 2007, 159–197. Siehe auch die Hinweise bei Sylvie Delacroix, Hart’s and Kelsen’s Concept of Normativity Contrasted, Ratio Iuris 17 (2004) 501–520. 31 Siehe Kelsen (Fn. 10) 83. 32 Für eine Einführung in Kelsens methodologisches Normativitätsverständnis siehe Stanley L.
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gungsprozess Einheit verleiht, steht sie nicht bloß an dessen hierarchischer Spitze, um gleich einer Billardkugel diesen Prozess anzustoßen, sondern garantiert auch dessen Kontinuität. Ein Rechtssystem a la Kelsen ist nur möglich, wie wir gesehen haben, wenn Akte objektiv als Akte der Rechtsanwendung bestimmt werden können. Die Bestimmung solcher Akte ist dem Prozesses immanent. Die Möglichkeit, dass dabei Einverständnis bestehen kann, wird ebenfalls durch die Grundnorm bezeichnet. Die Grundnorm betrifft die Geltungsbegründung also auch beim Geltungstransfer zwischen den Stufen. In beiderlei Hinsicht ist wesentlich zu sehen, was die Grundnorm nicht ist. Sie ist nicht ein Äquivalent des Sozialkontrakts oder der Vernunftidee des ursprünglichen Kontrakts. Letztere Vorstellung charakterisiert Kelsen als „primitive Form der Darstellung“, die dem individualistischen Prinzip huldigt, wonach ein Mensch nur soll, was er will (400–401). Hinter dem Sozialkontrakt stehe diese weitere inhaltliche Norm, durch welche alle Geltung subjektiviert werde. Worauf es aber ankomme, sei die objektive, vom „Wünschen und Wollen der Unterworfenen unabhängige Geltung der sozialen Ordnung“ (401). Die Grundnorm ist das Symbol dafür. Die Grundnorm ist aber auch nicht die pouvoir constituant im Sinne der Nation, die faktisch die Verfassung autorisiert oder auch vermöge ihrer Homogenität den Eindruck der Kontinuität des Rechtserzeugungsprozesses sichert. Die Grundnorm ist nicht Ausdruck des Wollens, sondern ein bloßer Gedanke. VIII. SCHLUSS Auf dem Grund des Geltungsanspruchs des Rechts herrscht tiefe Leere. Oberflächlich verspricht Kelsens Lehre Nüchternheit. Was sie darüber hinaus noch bietet, ist bodenloser Pessimismus.
ROLF GRÖSCHNER, JENA ARTHUR KAUFMANN, ÜBER RECHTSWISSENSCHAFT
DIE
WISSENSCHAFTLICHKEIT
DER
Mit dem Untertitel „Ansätze zu einer Konvergenztheorie der Wahrheit“ hat Arthur Kaufmann einen anderen Akzent gesetzt als mit dem Titel seines Aufsatzes. Während „Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft“ ein Thema von bleibender Aktualität anspricht, erinnert der Untertitel an eine Debatte der 80er Jahre, in der es um die Konsenstheorie der Wahrheit und eine ihr (mehr oder weniger) entsprechende Diskurstheorie des Rechts gegangen ist. Die betreffenden Theorien werden in der zweiten Hälfte des Beitrags mit kritischem Respekt diskutiert und konvergenztheoretisch modifiziert:1 „Es ist richtig: Wahrheit entsteht im Diskurs, im Dialog. Aber sie entsteht nicht, jedenfalls nicht ausschließlich, durch Diskurs“.2 Als „transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Wahrheitsgewinnung“ sei vielmehr „eine Mehrheit voneinander unabhängiger Erkenntnisse verschiedener Personen von demselben Gegenstand“ erforderlich. Die anzustrebende „Konvergenz“ verlange die „Ineinssetzung verschiedener, von verschiedenen Subjekten herrührender und untereinander unabhängiger Erkenntnisse von demselben Seienden“, basierend auf einem „pragmatischen Fallibilismus“, der „im Konvergenzpunkt der falliblen Meinungen ein sachliches Wissen“ postuliert (das „nicht substantiell mißzuverstehen“ sei).3 Da dieses wahrheitstheoretische Postulat philosophisch problematischer erscheint als die wissenschaftstheoretische Position, die in der ersten Hälfte des Beitrags vertreten wird, verschieben die folgenden Ausführungen den Akzent von der Wahrheits- auf die Wissenschaftstheorie, und zwar in Übereinstimmung mit dem Titel des zu referierenden Aufsatzes. Das wissenschaftstheoretische Potential der Kaufmannschen Position (I.) ist stark genug, um eine Reihe von Konsequenzen für die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz ziehen zu können (II.) – der „Jurisprudenz“ wohlgemerkt, nicht der „Rechtswissenschaft“. Diesen Akzent setzt der Referent als eigenen. I. WISSENSCHAFTSTHEORETISCHES POTENTIAL
DER
KAUFMANNSCHEN POSITION
1. Erkennen und Verstehen „Das Subjekt-Objekt-Schema, wonach wissenschaftliche Erkenntnis eine möglichst subjektfreie Erfassung des vom Bewußtsein unabhängigen, ihm entgegen-stehenden Objekts ist, gilt ja, wie heute kaum mehr angezweifelt wird, in den Verstehenswissenschaften nicht. Hier ist die Erkenntnis immer auch Produkt des Erkennenden“.4 1
2 3
Kaufmann, Über die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, ARSP 72 (1986), 433–442. Diskutiert werden namentlich Jürgen Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984, 127 ff. und Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978. Kaufmann (Fn. 1), 440 (Kursivierung im Original) Kaufmann (Fn. 1), 441 (Kursivierungen im Original)
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Rolf Gröschner
Wer die Festschrift kennt, die Winfried Hassemer zum 60. Geburtstag Arthur Kaufmanns herausgegeben und mit einem programmatischen Beitrag eingeleitet hat, weiß um die Bedeutung der Hermeneutik in Kaufmanns rechtsdogmatischem und rechtsphilosophischem Œuvre5: Hermeneutik war für ihn „nicht eine Wissenschaft, sondern eine Struktur jeder Wissenschaft“.6 Insoweit folgte er – als Hermeneutiker möchte man sagen selbstverständlich – Hans-Georg Gadamer, dessen „Wahrheit und Methode“ Kaufmann in seiner „Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart“ als „das weltweit führende Werk“ bezeichnet.7 Als Programm verstanden besagt der Titel dieses Werkes von Weltrang: „Wahrheit“ ist keine Frage der „Methode“. In den bekannten Worten der Einleitung: „Das hermeneutische Phänomen ist ursprünglich überhaupt kein Methodenproblem. Es geht in ihm nicht um eine Methode des Verstehens, durch die Texte einer wissenschaftlichen Erkenntnis so unterworfen werden, wie alle sonstigen Erfahrungsgegenstände“, sondern um „Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt“.8 Diesbezüglich ist der Referent geneigt, eine methodisch kontrollierbare „Wahrheitstheorie“ hermeneutisch zum hoffnungslosen Unterfangen zu erklären.9 Auch deshalb die hier vorgenommene Akzentverschiebung. In Fortsetzung der zitierten Passage heißt es, von einer dem Subjekt der Erkenntnis entgegenstehenden „objektiven Welt“ könne auch in den Naturwissenschaften nicht mehr die Rede sein. So ist es: Relativitätstheorie und Unschärferelation schließen einen naiven Objektivismus aus und verlangen danach, den Beitrag des Subjekts zur Erkenntnis ausdrücklich zu thematisieren. Denn Versuchsanordnungen präjudizieren die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Experimente in vergleichbarer Weise wie Präjudizien die Ergebnisse juristischer Urteile.10 Was dies für die induktive Methode als solche bedeutet, darf man mit Kaufmann getrost dahingestellt sein lassen, weil es – mit oder ohne Poppers Induktionsverbot – eine schlichte Themaverfehlung wäre, die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft am naturwissenschaftlichen Methodenmodell messen zu wollen.11 Aus demselben Grunde versagt auch die Gegenstrategie, die Rechtswissenschaft more mathematico in das Methodenkorsett einer deduktiven Wissenschaft zu zwängen: „Rechtsfindung ist kein rein subsumierender Schluß vom Obersatz (Norm) auf den Untersatz (Fall), sondern ein sehr viel komplexerer Vorgang. Das ist in der modernen Methodenlehre fast allgemein anerkannt, wennschon es Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, welche Struktur dieser Vorgang hat. Jedenfalls: Mit reiner Deduktion geht es im Recht nicht“.12
5
Winfried Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, 1 ff.: „Die Hermeneutik im Werk Arthur Kaufmanns“ 6 Hassemer (Fn. 5), 2 7 Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, 100, Fn. 246 8 Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 1, 1999, 1 9 Warum Kaufmann Gadamer insoweit nicht gefolgt ist, kann nur vermutet werden: weil die ontologische Prägung ursprünglicher war als die spätere „Entdeckung“ der Hermeneutik: Hassemer (Fn. 5), 3. 10 Grundlegend: Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970 11 Kaufmann (Fn. 1), 426 in Auseinandersetzung mit Poppers Logik der Forschung, 7. Aufl. 1982
Arthur Kaufmann, Über die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft
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Bevor diese Erkenntnis zu (fast) allgemeiner Anerkennung in der juristischen Methodenlehre gelangt ist, war „Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik“ unter dieser Überschrift in „Wahrheit und Methode“ zum Thema der Philosophie gemacht worden.13 Dort ist die „Konkretisierung des Gesetzes“ als Aufgabe der „Applikation“ ebenso klar formuliert wie die Zurückweisung der Fehlvorstellung einer syllogistischen Logik der Subsumtion: „Die Idee einer vollkommenen Rechtsdogmatik, durch die jedes Urteil ein bloßer Subsumtionsakt würde, ist unhaltbar“.14 Ein halbes Jahrhundert später nennt man den von Gadamer so prominent beschriebenen „hermeneutischen Zirkel“15 zwar lieber und wohl auch treffender eine „hermeneutische Spirale“,16 in der notwendigen Vermittlungsleistung zwischen den traditionell so genannten Aufgaben der „Auslegung“ und „Anwendung“ eines Gesetzes hat Gadamer die Juristen aber gewissermaßen mit ihren eigenen Waffen geschlagen: Ohne interpretatorische Vermittlung des Gesetzes mit dem Fall und des Falles mit dem Gesetz keine sachgerechte Entscheidung.17 2. Verstand und Vernunft Wenn die Rechtswissenschaft ihre Wissenschaftlichkeit weder durch Induktionen nach naturwissenschaftlichem noch durch Deduktionen nach mathematischem Modell sicherstellen kann, kommt sie nicht umhin, sich ihrer eigenen Rationalität zu vergewissern. Dazu, so Kaufmanns weiterer Gedankengang, „ist vor allem eine Unterscheidung vonnöten, die in der Philosophie eine feste Tradition hat: die Unterscheidung von Verstand und Vernunft“.18 „Verstand – das ist die διανοια, die ratio – meint die analysierende, zergliedernde, diskursive und in diesem Sinne rationale Geistestätigkeit, nach Kant das Vermögen der Begriffe, nach Hegel das abstrahierende, fixierende und isolierende Denken. Vernunft – nou`", intellectus – dagegen kennzeichnet die oberste, auf den Zusammenhang und die Einheit des Wissens abzielende Vollzugsweise des menschlichen Geistes, das Vermögen der Ideen, um mit Kant zu sprechen, das dialektische Erfassen der Ganzheit, wie es im Sprachgebrauch Hegels heißt“.
Ein schlechter Hermeneutiker, der den Verstand gegen die Vernunft, das isolierende gegen das ganzheitliche Denken und die abstrakten gegen die konkreten Begriffe (im Hegelschen Sinne19) ausspielen würde. Zurecht weist Kaufmann daher ein einseitig „rationalistisches“ Wissenschaftsverständnis zurück, das sich am Ideal einer exakten, mathematisierten Naturwissenschaft orientiert, „in der nach Möglichkeit nur noch 13 Gadamer (Fn. 8), 330 ff. 14 Gadamer (Fn. 8), 335. Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999, 1, schreibt dazu treffend, dieses Methodenverständnis habe „im Positivismus des 19. Jahrhunderts seine Wurzeln“; hinter ihm stehe als „Ideologie“ das Bestreben, „die Rechtswissenschaft als eine echte Wissenschaft zu begründen“. 15 Gadamer (Fn. 8), 270 ff. 16 Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann (Fn. 7), 102, Fn. 254, nennen Hassemer als Erfinder der „hermeneutischen Spirale“. 17 Zu dieser hermeneutischen Vermittlungsleistung eingehend: Rolf Gröschner, Das Hermeneutische der juristischen Hermeneutik, Juristenzeitung 1982, 622–626 18 Dieses und das folgende Zitat: Kaufmann (Fn. 1), 428 19 Rolf Gröschner, Wer denkt abstrakt? Rechtsphilosophische Reflexionen über einen Aufsatz des
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Rolf Gröschner
gerechnet, nicht aber gesprochen wird“.20 Ein wenig rechtshistorische Allgemeinbildung genügt, um die Sentenz „argumenta sunt ponderanda, non numeranda“ als prinzipielle Zurückweisung allen Rechnens in der Dogmatik des klassischen römischen Rechts deuten zu können. Was zu Zeiten Roms galt, gilt aber im Prinzip noch heute: Recht wird gesprochen; es lebt nicht in Zahlen, sondern in Sprache; seine Dolmetscher sind wahre Hermeneutiker, Botschafter der nur sprachlich zu begreifenden Welt des Rechts.21 Selbstverständlich setzt die Rechtssprache analytische Fähigkeiten des Verstandes voraus, klare und distinkte Unterscheidungen zu treffen und einen scharfen Schnitt etwa zwischen „24 Uhr“ und „0 Uhr“ zu legen. Juristen sind sogar in der Lage, die Zeit zwischen den beiden Zeitpunkten, die den Ablauf des alten und den Anfang des neuen Tages markieren, mit einem eigenen Namen zu versehen: mit dem der „juristischen Sekunde“.22 Ein sprechender Beleg für die Behauptung, daß Juristen nicht rechnen, sondern reden und gerade dort etwas zu sagen haben, wo es nichts zu messen gibt! Leider führt das Denken in Dichotomien, gebrauchssprachlich gern „SchwarzWeiß-Malerei“ genannt, oft zu „Trennungen“, wo es um „Unterscheidungen“ geht: Staat und Gesellschaft beispielsweise sind in der Staatsrechtswissenschaft gerade deshalb begrifflich zu unterscheiden, weil sie in der Praxis des staatsorganisationsrechtlichen Alltags nicht zu trennen sind:23 „Die“ Gesellschaft ist nicht „der“ Staat, aber gesellschaftliche Befindlichkeiten bringen staatliche Reaktionen hervor. So scheiterte die Wahl eines designierten Bundesverfassungsrichters, weil den Medien nicht gefiel, was er zur „Würdekollision“ zwischen der Würde eines Entführungsopfers und der des Entführers geschrieben hat.24 Den ganzen Vorgang versteht nur, wer die gesellschaftliche Macht der Medien und die politischen Bedingungen der Verfassungsrichterwahl im Staatsorgan des Bundesrates gleichermaßen zu unterscheiden wie miteinander zu verbinden weiß.25 Die Vermittlerrolle der politischen Parteien in diesem Wahlvorgang, die durch ihr wechselndes Vorschlagsrecht die vorentscheidende Auswahl treffen, wäre bei einer ernsthaften „Trennung“ von Staat und Gesellschaft schlicht unbegreifbar.26 20 Kaufmann (Fn. 1), 428 21 Zur Rolle der Sprache („hermeneia“), der sprachlichen Vermittlung („hermeneuein“) und der sprachlichen Übersetzungsleistung eines Botschafters oder Dolmetschers („hermeneus“), der an den Götterboten Hermes erinnert: Rolf Gröschner, Justizsyllogismus? Jurisprudenz!, in: Die Sprache des Rechts, Bd. 2, Recht verhandeln, hg. von Kent D. Lerch, 2005, 203–217 (213). 22 Nach Art. 145 Abs. 2 GG ist das Grundgesetz „mit Ablauf des Tages der Verkündung“ in Kraft getreten, also am 23. Mai 1949 um 24 Uhr. Wer „0 Uhr“ sagte, müßte auch „24. Mai“ sagen. Verfassungstag ist aber der 23. Mai und an diesem Tag findet alle fünf Jahre die Wahl des Bundespräsidenten statt – nicht am Tag darauf. Daran sieht man, was eine einzige juristische Sekunde an Rechtsfolgen auslösen kann. 23 Grundlegend: Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, 879–927 24 Horst Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn. 133: „In diesen Konstellationen dürfte der Rechtsgedanke der rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht von vornherein auszuschließen sein“. 25 Vgl. für die Wahl des Präsidenten und Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts § 9 BVerfGG 26 Hier bestätigt sich die Grundthese, die Wilhelm Henke in seinem Recht der politischen Parteien,
Arthur Kaufmann, Über die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft
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Unterstützung verdient Arthur Kaufmann auch in seinem antidichotomischen, gegen ein unvermitteltes Entweder-Oder gerichteten Anliegen einer Versöhnung zwischen Analytik und Hermeneutik. Mehr noch als 1986 kann man heute von einer „pluralistischen Sicht von Wissenschaft“ sprechen, in der „keine Disziplin Ausschließlichkeitscharakter besitzt, allen aber als Glieder eines Ganzen je eigene Funktionen zukommen“. Schließlich „ist es der Vernunftbegriff selbst, in dem dieser Pluralismus fundiert ist“.27 So wäre es wider alle Vernunft, die Nichtexistenz einer „juristischen Sekunde“ mit der Stoppuhr beweisen und eine Begriffsbildung der Rechtswissenschaft im Wissenschaftssystem der Physik falsifizieren zu wollen.28 Dieses Nebeneinander zweier Wissenschaftssysteme hängt auch mit dem von Gadamer so genannten „hermeneutischen Vorrang der Frage“ zusammen:29 Wer die Konstruktion der „juristischen Sekunde“ verstehen will, muß die Frage verstehen, auf die diese Konstruktion die Antwort ist. Am besten findet man sie, wenn man sie selbst formuliert – als juristische und nicht als physikalische Frage. 3. Deduktion und Induktion Nach der philosophischen Grundlegung wendet der Kaufmannsche Beitrag sich dem Recht zu. Seit den „Logischen Untersuchungen“ von Karl Engisch aus dem Jahre 1943 müsse man nicht nur das geflügelte Wort vom „Hin- und Herwandern des Blickes“ zwischen Gesetz und Fall kennen,30 sondern auch die methodologische Bedeutung der „Gleichsetzungstheorie“ im Sinne Engischs: Die sogenannte Subsumtion ist kein formallogischer Syllogismus; was sie verlangt, ist „Gleichsetzung des konkreten zu beurteilenden Falles mit den durch den gesetzlichen Tatbestand zweifellos gemeinten Fällen [. . .] Das Verfahren der Rechtsfindung hat weder rein deduktiven noch rein induktiven Charakter, sondern stellt ein gemischt-deduktiv-induktives Vorgehen dar, das man mit Aristoteles als Analogie bezeichnen mag“.31
Methodologisch interessierten Lesern dürfte bekannt sein, daß Arthur Kaufmann diesem Thema eine eigene Studie gewidmet hat,32 in deren Kern es darum geht, Tatbestände und Sachverhalte zur Entsprechung zu bringen: „Fall und Norm müssen, da sie sich auf kategorial verschiedenen Ebenen befinden und daher ursprünglich nicht gleich sind, in einem aktiv gestaltenden Akt ‚gleichgesetzt‘ werden“.33 Auf philosophisch eigenständige Weise hat daran Jan Schapp angeknüpft. Nach seiner Methodenlehre enthält der Tatbestand eines Gesetzes in abgekürzter Fassung (etwa im Tatbestandsbegriff einer „grausamen“ Tötung) „die Gründe, die den Gesetzgeber zu einer bestimmten Entscheidung im Hinblick auf einen bestimmten Fall bewogen
27 Kaufmann (Fn. 1), 430 28 Zum logischen Fehler einer solchen Metabasis eis allo genos (Überschweifen auf ein anderes Gebiet) Egon Schneider und Friedrich E. Schnapp, Logik für Juristen, 6. Aufl. 2006, 217 ff. 29 Gadamer (Fn. 8), 368 ff. 30 Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, 15 31 Kaufmann (Fn. 1), 431 32 Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 2. Aufl. 1982 33 Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann (Fn. 7), 134
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haben“.34 Aufgabe des Richters ist es, in einem „Fallvergleich“ zu erwägen, „ob die Entscheidungsgründe für die vom Gesetz sicher entschiedenen Fälle auch auf den im vorliegenden sachlich durchaus andersartigen Fall zutreffen“.35 Die philosophische Pointe der Schappschen Lehre besteht in der Überwindung des Dualismus von Gesetz und Fall, Allgemeinem und Besonderem, Sollen und Sein durch die phänomenologisch wohlbegründete Position einer gesetzgeberischen Entscheidung über eine durch abgekürzte Entscheidungsgründe des gesetzlichen Tatbestands gestiftete „Fallreihe“.36 Trotz des philosophischen Unterschieds zwischen dem analogischen Ansatz Kaufmanns und dem phänomenologischen Ansatz Schapps stimmen beide in ihrer dialogischen Wissenschaftskonzeption überein: Über die Frage, ob der Sachverhalt dem Tatbestand entspricht (Kaufmann) oder ob die gesetzgeberische Entscheidung die Zuordnung des vorliegenden Falles zur gesetzlichen Fallreihe begründet (Schapp), kann nur in einem mit vernünftigen Argumenten geführten Dialog entschieden werden. „Vernunft wird faktisch in Anspruch genommen, was sie ist, zeigt sich in ihrem Gebrauch: im dialogischen Prozeß reziproker Anerkennung und Verständigung. Daher ist Vernunft von der Persönlichkeit derer, die am Dialog bzw. Diskurs teilnehmen, nicht zu trennen“.37
Als leidenschaftlicher Lehrer des Rechts sollte man nicht nachlassen, dies auch in Zeiten einer Bachelorisierung der Universität zu betonen: Die volljuristische Arbeit am Recht, also die professionelle Arbeit von Volljuristen mit der Befähigung zum Richteramt in Staat und Verwaltung, Anwaltschaft, Wirtschaft oder wo auch immer in unserer Gesellschaft setzt mehr voraus als eine Schmalspurausbildung in Rechtstechnik, nämlich die Bildung von Juristenpersönlichkeiten mit Vernunft und Charakter. Durch die allenthalben zu beobachtende Nivellierung nach unten gehen in Schulen und Universitäten Bildungschancen verloren, die nicht nur die Wissens-, sondern auch die Willensbildung betreffen. Wie soll jemand, dem die Ulpiansche Formel vorenthalten wurde, damit er schneller „fertig“ werden kann, verstehen, was die Gerechtigkeit als „constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“ bedeutet?38 Wie soll der im Hendiadyoin „constans et perpetua“ auf Dauer gestellte Wille, einem jeden das ihm gebührende Recht zuzusprechen, ohne das Wissen gebildet werden, daß es auf diesen Dauerwillen ankommt? „Subsumieren kann man nur ‚Sachverhalte‘ unter ‚Tatbestände‘. Diese Herstellung von Sachverhalten und Tatbeständen ist ein geschichtlicher Prozeß. Für jeden Fall der sogenannten Rechtsanwendung muß sie neu erfolgen – auch die Feststellung, daß ein Fall in den wesentlichen Punkten ebenso liegt wie ein früher bereits entschiedener, verlangt eine solche Denkoperation, mag diese auch, wie in Routinefällen, nicht deutlich ins Bewußtsein treten“.39
Aus der Perspektive dieser Herstellungsprozesse von Sachverhalten und Tatbeständen ist Ulpians Dauerwille der Wille, bei aller handwerklichen Routine richterlicher 34 Jan Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 1983, 65; zum Beispiel der grausamen Tötung 35 35 Schapp (Fn. 34), 66 f. 36 Schapp (Fn. 34), 31 ff., 53: „Die Reihenzugehörigkeit des einzelnen Falles wird damit durch den Grund der Entscheidung gestiftet“. Und diesen Grund muß der Richter in einem vernünftigen „Gespräch“ mit den Beteiligten des Rechtsstreits argumentativ entwickeln (65). 37 Kaufmann (Fn. 1), 429 38 Digesten 1.1.10; Institutionen 1.1. prooemium mit der Konstruktion „tribuens“
Arthur Kaufmann, Über die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft
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Alltagsarbeit doch immer auch und gerade den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles gerecht zu werden. In dieser Hinsicht entspricht „voluntas“ der aristotelischen Doppelbestimmung von „ethos“, die man mit hinreichendem Sprachgefühl auch im Deutschen wiederfindet: „Gewöhnen“ kann man sich an manches; eine „Gewohnheit“, die diesen Namen verdient (schließlich heißt sie nicht „Gewöhntheit“), setzt aber mehr und anderes als äußere Anpassung voraus, nämlich die richtige innere Einstellung. Daraus kann dann eine Grundhaltung entstehen, die „ethos“ im Sinne eines in der Lebenspraxis zu bildenden Charakters und entsprechende Charakterbildung zeigt: „Denn durch das Handeln in den Alltagsbeziehungen zu den Mitmenschen werden die einen gerecht, die andern ungerecht“.40 So pragmatisch die römischen Juristen waren, so sehr stimmt der philosophische Kern ihres Willens zur Gerechtigkeit mit der aristotelischen Ethik gerechten Handelns gegenüber den anderen (pros heteron) überein.41 II. KONSEQUENZEN
FÜR DIE
WISSENSCHAFTLICHKEIT
DER JURISPRUDENZ
1. Rechtswissenschaft als Jurisprudenz „Jurisprudenz“ setzt einen anderen Akzent als „Rechtswissenschaft“: Die Anleihe bei der „prudentia“ betont einen Traditionszusammenhang, der rechtshistorisch mit der „iuris prudentia“ des klassischen römischen Rechts und philosophiegeschichtlich mit der aristotelischen „phronesis“ beginnt. Vor diesem Zusammenhang, in dem die betreffende alteuropäische Klugheitstradition rechtsphilosophisch zu rekonstruieren ist, sei zunächst das äußere System skizziert, dessen Teildisziplinen unter die Sammelbezeichnung Jurisprudenz subordiniert werden können. Verwendet man „Jurisprudenz“ als Oberbegriff, fallen darunter „Rechtspraxis“ auf der einen und „Rechtswissenschaft“ auf der anderen Seite. Durch diese Einteilung ist klargestellt, daß die Jurisprudenz nach ihrem traditionellen Selbstverständnis eine unter dem Primat der Praxis stehende „praktische“ Wissenschaft ist.42 Zur Rechtspraxis gehören alle volljuristischen Berufstätigkeiten von Personen mit der Befähigung zum Richteramt, von denen bereits die Rede war. Wenn die alltagssprachliche Bezeichnung „Volljurist(in)“ in Zeiten der Aufweichung aller bisherigen Qualitätsstandards noch einen Sinn haben soll, dann kann man ohne Referendarzeit und ohne deren erfolgreichen Abschluß mit der Zweiten Juristischen Staatsprüfung nicht in der Rechtspraxis tätig sein – mag ein Schadenssachbearbeiter in einer Versicherung auch Rechtsfälle bearbeiten.43 Er/sie übt in diesem gegen den Zeitgeist gerichteten Begriffssystem eine Tätigkeit in der Versicherungswirtschaft aus.
40 Aristoteles, Nikomachische Ethik II 1, 1103 b 41 Aristoteles (Fn. 40), V 3, 1129 b 42 Anders als „praktische“ Wissenschaft ist die Bezeichnung „angewandte“ Wissenschaft hermeneutisch genau genommen falsch: Vgl. unten, bei Fn. 55. 43 Eine solche „Diskriminierung“ von Personen mit lediglich Erster Juristischer Staatsprüfung (die sich inzwischen irreführend „Diplomjuristen“ nennen dürfen) mag politisch nicht korrekt sein. Hier geht es aber nicht um political correctness, sondern um die Verteidigung rechtswissen-
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Rolf Gröschner
Zur Rechtswissenschaft sind zunächst jene Disziplinen zu zählen, die sich in der Terminologie des Deutschen Richtergesetzes mit den „philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen“ des Rechts befassen.44 Dieser gesetzlichen Vorgabe entsprechend sind „Grundlagendisziplinen“ der Rechtswissenschaft die Rechtsphilosophie, die Rechtsgeschichte und die Rechtssoziologie.45 Obwohl man sie ohne Bindestrich schreibt, sind sie ihrem Charakter nach „Bindestrich-Disziplinen“, die auf einer Verbindung der Rechtswissenschaft mit den Disziplinen der Philosophie, der Geschichte und der Soziologie beruhen. Dadurch wird eine innere Interdisziplinarität der Rechtswissenschaft begründet, die eine spezifische Disziplinierung ihrer Vertreter verlangt: Unterwerfung unter die Regeln der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin, Partizipation an der jeweiligen Wissenschaftskultur und Professionalisierung in und durch deren Pflege. Innere Interdisziplinarität ist erreicht, wenn philosophische, historische und soziologische Kompetenz zum selbstverständlichen professionellen Standard von Rechtsphilosophen, Rechtshistorikern und Rechtssoziologen geworden sind. Nicht jeder Rechtswissenschaftler – und erst recht nicht jeder Jurist – kann diese Kompetenzen kumulativ entwickeln; institutionell hat die Rechtswissenschaft aber sehr wohl für ihre Akkumulation zu sorgen, nämlich durch intradisziplinäre Arbeitsteilung. Die besten Schuster bleiben allemal bei ihren Leisten. Die insgesamt wichtigste, zwischen Rechtspraxis und Rechtswissenschaft vermittelnde Teildisziplin der Jurisprudenz ist die Rechtsdogmatik. Ihre Aufgabe ist die Herstellung eines gleichermaßen theorie- wie praxistauglichen Ordnungszusammenhangs zwischen den Begriffen, Prinzipien und Instituten des positiven Rechts.46 Praxistauglich ist ein solcher Ordnungszusammenhang, wenn er im Dialog über die Entscheidung von Einzelfällen gute Gründe für die Entscheidung liefert; als theorietauglich kann er erst gelten, wenn er nicht kasuistisch, sondern systematisch strukturiert ist. Im Falle der oben nur kurz angesprochenen „Rettungsfolter“ fällt beispielsweise jede Entscheidung unter das Verdikt der Theorieuntauglichkeit, die den absoluten Würdeschutz eines Entführers über den ebenso absoluten Würdeschutz des Entführungsopfers stellt.47 Im Sinne der hier vorgelegten Systemskizze müssen Rechtsdogmatiker daher Rechtswissenschaftler und Rechtspraktiker zugleich sein. Ein dogmatischer Kopf gleicht dann nicht dem hölzernen Kopf in Phädrus’ Fabel,48 sondern erfüllt alle Voraussetzungen eines kritischen, zwischen theoretischem Verstand und praktischer Vernunft vermittelnden Geistes. Friedrich Carl von Savigny 44 Sie sind nach § 5 a DRiG ebenso „Pflichtfächer“ des Studiums wie „die Kernbereiche des Bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Öffentlichen Rechts und des Verfahrensrechts, einschließlich der europarechtlichen Bezüge“ sowie „der rechtswissenschaftlichen Methoden“. 45 Ob man die Juristische Methodenlehre als eigenständige Grundlagendisziplin oder als Teil der Rechtsphilosophie bzw. der in § 5 a DRiG nicht eigens genannten Rechtstheorie ansieht, hängt vom jeweiligen rechtsphilosophischen bzw. rechtstheoretischen Standort des Betrachters ab. 46 Historiographisch: Maximilian Herberger, Dogmatik. Zur Geschichte von Begriff und Methode in Medizin und Jurisprudenz, 1981 47 Oben, Fn. 24 mit ausdrücklicher Bekräftigung der dort zitierten Position Horst Dreiers. „Gutmenschen“, die das Folterverbot aus rechtsstaatlichen Gründen absolut setzen, meinen es mit den Opfern absolut nicht gut. 48 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 2. Aufl. 1798, Einleitung, § B: „Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’
Arthur Kaufmann, Über die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft
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hat in der Vorrede zum ersten Band seines „Systems des heutigen römischen Rechts“ zu dieser Vermittlungsleistung eines im Geiste der Jurisprudenz denkenden und handelnden „Einheits-Juristen“ bis heute Gültiges gesagt: „Dieses zweyfache Element des Rechts, das theoretische und das praktische, gehört demnach dem allgemeinen Wesen des Rechts selbst an. Es liegt aber in dem Entwicklungsgang der neueren Jahrhunderte, daß diese zwey Richtungen zugleich in verschiedenen Ständen und Berufsarten aus einander getreten sind, daß also die Rechtskundigen, mit seltenen Ausnahmen, durch ihren ausschließenden oder überwiegenden Beruf entweder der Theorie oder der Praxis allein angehören. [. . .] Es beruht aber alles Heil darauf, daß in diesen gesonderten Thätigkeiten Jeder die ursprüngliche Einheit fest im Auge behalte, daß also in gewissem Grade jeder Theoretiker den praktischen, jeder Praktiker den theoretischen Sinn in sich erhalte und entwickle. Wo dieses nicht geschieht, wo die Trennung zwischen Theorie und Praxis eine absolute wird, da entsteht unvermeidlich die Gefahr, daß die Theorie zu einem leeren Spiel, die Praxis zu einem bloßen Handwerk herabsinke“.49
2. Hermeneutik als Praxis der Jurisprudenz Bloßes Handwerk bedarf keiner „prudentia“ oder – im angekündigten Rückgriff auf Aristoteles – keiner „phronesis“. Wenn die Zeichen der Zeit nicht trügen, wird die gegenwärtige „Rehabilitierung der Klugheit“50 mehr interdisziplinäre Wirkung zeigen als der Versuch einer „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ vor fünfunddreißig Jahren.51 Wer schon immer überzeugt war, die Philosophie der Jurisprudenz setzte „eine originäre Begründung der juristischen Praxis als Praxis“ voraus,52 wird dieses im philosophischen Sinne ursprüngliche Interesse an der Praxis gern mit der Rückgewinnung des alteuropäischen Horizonts einer aristotelischen Klugheitslehre und der Wiederentdeckung griechischer Phronesis in der römischen Prudentia verbinden. Auch insoweit wurde in Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“ Pionierarbeit geleistet. Der Abschnitt mit dem Titel „Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles“ sollte deshalb zwecks Rehabilitierung der Klugheit zur Pflichtlektüre in den Grundlagen der Rechtsphilosophie gehören.53 Um an oben Gesagtes anzuknüpfen: Weil Wahrheit keine Frage der Methode und Hermeneutik keine Methodenfrage ist, darf juristische Hermeneutik nicht auf eine Technik des Textverstehens reduziert werden.54 Juristisches Verstehen ist vielmehr wie alles Verstehen eine Frage der „Applikation“ von „etwas Allgemeinem auf eine konkrete und besondere Situation“, wobei das hermeneutische Phänomen gerade darin besteht, das Allgemeine 49 50 51 52
Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, XX Wolfgang Kersting, Klugheit, 2005, 7. Monographisch: Andreas Luckner, Klugheit, 2005 Manfred Riedel, Rehabilitierung der praktischen Philosophie, 2 Bände, 1972 und 1974 Rolf Gröschner, Theorie und Praxis der juristischen Argumentation, Juristenzeitung 1985, 170– 174 (172), in Kaufmanns Beitrag zutreffend in einen „Gegensatz zu Alexys Entwurf einer prozeduralen Theorie der juristischen Argumentation“ gebracht: Kaufmann (Fn. 1), 436 53 Gadamer (Fn. 8), 317 ff. Ohne solche Grundlagen bringt die Universität statt theoretischer Köpfe nur Holzköpfe im Sinne Kants hervor: Fn. 48 54 In der Terminologie der „Strukturierenden Rechtslehre“: Der Normtext ist noch nicht die Norm, weil diese in der Vermittlung von Normprogramm und Normbereich durch konkrete Rechtsarbeit erst herzustellen ist: Friedrich Müller und Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1,
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– sei es ein ethisches Prinzip oder eine rechtliche Regel – nicht einfach auf das Besondere „anwenden“ zu können.55 Als im vollen Wortsinne „angewandte“ Wissenschaft wäre die Jurisprudenz ein Handwerk oder aristotelisch gesprochen eine „techne“, das heißt eine Kunst der Herstellung von Werken, die nach Maßgabe eines vorherigen Planes ausgeführt und mit den dafür geeigneten Mitteln gefertigt werden.56 Bei allen handwerklichen und – wenn man die rhetorischen Kompetenzen so nennen will – mundwerklichen Fertigkeiten von Juristen ist die Herstellung eines juristischen Urteils aber etwas anderes als die Fertigung eines Werkstückes, und zwar auch dann, wenn man ein Werk der schönen Künste zum Vergleich heranzieht. „Das Gesetz ist immer mangelhaft, nicht, weil es selber mangelhaft ist, sondern weil gegenüber der Ordnung, die die Gesetze meinen, die menschliche Wirklichkeit notwendig mangelhaft bleibt und daher keine einfache Anwendung derselben erlaubt“.57
Die oben mit Kaufmann so genannte Herstellung von Sachverhalten und Tatbeständen58 erfordert zwar auch „technisches“ Wissen und Können – im Jargon der Referendare: wie man ein Urteil „pinselt“ –, erschöpft sich aber nicht darin. Eine philosophisch schlüssige Antwort auf die Frage, worin sich die „Kunst“ des Richters von einer „techne“ im aristotelischen Sinne unterscheidet, verlangt etwas Geduld in der Differenzierung zwischen „poiesis“ und „praxis“. Poiesis (von „poiein“, herstellen) meint die Herstellung eines Werkes, dessen Gelingen vom Geschick des herstellenden Technikers oder Künstlers abhängt. Ihre Techne folgt der Rationalität einer Zweck-Mittel-Relation: Je geschickter der Schuster seine Leisten handhabt, desto besser das Schuh-Werk. Praxis (von „prattein“, handeln) folgt dagegen keinem technischen oder instrumentellen Rationalitätsmodell; eine Handlung als Praxis zu bezeichnen, heißt vielmehr, sie als einen Lebensvollzug zu verstehen, dem ein äußerer Zweck gerade fehlt.59 Die aristotelische Unterscheidung zweier Gattungen60 zwingt nicht dazu, Praxis und Poiesis verschiedenen Tätigkeitsklassen zuzuordnen; sie erlaubt nach aktuellem Aristotelismus auch, zwei unterschiedliche Einstellungen zum jeweiligen Tun zu beschreiben:61 Wer etwas tut, um einen Zweck zu erreichen, agiert „poietisch“, wer im vollsten Sinne des Wortes zwecklos tätig ist, agiert „praktisch“.62 Nur der zwecklos Tätige kann nach Maßgabe des Klugheitskriteriums der 55 Gadamer (Fn. 8), 317 mit dem Zusatz: „Damit gewinnt die aristotelische Ethik für uns eine besondere Bedeutung“, nämlich für „die richtige Bemessung der Rolle, die die Vernunft im sittlichen Handeln zu spielen hat“. 56 Kurz und bündig spricht Gadamer (Fn. 8), 321 von der „Perfektion des Herstellenkönnens“. 57 Gadamer (Fn. 8), 324 58 Fn. 39 59 Luckner (Fn. 50), 82: „Man versteht eine Handlung im Sinne der poiesis, wenn man weiß, für welchen Zweck sie ein Mittel darstellt; man versteht eine Handlung im Sinne der praxis, wenn man weiß, inwiefern sie einen Teil des Lebensvollzuges darstellt“. Auf die Frage, inwieweit die heutige Rede von „Zwecken“ einen anderen Zweckbegriff impliziert als den aristotelischen Begriff des „telos“, sei wenigstens am Rande hingewiesen. 60 Aristoteles (Fn. 40), VI 5, 1140 b 4 61 Luckner (Fn. 50), 82 mit Nachweisen 183 62 Anthropologische Konsequenz bei Georg Simmel, Lebensanschauung, 2. Aufl. 1922, 41: Der Mensch als „das unzweckmäßige Wesen“, der eine „Existenzstufe“ erlangt hat, die „über dem Zweck steht“. „Es ist sein eigentlicher Wert, daß er zwecklos handeln kann“. Und 43: „Der Ge-
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Praxis – der Phronesis – „handeln“, während der zweckhaft Tätige etwas „herstellt“, und zwar nach den Kunstregeln seiner jeweiligen Techne.63 So groß die Herausforderung wäre, diese Unterscheidung zwischen (klugem) Handeln und (technischem) Herstellen auf das Leben im ganzen und auf die philosophische Grundfrage seines Gelingens zu beziehen,64 so sehr zwingt das vorliegende Thema zur Konzentration auf eine andere, philosophisch ebenfalls anspruchsvolle Frage: Inwieweit ist juristische, paradigmatisch richterliche Hermeneutik Poiesis und inwieweit erlaubt die Aufgabe, eine Entscheidung technisch korrekt – oder römischrechtlich formuliert lege artis – herzustellen, dann noch eine ernsthafte philosophische Bezugnahme auf die aristotelische Praxis?65 Aristoteles verwendet den Begriff nicht nur zur Abgrenzung von Poiesis, sondern auch in einem anderen, weiteren Sinn, ohne sich dazu ausdrücklich zu erklären.66 Eine plausible Erklärung hat Ernst Vollrath gegeben: „auch und gerade die Poiesis ist eingebunden in Vollzüge wahrer Praxis“; der „Sinn der Differenzierung“ liegt deshalb darin, „analytisch den Primat von Praxis vor Poiesis sicherzustellen und alle Poiesis stets nur als Moment von Praxis auftreten und daher von dieser her bestimmt sein zu lassen“.67 Die hier vorgeschlagene Verwendung von „Jurisprudenz“ als Oberbegriff für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis trägt diesem Primat der Praxis Rechnung. Auf der Grundlage solch wahrhaft „praktischer“ Philosophie der Jurisprudenz erscheint auch der Ulpiansche Wille „ius suum cuique tribuendi“ als ein Kriterium der Praxis, nach dem richterliches Handeln als solches – also nicht nur als handwerkliche Rechtstechnik – und auf Dauer gelingt. Aufs Ganze gesehen ist dies im Sinne des aristotelischen Nachrangs der Poiesis dann der Fall, wenn die Praxis um ihrer selbst willen betrieben wird. Dann kann ein Richter auch damit leben, von querulatorischen Klägern, streitsuchenden Beklagten, geltungssüchtigen Anwälten, bestochenen Zeugen oder parteiischen Gutachtern umgeben zu sein. Mit dauerhaftem Gerechtigkeitswillen wird er all dem widerstehen.68 3. Dialogik als Philosophie der Rechtspraxis Locus classicus der im erläuterten Sinne prudentiellen Verbindung von Recht und Gerechtigkeit ist der Anfang der Digesten („De iustitia et iure“). Wer das Recht studieren wolle, heißt es dort, müsse wissen, woher sein Name („nomen iuris“) stamme; es sei nämlich nach der Gerechtigkeit benannt („a iustitia appellatum“) und könne 63 Praxis (Handeln) und Poiesis (Herstellen) sind zwei Formen des Tätigwerdens, phronesis (Klugheit) und techne (Kunst) die zugehörigen Rationalitäten. 64 Klare Antwort bei Luckner (Fn. 50), 85: „Das Gelingen des Lebens, die eudaimonia, ist kein technisch-poietisch zu produzierendes Gut, denn es kann hier keine Meisterschaft geben“. 65 Die Deutungsprobleme der aristotelischen Differenzierung zwischen Poiesis und Praxis diskutiert vorbildlich Heidrun Hesse, Ordnung und Kontingenz, 1999, 36 ff. 66 Auf den „doppelten Praxisbegriff “ bei Aristoteles hat mich erstmals Oliver Lembcke hingewiesen. 67 Ernst Vollrath, Überlegungen zur neueren Diskussion über das Verhältnis von Praxis und Poiesis, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1989, 1 ff. (14 f.) 68 Einen solchen Willen kann man nicht poietisch herstellen, er entsteht ebenso aus praktischen
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mit Celsus („ut eleganter Celsus definit“) als „ars boni et aequi“ bestimmt werden.69 Eine Kunst (ars) ist das Recht nach dieser klassischen Definition, weil es Gerechtigkeit nicht von sich aus hervorbringt, sondern zur Herstellung des Guten und Gerechten (boni et aequi) Künstler des Rechts gehören, deren Kunst darin besteht, dem Einzelfall gerecht zu werden.70 Die Philosophie dieser römischrechtlichen Kunst würde völlig verkannt, wenn die „aequitas“ als „Einzelfallgerechtigkeit“ einer generellen Gerechtigkeit des Gesetzes gegenübergestellt oder gar dichotomisch entgegengesetzt würde. Für die klassische römische Jurisprudenz hatte das Recht der Gesetze, Plebiszite und Edikte71 keinen eigenen, von den zu entscheidenden Fällen absehenden und insofern abstrakten Gerechtigkeitswert; es war gerecht und damit gut aus Sicht einer angemessenen Entscheidung im Einzelfall.72 Das Gute des Rechts lag in der Güte der Entscheidung.73 Ein Richter, der die „ars boni et aequi“ beherrscht, braucht als Künstler der Jurisprudenz kein Logiker des Rechts zu sein – jedenfalls dann nicht, wenn man unter „Logik“ die „formale Logik“ versteht. Formallogisch richtig sind Schlüsse, deren Konklusionen allein aufgrund der Form ihrer Prämissen gezogen werden können: Wenn alle Menschen sterblich und alle Athener Menschen sind, dann sind alle Athener sterblich. Bei entsprechender Prämissenwahl erschließt sich auch die Sterblichkeit des Sokrates aus einem Syllogismus.74 Für den Richter, der juristisch zu urteilen und nicht formallogisch zu schließen hat, gilt das prägnante Diktum Hannah Arendts: „mit logischen Operationen – etwa in der Art der folgenden: Alle Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates sterblich – haben Urteile nichts gemein“.75 Hätte die in Fragen der Urteilskraft bestens ausgewiesene Philosophin den Unterschied zwischen logischen Schlüssen und nicht-logischen Urteilen weniger kategorial formulieren wollen, hätte sie etwas anderes als „nichts gemein“ geschrieben. Collegium logicum kann zwar in keinem Studium schaden; für die Bildung juristischer Urteilskraft nutzt es aber – argumentum ab auctoritate – „nichts“. 69 D 1.1.1.; in der zweisprachigen Ausgabe von Okko Behrens u.a. (Hrsg.), Corpus Iuris Civilis, Bd. 2, 1995, 91 70 Selbstbewußt spricht D 1.1.1. (Fn. 69) von den Juristen als Priestern („sacerdotes“) der Gerechtigkeit (nicht etwa „pontifices“, von denen die iuris consulti der weltlichen römischen Jurisprudenz sich gerade emanzipiert hatten), die in ihrem Tun wahre Philosophie („veram philosophiam“) erstreben. 71 Nach I.1.2.3. bestand das geschriebene Recht aus Gesetzen, Plebisziten, Senatsbeschlüssen, Kaisererlassen, Magistratsedikten und Gutachten der Rechtsgelehrten: Okko Behrens u.a. (Hrsg.), Corpus Iuris Civilis, Bd. 1, 1997, 3 72 Das Thema „Die Römer und die Kunst der Jurisprudenz“ ist Gegenstand eingehender Erörterung bei Rolf Gröschner/Claus Dierksmeier/Michael Henkel/Alexander Wiehart, Rechts- und Staatsphilosophie, 2000, 57 ff. 73 Insofern steht die oben dargestellte Methodenlehre Jan Schapps (Fn. 34) in der Tradition der klassischen römischen Jurisprudenz. 74 Klaus Adomeit, Rechtstheorie für Studenten, 4. Aufl. 1998, 39, bringt dieses beliebteste aller Beispiele: „Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich“, fügt in einer Fußnote jedoch hinzu: „Genaugenommen sollte auch die zweite Prämisse allgemein sein“, die „individualisierende Form“ habe sich aber „eingebürgert“. Darf letzteres als Kriterium formaler Logik gelten?
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„Dialogisch“ kann man in der Tradition des philosophisch unsterblichen Sokrates Verfahrensweisen nennen, in denen es nicht auf formaliter richtiges Schließen, sondern auf materialiter richtiges Argumentieren, Urteilen und Entscheiden ankommt.76 „Dialogik“ ist demnach keine formale, sondern eine materiale Logik – wenn man sie überhaupt mit der auf formale Konklusionen festgelegten Logik im engeren Sinne kontrastieren will. Ideengeschichtlich hat die Dialogik ihren Namen vom „logos“, der im „dialogos“ eines zwischen zweien oder mehreren geführten philosophischen Disputs zur Sprache kommt und als „orthos logos“, als gemeinsam gesuchtes richtiges Argument den Dialog in Gang bringt und in Schwung hält.77 „Dialegesthai“, das zugrundeliegende Verbum, bezeichnet in sokratischer Tradition nicht irgendeine Art der Gesprächsführung, sondern die Vorgehensweise einer synonym als „dialektisch“ oder „dialogisch“ auszuzeichnenden Kunst philosophischer Wahrheitssuche. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund ist „Dialogik“ der klassische Modus der Philosophie. Auch die Jurisprudenz sucht auf dialogische Weise – in streitiger Auseinandersetzung über die entscheidenden Argumente – nach Wahrheit und Richtigkeit: nach Wahrheit in der Aufklärung des Sachverhaltes, nach Richtigkeit in der Begründung ihrer Entscheidungen.78 Diese juristische Dialogik ist mindestens so ursprünglich wie die der Philosophie. Denn in der Praxis des Rechts gibt es keinen monologischen Anfang der Auseinandersetzung: Jedes Recht, das jemand für sich beansprucht, ist als Anspruch gegen jemanden gerichtet.79 Schon das materielle Recht ist demnach dialogisch strukturiert, im formellen Recht des forensischen Verfahrens wird diese Struktur nur prozessual nachgebildet: Der materiell Berechtigte wird zum Kläger, der materiell Verpflichtete zum Beklagten. Die Grundstruktur des Rechts ist der Streit, seine Grundfigur das Rechtsverhältnis zwischen mindestens zwei Beteiligten, das den Streit zu vermeiden oder, soweit unvermeidbar, zu entscheiden sucht. Schon die gesetzliche Regelung eines Rechtsverhältnisses enthält dabei eine Streitentscheidung: „Der Eigentümer kann von dem Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen“.80 Der Gesetzgeber hat damit die ganze Reihe von Fällen entschieden,81 in denen Eigentümer mit Besitzern über das Verhältnis ihrer dinglichen Rechte streiten.82 Die Entscheidung des Gesetzgebers enthält auch das Schema, das den forensischen
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Die Art und Weise, wie Sokrates vor allem in den frühen (sokratischen) Dialogen fragt, ist für dialogisches Philosophieren konstitutiv, kann für den forensischen Dialog aber kein Vorbild sein, weil die Verhandlung vor Gericht nicht aporetisch, mit offenem Ende, geführt wird, sondern unter Entscheidungszwang: Rolf Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, 134 ff. 77 Zur Bedeutung des sokratischen Wissens um das Nichtwissen für den philosophischen Dialog Gröschner (Fn. 76), 146 f. 78 Für die Wahrheitsfrage sollte man sich statt an Theorien an das zur hermeneutischen Praxis Gesagte halten. 79 Für die relativen Rechte (etwa eines Gläubigers gegen einen Schuldner) ist dies evident. Es gilt aber auch für absolute Rechte (etwa eines Eigentümers), weil auch sie gegen potentielle Rechtsbeeinträchtigung (beispielsweise durch einen Eigentumsstörer) gerichtet sind. Dazu unten unter 4. 80 § 985 des Bürgerlichen Gesetzbuchs 81 Grundlegend zum Begriff der „gesetzgeberischen Entscheidung“ Schapp (Fn. 34), 31 ff. 82 Etwa über die Herausgabe einer Mietsache durch den Mieter als Besitzer gegenüber dem Vermie-
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Dialog organisiert:83 Klage und Klageerwiderung, eventuell Replik und Duplik sind Stationen einer dialogischen Auseinandersetzung, in der über einen behaupteten und gegen Einwände zu verteidigenden Rechtsanspruch gestritten wird. Die richterliche Entscheidung ist das Ergebnis dieses Dialogs. Anders als Sokrates darf der Richter das Ergebnis aber nicht offenlassen. Der Zwang zur Entscheidung bestimmt sein Handeln, seine Erfahrung und – erfahrungsgemäß – seine Klugheit.84 4. Dialogik als Theorie der Rechtsverhältnisse So schwierig das Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie im allgemeinen zu bestimmen sein mag, so einfach stellt es sich im besonderen Falle der Dialogik dar: „Dialogik“ kann nicht nur als Begriff der Rechtsphilosophie Verwendung finden – etwa im Sinne der soeben dargestellten sokratischen Tradition85 –, sondern auch als Begriff der Rechtstheorie. Als rechtstheoretischer Begriff bezeichnet er nicht die äußere Dialogik des Rechtsstreits, sondern die innere Struktur der Rechtsverhältnisse. Ihrer Bezeichnung entsprechend ist diese Struktur dialogisch im Sinne einer nicht-formalen Logik (darin besteht die Übereinstimmung mit der Philosophie des Dialogs), orientiert sich aber nicht am „Kampf um’s Recht“,86 sondern an der immanenten Logik des Zusammenhangs von Rechten und Pflichten in Rechtsverhältnissen. Um mit dem einfachen Beispiel eines privatrechtlichen Vertragsverhältnisses zwischen Käufer und Verkäufer zu beginnen: Das Kaufrechtsverhältnis hat die Struktur einer „synallagmatischen“ Beziehung, das heißt: einer Beziehung auf Gegenseitigkeit, wie sie schon dem römischrechtlichen Prinzip „do ut des“ zugrundelag – der Käufer gibt (das Geld), damit der Verkäufer (die Ware) gibt. In ihrem rechtstheoretischen Kern stellt jede synallagmatische Beziehung ein reziprokes Verhältnis von aufeinander bezogenen Rechtspositionen dar: das Recht des Verkäufers, Zahlung des vereinbarten Kaufpreises zu verlangen, korrespondiert mit der Pflicht des Käufers, diesen Preis zu bezahlen. Zwischen Zahlungsanspruch und Zahlungspflicht besteht ein Verhältnis der Reziprozität, weil ein „Anspruch“ das Recht ist, „von einem anderen ein Tun oder ein Unterlassen zu verlangen“.87 § 241 BGB bringt dies für das gesamte Schuldrecht mit den Worten zum Ausdruck: „Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Die Leistung kann auch in einem Unterlassen bestehen“. Das etwas altertümlich anmutende Wörtchen „kraft“ hat rechtstheoretisch basale Bedeutung: Nicht die Berechtigung oder der Anspruch ist die Basis des Schuldrechts, sondern das Schuldverhältnis. Da 83 Für das „Streitgespräch“ der Parteien im Zivilprozeß: Jan Schapp, Methodenlehre des Zivilrechts, 1998, 40 84 Wegen des Primats der Praxis ist auch die Poiesis einer Entscheidung unter Zeitdruck ein „Moment von Praxis“ und damit eine Frage der Klugheit: oben, Fn. 67 85 Als philosophische Variante wären auch Dialogiken im Anschluß an Ludwig Feuerbach oder – vermittelt über Feuerbach – an Martin Buber denkbar. Zu letzterem Gröschner (Fn. 76), 24 ff.; zu ersterem Rolf Gröschner, Wege zu Ludwig Feuerbach, Jahrbuch für Recht und Ethik 2005, 123– 135 (insbes. 134 f.) 86 Rudolf von Jhering, Der Kampf um’s Recht, 1872
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dies nicht auf das Schuldrecht beschränkt ist, gilt generell: Nicht das subjektive Recht ist das Fundament der Rechtsordnung und der Grundbegriff der Rechtstheorie, sondern das Rechtsverhältnis.88 Das Rechtsverhältnis ist damit ein Prinzip im wissenschaftstheoretischen Sinne: der Anfang („principium“) eines Begründungszusammenhangs in einem System von Begriffen und Sätzen, die dazu geeignet und bestimmt sind, eine Theorie zu bilden: Rechtstheorie als Rechtsverhältnistheorie.89 Auf dieselbe Weise ursprünglich oder prinzipiell wie das Rechtsverhältnis ist aber auch seine dialogische Struktur: Jedenfalls in der Gestalt eines subjektiven Rechts kann „Recht“ gar nicht anders gedacht werden als inter-subjektiv: als Recht, das in einem rechtlich geregelten Verhältnis auf einen individuellen „Anderen“ (§ 194 BGB) bezogen ist, etwa aus der Gläubigerperspektive auf einen „Schuldner“ (§ 241 BGB) oder aus der Eigentümerperspektive auf einen „Besitzer“ (§ 985 BGB). Der terminus technicus für diesen intersubjektiven oder dialogischen Charakter subjektiver Rechte ist „relatives Recht“. Gegen den allgemeinen Wortsinn von „Relativierung“ liegt darin keine Schwächung des Rechts, sondern seine spezifische Stärke: Der korrelativ verpflichtete Anspruchsgegner ist individuell benannt und seine Pflicht gegenüber dem Anspruchsteller konkret bestimmt. Anders verhält es sich mit den „absoluten“ Rechten, deren „Absolutheit“ darin besteht, von individuellen Adressaten losgelöst zu sein. „Allgemein“ kann ein Rechtsverhältnis dann genannt werden, wenn nur der Träger und der Inhalt einer Rechtsposition genau bestimmt ist, nicht aber der Adressat. Das nächstliegende Beispiel aus dem Bereich des Öffentlichen Rechts sind die Freiheitsrechte des Grundgesetzes, allen voran das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Absatz 1 GG in der Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Grundrechtsträger ist „Jeder“, also jede natürliche Person, Grundrechtsinhalt das Recht auf individuelle Entwicklung nach je eigenem Selbstverständnis90 in einem „autonomen Bereich privater Lebensgestaltung“.91 Über den Adressaten dieses Rechts, also über den aus Art. 2 Absatz 1 GG Verpflichteten schweigt das Grundgesetz. „Der Staat“, in der Abstraktionshöhe der Verfassungstheorie durchaus Adressat der Grundrechte, scheidet auf der konkreteren Ebene des Verfassungsrechtsverhältnisses als Kandidat schon deshalb aus, weil im Staat des Grundgesetzes zwischen gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt zu differenzieren ist. Mit diesem Befund stimmt nur eine Kategorie subjektiver Rechte überein: die Kategorie des absoluten Rechts. Paradigma absoluter Rechte ist das Herrschaftsrecht des Eigentümers einer Sache, das nach § 903 BGB dazu berechtigt, andere von jeder Einwirkung auf die Sache auszuschließen. Auf diese „Anderen“ kommt es an, weil ein dialogischer Begriff des Rechtsverhältnisses nur Beziehungen zwischen Personen kennt, nicht zwischen Personen und Sachen. Die „anderen“ (Personen), von denen 88 Es ist das Verdienst Wilhelm Henkes, diesen Umstand in seiner Monographie über Das subjektive öffentliche Recht, 1968, erstmals grundlegend zur Sprache gebracht zu haben: „Das subjektive Recht ist [. . .] immer eine Position gegenüber einer oder mehreren anderen Personen. Es ist keine individuell-subjektive, sondern eine inter-subjektive Erscheinung“ (4). 89 Zum Nutzen einer solchen Theorie im Verwaltungsrecht ausführlich Rolf Gröschner, Vom Nutzen des Verwaltungsrechtsverhältnisses, Die Verwaltung 30 (1997), 301 ff. 90 Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, Tübingen 1993
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§ 903 BGB spricht, bleiben als potentielle Störer des Eigentums aber ebenso unbestimmt wie die Träger staatlicher Gewalt als potentielle Widersacher der Freiheitsgrundrechte. Die rechtsverhältnistheoretische Pointe besteht nun in Folgendem: Ein Anspruch des Grundrechtsträgers entsteht – in genauer Strukturanalogie zum zivilrechtlichen Abwehranspruch gegen eine Störung des Eigentums – erst, wenn ein verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigter Eingriff in den betreffenden grundrechtlichen Schutzbereich erfolgt, beispielsweise wenn eine Behörde ohne gesetzliche Grundlage persönliche Daten erhebt, die durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt sind.92 In diesem Augenblick wird die latente Grundrechtsgefährdung durch „den“ Staat virulent. Erst dann handelt der abstrakte Adressat – die staatliche Gewalt – durch eine konkrete Behörde, und erst dieses Handeln etwa einer Meldebehörde löst einen „Reaktionsanspruch“ gegen die Datenerhebung aus.93 Wie im Zivilrecht gilt: Eine Klage auf Unterlassung oder Beseitigung einer Störung setzt einen Störer voraus, den man unter Angabe seiner ladungsfähigen Adresse verklagen kann. „Der Staat“ hat keine solche Adresse. Erstens gibt es in der Bundesrepublik Deutschland siebzehn Körperschaften des Öffentlichen Rechts, die Staaten sind; zweitens lassen sich diese Staaten nicht mehr nach dem monarchistischen Motto „l’état c’est moi“ personifizieren; und drittens sind sie in den republikanischen Institutionen ihrer drei Gewalten so ausdifferenziert, daß selbst Juristen gelegentlich Schwierigkeiten haben, den richtigen Klagegegner auf Anhieb namhaft zu machen. Mit diesen wenigen Grundunterscheidungen lassen sich auch Verwaltungsrechtsverhältnisse in allgemeine und besondere Rechtsverhältnisse differenzieren. Allgemeine Rechtsverhältnisse sind auch im Verwaltungsrecht Rechtsverhältnisse ohne individuelle Adressaten. Exemplarisch dafür sind die Generalklauseln des (Länder-) Polizeirechts, nach denen die Polizei die Aufgabe hat, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Abstrakt formuliert ist Adressat dieser öffentlichrechtlichen Pflicht – genannt Aufgabe – die Allgemeinheit. Für die Aufgabenwahrnehmung im allgemeinen Polizeirechtsverhältnis heißt dies: Solange nur die Allgemeinheit tangiert ist, nicht aber in Grundrechte Einzelner eingegriffen wird, bedarf es keiner besonderen Befugnisnorm, um die Aufgabe der Gefahrenabwehr erfüllen zu können. Streifenfahrten und Streifengänge auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen sind dafür die anschaulichen Standardbeispiele. Sobald aber ein Privatgrundstück befahren oder betreten wird, ist wegen des rechtsstaatlichen Vorbehalts des Gesetzes eine tatbestandlich bestimmte Befugnis erforderlich, die den betreffenden Grundrechtseingriff rechtfertigt. Die Zuordnung relativer Rechte zu besonderen und absoluter Rechte zu allgemeinen Rechtsverhältnissen ist eine Grundunterscheidung, von der eine dialogische Differenzierung zwischen den Rechtsverhältnissen des Privatrechts und des Öffentlichen Rechts ausgehen kann: Die „staatliche Gewalt“, von der schon in Art. 1 Absatz 1 GG die Rede ist, wird in ihrer geradezu konstitutionellen Unbestimmtheit erst aus der Zuordnung zum allgemeinen Verfassungsrechtsverhältnis verständlich. Es handelt sich um eine im strengen terminologischen Sinne der Rechtsverhältnis92 BVerfGE 65, 1 (43) 93 Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2. Aufl. Tübingen 1991, 173
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theorie „absolute“, von besonderen Rechtsverhältnissen mit relativen Rechten losgelöste Position „des“ Staates, der als Subjekt des allgemeinen Verfassungsrechtsverhältnisses eine kategorial andere Qualität hat als sämtliche Subjekte von Privatrechtsverhältnissen. Wer für diese, das Gewaltmonopol begründende Qualität den Begriff „Souveränität“ verwendet, sollte sich im klaren sein, daß er damit nur die Souveränität des Staates – und nicht etwa die des Volkes – meinen kann: Im Verfassungsstaat des Grundgesetzes geht zwar alle Staatsgewalt „vom Volke aus“ (Art. 20 Absatz 2 Satz 1 GG), das Volk wird durch diese demokratietheoretisch korrekte Bestimmung aber nicht zum Subjekt staatlicher Gewalt (was niemand ernsthaft wollen geschweige denn organisieren könnte), sondern bleibt deren Träger. Auch diese innere Dialogik des Verhältnisses zwischen Volk und Staat ist ein Thema der Rechtsverhältnistheorie. Es wird an anderer Stelle eingehend erörtert.94
94 Rolf Gröschner, Dialogik der Rechtsverhältnisse, in: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, hg. von
KLAUS F. RÖHL, BOCHUM THEODOR GEIGER, BEMERKUNGEN
ZUR
SOZIOLOGIE
DES
DENKENS
I. ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE Die Bemerkungen zur Soziologie des Denkens sind 1959, sieben Jahre nach dem Tode Theodor Geigers, im Archiv abgedruckt worden.1 Ihr Thema ist eine Kritik der Wissenssoziologie Karl Mannheims. Sie haben eine Fortsetzung in einem gleichfalls erst posthum veröffentlichten Manuskript mit dem Titel Zur Befreiung aus dem Ideologiebann.2 Geigers Arbeiten aus der Zeit seiner Emigration sind in Deutschland erst durch die Vermittlung von Paul Trappe wahrgenommen worden. Trappe hatte 1959 in Mainz über die Rechtssoziologie Theodor Geigers promoviert. 1962 gab er einen umfangreichen Band heraus, der Arbeiten zur Soziologie von Theodor Geiger enthielt, von denen einige zuvor noch nicht veröffentlicht worden waren. 1964 erschien der von Trappe edierte Neudruck von Geigers Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Im gleichen Jahr wurde Trappe nach Kiel berufen, wo er zusammen mit Wolfgang Naucke in Seminaren und Veröffentlichungen Grundlagen für die in den Folgejahren aufblühende Rechtsoziologie legte. Trappe war nach seiner Promotion in Mainz von 1959 bis 1963 als Redaktionsassistent des Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie tätig. Vielleicht war es auch Trappe selbst, der die Veröffentlichung der Bemerkungen im Archiv veranlasst hat. Geiger hatte dieses Manuskript bereits 1940 verfasst, als er sich nach dem deutschen Einmarsch in Jütland von der Universität in Aarhus zu seinen Schwiegereltern auf die Insel Fünen zurückgezogen hatte. Von Trappe erfahren wir, dass er das Manuskript im Laufe der Jahre mehrmals überarbeitete und mit anderen Manuskripten zur Ideologie veröffentlichen wollte. Bei der posthumen Veröffentlichung von Ideologie und Wahrheit (1953) blieb dieser schon vorbereitete Teil jedoch unberücksichtigt. II. DER IDEOLOGIEBEGRIFF GEIGERS Aus der Entstehungsgeschichte der Bemerkungen folgt, dass ich zunächst auf den 1953 erschienenen Band Ideologie und Wahrheit eingehen muss. Er trägt den Untertitel Eine soziologische Kritik des Denkens. Die Bemerkungen sind also nur eine mehr oder weniger wichtige Ergänzung zu diesem Band. Ich beginne daher mit einer kurzen Darstellung darüber, was Geiger sich unter Ideologiekritik vorstellte.
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Eine Würdigung dieser Arbeit Geigers gibt Ulrich Arens: Theodor Geigers Kritik der Wissenssoziologie, in: Theodor Geiger, Soziologie in einer Zeit „zwischen Pathos und Nüchternheit“. Beiträge zu Leben und Werk, hg. von Siegfried Bachmann, 1994, 107–115. Theodor Geiger, Zur Befreiung aus dem Ideologiebann, 1962. Dieses Manuskript ist 1962 in
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Ideologisch ist für Geiger eine theoretisch gemeinte a-theoretische Aussage: „Als ideologisch sollen jene Aussagen bezeichnet werden, die ihrer sprachlichen Form und dem in ihnen ausgedrückten Sinne nach sich als theoretische Sachaussagen geben, die aber a-theoretische, nicht der objektiven Erkenntniswirklichkeit zugehörende Bestandteile enthalten.“3 Dieser Ideologiebegriff ist kritisch gemeint, weil er die Aussagen an der Wirklichkeit misst. Zwar ist nicht jede in diesem Sinne falsche Aussage ideologisch: „Die ideologische Aussage ist gewissermaßen »falscher als bloß falsch.“4 Aber Geiger sagt von seinem Ideologiebegriff, er sei ohne die Vorstellung jedenfalls der theoretischen Möglichkeit wirklichkeitsadäquater Aussagen nicht sinnvoll.5 Dieser Ausgangspunkt setzt ein ganz bestimmtes Wissenschaftsverständnis voraus, und zwar ein solches, dass wir heute als positivistisch oder, kritisch gewendet, als szientistisch bezeichnen. Geiger lässt keinen Zweifel, dass das Ziel einer jeden theoretischen Aussage „die Übereinstimmung mit einer objektiv gegebenen Erkenntniswirklichkeit“ zu sein hat.6 Theoretische Aussagen sind für ihn nur solche, die als richtig oder falsch aufgewiesen werden können. Dieser Fall liegt vor, wenn die Aussage nichts anderes ist als die Verarbeitung von Beobachtungen nach den Regeln der Logik.7 Prototyp einer ideologischen Aussage ist für Geiger das Werturteil.8 Das ist auf den ersten Blick nicht ganz einsichtig, denn Ideologie ist ja nach Geiger etwas theoretisch gemeintes A-Theoretisches. Wie können Werturteile theoretisch gemeint sein? Geiger entwickelt seinen Standpunkt in Auseinandersetzung mit der UppsalaSchule und hier vor allem mit Hagerström. Dieser hatte Werturteile als bloße Gefühlsäußerungen für theoretisch sinnlos gehalten. Geiger unterscheidet dagegen zwischen Wertbekenntnissen und Werturteilen. Wertbekenntnisse – der Ausdruck ist nicht von Geiger – bezeugen nur die eigene Gefühlsrelation zu einem Gegenstand. Werturteile dagegen verlangen nach Zustimmung und nehmen damit Richtigkeit für sich in Anspruch. Damit erheben sie einen theoretischen Anspruch. Da sie diesen Anspruch nicht einlösen können, sind sie theoretisch gemeint, jedoch tatsächlich a-theoretisch, und damit ideologisch. Das Problem sieht Geiger also nicht in der Wertung als solcher, sondern darin, dass für eine Wertung überindividuelle Geltung beansprucht wird. Werturteile können nicht durch logische Verarbeitung von Beobachtungen bestätigt oder widerlegt werden. Sie sind deshalb „erkenntnis-illegitim“ oder „paratheoretisch“. Geigers Ideologiebegriff ist von Hans Albert heftig kritisiert worden, weil er Werturteile und metaphysische Aussagen ohne Einschränkung für ideologisch zu erklären scheint. Geiger gehe offenbar von einem erkenntnistheoretischen Dogma aus.9 Ich meine aber, dass man Geiger vor solcher Kritik jedenfalls ein Stück in 3 4 5 6 7 8 9
Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, 1953, 66 AaO., 34 AaO., 6 AaO., 35 AaO., 47 AaO., 53 Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl. 1991, 96 ff., 99; Hans Albert, Ideologie und Wahrheit. Theodor Geiger und das Problem der sozialen Verankerung des Denkens; Hans Albert, Kon-
Theodor Geiger, Bemerkungen zur Soziologie des Denkens
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Schutz nehmen kann, indem man seinen Ideologiebegriff auf verdeckte Werturteile reduziert. Diese Reduzierung ist zulässig, weil man Geiger sonst einen Zirkelschluss unterstellen müsste. Theoretisch, so Geiger, ist eine Aussage, die durch logisch verarbeitete Beobachtungen bestätigt oder falsifiziert werden kann. Eben deshalb nimmt sie Geltung für sich in Anspruch. Das hat aber zur Folge, dass Werturteile nur dann theoretisch gemeint sind, wenn sich ihr Geltungsanspruch aus empirischer Beweisbarkeit ergibt. Sobald jedoch klargestellt ist, dass das Werturteil seinen Geltungsanspruch jedenfalls nicht empirisch, sondern irgendwie anders stützt, ist es nicht mehr theoretisch gemeint und unterfällt nicht länger dem Ideologieverdikt. Ein a-theoretischer Satz, der sich als solcher zu erkennen gibt, kann nicht theoretisch gemeint sein. Sonst stünde „theoretisch“ einmal für „empirisch-logisch beweisbar“; ein anderes Mal aber für den bloßen Anspruch auf überindividuelle Geltung. Sollte dem scharfsinnigen Geiger hier eine simple quaternio terminorum unterlaufen sein? Um dem Zirkel zu entgehen, müssen Werturteile und metaphysische Sätze, die sich als solche zu erkennen geben, aus dem Ideologiebegriff ausgenommen werden. Werturteile und metaphysische Sätze behaupten zwar oft überindividuelle Geltung. Aber sie beanspruchen nicht, empirisch beweisbar zu sein. Wenn Werturteile und metaphysische Sätze schlechthin für ideologisch erklärt werden, so läuft das auf eine bloße Verdoppelung des szientistischen Wissenschaftsbegriffs hinaus. So einfach wollte Geiger es sich aber sicher nicht machen. Man darf Geigers Ideologiebegriff daher auf versteckte Werturteile oder undeklarierte metaphysische Bestandteile von Aussagen oder Aussagensystemen reduzieren. Viele seiner Beispiele fallen in diese Kategorie, so z. B. die von ihm als ideologisch angeprangerten Allgemeinbegriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit usw.10 Geigers Ideologiebegriff hat neben der erkenntnistheoretischen noch eine zweite, empirische Komponente durch den Bezug auf das von ihm so genannte Vitalverhältnis. Gemeint ist, dass der Sprecher sich aus einer Teilnehmerperspektive äußert, dass er „ein Lebensverhältnis zu den Dingen hat, sie in Beziehung auf sich selbst, oder sich selbst in Beziehung zu ihnen setzt.“ „Die Aussagen, die von diesem Standort in legitimer Weise gemacht werden können, sind gar nicht Aussagen über das Objekt selbst, sondern über den Sprechenden im Hinblick auf das Objekt oder: über die Bedeutung des Objektes für den Sprechenden. Dies ist die vital interessierte oder attachierte Haltung. Soweit solche Aussagen nicht zu erkennen geben, daß sie nur das Vitalverhältnis eines Beteiligten zum Aussagegegenstand (reflektierend) betreffen, sondern so aufgefaßt sind, daß sie als Sachaussagen eines Betrachters über den Gegenstand erscheinen – Insofern sind solche Aussagen ideologisch. Sie theoretisieren – oder wie man zumeist sagt: rationalisieren – eine Vitalbeziehung.“11
Ideologische Aussagen theoretisieren oder rationalisieren eine Vitalbeziehung. Damit erweitert Geiger den Ideologiebegriff um eine generalisierte Interessentheorie. Fritz Sack, Soziologie. Sprache, Bezug zur Praxis, Verhältnis zu anderen Wissenschaften; René König zum 65. Geburtstag, hg. von dens., 1973, 117–134. Später geht Albert milder mit Geigers Ideologiebegriff um: Intellektueller Humanismus. Theodor Geiger als Ideologiekritiker und als Vertreter der Aufklärung, in: Siegfried Bachmann Theodor Geiger, Soziologie in einer Zeit „zwischen Pathos und Nüchternheit“. Beiträge zu Leben und Werk, hg. von dems., 1994, 85–106. 10 AaO., 84
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Die Interessentheorie befasst sich, so jedenfalls die Definition Geigers, nur mit wirtschaftlichem und politischem Machtinteresse. Die Vitalbeziehung dagegen erfasst Interessen aller Art.12 Geigers Ideologiebegriff hat also zwei Komponenten, − eine erkenntnistheoretische, die auf den empiristischen Wissenschaftsbegriff hinausläuft, und − eine empirische, die sich als Interessentheorie kennzeichnen lässt. Eine Ideologie ist für Geiger per definitionem falsch. Deshalb ist Ideologiekritik für ihn Erkenntniskritik.13 Aus diesem Ideologiebegriff folgt, dass Geiger sich gegen die Wissenssoziologie Mannheims wenden muss, denn nach dieser ist alles Denken wegen seiner Seinsgebundenheit notwendig ideologisch. Solche Wissenssoziologie eignet sich also nicht, um bestimmte einzelne Aussagen oder Aussagensysteme zu kritisieren. III. KRITIK
AN DER
WISSENSSOZIOLOGIE
Geiger ordnet seine Kritik an der Wissenssoziologie Mannheims unter drei Gesichtspunkten. 1. Er wendet sich gegen die Aufspaltung des Ideologiebegriffs und die damit verbundene Unterscheidung zwischen partikularen und totalen Ideologien. 2. Er wendet sich gegen den Anspruch der Wissenssoziologie, Erkenntniskritik zu leisten. 3. Er wendet sich dagegen, wie Mannheim den Zusammenhang zwischen Ideologien und ihren Realgrundlagen konzipiert. 1. Die Aufspaltung des Ideologiebegriffs durch Mannheim Mannheims entscheidende Tat, so erfahren wir zu Beginn von Geiger, sei die Durchführung des Unterschieds zwischen Wissenssoziologie und Ideologienlehre. Dieser Anfang hat mich verwirrt. Wenn ich Mannheims Lehre mit einem Satz charakterisieren sollte, so würde ich genau umgekehrt sagen, dass er Wissenssoziologie und Ideologienlehre in einen Topf geworfen hat. Denn die Aufgabe der Wissenssoziologie besteht nach Mannheim darin zu zeigen, dass alles Denken seinsverbunden und damit ideologisch ist. Was Geiger meint und kritisieren will, ist die Aufspaltung des Ideologiebegriffs durch Mannheim, denn dieser unterscheidet bekanntlich zwischen partikularer und totaler Ideologie. „Mit einem partikularen Ideologiebegriff haben wir es zu tun, wenn das Wort nur soviel besagen soll, daß man bestimmten ‚Ideen‘ und ‚Vorstellungen‘ des Gegners nicht glauben will. Denn man hält sie für mehr oder minder bewußte Verhüllungen eines Tatbestandes, dessen wahre Erkenntnis nicht im Interesse des Gegners liegt. … wenn man ihm den radikalen, totalen Ideologiebegriff gegenüberstellt. Man kann der Ideologie eines Zeitalters oder einer historisch- sozial konkret bestimmten Gruppe – einer Klasse etwa 12 AaO., 68
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– in dem Sinne reden, daß man dabei die Eigenart und Beschaffenheit der totalen Bewußtseinsstruktur dieses Zeitalters bzw. dieser Gruppen meint.“14
Mannheims Begriff der partikularen Ideologie deckt sich einigermaßen mit dem Ideologiebegriff Geigers, denn er kann kritisch verwendet werden. Ein Unterschied liegt eigentlich nur darin, dass Geiger Lügen ausnimmt, denn Ideologiekritik ist Erkenntniskritik, und wer lügt, denkt richtig. Aber Mannheim interessiert sich überhaupt nicht für partikulare Ideologien. Der Begriff wird nur als Kontrastmittel eingeführt. Die totale Ideologie im Sinne Mannheims ist dagegen unvermeidbar und deshalb nicht kritisierbar: Alles Denken ist notwendig seinsverbunden und damit notwendig ideologisch. Geiger beruft sich auf die Geschichte des Ideologiebegriffs, der seit den Anfängen bei Bacon eine Verzerrung des objektiv Wahren nicht durch bloße Unzulänglichkeit oder Irrtum, sondern durch Befangenheit des Denkens anzeige. Die Totalideologie Mannheims bezeichnet dagegen nur die allgemeine Kondition der Seinsverbundenheit des Denkens. Das ist wohl eine Abweichung von dem bisher üblichen Sprachgebrauch. Aber Geiger hätte hier doch großzügiger verfahren können, indem er die Begriffsbestimmung Mannheims als bloße Nominaldefinition behandelte. Dann könnte er sie allenfalls als unzweckmäßig verwerfen. Davon abgesehen gibt es auch Gesichtspunkte, die für die Wortwahl Mannheims sprechen. Er wollte nämlich eine Grundidee der Marxschen Ideenlehre aufnehmen, die ja ihrerseits eine Totalideologie behauptet. Im übrigen wollte Mannheim Ideologien in dem gemeinten Sinn zwar nicht wie Geiger kritisieren, aber doch „enthüllen“. Das heißt, er wollte ihnen durch Offenlegung ihrer historischen oder sozialen Bedingtheit ihren Absolutheitsanspruch nehmen.15 Großzügigkeit gegenüber dem doppelten Ideologiebegriff Mannheims wäre um so mehr angebracht gewesen, als Geiger 1932 in seinem Buch über Die soziale Schichtung des deutschen Volkes selbst noch einen wertfreien Ideologiebegriff verwendet hatte. Bis zu einem gewissen Grade scheint es also so, als ob Geiger einfach an Mannheim vorbeiredet, weil er sich an dessen Wortwahl stört. Aber in erster Linie bestreitet er, dass man überhaupt sinnvoll zwischen partikularer und totaler Ideologie unterscheiden könne. Der Unterschied zwischen der partikularen und der totalen Ideologie besteht zunächst darin, welche Art von Wissensbeständen auf die Seinsgrundlage zurückgeführt werden, im einen Falle konkrete Aussagen oder Aussagensysteme, im anderen Falle Denkkategorien oder Weltanschauungen. Die Frage, welche Gegebenheit als soziale Grundlage des Wissensbestände in Betracht gezogen werden, bleibt bei Mannheim ziemlich unklar.16 Dagegen ist die Antwort, in welcher Weise die Wissensbestände auf die Realunterlage bezogen werden, jedenfalls in der Formulierung 14 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 1929, hier zitiert nach der 8. Aufl., 1995, 53 f. 15 Karl Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53, 1925, 577–652; hier zitiert nach Karl Mannheim, Wissenssoziologie, hg. von Kurt H. Wolff, 2. Aufl. 1970, 308/316. 16 Kurt Lenk, Ideologie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie, 9. Aufl. 1984, Nachwort S. 350, meint im Werk Mannheims werde die soziale Seinlage durchgehend mit mit geistigen Gebilden identifiziert, , deren Zurechnung zum Sein damit ebenso abstrakt bleibe wie der Begriff der Seinsverbundenheit selber. Die idealtypisch gefassten Begriffe „Adel“, „Bürgertum“ und „Konservative“ lieferten keinen hinreichend bestimmten Bezugspunkt für die von Mannheim postulierte Rück-
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markant: Partikulare Ideologien werden durch psychische Mechanismen vermittelt, vor allem durch Interessen. Totale Ideologien dagegen sind auf noologischer Ebene mit den Seinstatsachen verbunden. Mannheim spricht insoweit von Funktionalisierung. „Bei dem partikularen Ideologiebegriff bewegt sich die Funktionalisierung nur auf der psychologischen Ebene. Wenn man nämlich sagt, diese oder jene Behauptung des Gegners sei gelogen, er verhülle vor sich oder anderen einen Tatbestand, so meint man noch immer – was die noologische (theoretische ) Geltungsebene betrifft – mit ihm auf derselben Basis zu stehen. … Nicht so bei dem totalen Ideologiebegriff. Wenn man etwa sagt, jenes Zeitalter lebt in jener Ideenwelt, wir in einer anderen, oder jene historisch konkrete Schicht denkt in anderen Kategorien als wir, so meint man nicht nur einzelne Gedankeninhalte, sondern ein ganz bestimmtes Gedankensystem, eine bestimmte Erlebnis- und Auslegungsform. Es wird eben die noologische Ebene funktionalisiert, so oft man mit den Inhalten und Aspekten auch die Form, letzten Endes die kategoriale Apparatur auf eine Seinslage bezieht.“17
Die Beziehung zwischen Wissen und Seinsgrundlagen bekommt zwar einen besonderen Namen, aber worin genau der Unterschied zwischen „psychologisch“ und noologisch18 – Geiger spricht gleichbedeutend von noetisch – besteht, wird nicht näher beschrieben, sondern muss sich dem Leser aus der Art der Wissensbestände – hier konkrete Aussagen, dort Denkkategorien, Weltanschauungen, Aspekte, Erlebnis- und Auslegungsformen – erschließen. Geiger hält entgegen, zwischen noetischer und psychischer Befangenheit lasse sich keine scharfe Grenze ziehen, und damit falle auch die Unterscheidung zwischen partikularer und totaler Ideologie. An Hand von Beispielen versucht er zu zeigen, dass sich zwischen den aktuellen Interessen der Beteiligten, die nach Mannheim eine partikulare Ideologie begründen, und der Aspektstruktur des Denkens, die die totale Ideologie ausmacht, nicht sinnvoll unterscheiden lässt. Eines seiner Beispiele ist der Industriearbeiter, der einen größeren Lohnanteil am Warenpreis für gerecht hält. Ein höherer Lohn entspricht ohne Frage seinem Interesse. Mit einiger Sicherheit eignet dem Arbeiter aber auch eine Aspektstruktur, die durch seine soziale Position geprägt ist. Als Folge wird er den Wert der Arbeit tendenziell zu hoch einschätzen. Dem Denkergebnis – mein Lohn ist zu niedrig – könne man nicht ansehen, wieweit es psychisch durch ein Interesse oder sozial durch die Zugehörigkeit zu eine bestimmten Gruppe bedingt sei (S. 25). In der Tat: Die Unterscheidung zwischen partikularen und totalen Ideologien geht jedenfalls so, wie sie bei Mannheim angelegt ist, nicht auf. Auf den ersten Blick hatte ich den Eindruck, dass Geiger mit seinen Beispielen Mannheim nicht gerecht wird. Dieser Eindruck war bei mir durch die abstrakten Formulierungen Mannheims begründet. Diese klingen nämlich so, als wenn die Totalideologie die Wahrneh17 Mannheim (Fn. 14), 54 f. 18 „Noologie“ ist ein von dem Philosophen Rudolf Eucken eingeführter Neologismus zur Bezeichnung alles dessen, was sich auf den Geist in seinem selbständigen Eigenleben bezieht. Eucken stellt die noologische Methode, die das als zeitlos bestimmte Eigenleben des Geistes untersucht, der psychologischen Methode gegenüber, die die geistig-seelischen Bewusstseinsprozesse des Menschen behandelt. Eine Erklärung des Geisteslebens aus materiellen und psychologischen Ursachen lehnte er ab. Mannheims These geht aber gerade dahin, dass das Denken sich nicht nach immanenten Gesetzen entfaltet, sondern dass es durch „außertheoretische“ Seinsfaktoren
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mungsweise und den Begriffsapparat eines ganzen Zeitalters erfasst. Auch von Weltanschauungstotalität ist die Rede. „Nicht isoliert einzeln hängen die Vorstellungen seiender Menschen von ihrem sozialen Sein ab, sondern die Ganzheit der Vorstellungswelt, der gesamte Überbau ist Funktion ihres sozialen Seins. … Nicht indem man [Gedanken] einzeln negiert, nicht indem man sie bezweifelt, nicht indem man sie als Lüge bezeichnet, nicht indem man sie einzeln als von einer Interessenlage bedingt enthüllt, werden sie relativiert, sondern indem man sie als Teile eines Systems, noch weitergehend als Teile einer Weltanschauungstotalität aufweist, die als Ganzes gebunden ist an eine Etappe des sozialen Seins. Von nun an stehen Welten Welten gegenüber, und nicht Einzelbehauptungen werden Einzelbehauptungen gegenübergestellt.“19
Wenn Mannheim dann aber konkreter wird, was allerdings selten geschieht, dann gibt es doch überraschend viele, bemerkenswert kleinräumige »Totalideologien«. Total ist eben nicht »total«. Es sind längst nicht mehr Klassen im marxistischen Sinne, die das Denken bestimmen, sondern spezifische Kreise wie Sekten, Berufsgruppen (z. B. Beamte) oder wissenschaftliche Schulen, die die Seinsgrundlage für eine Totalideologie abgeben können. Zwei Beispiele, über die Mannheim selbst ausführlich gearbeitet hat, nämlich die „Konkurrenz im Geistigen“20 und die „Generationenlagerung“21, haben ein ähnliches Format wie die Beispiele Geigers. Wir erfahren außerdem von Mannheim, dass die verschiedenen Denkstile sich nicht über die Zeit ablösen müssen, sondern, das ist sogar der Normalfall, nebeneinander besehen. Mit zwei solcher Denkstile, mit dem konservativen und dem liberalen Denken, hat Mannheim sich selbst intensiv befasst.22 Er betont, dass zu gleicher Zeit meistens mehrere Aspekte oder Denkstile anzutreffen sind. Mannheim dachte also konkreter und historischer als seine abstrakten Formulierungen vermuten lassen. Deshalb ist die Kritik Geigers berechtigt. So wie Mannheim die Grenze ziehen wollte, lässt sich zwischen partikularen und Totalideologien nicht differenzieren. So sagt denn Geiger völlig zutreffend: „Wenn es rein noetisch-totale Ideologien gibt, sind es die Befangenheiten ganzer Epochen. Zwischen den in einer Zeit konkurrierenden Denkweisen wird nie nach totalen und partikulären unterschieden werden können, der besondere Standort in der Gesellschaft einer Zeit ist stets für Aspekt und Interesse bestimmend.“ (S. 26)
Der Unterschied ist kein kategorischer, sondern nur einer der quantitativer. Geiger will ihn daher nur heuristisch als sinnvoll akzeptieren (S. 27).
19 Mannheim (Fn. 15), 320. 20 Karl Mannheim, Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen, Verhandlungen des sechsten Deutschen Soziologentages vom 17. bis 19. September in Zürich, 1929, 35–83; hier zitiert nach Karl Mannheim, Wissenssoziologie, hg. von Kurt H. Wolff, 2. Aufl. 1970, 566–613. 21 Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7, 1928, 157–185, wieder abgedruckt in: Karl Mannheim, Wissenssoziologie, hg. von Kurt H. Wolff, 2. Aufl. 1970, 509–565. 22 Karl Mannheim, Das konservative Denken, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 57, 1927, 68–142 u. 470–495, wieder abgedruckt in: Karl Mannheim, Wissenssoziologie, hg. von Kurt
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156 2. Wissenssoziologie als Erkenntniskritik?
Der zweite Einwand Geigers richtet sich gegen den Anspruch der Wissenssoziologie, Erkenntniskritik zu leisten. „Die Wahl des minder bestimmten Ausdrucks Soziologie des Denkens statt Wissenssoziologie hat noch einen zweiten Grund. Wissenssoziologie heißt und ist: soziologische Kritik der Erkenntnis. Hier soll aber dargetan werden, dass eine soziologische Erkenntniskritik zwar als Hilfsmethode der allgemeinen philosophischen Erkenntniskritik nötig, als selbständige Disziplin aber unmöglich ist …“ (S. 27)
Die Argumentationslinie Geigers ist ähnlich wie zuvor: Er macht geltend, dass sich in den Denkergebnissen soziale Einflüsse von anderen, die er konstitutionell nennt, nicht trennen lassen. Unter der Hand hält er Mannheim dabei vor, dass dessen Konzept der Seinverbundenheit des Denkens gar nicht unbedingt soziologisch sei. Mannheim lasse vielmehr zunächst ganz unbestimmt, welche Elemente des Seins gemeint sein, um dann unvermittelt zu erklären, dass es sich um Sozialverhältnisse handele allein deshalb, weil sie sich im sozialen Raum auswirkten. Auch hier hat Geiger einen wunden Punkt Mannheims getroffen. Ich selbst habe die größten Schwierigkeiten, Mannheims Theorie überhaupt als soziologisch einzuordnen. Mannheim nennt sich einen Historisten23, der die Geschichtsphilosophie, die meistens nur in Geschichtsperioden denkt, und deren innere Differenziertheit zu übersehen geneigt ist“, durch ein „sozial differenziertes Sehen der Gesamtbewegung“ ergänzen will24. Was er treibt, ist eine Geistesgeschichte, die von sich behauptet, dass sie die Seinsgebundenheit des Denkens offen lege, dabei jedoch über bloße Andeutungen kaum hinaus kommt.25 Geiger und Mannheim reden auch hier aneinander vorbei, weil Geiger unter Erkenntniskritik etwas anderes versteht als Mannheim. Geiger lässt sich nicht wirklich auf Mannheim ein. Ihm geht es um die Aussonderung ideologischer, d. h. in seinem positivistischen Sinne unwissenschaftlicher Äußerungen. Für Mannheim stellt sich dagegen mit der soziologisch-genetischen Erklärung von Wissensbeständen überhaupt erst das Problem, ob erkenntnistheoretische Konsequenzen zu ziehen sind. Aus Geigers Ideologiebegriff folgt, dass zwischen Erkenntniskritik und Ideologiekritik ein scharfer Unterschied zu machen ist. In Ideologie und Wahrheit unterscheidet er „zweierlei Ideologiekritik“, nämlich eine theoretische und eine andere, die er unbenannt lässt, die wir aber nach dem Untertitel des Buches soziologisch nennen dürfen.26 23 Mannheim (Fn. 15), 308/333. 24 Karl Mannheim, Historismus, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 52, 1924, 1–60; hier zitiert nach Karl Mannheim, Wissenssoziologie, hg. von Kurt H. Wolff, 2. Aufl. 1970, 246/296. 25 Wenn Geiger allerdings weiter darauf insistiert, die sozialen Seinsfaktoren seien nicht von den konstitutionellen – gemeint sind Raum, Zeit, Lebensalter, Geschlecht, Rasse – zu trennen, so kann man ihm wohl selbst dann nicht folgen, wenn man keinem radikalen Konstruktivismus anhängt. Soziologie baut nun einmal darauf, dass sich soziale von anderen Variablen abgrenzen lassen; sonst gäbe es keine Soziologie. Und deshalb kann man auch eine disziplinär abgegrenzte soziologische Wissenskritik für möglich halten. 26 Geiger vermeidet den Ausdruck soziologisch, denn er meint, die außertheoretischen Bezugs-
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Die theoretische Kritik entspricht dem ersten Merkmal des Ideologiebegriffs. Um die Legitimität einer Aussage als wissenschaftliche Hypothese oder um ihre Richtigkeit oder Falschheit zu beurteilen, braucht Geiger eigentlich gar keine Ideologiekritik, sondern es genügt die wissenschaftliche Methode. „In der Tat: Wenn es keine andere kritische Frage gäbe, als die nach der Richtigkeit oder Falschheit einer Aussage, oder nach ihrer erkenntnistheoretischen Zulässigkeit – dann brauchten wir keine Ideologiekritik.“27 Anders die soziologische Kritik: „Diese setzt vielmehr an der Genesis des Fehlers ein. Sie fragt nicht: Ist dieser Satz richtig oder falsch? Sie fragt vielmehr: Wie kommt es, dass gerade dieser Denker gerade diesen Denkfehler macht?“28 Diese Frage läuft, auf eine empirisch-genetische Ideologiekritik hinaus. Allerdings hat man nach dem Zitat den Eindruck, dass die soziologische Ideologiekritik nur ohnehin schon als a-theoretisch oder falsch eingestuften Aussagen gelten soll. Aber oft und vielleicht sogar öfter ist es zunächst die Analyse der Interessenbedingtheit, die den Ideologieverdacht weckt, der dann bei der theoretischen Prüfung bestätigt oder verworfen werden kann. Daher ist es völlig konsequent, wenn Geiger in den Bemerkungen die Soziologie nur als Hilfsdisziplin der Erkenntnistheorie akzeptieren will. Den Intentionen Mannheims wird Geiger damit aber nicht gerecht. Wissenssoziologie wirft zwangsläufig die Frage auf, welche Konsequenzen die Seinsgrundlage des Wissens für den erkenntnistheoretischen Status eben dieses Wissens hat. Die nächstliegende Antwort geht dahin, dass mit dem Aufweis der sozialen Genese des Wissens dessen Geltungsanspruch zerstört wird. Das war jedoch nicht die Ansicht Mannheims. Mannheim selbst war vorsichtig. Wissenssoziologie war für ihn nicht gleichbedeutend mit Erkenntnistheorie. Er meinte jedoch, dass sie immerhin Folgen für die Erkenntnistheorie haben müsse. Er sprach insoweit von der Wissenssoziologie als Fundierungswissenschaft der Erkenntnistheorie. Geiger hätte hier näher prüfen können und müssen, ob diese Vorstellung nicht mit seiner eigenen von der Wissenssoziologie als Hilfswissenschaft der Erkenntniskritik verträglich war.29 vielleicht biologische Wurzeln von Ideologien (Geiger [Fn. 3], 182). Aber dass ist nur ein kleiner Seitenhieb auf den sog. Soziologismus, denn: „Damit fällt dann die verbreitete Auffassung Ideologiekritik (Ideologienlehre) sei ein Zweig soziologischer Forschung.“ 27 Geiger (Fn. 3), 180 28 Ebd. 29 Der Grundgedanke der Wissenssoziologie, den Mannheim als Seinsverbundenheit des Denkens formuliert hatte, war als solcher nicht völlig neu. Er war im Grunde radikaler schon von Durkheim ausgeführt worden. Schon in Ideologie und Wahrheit setzt sich Geiger mit dem von Durkheim, Gumplowicz und Scheler eingebrachten Gedanken auseinander, dass auch Beobachtung und Logik selbst sozial und damit ideologisch determiniert sein könnten (S. 134). Das, was wir heute radikalen Konstruktivismus nennen, erklärt er jedoch schlichtweg für absurd (S. 135). Er akzeptiert nur, dass die Wahrnehmung ungenau und unvollständig ist, so dass jede Beobachtung nur als vorläufig gelten kann. Raum für Ideologien sieht Geiger vor allem darin, dass Beobachtungen dogmatisiert werden wie seinerzeit das ptolemäische Weltbild. Auch auf die Logik lässt Geiger nichts kommen. Probleme sieht er nur in der Dogmatisierung von Begriffen (S. 143 ff.). Eine Umbildung des Kategoriensystems hält Geiger zwar für möglich. Sie sei jedoch nicht aus der Sozialstruktur erklärbar, sondern nur aus Veränderungen des Erfahrungswissens (S. 149 f.). Für Geiger gibt es Erkenntniskritik also nur auf der Basis einer positivistischen Grundeinstellung. Er nimmt gar nicht zur Kenntnis, dass Mannheim (wie Fn. 15, S. 318) eben auch seinen, also Geigers, Positivismus nur als eine Metaphysik unter anderen einstuft. Nur von diesem
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In Kapitel VII von Ideologie und Wahrheit beschäftigt Geiger sich mit „Frage-Antrieb und Aussage-Steuerung“: „Hinter aller Bemühung um theoretische Erkenntnis sind a-theoretische Beweggründe am Werke. Es gibt keine Erkenntnisaussage, an deren Zustandekommen nicht irgendwo der Wille, ein Interessiertsein, ein Vitalanlogische Zurechnung einer Aussage für deren Wahrheitsgehalt unter allen Umständen irrelevant bleiben müsse, wenn nicht umgekehrt das Relativismusurteil der Wissenssoziologie auch diese selbst treffen solle. Von dem Ideologieverdikt nimmt Mannheim immerhin, insoweit der marxistischen Tradition folgend, die „exakten Naturwissenschaften“ und „formales Wissen“ aus. Im historischen, politischen, sozialwissenschaftlichen und im Alltagsdenken gibt es allerdings keine ideologiefreie Zone. Hier bestimmt die Seinsgrundlage die Sicht auf die Dinge. Deshalb spricht Mannheim (wie Fn. 20, S. 569) insoweit und nur insoweit von „seinsverbundenem Denken“. Vor einem grenzenlosen Relativismus schützt Mannheim insoweit der unbestimmte Glauben, dass alle „Denkstandorte und Denkinhalte Teile eines über sie hinausragenden Werdens sind.“ Der Wandel ist das Beständige. Und er hat paradoxerweise sogar ein Ziel. „Letztes Absolutum“ ist ein „sozialer Gesamtprozess“ (wie Fn. 15, S. 323). Mannheim bestand darauf, dass es ihm nicht darum gehe, Wissen schlechthin zu relativieren, sondern vielmehr nur darum, Wissensbestände zu „relationieren“ und partikularisieren (Mannheim [Fn. 14], 242). Ihm kam es nur darauf an, durch „Distanzierung“ den Absolutheitsanspruch unterschiedlicher Weltanschauungen zu zerstören. Das soll geschehen, indem man diese Anschauungen aus ihrer Genese heraus versteht. Die Einsicht in die Seinsverbundenheit des Denkens könne als erster Schritt zur Lösung von der Seinsverbundenheit gesehen werden (ebd. 259). Mannheim betonte im übrigen wiederholt, er selbst habe „noch keinen ausgearbeiteten, dem heutigen Stand der Einsichten entsprechenden Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff, der gerade dieses seinsverbundene Denken und Erkennen zur Grundlage hätte“ (wie Fn. 15, S. 364). Er sah „den Wahrheitsbegriff nicht eindeutig für alle Zeiten festgelegt, sondern auch … in den historischen Wandel einbezogen“ (Artikel Wissenssoziologie, in: Alfred Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, 1931, 659–680/670 l. Sp.). Mannheim war andererseits auch nicht der Ansicht, dass es zwischen Genesis und Geltung überhaupt keine Beziehung gebe. Er meinte vielmehr, es müsse zu einer Revision der These kommen, „daß die Genesis unter allen Umständen geltungsirrelevant sei“ (Mannheim [Fn. 14], 251). Es ging ihm um die „Entdeckung des aktiven Elements, das im Erkennen steckt“ (ebd. 250). Er wollte deshalb den Begriff des Erkennens in dem Sinne umdenken, „daß Wißbarkeiten im Elemente willensmäßiger Ausgerichtetheit entstehen können“ (ebd. 254). Er meint damit „jenen unaufhebbaren Rest von willensmäßigem im Wissen, der auch dann noch vorhanden ist, wenn man alle bewussten und expliziten Wertungen abgebaut hat.“ (ebd. 243). Praktisch ist es am Ende die »sozial freischwebende Intelligenz«, die mit der Vielzahl der Aspekte und Relationen gleichsam jonglieren kann und eine auch politisch relevante „überperspektivische Synthese“ finden soll. Gegen diese Vorstellung hat sich Geiger an anderer Stelle gewandt (Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, 1949 [Nachdruck 1987], S. 61 ff.). Er macht u. a. geltend, dass die Intelligenz selbst Teil des Ideologieproblems sei, denn ohne sie gäbe es viele der ideologischen Gegensätze gar nicht, die es zu überwinden gilt. „Die Intelligenz kann nicht das politische Handeln normieren und damit den gesellschaftlichen Geschehensverlauf steuern, weil die Macht stets ihren eigenen Willensintentionen folgen wird … Der Dualismus, ja Antagonismus zwischen Geist und Macht ist unaufhebbar, er in der Natur der Dinge begründet. Die Macht als Vollstreckerin der Vernunft ist eine ewige Utopie …“ (ebd. 71). Ferner weist Geiger auf die Mißbrauchsmöglichkeit hin, die durch den Nationalsozialismus bezeugt sei. Lieber macht darauf aufmerksam, dass Geiger damit zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen sei wie Max Scheler, der in nahezu allen Arbeiten seit den Weltkriegsjahren den „Urdualismus“ zwischen Macht und Geist als den zentralen Konflikt in Geschichte und Gesellschaft begriffen habe (Hans-Joachim Lieber (Hg.), Ideologie, Wissenschaft, Gesellschaft: neuere Beiträge zur Diskussion,
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trieb beteiligt wäre, und sei es auch nur die Wissbegier des Forschers.“30 Es geht um das, was ich heute die Wertbasis einer wertfreien Wissenschaft nennen würde, insbesondere um das Erkenntnisinteresse. Insoweit verträgt es sich mit Geigers Vorstellungen sehr gut, wenn Mannheim vom „Hineinragen“ sozialer Prozesse in den Erkenntnisprozess spricht. Mannheim hat es so formuliert: „Denn soviel scheint heute schon klar zu sein, dass man sich in der vorangehenden geistesgeschichtlichen Orientierung mit dem Apriori, dass im Gebiete des Wandels alles Geistigen alles vom „Geiste“ her zu verstehen sei („immanente Geistesgeschichte“) von vornherein den Weg zur Entdeckung des etwaigen Hineinragens der sozialen Prozesse in das „Geistige“ versperrt hatte. So wird denn auch seit der Auflockerung dieses Aprioris in immer mehr Fällen in concreto sichtbar, dass a) bei der Problemstellung ein der Formulierung vorangehender, problematischmachender Lebensakt das Problem erst ermöglicht, b) bei der Auswahl aus der Fülle des Stoffes ein willensmäßiger Akt bei dem Erkennenden am Werke ist und dass c) bei dem Ductus (bei der Problemführung) lebendige Kräfte im Spiele sind. Was nun diese lebendigen, willensmäßigen Kräfte und Einstellungen, die hinter den theoretischen stehen, betrifft, so wird es gleichfalls im Zusammenhang dieser Forschungen immer klarer, dass sie keineswegs bloß individueller Natur sind. D. h., sie haben ihren Ursprung … im kollektiven … Willenszusammenhang einer Gruppe, an deren Aspekten dieses Individuum mit seinem Denken nur partizipiert.“31
Das wäre auch von einem positivistischen Standpunkt aus akzeptabel. Geiger erkennt immerhin an, dass Mannheim zwischen Faktizitätsgenesis und Sinngenesis von Aussagen unterschieden haben. Aber da er Mannheims weitergehende These, dass die Aspektstruktur des Denkens auch die Sinngenesis von Aussagen bestimme, nicht akzeptiert, geht er auch auf diese Ausführungen Mannheims zur Faktizitätsgenesis nicht ein.32 3. Die „Korrelation“ zwischen Ideologie und ihrer Realunterlage Der dritte und letzte Kritikpunkt Geigers betrifft den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Ideologie und ihrer Realunterlage. Geiger greift die Formulierung Mannheims auf, nach der Wissenssoziologie das Denken auf die Seinsebene „funktionalisiert“33: „Der Ideologiebegriff enthält in allen Formen, in denen er auftritt, die 30 31 32 33
Geiger (Fn. 3), 112 Mannheim (Fn. 14), 230 f. Geiger (Fn. 3), 113 Mannheim, Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, Jahrbuch für Soziologie, 2. Band, 1926, 432, hier zitiert nach Kurt H. Wolff (Hg.), Wissenssoziologie, 388–407, 397: [Innenbetrachtung: Idee; soziologische Außenbetrachtung: Ideologie] „Durch die Funktionalisierung eines geistigen Gehaltes auf den dahinterstehenden sinnvollen Seinszusammenhang gewinnt dieser geistige Zusammenhang einen neuen Sinn, und das ist eben das Wunder eines jeden historischen Denkens, daß wir die Fähigkeit besitzen (nachträglich rückblickend), einen gewesenen geistigen Gehalt (Idee) als Ideologie zu fassen, d. h. auf das dahinterstehende, nachträglich für uns sinnvoll werdende Sein hin zu funktionalisieren und dadurch ihm einen neuen Sinn abzu-
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Vermutung eines Zusammenhangs zwischen Realfaktoren und geistigen Erzeugnissen oder Äußerungen. Geistige Produkte werden auf einen Realhintergrund ‚funktionalisiert‘. Was soll das heißen?“ (S. 40) Das Problem ist bis heute virulent. Das zeigt etwa ein Aufsatz von Hubert Rottleuthner in der Raiser-Festschrift34. Er trägt den Titel „Korrelation und Argumentation“. Mit „Korrelation“ meint Rottleuthner die vermutete, aber ungeklärte Beziehung zwischen dem sozialen Hintergrund von Juristen, insbesondere Richtern, und ihren Entscheidungen. Mannheim hatte von dem „Hereinragen von Realfaktoren in den Denkprozeß“ gesprochen. Er wollte gewisse Phänomene der Geistestätigkeit „auf ein überpersönliches Zurechnungssubjekt hin“ beziehen.35 Das ist für Geiger „reine Mystik“.36 Er hält dagegen, dass alle Geistestätigkeit eine solche von Personen sei. Daher habe es keinen Sinn, sie überpersönlichen Subjekten zurechnen zu wollen: „Wenn Realfaktoren auf den Denkprozeß einwirken, dann doch nur in der Weise, daß der Denkende sie einmengt.“37 Um die Verbindung zwischen dem denkenden Individuum und den Seinsgrundlagen herzustellen, psychologisiert Geiger den Ideologiebegriff. Den Denkprozess als solchen kann man nicht beobachten und folglich auch nicht kritisieren, nur seine Ergebnisse. Dass muss zunächst gegenüber Mannheim klargestellt werden: „Ideologie ist also bald Gedanke, bald Denken; hier ein Geisteserzeugnis, ein Gedankengang oder Gedankensystem, – dort eine Geisteshaltung, die in solchen Hervorbringungen ihren Ausdruck findet. Es ist unwichtig, welche Ausdrücke man wählt. Aber man muss die beiden Stufen unterscheiden.“ (S. 41)
Um nun die Korrelation zwischen der sozialen Grundlage und dem Ergebnis des Denkprozesses herzustellen, führt Geiger den Begriff der Mentalität38 ein: „In diesem Sinne habe ich schon vor Jahren en passant vorgeschlagen, das zweigliedrige Schema Realunterlage – Ideologie zu ersetzen durch ein dreigliedriges: Realunterlage – Mentalität– Ideologie –. Begrenzt man sich hier auf die soziologische Seite des Ideologieproblems, so ist Realunterlage die Gesamtheit der zeitlichen und örtlichen Sozialbedingungen, unter denen der Denker lebt, Ideologien sind objektivierter Geist – Mentalität wird als Zwischenglied eingeschoben und bezeichnet die geistige Disposition oder Neigung des Subjekts, eine »intellektuelle Gesinnung«, wenn man will.“ (S. 41)
Dreierlei will Geiger erreichen.
34 Korrelation und Argumentation. Zur Soziologie und Neurobiologie richterlichen Handelns, in: Festschrift für Thomas Raiser, 2005, 579–598. 35 Mannheim (Fn. 14), 56 36 Kritische Bemerkungen zum Begriffe der Ideologie, in: Paul Trappe (Hg.), Theodor Geiger, Arbeiten zur Soziologie, 1962, 412–430, 416. 37 Ebd. 416; ähnlich Geiger (Fn. 3), 163 38 Es fällt auf, dass in den Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts nicht mehr, wie in den älteren Arbeiten, von „Denkstil“ oder „Mentalität“ die Rede ist. Insbesondere in den „Bemerkungen zum Thema Rechsbewußtsein“ hätte man eine Wiederaufnahme dieser Begriffe erwarten können. Als „Mentalität“ hätte Geiger noch ein bißchen von der psychologisch-empirischen Seite des Rechtsbewusstseins retten können. Die Erklärung ist vermutlich, dass es Geiger in den Vorstudien darum geht, ganz andere Verwendungsweisen des Begriffs („juridische“) zurückzuweisen; diese Kritik halte ich nach wie vor für triftig. Mit seiner Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit eines Rückschlusses von Äußerungen und anderen Handlungen auf innere Einstellungen dürfte sich
Theodor Geiger, Bemerkungen zur Soziologie des Denkens
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Erstens will er auch hier wieder seinen eigenen Ideologiebegriff durchsetzen. Der totale Ideologiebegriff bezieht sich auf das Denken, auf einen Denkstil39, eine Denkweise, auf die Tätigkeit des Denkens. Er ist in einem nicht introspektiven Zusammenhang sinnlos. Der richtige Ideologiebegriff muss sich auf Aussagen beziehen. Die Mentalität ist eine notwendige Zwischenstufe, um soziale Prägungen im Individuum zu verorten, bevor sie sich in ideologischen Aussagen niederschlagen. Zweitens will Geiger auf der begrifflichen Ebene offenlassen, wie sehr das Individuum den Nötigungen der Seinsgrundlagen ausgeliefert ist. Mentalität ist eine bloße Disposition, nicht Determination. Aber darin hätte ihm auch Mannheim kaum widersprochen Drittens soll der Begriff der Mentalität helfen, die Doppelrolle von Ideologien als Aussagen oder Aussagesysteme und als Seinsgrundlagen klarzustellen. Denn es liegt ja so, dass der Begriff der Seinsgrundlage, mit dem sich Geiger auf Mannheim bezieht, nicht nur Verhältnisse trifft, die sich irgendwie materialisiert haben, wie Standesunterschiede, soziale Rollen usw. Zu den Seinsgrundlagen gehören auch Ideen und Ideologien. Eine ideologische Aussage, wenn sie einmal in der Welt ist, wird ihrerseits wieder zur Seinsgrundlage und kann damit auf die Mentalität wirken. IV. „BEFREIUNG
AUS DEM
IDEOLOGIEBANN“
„Unsere letzte Frage betrifft die Möglichkeiten der Emanzipation von der Befangenheit (ideologiefreies Denken).“ (S. 50). Eine Antwort auf die gestellte Frage gibt das unvollendete Manuskript nicht mehr. Es folgt nur noch eine, wie es Geiger nennt, lehrgeschichtliche Umschau. Sie ist textidentisch mit den ersten drei Seiten der Abhandlung Befreiung vom Ideologiebann, die erst 1962 in dem von Paul Trappe herausgegebenen Sammelband mit Arbeiten Geigers gedruckt wurde. Diese Arbeit besteht noch einmal weitgehend in einer Auseinandersetzung mit Mannheim, nunmehr mit Mannheims Vorstellungen, wie man durch »dynamischen Relationismus« der totalen Ideologie entkommen könne. Mannheim hatte darauf bestanden, dass es ihm nicht darum gehe, Wissen schlechthin zu relativieren, sondern vielmehr nur darum, Wissensbestände zu „relationieren“ und partikularisieren40. Ihm kam es darauf an, durch „Distanzierung“ den Absolutheitsanspruch unterschiedlicher Weltanschauungen zu zerstören. Das soll geschehen, indem man diese Anschauungen aus ihrer Genese heraus versteht. Die Einsicht in die Seinsver-
39 Wenn Geiger und Mannheim von einem Denkstil sprechen, meinen sie nicht dasselbe. Denkstil im Sinne Mannheims ist eine erkenntnistheoretischer oder, wie er sagt, noologischer Begriff. Er verhilft zu Kategorien der Wahrnehmung. Für Geiger ist der Denkstil dagegen ist ein psychologischer Begriff, gleichbedeutend mit Mentalität. Er benennt die soziale Prägung des Individuums, die eine Tendenz zu ideologischen Aussagen bestimmter Art begründet: „Der Begriff des Denkstils ist kultursoziologisch (und geistesgeschichtlich), er bezieht sich auf Denkweise und Wissen ‚der Zeit‘; er ist nicht erkenntnistheoretisch, nicht zwingend für das Denken eines einzelnen Denkers.“ (Befreiung aus dem Ideologiebann, 443).
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bundenheit des Denkens könne als erster Schritt zur Lösung von der Seinsverbundenheit gesehen werden.41 „[Partikularisierung] Das was inmitten einer Gruppe als absolut gilt, wird vom Außenstehenden als durch diese Gruppe bedingt, als partial … erkannt. Die Voraussetzung für diese Art der Erkenntnis ist … eine Distanzierung. Diese Distanzierung kann erfolgen dadurch, a) daß einer der konkreten Gruppenträger (Mitglied der Gruppe) im historisch sozialen Raum abwandert (sozialer aufstieg, Emigration usf.), b) daß die Seinsbasis einer ganzen Gruppe im Verhältnis zu ihren hervorgebrachten Normen und Institutionen sich verschiebt …; c) daß im gleichen sozialen Raume zwei oder mehrere sozial gebundene Weltauslegungsarten miteinander Ringen und sich in ihrer Kritik gegenseitig soweit durchleuchten und distanzieren, dass allmählich das distanzierend-Sehen … zur realisierten Denkhaltung wird. … Relationismus bedeutet nicht, daß es keine Entscheidbarkeit in Diskussionen gibt, sondern daß es zum Wesen bestimmter Aussagen gehört, nicht absolut, sondern nur in standortgebundenen Aspektstrukturen formulierbar zu sein. … jede ganz vollzogene und zu Ende gedachte wissenssoziologische Analyse ist … nicht nur eine Relationierung, sondern eine Partikularisierung ihres Sicht- und Geltungsbereiches zugleich. … Man rechnet nicht nur zu, sondern in dieser Zurechnung vollzieht sich eine Geltungseinschränkung der (zunächst absolut geltenden) Aussagen. … Die Fassungskraft der verschiedenen Standorte wird meßbar und umkreisbar.“42
Geiger führt dazu aus, wenn Mannheim seine eigene Theorie ernst nehme, dass nämlich die Seinstruktur des Denkens auf der noologischen Ebene wirksam sei, dann endeten alle Befreiungsversuche im Problem der Zirkularität des Relativismus.43 Und er verwirft auch Mannheims Idee, dass eine „sozial freischwebende Intelligenz“ eine Synthese der partikularen politischen Denkweisen schaffen könne. Er nennt diesen Vorschlag sogar den schwächsten Teil des Mannheimschen Gedankengebäudes, nicht zuletzt, weil die Intelligenz Teil des Ideologieproblems sei. Geigers eigene Lösung geht davon aus, dass alle „Seinverbundenheit des Denkens“ das konkrete Denkergebnis nur auf der psychischen Ebene erreichen kann. Er akzeptiert zwar die Redeweise vom Denkstil einer Epoche, verneint jedoch einen notwendigen Zusammenhang zwischen Denkstilen und konkreten Denkergebnissen: „Es kann gegenüber der Wissenssoziologie nicht behauptet werden, daß unbefangenes, von der Seinslage des Subjekts unberührtes Denken ohne weiteres möglich sei … Doch ist der Einflußmechanismus ein anderer und die Abhängigkeit minder zwingend, weil nicht im Denken selbst
41 Mannheim (Fn. 14), 259 42 Mannheim (Fn. 14), 241 ff. 43 Zu dem berühmten Relativismusproblem der Wissensoziologie formuliert Geiger ganz modern: „Was damit erreicht ist geht – um in Mannheims Bild der visuellen Vorgänge zu bleiben – nicht über die Abgrenzung des blinden Flecks in meinem Sehfeld hinaus. Die wissenssoziologische Analyse meiner Seinslage und die Aussagen anderer lassen mich darauf schließen, wo im gesamten Denkfeld die mir perspektivisch verdeckten Bezirke liegen, wo warum und in welcher Weise ich mir selbst verdächtig werden sein muß, verzerrt zu sein, und namentlich nicht mit ihren
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begründet. … Soziologische Interpretation ist vielfach gar zu flott im Aufweis von Entsprechungen. Das alles sind doch Verstehensversuche ex post. …Denken ist ein Akt der Freiheit.“44
Zwar lassen sich in der Person des individuellen Denkers soziale und individuelle, rationale und emotionale substantiell nicht trennen. Methodisch können sie jedoch unterschieden und auch funktionell in der Praxis weitgehend auseinandergehalten werden.45 Dazu dienen zunächst auf der Basis der im Prinzip für unwandelbar gehaltenen Rationalität das Theoretisieren und Formalisieren. Das sich das grundlegende Kategoriensystem des Logizismus wandeln könne, hält Geiger für ausgeschlossen. Für die Separierung der ideologischen von den rationalen Elementen des Denkens hat Geiger weiterhin drei Rezepte. − Das erste, soziale Differenzierung und Distanznahme, erinnert sehr an die Distanzierung bei Mannheim. Geiger betont jedoch einen Unterschied. Bei Mannheim erfolgt die Distanzierung vor allem durch historischen Wandel. Geiger dagegen legt auf die soziale und auch räumliche Mobilität des Individuums Wert. Bei der räumlichen Mobilität denkt er natürlich auch an sein Emigrantenschicksal. − Das zweite Rezept ist Spezialisierung, eine Empfehlung, die wir heute vielleicht etwas anders sehen. − Die dritte Empfehlung ist die Selbstdiagnose, intellektuelle Gefühlsaskese und Selbstkontrolle. Geiger endet mit einem »geistespolitischen Schlußwort«. Es mündet, noch einmal gegen Mannheim gerichtet, in die These, die Intelligenz habe keine politische, sondern nur eine kritische Funktion. Sie sei die Gegenspielerin der Macht, sozusagen deren schlechtes Gewissen. „Als politisch (nicht »sozial«) freischwebende Schicht (reine Intelligenz), d. h. als Vertreter der Vernunft, die Gegenspielerin der Macht ist, können die Wissenschaftler nur kritisch wirken; sie entschleiern die Scheinrationalisierungen der Machtpolitik vor den Augen derer, die nicht unbedingt begeistert und betrogen sein wollen. Ihre kulturpolitische Funktion ist es, das schlechte Gewissen der Macht zu sein. Und weh der Gesellschaft, wo die Macht ihr schlechtes Gewissen totgeschlagen hat!“46
V. FAZIT Mit den Bemerkungen hat Geiger sich erst relativ spät in den Streit um Mannheims Wissenssoziologie eingemischt. Mannheims Buch Ideologie und Utopie von 1929 hatte 44 Geiger (Fn. 2), 441, 446 45 Ebd. 446 46 Ebd. 459. Ausführlicher in diesem Sinne hat Geiger sich in seinem Buch über Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft (1949) geäußert: „Die Intelligenz kann nicht das politische Handeln normieren und damit den gesellschaftlichen Geschehensverlauf steuern, weil die Macht stets ihren eigenen Willensintentionen folgen wird … Der Dualismus, ja Antagonismus zwischen Geist und Macht ist unaufhebbar, er in in der Natur der Dinge begründet. Die Macht als Vollstreckerin der Vernunft ist eine ewige Utopie …“ ( 71). Hans-Joachim Lieber, Ideologie: eine historisch-systematische Einführung, 1985, Nachwort 348, weist darauf hin, das Geiger damit zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen sei wie Max Scheler, der in nahezu allen Arbeiten seit den Weltkriegsjahren den „Urdualismus“ zwischen Macht und Geist als den zentralen Konflikt
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alsbald über 30 Stellungnahmen ausgelöst. Der Streit um die Wissenssoziologie wurde nach dem Werturteilsstreit zur zweiten großen Wissenschaftskontroverse. Vermutlich kann man diesen Streit seinerseits unter ideologiekritischen Gesichtspunkten sehen, denn mindestens diejenigen, die sich als Soziologen beteiligten, mussten um die Zukunft des noch längst nicht etablierten Faches und erst recht um die eigene Position im akademischen Betrieb besorgt sein. Aus der Sicht Geigers ging es vielleicht darum, ob die Soziologie der Nachkriegszeit die geisteswissenschaftliche Richtung Mannheims einschlagen oder der von ihm selbst bevorzugten empirischen Soziologie amerikanischen Musters folgen würde. Doch wichtiger war noch ein anderer Antrieb, den er selbst ideologisch genannt haben würde. Er meinte nämlich, die Nationalsozialisten hätten sich alsbald auf Mannheims Lehre gestürzt. „Man braucht sich nur umzusehen, wer eigentlich die Mannheimsche Lehre von der noologischkonstitutiven Seinsverbundenheit des Denkens eingesogen hat und für sich ausmünzt, um zu erkennen, dass sie geistespolitisch einen furchtbaren Rückschlag gebracht hat. Die treuesten Anhänger der Wissenssoziologie sind die politischen Extremisten, allen voran die Nationalsozialisten. Freilich nur bis zur Begründung des Panideologismus, der ihnen ein gefundenes Fressen ist. Der dynamische Relationismus ist ihnen zu fein gesponnen. Die Wissenssoziologie hat diesen Anhang politischer Nutznießer nicht gesucht; aber sie hat ihn, und er kennzeichnet ihre Konsequenzen. Der Weg von der Ehrenerklärung für ideologisches Denken bis zur Heiligsprechung, von Mannheim zu Freyer und Pfennig ist nicht weit …“47
Was die inhaltliche Auseinandersetzung mit Mannheim betrifft, so redet Geiger in den Bemerkungen mehr oder weniger an Mannheim vorbei. Mannheim hat ihm das allerdings sehr leicht gemacht. Geiger behandelt Mannheim wie einen empirisch arbeitenden Soziologen. Das legt Mannheim ihm nahe, weil er selbst seine Arbeit als empirische Soziologie deklariert.48 Tatsächlich will Mannheim aber die »Betrachtung der Geschichte des Geistes« auf eine neue Grundlage stellen.49 Er prognostiziert, dass das geschichtsphilosophische Element sich auch in der Soziologie durchsetzen werde. So kann wohl im Ergebnis nur eine Pseudosoziologie herauskommen. Geiger muss an Mannheim vorbeireden, weil er sich nicht darauf einlässt, dass nach Ansicht Mannheims der Positivismus auch nur eine Metaphysik ist50. Nicht mehr hintergehbarer Bezugspunkt ist für Geiger die objektive Erkenntniswirklichkeit.51 Was schließlich die Wirkungsgeschichte betrifft, so muss man anerkennen, dass Mannheim weitaus tiefere Spuren hinterlassen hat als Geiger. Geiger selbst meinte nicht ganz zu Unrecht, das hohe und verbreitete Prestige der Mannheim’schen Theorie entspringe wohl nicht zuletzt der schwer zugänglichen Gelehrsamkeit seiner
47 Ebd. 455 48 Zur Problematik der Soziologie in Deuschland, Neue Schweizer Rundschau 12 (1929) 820–829, hier zitiert nach Kurt H. Wolff (Hg.), Wissenssoziologie, 614–624/618 f.: „Die Wissenssoziologie, wie ich sie betreibe, ist doch gerade zu dem Zweck inauguriert, um bei sämtlichen Richtungen des geisteswissenschaftlichen und politischen Denkens in empirischer Forschung alle jene Stellen aufzuweisen, die im Irrationalen verhaftet sind …“ 49 Wie Fn. 23, 308 f. 50 Wie Fn. 23, 318, 329 f. 51 Mannheim sagt uns zwar, dass er noch keinen bestimmten Wahrheits- oder Wirklichkeitsbegriff gefunden habe (wie Fn. 23, S. 364). Er meinte aber doch, es müsse zu einer Revision der These kommen, „daß die Genesis unter allen Umständen geltungsirrelevant sei“ (Mannheim [Fn. 14],
Theodor Geiger, Bemerkungen zur Soziologie des Denkens
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Formulierungen.52 Entscheidend ist jedoch, dass die Konjunktur von Ideologiekritik als wissenschaftlichem Thema seit der Wende von 1989 verebbt ist. Dafür reden heute mehr oder weniger alle von Wissenssoziologie. Für die Juristen mehr noch als für die Soziologen war Geiger, besonders in den 60er Jahren, als sich eigentlich sonst nichts zu bewegen schien, ein großer Anreger. Geiger war ein eigenständiger Denker, der klare Positionen bezogen hat. Als Ausgangspunkt sind sie bis heute nützlich, wenn man über Ideologie, Recht und Moral, über den Rechtsbegriff oder über die Wirksamkeit des Rechts diskutieren will. Damit ist Geigers Werk nicht erschöpft. Im Vergleich zur Ideologiekritik gelten seine empirischen Arbeiten zur sozialen Schichtung und zur Reklame als die bedeutenderen.53 Dennoch, eine Geiger-Renaissance wird es nicht mehr geben. Mannheim dagegen ist überall präsent, obwohl er ebenso wenig wie Geiger eine Schule gebildet hat. Ein Grund dafür ist, dass der Mainstream der Soziologie sich heute mehr oder weniger auf Wissenssoziologie umgestellt hat. Zwar hat die neue Wissenssoziologie, wie sie mit dem Werk von Mead, Berger und Luckmann verbunden ist, mit der alten wenig mehr als den Namen gemeinsam. Aber allein das genügt schon, um das Werk Mannheims mindestens als Teil der Dogmengeschichte in Erinnerung zu behalten. Sie ist eben heute die klassische Wissenssoziologie. Darüber hinaus war Mannheim mit dem in seiner Theorie angelegten Antifundamentalismus ein Vorläufer postmoderner Erkenntnistheorie und eines gesellschaftstheoretischen Pluralismus.54 Wenn ich die Dinge richtig sehe, sind Geigers Bemerkungen heute nur noch von wissenschaftshistorischem Interesse. Ich bedaure dieses mein Fazit, denn ich schätze Geiger mehr als Mannheim. 52 Theodor Geiger, Art. Ideologie, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. V, 1956, 179/181, l. Sp. 53 Wenig Beachtung haben bisher Geigers Arbeiten zur Eugenik gefunden. Zwar hat sich Geiger darin als Kritiker der eugenischen Bewegung seiner Zeit gezeigt. Er hat jedoch den Grundgedanken einer eugenischen Erbpflege durchaus befürwortet. Thomas Meyer wendet sich deshalb gegen die bisher verbreitete Lesart, die Geiger als frühen Kritiker der Eugenik rühmt und wirft ihm vor, er habe teilweise die Grenzen des moralisch Vertretbaren überschritten (Thomas Meyer, Die Soziologie Theodor Geigers, 2001, 112 ff.). 54 Davon mag am Ende noch ein Fundstück zur Rechtsphilosophie zeugen: „Im historisch sozialen Zusammenhang sind Erkenntnistheorien nur vorgeschobene Posten im Kampfe der Denkstile. In einem eigentümlichen Gegensatz zu dem Selbstbewusstsein der Erkenntnistheorie als Fundamentalwissenschaft und der Kritik jeder Erkenntnis überhaupt ist sie de facto stets nur als Rechtfertigung einer bereits daseienden oder gleichzeitig mit ihr aufkommenden Denkweise vorhanden. Eine bestimmte neue Erkenntnisweise mit einer bestimmten paradigmatischen Struktur – man denke an die modern exakte Naturwissenschaft etwa – kommt auf, die Erkenntnistheorie versucht sie zu begründen, zu rechtfertigen. Sie gibt sich als kritische Wissenschaft und ist im faktischen Zusammenhang Substruktion, Rechtfertigungswissen. Da sie das Paradigma vorgegeben auffindet, orientiert sie ihre ganze Sicht an diesem Partialparadigma – auch ihr Wahrheitsbegriff ist Ausfluß dieser expost-Situation. Die Erkenntnistheorie steht, historisch-faktisch gesehen, in einem ähnlichen Verhältnis zu einer bestimmten Denkweise, wie die Rechtsphilosophie zum je geltenden positiven Recht. Sie gibt sich, als wäre sie absoluter Maßstab, Richtstuhl, Kritik, dabei ist sie de facto Substruktion, Rechtfertigungswissen für eine je schon daseiende Denkweise.“ (Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen, Verhandlungen des sechsten Deutschen Soziologentages vom 17. bis 19. September in Zürich, 1929, 35–83; hier zitiert nach Karl Mannheim,
NORBERT BRIESKORN, MÜNCHEN VIKTOR CATHREIN S. J.: NATURRECHTLICHE STRÖMUNGEN RECHTSPHILOSOPHIE DER GEGENWART I. LEBEN
UND
IN DER
WERKE
1. Leben Viktor Cathrein wurde am 8. Mai 1845 in Brig im Wallis (Schweiz) geboren.1 In den Jesuitenorden trat er am 12. Oktober 1863 in Gorheim bei Sigmaringen, BadenWürttemberg, ein und vertiefte nach dem zweijährigen Noviziat die alten Sprachen in Münster in Westfalen. In Maria-Laach schloss sich von 1869 bis 1872 das Studium der Philosophie an, aus dem ihn der Deutsch-Französische Krieg riss, und so diente Cathrein von Oktober 1870 bis März 1871 als Heeressanitäter. Die Vertreibung der Gesellschaft Jesu 1872 aus dem Reich zwang Cathrein, das dritte Jahr Philosophie in Blijenbeek zu absolvieren.2 In dieser Zeit begann er bereits, sich intensiv mit Ethik und der Naturrechtslehre zu beschäftigen, unter Anleitung und mit Hilfe seines Mitbruders Theodor Meyer, der damals als Ethikdozent einen Namen erworben hatte.3 Nach kurzem Einsatz, von 1873 bis 1874, als Lehrer in Feldkirch (Vorarlberg) studierte Cathrein Theologie in Ditton Hall bei Liverpool von 1874 bis 1878. Die Priesterweihe empfing er am 31.
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Ferdinand Strobel, Cathrein, Viktor, in: Diccionario Histórico de la Compañía de Jesús BiográficoTemático, hg. von Ch. E. O’Neill/S.I./J. M.a Domínguez, S. I, Bd. I (AA – Costa Rica). Institutum Historicum, S. I. und Universidad Pontificia Comillas, Roma und Madrid 2001, 719 f. Anfragen bei verschiedenen Archiven wegen eines Nachlasses Cathreins verliefen negativ; nur in Zürich sind ein Packen Briefe an Cathrein erhalten, welche ich jedoch bislang nicht einschauen konnte. Eine ausführliche Lebens- und Werkbeschreibung findet sich in: Kornelia Siedlaczek, Die Qualität des Sittlichen. Die Neuscholastische Moraltheorie Viktor Cathreins in der Spannung von Natur und Norm, Frankfurt 1997, 4–53 und 244– 251 (Lit.); Markwart Herzog, Cathrein, Viktor, in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Bd. 2, 3. Aufl., 1994, Sp. 979 (Lit.); Cathrein findet sich in der sechsten Auflage des Staatslexikons der Görresgesellschaft noch, nicht mehr jedoch in der 7. Auflage mit einem Artikel bedacht. Cathrein wurde 1907 bereits als Mitglied der IVR geführt. Zu seinem 80. Geburtstag würdigte ihn Peter Klein in dem ARWPh XVIII (1925), 1, zu Beginn von Cathreins Artikel „Zur Charakteristik des Sozialismus“ (1–18). Die im Gefolge des Kulturkampfes 1872 gesetzlich angeordnete Vertreibung der Jesuiten aus dem Reich führte dazu, dass der Jesuitennachwuchs im Ausland, z. B. in Valkenburg (Niederlande) ausgebildet werden musste. „Das Jesuitengesetz“ hatte der Reichstag mit 183 gegen 101 Stimmen am 19. Juni 1872 angenommen. Erst 1917 gab der Bundesrat seinen Widerstand gegen die Aufhebung dieses Gesetzes auf. Näheres in Josef Stierli, Alemania, in: Diccionario (Fn. 1), Bd. I, 45–71 (59–66). Außer Theodor Meyer mit seinen „Institutiones iuris naturalis“ und Viktor Cathrein ist als dritter Jesuit, der auf diesem Felde tätig war, August Lehmkuhl mit seinen zwei Bänden der „Theologia moralis“ zu nennen (12 Auflagen, mit über 40.000 Exemplaren verbreitet); vgl. Stierli (Fn. 2), 45–71 (63). Diese Höhe der Auflagen zeugt auch von einem hohen Wissens- und Bildungshunger unter den Katholiken. August Lehmkuhls „Casus conscientiae“ besprach Josef Kohler sehr
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August 1877 in Liverpool (Lancashire). Die letzten, ewigen Gelübde legte er am 2. Februar 1881 in Blijenbeek in Limburg (Niederlande) ab. Nach der Ausbildung wurde er zum Mitglied der Zeitschrift „Stimmen aus Maria Laach“ für die Sparte Moralphilosophie und moralische Grenzfragen bestimmt. Ab 1882 unterrichtete Cathrein auch als Nachfolger Theodor Meyers in Blijenbeek (1882 – 1885), anschließend in Exaten (1885 – 1904) und von 1894 bis 1910 in Valkenburg. Seine Vorlesungen veröffentlichte Cathrein zum erstenmal 1893 unter dem Titel „Philosophia moralis“. In die lebenden Sprachen übersetzt, erschienen bis 1959 weltweit gesehen nicht weniger als 21 Auflagen dieses Lehrbuchs.4 1910, mit 65 Jahren, ließ Cathrein sich von der Lehrverpflichtung entbinden, um bis zu seinem Tode seine publizistische Tätigkeit fortzusetzen, wobei er sich auch zu theologischen Fragen äußerte.5 International als Moraltheologe bekannt geworden, starb er am 10. September 1931 in Aachen. 2. Sein philosophischer Ansatz Der philosophische Ansatz Cathreins ist der Neuthomismus. Ihn arbeitete er in den ethischen Fragen aus und konkretisierte ihn, von ihm her argumentierte er gegen andere Weltsichten. So zog er unermüdlich gegen den Rechtspositivismus sowie den Sozialismus zu Felde. Ersteres belegt der hier zu besprechende Artikel; was den Sozialismus betrifft, so trägt ein weiteres Hauptwerk Cathreins den Titel „Der Sozialismus“ (1890), es erzielte mehrere Auflagen und wurde in elf Sprachen übersetzt. 3. Liste seiner Werke, außer den bereits genannten Die Werkstitel lauten in chronologischer Reihenfolge: „Die englische Verfassung“, 1881; „Die Aufgaben der Staatsgewalt und ihre Grenzen“, 1882; „Die Sittenlehre des Darwinismus“, 1885; „Moralphilosophie“, 1890 – 1891; „Das Privateigentum und seine Gegner“, 1892;“Religion und Moral“, 1900; „Die Frauenfrage“, 1901; Glauben und Wissen“, 1903; „Die katholische Moral in ihren Voraussetzungen und ihren Grundlinien“, 1907; „Die Einheit des sittlichen Bewusstseins der Menschheit“, 3 Bde., 1914; „Grundbegriffe des Strafrechts“ und „Die Grundlage des Völkerrechts“. Unter dem Pseudonym Siegfried Nikolaus publizierte Cathrein “Aktenstücke betreffend den preußischen Kulturkampf “, 1882, und „Durch Atheismus zum Anarchismus“, 1895.6 4 5
Stierli (Fn. 2), 63 Siehe Henri de Lubac S. J., Augustinisme et Théologie Moderne (Reihe: Théologie Nr. 63), Paris 1965, 241. De Lubac geht auf den Aufsatz V. Cathreins ein: „De naturali hominis beatitudine“, erschienen im „Gregorianum“, 1930, 398–409 (406–408). De Lubac schreibt: „Pour le Père V. Cathrein, la béatitude naturelle n’est pas seulement une ,beatitude parfaite‘, mais elle l’est grâce à une ,connaissance de Dieu très parfaite‘, une ,très parfaite union à Dieu‘“. De Lubac distanziert sich von dieser Position Cathreins in einer Diskussion, in welcher es um die Leistungskraft des „natürlichen“ Menschen geht, im besonderen um seine Fähigkeit einer Gottesschau. Ob De Lubacs Kritik der Position Cathreins gerecht wird, lässt sich hier nicht beantworten.
Viktor Cathrein S. J.: Naturrechtliche Strömungen in der Rechtsphilosophie der Gegenwart
II. EIN WORT
ZU DEN
BEGRIFFEN „NEUSCHOLASTIK“
UND
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„NEUTHOMISMUS“7
1. Der zeitliche Rahmen Als zeitlichen Rahmen der Neuscholastik können wir die Spanne von 1820 bis 1970 angeben, ihre Verbreitung war weltweit; überall dort, wo es römisch-katholische Lehranstalten gab, wurde sie gelehrt. 2. Die Anliegen der Neuscholastik Seit 1862 ist der Begriff gebräuchlich, eingeführt haben ihn Jakob Frohschammer (1821 – 1893) sowie Alois von Schmid (1825 – 1910) und zwar als politisches Schlagwort gegen diese Richtung, welche man damit in die Nähe des Schimpfwortes „ultramontan“ rücken wollte!8 Die Neuscholastik behauptete, dass eine wahre katholische Theologie und Philosophie sich nur im Rückgriff auf das 13. Jh., gemeint waren im besonderen die Schriften Thomas von Aquins, gewinnen lasse; was er und ihm nahestehende Autoren des Mittelalters erarbeitet hatten, sollten daher die Anhänger der Neuscholastik systematisch herausarbeiten. Ihre Aufgabe sei es, „die Philosophie der Vorzeit (zu) verteidigen“, so Joseph Kleutgen (1811 – 1883)9. Während der Schaffenszeit Cathreins erfuhr die Geschichte dieses neuscholastischen Denkens eine nachhaltige Wendung durch die Enzyklika Papst Leos XIII. „Aeterni Patris“ vom 4. August 1879. Zwar stellte der Papst den Rückgriff auf das 13. Jh. keineswegs als überholt in Frage, forderte jedoch dazu auf, nicht einfach Texte aus diesem Jahrhundert am Ende des 19. Jh. zu wiederholen, sondern diesen Stoff fruchtbar zu machen und weiter zu denken. Es sollten diese Lehren auch nicht bloß zu einer Apologetik gegen andere Strömungen eingesetzt, sondern überhaupt erst einmal für alle zugänglich gemacht werden. Nachdrücklich empfahl der Papst das Studium des Aquinaten. Dieser päpstliche korrigierende Eingriff zeugt von Diskussionen unter den neuscholastischen Autoren, von Unzufriedenheit und auch von der Suche nach einer – noch – stärkeren philosophischen Einheitlichkeit, so dass das Weiter-Denken wohl nicht in Richtung höherer Pluralität zu verstehen ist. Dement-
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ratur zu V. Cathrein ist rar. Zu nennen sind: Stefan Leher, Begründung ethischer Normen bei Viktor Cathrein und Wahrheitstheorien der Sprachphilosophie, Innsbruck 1992; Siedlaczek (Fn. 1); Michael Mager, Begründung sittlicher Freiheit. Eine Untersuchung zur philosophischen Grundlegung sittlicher Freiheit bei Victor Cathrein, Dietrich von Hildebrand und Romano Guardini in Auseinandersetzung mit Immanuel Kant, Münster / Westf. 2004. Heinrich M. Schmidinger, „Scholastik“ und “Neuscholastik“ – Geschichte zweier Begriffe, in: Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von E. Coreth/W. M. Neidl/G. Pfligersdorffer, Graz 1987–1990 (3 Bde), Bd.1, 1987, 23–53 (besd., 45–48); ders., Neuscholastik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. VI, Darmstadt 1984, Sp. 769–774; Peter Walter, Die neuscholastische Philosophie im deutschsprachigen Raum, in: Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von E. Coreth/W. M. Neidl/G. Pfligersdorffer, Graz 1990 (3 Bde), Bd. 2, 1988, 131–194; Hans Bräuer, „Neuscholastik“ und „Neuthomismus“, in: Handwörterbuch Philosophie, hg. von W. D. Rehfuss, UTB. Göttingen 2003, Sp. 491 a (Neuscholastik ) und 491a–492a (Neuthomismus) Schmidinger, „Scholastik“ und “Neuscholastik“ (Fn. 7), 48
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sprechend traten von 1879 an hinter dem Neuthomismus, vorher nur eine Richtung innerhalb der Neuscholastik, die skotistischen und suarezianischen Strömungen zurück. Durch diese Wendung zur Philosophie und Theologie des Thomas von Aquin entstanden Spannungen zwischen den verbleibenden Anhängern des Suárez sowie des Skotus. Cathrein selbst stand klar auf dem Boden des Neuthomismus, was für ihn nicht ausschloss, im besonderen Suárez gegen ungerechtfertigte Angriffe zu verteidigen.10 3. Die Hauptsätze des Neuthomismus lauteten: 3.1 Die Philosophie habe sich der Theologie und damit dem Lehramt unterzuordnen; die neuzeitliche Philosophie, spätestens von Descartes, eher von Ockham an, sei als Irrweg abzulehnen. Es sei zu zeigen, dass die Philosophie, welche die Kirche in ihren Institutionen pflege, die einzig richtige sei. Dass sie gerade diese Philosophie immer pflegte und auch nie aufgab, bezeuge die Unfehlbarkeit der Kirche. 3.2 Die menschliche Natur bedürfe der Errettung und somit der Gnade. Doch sei die Natur keineswegs so korrupt, dass sie nicht mehr fähig sei, Wirklichkeit zu erkennen und das Gute zu tun. Zu 3.1 ist zu sagen, dass diese Unterordnung eine beträchtliche Energie freisetzte, die Aussagen des Lehramtes nach Freiräumen abzusuchen und dessen Rahmensetzungen nach allen Regeln der Kunst auszulegen. Zu 3.2: In Metaphysik und Erkenntnislehre folgten deren Vertreter wie auch Cathrein dem gemäßigten Realismus. Ihm zufolge hat alles und jedes, dem Sein zukommt, einen sachlichen Gehalt, eine inhaltliche Bestimmtheit und eine Wesensverfassung inne. Sie ist als das begrifflich Allgemeine, welches unabhängig vom menschlichen Denken „in den Dingen“ selbst wirklich ist, vom Intellekt zu erheben. Wesenserkenntnis ist möglich. Diese Position brachte das neuscholastische und neuthomistische Denken in einen unüberbrückbaren Gegensatz nicht nur zu nominalistischen Ansätzen, sondern eben auch zum kantischen Ansatz.11 Die Ethik entfalte, so Cathrein, den Weg vom „sittlichen Naturgesetz“ hin zum Naturrecht. Ethische Grundpositionen lauten, dass erstens in der Wesensverfassung der Welt die sittlichen Normen mitgegeben sind. Allgemeingültige Begriffe lassen zweitens die Wahrheit der Sätze und allgemeingültige sittliche Prinzipien die Gutheit der Handlung erkennen. „verum et bonum convertuntur“, das Wahre und das Gute fallen zusammen, ohne dass die getrennte Nennung von Gut und Wahr überflüssig würde. Wie kommt es, drittens genauer nachgefragt, zur Erkenntnis dieser Prinzipien für Cathrein? Durch eine uns mit der Erschaffung mitgeteilte Erkenntnis! Doch 10 Mit dieser meiner Stellungnahme befinde ich mich nicht im Einklang mit anderen Auslegungen, welche in Cathrein den Suarezianer sehen wollen; dazu Siedlaczek (Fn. 1), 28–39 (besd. 34). 11 Die Überlegung von Joseph de Maréchal (1878–1944) setzten erst ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein: Er versuchte, zwischen transzendentalem Ansatz und thomistischem Denken Gemeinsamkeiten zu entdecken. Dazu sehr knapp: Leher (Fn. 6), 138; ausführlich: Johann B. Lotz, Joseph de Maréchal, in: Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von E. Coreth/W. M. Neidl/G. Pfligersdorffer, Graz 1987–1990 (3 Bde), Bd. 2,
Viktor Cathrein S. J.: Naturrechtliche Strömungen in der Rechtsphilosophie der Gegenwart
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„wollen wir damit auf keine Weise den angebornen Ideen das Wort reden. Angeboren ist dem Menschen nur die Anlage und die Neigung, sich unwillkürlich aus der Erfahrung die Begriffe von gut und bös zu bilden und ebenso spontan einzusehen, dass das Gute getan, das Böse gemieden werden soll.“12 Da diese sittlichen Normen allem Handeln vor- und aufgegeben seien, stelle das natürliche Sittengesetz dementsprechend nun auch für das soziale Leben Normen bereit, welche man das „Naturgesetz“ oder das „Naturrecht“ (lex naturalis oder ius naturale) genannt hat. Es binde gleichfalls die Vernunft. Das „Naturrecht“ beinhalte Prinzipien, Grundnormen, für das soziale Leben und im besonderen für die menschlichen Gesetze. Während „lex naturalis“ oder auch „ius naturale“ sowohl Inhalt wie auch Verpflichtungskraft des Naturrechts ausdrückten, bezeichnete man mit „lex rationis“ die durch die Vernunftteilhabe der Geschöpfe ermöglichte und in die Vernunft hinein vermittelte verpflichtende Ordnung. Zeitlos geltende Grundsätze ließen sich so der Naturrechtslehre entnehmen und durch strikte Ableitung oder durch Hinzufügen weiterer Sätze konkretisieren. Als solche Sätze galten die Prinzipien der Person, der Personalität, Subsidiarität, Solidarität und der Gerechtigkeit, auch dass die Person selbst Grund und Ziel der Gesellschaft sei, oder die Prinzipien des Handelns, wie die Gebote der Selbsterhaltung, Fortpflanzung und der umfassenden Bildung der Person.13 Während die Erkenntnis der Prinzipien nicht irrtumsanfällig sei, würden sich bei der weiteren Konkretisierung menschliche Unzulänglichkeiten, eigensüchtiges Wollen und bewusste Schädigungsabsicht einmischen können. So komme es zum Handeln in Irrtum, und auch der Wahl von Zielen, die nicht dem Gemeinwohl dienen. Nie aber verlasse, so der Neuthomismus, der Handelnde den Rahmen des Wahren und Guten, mag es ihm auch nur um das ihm wahr und gut Scheinende gehen. Diese Naturgesetzlehre – wie das Sittengesetz überhaupt – drückt aus, dass kein Mensch vom anderen Menschen als Menschen abhängig ist, der Mensch nicht einem blinden Schicksal unterworfen und es ihm auch nicht aufgebürdet ist, seine soziale Welt erst zu erfinden und zu gestalten. Indem die sittliche Norm auf Gottes Vernunft und Willen zurückverweist, von Gott her Inhalt und bindende Kraft bezieht und Gott als der Schöpfer des Menschen gemeint ist, bejaht sich der sittlich Handelnde zugleich auch immer als Geschöpf und gewinnt so auch seine Identität. Diesem Ansatz musste es als unbegreiflich erscheinen, wenn man Gottes Willen als heteronomen Zugriff auf den Menschen bezeichnete. 4. Drei Abgrenzungen vorzunehmen, ist nicht überflüssig 4.1 Es hieße diesen Ansatz verkennen, würde man hier einen auf die Überlegungen David Humes und George E. Moores sich stützenden naturalistischen Fehlschluss unterstellen. Denn das, was die Neuscholastik unter „Natur“ verstand, war ja nicht das, was den Naturwissenschaften zum Untersuchungsgegenstand diente und zähl12 Viktor Cathrein, Moralphilosophie I, Freiburg im Br. 1890 (6. Aufl., 1924 Leipzig), 387; zu weiterer Klärung dieses Ansatzes s. Siedlaczek (Fn. 1), 54–89. 13 Bräuer (Fn. 7), 491 b: „Die neuthomistische Soziallehre ist individualistisch und eng mit der Me-
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bar, messbar, vermehrbar und zerstörbar war, sondern war zur Schöpfung gewordener Wille und gewordene Vernunft Gottes; diese so verstandene Natur wurde dadurch jedoch weder vergöttlicht noch ihr der Verweischarakter genommen; sie blieb Schöpfung, abhängig von Gott und wurde nicht zu Gott. Ein pantheistisches Verständnis war so abgewehrt. 4.2 Dieser Naturrechtsbegriff hat keinerlei Verbindung mit dem, welchen Oswald Spengler in den Jahren nach 1916 verwendete. „Natur“ verstand er als Kraft des Menschen, als Physis, die sozusagen Recht sei und habe, deren Recht so weit gehe, wie die Physis sich ihre Ansprüche zu erfüllen weiß.14 4.3 Dieses scholastische Naturrecht ist nicht mit jenem Vernunftnaturrecht der Aufklärung zu verwechseln, welches aus Prinzipien ein detailliertes, sich in Feinheiten verästelndes und lückenloses Rechtssystem ableitete. Nennen will ich nur das System Christian Wolffs. Das scholastische Naturrecht richtete sich an die verantwortliche Freiheit des Gesetzgebers, im Rahmen des Naturrechts die nötigen Konkretisierungen, in der Gestalt einer lex humana, zu erlassen.15 III. WAS
IST
ANLIEGEN
VON
CATHREINS ARTIKEL? ZU
SEINER
EINFÜHRUNG
1. Aufbrüche innerhalb des Rechtspositivismus? In dem hier zu besprechenden Artikel will Cathrein in einem ersten Schritt naturrechtliche Ansätze aufzeigen, welche sich innerhalb einer vom Rechtspositivismus beherrschten Denkwelt bemerkbar machen.16 Es hatte, so Cathrein, die Historische Rechtsschule auf die schöpferische Kraft des Volkes hingewiesen und diese nichtpositive normierende Kraft dem klassischen Positivismus entgegengehalten. Doch habe das staatszentrierte Denken vor allem Hegels solche Ansätze erdrückt, ohne dass jedoch Hegel damit dem Positivismus beipflichten wollte. Ein zweiter Ansatz habe sich, weiter mit Cathrein, nach dem Zusammenbruch der großen, wie man heute sagt, „Erzählungen“ hegelscher oder schellingscher Herkunft gebildet. Man versuchte gleichsam wieder von unten anzufangen und suchte eine Allgemeine Rechtslehre zu entwickeln, ohne sie mit dem Etikett „Philosophie“ zu versehen. Doch wenn man mehr als bloßes Sammeln und vielleicht willkürliches Vergleichen hätte erreichen wollen, so würde man einen philosophischen Standpunkt benötigt haben. Den aber hätten diese engagierten Rechtsgelehrten nicht bezogen. Eine tiefere Erfassung dessen, was Recht ist, konnte so nicht geschehen, was blitzartige durchaus richtige Einfälle, wie die Rudolf von Iherings, nicht ausschloss, etwa jenen, dass es dem Recht um einen Zweck gehe. Cathrein kommt drittens auf den sogenannten Evolutionismus zu sprechen. Seine Behauptung war, dass die Menschheit sich fortwährend und gesetzmäßig ent14 Oswald Spengler, Urfragen, Fragmente aus dem Nachlass. Unter Mitwirkung von M. Schröter, hg. von A. M. Koktanek, München 1965, 184–214 15 Juan Llambias de Azevedo, Betrachtungen über Bergbohms Kritik an der Naturrechtslehre, ARSP Beiheft 41. Neue Folge 4 (1965), 163–199 (182); und fortgesetzt in ARSP 55 (1969), 87–107 16 Victor Cathrein, Naturrechtliche Strömungen in der Rechtsphilosophie der Gegenwart, ARSP
Viktor Cathrein S. J.: Naturrechtliche Strömungen in der Rechtsphilosophie der Gegenwart
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wickele; zwar habe sich diese Weltsicht ursprünglich hegelscher Gedanken bedient, wurde dann jedoch „ins Materialistische übersetzt“17. Auf den ersten Blick könnte man auch hier ein übergesetzliches Kriterium vermuten, und hätte damit den Panzer des Positivismus gesprengt. Doch zum einen haben wir es, so Cathrein, mit einem selbst in Entwicklung befindlichen Kriterium zu tun, das somit nicht nur schwer zu bestimmen sei, sondern auch nicht den festen überzeitlichen Standpunkt zulasse, wie ihn die Metaphysik erschließe. Zum anderen leugne der Evolutionismus die Willensfreiheit; eine Regierungsform aktiver Mitwirkung scheide aus, in Betracht komme ein mächtiger Staat, der mit Druck auf Gegendruck reagiere. Die Ungereimtheit, dass ein solcher Staat doch willentlich handelnde Menschen benötige, spricht Cathrein nicht an. Der erste Ansatz erfordere wegen seiner Schwäche und wegen fehlender Kraft keine philosophische Stellungnahme, so Cathrein, wobei er es völlig offen lässt, ob er mit der Historischen Schule überhaupt je hätte übereinstimmen können.18 Der zweite Ansatz müsste erst wieder eine Brücke zur Philosophie schlagen, während der dritte Ansatz als eine machtgestützte Weltanschauung auftrete und sich gegen Kritik immunisiere. Das neue Interesse an der Begründung des Rechts sei also nicht dadurch aufgebrochen, dass man einsah, wie wenig die eigenen philosophischen Ansätze zur Begründung taugten. Vielmehr gebe es ein Bedürfnis der Gesellschaften nach Klärung jener Probleme, welche ihnen zusetzen und eine rechtliche Antwort verlangen. 2. Zwei Bemerkungen Das parlamentarische Verfahren der Weimarer Reichsverfassung vor Augen, stellt Cathrein die Frage, ob denn die Mehrheit als Mehrheit gewissermaßen alles dürfe und ob ihr Beschluss immer gerecht sei. Dass er sich selbst als Bürger der Mitte versteht, verrät der Passus über die immer drohender werdende sozialistische und kommunistische Gefahr.19 Einzuflechten ist, dass Cathrein die Demokratie als Staatsund Regierungsform bejahte, wenn die Mehrheit des jeweiligen Volkes sie sich gewählt hatte. Cathrein gibt sich im Folgenden nicht mit einer bloßen Aufzählung der Strömungen zufrieden. Er wird diese Neuansätze kritisch prüfen, denen er, er allein, den Titel „naturrechtlich“ verliehen hat.20 Es beginnt eine, mitunter schulmeisterlich anmutende Durchmusterung dieser Ansätze, von denen keiner vor den prüfenden Augen Cathreins Bestand haben wird. 17 Cathrein (Fn. 16), 54 18 In der historischen Rechtsschule sah ein Naturrechtslehrer eine Spielart eines Kulturrelativismus; für gerecht galt, was die jeweilige Volksmeinung für Recht hielt. Insofern war dieser Ansatz diametral von einem naturrechtlichen entfernt, der von unwandelbaren Prinzipien ausging. Zwei in den Jahren nach der Veröffentlichung von Cathreins Artikel erschienene Aufsätze setzten sich breiter und emphatischer als Cathrein mit dieser rechtsphilosophischen Strömung auseinander: Ernst Landsberg, Zur ewigen Wiederkehr des Naturrechts, ARSP XVIII (1924), 347–376; und Alfred Manigk, Wie stehen wir heute zum Naturrecht?, ARSP XIX (1926), 375–414. 19 Cathrein (Fn. 16), 55
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174 IV. DIE
BEGUTACHTETEN
WERKE
UND
AUTOREN
1. Zu Karl M. Bergbohm Interessanterweise eröffnet Cathrein die Auseinandersetzung mit dem Blick auf die Schrift Karl Magnus Bergbohms (18. 09. 1849 Riga – 12. 11. 1927 Bonn).21 Seit 1895 o. Prof. in Bonn, galt Bergbohm als Gesetzespositivist und somit als Bekämpfer naturrechtlicher Gedanken. Er versucht solche Ansätze aus der Rechtsphilosophie überhaupt zu vertreiben.22 Im Besonderen beschäftigt ihn, wie sich das, was man als „Recht“ bezeichne, empirisch erfahrbar machen lasse. Bei ihm nimmt Cathrein zwar keine naturrechtliche Ausrichtung wahr,23 doch waren Bergbohms Überlegungen für ihn aus einem anderen Grund wichtig. Cathrein zitiert aus dem ersten Band von Bergbohms, wie er das Werk nennt, „Jurisprudenz und Rechtswissenschaft“ von 1892.24 Insofern Bergbohm sich mit der Geschichte von Rechtsordnungen abgebe, aber auch nach einem gleichsam inneren Halt der Rechtsordnungen frage, setze er einen für sein umfassendes Forschungsgebiet einheitlichen Rechtsbegriff voraus und entwickele eine „Allgemeine Rechtslehre“. Wer wie Bergbohm frage, ob eine Institution eine Rechtsinstitution sei, müsse ja wissen, was Recht sei. Und Cathrein stößt nach: Wenn es aber nun einen allgemeingültigen unwandelbaren Rechtsbegriff gibt, sollte es dann nicht auch allgemeingültige Rechtsgrundsätze geben? – Diese Aussage des Naturrechtlers Cathrein macht zugleich den platonischen Denkhintergrund seines Denkens und eben auch des klassischen Naturrechts deutlich: Das menschliche Erkenntnisvermögen trete an die Wirklichkeit, auch die konkrete Rechtsordnung, so heran, dass es in ihr immer ein Unwandelbares, Übergeordnetes und menschlichem Zugriff Entzogenes voraussetze und erkennen könne und an welchem es die eigenen Produkte, Sätze und Handlungen messe. 2. Ein „Naturrecht in neuer Form“? Im Folgenden zeigt Cathrein solche Unternehmungen an, welche „allgemeine, außerstaatliche Rechtsnormen“ aufzustellen und somit „ein Naturrecht in neuer Form“ einzuführen versuchen.25 Er nennt Gnaeus Flavius, Rudolf Stammler u. a. und stellt fest, wie intensiv nach Rechtssätzen gesucht werde, welche eine einzelne Norm aber auch das Gesamt der Rechtsordnung bewerten sollen und nicht als staatliches Recht aufzufassen sind. 21 Dietrich Lang-Hinrichsen, Bergbohm, Karl Magnus, in: Neue Deutsche Bibliographie (NDB), hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2, Berlin 1955, 77 22 Manigk (Fn. 18), 382 führt ein Wort Bergbohms an: „Alle Menschen sind geborene Naturrechtsjuristen.“ 23 Rüdiger Kass, Karl Bergbohms Kritik der Naturrechtslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Diss. Kiel 1972; Llambias de Azevedo (Fn. 15), 163–199 und Juan Llambias de Azevedo, Betrachtungen über Bergbohms Kritik an der Naturrechtslehre, ARSP Beiheft 41. Neue Folge 4 (1965), 163–199 und fortgesetzt in ARSP 55 (1969), 87–107 24 Cathrein hat sich im Titel geirrt; Bergbohms Werk trägt den Titel „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie“.
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2.1 Zu Gnaeus Flavius’, also Hermann Kantorowiczs26 (18. November 1877 Posen – 12. Februar 1940 Cambridge, England) „Der Kampf um die Rechtswissenschaft“ von 1906, bemerkt Cathrein: Er entwickele ein Recht, das er, Gnaeus Flavius, Naturrecht nenne, was jedoch nicht aus einer unwandelbaren Natur folge, sondern von der jeweiligen Macht hervorgebracht werde. Und wer sei diese Macht? Vielleicht jeder Richter? Also eben fehlbare Menschen und keine Prinzipien! Die knappe Stellungnahme rechtfertigt sich daraus, dass Cathrein an anderer Stelle zur Freirechtsschule Stellung bezogen und seine Kritik vorgebracht hat.27 2.2 Georg Jellinek (16. Juni 1851 Leipzig – 12. Januar 1911 Heidelberg) wirkte von 1890 bis zu seinem Tode in Heidelberg als Ordinarius für Staatsrecht, Völkerrecht und Politik.28 Seine philosophische Prägung erhielt Jellinek durch den Neukantianismus, dessen Methodendualismus sich bei Jellinek in der Dichotomie von „Soziallehre“ und „Rechtslehre“ niederschlug, welche er jedoch im Streben nach einer Einheit von “Historisch-Tatsächlichem“, „Vernünftig-Notwendigem“ und „SpezifischJuristischem“ zu überwinden versuchte. Den grundsätzlich sittlich ungebundenen souveränen Staat sah er nur dann und nur insoweit beschränkt, wenn und soweit der Staatswille sich selbst beschränkte. Die „Allgemeine Staatslehre“ erschien 1914 in der 2. Auflage. Cathrein äußert sich zu Jellineks Werk folgendermaßen: Jellinek wolle jedes Gemeinwesen dazu verpflichtet wissen, dass die Bewohner und Mitglieder das gesetzte Recht überprüfen dürfen. Doch spiele sich regelmäßig folgender Prozess ab: Die Rechtsadressaten gewöhnten sich an das Recht; die tagtägliche Erfüllung werde verinnerlicht, statt kritischer Prüfung bejahe man das Recht.29 – Wie komme es nun aber zu Revolten gegen das Recht, oder auch nur zu Reformen? Wie sind diese denn erklärbar, fragt Cathrein.30 Jellinek sehe noch einen zweiten Prozess ablaufen: Menschen erkennen langsam, aber nachhaltig im Rechtsleben das, was ihnen gerecht erscheint, und dann für sie gerecht ist: es bilde sich in ihnen ein Wissen vom natürlichen objektiven Recht heraus, welches das positive Recht legitimiere oder aber auch ablehnen lasse. – Cathrein geht bereitwillig auf diese Gedanken oder Skizzen Jellineks ein; doch hält er ihm vor, auf halber Strecke stehen zu bleiben. Denn setze diese Erkenntnis des „für sie Gerechten“ bei den Rechtsadressaten nicht doch eine Kenntnis vom gerechten Recht voraus? Messen wir das gesetzte Recht nicht doch immer an einem uns vorgegebenen Recht? Jellinek verweigere hier die Antwort. Und, so Cathrein weiter, wisse denn nicht jeder Mensch um das, was Autorität sei, was sie fordern und was sie von wem verlangen dürfe?31 Die Antwort Jellineks, dass die Gehorsamsver26 Thomas Würtenberger Jun., Kantorowicz, Hermann, in: Neue Deutsche Bibliographie (NDB), hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 10 (1974), 127–128 27 Victor Cathrein: Recht, Naturrecht und positives Recht, 2. Aufl., 1909, 3. Abschnitt, 1. Kap. „Ist der Staat die Quelle allen Rechts?“, im besonderen 120; und ders., Die Grundlage des Völkerrechts, ARWPh X (1916/17), 1–14. 28 Alexander Hollerbach, Jellinek, Georg, in: Neue Deutsche Bibliographie (NDB), hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften , Bd. 10 (1974), S. 391 f. 29 Es bildet sich, so möchte ich sagen (mit Pierre Bourdieu), ein innerer Habitus heraus. Von ihm trenne man sich höchst ungern, denn man würde ja mit ihm sich selbst ablehnen. 30 Cathrein (Fn. 16), 57
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pflichtung – nicht das Gehorchen selbst! – tatsächlicher Unterwerfung entstamme, überzeuge in Anbetracht der nicht seltenen rationalen Überlegungen der Menschen nicht. Cathrein verbeißt es sich offensichtlich noch direkter zu fragen, nämlich, ob denn nicht jeder um das Naturrecht wisse. 2.3 Den dritten Untersuchungsgegenstand bilden jene Regeln, welche es vorsehen, dass bei Lücken im positiven Recht nach natürlicher Billigkeit zu entscheiden sei. Cathrein unterlässt hier irgendeine Kritik; es handele sich ja um die „natürlichen Rechtsgrundsätze“. Dieser Abschnitt wäre entweder eher am Beginn des Artikels als gelungener Nachweis für die Akzeptanz eines überpositiven Rechts angebracht gewesen oder Cathrein hätte fragen müssen, ob es sich um Grundsätze handele, welche sich lediglich dem common sense verdanken und sich so von einer allgemeinen Bejahung her legitimieren. Auch hier macht die kurze Auseinandersetzung es nötig, anderweitig getane Ausführungen Cathreins mit heranzuziehen.32 2.4 Schließlich führt Cathrein seine kritische Auseinandersetzung mit Strömungen fort, welche das positive Gesetz der Überprüfung durch das Gefühl aussetzen, wie R. Loening und K. Gareis es tun.33 Cathrein kritisiert an diesem Ansatz, dass Gefühle ungreifbar und unangreifbar seien und schon von daher keine Begründung zu liefern vermögen; dass ein konkretes Recht von einem „guten“ oder „angenehmem“ Gefühl begleitet sei, und die Erfüllung einer Rechtspflicht Lust verschaffe, rechtfertige doch nicht das Recht als Recht; wer zudem die Kritik am Recht dem Gefühl anvertraue, z. B. dem Gefühl für Harmonie, der verwische die Grenze zwischen Recht und außerrechtlichem Handeln; so könne man sich zu Leistungen sittlich verpflichtet fühlen, welche die Rechtsordnung für unzumutbar halte. Cathrein trennt sehr scharf, man könnte sagen, in diesem Punkt so scharf wie Kant, den Grund und die Begründung des Rechts von dem begleitenden Gefühl. Der Grund der sittlichen Verpflichtung könne niemals der Lust oder Unlust verschaffende Trieb sein.34 Gefühlsmoral verwische die Unterschiede zwischen rechtlicher und sittlicher Verpflichtung: die Befolgung des Gesetzes und das Handeln aus Barmherzigkeit etc. Einzuflechten ist, dass Cathrein also keineswegs einer Aufhebung der Grenzen von Recht und Barmherzigkeit das Wort redet; frei geleistetes solidarisches Handeln ist von erzwingbarer Rechtspflicht geschieden, und nur um letztere geht es; die Tugend der Gerechtigkeit hat nicht der Liebe zu weichen, Legalität und Moralität behalten je ihre Aufgabe.
32 Siehe Fn. 27; es könnte auch ein stillschweigender Verweis auf Rudolf von Launs Abhandlung „Zur Theorie des ,Natürlichen Rechts‘“ gesehen werden, welche Franz Weyr unter dem Titel „Zur Theorie des ‚Natürlichen Rechts‘“ von 1913 in ARWPh VII (1913/1914), 84–90 besprochen hat; ein Kernsatz Launs lautete: wer Lücken ausfülle, greife auf das ius naturale, wenn auch in soziologischem Gewande, zurück. 33 Cathrein (Fn. 16), 59 34 Dass Nichterfüllung einer sittlichen Verpflichtung Unlust im Gefolge haben könne, oder dass sich bei Erfüllen der sittlichen Verpflichtung eine Art Zufriedenheit und Achtung vor sich selbst einstellen könne, war für Kant eine Gewissheit in“Von den Triebfedern der reinen praktischen
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2.5 An diesem Punkt der Auseinandersetzung angelangt, geht Cathrein zu neukantianischen Ansätzen über.35 Er setzt sich mit Rudolf Stammler (19. Februar 1856 Alsfeld – 25. Mai 1938 in Wernigerode) auseinander.36 Stammler lehrte von 1885 an als o. Prof an der Universität Halle und von 1916 an bis 1923 in Berlin, also im Jahr, in welchem der Artikel Cathreins veröffentlicht wurde. Schriften, die für Cathreins Artikel von Bedeutung gewesen sein könnten, sind: „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung“, Leipzig 1896; „Die Lehre von dem richtigen Rechte“, 1902; eine neu bearbeitete Auflage erschien 1926, ein Nachdruck erfolgte noch 1964; das „Lehrbuch der Rechtsphilosophie“ von 1922, das in dritter Auflage 1928 und als Neudruck 1970 erschien.37 Stammler suche, so Cathrein, nach einem Halt für das geltende positive Recht und nach einer Kritik desselben. Er bediene sich dazu der aus Kant vorgenommenen Unterscheidung von Form und Inhalt. Es gebe, so Stammler, ein a priori Recht, doch sei es „rein formal“: Cathrein ärgert sich bereits daran, wie man „formal“ verstehe. Für den Scholastiker heißt „formalis“ im Gegensatz zum heutigen Sprachgebrauch “wesentlich“, vom Wesen her bestimmt oder das Wesen beinhaltend, bei Stammler werde nun unter „formal“ „leer“ und „inhaltslos“ verstanden. Für jemandem, der wie Cathrein in dem Spannungspaar von Form und Materie oder von Wesen und Existenz dachte, muss also ein Reden vom formalen, leeren Recht in sich widersprüchlich sein, gäbe es doch nicht einmal mehr „Recht“, sondern nur noch ungeformte Materie. – Sodann liefere dieses formale Recht weder eine vernunftgestützte letzte Festigkeit noch bilde es einen höchsten inhaltlichen Wert. Wer sich in Stammlers Rechtsphilosophie weiter umsehe, entdecke, dass Stammler zwar am Grundsatz eines „formalen Rechts mit wechselndem Inhalte“ festhalte, 35 Cathrein (Fn. 16), 61; Manfred Pascher, Einführung in den Neukantianismus, München – Paderborn 1997. Auf S. 114 findet sich bei Pascher allerdings der einzige Verweis auf Rudolf Stammler, doch ist der Neukantianismus zutreffend charakterisiert; ausführlicher in: Wolfgang Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung. Rechtsbegriff und richtiges Recht bei Cohen, Stammler und Kelsen, in: Neukantianismus und Rechtsphilosophie, hg. von Robert Alexy u. a., Mit einer Einleitung von L. Paulson, Baden-Baden 2002, 23–68 (besd. 38–58). 36 Bruno Jahn, Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Philosophen, München 2001, 400; einschlägig zu Rudolf Stammlers Auseinandersetzung mit dem Naturrecht sind: Georg Fraenkel, Die kritische Rechtsphilosophie bei Fries und Stammler, Abhandlungen der Fries’schen Schule, N. F. 3 (1912), S. 843–934; Julius Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee. Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Rudolf Stammlers, Leipzig 1915. Nachdruck Aalen 1967; Alexander Graf zu Dohna, Rudolf Stammler zum 70. Geburtstag, in: Kant-Studien 31 (1926), S. 1–26; Herbert Claessen, Rudolf Stammlers Bedeutung für die Theorie des Naturrechts und den Gedanken der Aequitas, Diss. Köln 1968; Claudius Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus. Naturrecht und Rechtspositivismus in der Auseinandersetzung zwischen Hermann Cohen, Rudolf Stammler und Paul Natorp, in: Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, hg. von G. Sprenger, ARSP Beiheft 43 (1991), 91–100; ders., Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus. Naturrecht und Rechtspositivismus in der Auseinandersetzung zwischen Hermann Cohen, Rudolf Stammler und Paul Natorp, Tübingen 1994. 37 Mehrfach kommt Stammler in seinem Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Berlin und Leipzig, 3. Aufl., 1928 auf Cathreins Werke zu sprechen (s. Index bei Stammler). Neben Cathreins Werk „Recht, Naturrecht und positives Recht“ (2. Aufl., 1909) zog Stammler auch die „Moralphilosophie“ (1911) und die Schrift „Der Sozialismus“ (1919) heran. Allein schon aus Zeitnähe konnte
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dass es aber doch gleichbleibende, unverrückbare, durch Mehrheitsentscheide nicht übertrumpfbare Werte gebe, so die Verbote von Sklaverei, Polygamie und Despotie. So wolle es die „Gemeinschaft freiwollender Menschen“. Wie sich das mit der Formalität, geschweige einer Letztbegründung vertrage, bleibe allerdings ungeklärt.38 Ein erster Zusatz Cathreins zu Stammlers Ausführungen knüpft an die scholastische Diskussion an, ob es Allgemeinbegriffe gebe. Ja und sie haben einen Inhalt und sind nicht – Cathrein lässt sich kurz auf die Diskussion mit dem extremen Nominalismus ein – bloße Worte, welche erst mit der Benennung eines konkreten Einzelnen, eines Individuums, einen Inhalt erhalten. Doch vertieft Cathrein dieses Thema nicht weiter. Er liefert noch eine zweite Erklärung nach, welche in die Debatte über das Verhältnis von Denk- und Seinsordnung fällt. Der Gattungsbegriff, z. B. „Tier“, sei doch nicht leer, denn „Tier“ besage etwas, was sich in verschiedenen Arten wiederfindet, wie in Adlern, Löwen und Fischen. In allen Arten, welche unter den Gattungsbegriff „Tier“ fallen, ist etwas von der Gattung und zusätzlich das Besondere der Art anzutreffen. Von der Logik auf das Sein gewendet, müsse man doch wohl sagen, dass sich nicht der Inhalt des Begriffes „Tier“ verliere, sondern sich konkretisiere. Selbstverständlich gilt, ich füge hinzu, was Hegel sagte, man könne nicht Obst essen, also die Gattung, man esse Äpfel, Birnen, Pflaumen (und auch das nicht einmal, denn man isst nicht „Äpfel“, sondern ein Exemplar einer Apfelsorte). 2.6 Die letzte Auseinandersetzung in diesem Teil des Aufsatzes39 betrifft Gustav Radbruchs40 (21. 11. 1878 Lübeck – 23. 11. 1949 Heidelberg) „Grundzüge der Rechtsphilosophie“.41 Er wirkte von 1919 an in Kiel als o. Prof. des Strafrechts und der Rechtsphilosophie. Anders als Stammler, der vom Marburger Neukantianismus herkam, bekannte sich Radbruch zu dem südwestdeutschen, wertphilosophischen Neukantianismus, von welchem er sowohl den Methodendualismus von Sollen und Sein übernahm, und machte sich auch den werttheoretischen Ansatz zu eigen. Dass Rechtsphilosophie es nur mit dem Seinsollenden und nicht mit dem Sein zu tun habe und auch das Recht auf einem Bekenntnis, jedoch nicht auf einer rational zugänglichen Begründung oberster erkennbarer Prinzipien beruhe, behaupte Radbruch. Dazu sehe er – wieder ist der Neukantianismus zu spüren – nur die Methode, nicht einen Inhalt als allgemeingültig an.42 Inhalte wären für Radbruch „Rechtszwecke“. Wer aber befinde über sie, fragt Cathrein. Indem Radbruch schließlich das Recht als Gemeinschaftsregel oder Sozialregelung bezeichne, verunklare er den Rechtsbegriff, da sämtliche Gemeinschaftsregelungen unter den Begriff „Recht“ mit38 Cathrein (Fn. 16), 61 39 Cathrein (Fn. 16), 63 40 Günter Spendel, Radbruch, Gustav, in: Neue Deutsche Bibliographie (NDB), hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 21 (2003), 83–86; Arthur Kaufmann, Radbruch, Gustav, in: Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Philosophen, bearbeitet von Bruno Jahn, München 2001, 332 f. 41 Cathrein bezog sich auf Radbruchs Gründzüge der Rechtsphilosophie von 1914; als Rechtsphilosophie 1932 in dritter Auflage erschienen. 42 Deutlich ist die Nähe zu Max Webers Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ von 1904; demnach ist Wissenschaft unfähig, über Ziele zu befinden, sondern nur zu viererlei imstande: zur Klärung der Begriffsinhalte und des Verhältnisses der Begriffe untereinander, zur Prüfung der Geeignetheit von Mitteln zum Erreichen der a-rational festgelegten
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einbezogen seien.43 Kein Wort verliert Cathrein über die Triade Radbruchs von „Gerechtigkeit“, „Zweckmäßigkeit“ und „Sicherheit“. 3. Naturrecht im Völkerrecht? In einem dritten Teil verlässt Cathrein das innere Staatsrecht, wie er sagt, und wendet sich dem Völkerrecht zu,44 an welches nach dem Ersten Weltkrieg und im Verfolgen der ersten Gehversuche des Völkerbundes die Erwartungen gestiegen waren. Beruhen völkerrechtliche Verträge ausschließlich auf Selbstbindung?45 Damit sei ein Freibrief der staatlichen Willkür ausgehändigt. Cathrein sagt, dass viele dies vertreten, wobei er nicht noch einmal Bergbohm nennt, dessen Arbeiten ja gerade diesen Punkt immer wieder herausstellten.46 Auch hier finden sich Positionen, welche allgemeingültige verpflichtende Rechtsnormen in das Völkerrecht einführten, wie beispielsweise L. von Bar, H. Geffcken, Paul Laband, Franz von Liszt, Max Salomon.47 – Doch, so Cathrein, überwiegen trotz der guten Absicht verwaschene Vorstellungen von allgemeinem Rechtsbewusstsein, von Rechtsidee und Rechtsgefühl. Man verlange nach einem übergeordneten Recht und wehre sich dagegen, ein solches mit allen Konsequenzen anzunehmen. Woher denn diese Scheu vor dem Naturrecht?48 Unkenntnis, ein „weitverbreiteter“ Subjektivismus und schließlich der Relativismus seien die Barriere. Auch hier herrsche Halbherzigkeit, denn würde man sich völlig auf einen relativistischen Standpunkt stellen, könnte man auch keine Naturwissenschaften betreiben. Dass man beide Haltungen nicht mit einem Perspektivismus oder Relationismus verwechseln darf, welche auf konstitutive Bedingtheiten menschlichen Lebens aufmerksam machen und oft mit beiden verwechselt werden, erwähnt Cathrein nicht. 4. Viktor Cathreins scholastisches Naturrecht Anfangs behutsam führt Cathrein in dem nächsten und letzten Teil des Artikels in die Theorie des scholastischen Naturrechts ein.49 Er verweist auf sein Werk von 1914: „Die Einheit des sittlichen Bewusstsein der Menschheit“: Jeder Mensch komme durch Nachdenken zu allgemeinen auch sittlichen Grundsätzen, ohne hier auf die langsam aufkeimende Menschenrechtsdiskussion aufmerksam zu machen; diese hätte seiner Naturrechtsargumentation flankierend zur Seite stehen können.50 Dass 43 Cathrein (Fn. 16), 63 44 Cathrein (Fn. 16), 63 45 Zu diesem Thema äußerte sich Cathrein bereits in „Die Grundlagen des Völkerrechts“ ARWPh X (1916/17), 1–14. 46 Lang-Hinrichsen (Fn. 21), 77 47 Cathrein (Fn. 16), 63 48 Cathrein (Fn. 16), 64 49 Cathrein (Fn. 16), 64 50 Im selben Heft der ARWPh führt übrigens Joseph Mausbach in seinem Beitrag „Ethik und Recht“ (74–88) gerade von den subjektiven Rechten und den Menschenrechten den Bogen hin
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bei aller Verschiedenheit der Individuen eine Einheit der Art „Mensch“ vorliege, auch eine Einheit in Basissätzen des sittlichen Bewusstseins, legt er unpolemisch und ein wenig naiv dar. Solche Nachweise erfreuten sich am Ende des 19. Jahrhunderts einer gewissen Konjunktur. Erinnert sei nur an Wilhelm Schmidts versuchtem Nachweis, dass im Gegensatz zu der Annahme eines Evolutionismus alle Menschheitsgruppen anfänglich sich zum Ein-Gott-Glauben bekannt hätten.51 Doch die apologetische Note, die Abwehr erzeugende scheinbar erdrückende Zahl an Beweisen und die allzu starke Konkretisierung des Anliegens trafen ebenso auf Reserven wie der Schluss von faktischem Gottesglauben auf die Existenz Gottes allen jenen, die einer kantischen Philosophie folgten, unannehmbar war. Doch will ich anfügen, dass die mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts aufkeimende Menschenrechtsdiskussion gleichfalls ein Mindestmaß an universalen sittlichen Standards voraussetzte. – Es fehlt nicht an dem Hinweis, dass das Naturrecht das positive Recht nicht überflüssig mache, sondern als notwendig fordere, womit er der immer wieder begegnenden Annahme entgegentreten wollte, dass mit dem Naturrecht allein eine Gesellschaft gesteuert – und entlastet werden könnte.52 Letztlich gebe es zwei Faktoren, ein Missverständnis und eine Furcht, welche die Annahme der Theorie des Naturrechts behinderten. Das eine sei, dass man zwar richtigerweise davon ausgehe, im Naturrecht letztlich Gottes Willen als Verpflichtung und Gottes Wissen als Inhalt anzutreffen; dass man aber die Bindung an Gott als heteronome Verpflichtung und somit als Entfremdung ansehe; und seit Kant sei das Vermögen des Menschen zu Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung als die wertvollste und identitätsstiftende Ausrüstung des Menschen anzusehen. Eine heteronome Bindung würde zweifellos die Autonomie beschädigen, da der Mensch laut dem kategorischen Imperativ der Selbstzweckformel „bloß als Mittel“ benutzt wäre. Zweifellos gibt es heteronome Beziehungen. Doch sind darunter doch erst einmal Beziehungen von Mensch zu Mensch zu verstehen. Wer die Gottesbeziehung unter die heteronomen Beziehungen einordnet, wird zumindest sich damit auseinanderzusetzen haben, dass nicht der Mensch, wohl aber Gott den Menschen geschaffen und in Freiheit gesetzt hat. Im Gegenteil, es könne doch von Entfremdung keine Rede sein, wenn der Mensch konstitutiv von Gott abhänge. Cathrein ist allerdings von seinem Naturell, seiner Ausbildung her nicht in der Lage, diese Bindung Gottes an den Menschen als Geschichte einer Freigabe und Freisetzung zu lesen und als vereinbar mit der Autonomie des Menschen ausweisen zu können. Überwiegend bedient er sich der Worte wie Willen, Verpflichtung, Gesetzgeber, Unterwerfung. Und dies ist genau das zweite Hindernis, wie er sagt:53 Die Furcht vor Ungehorsam. Wenig glücklich ist ein Satz des letzten Abschnittes, der keineswegs ironisch gemeint ist: „Ein Imperativ setzt einen Imperator, ein Kommando einen Kommandierenden voraus. Wer also die naturrechtlichen Grundsätze als verpflichtend anerkennt, wird notwendig zur Annahme eines Imperators geführt, der über den Menschen steht und von Zeit und Ort unabhängig ist.“ 51 Hans Waldenfels, Wilhelm Schmidt, in: Klassiker der Religionswissenschaft, hg. von A. Michaels, 1997, 185–197, 387 f., Metzler-Lexikon Religion, Gegenwart – Alltag – Medien, hg. von Christoph Auffahrt u. a., Stuttgart – Weimar Bd. 3, 2000, 554 52 Cathrein (Fn. 16), 66
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Dass man sich Gott nicht unterwerfen wolle und dazu die Unfähigkeit des Menschen vorschütze, Gott zu erkennen, will Cathrein mit dem Zitat Ernst Immanuel Bekkers54 (16. August 1827 Berlin – 29. September 1916 Heidelberg) belegen. Bekker stelle den Syllogismus an: Naturrecht sei Gottesrecht, von Gott aber können wir nichts wissen, somit auch nichts von einem Gottesrecht. Das von Cathrein ausgewählte Zitat aus dem Werk Bekkers soll dessen Einstellung charakterisieren: Ein Kantianer müsse Gegner des scholastischen Naturrechts sein. V. BEWERTUNG
DES
ARTIKELS
1. Welches Anliegen hat das „Archiv“ mit der Publikation verfolgt? Das „Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ hat das erste Heft des Jahrgangs 1922 / 1923 der „Katholischen Rechtsphilosophie“ geöffnet. In ihm schrieben Otto Schilling über „Die Rechtsphilosophie bei den Kirchenvätern“ (1–12) und über „Die kirchliche Eigentumslehre“ (146–153), Martin Grabmann steuerte einen gewichtigen Forschungsbeitrag zum „Das Naturrecht der Scholastik von Gratian bis Thomas von Aquin“ bei (12–53). Auf Cathreins Beitrag folgte Johannes Haring mit „Recht und Gesetz nach katholischer Auffassung“ (67–73). Josef Mausbauch schloss sich an mit „Ethik und Recht“ (74–88), Franz Walter (88–120) sagte der Euthanasie den Kampf an, Karl Schmitt stellte „Die Staatsphilosophie der Gegenrevolution“ vor (121–131) und Eduard Eichmann ging auf das Verhältnis von „Kirche und Staat“ ein (131–145). Dem Leser bot somit das Heft einen Überblick über Stellungnahmen der katholischen Kirche und des Katholizismus zu Zeitfragen und geschichtlicher Information. Zugleich lernte der Leser auch die Vielfalt katholischen Rechtsdenkens kennen, denn keineswegs stimmten die Autoren in allem überein, so z. B. Mausbach nicht mit Cathrein.55 Ein solches Themenheft war nicht außergewöhnlich, so waren 1925 sogar zwei Hefte dem Thema „Der Staat, das Recht und die Wirtschaft des Bolschewismus“ gewidmet. Zwar hatte sich das „Archiv“ nie der philosophischen Strömung der Naturrechtsphilosophie verschlossen, im Gegenteil, mehreren Autoren die Möglichkeit geboten und sogar des öfteren, in den Heften zu veröffentlichen.56 Doch sah es, so darf ich 54 Sohn des August Immanuel Bekker (1785–1871), dem wir neben anderen Editionen griechischer Texte des Altertums die Platon-Ausgabe verdanken. Sein Sohn Ernst Immanuel war ab 1874 ordentlicher Professor der Rechte in Heidelberg. Dietrich Lang-Hinrichsen, Artikel „Bekker, ErnstImmanuel“, in: Neue Deutsche Bibliographie (NDB), hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften,2. Bd (1955), S. 25. 55 Zu Kontroversen: Johannes Messner, Das Naturrecht, Innsbruck u. a., 3. Aufl., 1958, 287 f.; darüber hinaus zu Cathrein: 308 f., 328, 402, 450, 684. Der Aufsatz aus ARSP findet sich nicht zitiert; siehe zur Kontroverse Cathrein – Mausbach auch Siedlaczek (Fn. 1), 23 f., 32 f. und 183–198. 56 Das ARWPh / ARSP hat zu „Naturrecht“ und „Scholastik“ veröffentlicht: Bernhard Brands, „Über die Bedeutung der Scholastik für die Rechtsphilosophie der Gegenwart“, ARWPh VIII (1915), 71–87; Cathrein (Fn. 27), 1–14 und 340–349; ders., Hat Papst Gregor den Staat für ein Werk des Teufels und der Sünde erklärt?, ARWPh X (1916/17), 340–349 und fortgesetzt in AR-
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rekonstruieren, die Redaktion wohl nach dem politischen und auch kulturellen Zusammenbruch von 1918 als sinnvoll an, diese Richtung gebündelt vorzustellen, auch um das Wort nicht allein jenen restaurativen überzüchteten Positionen zu überlassen, wie sie sich im Namen eines „Reiches“ meldeten oder in der Neuauflage von Joseph de Maistres „Vom Papst“ zeigten;57 aber auch nicht jenen Strömungen, welchen die katholische Naturrechtslehre bereits zu stark auf die Vernunft und das selbständige Denken setzte, und sich damit den Vorwurf zuzog, die Leitung durch das Lehramt für unnötig zu halten.58 2. Charakteristik des Vorgehens Viktor Cathreins Erwacht sei, so Cathrein, Josef Kohler zitierend, das Interesse am Naturrecht.59 Cathrein denkt dabei nicht an die im kirchlichen Raum und etwas darüber hinaus geführte Naturrechtsdiskussion, sondern an die außerhalb des kirchlichen Bereiches geführte Diskussion um das „gerechte“ Recht.60 Ansätze von fünf Denkrichtungen hat Cathrein vorgestellt und kritisch begutachtet: Zum ersten rechtspositivistische Ansätze, welche in der Entwicklung einer „Allgemeine Rechtslehre“ einen alle gesetzten Normen transzendierenden Halt und eine Orientierung zu finden meinen; zweitens eine neukantianische Suche nach dem „richtigen Recht“, was allerdings als wechselnd besetzbar und unterschiedlich füllbar anzusehen ist; drittens jene Rechtstheoretiker, welche sich im besonderen mit der Frage der Lückenfüllung beschäftigen; und sich nicht damit zufrieden geben, auf in der Gesellschaft gelebtes ungeschriebenes Recht zu verweisen, aus dem die Lücken gefüllt werden können, sondern das „ius aequum“ oder „ius naturale“ wenn nicht als „Materiallieferant“, so doch als Kriterium der Füllungen ins Spiel bringen. Viertens bespricht er Ansätze, welche vom Gefühl her das Recht einer Musterung unterwerfen wollen, und fünftens würdigt er Völkerrechtler, welche nach Bindungen des Staats an vorgegebene Normen Ausschau halten, von welchen auch die von ihm eingegangenen Selbstbindungen Kraft beziehen sollen. Doch lässt die Gruppe der in der Rechtsphilosophie tätigen Wissenschaftler, die eher reserviert bis kämpferisch gegenüber dem Naturrecht eingestellt sind,61 die anfangs von Cathrein so beschworenen Neuansätze und den begrüßten Aufbruch doch als eine sehr zarte und eher schwächelnde Pflanze erscheinen.
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(1918/1919), 37–47; Franz Brentano, Rezension über Erich Jung, Das Problem des natürlichen Rechts, Leipzig 1912, ARWPh VII (1913/14), 81; Franz Weyr (Fn. 32), 84–90. Joseph de Maistre, Vom Papste. 2 Bde., hg. von Joseph Bernhart, München 1923 Ausläufer einer solchen Einstellung ist noch: Joseph Ratzinger, Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre. Katholische Erwägungen zum Thema, in: Christlicher Glaube und Ideologie, hg. von K. von Bismarck/W. Dirks, Stuttgart u.a. 1964, 24–30. Cathein (Fn. 16), 55 Erinnert sei an die Einschätzung von Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie,Fünfte Auflage nach dem Tod des Verfassers besorgt und biographisch eingeleitet von Dr. E. Wolf, Stuttgart 1956 (1. Auflg. 1950), 119 (dort Fn. 3): „Die Naturrechtslehre hat sich am Leben erhalten, ja erneut an Kraft gewonnen. In imponierender Geschlossenheit und Unbeirrtheit ragt das mittelalterliche Naturrecht der katholischen Rechtsphilosophie in die Gegenwart hinein.“ Für das Völkerrecht siehe die Ergebnisse der Umfrageergebnisse unter Völkerrechtsjuristen, Nie-
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Keiner der diskutierten Ansätze hat vor Cathreins Seziermesser Bestand, der mit einem inhaltlich gefüllten und orientierten Rechtsbegriff arbeitete; einem moralneutralen, sich nicht als gerecht verstehendem Recht stand Cathrein ablehnend gegenüber. Man wird nicht sagen können, dass er eine der kritisierten Theorien falsch oder verzerrt dargestellt habe; allenfalls immer sehr kurz, wozu aber auch das Medium des Artikels zwang. Wir können dabei die zwei verschiedenen Strategien Cathreins verfolgen: 1. Die der äußeren Kritik; so kritisiert er von der klassischen, und zugleich seiner, Naturrechtslehre ausgehend die jeweils vorgestellten Philosophien. 2. Die der immanenten Kritik: Er geht gleichsam in diese Ansätze hinein und versucht anhand ihrer eigenen Begrifflichkeit und Konstruktion die Widersprüchlichkeit oder Nicht-Praktikabilität aufzudecken. So bedenkenswert, wenn auch nicht gänzlich neu, Cathreins angebrachte Kritik dem einen und anderen Leser – und vielleicht auch dem „Archiv“? – schien, so hart und schroff dürfte der Ausklang seiner Auseinandersetzung geklungen haben. Aus den verschiedenen Möglichkeiten, das klassische Naturrechtsdenken vorzustellen, griff Cathrein jene heraus, welche mit monarchisch-militärischen Vokabeln und Bildern bestückt ist. Desweiteren verband er das Ja oder Nein zum Naturrecht mit dem Ja oder Nein zu Gott, und wohl auch umgekehrt, eine Verbindung, welche die spanische Scholastik, etwa Francisco Suárez vermied und die auch in dieser Schroffheit eher ein Spätprodukt der Apologetik des 19. und 20. Jahrhunderts ist. Für Viktor Cathrein war es völlig klar, dass erstens „alles gesagt ist“ und das philosophische Ringen ab der Neuzeit im Grunde überflüssig ist; zweitens vermochte er nicht eindringlich genug das Naturrechtsdenken des Mittelalters von der Naturrechtsauffassung der Neuzeit und der Aufklärung abzutrennen; gegen dieses lückenlose Naturrechtssystem der Aufklärung richtete sich aber auch, wenn auch nicht ausschließlich, die Kritik der Rechtsphilosophen seiner Zeit; und drittens war er nicht bereit, die von Kant eingeschlagene „Wende zum Subjekt“ mitzumachen, hielt das „Autonomie“Denken für Freigabe des Menschen an seine Willkür und verharrte bei einer Gehorsamsmoral. 3. Zur „Ewigen Wiederkehr des Naturrechts“ Eine Seite dieser von Cathrein behandelten Diskussion scheint mir aber von ihm gar nicht ausdrücklich aufgegriffen zu sein. Während er sich stark mit den „Verächtern“ und „Leugnern“ sowie den halbherzigen Bejahern des Naturrechts auseinandersetzte, gab es eine Gruppe von Rechtsphilosophen, welche den Ausspruch von der „ewigen Wiederkehr des Naturrechts“ in einer eigenen Weise ernst nahmen. Man kann diesen Begriff ja einmal so verstehen, dass sich der Naturrechtsgedanke gegen alle Widerstände und Leugnungsversuche doch immer wieder durchsetze. Dies lässt sich zwar weder empirisch belegen noch ohne eine bestimmte Geschichtsphilosophie und dann wahrscheinlich mit einer petitio principii – behaupten. Es gab aber jedoch eine andere Lesart, bei einigen Autoren als Subtext, und offen in der Rezension von Franz Weyr ausgesprochen.62 Derzufolge kommen Philo-
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sophien und gehen, Philosophien werden abgelegt und kehren wieder zurück. Es gebe wahrscheinlich sogar eine Reihenfolge, in welcher sich die Philosophien, Naturrecht, Rechtspositivismus, u. a., ablösten. Alle Strömungen haben gleichsam ihre Zeit und sind dementsprechend auch alle gleich richtig oder eben gleich falsch. Geltungsansprüche bestehen immer nur für eine, für ihre jeweilige Zeit. Jede Philosophie steht unter einem Zeitdiktat, doch nicht unter einem einheitlichen Maßstab. Auch in den Aufsätzen Ernst Landsbergs und Alfred Manigks, selbst wenn letzterer die Naturrechtsidee über alle Zeitenwechsel stellen will, finden sich diese Vorstellungen und sogar an prominenter Stelle angesprochen.63 Sie nehmen die Naturrechtslehre ernst – für die ihr zugemessene Zeit, aber nicht darüber hinaus. Zwar widerspricht die scholastische Naturrechtslehre einem solchen Ansatz mit ihrem eigenen, überzeitlichen und für alle Zeiten verbindlichen Anspruch radikal, auseinander gesetzt hat sie sich mit diesem Ansatz jedoch nicht. Vielleicht weil sie ihre Waffen schon auf den Evolutionismus ausrichtete. 4. Wirkungsgeschichte des Artikels Ernst Landsberg64 besprach in seinem ARSP-Beitrag „Zur ewigen Wiederkehr des Naturrechts“ fast ausschließlich Giorgio del Vecchios Werk: „Die Grundprinzipien des Rechts“, welches 1923 auf deutsch erschienen war; Cathrein fand in Landsbergs Aufsatz überhaupt keine Erwähnung; mit der dort geübten Kritik Landsbergs an Radbruch hätte Cathrein allerdings Einverständnis signalisieren können: Landsberg hielt Radbruch vor, er liefere eine Rechtsphilosophie, welche das bestehende, geltende Recht lediglich erkläre.65 Hingegen ging Alfred Manigk 1926 in seinem ARSP-Beitrag „Wie stehen wir heute zum Naturrecht?“ zumindest auf Cathreins Arbeit „Recht, Naturrecht und positives Recht“, 2. Aufl., 1909, referierend und kritisch ein.66 Manigk warf Cathrein vor, keine erkenntnistheoretische Begründung für seinen Ansatz geliefert zu haben; d. h., keine Begründung, welche vor der kantischen Erarbeitung des Erkenntnisvermögens und Erkenntnisvorgangs Bestand haben könnte. Das „suum cuique“ und das „Tue niemandem Unrecht“ seien analytische Sätze a priori, aus dem Begriff entwickelte Sätze also, jedoch kein bestimmtes Recht. Wie man zur Konkretisierung von Rechtssätzen kommen wolle, sei offen. Solche Rechtssätze wie „pacta sunt servanda“ trügen aposteriorischen, keinen apriorischen Charakter.67 Julius Moór (Budapest) griff 1935 in dem Artikel „Das Problem des Naturrechts“ auf Georg von Hertling und Johannes Haring zurück. Cathrein fand Erwähnung,68 allerdings nicht mit vorliegendem Artikel, sondern mit „Recht, Naturrecht und positives Recht“, jeweils in der 2. Auflage.
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Landsberg (Fn. 18), 347–376 und Manigk (Fn. 18), 375–414 Landsberg (Fn. 18), 347–376 Landsberg (Fn. 18), 374 Manigk (Fn. 18), 402 f. Manigk (Fn. 18), 402 f.
Viktor Cathrein S. J.: Naturrechtliche Strömungen in der Rechtsphilosophie der Gegenwart
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Während Cathrein mit anderen Werken durchaus noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gegenwärtig blieb, knüpfte sich an diesen Artikel, soweit mir Nachforschungen möglich waren, keine eigene Wirkungsgeschichte an.
MATTHIAS KLATT, OXFORD ALEKSANDER PECZENIK ARGUMENTATION
ÜBER DIE
RATIONALITÄT
DER JURISTISCHEN
Im Mittelpunkt dieser Abhandlung steht die kritische Erörterung eines Aufsatzes von Aleksander Peczenik, der 1982 unter dem Titel „Rationality of Legal Justification“ im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie erschienen ist. Der Darstellung der wesentlichen Thesen des Aufsatzes (II) und deren Kritik (III) gehen einige einleitende Bemerkungen zum historischen und thematischen Kontext des Aufsatzes (I) voran. I. EINLEITUNG Der hier vorgestellte Aufsatz steht stellvertretend für einen wichtigen Teil des Gesamtwerks Aleksander Peczeniks. Es ist für Verständnis und Einordnung des Aufsatzes hilfreich, einige Grundzüge der Biographie zu kennen.1 Aleksander Peczenik wurde 1937 in Krakau geboren. Er studierte dort u. a. bei Kazimierz Opałek Rechtswissenschaften, wurde promoviert und habilitierte sich. Bereits mit 29 Jahren erhielt er seine erste Professur. Schon drei Jahre später, 1969, emigrierte er nach Stockholm, wo Alf Ross zu seinen Förderern zählte. Er unterrichtete Rechtsphilosophie in Stockholm und nahm parallel dazu ein Studium des schwedischen Rechts auf, das er 1975 abschloss. Von 1975 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2004 lehrte Aleksander Peczenik in Lund. Anschließend wurde er Professor für Juristische Argumentation und Rhetorik an der Szczecin Universität in Polen. Aleksander Peczenik ist am 19. September 2005 in Lund gestorben. Aleksander Peczenik war Herausgeber einer Reihe bedeutender rechtsphilosophischer Reihen und Zeitschriften.2 Er war Mitglied der Finnischen Akademie der Wissenschaften und von 2003 bis zu seinem Tod Präsident der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Aleksander Peczenik wurde durch die große polnische Tradition der analytischen Rechtstheorie geprägt, die sich vorrangig mit Logik, Epistemologie und Methodologie beschäftigte.3 Er ist damit Teil einer international weitverzweigten und sehr einflussreichen Strömung, zu denen auch H. L. A. Hart, Alf Ross, Kazimierz Opałek,
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Siehe auch Robert Alexy/Aleksander Peczenik,: In memoriam, Ratio Juris 19 (2006), 245 f.; Jan Wolenski, Apropos of A Treatise of Legal Philosophy and General Jurisprudence, Volumes 4–5, Ratio Juris 20 (2007), 242 f. Peczenik war u.a. Managing Editor der Law and Philosophy Series (Kluwer), Co-Editor der Associations Journal for Legal and Social Theory (Berlin-Tampere), Mitglied des Editorial Committee des ARSP sowie Mitglied des Editorial Committee der Ratio Juris. Zur polnischen Rechtsphilosophie allgemein siehe Tomasz Gizbert-Studnicki/Krzysztof Peszka, Polish Legal Theory. An Attempted Overview, in: Law and Politics Between Nature and History, hg. von Ralf Dreier, Bologna 1998, 257–265; Kazimierz Opałek, Die Rechtstheorie in Polen im
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Aulis Aarnio und andere gehören.4 Als eine der Kernfragen der analytischen Rechtstheorie kann die Frage gelten, ob und wie juristische Entscheidungen rational gerechtfertigt sein können.5 Damit stehen zugleich die Probleme der Rolle von Logik6, Wahrheit7 und Richtigkeit8 im Recht auf dem Spiel. Das Thema des hier besprochenen Aufsatzes von Peczenik ist damit das Thema analytischer Rechtstheorie schlechthin. Es ist insbesondere auch von deutschen Vertretern der analytischen Rechtstheorie, mit denen Peczenik zum Teil im regen Austausch stand, in einer Reihe von bedeutenden und bis heute maßgebenden Veröffentlichungen aufgegriffen worden.9 Die Theorie der juristischen Argumentation als Teilgebiet der analytischen Rechtstheorie, die die klassische Methodenlehre abgelöst hat, hat in den 1970er und 1980er Jahren international eine beherrschende Stellung in der rechtstheoretischen Forschung eingenommen.10 Folgt man Neumanns Klassifizierung der juristischen Argumentationstheorie, die einen logisch-analytischen, einen topisch-rhetorischen und einen diskurstheoretischen Zugang unterscheidet,11 so ist Peczenik dem logisch-analytischen zuzurechnen, wobei allerdings Verbindungslinien12 zu Alexys diskurstheoretischer Theorie bestehen. II. DER AUFSATZ „RATIONALITY
OF
LEGAL JUSTIFICATION“
In seinem Aufsatz „Rationality of Legal Justification“ fasst Aleksander Peczenik wesentliche Ergebnisse seiner Doktorarbeit, die 1983 zugleich auf Deutsch und auf Englisch erschien, zusammen. Diese Entstehungsgeschichte bedingt zugleich Stär4
Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hg. von Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer, Heidelberg 2004, 86 5 Vgl. James E. Herget, Contemporary German Legal Philosophy, Philadelphia 1996, 14 6 Vgl. Matthias Klatt, Contemporary Legal Philosophy in Germany, ARSP 93 (2007), 525 f.; Matthias Klatt, Rezension, ARSP 93 (2007), 453 f. 7 Ulfrid Neumann, Wahrheit im Recht. Zur Problematik und Legitimität einer fragwürdigen Denkform, Baden-Baden 2004 8 Robert Alexy, Law and Correctness, in: Current Legal Problems, hg. von M.D.A. Freeman, Oxford 1998, 205–221; Matthias Klatt, Zur Rechtstheorie des Verdachts, Rechtstheorie 37 (2006), 390 f. 9 Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt am Main 1978; Robert Alexy/Hans-Joachim Koch/Lothar Kuhlen/Helmut Rüßmann (Hrsg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, Baden-Baden 2003; Delf Buchwald, Der Begriff der rationalen juristischen Begründung, Baden-Baden 1990; Hans-Joachim Koch/Helmut Rüssmann, Juristische Begründungslehre. Eine Einführung in die Grundprobleme der Rechtswissenschaft, München 1982; Ulfrid Neumann, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt 1986. Einen guten Überblick bietet Eric Hilgendorf, Argumentation in der Jurisprudenz. Zur Rezeption von analytischer Philosophie und kritischer Theorie in der Grundlagenforschung der Jurisprudenz, Berlin 1991 . 10 Vgl. Eric Hilgendorf, Die Renaissance der Rechtstheorie zwischen 1965 und 1985, Würzburg 2005, 39–42; Neumann (Fn. 9) 11 Neumann (Fn. 9), 11 f. Ebenso Carl F. Gethmann, Argumentationstheorie, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 1: A-G, hg. von Jürgen Mittelstraß, Mannheim 1980, 162 f. 12 Siehe Aulis Aarnio/Robert Alexy/Aleksander Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, in: Metatheorie juristischer Argumentation, hg. von Werner Krawietz/Robert Alexy, Berlin
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ken und Schwächen des Aufsatzes. Er enthält viele wichtige Elemente und zentrale Thesen der Theorie Peczeniks. Zugleich aber ist im Aufsatz selbst naturgemäß wenig Raum, um die jeweiligen Elemente und Thesen ausführlich darzulegen und zu begründen. Der Aufsatz soll daher auch hier im Zusammenhang mit den übrigen Veröffentlichungen gelesen werden. Dabei werden die drei Kernthemen des Aufsatzes erörtert, nämlich der Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz (1), die Theorie der Sprünge (3) und die Frage der Rationalität der juristischen Argumentation (4). Außerdem ist das Ziel des Aufsatzes zu analysieren (2) sowie auf eine wichtige, spätere Ergänzung von Peczeniks Theorie hinzuweisen (5). 1. Der wissenschaftstheoretische Status der juristischen Argumentation Gleich zu Beginn des Aufsatzes ordnet Aleksander Peczenik die juristische Argumentation wissenschaftstheoretisch ein.13 Diese Frage ist ihm wichtig, denn er kommt im weiteren mehrfach darauf zurück. Sie bedarf hier auch deswegen genauer Betrachtung, weil anzunehmen ist, dass aus dem wissenschaftstheoretischen Status der juristischen Argumentation Annahmen für deren Rationalität folgen. a) Peczeniks Mixturthese Juristische Argumentation setzt sich nach Peczenik aus kognitiven und evaluativen Sätzen zusammen. Kognitive Sätze, wie z. B. die Zitierung einer Rechtsnorm oder Aussagen über Ursachen eines Verkehrsunfalls, seien entweder wahr oder falsch. Evaluative Sätze seien dagegen z. B. bei der teleologischen Interpretation erforderlich. Peczenik setzt die Dichotomie evaluativ-kognitiv mit Summers Dichotomie von substantiellen und autoritätsbezogenen Gründen gleich.14 Autoritätsbezogene Gründe verwiesen auf Rechtsquellen wie Gesetze, Gerichtsentscheidungen etc. und seien daher kognitiv. Substantielle Gründe enthielten politische, moralische oder gesellschaftliche Ziele oder Wertungen und seien daher evaluativ. Zu den Rechtsquellen, die rein kognitiv erkannt werden können, zählt Peczenik interessanterweise auch sogenannte etablierte Wertungen. Diese stellen in Lehrsätzen kondensiertes, anerkanntes Wertungswissen dar, reichen jedoch für juristische Argumentation nicht aus. Juristische Argumentation ist vielmehr stets auch auf neue Wertungen angewiesen.15 Juristische Argumentation ist stets kreativ.16 Dieser Punkt lässt sich in einer These zusammen, die hier als „Peczeniks Mixturthese“ bezeichnet werden soll: Juristische Argumentation ist eine Mischung aus beschreibenden und wertenden Aussagen.17 Juristische Argumentation ist ein Kompromiss zwischen der wahren Beschreibung von Rechtsquellen und der kontinuierlichen Schöpfung neuer Wertungen. Aufgrund dieses wissenschaftstheoretischen Kompromisscharakters setzt juristische Argumentation immer sowohl deskriptive als auch normative Annahmen voraus. 13 Aleksander Peczenik, Rationality of Legal Justification, ARSP 69 (1982), 137 14 Robert S. Summers, Two Types of Substantive Reasons. The Core of a Theory of Common-Law Justification, Cornell Law Review 63 (1978), 707–788. Siehe Peczenik (Fn. 13), 137 bei Fn. 3 15 Peczenik (Fn. 13), 138 16 So in beachtenswerter Klarheit ibid 150.
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Der Vorteil dieses Umstandes liegt darin, dass juristische Argumentation zwei Ziele erreichen kann, nämlich sowohl die Rechtssicherheit im Sinne einer Vorhersagbarkeit von juristischen Entscheidungen, als auch ihre moralische Akzeptabilität.18 Beide sind in der Praxis, so Peczenik, oft miteinander verwoben und schwer zu trennen. Juristen hätten eine Tendenz, evaluative Aussagen, also Wertungen, als kognitive Sätze zu präsentieren. Diese Tendenz folge der Pflicht, juristische Argumentation an Rechtsquellen zu binden. b) Juristische Argumentation im System der Wissenschaften Peczenik vertieft seine Überlegungen zum wissenschaftstheoretischen Status durch einen Vergleich der juristischen mit der moralischen und der naturwissenschaftlichen Argumentation. Moralische und naturwissenschaftliche Argumentation gleichen sich, so Peczenik, darin, dass beide konkrete Daten und generelle Theorien in einem komplexen Verfahren miteinander in Einklang zu bringen suchen. Sie unterscheiden sich allerdings in drei Punkten.19 Erstens ersetzten naturwissenschaftliche Theorien einander, während moralische Theorien und Paradigmen über lange Zeit hinweg koexistieren und widerstreiten könnten. Kants Moraltheorie, zum Beispiel, sei auch heute noch vertretbar, während eine naturwissenschaftliche Theorie von 1790 heute unhaltbar sei. Zweitens sei eine Moraltheorie oft Gegenstand eines Präzisierungsdilemmas, das für naturwissenschaftliche Theorien nicht gelte: Je konkreter die Moraltheorie sei, desto eher verwickele sie sich in Widersprüche. Wenn sie die Widersprüche zu vermeiden suche, sei sie zu abstrakt, um hilfreich zu sein. Drittens sei eine Moraltheorie nur aus der Teilnehmerperspektive denkbar, während naturwissenschaftliche Theorien der Beobachterperspektive folgten. Dies bedeute z. B., dass Paradigmenwechsel nur bei naturwissenschaftlichen Theorien vorhersagbar sein könnten. Mit der moralischen Argumentation teilt die juristische das Ziel des reflexiven Gleichgewichts (reflective equilibrium) zwischen widerstreitenden Prinzipien und gesellschaftlichen und individuellen Interessen.20 Dennoch, so Peczenik, ist die juristische Argumentation der naturwissenschaftlichen ähnlicher als der moralischen.21 Denn die Rechtsquellen entsprächen als kognitiv erkennbare Komponenten den „harten Fakten“ der Naturwissenschaften. Moralischen Theorien dagegen verfügten nicht über vergleichbare Elemente. Daher seien juristische Theorien auch stabiler als Moralsysteme. Juristische Argumentation fördere Rechtssicherheit, weil die Rechtsquellen als harter, unveränderlicher Theoriekern behandelt würden. c) Das Verhältnis von Deskription und Evaluation Aus dem Gesagten kann gefolgert werden, dass Peczenik der kognitiven Komponente einen stärkeren Stellenwert zuweist, als dies im Verhältnis zur evaluativen Komponente üblicherweise geschieht. Während vielfach die Wertungsbezogenheit 18 Peczeniks Begrifflichkeit ist von der hier verwendeten verschieden. Er fasst unter dem Begriff der Rechtssicherheit sowohl die Vorhersagbarkeit als auch die moralische Akzeptabilität zusammen, vgl. ibid 138. Die hier verwendeten Begriffe entsprechen dem im deutschen Sprachraum üblichen Gebrauch. 19 Ibid 151 20 Ibid 150 f.
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und evaluative Offenheit als das maßgebliche Charakteristikum juristischer Argumentation betont wird, stellt Peczenik die Bedeutung der deskriptiven Komponente heraus. Interessantes Indiz hierfür ist auch die Überschrift seines wissenschaftstheoretischen ersten Teiles, die von dem „quasi-kognitiven“ Charakter der juristischen Argumentation spricht und dadurch die evaluative Seite der Mixturthese unterschlägt. d) Paradigmen juristischer Argumentationstheorien Die Wissenschaftstheorie bildet nicht nur den Beginn, sondern auch den Schluss von Peczeniks Aufsatz. Am Ende ordnet er seine Argumentationstheorie in ein bestimmtes Paradigma ein. Peczenik unterscheidet zwei Paradigmen juristischen Denkens: den juristischen Formalismus, wie er in der Begriffsjurisprudenz herrschte, die gesellschaftsorientierten und regelskeptischen Theorien z. B. der Critical Legal Studies. Beide Paradigmen lehnt Peczenik ab: Der Formalismus isoliere die beschreibende Feststellung der Rechtsquellen von ihrem sozialen Kontext, die gesellschaftsorientierten Theorien dagegen lösten das Recht im Ozean freier Wertungen auf. Peczenik empfiehlt ein drittes Paradigma, das beide Ansätze vereint.22 Es ist sowohl dem sozialen Kontext des Rechts und seiner Beziehungen zu ökonomischen und moralischen Überlegungen, als auch dem formalen Arbeiten mit den Rechtsquellen verpflichtet. 2. Wider Dekonstruktivismus und Reduktionismus Peczenik stellt sich mit diesem Aufsatz das Ziel, die juristische Argumentation gegen Kritik zu verteidigen. Ob dieses Ziel gelingt, hängt wiederum davon ab, was das Ziel der juristischen Argumentation ist. Für Peczenik besteht das Ziel der juristischen Argumentation in der Rechtfertigung (justification) von Entscheidungen. Er definiert die Rechtfertigung als das Nennen von hinreichenden Gründen.23 Ob ein Grund hinreichend ist, hängt vom Kontext ab. Was für einen Juristen als hinreichend gilt, kann für einen Moralphilosophen oder einen Politiker unzureichend sein. Peczenik unterscheidet daher zwei Arten von Rechtfertigung: eine tiefgehende (deep justification) und eine auf den Kontext bezogene Rechtfertigung (contextually sufficient justification). Die kontextbezogene Rechtfertigung basiert auf den etablierten Rechtsquellen, auf einer vorhandenen Rechtsanwendungstradition, auf den Regeln der Auslegung und dem in der Rechtsdogmatik zu Lehrsätzen geronnenem Wertungswissen. Die Gesamtheit dieser Tradition ist allerdings selbst rechtfertigungsbedürftig. Diese Rechtfertigung ist Gegenstand der tiefgehenden Rechtfertigung. In seinem Aufsatz möchte Peczenik ein Element einer solchen tiefgehenden Rechtfertigung liefern. Er möchte zeigen, dass die Auslegungs- und Rechtsanwendungstradition, die aus den hergebrachten Regeln und Formen der juristischen Argumentation besteht, rational ist.24 22 Ibid 162 23 Ibid 139 24 Ibid. Siehe auch Matthias Klatt, Semantic Normativity and the Objectivity of Legal Argumenta-
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Peczenik sagt in dem Aufsatz nicht klar, gegen welche Kritik er die juristische Argumentation verteidigen will. Die Antwort auf diese Frage erhellt jedoch aus einer Nebenbemerkung und weiteren Schriften. In einer Nebenbemerkung schließt er aus der Abhängigkeit der juristischen Argumentation von Wertungen, jene könne weder auf das Verhalten von Akteuren oder auf Voraussagen über das Entscheidungsverhalten von Gerichten noch auf etablierte juristische Ideologien, die soziale Akzeptanz des Rechts oder auf wirkliche oder vermeintliche Intentionen des Gesetzgebers reduziert werden.25 Peczenik will die juristische Argumentation also vor allem vor solchen Theorien retten, die sie auf soziologische oder psychologische Erklärungsmuster reduzieren wollen. Die Rationalität, die Peczenik verteidigen will, ist mehr als bloße Verhaltensregularität und mehr als übereinstimmende Überzeugungen und auch in diesem Sinne „tiefgehend“. In zwei weiteren Aufsätzen äußert sich Peczenik noch ausführlicher zu den kritischen Positionen, gegen die er die juristische Argumentation in Schutz nehmen will. Er nennt die juristischen Realisten in Amerika und Skandinavien, die die Rede von der Rechtfertigung juristischer Entscheidungen als Façade entlarven möchten, hinter der die Fratze richterlicher Macht und persönlicher Ideologien zum Vorschein kommt.26 Er wendet sich insbesondere gegen den psychologischen Realismus Petrazyckis, der auf die polnische Rechtstheorie einen so großen Einfluss hatte und das Recht auf Gefühle und impulsive Phantasmen reduziert, sowie gegen die UppsalaSchule Axel Hägerströms, für den nur Wahrheitswerte in Zeit und Raum gelten und der Werturteile daher ins Reich des Subjektiven verbannt. In einem Aufsatz, der bezeichnenderweise mit „Against Reductionism“ betitelt ist, wendet sich Peczenik auch gegen Reduktionen der Rationalität auf einzelne Kriterien, wie er sie in der rational choice theory, in der ökonomischen Analyse des Rechts und in bestimmten Ansätzen der formalen Logik ausmacht.27 3. Sprünge in der juristischen Argumentation Ein Kernstück der Theorie Aleksander Peczeniks bildet sein System von Transformationen oder „Sprüngen“ in der juristischen Argumentation. Dieses System ist von Robert Alexy in seinem Nachruf als eine der drei wichtigsten rechtsphilosophischen Leistungen Aleksander Peczeniks bezeichnet worden.28 Ein Sprung taucht in der juristischen Argumentation immer dann auf, wenn ein Satz p als Grund für einen Satz q angeführt wird, ohne dass q aus p logisch folgt. Sprünge finden typischerweise zwischen Sätzen statt, die zu verschiedenen epistemologischen Ebenen gehören. Mögliche Ebenen sind zum Beispiel diejenigen der Wahrnehmung von Phänomenen über die Sinnesorgane, deskriptive und evaluative Sätze über Einzeltatsachen und generelle Theorien. Juristische Argumentation enthält nach Peczenik Sätze aller drei Ebenen, und die Argumentation springt von einer Ebene zur nächsten. 25 Peczenik (Fn. 13), 150 26 Aleksander Peczenik, The Passion for Reason, in: The Law in Philosophical Perspectives: My Philosophy of Law, hg. von Luc J. Wintgens, Dordrecht 1999, 174 f. 27 Aleksander Peczenik, Against Reductionism, Associations 2 (1998), 101 f.
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Die Stärke von Peczeniks Theorie besteht darin, dass er die Arten von Sprüngen systematisch erfasst und kategorisiert hat, so dass ein Katalog der kreativen, nichtdeduktiven Schritte in der juristischen Argumentation entstanden ist.29 Dies kann hier nur angedeutet werden. Peczenik unterscheidet auf der obersten Ebene zwei Arten von Sprüngen: Sprünge in das Recht etablieren den Rechtscharakter eines Normensystems als Ganzes überhaupt erst. Sprünge innerhalb des Rechts etablieren dagegen die Zugehörigkeit von Sätzen zu einem Normensystem.30 Sprünge in das Recht führen die Argumentation überhaupt erst in die Sphäre des Rechts hinein, sie qualifizieren die Argumentation als juristische. Sie verweisen auf den Rechtsbegriff und die Vielzahl der für ihn erörterten Kriterien. Dass die Argumentation insoweit Sprünge enthält, bedeutet, dass der Rechtsbegriff nicht rein deduktiv begründet werden kann, sondern stets Festlegungen auf bestimmte Kriterien erfordert, die den Charakter einer Wahl haben.31 Die Sprünge innerhalb des Rechts32 betreffen so unterschiedliche Dinge wie die Qualifizierung bestimmter Dokumente als autoritative Rechtsquellen (sog. Rechtsquellen-Sprung), der Übergang vom geschriebenen Recht zu ungeschriebenen Regeln und Prinzipien, die den Inhalt des geschriebenen Rechts betreffen (sog. genereller Norm-Sprung), und den Übergang von generellen Normen zu Einzelfallentscheidungen (sog. individueller Norm-Sprung). Das Kernproblem von Sprüngen lautet, ob und wie so gewonnene Ergebnisse zu rechtfertigen sind. Dass sie zu rechtfertigen sind, nimmt Peczenik an. Dies zeigt die Aufnahme der Sprünge in seine Liste von Inferenzen, die gerechtfertigt werden können.33 Zur Art und Weise der Rechtfertigung listet Peczenik sogenannte Sprung-Regeln auf, zu denen die klassischen Auslegungsmittel, konstruktive Normen und Kollisionsregeln sowie allgemeine Gerechtigkeitsprinzipien gehören.34 4. Rationalität Für Peczenik umfasst der Begriff der Rationalität die zwei Prinzipien der Generalität und der Begründung. Er bezeichnet diese Rationalität als „minimale Rationalität“.35 Generalität ist gewährleistet, wenn sowohl die deskriptiven als auch die evaluativen Teile der Argumentation in genereller Weise ausgedrückt werden können. Das Prinzip der Begründung erfordert, unterstützende Gründe für die verwendeten Prämissen anzuführen. Die juristische Argumentation ist nach Peczenik rational, weil und insoweit sie generell formulierte Rechtsquellen und moralische Sätze zur Begründung anführt.36 29 Vgl. ibid 30 Die Bezeichnungen für diese beiden obersten Kategorien stammen von Alexy, siehe Aulis Aarnio/Robert Alexy/Aleksander Peczenik, The Foundation of Legal Reasoning, Rechtstheorie 12 (1981), 142, Fn. 22. 31 Peczenik (Fn. 13), 142 f. 32 Vgl. ibid 145–149 33 Ibid 141 34 Ibid 146–149 35 Ibid 156
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Dabei ermöglichen es die Sprünge überhaupt erst, die verschiedenen Ebenen und Rationalitätsanforderungen der juristischen Argumentation gleichzeitig zu optimieren und soweit wie möglich zur Deckung zu bringen. Darin liegen der tiefere Sinn und die Funktion von Sprüngen.37 5. Kohärenz Aleksander Peczenik hat seine Theorie juristischer Argumentation später modifiziert und ergänzt. Vor allem ein weiteres Element ist hinzugetreten, das neben der Theorie der Sprünge als Kernstück seiner Theorie gelten kann: die Untersuchungen zur Kohärenz.38 Diese stellen jedoch ein eigenes Thema dar, das hier nicht vertieft werden kann. III. KRITIK 1. Peczeniks Theorie der argumentativen Sprünge a) Der Begriff des Sprungs Peczeniks Begriffs des Sprungs kann auf mehrfache Weise kritisiert werden. Zur Erinnerung: Ein Sprung liegt seiner Begriffsbestimmung nach vor, wenn p als Grund für q angeführt wird, ohne dass q aus p logisch folgt. Das begriffliche Merkmal des Fehlens einer logischen Folgerungsbeziehung ist problematisch. Denn jede Argumentation kann deduktiv dargestellt werden. Soweit eine Argumentation einen Sprung enthält, kann dieser Sprung beseitigt werden, indem man in die Prämissenmenge eine neue Regel aufnimmt, die gerade diesen Sprung erlaubt, oder indem man vorhandene Prämissen modifiziert. Werden enthymematische Schlüsse durch vollständige Prämissenmengen abgebildet, lässt sich Deduktivität immer erzielen. Dies hat auch Peczenik selbst gesehen.39 Aufgrund dieses Zusammenhangs kann das Fehlen der logischen Folgerungsbeziehung nicht das wesentliche Merkmal des Begriffes des Sprunges sein. Denn sonst hinge dieser Begriff davon ab, wie enthymematisch oder vollständig eine Argumentation im konkreten Fall vorgebracht wird, also nur von ihrer Ausdrucksform. Diese aber ist zufällig. Die Sprunghaftigkeit von Argumentationen muss also auf andere Weise erklärt werden. Sie liegt für Peczenik offenbar in der Qualität der Prämissen, die hinzugefügt oder verändert werden müssen, um Deduktivität zu erreichen. Die hinzuzufü-
37 Ibid 160 38 Nach Alexy sind die Untersuchungen zur Kohärenz die zweite bleibende Leistung Peczeniks, siehe Alexy/Peczenik (Fn. 1), 246. 39 Aleksander Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, Wien 1983, 9; ders., Creativity and Transformations in Legal Reasoning, in: Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag, hg. von Werner Krawietz, Berlin 1984, 281; ders., On the Rational and Moral
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genden oder veränderten Prämissen sind, so Peczenik, nicht-evident.40 Sie können angezweifelt werden.41 Ob dieser Aspekt allerdings für einen trennscharfen Begriff des Sprunges taugt, ist fraglich. Denn angezweifelt werden können letztlich alle Prämissen, und die Evidenz einer Prämisse ist in hohem Maße wertungsabhängig. Letztlich will Peczenik mit seinem Begriff des Sprunges den Umstand einfangen, dass wir nicht komplette und konsistente Prämissenmengen fix und fertig vorfinden, aus denen wir dann nur noch zu deduzieren bräuchten.42 Argumentation setzt vielmehr ein ständiges Modifizieren und Anpassen unserer Prämissen voraus. Sie erfordert die Wahl zwischen Prämissen, die miteinander unvereinbar sind. Diese Wahl macht unsere Argumentieren sprunghaft. Dieser wichtige Gesichtspunkt wird noch auf eine andere Weise ersichtlich. Wird ein Sprung als vollständige Deduktion dargestellt, enthält die Prämissenmenge eine Regel, die diesen Sprung erlaubt. Solche Regeln bezeichnet Peczenik als Transformationsregeln. Transformationsregeln sind Regeln, aus denen zusammen mit p q logisch folgt. Transformationsregeln eliminieren Sprünge insofern, als sie die Deduzierbarkeit herstellen. Weinberger hat Peczenik dafür kritisiert, dass er die Begriffe Sprung und Transformation synonym verwende, obwohl der Begriff Sprung für eine ungeregelte, nicht-deduktive Vorgehensweise stehe, während der Begriff Transformation über den Begriff der Transformationsregel offenbar eine regelhafte Vorgehensweise bezeichne.43 Die Kritik Weinbergers legt den Finger zu recht in eine terminologische Unklarheit der Theorie Peczeniks. Peczenik verwendet die Begriffe Sprung und Transformation synonym und undifferenziert. Diese Unklarheit kann indessen leicht beseitigt werden. Beide Begriffe beziehen sich auf unterschiedliche Kontexte. Der Begriff des Sprunges bezieht sich auf den Entdeckungszusammenhang (context auf discovery).44 Er beschreibt insofern zutreffend die psychologische Tatsache, dass Wissenserwerb, Wertungen und der Entwurf eines argumentativen Gerüstes nicht streng regelhaft erfolgen, sondern über verschiedene epistemologische Ebenen hinweggreifen, ohne von vollständigen Ableitungszusammenhängen geprägt zu sein. Der Begriff der Transformation bezieht sich dagegen auf den Begründungszusammenhang (context of justification). In diesem Zusammenhang werden die Sprünge kritisiert oder verteidigt. Jede Begründung hat das Ziel, die in ihr enthaltenen Sprünge durch Transformationsregeln deduktiv einzufangen.45 Wenn diese Ebenen getrennt werden, wird auch deutlich, dass nicht für alle denkbaren Sprünge immer schon Transformationsregeln zur Verfügung stehen. In manchen Fällen müssen neue Transformationsregeln erst formuliert werden. In an40 Peczenik (Fn. 39), Creativity and Transformations in Legal Reasoning, 282 41 Peczenik (Fn. 39), On the Rational and Moral Basis of Legal Justification, 264. Vgl. auch die Klassifikation von Positionen verschiedener Personen in Bezug auf eine Behauptung bei Aarnio/ Alexy/Peczenik (Fn. 12), 17 f. 42 Aleksander Peczenik, Jumps and Logic in the Law, Artificial Intelligence and Law 4 (1996), 301 43 Ota Weinberger, Logische Analyse als Basis der juristischen Argumentation, in: Metatheorie juristischer Argumentation, hg. von Werner Krawietz/Robert Alexy, Berlin 1983, 162 f. 44 Vgl. Aarnio/Alexy/Peczenik (Fn. 12), 14
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deren Fällen muss eine vorhandene Transformationsregel präzisiert, eingeschränkt, erweitert oder aufgegeben werden.46 Daher ist es sinnvoll, an dem Begriff des Sprunges festzuhalten. Der Unterschied zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang ist auch der Grund dafür, dass eine weitere Kritik Weinbergers nicht zutrifft. Weinberger kritisiert, dass der Begriff des Sprunges subjektivistisch definiert ist. Er fordere bloß, dass p von einem Subjekt als Grund angeführt werde, nicht aber, dass p auch ein richtiger, wahrer oder überzeugender Grund sei.47 Wenn aber der Begriff des Sprunges, wie ich annehme, sich auf den Entdeckungszusammenhang bezieht, ist die subjektivistische Formulierung Peczeniks hilfreich und richtig. Denn die Entdeckung von Argumenten und Begründungen vollzieht sich im Subjekt. Maßgebend ist allein, dass Gründe individuell entdeckt und angeführt werden, nicht, ob sie zutreffend sind. Der Frage der Wahrheit oder Richtigkeit eines Grundes kommt demgegenüber erst im Begründungszusammenhang Bedeutung zu.48 Im Begründungszusammenhang wird der Begriff des Sprunges von dem der regelhaften Transformation abgelöst, ein subjektivistischer Einschlag ist dann nicht mehr vorhanden, der Grund löst sich von seiner individuell-subjektiv geprägten Entstehung. Die Theorie der Sprünge beschreibt damit einen im hohen Maße intuitiven psychologischen Faktor, der im Entdeckungszusammenhang seinen Ort hat. Die Theorie der Sprünge beschreibt den Entdeckungszusammenhang zutreffend. In der Begründung werden die Sprünge zwar logisch eingefangen, indem sie in eine Deduktion eingebaut werden. Ihr Sprungcharakter bleibt aber auch in der Begründung insoweit bestehen, als auch die Begründung Prämissen enthält, die einen Sprung beschreiben. Sprünge greifen über epistemische Ebenen hinweg und stellen häufig die besonders begründungsbedürftigen Prämissen dar. Hierauf das Augenmerk gelegt zu haben, ist ein bleibender Verdienst Peczeniks. Und noch eine weitere Leistung soll hier herausgestellt werden: Peczeniks Begriffe des Sprunges und der Transformation erlauben wichtige Einsichten in das Verhältnis von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang. Das Problem dieses Verhältnisses hat in der Theorie juristischer Argumentation wenig Aufmerksamkeit erfahren. Dies liegt daran, dass die jeweiligen Theorieschulen dazu neigen, sich entweder dem einen oder dem anderen Zusammenhang zu widmen. Topisch-rhetorische, soziologische, pragmatische und empirische Theorien juristischer Argumentation fokussieren auf den Entdeckungszusammenhang und blenden die Frage nach der Richtigkeit tatsächlicher Gründe tendenziell aus. Diskurstheoretisch oder analytisch-normativ inspirierte Theorien dagegen fokussieren auf die Richtigkeit der Begründung, ohne auf die Entdeckung der Gründe in tatsächlich stattfindenden Argumentationen zu berücksichtigen.
46 Vgl. ibid 14–16. Am Ende dieser Prozedur stehen in jedem Fall Transformationsregeln, mittels der Sprünge deduktiv dargestellt werden können. Diesen Aspekt übersieht Weinberger in seiner Antwort auf Aarnio, Alexy und Peczenik, wenn er behauptet, die Autoren nähmen an, einige Sprünge seien nicht durch Transformationsregeln in deduktive Begründungen verwandelbar, siehe Weinberger (Fn. 43), 167. 47 Weinberger (Fn. 43), 165
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Es spricht viel dafür, dass Peczeniks Intuition, eine voll entwickelte Theorie juristischer Argumentation müsse sowohl den Entdeckungs- als auch den Begründungszusammenhang umfassen, zutrifft. Sein Begriff des Sprunges ist in dieser Hinsicht ein pragmatischer Stachel im Fleisch der analytisch-normativ ausgerichteten Argumentationstheorien. b) Die Rechtfertigung von Sprüngen Die Feststellung von argumentativen Sprüngen führt zu der Frage, wie Sprünge gerechtfertigt werden können. Eine erste Antwort liegt nach dem Gesagten schnell auf der Hand: Sprünge werden gerechtfertigt, indem Transformationsregeln in die Deduktion eingefügt werden, welche den Sprung logisch überbrücken. Diese erste Antwort allerdings führt zu dem eigentlichen Problem, wie die den Sprung überbrückenden Prämissen zu rechtfertigen sind. Die Frage nach der Rechtfertigung eines Sprunges kann deshalb als Frage nach der Rechtfertigung einer Transformationsregel, die den Sprung deduktiv vervollständigt, formuliert werden.49 Dieses Problem, so hat Weinberger gegen Peczenik eingewendet, werde in seiner Theorie verschleiert.50 Peczenik erwecke den Eindruck, dass ein Sprung einfach durch die Angabe einer Transformationsregel begründet werden könne, während doch in Wirklichkeit substantielle Gründe erforderlich seien. Diese Kritik übersieht die Unterscheidung zwischen interner und externer Rechtfertigung. Ein Sprung ist dann intern gerechtfertigt, wenn eine Transformationsregel in die Prämissenmenge aufgenommen wird, welche die Argumentation deduktiv geschlossen macht.51 Ein Sprung ist dann aber erst dann auch extern gerechtfertigt, wenn die ihn tragende Transformationsregel ihrerseits gerechtfertigt ist. Von einer Verschleierung des Erfordernisses substantieller Gründe kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Erst die vollständige Angabe aller Prämissen inklusive der Transformationsregeln öffnet überhaupt erst den Blick dafür, was genau extern begründet werden muss. Erst die Sprungtheorie ebnet den Weg zur richtigen Begründung, indem sie aufzeigt, welche Prämisse den Sprung trägt und daher der Begründung bedarf. Weinberger hat weiter kritisiert, dass Peczenik seine Sprungtheorie nicht zu einer methodisch-normativen Anleitung ausgebaut habe. Es fehle an Regeln darüber, wann Sprünge gerechtfertigt seien.52 An dieser Kritik ist zutreffend, dass Peczeniks Theorie in weiten Teilen eine deskriptiv-analytische Zusammenstellung der verschiedenen Arten von Sprüngen ist, die in der juristischen Argumentation erforderlich sind. Von dem Fehlen einer normativen Perspektive kann aber keine Rede sein. Peczenik hat vielmehr ein ausführliches System methodischer Regeln für die Sprünge angegeben.53 Und er hat darüber hinaus zusammen mit Robert Alexy und Aulis Aarnio seine Theorie mit der diskurstheoretisch inspirierten Theorie der juristischen Argumentation Alexys verbunden.54 Beide Theorien ergänzen sich deswegen ideal, 49 50 51 52 53
Vgl. ibid 37 Weinberger (Fn. 43), 167 f. Vgl. Peczenik (Fn. 39), On the Rational and Moral Basis of Legal Justification, 264 Vgl. Weinberger (Fn. 43), 164 Vgl. Peczenik (Fn. 13), 146–149. Siehe auch Aleksander Peczenik, On Law and Reason, Dordrecht 1989, 372–425
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weil Alexys Theorie das begriffliche Instrumentarium zur Verfügung stellt, um die Rechtfertigung von Sprüngen weiter zu analysieren. Für die externe Rechtfertigung unterscheidet Alexy sechs Argumentgruppen, nämlich die Auslegung, die dogmatische Argumentation, die Präjudizienverwertung, die allgemeine praktische Argumentation, die empirische Argumentation und die speziellen juristischen Argumentformen.55 Alexys Theorie der externen Rechtfertigung greift in dem Moment ein, in dem Peczeniks Sprungtheorie aufhört: nämlich mit dem Vorliegen des vollständigen deduktiven Schemas, mit der internen Rechtfertigung. Die Verbindung beider Theorien wird im einzelnen von Alexy vorgeführt.56 Weinberger hat sich auch gegen diese Verbindung von Sprung- und Diskurstheorie gewendet.57 Diese Kritik bezieht sich allerdings nicht auf Peczeniks Sprungtheorie als solche und auch nicht auf deren Verbindung mit Alexys Theorie, sondern wendet sich der Sache nach allein gegen Alexys Theorie selbst. Diese Kritik soll daher hier nicht weiter betrachtet werden. Festzuhalten ist immerhin, dass Peczeniks Theorie zwar gut zu Alexys Theorie passt, andererseits aber auch mit anderen denkbaren Argumentationstheorien vereinbar sein kann. Die Sprunganalyse steht und fällt nicht mit einer spezifischen Theorie zur Begründung dieser Sprünge. c) Sprünge in der Abwägung Nur andeuten möchte ich hier, dass Peczenik Sprünge auch in der Abwägung ausgemacht hat.58 Insoweit ist seine Theorie nicht vollständig ausgearbeitet. Zutreffend dürfte Peczeniks Vermutung sein, dass die Abwägung ein klassischer Ort für Sprünge ist. Es stellen sich hier Fragen wie die, wie Peczeniks Erkenntnis mit Alexys neuer Theorie des Unterschieds von Subsumtion und Abwägung zusammenpasst.59 Kann Peczeniks Sprungbegriff aufrechterhalten werden, wenn es zutrifft, dass die Abwägung nicht deduktiven, sondern arithmetischen Gesetzen folgt? Ist für Abwägungssprünge ein anderer Sprungbegriff erforderlich, der nicht auf Nicht-Deduktivität basiert? 2. Der Begriff juristischer Rationalität Der Begriff der Rationalität der juristischen Argumentation und sein Zusammenhang zu den Begriffen wie Richtigkeit, Wahrheit, Rechtfertigung und Normativität war in den 1980er Jahren Gegenstand einer lebhaften Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Rechtsphilosophie.60 Das Interesse an diesem Gegenstand ist seitdem
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kes siehe Alexy/Peczenik (Fn. 1), 247. Ein Vergleich einiger Aspekte beider Theorien findet sich bei Peczenik (Fn. 39), Grundlagen der juristischen Argumentation , 189–196. Siehe Alexy (Fn. 9), 283 ff. Die Details sollen hier nicht interessieren, siehe Aarnio/Alexy/Peczenik (Fn. 12), 30–58. Weinberger (Fn. 43), 185 ff. Peczenik (Fn. 42), 297, 300. Siehe auch Aarnio/Alexy/Peczenik (Fn. 12), 35 Vgl. Robert Alexy, On Balancing and Subsumption, Ratio Juris 16 (2003), 433–449
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erlahmt. Nur noch vereinzelte Studien beschäftigen sich mit diesem Thema.61 Dieses Schweigen mag man mit dem Auf und Ab wissenschaftlicher Moden erklären. Falsch wäre es jedenfalls, daraus zu folgern, dass die Frage der Rationalität befriedigend geklärt worden und deshalb kein Raum für weitere Untersuchungen sei. Das Gegenteil ist der Fall. Viele fragen sind offengeblieben. Vor allem ist aber die philosophische Debatte über den Begriff der Rationalität seit den 1990ern weitergegangen62, und deren Konsequenzen für die juristische Argumentation sind nur vereinzelt rezipiert worden.63 Aufgrund dieser Rezeptionslücken möchte ich den heutigen Erkenntnisstand zum Problem der Rationalität der juristischen Argumentation als philosophisch ungesättigt bezeichnen. Für Peczenik verweist der Begriff der Rationalität auf zwei Merkmale, den der Generalität und den der Unterstützung, also der Angabe von Gründen. Dieser Begriff ist, wie Peczenik selbst sagt, relativ schwach: er führt nur Minimalbedingungen für Rationalität an. Dies erkennt man schon daran, dass er nur die Angabe von Gründen überhaupt fordert. Dies lässt offen, wie diese Gründe zustande kommen, wie sie ihrerseits begründet sind, wie zutreffend oder angemessen sie sind etc. Es drängt sich die Frage auf, ob juristische Argumentation nicht einen stärkeren, d.h. vielschichtigeren und anspruchsvolleren Rationalitätsbegriff zugrunde legen sollte.64 Dies ist zunächst eine Frage der Zweckmäßigkeit, sodann eine Frage dessen, ob ein stärkerer Rationalitätsbegriff überhaupt begründet werden kann. Was die Frage der Zweckmäßigkeit betrifft, ist der heuristische Zusammenhang zu beachten, in dem der Begriff der Rationalität in der Theorie der juristischen Argumentation verwendet wird. Er dient dazu, irrationale und rationale Argumentationen zu unterscheiden, z. B. in Urteilsanalysen. Ein anspruchsvoller Rationalitätsbegriff ist aufgrund seiner höheren Trennschärfe als heuristisches Instrument besser geeignet, um die Rationalität von juristischen Argumentationsketten zu beurteilen, als ein schwacher Begriff. Ein Begriff, der nur wenige und sehr generelle Merkmale hat, ist viel leichter zu erfüllen als ein Begriff, der höhere Anforderungen stellt. Daher kann gesagt werden, dass es grundsätzlich zweckmäßig sein kann, einen stärkeren Rationalitätsbegriff zu verwenden, als dies Peczenik vorschlägt.
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1986; Koch/Rüssmann (Fn. 9); Christoph von Mettenheim, Recht und Rationalität, Tübingen 1984; Neumann (Fn. 9) Neumann (Fn. 7) Robert B. Brandom, Kantian Lessons about Mind, Meaning, and Rationality, Southern Journal of Philosophy 44 (2006), 49–71; Donald Davidson, Problems of Rationality, Oxford 2004; John R. Searle, Rationality in Action, Cambridge, MA 2001 Jochen Bung, Subsumtion und Interpretation, Baden-Baden 2004; Matthias Klatt, Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation, Baden-Baden 2004 Einen stärkeren Rationalitätsbegriff scheint Alexy zu vertreten, der sechs Merkmale (Konsistenz, Zweckrationalität, Überprüfbarkeit, Kohärenz, Verallgemeinerbarkeit, Aufrichtigkeit) in dem Begriff der Rationalität vereint, siehe Aarnio/Alexy/Peczenik (Fn. 12), 46–50. Peczenik ist allerdings der Ansicht, dass die Merkmale Alexys sich auf die zwei Merkmale der Generalität und der Unterstützung zurückführen lassen, siehe Peczenik (Fn. 39), Grundlagen der juristischen Argumentation, 189–191. Sollte diese Annahme zutreffen, wäre das Modell Alexys zumindest auf der obersten Ebene überkomplex. Diese Frage soll hier aber nicht weiter verfolgt werden, weil es hier um einen noch stärkeren Rationalitätsbegriff gehen soll, gegenüber dem sich sowohl Alexys
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Dies setzt allerdings voraus, dass ein stärkerer Begriff begründet werden kann. Die Frage der Begründbarkeit verweist schon wegen des Umstandes, dass die juristische Argumentation ein Sonderfall65 der allgemein praktischen Argumentation ist, auf die allgemeine philosophische Diskussion um den Begriff der Rationalität. In der gegenwärtigen analytischen Philosophie ist der Begriff der Rationalität ein zentrales Thema. Habermas diagnostiziert, dass „die Philosophie in ihren nachmetaphysischen, posthegelianischen Strömungen auf den Konvergenzpunkt einer Theorie der Rationalität zustrebt“.66 Theorien, die auf kommunikativen Interaktionen aufbauen und einen diskursiven Rationalitätsbegriff entwickeln, verstehen Rationalität im weitesten Sinne als die Fähigkeit, Verfahren diskursiver Einlösung von Geltungsansprüchen zu entwickeln und über sie zu verfügen.67 Solchen optimistischen Positionen steht eine äußerst scharfe Rationalitätskritik gegenüber, die beunruhigend plausible Argumente bereithält. Horkheimer und Adorno stellen den Herrschaftscharakter und den Uniformisierungsdruck der abendländischen Rationalitätsidee heraus.68 Lyotard kritisiert den Totalitätsanspruch des okzidentalen Rationalismus und analysiert ihn in der Kategorie der Macht.69 Der neue soziologische Institutionalismus betrachtet Rationalität als Mythos und rationales Handeln als dessen rituellen Vollzug.70 Searle schließlich wendet sich gegen unhaltbare Annahmen eines „klassischen“ Rationalitätskonzepts.71 Die rechtstheoretische Forschung hat sich mit diesen Argumenten bisher nur sehr eingeschränkt auseinandergesetzt, was als weiteres Indiz dafür gewertet werden kann, dass der Rationalitätsbegriff in der Jurisprudenz philosophisch unterbestimmt ist. 3. Juristische Argumentation zwischen Wahrheit und Rechtfertigung Ich möchte im Folgenden aufzeigen, wie ein philosophisch anspruchsvoller Rationalitätsbegriff möglich ist und welche Folgen er für die Position juristischer Argumentation zwischen Wahrheit und Rechtfertigung hat. a) Rationalität und Normativität als Basis jeder Argumentation Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist der Rationalitätsbegriff von Joseph Raz: Rationalität ist die Fähigkeit, die normative Signifikanz von Tatsachen in der Welt zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren.72 Die normative Signifikanz von Tatsachen besteht darin, dass sie Gründe konstituieren; die Fähigkeit der an65 Zur sogenannten Sonderfallthese siehe Alexy (Fn. 9), 261 ff. 66 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981, 1, 16 67 Vgl. Carl F. Gethmann, Artikel „Rationalität“, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 3, hg. von Jürgen Mittelstraß, Mannheim 1995, 468 68 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 2004 69 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 2000; Jean-François Lyotard, Le différend, Paris 2001 70 J. W. Meyer/R. L. Jepperson, The „actors“ of modern society. The cultural construction of social agency, Sociological Theory 18 (2000), 100–120 71 Searle (Fn. 62), 1–32 72 Joseph Raz, Explaining Normativity. On Rationality and the Justification of Reason, in: Engag-
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gemessenen Reaktion besteht darin, zu entscheiden, welche Gründe dies sind und welches Verhalten sie legitimieren.73 Dieses Modell verankert Rationalität in sprachlicher Normativität. Dies ist ein Grund dafür, dass sich dieser Begriff zur Ergänzung der analytischen Argumentationstheorie so hervorragend eignet.74 Der Begriff der Normativität führt auf grundlegende sprachphilosophische Annahmen.75 Juristische Argumentation, die wesentlich sprachlich strukturiert ist, muss sich dieser sprachphilosophischen Grundlagen vergewissern. Der Begriff der Normativität bezeichnet allgemein die wertende (evaluative) oder vorschreibende (präskriptive) Eigenschaft von Urteilen.76 Normative Urteile enthalten Prädikate wie „Richtig“ oder „Gut“ und unterscheiden sich von empirischen Urteilen, die im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit einem Sachverhalt als „wahr“ oder „falsch“ beurteilt werden können. Die Frage der Normativität sprachlicher Bedeutung ist ein auch in der neuesten sprachphilosophischen Literatur äußerst kontrovers diskutiertes Problem.77 Dabei ist bereits der Begriff der Normativität selbst unklar.78 Grundlegend für alle Theorien ist jedoch die Erwägung, dass es unmöglich ist, überhaupt etwas Bedeutungsvolles zu sagen, solange es nicht möglich ist, Worte falsch zu verwenden. Als Konsens kann daher ein sehr genereller Normativitätsbegriff gelten. Die darauf aufbauende allgemeine Normativitätsthese lautet:79 Es kann in einer intersubjektiv gültigen Weise zwischen einem korrekten und einem inkorrekten Gebrauch von Begriffen und Propositionen unterschieden werden. Die Verankerung allgemeiner Rationalität in der Normativität sprachlicher Gehalte wird mit der Erklärung von Intentionalität und mental content durch Davidson und seine Nachfolger begründet. McDowell schreibt: „[O]ur dealings with content
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Ibid 70 Vgl. Klatt (Fn. 24), 51–65 Siehe hierzu und zum folgenden ausführlich Klatt (Fn. 63), 122–138. Richard M. Hare, The Language of Morals, Oxford 1972, 1–3; W. Vossenkuhl, Artikel „normativ/ deskriptiv“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6, hg. von Joachim Ritter/Günther Bien/Rudolf Eisler, Basel 1984, 931 Der These von der Normativität sprachlicher Bedeutung stehen kritisch gegenüber: Akeel Bilgrami, Norms and Meaning, in: Reflecting Davidson. Donald Davidson Responding to an International Forum of Philosophers, hg. von Ralf Stoecker, Berlin 1993, 144; Paul Coates, Kripke’s Sceptical Paradox: Normativeness and Meaning, Mind 95 (1986), 78; Kathrin Glüer, Sprache und Regeln. Zur Normativität von Bedeutung, Berlin 1999, 234 f.; Kathrin Glüer/Peter Pagin, Rules of Meaning and Practical Reasoning, Synthese 118 (1999), 224 f.; Paul Horwich, Meaning, Use and Truth, Mind 104 (1995), 357; Asa Maria Wikforss, Semantic Normativity, Philosophical Studies 102 (2001), 220. Normativität bejahend dagegen: Simon Blackburn, The Individual Strikes Back, Synthese 58 (1984), 291; Paul Artin Boghossian, The Rule-Following Considerations, Mind 98 (1989), 532, 548; Robert B. Brandom, Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge, MA 1994, 29; E. H. Gampel, The Normativity of Meaning, Philosophical Studies 86 (1997), 221; Mark Norris Lance/John Hawthorne, The Grammar of Meaning. Normativity and Semantic Discourse, Cambridge 1997, 13; John McDowell, Wittgenstein on Following a Rule, Synthese 58 (1984), 329; Crispin Wright, Kripke’s Account of the Argument Against Private Language, Journal of Philosophy 81 (1984), 771 f. Vgl. Georg Henrik von Wright, Norm and Action. A Logical Enquiry, New York 1963, 1 Boghossian (Fn. 77), 513; McDowell (Fn. 77), 358, Fn. 3. Siehe auch Kathrin Glüer, Sense and
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must be understood in terms of the idea that mental activity is undertaken under the aspect of allegiance to norms.“80 Bedeutungsregeln fungieren nach diesem Verständnis zugleich als grundlegende Rationalitätsstandards. Semantische Regeln definieren, was es heißt, intentional, d. h. mit Gründen zu handeln.81 b) Robert Brandom über die normative Feinstruktur der Rationalität Die gegenwärtig schlagkräftigste Verteidigung dieses Zusammenhangs von Rationalität und Normativität hat Robert Brandom entwickelt.82 Seine Analyse passt ausgezeichnet zur analytischen Theorie der juristischen Argumentation, die von Alexy, Peczenik und anderen entwickelt wurde. Ich möchte hier aufzeigen, wie Brandoms Theorie den Rationalitätsbegriff Peczeniks ergänzen und anreichern kann, so dass ein philosophisch gesättigter Rationalitätsbegriff entsteht. Die zentrale These Brandoms lautet: Unsere diskursive Praxis ist implizit normativ strukturiert. Ihr wesentliches Merkmal ist die Möglichkeit, Sprechakte eines Sprachspiels als richtig oder falsch, als angemessen oder unangemessen zu bewerten: „The practices that confer propositional and other sorts of conceptual content implicitly contain norms concerning how it is correct to use expressions, under what circumstances it is appropriate to perform various speech acts, and what the appropriate consequences of such performances are.“83 „[…] to talk of practises is to talk of properties of performance, rather than of regularities; it is to prescribe, rather than describe.“84
Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, wie den mentalen Zuständen sowie sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen in sozialen Praktiken begrifflicher Gehalt verliehen wird. Indem Brandom den Zusammenhang zwischen dem begrifflichen Inhalt einer Handlung und dem praktischen Kontext ihres Bezugs ausarbeitet, entwickelt er eine ausgesprochen elaborierte Fassung der sonst häufig zum Schlagwort reduzierten Gebrauchstheorie der Bedeutung nach Wittgenstein.85 Brandom entwickelt seine Theorie sprachlicher Normativität in zwei Schritten:86 In einer pragmatischen Untersuchung des Gebrauchs von Begriffen wird geklärt, was Handelnde tun müssen, damit ihre Praktiken als spezifisch sprachliche gelten können. Brandom führt vor, wie linguistische Normen durch die Praxis instituiert werden. Im Anschluss an diese normative Pragmatik wird eine inferentielle Semantik entwickelt. Sie beschreibt, wie durch diese normativen Praktiken begrifflicher Gehalt produziert wird, und widmet sich der Struktur der spezifisch diskursiven Praxis. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass propositionale Inhalte als Prämissen und Konklusionen in Inferenzen, d. h. als Gründe und Begründbares verwendet werden.
80 81 82 83 84 85
John McDowell, Mind and World, Cambridge, MA 1994, 11 Vgl. Glüer (Fn. 79), 114 Vgl. Klatt (Fn. 63), 129 f. Robert B. Brandom (Fn. 77), XIII Ibid 159 Ibid XII f.
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Brandom geht wie auch Habermas davon aus, dass Argumentieren als Sprechhandlung wesentlich im Erheben von Geltungsansprüchen besteht. Diese Geltungsansprüche sind Rechtfertigungsforderungen ausgesetzt, die Gegenstand von diskursiver Kritik und Revision sein können. Diese implizite Verantwortungsstruktur jeder diskursiven Praxis verkörpert eine prozessuale Art von Rationalität.87 Brandom zeigt, wie diese Rationalität durch die wesentlich inferentielle Gliederung des Gebrauchs von Begriffen sichergestellt ist. Seine Theorie ist eine pragmatische, die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke durch den Gebrauch dieser Ausdrücke erklärt. Von anderen pragmatischen Theorien, etwa behaviouristischen, unterscheidet sie sich dadurch, dass sie Richtigkeiten des Gebrauchs erklären will, die diskursive Praxis also in normativen Begriffen expliziert. Nach Brandom besitzt jede Behauptung eine doppelte normative Signifikanz. Behauptungen sind wesentlich Handlungen, für die einerseits Gründe verlangt werden können und die andererseits selbst Gründe für weitere Sprechakte oder außersprachliche Handlungen abgeben. Behauptungen gelten als Gründe für weitere Handlungen (konsequentielle normative Signifikanz), und sie zeichnen sich dadurch aus, dass nach ihren Berechtigungen gefragt werden kann (konditionale normative Signifikanz).88 Diese normativen Signifikanzen zeigen sich in der Verbindung von diskursiver Autorität und diskursiver Verantwortung. Eine Behauptung autorisiert weitere Behauptungen (und nichtsprachliche Handlungen), indem sie begleitend und kommunikativ berechtigungsvererbend wirkt. Der Behauptende übernimmt jedoch gleichzeitig die Verantwortung, die ursprüngliche Behauptung zu rechtfertigen, indem er zeigt, dass er zu ihr berechtigt ist.89 Die Autorität ist unmittelbar auf die Verantwortung angewiesen: Die Berechtigung zu einer Behauptung kann nur vererbt werden, wenn der Behauptende sie besitzt. Auf diese Weise gelingt es Brandom, eine Rationalität von Behauptungspraktiken zu begründen, die in dem Sinne objektiv ist, dass sie von den Einstellungen der Teilnehmer eines Sprachspiels unabhängig ist.90 Diese Differenz zwischen „richtig sein“ und „für richtig halten“ ist eine wesentliche Bedingung anspruchsvoller Rationalität.91 Behauptungssprechakte können nur im Kontext einer Praxis verstanden werden, die den Charakter eines Spiels des Gebens und Verlangens von Gründen hat. Dieses Spiel ist das Herzstück der diskursiven, d.h. mit Begriffen hantierenden Praxis. Behauptungen können aufgrund ihrer doppelten normativen Signifikanz sowohl als 87
Vgl. hierzu Robert B. Brandom, Objektivität und die normative Feinstruktur der Rationalität, in: Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit: Festschrift für Jürgen Habermas, hg. von Lutz Wingert/Klaus Günther, Frankfurt am Main 2001, 126 88 Diese doppelte normative Signifikanz wird, auch hinsichtlich des Vererbungsaspektes, der Sache nach schon 1957 von Cavell beschrieben: „[S]omething does follow from the fact that a term is used in its usual way; it entitles you (or, using the term, you entitle others) to make certain inferences, draw certain conclusions.“ Stanley Cavell, Must We Mean What We Say?, in: Must We Mean What We Say? A Book of Essays, hg. von Stanley Cavell, Cambridge 1976, 11, Hervorhebung hinzugefügt. 89 Brandom (Fn. 77), 171 90 Vgl. Brandom (Fn. 87), 131
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Prämissen als auch als Konklusionen von Folgerungen sein. Diese inferentielle Struktur bezeichnet Brandom als „linguistischen Rationalismus“.92 Die Grundidee dieses Modells93 lautet, dass die Teilnehmer eines Sprachspiels über die Festlegungen und Berechtigungen quasi Buch führen. Auf diese Weise entsteht ein Bild davon, was in der Gemeinschaft als richtiger und was als falscher Sprechakt gilt. Die Teilnehmer des Sprachspiels entwickeln deontische Einstellungen des Zu- und Anerkennens mit Blick auf diese Zustände. Dabei führen die Akteure für sich selbst und wechselseitig Buch, indem sie ihre praktischen deontischen Einstellungen des Zuweisens und Eingehens assertionaler Festlegungen und Berechtigungen jeweils verändern. Die pragmatische Signifikanz eines Sprechaktes besteht demnach in dem Unterschied, den er für das deontische Konto macht.94 Das deontische Konto erfasst Konstellationen von deontischen Status verschiedener Teilnehmer des Sprachspiels. Die Angemessenheit eines Sprechaktes kann anhand solcher Kontostände beurteilt werden.95 Der propositionale Gehalt einer Behauptung erschließt sich mithin durch seine inferentielle Beziehung zu anderen Behauptungen, die ihr vorweggehen und aus ihr folgen. Rationalitätsskeptiker könnten einwenden, dass es möglich ist, Behauptungen zu äußern, die sich diesem Spiel verweigern, also z. B. keine weiteren Festlegungen beanspruchen. „Ich glaube einfach, dass Kühe bescheuert aussehen. Nichts folgt daraus, und ich bin nicht verpflichtet, deshalb in irgendeiner spezifischen Weise zu handeln.“ Solche isolierten, konsequentiell trägen Behauptungen, so der Skeptiker, verändern das Punktekonto nicht. Brandom zeigt aber, dass die Annahme, sämtliche Behauptungen unserer diskursiven Praxis seien so beschaffen, nicht intelligibel ist. Wenn jemand niemals diskursive Folgen mit seinen Behauptungen verbindet oder anerkennt, dann kann sein Argumentieren nicht mehr als ein Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen verstanden werden. Es sagt nichts mehr aus und ist propositional leer.96 Der linguistische Rationalismus versteht Behauptungen als Dinge, die sowohl als Gründen dienen, als auch selbst der Gründe bedürfen. Gründe für eine Behauptung zu fordern heißt, nach ihrer Rechtfertigung zu fragen. Dies setzt die Unterscheidung zwischen berechtigten und unberechtigten Festlegungen voraus.97 Diese Unterscheidung kann durch drei Varianten inferentieller Relationen expliziert werden. Begrifflicher Gehalt ist durch die normativen Status der Festlegung und der Berechtigung definiert. Diese sind ihrerseits Elemente komplexer normativer Strukturen, sofern zwischen ihnen unterschiedliche konsequentielle und exkludierende Verhältnisse bestehen. Brandom unterscheidet drei Typen von inferentiellen Relationen.98 Zwischen zwei Behauptungen p und q besteht eine festlegungsvererbende Relation, wenn eine Festlegung auf p die Festlegung auf q zur Folge hat. Die Relation ist berechtigungsvererbend, wenn aus einer Berechtigung zu p die Berechti-
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Brandom (Fn. 87), 133 Siehe ausführlich Klatt (Fn. 63), 138–160 Brandom (Fn. 77), 166 Ibid 183 Brandom (Fn. 87), 135 f. Ibid 137
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gung zu q folgt. Die Relation der Inkompatibilität besteht, wenn eine Festlegung auf p die Berechtigung zu q ausschließt.99 Die normative Feinstruktur der Rationalität ergibt sich aus der Differenzierung von zwei normativen Status Festlegung und Berechtigung und der inferentiellen Gliederung ihrer Relationen. Die unscharfen Begriffe der Richtigkeit einer Behauptung und der Rationalität einer Argumentationskette können durch eine feiner gegliederte normative Struktur ersetzt werden. Mit seinem inferentiellen Gerüst der normativen Grundlagen jeder Sprachverwendung liefert Brandom zugleich eine analytisch tiefgehende Explikation dessen, was Raz als formelle Vernunft bezeichnet hat.100 Außerdem führt er vor, wie Berechtigung und Grenzen von Rationalität gleichermaßen durch ihre Verwurzelung in einer geteilten Lebensform konstruiert werden können.101 Brandoms Analyse wäre unvollständig, wenn sie nicht auch eine Erklärung des Wahrheitsbezuges von Behauptungssprechakten enthielte. Pragmatische Theorien haben generell den Vorteil, dass sie die enge Verbindung von Bedeutung und Gebrauch abbilden. Andererseits kämpfen sie mit der Schwierigkeit, einen Sinn von „richtig“ zu entwickeln, der danach fragt, ob die Dinge wirklich so sind, wie der Sprecher behauptet. Behauptbarer Gehalt ist zunächst das, was Sprecher für behauptbar halten oder als behauptbar behandeln. Er ist aber auch durch die repräsentationale Korrektheit geprägt. Eine vollständige Theorie sprachlicher Rationalität muss diesen Wahrheitsbezug, der über die Sprechereinstellungen hinausgehend auf die objektive Beschaffenheit der Dinge rekurriert, ebenfalls erklären. Eine solche vollständige Theorie verankert die Argumentationssprechakte unserer diskursive Praxis in Wahrheit und Rechtfertigung gleichermaßen. Brandom illustriert dieses Problem an einem Beispiel.102 Wann immer (1) „Das Stoffmuster ist rot“ angemessen behauptbar ist, ist es auch angemessen, (2) „Die Behauptung, dass das Stoffmuster rot ist, ist jetzt durch mich angemessen behauptet.“ zu behaupten. Denn (2) macht nur explizit, was in (1) implizit enthalten ist, nämlich den Anspruch des Sprechers, eine angemessene Behauptung zu äußern. Die Behauptbarkeitsbedingungen beider Sätze sind also gleich. Ihr propositionaler Gehalt allerdings ist unterschiedlich, denn sie haben unterschiedliche Wahrheitsbedingungen. Es ist möglich, dass das Stoffmuster tatsächlich rot ist, der Sprecher aber dennoch nicht in der Lage dazu, dies zu sagen. Und es sind Umstände denkbar, in denen der Sprecher gute Gründe dafür hat, dass das Stoffmuster rot ist, so dass (1) tatsächlich behauptbar wäre – obwohl das Stoffmuster tatsächlich nicht rot ist, (1) also unwahr ist.
99 Brandom vertritt – analog zu seinem Begriff der materialen Inferenz – einen materialen Begriff der Inkompatibilität, siehe ibid 160. 100 Raz (Fn. 72), 81–89 101 Zur Verbindung von Rationalität und Lebensform siehe Aarnio/Alexy/Peczenik (Fn. 12), 57 f.; Robert Alexy/Aarnio Perelman/Wittgenstein, Einige Bemerkungen zu Aulis Aarnios Begriff der Rationalität der juristischen Argumentation, in: Reasoning on Legal Reasoning, hg. von Aleksander Peczenik/J. Uusitalo, Vammala/Finnland 1979, 121–137.
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Das Problem wird durch das fein strukturierte normative Vokabular von Festlegung und Berechtigung gelöst. Die Behauptungen unterscheiden sich in ihren Inkompatibilitätsbeziehungen. Andere Behauptungen, die mit (1) kompatibel sind, sind nicht mit (2) kompatibel. So ist etwa die Behauptung (3) „Ich existiere nicht“ mit (1) kompatibel, aber nicht mit (2). Der entscheidende Punkt ist, dass das normative Vokabular von Festlegung und Berechtigung erlaubt, auf systematische Weise zwischen den Gehalten empirischer Behauptungen und den Gehalten von Behauptungen darüber, wer auf was festgelegt oder zu was berechtigt ist, zu unterscheiden.103 Es erlaubt, Sätze, die Behauptbarkeitsbedingungen teilen, von solchen Sätzen zu unterscheiden, die Wahrheitsbedingungen teilen. Wahrheit und Rechtfertigung fallen daher nicht in eins, sie bleiben zwei trennbare Eigenschaften propositionalen Gehalts. IV. ANALYTISCHE ARGUMENTATIONSTHEORIE
UND LINGUISTISCHER
RATIONALISMUS
Abschließend möchte ich das mögliche Ergänzungsverhältnis zwischen Peczenik und Brandom, die insoweit stellvertretend für die analytische Argumentationstheorie bzw. den linguistischen Rationalismus stehen, in drei Punkten zusammenfassen. Erstens: Die Rationalität deskriptiver und evaluativer Sätze, die nach der Mixturthese Peczeniks gleichermaßen der juristischen Argumentation zugrunde liegen, wird von der Rationalitätstheorie Brandoms zu einem gemeinsamen Ganzen verbunden. Brandom Theorie umfasst als Theorie über die Angemessenheit von Behauptungen beide epistemologischen Ebenen. Wahrheit und Rechtfertigung werden gleichermaßen mit denselben normativen Strukturen in der diskursiven Praxis verankert. Als Gebrauchstheorie entwickelt Brandom eine pragmatische Rationalitätstheorie, die Argumentation als Sprechhandlung auffassen kann und primär auf Wahrheitskonditionen basierenden Erklärungen überlegen ist. Andererseits wird aber Wahrheit nicht einfach mit Sprechereinstellungen gleichgesetzt und bleibt als eigenständige Dimension erhalten. Brandoms Rationalitätstheorie ergänzt vorhandene Elemente der analytischen Theorien juristischer Argumentation.104 Das genaue Verhältnis Brandoms Modell zu Rationalitätstheorien Habermasscher Prägung ist im übrigen Gegenstand weiterer Forschung.105 Zweitens: Brandom expliziert auf einem analytisch sehr tiefgehenden Niveau ein Element des Rationalitätsbegriffs Peczeniks, nämlich das der Unterstützung durch Gründe. Zugleich führt Brandom vor, wie richtig Peczenik mit seiner Vermutung lag, dass unseren diskursiven Praktiken die Unterstützung durch Gründe notwendig eingelassen ist. Drittens: Der wissenschaftstheoretische Status der juristischen Argumentation sowie der Streit um die Frage, ob es wahre bzw. richtige normative Aussagen geben 103 Ibid 147 104 So können zum Beispiel die Wortgebrauchsregeln Alexys mit Brandoms Terminologie analysiert und erklärt werden, siehe Klatt (Fn. 63), 236–238. 105 Siehe Christina Lafont, Kann Objektivität perspektivistisch sein? Ein Vergleich der Objektivitätskonzeptionen von Habermas und Brandom, in: Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft
Aleksander Peczenik über die Rationalität der juristischen Argumentation
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kann, erscheinen angesichts der Theorie Brandoms in einem neuen Lichte. Gegenüber der Gemeinsamkeit, dass sowohl naturwissenschaftliche als auch moralische und juristische Diskurse sprachlich geführt werden, verblassen die Unterschiede zwischen diesen Diskursarten. Die wesentlichen Rationalitätsstrukturen sind schon in der Sprache eingelassen und gelten daher für alle Fächer gleichermaßen. In diesem Sinne expliziert Brandom die alte Idee der „Einheit der Vernunft“ – eine Idee, die Aleksander Peczenik nicht unsympathisch war.106
Kaum ein Zeitabschnitt war von solch grundlegenden technischen, politischen und philosophischen Umbrüchen geprägt wie die 100 Jahre bis zur Jahrtausendwende – vom Kaiserreich zur globalen Weltgesellschaft, vom Idealismus zum Werterelativismus. Die juristische Grundlagenforschung – auch die Rechtsphilosophie – ist gegenwärtig in keiner guten Verfassung: Ihr fehlt die gesellschaftliche Resonanz, und damit einhergehend der qualifizierte wissenschaftliche Nachwuchs. Der Band möchte einen Anstoß geben, durch eine Rückbesinnung auf die großen Leistungen in der Rechtsphilosophie des letzten Jahrhunderts an diese anzuknüpfen, Problemlösungen für die Zukunft zu suchen und die Unverzichtbarkeit der Rechtsphilosophie dabei wieder ernst zu nehmen.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-09285-2