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German Pages 467 [468] Year 1982
Rechtsphilosophie der Aufklärung Symposium Wolfenbüttel 1981
Rechtsphilosophie der Aufklärung Symposium Wolfenbüttel 1981 herausgegeben von
Reinhard Brandt
W DE
G 1982
Walter de Gruyter · Berlin · New York
CI P-Kurztitelauf nähme der Deutschen Bibliothek Rechtsphilosophie der Aufklärung : Symposium Wolfenbüttel 198l/ hrsg. von Reinhard Brandt. - Berlin; New York: de Gruyter, 1982. ISBN 3-11-008789-8 NE: Brandt, Reinhard [Hrsg.]
©
1982 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J.Trübner · Veit & Comp., Berlin 30 · Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin
Vorbemerkung Das Symposium zur Rechtsphilosophie der Aufklärung fand vom 10. bis 12. Juli 1981 in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel statt. Wie ein vorhergehendes Symposium zur Philosophie von John Locke (1979; die Beiträge erschienen 1981 im Verlag Walter de Gruyter) wurde die Tagung ermöglicht durch die großzügige finanzielle und organisatorische Unterstützung der Wolfenbütteler Bibliothek und ihres von der Stiftung Volkswagenwerk getragenen Forschungsprogramms, wofür hier wiederum gedankt sei. Für 1984 ist eine Tagung zu dem Thema „Literarische Form philosophischer Werke" geplant. Teilnehmer des Symposiums: Reinhard Brandt (Marburg), Malte Dießelhorst (Göttingen), Maximilian Forschner (Erlangen), Jörn Garber (Marburg), Franz Hespe (Marburg), Otfried Hoffe (Freiburg in der Schweiz), Hasso Hofmann (Würzburg), Wolfgang Kersting (Hannover), Gertrude Lübbe-Wolff (Bielefeld), Hariolf Oberer (Bonn), Dieter Scheffel (Duisburg), Wolfgang H. Schrader (München), Peter Stein (Cambridge), Franz Wieacker (Göttingen). Mario A. Cattaneo (Ferrara) und Wolfgang Schild (Bielefeld) waren an der Teilnahme gehindert, sie stellten ihre geplanten Vorträge freundlicherweise für diesen Band zur Verfügung. Der hier abgedruckte Aufsatz von Bernd Ludwig (Marburg) gehört als Folgeerscheinung gewissermaßen noch zum Symposium: Herr Ludwig machte seine ingeniöse Entdeckung des ursprünglichen Orts des § 2 der Kantischen Rechtslehre im Zusammenhang der Erörterungen des Erlaubnisgesetzes in Marburg. Herr Kollege Schwartländer (Tübingen) gestattete freundlicherweise den Abdruck meines Beitrags „Menschenrechte und Güterlehre", der für einen von ihm geplanten Sammelband über Menschenrecht und Eigentum verfaßt wurde. Marburg 1982
R. Brandt
Inhalt Vorbemerkung Einführung: Rechtsphilosophie und Aufklärung — Reinhard Brandt Hasso Hofmann, Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung Wolfgang H. Schrader, Rechtsbegründung bei Hume . . . Peter Stein, The Legal Philosophy of the Scottish Enlightenment Reinhard Brandt, Menschenrechte und Güterlehre . . . . Jörn Garber, Vom „ius connatum" zum „Menschenrecht". Deutsche Menschenrechtstheorien der Spätaufklärung Wolf gang Kersting, Sittengesetz und Rechtsgesetz — Die Begründung des Rechts bei Kant und den frühen Kantianern Dieter Scheffel, Kants kritische Verwerfung des Revolutionsrechts Bernd Ludwig, Der Platz des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft innerhalb der Paragraphen 1 — 6 der kantischen Rechtslehre Reinhard Brandt, Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre Gertrude Lübbe-Wolff, Begründungsmethoden in Kants Rechtslehre, untersucht am Beispiel des Vertragsrechts Dieter Scheffel, Thesen zu Kants transzendentaler Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag Mario A. Cattaneo, Menschenwürde und Strafrechtsphilosophie der Aufklärung Maximilian Forschner, Kant versus Bentham. Vom vermeintlich kategorischen Imperativ des Strafgesetzes . . Otfried Hoffe, Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe
V l 12 47 61 79 107
148 178 218 233 286 311 321 376 335
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Inhalt
Hariolf Oberer, Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Straf rechtslehre 399 Wolfgang Schild, Die der Natur des Menschen einzig angemessene Republik des Ernst Gottlob Morgenbesser . . 424 Personenregister 457
REINHARD BRANDT
Einführung: Rechtsphilosophie und Aufklärung Die Rückwendung zur Rechtstheorie der Aufklärung und der Versuch der Erhellung ihrer besonderen Begründungsstruktur ist nicht die Beschäftigung mit einer bestimmten philosphischen Disziplin in einer beliebigen Phase der Geschichte. Aufklärung und Rechtsphilosophie stehen in einem intensiven Zusammenhang, die Philosophie der Aufklärung ist von Rechtsproblemen und rechtlichen Strukturen im ganzen so durchdrungen, daß auch andere Disziplinen als die eigentliche Rechtsphilosophie in bestimmten Dimensionen Anwendungsgebiete der Rechtsphilosophie sind. Diese These soll in zwei Stufen erläutert werden; zunächst äußerlich durch den einfachen Nachweis, daß viele, vielleicht die meisten Philosophen der Aufklärung — die hier großzügig als Epoche von Francis Bacon in England bis zu Kant in Deutschland verstanden wird — Juristen waren (I). Sodann möchte ich auf einige rechtstheoretische Strukturen der Erkenntnistheorie als der zentralen Disziplin der Aufklärungsphilosophie hinweisen (II). Wenn das Studium früherer Philosophen der Einübung in systematische Probleme dient, so ist die Interpretation rechtsphilosophischer Texte der Aufklärung von besonderer Bedeutung, weil das Problembewußtsein in keiner ändern Epoche so intensiv war (III).
I. Die Philosophie der Aufklärung ist eine Philosophie von Rechtskundigen. Francis Bacon studierte Jura und war praktizierender Jurist und Politiker, der sich auch als Lord-Kanzler mit allgemeinen und konkreten Rechtsproblemen auseinandersetzte.
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Descartes' Vater ist Jurist, er selbst studiert in Poitiers Jurisprudenz und schließt sein Studium mit dem Baccalaureat und Lizentiat der Rechte. Daß Hobbes und Spinoza Kenner des Rechts sind, zeigen ihre Werke; das gleiche gilt für John Locke und Christian Wolff. Wie im Fall Descartes' ist Leibniz' Vater Jurist, er selbst studiert Rechtswissenschaften und befaßt sich immer wieder mit juristischen und rechtstheoretischen Problemen. Der Vater von Christian Thomasius ist ebenfalls Jurist, er selbst promoviert in der gleichen Fakultät. Giambattista Vico, Montesquieu, David Hume und Henry Home studieren bzw. praktizieren Jura. Bei Kant ist unklar, in welcher höheren Fakultät er eingeschrieben war, er verfügt früh über juristische und rechtsphilosophische Kenntnisse. Diderot und Rousseau verfolgen die rechtsphilosophische Literatur und publizieren auf diesem Gebiet. Auch den als Theologen ausgebildeten und tätigen Philosophen - Ralph Cudworth, Samuel Clarke, George Berkeley - ist die Rechtsproblematik durch ihre Disziplin selbst vertraut; die Theologie der Aufklärung artikuliert das Verhältnis von Gott und Menschen weitgehend als ein rechtliches. Wenn Descartes schreibt: „Ne craignez point, je vous prie, d'assurer et de publier partout, que c'est Dieu qui a etabli ces lois en la nature, aussi qu'un Roi etablit les lois en son Royaume"1, so ist dies nicht nur als Metapher zu werten, sondern als Angabe einer immanenten Struktur des Verhältnisses von Gott zur Welt. Kaum einer der namhaften Philosophen des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts ist Jurist oder zeigt sich der Rechtsphilosophie in irgendeiner Weise verbunden — aus dem Werk von Nietzsche und Frege, Husserl und Russell, Wittgenstein, Carnap, Heidegger ist die Rechtsproblematik gänzlich verbannt; Autoren, die zu Problemen der Sozialphilosphie schreiben wie Sartre, Adorno, Horkheimer, Marcuse, Habermas haben zum Recht als einem Problemfeld, das nicht in soziologischen Funktionen aufgeht, keinerlei Verhältnis. Der Bruch mit der Tradition der Aufklärungsphilosophen setzt mit dem deutschen Idealismus ein: „Die Geschichte der Philosophie in Deutschland zwischen der Zeit der großen Französischen Revolution und der Bewegung des Jahres 48 ist dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht von Philoso-
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phen gemacht ist. Sie ist in Wahrheit die Geschichte eines Aufstandes mehrerer Generationen junger Theologen gegen die ihnen überlieferte Lehre. Wer immer auch an der Bewegung teilnimmt, so hat doch keiner der sie eigentlich treibenden Männer — von Fichte angefangen — die Universität mit einer anderen Absicht bezogen als der, Theologie zu studieren, . . ." So Julius Ebbinghaus in einem Aufsatz zu Ludwig Feuerbach2. Friedrich Schlegel ist noch Jurist, die nachfolgenden Idealisten sind Theologen. Für das 19. und 20. Jahrhundert läßt sich das hier einzig interessierende Phänomen festhalten, daß die Philosophen allenfalls in Ausnahmefällen — wie Karl Marx — Juristen sind. II.
„Civilis scientia vera est philosophia", schreibt Claude de Seyssel, ein Jurist des 15. Jahrhunderts, in seinem Pandektenkommentar3. Die Identität von Gesetzeswissenschaft und Philosophie war ein Konsenspunkt der Juristen der Renaissance. Sie konnten sich dabei auf Cicero zurückbeziehen: „Das eine kleine Buch der XII Tafeln scheint mir in der Tat die Bibliotheken aller Philosophen, wenn man nur auf den Ursprung und die Hauptpunkte der Gesetze achtet, an gewichtiger Autorität und an Fülle des Nutzens zu übertreffen"4. Und wenn Cicero etwas konzilianter umgekehrt schreibt: „Die Rechtsdisziplin (juris disciplina) ist nicht aus dem Edikt des Prätors und nicht aus den XII Tafeln, sondern aus den Tiefen der Philosophie selber zu schöpfen"5, so setzt er hierbei ebenfalls die innere Affinität von Jurisprudenz und Philosophie voraus. Cicero bleibt für die gesamte Aufklärung ein eminent wichtiger Referenzautor, eine Tatsache, die in Deutschland durch die einseitige Griechenlandbegeisterung seit Winckelmann faßt gänzlich verdrängt ist. Aber für die Philosophieauffassung und speziell die Erkenntnistheorie der Neuzeit ist außer der durch Cicero (und auch das Corpus juris civilis) repräsentierten römischen Tradition die platonische Erkenntnislehre besonders der Politeia wichtig. In ihr wird explizit eine Isomorphie von — erkennender und strebender — Seele und der Gesellschaft gelehrt, so
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daß soziologisch oder mit Rechtsformen strukturierte Erkenntnistheorien ihr Vorbild im Hauptwerk der platonischen Philosophie finden. Wenn Kant vom Pöbel der Sinne spricht6, wenn in der Romantik die Herrschaft des Verstandes bekämpft wird, wenn die Erkenntnistheorien in völliger Parallele zu Staatstheorien entweder eine Aszendenzlehre — der Gewinnung von Erkenntnis bzw. Herrschaft von unten — oder eine Deszendenzlehre — der Gegründetheit der Erkenntnis in unhinterfragbaren ideae innatae oder der Herrschaft in einer göttlichen Stiftung — vertreten, so geschieht dies unter anderm im Rückbezug auf die Erkenntnislehre im Staat Platons. Francis Bacon argumentiert sowohl in seiner negativ-abweisenden Idolenlehre wie auch in der positiven Erkenntnismethodologie an entscheidenden Punkten rechtstheoretisch. Die Idole üben eine illegitime Gewalt über den Menschen aus; diesem wird durch Bacon die Aufgabe gestellt, sich von der Fremdherrschaft zu emanzipieren, die Herrschaft über sich selbst zu gewinnen und das ihm zugedachte regnum über die Natur erkennend und handelnd zu erwerben. Ich greife einige wenige der vielen möglichen Zitate heraus: „For there is no power on earth which setteth up a throne or chair of estate in the spirits and souls of men, and in their cogitations, imaginations, opinions, and beliefs, but knowledge and learning"7. Die Erkenntnis über die Natur wird so gewonnen, daß man ihr den Prozeß macht: „I mean (according to the practice in civil causes) in this great Plea or Suit granted by the divine favour and providence (whereby the human race seeks to recover its rights over nature) to examine nature herself and the arts upon interrogatories"8. Entscheidend für die Tradition ist die Vorstellung Bacons, daß zur Erkenntnis Freiheit gehört. Die Praefatio des Novum Organum endet mit dieser Vorstellung: „Es ist billig (aequum est), daß wir von den Menschen erlangen: daß, wer über unsere vorliegende Abhandlung urteilen (statuere) oder eine Meinung bilden will, die schlechten, tief eingewurzelten Gewohnheiten des Geistes in einer geeigneten und gleichsam gesetzmäßigen Frist (legitima mora) korrigiert . . . und dann endlich, wenn er sein eigener Herr ist (in potestate sua esse coeperit), von seinem eigenen Urteil Gebrauch macht (judicio suo utatur)"9.
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Das Billigkeitsprinzip ist die Grundlage der Forderung einer vorurteilsfreien Beurteilung des vorliegenden Versuchs; es gibt kein striktes Recht dieser Forderung gegen das Publikum, aber doch das Prinzip der aequitas. Entscheidend ist die Maxime der Autonomie oder Souveränität: Der Mensch muß, um urteilen zu können, seine Urteilskraft in seiner eigenen, souveränen Gewalt haben, er darf nicht von fremden Mächten beherrscht sein. Urteilen ist nur als autonome Handlung möglich. Descartes erhebt wie Bacon die Tatherrschaft in der Erkenntnishandlung, daß in mea potestate esse, zu einem essentiellen Moment der Wissenschaft und ihrer Gewißheit; ohne die souveräne Selbstentscheidung des erkennenden Subjekts ist Erkenntnis nicht möglich. Die Meditationen setzen ein mit einer Befreiung von allen Vorurteilen; der methodische Zweifel ist nur möglich aufgrund der eigenen Freiheit - „propria übertäte utens" heißt es in der Synopsis der zweiten Meditation. Bei Locke wird dieses Freiheitsprinzip für die Möglichkeit des eigenen Erwerbs von Erkenntnis zugrundegelegt. Alle Wahrheit ist eine „adventitious truth"10, wir besitzen nur, was wir selbst tätig erworben haben: „In the sciences, every one has so much as he really knows and comprehends. What he believes only, and takes upon trust, are but shreds; which, however well in the whole piece, make no considerable addition to his stock who gathers them. Such borrowed wealth, like fairy money, though it were gold in the hand from which he received it, will be but leaves and dust when it comes to use"11. Die Isomorphie von legitimer Herrschaft und privatem Besitz einerseits und andererseits wirklicher Erkenntnis zeigt sich in der Strukturgleichheit der beiden Hauptwerke von Locke, den Two Treatises of Government und dem Essay concerning human understanding, beide 1690 publiziert. Teil I ist jeweils die pars destruens. Eine angeerbte Herrschaft über Menschen oder Sachen ist so wenig möglich wie eine angeborene Erkenntnis; es bleibt in der Disjunktion von angeboren und erworben nur die zweite Möglichkeit. Im Second Treatise of Government zeigt Locke, wie politische Herrschaft und Sacheigentum rechtmäßig erworben werden können, in den Büchern II—IV des Essay concerning human understanding, wie der
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Mensch zu einer legitimen Erkenntnis gelangt. In beiden Fällen wird der Ursprung, der Umfang und die Grenze hier der politischen Befugnis, dort der Erkenntnismöglichkeit gezeigt. So ist es nur konsequent, daß Locke das identische Ich als einen forensischen Begriff, als einen Rechtsbegriff also auffaßt12. Die Gesamtkonzeption steht unter rechtlichen Vorstellungen. Bei Locke läßt sich eine Privatisierung des Baconschen Programms beobachten; auch Bacon wollte die Erkenntnis erweitern mit seiner Logik der Forschung, dem novum organum, das die sterile Syllogistik ersetzt. Das Subjekt jedoch ist bei Bacon das genus humanum. Die Herrschaft über die Natur ist den Menschen insgesamt ursprünglich verliehen, und der Erwerb dieser Herrschaft vollzieht sich zwar nicht durch, aber doch für das Menschengeschlecht im ganzen. Bei Locke zielt der Erwerb von Erkenntnis und Natur auf die acquisitio des einzelnen Subjekts, für die der Philosoph die allgemeinen rechtlichen Bedingungen ausmacht. Der Akzent liegt jetzt darauf, daß etwas mein Eigentum ist, daß ich in die „possession of truth"13 gelange. Rückblickend sieht man, daß auch Descartes dieser letztere Gedanke nicht fremd ist. In der Exposition des Unterschiedes der analytischen und synthetischen Methode in der Antwort auf die Einwände gegen die zweite Meditation benutzt er die Wendung des „suum reddere": „Es gibt zwei Formen der Beweisführung; die eine ist die Analysis, die andere die Synthesis. Die Analysis zeigt den wahren Weg, auf dem die Sache methodisch und gleichsam apriori gefunden wurde, so daß ein Leser, der ihm aufmerksam folgen will, die Sache nicht weniger versteht und sich zueigen macht (suamque reddet), als wenn er sie selbst gefunden hätte"14. Im Unterschied zu Bacon denkt Descartes hier an eine private Aneignung, das Subjekt des „suunr' ist der einzelne Leser. Andrerseits ist die Überlegung von Descartes nicht erkenntnistheoretischer Art wie bei Locke, sondern stellt eine bloß methodische Anweisung dar, hierin in Übereinstimmung mit Bacon. Die Lockesche Theorie ist mitbestimmt von einem durch Platon und Bacon tradierten Topos des Rechts: Die bisher geltenden
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widersprüchlichen Erkenntnismaximen gaben jeweils Anlaß zu unendlichen, auf der Basis der bisherigen Vorstellungen unlösbaren Streitigkeiten. Es fehlte das Prinzip und Kriterium, mit dem ein Konflikt der Meinungen zu entscheiden ist. Bei Locke belassen Erkenntnislehren, die nicht seiner Erwerbstheorie folgen, die Menschen im Streit des bloßen Disputierens, die wrangler, die Unfriedfertigen, die Wortsophisten haben dabei notwendig die Oberhand. Erst seine Philosophie gibt das Prinzip der Friedensstiftung. In der Kritik der reinen Vernunft werden die Motive des legitimen Erwerbs von Erkenntnis und der Friedensstiftung aufgenommen und vertieft. Der — limitierte — Erkenntniserwerb ist nur möglich durch das Friedensprinzip, gemäß dem die bisherige Metaphysik — ein Kampfplatz endloser Streitigkeiten - aus dem status naturalis in den status civilis15 überführt wird. Kant übernimmt das Gesamtprogramm des Essay concerning human understanding, den Ursprung, Umfang und die Grenzen des möglichen menschlichen Erkenntniserwerbs zu bestimmen. Das zentrale Problem ist: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Auf solchen synthetischen, d. i. Erweiterungs-Grundsätzen beruht „die ganze Endabsicht unserer spekulativen Erkenntnis a priori; denn die analytischen sind zwar höchst wichtig und nötig, aber nur um zu derjenigen Deutlichkeit der Begriffe zu gelangen, die zu einer sicheren und ausgebreiteten Synthesis, als zu einem wirklich neuen Erwerb, erforderlich ist"16. Im Mittelpunkt des Aufweises einer positiven Möglichkeit, neue Erkenntnisse zu erwerben, steht die Deduktion — ein Rechtsprinzip, das zeigen soll, daß die Anwendung von Begriffen auf die heterogene Anschauung und die Möglichkeit gesetzlicher Aussagen über die Natur legitim ist. „Die Rechtslehrer, wenn sie von Befugnissen und Anmaßungen reden, unterscheiden in einem Rechtshandel die Frage über das, was Rechtens ist (quid juris) von der, die die Tatsache angeht (quid facti) und indem sie von beiden Beweis fordern, so nennen sie den ersteren, der die Befugnis, oder auch den Rechtsanspruch dartun soll, die Deduktion"17. Das zugrundelegende Prinzip der Scheidung von Ding an sich und Erscheinungen erweist sich als einzig mögliches und notwendiges Mittel, um Streitigkeiten der
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Vernunft selbst zu entscheiden — ohne dieses Prinzip bleibt die Vernunft dem rechtlosen status der Anarchie überlassen. Ein Urteil mit dem Charakter der Notwendigkeit und Allgemeinheit ist der Intention nach eine Freiheitseinschränkung aller ändern: Sie sollen in ihren künftigen Urteilshandlungen das prätendierte Gesetz als einschränkende Bedingung ansehen. Lockes und Kants Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der gesetzlichen Übereinstimmung der Urteilshandlungen ist der Abweis des Anarchismus der Skeptiker und des Despotismus der Dogmatiker, der vor- und innerstaatlichen Rechtlosigkeit. Es wird gegen beide ein Gerichtshof gegründet, um eine Republik der Menschen als erkennender Wesen zu gewährleisten. — Das erkennende Subjekt wird durch die transzendentale Struktur entprivatisiert. „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können"18 indiziert mit dem „meum" keine singuläre Appropriation, sondern die Möglichkeit des ,,mein"-Seins überhaupt, die dadurch objektiv ausweisbar ist, daß die Erkenntnis das suum eines jeden menschlichen Verstandes werden kann (wie es natürlich auch von Descartes und Locke intendiert war). Die Rechtskomponente in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie in ihren verschiedenen Formen näher zu bestimmen ist ein intrikates Problem, auf das hier nicht näher eingegangen wird. Eine der zu lösenden Fragen lautet: Was bildet in der Erkenntnistheorie das Pendant zu dem mit dem Recht verbundenen Zwang? Ist es ein Gedankenzwang, der auf andere idealiter ausgeübt wird? Aber hier ging es nur darum, auf das Phänomen als solches hinzuweisen. Es ist sicher nicht möglich, dieses Phänomen zu eliminieren und die Theorien adäquat mit einer rechtsfreien Diktion umzuformulieren. In der neuzeitlichen Erkenntnistheorie steht also nicht — nur — zur Diskussion die mentale Beschaffenheit des einzelnen Subjekts, die einzelne Erkenntnismanufaktur im Gewölbe der Psyche, in der camera obscura des Erkennenden19, sondern — auch — die Legitimität von Erkenntnisbehauptungen.
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III. Der Begriff des Rechts hat heute eine ungebrochene Aktualität, aber er ist aus der Philosophie emigriert und findet keine adäquate Begründung mehr. Die Staaten verstehen sich nach außen und nach innen wenigstens partiell noch als Rechtsgebilde im Unterschied zu vergleichbaren Formationen vorrömischer Zeit und außereuropäischer Kulturen. Der Privatverkehr der Bürger untereinander wird rechtlich artikuliert, wir bewegen uns permanent in einem Netz privat- und öffentlichrechtlicher Bestimmungen. Die entia moralia überziehen auch sogleich den Bereich technischer Innovationen, so daß kein langfristiges Rechtsvakuum entsteht. Und weiter: Bürger und Menschenrechtsbewegungen appellieren an eine Rechtsrealitätjenseits der jeweiligen Kodifikationen der Staaten, und es wird ihnen kaum entgegengehalten, daß es die Appellationsinstanz, nämlich ein nicht positiviertes Recht, nicht gibt und man von einem Bürger- oder Menschenrecht als solchem gar nicht reden könne. Das Recht also wird normalerweise nicht aufgefaßt als das Produkt der Einbildungskraft einer bestimmten Sekte, sondern als eine Realität, die gerade willkürlichen Interpretationen Widerstand leistet, also irgendwie in ihrer Struktur erkennbar sein muß. Das Recht, so scheint ein allgemeiner Konsens zu lauten, erschöpft sich nicht in der Sozialtechnik, es ist nicht bloß das Etikett von vorentschiedenen Wirklichkeiten, sondern ist eine Wirklichkeit von selbständiger und im Prinzip objektiv erkennbarer Art. Dieser ungebrochenen Aktualität des positiven und nicht positiven Rechts steht ein auffälliges Phänomen gegenüber, auf das schon oben hingewiesen wurde: Die Rechtsindifferenz der neueren Philosophie (bes. in Deutschland). Recht und Philosophie haben sich weitgehend auch institutionell dissoziert, die Rechtsphilosophie ist, wenigstens an den deutschen Universitäten, zu den Juristen abgewandert. Die Philosophie hat sich stattdessen mit ändern thematisch verwandten Disziplinen liiert, wie etwa im Fall der Sozialphilosophie, in der zwar mit dem Rechtsbegriff operiert wird, die jedoch diesen Begriff nicht mehr als Grund-, sondern als gesellschaftlichen Funktionsbegriff auffaßt.
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Zur Zeit der Aufklärung hat die Rechtsphilosophie ihre höchste Problementfaltung erlebt; sie wurde nicht ad hoc von Juristen ersonnen, sondern durchdrang den Gesamtkomplex der Philosophie. Es wäre abwegig, sich der Rechtsphilosophie der Aufklärung mit der Absicht zuzuwenden, Ergebnisse über Jahrhunderte hinweg zu transportieren und direkt fruchtbar zu machen. Das Verhältnis kann nicht das der Übernahme und Imitation sein, sondern das des Studiums komplexer Begründungsformen, um zurückzufinden zu einer Rechtsphilosophie als einer autonomen philosophischen Disziplin.
Anmerkungen 1. Rene Descartes an Mersenne, 15. 4. 1630, in: (Euvres de Descartes ed. AdamTannery I, 145; vgl. VII, 435—36. — Eine der vielen Publikationen zu dem Thema: Gaston Grua, Jurisprudence universelle et Theodicee selon Leibniz, Paris 1953. 2. Julius Ebbinghaus, Ludwig Feuerbach, jetzt in: Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, 234-256 (234). 3. Nach Donald R. Kelley, Vera Philosophia: The Philosophical Significance of Renaissance Jurisprudence, in: Journal of the History of Philosophy 14, 1976, 267-279 (267). 4. Cicero, De oratore I, 195. 5. Cicero, De legibus I, 5. 6. „Dazu aber wird erfordert, daß der Verstand herrsche, ohne doch die Sinnlichkeit (die an sich Pöbel ist, weil sie nicht denkt) zu schwächen . . .", Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe) VII, 144. Vgl. XV, 909: ,,.. . quippe promovens mentis in ignobile sensuum vulgus imperium legisbusque sapientiae quodammodo obsequium parans". 7. Francis Bacon, De augmentis scientiarum, in: The Works of Francis Bacon, ed. Spedding—Ellis—Heath, London 1858, I, 481, in der Übersetzung von III, 316. 8. Francis Bacon, Parasceve ad historiam naturalem et experimentalem, a. a. O. I, 403 (nach IV, 263). 9. Francis Bacon, Instauratio Magna, a.a.O. I, 154. 10. John Locke, An Essay concerning human understanding I, 4, 22. 11. Ibid. I, 4, 23. 12. Vgl, dazu Vf., John Locke, in: Klassiker der Philosophie l, ed. O. Hoffe, München 1981, 360-377, bes. 372-376 (Der Satz: „Locke kann . . . (Buch II, Kap. 27, 10)" S. 374 Mitte ist ersatzlos zu streichen). 13. John Locke, An Essay concerning human understanding IV, 7, 11. 14. A.a.O. VII, 155.
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15. Auf den Hobbesschen Zug in der rigorosen Trennung zwischen status naturalis der vorkritischen und den status civilis der kritischen Philosophie wies Wolfgang Kersting (Hannover) in einem Diskussionsbeitrag hin. Vgl. auch Hans Saner, Kants Weg vom Krieg zum Frieden l (Widerstreit und Einheit. Wege zu Kants politischem Denken), München 1967, 237ff. („Vom Streit zum Frieden in der kritischen Metapyhsik"). Hans Vaihinger, Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1881,1, 107-115, bringt ausführliches Material zur Vorstellung des Gerichtshofs der Vernunft. 16. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 13 — 14. Zu dem Zusammenhang des Kantischen Programms mit dem Lockeschen Essay vgl. Vf., Materialien zur Entstehung der Kritik der reinen Vernunft (John Locke und Johann Schultz), in: Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781-1981, ed. I. Heidemann und W. Ritzel, Berlin und New York 1981, 37-58. 17. Ibid. A 84, B 116. 18. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 131. 19. Vgl. J. W. Yolton, As in a Looking-Glass: Perceptual Acquaintance in 18th Century Britain, in: Journal of the History of Ideas 40, 1979, 207-234.
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Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung Die Vorstellung eines vorzivilen, unpolitischen oder - wie wir heute zu sagen gewohnt sind: vorstaatlichen - Zustandes der Menschheit ist uralt, birgt im Mythos des „Goldenen Zeitalters" vielleicht sogar erdgeschichtliche Erinnerungen an zwischeneiszeitlichen tropischen Nahrungsüberfluß. Im Horizont unseres europäischen Geschichtsbewußtseins verbindet sich jenem Bild eines vorzivilisatorischen Ur- oder Naturzustandes (status naturae, status naturalis) von jeher der Gedanke von dessen Überwindung durch vertragliche Begründung von Gesellschaft, Recht und Herrschaft1. Mithin steht die aufklärerische Verwendung dieser topoi in einer sehr langen und — wie nicht verwunderlich mehrschichtigen Tradition. Um die Eigenart der Naturzustandslehre des 17. und 18. Jahrhunderts oder etwas genauer: zwischen dem 30-jährigen Krieg und der Französischen Revolution, zwischen Grotius' De jure belli ac pads (1625) respektive Hobbes' Leviathan (1651) und Kants Metaphysik der Sitten (1797) deutlicher hervortreten zu lassen, soll in einem ersten Teil über deren Vorgeschichte berichtet werden. Ein zweiter Abschnitt ist dazu bestimmt, in aller Kürze die systematische Bedeutung des status naturalis bei Hobbes, Pufendorf, Locke und Rousseau zu zeigen. Und in einem dritten Teil will ich versuchen, in 5 Punkten die speziellen Funktionen der Naturzustands-Vorstellung für die Rechtsbegründung der Aufklärung zu skizzieren. Zunächst also zur Vorgeschichte. I.
In kritischer Auseinandersetzung mit der mythologisch-traditionalen Auffassung von Recht, für die hier der Name Hesiods
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stehen möge2, spielt schon die sophistische Aufklärung die gegen den gesetzten aus3, führt das Recht auf bloße Konvention zurück und argumentiert dabei mit dem Gedanken eines vorpolitischen Zustandes der Ungesetzlichkeit und Roheit, der zugleich freilich als Zustand allgemeiner Freiheit und Gleichheit erscheint4. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang, namentlich was den vertraglichen Charakter aller rechtlichpolitischen Ordnung betrifft, die Weisheitslehre Epikurs5. Lukrez, der ein epikureischer Atheist war6, vermittelt der römischen Geisteswelt im 5. Buch seines großen Lehrgedichts De rerum natura ein breit ausgemaltes Bild des durch vertragliche Gemeinschaftsbildungen vorangetriebenen Zivilisationsprozesses7. Nicht minder einflußreich mögen die Schriften Ciceros gewesen sein, der immer wieder das „gesellschaftliche Zusammengehen" (societas coetüs) als Vorgang der Rechtsbegründung und Überwindung von Roheit, Bedürftigkeit und Tyrannei geschildert hat8. Ausweislich der Justinianischen Digesten war den römischen Juristen die Vorstellung eines den Naturzustand überwindenden Sozialvertrages schon in ihren beiden Versionen geläufig, die man später alspactum unionis und ahpactum subjectionis, als Vereinigungs- und als Herrschaftsvertrag bezeichnet und unterschieden hat9: In Dig. l, 3, 2 ist mit den Worten des Demosthenes von der die Rede. Und Dig. 1,4,1 pr. bringt jene berühmte Ulpian-Stelle, wo es heißt: Quod principi placuit, legis habet vigorem: utpote cum lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei et in eum omne suum Imperium et potestatem conferatw. In dieser Gestalt erstarrt der Vertragsgedanke zur Legitimationsformel für den spätrömischen cäsaristischen Absolutismus. Die dahinterstehende Idee eines vorpolitischen Urzustandes verblaßt und spielt in diesem Zusammenhang dann keine Rolle mehr. Dies gilt auch für die mittelalterliche Wiederbelebung des Gedankens vertraglicher Begründung politischer Herrschaft durch Manegold von Lautenbach. Dieser elsässische Mönch verwendet ihn in seiner dem Salzburger Erzbischof Gebhard, einem Wortführer der päpstlichen Partei, gewidmeten Kampfschrift aus der Zeit um 1085 freilich gegen den spätrömischen Sinn der
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Lehre vom Herrschaftsvertrag dazu, die kaiserliche Autorität Heinrichs IV. im Streit von Imperium und sacerdotium als bloß durch menschliche Übereinkunft begründet und vertraglich begrenzt, mithin als kündbares Mandat gegenüber der gottgegebenen päpstlichen Autorität Gregors herabzusetzen11. Seit jenen Tagen von Canossa ist die von ihrem zivilisationsgeschichtlichen Hintergrund abgelöste, sozusagen juristisch-dogmatische Argumentationsfigur des Herrschaftsvertrages aus der politischen Theorie des Heiligen Römischen Reichs nicht mehr verschwunden. Und das nicht von ungefähr: Es gab so viele realitätsbestimmende Momente, die dieser Denkfigur entsprachen: die jüdischchristliche Tradition eines die Einheit des Volkes Israel stiftenden religiösen Bundes, die Lehensverhältnisse, die „Verschwörungen", aus denen die ober- und mittelitalienischen Kommunen erwuchsen, später die Wahlkapitulationen der deutschen Kaiser sowie andere wirkliche Herrschaftsverträge, schließlich die ständestaatliche Gesetzgebungspraxis der „Einung" von Landesherrn und Ständen. Die Vorstellung vom Herrschaftsvertrag blieb bevorzugtes Mittel, um kollektive, also ständische Reservatrechte gegenüber dem jeweiligen Fürsten zu reklamieren. Außerordentliche Bedeutung gewinnt diese Möglichkeit bekanntlich nach der Glaubensspaltung vor dem Hintergrund des vom Calvinismus intensivierten Bundesgedankens12 im Verhältnis zu glaubensverschiedenen Herrschern13. Alle Monarchomachen und auch noch Althusius, dieser deutsche Anti-Bodin14, begründen auf diese Weise ein Widerstandsrecht, das für sie selbstverständlich ein korporatives, kein individuelles ist, eine gemeinschaftliche ständische Kompetenz mithin, so wie ehedem die zahllosen feudalen Freiheitsbriefe, unter denen die Magna charta libertatum von 1215 zu einer besonderen Berühmtheit gelangt ist, Vorrechte, Privilegien und nicht allgemeine Freiheitsrechte beinhalteten15. Aber auch dort, wo man im Gegensatz dazu den Vertragsgedanken in Gestalt der erwähnten Ulpian-Sentenz allein für die Allmacht des Kaisers oder der Reichsfürsten reklamierte (die sich mit ihm darum stritten, wer denn mit demprinceps gemeint sei), führte er noch nicht einmal theoretisch zum Absolutismus, schon
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gar nicht zu einer umfassenden absoluten Gesetzgebungsgewalt in unserem Sinne. Dem standen — zumindest was Rechtsänderungen anging — im Horizont der Korporationstheorie mit deren corpus-caput-Schema16 allemal das korporationsrechtliche Konsensprinzip des Quod omnes tangit debet ab omnibus approbari17 und speziell der Reichsspruch feudalistischer Abkunft vom 1. Mai 1231 entgegen: ut neque principes neque alii quilibet constiluciones vel nova iura facere possint, nisi meliorum et maiorum terre consensus primitus habeatur18. Hat sich der Gedanke des Herrschaftsvertrages seit der Spätantike dergestalt verselbständigt, so gilt dies auch für das andere Element jenes antiken Doppelmotivs. Seit dem griechischen Kirchenvater Irenäus, Bischof von Lyon, Vater der katholischen Dogmatik, seit dem späten zweiten Jahrhundert also rückt die Urzustandsvorstellung in theologische Zusammenhänge und wandelt sich zum heilsgeschichtlichen Begriff19. Unter den Namen status naturae integrae, status integritatis naturae oder status innocentiae meint er in der Scholastik im Gegensatz zum status defectus iustitiae und zum status futurae beatitudinis den praelapsaren Urständ20. Thomas von Aquin bezeichnet den primus status des Menschen durchgehend als status innocentiae, während er unter status legis naturae die Epoche vor der mosaischen Gesetzgebung begreift und unter communis status naturae die natürliche Beschaffenheit und ursprüngliche Wesenheit der Dinge versteht21. Übrigens gebraucht auch noch Grotius den Ausdruck status legis naturae im Gegensatz zu status legis Christianae und spricht vom primaevus naturae status hominum, wenn er bei der Behandlung der Sklavenfrage die Menschennatur außerhalb aller Sozialbeziehungen meint22. Die Neuscholastik, mit der Grotius so viel gemeinsam hat, leugnet übrigens mitunter einen solchen unpolitischen Primitivzustand der Menschheit mit biblischen Argumenten. Im allgemeinen freilich bejaht sie, bejaht vor allem die höchst einflußreiche spanische Neuscholastik den vorpolitischen Urzustand in einer spezifischen Weise, indem sie ihn in der aristotelisch-thomistischen Tradition zur Vorstufe im natürlichen Wachstum des Menschen nach Maßgabe des göttlich-natürlichen Gesetzes hin zu dem ihm gesetzten Ziel relativiert23. In dieser
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Perspektive erscheint das vorzivile Stadium je schon überholt durch den logischen Vorrang des Ganzen vor dem Teil, durch die aristotelische Entelechie also ebenso wie durch den göttlichen Schöpfungsplan. Damit stehen wir bereits mitten in der kontrovers-theologischen Diskussion um die Denkbarkeit eines status pure naturalis des Menschen24. Diese Auseinandersetzung steht ganz unter der die frühe Neuzeit beherrschenden Antithese von Natur und Gnade, die erst später durch die aufklärerische Entgegensetzung von Natur und Zivilisation verdrängt und überlagert wird. Der gegenreformatorische Katholizismus bejaht jene Frage nach der Denkbarkeit eines reinen Naturzustandes des Menschen, wie schon angedeutet, in einer spezifischen Relativierung. Gemäß der scholastischen Überlagerung der patristischen Überlieferung sieht er im Evangelium von Christus nicht die Wiederherstellung der integren Natur des Menschen, nicht die Wiedergeburt seiner Humanität, sondern die Überhöhung seiner aristotelischen Vernunftnatur ins Übernatürliche. Die Reformatoren hingegen verneinen die Frage nach der Möglichkeit eines menschlichen status pure naturalis, weil sie die von Gottesliebe, Gottesglaube und Gotteserkenntnis bestimmte paradiesische Verfassung des Menschen als seine (im Sündenfall freilich verderbte) ursprüngliche Natur ansehen25. Sie stehen damit der stoisch-patristischen Tradition näher, in welcher der Urzustand als Idealzustand nicht verdorbener Natur mit ungetrübter Vernunft und engelhafter Herrschaft des Menschen über Tiere und Dinge gedacht war und wie sie etwa Ockham im 14. Jahrhundert erneuert und nach ihm Johannes Gerson in ähnlicher Weise bekräftigt hatte26. Leicht mag von dieser Position aus übrigens die postlapsare Unnatürlichkeit menschlichen Rechts und staatlicher Ordnung hervorgehoben und ein Gegensatz von natürlichem und positivem Recht herausgearbeitet werden. So können die Konsequenzen der reformatorischen Auffassung am Ende mit der hobbesianischen Vorstellung einer naturzustandsnotwendigen Zwangsordnung wie mit Rousseau'scher Zivilisationskritik zusammengehen. Nebenbei wird bei alledem offenbar, daß der heidnisch-antike Zusammenhang von Naturzustandslehre und Sozialvertrag längst
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wieder gegenwärtig ist. Der Kirchenlehrer Bellarmin, auf den ich vorhin bereits angespielt habe27, wendet sich schon um 1580 ausdrücklich gegen Cicero, wenn er einen unpolitischen Zustand der Menschheit mit dem Argument leugnet, der weise Adam habe es „den Menschen zweifellos nicht gestattet, nach Art der wilden Tiere herumzustreifen, und schon sein Sohn Kain (habe) ein weltliches Gemeinwesen (errichtet)", und wenn er sodann versucht, das göttliche Recht der Könige mit dem Gedanken des Herrschaftsvertrages zu vermitteln28. Und vor dem Problem, daß — wie er sagt — „sogar Christen" damit argumentieren, der Mensch sei frei geschaffen und „in jenem glücklichen Stande der Unschuld . . . weder irgend jemand Herr noch irgend jemand Sklave", vor dieser Herausforderung hatte auch der Begründer der spanischen Spät- oder Neuscholastik und Wegbereiter des modernen Völkerrechts Franciscus de Vitoria in seiner Relectio depotestate civilivon 1528 gestanden29. Die Pointe der Geschichte ist die, daß vielleicht niemand anderes mehr zur Wiederbelebung und Verbreitung des antiken Doppelmotives von Naturzustand und Herrschaftsvertrag beigetragen hat als ein Papst, und das ausgerechnet - des frechen Manegold einstigen Frevel sühnend — zum Ruhm und zur Festigung des deutschen Kaisertums gegen die zentrifugalen reichsfeindlichen Kräfte der heraufkommenden „Nationalstaaten". Ich meine den bedeutenden Renaissance-Papst Pius II., der — freilich noch als der Humanist Aeneas Silvius Piccolomini — in: De ortu et authoritate Imperil Romani von 1445 für Kaiser Friedrich III., diesen politisch entschlußlosen Finanzfachmann und Verwaltungspraktiker, den Vorgang in geraffter, einfacher und christlich allenfalls sehr oberflächlich modifizierter Form öffentlich folgendermaßen nacherzählt hat30: „Als die Menschen nämlich nach der Austreibung der Stammeseltern aus dem Paradies wie die wilden Tiere in Feld und Wald umherstreiften und nach deren Art ihr Leben fristeten, da merkten sie (denn Gott hat sie als vernunftbegabte Wesen erschaffen), daß dem Menschen zu einem guten Leben am nützlichsten der Mensch und gesellschaftliche Vereinigung das Allernotwendigste sei. So kamen also, sei es auf Grund der Lehren der Natur, sei es durch den Willen Gottes, des Herrn über die gesamte natürliche Welt, diejenigen zusammen, wel-
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ehe zuvor nach der Art der wilden Tiere ein einzelgängerisches Leben geführt hatten, begründeten Gesellschaften, bauten Häuser, legten feste Plätze an, erfanden Kunstfertigkeiten, und da sich einer eifrig um das Wohl des anderen kümmerte, gefiel den einzelnen das bürgerliche Leben bemerkenswert gut und überaus angenehm schien ihnen der Umgang mit Verwandten und Freunden, den sie früher nicht gehabt hatten. Wie nun aber der Mensch vom Menschen viele Vorteile hat, so gibt es doch auch kein Übel, das dem Menschen nicht vom Menschen widerfährt. So fingen die Menschen an, wider die Gesellschaft zu handeln, Treubruch zu begehen, den Frieden zu stören, den Mitbürgern Unrecht zu tun, nach der Nachbarn Weib und Gut zu trachten, fremde Habe zu rauben und alles Recht zu brechen. Denn die dem Frieden feindliche, unersättliche Streit- und Habsucht ließ es nicht zu, daß das unverletzte Recht der unverletzlichen Gesellschaft lange währte. Als folglich die Stärkeren anfingen, die Menge zu unterdrücken, beschloß man, zu einem einzelnen von hervorragender Tugend Zuflucht zu nehmen, der verhindern sollte, daß den Schwächeren Unrecht geschähe, der Rechtsgleichheit herstellen und die Höchsten mit den Niedrigsten gleichberechtigt halten sollte. Und das geschah nicht nur bei einem Volk, sondern allenthalben. Diese aber waren es, die hernach die Bezeichnung ,König' erhielten, deren offizielle Einsetzung vom Nutzen bestimmt war, gewissermaßen dem Vater des Billigen und Gerechten ..." Damit ist in groben Strichen die Tradition, der geistige Hintergrund skizziert, vor dem die politische Theorie der Neuzeit die alten topoi von Naturzustand und Herrschaftsvertrag aufgenom-
men hat. II. Sowohl gegenüber der politischen Theorie aristotelisch-thomistischer Herkunft wie im Hinblick auf die status-naturalis-ldee der sophistisch-epikureisch-stoischen Traditionen scheint die besondere Bedeutung der Naturzustandslehre bei Thomas Hobbes auf den ersten Blick in der Radikalität zu liegen, mit der er den status naturae als einen Zustand von Furcht und Schrecken beschreibt. Nicht von ungefähr ist seine einprägsame Charakterisierung als „bellum omnium contra omnes" zu Schlagwort-Be-
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rühmtheit gelangt. Und gewiß paßt gerade damit viel zusammen: Hobbes' Protestantismus, die stoischen Elemente seiner Philosophie, sein Nominalismus und der konfessionelle Bürgerkrieg in England. Das alles ist nicht falsch, trifft aber nicht den Kern der Sache. Gewiß ist der konkrete Inhalt der Naturzustandsvorstellung von Hobbes und sind die Unterschiede in diesem Punkt bei Hobbes, Pufendorf, Locke, Rousseau und anderen nicht bedeutungslos31. Darauf wird gleich noch zurückzukommen sein. Aber sie sind von untergeordneter Wichtigkeit. Auch die Rückführung der Geltung des positiven Rechts auf die pure Notwendigkeit der Sicherung des Überlebens ist so neu und sensationell nicht. Neu aber und epochemachend ist die methodische, genauer: die systembildende Bedeutung des frühneuzeitlichen Naturzustandsbegriffs32. In der zu einer Wissenschaft von der Mechanik der Vergesellschaftung und der Physik der Macht sich wandelnden Naturrechtslehre33, in diesem Übergang vom Naturrecht zum Naturgesetz dient der status naturalis als analytische Kategorie zur Aufdeckung der vorgegebenen Grundlagen aller menschlichen Geschichtswelt. Als das Vorgeschichtlich-Ursprüngliche gewinnt der status naturalis im Sinne eines positiven Ur- oder negativen Kontrastbildes in ambivalenter Weise zugleich normativen Sinn. Aus beidem zusammen erwächst die emanzipatorische Bedeutung der frühneuzeitlichen Lehre vom Naturzustand34: Sie unternimmt es, den Menschen in strengem methodischen Individualismus, der die praktische Auseinandersetzung mit konkreten sozialen und politischen Problemen in eine more geometrico betriebene Philosophie transformiert, aus seinen Herkunftsbindungen herauszudenken und ihn als Eigentümer seiner selbst sowie der Produkte seiner Arbeit und demgemäß als den unter der naturgesetzlichen Mechanik der Vergesellschaftung autonomen Produzenten seiner (Geschichts)Welt zu definieren, was freilich zugleich bislang unerhörte, ja undenkbare Möglichkeiten der Konstruktion neuartiger, wahrlich „radikaler" Herrschaftsverhältnisse eröffnet. Diese systematische Bedeutung des Naturzustandsgedankens, welche also aus einem „Wechsel der anthropologischen Grundperspektive"35 resultiert, hat schon Pufendorf in: De Statu Hominum Naturali von 167536 reflektiert und hervorge-
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hoben: isthaec doctrina (sc. status naturalis), sagt er, suo sibijure principem in politica architectonica vindicat locum. Am Ende ist das-dann eine juristische Schulweisheit für Studienanfänger. In der einleitenden begrifflichen Bestimmung von Rechtswissenschaft schreibt Johann Stephan Pütter in seiner Juristischen Enzyklopädie und Methodologie über das Naturrecht als philosophische Basis der Jurisprudenz37: „Um in dieser Wissenschaft (sc. vom Recht der Natur) auf den Grund zu kommen, muß man bis auf solche Vorstellungen zurückgehen, da weder Staaten, noch andere Gesellschaften, oder willkürlich eingegangene Verbindungen, den Zustand des Menschen bestimmen; Man muß sich zuerst zwey oder mehrere Menschen ohne alle Verbindung vorstellen, und alsdann erörtern, was einer gegen den anderen für Rechte und Verbindlichkeiten habe, ohne noch eine verbindliche Handlung (factum obligatorium) vorgenommen zu haben; um sodann bestimmen zu können, was solche Handlungen für neue Gerechtsamen und Obliegenheiten hervorbringen, und was in diesem ursprünglich natürlichen Zustande der Mensch für Rechte und Mittel habe, zu Erhaltung seines Rechts zu gelangen und gegen Beleidigungen sich sicher zu stellen."
Und diese systematische und methodische Bedeutung der Lehre vom Naturzustand ist es, die zuerst bei Hobbes in aller Klarheit hervortritt. In zweistufiger Abstraktion wird hier im Sinne der resolutiv-kompositiven Methode Galileis38 zunächst das, was (freilich unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen) als natürliche Anlage der Menschen erscheint, aus diesem historisch-konkreten sozialen Rahmen herausgelöst und dann im „bellum omnium contra omnes" zu seiner äußersten Konsequenz geführt. Dabei läßt dieser Status des natürlichen Rechts eines jeden auf alles Freiheit und persönliche Macht in revolutionärer Weise als individuell verfügbare Güter, als mögliche Gegenstände rechtlicher Willensakte erscheinen und wird so gegen die traditionellen politischen Lehren zum theoretischen Ausgangspunkt für die Komposition einer vom Vertragsgedanken als zentralem Entwurf bestimmten, individuell radizierten Herrschaftsordnung i. S. eines (absorptiven) staatsrechtlichen Vertretungssystems39. Als Inbegriff der resolutiv aufgedeckten
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Elemente der frühbürgerlichen Gesellschaft, gedacht als historisch invariantes Grundmuster sozialen Verhaltens, meint der status naturalis bei Hobbes also weder eine historische Stufe der Menschheitsentwicklung, noch ist er einfach die vorwissenschaftliche Voraussetzung einer prägenden politischen Erfahrung aus der Zeit der konfessionellen Bürgerkriege oder aus der Anschauung der Kriege zwischen den Souveränen, noch bloß heuristische Fiktion. In der nachchristlichen Wiederholung der creatio ex nihilo durch galileische Komposition, durch nominalistische Konstruktion, welche die aristotelische Bestimmung des logischen Verhältnisses von Polis und Einzelmensch umkehrt, bezeichnet er die fundamentale Voraussetzung einer — wenngleich stets mehr oder weniger latenten, weil sozial und politisch überformten — so doch allemal realen, naturgesetzlichen Möglichkeit40. Anders als Hobbes unterscheidet Pufendorf 41 mehrere Modalitäten des Naturzustandes. Neben dem status naturalis in ordine ad Deum, welcher den Zustand der Geschöpflichkeit bezeichnet und die Pflicht zur Gottesverehrung sinnfällig macht, beschäftigt sich Pufendorf hauptsächlich mit dem Naturstatus des Menschen in bezug auf sich selbst einerseits und in bezug auf seine Mitmenschen andererseits (status naturalis in ordine singulorum hominum ad se ipsos bzw. in ordine ad alios homines). Unter dem erstgenannten Aspekt liefert der status naturalis die Erklärung für den Zivilisationsprozeß: von der puren Negation des Kulturzustandes her werden dessen Vorteile für den Vernünftigen zu Normen seines Handelns. Schlüsselbegriff der Entwicklung aus einem in der Annahme menschlicher Koexistenz immer schon überschrittenen Anfangszustand ist die menschliche imbecillitas, also die menschliche Schwäche. In diesem Begriff kreuzt sich der die aristotelische Tradition auf die societas der christlichen Völker hin überschreitende grotianische Gedanke der Sozialität des Menschen42 mit der hobbesianischen Zuspitzung des stoischen Selbsterhaltungsprinzips; er erklärt die Vergesellschaftung aus dem Zwang zur Überwindung der defizienten Menschennatur. Unter dem Aspekt vorpolitischer Geselligkeit dient der Naturzustand in seiner reinen Vernunftgestalt (status naturalis in ordine ad alios homines merus aut absolutus) als status naturalis libertatis
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zirkelhafter Ableitung der Rechte und Pflichten des einzelnen im Sinne optimaler Verhaltensweisen eines vernunftbegabten Individuums unter den gegebenen Bedingungen. Demzufolge erscheint der status naturalis wegen der sozialen Disposition des Menschen und des vernünftigen Kalküls seines eigenen Nutzens prinzipiell als ein (freilich allemal gefährdeter) Friedenszustand. Realiter existiere dieser Freiheitszustand jedoch nur zwischen souveränen Herrschern; in Wirklichkeit gebe es auch im vorstaatlichen Zustand (status naturalis temperatus, qui revera exsistit) immer schon ein (zunächst patriarchalisches) Herrschaftsmoment. Komplexer und differenzierter als bei Hobbes ist die Vorstellung vom status naturalis auch bei John Locke, wo er als ein a priori rechtlicher Zustand Ansprüche impliziert, welche der status civilis einlösen muß43. Naturzustand ist für Locke ein idealer Zustand der Rechtsgleichheit in der Freiheit und im herrschaftsunabhängigen individuellen Vollzug der moralischen Normen des Naturrechts, denen zu folgen die Menschen auch im Naturstand befähigt seien. Gleichzeitig neigten sie aber auch zu trieb- und interessenmotivierten Regelverletzungen. Folglich ist der ordinary state of nature als Produkt aller sozialen Auswirkungen der menschlichen Normalnatur ein Zustand gesellschaftlicher Unzuträglichkeiten (inconveniences), d. h. eines brüchigen Friedens mit den theoretischen Grenzfällen des state of peace (properly the state of nature) und des state of war. Die civil society, welche aus der Preisgabe jener natürlichen Vollzugsgewalt durch individuellen consent und stellvertretende Ausübung durch Richter nach Gesetzen entsteht, dient der Verwirklichung der im status naturalis aufgedeckten Rechte der Menschen, die ihre in individueller property vergegenständlichte Selbsterhaltung durch gesellschaftliche Arbeit und sozialen Austausch — dies dann eine der fixen Ideen des 18. Jahrhunderts — zur happiness zu steigern bestrebt sind44. Die civil society ist folglich auch keine völlige Neuschöpfung, sondern ausgleichende, korrigierende, bestimmende Fassung und organisatorische Sicherung der natürlichen Rechtsform der Gesellschaft im Naturzustand. Realistischer als Hobbes trägt Locke so der Tatsache und
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den Notwendigkeiten gesellschaftlicher Differenzierung Rechnung, ohne doch, wie man das teilweise darzustellen liebt, zum Propheten der bürgerlichen Klassengesellschaft und des harmonistischen Laissez-Faire-Liberalismus zu werden45. Denn gerade die institutionelle politische Vermittlung der subjektiven Rechte des Naturzustandes mit dessen Widersprüchen ist der Sinn der Lockeschen civil society. Von daher kann politische Herrschaft, die nur als Garant der natürlichen Freiheiten, d. h. als Garant der Rationalität des status naturalis und Korrektor seiner „Unzuträglichkeiten" sinnvoll vorstellbar ist, nun prinzipiell als legitim oder illegitim beurteilt werden. Der Naturzustand ist bei Locke nicht mehr nur hypothetischer Ausgangspunkt der zivilisatorischen Entwicklung und zugleich Grundmuster sozialen Verhaltens, sondern darüber hinaus normatives Modell vorstaatlicher Freiheits- und Gleichheitsrechte des einzelnen. Systematisch gesehen knüpft die Virginia bill of rights von 1776 mit ihren Eingangsworten46 hier an. Wenn es richtig ist, daß dieser Rückgang auf das autonome Individuum und seine Rechte eine bloß politische Revolution zur Folge hat, welche „das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auflöst, ohne die Bestandteile selbst zu revolutionieren", wie Marx in der „Judenfrage" meinte47, dann ging es Rousseau um die Revolution des Menschen. Hatte Hobbes in seiner Lehre vom Naturzustand nach Rousseaus Auffassung nur die politische Organisation und das staatliche Gesetz negiert, nicht aber die gesellschaftlich erworbenen Verhaltensweisen und Begierden48, so macht Rousseau in derselben Absicht auf ein analytisch-normatives Modell Ernst mit der Anthropologie der Asozialität und kommt so zu der Hypothese eines paradiesischen Friedenszustandes, in dem der Mensch, sprachlos wie ein Tier, ganz bei sich ist49. Dank der sinnlich-vernünftigen Doppelnatur des Menschen und seiner (ziellos) Perfektibilität geht aus der ursprünglichen Gleichheit der guten Naturmenschen in einer den Naturstand korrumpierenden Entwicklung über Arbeitsteilung, Ackerbau, Eigentum, Herrschaft, Gesetz, Elend und Verbrechen am Ende jedoch die Gleichheit der blind gehorchenden Untertanen hervor, und wird aus dem ganz selbstbezogenen komme naturel nach der Zer-
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Störung der antiken (oder doch wenigstens: spartanisch-römischen) Ganzheit von geistigem, religiösem, sozialem und politischem Leben durch das Christentum schließlich der zwischen Status naturalis und bürgerlicher Ordnung entzweite bourgeois. Dieser dialektische Prozeß der Verkümmerung und Entzweiung in der Entfaltung ist unumkehrbar. Was bleibt, ist die Möglichkeit der politischen Aufhebung des deformierten Menschen, seine Selbstentäußerung im citoyen einer neuen moralisch-politischen, patriotischen Totalität des Lebens, wie sie der Contrat social verheißt, einerseits und die pädagogische Umgehung des Bruchs in der totalen Erziehungswelt des Emile andererseits. Mit und über Rousseau kommen wir noch einmal zurück auf die theologische Kontroverse um die Frage der Denkbarkeit eines status pure naturalis des Menschen. Diese Auseinandersetzung bildet den theologischen Hintergrund für das im 18. Jahrhundert so vielfach bezeugte Interesse an Robinsonaden und Waldmenschen50. Nirgendwo sonst wird so deutlich wie bei Rousseau, was anthropologisch hinter jener auffälligen Erscheinung des Zeitgeistes steckt. Es ist die Entzweiung des Menschen in die Substanz seiner egalitären physischen Bedürfnisnatur und die bloß akzidentiellen Qualitäten seiner geschichtlich individuell gebildeten Kultur und Sittlichkeit, eine Entzweiung, die aus dem antiaristotelischen cartesischen Dualismus mit der Abkehr von der teleologischen Naturphilosophie und mit der mechanischen Naturdeutung hervorgegangen ist und in der neuen status-natura//s-Theorie ihren Ausdruck gefunden hat. Der Hinweis, daß in solchem Zusammenhang von Anfang an unvermeidlich auch die technische Seite von Staat, Recht und Politik in den Vordergrund tritt und die Legitimation solcher Techniken zu einem neuartigen Problem wird51, leitet über zum 3. Teil unserer Erörterungen.
III. 1. Als erste der speziellen Funktionen des status naturalis für die Rechtsbegründung der Aufklärung sei die von der philosophisch-analytischen Naturzustandsvorstellung ermöglichte und von ihr getragene Entwicklung eines natürlichen Privatrechts an-
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geführt. Kronzeuge für diesen Zusammenhang ist, wie man weiß, Kant. Wenn ich Kant erst und allein hier zitiere, so bedeutet das natürlich, daß ich Kants Erörterung der „Vernunftidee eines nicht-rechtlichen Zustandes", wie er in der Metaphysik der Sitten formuliert52, nur nach dieser einen Seite hin in Betracht ziehe und den Zusammenhang mit den Begriffen der repräsentativen Herrschaft und des Republikanismus vernachlässige53. Gegen Schluß des Abschnittes über das Privatrecht behandelt Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre den „Übergang von Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt". Hier nennt er den status naturalis, den er — wie gesagt — nicht als status iniustus, sondern als status iustitia vacuus, als eine durch Abwesenheit der austeilenden Gerechtigkeit, mithin durch das Fehlen einer Gerichtsorganisation definierte Lage begreift, den „Zustand des Privatrechts". Ihm stellt er den „Zustand des öffentlichen Rechts" im status civilis gegenüber54. Wenn Kant hier von Privatrecht spricht, dann meint er also nicht das iusprivatum in dem älteren Sinne aller den einzelnen betreffenden Rechtsnormen einschließlich derjenigen des Prozeß- und Strafrechts, vielmehr gebraucht er den Terminus in dem damals neuen und uns geläufigen Sinn der Rechtsbeziehungen unter Privaten55. Allerdings geht es im natürlichen Privatrecht nicht um Staatsbürger als Privatleute, sondern um die mittels der Vernunftidee eines rechtlosen Zustandes aus allen politischen Bezügen isolierten autonomen Individuen. Und es geht nicht um die positiven Regeln ihrer koordinierten Existenz, sondern um die aus der Vernunft a priori abgeleiteten Normen für die Koexistenz höchstmöglicher individueller Freiheiten. Diese Regeln des natürlichen Privatrechts sind, wie Kant einräumt, noch nicht wirklich Recht, sondern sind es nur in einer präsumtiven, provisorischen und komparativen Weise im Hinblick auf ihre staatliche (oder wie Kant sagt — öffentliche) Sanktionierung im status civilis56. Das natürliche Privatrecht ist also kein sanktioniertes Recht, sondern nur ein Regelsystem „notwendig möglicher Geltung"57. Das öffentliche oder auch statutarische, also gesetzte Recht hingegen erscheint Kant lediglich als die staatliche Sanktion des natürlichen Privatrechts. Die Rechtsmaterie, meint
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er, sei in beidem dieselbe: Das öffentliche Recht enthalte nicht mehr oder andere Pflichten des Menschen unter sich, als in jenem natürlichen Zustand des Privatrechts gedacht werden können58. Das öffentliche Recht wird hier m. a. W. vom Privatrecht her definiert. Beiläufig erfährt man dann freilich auch in Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, daß das öffentliche Recht nicht einfach den status quo sanktioniert, sondern — und das bedeutet nun allerdings eine nicht unerhebliche Modifikation - die Bedingungen angibt, unter denen jene Vernunftgesetze des Naturzustandes „zur Ausübung gelangen"59. Der auf der Vernunftidee des status naturalis basierende Gedanke einer allgemeinen Formulierung der Grenzen individueller Freiheit in einem System von Individualrechtsbeziehungen auf den naturgesetzlichen Grundlagen aller Gesellschaft, in einem System, das es im status civilis um der individuellen Freiheit willen zu sichern gilt — dieser Gedanke prägt über Svarez, Martini und Zeiller die großen Kodifikationen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts vom Preußischen Allgemeinen Landrecht (1791/94) über das Westgalizische Gesetzbuch (1797) bis zum österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 181l60. Der geistige Vater der letztgenannten Kodifikation, Franz Edler von Zeiller, war übrigens nicht nur ein Kenner Kants, sondern bezeichnenderweise auch Autor eines Buches über Das natürliche Privat-Recht (Wien 1802; 4. Aufl. 1835)61. Dabei ist besonders darauf hinzuweisen, in welchem Maße die abstrakte Begrifflichkeit und Systematik der neueren Privatrechtsgeschichte von der philosophischen Arbeit am natürlichen Privatrecht des status naturalis profitiert hat62. Nur zur Abrundung des historischen Bildes sei schließlich noch vermerkt, daß sich nicht zuletzt in und mit jenen großen Kodifikationen gegenüber der vernunftrechtlichen Begrifflichkeit von privatem und öffentlichem Recht und gegen die damit verbundene Behauptung der vorgegebenen Autonomie des Privaten vermöge der liberale wie absolutistische Konsequenzen einschließenden Ambivalenz von Naturzustandsund Vertragsgedanke letztlich (wieder) ein anderer und gegenläufiger Gebrauch dieses Begriffspaares durchsetzt, nämlich die von Haus aus absolutistische Inanspruchnahme des Begriffs des
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öffentlichen und des öffentlichen Rechts für die gegenüber den Individualinteressen höheren und folglich (das war im Prozeß der Trennung von Justiz und Verwaltung in Preußen und Österreich zunächst der springende Punkt) nicht iustiziablen Zwecke von Staat und Politik, die sodann auch die Privatgesetzgebung als sekundäre Frage staatlicher Disposition erscheinen ließen63. Mit diesen summarischen Hinweisen kann es hier deswegen sein Bewenden haben, weil auf den hier erörterten Zusammenhang von Vernunftrecht und Kodifikationspraxis schon öfter hingewiesen worden ist64. 2. Eng mit der eben besprochenen Vorstellung, welche die staatliche Gesetzgebung in ihrem Kern als Festsetzung der mit Hilfe der status-naturalis-Analyse aufgedeckten vernunftgemäßen Beziehungen autonomer Individuen begreift, hängt eine zweite, selten voll gewürdigte Konsequenz des NaturzustandsTheorems für die Definition von Recht zusammen. Im analytischnormativen Modell des status naturalis nämlich gründet die axiomatische Hereinnahme des Zwangsmoments in die Vorstellung von Recht65. Der Naturzustandsgedanke macht das Recht zu einem Produkt unbegrenzter Freiheit und zugleich zur einzigen Barriere gegen deren Selbstzerstörung. Gerade als Recht der libertas naturalis, welches nicht mehr von einem summum bonum sich herleitet, sondern auf subjektiver Freiheit aufbaut, ist das Vernunftrecht von der Wurzel her notwendig zugleich Zwang. Diese Konsequenz erscheint bei Kant selbst vergleichsweise moderat, auch wenn er in § D der Einleitung in die Rechtslehre das „Rechthaben" ausdrücklich als „Zwingendürfen" bestimmt66. Denn natürlich wurde die iustitia distributiva immer als korrigierende Zwangsgewalt gedacht. Und die Vorstellung vom Staat als einer Not- und Zwangsordnung, die sich von Augustin bis Thomasius findet, rührt keineswegs primär von dem aufklärerischen Naturzustandsgedanken her, sondern beruht bekanntlich auf dem Gedanken der Erbsünde67. Immerhin bleibt festzuhalten, daß der Begriff des öffentlichen Rechts bei Kant als die Überwindung des status naturalis durch Sanktionierung des natürlichen Privatrechts nicht nur für die staatliche Gerichtsorganisation des status civilis die unumgängliche Zwangsgewalt rekla-
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miert, sondern damit zugleich das natürliche Recht des status naturalis, welches es zu verwirklichen gilt, als Recht eines rechtlosen Zustandes, als bloß provisorisches Recht, als Ordnung eo ipso minderer normativer Qualität herabsetzt. Formelhaft gesprochen: kraft der Naturzustandsidee liegen iustitia commutativa und iustitia distributiva auch bei Kant nicht mehr auf derselben Ebene. Um von den vorläufigen Vernunftsätzen natürlicher Gerechtigkeit zur Sicherheit sanktionierter Rechtsregeln zu gelangen, bedarf es des Überganges zum status civilis. Dessen öffentliches Zwangsrecht entspringt nicht unmittelbar der Vernunft, sondern dem „vereinigten Willen aller"68. Bezeichnet diese Willensvereinigung bei Kant auch nur das Vermögen der Vernunft, gemeinschaftlich kausal zu werden, ist sie ihm selbst auch nur eine Vernunftidee in der Idealität der republica noumenon69, als die notwendig mögliche Vernünftigkeit des real zwingenden Willens ein „Wille in der Idee"70, so ändert dies daran nichts, daß auch auf diese Weise das, was im Vollsinne Recht ist, nämlich das öffentliche Recht der iustitia distributiva des status civilis, den Kategorien von Wille, Befehl und Zwang unterstellt wird. Historisch-genetisch betrachtet gründet im übrigen ja auch für Kant alles öffentliche Recht ursprünglich in der geschichtlichen Tat eines zwingenden Willens71. In den Vorarbeiten zur Schrift vom „Ewigen Frieden" notiert Kant diesen doppelten Widerspruch zum vernunftgemäßen inhaltlichen Verhältnis von privatem und öffentlichem Recht, wonach das Privatrecht die primäre (wenngleich provisorische), das öffentliche Recht hingegen die sekundäre (freilich stabile und verbindliche) Erscheinungsform von Recht ist. Ausgehend vom Aspekt der Verbindlichkeit schreibt er72: „Zuerst also ein öffentliches Recht nachher das Privatrecht. — Aber was das erstere betrifft so fangt doch alles von der Gewalt an ob es zwar nicht sollte wenigstens nicht so bleiben sollte."
Die Aporie faktischer Priorität der Gewalt vor dem Recht sucht Kant über die merkwürdige Figur eines „natürlichen Erlaubnisgesetzes" zu lösen, welches einem jeden gestattet, die anderen Menschen in eine Gemeinschaft mit sich zu zwingen, sie also zu nötigen, mit ihm in den status civilis zu treten73. So wird
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der grundsätzliche Widerspruch zur bloßen Ausnahme von dem Satz, daß „Gewalt nicht für Recht geht". Dieser Argumentation, dieser kantischen „Grundnorm" zufolge behält einerseits der Naturzustandsgedanke bei Kant die zentrale Bedeutung einer regulativen Idee notwendiger Reformen des Staates an sich selbst74, und schließt andererseits seine Rechtslehre doch gleichzeitig nicht weniger als diejenige von Hobbes jedes Widerstandsrecht aus75. Wo indessen von Hobbes bis Rousseau der Naturzustand nicht ganz so abstrakt als Geflecht von Leidenschaften und Interessen und dessen „Recht" nur als Anspruch eines jeden auf alles erscheint, da tritt der hinsichtlich der Defekte des Naturzustandes allemal und prinzipiell repressive Charakter staatlichen Rechts dementsprechend unverhüllt in Erscheinung, zeigt sich das Recht der vertraglichen Vereinigung offen als bloßes Produkt willentlich begründeter, also individuell radizierter Herrschaft, als pure Funktion einer bestimmten Art von Macht. Und diese erfährt ihre Rechtfertigung dort nicht mehr aus der gesollten Realisierung von Vernunftgrundsätzen des status naturalis, sondern aus der Überwindung von dessen Schrecken durch die Organisation des Chaos und die Herrschaft von Regeln. Auch der Staat des Hobbes ist so ein Rechtsstaat, aber nicht weil er die rechte Ordnung durchsetzt, sondern weil er eine Rechtsordnung im Sinne eines allgemeinverbindlichen Regelwerks produziert76: Authoritas, non veritas, facit legem77. Die eigentümliche Leistung des analytisch-normativen Naturzustandsmodells liegt mithin darin, daß sie im einen wie im anderen Fall als das entscheidende Kriterium des Rechts neuzeitlicher Gemeinwesen die Doppelfunktion von Legitimierung und Limitierung von Gewalt hervortreten läßt — und das schon von Grotius an78. 3. Wenn es also richtig ist, daß der moderne Staat nach den Worten Max Webers durch das „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit" zu charakterisieren ist79, dann hat das zwar selbstverständlich nicht in der nachmittelalterlichen Naturzustandslehre seine historische Ursache, wohl aber besitzt die damit angesprochene Entwicklung im status naturalis eines ihrer ältesten und wirksamsten Argumentationsmuster. Und das gilt nicht
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nur für den von Max Weber angesprochenen Gesichtspunkt der Legitimation von Gewalt, sondern auch für die von ihm hervorgehobene Monopolisierung öffentlicher Gewalt. In der Tat ist es der status naturalis, der keine andere als eine vom Individuum ausgehende Legitimation von Rechtsmacht mehr zuläßt. Nachchristliche „Vergewisserung des Einzelnen im Horizont der Weltlichkeit .. . begründet den Punkt, von dem aus Herrschaft auf ihre Berechtigung hin gefragt" wird80. Das aber bedeutet, daß den mit der jeweiligen politischen Zentralgewalt konkurrierenden intermediären Gewalten in der politischen Theorie der Boden entzogen wird. Insbesondere zerstört die philosophische Radikalisierung des Naturzustandsgedankens das alte, aus dem mittelalterlichen Korporationsrecht stammende und bis in die Politik des Althusius hinein wirksame dualistische Deutungsschema von corpus und caput, unter dem man Herrschaftsverhältnisse ehedem begriffen hatte81. Unsere hier traktierte analytische Kategorie befördert so jenen Prozeß antiständischer Konzentration öffentlicher Gewalt, der historisch als Kampf um die landesherrliche Souveränität erscheint. Und in einem unauflöslichen Zirkel macht solche Konzentration öffentliche Gewalt in einer theoretisch prinzipiellen Weise wiederum legitimationsbedürftig. Man muß sich vergegenwärtigen, welch außerordentliche Spannung und Intensivierung des Verbindlichkeitsanspruchs es bedeutet, wenn in einem Kosmos je eigener und gestufter Ordnungen auch nur der Gedanke vertreten wird, daß alle (diesseitigen) normativen Bindungen des Menschen unmittelbar auf einen einzigen zentralen Punkt seiner politischen Welt zurückzuführen seien. 4. Mit den eben behandelten beiden Konsequenzen des Theorems vom Naturzustand hängt aufs engste zusammen der voluntaristische Charakter des neuzeitlichen und d. h.: des positiven Gesetzesbegriffs. Das den Naturzustand überwindende Gesetz gilt kraft der Autorität des gesetzgebenden Willens, nicht vermöge seiner inhaltlichen Richtigkeit. Noch einmal: Authoritas, non veritas,facitlegem. Denn das heißt nach Hobbes, daß das Gesetz ein Befehl ist: legem esse imperatum; und Befehl ist das, was allein im Willen des Sprechenden (in voluntate dicentis) gründet82. Oder - wie es schon Jean Bodin gesagt hatte —: „Das
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Gesetz ist nichts anderes als der Befehl des Souveräns"83. Dabei mag man sich erinnern, daß Bodin als einer der ersten die alten Mythen vom paradiesischen Anfang der Menschheitsgeschichte in seiner Einführung in die Geschichtswissenschaft von 1566 offen verspottet hatte: haec fuerunt aurea & argentea secula, quibus homines ferarum more in agris ac sylvis dispersi, tantum haberent quantum per vim & nefas retinere possent . . .
Bodin vertrat demgegenüber den Fortschrittsgedanken und identifizierte die höhere moralische und soziale Entwicklung der Menschheit mit der Einrichtung zentraler staatlicher Strafgewalten84. Jener voluntaristische Charakter des positiven Gesetzes einer zentralen Gesetzgebungsinstanz bewirkt — wenigstens in der Theorie — die rechtliche Verfügbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse im ganzen und institutionalisiert darüber hinaus die Möglichkeit der Rechtsänderung. Nicht, daß Rechtsänderungen dem Mittelalter fremd gewesen wären85. Zweifellos gibt es schon eine (auch theoriegestärkte) vorneuzeitliche Entwicklung von der repressiven über die präventive zur produktiven Rechtsänderung86. Aber diese Befugnis des nova statuta, des nova iura facere war einerseits korporativ dezentralisiert und andererseits durch das Konsensprinzip feudaler Provenienz eingeengt87. Was die analytische Kategorie des status naturalis hier theoretisch leistet ist dies, daß sie nicht nur das corpus-caput-Schema paralysiert, sondern zugleich den Konsensgedanken des quod omnes tangit. . . und des neque principes neque alii nova iura facere possunt, nisi etc. grundlegend umformt. Mit der Argumentationsfigur des Naturzustandes wird das Gesetzgebungserfordernis (repräsentativer) Zustimmung der Betroffenen von Fall zu Fall in die vorgängige allgemeine Legitimation einseitiger Entscheidungsgewalt überführt 88 . Noch einmal also: Authoritas facit legem. Denn das heißt auch, daß die Gesetzgebungsgewalt als autorisiert, das ist: ganz generell als vorgängig individuell-vertraglich bevollmächtigt gedacht wird89.
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5. Mit einem Wort muß schließlich eines gegenüber den zuletzt behandelten Tendenzen gegenläufigen Motivs im aufklärerischen status-naturalis-Theorem gedacht werden. Unter bestimmten Bedingungen nämlich kann, wie das Beispiel Lockes zeigte, der status naturalis zur Begründung individueller Reservatrechte dienen90. Wo die neue Wissenschaft vom Naturzustand eine Tradition feudaler Freiheitsverbürgungen, ständischer Libertäten unterfängt, vermag sie deren Charakter durch Verallgemeinerung zu verändern91. Abstrakter und unpolitischer als Locke bietet Christian Wolffs Naturrecht ein Modell philosophischer Begründung angeborener fundamentaler Rechte des Menschen92. Individuelle Freiheit folgt hiernach daraus, daß ursprünglich niemand Vorrang vor anderen oder Rechte über andere habe. Vermöge der Naturstandsidee operiert Wolff also mit einem logischen Vorrang der Gleichheit vor der Freiheit93. Die Gleichheit, die er meint, ist freilich keine Gleichheit der physischen Natur, sondern Gleichheit der essentia, der menschlichen Seinsmöglichkeit, welche durch sittliche Pflichten definiert wird. Unter ihnen ragt die Verpflichtung des Menschen hervor, sich und seine Verhältnisse zu verbessern. Und um der Erfüllung dieser seiner sittlichen Pflichten willen hat der Mensch notwendigerweise gewisse fundamentale Rechte. Was Wolff an solchen Rechten dann ohne systematische Geschlossenheit im einzelnen ausmacht (Recht auf Leben, Integrität des Körpers und seiner Glieder, Recht auf Achtung und Ehre, auf Nahrung und Arzneien, auf Kleidung, Wohnung und Arbeit, auf Erziehung und künstliche Verschönerung des Körpers, Recht auf Bequemlichkeit und Glückseligkeit), all das kann hier auf sich beruhen. Wolffs Naturrecht hat im übrigen über Vattel auf Nordamerika und über die Physiokraten auch auf Frankreich gewirkt. So mag die deutsche Aufklärung an der Geschichte der Grundrechte doch nicht ganz unbeteiligt sein94. Von den amerikanischen Rechteerklärungen war in der prototypischen Gestalt der Virginia bill of rights schon die Rede. Näher steht den aufklärerischen Deduktionen jedoch die Declaration des droits de komme et du citoyen von 1789, welche zugleich freilich den Gedanken der natürlichen Freiheit in einer spezifischen Weise überschreitet. Der Gedankenwelt des Vernunft-
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rechts verhaftet ist jene Declaration in zweifacher Hinsicht. Zum einen handelt es sich hier nicht um eine bill, eine petition, also nicht um einen Akt der Rechtsetzung, der Befestigung überlieferter Freiheiten, sondern um eine Deklaration, eine Proklamation der ideellen Grundlagen und der Legitimationsprinzipien eines neu aufzubauenden Gemeinwesens95. Bei allen historischen Querverbindungen und inhaltlichen Übereinstimmungen96 haben die französischen Grundrechte so eine ganz andere Funktion als die nordamerikanischen Rechteerklärungen97. Der zweite Berührungspunkt ist — von allen Fragen der Rechtsinhalte einmal abgesehen — der, daß in der Erklärung aus Versailles von der Philosophie Rousseaus her die Naturzustandslehre durchschlägt. Wenn wir heute von Menschen- und Bürgerrechten reden, dann meinen wir in erster Linie Rechte unterschiedlich großer Kreise von Grundrechtssubjekten. Anders die Declaration von 1789: Sie spricht von den Rechten des Menschen und des Bürgers, meint damit also die Rechte desselben Individuums als Mensch und als Bürger98 — in demselben Sinne etwa, in welchem Kant bezüglich desselben Individuums von der Freiheit des Menschen, der Gleichheit des Untertanen und der Selbständigkeit des Bürgers redet99. Dies wird dort besonders deutlich, wo jene Erklärung Rechte der Bürger förmlich aus den Menschenrechten herleitet. So heißt es etwa in Art. 11: „Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Rechte des Menschen; jeder Bürger kann daher frei schreiben, reden, drucken usw.'6 Aber indem die bürgerlichen Revolutionäre die natürlichen Freiheiten des Menschen zugleich als Rechte seiner Sozialität denken und zu Konstitutionsprinzipien des Verfassungsstaates machen100, lassen sie die Philosophie Rousseaus und mit ihr die Tradition des Naturzustandsgedankens hinter sich101. Anmerkungen 1. Vgl. dazu in erster Linie noch immer John Wiedhoff Gough: The Social Contract - A Critical Study of its Development, 2. Aufl., Oxford 1963. Die wichtigsten Zeugnisse bietet in dt. Übers. Alfred Voigt (Hrsg.): Der Herrschaftsvertrag (POLITICA 16), Neuwied am Rhein 1965. - Zu den außerbiblischen Mythen vom Urzustand der Menschheit Otto Zöckler: Die Lehre
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Hasso Hofmann vom Urständ des Menschen, geschichtlich und dogmatisch-apologetisch untersucht, Gütersloh 1879, S. 84 ff., der damit den biblischen Schöpfungsbericht gegen die darwinistische Leugnung eines ursprünglichen Zustandes der Vollkommenheit zu verteidigen versuchte. Vgl. dessen „Theogenie", Verse 901-903, sowie „Werke und Tage", Verse 213-285. Vgl. dazu Felix Heinimann: Nomos und Physis — Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts (Schweizerische Beitr. z. Altertumswiss. 1), Basel 1945 (Nachdr. Darmstadt 1965). Zu nennen sind v. a. Kritias und Antiphon aus Athen, Kallikles (den wir nur aus Platons Dialog Gorgias kennen) und Thrasymachos. Vgl. Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. Aufl., hrsgg. v. Walther Kranz, Bd. 2, Berlin-Grunewald 1952, S. 346ff. (Fragm. 44 A u. B) u. S. 386f. (Fragm. 25); ferner Platons Gorgias 483a7-484b und dessen Politeia, Buch II, 358c 3-359b 4. - Vgl. dazu die in dem von Carl Joachim Classen in der Reihe „Wege der Forschung" hrsgg. Sammelband „Sophistik" (Darmstadt 1976) enthaltenen Beiträge, insbes. diejenigen über Antiphon und Thrasymachos. Siehe die Nrn. 31—38 der - zit. nach Hermann Usener: Epicurea, Leipzig 1887, S. 78-80. Dies freilich nur in einem spezifisch modernen Sinn des Wortes; denn „daß es unsterbliche Götter gibt, männliche und weibliche, die in den Intermundien wohnend in menschlicher Gestalt nur ihr Dasein genießen, ist für Epikur gewiß. Sie verdienen unsere Verehrung, weil sie uns überragen, aber wir dürfen dafür keinen Lohn und für die mangelnde Verehrung keine Strafe erwarten; denn es wäre dem göttlichen Wesen zuwider, sich um die Welt und die Menschen darinnen zu kümmern": Josef Martin: Lukrez Über die Natur der Dinge, lat. u. dt., Berlin (Ost) 1972, Einführung S. 15.
7. Siehe Verse 1011-1027 und Verse 1105-1157. 8. Vgl. M. Tullius Cicero: De re publica, lib. I, cap. 25, § 39, lib. Ill, cap. 31, § 43 - zit. nach der Ausg. v. Clinton Walker Keyes, Cambridge, Mass./London 1951, S. 64, S. 218; De officiis, lib. I, cap. 7, §§ 21 ff., lib. II, cap. 21, § 73 — zit. nach der Ausg. v. Walter Miller, London/Cambridge, Mass. 1961, S. 248. 9. Systematisch hat diese Unterscheidung in seiner Auseinandersetzung mit Hobbes Pufendorf ausgearbeitet: De jure naturae et gentium libri octo (1672), lib. VII, cap. 2, §§ 6-12 = Photogr. Repr. d. Ausg. v. 1688 i. d. Reihe: The Classics of International Law, ed. James Brown Scott, Oxford/ London 1934, Vol. I, pp. 664ss. Vgl. aber auch schon die 3. Abhandlung der unter dem Namen Junius Brutus 1580 u. ö. erschienenen Vindiciae contra tyrannos etc. sowie Johannes Althusius: Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata (1603), Cap. I § 2 u. Cap. XIX §§ 6 u. 7 - zit. nach der 3. Aufl., Herborn 1614 (2. Neudr. Aalen 1981), S. 2 u. 328 f. 10. Siehe dazu Franz Wieacker: Recht und Gesellschaft in der Spätantike, Stuttgart 1964, S. 63 f.
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11. Manegoldi ad Gebhardum Liber, ed. Kuno Francke, in: Monumenta Germaniae historica, Libelli de Lite, Tom. I, Hannover 1891, Capp. XXX (S. 365 f.) u. XLVII (S. 391 f.). 12. Vgl. Gerhard Oestreich: Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag, Festg. f. Hans Herzfeld, Berlin 1958, S. 11 ff., zit. nach dem Wiederabdr. in Oestreichs Aufsatzsammlung: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 157 ff. 13. Siehe dazu vom Verf.: Repräsentation — Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (Schriften z. Verfassungsgesch. 22), Berlin 1974, S. 351 ff. 14. Vgl. ebd. S. 358ff. 15. Vgl. William Sharp McKechnie: Magna Carta — A Commentary on the Great Charter of King John with an Historical Introduction, 2. ed., New York/N. Y. 1958, S. 104ff.; Alfred Voigt: 750 Jahre Magna Carta Libertatum, Jurist. Schulung 5 (1965) S. 218 ff. (220). 16. Über diese Denkfigur Hofmann, Repräsentation, bes. S. 122ff., 147, 281 ff. u. ö. 17. Über diesen in den regulae iuris Bonifaz' VIII. sanktionierten Grundsatz, dessen Formulierung dem Justinianischen Vormundschaftsrecht entstammt (Cod. Just. 5, 59, 5, 2) Otto v. Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 2, Nachdr. Graz 1954, S. 466-475, 633ff.; P. S. Leicht: Un principio politico medievale, in: Rendiconti della Reale Accademia dei Lincei Classe di Scienze morali, storie e filologiche V/29, Roma 1920, S. 232ff.; Yves M.-J. Congar: Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet, Revue historique de Droit fran9ais et etranger, 4e ser., 36 (1958) S. 21 Off.; Paolo Grossi: Unanimitas. Alle origine del concetto di persona giuridica nel diritto canonico, Annali di storia del diritto II, Mailand 1958, S. 229ff.; Gaines Post: Studies in Medieval Legal Thought - Public Law and the State, 1100-1322, Princeton/N.J. 1964, S. 168ff.; Helmut Quaritsch: Staat und Souveränität, Bd. l, Frankfurt (M) 1970, S. 107ff., 162f., 269ff., 276ff. 18. Karl Zeuner: Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit = Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht, hrsgg. v. Heinrich Triepel, 2. Bd., Leipzig 1904, S. 45. 19. Ausgangspunkt ist die Auseinandersetzung mit gnostischen Versionen der Schöpfungsgeschichte (vgl. dazu Ernst Noeldechen: Die Lehre vom ersten Menschen bei den christlichen Lehrern des zweiten Jahrhunderts, Zeitschr. f. wissenschaftl. Theologie 28 [Leipzig 1885] S. 462 ff.) bei Irenäus in dessen 5 Büchern gegen die Häresien = J.-P. Migne: Patrologiae Graecae Tom. VII, Paris 1857, coll. 433 ss. Siehe dazu Ludwig Duncker: Des heiligen Irenäus Christologie im Zusammenhange mit dessen theologischen und anthropologischen Grundlehren, Göttingen 1843, S. 8ff., 78ff.; Heinrich Ziegler: Irenäus der Bischof von Lyon, Berlin 1871, S. 197ff.; Friedrich Böhringer: Die Alte Kirche. Zweiter Theil: das zweite Jahrhundert, 2. Ausg., Stuttgart 1873, bes. S. 459ff.(466ff.); H. H. Wendt: Die christliche Lehre von der menschlichen Vollkommenheit, Göttingen 1882, S. 20ff.
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Hasso Hof mann (dort auch S. 11 ff. über Tatian u. S. 17ff.über Theophil von Antiochien); Ernst Klebba: Die Anthropologie des hl. Irenäus (Kirchengeschichtl. Studien 2/3), Münster i. W. 1894; Wilhelm Bousset: Kyrios Christos, Göttingen 1913 (u. ö.), S. 432ff.; Nathanael Bonwetsch: Die Theologie des Irenäus (Beitr. z. Förderung d. christl. Theologie 2/9), Gütersloh 1925, S. 73ff.. Siehe dazu Joseph Schwane: Dogmengeschichte der mittleren Zeit (787-1517 n. Chr.), Freiburg i. Br. 1882, S. 376ff.; Reinhold Seeberg: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 4. Aufl., Bd. 3, Leipzig 1930, S. 420ff.; Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Neudr. Aalen 1961, S. 163ff. Vgl. Summa Theologica I qu. 95 a. l und a. 4, qu. 96 a. l und a. 4, qu. 97 a. l und a. 3, qu. 100 a. l und a. 2, sowie einerseits Summa Theologica l/U qu. 102 a. 3 ad 12, andererseits Summa Theologica I qu. 23 a. 7 ad 3 — zit, nach der Deutschen Thomas-Ausgabe, Salzburg bzw. Salzburg/Leipzig bzw. München/Heidelberg bzw. Heidelberg/Graz/Wien/Köln 1933ff., Bd. 7, S. 105, 110, 115, 117, 119f., 129 f., 133, 138, 162f.; Bd. 13, S. 292, Bd. 2, S. 261. Hugo Grotius: De jure belli ac pacis (1625), lib. II, cap. V, § XV/2*; lib. Ill, cap. VII, § I/l - zit. nach der Ausg. Amsterdam 1712, S. 253, 729. Siehe v. a. Franciscus Suarez: Tractatus de legibus ac Deo legislatore (1612), lib. I, cap. 3, § 12 = Opera omnia, ed. Carolo Berton, torn. V, Paris 1856, S. 10 = Photomech. Nachdr. ed. James Brown Scott (The Classics of International Law), Oxford/London 1944, S. 17. Vgl. hierzu und zum folg. Zöckler, Die Lehre vom Urständ des Menschen, S. lOff., 19ff., und Alfred Kaiser: Natur und Gnade im Urständ — Eine Untersuchung der Kontroverse zwischen Michael Bajus und Johannes Martinez de Ripalda (Münchener theol. Studien — Systemat. Abt. 11/30) München 1965. Vgl. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, S. 445 ff. Wilhelm von Ockham: Opus XC Dierum, cap. 14 (zit. nach der Ausg. Lyon 1495, angeb. an Dialogue); Dialogue, p. HI, trac. 2, lib. 3, cap. 6, in: Monarchia S. Romani Imperil, ed. Melchior Goldast, Bd. II, Frankfurt 1614 (photomech. Nachdr. Graz 1960), S. 933; Breviloquium de principatu tyrannico, lib. Ill, capp. 7ss. = Richard Scholz: Wilhelm von Ockham als politischer Denker und sein Breviloquium de principatu tyrannico (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde [Monumenta Germaniae historical 8 )> Stuttgart 1944 (Nachdr. 1952), S. 39ff. (125ff.). - Jean Gerson: Sermo de dominio evangelico = Opera omnia, ed. E. Du Pin, Vol. 3, Anvers 1706, 201 b = Oeuvres completes, ed. P. Glorieux, Vol. 5, Paris u.a. 1963, Nr. 236 (S. 405ff.): In coena domini (S. 413ff.). Vorne nach Fußn. 22. Roberto Bellarmin: De membris ecclesiae militantis, lib. Ill: De laicis, ac potissimum de Magistratu politico, capp. 5 u. 6, in: De controversis christianae fidei ad versus huius temporis haereticos, Ingolstadt 15 86 ff. = Opera omnia, ed. Justinus Fevre, Paris 1870ff., Bd. II, S. 409ff. (Bd. III, S. 10).
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29. Siehe die Abschnitte 5 — 10 der Relectio de potestate civili, in: Relectiones morales, Köln u. Frankfurt 1696, S. 180ff. (190-201). 30. Aeneas Silvius Piccolomini: De ortu et authoritate Imperii Romani, Capp. II u. III; in: Monarchie S. Romani Imperii, ed. Melchior Goldast, Bd. II, Frankfurt 1614 (photomech. Nachdr. Graz 1960), S. 1558ff. (1559) Übers, v. Verf. 31. Hierzu im einzelnen Iring Fetscher: Der gesellschaftliche „Naturzustand" und das Menschenbild bei Hobbes, Pufendorf, Cumberland und Rousseau - Ein Beitrag zur Standortbestimmung der politischen Theorie Rousseaus, Schmollers Jahrb. f. Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft 80 (1960) S. 641 ff.. 32. Deswegen greift Georg Jellineks Säkularisierungs-These zu kurz, welche den Naturzustandsgedanken der frühneuzeitlichen Naturrechtslehre lediglich als säkularisierte Vorstellung des prälapsaren Urzustandes der Bibel begreift: Adam in der Staatslehre, Heidelberg 1893, S. 15 ff. 33. Vgl. Leo Strauss: Natural Right and History, dt. u. d. T.: Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956, S. 171 ff.; Wilhelm Hennis: Politik und praktische Philosophie (POLITICA 14), Neuwied a. Rh. u. Berlin 1963, S. 47ff., 96ff.; Jürgen Habermas: Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie, in ders.: Theorie und Praxis — Sozialphilosophische Studien (POLITICA 11), Neuwied a. Rh. u. Berlin 1963, S. 13ff.; ders.: Naturrecht und Revolution, ebd. S. 52ff. (41 ff.); Jürgen Dennert: Die ontologisch-aristotelische Politikwissenschaft und der Rationalismus, Berlin 1970, S. 115 ff. 34. Vgl. dazu Crawford Brough Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, dt. u. d. T.: Die politische Theorie des Besitzindividualismus - Von Hobbes bis Locke, Frankfurt a. M. 1967, S. 30ff., 268ff.; Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft - Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith (Krit. Studien zur Geschichtswiss. 5), Göttingen 1973; sowie (mit einigen notwendigen Modifikationen) Diethelm Kuppel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts (Rechts- u. Staatswiss. Veröffentl. d. Görres-Gesellsch. NF 23), Paderborn 1976, S. 35ff., 40ff., 57ff., 82ff., 97ff. Siehe ferner Siegfried Landshut: Kritik der Soziologie und andere Schriften zur Politik (POLITICA 27), Neuwied a. Rh. u. Berlin 1969, S. 98ff. 35. Otfried Hoffe: Widersprüche im Leviathan: Zum Gelingen und Versagen der Hobbesschen Staatsbegründung, in: ders. (Hrsg.): Thomas Hobbes: Anthropologie und Staatsphilosophie, Freiburg/Schweiz 1981, S. 113 ff. (121). 36. In: Dissertationes Academicae Selectiores, Lund 1675, S. 582ff. (584). 37. Johann Stephan Pütter: Neuer Versuch einer Juristischen Encyclopädie und Methodologie, Göttingen 1767, S. 8 f. Als „Entwurf einer juristischen Encyclopädie und Methodologie" zuerst 1755. 38. Dazu Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht — Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhun-
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Hasso Hofmann dert (Bayer. Akad. d. Wissenschaften - Philos.-hist. Kl. - Abh. - n. F. 70), München 1970, S. lOff., 30ff. Vgl. Thomas Hobbes: De cive, cap. V (Opera philosophica, ed. William Molesworth, Vol. II, London 1839 (2. Nachdr. Aalen 1966), pp. 209ss. und Leviathan, capp. XVII u. XVIII (English Works, ed. William Molesworth, Vol. III, London 1839 (2. Nachdr. Aalen 1966), pp. 153ss. Dazu mit weiteren Nachweisen Hofmann, Repräsentation, S. 382-392, und jetzt Reinhard Brandt: Rechtsverzicht und Herrschaft in Hobbes' Staatsverträgen, Philos. Jahrbuch 87 (1980) S. 41 ff. Siehe auch Manfred Riedel: Zum Verhältnis von Ontologie und politischer Theorie bei Hobbes, in: Hobbes-Forschungen, hrsgg. v. Reinhart Koselleck u. Roman Schnur, Berlin 1969, S. 103 ff. Samuel Pufendorf: De Statu Hominum Naturali, a.a.O. (Fußn. 36); ders.: De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo (1673), lib. II cap. 1 = Photogr. Repr. d. Ausg. Canterbury 1682 i. d. Reihe: The Classics of International Law, ed. James Brown Scott, New York 1927, pp. 98ss.; ders.: De jure naturae et gentium, lib. II, cap. 2, a.a.O. (Fußn. 9) pp. 105 ss. Vgl. dazu Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf (Münchener Studien z. Politik 22), München 1972, S. 99ff. Vgl. vom Verf.: Hugo Grotius, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, hrsgg. v. Michael Stolleis, Frankfurt a. M. 1977, S. 51 ff. (61). Vgl. das 2. Kap. (§§ 4ff.) der zweiten Abhandlung von John Lockes Two Treatises of Government (1690) - zit. nach der Ausg. v. Peter Laslett, Cambridge 1960, S. 287ff.. Siehe dazu Walter Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke, Frankfurt a. M. 1969, S. 192ff.; und neuestens Wolfgang v. Leyden: Locke's Strange Doctrine of Punishment, in: John Locke — Symposium Wolfenbüttel 1979, ed. Reinhard Brandt, Berlin/New York 1981, S. 113ff.; sowie G. A. J. Rogers: Locke, Law and the Laws of Nature, ebd., S. 146 ff. Dazu allgemein Paul Hazard: Die Herrschaft der Vernunft - Das europäische Denken im 18. Jahrhundert, Hamburg 1949, S. 44ff. Über die von Jefferson statt „Eigentum" in die Präambel der Unabhängigkeitserklärung eingesetzte Glücksformel (the pursuit of Happiness) Julian P. Boyd: The Declaration of Independence: The Evolution of the Text, Princeton 1945, S. 5; Ursula M. von Eckhardt: The Pursuit of Happiness in the Democratic Creed, New York 1959, S. 224 ff., 288 ff.; Hannah Arendt: On Revolution, New York 1963, dt. u. d. T.: Über die Revolution, München o. J., S. 162; Stanghton Lynd: Intellectual Origins of American Radicalism, New York 1968, S. 84. „Glück" bedeutete freilich noch nicht einmal bei den „Anakreontikern" bloß privates Wohlbefinden. So schrieb der Ansbacher Dichter-Jurist Johann Peter Uz in seinem Gedicht „Die Glückseligkeit" (1749): „Der ganzen Schöpfung Wohl ist unser erst Gesetze:/ Ich werde glücklich seyn, wenn ich durch keine That/ Dieß allgemeine Wohl verletze,/ Für welches ich die Welt betrat ..." - zit. nach: Sämtliche poetische Werke, hrsgg. v. A. Sauer, Stuttgart 1890, S. 112. „Glückseligkeit" ist vielmehr ein Schlüsselwort des deutschen Rationalismus zur Bezeichnung des Staatszwecks; vgl. dazu mit Hinweisen zur langen, bis Augustin zurückreichenden
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Begriffsgeschichte Ulrich Scheuner: Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie (Rheinisch-Westf. Akad. d. Wiss. — Geisteswiss. — Vorträge. G 248), Opladen 1980, S. 13 mit Anm. 22 und S. 25 mit Anm. 56. Zur philosophischen Frage nach dem Glück Günther Bien (Hrsg.): Die Frage nach dem Glück (problemata 74), Stuttgart-Bad Cannstatt 1978. So aber Wilfried Röhrich: Sozialvertrag und bürgerliche Emanzipation von Hobbes bis Hegel. - Unter Mitwirkung v. Siegfried Wollseiffen (Erträge d. Forsch. 13), Darmstadt 1972, S. 33. All men are by nature equally free and independent and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot by any compact deprive or divest their posterity; namely the enjoyment of life and liberty, which the means of acquiring and possessing property and pursuing and obtaining happiness and safety. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. l, Berlin 1970, S. 347ff. (369). Diese Kritik ist heute Angelpunkt der von Macpherson (Fußn. 34) inaugurierten Hobbes-Interpretation. Vgl. den l. Diskurs von 1750 sur les sciences et les arts und den 2. Diskurs von 1757. Discours sur l'origine et les fondemen(t)s de I'inegalite parmi les hommes, sowie den Contrat social von 1762. Siehe hierzu und zum folgenden aus der neueren Rousseau-Literatur Robert Spaemann: Natürliche Existenz und politische Existenz bei Rousseau, Festschr. f. J. Ritter, Basel/ Stuttgart 1965, S. 373ff.; ders.: Von der Polis zur Natur - Die Kontroverse um Rousseaus ersten Discours, Dt. Vierteljahresschr. f. Literaturwiss. u. Geistesgeschichte 4 (1973) S. 581 ff.; Friedrich Müller: Entfremdung - Zur anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel, Marx (Schriften z. Rechtstheorie 22), Berlin 1970; Reinhard Brandt: Rousseaus Philosophie der Gesellschaft (problemata 16), Stuttgart-Bad Cannstatt 1973; Maximilian Forschner: Rousseau, Freiburg/München 1977, S. 185ff.; speziell zum Emile Martin Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959. Siehe dazu Robert Spaemann: Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts, Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967) S. 59ff. (63ff.); Günther Bien: Zum Thema des Naturstands im 17. und 18. Jahrhundert, Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971) S. 275 ff. Vgl. vom Verf.: Legitimität und Rechtsgeltung (Schriften z. Rechtstheorie 64), Berlin 1977, S. 20 f. Metaphysik der Sitten, § 44 der Rechtslehre - zit. nach der Ausg. v. Karl Vorländer (Philosoph. Bibliothek 42), Hamburg 1959, S. 134. Hierzu einige Hinweise in meiner Arbeit über Repräsentation, S. 411 ff. Metaphysik der Sitten, § 41 der Rechtslehre (a.a.O. S. 127f.); vgl. dazu ebd. § 44 (a. a. O. S. 135). - Zum Verhältnis von Naturzustand und bürgerlichem Zustand bei Kant Gerhard Dulckeit: Naturrecht und positives Recht bei Kant (Abh. d. Rechts- u. Staatswiss. Fak. d. Univ. Göttingen 14), Leipzig 1932, S. 34ff.; Christian Ritter: Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen (Jurist. Abh. X), Frankfurt a. M. 197i, S. 136 ff.
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55. Über Herkunft und Entwicklung dieses begrifflichen Gegensatzes vgl. v. a. Martin Bullinger: öffentliches Recht und Privatrecht (res publica 17), Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968. 56. Metaphysik der Sitten, §9 der Rechtslehre (a.a.O. S. 65ff.). 57. Vgl. Jürgen von Kempski: Grundlegung zu einer Strukturtheorie des Rechts (Akad. d. Wiss. u. d. Lit.-Abh. d. geistes- u. sozialwiss. Kl. Jg. 1961, Nr. 2), Wiesbaden 1961;ders.: Recht und Politik - Studien zur Einheit der Sozialwissenschaften, Stuttgart 1965, S. 12f., 36ff., 48ff. 58. Metaphysik der Sitten, § 41 der Rechtslehre (a.a.O. S. 127f.). Vgl. dazu Chr. Ritter, Der Rechtsgedanke Kants, S. 181 f. 59. Metaphysik der Sitten, §44 der Rechtslehre (a.a.O. S. 135). Gegen die „besitzindividualistische" Interpretation des öffentlichen Rechts als bloß formaler Garantie des status quo durch Richard Saage (Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973) mit Recht Gerhard Luf: Freiheit und Gleichheit - Die Aktualität im politischen Denken Kants (Forsch, aus Staat u. Recht 42), Wien/New York 1978, S. 115 ff. 60. Vgl. Hans von Voltelini: Die naturrechtlichen Lehren und die Reformen des 18. Jahrhunderts, Histor. Zeitschr. 105 (1910) S. 65ff.; Ernst Swoboda: Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants — Eine Untersuchung der philosophischen Grundlagen des österreichischen bürgerlichen Rechts, ihrer Auswirkung im einzelnen und ihrer Bedeutung für die Rechtsentwicklung Mitteleuropas, Graz 1926; ders.: Die philosophischen Grundlagen des österreichischen bürgerlichen Rechts und ihre Bedeutung für die Gegenwart, Zeitschr. f. Ausland, u. International. Privatrecht, 2 (1928) S. 333ff.; Hans Thieme: Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte (Jurist. Fak. Univ. Basel - Inst. f. internal. Recht u. internal. Bez. - 6), 2. Aufl., Basel 1954, S. 17 ff.; Franz Wieacker: Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodifikationsidee, Festschr. f. Gustav Boehmer, Bonn 1954, S. 34—50; ders.: Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (Schriftenreihe d. Jurist. Studiengesellsch. Karlsruhe 3), Karlsruhe 1953; ders.: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 322ff.; Hermann Conrad: Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 (Arbeitsgemeinschaft f. Forsch. NW-Geisteswiss. Abt. 77), Köln u. Opladen 1958, S. 9ff.; ders.: Rechtsslaalliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts (Arbeitsgem. f. Forsch, d. Landes NW Geisteswiss. - 95), Köln u. Opladen 1961, S. 12ff.; ders.: Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates (Schriftenreihe d. Jurist. Gesellsch. Berlin 22), Berlin 1965, S. 6ff., 15, 21 ff.; Bullinger, öffentliches Recht und Privatrecht, S. 37ff.; Gerd Kleinheyer: Einführung, in: Preußisches Allgemeines Landrecht, hrsgg. v. E. Pappermann, Paderborn 1972, S. 15-27 (21 ff.); Ulrich Scheuner: Gesetzgebung und Politik, Gedächtnisschrift f. Rene Marcic, 2. Bd., Berlin 1974, S. 889ff. (896f., 899); Hans Schlosser: Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, Heidelberg/Karlsruhe 1979, S. 49ff.
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61. Über Zeiller, das AGBGB und den Einfluß Kants zuerst Roderich Stintzing/Ernst Landsberg: Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, III. Abt. 1. Halbbd., München u. Leipzig 1898 (Nachdr. Aalen 1957), S. 524ff. Vgl. ferner Ernst Swoboda: Franz von Zeiller, der große Pfadfinder der Kultur auf dem Gebiete des Rechts, und die Bedeutung seines Lebenswerkes für die Gegenwart, Graz/Wien/Leipzig 1931, sowie die in Fußn. 60 genannten anderen Arbeiten Swobodas. Vgl. jetzt Walter Selb u. Herbert Hofmeister (Hrsg.): Forschungsband Franz von Zeiller (1751-1828) Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte, Wien/Graz/ Köln 1980. 62. Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 275 f. 63. Vgl. Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft) (POLITICA 13), Neuwied a. Rh. u. Berlin 1966, S. 189f., und jetzt Dieter Grimm: Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem und privatem Recht in Deutschland, in: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, hrsgg. v. Walter Wilhelm, Frankfurt a. M. 1972, S. 224ff.; ders.: Das Verhältnis von politischer und privater Freiheit bei Zeiller, in: Forschungsband Franz von Zeiller (Fußn. 61), S. 94ff. 64. Vgl. die Nachweise in Fußn. 60. 65. Vgl. dazu Ulrich Matz: Politik und Gewalt — Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaats und der Revolution, Freiburg/München 1975, S. 167ff., 189ff. 66. A.a.O. S. 36. Über die Identität von Recht und Zwangsbefugnis bei Kant neuestens Volker Gerhardt: Recht und Herrschaft — Zur gesellschaftlichen Funktion des Rechts bei Kant, Rechtstheorie 12 (1981) S. 53ff. (73ff.). Zu der damit aufgeworfenen Frage nach der sittlichen Grundlage auch der bloßen Legalität Luf, Freiheit und Gleichheit (Fußn. 59), S. 54 ff. Siehe in diesem Zusammenhang schließlich Friedrich Kaulbach: Der Herrschaftsanspruch der Vernunft in Recht und Moral bei Kant, Kant-Studien 67 (1976) S. 390ff. 67. Vgl. Jellinek, Adam in der Staatslehre, S. 3 ff. 68. Metaphysik der Sitten: §46 der Rechtslehre (a.a.O. S. 136). 69. Der Streit der Fakultäten (1798), 2. Abschn., Nr. 8 = Akademie-Ausgabe Bd. VII, S. 90f.: „Die Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt bei allen Staatsformen zum Grunde, und das gemeine Wesen, welches, ihr gemäß durch reine Vernunftbegriffe gedacht, ein platonisches Ideal heißt (res publica noumenon), ist nicht ein leeres Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt und entfernet allen Krieg." 70. Julius Ebbinghaus: Das Kantische System der Rechte des Menschen und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung, in: ders.: Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, S. 161 ff. (175). 71. Metaphysik der Sitten: Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins (A) nach § 49 sowie § 52 der Rechtslehre (a.a.O. S. 142, 168f.).
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72. Aus den Vorarbeiten zu Zum Ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe Bd. XXIII, S. 153ff. (160). Vgl. auch Nrn. 7734 u. 7957 der Reflexionen zur Rechtsphilosophie, Akademie-Ausgabe Bd. XIX, S. 503 u. 564. 73. Vgl. die Vorlesungsnachschrift der Metaphysik der Sitten (Vigilantius) Akademie-Ausgabe Bd. XXVII, S. 515. — Siehe auch die 2. Anm. im Ersten Abschn. der Schrift zum Ewigen Frieden, a.a.O. S. 123, ferner Nr. 7735 der Reflexionen zur Rechtsphilosophie, Akademie-Ausgabe Bd. XIX, S. 503, sowie aus den Vorarbeiten zu Zum Ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe Bd. XXIII, S. 153 ff. (l56ff.). - Vgl. dazu Metaphysik der Sitten, § 2 der Rechtslehre a. E. (a.a.O. S. 53). Anders übrigens noch in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793) - Akademie-Ausgabe Bd. VI, S. Iff. (97) —, wo im Anschluß an Hobbes auch bezüglich des „juridischen" (und nicht nur des „ethischen") Naturzustandes ein unbedingter Imperativ, aus ihm herauszugehen, behauptet wird („aus welchem der Mensch herausgehen soll, um in einen politisch-bürgerlichen zu treten") und nicht nur ein hypothetischer, sich nicht zu widersetzen, wenn einer einen politisch-bürgerlichen Zustand herzustellen unternimmt. Vgl. zu diesem Komplex auch den Beitrag von Reinhard Brandt in diesem Band. 74. Metaphysik der Sitten: § 52 der Rechtslehre (a.a.O. S. 169f.): „. .. der Geist jenes ursprünglichen Vertrages . . . enthält die Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt, die Regierungsart jener Idee angemessen zu machen und so sie, wenn es nicht auf einmal geschehen kann, allmählich und kontinuierlich dahin zu verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der einer reinen Republik, ihrer Wirkung nach zusammenstimme, und jene alten empirischen (statutarischen) Formen, welche bloß die Untertänigkeit des Volks zu bewirken dienten, sich in die ursprünglichen (rationalen) auflösen, welche allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht, der zu einer rechtlichen Verfassung, im eigentlichen Sinne des Staats, erforderlich ist und dahin auch dem Buchstaben nach endlich führen wird." Vgl. ferner den Ersten Definitivartikel zum ewigen Frieden, zit. nach: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik (Philosoph. Bibliothek 47 I), hrsgg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1959, S. 126 ff. - Vgl. dazu Eckart v. Sydow: Der Gedanke des Ideal-Reichs in der idealistischen Philosophie von Kant bis Hegel im Zusammenhange der geschichtsphilosophischen Entwicklung, Leipzig 1914, S. 21 ff.; Alexander Gurwitsch: Das Revolutionsproblem in der deutschen Staatswissenschaftlichen Literatur, insbesondere des 19. Jahrhunderts, Berlin 1935, S. 15ff.; Kant/Gentz/Rehberg - Über Theorie und Praxis, Einl. v. Dieter Henrich, Frankfurt a. M. 1967, S. 7ff. (25ff.); Iring Fetscher: Immanuel Kants bürgerlicher Reformismus, Festschr. f. C. J. Friedrich, Haag 1971, S. 70ff.; ders.: Immanuel Kant und die Französische Revolution, in: Immanuel Kant 1724/1974, hrsgg. v. Eduard Gerresheim, Bonn/Bad Godesberg 1974, S. 27ff.; Günther Bien: Revolution, Bürgerbegriff und Freiheit — über die neuzeitliche Transformation der europäischen Verfassungstheorie in politische Geschichtsphilosophie, Philosoph. Jb. 79 (1972) S. Iff.; Walter Euchner: Kant als Philosoph des politischen Fortschritts, in: Immanuel Kant 1724/1974, a.a.O., S. 17ff.
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75. Vgl. Metaphysik der Sitten: Allg. Anm. (A) nach § 49 und § 52 der Rechtslehre (a.a.O. S. 142f., 146, 169) sowie den Beschluß des Anhanges zur Rechtslehre (a.a.O. S. 205ff.), ferner Reflexionen zur Rechtsphilosophie Nrn. 7762, 7846,7847, 7992, 8045, aber auch Nr. 8046 (Akademie-Ausgabe Bd. XIX, S. 509, 533f., 575, 591). Vgl. dazu Werner Haensel: Kants Lehre vom Widerstandsrecht - Ein Beitrag zur Systematik der Kantischen Rechtsphilosophie (Kant-Studien-Ergänzungsheft 60), Berlin 1926; Dulkkeit, Naturrecht und positives Recht bei Kant, S. 53 ff.; Ritter, Der Rechtsgedanke Kants, S. 304ff.; Robert Spaemann: Moral und Gewalt, in: Rehabilitierung der praktischen Philosophie, hrsgg. v. Manfred Riedel, Bd. I, Freiburg i. Br. 1972, S. 215 ff. (222 ff.); Peter Burg: Kant und die Französische Revolution (Hist. Forsch. 7), Berlin 1974, S. 195ff.; Hella Mandt: Tyrannislehre und Widerstandsrecht — Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts (POLITICA 36), Darmstadt u. Neuwied 1974, S. 145ff.; Luf, Freiheit und Gleichheit, S. 178ff; Werner Busch: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants 1762—1780 (Kantstudien - Ergänzungshefte 110), Berlin/New York 1979, S. 122ff. - Zum Widerstandsrecht bei Hobbes vgl. vom Verf.: Bemerkungen zur Hobbes-Interpretation, AöR 91 (1966) S. 122 ff. 76. Zu dieser liberal-rechtsstaatlichen Perspektive der Staatsphilosophie des „Leviathan" Ferdinand Tönnies: Thomas Hobbes — Leben und Lehre, Stuttgart-Bad Canstatt 1971 (Neudr. d. 3. Aufl. Stuttgart 1925, hrsgg. v. Karl Heinz Ilting), S. 222ff., 257; Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 188; ders.: Hobbes' politische Wissenschaft (POLITICA 21), Neuwied a. Rh. u. Berlin 1965, S. 168; Michael Oakeshots Einleitung zu seiner Leviathan-Ausgabe, Oxford 1947 (u. ö.), S. L VI ff.; Christian Graf von Krockow: Soziologie des Friedens, Gütersloh 1962, 1. Teil; Habermas, Die klassische Lehre von der Politik, a.a.O. (Fußn. 33), S. 32ff. (38); Iring Fetschers Einleitung zu der von ihm hrsgg. Leviathan-Übers. (POLITICA 22), Neuwied u. Berlin 1966, S. XXXIIff.; Hans Ryffel: Rechts- und Staatsphilosophie — Philosophische Anthropologie des Politischen, Neuwied u. Berlin 1969, S. 232; neuestens Konrad Cramer: Naturzustand und Vernunft, in: Thomas Hobbes: Anthropologie und Staatsphilosophie (Fußn. 35), S. 39ff. (61 ff.); und Hoffe ebd. S. 133ff. 77. Hobbes, Leviathan, Cap. XXVI = Opera philosophica ed. William Molesworth, Vol. III, London 1841 (2. Nachdr. Aalen 1966), p. 202. 78. Vgl. Hofmann, Grotius, a.a.O. (Fußn. 42) S. 75. 79. Max Weber: Politik als Beruf, 3. Aufl., Berlin 1958, S. 8 = Staatssoziologie, hrsgg. v. Johannes Winckelmann, Berlin 1956, S. 27 = Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., besorgt v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1972, S. 822. 80. Friedrich Jonas: Sozialphilosophie der Industriellen Arbeitswelt, Stuttgart 1960, S. 69 f. 81. Vgl. die Nachweise in Fußn. 16. 82. Hobbes, Leviathan, Cap. XXVI (a.a.O. S. 196) u. Cap. XXV (a.a.O. S. 190).
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83. De Republica libri sex, lib. I, cap. 8 — in der von Peter Cornelius MayerTasch besorgten Ausg. der dt. Übers, v. Bernd Wimmer S. 234. Vgl. dazu Betrand de Jouvenel: Über Souveränität — Auf der Suche nach dem Gemeinwohl (POLITICA 9), Neuwied u. Berlin 1963, S. 227f.; Helmut Quaritsch: Staat und Souveränität, Bd. l, Frankfurt/M. 1970, S. 255f.; Rolf Grawert: Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesrechts, Der Staat 11 (1972) S. Iff.; Scheuner, Gesetzgebung und Politik, a.a.O. (Fußn. 60) S. 889, 893 ff. 84. Jean Bodin: Methodus, ad facilem historiarum cognitionem, Paris 1566, Cap. VII: Confutatio eorum qui quattuor monarchies aureaque secula statuunt - S. 346ff. (356). 85. So ließ es die berühmte Abhandlung von Fritz Kern: Recht und Verfassung im Mittelalter (Hist. Zeitschr. 120 [1919] S. Iff.; Neudr. in 2. Aufl. Darmstadt 1958) erscheinen. Vgl. auch Alexander Passerin d'Entreves: The Notion of the State, Oxford 1967, S. 82ff. Zur Entwicklung dieser Vorstellung Gerhard Köbler: Das Recht im frühen Mittelalter — Untersuchungen zu Herkunft und Inhalt frühmittelalterlicher Rechtsbegriffe im deutschen Sprachgebiet (Forsch, z. deutsch. Rechtsgesch. 7), Köln/Wien 1971, S. 12ff. 86. Vgl. Hans Martin Klinkenberg: Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechtes im frühen und hohen Mittelalter (in: Lex et sacramentum im Mittelalter, hrsgg. v. Paul Wilpert [Miscellanea Mediaevalia 6], Berlin 1969, S. 157-188; Köbler a. a. O. [Fußn. 85] S. 195 ff.), anknüpfend an Karl Kroeschell: Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts - Reichenau-Vorträge 1965-1967 (Vortr. u. Forsch. XII), Konstanz/Stuttgart 1968, S. 309 ff. 87. Hierzu Max Jörg Odenheimer: Der christlich-kirchliche Anteil an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur und an der Entstehung der Vorherrschaft des staatlich gesetzten Rechts im deutschen und französischen Rechtsgebiet (Basler Studien z. Rechtswiss. 46), Basel 1957; Sten Gagner: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Acta Universitatis Upsaliensis - Studia luridica Upsaliensia 1), Stockholm/Uppsala/Göteborg 1960; Winfried Trusen: Gutes altes Recht und consuetude - Aus den Anfängen der Rechtsquellenlehre im Mittelalter, Festschr. f. Günther Küchenhoff, 1. Bd., Berlin 1972, S. 189ff. (193f.); Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 26f. 88. Den theoretischen Wendepunkt sieht der Verf. in der Theorie von Repräsentation und („vagem") Konsens bei Nikolaus von Cues; vgl. Repräsentation, S. 286-331. 89. Vgl. die Kapitel 17 u. 18 von Hobbes' Leviathan (a.a.O. S. 127ff. u. 132ff. [135]) und dazu Hofmann, Repräsentation, S. 382ff. 90. Zur bürgerlichen Freiheit als Residuum der libertas naturalis in der vorkantischen deutschen Naturrechtslehre Kuppel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 59ff.; siehe auch Christoph Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit — Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, Wien/Köln/Graz 1979, S. 147f., 152ff.
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91. Vgl. Hans Maier: Die Grundrechte des Menschen im modernen Staat, 2. Aufl., Osnabrück 1974, S. lOff. 92. Vgl. dazu im einzelnen Hanns-Martin Bachmann: Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs (Schriften z. Verfassungsgesch. 27), Berlin 1977, S. 96ff. 93. Von den ursprünglichen theoretischen Grundlagen in der Rechtsphilosophie der Aufklärung her stellt Luf (s. Fußn. 59) die heute in Staatsrecht und Staatslehre gängige schlichte Entgegensetzung von Freiheit und Gleichheit mit Recht in Frage. 94. Dazu und über die einschlägigen literarischen Kontroversen Kuppel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 72ff. 95. Vgl. die Präambel der Verfassung von 1791: L'Assemblee national, voulant etablir la Constitution fransaise sur les principes, qu'elle vient de reconnaitre et de declarer . .. 96. Vgl. dazu die Zeugnisse der klassischen Kontroverse zwischen Georg Jellinek und Emile Boutmy bei Roman Schnur: Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte (Wege der Forsch. XI), Darmstadt 1964, sowie zuletzt Sigmar-Jürgen Samwer: Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/91 (Veröffentl. d. Inst. f. Internat. Recht an d. Univ. Kiel 63), Hamburg 1970; Jürgen Sandweg: Rationales Naturrecht und revolutionäre Praxis (Hist. Forsch. 6), Berlin 1972; und Willi Paul Adams: Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit — Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen Revolution (POLITICA 37), Darmstadt u. Neuwied 1973, S. 132ff. 97. Vgl. Egon Zweig: Die Lehre vom Pouvoir Constituant — Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, Tübingen 1909, S. 244f., 250f.; Alfred Voigt: Geschichte der Grundrechte, Stuttgart 1948, S. 28ff.; Walter Leisner: Grundrechte und Privatrecht (Münchener öffentl.-rechtl. Abh. 1), München 1960, S. 22ff.; Arendt, Über die Revolution, bes. S. 183ff.; Habermas, Naturrecht und Revolution, a.a.O. (Fußn. 33) S. 57ff., 72ff. 98. Vgl. Karl Löwith: Menschenrechte und Bürgerrechte bei Rousseau, Hegel und Marx, Festschr. f. Joseph E. Drexel, München 1966, S. 13 ff. 99. Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht, in: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik (Fußn. 74), S. 86ff. (87). Im Sinne solcher Differenzierung sozialer Rollen kann Marx in der Judenfrage (a.a.O. - Fußn. 47 - S. 362ff.) daher dann von den Menschenrechten als den Rechten des „auf sich beschränkten Individuums", des egoistischen bourgeoisen Privateigentümers im Gegensatz zu den Rechten des wahren, im Gemeinwesen aufgehenden citoyen sprechen. 100. Vgl. Art. 2 S. l (le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de Fhomme) und Art. 16: Toute societe, dans laquelle la garantie des droits n'est pas assuree, ni la separation des povoirs determinee, n'a point de constitution. Insofern ist die These, in der revolutionären Theorie Frankreichs werde zwischen Menschen- und Bürgerrechten nicht prinzipiell unterschieden (Habermas, Naturrecht und Re-
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volution, a.a.O. - Fußn. 33 - S. 72ff., 81, 84) nicht falsch, wenn auch etwas mißverständlich. 101. Derselbe Schritt geschieht in Deutschland bei den altliberalen Vernunftrechtstheoretikern, welche unter dem Eindruck der kantischen Philosophie menschlicher Personhaftigkeit den vorstaatlichen Naturzustand nicht mehr als einen vorpolitischen im Sinne der Asozialität zu denken bereit sind. Vgl. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, S. 114ff. In der „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre" reflektiert Fichte das Problem 1796 so (§ 8): „Es gibt keinen Stand der Urrechte, und keine Urrechte des Menschen. Wirklich hat er nur in der Gemeinschaft mit anderen Rechte, wie er denn, nach den obigen höheren Prinzipien, überhaupt nur in der Gemeinschaft mit anderen gedacht werden kann. Ein Urrecht ist daher eine bloße Fiktion, aber sie muß, zum Behuf der Wissenschaft, notwendig gemacht werden." Und sie wird gemacht „durch die bloße Analyse des Begriffes der Persönlichkeit" (ebd. § 8 I). — Hier und nicht in der älteren naturrechtlichen Tradition wurzelt dann auch jene Grundrechtsdogmatik, welche unter Menschenrecht den dem Staat vorgegebenen, von ihm nicht geschaffenen, sondern nur anerkannten und um der Würde des Menschen (eben seiner Personhaftigkeit) willen unantastbaren Kerngehalt aller Grundrechte sieht: vgl. Günter Dürig in Maunz/Dürig: Kommentar zum Grundgesetz, München Stand 1980, Rdnrn. 73-81 zu Art. l Abs. 2.
WOLFGANG H. SCHRADER Rechtsbegründung bei Hume Im „Brief eines Edelmannes an seinen Freund" (1745) bestimmt Hume den Standort seiner moral philosophy: Er bestreite, schreibt er dort, die These der rationalistischen Ethiker Clarke und Wollaston, daß die Sätze der Moral von derselben Art seien wie die der Mathematik und der abstrakten Wissenschaften; dagegen stimme er überein „mit den antiken Moralisten wie auch mit Mr. Hutcheson", da für sie moralische Unterscheidungen eine „Sache des Gefühls, der inneren Neigungen und des Taktes" seien1. Allerdings habe Hutcheson die Tugenden „zu sehr auf Instinkt und so wenig auf Vernunft und Reflexion gegründet" und übersehen, daß „ein bedeutender Zweig moralischer Pflichten" reason und reflexion zur Voraussetzung habe2. Die Folge davon sei, daß Hutcheson zwar die Gegebenheit „natürlicher Tugenden" (z. B. Wohlwollen, Großmut), nicht aber die der „künstlichen Tugenden" (Gerechtigkeit, Gesetzestreue) hinreichend zu erklären vermag3. Der Unterscheidung zwischen natürlichen und künstlichen Tugenden entspricht die Unterscheidung zwischen den philosophischen Disziplinen Ethik und Rechtstheorie4. Beide Disziplinen werden im dritten Buch des „Treatise of Human Nature", auf den sich die nachfolgenden Ausführungen stützen, klar voneinander getrennt und als in sich gesonderte Teilbereiche der moral philosophy dargestellt. Zugleich jedoch sind Ethik und Rechtstheorie aufeinander bezogen. Denn nicht nur die natürlichen Tugenden, auch justice und die mit ihr zusammenhängenden Tugenden werden von Hume von einem moral point of view aus betrachtet und folglich als Gegenstände moralischer Billigung angesehen: „Tho' justice be artificial, the sense of its morality is natural" (T 619)5.
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Zufolge dieser Überlegungen zeichnen sich drei Themenkreise ab, die im Rahmen einer Untersuchung zur Rechtsbegründung bei Hume zu erörtern sind: Das Verhältnis von natürlichen und künstlichen Tugenden ist zu bestimmen, der Ursprung der künstlichen Tugenden aufzuzeigen, und es sind die Gründe zu benennen, die uns zu einer moralischen Beurteilung von justice bzw. den zu entwickelnden rules of justice veranlassen. Die Ausführungen werden ergänzt durch Hinweise auf Überlegungen Hutchesons und Mandevilles. Durch den Rekurs auf Hutchesons Werk soll der spezifische Charakter der rechtsphilosophischen Position Humes verdeutlicht werden, während die Erinnerung an Mandevilles „Bienenfabel" dazu dient, auf Voraussetzungen der neuen, konventionalistischen Begründung von justice im „Treatise" aufmerksam zu machen. I.
Tugendhaft können nach Hume nur solche Handlungen genannt werden, die durch ein tugendhaftes Motiv veranlaßt werden (T 478 f.), und Tugend selbst ist nichts anderes als die charakterliche Disposition (Haltung), nur moralisch billigenswerte Motive als handlungsbestimmende Ursachen wirksam werden zu lassen. „Natürlich" sind solche Tugenden, bei denen das Gute, das durch sie hervorgebracht wird, „arises from every single act, and is the object of some natural passion" (T 579). Tugenden dagegen, denen kein natürliches Motiv (natural passion) entspricht, sind für Hume „künstliche" Tugenden (vgl. T 483). Die Unterscheidung zwischen künstlichen und natürlichen Tugenden gründet sich also auf die differente Motivationslage und nicht darauf, daß sie auf unterschiedliche Weise moralisch gebilligt werden. Sowohl für die natürlichen als auch für die künstlichen Tugenden gilt, daß ihre Billigung „eine Sache des Gefühls, der inneren Neigungen und des Taktes" ist6. Der oben genannte Einwand Humes, Hutcheson habe die Tugenden „zu sehr auf Instinkt und so wenig auf Vernunft und Reflexion gegründet"7, muß deshalb als Kritik an dessen Lehre von den Motiven tugendhaften Handelns verstanden werden.
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Tatsächlich hatte Hutcheson8 die Motive tugendhaften Handelns auf eines zurückgeführt, auf „some Affection toward rational Agents" oder benevolence9. Benevolence aber, so Hume, kann keinesfalls als natürliches Motiv gerechten bzw. gesetzestreuen Handelns angesehen werden. Denn benevolence in der Bedeutung von Allgemeine Menschenliebe' ist eine bloße Fiktion und, — da „all actions have particular causes" (T 412) —, als Motivationsprinzip schlechthin untauglich. Versteht man dagegen unter benevolence jenes begrenzte Wohlwollen, das wir Freunden und Bekannten entgegenbringen, dann ist es als „natural instinct" zwar ein mögliches Motiv unseres Handelns. Aber da es uns zu Handlungen verleiten kann, die unter rechtlichem Gesichtspunkt zu mißbilligen sind (z. B. zur Befreiung eines Freundes, der rechtmäßig verurteilt wurde), scheidet es als natürliches Motiv gerechten bzw. gesetzestreuen Handelns aus. Ebensowenig wie benevolence eignen sich nach Hume Privatinteresse und die Sorge um den guten Ruf oder, um einen weiteren Motivtyp zu nennen, die Rücksicht auf das öffentliche Wohl als Motive rechtlichen Handelns (vgl. T 479ff.). Da nur diese drei Motivtypen als Ursachen eines Handelns gemäß (den rules of) justice gedacht werden können, folgert Hume, daß justice und die mit ihr zusammenhängenden Tugenden „produce pleasure and approbation by means of an artifice or contrivance, which arises from the circumstances and necessity of mankind" (T 477). Die Rechtsregeln (rules of justice), in denen das, was justice heißt, konkret wird, sind zwar künstliche, aber keine willkürlichen Regeln. Denn sie sollen moralisch billigenswert sein und, da unser moralisches Gefühl „always follows the common and natural course of the passions" T 484), muß die Explikation dieser Regeln bezogen sein auf die natürliche Affektdisposition des Menschen. Deshalb sei, — wie Hume anmerkt —, die traditionelle Bezeichnung der rules of justice als Naturgesetze (Laws of Nature) nicht unpassend (improper), „if by natural we understand what is common to any species" (T 484). Aber im Unterschied zur rechtsphilosophischen Tradition (Hobbes, Locke) wird die Begründung und Rechtfertigung jener Gesetze von Hume nicht im Rückgriff auf den Gedanken eines Naturrechts und durch eine
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vertragstheoretischeKonstruktion geleistet, sondern sie werden als das Resultat naturwüchsiger Prozesse der Vergesellschaftung der Menschen vorgestellt. In einer knappen Skizze sollen umrißhaft die Ausführungen Humes über den Ursprung von justice vorgestellt werden. Die menschliche Natur zeichnet sich nach Hume aus durch die unnatürliche Verbindung von Schwäche und Bedürftigkeit (infirmity, necessity; T 484f.). Abhilfe schafft allein die Vergesellschaftung der Menschen: sie bewirkt durch Vermehrung der Kräfte eine Steigerung der Leistungsfähigkeit, fördert auf Grund von Arbeitsteilung die Geschicklichkeit der einzelnen und schafft durch wechselseitigen Beistand der Mitglieder der Gesellschaft ein höheres Maß an Sicherheit. Allerdings ist nicht die Einsicht in den Nutzen gesellschaftlichen Lebens das Motiv der Gesellschaftsgründung, da der unkultivierte Mensch über eine zureichende Reflexionsfähigkeit nicht verfügt. Prinzip der Gesellschaftsbildung ist vielmehr der natural appetite zwischen den Geschlechtern. Der Zusammenhalt zwischen Eltern und Kindern schließlich führt zu einer zahlenmäßigen Ausweitung der Kerngesellschaft; die sich im Familienverband entwickelnde Sitte und die Gewohnheit des Zusammenlebens stärken die Verbindung. Gefährdet ist sie jedoch durch zwei Faktoren: durch Selbstliebe und Knappheit der Güter. Selbstliebe, die sich unmittelbar als Begierde nach Besitz äußert, ist „directly destructive of society" (T 492). Und Knappheit der Güter, verbunden mit der Unsicherheit des Besitzes, destabilisiert die bestehende Ordnung. Andererseits macht das Leben in der Gesellschaft (also zunächst im Familienverband) fähig zur Einsicht10 in die Vorteile gesellschaftlichen Lebens. Das dadurch entstehende allgemeine Bewußtsein eines gemeinsamen Interesses und die wechselseitige Kundgabe dieses Interesses bewirken ein ihm entsprechendes Verhalten der Akteure. Wechselseitige Einschränkung der Begierden ist die Folge, so daß „the actions of each of us have a reference to those of the other, and are perform'd upon the supposition, that something is to be perform'd on the other part" (T 490). Diesen Vorgang, durch Koordination der Interessen Kooperation zu ermöglichen, nennt Hume convention: „This
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convention . . . induces them (the members of the society) to regulate their conduct by certain rules. . . . After this convention . . . there immediately arise the ideas of justice and injustice; also those of property, right, and obligation" (T490f.). Das Zustandekommen einer solchen Übereinkunft ist allerdings an zwei Voraussetzungen gebunden: 1) Das Interesse an geregelter Kooperation wird nur dann entstehen können, wenn weder „extreme abundance" noch „extreme necessity" herrschen (vgl. T 493f.); in beiden Fällen wären Verteilungsregeln (rules of justice) sinnlos. 2) Die Kooperierenden dürfen sich weder durch „perfect moderation and humanity" noch durch „perfect rapaciousness and malice" auszeichnen; im ersten Fall bedürfte es keiner Regeln der Kooperation, im zweiten Fall wäre Kooperation unmöglich. Statt dessen sind als wesentliche Charaktereigenschaften „selfishness and limited generosity" (T 494) erforderlich, da nur das Interesse an den Vorteilen gemeinsamen Handelns und die Bereitschaft, das eigene Begehren einzuschränken, zur Übereinkunft führen11. II.
Obwohl Hume die eigene rechtsphilosophische Position von der Hutchesons scharf abgrenzt, ist die von ihm entwickelte Theorie der Übereinkunft in nuce bereits in Hutchesons Erstlingsschrift „An Inquiry concerning Moral Good and Evil" (1725) enthalten. Im siebten Abschnitt, der „Deduction of some complex Moral Ideas, viz. of Obligation, and Right"12, führt Hutcheson im Zusammenhang einer Untersuchung „of some more important Rights of Mankind" aus: „when once Men become so numerous, that the natural Product of the Earth is not sufficient for their Support, or Ease, or innocent Pleasure; a necessity arises, for the support of the increasing System, that such a Tenour of Conduct be obser'd, as shall most effectually promote Industry; and that Men abstain from all Actions which would have the contrary effect"13. Damit sind zwar nicht alle, wohl aber wesentliche Voraussetzungen für eine Übereinkunft genannt: Das wechselseitige Interesse an Kooperation zur Förderung des Gewerbes;
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das diesem Interesse entsprechende Verhalten der Akteure; das Absehen von Handlungen, die dem gemeinsamen Ziel abträglich sind; Knappheit der Güter, durch die Kooperation notwendig wird. Zudem erklärt auch Hutcheson, general Benevolence allein sei kein hinreichend starkes Motiv, „to bear Labour and Toil, and many other Difficulties which we averse to from Self-love"14. Deshalb müssen alle „Motives to Industry" gestärkt werden, „even of external Interest. Self-love is really as necessary to the Good of the Whole as Benevolence"15. Im Unterschied allerdings zu Hume läßt Hutcheson die rules of justice nicht hervorgehen aus einer Übereinkunft, sondern er erklärt ihr Entstehen funktional, indem er zeigt, daß allein sie ein dauerhaftes Interesse begründen „(in) pursuing industriously that Course which really increases the Good of the Whole"16. Daß das Wohl des Ganzen gefördert werden soll, bedarf keiner weiteren Rechtfertigung, sondern folgt aus unserer natürlichen Verpflichtung zu benevolence1'7. Das aber bedeutet, daß letztlich die Einsetzung von rules of justice durch general benevolence motiviert ist, so daß Humes Kritik an Hutcheson sich in ihrem sachlichen Gehalt als durchaus zutreffend erweist. Da nach Hutcheson den Rights of Mankind das natürliche Motiv benevolence entspricht, muß er — in der Terminologie Humes — von justice als natürlicher, nicht als künstlicher Tugend sprechen. Auf Grund dieser Überlegungen wird zugleich die bei Hume und Hutcheson differente Funktion der Rede von self-love deutlich. Für Hutcheson ist self-love eines der „Motives to Industry", und rules of justice dienen der Stärkung auch dieses Motivs, sofern es sich als moderate Selbstliebe äußert. Denn „every Mortal's acting thus within these Bounds for his own Good, is absolutely necessary for the Good of the Whole; and the Want of such Self-love would be universally pernicious"18. Fur Hume dagegen ist selfishness bzw. self-interest (zusammen mit limited generosity) jene Disposition des Menschen, auf Grund deren zwischen Handelnden eine Übereinkunft und damit die Einsetzung von rules of justice möglich wird. Handeln aus Selbstliebe bedarf nach Hume nicht der Legitimation durch den Nachweis, daß es dem Wohl des Ganzen förderlich sei. Vielmehr entsteht für ihn so etwas wie ein
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Ganzes erst durch Übereinkunft, die selbst auf dem Interesse an den Vorteilen gemeinsamen Handelns beruht. Hier erst wird verständlich, warum die Ausführungen Hutchesons in der „Deduction of some complex Moral Ideas" nicht als eine konventionalistische Begründung der Rights of Mankind im Sinne Humes begriffen werden können, wenngleich die Notwendigkeit jener Rechte aus dem dringenden Interesse an Kooperation erklärt wird. Denn daß rights bzw. rules of justice zu einem ihnen gemäßen Handeln verpflichten, ist nach Hutcheson eine Folge ihrer „Tendency to the public Good"19. Das aber, was „the public natural Happiness of rational Agents" fördert, wird „gut" genannt, und „our moral Sense perceives this Excellence"20. Deshalb ist nach Hutcheson der Ursprung jener Rechte oder Rechtsregeln nicht in einer Übereinkunft zu suchen, sondern: „From this Sense (i. e. moral sense) too we derive our Ideas of Rights"21. Zugleich ist deutlich, daß unsere Verpflichtung, diesen Rechten gemäß zu handeln, eine unmittelbar moralische Verpflichtung ist, der das natürliche Motiv benevolence entspricht. Zufolge dieser Überlegungen müssen wir die zu Beginn dieses Abschnitts getroffene Feststellung, Humes Theorie der Übereinkunft sei in nuce bereits in Hutchesons „Inquiry" vorgezeichnet, relativieren: Zwar beschreibt Hutcheson in dem zitierten Textstück die Voraussetzungen geregelter Kooperation, übersieht aber, daß die interagierenden Akteure von Koordinationsprobleme und nicht nur vor Motivationsprobleme gestellt sind22. Vielmehr geht er davon aus, daß die in diesem Zusammenhang zu thematisierenden Koordinationsprobleme bereits gelöst sind, da „Nature itself will incline us to Benevolence"23. Der Rekurs auf self-love, aber auch die Ableitung der „Rights of Mankind", steht bei Hutcheson ausschließlich im Zusammenhang mit der Lösung von Motivationsproblemen. Hume dagegen faßt die Frage nach den Bedingungen geregelter Kooperation auf als Frage nach der Lösung von Koordinationsproblemen, vor die Akteure mit dem Interesse an den Vorteilen gemeinsamen Handelns gestellt sind. Dabei übernimmt self-interest bei Hume die Funktion, die bei Hutcheson benevolence innehatte: Die Koordination der Interessen wird durch self-interest geleistet. „There is no passion, there-
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fore, capable of controlling the interested affection, but the very affection itself, by an alteration of its direction. Now this alteration must necessarily take place upon the least reflection; since 'tis evident, that the passion is much better satisfy'd by its restraint, than by its liberty" (T492). Daß sich auf Grund dieses Ansatzes Motivationsprobleme als Folgeprobleme geregelten Kooperierens nicht stellen, dürfte evident sein. Indem Hume somit das Problem der Rechtsbegründung als Koordinationsproblem stellt, gewinnt er die ursprüngliche, bei Hutcheson verlorene Dimension rechtsphilosophischen Fragen zurück. Um so überraschender muß es sein, daß er im Kontext seiner Überlegungen zur Rechtsbegründung nicht nur auf traditionelle naturrechtliche Argumente, sondern auch auf eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der naturrechtlichen Tradition (Hobbes, Locke) verzichtet. Der Grund dafür liegt in der konstitutiven Funktion von self-interest für die Begründung von justice bzw. rules of justice. Mit der Annahme, daß „self-interest is the original motive to the establishment of justice" (T 499), wird (zumindest der frühneuzeitliche) Naturrechtsgedanke obsolet. Da dieser Zusammenhang von Hume selbst nicht reflektiert wird und auch aus seinen Ausführungen nicht zu erschließen ist, soll er durch einen kurzen Exkurs zu Mandeville, für den Selbst-liebe das Grundprinzip menschlichen Handelns ist, beleuchtet werden. Zugleich wird der Exkurs überleiten zur Klärung der Frage, warum Hume notwendigerweise behaupten muß, daß ein den Rechtsregeln gemäßes Handeln moralisch billigenswert ist.
III. Handlungen sind nach Mandeville eine Wirkung des Interesses eines Handelnden an der Befriedigung seiner Bedürfnisse. Das Bedürfnis selbst wird funktional interpretiert als Mittel (means), „by which Nature obliges every Creature continually to stir in this Business of Self-Preservation"24. Daß jedes Wesen strebt, sich selbst zu erhalten, ist nach Mandeville ein Naturgesetz (Law of Nature)25. Aber das Selbsterhaltungsstreben ist selbst Ausdruck der ihm zugrundeliegenden Selbstliebe des Streben-
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den: „There is nothing so universally sincere upon Earth, as the Love which all Creatures, that are capable of any, bear to themselves; and as there is no Love but what implies a Care to preserve the thing beloved, so there is nothing more sincere in any Creature than his Will, Whishes, and Endeavours to preserve himself"26. Der Selbstliebe wiederum korrespondiert nach Mandeville ein ursprünglicher, naturhafter Instinkt, den der self-liking nennt und „by which every Individual values itself above its real Worth"27. Diese ursprüngliche Wertschätzung unserer selbst veranlaßt uns zu wünschen, daß „that Part of us, what wishes, should still remain"28; ohne self-liking „all our Hopes are extinct, and we can form no Wishes but for the Dissolution of our Frame"29. Indem Selbsterhaltung als Ausdruck von Selbstliebe bzw. dem ihr korrespondierenden Instinkt self-liking gedacht wird, verändert sich der Stellenwert des Erhaltungsgedankens. Er verliert seinen Rang als anthropologische (Hobbes, Locke) bzw. ontologische (Spinoza) Grundbestimmung30; an seine Stelle tritt der der Selbstliebe bzw. des self-liking. Dieser Vorgang ist unmittelbar folgenreich für die Explikation der Bedingungen gesellschaftlichen Lebens, da er zur Auflösung des Naturrechtsbegriffs führt. Denn sofern Selbsterhaltung als anthropologische bzw. ontologische Grundbestimmung begriffen werden kann, ist davon auszugehen, daß ein Wesen, dessen Naturbestimmtheit darin besteht, sich im Sein zu erhalten, zugleich auch ein Recht auf Erhaltung seiner selbst hat31. Wird jedoch Selbsterhaltung nicht als der wesentliche und letzte Zweck menschlicher Aktivität angesehen, sondern als Ausdruck der ihr zugrundeliegenden Selbstliebe bzw. der Wertschätzung des eigenen Selbst verstanden, dann rechtfertigt der Gedanke der Selbsterhaltung als solcher nicht unmittelbar ein Naturrecht auf Selbsterhaltung. Zwar ließe sich noch von einem natürlichen Recht des Menschen auf Wertschätzung seiner selbst sprechen, aber damit verliert der Rechtsbegriff seine Bedeutung: durch ein Recht auf Selbstliebe wird kein Anspruch begründet, der gegen andere geltend zu machen wäre. Allerdings rekurriert auch Mandeville auf den Gedanken der Selbsterhaltung, wenn er erklärt, daß Menschen, deren Aktivität durch ihr Selbsterhaltungsstreben bestimmt ist, nur unter „the Curb of Go-
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vernment"32 in großer Menge zusammenleben können, und daß die geeignete Organisationsform letztlich der Staat ist. Aber der Erhaltungsgedanke rechtfertigt lediglich die Notwendigkeit von Herrschaft, ohne daß im Rückgang auf ihn einsichtig gemacht werden könnte, wie die Konstitution des Staats als möglich gedacht oder die Legitimation einer bestimmten staatlichen Ordnung geleistet werden kann. Vielmehr stellt sich, weil Selbstliebe das Erhaltungsstreben begründet, die Frage nach der Kompatibilität von Herrschaft und Selbstliebe. Denn „the Curb of Government"33 ist der Wertschätzung des eigenen Selbst abträglich, und der Mensch als „an extraordinary selfish and headstrong, as well as cunning Animal"34 wird sich der Gewalt widersetzen. Die Antwort, die Mandeville hier gibt, ähnelt der Humes: Selbstliebe kann nur durch Selbstliebe verändert werden, so daß Gesetzgeber und Politiker den Glauben erzeugen müssen, es sei vorteilhafter für jeden einzelnen, das allgemeine Wohl als die Privatinteressen im Auge zu haben35. Allerdings ist der Weg, auf dem dieses Ziel erreicht werden soll, ein anderer als bei Hume. Nicht durch convention kommen die Akteure zu geregelter Kooperation, sondern es bedarf externer Akteure (der Gesetzgeber und Politiker), die durch geschickten Einsatz psychologischer Mittel (Schmeichelei) die Privatinteressen umlenken und sie in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen wissen. Eine solche letztlich wenig überzeugende Lösung des gestellten Problems kann Hume von vornherein durch die intuitiv plausible Zusatzannahme ausschließen, die menschliche Natur zeichne sich aus sowohl durch selfishness als auch limited generosity. Auf Grund ihrer Fähigkeit zu limited generosity können die Akteure jenen Part, der bei Mandeville den Gesetzgebern und Politikern zukommt, selbst übernehmen. Der Glaube, es sei vorteilhafter, das Gemeinwohl als die unmittelbaren Privatinteressen im Auge zu haben, muß nicht künstlich erzeugt werden, vielmehr wird durch das Interesse der Mitglieder einer Gesellschaft an wechselseitig vorteilhafter Kooperation die natürliche Verpflichtung eines jeden, die rules of justice anzuerkennen und zu befolgen, hinreichend begründet.
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IV.
Obwohl die durch convention entstandene „natural obligation to justice" (T 498) die Anerkennung und Befolgung von Rechtsregeln offenbar hinreichend sichert, versucht Hume darüberhinaus, auch eine moralische Verpflichtung zu gesetzestreuem Handeln einsichtig zu machen. Die Notwendigkeit einer solchen moralischen Verpflichtung wird funktional — im Rekurs auf sozialpsychologische Überlegungen — begründet: In einer engen und geschlossenen Gesellschaft („a more narrow and contracted society," T 499) sind die Folgen von Rechtsverletzungen unmittelbar überschaubar, während in größeren Gesellschaften das Interesse an der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung aus dem Blick gerät und wir uns eher den näher liegenden Interessen zuwenden36. Die Einsicht in den Zusammenhang zwischen dem Interesse an Kooperation und der Etablierung von Rechtsregeln, die den Akteuren in einer geschlossenen Gesellschaft unmittelbar präsent ist, schwindet daher, sobald Gesellschaften über ein gewisses Maß hinaus anwachsen. Das Bewußtsein eines gemeinsamen Interesses an geregelter Kooperation aber war die Voraussetzung für die Anerkennung einer „natural obligation to justice". Wenn deshalb bei den einzelnen die Privatinteressen Vorrang gewinnen und die Einsicht in das allgemeine Interesse verdrängen, verliert zugleich die natürliche Verpflichtung zu justice ihre motivierende Kraft. Soll dennoch die einmal etablierte Rechtsordnung ihre Verbindlichkeit für die Mitglieder einer Gesellschaft nicht verlieren, dann muß behauptet werden können, daß justice und die rules of justice nicht nur natürlicher Weise, sondern zugleich auch moralisch verpflichten. Was aber veranlaßt uns, gerechtes bzw. gesetzestreues Handeln nicht nur als zweckrational, sondern auch als tugendhaft und insofern als moralisch geboten anzusehen? Diese Frage ist nicht, — wie bereits eingangs gesagt —, durch den Hinweis auf ein natürliches tugendhaftes Motiv zu solchem Handeln zu beantworten. Ihre Beantwortung erfordert vielmehr den Rekurs auf frühere Reflexionen im „Treatise" über Tugend und Laster und den Begriff der Sympathie37. Hume hatte dort gezeigt, daß die
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Qualifikation von Handlungen oder Verhaltensweise als tugendoder lasterhaft auf Grund von moral sentiments erfolgt: Tugendhaftes Handeln bewirkt im Betrachter der Handlung pleasure, lasterhaftes Handeln dagegen uneasiness (vgl. T 470ff.). Damit allerdings pleasure und uneasiness tatsächlich als moral perceptions (und nicht als bloß kontingente und insofern unter einem moralischen Gesichtspunkt zu vernachlässigende Gefühlszustände) betrachtet werden können, müssen wir nach Hume bei der Beurteilung anderer unseren „peculiar point of view" aufgeben und statt dessen „shady and general points of view" ausbilden (T 581/582). Die Voraussetzung dafür ist sympathy, jene Fähigkeit, auf Grund deren wir uns in die Meinungen und Gefühle anderer zu versetzen und an deren Lust und Unlust teilzunehmen vermögen (vgl. T 362, 364; T 589ff.). Auf diese Überlegungen stützt sich Hume, wenn er die Tugendhaftigkeit gerechten bzw. gesetzestreuen Handelns zu begründen versucht. Da wir auf Grund von sympathy natürlicherweise „steady and general points of view" der Beurteilung von Handlungen und Verhaltensweisen ausbilden, läßt uns der durch Rechtsverletzungen bewirkte Schaden nicht gleichgültig, sondern wir empfinden ihn als unangenehm für die menschliche Gesellschaft. Selbst einzelne Handlungen, die zwar unmittelbar dem Privatinteresse, vielleicht sogar dem Gemeinwohl förderlich, aber den rules of justice nicht gemäß sind, verursachen Unbehagen (uneasiness), sobald wir uns vorstellen, wie vorteilhaft das System jener Regeln für die Stützung des Ganzen ist: „without justice, society must immediately dissolve" (T 497). Jenes Unbehagen aber, das in uns bei uninteressierter Betrachtung von Rechtsverletzungen entsteht, muß im Rahmen der Ethik Humes als moral perception gedeutet werden. Gesetzwidrige Handlungen werden daher als lasterhaft, gerechtes bzw. gesetzestreues Handeln dagegen als tugendhaft und damit als moralisch verpflichtend angesehen: „every thing, which gives uneasiness in human action,... is call'd Vice, and whatever produces satisfaction, . . . is denominated Virtue . . . Thus the self-interest is the original motive to the establishment of justice: but a sympathy with the public interest is the source of the moral approbation, which attends that virtue" (T 499/500).
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Anmerkungen 1. Hume, Abriß eines neuen Buches, betitelt: Ein Traktat über die menschliche Natur, etc. Brief eines Edelmannes an seinen Freund in Edinburgh (engl./dt., hrsg. und übersetzt v. J. Kulenkampff), Hamburg 1980, S. 118/119. 2. a.a.O., S. 120/121. 3. a.a.O. 4. Vgl. R. Brandt, Einleitung zu: Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Hamburg 1973, S. XLIII. 5. Zitatnachweise im Text, denen in der Klammer ein „T" vorgesetzt ist, beziehen sich auf: D. Hume, A Treatise of Human Nature, hrsg. von Selby-Bigge (l.Aufl. Oxford 1888), Oxford 1967. 6. Hume, Abriß, S. 118/119. 7. a.a.O., S. 120/121. 8. Hutcheson wird zitiert nach: L. A. Selby-Bigge, ed., British Moralists, Being Selections form Writers principally of the Eighteenth Century, Bd. I (1. Aufl. Oxford 1897), New York 1965 (in der Folge zitiert als „SB I"). 9. SB I, 84; vgl. 83ff., 101, 153ff. 10. Dem Gedanken, daß die Einsicht in die Vorteile des gesellschaftlichen Lebens eine notwendige Voraussetzung für die Konstitution der Gesellschaft sei, entspricht die oben zitierte (und kritisch gegen Hutcheson gewandte) Bemerkung Humes, zur Begründung von justice bzw. den rules of justice sei der Rekurs auf Vernunft (reason) und Reflexion unerläßlich. 11. Hume nimmt hier eine Mittlerposition zwischen Mandeville, für den Eigenliebe das einzige und letzte Motivationsprinzip des (gesellschaftlichen) Handelns ist (s. u.), und Hutcheson ein, für den richtiges Handeln allein durch benevolence motiviert ist. — Vgl. auch D. Forbes, Hume's Philosophical Politics, Cambridge 1975, S. 91 ff. 12. SB I, 153ff. 13. SB I, 164. 14. a.a.O. 15. a.a.O. 16. a.a.O., 165. 17. a.a.O., 153ff. 18. a.a.O., 103. 19. a.a.O., 160. 20. a.a.O., 158. 21. a.a.O., 160. 22. Vgl. D. K. Lewis, Convention, Cambridge Mass. 1969, S. 8, 42; Vf., Artikel „Konvention", in: J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Sp.. 1071. 23. SB I, 155. 24. B. Mandeville, The Fable of the Bees: Private Vices, Publick Benefits, hrsg. v. F. B. Kaye, Bd. l, Oxford (1. Aufl. 1924) 1937, S. 200. 25. a.a.O. 26. a.a.O. 27. a.a.O., Bd. 2, S. 130.
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28. a.a.O., Bd. 2, S. 144. 29. a.a.O., S. 134. 30. Vgl. R. Spaemann, Reflexion und Spontaneität, Stuttgart 1963, S. 50ff.. H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung; D. Henrich, Selbsterhaltung und Geschichtlichkeit (beide in: H. Ebeling, Hrsg., Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt 1976, S. 144ff., 303ff.). 31. Vgl. Th. Hobbes, The English Works, hrsg. v. G. Molesworth, Bd. 3 (Nachdruck: Hildesheim 1966), S. 116; Spinoza, Tractatus Theologico-Politicus XVI, 7; dazu: Vf., Naturrecht und Selbsterhaltung: Hobbes und Spinoza, in: Zeitschrift f. philos. Forschung, Bd. 31, 1977. 32. Mandeville, a.a.O., Bd. l, S. 41. 33. a.a.O. 34. a.a.O., S. 41/42. 35. a.a.O. 36. Das ist sicherlich eine Folge davon, daß die Akteure, die eine Übereinkunft treffen, nur mit „limited generosity" ausgestattet sind. Unter der Prämisse Hutchesons, daß unser gesellschaftliches Handeln durch general benevolence bestimmt sein soll, wäre jene Überlegung Humes gegenstandslos. 37. Zum Begriff der Sympathie bei Hume vgl. P. Mercer, Sympathy and Ethics, Oxford 1972.
PETER STEIN The Legal Philosophy of the Scottish Enlightenment In the eighteenth century, Scottish thinkers were very conscious of their nationhood. In 1707, Scotland and England were joined politically into one united kingdom, and the Scottish Parliament in Edinburgh ceased to exist, but by the terms of the Treaty of Union, Scotland retained two important characteristics which preserved her separate identity. These were first, an established Church which was Calvinist, not episcopal like the Church of England, and secondly, a separate legal system, which had been much more affected by Roman law than the common law of England.1 In this climate of opinion the need arose for a theory that explained legal differences and legal change and it is possible to view the progress of legal philosophy in eighteenth century Scotland as the gradual awareness of the relationship between legal development and social development. This progress is particularly associated with the Chair of Moral Philosophy in the University of Glasgow, for Scottish legal thought was an outgrowth of university courses in moral philosophy. The development begins with Gerschom Carmichael (1672 — 1729), a regent and professor in Glasgow from 1694 until his death.2 He was a supporter of the Revolution of 1688 and of the Hanoverian succession, and of course he was a keen Presbyterian. His most influential work was his edition of Pufendorf s De officio hominis et civis, with a substantial commentary, published in 1718. It was Pufendorf's work he claimed, which showed that the study of moral philosophy was nothing but the study of natural jurisprudence or the demonstration of the duties of man and the citizen from knowledge of the nature of things and the circumstances of human life.
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Carmichael's edition of Pufendorf is significant because it brought to bear on the thought of Pufendorf, and the natural law tradition represented by him, the political ideas of John Locke. Carmichael disliked Pufendorf s contention that ownership of property in the state of nature was a condition of negative community and that this depended on some kind of agreement, or at least consent, of the members. Carmichael preferred Locke's argument that men may be considered to own those things which they have occupied by their labour, without waiting for the agreement or consent of others. Whatever Locke's actual intentions were, Scottish moral philosophers regarded his labour theory of property as a theory of the way men should be considered to have rightfully occupied a hitherto unoccupied world. This is the meaning they attached to Locke's assertion that "in the beginning all the world was America"3. Usually they refer not to Locke himself but to Carmichael and to Barbeyrac for this theory. However Carmichael still presented Locke's ideas within the framework of the scholastic tradition which emphasised the duty of men to limit their material possessions and not to engage in the mere accummulation of wealth in excess of their immediate needs. In particular Carmichael derives civil power (Imperium civile) from the power of the great owners of land who enjoy Imperium soli but acknowledge that the occupiers of land who work the land have a dominium in it. Hutcheson Francis Hutcheson succeeded Carmichael as Professor of Moral Philosophy at Glasgow in 1729 and remained Professor till his death in 1746. He regarded himself as in the tradition of Pufendorf, as interpreted by Carmichael. However to his contemporaries he appeared as an innovator, for they considered he was the first to apply the inductive method, developed by the natural scientists, or 'natural philosophers', as they were called, in the study of morals. Hutcheson's colleague at Glasgow, William Leechman, explained that in the natural sciences, thinkers had 'thrown off the method of forming hypotheses and suppositions, and had set themselves to make observations and experiments on
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the constitution of the material work itself. In the same way, Hutcheson believed, a more exact theory of morals could be reached only 'from proper observations upon the several powers and principles which we are conscious of in our own bosoms,' and through a 'more strict philosophical enquiry into the various natural principles or natural dispositions of mankind, in the same way that we enquire into the structure of an animal body, of a plant or of the solar system'.4 What Hutcheson claimed to be observing was not the way men behaved or actual systems of conduct, but rather man's feelings about conduct. His study was psychological. He believed strongly in the existence of moral sense which approves what is good and disapproves what is bad, so that the principles of right conduct are discovered from 'the moral determinations of the heart and the conclusions of right reason from these determinations' (System, 1.269). Thus for Hutcheson, reason was applied only after the natural senses had been examined. His course in moral philosophy was divided into two parts: 'ethicks' and 'the law of nature', and the latter was subdivided into: "(1) the doctrine of private rights or laws obtaining in natural liberty; (2) Oeconomics, or the laws and rights of the several members of a family; and (3) Politics, showing the various plans of civil government and the rights of states with respect to each others."5 The rights obtaining in natural liberty are indicated by the feelings of our hearts, by our automatic approval of what is of advantage to us and of no harm to others. After observing our natural feelings, we should consider the general interest of society. That will tend to confirm what we have felt. The sense of everyone's heart indicates that everyone has rights to life, to reputation and to personal liberty and these indications are confirmed by considerations of common utility. In fact Hutcheson was the first writer to enunciate in English the utilitarian formula: "That action is best which procures the greatest happiness for the greatest Numbers." His views on legal theory are to be found mainly in the posthumous two volume System of Moral Philosophy (1755).
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Hutcheson makes much of the difference between perfect rights, enforceable in a law court, and imperfect rights, which are recognised by morality but not by law. For him this distinction was more important than that between natural law and positive law. Our feelings make little distinction between the two kinds of rights, but reason recognises the need for it. Reason has to supply the fine tuning which distinguishes perfect from imperfect rights. Thus we are told 'thou shall not kill'; it is not, however, all killing which is prohibited, but only murder; and only reason can tell us what killings amount to murder and what do not. So also with the admonition, 'thou shalt not steal': "Tis our reason again must teach us the origin, the nature, and extent of property; and it will shew us too that property must often give place to some great public interests." Again, "lye not to each other" is a general rule approved by all. It is our reason which shows "what sort of speech hurts society and what not", and when there is justification for receding from the general rule of telling the truth (System, 11.130—I). This separation of what the heart approves from what reason provides led him to be very conscious of the limitations of the legal process. Hutcheson investigates at length how controversies should be decided in natural liberty (System, 11.141—7) and concludes that they would be submitted to an arbitrator, chosen by the parties, to whom they must submit the dispute absolutely. This arbitrator would hear the evidence of witnesses, and would follow the rule that to prove any matter the evidence of at least two witnesses is needed. In general, however, civil society, formed by a social contract, was preferable to the anarchy of natural liberty, since any society which has advanced beyond the primitive state needs a more effective administration of justice than can be obtained in natural liberty (System, 11.214-25). Hutcheson himself showed little interest in the manner of development of legal institutions. But he prepared the way for later Scottish thinkers to direct their attention to it. First, by stressing the importance of other men's sense of approval and disapproval in determining the Tightness and wrongness of conduct and the need to submit disputes to 'unbiased arbitrators'
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(System, 1.328), he opened the way for later writers to show that such approval and disapproval were not constant among all people but changed as attitudes changed from one society to another. Secondly, he tried to ground the labour theory of property on a theory of the natural sentiments of man. Property, he said, depended not on the activity of mixing men and things but on the natural sentiments of self-love and affection for family which prompt men to engage in labour and the sense of benevolence which makes them approve of a right of property to things on which they have laboured. Hume A further step away from the traditional natural law thinking was taken by David Hume in his Treatise of Human Nature, published in 1740. For Hume the state of nature was a fiction, and society did not come into existence through the conscious, rational method of contract. The very idea of a social contract was far beyond the comprehension of the savages who lived in a pre-political condition. What happened was rather that men living on their own gradually came to recognise the benefits of living together in communities. Once they had formed a society, men could achieve more and be more secure than was possible when they were on their own. 'By the conjunction of forces, our power is augmented: By the partition of employments, our ability encreases: And by mutual succour we are less expos'd to fortune and accidents.' As a result, man in society is 'in every respect more satisfied and happy, than 'tis possible for him, in his savage and solitary condition, ever to become' (Treatise, 485).6 Having set out the benefits of living in society, Hume points out the obstacles which prevent those benefits from being fully realised. They are the facts, recognised already by Pufendorf, first, that men are selfish and have only limited generosity, and secondly, that there are not enough goods in the world to satisfy everyone's desires. If it were not for these factors, societies would not need laws. As it is, the circumstances of living together in society give rise to three fundamental laws, namely those Of the stability of posses-
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sion, of its transference by consent and of the performance of promises' (Treatise, 526). It is on the strict observance of these laws of property that the peace and security of society depend. 'The convention for the distinction of property, and for the stability of possession, is of all circumstances the most necessary to the establishment of human society' (Treatise, 491). Hume calls the recognition of these rules a convention but it 'is not of the nature of a promise'; rather it is 'a general sense of common interest', by which men gradually become conscious of the need to regulate their conduct according to rules. The convention about stability of possession 'arises gradually and acquires force by a slow progression, and by our repeated experience of the inconveniences of transgressing it' (Treatise, 490). It is from these conventions that ideas of justice and injustice are derived. They emerge like a language or the recognition of gold and silver as a measure of exchange. Thus Hume's view is that ideas of property, language and money are all human conventions which have developed gradually and come to be accepted by habit and practice. In his Enquiry concerning the Principle of Morals (1751), Hume developed the argument that the origin of justice is public utility and 'that reflections on the beneficial consequences of this virtue are the sole foundation of its merit' (p. 183). In a situation of abundance, where everyone has more than enough to satisfy his desires, or in a situation where everyone is so friendly and generous 'that every man has the utmost tenderness for every man, and feels no more concern for his own interest than for that of his fellows' (Enquiry, 185), there would be no need for property, and the notion of justice would be useless. So also in cases of dire necessity, the strict laws of justice are suspended and give way to the desire for self-preservation. The justification of property being utility, 'by rendering justice totally useless, you thereby totally destroy its essence and suspend its obligation upon mankind' (Enquiry, 188). The conclusion is that 'the rules of equity or justice depend entirely on the particular state and condition in which men are placed' (ibid.). Like Hutcheson, Hume did not concern himself expressly with the process of legal change, but by stressing the gradual way in
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which men by force of habit come to accept certain conventions about property, which are justified by their utility in that particular society, he helped to create a climate of opinion in which ideas of legal evolution could emerge. In particular he brought out the point that institutions which are necessary for a civilised and orderly society may not have been created with that end in view. They are institutions 'advantageous to the public, tho' . . . not intended for that purpose by the inventors' (Treatise, 529). Adam Smith The influence of the Chair of Moral Philosophy in the University of Glasgow was continued by Adam Smith who held it from 1752 till 1763.7 Smith's ethical ideas were set out in The Theory of Moral Sentiments, published in 1759. Like Hutcheson he recognised that a scientific understanding of man's relations with his fellows can only be developed by the experimental method used by Newton in the physical sciences. It must be based on observation of how men actually behave in different situations. In The Theory of Moral Sentiments, Smith discussed the basis for man's approval of certain acts as right and his disapproval of others as wrong. He rejected the idea that every man is endowed by nature with an innate moral sense. What then do we mean when we say that our conscience, or "the man within the breast," tells us that this is what we ought to do or ought not to do? Smith sought the answer in the notion of sympathy, that there is in all men a desire to identify themselves with the joys and sorrows of others. Hutcheson and Hume had referred to the approval and disapproval of spectators or observers in their analyses of moral judgment. Smith developed the notion of the impartial spectator to explain the judgment of conscience made by the agent about his own actions. The approval and disapproval of oneself, which we call conscience, is an indirect effect of the judgments made by spectators. We all judge others as spectators and we all find others judging us; we then come to judge our own conduct by imagining whether an impartial spectator would approve or disapprove of it.
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In seeking the good will of our fellows in society, we examine our feelings and actions and consider how they must appear to them. Smith recognised that the actual spectator will usually not feel as strongly as the agent himself. The spectator's emotions will be apt to fall short of the violence of what is felt by the sufferer. Sympathy can never be exactly the same as the original feeling, so when he is judging himself, the sufferer must lower "his passion to that pitch, in which the spectators are capable of going along with him." The judgments of the impartial spectator thus provide the basis for a set of rules of conduct. Smith classified these rules under the three virtues: prudence, justice, and beneficence (or benevolence). "The man who acts according to the rules of perfect prudence, of strict justice, and of proper benevolence, may be said to be perfectly virtuous." (Moral Sentiments, 237). Prudence is dictated by concern for our own interests, while justice and benevolence are dictated by concern for the interests of others. Prudence promotes the calculating behaviour by which a man preserves and increases his fortune. It is therefore the basis of saving and capital formation. By prudence a man puts himself in a position from which he can then help others. Smith observed that before we can feel much for others we must in some measure be at ease with ourselves. But no one can be compelled to be prudent. It is up to the man himself; and prudence is not a very attractive virtue to others. "It commands a certain cold esteem," Smith says wistfully, "but seems not entitled to any very ardent love or admiration," (ibid,. 216). Beneficence improves society but is not a necessary condition; it is the "ornament which embellishes, not the foundation which supports the building." (ibid., 86). Beneficence is the highest virtue: "[T]o feel much for others and little for ourselves . . . to restrain our selfish, and indulge our benevolent affections, constitutes the perfection of human nature . . ." (ibid., 25). Although it is the most important social virtue, beneficence is merely an aspiration of man; it "is always free, it cannot be exorted by force, the mere want of it exposes to us no punishment." The impartial spectator inside us may reprove us for lack of beneficence, but he
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can do nothing more than reprove, "because the mere want of beneficence tends to do no real positive evil." (ibid., 78). Smith understood justice in a narrow sense, as the observance of the legal rules which safeguard the citizen's life, liberty and property. Justice sets limits to the individual's pursuit of self-interest. It is on most occasions merely "a negative virtue, and only hinders us from hurting our neighbour . . . [W]e may often fulfil all the rules of justice by sitting still and doing nothing." (ibid., 82). Unlike prudence and benevolence, its exercise is not left to the individual's discretion; he is compelled by the law to keep within the limits. In short, justice is the necessary foundation of civil society. Smith's treatment of justice is to be found mainly in the Lecture on Jurisprudence, given in 1762—3, and recently published from students' notes. Like Hume, Smith was sometimes ready to define justice in terms of property; "The first and chief design of every system of government is to maintain justice: to prevent the members of a society from incroaching on one another's property." (Lectures, 5). In general, however, he followed Hutcheson's scheme. He discussed a man's rights to his person and reputation fairly briefly and then came to his rights to his estate, under which head Smith included not only property rights in the strict sense but also those arising from contract and delinquency. It was when he came to consider the ways in which property arises that he diverged from his predecessors. They had treated natural rights as applicable in any society. Hume had followed the Roman law methods of acquisition: occupatio, accessio, traditio and so on. But Smith was writing after Montesquieu had changed the direction of legal thought in this area. For Montesquieu acknowledged that laws must be based on "the nature of things", but argued that this varied from one society to another. He identified various factors which affected a society's laws, such as climate, manners, tradition of government. However Montesquieu's Scottish followers, like his French followers, developed his ideas in two ways. First, they concentrated on one of the many factors which he had identified as affecting the character of a society's law, namely, the mode of subsistence
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of the inhabitants. Secondly, they seized on his reference to three such modes, farmers, huntsmen and shepherds, and converted it into a scheme of development applicable to societies generally — first a three-stage and then, by adding commerce, a four-stage theory: hunters, shepherds, farmers and merchants. The four-stage theory In Scotland, the theory appeared in a group of thinkers who gathered around the genial figure of Henry Home, Lord Kames. This group included David Hume, Adam Smith, John Millar, and John Dalrymple. It was Dalrymple's An Essay Towards a General Theory of Feudal Property in Great Britain, published in 1757, which first mentioned the four-stage theory in print. There is good reason to think, however, that Adam Smith first suggested it; certainly the Lectures on Jurisprudence show that he first applied it consistently in his treatment of rights. Smith never considered man in an isolated state. In the earliest type of society, that of hunters, a nation consists of a number of independent families; there is very little in the way of government or law, there is almost no private property, and theft is unimportant. Matters which concern only the members of a family are dealt with within the family. Disputes betwixt others can in this state but rarely occur, but if they do, and are of such a nature as would be apt to disturb the community, the whole community then interferes . . . to bring about a reconcilement betwixt the parties at variance. (Lectures, 201).
The American Indians exemplified this state. The second stage, that of shepherds, cannot co-exist with the first. "The appropriation of flocks and herds renders subsistence by hunting very uncertain und precarious." The people are more numerous that at the hunting stage, and live a nomadic life, following the best grazing. Animals are now regarded as the property of particular individuals, with the result that "distinctions of rich and poor then arise." (ibid., 202). Government proper begins at this stage, because when
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some have great wealth and others nothing, it is necessary that the arm of authority should be continually stretched forth, and permanent laws or regulations made which may ascertain [i. e. secure] the property of the rich from the inroads of the poor . . . . Laws and government may be considered in this and indeed in every case as a combination of the rich to oppress the poor, and preserve to themselves the inequality of the goods which would otherwise be soon destroyed by the attacks of the poor, who if not hindered by the government would soon reduce the others to an equality with themselves by open violence. The government and laws hinder the poor from ever acquiring the wealth by violence which they would otherwise exert on the rich; they tell them they must either continue poor or acquire wealth in the same manner as they have done, (ibid., 208-9)
At this stage, offences against the community are dealt with by expulsion. Smith likened society at this pastoral stage to a club: "The members of any club have it in their power to turn out any member, and so also have the members of such a community," (ibid., 204). Laws are, of course, no more than conventions or settled practices. "The legislative is never met with amongst people in this state of society"; it is "the product of more refined manners and improved government." (ibid., 205). Certain peoples described by Homer, whom Smith treats not as a poet but as a writer on social anthropology, the Jews in the period of Genesis, the Germans described by Tacitus — all these exemplify the pastoral stage. The third stage, that of agriculture, is marked by the appearance of private property in land. At first, property in land continued only so long as the land was actually being cultivated, and did not persist once the crop was out of the ground. Smith cited the practice of the country folk in Scotland of letting their cattle wander wherever they wanted as soon as the crop was harvested. This practice was in fact contrary to the Winter Herding Act of 1686, which ordered farmers to keep their cattle herded, in winter as well as in summer, under penalty of half a mark for each beast found on a neighbour's land. The ordinary people ignored the statute and its penalties, Smith said, for they were "so wedded to the notion that property in land continues no longer than the crop
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is on the ground that there is no possibility of getting them to observe it." (ibid., 23). It is at this stage that regular courts are established and legislation begins. The possibility of advancement beyond the agricultural stage depends on the ability of the society to produce a surplus of produce beyond its own immediate needs and on the opportunity to export this surplus to other societies. A people who were settled in a country where they lived in pretty great ease and security and in a soil capable of yielding them good returns for cultivation, would not only improve the earth but also make considerable advances in the severall arts and sciences and manufactures, providing they had the opportunity of exporting their [surplus] produce and fruits of their labour, (ibid., 223)
The Tartars and Arabs lacked these conditions, and so did not advance; the Greeks, on the other hand, possessed both and could enter the stage of commerce. A further extension and complication of laws is needed for this fourth stage. In general, the principle of development is that "[t]he more improved any society is and the greater length the severall means of supporting the inhabitants are carried, the greater will be the number of their laws and regulations necessary to maintain justice, and prevent infringements of the right of property." (ibid., 16). Locke had expressed something of this idea, but Smith made it the basis of his whole treatment of rights. Moreover, changes in the concept of ownership of property and changes in the form of government go hand in hand. Smith envisaged a kind of cyclical evolution of types of government, each of which "seems to have a certain and fixed end which concludes it." (ibid., 238). Property means something quite different according to the state of progress a society has reached. It is no good talking in general terms about property; we must look to the nature of the society we are discussing and to its current ideas about private property. In defining injury to the property rights recognised by a given society, Smith turned again to the hard worked impartial spectator. A man could be said to have suffered an injury only "when an impartial spectator would be of opinion he was injured, would join with him in his concern, and go along with him" if he
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defended his property against attack, (ibid., 17) To find the views of the impartial spectator in any society it was thus necessary to look into the popular psychology of that society. For example, Homer was Smith's guide to the attitudes of the warrior society existing at the time of the Trojan war. Odysseus, when asked whether he was a merchant or a pirate, said he was a pirate. "[T]his was a much more honourable character than that of a merchant, which was allways looked on with great contempt by them. A pirate is a military man who acquires his livelihood by warlike exploits, whereas a merchant is a peaceable one who has no occasion for military skill and would not be much esteemed in a nation consisting of warriors chiefly." (ibid., 224).
The significance of Smith's evolutionary approach for jurisprudence is that it enabled him to explain the basis of legal institutions in a different way from that of the writers in the natural law tradition. They had stressed the will of the individuals involved in a transaction, and set it against the good of the community as a whole. Smith substituted an analysis of society's economic needs and popular psychology. A vital institution in private law is contract, and Smith differed from Grotius and Pufendorf in explaining the nature of contractual obligation.8 The traditional explanation was that what made a contract binding was the promisor's declaration of his will which bound him to keep his word. Smith argued that it was rather the expectation which the promisor's declaration created in the promisee. An impartial spectator would not always consider that every declaration of intent should be relied on by the promisee. Primitive societies makes light of breaches of contract and do not always hold contracts binding. It is only with the advance of commerce that contracts become frequent. Only then is there a need for credit to be given and only then does an informal promise reasonably create in the promisee a ground of expectation, which would be disappointed if the promise were not fulfilled. The extent of the obligation is measured by the disappointment the breach of it would occasion. (Lectures, 86 — 102). Again, when dealing with acquisition of property by succession on death, Smith differs from Grotius and Pufendorf.9 They ex-
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plained intestate succession as based on the supposed will of the deceased. The deceased normally expresses his intentions in his will, but if he fails to make a will, the law distributes his estate as he is presumed to have intended. This kind of explanation, argued Smith, is quite unhistorical because it implies that testamentary succession preceded intestate succession. In all societies, ancient and modern, the reverse is the case. The right to dispose of one's property after death by will "is one of the greatest extensions of property we can conceive, and consequently would not be early introduced into society." (ibid., 38). In the age of hunters, there was no succession at all, a man's personal belongings, his weapons, being buried with him. In later stages, property was regarded as family property, "which as it was maintained and procured by the labour of the whole family, was also the common support of the whole." (ibid., 39) The head of the family alone could alienate family property in his lifetime, but not at his death. His descendants' claim to share in his property after his death was not based originally on his will, express or implied, but on the fact that they had themselves helped to procure and maintain the property. Once more, Smith's historical approach led him to an explanation of the nature of criminal law different from that of the natural law writers. They had argued that the basis of punishment for crime was consideration of the public good.10 The real source, said Smith, must be the resentment of the injured party. The measure of punishment is the degree of revenge the impartial spectator would find acceptable (ibid., 104). In early societies it was left to the victim to get his own satisfaction for crimes. In the description of the shield of Achilles, in one of the compartments the story represented is the friends of a slain man receiving presents from the slayer. The government did not then intermeddle in those affairs; and we find that the stranger who comes on board the ship of Telemachus tells us he fled from the friends of a man whom he had slain, and not from the officers of justice, (ibid., 108).
Only later does the state concern itself with the prosecution of crimes.
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If the injury is so great that the spectator can go along with the injured person in revenging himself by the death of the offender, that is the proper punishment, which is to be exacted by the victim or the magistrate acting the role of the impartial spectator. If the impartial spectator will only go along with a pecuniary penalty, then that is the punishment which ought to be inflicted. The British people conceived the "whimsical" notion that their prosperity depended on the woolen goods trade and therefore made the exportation of wool a felony punishable by death. But since in natural equity, this exportation was no crime at all, it was found impossible to get informers or jurors who would convict. So the punishment had to be reduced to what was acceptable, (ibid., 104-5) Conclusion I have concentrated on Adam Smith's legal theory because it seems the culmination of the legal thought of the Scottish Enlightenment. He came to his theory of legal evolution as a moral philosopher. We may summarise its main aspects as follows: First, to test his explanations of moral duties, he felt the need for an empirical base. He showed an exact knowledge of actual legal systems in different kinds of society. At each point he measures his propositions against common experience, which he calls nature. This is not an a priori concept, based on armchair deductions from reason. What is natural for Smith is what normally happens or what would happen but for the presence of some distinctively human factor. Instinctive or spontaneous behaviour is natural, but an act may also become natural as a result of habit, custom and education. What is natural for a society is decided by the stage of development which that society has reached. Secondly, Smith held that legal change must be related to social change. He believed that human society was progressing from barbarism to civilisation. He could still regard himself as, in a sense, building on the natural law tradition because, unlike Hume, he was a deist. His deism enabled him to see the scheme by which societies developed from stage to stage as part of the plan of
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an all-wise Author of Nature, whose invisible hand had shaped the design. This belief encouraged him to seek the systematic aspects of societal progress, and when he did discover them, they in turn confirmed him in his belief in God. God lays down the general course that a society will naturally take, but human action can prevent if from taking that course. Social institutions grow up and change in response to a wide variety of factors although the economic factor is the most decisive. The process is not without resistance; custom and habit and the vested interests of declining groups can maintain institutions long after the causes which produced them have ceased to operate. Thirdly, and more particularly, Smith established the link between the form of the economy and the kind of law within a society. His contemporaries learned this lesson very quickly; as William Robertson, the leading orthodox historian of the period, put it: "In every enquiry concerning the operations of men who are united together in society, the first object of attention should be their mode of subsistence. According as that varies, their laws and policy must be different."11 Fourthly, Smith was well aware of the dangers of determinism in the social sciences. Human action could and did prevent societies from following the natural course of development. So, he stressed also the psychological aspects of legal change. By constantly keeping in mind the views of the impartial spectator, he never lost sight of the need to take account of popular attitudes toward law. Some laws are enacted in the interest of particular groups or they are kept alive when the need for them has long passed. This may be irksome to the theorist but he cannot overlook the influence of factional interests or of popular prejudices. The man of system . . . is often so enamoured with the supposed beauty of his own ideal plan of government, that he cannot suffer the smallest deviation from any part of i t . . . He seems to imagine that he can arrange the different members of a great society with as much ease as the hand arranges the different pieces upon a chess-board. He does not consider that the pieces upon the chess-board have no other principle of
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motion besides that which the hand impresses upon them; but that, in the great chess-board of human society, every single piece has a principle of motion of its own, altogether different from that which the legislature might chuse to impress upon it. (Moral Sentiments, 233).
Smith is saying that we must never overlook the fact that the individual members of society are free agents, responsible for their actions. The legislator must therefore "accomodate, as well as he can, his public arrangements to the confirmed habits and prejudices of the people . . . [H]e will endeavour to establish the best that the people can bear." (ibid.) Fifthly and finally, Smith was a realist and his realism led him to prefer down-to-earth explanations to subtle ones. He never lost the common sense approach characteristic of the Scottish philosophy of his time. For example, the rule found in many systems, which allows a husband to divorce his wife for adultery without granting her a corresponding right to divorce him, is not designed, as was actually claimed, to prevent spurious offspring being imposed on the husband. "The real reason is that it is men who make the laws with respect to this; they generally will be inclined to curb the women as much as possible and give themselves the more indulgence." (Lectures, 147). Starting from a desire to distinguish what a man can be compelled to do from what the ought to do, Smith was led to the position that what a man can be compelled to do depends on the economic state of the society in which he lives. Smith understood that the law of society sits, a little uneasily perhaps, between its morality and its economics.12 Notes 1. P. Stein, "Law and Society in Eighteenth-Century Scottish Though", Scotland in the Age of Improvement, ed. N. T. Phillipson and R. Mitchison, Edinburg, 1970, 148-168. 2. For Carmichael, I have used an unpublished paper, "Gerschom Carmichael and the Natural Jurisprudence Tradition in Eighteenth-Century Scotland" by James Moore of Concordia University, Montreal, Canada. 3. R. Meek, Social Science and the Ignoble Savage, Cambridge, 1976, ch. 2.
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4. Preface to System of Moral Philosophy, London, 1755, I.xiii—xv. 5. Short Introduction to Moral Philosphy, Glasgow, 1753, V. 6. Reference is to L. A. Selby-Bigge's edition of the Treatise (Oxford, 1888) and of the Enquiry (Oxford, 1902). 7 .Reference is to the "Glasgow Edition" of Smith's works: Theory of Moral Sentiments, ed. D. Raphael and A. Macfie, Oxford, 1976; Lectures on Jurisprudence, ed. R. Meek, D. Raphael, and P. Stein, Oxford, 1978. 8. Grotius, De iure belli, 2.11.2; Pufendorf, De iure naturae, 3.5.5. 9. Grotius, 2.7.3; Pufendorf, 4.11.1. 10. Grotius, 2.20.7.; Pufendorf, 8.3.9. 11. W.Robertson, Works 1808, III.128. 12. I have used material which has appeared in my "Adam Smith's Jurisprudence - between morality and economics", 64 Cornell Law Rev. (1979), 621-638 and in my Legal Evolution, the story of an idea, Cambridge, 1980.
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I. Den Ausführungen liegt folgende Beobachtung zugrunde: In der Antike wurde eine Güterlehre entwickelt mit der Werttrias Seele-Körper-äußere Dinge. Diese Strukturierung menschlicher Güter war außerordentlich erfolgreich; sie begegnet in vielen Dialogen Platons, Aristoteles verwendet sie, wir finden sie in späteren rhetorischen Schriften, in der Neuzeit wird sie z. B. von David Hume benutzt und noch Kant gliedert die Universität in ihren oberen Fakultäten nach dem bewährten Schema: die Theologie ist für die Seele, die Jurisprudenz für die äußere Habe und die Medizin für den Körper zuständig. Die Werttrias wird benutzt für analoge Strukturierungen verwandter Gebiete, etwa das der grundlegenden menschlichen Lebensformen; die dadurch entstehende Ideenfamilie gehört zu den mächtigsten Begriffsgebilden der Philosophiegeschichte. — In England entwickelt sich in der frühen Neuzeit daneben eine andere, sehr ähnliche und zugleich spezifisch unterschiedene Gütertrias: life, liberty und estate. Sie läßt sich als relativ konstante Figuration in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufweisen, sie findet ihren profiliertesten Ausdruck in der Lockeschen Staatsphilosophie und wird dann zu einer Konstante in den frühen Deklarationen der Menschenoder Bürgerrechte. Was unterscheidet die beiden Kodifizierungen? Die Texte erlauben eine eindeutige Anwort. Die antike Trias ist ethischer, die neuzeitliche rechtlicher Natur. Die Struktur von Seele-Körperäußere Dinge und ihre verschiedenen Metamorphosen bestimmen sich von der Selbstrealisierung des einzelnen Menschen, die dagegen von life — liberty — estate von der äußeren Läsion durch andere. Das Subjekt der Werte ist jeweils das Individuum; in
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einem Fall jedoch wird das Feld seines sittlichen Bemühens bzw. seines elementaren Interesses aufgefächert, im ändern Fall wird klassifiziert, was beim einzelnen durch Gewalt verletzt werden kann: Das Leben durch Tötung, die Freiheit durch Gefangensetzung, die äußeren Güter durch Beraubung. Die Entwicklung beider Güterprospekte, die in Teil II—IV vorgenommen wird, soll einmal dazu dienen, die eigentümlichen Merkmale der rechtlichen Vorstellung (und damit des Themas der Abhandlung) distinkt sichtbar zu machen. Zum anderen drohen die Rechtsprobleme aus internen Gründen umzukippen in ethische Probleme; die Trennung der beiden sich überschneidenden Gütersphären muß bei einer Begründung der Menschenrechte zu einer relevanten Frage werden. Eine begriffsgeschichtliche Arbeit bedarf der Apologie, weil sie einen falschen Eindruck suggeriert: als führten Begriffe und Begriffskonstellationen ein Eigenleben und bewegten sich mit einer Art geistiger Notwendigkeit durch die Geschichte. Die Ideengeschichte als solche tendiert dazu, die Ideen zu Subjekten, die Autoren dagegen und ihre Begründungen im pro und contra der Argumente zu eher zufälligen Begleitphänomenen zu machen. Die Begriffsschneisen lassen sich unabhängig von der spezifischen Intention und dem Niveau der Philosophen durch die Geschichte ziehen, die chain of ideas gleicht dann der chain of being, an dem sie exemplarisch durch die Neuzeit geführt wurde.l Die Philosophiegeschichte jedoch versucht, Thesen und Gründe bestimmter Autoren zu eruieren und nicht Begriffsbewegungen über die Köpfe hinweg zu erdichten. Mit Leibniz: „Ideae non agunt, mens agit". Nun gibt es unleugbar das Phänomen konstanter Begriffs- und Ideenfigurationen. Die bloße Tatsache als solche, daß Kritias oder Platon und dann Kant die gleiche Systematik verwenden, zeigt, daß die einmal gefundene Begriffstopik sich zu einer effizienten Institution entwickelt und in der Strukturierung eines Problemfeldes bewährt hat. Der Autor, der sie übernimmt, wird entlastet, er braucht nach seiner eigenen Auffassung u. U. einen Beweis der einzelnen Momente und ihrer Vollständigkeit nicht zu führen, weil er der Tradition vertraut und der Evidenz, die die
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Topik für ihn und den zeitgenössischen Leser hat. Die Kenntnis überlieferter Topoi ist für die Interpretation philosophischer Texte unerläßlich, weil die Einbindung in eine bestimmte, näher zu fixierende Tradition oder die Distanzierung von ihr die Absicht des Autors sein kann, die bei der Interpretation freizulegen ist. So kann z. B. die stillschweigend vorgenommene Änderung in einem vorgegebenen Begriffsgefüge ein Teil der Aussage sein. Dieses verschwiegene Aussagestück ist nur für den wahrnehmbar, der die vorhergehende Begriffskonstellation kennt. Für die systematische Begründung möglicher Menschenrechte — wenn überhaupt eine solche möglich ist - kann weder die Philosophiegeschichte noch deren Teilstück oder Hilfsmittel, die Begriffs- und Ideengeschichte, eine Beweislast übernehmen; die Äußerung von Meinungen, auch in geschichtsmächtigen Theorien, verbürgt nicht ihre philosophische Geltung; sie kann eine systematische Erörterung anregen, kann als Lehrstück dienen und vor Fehlern warnen, bildet jedoch kein mögliches Glied in einer eigenständigen Beweiskette. So sollen auch die folgenden historischen Untersuchungen nur Gesichtspunkte liefern, die bei einer Begründung der Rechte vielleicht relevant sind. II.
„Nach der Vernunft (d. h. objektiv) würden die Triebfedern, welche die Regierung zu ihrem Zweck (auf das Volk Einfluß zu haben) benutzen kann, in folgender Ordnung stehen: zuerst eines jeden ewiges Wohl, dann das bürgerliche als Glied der Gesellschaft, endlich das Leibeswohl (lange leben und gesund sein).. . . Nach der Vernunft würde also wohl die gewöhnlich angenommene Rangordnung unter den oberen Fakultäten stattfinden; nämlich zuerst die theologische, darauf die der Juristen und zuletzt die medizinische Fakultät. Nach dem Naturinstinkt hingegen würde dem Menschen der Arzt der wichtigste Mann sein, weil dieser ihm sein Leben fristet, darauf allererst der Rechtserfahrene, der ihm das zufällige Seine zu erhalten verspricht, und nur zuletzt (fast nur, wenn es zum Sterben kommt), ob es zwar um die Seligkeit zu tun ist, der Geistliche gesucht werden . . ." So Kant im Streit der
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Fakultäten2. Nach der communis opinio der Forschung findet sich das hier benutzte Schema zum ersten Mal bei Platon; in der Apologie heißt es: „Denn nichts anderes tue ich, als daß ich umhergehe, um jung und alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für den äußeren Besitz zuvor noch überhaupt so sehr zu sorgen wie für die Seele, daß diese aufs beste gedeihe"3. Seele, Leib und äußerer Besitz bilden die drei wesentlichen Themen des menschlichen Interesses, Sokrates warnt davor, das höchste und einzig wirkliche Gut4 in etwas anderem zu sehen als in der Seele. „Eine Quelle vor Platon kenne ich nicht", schreibt Franz Dirlmeier in seinem Kommentar der Nikomachischen Ethik., in dem er eine Stellensammlung der Gütertrias bei Platon und Aristoteles bringt5. Die platonischen Schriften insgesamt erwecken jedoch den gleichen Eindruck wie schon die Apologie: die Gütertrias ist vorgegeben, und Platon läßt Sokrates die allbekannte Wertlehre in seiner Protreptik kritisieren; die äußeren Dinge und der eigene Körper sind im Grunde keine Güter, auf die ich mein Interesse richten soll, sondern einzig die Seele ist ein wahres bonum. Die — wenigstens auf den ersten Blick vollständige — Güterschablone ist also Thema einer Auseinandersetzung, sie gibt an dieser vermutlich frühesten Stelle bei Platon sichtlich nicht die eigene Wertlehre wieder, sondern eine fremde. In einer vorplatonischen Schrift wenigstens läßt sich die Wertfächerung von Seele, Leib und äußeren Dingen nachweisen, und zwar bei dem athenischen Politiker Kritias: „Ein solches Trinken ist dem Körper nützlich, dem Geist und dem Besitz"6. Man wird vermuten dürfen, daß sich die Trias in der Vulgärethik ausbildete und sowohl Kritias wie auch Platon annehmen, daß sie dem Leser vertraut war als eine Gliederung tatsächlicher — sei es nun wahrgenommener oder vernachlässigter, wahrzunehmender oder zu vernachlässigender - Werte. Die Apologie nennt neben der Gütertrias eine mit ihr verwandte Dreiheit möglicher Lebenswege (29 d, e); hierauf soll weiter unten eingegangen werden. Zunächst zu dem Wertbereich von Seele, Körper und äußeren Dingen. Die einzelnen Stellen bei Platon sind gesammelt und brauchen hier nicht vorgeführt zu werden7; ich möchte nur auf eine Eigentümlichkeit im Gorgias
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hinweisen. Es werden die möglichen Güter aufgefächert nach Weisheit, Gesundheit und Reichtum gemäß dem Substrat von Seele, Körper und äußeren Dingen. Platon geht ein auf die Formen der jeweiligen Beraubung. Das Seelenwohl wird zerstört durch das Unrecht, das man selbst verübt, das leibliche Wohl durch Krankheit, der Besitz durch Verarmung8. Platon legt naturgemäß einen besonderen Wert auf den ersten Punkt; es ist besser, Unrecht zu leiden als zu tun, weil das von ändern verübte Unrecht niemals mein eigenes Wertziel, das Heil der Seele, zu lädieren vermag, wohl aber, in einer paradoxen Verkehrung, das Unrecht, das ich verübe. Es ist deutlich, daß die Gesichtspunkte einer Läsion von außen, wie es sich für die Trias von life, liberty und estate als konstitutiv erweisen wird, überhaupt nicht ins Spiel gebracht wird; das durchgehende Interesse Platons ist ein sittliches, kein rechtliches. Platons Verwendung der drei Sphären menschlicher Güter zieht sich durch sein gesamtes Werk; damit ist die Trias freigesetzt für die Tradition und einen fortwährenden Einfluß bis zur endgültigen Überwindung der anciens durch die modernes im 19. und 20. Jahrhundert. Ich nenne nur Aristoteles, Politik: „Denn in der Tat wird niemand diese eine Einteilung bestreiten wollen, daß es dreierlei Güter gibt, die äußeren, die des Leibes und die der Seele"9; mit der gleichen Trias als einem Ordnungsprinzip beginnt der Rhetor Theon (2. Jahrhundert n. Chr.) seinen Traktat Über Lob und Tadel10; John Tillotson (1630-1694) schreibt: „All things that belong to us, are either the endowments of the mind, the accidents of the body, or the circumstances of our outward states"11. Richard Bentley (1662-1742) benutzt die Gliederung soul-body-world für seine Boyle-Lectures aus dem Jahre 1692, schließt sich also der traditionellen Güterlehre an und nicht der metaphysica specialis mit ihrem Schema von IchWelt-Gott12. Und David Hume (1711-1776) im Treatise of Human Nature: „There are three different species of goods, which we are possessed of; the internal satisfaction of our minds, the external advantages of our body, and the enjoyment of such possessions as we have acquired by our industry and good fortune"13. In einem nicht edierten Vorlesungsskript von Kants An-
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thropologie heißt es: „Die drei Arten vom Vermögen können wir am besten durch Stärke, Mittel und Ansehen ausdrücken, mit denen Gesundheit, Ehre und Reichtum parallel gesetzt wird"14. Carl Gottlieb Svarez notiert für seine Kronprinzenvorträge: „Was gehört zur Glückseligkeit des Menschen? Betrachtungen über den Menschen, soweit er l. aus einem vernünftigen Geiste, der a) Vernunft, b) Freiheit des Willens hat; 2. aus einem organisierten Körper, der Kräfte besitzt, die ausgebildet und angewendet werden können; 3. soweit er mit physischen Gütern umringt ist, die er zur Erhaltung und Vermehrung seiner Glückseligkeit anwenden kann"15. In der Aufzählung der Textstellen wirkt die Struktur notwendig wie ein totes Schema, das von den Autoren ohne eigene Gedankenleistung weitergereicht wird. Dieser Eindruck ist jedoch nicht in jedem Fall korrekt; schon bei Aristoteles könnte eine nähere Untersuchung seiner ethisch-politischen Konzeption eine Änderung des tradierten Ansatzes zeigen: Aristoteles stellt die unteren Güter in den Dienst des höchsten Wertes. Im Gegensatz zu Platon wird damit die Trias zu einem Ideologischen Gebilde, in dem das Niedere eine unentbehrliche Dienstfunktion für das Höhere hat. Diese Konzeption hat tiefgreifende Folgen, sie führt Aristoteles in der Auseinandersetzung mit der platonischen Republik z. B. zu der Ablehnung der kommunistischen Lebensweise; der Mensch bedarf der äußeren Güter, um seinen sittlichen Wert zu realisieren. Die Tugend ist auf Privateigentum angewiesen. Es wurde schon einleitend darauf hingewiesen, daß es bestimmte Metamorphosen der Gütertrias gibt, die es erlauben, von einer Art Begriffs- oder Ideenclan zu sprechen. In der Apologie sagt Sokrates: „Bester Mann, als ein Athener, aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für äußeren Besitz zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangst, und für Ruhm und Ehre; für Einsicht, Wahrheit und deine Seele, daß sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht und hieran willst du nicht denken?"16 Im Fall von Seele und äußeren Gütern liegt das gleiche Substrat zugrunde wie in der oben behandelten Gütertrias, bei der Sphäre von Ruhm und Ehre gibt es
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jedoch keine unmittelbar einleuchtende Verbindung zum menschlichen Körper. Wie leicht jedoch hier eine Korrespondenz herzustellen ist, zeigt der Vergleich menschlicher Lebensformen mit den drei Formen, an Wettspielen teilzunehmen. Nach Cicero schrieb Herakles Pontikos diese Vorstellung dem Pythagoras zu: „Pythagoras habe geantwortet, das Leben der Menschen scheine ihm gleich zu sein wie jener Markt, der im ganzen Glanz der Spiele und in der Anwesenheit ganz Griechenlands abgehalten zu werden pflege. Denn wie dort die einen mit trainierten Körpern den Ruhm und die Ehre eines Kranzes erstrebten, andere mit Aussicht auf Gewinn und Profit durch Kauf und Verkauf angelockt würden und es endlich eine besondere Gruppe gebe, die die vornehmste sei und weder nach Beifall noch nach Gewinn strebe, sondern um des Schauens willen gekommen sei und aufmerksam betrachte, was geschehe und wie, ebenso seien auch wir gleichsam aus einer Stadt in irgendeinen belebten Markt gekommen, nämlich in dieses Leben aus einem ändern Leben und einer ändern Natur, und die einen dienten nun dem Ruhme, die ändern dem Gelde. Es gebe aber einige seltene, die alles Andere verachteten und die Natur der Dinge aufmerksam betrachteten. Diese nennten sich Liebhaber der Weisheit, eben Philosophen. Und wie jenes das vornehmste sei, zuzuschauen ohne für sich etwas zu erstreben, so rage auch im Leben die Betrachtung und Erkenntnis der Dinge weit über alle ändern Beschäftigungen hinaus."17 Hier also wird in deutlicher Weise die Gütertrias von äußeren Dingen, dem eigenen Körper und der Seele auf die drei verschiedenen Lebensformen bezogen. Auch die platonische Republik erstellt einen Zusammenhang zwischen Ehre und Ruhm einerseits und andererseits dem menschlichen Körper, indem sie zwischen den Lebensformen, die sich auf die äußeren Güter einerseits und andererseits die reine Theorie beziehen, die Wächter ansiedelt, die mit dem Einsatz ihres eigenen Körpers die militärischen Aufgaben der Polis übernehmen. Die Psychologie begründet die Sachhaltigkeit und Vollständigkeit der Dreiheit von Lebenswegen und menschlichen Gütern; sie spiegelt bzw. begründet den triadischen Aufbau in den drei Ständen der Polis: Die untere Schicht sorgt für die ökonomischen Güter, sie betreibt die Produktion und den
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Handel und grenzt die jeweilige Habe in Form von privatem Eigentum ab; die Wächter schützen den Staat unter Einsatz ihres eigenen Körpers gegen eine Bedrohung physisch-militärischer Art; die Gelehrten treiben Theorie als die eigentliche Sorge um das Seelenwohl, sie leben zusammen mit den Wächtern ohne das abgenzende meum und tuum des Privateigentums. Für die Beurteilung der politischen Organisation des platonischen Staats ist es wichtig, daß auch hier der höchste Begriff der des Guten, nicht der des Rechts ist; die Tugenden sind Formen der Verwirklichung des agathon.18 Güterlehre, Lebensformen, Psychologie, Politik: Platon erstellt ein Syndrom mit zum Teil festen, zum Teil vagen Verbindungen, die die gesamte Philosophiegeschichte mit bestimmt haben und natürlich nicht nur die Philosophie — in der autobiographischen Erzählung Cervantes' im Don Quijote (I, 39) schlägt der Vater seinen drei Söhnen drei Lebenswege vor: „. .. querria, y es mi voluntad, que uno de vosotros siguiese las letras, el otro la mercancia, y el otro sirviese al rey en la guerra". Wenn Antonio Genovesi (1713-1769) in seiner Autobiographie schreibt: „Mio padre ebbe di lei quattro figli . . . Aveva destinato il primo al sacerdozio, il secondo al negozio, il terzo alia medicina, il quarto al /oro"19, so wird man hier die Trias von Seele-äußere Güter-Körper in Verbindung mit der umfassenden vierten Kardinaltugend, der dikaiosyne, als das Schema sehen müssen, nach dem der Vater über das Schicksal seiner Söhne verfügt. Bei Goethe gerät die väterliche Ordnung aus den Fugen. Ein Marchese erzählt in Wilhelm Meisters Lehrjahren, er habe seinen Vater nur einmal „ganz außer aller Fassung gesehen, da er hörte, daß man von einer seiner Anstalten wie von etwas Lächerlichem sprach. In eben diesem Geist hatte er über seine Kinder und sein Vermögen disponiert. Mein ältester Bruder ward als ein Mann erzogen, der künftig große Güter zu hoffen hatte; ich sollte den geistlichen Stand ergreifen, und der Jüngste Soldat werden. Ich war lebhaft, feurig, tätig . . . Der Jüngste schien zu einer Art von schwärmerischer Ruhe geneigter . . . Nur nach dem härtsten Kampf . . . gab der Vater .. . nach, daß wir unsern Beruf umtauschen dürften.. . (VIII, 9). Der Vater läßt in allen drei Fällen wie der platonische
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Philosoph jeden das Seine tun (ta heautou prattein), er bestimmt den Beruf und nimmt dabei die isomorphe Struktur von gesellschaftlicher Tätigkeit und natürlicher Disposition an. Es gibt Ideenfigurationen, bei denen es nicht auf den ersten Blick klar ist, ob sie zu dem hier vorgestellten Komplex gehören, so z. B. die konstante Verknüpfung von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, die sich nicht erst bei Kant20, sondern schon bei Thomas Hobbes21 findet; wir brauchen diese Frage hier nicht zu beantworten, sondern verweisen nur auf eine gewissermaßen phänomenologische Ähnlichkeit der Gruppierungen und auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Wurzel. Für das Thema „Menschenrechte und Güterlehre" ist folgende Beobachtung wichtig: Die Auffächerung menschlicher Interessen und Wertsphären gemäß der Dreiheit von Seele, Leib und äußeren Dingen hat ihren Ursprung nicht in einer Rechtsproblematik und führt dort, wo sie politisch relevant wird, nicht zu einem Rechtsstaat, sondern zu dem Gebilde der platonischen Polis. In ihr realisieren die Menschen ihr Selbst in drei unterschiedlichen, in differenzierter Weise aufeinander bezogenen Formen. Der höchste Begriff ist nicht der des Rechts, sondern des Guten; die Grundmaxime lautet nicht „suum cuique", sondern „suum quisque": jeder soll nicht das Seine haben, sondern tun, er soll sich selbst in seiner natürlichen vorgegebenen Seinsweise realisieren. Von einem Rechtsanspruch ist dabei nirgends die Rede.
III. Der Güterkatalog von life, liberty und estate bildet im Lockeschen Second Treatise of Government eine relativ konstante Begriffseinheit. Im § 59 heißt es: sobald ein Sohn die Mündigkeit erreicht hat, ist er frei wie der Vater und unterliegt nur dem Naturgesetz - „equally Subjects of the same Law together, without any Dominion left in the Father over the Life, Liberty, or Estate of his Son"22. „And though a Father may dispose of his own Possessions as he pleases, when his Children are out of danger of perishing for want, yet his power extends not to the
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Lives or Goods, which either their own industry, or anothers bounty has made theirs, nor to their liberty neither . . ." (§ 65). Ich zitiere noch zwei weitere Textpassagen, in denen die Trias als feste Größe behandelt wird: „These Men having, as I say, forfeited their Lives, and with it their Liberties, and lost their Estates; and being in the State of Slavery, not capable of any Property, cannot in that state be considered as any part of Civil Society; the chief end whereof is the preservation of Property" (§ 85). „. . . to unite for the mutual Preservation of their Lives, Liberties and Estate, which I call by the general Name, property" (§ 123). Wie kommt es zu der Trias von Leben, Freiheit und äußeren Gütern? Deutlicher als bei Locke wird der Gesichtspunkt der Anordnung der Güter bei James Tyrrell (1642-1718), einem Freund Lockes, mit dem er eng verkehrte während der Abfassungszeit der Two Treatises of Government. Tyrrell schreibt in Patriarcha non Monarcha von 1681, zu den Pflichten des Königs gehöre „to abstain from the lives, liberties or properties of their subjects" (A 2)23. Der Aspekt, unter dem die Güter zusammengestellt werden, ist der einer Bedrohung durch die souveräne Staatsmacht. Das gleiche gilt für die anderen Autoren, die die Menschenrechte von Leben, Freiheit und Eigentum geltend machen. Die Argumentation ist dabei von der bekannten politischen Situation bestimmt, daß der König sich als Rechtsschöpfer versteht und sich damit die Prärogative zumißt, das geschaffene Recht nach eigenem Gutdünken zu annullieren; auf der anderen Seite steht die Fraktion des Parlaments mit Juristen wie Francis Bacon und Edward Coke, die die Meinung vertreten, der Rechtsbestand gelte auch gegen den König, nicht nur gegenüber den ändern Mitbürgern. Die royalistische Position formuliert James I. in folgender Weise: „Kings ar iustly called Gods, for that they exercise a manner or resemblance of Diuine power vpon earth: For if you wil consider the Attributes to God, you shall see how they agree in the person of a King. God hath power to create, or destroy, make or vnmake at his pleasure, to giue life, or send death, to iudge all and to be iudged nor accomptable to none: To raise low things,
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and to make high things low at his pleasure; and to God are both soule and body due. And the like power haue Kings: they make and vnmake their subject they have power of raising and casting downe: of life, and of death: Judges ouer all their subjects, and in all cases and yet accomptable to none but God onely. They haue power to exalt low things and to abase high things and make of their subjects like men at the Chesse; A pawne to take a Bishop or a Knight, and to cry up or downe any of their subiects, as they do their money. And to the King is due both the affection of the soule and the service of the body of his subjects . . . For to Emperors, or Kings that are Monarches, their Subjects bodies & goods are due for their defendence and maintenance."24 Dagegen die Seite des Parlaments: „The King's prerogative cannot prejudice the property of the Subject that the King cannot grant power to any person to act contrary to common or statute law. That the King's prerogative shall not be extended to the Injury of any subject."25 In der Formulierung von Edward Coke: Es sei (bei einer bestimmten Satzung) nicht die Absicht gewesen, den Königen in der Zukunft eine gesetzverändernde Gewalt zu geben, so daß „none of that country (Wales) could be certain of his life, land, goods or liberty, or any thing which he has."26 Die Rechtsbestimmungen, um die man ringt, betreffen nicht die Privatrechte der Bürger untereinander; er wird der Situation entsprechend als fraglos vorausgesetzt, daß der unbescholtene Bürger im privatrechtlichen Besitz von life, liberty und estate ist oder sein kann und daß sich jeder Bürger oder Fremde, der diesen Besitz durch Tötung, Gefangensetzung oder Diebstahl lädiert, strafbar macht — dies wird von niemandem bezweifelt. Die Frage ist einzig, ob der König die rechtliche Kompetenz hat, das Recht in gleicher Weise aufzuheben, wie Gott die von ihm erlassenen Gesetze aufhebt, wenn er ein Wunder bewirkt. Die Königspartei bejaht dieses Recht, die Parlamentspartei verneint es und greift dabei zum Teil auf die Tradition der Magna Charta, zum Teil auf das Naturrecht zurück. Mit der Machtübernahme durch das Parlament ändert sich überraschenderweise am Grundmuster dieser Diskussion kaum etwas; die beiden Parteien vertauschen nur die Seiten. Der König
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tritt auf als der Verteidiger von life, liberty, estate, er stellt sie hin als alte Rechtsgüter, die vom Parlament bedroht werden und des königlichen Schutzes bedürfen. So werden z. B. fünf Mitglieder des House of Commons und ein Mitglied des House of Lords am 3. Januar 1642 angeklagt: „1. That they have traitorously endeavoured to subvert the fundamental laws and government of the kingdom of England, to deprive the King of his regal power, and to place in subjects an arbitrary and tyranical power over the lives, liberties and estates of His Majesty's liege people."27 Desgleichen in den King's Propositions to be discussed at Uxbridge (21. Januar 1645): „That whatsover illegal power hath been claimed or exercised by or over his subjects, as imprisoning or putting to death their persons without law, stopping their Habeas Corpuses, and imposing upon their estates without Act of Parliament &c.,... be disclaimed, and all such persons so committed forthwith discharged."28 Und schließlich, im Januar 1649, bei der Darlegung der Gründe, warum er, der König, die Rechtsprechung des High Court of Justice ablehne: „The duty I owe to God in the preservation of the true liberty of my people will not suffer me at this time silent: for, how can any free-born subject of England call life or anything he possesseth his own, if power without right daily make new, and abrogate the old fundamental laws of land which I know take to be the present case? . . . Thus you see that I speak not for my own right alone, as I am your King, but also for the true liberty of all my subjects, which consists not in the power of government, but in living under, such laws, such a government, as may give themselves the best assurance of their lives, and property of their goods"29. Der König steht damit paradoxerweise in der unmittelbaren Nähe der außerparlamentarischen Opposition der Levellers. Diese versuchen, die privaten Rechte gegen die Übergriffe des Parlaments zu retten. „Most Parliament men are to learn what is the just power of a Parliament, what the Parliament may do, and what the Parliament (itself) may not d o . . . . (Many people) affirm that a Parliament, being once chosen, have power over all our lives, estates and liberties to dispose of them at their pleasure whether for our good or hurt. All's one (say they) we have trusted them,
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and they are bound by no rules, nor bounded by any limits, but whatsover they shall ordain, binds all the people, it's past all dispute, they are accountable to none, they are above the Magna Charta and all laws whatsover, and there is no pleading of anything against them."30 Die Levellers berufen sich auf die Rechte und Freiheiten, wie sie nach ihrer Interpretation in der Bibel, der Magna Charta oder auch dem Naturgesetz gewährleistet werden. Eines der wichtigsten Dokumente für die Rechtsauffassung der Levellers ist das bekannte Pamphlet An Appeal (Juli 1647) von Richard Overton. Overton wendet sich direkt an das Volk, nicht an das Parlament, das nach seiner Meinung das in es gelegte Vertrauen getäuscht hat. Im Laufe der Argumentation heißt es: „First then, be pleased to consider, that it is a firme Law and radicall principle in Nature engraven in the tables of the heart by the finger of God in creation for every living moving thing, wherein there is the breath of life to defend, preserve, award and deliver it selfe from all things hurtfull, destructive and obnoctious thereto to the utmost of its power.31 Therefore from hence is conveyed to all men in generall, and to every man in particular, an undoubted principle of reason, by all rationall and iust wayes and meanes possibly he may, to save, defend and deliver himselfe from all oppression, violence and cruelty whatsover, and (in duty to his own safety and being) to leave no iust expedient unattempted for his delivery therefrom: and this is rationall and iust; to deny it, is to overthrow the law of nature, yea, and of Religion too; for the contrary lets in nothing but selfe murther, violence and cruelty."32 Auf Grund des Naturrechts werden der Selbst-Besitz, das Eigentum und die Freiheit als propriety postuliert: „For to every individuall in nature, is given an individuall propriety by nature, not to be invaded or usurped by any . . ., for every one as he is himselfe hath a selfe propriety, else could not be himselfe and on this no second may presume without consent; and by naturall birth, all men are equall and alike born to like propriety andfreedome, evry man by naturall instinct aiming at his owne safety and weale"33. Overton bezieht die Rechtsläsion im Fall seiner eigenen Familie direkt auf die allgemeinen Prinzipien: „And by reason my wife
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would not be subiect to the arbitrary and diabolicall accustomary proceedings of that house, to answer to interrogatories, or to make oath against her husband or her selfe, concerning his or her life, liberty or goods . . ,"34 Und kurz darauf: „Now therefore being driven thus to this desperate necessity and pinch; and further, the Parliament themselves having declared, that it is the liberty of every subject to enjoy the benefit of the Law and not arbitrarily and illegally be committed to prison, nor to have his or theirs lives, liberties, goods or estates disseased or taken away, but only by due processe of Law, according to Magna Charta, and the Petition of Right. . ,"35 Eine leichte Variation des nun eingespielten Grundmusters von life, liberty und estate erscheint kurz darauf in folgender Form, ohne daß der Wechsel begründet wird: „For should my cause be overthrowne by the voice of the oppressour, and this kind of exorbitant Dominion settlet and entailed to the Prerogative of the Lords, then the lives, persons and estates of the Commoners of England would all be laid to the wiles and pleasures of those prerogative usurpers; our lives, our wives, our persons and estates to be deprived, divorsed, imprisoned & plundered at pleasure, not to be our own any longer, but theirs."36 Hiermit ist die Situation umrissen, in der die Gütertrias von life, liberty und estate ausgebildet und zu einem Schlagwort in der politischen Auseinandersetzung wurde: Es bildet sich in der Opposition gegen eine Staatsgewalt, die sich anmaßt, als Rechtsschöpferin legibus solutus zu sein. Zunächst ist es der König, sodann tritt das Parlament die Nachfolge absolutistischer Theorie und Praxis an. Zur Begründung des Rechts wird auf die eigene positive Rechtstradition oder auch das Naturrecht verwiesen. John Locke übernimmt die Formel in seinem Second Treatise of Government', darauf wurde schon oben verwiesen. Aus den Passagen bei Locke ging nicht eindeutig hervor, welches das Prinzip der Kombination der drei Güter war; die Einbeziehung der politischen Diskussion im 17. Jahrhundert jedoch ermöglichte es, eine eindeutige Antwort zu geben: life, liberty, estate stellen einen Besitz dar, der durch Tötung, Gefangensetzung und Konfiszierung lädiert werden kann. Nur die Übergriffe der Exekutive oder Legislative wurden zunächst berücksichtigt; die Rechtlich-
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keit der Güter im Hinblick auf andere Bürger war bei der ganzen politischen Diskussion als unproblematisch vorausgesetzt. Es ergab sich nur die Notwendigkeit zu zeigen, daß life, liberty und estate nicht der Dezision der momentanen Staatsgewalt entspringen, sondern ihr - sei es durch das Naturgesetz, die Magna Charta oder die Bibel - vorgegeben sind. Ob und wie jemand im Einzelfall die Rechtsgüter faktisch erwirbt, spielt für den Streit zwischen Staatsgewalt und Bürgern keine Rolle. Es wird nur die Sicherheit des Rechts an einem schon bestehenden Besitz diskutiert, nicht das Recht dieses Besitzes selbst begründet. Man sucht Schutz vor der Läsion vorgegebener Rechtsgüter, nicht die Legitimation dieser Rechtsgüter selbst. Wir fanden auch bei John Locke eine Verwendung der überkommenen Dreiheit von life, liberty und estate, und auch hier ergab sich keine Begründung ihrer Gegebenheit und Vollständigkeit. Nun wird man bei einem so tiefgründigen Philosophen wie Locke vermuten, daß er ein für ihn selbst wesentliches Theoriestück nicht einfach übernimmt und verwendet. Und tatsächlich gibt es in einem von der bisherigen Forschung nicht dechiffrierten Kontext einen Begründungsversuch, auf den ich hier nur kurz verweisen möchte. Die Ausführungen des Second Treatise beginnen nach einer programmatischen Einleitung (I) mit einer Darlegung des status naturalis (II) als dem systematischen und historischen Ursprung allen Rechts unter den Menschen. Sodann folgen die Kapitel „Of the State of War" (III), „Of Slavery" (IV) und „Of Property" (V). Die Zusammenstellung dieser drei Themen muß gänzlich willkürlich erscheinen, so lange nicht entdeckt ist, daß die Erörterungen über den Krieg von einem „sedate setled Design, upon another Mans Life" (§ 16) handeln, die Sklaverei in bezug auf „The Natural Liberty" (§ 22) besprochen wird, und endlich das Kapitel „Of Property" die naturrechtliche Begründung des estate liefert. Auf die einzelnen Begründungsschritte selbst braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, es genügt der Nachweis, daß Locke — im Gegensatz zu Hobbes (vgl. Anm. 36) — einen derartigen Versuch in seiner Naturrechtslehre unternimmt. Für die Theorie im ganzen ist damit gezeigt, daß die drei klassischen Individualrechte das Fundament der Lockeschen Sozialphilosophie bilden.
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Auf dem Kontinent fand das Schema der Bürgerrechte ein geringes Echo; Rousseau erwähnt es in den fünfziger Jahren, als er stark unter dem Einfluß von Locke stand. Im II. Teil des Discours sur l'origine de l'inegalite heißt es: „En effet, pourquoi se sont ils donne des superieurs, si ce n'est pour les defendre contre l'oppression, et proteger leurs biens, leurs liberies, et leurs vies, qui sont, pour ainsi dire, les elemens constitutifs de leur etre?"37 Im Contrat social jedoch spielen biens, libertes und vies ebensowenig eine Rolle wie in der Rechtsphilosophie von Kant. Für die angelsächsische Welt ist zunächst festzuhalten, daß die Trias weder in der Magna Charta Libertatum (1215) noch in der Petition of Rights (1627), der Habeas-Corpus-Akte (1679) und der Bill of Rights (1689) wörtlich erwähnt wird; es gibt jedoch Formulierungen in diesen Rechtsdokumenten, die es erlaubten, sich auf sie als Legitimationsgrundlage des Rechts an life, liberty und estate zu berufen. Dies geschieht besonders in der ersten Phase der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Diese erste Phase ist gekennzeichnet durch den Appell der Kolonien an Parlament und König, die auf Grund der nationalen Rechtsgeschichte in England geltenden Bestimmungen auch auf die Kolonien anzuwenden. Das Freiheitsprinzip der englischen Verfassung und des Naturrechts erlaubt, so argumentiert man, keine Besteuerung ohne Zustimmung derjenigen, deren Eigentum durch die Steuer beschnitten wird. „It is an essential, unalterable Right, in nature, ungrafted into the British Constitution, as a fundamental Law & ever held sacred & irrevocable by the Subjects within the Realm, that what a man has honestly acquired is absolutely his own, which he may freely give, but cannot be taken away from him without his consent"38. „It is the glory of the British Government that these natural Rights of Mankind, are secured by the Laws of the Land."39 „They presume not to claim any other than the natural Rights of British subjects; the fundamental and vital Principles of their happy Government, so universally admired, is known to consist in this: that no Power on Earth has a Right to impose Taxes upon the People or to take the
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smallest Portion of their Property without their Consent given by their Representatives in Parliament... If this Principle is suffered to decay, the Constitution must expire with it, as not Man can enjoy even the shadow of Freedom; if his Property, acquired by his own Industry and the sweat of his brow, may be wrested from him at the Will of another without his own Consent."40 Diese Position führt mit einer gewissen Stringenz zu einer Auffassung, die in Irland schon am Ende des 17. Jahrhunderts entwickelt wurde: Man erkennt die Herrschaft des Königs an, will sich jedoch nicht dem spezifisch englischen Parlament unterwerfen, sondern fordert ein eigenes, dem englischen parallel geordnetes Abgeordnetenhaus. Auch hier der gleiche Appell an die Widersprüchlichkeit, daß eine freiheitlich-egalitäre Verfassung ein Instrument der Unterdrückung wird, wenn die billige Forderung der Gleichstellung unter der gemeinsamen Krone nicht gewährt wird: „It is repugnant to the essential maxims of jurisprudence, to the ultimate ends of all governments, to the genius of the British Constitution and to the liberty and happiness of the colonies, that they should be bound by the legislative authority of the Parliament of Great Britain. There is another, and a much more reasonable meaning, which may be intended by the dependence of the colonies on Great Britain. The phrase may be used to denote the obedience and loyalty, which the colonists owe to the kings of Great Britain."41 Und in diesem Zusammenhang wird vom Schutz der naturrechtlichen Güter von life, liberty und estate gesprochen: „It is above all things to provide for the security, the quiet, and happy enjoyment of life, liberty and property . . . If life, liberty and property could be enjoyed in as great perfection in solitude, as in society, there would be no need for government."42 Die englische Tradition ist in der zweiten Phase der Auseinandersetzungen keine Rechtsquelle mehr, auf die man sich gegen das Parlament in London beruft, sondern das Naturrecht: „Among the Natural Rights of the Colonists are these First a Right to Life; Secondly to Liberty; thirdly to Property; together with the Right to support and defend themselves in the best manner they can. Those are evident Branches of, rather than
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deductions from the Duty of Self Preservation, commonly called the first Law of Nature", heißt es in der Streitschrift The Rights of the Colonists and a List of Infringements and Violations of Rights, entstanden während des Bostoner Townmeetings 177243. - In den Declarations and Resolves of the First Continental Congress, 1774, heißt es: „Resolved N.C.D. 1. That they (the Inhabitants of the English Colonies in North America) are entitled to life, liberty & property, and they have never ceeded to any sovereign power whatever, a right to dispose of either without their consent."44 Die nächste Phase ist gekennzeichnet von der Bemühung, sich vollständig vom Mutterland zu trennen und sich auf die Schaffung eigener Regierungsformen zu konzentrieren. Der zweite Kontinentalkongreß forderte die einzelnen Kolonien auf, sich eine Verfassung zu geben. Dieser Resolution wurde eine Präambel vorangestellt, die die Gründe der Lösung von England nannte: „And whereas, it appears absolutely irreconcileable to reason and good Conscience, for the people of these colonies now to take the oaths and affirmations necessary for the support of any government under the crown of Great Britain, and it is necessary that the exercise of every kind of authority under the said crown should be totally suppressed, and all the powers of Government exerted, under the authority of the people of the colonies, for the preservation of internal peace, virtue and good order, as well as for the defence of their lives, liberties and properties against the hostile invasions and cruel depredations of their enemies; therefore resolved, &c . . ,"45 In Virginia wird 1776 die erste Deklaration der Unabhängigkeit mit einer Fixierung der unveräußerlichen Rechte verabschiedet: „1. That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and persuing and obteining happiness and safety."46 Wichtig ist das Einbringen des pursuit of happiness als eines Rechtstitels neben der traditionellen Tafel der Rechtsgüter. Es soll nicht im einzelnen verfolgt werden, wie die übrigen Staaten
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die Verfassung von Virginia übernahmen und modifizierten, es tritt konstant die Dreiheit von life, liberty und property oder estate auf. 47 In der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 werden als inalienable rights registriert: „We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal; that they are endowed by their Creator, with certain inalienable rights; that among these rights are life, liberty and the pursuit of happiness. That to secure these rights, governments are instituted among men . . ,"48 Hier ergänzt die Formel des pursuit of happiness nicht mehr die Konstante estate oder property, sondern ersetzt sie. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ist nicht das erste Dokument amerikanischer politischer Theorie, wo ,happiness' als das oberste Ziel von Gesellschaft und Regierung angesehen wird. „Long before the Declaration of Independence . . . American patriots inclined toward the utilitarian criterion of happiness as the standard for morality and politics."49 Eines der frühesten Beispiele für den Primat von happiness stammt aus dem Jahre 1766: „Kings or parliaments could not give the rights essential to happiness, as you confess those invaded by the Stamp act to be. We claim them from a higher source — from the King of kings and Lord of all the earth. They are not annexed to us by parchment and seals. They are created in us by the decrees of Providence, which establish the laws of our nature. They are born with us; exist with us; and cannot be taken from us by any human power, without taking our lives. In short, they are founded on the immutable maxims of reason and justice. It would be an insult on the divine Majesty to say, that he has given or allowed any man or body of men a right to make me miserable. If no man or body of men has such a right, / have a right to be happy. If there is no happiness without freedom, I have a right to be free. If I cannot enjoy freedom without security of property, I have a right to be thus secured."50 Dieser Text ist interessant nicht nur wegen seiner Emphase von ,happiness' als oberstem natürlichem Recht, sondern auch wegen der originellen Ableitung des Eigentumsrechts. — 1774 hat James Wilson in einem Pamphlet festgestellt, daß „to
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increase the happiness of the governed" der Zweck jeglicher Staatsgründung sei und „happiness of society . . . the first law of every government."51 Josiah Quincy beruft sich in den: Observations on the Act of Parliament Commonly Called the Boston Port Bill vom gleichen Jahr auf Beccarias Von den Verbrechen und Strafen und vertritt die Meinung: „The proper object of society and civil institutions is the advancement of the greatest happiness of the greatest number"52. V.
Es wurden zwei Gütergruppierungen erörtert: Seele-Körper-äußere Dinge und life—liberty-estate. Die erste Trias bezeichnet die Sphären meiner möglichen Interessen, die ich je nach der ethischen Konzeption haben oder nicht haben soll; sie zeichnet die grundsätzlichen Lebenswege der Menschen vor. Die zweite Trias formuliert lädierbare Rechte, wobei die Läsion als solche sich im Prinzip so klar markieren läßt wie das Rechtsgut selbst: Töten, Gefangensetzen und Güterentzug sind die Musterhandlungen, durch die ein Bürger seines Lebens, seiner Freiheit und seiner äußeren Habe beraubt werden kann. Es wird vorausgesetzt, daß die genannten Güter positiv rechtlich allgemein anerkannt sind, d. h. Rechte gegenüber ändern Bürgern sind, wobei sie natürlich im Einzelfall durch rechtswidrige Handlungen verwirkt sein können, der Verbrecher mag life, liberty und estate noch besitzen, aber er hat das Recht an diesem Besitz verwirkt. Am Schluß des historischen Überblicks über die anglo-amerikanischen Menschen- und Bürgerrechte des 17. und 18. Jahrhunderts ließ sich eine Modifikation beobachten: die äußeren Güter wurden in dem Moment, als der Feind, gegen den die Rechtstrias ihr Profil gewonnen hatte, sich zurückzog, ergänzt bzw. ersetzt durch das „pursuit of happiness". Glück ist eine subjektive Idee, und die Glücksverfolgung, die es neben der liberty noch als besonderes Recht geben soll, läßt sich ohne das subjektive Moment im Glücksbegriff nicht gut denken. Das klar umrissene, ad oculos demonstrierbare Konzept der äußeren Habe wird derart modifiziert durch den in rechtlicher Hinsicht diffusen Begriff der
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Glücksverfolgung. Das Unfaßbare dieses Rechts selbst impliziert, daß auch die Läsion nicht mehr eindeutig als eine bestimmte Handlung markiert und benannt werden kann. Die Trias verliert ihren klaren Fokus und vermischt sich mit der antiken Dreiheit von Seele, Leib und äußeren Dingen, die die Sphäre meiner möglichen Interessen umreißen sollte, aber nie mit einem Rechtsanspruch verknüpft war. Eine zweite Tendenz wurde bei dem Vorführen einschlägiger Passagen nicht berücksichtigt: Die Dreiheit von life, liberty und estate wird zunehmend durch weitere Menschen- und Bürgerrechte ergänzt: „Der Druck, den die herrschenden Gewalten auf die freie Bewegung des Individuums üben, erzeugt die Vorstellung, daß den Richtungen des Druckes ein besonders Recht der Menschen entspreche. So entsteht, neben der Forderung der religiösen Freiheit, die der Preßfreiheit, der Redefreiheit, der Vereins- und Versammlungsfreiheit, der Auswanderungsfreiheit, des Petitionsrechtes, der Freiheit von willkürlicher Verhaftung, Strafe und Schätzung usw., ferner die Forderung auf die alle diese Institutionen schützende Teilnahme des einzelnen am Staatsleben, sowie auf die Gestaltung des Staates als einer Vereinigung freier und gleicher Menschen. Diese Fülle greifbarer Rechtsgüter sind der Siegespreis harten Ringens, nicht Erzeugnisse der Spekulation gewesen."53 Ist das pursuit of happiness überhaupt ein mögliches Recht? Die gleiche Frage stellt sich für die „Fülle möglicher Rechtsgüter" — wie sind die Rechte als Rechte zu legitimieren? „Es ist aber gut, sich daran zu erinnern, daß auch in den allgemeinen Formeln sich die konkrete Wirklichkeit spiegelt und daß die amerikanischen Bills im wesentlichen eine bloße Inventarisierung des alten Rechtsbesitzes sind,..." schreibt Otto Voßler in seiner Arbeit zu den Menschenrechten54. Der Begriff des Rechtsbesitzes ist zweideutig. Er kann einmal einen bloßen Rechtsanspruch bedeuten, zum ändern ein angeborenes oder erworbenes Rechts-Gut. Die Bürger- oder Menschenrechtsbewegung begann, wie sich zeigte, mit dem letzteren: es galt, die schon bestehenden, als rechtmäßig vorausgesetzten Güter gegen willkürliche Übergriffe der Regierung zu schützen. Wäre das pursuit
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of happiness ein Rechts-Gut in diesem Sinn, so müßte es „possession of happiness" sein, die Regierung wäre gehalten, nicht in den Glücksbesitz der Bürger einzugreifen. Aber pursuit ist nicht Besitz , sondern die Jagd darauf, es ist nicht ein Recht an etwas gemeint, sondern ein Recht auf etwas. Wer ist der Adressat des Rechts, das jeweilige Glück zu verfolgen? Wie sieht exakt die Läsion dieses Rechtes aus? Zur Erläuterung folgende Eigentümlichkeit der Kantischen Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten: Es begegnet ein natürliches Recht auf etwas nur einmal, und zwar im Zusammenhang des Elternrechts: „. .. die Kinder als Personen haben hiermit zugleich ein ursprünglich-angeborenes (nicht angeerbtes) Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern, bis sie vermögend sind, sich selbst zu erhalten."55 Der Anspruch der Kinder auf eine Versorgung durch die Eltern resultiert aus der Pflicht, die diese sich dadurch zugezogen haben, daß sie eine Person ohne vorherige Nachfrage zum Weltbürger machten; sie haben dafür zu sorgen, daß diese Person wirklich zum Dasein befähigt wird. Mit der Erfüllung dieser Pflicht endet jeder Anspruch des mündigen Menschen auf etwas. So Kants Lehre in der Metaphysik der Sitten: Die Familie, nicht der Staat hat eine Sozialverpflichtung. Life, liberty, estate waren ursprünglich gemeint als Rechte an etwas, nicht auf etwas, der Gegner, gegen den sie formuliert werden, ist eine Regierung, die sich anmaßt, in einen als rechtlich anerkannten Besitzstand einzugreifen. Mit der Heraufkunft des Rechts auf etwas als einem Folge- oder Voraussetzungsrecht des Rechts an etwas beginnt eine neue Epoche der Menschenrechtsbewegung.
Anmerkungen 1. Arthur Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. 1936, u. o. 2. Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), in: Kants Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe) Bd. 7, 1-116. Auf die Kantische „Universitäts-Theorie" geht weder Klaus Reich in der Einleitung seiner Ausgabe (Hamburg 1959) ein, noch nehmen die Arbeiten von Paul Menzer, Arthur Warda und Otto Schöndörffer in den Kant-Studien 23, 1918/19 und 24,1920
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Notiz vom eigentlichen Inhalt des ersten Abschnitts, der erst im „Anhang einer Erläuterung des Streits der Fakultäten durch das Beispiel desjenigen zwischen der theologischen und philosophischen" das im Titel angegebene und die Kommentatoren einzig interessierende Thema erörtert. In der Bibliographie der deutschen Universitäten von Wilhelm Erman und Ewald Hörn, Leipzig und Berlin 1904, fehlt die Kantische Schrift (s. bes. die Literatur von 1558 bis 1898,1, 21 ff.). Auch in anderer einschlägiger Literatur wird sie nicht erwähnt, so etwa bei Rene König, Vom Wesen der deutschen Universität (1935), Darmstadt 19702 (s. bes. 65-121). - Nach Abschluß der Arbeit entdeckte ich den Aufsatz von Günther Bien, Kants Theorie der Universität und ihr geschichtlicher Ort, in: Historische Zeitschrift 219, 1974, 551-577. Bien verweist auf Johann Georg Walchs Philosophisches Lexikon 1726, 17402, s. v. Facultät. Walch stellt eine „natürliche" Rangfolge unter den oberen drei Fakultäten auf und orientiert sich dabei offensichtlich an der Dreiheit von Seele (Theologie), Leib (Medizin) und äußeren Gütern (RechtsGelehrsamkeit). Den Ursprung dieser Idee, die Fakultäten nach dem antiken Wertekanon zu interpretieren, konnte ich nicht feststellen. — Johann Andreas Siep(ius) geht in seiner Dissertation De non adaequata eruditionis in quatuor facultates divisions, Wittenberg 1730, auf die von Walch und Kant zugrundegelegte Interpretation der Fakultäten gemäß den menschlichen Grundinteressen ein, scheint jedoch das eigentliche Schema nicht mehr zu kennen und läßt sich die juristische Fakultät auf den je eigenen Körper (wohl nach der Theorie von Hobbes) beziehen: „Triplicis vero genesis fines tantum putant (sc. bestimmte, nicht näher genannte Verteidiger der bestehenden Universität) locum habere, quorum unus spiritualia, alter aut et tertius respiciat mundana. Speciosam hanc divisionis quadripartitae explicationem esse non diffitemur; hominum enim studia ac labores in eo occupati sunt potissimum, ut (1) aeternam aliquando consequantur salutem; quod opus est theologiae, (2) ut homines, per naturam ad quodvis proclives malum aestuque affectuum abrepti, in officio contineantur, alter ab altero sit tutus, atque humana stare societas possit; quod munus est jurisprudentiae, (3) ut corporis conservetur sani tas . . .; qui est finis et scopus medicinae" (24). Platon, Apologie 30a, b. Ich benutze die Platon-Ausgabe von John Burnet, Oxford 1900, und lege bei den Zitaten die Übersetzung Schleiermaches zugrunde. Vgl. dazu u. a. Eckart Schütrumpf, Die materia virtutis in der stoischen Ehtik (erscheint demnächst). - Die Stoa wendet sich mit ihrer Lehre von guten und indifferenten Dingen gegen das Seele-Körper-Äußeres-Schema; die Gliederung bei Diogenes Laertius VII, 106 (SVF III, 31), die diesem Schema folgt, ist nicht stoischen Ursprungs. Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, Darmstadt 1974, 28 1—282 (282). — E. R. Dodds dagegen schreibt in seinem Kommentar zum Gorgias (Oxford 1959): „a conventional list of agatha", das stimmt vermutlich, aber Dodds vergißt in seiner großzügigen Art, seine Auffassung zu belegen. Hermann Diels-Walter Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 8 1956, II 379 (fr. 6, Zeile 18-19).
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7. Die Sammlung bei Dirlmeier ist nicht vollständig; so fehlt ein Verweis auf Phaidros 239 a—240 a, wo Sokrates in seiner ersten Rede eine Güterfächerung nach dianoia, soma und ktesis vornimmt. 8. Platon, Gorgias 467 a und 477 a—c. 9. Aristoteles, Politik 1325 a 25-26; vgl. dazu auch Diogenes Laertius, De clarorum philosophorum vitis, dogmatibus et apophthegmatibus libri decem III, § 80. 10. In: Rhetores Graeci, ed. L. Spengel, Leipzig 1854, II, 109-110. 11. John Tillotson, Works, ed. Th. Birch, London 21820, X 170. 12. Richard Bentley, The Folly and Unreasonableness of Atheism Demonstrated from . . . The Faculties of Humane Souls, The Structure of Animate Bodies, & The Origin and Frame of the World, London 1962 u. ö. 13. David Hume, A Treatise of Human Nature III, 2, 2; ed. Selby-Bigge, Oxford 1896 u. ö., 487; vgl. unter 297, 303. 14. Ms. germ. Quart. 400 der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz, S. 368. Vgl. das Manuskript Brauer 161. — Die Ehre nimmt hier — vielleicht unter dem Einfluß der Ulpianschen Trias von honeste vive, neminem laede und suum cuique (vgl. Institutionen I, l, 2; s. u. a. Kant VI, 236-237) - den Ort des Seelenguts ein, so auch bei Adam Smith, Lectures on Jurisprudence, ed. Meek, Raphael, Stein, Oxford 1978, 399: „A man may be injured 1st in his body by wounding, maiming, murthering, or by infringing his liberty. 2dly, in his reputation . . . These rights which a man has to the preservation of his body and reputation from injury are called natural. Or as the civilian express them iura hominum naturalia. 3dly, a man may be injured in his estate. His rights to his estate are called acquired or iura adventitia"; The Theory of Moral Sentiments, III, 3, 12 ed. Raphael and Macfie, Oxford 1976, 142 („either in our body, in OUT fortune, or in our reputation'1). In der Antike erscheint die Ehre als Pendant zum Körper, wie sogleich gezeigt werden soll. 15. Carl Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat, herausgegeben von H. Conrad und G. Kleinheyer, Köln und Opladen 1960, 3 (bzw. 117). 16. Platon, Apologie 29 d, e. 17. Cicero, Tusculanen V, 9. Zu dem Problem der Lebenswege vgl. u. a. A. E. Taylor in seinem Kommentar zum Platonischen Timaios, Oxford 1928, 496-498. Taylor sieht nicht den durch die Apologie sichergestellten Zusammenhang der drei Lebensformen und psychischen Vermögen mit der Gütertrias Seele—Körper—äußere Dinge. — Vgl. weiter Werner Jäger, Ursprung und Kreislauf des Philosophischen Lebensideals, jetzt in: Scripta Minor a, Rom 1960, I, 347—393; Jäger verfehlt diesen Punkt ebenso wie Ingemar During, Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, 470 („Erst bei Aristoteles finden wir aber das bekannte Schema der drei Lebensformen mit Genuß, bürgerlicher Tugend oder philosophischer Einsicht als höchstem Ziel")· J· L. Stocks, Plato and the tripartite soul, in: Mind24,1915, 207—221 nimmt die dem Pythagoras zugeschriebene Vorstellung für gesichertes vorplatonisches Gedankengut an und läßt sich Platon darauf beziehen. 18. Auf die Tatsache, daß es sich dabei nicht um drei, sondern vier Tugenden handelt und auch bei Kant die Universität nicht auf drei Fakultäten reduziert
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ist, sondern die philosophische zu den genannten oberen Fakultäten hinzukommt, werde ich in einer gesonderten Publiktation über Theorie und Praxis der Interpretation philosophischer Texte eingehen. Abgedruckt in: Illuministi italiani V, Riformatori Napoletani, ed. Franco Venturi, Mailand—Neapel o. J. 47. Vgl. u.a. in der Akademie-Ausgabe 5, 433 und 8, 21. Thomas Hobbes, Leviathan (1651), Kapitel 11, Absatz 3: „Competition of Riches, Honour, Command or other power. . .". - Eine andere, von der hier untersuchten Trias vielleicht unabhängige Tradition knüpft an Aristoteles, Nikomachische Ethik 1095 a und 1. Joh. 2, 16 an und nennt als Hauptlaster Wollust, Ehrgeiz und Geldgeiz; vgl. dazu u. a. Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim-New York 1971, 212-213 u. ö. Giambattista Vico entwickelt eine Laster-Trias in Parallele zum Grundriß der Platonischen Politeia: „La legislazione considera l'uomo quäl e, per farne buoni usi neH'umana societä: come della ferocia, dell'avarizia, deH'ambizione, ehe sono gli tre vizi ehe portano a travverso tutto il gener umano, ne fa la milizia, la mercatanzia e la corte, e si la fortezza, l'opulenza e la sapienza delle repubbliche; e di questi tre grandi vizi, i quali certamente distruggerebbero Pumana generazione sopra la terra, ne fa la civile felicitä." (Principi di Scienza Nuova 3 1744, l, 2, 7 (ed. F. Nicolini, Bari 1953, I, 75-76)). Es wird benutzt die Edition der Two Treatises of Government (1960) von Peter Laslett, Cambridge 21970. Tyrrell nimmt die gleiche Figur in der Preface seiner Bibliotheca politico, 1718, VII, auf. - Für die Hilfe bei der Materialsichtung des folgenden Manuskriptteils danke ich Fräulein Eva Arend (Konstanz). The Political Works of James l (1616), reprint New York 1965, 63-64. Vgl. M. A. Judson, The Crisis of the Constitution, Rutgers 1949, 38. Es handelt sich um ein Dokument aus dem Jahre 1628 (Commonplace Book von Sir W. Lee, Lincoln Inn Mss. 242 r-v). M. A. Judson, op. cit. 95 (Coke, Reports VII, 12, p. 49). Bei Francis Bacon erscheint die Trias in folgender Form: „Is it not a common principle that the law favoureth three things, life, liberty and dower!" (vgl. M. A. Judson, op. cit. 133). Die Wendung wird gebraucht in der Auseinandersetzung Bacons mit den Ansprüchen von James I. Nach Josef Bohatec, Menschen- und Bürgerrechte in der englischen Publizistik, jetzt in: Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, ed. R. Schnur, Darmstadt 1964, 267-331, übernimmt Edward Coke den Ausdruck „life, liberty, dower" von Bacon und ändert ihn später ab in life, liberty, possession (284—285). — Von parlamentarischer Seite wird argumentiert, der König habe kein Recht der willkürlichen Verfügung über das Eigentum und damit a fortiori kein Recht „over our Persons, to imprison them, without declaring the Cause" (vgl. ibid. 244, s. auch J. W. Gough, Fundamental Law in English Constitutional History, Oxford 1955, 62). In einer Rede gegen die Ausweitung der königlichen Prärogative heißt es: Die Regierung habe willkürlich das Eigentum der Bürger angegriffen, Personen ohne Rechtsgrund ins Gefängnis geworfen und die Gesetze mißachtet, „but that which is more than lives, more the lives and liberties of thou-
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Reinhard Brandt sands, then all our goods, all our interests and faculties, the life, the libertie of the parliament, (vgl. F. Thompson, Magna Charta. Its Role in the Making of the English Constitution 1300-1629, Minnesota 1950, 336). S. R. Gardiner, Constitutional Documents of the Puritan Revolution (1625-1660), Oxford 1906, 236. S. R. Gardiner, op. cit. 286. S. R. Gardiner, op. cit. 374, 375. Vgl. J. W. Gough, op. cit. 108 (aus: W. Walwyn, England's Lamentable Slavery von 1645). Die parlamentarische Seite hat ihre eigene Herkunft aus der Opposition gegen den Absolutismus nicht gänzlich verdrängt, vgl. dazu die Ausführungen von Ireton, auf die sich J. Bohatec, op. cit. 298-299 bezieht („wee may have a regard to safetie - safetie to OUT persons, safetie to our estates, safetie to our libertie1'). Es ist das gleiche Grundprinzip, von dem Hobbes ausgeht und das Recht auf alles konstruiert, vgl. Vf., Rechtsverzicht auf Herrschaft in Hobbes' Staatsverträgen, in: Philosophisches Jahrbuch 87, 1980, 41-56 (45-46). D. M. Wolfe, Leveller Manifestoes of the Puritan Revolution, New York 1967, 159-160. Ibid. 162-163. Ibid. 164-165. Ibid. 166. Ibid. 167-168. Vgl. weiter 171, 174, 181, 183, 192, 193, 264, 302. Weiter wird die Trias benutzt in der Declaration of Breda von 4. bzw. 14 April 1660 (vgl. S. R. Gardiner, op. cit. 466). Im gleichen Jahr erklärt Sir Orlando Bridgman beim Prozeß: „Though this is an Absolute Monarchy, yet this is so far from infringing the people's rights, that the people, as to their properties, liberties and lives, have as great a privilege as the king. It is not the sharing of government that is for the liberty and benefit of the people, but it is how they may have their lives, and liberties, and estates, safely secured under government" (J. W. Gough, op. cit. 140). Auch Henry Neville benutzt die Trias als feste Größe in seinem Plato Redivivus or, A Dialogue Concerning Government: in der frühen Normannenzeit habe es bei den Engländern Gesetze gegeben, „by which, neither their lives, liberties, or estates could ever be in danger any more from arbitrary power in the prince and so the good government in England, which was before this time (like the law of nature) only written in the hearts of men; came to be expressed in parchment and remain a record in writing; though these charters gave us no more, than what was our own before" (in: Two English Republican Tracts, ed. C. Robbins, Cambridge 1969, 122; vgl. weiter 130 und 131). - Der Versuch eines eigenständigen Nachweises der Notwendigkeit von life, liberty und estate als unveräußerlicher Menschenrechte findet sich überraschenderweise ebenfalls bei Hobbes. Daß ihm die Trias bekannt ist, zeigt folgender Satz aus dem Leviathan: Wenn jemand im status naturalis etwas anpflanzt, sät oder baut oder einen günstig gelegenen Ort besitzt, „others may probably be expected to come prepared with forces united, to dispossesse, and deprive him, not only of the fruit of his labour, but also of his life, or liberty" (Kap. XIII, Abs. 3). Im Kapitel XIV handelt Hobbes von Rechten, „which no man can be understood by any
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words, or other signes, to have abandoned, or transferred. As first a man cannot lay down the right of resisting them, that assault him by force, to take away his life, . . .. The same may be sayd of Wounds, or Chayns, and Imprisonment; . ... And lastly . . . the security of a mans person, in his life, and in the means of so preserving life, as not to be weary of it" (Abs. 8). Hobbes ist kein Pedant und hält sich nicht eng an die vorgegebenen Worte, aber seiner Dreiteilung liegt klar das Schema von life, liberty und estate zugrunde. Jean-Jacques Rousseau, (Euvres completes III, Paris 1964, 180-181, s. a. 225. W. Macdonald, Selected Charters and other Documents illustrative of American History 1606-1775, New York 1914, 66. Es handelt sich um einen Massachusetts Circular Letter aus dem Jahre 1768. Der Autor ist Samuel Adams. Clinton Rossiter, Seedtime of the Republic, New York 1953 (Connecticut Gazette vom 10. 4. 1756). Ibid. 274-275. Ibid. 34 I. Zur analogen Argumentation von irischer Seite am Ende des 17. Jhdts. vgl. William Molyneux, The Case of Ireland's being bound by Acts of Parliament in England, Dublin und London 1698 (reprint Dublin 1977). Molyneux argumentiert historisch und naturrechtlich. Der geschichtliche Befund ergibt, daß Irland, Schottland und England gleichberechtigt unter einem König stehen und das englische Parlament so wenig über irische Bürger zu entscheiden befugt ist wie das irische über englische. Naturrechtlich ist die Gleichheit der Menschen die Grundlage eines Rechts, „which all men claim, of being free from all subjection to positive laws, till by their own consent they give up their freedom . . . And on this consent depends the obligation of all human laws . . . To the same purpose may we find the universal agreement of all civilians, Grotius, Puffendorf, Lock's Treat. Government etc." (117—119). Molyneux appelliert — in einer m. W. neuen Weise — an die Solidarität derjenigen, die sich zu den Prinzipien der Freiheit bekennen. England als eine freie Nation kann nicht „the least breach in the Rights and Liberties of their Neighbours" wollen. Wie sein Freund und Verehrer Lockes Robert Molesworth (vgl. dessen Account of Denmark as it was in the Year 1692, London 1694) sieht Molyneux in dem der Antike unbekannten Repräsentationssystem die Möglichkeit der politischen Freiheit. Zu Molesworth's Bedeutung für die politischen Vorstellungen in den amerikanischen Kolonien vgl. Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, Cambridge/Mass. 1967, 39, 65, 66, 98, 99. M. Beloff, The Debate on the American Revolution 1761-1783, London 1949, 56 (aus der Schrift von James Otis, Rights of the British Colonies Asserted and Proved von 1764). B. Schwartz, The Bill of Rights: A Documentary History, New York 1971,1. 200. Ibid., 216. Ibid., 230. - „Mit der Trennung vom Mutterland muß auch die frühere Berufung auf das positive Recht der Charters und Englands wegfallen, und es bleibt als Rest nur noch der Appell an die höchste Instanz, an das Naturrecht
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Reinhard Brandt allein stehen" (Otto Vossler, Studien zur Erklärung der Menschenrechte, jetzt in: Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte (s. Anm. 28), 166—201 (192); vgl. auch die bei Vossler abgedruckten Dokumente. 189-192). Ibid., 234. Ibid., 282 (Verfassung von Maryland, Art. XXI: „That no freeman ought to be taken, or imprisoned, or disseized of his freehold, liberties, or priviledges, or outlawed, or exiled, or in any matter destroyed, or deprived of his life, liberty, or property . . ."), 287 (North Carolina Art. XII, gleichlautend), 264 (Pennsylvania „I. That all men are born equally free and independent and have certain natural, inherent and inalienable rights, among which are, the enjoying and defending life and liberty, acquiring, possessing and protecting property, and pursuing and obtaining happiness and safety"), 222 (Vermont, gleichlautend), 340 (Massachusetts, gleichlautend), 375 (desgleichen New Hampshire). Ibid., 252. Andrew J. Reck, Natural Law in American Revolutionary Thought, in: Review of Metaphysics 30, 1977, 686-714 (705). Ibid., 705. Es handelt sich um die Adress to the Committee of Correspondence in Barbados, Philadelphia 1766, 4-5. C. Rossiter, op. cit., 410-411. A. J. Reck, op. cit., 706. Georg Jellinek, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, jetzt in: Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte (s. Anm. 28), 1—77 (61). Zu einer ähnlichen Akkumulation von Rechten in der deutschen aus völlig ändern Prämissen resultierenden Theorie vgl. Diethelm Kuppel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, bes. 72-91 („Die Idee der Menschenrechte im älteren Naturrecht"). O. Voßler, op. cit. 168. I. Kant, op. cit. 6, 280; vgl. 22, 257 („Ein Recht auf Nahrungsmittel").
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Vom „ius connatum" zum „Menschenrecht". Deutsche Menschenrechtstheorien der Spätaufklärung Die Genese von Menschenrechtstheorien1 ist in der dogmengeschichtlichen Literatur zumeist im Zusammenhang der Ausbildung der modernen „bürgerlichen" Freiheitsrechte angesiedelt worden2. Im Maße der Ausweitung der naturzuständlichen Freiheit („status libertatis") zur innerstaatlichen Freiheit („status civilis"), also mit der Angleichung des Staats- an den Naturzustand, sei zugleich der Freiraum des Privatbürgerrechts gegen Staatseingriffe stabilisiert und garantiert worden. Menschenrechte sind diesem Interpretationskonzept zufolge Axiomata der Abgrenzung von privatem und öffentlichem Recht mit der Folge der Trennung von Staat und Gesellschaft3, die ihrerseits allererst Individualfreiheit ermöglicht. Einer solchen, auf das liberale Verfassungsmodell zulaufenden Deutung bleiben sowohl Spannungsmomente zwischen materialen und formalen Rechtsforderungen verborgen, als auch Problemzonen der Konkurrenz und Substitution von Menschenrechten durch Menschenrechte, wie sie an der Nahtstelle von privatem und öffentlichem Recht (Beispiel: Zensuswahlrecht durch Eigentumsvorbehalt) auftreten können. Die Normativität des liberalen Postulats nach Staatsfreiheit4 im Bereich des Gesellschaftsrechts (Privatrecht) entwirft ein Suchbild von Individualfreiheit, dessen normative Implikationen explizit materiale Gerechtigkeitskonzeptionen5 des älteren Naturrechts als „absolutistisch" abqualifizieren und jeden Schritt der Ablösung von diesem sozialen Gerechtigkeitsprinzip gleichsetzen mit der Verwirklichung innergesellschaftlicher Freiheit. Die damit behauptete Wirkungslosigkeit der Normativität des Naturzustandes für den innergesellschaftlichen Zustand im älteren „absolutistischen" Naturrecht übersieht die Kohärenz dieser beiden recht-
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lichen „status"-Formen, wie sie am Beispiel der Wolffschen Analogisierung von naturrechtlicher Pflichtenlehre und Staatszwecklehre erweisbar ist6. Selbst nach der Reduktion der Staatsfunktionen auf Rechtsschutz7 und der Verabsolutierung privatrechtlicher Rechtsnormen ist die Zuordnung von Menschenrechts- und Privatrechtskonzeption8 sowie die grundrechtliche Zuordnung von Privatrecht und öffentlichem Recht9 keineswegs einheitlich nach einem generellen „liberalen" Zuordnungskriterium erfolgt. Sowohl die inhaltliche Amplitude der Menschenrechtskataloge als auch deren systematische Funktion im Rahmen von Rechtsdeduktion weicht bei den einzelnen aufklärerischen Theoretikern voneinander ab. Dennoch lassen sich im naturrechtlichen Systemaufbau entscheidende theoriegeschichtliche Weichenstellungen nachweisen, die inhaltliche Neufestlegungen indizieren. Nur die Berücksichtigung solcher Argumentationsschemata sowie die Bestimmung der Systemfunktion von Menschenrechten erlaubt Aufschlüsse über deren Stellenwert im öffentlichen Recht und im Privatrecht. An einem bewußt eingegrenzten Quellenmaterial sollen folgende Problemzusammenhänge diskutiert werden: 1. Die Individualisierung materialer Gerechtigkeitspostulate in der deutschen Spätaufklärung. 2. Die Ausgliederung reservatrechtlicher „Menschenrechte" aus dem Staatszugriff im Prozeß der Trennung von „Staat" und „Gesellschaft". 3. Substitutionsformen von Menschenrechten durch Menschenrechte als Folge des Notrechtstheorems. 4. Die Veränderung des Selbständigkeitspostulats unter dem Einfluß demokratischer Grundrechtsforderungen. Die unter Punkt 3 und 4 genannten Themenkreise sind eingebettet in das sie übergreifende Problem der Verrechtlichung von Feudalrechten zu „Privatrechten" und der Auswirkung von Revolutionslegitimationsformen auf das spätaufklärerische Naturrecht.
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L Die Individualisierung materialer Gerechtigkeitspostulate in der deutschen Spätaufklärung Im vierten Hauptstück des ersten Teils seines Spätwerkes „Institutiones naturae et gentium"10 leitet Christian Wolff die „Pflichten des Menschen gegen sich selbst" dreiteilig ab: „Pflichten gegen die Seele, gegen den Leib und in Absicht auf den äußern Zustand"11. Gemäß seiner Lehre von der Korrespondenz von Pflichten und Rechten materialisiert Wolff diesen Pflichtenkatalog zu einem positiven Rechtekatalog, der die sozialen Anspruchsrechte des Individuums an die Gesellschaft zusammenfaßt. Bezüglich jener Rechte, die aus der Pflicht „zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit"12 resultieren, spricht Wolff dem „Menschen" folgende Anspruchsrechte zu: das Recht auf Speise und Trank, auf Arzneien, auf Kleidung, Wohnung, das Recht auf „künstliche Schönheit des Körpers" („ornamenta") sowie auf alle Gegenstände, die das „commode vivere" ermöglichen. Hinzu kommen die Rechte auf „Arbeit" und „Ehre"13. Vergleicht man diesen Rechtskanon mit den Menschenrechtskatalogen der utilitaristischen deutschen Spätaufklärung, dann läßt sich die Dekkungsgleichheit der Rechtsinhalte nachweisen. Der Einbau der Theorie der „iura connata" in das naturrechtliche Systemgehäuse sowie die Korrespondenz von materialer Pflichtenlehre und Rechtslehre bei Wolff führt zur Verklammerung von Individualrechten mit einer sie übergreifenden Staatszwecklehre, deren Notwendigkeit aus der Unfähigkeit von Individuen und „natürlichen Gesellschaften" („Häuser") folgt, sich das „hinreichend zu verschaffen (zu) können, was zur Notdurft, Bequemlichkeit und dem Vergnügen, ja zur Glückseligkeit erfordert wird"14. Nur durch die kontraktuelle Einung der „Häuser" zum Staat („gemeines Wesen") lassen sich die Zwecke von Individuen und „natürlichen Gesellschaften" („Genuß des hinlänglichen Lebensunterhalts" sowie „Ruhe" und „Sicherheit") erreichen. Innerstaatlich realisiert sich das „gemeine Beste" („commune bonum")15 als Einlösung der Pflichten des Menschen gegen sich selbst, gegen andere Menschen und gegen Gott. Die Staatszweckbestimmungen16 sind identisch mit den (individuellen) Perfekti-
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bilitätspflichten der Staatsglieder gegen sich selbst. Aus der teleologischen Verknüpfung von individueller und allgemeiner „Vollkommenheit" sowie aus der Insuffizienz außerstaatlichen Perfektibilitätsstrebens ergibt sich die Notwendigkeit der Gesellschaftsund Staatsformierung unter den Bedingungen einer überindividuellen Staatszwecktheorie. Dem Staat ist durch diese Staatszweckkategorien die Einlösung jener materialen Anspruchsrechte aufgegeben, die sich (vom Blickpunkt des Staatsglieds) darstellen als materiale Anspruchsrechte des Individuums an das „gemeine Wesen". Die im Staatszwecktheorem bei Wolff mitgesetzte soziale Gerechtigkeitskonzeption wurde in der deutschen Spätaufklärung vom Utilitarismus individualisiert, indem der soziale Rechtekanon den Geltungsstatus von „Menschenrechten" erfuhr. Damit erfolgte eine Ausgliederung individueller Rechtsansprüche aus der Staatszweckkonstruktion bei gleichzeitiger Beschränkung der Staatszwecklehre auf Rechtssicherungsfunktionen. Soziale Grundrechte17 werden vom individualisierten Bedürfnistheorem des „Menschen" abgeleitet, deren rechtliche Positivierung aber allein als soziale Verpflichtungslehre des Staates begründbar war. Um gleichwohl individuelle Freiheitsrechte (unter Einschluß individueller Anspruchsrechte!) dem materialen Formungseinfluß des Staates entziehen zu können, wird die Staatszwecklehre ganz aus dem Rechtekanon ausgeschlossen, der Rechtekanon gespalten und die Inhalte der Menschenrechte „deklariert" und nicht länger systembezogen deduziert. Diese „Privatisierung" von Rechtspflichten und Rechtsansprüchen vollzieht sieht unter gegenabsolutistischen Vorzeichen bei gleichzeitiger Wahrung der Rechtsinhalte des Wolffianismus. Das Rechtsdenken der jüngeren Aufklärung in seiner sozialrechtlichen Variante trifft sich mit dem frühliberalen Rechtsindividualismus in der Forderung nach Staatsfreiheit im Bereich des Gesellschaftsrechts (Privatrechts). Die hier formulierte Kritik einer materialen Gerechtigkeitsforderung des älteren Naturrechts wird durch die individuelle Zuschreibung von sozialen Anspruchsrechten vom Utilitarismus aufgefangen. Daß eine solche Sozialrechtskonzeption gleichwohl nicht mehr unter den Prämissen des staatlichen Gemeinwohlpostulats erfolgt, bezeichnet die
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individualistische Wende innerhalb des Rechtsdenkens seit den 60er Jahren das 18. Jahrhunderts in Deutschland. Die Kritik des jüngeren Naturrechts am Wolffianismus übersah die im Wolffschen Naturrechtskonzept formulierten Beschränkungen des Handlungsspielraums des Staates. Die Staatszwecklehre diente bei Wolff der Trennung des Souveräns als Staatsorgan („Oberhaupt des Staates") von der Privatperson des Regenten18, sie sicherte durch die Lehre vom aktiven und passiven Widerstandsrecht den Untertanen ein Selbsthilferecht im Falle der obrigkeitlichen Verletzung der Staatsgrundsätze und Staatszwecke zu19 und basierte auf dem Postulat der Widerspruchslosigkeit von natürlicher Rechtsvorgabe und positiver Rechtsfixierung20. Die Korrespondenz von natürlichem und positivem Recht, systemtheoretisch begründet in einer materialen Pflichtenlehre, die im Übergang vom Natur- zum Staatszustand umschlägt von einer individuellen zu einer staatlichen Verpflichtungs- und Rechtstheorie, soll positive und polizeiliche Gesellschaftssteuerung ausrichten auf die Norm vorgaben des Naturrechts. Insofern sollte man nicht, wie dies in der Forschung immer wieder unter Verabsolutierung liberaler Theorieinhalte geschieht21, dem älteren Naturrecht die Preisgabe von Grundsätzen des „Naturzustandes" (als „status libertatis") zugunsten einer staatlichen Omnipotenz (im „status civilis") vorwerfen. Die jüngere Sozialrechtstheorie der Spätaufklärung konnte ihre materiale Gerechtigkeitskonzeption nur um den Preis des Verzichts auf Systemableitbarkeit dieser Rechte aufrechterhalten. Die Form der Rechtsdeklaration in Gestalt des Menschenrechtskatalogs erlaubte zwar die Eliminierung einer positiven Staatszwecklehre, sie erfolgte aber unter Verzicht der Begründung der Menschenrechte, indem man auf deren nicht „erwerbbaren" Rechtsstatus rekurrierte22. Diese Gleichordnung der einzelnen Menschenrechte konnte Kollisionsfälle von Menschenrechtsforderungen mit Menschenrechtsforderungen ebensowenig erfassen wie Substitutionsprobleme von Menschenrechten durch Menschenrechte23. Die Aufgabe der systemtheoretischen Fixierung von Rechten hatte zur Folge, daß weder die Einheit des Rechtekanons noch die Summe seiner Bestandteile nach übergeordneten (systematischen) Kriterien „bewiesen" wurde.
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Die aus ihrem Begründungskontext herausgelösten Menschenrechtskataloge zeichnen sich durch ihre fast beliebige Verwendbarkeit (unabhängig vom Textgenus) aus. So war es möglich, daß der pädagogische Utilitarismus24, der seine Erziehungstheorie funktional zu begründen suchte, dem Leitbild „evidenter" angeborener Rechte seine sozialen Zielvorstellungen amalgierte. Ohne die Trennung von Natur- und Staatszustand und die damit verbundene Souveränitätskonstruktion des Staates zu berücksichtigen, werden die Menschenrechtstheorien aus der politischen Vertragslehre entlassen. Die damit zugleich aufgegebene Bestimmungsmöglichkeit der Zuordnungsformen von Individual- und Gesellschaftsrechten versucht man durch die Spaltung des Rechtekanons zu kompensieren. Carl Friedrich Bahrdt, der wegen seiner libertinösen Lebensführung häufig unterschätzte Spätaufklärer, hat sich in unterschiedlichen Textgattungen eines solchen doppelten Menschenrechtskatalogs bedient. Im „Handbuch der Moral für den Bürgerstand" (1789)25, in der „Würdigung der natürlichen Religion und des Naturalismus in Bezug auf Staat und Menschenrechte"26 (1791) und in dem Spätwerk „Rechte und Obliegenheiten der Regenten und Untertanen in Beziehung auf Staat und Religion" (1792)27 sind diese Kataloge eingebaut, ohne daß der sich rasch verändernde politische Standpunkt des Autors Einfluß auf Inhalte und Ausgestaltung des Rechtekatalogs gehabt hätte. Im Unterschied zu Wolff, der seine menschenrechtliche Theorie im „status naturalis originarius" begründend verortet hatte, behauptet Bahrdt, daß es im Naturrecht keine Pflichten und folglich auch keine Rechte des Individuums gebe.28 Er löst die Menschenrechtskataloge aus einem sie übergreifenden Ableitungszusammenhang heraus und betrachtet sie als Setzung, die zur Begründung aller weiteren Rechts- und Verpflichtungsformen notwendig sei. Menschenrechte werden bei Bahrdt einem zweifachen Klassifikationsschema unterworfen: Zunächst werden die Pflichten des Menschen gegenüber der Gesellschaft aufgeführt, sodann die „Obliegenheiten" der Gesellschaft gegenüber dem Individuum. Diese Doppelung des Menschenrechtskatalogs hat man irrtüm-
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licherweise als Nebeneinander von liberaler und frühsozialistischer Rechtsdeduktion eingeschätzt.29 Die Pflichten der Gesellschaft gegenüber dem Individuum, die sich als subjektive (soziale) Anspruchsrechte des Individuums an den Staat deuten lassen, verweisen ausnahmslos zurück auf das vorliberale Modell einer materialen Gerechtigkeitsgarantie, wie sie der Wolffianismus schulphilosophisch tradiert hatte. Daß diese nunmehr der materialen Staatszwecklehre entrissen und in Form individualisierter sozialer Anspruchsrechte begründet werden, verweist auf die antiabsolutistische Konzeption von Bahrdt. Der Inhalt des sozialen Rechtekatalogs ist als Summe sozialer Menschenrechte gleichwohl identisch mit den Wölfischen Einzelbestimmungen, die aus dem Recht des Menschen auf „Leben" abgeleitet werden. Bahrdt erklärt in Übereinstimmung mit Wolff, daß der Mensch ein Recht habe, sich zu sättigen, sich zu kleiden, zu wohnen, daß er die Gemeingüter nutzen dürfe (Luft, Wasser etc.), daß er seine seelischen und körperlichen Kräfte vervollkommnen und ausbilden müsse. Er fügt diesem Katalog das Recht auf freien Eigentumsgebrauch, das Recht auf Befriedigung des Geschlechtstriebes, auf Schutz der Ehre sowie das Recht auf freie Mitteilung (Publizität) hinzu30. Diese in sich heterogene Rechtsmasse könnte man im Kategorien- und Gliederungsschema des älteren Naturrechts unter die Leitbegriffe des Rechts auf „Dasein" (,,Leben"), auf „Wohlstand" und auf (individuelle) Vollkommenheit („Perfektibilität") stellen. Den Anspruchsrechten des Individuums an die Gesellschaft setzt Bahrdt die Anspruchsrechte der Gesellschaft an das Individuum entgegen. Im Zentrum dieses individuellen Verpflichtungskatalogs steht die Forderung nach Anerkennung eines jeden Gesellschaftsgliedes als Rechtssubjekt durch jedes andere Gesellschaftsglied. Diese Rechtsfähigkeit des Menschen ist innergesellschaftlich nur gewährleistet, wenn Verträge, Eide, Versprechen gehalten, das Gleichheits- und Freiheitsprinzip anerkannt, die Perfektibilität der Gesamtgesellschaft individuell befördert und die staatliche Gesetzgebung geachtet wird. Da Bahrdt ausdrücklich auf eine temporal-logische Statustheorie für die Rechtsdeduktion verzichtet, muß er seine beiden Rechtskataloge
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durch Rechtssummierung auffüllen. Dadurch ist die Gefahr einer Aufschwemmung des Katalogs mit beliebigen Rechtstiteln ebenso unvermeidlich, wie ein nicht hierarchisiertes Nebeneinander von Rechten und Verpflichtungen31, die im älteren Naturrecht als Formen des „status naturalis originarius" bzw. des „status naturalis adventitius" getrennt werden32, um im Falle der Kollision von Rechten ein eindeutiges Über- und Unterordnungsverhältnis angeben zu können. Die gegenstaatliche Pointe der Bahrdtschen Ausgliederung der Rechts- und Pflichtenkorrespondenz aus der absolutistischen Staatszwecktheorie und deren Zurücknahme zu Menschenrechten limitiert den Handlungsspielraum des Staates; in der Praxis schafft dieses Summierungsprinzip gleichwohl Unsicherheit bezüglich der Geltungskraft von Menschenrechten. Das Diktum Bahrdts, „so ist kein Gesetz gültig und rechtmäßig, das Rechte der Menschheit aufhebt", ist kaum bestimmter als die Wölfische Forderung, daß das positive Recht nicht im Widerspruch zu natürlichem Recht fixiert werden dürfe. Gleiches gilt für die Beschränkung des Handlungsspielraumes des Staates und des Regenten. Wolff glaubte durch die Bindung des Regenten an Staatszwecktheoreme eine Schranke gegen obrigkeitlichen Souveränitätsmißbrauch formuliert zu haben. Bahrdt schreibt: „Er (sc. der Regent) regiert das Ganze und hat dem Einzelnen nur insofern zu befehlen, wiefern er Teil des Ganzen ist und auf das Ganze Einfluß hat . . ,"34. Bahrdt hat gegenstaatliche Freiheitsrechte mit sozialen Anspruchsrechten zu verbinden gesucht. Diese Kombination eines individualisierten „commune bonum"Konzepts unter Eliminierung des Staatszwecktheorems bezeichnet die auf Staatsfreiheit ausgerichtete Funktion der Menschenrechte bei Bahrdt. Die Hierarchisierung von Menschenrechten geht dieser Konstruktion verloren. Da sie nicht mehr innerrechtlich begründet werden kann, muß ein außerrechtliches Kriterium, das Prinzip der Utilität, an dessen Stelle treten. Bahrdt stuft die Rechte des Menschen nach dem Kriterium der „Notwendigkeit": lebensnotwendige Bedürfnisse werden den „vergnüglichen" vorgeordnet. Die „Evidenz" der damit implizierten Hierarchisierung tritt an die Stelle der staatlichen Festlegung und „polizeilichen" Aufsicht und Kontrolle der Rechtsgarantie. Die Konditionierung
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der Individuen zur Einsicht in die Notwendigkeit einer sozialen Rangdifferenzierung (mit gestuften Rechts- und Sozialchancen!) erfolgt in Form einer innerlichen Konditionierung („innere Ökonomie des Bürgers")35 mittels Moralisierung und Erziehung des Bürgers. Der „Mensch" ist bei Bahrdt freigesetzt zum vertragsautonomen „Bürger", der definiert wird durch einen essentiellen Katalog von Rechten, die wiederum funktional bezogen werden auf einen sozial gestuften Tugendkatalog nach Maßgabe ständisch definierter Utilität. Zielpunkt der Konstruktion ist der „nützliche Bürger". Die Entlassung des „Bürgers" aus dem sozialregulierenden „polizeilichen" Staat ist identisch mit der inneren Ausrichtung der „großen Menge" auf eine Sozial- und Arbeitsverfassung, die von dem Individuum Askese (Luxusverbot!), Sparsamkeit und „Tugend" erfordert. Erst im Einflußfeld der Französischen Revolution wird der politische Teil dieses Rechtskonzepts von Bahrdt radikalisiert, ohne daß die Prinzipien des Utilitarismus, die inhaltlich identisch mit dem Gemeinwohlpostulat der älteren Aufklärung sind, aufgegeben würden. Diese Spannung zwischen Rechtsindividualismus einerseits und gesamtgesellschaftlicher Utilität andererseits ließ sich nur vermitteln, indem der Menschenrechtskatalog zweipolig auf das Individuum und die Gesellschaft bezogen wurde. Bemerkenswert ist, daß Bahrdt gemeinrechtliche Garantierechte umstandslos neben individuelle (gegenstaatliche) Freiheitsrechte stellt und damit eine moderne Menschenrechtstheorie durch einen vorliberalen, materialen Rechtekranz anreichert, der inhaltsgleich mit der „iura connata"-Bestimmung des Wohlfahrtsstaatskonzepts ist. Der gespaltene Menschenrechtskatalog mit individualrechtlichem und gesellschaftsbezogenem Pflichten- und Rechteteil wird in der Pädagogik unter dem Leitthema „individuelle Vollkommenheit" und/oder „gesellschaftliche Brauchbarkeit" diskutiert36. In diesem Sinne polarisiert der Pädagoge Peter Villaume die „Rechte des einzelnen" den „Rechten der Gesellschaft"37. Die Gesellschaft hat das Recht „auf das Opfer eines Teils der Veredlung des einzelnen", der Einzelne hat ein Recht auf die Ausbildung seiner Fähigkeiten. Über den Ausgleich von Eigenbrauchbarkeit und Gemeinbrauchbarkeit (gesellschaftlicher
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Nützlichkeit) müssen die individuellen Fähigkeiten den gesellschaftlich-arbeitsbezogenen Qualifikationsnormen eingepaßt werden. Die Freiheitsemphase des gleichzeitigen liberalen Menschenrechtskonzepts wird zurückgenommen auf eine funktionale Brauchbarkeitskonzeption des Individuums im arbeitsteiligen Gesellschaftsprozeß. Die „verhältnismäßige" Aufklärung dieser Theorie wird von Villaume mit dem Hinweis verteidigt, daß ein abstraktes Freiheits- und Vollkommenheitsideal keineswegs die Unabhängigkeit des Individuums sichere. Deswegen fordert er: „Veredelt die Menschen, soviel es ihre Verhältnisse erlauben"38. Die vom jüngeren Naturrecht festgelegte Rechtsuniversalität des Bürgers findet nach Meinung des spätaufklärerischen Utilitarismus dort ihre inhaltliche Begrenzung, wo der Arbeitsprozeß spezifische Qualifikationen des Individuums erfordert. Im Rückgriff auf ältere Solidaritätskonzeptionen versuchen die utilitaristischen Spätaufklärer einen Ausgleich zwischen der modernen Freiheitskonzeption des Rechtsindividualismus und den Funktionsanforderungen einer berufsständisch geprägten Arbeitswelt theoretisch zu begründen. Zum Teil schlägt sich in diesen Theorien bereits eine Kritik des gleichzeitigen liberalen Grundrechtsmodells nieder, dessen Forderung nach Staatsfreiheit im Gesellschaftsbereich (Privatrecht) als formale Freiheitsgarantie zurückgewiesen wird.
II. Staatsfreiheit durch Menschenrechte: Das Konzept der „bürgerlichen Freiheit" Das Prinzip der Staatsfreiheit des privatrechtlich geregelten Gesellschaftsbereichs führt im jüngeren Naturrecht zu einer inhaltlichen Neubestimmung des Verhältnisses von „status naturalis" und „status civilis". Die Wölfische Forderung nach Widerspruchslosigkeit zwischen natürlichen und positiven Gesetzen wird unter Einfluß der gegenstaatlichen Menschenrechtskonzeption verschärft zu einer Reservatrechtskonstruktion, die auf die Bewahrung von individuellen Freiheitsrechten im postkontraktuellen Zustand abzielt39. Zunächst wird eine Eingrenzung der in-
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haltlichen Bandbreite des älteren Staatszwecktheorems („commune bonum") angestrebt, die Bindung des Souveräns an die von ihm erlassenen Gesetze verlangt, so daß die „maiestas" des „Regenten" der Gesetzesbindung unterworfen bleibt. Sukzessive wird der Souverän aus der Rolle des Legislators herausgedrängt, indem Gesetze als Ausdruck der Vernunft („Natur der Sache") definiert werden und die „ratio legis" dem Interpretationsspielraum des „Regenten" entzogen wird. Rechte, die dem „Menschen" „ex essentia et natura" zukommen, sollen ohnehin der staatlichen Verfügungsgewalt unerreichbar sein. Unter dem Schlagwort der „bürgerlichen Freiheit"40, der Abwesenheit des Staates im gesellschaftlichen Raum des Privatkontrakts, wird der Freiheitsraum des „Bürgers" definiert. Während eine Gruppe der jüngeren Naturrechtler (in Übereinstimmung mit älteren Definitionen) das Prinzip der „bürgerlichen Freiheit" auf jenen Bereich eingrenzen will, der legislatorisch (gesetzlich) ungeregelt und der „Willkür eines jeden Bürgers überlassen bleibt"41, erstrebt der jüngere Liberalismus unter Einfluß des Physiokratismus die prinzipielle Staatsfreiheit des Privatrechts oder (in vertikaler Dimension) die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft. Nach den Grundsätzen der Freiheit und der Gleichbehandlung der Rechtsperson durch staatliche Gesetzesregelungen richtet sich die inhaltliche Bestimmung der „bürgerlichen Freiheit" nach der Fixierung des Verhältnisses von „Menschenrechten" und „Privatrecht" bzw. nach der Auslegung der Relation von Grundrechten und Staatsrecht. Einerseits wird die Aufbrechung der ständischen „societas civilis" zur privatrechtlichen Vertragsgesellschaft erstrebt, zum anderen steht die Befreiung des Meinungs- und Ökonomiesektors aus der staatlichen Bevormundung im Zentrum dieser Forderungen nach „bürgerlicher Freiheit"42. Anstöße für eine (nunmehr ökonomische) Freiheitslehre jenseits von Staatsintervention sind keineswegs nur aus der innerjuristischen Diskussion erwachsen, sondern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgelöst worden durch die „Entdeckung" von natürlich-vernünftigen Selbstregulierungsmechanismen von Gesellschaft und Ökonomie. Der „ordre naturel et essentiel des
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societes politiques" (Le Mercier de La Riviere)43 wurde als autoharmonisch funktionierendes Kreislaufmodell gefaßt, dessen Funktionsgarantie in der Abwesenheit des staatlichen Interventionalismus liegt. Die Differenz von „interet personel" und „interet generate"44 hebt sich im Tauschakt produzierender und handelnder „Klassen" auf. Das „Gemeinwohl" stellt sich her im Privatrechtsverkehr der „Bürger". Die Abwehr staatlicher Gerechtigkeitspostulate, wie sie der Wolffianismus in Deutschland repräsentiert, vollzieht sich in der Entzweiung von privatrechtlicher Gesellschaftssphäre und staatlicher Rechtssicherungssphäre. Der Systemumgliederungsprozeß erfolgt bei gleichzeitiger inhaltlicher Konstanz der Rechte-Pflichtenfestlegung, die aber nunmehr aus dem staatlichen Verfügungsmonopol herausgenommen und dem Privatrecht überantwortet wird. Diesem Prozeß der Privatisierung materialer Pflichten und Rechte korrespondiert die Limitierung und Veränderung der naturrechtlichen Staatszwecklehre: Privatrechte stehen unter staatlichem Rechtsschutz, sie können vom Staat aber nicht inhaltlich festgelegt werden.45 Der deutsche Physiokrat Johann August Schlettwein, der 1779 seine „Grundfeste der Staaten oder die politische Ökonomie" publiziert hatte46, arbeitete 1784 eine komplementäre Rechtslehre unter dem Titel aus: „Die Rechte der Menschheit oder der einzig wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen"47. Die rechtliche Systemgliederung ist nahezu identisch mit jener von Wolffs „Institutiones". Auffällig und überraschend ist die inhaltliche Affinität der individuellen Rechtsbestimmungen bei Wolffund Schlettwein. Wolffs soziale Anspruchsrechte und positive Staatszweckbestimmungen wandeln sich bei Schlettwein zu Privatrechtsbestimmungen. „Rechte" werden gemäß der Bedürfnisstruktur des Menschen festgelegt: „Unsere Glückseligkeit besteht im Genuße. Wir müssen, wenn wir glücklich leben wollen, unsere natürlichen Triebe befriedigen und alle unsere Fähigkeiten ihrer Bestimmung gemäß im Genuß üben und zum Genuß ausüben können."48 Gemäß dieser Maxime des Rechts auf „Leben" und „Genuß" kommen dem Menschen folgende Rechte von Natur aus zu: „Zur Befriedigung unserer wesentlichen Lebenstriebe sind uns Nahrungsmit-
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tel, Kleidungen, Wohnungen und Lagerstätten nötig. Wir müssen zu essen haben, wenn uns hungert, und zu trinken, wenn uns dürstet. Wir brauchen Kleidungen, um unsern Leib zu bedecken und Wohnungen, wenn wir wider die schädlichen Wirkungen der Luft, wider die Anfälle wilder Tiere und der bösen ungerechten Menschen sicher leben und nach der Ermüdung einen ruhigen ungestörten Schlaf genießen wollen."49 Aus dem Prinzip der „Notwendigkeit" und der „Glückseligkeit" fließen Menschenrechte, die im privatrechtlich geschützten Gesellschaftsraum zu realisieren sind, ohne durch einen sie übergreifenden Staatszweck (wie bei Wolff) mediatisiert zu werden: „Folglich ist es in einer Gesellschaft, die sich auf die Forderungen des gesunden Menschenverstandes gründet, unmöglich, daß das Privatrecht ihrer Glieder jemals um des gemeinen Besten willen zurückgesetzt werden müsse"50. Die Individualisierung des Eudämonieprinzips erfolgt (anders als bei Bahrdt und den philanthropischen Utilitaristen) nicht länger über einen geteilten Menschenrechtskatalog mit individuellem und gesellschaftsbezogenem Pflichtenteil, sondern über eine Menschenrechtsbegründung durch die Absolutsetzung des Privatrechts. Staatshandeln wird auf die Sicherung von Menschenrechten, die sich zusammenfassen lassen in „Personal- und Realeigentum"51, eingeschränkt. Die Garantie von Produktion und Konsumtion ist identisch mit staatlichem Menschenrechtsschutz: „Die Absicht (sc. des Staates) soll nie auf Einschränkung der Menschenrechte oder des Privatbesten gerichtet sein"52. Der Staat ist inhaltlichrechtlich lediglich Katalysator von Natur- und Zivilzustand, er übersetzt die „natürliche Ordnung" in positiv-rechtliche Bestimmungen, er scheidet aber aus dem gesellschaftlichen Produktions-, Tausch- und Kontraktbereich aus, um nicht Richter in eigener Sache sein zu müssen. Der ökonomische Binnenkreislauf der „unaufhörlichen Produktion und ungehinderten Konsumtion"53 erfährt seine gesetzliche Fixierung, „Bedürfnisse" („Notwendigkeit") sollen innerökonomisch-privatrechtlich geregelt werden im Arbeits-, Produktions- und Tauschprozeß von „produktiven" und „sterilen Klassen". Wenn der Staat die Benutzung der „Grundstücke", den Handel und die geistige Freiheit garan-
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tiert, dann wird sich innergesellschaftlich eine gerechte Güterverteilung herstellen. Die Ausschaltung des staatlichen Gerechtigkeitsprinzips aus der Rechtslehre ist die Folge der Privatisierung des Ökonomie- und Meinungssektors bei Schlettwein. Der Staat formuliert und publiziert lediglich die „Gesetze der echten gesellschaftlichen Ordnung": „Diese Gesetze sind alle schon da (. . .). Andere, als diese Gesetze machen (zu) wollen, ist keinem Menschen und keiner obersten Gewalt unter den Menschen vergönnt."54 Der staatliche Souveränitätsakt reduziert sich auf Gesetzespositivierung, die Gesetze sichern „den ungehinderten Gebrauch (des) Eigentums zur Vermehrung der Genießungen". Die Trennung von Rechtssicherungsstaat und ökonomischer Gesellschaftssphäre, die damit einhergehende Entleerung des Rechtsbegriffs von ökonomischen Zwecksetzungen, die Identität von Staatszwecklehre und Menschenrechtsgarantie, die Negation positiver Staatspflichten sowie die Theorie von der Autonomie des Privatbürgers bezeichnen die Zielkategorien des liberalen Menschenrechts- und Naturrechtskonzepts.55 Leopold Krug hat diese Ökonomie- und Rechtstheorie prägnant wie folgt zusammengefaßt: „Der Wille eines jeden einzelnen Staatsbürgers, also der Wille einer ganzen Nation ist: bei der Vereinigung zu einem Staate die Freiheit, ihr Eigentum zu benutzen und ihre Kräfte anzuwenden, nicht aufzugeben, sondern sie durch diese gesellschaftliche Vereinigung zu schützen und zu erhalten."« Die Freiheit der „Vermögensgesellschaft" (Samuel Simon Witte)57 basiert auf dem Menschenrecht „Privateigentum", das als Grundrecht die „Unabhängigkeit der Gütersphäre vom Staat" (Gottlieb Hufeland) impliziert58. Diese Rechte gelten nicht nur im vorstaatlichen „status naturalis originarius" (Freiheit, Gleichheit) oder im „status adventitius" (Eigentum), sondern mit gleicher Rechts Wirkung auch im „ius civile". Das „Recht der Menschheit" ist lediglich seiner Materie nach „Naturrecht", es verändert sich nicht inhaltlich im Übertritt des Menschen zum Zivilstand. Lediglich die Gewißheit der Rechtsgeltung wandelt sich mit der innerstaatlichen Zwangsverpflichtung der Bürger zum gesetzeskonformen Handeln: Das „ius naturale" wird zum
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„ius cogendi et punendi". Der Naturzustand als „status iustitia vacuus" ist von dem „ius civile" nur insofern unterschieden, als jener keine Form der „distributiven Gerechtigkeit" kennt. Deswegen kann Kant formulieren: „Dieses (sc. das öffentliche Recht) enthält nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem (sc. Privatrecht) gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden."59 Bezogen auf das Verhältnis von Vor- und Innerstaatlichkeit hat Christian Daniel Voss diese Rechtskontinuität ebenfalls als Grundlage eines auf Rechtswahrung eingeschränkten Staates betont: „Das Verhältnis des Bürgers zu dem Bürger betreffend, so bleiben in demselben nach dem Unterwerfungsvertrage dieselben Rechtsgrundsätze bestehen, welche vor demselben stattfanden und welche keine andere(n) als die des allgemeinen Rechts vernünftig freier Wesen oder des Naturrechts sind."60 Der Unterwerfungsvertrag schafft kein neues Recht im Vergleich zum vorausgehenden Vereinigungsvertrag, der Naturzustandsbegriff birgt bereits die „Idee" des Privatrechts, allerdings ohne Zwangsverpflichtung. Da „Menschenrechte" „angeborene" und nicht „erworbene" Rechte sind, gehören sie ihrem logischen Zuordnungsverhältnis nach dem Naturzustand an. Mit der Verallgemeinerung der Geltung dieser „angeborenen Rechte" im postkontraktuellen „status" erweisen sie sich als bürgerliche Freiheitsrechte resistent gegenüber dem rechtlichen Staatsbildungsprozeß. Hieraus erklärt sich die Emphase des liberalen Naturrechts als Lehre einer von „Tatsachen" unabhängigen Vernunftsrechtslehre: „Die allgemeine Rechtslehre beruht überall nicht auf Tatsachen, sondern hat ihren Grund in sich selbst."61 Mit der Konstitutionalisierung des vertraglichen Übergangs vom „status naturalis" zum „status civilis" ist im konsequent frühliberalen Naturrecht ohnehin die Verhinderung der Souveränitätsüberlagerung des Naturrechts bezweckt. Mit der Einfügung der „politischen Freiheit" (politisches Partizipationsrecht) ins Staatsrecht wird darüberhinaus der Naturzustand als „status libertatis" für die innerstaatliche Verfassungsstruktur bewahrt: Der Bürger gehorcht nur sich selbst, wenn er sich den von ihm mitgestalteten Gesetzen fügt. Mit der Trennung von Staat und Gesellschaft und
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der dieser Trennung korrespondierenden rechtskomplementären Spaltung von Privatrecht und öffentlichem Recht ist die gegenstaatliche „bürgerliche Freiheit" allgemein geworden für den Gesellschaftssektor. Die Metarechtsebene der Gesamtheit der Privatrechte sind die „Menschenrechte". Die auf individuelle Freiheitsresistenz gegen den Staatsbildungsprozeß ausgerichteten Menschenrechte werden im Prinzip überflüssig. Ihre neue Funktion besteht darin, die Rechtsfähigkeit des „Menschen" als „Bürger" zu begründen. Gemäß der materialen Bestimmung der rechtlichen Gegenstandsbereiche, die unter den menschenrechtlichen Schutz fallen, lassen sich entscheidende Differenzierungskriterien von Rechtssystemen und Rechtsbegründungsweisen ablesen. Im Maße der Breitenwirkung der Menschenrechte, d. h. im Wandlungsprozeß vom gegenstaatlichen Reservatrecht zum allgemeinen Rechtsprinzip der „bürgerlichen Freiheit", gewinnt die Menschenrechtskonstruktion Indikatorfunktion für die systematische Intention von Rechtsableitung. Solange das Recht auf „Dasein" als Ableitungspunkt aller weiteren Persönlichkeitsrechte fungiert, wird zumeist eine materiale Rechtslehre von Individuum und Staat bevorzugt. In der liberalen Rechtstheorie steht das Recht auf Eigentum (oft verbunden mit dem Menschenrecht auf Arbeit) an der Spitze der Rechtsdeduktion. Mit der französischen „Declaration" gewinnen die Rechtekataloge als selbständige Textgattung eine Eigenexistenz, die zu fast beliebiger Ausgestaltung der Inhalte führt, ohne daß die Kompatibilität der Einzelbestimmungen untereinander immer Berücksichtigung fänden. Ungeklärt ist die Frage nach der Spannung zwischen systemtheoretisch begründeter Menschenrechtstheorie und selbständiger „Declaration". Daß Wechselwirkungen zwischen vorrevolutionärer Menschenrechtstheorie und revolutionärer „Declaration" zu beobachten und nachzuweisen sind, ist leicht erkennbar. Welche Abweichungen von dem französischen Muster mit welchen systembezogenen Erklärungsmustern zu begründen ist, welche Kollisions- und Konfliktzonen zwischen beiden bestehen bzw. in welcher Weise die revolutionären 18 Artikel von 1789 rechtstheoretisch fortgeschrieben wurden - diese
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Probleme bedürfen der Einzelanalyse und entziehen sich der Erklärung durch eine Überblicksanalyse62. Die endogene Entwicklungsform der deutschen Menschenrechtstheorien war zumeist bis 1789 mit dem Trennungsdenken von Staat und Gesellschaft soweit vorangeschritten, daß die Rezeption und der Einbau der französischen Menschenrechtserklärung ins deutsche Naturrecht keine grundsätzlichen Schwierigkeiten bereitete. III. Staatszweck — Notrecht — Menschenrecht Eine genetische Betrachtungsweise der aufklärerischen Menschenrechtstheorie unter dem Leitaspekt der Durchsetzung individueller Freiheitsrechte kann nicht von dem im Systemkontext reflektierten Problem der Realisation von Menschenrechten sowie dem Substitutionsproblem von Menschenrechten durch Menschenrechte abstrahieren. Der Konflikt von Menschenrechtspostulat und positivem Recht war eines der zentralen Themen der spätaufklärerischen Naturrechtslehre. Keineswegs wurde von allen Aufklärern als Konsequenz ihrer Menschenrechtstheorie eine vom Staat abgehobene Privatrechtsgesellschaft normativ festgelegt; vielmehr war das Menschenrechtskonzept durchaus kompatibel mit einer aufgeklärt-absolutistischen Staatszwecklehre oder gar mit altständischen Korporationstheorien, die allerdings im Einflußbereich des Staatszwecktheorems verändert wurden. Im Umkreis der Kodifikation des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 179463 wurde intensiv über die staatliche Durchsetzung eines menschenrechtlich begründeten „ius certum" diskutiert. Im folgenden sollen insbesondere Probleme der evolutionären Verrechtlichtung einer ständischen Gesellschaft sowie das Problem des Notrechts behandelt werden. Das ALR geht in seinem allgemeinen Teil aus von der Autonomie der Rechtsperson, die metarechtlich (menschenrechtlich) begründet wird: „Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freiheit, sein eignes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Ändern, suchen und befördern zu können."64 Bezieht man diese allgemeine Aussage über die
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Rechtsfähigkeit des Menschen auf deren innergesellschaftlichen Geltungsbereich, dann schiebt sich im ALR zwischen den „Menschen" und den „Untertan" das rechtsdifferenzierende Feld historischer Kontingenz: „Die Rechte des Menschen entstehen durch seine Geburt, durch seinen Stand und durch Handlungen und Begebenheiten, mit welchen die Gesetze eine bestimmte Wirkung verbunden haben."65 Die „natürliche Freiheit" der Person wird positiv-rechtlich durch die Statusabstufung der altständischen Gesellschaft mediatisiert. Das ALR schafft eine Form der Rechtsstaatlichkeit, die praktisch die alte Ständegesellschaft legitimiert. Zwar sind alle „Untertanen" staatlichen Gesetzen in gleichem Maße unterworfen, der Rechtsstatus differenziert sich gleichwohl nach ständerechtlichen Kriterien im ALR, das ohnehin nur dort Geltungskraft besitzt, wo das Stände- und Provinzialrecht keine positiven Rechtsregelungen anbieten. Die alte Ständetrias von Adel, Bauer und Bürger bleibt erhalten66, nunmehr ergänzt durch die staatsunmittelbaren „Eximierten" (Beamte, Gebildete, staatlich lizensierte Wirtschaftsstände). Das im ALR berücksichtigte Gemeinwohltheorem dient dem Ziel, den Staat Eingriffe in die Ständegesellschaft nach Maßgabe des gemeinen Besten vornehmen zu lassen. Der Staat garantiert jedem „Einwohner des Staats (...) den Schutz (. . .) für seine Person und für sein Vermögen"67, der ihm qua Menschenrecht zusteht und kann so in die Ständerechte, die keine autogene, sondern nur noch staatlich gebilligte Rechtskraft besitzen, eingreifen. Die staatliche Standesgarantie erfolgt um den Preis der staatlichen Mediatisierung der Ständerechte. Staatszwecktheorem („commune bonum") und Menschenrechtspostulat68 (Schutz der individuellen Rechtsperson mit ihren essentiellen Rechten) verschaffen dem Staat die Möglichkeit, trotz der Anerkennung ständischer, lokaler und provinzialer Rechtsordnungen, koordinierend in die Ständegesellschaft hineinzuwirken. Die Spannung zwischen dem allgemeinen Menschenrechtstheorem und der ständisch gestuften Wirkungsmöglichkeit dieser Menschenrechtsbestimmungen macht den Kompromißcharakter des ALR im Spannungsfeld von absoluter Monarchie, altständischer Gesellschaft und modernen Drittstands-
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forderungen aus. Den Kodifikatoren ist diese Grenzlinie ihrer Wirkungsmöglichkeit bewußt gewesen. Carl Gottlieb Svarez entwickelt in seinen Kronprinzenvorträgen69 die Menschenrechtslehre an der Nahtstelle von Privatrecht und öffentlichem Recht. Der Staat, der Selbsthilfe der Bürger ausschalten, Rechtssicherheit gewähren und das allgemeine Wohl seiner Untertanen aktiv fördern soll, ist bei der „positiven" Rechtsfestlegung gebunden an den Schutz der angeborenen Rechte der Staatsglieder. Da positives Recht im Unterschied zum natürlichen Recht nicht durch „logische Schlußfolgerungen" (analytisch nach dem Satz des Widerspruchs) abzuleiten ist70, ist der Gesetzgeber Quelle des (kontingenten) positiven Rechts. Rechtssicherheit für den „subditus" entsteht allererst durch die Homogenisierung von natürlichen und positiven Rechtssätzen. Unantastbar, d. h. der Aufhebung durch den „Regenten" entzogen, sind das Recht auf Leben, moralische Freiheit und Glückseligkeit (Vollkommenheit)71. Allenfalls im Zustand der Staatsbedrohung (Staatsnotstand) kann der „Regent" aufgrund von Notrechten auch über diese essentiellen Rechte disponieren72. Im übrigen verfügt der Staat als Garant der Selbstvervollkommnung seiner Staatsglieder über das „natürliche" Recht nach Maßgabe des Staatszwecks73. Diese Verknüpfung von individueller und staatlicher (allgemeiner) Eudämonie läßt den Gedanken der Resistenz von angeborenen Rechten gegenüber staatlicher Verfügungskompetenz zurücktreten74. Svarez kennt (anders als Wolff!) kein Notrecht der Untertanen gegen die Staatsgewalt im Falle der Verletzung von Fundamentalgesetzen oder Staatszweckbestimmungen durch den „Regenten". Das Gemeinwohlpostulat führt im Falle der Kollision von Privilegien der Untertanen (insbesondere des Adels) und des Staatswohls zur Aufhebung von Privilegien bei gleichzeitiger Entschädigung der Privilegieninhaber durch den Staat75. Privilegien genießen den Rechtsstatus und den Rechtsschutz von „Eigentum". Die „Obergewalt" des Staates verhält sich zur Gesamtheit der Staatsglieder wie der „Despositarius des allgemeinen Willens" zu den „gemeinschaftlichen Kräften der ganzen Gesellschaft".76
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Eine rechtliche Strategie der Überführung einer Feudalrechtsgesellschatt zu einer Privatrechtsgesellschaft unter dem Postulat von Menschenrechten hat Ernst Ferdinand Klein unter dem Schlagwort „Freiheit und Eigentum" entfaltet77. Klein beschäftigen zwei rechtstheoretische Probleme: die Kollisionsmöglichkeit von Menschenrechten mit Menschenrechten („persönliche Freiheit" mit „Eigentum") sowie das Legitimationsproblem der Revolution. Klein, der wie die jüngere Naturrechtsschule davon ausgeht, daß materiale Rechtsprobleme privatrechtlich gelöst werden müssen, untersucht den Zusammenstoß von menschenrechtlich geschützter Eigentumssphäre mit Forderungen nach „persönlicher Freiheit". Angesichts der Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung über die Aufhebung der Feudalrechte vom 4. und 5. August 178978 gewinnt diese Frage nicht nur Relevanz für den Privatrechtsbereich, sondern ist verknüpft mit Problemen des öffentlichen Rechts (Widerstandsrecht des Bürgers gegen den Staat). Daß dieses Problem von Klein auf der Grundlage von „Menschenrecht" und „Privatrecht" gelöst wird, verweist auf die Tendenz, die Ablösung der Feudalverfassung innergesellschaftlich ohne Rückwirkung auf den Bereich des öffentlichen Rechts (Rechte des Staates) durchzuführen. Gleichwohl ist der Staat als Rechtsgarant das Subjekt der Evolution von der Feudal- zur Privatrechtsverfassung. Die Lösungsstrategie Kleins ist in ihren Grundzügen durch Wolff vorgegeben. Christian Wolff hatte in den „Institutiones" dem Notleidenden (Hungernden, Dürstenden) im Falle, daß er den Pflichten gegen sich selbst nicht mehr nachkommen könne (Recht auf Erhaltung des Lebens), ein Notrecht gegen den Eigentümer von Sachen zugesprochen. Die Rechtlichkeit dieses Notrechtsaktes wird begründet aus der Überordnung von Rechten des „status naturalis originarius" über solche des „status adventitius". Aufgrund der „äußersten Notwendigkeit"79 nimmt der Mensch im Falle der Gefährdung seines Lebens ein gemeinschaftliches Recht zum notwendigen Gebrauch von natürlichen Sachen (wie in der „communio primaeva") in Anspruch und verletzt — notrechtlich gedeckt - das „erworbene Recht" des Eigentums80. Über das Notrecht stellt sich die Rechtslage des urzuständlichen Gemein-
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besitzes wieder her. Der Notleidende verschafft sich eine „res communis"; diese Berechtigung zur Aneignung eines „erworbenen Rechtes" erlischt im Augenblick der Aufhebung des Notstandes (der „äußersten Notwendigkeit")81. Das Recht auf Dasein (Leben) ist zur Erhaltung der Rechtspersönlichkeit wichtiger als ein sekundäres (erworbenes) Recht auf Eigentum. Im absoluten Naturrecht werden die Menschenrechte als allgemeine Freiheitsrechte begründet, während vertraglich vermittelte Rechte und Eigentum im hypothetischen Naturrecht ihre Rechtsbegründung erfahren. Da die Rechtspersönlichkeit, deren Rechtekanon unveräußerlich und „absolut" ist, niemals durch abgeleitete Rechtsformen aufgehoben werden darf, sind die „absoluten" Rechte „indisponibel". Das Recht auf Dasein als Bedingung der Erhaltung der Rechtsperson zerstört die Gleichrangigkeit der klassischen Trias von „life, liberty and property" solange zugunsten des ersteren, wie dem Existenz- und Bedürfnisbegriff in der Ableitung des Rechts auf Eigentum fundierende Bedeutung zugesprochen wird. Der systematische Entstehungsort von Rechten im absoluten bzw. hypothetischen Naturrecht entscheidet über die Hierarchisierung und Stufung „angeborener" bzw. erworbener Persönlichkeitsrechte. Dieses Problem ist im Sinne einer strikten Gleichordnung von Menschen- und Privatrechtstheorie erst durch Kant gelöst worden, der auf die Zusammenbindung von Arbeits- und Bedürfnisbegriff einerseits und der Legitimation von Eigentum andererseits verzichtet82 und damit „Eigentum" resistent macht gegen einen notrechtlich begründeten Rückfall in die „urzuständliche" „res communis". Klein benutzt zwar die Kantische Terminologie83, er geht aber bei der Diskussion „Freiheit und Eigentum" zurück auf Lösungsstrategien, wie sie Wolff entworfen hatte. Klein faßt den Konflikt zwischen „persönlicher Freiheit" und feudaler Eigentumsordnung als Problem der Hierarchisierung von „Freiheit" und „Eigentum". Indem Feudalrechte nicht als usurpierte Rechtstitel, sondern als wohlerworbene Rechte („iura quaesita") gedeutet werden, kommt ihnen wie allen Privatrechten staatlicher Rechtsschutz zu. Da Feudalrechte (Leibeigen-
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schaft, Schollengebundenheit, Ehe- und Kontraktverbote, eingeschränktes Recht auf Eigentum, feudale Dienste und Abgaben, erbrechtlicher Personenstatus) aber im Widerspruch zum obersten Rechtspostulat, jeder Mensch kann „seine Selbständigkeit ungehindert äußern"84, stehen, müssen sie umgewandelt werden: „Denn die bürgerliche Freiheit beruht nur auf der Freiheit der einzelnen, ihre eigene Wohlfahrt nach besten Einsichten zu befördern"85. Im Konfliktfall zwischen Eigentumsordnung und „persönlicher Freiheit" des Menschen muß die erstere nach Maßgabe der letzteren so umgeändert werden, daß beide kompatibel werden. Klein vertritt gegenüber der Feudalverfassung eine Evolutionsstrategie mit menschenrechtlicher Begründung. Die Feudalrechte müssen als Eigentumsrechte entschädigungspflichtig vom Oberhaupt des Staates in Privatrechte umgewandelt werden, damit die „persönliche Freiheit" aller Staatsglieder gewährleistet ist. Der Staat ist nicht nur Garant der Menschenrechte, sondern diese Menschenrechte haben eine dynamische Normstruktur, die den Handlungsauftrag an den Staat impliziert, Geltungsschranken von Menschenrechten aufzuheben. Die Entschädigungspflicht für Feudalrechte resultiert bereits aus der Schutzverpflichtung des Staates für Privatrechte, so daß der Prozeß der Feudalrechtsablösung nach den Modalitäten eines erst herzustellenden Rechtszustandes abgewickelt wird. Der Staat verbleibt damit im Bereich der Normen des Menschenrechtspostulats, die er durchzusetzen und zu positivieren hat. Diese menschenrechtsbezogene Evolutionsstrategie fungiert bei Klein als Revolutionsprophylaxe. Er schließt einen Rückfall auf einen zwischen Privatleuten auszutragenden Notrechtszustand aus, indem er den Staat zum Garanten der Aufhebung von Schranken subjektiver Freiheitsrechte erklärt und damit das Privatrechtssubjekt der Verpflichtung enthebt, im Akt der Selbsthilfe „Rechte" für sich zu reklamieren. Gleichwohl bleibt die Rechtshierarchisierung von „persönlicher Freiheit" und Eigentumsschutz als Drohfaktor bezogen auf eine Güterabwägung von „absoluten" und „hypothetischen" Rechten, die im Falle des Ausbleibens staatlicher Reform virulent werden könnte: „Es kann daher zwar das Eigentum der persönlichen Freiheit, aber
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nicht diese jenem geopfert werden (...)· Wenn also ein Volk seine persönliche Würde nicht ohne Eingriffe in das Eigentum schützen kann, so sind diese erlaubt."86 Für Klein sind Gemeinwohlpostulat, Menschenrechtsdurchsetzung und staatlicher Menschenrechtsschutz identisch. Insofern ist es konsequent, wenn er die staatliche Aufhebung des bestehenden privilegienstrukturierten „status civilis" befürwortet, um „natürliche Rechte" staatlich positivieren zu können. Der Staat schützt so die „Freiheit aller gegen jeden". Der Staat stellt eine menschenrechtlich begründete Rechtsstaatlichkeit her und erübrigt damit die Aktualisierung von „Notrecht" durch Individuen. Klein entwirft eine staatliche Reformalternative zum revolutionären Weg Frankreichs, ohne daß seine Forderungen im Preußen zur Zeit des ALR je verwirklicht worden wären. IV. Freiheit - Gleichheit - Selbständigkeit: Menschenrechtstheorien im Einflußbereich politischer Freiheitsforderungen Nach 1789 verschärft sich die Frage der Hierarchisierung von Menschenrechten in der Bestimmung des Begriffs „Selbständigkeit". Während die liberalen Rechtstheoretiker eine gesetzlich gesicherte „bürgerliche Freiheit" befürworten, dringen die Anhänger eines revolutionären Wandels in Staat und Gesellschaft auf die Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes in Bezug auf das politische Selbständigkeitspostulat (politische Partizipation)87. Die liberale Verfassungstheorie in Deutschland orientierte sich überwiegend an den Bestimmungen der französischen Verfassung von 1791, der revolutionäre Radikaldemokratismus hingegen an dem Rechtekatalog der Verfassung von 179388. In Deutschland verwischen sich allerdings die Grenzlinien zwischen Menschenrechtsforderungen und Verfassungsgesetzen. Inwieweit in Deutschland eine konkurrierende Rezeption der amerikanischen „Bill of rights" von 1776 (life, liberty, property, happyness and safety)89 und der französischen Menschenrechtserklärungen stattfindet90, die insbesondere das Widerstandsrecht grundrechtlich absichern, bedürfte einer eigenen Untersu-
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chung91. Für die Aufhellung dieses Problems reicht keinesfalls der Vergleich der Rechtekataloge selbst aus, vielmehr müssen die vorgeschalteten Diskussionen der parlamentarischen und öffentlichen Gremien sowie (für Deutschland) die systemtheoretischen Begründungen berücksichtigt werden. Das Selbständigkeitspostulat wird in der deutschen Rechtslehre zumeist allgemein gefaßt als „völlige, absolute Ausübung aller seiner Fähigkeiten (sc. des gesellschaftlichen Menschen)"92, d. h, als Recht auf freie Ausübung aller „physischen und moralischen Fähigkeiten"; es kann aber auch (wie bei Kant) eingeschränkt werden auf einen nachweisbaren Qualifikationserwerb von intellektuellen Fähigkeiten und besitzbezogener „sibisufficienta"93. Der Gleichheitsgrundsatz bezüglich der Rechts- und Gesetzeswirkung differenziert sich dann nach dem „Talent" des Rechtsadressaten. Das menschenrechtlich abgesicherte Freiheitsrecht ist bei den meisten Spätaufklärern identisch mit dem Prinzip der Chancengleichheit, dessen soziale Komponente (Anspruchsgleichheit) nur in Fortführung eudämonistischer Theorien von wenigen Autoren befürwortet wird. Die Reziprozität der Rechtsgeltung ist menschenrechtlich verbürgt. Populär formuliert: „Auch der vornehmste Staatsbürger darf keines Deiner Rechte verletzen; die Gesetze schützen Dich gegen ihn, zwingen ihn, wenn er Dir Unrecht getan hat, zur Genugtuung."94 Der Menschenrechtsgrundsatz zielt also einmal ab auf die Konstitution der Autonomie der Rechtsperson (Prinzip der Freiheit) und auf die formale Gleichheit der Rechtswirkung (Prinzip der Gleichheit). „Urrechtlich" sind diese Forderungen im Unterschied zu „erworbenen" Rechten insofern, als „sie jedem Menschen beigelegt werden"96. Zumeist wird zwischen „formalen" und „materialen" Rechten unterschieden: „Unmittelbare Rechte werden reine oder formale Rechte genannt, wenn sie bloß die Bedingung ausdrücken, ohne welche das materiale Recht nicht gedacht werden kann. Material ist es, in so fern dabei an einen gewissen Gegenstand oder an eine gewisse Absicht des Rechthabenden gedacht wird"97. Eine präzise Relationsbestimmung von formal-allgemeinen und material-gegenstandsbezogenen Rechtsformen kann Rück-
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Wirkungen auf die Inhaltsbestimmung von Menschenrechten bzw. des Personenkreises haben, die diese Menschenrechte realisieren können. Kant hatte im „Gemeinspruch" und in der „Metaphysik der Sitten" drei „Prinzipien a priori" des äußeren Menschenrechts angegeben: „1. Die Freiheit jedes Gliedes der Societal, als Menschen. 2. Die Gleichheit desselben mit jedem Anderen, als Untertan. 3. Die Selbständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürger."98 Die antikorporative, individuelle Freiheitslehre und die auf Gleichheit der Rechts- und Gesetzeswirkung abzielende Egalitätsmaxime blieben in der zeitgenössischen Diskussion unangefochten. Das Selbständigkeitspostulat99 geriet dagegen in die Kritiklinie demokratischer Kantgegner. In der Kantischen Bestimmung der „Selbständigkeit" erblickte man ein Verlassen der transzendentalen Rechtsbestimmung zugunsten eines empirischen Bestimmungsmoments, das (gemäß der älteren Scheidung von allgemein-formalen Rechten und material-bestimmten Gesetzen) den Menschenrechtscharakter des Selbständigkeitspostulats in Frage stellte100. Das Selbständigkeitstheorem bei Kant steht zwar in Einklang mit der allgemeinen Chancengleichheit und deren Verwirklichung durch „Talent", „Fleiß" und „Glück" des Individuums101, es bindet den aktiven Staatsbürgerstatus aber an die „sibisufficienta" des „Bürgers". Die Aufspaltung der Staatsglieder in stimmfähige Bürger und lediglich unter dem Schutz der Gesetze stehende „Schutzgenossen"102 resultiert aus der Absolutsetzung von „Besitz" und „Bildung" als qualifizierende Momente der politischen Mündigkeit. Der Statuserwerb (Besitz und Bildung) wird somit zur Voraussetzung der politischen Partizipationsmöglichkeit. Über eine virtuelle Chancengleichheit kann jede Person diesen Status erwerben (mit Ausnahme der Frauen und der unfreien Glieder des „Hauses"). Der Weg zum „citoyen" führt über die Qualifikationsstufe des „bourgeois". Auch Autoren, die nachdrücklich auf die Befreiung des „Industriebürgers" aus den ständischen und merkantilistischen Fesseln drängten, schränkten das politische Repräsentationsrecht auf den
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durch „echte Kultur des Geistes und der Sittlichkeit oder Aufklärung"103 ausgezeichneten „Mittelstand"104 ein, während der „pure Industriebürger"105 als „Erwerbsbürger" selbst bei Besitznachweis von der politischen Repräsentation ausgeschlossen blieb, weil bei dieser „industriösen Klasse" „persönliche Zwecke an die Stelle der allgemeinen Staatszwecke" treten106. Auch Revolutionsanhänger, die der Meinung sind: „Die bürgerliche Freiheit ist da am wenigsten gesichert, wo die politische Freiheit fehlt"107, führen eine Partizipationsstufung nach „Einsicht" ein, so daß der „Pöbel" prinzipiell vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen bleibt: „Menschen, die nichts zu verlieren haben, die durch kein Eigentum, es bestehe nun in Geld oder in liegenden Gründen, an das Interesse ihres Vaterlandes geknüpft sind, Menschen, die bloß mit der Sorge für ihren notdürftigen Unterhalt beschäftigt, ohne Kenntnis der Gesetze, welche zu studieren sie weder Zeit noch Fähigkeit haben, durch die gröbsten Täuschungen so leicht hinzureißen, dem ersten besten Ehrsüchtigen oder Bösewichte verkäuflich sind, solche Menschen können keine Bürger sein."108 Das Prinzip der „sibisufficienta", das über einen sachenrechtlichen Besitztitel die Kompetenz zum „Mitgesetzgeben" bestimmt, wird von der demokratischen Aufklärung als Verletzung der Universalität des Menschenrechtskonzepts verworfen. Da Personen- und Sachenrecht strikt voneinander zu scheiden sind, darf auch „Besitz" nicht zur Bedingung der politischen Partizipationsmöglichkeit werden. Auch Frauen, Knechte, Dienstboten, Tagelöhner und Lohnarbeiter sind Staatsbürger: „weder das Eigentum, noch die Steuern, sondern die Menschen sollen repräsentiert werden"109. Das Selbständigkeitskriterium wird prinzipiell jedem „Menschen" als „Bürger" zugesprochen. Nur so ist die (auch von Kant aufgestellte) Forderung einlösbar, daß jeder Bürger einem Gesetz gehorche, dem er selbst beigestimmt habe. Der Gehorsam gegenüber den allgemein geltenden Gesetzen ist identisch mit der Anerkennung des selbstgesetzten Willens aller Bürger. Während Kant sich gegen die spätfeudale Theorie wendet, daß nur der Inhaber von Land-„Actien" (Justus Möser)110 Vollbürger sein könne, basiert das Konzept der „demokratischen Republik" auf der Annahme, daß sich kein inner-
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gesellschaftlicher Status zwischen „Menschenrecht" und Vollbürgerrecht schieben dürfe. Kant selbst hat die Schwierigkeit einer eigentumsbezogenen Abgrenzung zwischen Vollbürger und Schutzgenossen gesehen, das „einzig angeborene Recht" („Menschenrecht der Freiheit")111 aber in politischer Hinsicht einer solchen besitzrechtlichen Differenzierung unterworfen. Da er zugleich an dem „auf dingliche Art persönlichen Recht" festhält, wird bezüglich des Personenstatus die allgemeine Freiheitsmaxime durch ein vorbürgerliches Rechtsprinzip („Haus"-Konstruktion) und ein „bürgerliches" Theorem (Eigentum, Bildung) mediatisiert. Demgegenüber versteht die demokratische Aufklärung unter „Selbständigkeit" die politische Stimmfähigkeit aller Bürger zum Zweck der Mitgesetzgebung: „In Demokratien gibt es keine Untertanen, weil in ihnen jeder Einwohner ein Teil des souveränen Volkes ist und sowohl zu der Abfassung wie zu der Ausübung der Gesetze seine Stimme geben kann."112 Die reservatrechtliche Qualität des Selbständigkeitspostulats verkehrt sich zu einer staatspartizipatorischen Begründungstheorie, wenn die jüngere Aufklärung davon ausgeht, „daß die Souveränität, woran jeder Einwohner eines Staats ein Recht oder Anteil hat, eine unveräußerliche Sache (sie!) sei."113 Die inhaltliche Fixierung geschieht nach dem Majoritätsprinzip („Stimmenmehrheit")114. Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des demokratischen Staates ist „demokratische Tugend" (im Sinne des Rousseauschen „vertu"Begriffs), ohne daß diese qualifizierend zum Stimmrecht ist, da nach demokratischer Ansicht erst durch unbeschränkte Teilnahme am demokratischen Staat sich das „republikanische" Bewußtsein der Bürger ausbilden kann.115 „Da aber Einsicht und Tugend zur jedesmaligen wirklichen Teilnahme an der politischen Freiheit gehören, so soll sich jeder durch Fleiß und Übung vorbereiten, ein Staalsamt verwalten zu können."116 Der Akt der „Mitgesetzgebung" ist nicht beschränkt auf eine legislative Funktion des gesamten „Volkes", sondern wird im Konzept des „Volksstaates" ausgeweitet auf die Exekutive.117 Der Schriftsteller und Jurist Johann Adam Bergk entwirft ein Repräsentationsmodell, das in zyklischen (kurzen) Wahlperioden
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jedem Bürger die Möglichkeit eröffnen soll, an der Exekutive teilzunehmen. Jeder Bürger ist dieser Theorie zufolge Souverän und Untertan. Der Bürger legt die Gesetze fest und vollzieht sie im Rahmen einer (formal) gewaltenteilig organisierten „demokratischen Republik". Damit soll (durchaus in Übereinstimmung mit Kants „Idee" des Urkontrakts) der Dualismus von „status naturalis" und „status civilis" mit der Konsequenz aufgehoben werden, daß „Menschenrechten" Zwangsgewalt zukommt. Die unveräußerlichen Rechte bezeichnen mithin nicht länger einen inselhaften Freiheitsraum des „naturzuständlichen" „status libertatis" innerhalb des verherrschafteten „status civilis", sondern sie selbst sind als „Zwangsgesetze" in Analogie zur Rechtswirksamkeit „positiver" Gesetzesbestimmungen des „status civilis" konstruiert: „Alle unveräußerlichen Rechte sind daher Zwangsrechte, weil sie das Menschenleben in der Erscheinungswelt sichern."118 Bergk formuliert das im älteren Naturrecht postulierte „Recht auf Leben" (Existenz) um zu einem Recht auf Existenz der Rechtspersönlichkeit, erkennt dieser autonomen Rechtsperson die Kompetenz auf rechtliche Selbstbestimmung („Mitgesetzgebung") zu und begründet aus der Autonomie des Rechtssubjekts das Recht auf Selbsthilfe („Revolution") im Falle staatlicher Rechtsverletzung mit der Konsequenz der Autonomievernichtung der Rechtsperson. Die Selbständigkeitsnormen des Naturrechts verändern sich nicht nur nicht im Privatrecht beim Übertritt vom „status naturalis" zum „status civilis" (liberales Rechtsmodell), sondern ihnen kommt als „Menschenrecht" im innerstaatlichen Zustand die Qualität eines „ius cogendi" zu. Die Revolutionskategorie erfährt bei Bergk eine doppelte Legitimation: Einmal ist sie menschenrechtlich abgesichert im Falle der staatlichen Bedrohung der Rechtspersönlichkeit; zum anderen ist der demokratische Verfassungsmodus derart verzeitlicht, daß sich der Urvertrag in Form eines kontinuierlichen Wahlmodus fortwährend wiederholt und die Übereinstimmung von Volks- und Staats willen herstellt. Die Identität von Privat- und Staatsbürger ist verfassungsrechtlich abgesichert; der Staat schützt zwar den Privatrechtsraum, indem er grundrechtlich und
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menschenrechtlich stabilisierte Rechtszonen garantiert, aber immer nach Maßgabe der vom Volkswillen festgelegten Mehrheitsentscheidungen. Im Zentrum dieser Konstruktion steht das Prinzip der partizipatorischen „Selbständigkeit", das vom Eigentumsstatus abgekoppelt wird und als universelles Menschenrecht im Bergkschen Systementwurf jenen theoriebegründenden Status einnimmt, den Kant dem Freiheitsprinzip zumißt119. Die empirische Vertassungsrechtskonstruktion bei Bergk soll die bei Kant durch die „Idee" des Urkontrakts gesicherte Identität von Souveränitäts- und Volkswille gewährleisten. Damit ist eine Relativierung des Inhalts des Staatsvertrags nach Maßgabe der Einsicht der Wählermehrheit vorgegeben: „Jeder Staatsvertrag ist für den Bürger unbedingt, d.h. darf nur so lange dauern, als er ihn für recht erkennt. Ändert sich die Überzeugung der Bürger, so geht auch mit Recht eine Umwandlung mit dem Staate vor."120 Allein das Volkssouveränitätsprinzip bleibt diesem plebiszitären Prinzip entzogen, weil es das Selbstrepräsentationsrecht des Volkes in Form des Menschenrechts der „Selbständigkeit" verbürgt. Die von Bergk vertretene öffentlich-rechtliche Auslegung des bei Kant privatrechtlich gefaßten Selbständigkeitspostulats ist begründet in der Aufhebung des Dualismus von „bürgerlicher" und „politischer" Freiheitskonzeption, die wiederum in der Auslegung von Menschenrechten als „Zwangsgesetzen" ihren Ursprung hat. Man könnte deswegen sagen, daß bei Bergk (wie bei Wolff) Menschenrechte auf den Status von „iura connata" zurückgestuft werden, da die gegenstaatlichen Potenzen von Menschenrechten in der „demokratischen Republik" überflüssig werden. Die Verfassungsstruktur des Staates ist das präzise Spiegelbild eines nunmehr gesetzlich und partizipatorisch präzisierten „Naturzustandes". Mit der partizipatorischen Neutralisierung der Wirkungen des Unterwerfungsvertrags für die innerstaatliche Souveränitätskonstruktion bleiben dem Bürger „politisch" jene Rechte erhalten, die er als Mensch auch im Naturzustand besaß. Das politische Selbständigkeitspostulat im innerstaatlichen Zustand ist in Analogie zur „libertas naturalis" konstruiert, und es ist verfassungsrechtlich verbürgt durch die repräsentative Identität von Souve-
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ränitätsdezision und Mehrheitswillen der Bürger. Aus dieser Willensidentität von „Volk" und „Staat" folgt der Verzicht auf eine gegenstaatliche Menschenrechtstheorie sowie auf eine materiale Staatszwecklehre. Das Verfassungsmodell der „demokratischen Republik" gleicht einem politischen „ordre naturel", dessen Selbstevidenz fortwährend durch die partizipationsberechtigten aufgeklärten Bürger erkannt und sodann durch Wahl rechtswirksam positiviert wird. Anmerkungen 1. Die Literatur zur Geschichte der Menschenrechte ist im folgenden nur soweit berücksichtigt worden, wie sie unmittelbar Einfluß auf den Gang der Argumentation hat. Als Einführung mit ausführlicher Bibliographie ist heranzuziehen: Gerhard Oestreich: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß. 2. durchgesehene und ergänzte Aufl. Berlin 1978. Nach Abschluß der vorliegenden Studie erschien der Sammelband von Günter Birtsch (Hrsg.): Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848. Göttingen 1981. Dort mitgeteilte Forschungsergebnisse konnten lediglich im Anmerkungsteil berücksichtigt werden. Inhaltliche Überschneidungen bezüglich der herangezogenen Quellen ergeben sich mit dem Beitrag von Hans Erich Bödecker: Zur Rezeption der französischen Menschen- und Bürgerrechte von 1789/1791 in der deutschen Aufklärungsgesellschaft ebd. S. 258ff. und mit Diethelm Kuppel: „Liberias commerciorum" und „Vermögens-Gesellschaft" - Zur Geschichte ökonomischer Freiheitsrechte in Deutschland im 18. Jahrhundert ebd. S. 313ff. Die Problemzuordnung erfolgte unter prinzipiell anderer Blickrichtung. Methodisch interessant für das Verhältnis von Grundrechts- und Privatrechtsordnung ist der dort abgedruckte Aufsatz von Dieter Grimm: Grundrechte und Privatrecht in der bürgerlichen Sozialordnung ebd. S. 359ff. Die für die folgenden Ausführungen grundlegende Spannung zwischen (formalen) individuellen Freiheitsrechten und Sozialstaatspostulat in der modernen rechtswissenschaftlichen Kontroversliteratur ist zusammenfassend dargestellt worden von Christoph Gusy: Freiheitssicherung im Sozialstaat — von der Freiheit der Gesellschaft zur Freiheit des Individuums. In: Neue Politische Literatur Bd. 25 (1980), S. 281 ff. 2. Diesem Interpretationsansatz ist die begriffsgeschichtliche Analyse von Diethelm Kuppel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976. verpflichtet. Klippe! sieht den Bruch zwischen älterem und jüngerem Naturrecht in der Universalisierung des naturrechtlichen Freiheitsgedankens für den innerstaatlichen „status civilis" im jüngeren Rechtsdenken, während dieser Freiheitsgedanke im
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älteren Naturrecht durch den doppelten Vertragsschluß „verherrschaftlicht" wird. In Wendungen wie „Das Schicksal der natürlichen Freiheit im Staat" (S. 48) spricht sich eine personifizierende Kritik des älteren Naturrechts aus, die die strikte Korrespondenz von Naturrechtsbestimmungen (Pflichtenlehre) und komplementärer Staatszwecklehre bei Wolff übersieht, Zur Menschenrechtstheorie vgl. ebd. S. 72ff., S. 131ff., S. 175ff., S. 184ff. Vgl. hierzu Erich Angermann: Das „Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft" im Denken des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Politik N.F. Bd. 10 (1963). S. 89ff. Vgl. zum Problem der Individualfreiheit und ihrer grundrechtlich-gegenstaatlichen Sicherung Jürgen Schwabe: Probleme der Grundrechtsdogmatik. Düsseldorf 1977. S. 60ff. Zum frühliberalen Modell vgl. Eberhard Grabitz: Freiheit und Verfassungsrecht. Kritische Überlegungen zur Dogmatik der Freiheitsrechte. Tübingen 1976. S. 3 ff. Zur Problematik von Individualfreiheit und materialer Gerechtigkeit vgl. die resümierende Arbeit von Horst Kratzmann: Grundrechte — Rechte und Leistungen. Frankfurt a. M. und Bern 1974. Fürs Naturrecht grundlegend Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. 4. Aufl. Göttingen 1962. Informativ zur Grundrechtsdiskussion: Hellmut Wilke: Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie. Schritte zu einer normativen Systemtheorie. Berlin 1975 sowie Martin Kriele: Zur Geschichte der Grundund Menschenrechte. In: Norbert Achterberg (Hrsg.): öffentliches Recht und Politik. Festschrift für Hans Ulrich Scupin. Berlin 1973. S. 187ff. Vgl. hierzu den Abschnitt I des vorliegenden Aufsatzes. Zur inhaltlichen Amplitude der aufklärerischen Eudämonielehre ist heranzuziehen Ulrich Engelhardt: Zum Bergriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts (J. H. G. von Justi). In: Zeitschrift für historische Forschung Bd. 8 (1981). S. 37 ff. Zur modernen Rechtsstaatskonzeption und ihrer Genese vgl. Ulrich Scheuner: Die neuere Entwicklung des Rechtsstaates in Deutschland. In: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960. Bd. 2. Karlsruhe 1960. S. 229ff. Grundlegend zur Dogmengeschichte Helmut Coing: Zur Geschichte des Privatrechtssystems. Frankfurt a. M. 1962. S. 42 ff. und S. 62 ff. (Relation Menschenrechte - Privatrecht) sowie Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2. Aufl. Göttingen 1967. S. 249 ff. Zur Grundrechtsproblematik im Deutschland der Aufklärung vgl. Dieter Grimm: Grundrechte (wie Anm. 1). S. 367 ff. Ein allgemeiner Überblick zum Privatrecht bei Ulrich Huber: Das öffentliche und das Private in der neueren Entwicklung des Privatrechts. In: Studium Generale Bd. 23 (1970). S. 769ff. Christian Wolff: Institutiones juris naturae et gentium. Halle 1754. Um die Terminologieidentität mit dem deutschsprachigen Vernunftrecht der Spätaufklärung deutlich zu machen, werden die Zitate der deutschen Übersetzung entnommen. Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des
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Jörn Garber Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden. Auf Verlangen aus dem Lateinischen ins Teutsche übersetzt. Halle 1754 (Ndr. 1980). Ebd. § 103: S. 65. Das „ius connatum" (§ 74: S. 46) definiert Wolff wie folgt: Das angeborene Recht (jus connatum) nennt man dasjenige, welches aus einer angeborenen Verbindlichkeit entsteht. Es ist aber eine angeborene Verbindlichkeit (obligatio connata) diejenige, welche aus der Natur und dem Wesen des Menschen notwendig erfolgt, und davon nicht getrennt werden mag. Da nun diese wegen der Unveränderlichkeit des Wesens und der Natur unveränderlich ist, davon sie gar nicht getrennt werden kann; so ist auch Recht so genau mit dem Menschen verbunden, daß es ihm nicht genommen werden kann (.. .)." Ebd. §§ 114ff.: S. 73ff. Zu Wolff vgl. Marcel Thomann: Christian Wolff. In: Michael Stolleis (Hrsg.): Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht. Frankfurt a. M. 1977. S. 248ff. (mit Bibliographie). Das Rechtsdenken Wolffs ist zuletzt zusammenfassend dargestellt worden von Hans Martin Bachmann: Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs. Berlin 1977. Wolff: Grundsätze (wie Anm. 10) § 972: S. 696 f. Zur Traditionsverhaftung dieser Gesellschaftsbegriindungstheorie vgl. Manfred Riedel: ZurTopik des klassisch-politischen und des modern-naturrechtlichen Gesellschaftsbegriffs. In: ders.: Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie. Frankfurt a. M. 1975. S. 254 ff. Zum „commune bonum"-Theorem in der Natur- und Staatsrechtslehre vgl. Alfred Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie. 2. Aufl. Wien 1963. S. 268 ff. Zur Staatszwecklehre im Formierungsprozeß liberalen Rechtsdenkens vgl. Klaus Hespe: Die Entwicklung der Staatszwecklehre in der deutschen Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Köln und Berlin 1974. Vgl. Wolff: Grundsätze (wie Anm. 10) § 837: S. 619. Zum Stand der Forschung vgl. den zusammenfassenden Bericht von Peter Krause: Die Entwicklung der sozialen Grundrechte. In: Birtsch: Grundund Freiheitsrechte (wie Anm. 1). S. 402 ff., der feststellt, daß es bislang keine dogmengeschichtliche Untersuchung zur Genese dieser Rechte gibt. Der Zusammenhang von Wolffianismus und spätaufklärerischem Utilitarismus ist in der auf die Herausbildung liberaler Freiheitsrechte fixierten Forschung bislang übersehen worden. Die folgenden Ausführungen ließen sich anhand der Texte der Wolff-Schule und deren Kritik seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts erheblich differenzieren. In einer 1970 abgeschlossenen, bislang unpublizierten Staatsarbeit zur Rechtstheorie des Wolffianismus bin ich diesem Problemkomplex nachgegangen. Die Absolutismuskritik erfolgt zunächst vom Standpunkt der Privilegienverteidigung (Prinzip der altständischen „Freiheiten"), die in den staatlichen Souveränitätsbegründungen des rationalen Naturrechts (Wolffianismus) einen „Despotismus" erblickten, der wohlerworbene Rechte aufhebe. Erst in den 70er
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Jahren des 18. Jahrhunderts erfolgt vom individualistischen Standpunkt eine Freiheitsdiskussion mit gegenabsolutistischen Vorzeichen. Zum ständischen Freiheitsbegriff vgl. Jürgen Schlumbohm: Freiheit. Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitwortes (ca. 1760-ca. 1800). Düsseldorf 1975. S. 42ff." bzw. S. 67ff. und S. 91 ff. 18. Wolff: Grundsätze (wie Anm. 10) § 1012: S. 704 f. Der Monarch ist Souverän und Privatperson. 19. Ebd. § 1079: S. 787. Widerstand des Volkes gegen den „Oberherren" ist rechtmäßig im Falle der Verletzung eines „gebietenden natürlichen Gesetzes" oder eines Fundamentalgesetzes durch den „Regenten". 20. Ebd. § 1071: S. 780. 21. Kuppel: Politische Freiheit (wie Anm. 2) S. 75, der die „iura connata"Theorie Wolffs unter dem Leitgesichtspunkt „Iura connata — die verlorenen Rechte des Menschen" (S. 75) abhandelt. Vgl. auch S. 77: „Als konstruktive Prinzipien ohne Abwehrsubstanz gegen vertragliche Aufhebung überstehen die Rechte (sc. des Menschen) aus dem Naturzustand folgerichtig auch den Abschluß des Sozialvertrages jedenfalls nicht in der Weise, daß sie als Rechte des Bürgers nunmehr staatlicher Herrschaft entgegengesetzt werden." Man könnte überspitzt formulieren, daß gerade die totale Identität von materialer Pflichtenlehre und positiver Staatszwecklehre für Wolff die Identität von natürlichem und positivem Recht garantiert. Dieser Gedanke wird verstärkt durch die Ideologische Konstruktion der „societas civilis", die auf der Nichtautonomie von „Individuen" und „Häusern" basiert, die erst im „gemeinen Wesen" erreicht werden kann. Eine gegenstaatliche Menschenrechtstheorie hätte nach Wolff zu einem Widerspruch zwischen natürlichem und positivem Recht führen müssen, das dann mittels Reservatrecht (Menschenrecht) zu kompensieren wäre. Eine solche Konstruktion liegt außerhalb des Wölfischen Systemgedankens. Vgl. auch Arnold Gysin: Die unveräußerlichen Rechte in der Philosophie der Aufklärung. In: ders.: Rechtsphilosophie und Grundlagen des Privatrechts. Frankfurt a. M. 1969. S. 306ff. sowie Clausdieter Schott: Die Grundrechte in der deutschen Verfassungsgeschichte. In: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft Bd. 75 (1974). S. 45 ff. 22. Vgl. den Abdruck von spätaufklärerischen Menschenrechtskatalogen bei Jörn Garber (Hrsg.): Revolutionäre Vernunft. Texte zur jakobinischen und liberalen Revolutionsrezeption in Deutschland 1789-1810. Kronberg/Ts. 1974. S. 25 ff. (Karl von Knoblauch, Carl Friedrich Bahrdt, Georg Wedekind, Georg Friedrich Rebmann) und bei Zwi Batscha und Jörn Garber (Hrsg.): Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Politisch-soziale Theorien im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1981. S. 220ff. (Johann Stuve, Johann August Eberhard, Georg Friedrich Rebmann). 23. Dieses Problem wird in der rechtshistorischen Literatur zumeist übersehen, weil die Differenz von selbständigen Rechtskatalogen und systemgebundenen Menschenrechtstheorien nicht reflektiert wird.
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24. Hierzu immer noch grundlegend: Herwig Blankertz: Berufsbildung und Utilitarismus. Problemgeschichtliche Untersuchungen. Düsseldorf 1963. Die Quellen des spätaufklärerischen Utilitarismus sind am breitesten erfaßt durch Helmut König: Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland. Berlin (DDR) 1960. S. 487 ff. 25. Carl Friedrich Bahrdt: Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Tübingen 1789 (Ndr. 1972). S. 130 ff. 26. Carl Friedrich Bahrdt: Würdigung der natürlichen Religion und des Naturalismus in Bezug auf Staat und Menschenrechte. Halle 1791. 27. Carl Friedrich Bahrdt: Rechte und Obliegenheiten der Regenten und Untertanen in Beziehung auf Staat und Religion. Riga 1792 (= Ders.: System der moralischen Religion zur endlichen Beruhigung für Zweifler und Denker. Allen Christen und Nichtchristen lesbar. 3. Teil) S. 7 ff. (Neudruck bei Garber: Revolutionäre Vernunft (wie Anm. 22). S. 30ff. 28. Bahrdt: Rechte (wie Anm. 27). S. 5. 29. Vgl. zu Bahrdt: J. Leyser: Karl Friedrich Bahrdt, der Zeitgenosse Pestalozzi's, sein Verhältnis zum Philanthropinismus und zur neueren Pädagogik. Ein Beitrag zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts. Neustadt a. d. H. 1867; Baidur Schyra: Carl Friedrich Bahrdt. Sein Leben und Werk, seine Bedeutung. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte im 18. Jahrhundert. Diss. phil. Leipzig 1962 (Masch.) (mit Gesamtbibliographie); Gernot Koneffke: Einleitung zu C. F. Bahrdt: Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Vaduz/Lichtenstein 1979. S. Vff. (beste Interpretation, die den vorausweisenden Charakter der Solidarrechtskonzeption gleichwohl nicht als Individualisierung des Gemeinwohlpostulats des frühaufklärerischen Eudämonismus erkennt); Sten Gunnar Flygt: The notorius Doctor Bahrdt. Nashville (USA) 1963 (rein biographisch); Ludger Lütkehaus: Karl Friedrich Bahrdt, Immanuel Kant und die Gegenaufklärung in Preußen, 1788—1798. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel-Aviv. Bd. 9 (1980). S. 83ff.; Günter Mühlpfordt: Karl Friedrich Bahrdts Weg zum Radikaldemokraten. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel-Aviv. Bd. 10 (1981). S. 29 ff. Durchweg verkennen jene Autoren, die in Bahrdt einen Vertreter einer sozialen Anspruchstheorie und einen politischen Revolutionär erblicken, seine Stellung zwischen Wölfischem Eudämonismus und frühliberalem (gegenstaatlichem) Menschenrechtstheorem. Bahrdt hat die ständische Ordnung funktionalistisch unter dem Gesichtspunkt von „produktiven" und „sterilen" Klassen gedeutet und gerade die reproduktive Arbeit einer „bürgerlichen Zweckklasse" zugesprochen, die von den Privilegien der Intelligenz- und Regierungsschicht ausgeschlossen bleibt. Vgl. Handbuch (wie Anm. 25) S. 14. Das Mißverständnis der angeblich frühsozialistischen Ausrichtung Bahrdts ist zuerst von Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815. 2. Aufl. Mit einem Nachwort von Jörn Garber. Düsseldorf und Kronberg/Ts. 1978 (zuerst 1951). S. 135ff. und S. 215ff. formuliert worden. 30. Vgl. die Nachweise in den Anmerkungen 25-27.
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31. Die Scheidung von individuellen und gesellschaftsbezogenen Menschenrechten ist von Bahrdt keineswegs strikt durchgehalten worden. Die Dominanz der Kategorie „Bedürfnis" für die Zuordnung der einzelnen Menschenrechte strukturiert zwar die auf Lebenserhaltung (Existenz) ausgerichteten Rechtstitel, nicht aber die Metarechte der Perfektibilität der „Seele", deren Zuweisung bei Bahrdt mir zufällig zu sein scheint. Vgl. Bahrdt: Handbuch (wie Anm. 25). S. 200. 32. Vgl. Wolff: Grundsätze (wie Anm. 10) § 102: S. 63f. 33. Bahrdt: Rechte (wie Anm. 27). S. 71. 34. Ebd. S. 73. 35. Dieser Begriff, den Bahrdt durchweg im Handbuch (wie Anm. 25) benutzt, bezeichnet eine ständisch geprägte Sozialpsychologie, die die durch Erziehung zu vermittelnde Utilität des Bürgers garantieren soll. Dieses Konzept ist in der englischen Sozialgeschichte unter dem Leitbegriff der „moral economy" neuerdings thematisiert worden von Edward P. Thompson: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Soziaigeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Ausgewählt und eingeleitet von Dieter Groh. Frankfurt a. M., Berlin und Wien 1980. S. 35 ff. 36. Vgl. Bildung und Brauchbarkeit. Texte von Joachim Heinrich Campe und Peter Villaume zur Theorie utilitärer Erziehung. Herausgegeben von Herwig Blankertz. Braunschweig 1965. Die pädagogischen Texte von Villaume und Campe, 1785 erstmals in „Allgemeine Revision des gesamten Schulund Erziehungswesens" publiziert, wurden herangezogen, um auf die universelle Verwendung der Menschenrechtstheoreme im Augenblick ihrer Herauslösung aus dem naturrechtlichen Systemzusammenhang zu verweisen. Zugleich ist die Kontinuität eudämonistischer Zielsetzungen der deutschen Spätaufklärung hervorzuheben, die keineswegs durchweg oder auch nur überwiegend eine Literatur der überständischen „bürgerlichen" Emanzipation gewesen ist. Zur populären Aufklärung in Deutschland vgl. die kenntnisreiche Studie von Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Freiburg und München 1974. 37. Villaume (wie Anm. 36). S. 109ff. Bei Campe (vgl. ebd. S. 21 ff.) findet sich keine explizit ausgewiesene Menschenrechtstheorie, er bringt aber das Spannungsmoment von menschlicher Universalität und innergesellschaftlicher Funktionalität in seine Theorie ein, indem er (wie die Rechtstheorie) unterscheidet zwischen den unabgeleiteten Kräften des Menschen und den gesellschaftsbezogenen Fähigkeiten des „Bürgers". Wie die Menschenrechte sind die unveräußerlichen Kräfte nicht fremdbestimmbar und disponibel, während sich die Fähigkeiten der berufsmäßigen Verwendungsmöglichkeit im Rahmen einer arbeitsteiligen Gesellschaft einpassen müssen. Villaume faßt diese Differenz in der Gegenüberstellung von Individual- und Gesellschaftsrechten. Die „Menschenrechte der Gesellschaft" begründen die individuellen Pflichten des Menschen gegenüber der Gesellschaft, die deren Funktionstüchtigkeit durch Aufopferung individueller „Vollkommenheit" gewährleisten sollen, während der Katalog der Individualrechte dem Einflußbereich des Staates entzogen ist.
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38. Ebd. S. 129. Zum Brauchbarkeitsbegriff vgl. ebd. S. 76f. bzw. Eigenbrauchbarkeit und Gemeinbrauchbarkeit ebd. S. 78. Die Diskussion im pädagogischen Bereich zum Brauchbarkeitsprinzip und dessen Spannung zum „Menschheits"-Postulat ist jetzt zusammenhängend entwickelt worden von Gert- . Urban: Vom Bürger zum Menschen, von der Staats- zur öffentlichen Schule. Ein Wandel in den Auffassungen der Philanthropisten. Diss. sozialwiss. Tübingen 1980, insbesondere S. 93ff. und S. 194ff. Typisch für Villaumes Skeptizismus gegenüber dem emphatischen Emanzipationsideal der Spätaufklärung ist seine Aussage ebd. S. 91: „Also besteht die Brauchbarkeit mehrenteils in dem Mittelmäßigen. Der Mensch braucht mehr Hütten als Paläste." Vgl. auch S. 92: „Die Brauchbarkeit erfordert in den meisten Fällen Gehorsam und Unterwerfung, blinde Folgsamkeit." 39. Vgl. Kuppel: Politische Freiheit (wie Anm. 2) S. 113ff. (mit Nachweisen). 40. Ebd. S. 59ff. und Schlumbohm (wie Anm. 17) S. 133 ff. 41. Vgl. z. B. Johann August Eberhard: Über Staatsverfassungen und ihre Verbesserung. Ein Handbuch (. . .)· Berlin 1793. Teil 1. S. 118: „Diese letztere (sc. die bürgerliche Freiheit im Unterschied zur politischen) wird durch die Menge der Handlungen bestimmt, über welche die bürgerlichen Gesetze nicht gebieten oder verbieten, die sie also der eigenen Willkür eines jeden Bürgers überlassen." 42. Diese Theorie der „bürgerlichen Freiheit" erstrebt einen privaten Freiheitsraum für Produktion und Tausch und richtet sich gegen eine ständische Beschränkung des „Nahrungs"-Prinzips. Vgl. August Hennings (1786). In: Batscha/Garber (wie Anm. 22) S. 168: „Jedem muß der Zugang zu dem Stande offen sein, den er mit Ehren und Verdiensten bekleiden kann, das heischt bürgerliche Freiheit". Ebd. S. 169 fordert Hennings „Gewerbefreiheit" und die Abschaffung staatlicher Privilegien und Monopole. 43. So der Titel des Werkes von Le Mercier de la Riviere: L'Ordre naturel et essentiel des societes politiques. Paris 1767. 44. Vgl. zum physiokratischen Interessenbegriff Heinrich Häufle: Aufklärung und Ökonomie. Zur Position der Physiokraten im siecle des Lumieres. München 1978. S. 60ff. 45. Diese Analyse nimmt z. T. Ergebnisse vorweg, die im folgenden quellenmäßig belegt werden. 46. Johann August Schlettwein: Grundfeste der Staaten oder die politische Ökonomie. Gießen 1779 (Ndr. 1971). 47. Johann August Schlettwein: Die Rechte der Menschheit oder der einzige Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen. Gießen 1784 (Ndr. 1980). Grundlegend immer noch zu Schlettwein Alfred Krebs: J. A. Schlettwein, der „deutsche Hauptphysiokrat". Ein Beitrag zur Geschichte der Physiokratie in Deutschland. Leipzig 1909. 48. Schlettwein: Ökonomie (wie Anm. 46). S. 1. 49. Ebd. S. 2. 50. Ebd. S. 359. 51. Vgl. Schlettwein: Rechte der Menschheit (wie Anm. 47). S. 449. 52. Schlettwein: Ökonomie (wie Anm. 46). S. 451. 53. Ebd. S. 439.
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54. Ebd. S. 442. 55. Schlettwein formuliert lediglich gedankliches Allgemeingut des deutschen Physiokratismus. Vgl. Kurt Braunreuther: Die Bedeutung der physiokratischen Bewegung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe. Bd. 5 (1955/56). S. 15ff. 56. Leopold Krug: Abriß der Staatsökonomie oder Staatswirtschaftslehre. Berlin 1808. S. 10. Diese unter den Bedingungen des Spätfeudalismus utopisch anmutenden gesellschaftlichen Selbstregulierungstheorien wurden (z. B. bei Krug) im Einflußfeld der preußischen Reformbewegung durchaus aktuell. Krug empfiehlt, den unfreien (unterbäuerlichen) Schichten lediglich die privatrechtliche Kontraktfähigkeit zu verleihen, um diese zuvor uneffizienten Schichten der Arbeits- und Eigentümergesellschaft integrieren zu können. Damit wird ihnen die formale Chancengleichheit eröffnet, die niemals durch staatlichen Eingriff zu einer materialen umgewandelt werden darf. 57. Simon Samuel Witte: Über die Schicklichkeit der Aufwandsgesetze. Eine Beantwortung der darüber durch die Aufmunterungs-Gesellschaft zu Basel im Jahre 1780 aufgegebenen Preisfrage. Leipzig 1782. Auf diese Schrift macht aufmerksam Klippel: Politische Freiheit (wie Anm. 2). S. 137. 58. So formuliert unter dem Einfluß von Smith Gottlieb Hufeland: Neue Grundlegung der Staatswirtschaftskunst. Teil 1. Gießen und Wetzlar 1807. S. 112. 59. Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 7. Darmstadt 1968. S. 424. 60. Christian Daniel Voss: Handbuch der allgemeinen Staatswissenschaft nach Schlözers Grundriß bearbeitet. 1. Teil. Leipzig 1796. S. 416. Vgl. zu Voss Jörn Garber: Spätaufklärerischer Konstitutionalismus und ökonomischer Frühliberalismus. Das Staats- und Industriebürgerkonzept der postabsolutistischen Staats-, Kameral- und Polizeiwissenschaft (Chr. D. Voss). In: Julius H. Schoeps und Imanuel Geiss (Hrsg.): Revolution und Demokratie in Geschichte und Literatur. Zum 60. Geburtstag von Walter Grab. Duisburg 1979. S. 61 ff. 61. Voss: Handbuch Bd. l (wie Anm. 60). S. 305. 62. Der Aufsatz von Bödecker (wie Anm. 1) scheint mir dieses Problem nicht hinreichend reflektiert zu haben. Autoren wie Bahrdt, Stuve oder Möser stehen mit ihren Theorien in einer vorrevolutionären Tradition der systemgebundenen Rechtslehre, die sich nach 1789 z.T. radikalisiert, die aber keineswegs als schlichter Rezeptionsvorgang der „Declaration" zu deuten ist. Eine solche Interpretation trifft für die unmittelbare Kommentarliteratur der französischen Menschenrechtserklärung (z. B. Georg Wedekind) zu. Die lediglich deskriptive Erfassung der deutschen Menschenrechtskataloge nach 1789 durch Bödecker hat ihren Grund in dem Verzicht auf die Untersuchung der Funktion dieser Kataloge in den zeitgenössischen Systemtheorien. 63. Benutzt wird folgender Neudruck: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Mit einer Einführung und einer Bibliographie von Hans Hattenhauer und Günther Bernert. Frankfurt a. M. und Berlin 1970.
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64. ALR Einl. § 83. 65. Ebd. Einl. § 82. 66. Vgl. hierzu die Analyse von Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. 2. Aufl. Stuttgart 1975. S. 52ff., S. 78ff., S. 116ff. Eine andere Akzentsetzung bei Günter Birtsch. Vgl. zuletzt ders.: Eigentum und ständische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. In: Helmut Berding u. a. (Hrsg.): Vom Staat des Ancien regime zum modernen Parteienstaat. Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 70. Geburtstag. München und Wien 1978. S. 59ff., insbesondere S. 65ff. 67. ALR (wie Anm. 63) Einl. § 76. 68. Zum Grundrechtsproblem im ALR vgl. Gerd Kleinheyer: Artikel „Grundrechte, Menschen- und Bürgerrechte, Volksrechte". In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. B. 2. Stuttgart 1975. S. 1047ff., (zum ALR) S. 1061 ff. 69. Carl Gottlieb Svarez: Vorträge über Staat und Recht. Herausgegeben von Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer. Köln und Opladen 1960. Vgl. hierzu Gerd Kleinheyer: Staat und Bürger im Recht. Die Vorträge des Carl Gottlieb Svarez vor dem preußischen Kronprinzen (1791-92). Bonn 1959. Weiterhin unentbehrlich für biographische Daten: Adolf Stölzel: Carl Gottlieb Svarez. Ein Zeitbild aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Bonn 1885. Zum wissenschaftsgeschichtlichen (naturrechtlichen) Umfeld vgl. die beiden Studien von Hans Thieme: Die Zeit des späten Naturrechts. Privatrechtsgeschichtliche Studien I. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. Bd. 56 (1936). S. 202ff. und ders.: Die preußische Kodifikation. Privatrechtsgeschichtliche Studien II. Ebd. Bd. 57 (1937). S. 355 ff. Ein guter Überblick jetzt bei Gerd Kleinheyer: Aspekte der Gleichheit in den Aufklärungskodifikationen und den Konstitutionen des Vormärz. In: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 2./3. April 1979. Berlin 1980 (= Beihefte zu „Der Staat" Heft 4). S. 7ff. 70. Vgl. Svarez: Kronprinzenvorträge (wie Anm. 69). S. 215. 71. Ebd. S. 217f. 72. Ebd. S. 218f. 73. Ebd. S. 219. 74. Das Faktum der Revolution wird von Svarez in den Kronprinzenvorträgen als Drohfaktor bei Rechtsmißachtung durch den Staat ins Spiel gebracht: Im Falle der Diskrepanz zwischen dem „Wohl des Ganzen" und dem „Privatwohl zahlreicher Klassen von Untertanen" sowie im Falle der finanziellen Ausplünderung der Untertanen „ist der Zeitpunkt der Revolution da, die entweder das Band gänzlich zerreißt oder doch den Regenten schmälert." (ebd. S. 220). Zwar erstrebt Svarez die Sicherung der Untertanen gegen „Mißbräuche der Souveränitätsrechte", aber so, daß dadurch „die Rechte des Souveräns selbst" nicht geschmälert werden (ebd. S. 237). 75. Ebd. S. 255.
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76. Ebd. S. 467. Wie im ALR ist der Rechtsstatus der Staatsglieder differenziert nach Geburt, Stand und „Begebenheiten" (ebd. S. 260). Es ist daher nur konsequent, wenn der Rechtsstand eines Untertanen sich danach richtet, „ob er das Kind eines freien Menschen oder eines einer Gutsherrschaft unterworfenen Untertanen sei" (ebd. S. 260). Svarez fügt erklärend hinzu: „Der Unterschied der Rechte und Pflichten, welcher aus der Geburt entsteht, gründet sich nicht im Naturrechte, welches den Unterschied zwischen ehelichen und unehelichen, freien und untertänigen, adligen und unadligen Kindern nicht kennt, sondern er beruht auf positiven Gesetzen des Staates." (ebd. S. 261). Hier zeigt sich unmittelbar die Grenze der „überlas naturalis", die auch durch eine Menschenrechtskonzeption nicht im ständisch strukturierten „status civilis" überwunden wird. 77. Ernst Ferdinand Klein: Freiheit und Eigentum abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung. Berlin und Stettin 1790 (Ndr. 1977). Vgl. hierzu die ausgezeichnete Studie von Günter Birtsch: Freiheit und Eigentum. Zur Erörterung von Verfassungsfragen in der deutschen Publizistik im Zeichen der Französischen Revolution. In: Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Eigentum und Verfassung. Zur Eigentumsdiskussion im ausgehenden 18. Jahrhundert. Göttingen 1972. S. 229ff. 78. Vgl. die Beschlüsse der Abschaffung der Feudalität vom 11. 8. 1789. Abdruck bei Walter Grab (Hrsg.): Die Französische Revolution. Eine Dokumentation. 68 Quellentexte und eine Zeittafel. München 1973. S. 33 ff. 79. Vgl. Wolff: Grundsätze (wie Anm. 10) § 305: S. 188f. Diese „äußerste Notwendigkeit" verwandelt das „Recht zu bitten" in das „Recht zu zwingen". 80. Ebd. § 308: S. 190f. 81. Ebd. §306: S. 189. 82. Kant: Werke (wie Anm. 59) beschäftigt sich (Bd. 7. S. 343f.) mit dem Notrecht, begrenzt die Diskussion aber auf die „Situation", „einem anderen, der mir nichts zu Leide tat, das Leben zu nehmen" „im Fall der Gefahr des Verlustes meines eigenen Lebens". Zur Differenz von „angeborene(m) und erworbenem Recht" vgl. ebd. S. 345, sowie zur Trennung von „innerem" und „äußerem" Mein und Dein" s. ebd. S. 346. Kants „bloß-rechtliche" Begründung „etwas außer mir als das Meine zu haben" (ebd. S. 363) erfolgt unter Abstraktion von „Arbeit" (Formgebungshypothese) (ebd. S. 376) und unter Absehung vom „Bedürfnis"-Theorem (ebd. S. 380). Vgl. hierzu Reinhardt Brandt: Eigentumstheorien von Grotius bis Kant. Stuttgart-Bad Canstatt 1974. S. 175. 83. Ernst Ferdinand Klein: Grundsätze der natürlichen Rechtswissenschaft nebst einer Geschichte derselben. Halle 1797 (Ndr. 1979). Zur Beurteilung der neuzeitlichen Naturrechtstradition durch Klein vgl. ebd. S. 341 ff. 84. Klein: Freiheit und Eigentum (wie Anm. 77). S. 93. 85. Ebd. S. 118. 86. Ebd. S. 116f. 87. Zum Postulat der „politischen Freiheit" vgl. die Ausführungen Schlumbohms: Freiheit (wie Anm. 17). S. 133 ff.
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88. Die Anhänger der 93er Verfassung stellen eine Minorität innerhalb der politischen Spätaufklärung dar. Verfassungsideale der „demokratischen Republik" vertreten lediglich Johann Adam Bergk, Wilhelm Joseph Behr, der junge Friedrich Schlegel und Georg Wedekind. 89. Vgl. dazu jetzt zusammenfassend Hans-Christoph Schröder: Die Grundrechtsproblematik in der englischen und amerikanischen Revolution. Zur „Libertät" des angelsächsischen Radikalismus. In: Günter Birtsch (Hrsg.): Grund- und Freiheitsrechte (wie Anm. 1). S. 75 ff. 90. Vgl. Jacques Godechot: La Revolution fran9aise et la Liberte. In: Birtsch: Grund- und Freiheitsrechte (wie Anm. 1). S. 243ff. Grundlegend die beiden Arbeiten von Sigmar-Jürgen Samwer: Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/91. Hamburg 1970 und Jürgen Sandweg: Rationales Naturrecht und revolutionäre Praxis. Untersuchung zur „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789. Berlin 1972. 91. Vgl. jetzt die Zusammenfassung von Hans Erich Bödecker (wie Anm. 1), der die Rezeption der französischen Menschenrechtserklärung im Spiegel der Zeitschriftenliteratur untersucht hat. 92. Vgl. (anonym): Der Freistaat unter jedem Himmelsstrich oder die Konstitution des Menschengeschlechts. Berlin 1795. S. 81. 93. Kant: Werke (wie Anm. 59). Bd. 9. S. 145 und S. 150f. sowie Bd. 7. S. 432f. 94. Heinrich Würzer: Revolutions-Katechismus. Berlin 1793. (Ndr. 1977). S. 157. 95. Vgl. Klein: Naturrecht (wie Anm. 83) § 95: S. 68: „Jeder Mensch hat ursprünglich ein ausschließendes Recht auf den Gebrauch seiner Seelenkräfte und Gliedmaßen (§ 66), und es kann also niemand darüber wider seinen Willen verfügen (Recht der Persönlichkeit)." 96. Ebd. §86: S. 63f. 97. Ebd. § 87: S. 64. 98. Kant: Werke (wie Anm. 59). Bd. 9. S. 145. 99. Vgl. hierzu die kontroverse Deutung von Ebbinghaus und Riedel: Julius Ebbinghaus: Das Kantische System der Rechte des Menschen und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung. In: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie Jg. 1964. S. 23 ff. insbesondere S. 48ff. und Manfred Riedel: Die Aporie von Herrschaft und Vereinbarung in Kants Idee des Sozialvertrages. In: Gerold Prauss (Hrsg.): Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln. Köln 1973. S. 337ff., insbesondere S. 349 (gegen Ebbinghaus). 100. Dies gilt insbesondere für Johann Adam Bergk: Briefe über Immanuel Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, enthaltend Erläuterungen, Prüfung und Einwürfe. Leipzig 1797. Bergk hatte 1796 ein eigenes Naturrechtskompendium publiziert: Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte mit einer Kritik der neuesten Konstitution der französischen Republik, o. O. 1796 (Ndr. 1975). Vgl. zum Verhältnis von Bergk und Kant: Jörn Garber: Liberaler und demokratischer Republikanismus. Kants Metaphysik der Sitten und ihre radikaldemokratische Kritik durch J. A. Bergk. In: Otto Busch und Walter Grab (Hrsg.): Die demokrati-
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sehe Bewegung in Mitteleuropa im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Ein Tagungsbericht. Berlin 1980. S. 250ff. Kant: Werke (wie Anm. 59). Bd. 9. S. 147. Ebd. Bd. 7. S. 432 f. und Bd. 9. S. 150. Voss: Handbuch (wie Anm. 60). Bd. 2. S. 256. Ebd. Bd. 2. S. 257. Ebd. Bd. 1. S. 258. Ebd. Bd. 2. S. 256. Würzer: Revolutions-Katechismus (wie Anm. 94). S. 135. Ebd. S. 191. Bergk: Untersuchungen (wie Anm. 100). S. 314. Vgl. Justus Möser: Über das Recht der Menschheit, als den Grund der neuen Französischen Konstitution. In: Berlinische Monatszeitschrift Bd. 15 (1790). S. 499ff. Neudruck bei Jörn Garber (Hrsg.): Kritik der Revolution. Theorien des deutschen Frühkonservativismus 1790—1810. Bd. 1.: Dokumentation. Kronberg/Ts. 1976. S. 185 ff. Dieser Aufsatz entfachte eine Kontroverse um den Ursprung und die Wirksamkeit von Menschenrechten. Vgl. Johann August Eberhard: Über die Rechte der Menschheit in der bürgerlichen Gesellschaft. In Beziehung auf das bekannte Dekret der französischen Nationalversammlung. In: ders. (Hrsg.): Philosophisches Magazin. Bd. 3. Halle 1791. S. 377ff. Neudruck bei Batscha/Garber (wie Anm. 22). S. 230ff.; Karl Clauer: Auch etwas über das Recht der Menschheit. In: Berlinische Monatsschrift. Bd. 16 (1790). S. 197ff.; ders.: Noch ein Beitrag über das Recht der Menschheit. In: ebd. Bd. 16 (1790). S. 441 ff.; Johann Erich Biester: Nachschrift zu dem vorstehenden Aufsatz (sc. Clauer: Auch etwas . . .)· In: ebd. Bd. 16 (1790). S. 209ff. Vgl. Riedel (wie Anm. 99). S. 346. Georg Wedekind: Über die Regierungsverfassungen. Eine Volksrede in der Gesellschaft der Freunde der Freiheit und der Gleichheit, gehalten zu Mainz am 5. November im ersten Jahre der Republik. Mainz 1792. Abdruck bei Claus Träger (Hrsg.): Mainz zwischen Rot und Schwarz. Die Mainzer Revolution 1792-1793 in Schriften, Reden und Briefen. Berlin (DDR) 1963. S. 191. Ebd. S. 193f. Ebd. S. 194 Anm. Ebd. S. 199f. Bergk: Untersuchungen (wie Anm. 100). S. 48f. Ebd. S. 93. Ebd. S. 14. Vgl. hierzu Garber (wie Anm. 100). S. 266ff. Bergk: Untersuchungen (wie Anm. 100). S. 158.
WOLFGANG KERSTING
Sittengesetz und Rechtsgesetz — Die Begründung des Rechts bei Kant und den frühen Kantianern Als Kant im Januar 1797 die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre" veröffentlichte und damit endlich den ersten Teil seiner zuletzt noch in der Einleitung zur 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" angekündigten „Metaphysik der Sitten" vorlegte, wurden Rechtsbegründungen und Naturrechtsentwürfe nach Prinzipien der kritischen Philosophie bereits ein Jahrzehnt lang erörtert. Die „philosophischen und philosophierenden Denker, die" — so Bouterwek in seiner Rezension der Rechtslehre Kants — „unsere Bibliotheken seit einigen Jahren mit keiner kleinen Zahl von Compendien des Naturrechts nach kantischen Ideen bereicherten"1, sahen mit der in der „Grundlegung" geleisteten „Auffindung der letzten Gründe der Sittlichkeit" einen „sichern Leitfaden" in ihre Hände gelegt, der sie zu einer „festeren Begründung" des in seinen Prinzipien noch unsicheren und in seinen Begriffen noch schwankenden Naturrechts führen und so auch auf diesem wissenschaftlichen Gebiet dem „Herumtappen" ein Ende bereiten würde2. Naturrechtsphilosophie war für die Kantianer daher Fundierung der „Wissenschaft der äußeren vollkommenen Rechte und Pflichten" in den „Principien der Moralität"3, Bemühung um „eine mit dem Gesetz der sittlichen Vernunft vollkommen zusammenstimmende Ableitung der Zwangsrechte des Menschen"4. Als die Freunde der Philosophie Kants jedoch die Rechtslehre des Meisters, der sie „mit der größten Begierde und mit der gespanntesten Erwartung" entgegengesehen hatten, endlich in den Händen hielten, mußten sie feststellen, daß diese „fast allenthalben das Gegentheil von dem enthieltQ, was man bis jezt sich unter der Rechtswißenschaft gedacht hatte"5. Fichtes in der Einleitung seiner „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" (1796) ge-
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äußerte Vermutung hatte sich bestätigt: „die gewöhnliche Weise, das Naturrecht zu behandeln"6, wurde in der Rechtslehre Kants nicht fortgesetzt. Diese gewöhnliche Behandlungsweise des Naturrechts, eben das kantianische Programm einer Ableitung des Rechts aus dem Sittengesetz, hat zwei Deduktionsvarianten hervorgebracht, die ihr Kritiker Feuerbach folgendermaßen charakterisiert hat: „Betrachten wir den Menschen, in Hinsicht auf den Grund des Rechts, an sich, leiten wir das Recht aus dem Sittengesetz des Berechtigten Subjekts selbst, aus dem Vernunftgesetz her, in wie ferne es dem Rechte habenden selbst obliegt, so haben wir die absolute Rechtsdeduktion. Betrachten wir aber den Menschen, in Hinsicht auf den Grund des Rechts in Beziehung auf andere vernünftige Wesen, und leiten wir das Recht aus dem Sittengesetze ab, in wie ferne es ändern, dem Berechtigten gegenüberstehenden Subjekten obliegt, so haben wir die relative Rechtsdeduktion"7. Im folgenden sollen diese beiden Deduktionstypen am Beispiel der frühen Rechtsphilosophie Fichtes einerseits und des Naturrechts Heydenreichs andererseits in ihren Grundzügen dargestellt werden. Danach werde ich die aus einer Kritik dieses Deduktionsprogramms hervorgegangene Rechtsbegründung Feuerbachs behandeln. Und ein Vergleich der rechtsphilosophischen Bemühungen der Kantianer mit der Rechtsmetaphysik Kants wird dann den Abschluß bilden. I.
In seinem „Versuch über den Grundsatz des Naturrechts" (1785) bietet Hufeland einen nahezu vollständigen Überblick über die Geschichte der Grundlegung des Naturrechts im engeren Sinne seit Grotius und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß es bisher noch nicht gelungen sei, eine zufriedenstellende Rechtsbegründung zu entwickeln. So sehr man sich auch um eine deutliche Abgrenzung des Naturrechts als des Systems der durch Erzwingbarkeit charakterisierten Pflichten von der Moralphilosophie als der Lehre der nicht-erzwingbaren Gewissens- oder Liebespflichten bemüht habe, so sei es doch noch nicht erreicht worden, die
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intuitiv einleuchtende Differenz zwischen erzwingbaren und nur freiwillig zu leistenden Pflichten prinzipienlogisch zu begründen8, und folglich auch noch „keiner von den bisherigen Versuchen, den Zwang zu beweisen, ganz geglückt"9. Der Ansatz, die Grenzstreitigkeiten zwischen Moral und Naturrecht durch pflichtentheoretische Differenzierung entscheiden zu wollen, müsse daher preisgegeben werden und an seine Stelle, so Hufelands Vorschlag, der Versuch treten, das Naturrecht als Lehre von den Rechten zum selbständigen Gegenstand einer wissenschaftlichen Behandlung zu machen. „Die Moral lehrt Pflichten; warum soll denn das Naturrecht auch Pflichten lehren? . . . Wie wäre es nun, wenn wir versuchten, in unserer Wissenschaft blos Rechte zu lehren?"10. Die Kantianer haben sich weitgehend diesem Programm angeschlossen. Nicht davon handelt ihr Naturrecht, was wir tun sollen, weil wir es anderen schuldig sind und diese es darum von uns fordern können, sondern allein davon, was wir tun dürfen, was uns erlaubt ist. Allerdings sind ihre Motive für diesen Perspektivenwechsel nicht in der von Hufeland ausführlich dokumentierten systematischen Undeutlichkeit der Pflichtenlehre des allgemeinen Naturrechts zu suchen. Für sie war ausschlaggebend, daß in den ihnen vorliegenden und sie leitenden moralphilosophischen Schriften Kants der Begriff der Pflicht so eng mit der Moralität verknüpft ist, daß seine weitere Inanspruchnahme für den Zweck der Naturrechtsbegründung nicht mehr möglich schien, denn das traditionelle Definiens der Rechtspflicht, die Erzwingbarkeit, impliziert eine Pflichterfüllungsmöglichkeit, die dem Moralitätsbegriff widerstreitet. Die Distinktion, die der Kant der „Metaphysik der Sitten" in seinem berühmten Lehrstück von der doppelten Vernunftgesetzgebung zum Ausdruck bringt, stand den ganz im Schatten der „Grundlegung" und der „Kritik der praktischen Vernunft" über das Recht philosophierenden Kantianern nicht zur Verfügung11. Wie ist aber aus dem Sittengesetz ein Rechtsbegriff zu gewinnen? Kants Zeitgenossen waren sich darüber im klaren, daß das Kriterium der Universalisierbarkeit nicht die Gebote von den Verboten, sondern die erlaubten von den unerlaubten Handlungen scheidet; die Verallgemeinerbarkeit ist ein notwendiges und
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zugleich hinreichendes Kriterium erlaubter Handlungen, entsprechend ist die Nichtverallgemeinerbarkeit ein notwendiges und zugleich hinreichendes Kriterium unerlaubter, d. h. verbotener Handlungen. Die Pflichthandlungen nun bilden eine Teilklasse der erlaubten Handlungen, und zwar derjenigen, deren praktisches Gegenteil nicht verallgemeinerungsfähig ist, so daß sich die Klasse der erlaubten Handlungen aufspaltet in die Teilklasse der Pflichthandlungen und die Teilklasse der moralisch indifferenten oder bloß erlaubten Handlungen12. Diese deontische Unterscheidungsleistung des kategorischen Imperativs haben die Vertreter der absoluten Deduktion nun für ihre Zwecke nutzbar gemacht. Das Moralprinzip wird von ihnen in seiner Eigenschaft als Regel des Pflichtwidrigen und Erlaubten in ein Obligativgesetz und ein Permissivgesetz13 zerlegt und so als identischer Normgrund einer obligativgesetzlichen Pflichtbestimmung und einer permissivgesetzlichen Bestimmung des Erlaubtseins und Dürfens zur Ableitung des Rechts aus der sittlichen Vernunft so wie zur genauen vernunftgesetzlichen Abgrenzung seines besonderen Geltungsbereichs in Anspruch genommen14. Ein gutes Beispiel solch einer absoluten Deduktion, die auf das Sittengesetz als Dijudikationsregel des moralisch Möglichen zurückgreift und das Gebiet des Rechts mittels des Begriffs des Erlaubten absteckt, liefert die frühe Rechtsphilosophie Fichtes. „Was uns dieses Gesetz gebietet, heißt im allgemeinen recht, eine Pflicht; was es uns verbietet unrecht, pflichtwidrig . . . Stehen wir als vernünftige Wesen schlechterdings und ohne alle Ausnahme unter diesem Gesetze, so können wir, als solche, unter keinem ändern stehen: wo demnach dieses Gesetz schweigt, sind wir unter keinem Gesetze: wir dürfen. Alles, was das Gesetz nicht verbietet, dürfen wir tun. Was wir tun dürfen, dazu haben wir, weil dieses Dürfen gesetzlich ist, ein Recht . . . Was uns . . . das Sittengesetz bloß erlaubt, das zu tun haben wir ein Recht; wir haben aber auch das ihm entgegengesetzte Recht es nicht zu tun. Das Sittengesetz schweigt, und wir stehen bloß unter unserer Willkür. — Unsere Pflicht zu tun haben wir auch ein Recht; aber wir haben nicht das ihm entgegengesetzte Recht, sie nicht zu tun. Eben so haben wir das Recht, freie, sittliche Wesen zu sein; aber
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wir haben nicht das Recht, es nicht zu sein. Die Berechtigung ist also in diesen beiden Fällen sehr verschieden: im erstem ist sie wirklich bejahend, im zweiten bloß verneinend"15. Der Bereich des Rechts ist mit dem des moralisch Möglichen umfangsgleich, und das Sittengesetz ist als Regel des Erlaubten Deduktionsgrund der verschiedenen Rechte wie der Verschiedenheit des Rechts. Wie eine erlaubte Handlung entweder eine auch gebotene oder eine nur erlaubte Handlung sein kann, so ist auch das Recht ein solches, das entweder eine Pflichthandlung oder eine moralisch indifferente Handlung zum Inhalt haben kann. „Diese Unterscheidung ist um ihrer Folgen willen unendlich wichtig"16, denn die Rechte der ersten Art sind mit der sittlichen Bestimmung des Menschen unauflöslich verknüpft und daher unveräußerlich. Die Rechte der zweiten Art sind hingegen veräußerlich. Ihre inhaltliche Ausgestaltung innerhalb der vom Sittengesetz aufgestellten Schranken bleibt ebenso wie ihre Wahrnehmung selbst der individuellen Willkür überlassen. In der zweiten Auflage der „Kritik aller Offenbarung" hat Fichte den Bereich des gesetzlichen Dürfens als Schutzraum sittlich lizensierter Glückseligkeit betrachtet. Das Recht ist wesentlich das Recht der Glückseligkeit17. Schweigt das fordernde Pflichtgesetz, dann darf der „Glückseeligkeitstrieb", der eigennützige Trieb18 seine Stimme erheben. Das Recht ist stillschweigend berechtigte Sinnlichkeit, ein Naturreservat im Herrschaftsbereich der sittlichen Freiheit. Pflicht und Recht stehen hier zueinander wie Vernunft und Sinnlichkeit; das Recht entdeckt sich als Befugnis, im sittlichen Freiraum nach Naturtrieben zu handeln, und das Sittengesetz bildet als Grund des moralisch Notwendigen wie des moralisch Möglichen das Fundament für eine konfliktfreie Koexistenz von praktischer Vernunft und Selbstliebe, von autonomer Pflichterfüllung und sittengesetzlich legitimierter Heteronomie. Das Sittengesetz fungiert hier zugleich als Erkenntnisregel des Erlaubten und als Legitimierungsgrund des Glückseligkeitstriebes; das Erlaubte bekommt damit neben der Bedeutung eines gesetzlich begründeten Handlungsprädikats die einer den moralisch geforderten Autonomiestandpunkt letztlich untergrabenen Berechtigung zur natürlichen Handlungsbestim-
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mung und damit zur Unfreiheit. In dieser Rechtsbegründungsversion gibt das Sittengesetz der inneren Natur ein Recht und streicht sich damit selbst als Autonomieprinzip und Grundsatz einer durchgängig durch Vernunft bestimmten Moralitätsverfassung durch19. Im „Beitrag" rückt Fichte von diesem Rechtsverständnis ab. Hier thematisiert das Recht nicht mehr die erlaubte Betätigung des „gesetzmäßigen Glückseligkeitstriebs". Der moralanthropologische Hintergrund weicht einem freiheitstheoretischen: nicht mehr um „Einheit in den ganzen, rein- und empirisch-bestimmbaren Menschen zu bringen"20, gesellt sich das Recht als sittlich disziplinierte Sinnlichkeit zur Pflicht, sondern um das Bestimmungsmonopol des Sittengesetzes mit äußerlicher Ungebundenheit zu verknüpfen. Das Recht nimmt jetzt die Gestalt eines Rechts auf absolute Selbstbestimmung ab. „Steht nämlich der Mensch, als vernünftiges Wesen, schlechthin und einzig unter dem Sittengesetze, so darf er unter keinem ändern stehen, und kein Wesen darf es wagen, ihm ein anderes aufzulegen. Wo ihn sein Gesetz befreit, da ist er ganz frei: wo es ihm Erlaubnis gibt, verweiset es ihn an seine Willkür, und verbietet ihm in diesem Falle, ein anderes Gesetz anzuerkennen, als diese Willkür"21. Unter dem Titel des Rechts weist der Mensch jeden Versuch ab, seine sittliche Freiheit und die mit ihr übereinstimmende Willkürfreiheit zu beeinträchtigen. Der eifersüchtige Alleinherrschaftsanspruch des Sittengesetzes verlangt die äußerliche Ungebundenheit der Willkür. Die einzige Einschränkung seiner Handlungsfreiheit, die der Mensch akzeptieren kann und darf, ist die, welche er sich als moralisches Wesen selbst auferlegt. Als Außenseite der inneren Herrschaft des Sittengesetzes, als Reflex der das Dürfen gesetzlich sanktionierenden moralischen Vernunftgesetzgebung entbehrt das Recht selbst jeder Verbindlichkeit. Die dem Recht hier gegebene Begründung schließt es aus, daß das Recht einer Person das Verhalten anderer bestimmen könnte. Ich habe ein Recht, das ist äquivalent mit: ich soll oder ich darf; das ist aber nicht äquivalent mit: du sollst. Das Recht von A kann nicht Grund einer Verpflichtung von B sein. Fichtes Rechtsdeduktion läßt dem Begriff einer äußeren Ver-
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bindlichkeit keinen Raum. Niemandes Willkür darf einer äußeren Gesetzgebung unterworfen sein; das Recht anderer gerät als möglicher legitimer Bestimmungsgrund meiner Willkür gar nicht ins Blickfeld. Ist das Recht nichts anderes als die nach außen gekehrte Autonomie, dann muß eine rechtliche, die Individuen mit wechselseitiger Bestimmungsmacht ausstattende Vernunftgesetzgebung als Heteronomiezumutung betrachtet werden. Hat jedermann das unveräußerliche22 Recht, „Verbindlichkeiten, die er sich selbst auferlegte, sich auch selbst wieder abzunehmen"23, dann bleibt anderen mir gegenüber nur so lange ein Recht, wie ich bereit bin, es ihnen einzuräumen, dann herrscht in der Sphäre des veräußerlichen Rechts, im Bereich der sich durch Rechtstausch arrangierenden Willkür Gesetzlosigkeit, die nur durch allseitige sittliche Wahrhaftigkeit kompensiert werden kann. Das Sittengesetz vermag, zum Quell emphatischer, die gesamte menschliche Existenz umfassender Selbstbestimmung verabsolutiert, nicht die Funktion eines verbindlichen Sozialprinzips zu übernehmen, das seine Verwirklichung von der Bedingung eines allseitigen guten Willens unabhängig machen könnte. Gesellschaft ist unter diesen Voraussetzungen nur als Produkt sittlicher Spontanität, als Geflecht moralischer Beziehungen begreifbar. Der Zugang zum Rechtsverhältnis, mit dessen transzendental-genetischer Konstruktion das Fichtesche Naturrecht von 1796 beginnt, ist durch die absolute Deduktion versperrt. Ihr analytisch gewonnener Rechtsbegriff thematisiert allein die Außenseite der subjektiven sittlichen Freiheit und enthält keine eigengesetzlichen, juridischen Bestimmungen einer äußeren Freiheitsordnung. An deren Stelle tritt beim frühen Fichte ein rein gesellschaftsethisches Modell, das die Vergesellschaftung begreift als einen Kommunikationsprozeß sittlich freier und in absoluter Selbstbestimmung harmonierender moralischer Monaden. Die absolute Deduktion versucht im Rahmen einer deontischen Ausdifferenzierung des Geltungsbereichs des Sittengesetzes einen immanenten Übergang vom Verpflichtetsein zum Berechtigtsein zu finden. Dieser Übergang ist jedoch nicht möglich. Das Sittengesetz besitzt als Erkenntnisprinzip des Erlaubten ebensowenig wie als mich zum vernunftbestimmten Handeln ver-
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pflichtendes Gesetz den Status eines erlaubenden, Rechte verleihenden Prinzips. Der für die absolute Deduktion grundlegende Schritt vom Handlungsprädikat „recht" zum Prädikat einer Person „ein Recht haben" ist nicht schlüssig24. Im Nichtverbotensein ist nur die moralische Möglichkeit enthalten im Sinne einer allgemeinen moralischen Befugnis, nicht aber die von dieser facultas moralis generatim unterschiedene facultas iuridica als die zwangsbewehrte Befugnis zur Bestimmung der Willkür anderer25. Der Schritt vom inneren Recht zum äußeren Recht, vom negativen Erlaubtsein zur positiv bestimmten Rechtsbefugnis ist von den Vertretern dieser Begründungsfigur nicht einsichtig zu machen; ebensowenig gelingt es ihnen, „den Zwang zu beweisen". Eine zweite Schwierigkeit tritt hinzu. Wird der Bereich des Rechts über den Begriff des moralisch Möglichen erschlossen und damit auch im Rahmen einer internen Pflicht-Recht-Relation inhaltlich bestimmt, dann wird notwendigerweise jeder aus dem Sittengesetz ableitbaren Pflichtart in gleicher Weise ein Recht zugeordnet werden müssen. Da die Kantianer davon überzeugt waren, daß das Moralprinzip Kants für alle Pflichtarten zuständig ist, haben sie auch in ihren Naturrechtsentwürfen zwischen vollkommenen und unvollkommenen Rechten unterschieden, ohne allerdings den Grund aufzeigen zu können, warum nur die ersteren mit einer Zwangsbefugnis ausgestattet sind, wie sie in Übereinstimmung mit der Tradition behaupten26. Es gibt aber noch ein weiteres Problem. Es betrifft die an die Rechtsbegründung Wolffs27 erinnernde ideologische Natur der Ableitung und Sinnbestimmung der unveräußerlichen Rechte. Nun ist sicherlich dem naturrechtlichen Vervollkommnungsgebot die Unterstützung durch ein zwangsbewehrtes Recht hochwillkommen. Als ein handlungsgebietendes, materiales Pflichtprinzip bedarf es einer Macht, die die Handlungen anderer mit ihm in Übereinstimmung bringt. Welchen Sinn macht aber eine derartige Ideologische, sittlichkeitspragmatische Rechtsbegründung, wenn das Zwangsrecht auf Pflichterfüllungsfreiheit keine Vervollkommnungspflicht, auch keine Selbsterhaltungspflicht zum Inhalt hat, sondern sich auf eine Pflicht beziehen muß, die die
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gerechte Behandlung anderer verlangt, oder, allgemein gesprochen, wenn die Rechte erzeugenden Pflichten einem formalen und negativen Sittlichkeitsprinzip entstammen? II.
Die für die absolute Deduktion konstitutive interne Relation von Verpflichtung und Berechtigung verwandelt sich bei der relativen Deduktion in eine externe. Die Vertreter dieser Deduktionsvariante versuchen das Recht nicht „aus dem selbsteigenen Sittengesetz, sondern . . . aus dem Sittengesetz des Ändern" abzuleiten28. „Alles Erlaubtseyn, alles Dürfen kann nur unter Voraussetzung einer Beziehung auf das moralische Gesetz im Bewußtsein der Menschen außer dem Handelnden gedenkbar seyn. Sobald ich also sage: es sey mir etwas erlaubt, ich dürfe etwas, so heißt dies nicht: meine moralische Vernunft lasse mir es zu, sondern die moralische Vernunft in den Menschen außer mir verbiethe diesen mich zu hindern"29. Für Heydenreich gibt es kein gesetzliches Dürfen. Die Überzeugung, die praktische Vernunft würde auch erlauben, entspringt seiner Meinung nach einer defizienten Moralerkenntnis. „Wenn wir ie glauben, die moralische Vernunft erlaube etwas, überlasse es unsrer Willkühr so oder anders zu handeln, so entspringt dieser Schein bloß daraus, daß wir die Anwendung ihrer Gesetzgebung, welche die feinsten Verhältnisse befaßt, nicht weit genug fortführen"30. Dem muß jedoch entgegengehalten werden, daß das Sittengesetz als Erkenntnisregel des Pflichtwidrigen und Erlaubten durchaus sittlich indifferente Handlungen kennt und keinesfalls unsere Praxis der mikrologischen Tyrannei einer vollständigen Verbot-Gebot-Disjunktion unterwirft31. Nicht die Einsicht in die Schwächen der absoluten Deduktion, sondern eine Fehleinschätzung der dijudikativen Kriterien des Sittengesetzes hat Heydenreich mithin von dem „absoluten" Weg der Rechtsbegründung abgebracht. An der Grundannahme der „Absolutisten", daß, wer zum Recht will, vom innerlich verpflichtenden Sittengesetz auszugehen habe, hält er freilich fest, nur ist es eben jetzt der dem potentiell Berechtigten gegenüberstehende Andere, der als ethisch Verpflichteter
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den Deduktionsgrund bildet. Der Berechtigte ist hier der durch die anderen auferlegten moralischen Pflichten Begünstigte. Sein Recht besteht allein darin, Pflichtobjekt zu sein. Nur äußerer Reflex moralischer Pflichten, ist der Begriff des Rechts inhaltslos und normwissenschaftlich entbehrlich, denn will man vom Recht reden, muß man immer von der moralischen Pflicht reden. Da Heydenreich von dem gesetzlichen Dürfen als rechtstheoretischem Schlüsselbegriff abrückt, das kantianische Deduktionsprogramm selbst jedoch beibehält, versperrt sich ihm die von den „Absolutisten" wahrgenommene Möglichkeit einer Abgrenzung des Rechtsbereiches mittels des Begriffs des Erlaubten und fallen ihm daher Recht und Pflicht inhaltlich zusammen. Dem Recht mangelt jede Eigenständigkeit; es ist nichts von der moralischen Pflicht inhaltlich Verschiedenes, sondern nur der Name ihres Spiegelbildes32. Das gilt auch in Hinblick auf die Zwangsproblematik, denn die Logik der Heydenreichschen Argumentation verlangt, die dem Reflexrecht auch von ihm zugeschriebene Zwangsbefugnis ihrerseits in einer logisch vorgängigen, ausdrücklich auf sie zugeschnittenen Zwangsduldungspflicht zu begründen. „Die Befugnis zum Zwange . . . erfolgt aus der vorgestellten Verpflichtung des unrechtanthuenden Menschen, sich der rechtmäßigen Gewalt des Unrechtleidenden nicht zu widersetzen. Weil er mich nicht zwingen gesollt, so soll er sich nun zwingen lassen, mich nicht zu zwingen"33. Warum aber diese merkwürdige Duldungspflicht nur die Erzwingbarkeit von Gerechtigkeitspflichten legitimieren soll, die Tugendpflichten jedoch nicht die Bedeutung besitzen, vollkommene Rechte zu erzeugen, das bleibt auch bei dieser Deduktionsvariante unklar, legt doch das von Heydenreich in Übereinstimmung mit der „Grundlegung" als universales pflichtentheoretisches Prinzip verstandene Sittengesetz uns die einen wie die anderen auf.
III. Feuerbach lehnt die Deduktion des Rechts aus dem Sittengesetz ab. Dieser Begründungsgang verhindert, daß das Recht aus dem Bestimmungsschatten des Moralgesetzes heraustreten und
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wissenschaftliche Selbständigkeit gewinnen kann. Das Programm einer „Vernunftrechtswissenschaft"34 muß den Rekurs auf das verpflichtende Sittengesetz vermeiden; es verlangt, einen vom Sittengesetz verschiedenen, „in dem berechtigten Subjekt an sich gelegenen Grund des Rechts aufzufinden, durch welchen äußere Rechte, Zwangsrechte, rechtliche Freiheit und das Recht überhaupt, als ein durch reelle Merkmale bestimmter und mit der Vernunft positiv verknüpfter Gegenstand möglich ist"35. Zu Recht hat Feuerbach hervorgehoben, daß der Begriff des moralisch Möglichen nicht identisch ist mit dem Begriff des Rechts im Sinne einer positiven, vernunftgegebenen Befugnis, daß aus dem Handlungsprädikat der Gesetzeskonformität nicht das Berechtigtsein als personales Attribut herleitbar ist. Er zieht daraus jedoch nicht den Schluß, auf den Erlaubnisbegriff als Ausgangspunkt der Rechtsbegründung zu verzichten und von dem systematischen Primat des subjektiven Rechts abzurücken. Für ihn ist das Naturrecht wesentlich wissenschaftliche Begründung vernunftgegebener subjektiver Rechte und daher Theorie einer a priori berechtigenden Vernunft. Und da eben das Sittengesetz als Ausdruck der verpflichtenden Vernunft selbst kein positiv bestimmtes Erlaubtsein enthält, muß in der Vernunft neben der Pflichten auferlegenden Funktion noch eine andere, gleichursprüngliche Rechte verleihende Funktion angenommen werden. So sieht sich der Kantianer Feuerbach genötigt, eine juridische Funktion der reinen praktischen Vernunft zu postulieren, zu einem „eigenen (,) Rechte gebenden Vermögen der praktischen Vernunft" Zuflucht zu nehmen, das als „principium essendi der Rechte" dem moralischen Vernunftvermögen beigeordnet ist36. Diese juridische Vernunftfunktion hat nichts mit der juridischen Vernunftgesetzgebung Kants gemein. Sie ist das gemeinsame Produkt einer logischen Einsicht und einer programmatischen Entscheidung. Die erste hat die Nicht-Identität von subjektiver Berechtigung und dem Handlungsprädikat des Rechten zum Inhalt, die zweite hingegen erhebt den Begriff des subjektiven Rechts zum alleinigen Inhalt der Vernunftrechtswissenschaft. Feuerbach hält an dem Erlaubnisbegriff fest und damit auch, wie wir gleich sehen werden, an dem Sittengesetz als dem inhaltlichen
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Bestimmungsgrund des Erlaubten. Nur, und das unterscheidet ihn von den „Absolutisten", fügt er diesem inhaltlichen Bestimmungsgrund einen formalen Bestimmungsgrund hinzu, indem er über die postulierte juridische Vernunftfunktion die reine praktische Vernunft als ausdrückliche Berechtigungsinstanz einführt. Zweifellos hat durch diese angenommene Rechtsmachtverleihung der Begriff des subjektiven Rechts an logischer Konsistenz gewonnen, aber so plausibel dieses Postulat vor dem Hintergrund des Beweisprogramms auch immer erscheinen mag, mit der von Kant entwickelten Konzeption einer reinen praktischen Vernunft ist es nicht vereinbar. Die normlogische Sekundarität der Erlaubnis schließt mit den erlaubenden Vernunftgesetzen auch eine ursprünglich berechtigende Vernunftfunktion aus. Für sich betrachtet ist das Produkt der juridischen Vernunftfunktion ein leeres, obzwar ausdrücklich gesetzes Erlaubtsein, dem nur in Zusammenhang mit der moralisch fordernden Vernunft inhaltliche Bestimmung zuteil werden kann. Und damit gerät die „einzigmögliche Deduktion"37 Feuerbachs wieder in vertrautes Fahrwasser. Denn hinter dieser juridischen Funktion verbirgt sich die Berechtigung zur tätigen Beseitigung aller Hindernisse, die fremde Willkür meiner sittlichen Zweckbestimmung in den Weg legen mag. Das vernunftverliehene Recht ist „ein von der Vernunft um des Sittengesetzes willen bestimmtes Erlaubtseyn des Zwangs"38. Was Feuerbach hier unter dem Titel des Rechts abhandelt, ist wesentlich ein zweites, auf den Fall der Fremdverhinderung sittlicher Zweckverwirklichung spezialisiertes Exekutionsprinzip des Sittengesetzes, das dem ersten, dem widerstrebende Neigungen im Verpflichteten selbst niederdrükkenden moralischen Selbstzwang zur Seite gestellt wird. Bildlich gesprochen: die sittliche Vernunft stattet sieh in ihrer juridischen Funktion mit der erforderlichen äußeren Polizeigewalt aus, „um dem Sittengesetz Causalität in der Sinnenwelt zu verschaffen"39. „Ist das Recht gegeben als Bedingung des höchsten Zwecks, so stehen alle diejenigen Handlungen unter dem Recht, deren Nichtgehindertwerden eine Bedingung zu Erreichung des höchsten Zwecks ist"40. Mit Hilfe dieses teleologischen Kriteriums gewinnt Feuerbach nun drei Klassen von Rechten. Da sind einmal
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die „verbindlichen Rechte"; sie entsprechen den unveräußerlichen Rechten Fichtes, es sind Rechte „zu Erfüllung meiner Pflicht"41. Daneben gibt es die „freien Rechte": sie korrespondieren den reinen Erlaubnishandlungen; und wenn man fragt, wie sich denn diese Handlungsklasse in das teleologische Schema einordnen lasse, dann erhält man die verblüffende Antwort, daß sittlich gleichgültige Handlungen allemal „mögliche Bedingungen zu Erfüllung meiner Pflicht und zu Erreichung des höchsten Zwecks" sein oder enthalten können42. Die Verblüffung steigert sich noch, wenn man die Begründung für die dritte Rechtsart, die „äußeren Rechte" erfährt. Diese haben nämlich „unmoralische Handlungen zur Materie"43. Wie können aber Pflichtverletzungen den Anspruch einer Sittlichkeitsbedingung erheben? „Der höchste Zweck vernünftiger Wesen wird nicht durch bloße Realisirung der Materie des Sittengesetzes (durch Legalität) erreicht. Moralität, der höchste Zweck vernünftiger Wesen, wird nur durch Befolgung des Sittengesetzes um seiner selbst willen, und durch freie Befolgung . . . erreicht. Da nun freie Befolgung des Sittengesetzes Bedingung der Erreichung des höchsten Zwecks ist, das Bestimmtwerden von außen aber zu Befolgung des Sittengesetzes diese Freiheit zerstörte, und die Vernunft völlig Einstimmung der Handlungen mit den Forderungen des Sittengesetzes wollen muß, so muß sie auch unmoralische Handlungen ihrer Sanktion unterwerfen, in wie ferne freie Befolgung des Sittengesetzes Bedingung der Erreichung des höchsten Zweckes ist"44. Ich habe also darum ein Recht auf unmoralische Handlungen, damit ich freiwillig auf sie verzichten kann. Es ist müßig, die zahllosen Widersprüche und Ungereimtheiten aufzulisten, in die sich Feuerbach mit dieser merkwürdigen Konstruktion verwickelt. Für ihn ist diese letzte Rechtsklasse allerdings von großer Wichtigkeit, beweist doch die seiner Meinung nach wohlbegründete Annahme eines Rechts auf unmoralische Handlungen die Moralunabhängigkeit der Rechtslehre. Auch für den Fichte des „Naturrechts" von 1796 ist die von Feuerbach hier offensichtlich verarbeitete Möglichkeit einer Disharmonie zwischen Rechtsansprüchen und Moralforderungen ein Hinweis auf die Eigenständigkeit des Rechts und damit auf die Notwendig-
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keit, es selbständig, ohne Rekurs auf das Sittengesetz, zu begründen45. Jedoch so richtig es ist, daß es Handlungen gibt, die in rechtlicher Hinsicht tadelsfrei sind, aus moralischer Perspektive aber unterlassen werden sollten — beispielsweise das Auspfänden eines Schuldners46 -, so wenig vermag Feuerbachs Begründung diesem Sachverhalt angemessen Rechnung zu tragen. In ihr kommt die gleiche pflichtentheoretische Unsicherheit zum Ausdruck, die wir schon bei den oben behandelten Autoren beobachten konnten. Geht die juridisch erlaubte Pflichtverletzung zu Lasten einer Rechtspflicht, dann führt das äußere Recht zu einem Widerspruch im Rechtsbegriff selbst, da es ein Recht auf Rechtsverletzung impliziert. Folglich können durch dieses Recht nur Tugendpflichten negiert werden; wie diese Pflichtart aber zu bestimmen ist, dazu gibt Feuerbach keinen Hinweis. IV.
In der „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" von 1796 ist Fichte von der sein frühes rechtsphilosophisches Denken prägenden absoluten Deduktion abgerückt. Alle Versuche einer Ableitung des Rechts aus dem Sittengesetz, so erkennt er jetzt selbstkritisch, sind „gänzlich mislungen", denn „der Begriff der Pflicht, der aus jenem Gesetze hervorgeht, ist dem des Rechtes in den meisten Merkmalen geradezu entgegengesetzt. Das Sittengesetz gebietet kategorisch die Pflicht: das Rechtsgesetz erlaubt nur, aber gebietet nie, daß man sein Recht ausübe"47; das Recht „erfolgt sonach aus einem bloss erlaubenden Gesetze", aber „es lässt sich schlechterdings nicht einsehen, wie aus dem unbedingt gebietenden, und dadurch über alles sich erstreckenden Sittengesetze ein Erlaubnissgesetz sollte abgeleitet werden können"48. Wie diese Sätze zeigen, hat Fichte bei aller Kritik an der „gewöhnlichen" Behandlungsart des Naturrechts an der Verknüpfung von Recht und Erlaubnis einerseits und an der Recht-Pflicht-Opposition andererseits festgehalten. Diese Sätze zeigen aber noch etwas anderes. Wenn Fichte aufgrund einer Bemerkung Kants im „Ewigen Frieden" über den Begriff des Erlaubnisgesetzes zu der Überzeugung gelangt war,
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daß Kant ihm in der Frage der Rechtsbegründung folgen würde49, dann hat er offenkundig die besagte Bemerkung mißverstanden. Diese lautet nämlich: „Ob es außer dem Gebot . . . und Verbot . . . noch Erlaubnißgesetze . . . der reinen Vernunft geben könne, ist bisher nicht ohne Grund bezweifelt worden50. Denn Gesetze überhaupt enthalten einen Grund objectiver praktischer Nothwendigkeit, Erlaubniß aber einen der praktischen Zufälligkeit gewisser Handlungen; mithin würde ein Erlaubnißgesetz Nöthigung zu einer Handlung, zu dem, wozu jemand nicht genöthigt werden kann, enthalten, welches, wenn das Object des Gesetzes in beiderlei Beziehung einerlei Bedeutung hätte, ein Widerspruch sein würde"51. Nach Kant ist ein erlaubendes Rechtsgesetz nicht nur nicht aus dem Sittengesetz herleitbar, sondern — und genau das bringt diese Stelle zum Ausdruck — als Produkt der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft überhaupt unmöglich. Da aber einer Rechtsmetaphysik keine anderen Prinzipien zugrundegelegt werden können als apriorische Gesetze der praktischen Vernunft, muß auch das Rechtsgesetz als ein Pflichtgesetz auftreten, d. h. als ein Gesetz, das die praktische Notwendigkeit bestimmter Handlungen vorstellig macht. Ein Erlaubnisgesetz ist als selbständige Norm eine contradictio in adjecto, da es das gesetzlich Unbestimmte als Gegenstand einer gesetzlichen Bestimmung ausgibt52. Erlaubnisnormen sind notwendigerweise abgeleiteter Natur und können nur in Gestalt von Ausnahmeregeln auftreten, die den Geltungsbereich bestehender Verbotsgesetze einschränken und somit bestimmte vorher verbotene Handlungen unter den in ihnen formulierten Bedingungen jetzt freilassen53. Diese normlogische Sekundarität macht es unmöglich, den Begriff des Erlaubten zum Zentralbegriff einer normativen Rechtsphilosophie zu machen und diese in einer Erlaubnisnorm als oberstem Prinzip zu fundamentieren. Die Trennung zwischen Moral und Recht beruht bei Kant weder auf dem Unterschied zwischen dem moralisch Notwendigen und dem moralisch Möglichen noch auf dem zwischen einem verpflichtenden und einem erlaubenden Vernunftgesetz; das Recht ist für ihn nicht das sittengesetzlich sanktionierte Dürfen, nicht ein im Bestimmungsschatten des Moralprinzips stehendes
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Erlaubt- und Berechtigtsein. Der Unterschied zwischen Moral und Recht hat bei Kant seinen Grund allein in einer den Befolgungsmodus des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft bzw. das ihm zuzuordnende Exekutionsprinzip betreffenden Differenz der Gesetzgebungsweise. Die Gründe, die Kant zu diesem für seine Rechtslehre zentralen Lehrstück von der doppelten Vernunftgesetzgebung geführt haben, möchte ich jetzt kurz aufzeigen. Die Kernfrage des engeren Naturrechts, so stellt Kant in seiner Hufeland-Rezension in Übereinstimmung mit dem Verfasser fest, gilt den Bedingungen, „unter welchen . . . ich den Zwang ausüben könne"54. Es ist dies genau die Frage, die Hufelands Erkenntnisinteresse bei seiner Naturrechtsgeschichtsschreibung bestimmt hat, und die, so sein Ergebnis, bisher noch nicht zufriedenstellend beantwortet worden war55. Sofern es mögliche Zwangshandlungen gibt, müssen sie sich aus dem kategorischen Imperativ als dem Prinzip aller moralisch möglichen Handlungen rechtfertigen lassen. Möglich ist also eine Zwangsausübung, die ich als allgemeines Gesetz wollen kann, und als allgemeines Gesetz wollen kann ich nur den Zwang, der mit der Freiheit aller übereinstimmend ist, also die tätige Unrechtsabwehr. Denn allein dann können Freiheit und Zwang zugleich Gegenstand eines gesetzgebenden Willens sein, wenn der Zwang gedacht wird als Verhinderung des Hindernisses gesetzlicher, allgemeiner Freiheit. Zwangsanwendung ist demnach möglich, wenn sie auf die Abwehr von Handlungen gerichtet ist, deren Maxime als allgemeines Gesetz nicht gewollt werden kann, die zu unterlassen also moralisch notwendig ist. Damit kann die von einem wissenschaftlichen Naturrecht verlangte genaue „Grenzbestimmung des eigen thümlichen Bodens desselben" durchgeführt werden56. Sie erfolgt mittels einer auf die Begründung von Pflichten, denen Zwangsbefugnisse korrespondieren, spezialisierten Version des kategorischen Imperativs, eben des Rechtsgesetzes. Gibt es moralisch mögliche Zwangshandlungen und damit die legitime Möglichkeit, durch Zwangsandrohung und -ausübung fremde Willkür bestimmen zu können, dann kann, da die Legitimitätsbedingung des Zwanges in dem Pflichtcharakter seines Gegenstandes liegt, eine Unrechtsvermeidung und Rechtspflichterfüllung nicht nur
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das Ergebnis einer Willensbestimmung durch reine praktische Vernunft sein, sondern muß auch das Resultat gegebenenfalls massiver Fremdbestimmung sein können. Folglich bedarf es neben dem Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft eines gesonderten Rechtspflichtprinzips, das eben dieser Möglichkeit Rechnung trägt, das sich darauf beschränkt, die objektive Notwendigkeit der Unrechtsvermeidung vorzustellen, und nicht verlangt, allein um seiner Verbindlichkeit befolgt zu werden, bedarf es eben neben der ethischen Gesetzgebung einer juridischen. Der Zwang, das ist Kants Zwangsbeweis in nuce, läßt sich allein legitimieren als möglicher Ausführungsgrund von Pflichthandlungen, also als äußere Triebfeder des als Handlungsnorm auftretenden Pflichtgesetzes der praktischen Vernunft. Und diese ist nun eben juridisch gesetzgebend, insofern ihr Gesetz den Zwang zu solchen Handlungen für moralisch möglich erklärt und zuläßt, die um ihrer praktischen Notwendigkeit willen auszuführen sie als ethisch gesetzgebende Vernunft verlangt. Es wäre verfehlt, diesen das Verhältnis von Moral und Recht bestimmenden Gesetzgebungsdualismus mit der Unterscheidung von Moralität und Legalität gleichzustellen. Ohne Zweifel kann die Moralität der ethischen Gesetzgebung zugeordnet werden: genau die mit dem Moralitatsbegriff beschriebene vernünftige Willensverfassung, die das gesamte Wollen bestimmende Aufnahme des praktischen Vernunftprinzips ist es, die durch die ethische Gesetzgebung verlangt wird. Jedoch läßt sich nicht in gleicher Weise der juridischen Gesetzgebung die Legalität zuordnen. Denn sowenig die juridische Gesetzgebung eine Pflichterfüllung aus Gesetzesachtung verlangt, sowenig ist sie schon durch diese Verzichtleistung angemessen charakterisierbar. Nicht in einer Anspruchsminderung seitens der reinen praktischen Vernunft liegt das Eigentümliche der juridischen Gesetzgebung, sondern in der Verknüpfung des Prinzips der Handlungspflichten mit der äußeren Triebfeder des Zwangs. Zweifellos stellt eine Pflichterfüllung unter Zwangsandrohung ein Maximum an für den sittlich privativen Charakter der Legalität verantwortlichen Heteronomie dar; zweifellos ist mit der Zulassung von Zwang eine Pflichterfüllungsmöglichkeit eingeräumt, die von der moralisch
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ausgezeichneten abweicht. Aber es ist ein Fehlschluß, aus der für die Rechtslehre charakteristischen Verknüpfung der Pflicht mit der Triebfeder des Zwangs eine Verminderung des Anspruchs der reinen praktischen Vernunft an das verpflichtete Subjekt abzuleiten; nicht um eine ethische Entlastung des Verpflichteten geht es der praktischen Vernunft als einer rechtlichen, sondern darum, die Erzwingbarkeit von Schuldigkeitpflichten seitens des Berechtigten zu sichern. Die Rechtslehre kann nicht Erlaubnislehre, sie muß Pflichtlehre sein, weil ihr Anspruch auf unbedingte Gültigkeit nur einlösbar ist, wenn ihr Prinzip den Charakter eines praktischen Vernunftgesetzes besitzt; diese Pflichtenlehre kann aber nicht mehr als „bloße Wissenslehre" sein, weil im Recht das „Pflichtgesetz der Handlungen" eben als Erkenntnisprinzip der Rechtmäßigkeitsbedingungen legitimer Zwangshandlungen fungiert57. Kant hat an einer Stelle ausdrücklich auf den Grund für die Notwendigkeit hingewiesen, daß eine Rechtslehre als Teildisziplin einer Metaphysik der Sitten als Pflichtenlehre entwickelt werden muß: „Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralischen Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann"58. Diese Textstelle bringt in äußerst gedrängter Form den geltungstheoretischen Zusammenhang zwischen Moralphilosophie und Rechtslehre zum Ausdruck. Als ein unbedingt verbindliches Gesetz muß das Rechtsgesetz die Gestalt eines Pflichtprinzips haben und ist insofern vom kategorischen Imperativ abhängig, als dieser, wie die „Analytik der reinen praktischen Vernunft" zeigt, als indirekter Deduktionsgrund der transzendentalen Freiheit die Geltungsvoraussetzung der unbedingten Verbindlichkeit des Rechtsgesetzes sicherstellt. So sehr die Rechtsprinzipien Kants und Fichtes auch inhaltlich übereinstimmen (Reziprozitätsstruktur, Formalität, Äußerlichkeit), hinsichtlich ihres Verbindlichkeitsstatus unterscheiden sich die beiden Denker doch beträchtlich. Die Gültigkeit des Fichteschen Rechtsgesetzes ist allein konsequenzlogischer Natur und daher wie die eines hypothetischen Imperativs oder eines praktischen
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Syllogismus allein im „Denkgesetz" begründet59; der Rechtsbegriff ist für ihn „die Denknotwendigkeit aller als frei in der synthetischen Einheit des Begriffs aller"60. Kant hingegen betrachtet den Rechtsbegriff, „sofern er sich auf eine ihm korrespondierende Verbindlichkeit bezieht"61; nur, und das ist die allein durch die Zwangsproblematik verständlich zu machende Besonderheit der juridischen Gesetzgebung, verlangt das Rechtsgesetz nicht eine Befolgung um der ihm innewohnenden Verbindlichkeit willen und kann daher auch durch Entfernung aller „ethischen Beimischung" und Ersetzung des Befolgungsmotivs Verbindlichkeit durch das der Zwangsvermeidung vorgestellt werden „als die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges"62. Andererseits wäre der Zwang kein moralisch möglicher, sondern allenfalls ein auf seine technische Eignung zu untersuchendes Mittel, hätte er nicht die Funktion einer möglichen Pflichterfüllungstriebfeder, korrespondierte dem Rechtsbegriff keine Verbindlichkeit. Die Begründung des Rechts in der äußeren Vernunftgesetzgebung muß auch zu einem gewandelten Verständnis des subjektiven Rechts führen. Wurde das subjektive Recht bei den Kantianern als moralgesetzlich bestimmte Handlungs- und Dispositionsfreiheit betrachtet, aus der dann auf nicht einsichtige Weise die drittgerichtete Abwehr- und Ausschlußbefugnis abgeleitet wurde, so rückt die letztere in Gestalt einer zwangsbewehrten Verpflichtungsbefugnis bei Kant ins Zentrum des subjektiven Rechts. Ein Recht haben bedeutet Gesetzgeber für andere zu sein, bedeutet im Namen der Vernunft über fremde Willkür verfügen zu können. Das menschliche Subjekt kann sich als selbstverpflichtend und selbstnötigend nur begreifen, wenn es sich „unter doppeltem respectu" betrachtet63 und die Selbstverpflichtung als intrasubjektive Relation zwischen dem Vernunftwesen Mensch als auctor obligationis und dem Sinnenwesen Mensch als subjectum obligationis ansieht64. Wird nun diese die scheinbare Antinomie der ethisch-formalen wie auch der ethisch-materialen Selbstverpflichtung auflösende transzendentalidealistische IchDoppelung auf ein äußeres, intersubjektives Verhältnis abgebil-
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det, dann entsteht ein Rechts- oder Fremdverpflichtungsverhältnis: dem rechtlich Verpflichteten begegnet im ihn verpflichtenden Anderen immer die eigene Vernunft. Ein Recht haben bedeutet, Subjekt äußerer Gesetzgebung zu sein, entsprechend eine Rechtspflicht haben, äußerer Vernunftgesetzgebung unterworfen zu sein. Unterwerfe ich mich dieser selbst, so wird sie zu einer inneren, und die Rechtspflicht nimmt den Charakter einer indirekt-ethischen Pflicht an. Der ethischen Gesetzgebung unterstehe ich wie der rechtlichen, doch jene verlangt mehr von mir, nämlich ihr Subjekt zu werden. Und nur dann werde ich Subjekt der ethischen Gesetzgebung, wenn Vernunft meinen Willen unmittelbar bestimmt. Subjekt der ethischen Gesetzgebung bin ich nur dann, wenn ich moralich handle. Subjekt der rechtlichen Gesetzgebung jedoch bin ich immer, allein darum, weil ich ein vernünftiges Wesen bin. Kants Lehre von der doppelten Vernunftgesetzgebung erlaubt keine teleologische Interpretation des Rechts, wie wir sie bei den Kantianern, besonders bei Feuerbach, angetroffen haben und wie sie in der Hauptsache unter juristischen Kant-Interpreten weit verbreitet ist. „Grund des Rechtes i s t . . . der kategorische Imperativ. Er gibt jedem, der verpflichtet wird, die Möglichkeit, den anderen zur Pflicht zu machen, ihn bei der Erfüllung seiner eigenen Pflicht nicht zu hindern. Das Recht schafft die Befugnis zur Pflichterfüllung, ist wegen der Pflicht da, fließt aus der Idee der Pflicht . . . Um unserer Pflicht willen haben wir das moralische Vermögen, alle anderen zu verpflichten, den Auswirkungen der transzendentalen Freiheit nicht hindernd in den Weg zu treten. Das Verhältnis der anderen zu diesem Recht jedes einzelnen ist die Rechtspflicht: ihr Inhalt ist also negativ bestimmt: die sittliche Freiheit des anderen zur Pflichterfüllung nicht zu hindern"65. Hat Kant die moralische Pflichterfüllung gerade aus der Rechtslehre entfernt, so wird sie hier als höhere Sinnbestimmung des Rechts durch die Hintertür wieder hereingelassen. Nun sind die „Auswirkungen der transzendentalen Freiheit" solche, denen niemand hindernd in den Weg zu treten vermag, da sie sich nur auf dem Feld der Gesinnungs- und Maximenbildung bemerkbar machen können. Wird ihre Schutzwürdigkeit zum Legitimationsgrund rechtlicher
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Zwangsanwendung erklärt, dann läuft der Rechtsbegriff Gefahr, unbrauchbar zu werden; denn wird in die Rechtsdefinition das Gesinnungsmoment aufgenommen, dann muß in letzter Konsequenz moralische Wahrhaftigkeit zur Berechtigungsbedingung erhoben werden, und damit wird die Rechtsfrage objektiv unentscheidbar. Das Wölfische Naturgesetz erlaubt ein derartiges, die Rechtsmacht in den Dienst der Sittlichkeit stellendes Rechtsverständnis. Mit der Ersetzung des material-affirmativen Pflichtprinzips durch ein formal-negatives einerseits und der Verlagerung der Moralität in den Innenraum der Subjektivität andererseits wird jedoch einer Ideologischen Fundierung des Rechts jede Grundlage entzogen. Abschließend möchte ich noch kurz auf Kants Konzeption der Tugendpflichten eingehen. Wir haben gesehen, welche Schwierigkeiten die unklare Grenzziehung zwischen den beiden Hauptpflichtarten den Kantianern bereitet hat. Sie haben das Sittengesetz in der ihnen bekannten Form als Prinzip aller Pflichten angesehen und doch auch an dem tradierten pflichtentheoretischen Dualismus festgehalten. Dadurch fanden sie sich genötigt, im Sittengesetz selbst eine Unterscheidung vorzunehmen, die es gestattet, die vollkommenen Pflichten und die von ihnen erzeugten vollkommenen, und das heißt: zwangsbewehrten Rechte von den unvollkommenen Pflichten und den ihnen zugeordneten unvollkommenen Rechten zu sondern. Welche Probleme dadurch entstehen können, zeigt folgende Passage aus Schmids „Grundriß des Naturrechts": „Das Sittengesetz untersagt schlechthin einen jeden Gebrauch der Freyheit, welcher als allgemein gedacht, sich selbst zerstören würde. Das Sittengesetz gebietet einen solchen Gebrauch der Freyheit, welcher als allgemein gedacht, sich nicht nur nicht selbst zerstört, sondern selbst befördert. Darauf beruht der Unterschied zwischen dem unvollkommenen Rechte, (dem Recht der Güte) und dem vollkommenen strengen Rechte"66. Der Nachweis der doppelten Zuständigkeit des „einzigen allgemeinen und nothwendigen praktischen Gesetzes"67 für Recht und Ethik i. e. S. beruht ersichtlich auf einem logischen Fehler. Das Sittengesetz kann nur das praktische Gegenteil dessen gebieten, was es verbietet. Durch die Negation des Verbotsobjekts, der
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freiheitszerstörenden Handlungen, kann jedoch nicht die von Schmid dem gebietenden Sittengesetz zugeschriebene und der Tugendlehre auch nach dem Verständnis Kants durchaus zukommende affirmative Ausrichtung erreicht werden. Das allein ableitbare Gebot nichtfreiheitszerstörender Handlungen ist von einem Gebot freiheitsbefördernder resp. die eigene Vollkommenheit und die Glückseligkeit anderer mehrender Handlungen zu unterscheiden; das letztere muß in einem materialen Prinzip fundiert sein. Ein materiales, ethikbegründendes Prinzip ist weder in der „Grundlegung" noch in der zweiten „Kritik" erwähnt, und, das muß den Kantianern zugute gehalten werden, das dort von Kant entwickelte Konzept des allgemeingültigen praktischen Gesetzes läßt auch nicht erwarten, daß es ein solches Prinzip überhaupt geben könne68. Ob nun die in der Ethik i. e. S. erfolgte Lösung der Verknüpfung von Apriorität und Formalität zu rechtfertigen ist oder nicht, soll uns hier nicht interessieren: die „Metaphysik der Sitten" jedenfalls legt der Tugendlehre im Gegensatz zur Rechtslehre ein materiales Prinzip zugrunde, das die Setzung und Verfolgung objektiver Zwecke gebietet und daher nur als Gesetz für Maximen, nicht jedoch für Handlungen auftritt. Und das letztere ist von großer Bedeutung, denn da es „nur die Maximen der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten kann, so ist's ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitude) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wieviel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden soll"69. Das Tugendprinzip ist ein Zweckprinzip70. Zwar ist mit der Setzung bestimmter Zwecke auch deren Verwirklichung geboten — das folgt schon aus dem Begriff des Zwecks —, jedoch vermag die Vernunft keine bestimmten Handlungen den von ihr gebotenen Zwecken zuzuordnen: die Beförderungsmittel eigener Vollkommenheit und fremder Glückseligkeit sind a priori nicht bestimmbar. Tugendhaftes Handeln ist daher abhängig von vielerlei kontingenten Faktoren, aus diesem Grunde auch in erheblichem Maße irrtumsanfällig. Aber darum ist das Tugendprinzip im Vergleich zum Handlungsgesetz der Rechtsvernunft nicht von minderer Verbindlichkeit71. Wenn ethische Pflichten unvollkommen
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und von weiter Verbindlichkeit, Rechtspflichten hingegen von enger Verbindlichkeit und vollkommen sind, dann ist damit allein die unterschiedliche Bestimmungs- und Normierungsreichweite des jeweiligen Pflichtprinzips angezeigt. Dieser unterschiedlichen Bestimmungsreichweite entspricht ein unterschiedlicher Informationsgehalt beider Gesetze. Als Antwort auf meine Frage: Was soll ich tun? gibt mir das Recht ein Kriterium an die Hand, das bei jeder Handlung zu eindeutigen Entscheidungen führt, kann die Ethik mir aber nur objektive Zwecke nennen, die ich mir zu eigen machen soll, und muß mich hinsichtlich der weiteren Frage nach der Weise ihrer Realisierung an die Umstände verweisen. Es ist also letztlich ein epistemologischer Unterschied, der dem Verbindlichkeitsdualismus zugrundeliegt; eine normative Differenzierung wird mit der Trennung der Pflichten in enge und weite nicht zum Ausdruck gebracht; die der Ethik eigentümliche Pflicht ist nicht in einem minderen Maße Pflicht, ist von keiner geringeren Verbindlichkeit, von keiner schwächeren Verpflichtungskraft als die der Rechtslehre zugeordnete Handlungspflicht. Durch die Unterschiedlichkeit des Bestimmungsbereiches der beiden Pflichtnormen ist es Kant möglich, sowohl die Gefahr einer Pflichtenkonkurrenz zu bannen als auch die Priorität des Rechts zu sichern. Die Vorrangigkeit des Rechts zeigt sich darin, daß jede Tugendhandlung, jede Verwirklichung eines Pflichtzwecks als Handlung eben der Rechtmäßigkeitsbedingung unterworfen ist. Die formale Gesetzgebungsqualifikation rangiert vor der teleologischen Bestimmung. Das Recht spannt sich wie ein Filter vor die Tugendäußerungen und läßt nur die passieren, die mit dem Rechten in Übereinstimmung stehen. An den Forderungen der Gerechtigkeit hat die Gütigkeit ihre Schranken; Unrechtshandlungen sind nicht durch Wohltätigkeiten kompensierbar: „der flek des Unrechts ist unauslöschlich"72. Gegen das Recht geschieht nichts Gutes: „ein gutartiger Mann ist darum nicht ein guter Mann, z. E. der wohlthätig, aber schlechter Zahler ist"73. Der noble Räuber und Umverteiler auf eigene Faust, der das Unrecht mindern will, bringt nur die Gerechtigkeit in Unordnung74. Feind aller moralischen Gefühligkeit und „weichherzigen Teilnehmung"75 sorgt sich das Recht allein um das Schuldige und
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stellt mitleidlos den Gläubiger vor den Bedürftigen. Sicher ist es verdienstlich, wenn ich davon absehe, „einen Armen, der mir schuldig ist, auszupfänden"76, doch ist die Durchsetzung meines Rechtsanspruchs trotz ihrer ruinösen Folgen für den Betroffenen nicht tadelnswert. Mit dem Recht geschieht nichts Böses, denn „alle Macht des Himmels steht auf Seiten des Rechts"77. Anmerkungen 1. Bouterweks Rezension ist abgedruckt in Kants gesammelten Schriften, Akademie-Ausgabe Bd. XX; das Zitat steht auf S. 445. 2. „Die Principien der kritischen Philosophie, die Auffindung der letzten Gründe der Sittlichkeit, das tiefere Durchforschen sowohl der Natur der theoretischen, als auch der praktischen Vernunft, mußten die Bemühungen der Selbstdenker auf dem Felde des Naturrechts erleichtern, ihnen zum sichern Leitfaden auf ihrem Wege dienen und eine festere Begründung dieser Wissenschaft möglich machen" (P. J. A. Feuerbach, Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte, Altona 1796, S. 5). 3. Theodor Schmalz, Das reine Naturrecht, Königsberg 2. Aufl. 1795, S. 23; S. 15. 4. Karl Heinrich Heydenreich, System des Naturrechts nach kritischen Principien. Erster Theil, Leipzig 1794, S. III. 5. Johann Adam Bergk, Briefe über Immanuel Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Leipzig u. Gera 1797, S. VII; so auch G. Hugo: „seine metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre waren in gar vielen Stücken gerade das Gegentheil von dem, was man bisher in seinem Nahmen gelehrt hatte" (Lehrbuch eines civilistischen Cursus, 2. Bd., Berlin 1819, S. 32). 6. J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke Bd. III, hg. v. I. H. Fichte, S. 12. 7. Feuerbach a.a.O., S. 92f. Feuerbach hat seine Kritik an der Ableitung des Rechts aus dem Sittengesetz und die Grundzüge seiner eigenen Konzeption zuerst vorgetragen in: Versuch über den Begriff des Rechts, Niethammers Philosophisches Journal, 16. Heft, 1795, S. 138—162; dieser Aufsatz ist erneut abgedruckt in: Begriff und Wesen des Rechts, hg. v. W. Maihof er, Darmstadt 1973, S. Iff. 8. „Es ist keinem, der über das natürliche Recht geschrieben h a t . . . die Bemerkung entwischt, daß die Pflichten des Menschen sehr von einander verschieden sind. Bei einigen derselben schien die Verbindlichkeit, sie zu beobachten, so vollkommen, so wohl gegründet, daß man denjenigen, der sich weigern wollte, sie zu erfüllen, auch mit Gewalt dazu anhalten zu könne glaubte; dagegen schienen andere Pflichten weit weniger verbindlich, und schlechterdings keiner Art des Zwangs unterworfen zu seyn" (J. J. Sulzer, Versuch einen festen Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sittenlehre und des
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nothwendigkeit abhing, überhaupt unter ein Gesetz, und wird auch da, wo das Gesetz nicht redet, wenn dieses Gesetz nur für ihn allgemeingültig ist, eben durch das Stillschweigen des Gesetzes, positiv gesetzmäßig. . . Dieses Dürfen ist einer der Begriffe, die ihren Ursprung an der Stirne tragen. Er ist nemü'ch offenbar durch das Sittengesetz bedingt . . . Insofern das Gesetz durch sein Stillschweigen dem Triebe ein Recht giebt . .." (Fichte, Kritik . . . a.a.O., S. 149/150). „Recht verhält sich zur Pflicht, wie Möglichkeit der Befriedigung zur Nothwendigkeit der Beschränkung des eigennützigen Triebes"; „durch Pflicht wird die Willkühr in Rücksicht auf den eigennützigen Trieb jederzeit eingeschränkt, durch Recht wird sie jederzeit sich selbst überlassen" (Reinhold a.a.O., S. 200/201). Den Hintergrund dieser ein dualistisches Begehrungsvermögen mit dem Recht-Pflicht-Verhältnis verknüpfenden Überlegungen bildet unverkennbar Kants Lehre vom höchsten Gut; dazu Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag u. Jena 1789, S. 560ff. Fichte, Kritik . . . a.a.O., S. 149. Fichte, Beitrag . . . a.a.O., S. 46. „.. . das unveräußerliche Menschenrecht, seine Willkür zu ändern . , ." (Fichte, Beitrag . . . a.a.O., S. 32). Ebd. S. 227. Dieses ist der Hauptpunkt der Kritik Feuerbachs (S. 116ff. u. ö.). Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 383. Um im kategorischen Imperativ das Prinzip der vollkommenen Pflichten und Rechte vom Prinzip der unvollkommenen Pflichten und Rechte zu unterscheiden, haben sich die Kantianer mit Vorliebe der Zweck-Mittel-Formel bedient: „Die vollkommenen bestimmt der Grundsatz: Behandle die Menschheit weder in dir noch in anderen ja als bloßes Mittel; die unvollkommenen der Grundsatz: Behandle die Menschheit in dir und in anderen als Zweck" (Schmalz a. a. O., § 36);ebensoHeydenreicha.a. O., S. 88f.; kritisch dazu Bergk, Briefe . . . a.a.O., S. 32.f. „Facultas ista, seu potentia moralis agendi dicitur Jus. Unde patet, Jus oriri ex obligatione passiva, nee jus ullum fore, si nulla esset obligatio, lege naturae nobis dari jus ad ea, sine quibus obligation! natural! satisfacere non possumus . .. Quodsi ergo lex naturae obligat ad finem; jus quoque dat ad media, consequenter si medium nonnisi unicum fuerit, jure eodem utimur. Sine mediis nimirium sine potiri minime datur" (Chr. Wolff, Institutiones Juris Naturae § 46); vgl. Wolff, Jus Naturae Bd. I, § 23, § 24. Feuerbach a.a.O., S. 140. Heydenreich a.a.O., S. 110. Ebd. „Phantastisch-tugendhaft aber kann doch der genannt werden, der keine in Ansehung der Moralität gleichgültigen Dinge (adiaphora) einräumt und sich alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten als mit Fußangeln bestreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekömmt, nähre: eine Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei
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Wolfgang Kersting machen würde" (Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 409); vgl. auch Tieftrunks Bemerkung über den „sittlichen Indifferentismus", in: J. H. Tieftrunks Philosophische Untersuchungen über das Privat und öffentliche Recht. Erster Theil, Halle 1797, S. 59ff. „Und wenn ein Individuum einem anderen gegenüber verpflichtet ist, ein bestimmtes Verhalten dieses anderen zu dulden, so ist die Duldung eben dieses Verhaltens der Inhalt der Pflicht. Das heißt: das dem verpflichteten Verhalten korrespondierende Verhalten des Individuums, dem gegenüber die Pflicht besteht, ist in dem Verhalten schon mitbestimmt, das den Inhalt der Pflicht bildet. Bezeichnet man die Beziehung eines Individuums, dem gegenüber ein anderes Individuum zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet ist, zu diesem anderen Individuum als „Recht", ist dieses Recht nur ein Reflex dieser Pflicht" (Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 21960, S. 132/ 3). „Dieser Begriff eines subjektiven Rechtes, das der bloße Reflex einer Rechtspflicht ist, das ist der Begriff eines Reflexrechtes, mag als Hilfsbegriff die Darstellung des rechtlichen Sachverhaltes erleichtern; er ist aber vom Standpunkt einer wissenschaftlich exakten Beschreibung des rechtlichen Sachverhaltes überflüssig" (a.a.O., S. 133). Kelsen sieht im Gegensatz zu Heydenreich zwar die Pflichtinstanz in der Rechtsordnung und nicht im moralischen Gesetz, doch ist das hinsichtlich der Bestimmung des PflichtRecht-Verhältnisses bedeutungslos. Heydenreich a.a.O., S. 115. Feuerbach a.a.O., S. 17. Ebd. S. 239. Ebd. S. 244/45. Eine Deduktion dieses aus dem Beweisprogramm extrapolierten juridischen Vernunftvermögens gibt Feuerbach nicht; sie dürfte auch nach den Einsichten der „Kritik der praktischen Vernunft" unmöglich sein. Feuerbach bezieht sich lediglich — analog zum Pflichtgefühl der „Grundlegung" — auf ein natürliches ursprüngliches allgemeines Rechtsgefühl und verschanzt sich ansonsten hinter der Unerkennbarkeit des Intelligiblen. Ebd. S. 230. Ebd. S. 259. Ebd. S. 261. Ebd. S. 238. Ebd. S. 286. Ebd. S. 287. Ebd. S. 289. Ebd. S. 289. Fichte, Grundlage . . . a.a.O., S. 54. AA XIX, Refl. 7227. Fichte, Grundlage . . . a.a.O., S. 54. Fichte, Grundlage . . . a.a.O., S. 13. „Ob Kant das Rechtsgesetz nach der gewöhnlichen Weise vom Sittengesetz ableite, oder eine andere Deduction desselben annehme, lässt sich aus der angeführten Schrift nicht deutlich ersehen. Doch wird durch die Bemerkung über den Begriff eines Erlaubnissgesetzes wenigstens höchst wahrscheinlich, dass seine Deduction mit der hier gegebenen übereinstimme" (Fichte, Grundlage . . . a.a.O., S. 13).
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50. Z. B. von Darjes, Gebauer, Höpfner; vgl. J. G. Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, Göttingen 1798, § 25. 51. AA VIII, S. 347/8. In seiner Nachschrift zu Kants Vorlesung über die Metaphysik der Sitten im WS 1793/4 teilt Vigilantius mit, daß Kant die „intricate Frage . . . ob es secundum jus naturae leges permissivae gäbe" einerseits verneint, andererseits jedoch unter ganz bestimmten Bedingungen auch bejaht habe (AA XXVII. 2,1, S. 513). Zu verneinen sind Erlaubnisgesetze als Produkte einer ursprünglich gesetzgebenden Vernunft: es kann kein Normensystem geben, das sein Fundament in einer permissiven Grundnorm hätte. Daher kann die Frage: „an datur lex permissiva in jure naturae" (515) sich sinnvoll nur als Frage nach einer möglichen Einschränkung des prohibitiven Rechtsgesetzes stellen lassen. Und Kant glaubt, daß eine derartige Einschränkung durchaus denkbar ist, daß es also ein natürliches Erlaubnisgesetz gibt, und zwar unter Naturzustandsbedingungen: „Wenn nämlich der Fall so ist, daß ohne Gewalt kein Recht gestiftet werden kann, so muß dem Recht die Gewalt vorausgehen, statt dessen der Regel nach das Recht die Gewalt begründen muß. . . . Sollte . . . ein prohibitives Gesetz gegeben werden, vermöge dessen es nicht erlaubt wäre, Gewalt anzuwenden, damit Menschen zum Genuß eines status civilis kämen, so würde dies den gesetzlosen Zustand vertheidigen, mithin einen Zustand, wo kein Gesetz vorhanden oder nicht anerkannt wäre: dies ist aber ein dem allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit zuwiderlaufender Zustand, mithin muß man annehmen, daß die Natur es zulasse, in der Art, die freie Willkür der Menschen mit der allgemeinen Freiheit nach dem allgemeinen Gesetz in Übereinstimmung zu bringen; und also ist hier ein natürliches Erlaubnißgesetz zu der angewandten Gewalt vorhanden" (515). Das Erlaubnisgesetz reflektiert auf die unvermeidliche Differenz zwischen den gewaltsamen Entstehungsbedingungen staatlicher Herrschaft und ihren rechtlichen Geltungsbedingungen. Es tritt vermittelnd zwischen Vernunft und Geschichte und legitimiert die Staatsgründungsgewalt, nimmt ihr die Unrechtmäßigkeit und verhindert so, daß dem Geltungsanspruch des konstituierten Rechts durch den Hinweis auf seine Herkunft aus der Gewalt die Grundlage entzogen wird. - Es ist offenkundig, daß diese Konzeption des Erlaubnisgesetzes nichts mit der gemein hat, die die Kantianer, Feuerbach und auch der Fichte von 1796 zum Ausgangspunkt ihrer Rechtsbegriindungsunternehmungen machen. 52. „Der Begriff eines Erlaubnisgesetzes der reinen Vernunft enthält einen Wiederspruch wenn die Freyheit die in einem Fall durch kein Gesetz eingeschränkt wird doch zugleich als so etwas vorgestellt wird was der Einschränkung durch ein Gesetz bedürfe" (XXIII, S. 157). 53. Da normlogische Sachverhalte unabhängig vom Ursprung der Normen sind, gilt die normlogische Bedenklichkeit der Erlaubnisnormen auch für den Bereich des positiven Rechts: „Die Rechtsordnung sucht den Willen der Normunterworfenen durch Gebote und Verbote zu bestimmen - ein bloßes Erlauben ist niemals Sache des Rechts. Die natürliche Freiheit des Menschen besteht rechtlich überall fort, bis ihr durch die Rechtsordnung eine Schranke gesetzt ist. Was nicht verboten ist, ist eben deswegen erlaubt. Eine ausdrückliche Erlaubnis hätte nur da Sinn, wo vordem ein Verbot bestand. Dann aber
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Wolfgang Kersting würde sie die Rücknahme jenes Verbots bedeuten, mithin keine Rechtssetzung, sondern eine Rechtsaufhebung sein" (August Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. Untersuchungen zur allgemeinen Rechtslehre, Weimar 1878, S. 292). AA VIII, S. 128. Hufeland selbst hat den Zwang in einer sittengesetzlichen Verbindlichkeit zu begründen versucht; dazu Kants Kritik AA VIII, S. 129. AA VIII, S. 129. Metaphysik der Sitten AA VI, S. 375. Ebd. S. 239. Das im Rechtsbegriff „Verbindende ist keineswegs das Sittengesetz, sondern das Denkgesetz; und es tritt hier ein eine praktische Gültigkeit des Syllogismus" (Fichte, Grundlage . . . a.a.O., S. 50). Fichte, Das System der Rechtslehre, in: ders., Ausgewählte politische Schriften, hg. v. Zwi Batscha u. R. Saage, Frankfurt 1977, S. 225. Für Fichte hängt die Gültigkeit des Rechtsgesetzes „lediglich davon ab, ob jemand consequent ist, oder nicht. Consequenz aber hängt hier ab von der Freiheit des Willens .. . (und) es lässt sich kein absoluter Grund angeben, warum das vernünftige Wesen consequent seyn und zufolge desselben das aufgezeigte Gesetz sich geben sollte" (Grundlage . . . a.a.O., S. 86). Nur ein hypothetischer Grund steht zur Verfügung: wenn jemand eine Gemeinschaft vernünftiger Wesen will, dann muß er auch das Rechtsgesetz wollen; erst durch den Vergesellschaftungsentschluß kommt dem Rechtsprinzip praktische Geltung zu. Für diesen Entschluß gibt es sicherlich gute Gründe — sie beizubringen ist Aufgabe der Naturzustandstheorie -, gleichwohl ist er beliebig: „Das vernünftige Wesen ist nicht absolut durch den Charakter der Vernünftigkeit verbunden, die Freiheit aller Vernunftwesen ausser ihm zu wollen .. ." (Grundlage, S. 87); „jeder ist nur verbunden durch den willkürlichen Entschluss, mit anderen in Gesellschaft zu leben; und wenn jemand seine Willkür gar nicht beschränken will, so kann man ihm auf dem Gebiet des Naturrechts weiter nichts entgegenstellen, als das, dass er sodann aus aller menschlichen Gesellschaft sich entfernen müsse" (Grundlage, S. 11). Metaphysik der Sitten AA VI, S. 230. Ebd. S. 232. AA XVIII, S. 406. Metaphysik der Sitten AA VI S. 417. Hans-Ludwig Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht. Quellenstudien zu seiner Geschichte, Berlin 1966, S. 42f.; vgl. W. Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, Hamburg 1962, S. 27; G. Dulckeit, Naturrecht und positives Recht bei Kant, Leipzig 1932, S. 5, S. 13; W. Haensel, Kants Lehre vom Widerstandsrecht, Berlin 1926, S. 11; K. Larenz, Sittlichkeit und Recht, in: ders. (Hg.), Reich und Recht in der deutschen Philosophie, Bd. I, Stuttgart/Berlin 1943, S. 282f.; G. Radbruch, Rechtsphilosophie, Stuttgart 1963, S. 140. Schmid, Grundriß des Naturrechts a.a.O., § 7. Ebd. §6. Zur pflichtentheoretischen Konzeption der Grundlegungsschrift vgl. AA IV, S. 421/Anm.; S. 424.
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69. Metaphysik der Sitten AA VI, S. 390. 70. Daher können Tugendpflichten auch keine Rechtsforderungen gegenüberstehen; der Bereich der Zwecksetzung kann kein Anwendungsfeld äußerer Gesetzgebung sein; vgl. AA VI. S. 381 f. 71. So aber bestimmt eine frühe Reflexion das verbindlichkeitstheoretische Verhältnis von Recht und Ethik: „Complexus legum debiti: Jus, meriti: Ethica. respectu officiorum erga alios vis necessitans prioris est perfecta, quoniam est absoluta, vis necessitans posterioris est imperfecta, quoniam est hypothetica sub conditione praestati officii debiti. sed actionum bonitas moralis in priori casu est negativa, h. e. minimum morale, in posteriori casu ist affirmativa, plerophoria moralis" (AA XIX, Refl. 6498). 72. AA XIX, Refl. 7005. 73. AA XIX, Refl. 7008. 74. AA XX, S. 97. 75. AA V, S. 118. 76. AA XIX, Refl. 7227. 77. „Der ein Recht wieder jemand hat, kann ihn in allen Freuden stöhren, ihn vom Altar wegholen. Alle Macht des Himmels steht auf Seiten des Rechts" (AA XIX, Refl. 7006).
DIETER SCHEFFEL Kants kritische Verwerfung des Revolutionsrechts I. Problemstellung Noch 1967 hat D. Henrich in seiner Einleitung zu „Kant/ Gentz/Rehberg, Über Theorie und Praxis"1 unter „VI. Kant über Revolution" behauptet, daß Kants Stellung zum Revolutionsrecht und zur Revolution in Frankreich noch der Interpretation bedürfe (S. 25). Henrich selbst liefert auf wenigen Seiten eine solche Interpretation. Sie gipfelt in der Fragestellung, wie man denn Kants Enthusiasmus für die Ereignisse in Frankreich zu verstehen habe, wo es für ihn doch keinen Grund gegeben habe, „eine Revolution als solche zu verteidigen" (S. 32). Dies sei für Kant ein Problem gewesen, „seinen Kopf mit seinem Herzen zu vereinigen" (S. 32). In dieser Problemstellung stimmen, soweit ich sehe, alle einschlägigen Kantinterpretationen überein, zumindest erhebt keine Widerspruch dagegen2. Sie differieren hauptsächlich in ihren Lösungsvorschlägen3. Das angeführte Problem ist jedoch, wie ich meine, bloß sekundär. Es ist nämlich nicht nur die Frage, ob, und wenn ja, wie Kants Begeisterung für die Französische Revolution als eine subjektive Einstellung mit seiner theoretischen (objektiven) Verwerfung eines Revolutionsrechtes verträglich ist, sondern sogar die Frage, ob, und wenn ja, wie sich Kants Lehre von der rein moralischen Begeisterung des äußeren zuschauenden Publikums im Falle der Französischen Revolution, zu dem er in diesem Falle zufällig selbst gehörte, mit seiner theoretischen Verwerfung eines Revolutionsrechtes verträgt. Ist dieses grundlegendere Problem gelöst, so folgt die Lösung des sekundären Problems von selbst. Im 2. Abschnitt seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten" aus den Jahren 1797/98, in welchem Kant erneut und endgültig die Frage beantwortet, ob das menschliche Geschlecht im beständi-
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gen Fortschreiten zum Besseren sei, lehrt er nämlich, daß die rein moralische Begeisterung des äußeren, zuschauenden Publikums für die Französische Revolution, d. h. die allgemeine und doch uneigennützige Anteilnahme an der Französischen Revolution, eine Begebenheit sei, worin sich die Denkungsart des Zuschauers öffentlich verrate; Kant führt sie als Beispiel eines Geschichtszeichens an, das allen Ungläubigen zum Trotz und für die strengste Theorie haltbar den Fortschritt des Menschengeschlechts im ganzen zum Besseren beweise. Von jener rein moralischen Begeisterung des äußeren, zuschauenden Publikums für die Französische Revolution sagt er wörtlich: „Diese Begebenheit ist das Phänomen nicht einer Revolution, sondern (wie es Hr. Erhard ausdrückt) der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung ..." (VII, 87). K. Reich hat in seiner Einleitung zu „I. Kant, Der Streit der Fakultäten"4 gezeigt, daß in Kants Behandlung der Frage nach dem Fortschritt der Menschheit zum Besseren noch eine Entwicklung von der Schrift über den ewigen Frieden (1795) zu der Schrift über den Streit der Fakultäten (1797/98) stattgefunden hat und diese Weiterentwicklung der kantischen Geschichtsphilosophie durch Fr. Schlegels Aufsatz „Versuch über den Begriff des Republikanismus, veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden"5 ausgelöst wurde. Ich möchte im folgenden erstens zeigen, daß die angesprochene Weiterentwicklung der kantischen Geschichtsphilosophie auch im Falle der Verwerfung eines Revolutionsrechtes noch eine Entwicklung vom status quaestionis der Abhandlung über den ewigen Frieden zum status quaestionis der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten" (1796/97) und des 2. Abschnitts des „Streits der Fakultäten" enthält, daß folglich Kants letztes Wort in Sachen Verwerfung eines Revolutionsrechtes in den beiden letztgenannten Schriften zu suchen ist. Zweitens möchte ich zeigen, daß die Weiterentwicklung in Sachen Ablehnung eines Revolutionsrechtes durch Kants Freund und Anhänger, durch den aus Nürnberg, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Arzt J. B. Erhard (1766—1827) angeregt wurde, auf den Kant ja, wie zitiert, unter Bezugnahme auf dessen Schrift „Über das Recht des Volks
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zu einer Revolution", Jena und Leipzig 17956, selbst hinweist. Und schließlich möchte ich drittens zeigen, daß nur durch die Betrachtung dieser Weiterentwicklung7 das Ausgangsproblem gelöst werden kann, ob, und wenn ja, wie sich Kants Lehre von der rein moralischen Begeisterung des äußeren, zuschauenden Publikums im Falle der Französischen Revolution mit seiner theoretischen Verwerfung eines Revolutionsrechtes verträgt.
II. Kants Verwerfung des Revolutionsrechtes in der Schrift „Zum ewigen Frieden" In der Schrift über den ewigen Frieden (1795) kommt Kants Verwerfung des Revolutionsrechtes im 2. Teil des Anhangs vor. Während der 1. Teil Betrachtungen „Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden" anstellt, handelt der 2. Teil „Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts". In diesem Teil stellt Kant eine transzendentale Formel des öffentlichen Rechtes auf. Sie lautet: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht" (VIII, 381). Diese Formel stelle ein Prinzip dar, das „gleich einem Axiom unerweislich-gewiß" sei, aber „bloß negativ" gelte, da es nur zu erkennen gebe, „was gegen andere nicht recht ist" (VIII, 381 f.). Es sei außerdem „nicht bloß als ethisch (zur Tugendlehre gehörig), sondern auch als juridisch (das Recht der Menschen angehend) zu betrachten" (VIII, 381). Als Begründung führt Kant an: „Denn eine Maxime, die ich nicht darf laut werden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus verheimlicht werden muß, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders als von der Ungerechtigkeit her haben, womit siejedermann bedroht" (VIII, 381).
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Von der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts gibt Kant sodann zwei Proben der Anwendung aus dem Staats- und Völkerrecht, von denen uns hier nur die Anwendung auf das staatsrechtliche Problem eines Rechts zur Revolution interessieren soll. Die Frage lautet: „Ist Aufruhr ein rechtmäßiges Mittel für ein Volk, die drückende Gewalt eines sogenannten Tyrannen (non titulo, sed exercitio talis) abzuwerfen?" (VIII, 382). Und die Antwort lautet: Nein. Es sei „von den Untertanen im höchsten Grade unrecht, auf diese Art ihr Recht zu suchen" (VIII, 382). Das beweise nämlich das transzendentale Prinzip der Publizität des öffentlichen Rechts. Denn nach diesem Prinzip frage sich das Volk vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages selbst, „ob es sich wohl getraue, die Maxime des Vorsatzes einer gelegentlichen Empörung öffentlich bekannt zu machen" (VIII, 382). Man sehe aber leicht ein, „daß, wenn man es bei der Stiftung einer Staatsverfassung zur Bedingung machen wollte, in gewissen vorkommenden Fällen gegen das Oberhaupt Gewalt auszuüben, so müßte das Volk sich einer rechtmäßigen Macht über jenes anmaßen" (VIII, 382). Ein solches Oberhaupt könnte dann aber nicht der oberste Gesetzgeber (das Staatsoberhaupt) sein, dem das Volk als ganzes unterworfen wäre. Wenn aber doch, so würde das bedeuten, daß beides, die Anmaßung einer rechtmäßigen Macht über das Staatsoberhaupt und eine Unterwerfung unter einen obersten Gesetzgeber „zur Bedingung der Staatserrichtung gemacht würde"; dann aber „würde gar keine möglich sein, welches doch die Absicht des Volks war" (VIII, 382). Und damit ist nach Kant bewiesen: „Das Unrecht des Aufruhrs leuchtet also dadurch ein, daß die Maxime desselben dadurch, daß man sich öffentlich dazu bekennte, seine eigene Absicht unmöglich machen würde. Man müßte sie also notwendig verheimlichen (VIII, 382). Kants Aufweis des Unrechts des Aufruhrs vermittels der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts ist aber bei näherem Zusehen doch nicht so problemlos, wie er meint. Denn bei der Aufstellung dieser Formel und ihrer Charakterisierung als eines nicht bloß ethischen, sondern auch juridischen Prinzips hat Kant das Verhältnis meiner selbst (oder eines anderen) zu allen
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übrigen im Auge, davon abweichend im Falle der staatsrechtlichen Anwendung dagegen das Verhältnis des ganzen Volks, sogar als eines unterdrückten, zum Staatsoberhaupt (Gesetzgeber) als einem gewalttätigen Tyrannen. Im ersten Fall ist ein einzelner Mensch Subjekt der zu beurteilenden Maxime, im zweiten Fall das ganze Volk. Der Unterschied beider Fälle wird in der zitierten conclusio durch das unbestimmte „man" verdeckt. Wenn man diesen Unterschied jedoch in Rechnung setzt, so hat man es genaugenommen mit zwei Fragen zu tun; nämlich 1. mit der Frage, ob sich meine Maxime des Vorsatzes einer gelegentlichen Empörung vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages öffentlich bekannt machen läßt oder nicht und, falls dies möglich ist, 2. mit der Frage, ob sie als Maxime des ganzen Volks vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages durch das Volk öffentlich bekannt gemacht werden kann oder nicht; d. h. ob sie mit einem vorstaatlichen Rechtsanspruch des ganzen Volks verträglich ist oder nicht und so ein Recht des Volks zur Revolution begründet oder nicht. Ihrer ursprünglichen Charakterisierung gemäß muß die Anwendung der transzendentalen Formel auf die staatsrechtliche Frage eines Rechts zum Aufruhr zunächst so verstanden werden, daß jeder einzelne im Volk als potentieller Untertan vor Abschluß des Unterwerfungsvertrages sich selbst fragt, ob er sich wohl getraue, die Maxime des Vorsatzes einer gelegentlichen Empörung öffentlich bekannt zu machen. Im Hinblick nun auf die Möglichkeit, daß die unter Bedingung öffentlicher Zwangsgesetze stehende Publizität im Staat, wenigstens im Prinzip, mit der von der transzendentalen Formel vorausgesetzten freien Publizität übereinstimmt, d. h. frei und nicht unterdrückt ist, kann keiner der potentiellen Untertanen vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages es wagen, die Maxime des Vorsatzes einer gelegentlichen Empörung öffentlich bekannt zu machen, weil seine Maxime jedermann sonst mit Ungerechtigkeit bedroht und daher ihre Verlautbarung unausbleiblich den Widerstand aller anderen potentiellen Mituntertanen reizen muß. Im Hinblick aber auf die Möglichkeit, daß die unter Bedingung öffentlicher Zwangsgesetze stehende Publizität im Staat grundsätzlich nicht mit der von der transzendentalen Formel vorausgesetzten freien Publizität über-
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einstimmt, d. h. unterdrückt (de facto verboten) und nicht frei ist, kann jeder der potentiellen Untertanen es wagen, die Maxime des Vorsatzes einer gelegentlichen Empörung vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages öffentlich bekannt zu machen. Damit ist zunächst nur bewiesen, in welchem Falle über die ohnehin feststehende Unmöglichkeit eines durch den Gesetzgeber gegebenen Rechts zur Revolution hinaus ein v orstaatliches Recht des Volks zur Revolution unmöglich ist, aber nicht, daß ein solches Recht über die Unmöglichkeit eines gesetzlichen (staatlichen) Rechtes zur Revolution hinaus schlechterdings unmöglich ist. Hier erhebt sich im Rahmen der Anwendung der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechtes vielmehr die oben angeführte weitere Frage, ob meine Maxime des Vorsatzes einer Empörung für den Fall einer unterdrückten Publizität im Staate, als Maxime, die ich vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages öffentlich bekannt machen kann, darüber hinaus auch durch das Volk vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages öffentlich bekannt gemacht werden kann oder nicht. Gleichviel wie die Beantwortung dieser Frage auch ausfallen mag, sie setzt auf jeden Fall eine vorstaatliche Vereinigung des Volkes, also eine Vereinigung des Volkes schon unabhängig von einer Unterwerfung unter einen obersten Gesetzgeber voraus. Angenommen nun, daß meine Maxime des Vorsatzes einer Empörung im Hinblick auf eine Unterdrückung der freien Publizität im Staat, obwohl ich sie vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages öffentlich bekannt machen kann, als Maxime des ganzen Volkes durch das Volk dennoch vor Abschluß des Unterwerfungsvertrages nicht öffentlich bekannt gemacht werden kann, so muß, damit die Verlautbarung der Maxime des Vorsatzes einer Empörung für den Fall einer Unterdrückung der freien Publizität im Staat als einer Maxime des ganzen Volks vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages die Errichtung des bürgerlichen Zustandes (als Absicht des ganzen Volks) überhaupt vereiteln kann und dadurch das Unrecht des Aufruhrs auch in diesem Fall bewiesen werden kann, vorausgesetzt werden, daß der ursprüngliche Vertrag der Unterwerfung des Volks unter ein Staatsoberhaupt eo ipso ein „Vertrag" der Unterwerfung unter die drücken-
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de Gewalt eines (de facto) Tyrannen und damit unter ein (de facto) Verbot der Publizität im Staat ist. Dann stellt aber der ursprüngliche „ Unterwerfungsvertrag" sogar eine Legitimierung der drückenden Gewalt eines Tyrannen dar. Der de facto Tyrann ist auch de iure Tyrann. Er hat als Staatsoberhaupt sogar das „Recht", öffentlich zu verkünden, er werde keinerlei Recht des Volkes gegen sich anerkennen, ohne daß dadurch das Volk zu Widerstand gereizt werden kann. Dieser „Unterwerfungsvertrag" impliziert den Widerspruch, daß das als Kontrahent des Vertrages bereits vereinigte Volk durch den Vertrag sich selbst aufgibt, d. h. sich selbst zu einem rechtlosen Subjekt erklärt. So also beweist die Unverträglichkeit der Maxime des Vorsatzes einer gelegentlichen Empörung als die einer Maxime des ganzen Volks mit dem ursprünglichen Unterwerfungsvertrag über die selbstverständliche Unmöglichkeit eines durch den Gesetzgeber gegebenen Rechts zur Revolution und über die bereits feststehende Unmöglichkeit eines vorstaatlichen Rechtes zur Revolution im Falle einer freien Publizität im Staat hinaus auch noch die Unmöglichkeit eines übergesetzlichen Rechtes zur Revolution im Falle einer unterdrückten Publizität im Staat, also ohne jede Einschränkung die schlechthinnige Unmöglichkeit eines Rechts des Volks zur Revolution. In diesem Fall kommt die staatsrechtliche Anwendung der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechtes auch mit der Auffassung des modernen Rechtspositivismus überein. Was in diesem Zusammenhang unter Rechtspositivismus zu verstehen ist, läßt sich z. B. gut mit E. v. Hippel8 folgendermaßen charakterisieren: „Die positivistische Lehre, derzufolge Recht dann vorliegt, wenn eine Ordnung ,positiv' ist, d. h. in ,Kraft steht' und also notfalls mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden kann, schließt ein Widerstandsrecht an sich aus. Denn wie der Positivismus ,Recht an sich' nicht kennt, kommt für ihn auch ein Widerstandsrecht selbst gegen schreiende Ungerechtigkeit juristisch nicht in Frage. Daher ist für den Positivismus jede Revolution solange rechtswidrig, als die bestehende Ordnung, mag sie gerecht oder auch ungerecht sein, mit Machtmitteln behauptet werden kann. Siegt aber die Revolution, so hat nunmehr diese recht,
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weil sie ihrerseits jetzt ,in Kraft' steht, d. h. über die staatlichen Machtmittel verfügt" (S. 42)9. Hiernach besteht die einzige Legitimierung einer Revolution in ihrem Erfolg. Das impliziert aber, daß es nicht nur kein durch den Gesetzgeber gegebenes Recht zu einer Revolution geben kann, sondern, da positives Recht Recht überhaupt ist, zugleich auch, daß es kein übergesetzliches Recht zu einer Revolution geben kann; daß es also ohne jede Einschränkung schlechterdings kein Recht zu einer Revolution geben kann10. Nun gilt es aber den oben aufgezeigten Widerspruch zu vermeiden. Will man ihn unter Beibehaltung der Anwendung der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechtes ausschließen, so muß man annehmen, daß meine Maxime des Vorsatzes einer Empörung für den Fall einer Unterdrückung der freien Publizität im Staat als eine vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages publizierbare Maxime darüber hinaus auch durch das vereinigte Volk vor Abschluß des Unterwerfungsvertrages öffentlich bekannt gemacht werden kann. Diese weitergehende Publizierbarkeit impliziert dann aber (vor Abschluß des ursprünglichen Vertrages) eine Verträglichkeit mit einem vorstaatlichen Rechtsanspruch des vereinigten Volkes auf freie Publizität unter öffentlichen Zwangsgesetzen. Und diesem Rechtsanspruch muß sich, da er vorstaatlich ist, das Staatsoberhaupt bei Abschluß des ursprünglichen Vertrages unterwerfen. Er stellt eine Bedingung des Unterwerfungsvertrages dar. Die Verletzung dieser Bedingung durch das Staatsoberhaupt, die im Falle gerade der drückenden Gewalt eines (de facto) Tyrannen vorliegt, gibt dann dem Volk ein vorstaatliches oder übergesetzliches Recht zur Revolution. Kant kommt in diesem entgegengesetzten Fall der staatsrechtlichen Anwendung seiner transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts im Prinzip der Sache nach, ohne es vorerst zu wissen, geschweige denn zu wollen, mit der Lehre von J. B. Erhard überein, wie sich bald zeigen soll. Wenn aber der vorstaatliche Rechtsanspruch des vereinigten Volkes auf freie Publizität unter öffentlichen Zwangsgesetzen als Bedingung des Unterwerfungsvertrages gedacht wird und das Staatsoberhaupt sich dieser Bedingung unterwerfen muß, bevor
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das Volk sich dem Staatsoberhaupt als oberstem Gesetzgeber unterwirft, so muß schon von einem Herrscher oder Staatsoberhaupt die Rede sein, noch ehe überhaupt von einem Herrscher oder Staatsoberhaupt die Rede sein kann, was sich widerspricht. Auch diesen Widerspruch gilt es zu vermeiden. Will man nun den zuletzt genannten Widerspruch unter Beibehaltung der Anwendung der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechtes wieder ausschließen, so wird man auf den zuerst genannten Widerspruch zurückgeführt etc.; d. h. mit Kants Anwendung der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts auf die staatsrechtliche Frage eines Rechts zum Aufruhr ist ein kontradiktorischer Gegensatz zweier Widersprüche verbunden bzw. eine dialektisch widersprüchliche Situation. Der dialektische Widerspruch, in den die Verwerfung eines Revolutionsrechtes vermittelst des transzendentalen Prinzips des öffentlichen Rechtes in der Abhandlung über den ewigen Frieden hineinführt, hebt im Prinzip auch Kants Kritik an Hobbes im 2. Teil der Gemeinspruch-Abhandlung von 179311 auf. Gegen Hobbes macht Kant hier geltend, daß der „nicht-widerspenstige Untertan", obwohl er keine Zwangsrechte gegen das Staatsoberhaupt haben könne, doch annehmen müsse, „sein Oberhaupt wolle ihm nicht unrecht tun" (VIII, 304). Das könne er aber (im allgemeinsten Fall der Unterwerfung des Volks unter einen obersten Gesetzgeber) nur unter der Bedingung der Freiheit der Feder als des einzigen Palladiums der unverlierbaren Volksrechte annehmen; d. h. nur unter Bedingung der Freiheit der Feder als des einzigen Rechtes des Volks gegen seinen Herrscher (ohne daß dieses Recht ein Zwangsrecht wäre), wobei das vereinigte Volk im Gebrauch dieses seines Rechtes durch die Philosophen als freie Rechtslehrer repräsentiert wird. Diese prinzipielle Distanzierung Kants von Hobbes fällt durch die staatsrechtliche Anwendung der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechtes in der Abhandlung über den ewigen Frieden entweder zugleich mit einer Verfechtung der erhardschen Lehre vom moralischen Recht des Volks zu einer Revolution zusammen oder wird durch eine kritiklose Bejahung der hobbesschen Lehre ersetzt, je nach dem nämlich, ob die Anwendung der genannten
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Formel ein übergesetzliches Recht des Volks zur Revolution oder das Unrecht jeden Aufruhrs ohne jede Einschränkung beweist. Denn im ersteren Fall wird die Freiheit der Feder als Correlatum der Unterwerfung des Volkes unter eine allgemeine Zwangsgesetzgebung nicht nur als Bedingung des staatsbürgerlichen Zustandes, sondern eo ipso sogar als Bedingung des ursprünglichen Vertrages der Unterwerfung unter einen obersten Gesetzgeber gedacht. Im zweiten Fall dagegen wird die Freiheit der Feder nicht einmal mehr als Correlatum der Unterwerfung unter eine öffentliche Zwangsgesetzgebung und also nicht einmal mehr als Bedingung bloß des rechtlichen Zustandes gedacht. Beides ist unhaltbar und von Kant in der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten" durch einen dritten Weg ersetzt worden12. Offenbar hatte Kant diesen Weg, wenigstens im Prinzip, schon in der Gemeinspruch-Abhandlung als Kritik an Hobbes im Auge. Ebenso offenbar aber hatte er auch noch nicht die Mittel in der Hand, um den Irrweg der Abhandlung über den ewigen Frieden hinsichtlich der Verwerfung eines Revolutionsrechtes zu vermeiden. Die Einsicht in diese Irrlehre und den Ausweg daraus hat Kant, wie ich meine, in Form einer Kritik an Erhards Lehre vom Recht des Volks zu einer Revolution gewonnen. III. J. B. Erhard: Über das Recht des Volks zu einer Revolution Ich greife auf mein Zitat aus dem 2. Abschnitt, 7. Punkt, l. Absatz des „Streits der Fakultäten" zurück und gehe jetzt dem Hinweis Kants auf J. B. Erhard und sein Buch „Über das Recht des Volks zu einer Revolution" nach. Ich will zeigen, daß Kant nicht nur auf Erhard hinweist, sondern ihn auch kritisiert und daß diese Kritik zugleich eine Selbstkritik im Hinblick auf seine Lehre von der Unmöglichkeit eines Revolutionsrechtes in der Schrift über den ewigen Frieden ist und auch die endgültige Lösung unseres Ausgangsproblems enthält, ob, und wenn ja, wie sich denn Kants Lehre von der rein moralischen Begeisterung des äußeren, zuschauenden Publikums im Falle der Französischen Revolution mit seiner theoretischen Verwerfung eines Rechts zur
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Revolution verträgt. Um also diese Lösung vortragen zu können, müssen wir zunächst Erhards Lehre über das Recht des Volks zu einer Revolution in ihren Grundzügen entwickeln. Erhard will in seiner Schrift untersuchen, „ob es überhaupt ein solches Recht geben könne und von welcher Art es sei" (S. 9). Sein Buch zerfällt in vier Abschnitte. Der erste bringt eine Deduktion der Menschenrechte, der zweite handelt „Über das Recht, eine Revolution anzufangen", der dritte „Über den Begriff: Volk" und der vierte schließlich „Über das Recht des Volks zu einer Revolution". Wie die Identität der Titel des ganzen Buches und des vierten Abschnittes zeigt, und wie Erhard in der Einleitung selbst sagt (S. 10; vgl. S. 91), betrifft der vierte Abschnitt die Hauptfrage des ganzen Buches. Die drei vorhergehenden Abschnitte erörtern die notwendigen Voraussetzungen der Entscheidungen der Hauptfrage. Nämlich erstens wird der Rechtsgrund dargelegt, aus dem heraus entschieden werden muß, zweitens wird das Gesetz (wohl besser: die Regel) aufgewiesen, nach dem (nach der) zu entscheiden ist, in welchem Falle eine Revolution recht sei, und drittens wird das Subjekt bestimmt, das als Subjekt des Rechts zu einer Revolution in Frage kommt (nämlich das Volk). Die ursprüngliche Quelle aller anderen Rechte seien die Menschenrechte, sagt Erhard (S. 9). Daher müsse jede Deduktion von Rechten eine Deduktion der Menschenrechte voraussetzen. Da letztere seines Wissens noch nirgendwo anders geleistet worden sei, sehe er sich genötigt, sie selbst zu versuchen. Die Menschenrechte gehörten unter den rein moralischen Begriff vom Recht. Dieser Begriff vom Recht gebe die Grundlage für die Lehre vom richtigen positiven Recht ab. Diejenigen Rechte, die kein Staat, der nicht unmoralisch genannt werden wolle, unterlassen könne, gesetzlich anzuerkennen, hießen Menschenrechte. Erhard entwickelt eine Tafel von neun Menschenrechten. Die ersten beiden sind die vornehmsten: 1. Gewissensfreiheit in Religionsdingen und 2. Freiheit der Mitteilung der Gedanken (worunter auch Briefgeheimnis und Pressefreiheit fallen). Jede Staatsverfassung soll nach Erhard moralisch sein. Die Anerkennung der Menschenrechte sei die allgemeine Bedingung
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der moralischen Gültigkeit der Gesetzgebung. Insbesondere gelte, daß die beiden ersten Menschenrechte, die Gewissens- und Gedankenfreiheit, notwendige Bedingungen für die Aufklärung der Menschen hinsichtlich des Gebrauchs ihrer Rechte seien. Die Menschen würden nämlich in allem unwissend geboren, auch was ihre Rechte und deren Gebrauch betreffe. Daher habe jedermann nicht bloß das Recht, sondern sogar die Pflicht, sich aufzuklären. Unter Aufklärung sei aber das Bestreben zu verstehen, die Wahrheit durch eigene Untersuchung zu erkennen. Die Frage, ob man dem Volk die Gelegenheit zur Aufklärung rauben solle, sei mit derjenigen einerlei, ob man den Menschen die Gelegenheit nehmen solle, ein Mensch zu sein. Das Menschenrecht, das dem Volk kollektiv zukomme, sei kein anderes als das Recht zur Aufklärung (S. 92). Es sei eine Verkehrtheit der Begriffe, die Aufklärung oder den freien Gebrauch der Vernunft vor der Staatsverfassung zu rechtfertigen, denn letztere müsse sich vor der Vernunft rechtfertigen. Man könne nicht fragen, ob sich Weisheit und Tugend mit der Staatsverfassung vertrügen, sondern nur, ob sich die Staatsverfassung mit Weisheit und Tugend vertrage. Man könne nicht fragen, ob die Aufklärung dem Staate nützlich sei, sondern nur, ob die Staatsverfassung der Aufklärung nicht schade. Jede Frage über das, was recht sei, sagt Erhard zu Beginn des 2. Abschnittes, könne grundsätzlich auf zweierlei Art untersucht werden, nämlich einmal juristisch als eigentliche Rechtsfrage, zum anderen moralisch oder kasuistisch als Gewissenssache (S. 40). Die letztere Untersuchung sei die grundlegendere. Sie müsse jederzeit entscheidend ausfallen, während die rein juristische oft damit enden könne, daß die Frage gar keine Rechtsfrage sei (S. 40). Die Frage über das Recht, eine Revolution anzufangen, könne gar nicht rechtlich entschieden werden (S. 42). Die Frage gehöre einzig und allein vor den Gerichtshof der Moral. Das Recht, eine Revolution anzufangen, könne niemandem positiv gegeben oder genommen werden. Die Frage betreffe daher nicht das positive Recht im Staate, sondern nur die moralische Möglichkeit einer Revolution. Wenn die Rechtmäßigkeit einer Revolution untersucht werden solle, so komme nur die Revolution in Frage, die den Staat
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deswegen umstürze, weil man die Grundgesetze den Rechten der Menschheit und dem Vorteil des Landes zuwider glaube. Alle anderen Arten der Revolution verdammten sich von selbst (S. 43). Eine Revolution sei z. B. rechtmäßig, wenn es nach der Grundverfassung des Staates überhaupt verboten sei, in der Erkenntnis der für die Menschen wichtigsten Angelegenheiten (des Rechts, der Religion, der Sitten und der Einrichtung der bürgerlichen Verfassung) weitere Fortschritte zu machen (S. 50). Denn nicht ich allein sei dabei der leidende Teil, sondern die Vernunft bzw. die ganze Menschheit in meiner Person, Zusammenfassend läßt sich nach Erhard sagen: 1. Die Rechtmäßigkeit einer zu beginnenden Revolution kann durch kein weltliches Gericht entschieden werden. 2. Eine Revolution ist rechtmäßig, wenn durch sie eine offenbare Beleidigung der Menschenrechte aufgehoben werden soll. 3. Jede Revolution ist ungerecht, die diesen angegebenen Zweck nicht hat (S. 52). Nachdem nun die Regel aufgestellt ist, wann das Recht, eine Revolution anzufangen, vorliegt und wann nicht, geht Erhard im folgenden (dritten) Abschnitt dazu über, das Subjekt dieses Rechtes zu bestimmen. Zu diesem Zweck unterscheidet er zwischen den Gebietenden, Priestern und Gelehrten auf der einen Seite, die zusammen die Vornehmen ausmachten, und den gemeinen Leuten und Laien auf der anderen Seite, die das Volk im engeren Sinn ausmachten. Das Verhältnis des Vornehmen zum Gemeinen dürfe die Menschenrechte nicht verletzen. Sonst müsse es als unmoralisch verdammt werden (S. 80). Es handele sich bei diesem Verhältnis nicht um das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertan (S. 80), sondern um das Verhältnis der Majorennen (Mündigen) zu den Minorennen (Unmündigen). Das Volk im engeren Sinn sei daher der im Verhältnis gegen einen anderen Teil als minorenn gedachte Teil eines Volkes im weiteren Sinne. Dies stelle das einzig mögliche moralische Verhältnis dar, auf das sich das staatsrechtliche zurückführen lassen müsse, wenn es Ansprüche auf eine moralische Seite mache (S. 80). Ein ganz anderes Verhältnis sei das der verschiedenen Gewalten im Staat zu den Gliedern des Staates. In diesem Falle gehöre niemand zu den
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Vornehmen und niemand zum gemeinen Volk. Jeder sei Bürger. Entweder freiwillig dem selbst anerkannten Gesetz gehorchend oder nicht. Das politische Verhältnis lasse sich nie aufheben, sondern sei so notwendig wie der Staat selbst. Das Verhältnis zwischen den Vornehmen und dem Volk könne dagegen aufgehoben werden, ohne daß dadurch der Staat aufgehoben werde (S. 81). Ein Mensch könne unbeschadet seiner Menschenrechte im Verhältnis gegen einen anderen minorenn sein (S. 82). Seine Unmündigkeit sei selbstverschuldet. Und er habe die moralische Pflicht, nach seiner Majorennität zu streben. So auch das Volk im engeren Sinn. Aufklärung des Volks sei ein Heraustreten aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit (S. 88)13. Es absichtlich darauf anzulegen, daß das Volk im engeren Sinn (das gemeine Volk) unmündig bleibe, sei Hochverrat an der Menschheit. Dem Volk bleibe daher das Recht, nach der Mündigkeit zu streben und seine Mündigkeit zu beweisen (S. 82). Das Volk zeige seine Mündigkeit durch die Kenntnis der Menschenrechte und durch den Gebrauch, den es von ihnen mache (S. 82). Das Subjekt des Rechts, eine Revolution anzufangen, sei also der als minorenn gedachte Teil eines Staatsvolkes bzw. das gemeine Volk (das Volk im engeren Sinn). Schließlich steht im 4. Abschnitt die Entscheidung der Hauptfrage an, ob es nämlich ein Recht des Volks zu einer Revolution gebe. Eine Revolution überhaupt könne nur dann moralisch gebilligt werden, wenn nur durch sie die Menschenrechte geltend gemacht werden könnten. Dasselbe gelte dann auch für eine Revolution des Volks (S. 92). Das Menschenrecht aber, das dem Volk kollektiv zukomme, sei kein anderes als das Recht zur Aufklärung (S. 92). Wolle man das Volk hindern, sich aufzuklären, so tue es recht, sich zu erheben, und wenn diese Hindernisse aus der Konstitution entsprängen, die Konstitution aufzuheben (S. 92). Insofern jedes-Volk unaufhaltsam seiner Mündigkeit entgegengehe, bereiteten sich alle Völker auf eine Revolution vor. Es sei aber möglich, daß sich die Verfassungen den verschiedenen Graden von Mündigkeit anpaßten und durch Reformen eine eigentliche Revolution verhüteten, so daß alles nach und nach geschehe
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und unvermerkt und kontinuierlich die Verfassung ihre richtige moralische Form erhalte (S. 94). Erkenne das Volk seine Menschenrechte und würden diese durch die Vornehmen geehrt, so bedürfe es keiner gewaltsamen Revolution. Beide Teile würden sich vereinigen, eine moralische Staatsverfassung zu gründen und als Bürger in Frieden unter den Gesetzen der Gerechtigkeit zu leben (S. 95): „In einem solchen Staat geschieht das, was in anderen durch Revolutionen geschieht, durch eine von der Weisheit bewirkte Evolution" (S. 95 f.). IV. Das Faktum der kantischen Selbstkritik Nach diesem Referat der Grundgedanken des erhardschen Buches komme ich nun auf Kants Kritik an Erhard und an sich selber zu sprechen. Nach meinen bisherigen Ausführungen müßte diese Kritik schon in der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten" und auf dieser Basis dann auch im „Streit der Fakultäten" anzutreffen sein. In der Tat schließt schon die Grundlegung der Rechtslehre die Anwendung eines sowohl ethischen als auch juridischen Prinzips wie die des transzendentalen Prinzips des öffentlichen Rechtes aus. Denn in der Einleitung in die Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten" wird unter dem allgemeinen Rechtsprinzip nicht mehr wie noch im Anhang der Abhandlung über den ewigen Frieden das gänzlich zur Ethik gehörige Prinzip des weiten Rechtes, wie ich es nennen möchte, sondern ein Prinzip des Übergangs vom weiten zum engen Recht bzw. von der Ethik zur eigentlichen Rechtslehre verstanden. In der Abhandlung über den ewigen Frieden ist das Rechtsprinzip, dem unbedingte Notwendigkeit zukommt, ein „bloß auf Freiheit im äußern Verhältnis gestellter" kategorischer Imperativ sui generis. Er lautet: „Handle so, daß du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden (der Zweck mag sein, welcher er wolle)" (VIII, 377). Dieses Prinzip des Rechts gehört nun deswegen noch voll zur Ethik, weil es sich noch wie der kategorische Imperativ als Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft („Kritik der praktischen Vernunft", § 7) ursprünglich oder unmittelbar ausschließlich auf die Maximen von Handlungen bezieht und nur dadurch oder bloß mittelbar auf die
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Handlungen. Ich kann auf die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit einer Handlung lediglich schließen, nämlich von der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der Maxime. Deshalb soll dieses Prinzip des Rechts auch Prinzip des weiten Rechts heißen. Es wird von mir gefordert, nach einer Maxime zu handeln, nach welcher die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, aber es wird nicht von mir verlangt, daß dieses Zusammenbestehenkönnen selbst meine Maxime sei, sondern nur, daß die Maxime meiner Handlung dieses Zusammenbestehenkönnen nicht unmöglich mache. Es wird von mir gefordert, meine Freiheit selbst auf die Bedingung etc. einzuschränken und dieser Einschränkung gemäß zu handeln. Aber es wird nicht von mir verlangt, daß ich mir die Einschränkung meiner Freiheit etc. zur Maxime mache. Es wird von mir Achtung vor der Freiheit von jedermann sonst verlangt, aber nicht die Gesinnung der Achtung. Die Rechtsidee wird zwar nicht als meine Maxime gefordert, aber sie kann als solche gefordert werden. Die Forderung der Gesinnung der Achtung korrespondiert vielmehr der Forderung, mir das Rechthandeln zur Maxime (aber nicht zur Triebfeder) zu machen bzw. der Forderung, mir die Einschränkung meiner Freiheit etc. zur Maxime zu machen. Darüber hinaus verlangt der kategorische Imperativ als pflichtgebietender Satz („Kritik der praktischen Vernunft", § 7) sogar noch, daß die Achtung vor der Freiheit von jedermann alleinige Triebfeder meines Handelns sei oder daß ich aus Achtung etc. handle. So gesehen erweist sich das Prinzip des weiten Rechts als die dritte Stufe einer lückenlosen apriorischen Entwicklung des moralischen Begriffs des Rechts (vgl. VI, 230) aus dem kategorischen Imperativ als einem pflichtgebietenden Satz (vgl. VI, 239). Die Besonderheit aber der Abhandlung über den ewigen Frieden besteht darin, daß dieses Prinzip bloß des weiten Rechts als das Rechtsprinzip schlechthin verstanden wird. Dadurch wird ein apriorischer Übergang zum strikten Recht und darüber hinaus noch ausgeschlossen. Das heiß aber einerseits einem Empirismus der Rechtsbegriffe, den Kant doch immer vermeiden möchte, und andererseits einer rechtlichen Schwärmerei Vorschub leisten14.
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Der bisher maßgebende Gedanke, daß ich nur von der Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit der Maxime auf die entsprechende Qualität der Handlung schließen kann, der das Prinzip des weiten Rechts noch zu einem rein ethischen Prinzip macht, wird durch Aufstellung des allgemeinen Prinzips des Rechts in § C der Einleitung in die Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten" zum erstenmal verlassen. Dieses Prinzip lautet:,,Eine jede Handlung ist recht, die — oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden — mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann" (VI, 230)15. Das „oder" bringt zum Ausdruck, daß es gleichgültig ist, das Rechtsprinzip als Prinzip sogar der Maximen oder als Prinzip bloß des Handelns zu denken. Deshalb kann es selbst zwar noch als meine Maxime gedacht, aber nicht mehr als solche gefordert werden. Es besteht sowohl die Möglichkeit, wie bisher von der Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit der Maxime auszugehen und auf die entsprechende Qualität der Handlung zu schließen, als auch die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit einer Handlung ursprünglich bzw. unmittelbar zu beurteilen. Im letzteren Falle kann zwar, wenn die Handlung unrechtmäßig ist, auch die Maxime nicht rechtmäßig sein, aber die Maxime kann doch unrechtmäßig sein, wenn die Handlung rechtmäßig ist: „. . . ein jeder kann frei sein, obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent wäre, oder ich im Herzen derselben gerne Abbruch tun möchte, wenn ich nur durch meine äußere Handlung ihr nicht Eintrag tue" (VI, 231). Es kann also lediglich von der Unrechtmäßigkeit der Handlung auf die der Maxime geschlossen werden, aber nicht von der Rechtmäßigkeit der Handlung auf die der Maxime. Das allgemeine Rechtsprinzip in § C ist auf die allgemeinste Weise ein Prinzip der Beurteilung bloß des Handelns (und nicht der Maxime) und heißt deswegen allgemein. Es bleibt noch offen, ob das Rechtsein einer Handlung ein bloß mittelbares oder sogar ein unmittelbares ist. Es lassen sich noch innere, aber auch schon äußere Bestimmungsgründe meiner Willkür denken. Das nicht mehr ausschließliche Bezogensein des Rechtsprinzips unmittelbar auf die Maximen von Handlungen zeigt sich auch an seiner Formulierung als eines kategorischen Imperativs sui generis:
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„Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne" (VI, 231). Von Maximen ist explizit keine Rede mehr. Das allgemeine Rechtsprinzip in § C stellt den ersten Schritt in eine von der Ethik unabhängige Rechtslehre dar. Sowohl der Anschluß an die Ethik wie das Hinausgehen über die Ethik steckt in dem durch jenes „oder" ausgedrückten Belieben. Deswegen nenne ich das allgemeine Rechtsprinzip in § C auch ein Prinzip des Übergangs vom weiten zum engen Recht. Dieses Rechtsprinzip legt mir lediglich die Verbindlichkeit auf, der Einschränkung meiner Freiheit auf die Bedingung etc. gemäß zu handeln, aber nicht mehr wie noch das Prinzip des weiten Rechts die Verbindlichkeit, meine Freiheit auf jene Bedingung selbst einzuschränken. Es wird nicht von mir verlangt, daß ich Achtung vor der Freiheit von jedermann sonst habe. Sie darf mir gänzlich gleichgültig sein, ja ich darf ihr im Herzen gerne Abbruch tun, wenn ich nur durch meine äußere Handlung ihr nicht Eintrag tue. Das allgemeine Rechtsprinzip legt mir lediglich die Verbindlichkeit auf, dem Recht gemäß zu handeln. Die Forderung, daß meine Freiheit auf die Bedingung etc. eingeschränkt werde, ist keine Forderung an mich, sondern eine Forderung an sich. Deshalb formuliert Kant das allgemeine Rechtsprinzip nicht nur als kategorischen Imperativ sui generis, sondern nennt es auch ein Postulat der Vernunft, das gar keines Beweises weiter fähig sei (VI, 231). Es wird lediglich verlangt, daß meine Freiheit auf die Bedingung etc. eingeschränkt werde, dabei ist es aber gleichgültig, ob ich selbst sie einschränke oder ob andere sie tätlich einschränken. Es bleibt mir zwar die Möglichkeit unbenommen, meine Freiheit selbst einzuschränken, aber es wird nicht (mehr) von mir verlangt. Es ist vielmehr auch jedem anderen erlaubt, meine Freiheit auf die genannte Bedingung tätlich einzuschränken. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß Recht und Befugnis zu zwingen einerlei bedeuten (vgl. § E). Es ist lediglich die Möglichkeit einer solchen Einerleiheit eröffnet. Gleichwohl ist nach § D doch schon gesagt, daß nach dem allgemeinen Rechtsprinzip als besagtem Postulat mit dem Recht bloß mittelbar eine Befugnis zu zwingen verbunden ist, nämlich die Befugnis, einen
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anderen unter der Bedingung zu zwingen, daß er dem Rechte Abbruch tut, d. h. dem Rechtsprinzip als einem Postulat zuwiderhandelt; gleichgültig, ob er nun selbst erst gar nicht den Gebrauch seiner Freiheit auf die Bedingung etc. einschränkt oder ob er der Einschränkung seiner Freiheit durch andere auf die Bedingung etc. nicht gemäß handelt. Der Übergang von der Problematizität (§ C, § D) zur Assertorizität (§ E) der Einerleiheit von Recht und Befugnis zu zwingen ist der Übergang zum strikten Recht, dem nichts Ethisches mehr beigemischt ist. Es kommen jetzt nur noch äußere Bestimmungsgründe der Willkür, nämlich solche des Zwanges, in Frage. Jenes Belieben, das in dem „oder" der Eingangsformulierung in § C steckt, ist jetzt aufgehoben. Jetzt wird nicht nur nicht gefordert, daß ich meine Freiheit auf die Bedingung etc. selbst einschränken solle, sondern es wird nicht einmal mehr erlaubt, daß ich den freien Gebrauch meiner Willkür selbst einschränke. Was die Einschränkung meiner Freiheit angeht, so bin ich jetzt sogar zur Passivität verpflichtet, dagegen nicht, was die Einschränkung der Freiheit eines jeden anderen betrifft16. Ich darf jeden anderen unmittelbar zwingen, innerhalb der Einschränkung seiner Freiheit auf die Bedingung etc. zu handeln, wie umgekehrt jeder andere mich unmittelbar zwingen darf. Es bedarf gar nicht mehr der Bedingung, daß der andere dem Rechte Abbruch tut, um ihn zwingen zu dürfen. Unmittelbar oder ursprünglich sind jetzt ausschließlich Handlungen und nicht mehr Maximen Gegenstand der rechtlichen Beurteilung. Es besteht jetzt nicht mehr die Möglichkeit, von der Rechtmäßigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit einer Maxime auf die entsprechende Qualität der Handlung zu schließen. Man kann lediglich von der Unrechtmäßigkeit einer Handlung auf die der Maxime schließen (aber nicht von der Rechtmäßigkeit einer Handlung auf die der Maxime). Auf jeden Fall aber muß noch ausschließlich von einem Handeln nach Maximen gesprochen werden, d. h. von einem Handeln, zu welchem grundsätzlich eine Maxime gedacht werden kann17. Wenn das Rechtsprinzip, verstanden als Prinzip des strikten Rechts, nicht nur sagt, was überhaupt Recht und Rechtspflicht ist, sondern damit zugleich keine anderen Bestimmungsgründe der
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Willkür als bloß die äußeren des Zwanges als Triebfeder des Handelns verbindet, so stellt es im Felde der Rechtslehre das eigentliche Gegenstück zum kategorischen Imperativ als pflichtgebietendem Satz im Felde der Ethik dar. Das Prinzip des strikten Rechts kann nicht einmal mehr als meine Maxime gedacht, geschweige denn gefordert werden. Mit dem strikten Recht läßt sich keine innere (ethische) Gesetzgebung mehr verbinden, sondern nur noch eine äußere (juridische), nur doch die Gesetzgebung eines äußeren Gesetzgebers. Von dieser mit dem strikten Recht notwendig verbundenen Idee einer äußeren Gesetzgebung nimmt nun Kant im „Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre" unter dem Titel „Vom zweideutigen Recht" zwei Fälle aus; er sondert sie aus der eigentlichen Rechtslehre aus, „ohne ins Gebiet der Ethik einzugreifen" (VI, 233), d. h. ohne die beiden Fälle unter die Idee der inneren oder ethischen Gesetzgebung zu stellen. Es handelt sich 1. um die Billigkeit, ein Recht ohne Zwang und 2. um das Notrecht, einen Zwang ohne Recht. Uns soll hier nur das letztere interessieren. Mit jedem Recht in enger Bedeutung (ius strictum) ist die Befugnis zu zwingen verbunden; und sie kann immer durch ein äußeres Gesetz bestimmt werden (dies ist die Lehre Kants). Man denkt sich aber noch ein Recht im weiteren Sinne, wo die Befugnis zu zwingen durch kein äußeres Gesetz bestimmt werden kann. Und damit nimmt man im Falle des Notrechtes an, daß gleichwohl eine Befugnis zu zwingen vorhanden, d. h. ausgemacht (durch eine innere Gesetzgebung bestimmt) ist (und dies ist nicht die Lehre Kants, aber z. B. diejenige Erhards). Das bedeutet dann jedoch daß man prinzipiell das weitere Recht gegen das engere ausspielen kann, z. B. im Falle des Notrechtes, das unter dem Sinnspruch steht „Not hat kein Gebot". Als Notrecht wäre demnach das Recht zu einer Rvolution zwar ein Zwang ohne äußeres Gesetz, aber nicht ohne ein ausgemachtes (weites), ethisch bestimmtes Recht. Als ob es kein Prinzip des Überganges vom weiten zum engen Recht, vom Feld der Ethik ins Feld der eigentlichen Rechtslehre gäbe! Unter Voraussetzung dieses Prinzips aber erfährt das Notrecht eine neue und kritische Beurteilung. Es wird,
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wie gesagt, aus der eigentlichen Rechtslehre ausgesondert, aber deswegen doch nicht für unmöglich erklärt. Es wird jedoch auch nicht einer inneren oder ethischen Gesetzgebung untergeordnet. In der Gemeinspruch-Abhandlung hatte Kant ein Notrecht noch „als ein vermeintes Recht, in der höchsten physischen Not unrecht zu tun" (VIII, 300) und als ein „Unding" bezeichnet. In der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten" dagegen sagt er unter Bezugnahme auf den Beginn der Französischen Revolution von dem „Verbrechen des Volks", durch welches ohne Vergreifung an der Person des Staatsoberhauptes die Niederlegung seiner Gewalt und ihre Zurückgebung an das Volk erzwungen wurde, daß es „doch noch wenigstens den Vorwand des Notrechts (casus necessitatis) für sich" (VI, 320) hatte. Darin steckt zwar auch der Gedanke, daß ein Notrecht nur ein vermeintliches Recht ist, daß es also kein Notrecht gibt, aber nicht mehr auch der Gedanke, daß ein Notrecht unmöglich bzw. undenkbar ist; d. h. ein Notrecht ist lediglich problematisch, aber nichts Ausgemachtes. Unter diesen Voraussetzungen ist nun auch Kants theoretische Verwerfung eines Revolutionsrechtes in der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten" zu betrachten. Es ist eigentlich keine Frage, daß ein gesetzliches Recht zur Revolution nach wie vor schlechthin undenkbar ist, da die Vorstellung eines durch den Gesetzgeber selbst gegebenen Revolutionsrechtes in sich widersprüchlich ist. Es kann vielmehr nur die Frage sein, ob daraus mit dem Rechtspositivismus auch uneingeschränkt auf die Unmöglichkeit eines übergesetzlichen Rechtes zur Revolution geschlossen werden kann. Die Verwerfung eines Widerstands- und Revolutionsrechtes wird von Kant in der Allgemeinen Anmerkung „Von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins" (VI, 318ff.) entwickelt. Und in der 2. Auflage der „Metaphysik der Sitten" (1798) kommt Kant unter Berücksichtigung der Rezension von Bouterwek (18. 2. 1797) im „Anhang erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre" noch einmal auf seine Verwerfung eines aktiven Widerstands- und eines Revolutionsrechtes zu sprechen.
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In der Allgemeinen Anmerkung der 1. Auflage heißt es: „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats gibt es ... keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemein-gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich . . . Der Grund der Pflicht des Volks, einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen, liegt darin: daß sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muß. Denn um zu demselben befugt zu sein, müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand des Volks erlaubte, d. i. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein, und das Volk als Untertan in einem und demselben Urteile zum Souverän über den zu machen, dem es untertänig ist; welches sich widerspricht . . ." (VI, 320). Zunächst ist die doppelte Begründung zu beachten, die durch das zweifache „denn" eingeleitet wird und eigentlich zwei unterschiedliche, nicht ganz kongruierende, aber hier doch einander nicht widersprechende Argumente enthält, weil das zweite unter Bedingung des ersten vorgetragen wird. Eigentlich aber besteht die Unmöglichkeit eines durch den Gesetzgeber gegebenen, gegen den Gesetzgeber selber gerichteten Rechts zur Revolution auch dann, wenn mit dem Rechtspositivismus kein ursprünglicher Vertrag der Unterwerfung des Volks unter den allgemein-gesetzgebenden Willen des Staatsoberhauptes vorausgesetzt wird. Wenn aber ein solcher Vertrag vorausgesetzt wird, dann besteht immer auch die Unmöglichkeit eines durch den Gesetzgeber gegebenen Rechts zur Revolution. Das deutet darauf hin, daß die Unmöglichkeit eines gesetzlichen Rechtes zur Revolution durch die Voraussetzung des ursprünglichen Vertrages eine gewisse Einschränkung erfährt. Wenn daher Kant sagt, daß es wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staates keinen rechtmäßigen Widerstand des Volkes gebe, weil nur durch Unterwerfung unter den allgemein-gesetzgebenden Willen des Staatsoberhauptes ein rechtlicher Zustand möglich sei, so ist hier zwar auf die allgemeinste Weise von einem
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rechtlichen Zustand die Rede, aber dennoch in einer Weise, die diesen rechtlichen Zustand von einem nichtrechtlichen, gleichwohl gesetzlichen Zustand klar zu unterscheiden gestattet. Denn es ist, wenn auch auf die allgemeinste Weise, lediglich die Rede von einer Unterwerfung des Volks unter den allgemeingesetzgebenden Willen des Staatsoberhauptes. Diese Einschränkung bedeutet einerseits eine Pflicht des Herrschers gegen das Volk und andererseits ein Recht des Volkes gegen seinen Herrscher. Doch darf weder einerseits von einer Zwangspflicht noch andererseits von einem Zwangsrecht gesprochen werden. Beides widerspräche nämlich dem Gedanken der Unterwerfung des Volks unter einen obersten Gesetzgeber. Nun kann die gesetzgebende Gewalt als eine, von der im Staat alles Recht ausgehen soll und die durch ihr Gesetz schlechterdings niemand Unrecht tun können darf, nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen (vgl. § 46). Das Staatsoberhaupt ist daher nach dem Unterwerfungsvertrag verpflichtet, durch seine Gesetzgebung den vereinigten Willen des Volkes zu repräsentieren und nach dem von Kant öfters genannten Prinzip der Rechtmäßigkeit jedes öffentlichen Gesetzes zu verfahren: „Was ein Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über das Volk beschließen" (vgl. z. B. VI, 327 f.; 329). Dementsprechend besteht das Recht des Volks gegen den Herrscher nicht darin, ihn zwingen zu dürfen, nach diesem Prinzip zu verfahren, sondern lediglich darin, frei und öffentlich die Gesetzgebung des Staatsoberhauptes nach dem genannten Prinzip der Rechtmäßigkeit öffentlicher Gesetze (vermittelst der Philosophen als freier Rechtslehrer und Repräsentanten des vereinigten Volkswillens) beurteilen zu dürfen. Die Freiheit der Feder ist, wenn ich die Unterwerfung des Volks unter den allgemein-gesetzgebenden Willen so allgemein wie nur möglich verstehe, das einzige Palladium der unverlierbaren Volksrechte (vgl. VIII, 304). Sie ist das einzige Recht des Volks gegen seinen Herrscher18. Trotz dieses Rechts des Volks gegen seinen Herrscher sowie der korrespondierenden Pflicht des Staatsoberhauptes gegen das Volk und der darin liegenden Einschränkung des Verhältnisses
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von Obrigkeit und Untertan, wodurch sich Kant von Hobbes unterscheidet, muß nach Kant doch eine (juridisch) „unbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der an sich unvereinigt, mithin gesetzlos ist) unter einen souveränen (alle durch ein Gesetz vereinigenden) Willen" (VI, 372) gedacht werden. Das heißt dann aber sagen, daß die Freiheit der Feder als das einzige Recht des Volks gegen seinen Herrscher zwar eine ursprüngliche Bedingung eines rechtlichen Zustandes ist, aber keine Bedingung der Unterwerfung des Volks unter den Willen des Staatsoberhauptes, d. h. keine Bedingung des ursprünglichen Vertrages. Damit ist das Unding vermieden, daß es bereits ein Recht des Volks gegen seinen Herrscher gibt, noch ehe es sich ihm unterworfen hat; noch ehe also von einem Herrscher die Rede sein kann. Der ursprüngliche Unterwerfungsvertrag enthält nach der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten" einerseits die Unterwerfung des Volks unter den gesetzgebenden Willen des Staatsoberhauptes und andererseits zugleich die Anerkennung der Freiheit der Feder als des einzigen Palladiums der unverlierbaren Volksrechte bzw. als des einzigen Rechtes des Volks gegen seinen Herrscher. Die Unterwerfung kann gar nicht gedacht werden, ohne zugleich ein Recht des Volks gegen seinen Herrscher zu denken, aber nicht als Bedingung der Unterwerfung, sondern als ihr korrespondierend. Die Unterwerfung und das Recht des Volks gegen seine Herrscher sind logisch gleichursprünglich. Keins geht dem anderen logisch vorher. Würde das Recht des Volks gegen seinen Herrscher nicht einmal als Bedingung des rechtlichen Zustandes gedacht, also ganz wegfallen, so hieße das zugestehen, daß eine Unterwerfung unter einen obersten Gesetzgeber als ein juridischer Sachverhalt denkbar wäre, nach welcher sich das Volk durch den ursprünglichen „Vertrag" der drückenden Gewalt eines (de facto) Tyrannen und damit einem de facto Verbot der Publizität unterwürfe; indem es also durch „Vertrag" auf jedes Recht gegen den Herrscher verzichtete und damit sich selbst für ein rechtloses Subjekt erklärte. Mit dem kritischen Begriff vom Unterwerfungsvertrag, wonach zwar nicht die Unterwerfung des Volks unter einen obersten Gesetzgeber, aber doch der resultierende rechtliche Zustand un-
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ter der Bedingung der Freiheit der Feder als des einzigen Rechts des Volks gegen seine Herrscher steht, ist, wie gesagt, ein Schnitt gelegt zwischen einem rechtlichen und einem nichtrechtlichen Zustand. In einem rechtlichen Zustand wird grundsätzlich die Freiheit der Feder als das einzige Recht des Volks gegen seinen Herrscher anerkannt; selbst in dem ungünstigen Fall, in welchem das Staatsoberhaupt dieses Recht des Volks zwar nicht aktiv unterstützt und fördert, wie es eigentlich Pflicht ist, aber doch wenigstens passiv duldet und folglich nicht unterdrückt. Dann bleibt die prinzipielle Möglichkeit gegeben, daß ein ganzes Volk durch seine federführenden Repräsentanten (die Philosophen als freie Rechtslehrer) seine Beschwerde vorträgt und so auf Reformen dringt, die letzten Endes der Stiftung einer naturrechtlichen Staatsverfassung dienen, in welcher alle den Gesetzen Unterworfenen auch zugleich vereinigt selbst gesetzgebend sind; d. h. in welcher das vereinigte Volk selbst der Souverän ist; in welcher die Gesetze selbstherrschend sind und an keiner besonderen Person hängen (vgl. § 52). Das ist in einer republikanischen Staatsform der Fall19. Der prinzipiell rechtliche Zustand unter einem allgemein-gesetzgebenden Willen ist also nur der Ausgangspunkt einer Entwicklung, die als Fortschritt zum rechtlich Besseren im Inneren eines Staates eine republikanische Staatsform zum Ziele hat und lediglich vermittelst von Reformen zuwege gebracht werden darf; auch dann, wenn das Staatsoberhaupt seiner Pflicht (nicht: Zwangspflicht) nicht nachkommt, den rechtlichen Fortschritt des Volks zum Besseren zu befördern, aber ihn auch nicht verhindert. Unter einem rechtlichen Zustand ist also noch keine naturrechtliche Verfassung zu verstehen. Wir wollen ihn auch eine nichtnaturrechtliche Verfassung im weiteren Sinne nennen. Im einen wie im anderen Falle ist nicht nur ein durch den Gesetzgeber gegebenes Recht des Volks zu einer Revolution unmöglich, sondern es gilt zugleich auch der Schluß von dieser Unmöglichkeit auf die Unmöglichkeit eines übergesetzlichen Revolutionsrechtes. Im Ergebnis stimmt Kant daher mit dem Rechtspositivismus überein, in der Begründung weicht er aber von ihm ab.
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Unter einem nichtrechtlichen, gleichwohl gesetzlichen Zustand, den wir auch eine nichtnaturrechtliche Verfassung im engeren Sinne20 nennen wollen, ist dagegen ein Zustand zu verstehen, in welchem die Freiheit der Feder nicht einmal mehr geduldet, sondern sogar unterdrückt wird; ein Zustand, in welchem ein (de facto) Verbot der Publizität besteht, um mit dem „Streit der Fakultäten" zu reden, und dadurch der Fortschritt eines Volks zum Besseren nicht nur nicht befördert, sondern sogar verhindert wird21, „selbst in dem, was das Mindeste seiner Forderung, nämlich bloß sein natürliches Recht, angeht" (VII, 89). Dies wäre ein Zustand, in welchem der nicht-widerspenstige Untertan nicht mehr annehmen könnte, „sein Oberherr wolle ihm nicht unrecht tun". Die Nichtanerkennung des Rechts des Volks gegen seinen Herrscher, die Unterdrückung also der Freiheit der Feder bzw. das (de facto) Verbot der Publizität oder auch die Verhinderung des Fortschritts des Volks zum rechtlich Besseren stellt keine Aufhebung (Negation) einer Bedingung des Unterwerfungsvertrages dar und gründet daher kein übergesetzliches Recht zur Revolution. Ja, im Falle eines nichtrechtlichen Zustandes liegt überhaupt keine Aufhebung (Negation) des Unterwerfungsvertrages vor, sondern lediglich eine Aufhebung (Negation) der Bedingung des rechtlichen Zustandes. Man würde diese Bedingung in unkritischer Weise zu einer Bedingung des ursprünglichen Vertrages machen, wenn man die Aufhebung (Negation) des rechtlichen Zustandes als Aufhebung (Negation) des Unterwerfungsvertrages verstehen wollte. Die Aufhebung der Bedingung des rechtlichen Zustandes bedeutet vielmehr nur eine Infragestellung des ursprünglichen Vertrages. Dem Volk wird kein übergesetzliches Recht zur Revolution verschafft. Aber es wird doch auch die bloße Möglichkeit eines solchen Rechtes nicht ausgeschlossen. Es wird lediglich in Frage gestellt, ob die Beschwerde des ganzen Volks das einzige Mittel ist, sein Recht zu suchen, und ob entsprechend Reformen das einzige Mittel sind, einen rechtlichen Fortschritt zum Besseren herbeizuführen. Möglicherweise ist in beiden Fällen auch eine Revolution des Volkes ein Mittel. In einem nichtrechtlichen Zustand wäre es unbillig, eine rechtliche Verbesserung lediglich durch Reformen zu fordern. Eine Revolu-
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tion kann nicht von vornherein mißbilligt werden. Aber sie kann auch nicht von vornherein gebilligt werden. Denn das hieße ein übergesetzliches Recht zur Revolution voraussetzen. In einem nichtrechtlichen Zustand bzw. in einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinn ist ein durch den Gesetzgeber gegebenes Recht des Volks zur Revolution nach wie vor unmöglich, aber es gilt nicht mehr der Schluß auf eine übergesetzliche Unmöglichkeit eines Revolutionsrechtes, ohne daß daraus jedoch das Ausgemachtsein eines übergesetzlichen Notrechtes folgt. Und hier unterscheidet sich Kant nicht mehr nur in der Begründung vom Rechtspositivismus, sondern auch im Ergebnis. Es läßt sich daher zusammenfassend sagen, daß nach Kants Rechtslehre zwar die Unmöglichkeit eines durch den Gesetzgeber gegebenen Rechts zur Revolution uneingeschränkt gilt und Kant in diesem Punkte mit dem Rechtspositivismus übereinstimmt, daß aber für den Rechtspositivismus im Unterschied zu Kant ohne jede Einschränkung der Schluß von einer gesetzlichen Unmöglichkeit eines Rechtes zur Revolution auf eine übergesetzliche Unmöglichkeit gilt, für Kant dagegen nicht uneingeschränkt, nämlich im Falle einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinne nicht. V. Kants Kritik an J. B. Erhard Wir haben bisher lediglich gezeigt, daß im Falle einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinn eine Revolution weder von vornherein mißbilligt noch von vornherein gebilligt werden kann. Es bleibt noch die Frage zu beantworten, ob eine Revolution, die nicht von vornherein gebilligt werden kann, überhaupt gebilligt werden kann und, wenn ja, wann? Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir nun mit Kants Selbstkritik in Sachen Verwerfung eines Revolutionsrechtes seine Kritik an Erhard verbinden. Dabei scheint es mir sicher zu sein, daß Kant durch seine Kritik an Erhards Lehre vom Recht des Volks zu einer Revolution zu seiner kritischen Verwerfung eines Revolutionsrechtes gekommen ist. Wie weit allerdings diese Kritik an Erhard sogar von Bedeutung für Kants kritische Grundlegung der Rechtslehre
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in der „Metaphysik der Sitten" ist, lasse ich hier offen. Dazu bedürfte es einer umfassenderen und gründlicheren Untersuchung, als sie hier vorgenommen werden kann 22 . Ich wiederhole zuvor noch einmal das Hauptergebnis der erhardschen Untersuchung der Frage eines Rechts des Volks zu einer Revolution. Unter bestimmten Bedingungen, so lehrt er, hat das Volk ein moralisches (übergesetzliches) Recht zur Revolution: „Will man . . . das Volk hindern, sich aufzuklären, so tut es recht, sich zu erheben . . ." (S. 92) bzw. wird „es in der Stupidität eines Lasttiers" (S. 92 f.) gehalten, „so hat es das Recht zu einer Revolution" (S. 93). Man achte auf die Gleichsetzung von „recht daran tun" und „das Recht dazu haben". Wenn eine Revolution des Volks in übergesetzlicher Weise rechtmäßig ist, so folgt daraus noch lange nicht, daß ein übergesetzliches Recht des Volks zur Revolution eine ausgemachte Sache ist. In dieser paradoxen Behauptung besteht im Prinzip sowohl Kants Kritik an Erhard als auch die Lösung des Problems, ob und, wenn ja, wie denn Kants Lehre von der rein moralischen Begeisterung des äußeren, zuschauenden Publikums für die Französische Revolution mit seiner theoretischen Verwerfung eines Revolutionsrechtes verträglich ist? Wir erinnern uns: ein positives, durch den Gesetzgeber gegebenes Recht des Volks zu einer Revolution kann es nach Kant schlechterdings nicht geben, weder im Falle einer naturrechtlichen noch im Falle einer nichtnaturrechtlichen Staatsverfassung. Ein solches Recht wäre ein Unding. Hierin stimmt Kant mit Erhard grundsätzlich überein23; und überdies stimmen beide darin grundsätzlich auch mit allen Rechtspositivisten überein. Aber beide unterscheiden sich auch von allen Rechtspositivisten, indem sie nicht wie diese sagen, daß es deshalb, weil es weder im Falle einer naturrechtlichen noch im Falle einer nichtnaturrechtlichen Staatsverfassung ein Recht zu einer Revolution durch ein öffentliches Gesetz geben könne, schlechterdings kein Recht zu einer Revolution geben könne. Die Gemeinsamkeit zwischen Erhard und Kant in diesem Punkt ist jedoch bloß negativ. Denn Erhard versteht die Einschränkung der Unmöglichkeit des Rechts zu einer Revolution auf das positive Recht im Falle einer unmoralischen Staatsverfassung im engeren
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Sinn (in welcher nämlich das Volk daran gehindert wird, sich aufzuklären; S. 92) so, daß es unter dieser Bedingung ausgemachterweise ein übergesetzliches, moralisches Recht zu einer Revolution gibt. Kant dagegen versteht die Einschränkung der Unmöglichkeit des Rechts zu einer Revolution auf das positive Recht im Falle einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinne lediglich so, daß es unter dieser Bedingung nicht ausgemachterweise, sondern bloß möglicherweise ein nicht-positives Recht zu einer Revolution gibt. Ein solches Recht hat nicht wie bei Erhard assertorischen, sondern bloß problematischen Charakter. Ebenso die Rechtmäßigkeit einer Revolution vor aller Revolution. Der Unterschied zwischen Erhards und Kants Lehre ist also bloß ein Modalitätsunterschied24. Die Möglichkeit eines übergesetzlichen Rechtes zu einer Revolution kann im Falle einer unmoralischen bzw. nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinn nicht, wie die Rechtspositivisten wollen, ausgeschlossen werden. Ein solches Recht kann aber auch nicht, wie Erhard will, als ein wirkliches, in der Moral vor allem positiven Recht gegebenes bzw. ausgemachtes Recht gedacht werden. Warum nicht? Weil es zur Folge hätte, daß unter bestimmten Bedingungen (nämlich im Falle der Unterdrückung der Freiheit der Feder bzw. der Verhinderung der Selbstaufklärung des Volkes) eine auf den Umsturz einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinn oder, wie Erhard sagen würde, einer unmoralischen Staatsverfassung gerichtete Revolution allein schon dann rechtmäßig wäre, wenn sie lediglich die Beseitigung der bestehenden nichtnaturrechtlichen Verfassung (im engeren Sinn) zum Ziele hätte und es gleichgültig wäre, ob eine naturrechtliche oder eine nichtnaturrechtliche Verfassung an die Stelle der vorhandenen nichtnaturrechtlichen (im engeren Sinn) träte. Es wäre also nach Erhards Behauptung eines moralischen Rechtes zur Revolution (d. h. einer moralischen Rechtmäßigkeit einer Revolution von vornherein) eine auf den Umsturz einer nichtnaturrechtlichen (unmoralischen) Verfassung im engeren Sinn gerichtete Revolution an sich selber rechtmäßig. Das (vereinigte) Volk wäre zwar, wie Erhard will, das Subjekt des Rechts zur Revolution, aber nicht notwendig
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das Subjekt der Revolution. Es könnte auch, wie Erhard nicht will (vgl. S. 91 u. S. 94f.), bloß als Mittel zum Zweck einer Revolution gebraucht, d. h. mißbraucht werden. Dann wäre der Zweck lediglich die Beseitigung des bestehenden nichtrechtlichen Zustandes, aber nicht die Gründung einer naturrechtlichen Verfassung, in welcher das vereinigte Volk selbst der Souverän (und keinem Souverän mehr unterworfen) ist. Wäre also eine Revolution in übergesetzlichem Sinn von vornherein oder an sich selber rechtmäßig, so wäre sie ohne Rücksicht auf den Zweck der Errichtung einer naturrechtlichen Verfassung und damit ohne Rücksicht auf den Endzweck der Herstellung des ewigen Friedens auf Erden rechtmäßig. Die Revolution einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinn wäre also nicht als bloßes Mittel zum Zweck der Errichtung einer naturrechtlichen Verfassung rechtmäßig25. Mit Erhard würde man die conditio sine qua non der Rechtmäßigkeit einer Revolution zugleich zu einer conditio per quam der Rechtmäßigkeit machen26. Mit dem Umsturz einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinn wäre gar nicht notwendig ein Fortschritt zum Besseren verbunden, sondern nur höchst zufälligerweise. Gerade das will ja Erhard selber nicht behaupten27. Wenn er es aber nicht vertreten will, so muß er mit Kant über die Annahme der conditio sine qua non der Rechtmäßigkeit einer Revolution hinaus (d. h. über die Annahme der Unterdrückung der Freiheit der Feder bzw. der Verhinderung der Selbstaufklärung des Volkes hinaus) auch noch allererst die conditio per quam der Rechtmäßigkeit einer Revolution annehmen, nämlich die Einsetzung einer wenigstens im Prinzip naturrechtlichen Verfassung, die dann durch Reformen weiter verbessert werden kann; zumindest die klar erkennbare Tendenz zu einer solchen Einsetzung annehmen (im Falle nämlich des Scheiterns des Umsturzversuches). Wenn Erhard aber mit Kant über die conditio sine qua non der Rechtmäßigkeit einer Revolution hinaus noch eine conditio per quam annehmen muß, so darf er nicht, wie er es doch tut, vor aller Revolution den assertorischen Charakter des Rechts zur Revolution vertreten28. Denn erst durch die Erfüllung der conditio per quam gewinnt nach Kant die Rechtmäßigkeit einer Revolution assertorischen Charakter. Mit der Erfüllung bloß der
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conditio sine qua non der Rechtmäßigkeit ist daher die Rechtmäßigkeit zunächst nur problematisch. Es kommt gar nicht darauf an, daß das (vereinigte) Volk Subjekt des Rechts zur Revolution ist, sondern allein darauf an, daß es Subjekt der Revolution ist. Es muß Subjekt der Revolution sein. Dann besteht keine Möglichkeit, das Volk als Mittel zum Zweck einer Revolution zu gebrauchen, d. h. zu mißbrauchen. Die Revolution selber muß Mittel zum Zweck der Gründung einer naturrechtlichen Verfassung, das Volk als Subjekt der Revolution Selbstzweck sein. Es muß sich selbst zu einem Staat konstituieren (ursprünglicher Sozz'ö/kontrakt, vgl. § 47). Bei Erhard ist die Frage, ob es ein übergesetzliches oder moralisches Recht zu einer Revolution gibt oder nicht. Und unter bestimmten Bedingungen gibt es ein solches Recht. Bei Kant ist dies gar keine Frage. Es gibt überhaupt kein Recht zu einer Revolution. Aber es ist doch noch die Frage, ob eine Revolution ein rechtmäßiges Mittel zum Zwecke der Gründung einer naturrechtlichen Verfassung ist. Dies ist unter bestimmten Bedingungen der Fall. Das setzt aber noch die bloße Möglichkeit eines Rechts zur Revolution bzw. ihr Nichtverbotensein voraus. Erhard macht einerseits keinen Unterschied zwischen Reformation und einer von der Weisheit bewirkten Evolution (vgl. S. 94 mit S. 95 f.), wobei diese Evolution sowohl die Errichtung einer moralischen Staatsverfassung als auch ihre Ausbesserung oder Vervollkommnung umfaßt, und setzt andererseits einer von der Weisheit bewirkten Evolution die Revolution einer nichtnaturrechtlichen (unmoralischen) Verfassung (im engeren Sinne) entgegen; er setzt sie also nicht der Evolution schlechthin entgegen. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß die Revolution einer nichtnaturrechtlichen Verfassung (im engeren Sinn) ein Fall von Evolution überhaupt einer naturrechtlichen Verfassung ist, aber ausgeschlossen, daß sie ein Fall einer von der Weisheit bewirkten Evolution, d. h. ein Fall von Reformen ist. Doch ist es auch nicht ausgemacht., daß die Revolution einer nichtnaturrechtlichen Verfassung (im engeren Sinn) ein Falle einer Evolution überhaupt ist, weil sie eben nicht völlig gleichberechtigt mit einer von der Weisheit bewirkten Evolution (= Reformation), d. h. kein bloßes Mit-
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tel zum Zweck ist, obwohl beide nach Erhard dasselbe bewirken (S. 95 f.). Die Revolution kann nicht völlig gleichberechtigt sein, weil Erhard eben ein ausgemachtes übergesetzliches Recht zur Revolution annimmt. Wie nach Erhard unter bestimmten Bedingungen ein Recht des Volks zur Revolution ausgemacht ist und nach Kant unter bestimmten Bedingungen ein solches Recht bloß problematisch ist, so ist nach Erhard unter diesen Bedingungen die Revolution einer nicht naturrechtlichen Verfassung (im engeren Sinn), weil sie eine Revolution um der Beseitigung einer solchen Verfassung willen ist, möglicherweise kein Übergang zu einer naturrechtlichen Verfassung und nur zufälligerweise ein Fall der Evolution einer solchen Verfassung, nach Kant aber ausgemachterweise ein Übergang und notwendigerweise ein Fall der Evolution. Nach Errichtung einer naturrechtlichen Verfassung ist Evolution immer nur Reformation oder eine von der Weisheit bewirkte Evolution (Evolution im engeren Sinn). Vor Errichtung einer solchen Verfassung kann Evolution überhaupt (Evolution im weiteren Sinn) sowohl eine von der Weisheit bewirkte Evolution (Reformation) als auch Revolution einer nichtnaturrechtlichen Verfassung (im engeren Sinn) sein. Wenn nun die Revolution einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinn (bzw. der bloße Umsturzversuch) lediglich Mittel zum Zweck der Errichtung einer naturrechtlichen Verfassung ist oder wenn die Revolution einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinn (bzw. der bloße Umsturzversuch) ausgemachterweise ein Fall der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung ist, dann ist eine rein moralische Begeisterung der übrigen zuschauenden Menschheit für eine solche Revolution a priori als notwendige Folge denkbar, andernfalls nicht. Wenn aber ein empirisches Beispiel einer solchen Begeisterung gegeben würde, also ein wirklicher Fall von Begeisterung, dann würde damit nicht nur ein Fall des Fortschreitens eines einzelnen Volks zum Besseren gegeben, wobei es fraglich wäre, ob die übrige Menschheit auch zum Besseren fortschritte, sondern es würde zugleich empirisch bewiesen, daß die Menschheit im ganzen im Fortschritt zum Besseren begriffen wäre. Es ließe
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sich ein Fortschritt der Menschengattung zum Besseren sicher vorhersagen, da die Begeisterung des äußeren zuschauenden Publikums selbst schon einen Fortschritt in der Aufklärung der öffentlichen Meinung im Sinne des Rechtsbegriffes darstellte. Die rein moralische Begeisterung des äußeren zuschauenden Publikums im Falle der Französischen Revolution ist nun ein empirisches Beispiel, d. h. der Fall einer wirklichen Begeisterung. Und dieses Beispiel impliziert nicht nur, daß das französische Volk zu einer besseren Staatsverfassung fortgeschritten ist, sondern beweist zugleich auch, daß die Menschheit im ganzen ständig zum Besseren fortschreiten wird, da sich die rein moralische Begeisterung des äußeren zuschauenden Publikums für die Französische Revolution als ein Fortschritt in der Aufklärung der öffentlichen Meinung nicht mehr für alle Zeiten vergessen machen läßt. Kants Lehre von der rein moralischen Begeisterung des äußeren zuschauenden Publikums (zu dem er sich selber zählte) für die Französische Revolution ist also in der Weise mit seiner kritischen Rechtslehre (ab der „Metaphysik der Sitten") und insbesondere mit seiner theoretischen Verwerfung eines Revolutionsrechtes vollkommen kompatibel, daß die Französische Revolution als Beispiel einer Revolution einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im engeren Sinn verstanden wird. Das bedeutet dann, das Kants Aussage, der Enthusiasmus des äußeren zuschauenden Publikums für die Französische Revolution sei, wie schon zitiert, das Phänomen nicht einer Revolution, sondern wie Herr Erhard es ausdrücke, der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, ein Paradoxon impliziert, d. h. einen bloß scheinbaren, aber keinen wirklichen Widerspruch. Das Paradoxon sähe folgendermaßen aus: die Französische Revolution ist das Beispiel einer Revolution einer nichtnaturrechtlichen Verfassung (im engeren Sinn) und diese Revolution ist zugleich ein Fall der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, so daß ich verkürzt sagen kann: die Französische Revolution ist eine Revolution und doch keine, ohne daß darin ein Widerspruch liegt. Sie ist nämlich eine Revolution einer nichtnaturrechtlichen Verfassung (im engeren Sinn), aber keine Revolution einer naturrechtlichen Verfassung. Diese Paradoxie gründet sich darauf, daß zwar die Begriffe „Revolution
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einer naturrechtlichen Verfassung" und „Evolution einer naturrechtlichen Verfassung" einander ausschließende Begriffe sind, aber nicht die Begriffe „Revolution einer nichtnaturrechtlichen Verfassung" und „Evolution einer naturrechtlichen Verfassung". Damit haben wir, wie ich meine, das eingangs gestellte Problem aufgelöst29. Anmerkungen 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967. 2. H. S. Reiss, Kant and the Right of Rebellion (Journal of the History of Ideas, Bd. 17,1956) geht von der Feststellung aus, Kant habe sich einer merkwürdigen Diskrepanz schuldig gemacht. Einerseits sei er ein Freund der Amerikanischen und Französischen Revolution, andererseits schlössen seine Prinzipien der Politik ein Recht zu rebellieren aus. — L. W. Beck stellt in seinem Aufsatz „Kant and the Right of Revolution" (Journal of the History of Ideas, Bd. 32, 1971) die Frage: „How could a man of Kant's probity sympathize with revolutionists and yet deny the right and justification of revolution?" (S.411). 3. D. Henrich sagt, was die Frage betreffe, wie sich Kants Begeisterung für die Französische Revolution und seine theoretische Verwerfung eines Rechtes zur Revolution zusammenreimen ließen, so habe sich Kant eine elegante Lösung ausgedacht, seinen Kopf mit seinem Herzen zu vereinigen, indem er nämlich erklärt habe, daß die Französische Revolution ihren Namen zu Unrecht trage, weil sie gar keine Revolution gewesen sei (S. 32). - Dieser Versuch, Kants Rechtslehre und seine Begeisterung für die Französische Revolution auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, krankt aber schon an einem philologischen Mangel. Wenn es wirklich Kants Lösung wäre, so dürfte man erwarten, daß er den Ausdruck „Revolution" auch bewußt meidet. Davon kann aber gar keine Rede sein. Siehe Kants Schrift „Der Streit der Fakultäten", Abschnitt 2, Ziffer 6. — Auch L. W. Beck ist in seinem unter 2) zitierten Aufsatz von Henrichs Lösung nicht überzeugt. Er sagt dazu: „this is explaining away one paradox by means of a greater one" (S. 417). Zu Becks eigener Lösung siehe Anmerkung 25). 4. Hamburg: F. Meiner 1959. S. XV-XXIV. - Kant zitiere ich unter Modernisierung der Orthographie nach der Akademie-Ausgabe seiner Schriften. Die römische Ziffer bezeichnet den jeweiligen Band, die arabischen Ziffern geben die jeweilige Seite an. 5. Erschien im Juliheft des Jahrgangs 1796 der Zeitschrift „Deutschland". 6. Ich zitiere nach der 1970 (2. Auflage) im C. Hanser Verlag München erschienenen Ausgabe von H. G. Haasis. — Die Originalausgabe erschien anonym zur Leipziger Ostermesse und wurde dort sogleich beschlagnahmt, überdies in Kursachsen, Bayern und Wien verboten (a.a.O., S. 209). 7. In der einschlägigen, Kants Behandlung des Revolutionsrechtes betreffenden Literatur finde ich die bezeichnete Entwicklung nicht in Erwägung gezogen
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und daher, wie sich zeigen wird, auch die Unmöglichkeit eines Revolutionsrechtes nicht adäquat dargestellt. - D. Henrich glaubt zwar eine Entwicklung der kantischen Lehre vom Widerstandsrecht nachweisen zu können, aber vor der Schrift über Theorie und Praxis von / 793 (vgl. S. 27f.). Er läßt aber Kants endgültige, angeblich durch völlige Immobilität (S. 29) gekennzeichnete Rechtstheorie mit der eben genannten Gemeinspruch-Abhandlung von 1793 beginnen. Dementsprechend wählt er seine Belegstellen auch ohne Unterschied aus Kants rechtsphilosophichen Schriften von der Gemeinspruch-Abhandlung (1793) bis zum „Streit der Fakultäten" (1798). Elemente des Naturrechts, Berlin und Frankfurt/Main 1969. Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf H. Kelsen, der in seiner „Reinen Rechtslehre", 2. Auflage, Wien 1960, sagt, jeder beliebige Inhalt könne Recht sein: „Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein" (S. 201). Genau das, was der Rechtspositivismus als Legitimation einer Revolution gelten läßt, behauptet z. B. R. Spaemann in seinem Beitrag „Moral und Gewalt" - in: M. Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Band I, Freiburg 1972, S. 222-233; und in Z. Batscha (Hrsg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt/Main 1976, stw 171, S. 347-358 - von Kants Lehre: „Es gibt für Kant nur eine solche Legitimation, und zwar eine nachträgliche: den Sieg der Revolution . . . die revolutionäre Gewalt erweist sich eben dadurch, daß sie siegreich war, und nur dadurch, nachträglich als legitim" (S. 353). Wenn das Kants Lehre wäre, so würde, wenn man sie auf den Fall des 20. Juli 1944 anwendet, unvermeidlich folgen, daß der Widerstand gegen Hitler und der Versuch des Umsturzes unmißverständlich zu verwerfen ist. Er wäre nicht einmal auf Grund eines Erfolges zu rechtfertigen. — Expressis verbis stufen z. B. W. Haensel und I. Fetscher Kant als Rechtspositivisten ein. W. Haensel (Kants Lehre vom Widerstandsrecht. Ein Beitrag zur Systematik der Kantischen Rechtsphilosophie. Berlin 1926. Kant-Studien Ergänzungshefte Nr. 60) sagt, der Grund der Ablehnung eines natürlichen Widerstandsrechtes durch Kant liege darin, daß Kant die alleinige reale Geltung des positiven Rechtes vertreten habe (S. 61 f.). — Und I. Fetscher (Immanuel Kant und die Französische Revolution. In: Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, stw 171) behauptet, Kant kenne keine naturrechtliche Legitimierung der Revolution, sein Rechtspositivismus hindere ihn daran (S. 276). „Von dem Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht", vgl. insbesondere VIII, 303 f. Vgl. z. B. den „Beschluß" im „Anhang erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre"; VI, 370ff.Kant sagt hier u. a.: „Unbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der an sich unvereinigt, mithin gesetzlos ist) unter einem souveränen (alle durch ein Gesetz vereinigenden) Willen ist Tat, die nur durch Bemächtigung der obersten Gewalt anheben kann und so zuerst ein öffentliches Recht begründet" (VI, 372). Hiernach kann der Unterwerfungsvertrag nicht so gedacht werden, daß das Volk ursprünglich sich selbst einem obersten Gesetzgeber (Staatsoberhaupt)
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unterwirft. Denn dann müßte angenommen werden, daß es schon vor der Unterwerfung unter die oberste Gewalt einen vereinigten Willen hätte. Alsdann müßte aber die Unterwerfung entweder als bedingt oder als den vereinigten Willen des Volkes aufhebend gedacht werden, was beides, wie oben (S. 6ff.) gezeigt worden ist, absurd wäre. Folglich kann der Unterwerfungsvertrag nur so gedacht werden, daß das Volk ursprünglich von einem obersten Gesetzgeber unterworfen wird, aber dieser Unterwerfung doch prinzipiell muß zustimmen können, d. h. es muß eine unbedingte Unterwerfung unter einen allgemein-gesetzgebenden Willen sein, dem notwendig die Freiheit der Feder als das einzige Recht des Volks gegen seinen Herrscher korrespondiert. Man erkennt hier deutlich die Abhängigkeit Erhards von Kants Aufsatz: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" (1784). Die transzendentale Formel des öffentlichen Rechts setzt einen transzendentalen Begriff vom öffentlichen Recht voraus, d. h. einen Begriff vom öffentlichen Recht überhaupt. Dies ist der Begriff von einer dem Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht gemeinsamen Form der Publizität, der nicht nur eine Abstraktion von aller Materie des öffentlichen Rechtes, d. h. von allem Empirischen, sondern zugleich auch von jedem apriorischen Formunterschied voraussetzt und dadurch die transzendentale Formel auf alle drei Fälle des öffentlichen Rechtes unterschiedslos anwendbar macht. Ja, Kant geht sogar noch weiter. Die Abstraktion von allem Empirischen ist nämlich zugleich eine Abstraktion von der Notwendigkeit des Zwanges (VIII, 381); aber nicht nur von der Notwendigkeit einer öffentlichen Zwangsgesetzgebung, sondern sogar von der Notwendigkeit der Einerleiheit von Recht und Befugnis zu zwingen. Nur dann läßt sich die transzendentale Formel des öffentlichen Rechtes auch als ein ethisches Prinzip verstehen und ursprünglich eine Beurteilung der Maximen von Handlungen (und nicht bloß der Handlungen) ins Auge fassen. — Nach Kant in der Abhandlungen über den ewigen Frieden kann sich der Mensch z. B. auch als Staatsbürger einer übersinnlichen Welt denken (VIII, 350). Die Gedankenstriche habe ich selbst zum Zwecke der optischen Verdeutlichung der Aussage des allgemeinen Rechtsprinzips eingefügt. Dadurch wird es überhaupt erst möglich, eine Analogie zur Möglichkeit freier Bewegungen von Körpern unter dem Gesetze der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung herzustellen. Denn in diesem Falle kann ein Körper A nur mit Bezug auf den Zustand eines anderen Körpers B als handelnd (aktiv) gedacht werden, nicht mit Bezug auf seinen eigenen Zustand; aber nicht nur das, der Körper A kann auch nicht als den Zustand des Körpers B verändernd gedacht werden, ohne den Körper B als den Zustand des Körpers A in gleicher Weise verändernd zu denken. Der skizzierte apriorische, lückenlose Zusammenhang zwischen dem kategorischen Imperativ als einem pflichtgebietenden Satz und dem strikten Recht läßt sich noch weiter entwickeln. Der nächste Schritt wäre die Aufstellung des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft in § 2. Eine ausführlichere Untersuchung des skizzierten Zusammenhanges werde ich an anderer Stelle liefern.
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18. Vergleichbar mit dem Recht auf Aufklärung als dem kollektiven Menschenrecht des Volks bei Erhard (S. 92). 19. Kant unterscheidet die republikanische Staatsform als eine naturrechtliche Staatsverfassung im engeren und endgültigen Sinn noch von der republikanischen Regierungsart als einer naturrechtlichen Verfassung im weiteren und vorläufigen Sinn. In letzterem Falle sind Repräsentanten der den Gesetzen Unterworfenen vereinigt an der Gesetzgebung nur mitbeteiligt, d. h. mitgesetzgebend. Es gibt nicht bloß Untertanen, sondern aktive und passive Staatsbürger. Die Repräsentation des vereinigten Willens des Volkes ist zwar eine unerläßliche, aber noch keine zureichende Bedingung der Gesetzgebung. Die Freiheit der Feder ist nicht mehr das einzige Palladium der Volksrechte. Auch die Volksvertretung (das Parlament) als mitgesetzgebende Körperschaft ist ein solches Palladium. Das Recht des Volks gegen seinen Herrscher ist damit auch in der Organisation des Staates selbst verankert. Alle staatliche Zwangsgewalt ist zwar noch nicht ihrem Wesen, aber doch ihrer Wirkung nach bloße Rechtssicherungsgewalt. Im Falle der republikanischen Staatsform dagegen sind die zur Gesetzgebung vereinigten Repräsentanten der den Gesetzen Unterworfenen nicht mehr nur Mitgesetzgeber, auf die das Staatsoberhaupt Rücksicht nehmen muß, sondern repräsentieren überdies selbst den Souverän. Die Repräsentation des vereinigten Willens des Volkes ist dann nicht mehr nur eine unerläßliche, sondern zugleich auch die zureichende Bedingung der Gesetzgebung. Das durch seine Repräsentanten vereinigte Volk ist selbst der Souverän, nicht mehr bloß mitgesetzgebend, sondern sogar (mittelbar) selbst gesetzgebend. Die Idee der Mitgesetzgebung hat jetzt eine andere Bedeutung: jeder der Repräsentierten muß jetzt unmittelbar Mitgesetzgeber sein können, nicht erst qua Repräsentant (aktiver Staatsbürger), zu dem jeder muß aufsteigen können. In einer solchen republikanischen Staatsform ist dann das Gesetz selbstherrschend und hängt an keiner besonderen Person mehr. In diesem Zustand ist auch kein Recht des Volks mehr gegen seinen Herrscher vonnöten. Denn das Volk ist wahrhaft frei. Die Gesetze sind ihrem Ursprung und Wesen nach Freiheitsgesetze. Und alle staatliche Zwangsgewalt ist jetzt sogar ihrem Wesen nach bloße Rechtssicherungsgewalt. 20. Eine grundsätzliche Gemeinsamkeit zwischen einer nichtnaturrechtlichen Verfassung im weiteren und einer solchen im engeren Sinn im Unterschied zu einer naturrechtlichen Verfassung besteht darin, daß die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß Gesetze und Dekrete dem „inneren Moralischen" (VI, 371) widerstreiten. In diesem Fall hat der Untertan ein Recht auf Ungehorsam oder passiven Widerstand. — Darunter, was dem „inneren Moralischen" widerstreitet, ist mehr zu verstehen als darunter, was der Menschheit in der Person des Volkes widerstreitet. Ein kantisches Beispiel des letzteren Falles wäre der Beschluß, in Religionsangelegenheiten für alle Zeiten Aufklärung zu verbieten (VI, 327; vgl. Gemeinspruch-Abhandlung, 2. Teil, VIII, 305; und den Aufklärungsaufsatz, VIII, 39). — Wenn man an die Verhältnisse im Dritten Reich denkt, so wären die sogenannten Nürnberger Gesetze vergleichbare Beispiele der Verletzung der Menschheit in der Person des Volkes: das Gesetz zur Wiederherstellung
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des Berufsbeamtentums vom 7. 4. 1933 mit dem berüchtigten Arierparagraphen, das Reichsbürgergesetz und das Blutschutzgesetz, beide vom 15. 9. 1935. - In Anlehnung an eine frühere, zeitlich vor der endgültigen Rechtslehre liegenden Reflexion wird man etwa den (vgl. den späteren Zusatz zu Reflexion 8051, vielleicht aus den Jahren 1785—88) „Zwang zu unnatürlichen Sünden: Meuchelmord etc. etc." als ein einfaches kantisches Beispiel für das nennen, was dem „inneren Moralischen" widerstreitet. Bezogen auf die Verhältnisse im Dritten Reich wäre etwa der Befehl zur Judenvernichtung und zur Mitwirkung daran ein Beispiel. Aber mit dem Hinweis darauf, daß im Dritten Reich Gesetze der Menschheit in der Person des Volkes und Befehle dem „inneren Moralischen" widersprochen haben, hat man, wie ich meine, noch gar nicht das Wesentliche dieses Staates getroffen, nämlich nicht, daß er eine nichtnaturrechtliche Verfassung im engeren Sinn bzw. ein nichtrechtlicher Zustand gewesen ist. Man darf nicht vergessen, auch darauf hinzuweisen, daß z. B. durch die Gleichschaltung der Justiz die Unabhängigkeit der Rechtsprechung aufgehoben und durch die Existenz der Gestapo u. ä. Einrichtungen zumindest de facto sogar das gegeben war, was Kant „Verbot der Publizität (VII, 89) nennt, wodurch der Fortschritt eines Volks zum Besseren verhindert wird, „selbst in dem, was das Mindeste seiner Forderung, nämlich bloß sein natürliches Recht angeht" (VII, 89). Man kann daher auch nicht mit Henrich gegen Kant einwenden, es sei ihm doch wohl möglich gewesen, „sich Verhältnisse vorzustellen, die für uns Wirklichkeit waren. Wer in ihnen seine Hoffnung auf passiven Widerstand allein setzt, muß bereit sein, Millionen zum Martyrium zu ermutigen" (S. 30). Das heißt den Unterschied zwischen einer nichtnaturrechtlichen Staatsverfassung im weiteren und einer solchen im engeren Sinn verkennen (s.o. S. 23f.; s.u. Anmerkung 29). Oder in welchem, um mit Erhard zu sprechen, das Volk gehindert wird, sich aufzuklären (S. 92) bzw. in der Stupidität eines Lasttiers (S. 92 f.) gehalten wird. Siehe Anmerkung 17. Erhard sagt, das äußere Recht sei wider jede Revolution (S. 92; vgl. S. 41). Das beweist einmal mehr, daß man in der kritischen Philosophie Kants mit einem Denken in Alternativen und kontradiktorischen Gegensätzen nicht auskommt. Henrich wirft Kant vor, daß er sogar eine Revolution aus sittlichen Motiven, „die sich in Notlagen über alle Rechtsgründe hinwegsetzen" (S. 31), nicht habe anerkennen wollen. Der Akt der Verteidigung des Menschenrechts anderer durch Widerstand gegen einen Rechtsbruch könne, wenn er auch durch Rechte nicht zu vertreten sei, „dennoch eine sittliche Forderung erfüllen und sittliche Größe haben" (S. 31). Henrich beruft sich dabei auf J. B. Erhard („Über das Recht des Volks zu einer Revolution", S. 69). Keine Theorie könne befriedigen, die nicht wenigstens dies zugestehe. Kants Theorie sei dazu nicht schlechthin außerstande. - Wie wir jedoch gezeigt zu haben glauben, darf man die Position Erhards gar nicht erst in die kantische Theorie hineinzudeuten versuchen, da Kants endgültige Position in Sachen Wider-
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stands- und Revolutionsrecht gerade eine Kritik an Erhard (und an sich selber darstellt). 25. Man erkennt hier unschwer den Ansatzpunkt zu einer ideologischen Konzeption der Geschichte. Diesen Aspekt hat interessanterweise auch L. W. Beck in seinem zitierten Aufsatz (siehe Anmerkung 1) zusammen mit Kants theoretischer Verwerfung eines Rechts zur Revolution ins Auge gefaßt. Beck gründet nämlich seine Lösung des (eigentlich sekundären) Problems „How could a man of Kant's probity sympathize with revolutionists and yet deny the right and justification of revolution?" (411) auf eine Unterscheidung zwischen Kants Formalismus auf der einen Seite und seiner Ideologischen Konzeption der Geschichte auf der anderen Seite. Der Formalismus impliziere, „that a legal right to rebel is self-contradictory and a moral right to rebel is unjustifiable" (417). Kant mache zwar einen Unterschied zwischen einer Revolution zum Besseren und einer Revolution zum Schlechteren. Als Revolution seien aber beide unterschiedlos zu verdammen (418). An die Stelle von Revolution setze Kant vielmehr Evolution oder Reform (414f.). Kants teleologische Konzeption der Geschichte dagegen, womit er ein Vorläufer von Hegels Definition der Geschichte als des Fortschritts des Bewußtseins der Freiheit sei (421), gebe den nicht-rechtswissenschaftlichen Grund (non-jurisprudential ground, (413) und damit den nicht-formalistischeiTGrund für Kants Enthusiasmus für die Französische Revolution ab (421): „. . . from this point of view alone can Kant justify comparing a state before and after a revolution and thus pronounce a moral judgment on a revolution unjustified a priori on grounds of positive law and on the natural law that authority must be obeyed" (417). Beck spielt damit Kants Ideologische Konzeption der Geschichte gegen Kants Formalismus aus. Und nachdem er dies getan hat, stellt er eine Inkonsistenz in Kants „conception of natural law" fest (419f.). Diese wiederum führt in einen Konflikt zweier Pflichten, einer Pflicht von unvollkommener Verbindlichkeit mit einer Pflicht von vollkommener Verbindlichkeit (420); (obwohl doch Kant ausdrücklich lehrt, daß eine Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar sei: „Einleitung in die Metaphysik der Sitten IV"; VI, 224). Beck kommt daher zu dem Ergebnis: „Kant's enthusiasm for the French Revolution is based upon his teleological conception of history . . . That the final purpose of the world is moral, not eudaemonistic, makes it possible for Kant to have a moral enthusiasm for the Revolution which his formalistic moral system does not justify . . . some inconsistency remains because Kantian ethics is not adequate to resolve the painful problems of conflicting duties" (42If.). Das dieser Interpretation ist die Ausspielung einer teleologischen Konzeption der Geschichte gegen Kants Formalismus auf dem Felde der praktischen Philosophie, als ob die teleologische Konzeption vom Formalismus unabhängig wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Eine mögliche teleologische Konzeption wird überhaupt erst durch den Formalismus des Rechtsbegriffes a priori eingeführt. Wenn also Kants teleologische Konzeption der Geschichte den alleinigen Grund abgeben soll für Kants Enthusiasmus für die Französische Revolution, dann muß dieser Grund schon im Formalismus des Rechtsbegriffes seine Wurzel haben.
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26. Erhard setzt im Falle einer nichtnaturrechtlichen (unmoralischen) Staatsverfassung gleich: „Das Volk tut recht, sich zu erheben" und „Das Volk hat ein Recht zur Revolution" (S. 92f.). 27. Siehe S. 91 f.; S. 94; S. 95 u. S. 96. 28. Erhard hätte die beiden Sätze „Das Volk tut recht, sich zu erheben" und „Das Volk hat ein Recht zur Revolution" nicht gleichsetzen dürfen. 29. Nach der Auflösung dieses Problems kann es auch keinem Zweifel mehr unterliegen, daß nach Kant auch der Umsturzversuch des 20. Juli 1944 in einem übergesetzlichen (ideologischen) Sinne rechtmäßig war, wenn man erstens gelten läßt, woran wohl niemand zweifelt, daß dieser Umsturzversuch eine grundsätzlich nichtnaturrechtliche Verfassung im engeren Sinn, oder, um ein Bonmot von Erhard zu verwenden, einen „Versuch in der Viehzucht (a. a. O., S. 208) betraf, und wenn man zweitens annimmt, daß er, wenn auch erfolglos, ein Versuch war, eine im Prinzip naturrechtliche Verfassung an die Stelle der umzustürzenden zu setzen.
BERND LUDWIG
Der Platz des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft innerhalb der Paragraphen 1—6 der kantischen Rechtslehre 1.
1949 hat F. Tenbruck1 daraufhingewiesen, daß sich im § 6 der kantischen „Metaphysische(n) Anfangsgründe der Rechtslehre" ein Einschub (§ 64—§ 6g) befindet, der sowohl der Sache nach als auch wegen des Fehlens von unmittelbaren Anknüpfungen an Vorangehendes wie Folgendes offensichtlich nicht dorthin gehört. Dieser Feststellung ist umstandslos zuzustimmen. Allerdings schließt sich im Gegensatz zur Auffassung Tenbrucks - der es als zusätzlichen Beweis der Überflüssigkeit des genannten Abschnittes betrachtet — der verbleibende Text des § 6 doch nicht zufriedenstellend zusammen: eine vor dem Einschub (in § 63) angekündigte Auflösung einer „Aufgabe der Vernunft", d. i. zu zeigen, daß ein „Satz a priori" gültig sei, wird im restlichen § 6 nicht mehr geliefert. Es sollte nämlich der „Satz von der Möglichkeit des Besitzes einer Sache außer mir", der die „Voraussetzung einer possessio noumenon" (§ 63) bildet, bewiesen werden. Die in der Überschrift von § 6 angekündigte Deduktion (die im § 610 — wie es in dessen ersten Satz angesagt wird — stattfindet) ist die Deduktion eines Begriffs (d. i. nicht eines Grundsatzes), nämlich des Begriffs der possessio noumenon aus dem in § 63 angekündigten (Grund-)„Satz a priori". Der Beweis dieser letztgenannten „Voraussetzung" selbst wiederum ist es — wenn man die Aussagen aus § 69 auf § 63 bezieht —, der als „Aufgabe der Vernunft" auf dem dort beschriebenen Wege der Abstraktion von allen empirischen Bedingungen geführt werden soll. An welcher Stelle des § 6 wird dieses Verfahren denn nun — nachdem oder bevor es beschrieben wurde - angewandt! In § 610 offen-
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sichtlich nicht! Der angekündigte Beweis der Voraussetzung der Deduktion wird in § 6 überhaupt nicht geliefert, — warum auch, denn die Voraussetzung aus der in § 610 deduziert wird ist nachdrücklich das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft, und das wird in § 6 der Druckfassung nicht bewiesen, sondern nur bei Gelegenheit seiner Verwendung zitiert. Die vermeintliche „Aufgabe der Vernunft" erweist sich hier bestenfalls als eine der „reproduktiven Einbildungskraft": das Vergegenwärtigen des schon bekannten § 22. In § 69,10 wird also - außer einer Erläuterung des Unterschiedes von theoretischer und praktischer Beweisführung und der Wiederholung der Aussage des § 2 sowie einer aus dem § 5 — nur eine „unmittelbare Folge" aus dem Postulat gezogen. — Wo ist da überhaupt noch Platz für eine Leistung der Vernunft! 2.
Wenden wir uns den §§3—6 der Rechtslehre zu, stellen wir fest, daß vom Postulat, welches im § 2 aufgestellt wurde, bis zur „Tenbruckschen Zäsur" keine Rede mehr ist - ein Sachverhalt, der nicht zu verwundern brauchte, wenn nicht im § 5 ganz ausdrücklich so formuliert würde, als sei das Postulat noch nicht vorhanden: „Also muß zufolge des § 4 ein intellektueller Besitz als möglich vorausgesetzt werden, wenn (! B. L.) es ein äußeres Mein und Dein geben soll" — aber das soll es doch geben, wird der Leser zu sich selber sagen, wenn er den § 2 schon kennt; der Beweis des intelligiblen Besitzes ist also fertig, denn mit diesem hypothetischen Urteil und der in § 2 gesicherten Notwendigkeit seiner Prämisse ist das Resultat restlos erreicht, welches doch erst im § 6 erzielt werden soll! Was bleibt aus synthetischen Vernunftgründen in § 6 noch zu beweisen? — Gar nichts, warum sollte es denn auch, wo doch in § 6 (siehe unter 1) in der Tat auch nichts dergleichen mehr bewiesen wird. 3. Da nun in den §§1-6 der einzige Ort an dem die praktische Vernunft explizit in die Beweisführung eingreift der § 2 (das
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Postulat) ist, kann man — ohne den Anspruch zu stellen, dabei gleich ernst genommen zu werden — einfach aufs Geratewohl versuchen, die (falsche) Textpassage im § 6 durch eine passendere zu ersetzen (man schiebe das Postulat dorthin), um die praktische Vernunft am angekündigten Ort auch wirklich in Aktion treten zu lassen. Es wird dann sofort klar, warum — wenn der „§ 2" in der Anlage des Buches nach hinten rückt — im § 5 die Deduktion (von der Kant selbst ja behauptet, sie geschehe in § 6) noch nicht vollendet ist; des weiteren ist nun im § 6 der angekündigte Beweis auch wirklich anzutreffen: der Beweis eines synthetischen Satzes a priori. So findet dann auch die Abfolge der drei Fragen im ersten Absatz von § 6 eine schlüssige Erklärung: Die Frage „Wie ist ein äußeres Mein und Dein möglich?" wird nach § 3 beantwortet, indem die Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes aufgewiesen wird, durch den der Gebrauch, den ein Anderer von einer Sache außer mir macht, zu einer Läsion meiner Person werden kann. Die erste Frage löst sich also auf in die nach der Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes. Diese zweite Frage wiederum ist nach § 4 positiv beantwortet, „wenn es ein äußeres Mein und Dein geben soll". Dieses letztere kann nur ein synthetischer Rechtssatz a priori fordern, und die positive Antwort auf die dritte Frage nach dessen Möglichkeit ist die noch zu beweisende „Voraussetzung a priori der praktischen Vernunft" (§ 2), an der letztendlich alles hängt: das Postulat3. Hinzufügen ist vor allen Dingen nochmals, daß in den §§ 8—63 in der Tat nirgends ein Argumentationsschritt von der Existenz eines (nun fehlenden) Postulats als vorangehenden abhängig ist — selbst der Name des Postulats taucht nicht auf —, so daß der Umstellung allein von daher nichts im Wege steht. 4.
Selbst wenn die bisherigen Überlegungen auch nur zu der Vermutung Anlaß gäben, daß die Versetzung des Postulats in den § 6 bestimmten Intentionen des Autors gemäß ist, so ergibt sich
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nun allerdings aus dem Zusammenpassen des letzten Satzes aus § 2 mit dem nachfolgenden 9. Absatz im § 6 die Evidenz, daß das 2. Textstück (§ 69) auch wirklich mit Blick auf das erstere (§ 23) niedergeschrieben worden ist4: „Die Vernunft will, daß dieses (das Postulat B. L.) als Grundsatz gelte, und zwar als praktische Vernunft, die sich durch dieses ihr Postulat a priori erweitert. In einem theoretischen Grundsatze a priori müßte nämlich (zufolge der Kritik der reinen Vernunft) dem gegebenen Begriff eine Anschauung a priori untergelegt, mithin etwas zu dem Begriffe des Gegenstandes hinzugetan werden; allein in diesem praktischen5 wird umgekehrt verfahren, und alle Bedingungen der Anschauung, die den empirischen Besitz begründen müssen weggeschafft (. ..) werden . . .". Auch der Anfang von § 2 fügt sich problemlos an die vorangegangene Passage des § 63 an: in ihm (§2) hat die Vernunft ihre „Aufgabe", nämlich das Beweismittel (den Deduktionsgrund) für die Deduktion des Begriffs eines intelligiblen Besitzes zu liefern, gelöst: einen (Grund)-„Satz a priori" d. i. das Postulat (vgl. Anm. 2, 3). Dieses wurde in § 63 als ein „sich über den Begriff des empirischen Besitzes erweiternder Satz a priori" angekündigt und in § 23 sowie in § 69 wird dann betont, daß es als „Grundsatz der Vernunft" diese selbst (§ 23) resp. den Begriff des empirischen Besitzes (§ 69) erweitert habe. Außer an diesen drei Stellen, die das Postulat in der umgestellten Fassung geradezu umklammern, ist in den §§1—6 von einer Erweiterung nicht die Rede. Es ist nun wohl zumindest soviel festzuhalten: zum Zeitpunkt der Anfertigung (d. i. des Aufschreibens) des Manuskripts der §§1—6 hat das Postulat seinen Platz im § 6 gehabt — sowohl die globale Stringenz der Argumentation (vgl. unter l, 2, 3) als auch die lokalen Anknüpfungen der Textpassagen aneinander (4) zeigen das unabweisbar6.
5. Auf welche Weise dann der Drucktext aus diesem Manuskript hervorgegangen ist, wollen wir offen lassen. Vielleicht war es
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Kant selbst7, der das Postulat von seinem ursprünglichen Ort entfernte, oder aber es hat ein Anderer8 in den Text eingegriffen. Im ersten Falle gäbe die Interpretationsgeschichte dem Autor wohl Unrecht. Die Umstellung des Postulats9 hat es meines Erachtens in der Tat bis auf den heutigen Tag10 verunmöglicht, allein selbst nur dessen Beweis bloß mit den Mitteln, der der Text der MdS bietet, authentisch d. h. mit dem Beweistext konform zu rekonstruieren. Eines kann man aber sicherlich nicht mehr bestreiten: der „dunkle, schwierige und an manchen Stellen Stellen verdorbene Text der Druckschrift"11 hatte — zumindest im ersten Hauptstück des Privatrechts — eine Version zum Grunde liegen, die ihn als alles andere als das Produkt des vergreisenden Kant ausweist. Daß sich durch die in der Textkorrektur wiederhergestellten Bezüge12 in der Tat eine kantische Besitzlehre ergibt, die an Stringenz und Nichtangewiesenheit auf externe Quellen zu ihrer Rekonstruktion zumindest alle bisherigen Produkte der Versuche ihrer Deutung bei weitem übertrifft und die Besitztheorie - trotz verbleibender Mängel — zu einem Glanzstück des späten Kant (als auch der Rechtstheorietradition, in der sie sich befindet) macht, werde ich im Rahmen einer anderen Arbeit zeigen.
Als Anhang füge ich eine Version des umgestellten Textes (§§ 1—6) an, die durch geringstmögliche Änderungen aus der ursprünglichen Druckfassung hervorgeht: 1. Verschieben des Postulats, 2. Aufteilen des § l in § l und § 2, dem zumindest der Sache nach nichts im Wege steht, und das den Erhalt der Paragrapheneinteilung ermöglicht — sicherlich nicht mehr als eine Geschmackssache, 3. Auslassen von § 64-g, 4. In § 3 setze ich zur Herstellung der Lesbarkeit ein „der andere", die Klammern und (mit Natorp—Vorländer) ein „es" ein13.
Der allgemeinen Rechtslehre Erster Theil.
Das Privatrecht vom äußeren Mein und Dein überhaupt Erstes Hauptstück. Von der Art etwas Äußeres als das Seine zu haben.
§1Das rechtlich Meine (meum iuris) ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein Anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädiren würde. Die subjective Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs überhaupt ist der Besitz. §2.
Etwas Äußeres aber würde nur dann das Meine sein, wenn ich annehmen darf, es sei möglich, daß ich durch den Gebrauch, den ein anderer von einer Sache macht, in deren Besitz ich doch nicht bin, gleichwohl doch lädirt werden könne. — Also widerspricht es sich selbst, etwas Äußeres als das Seine zu haben, wenn der Begriff des Besitzes nicht einer verschiedenen Bedeutung, nämlich des s i n n l i c h e n und des i n t e l l i g i b l e n Besitzes, fähig wäre, und unter dem einen der physische,unter dem ändern aber ein bloß rechtlicher Besitz ebendesselben Gegenstandes verstanden werden könnte. Der Ausdruck: ein Gegenstand ist außer mir, kann aber entweder so viel bedeuten, als: er ist ein nur von mir (dem Subject) u n t e r s c h i e d e n e r , oder auch ein in einer anderen Stelle (positus) im Raum oder in der Zeit befindlicher Gegen-
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stand. Nur in der ersteren Bedeutung genommen, kann der Besitz als Vernunftbesitz gedacht werden; in der zweiten aber würde er ein empirischer heißen müssen. — Ein i n t e l l i g i b l e r Besitz (wenn ein solcher möglich ist) ist ein Besitz ohne I n h a b u n g (detentio).
§3. Im Besitze eines Gegenstandes muß derjenige sein, der eine Sache als das Seine zu haben behaupten will; denn wäre er nicht in demselben: so könnte er nicht durch den Gebrauch, den der andere ohne seine Einwilligung davon macht, lädirt werden: weil, wenn der andere diesen Gegenstand (etwas außer ihm, was mit ihm gar nicht rechtlich verbunden ist) afficirt, es ihn selbst (das Subject) nicht afficiren und ihm unrecht thun könnte. §4. Exposition des B e g r i f f s vom äußeren Mein und Dein.
Der äußeren Gegenstände meiner Willkür können nur sein: 1) eine (körperliche) Sache außer mir; 2) die W i l l k ü r eines anderen zu einer bestimmten That (praestatio); 3) der Z u s t a n d eines Anderen in Verhältniß auf mich; nach den Kategorien der Substanz, Causalitätund Gemeinschaft zwischen mir und äußeren Gegenständen nach Freiheitsgesetzen, a) Ich kann einen Gegenstand im R ä u m e (eine körperliche Sache) nicht mein nennen, außer wenn, obgleich ich nicht im physischen Besitz desselben bin, ich dennoch in einem anderen wirklichen (also nicht physischen) Besitz desselben zu sein behaupten darf. - So werde ich einen Apfel nicht darum mein nennen, weil ich ihn in meiner Hand habe (physisch besitze), sondern nur, wenn ich sagen kann: ich besitze ihn, ob ich ihn gleich aus meiner Hand, wohin es auch sei, gelegt habe; imgleichen werde ich von dem Boden, auf den ich mich gelagert habe, nicht sagen können, er sei darum mein; sondern nur, wenn ich behaupten darf, er sei immer noch in meinem Besitz, ob ich gleich diesen Platz verlassen habe. Denn der, welcher mir im erstem Falle (des empirischen Besitzes)
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den Apfel aus der Hand winden, oder mich von meiner Lagerstätte wegschleppen wollte, würde mich zwar freilich in Ansehung des i n n e r e n Meinen (der Freiheit), aber nicht des äußeren Meinen lädiren, wenn ich nicht auch ohne Inhabung mich im Besitz des Gegenstandes zu sein behaupten könnte; ich könnte also diese Gegenstände (den Apfel und das Lager) auch nicht mein nennen. b) Ich kann die L e i s t u n g von etwas durch die Willkür des Ändern nicht mein nennen, wenn ich bloß sagen kann, sie sei mit seinem Versprechen zugleich (pactum re initum) in meinen Besitz gekommen, sondern nur, wenn ich behaupten darf, ich bin im Besitz der Willkür des Ändern (diesen zur Leistung zu bestimmen), obgleich die Zeit der Leistung noch erst kommen soll; das Versprechen des letzteren gehört demnach zur Habe und Gut (obligatio activa), und ich kann sie zu dem Meinen rechnen, aber nicht bloß, wenn ich das Versprochene (wie im ersten Falle) schon in meinem Besitz habe, sondern auch, ob ich dieses gleich noch nicht besitze. Also muß ich mich, als von dem auf Zeitbedingung eingeschränkten, mithin vom empirischen Besitze unabhängig, doch im Besitz dieses Gegenstandes zu sein denken können. c) Ich kann ein Weib, ein Kind, ein Gesinde und überhaupt eine andere Person nicht darum das Meine nennen, weil ich sie jetzt als zu meinem Hauswesen gehörig befehlige, oder im Zwinger und in meiner Gewalt und Besitz habe, sondern wenn ich, ob sie sich gleich dem Zwange entzogen haben, und ich sie also nicht (empirisch) besitze, dennoch sagen kann, ich besitze sie durch meinen bloßen Willen, so lange sie irgendwo oder irgendwann existiren, mithin bloß-rechtlich; sie gehören also zu meiner Habe nur alsdann, wenn und so fern ich das Letztere behaupten kann. §5. D e f i n i t i o n des B e g r i f f s des äußeren Mein und Dein.
Die N a m e n e r k l ä r u n g , d. i. diejenige, welche bloß zur Unterscheidung des Objects von allen ändern zureicht und aus
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einer vollständigen und bestimmten Exposition des Begriffs hervorgeht, würde sein: Das äußere Meine ist dasjenige außer mir, an dessen mir beliebigen Gebrauch mich zu hindern Läsion (Abbruch an meiner Freiheit, die mit der Freiheit von Jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann) sein würde. - Die Sacherklärung dieses Begriffs aber, d.i. die, welche auch zur Deduction desselben (der Erkenntniß der Möglichkeit des Gegenstandes) zureicht, lautet nun so: Das äußere Meine ist dasjenige, in dessen Gebrauch mich zu stören Läsion sein würde, ob ich gleich n i c h t im Besitz desselben (nicht Inhaber des Gegenstandes) bin. — In irgend einem Besitz des äußeren Gegenstandes muß ich sein, wenn der Gegenstand mein heißen soll; denn sonst würde der, welcher diesen Gegenstand wider meinen Willen afficirte, mich nicht zugleich afficiren, mithin auch nicht lädiren. Also muß zu Folge des § 4 ein intelligibler Besitz (possessio noumenon) als möglich vorausgesetzt werden, wenn es ein äußeres Mein oder Dein geben soll; der empirische Besitz (Inhabung) ist alsdann nur Besitz in der Erscheinung (possessio phaenomenon), obgleich der Gegens t a n d , den ich besitze, hier nicht so, wie es in der transscendentalen Analytik geschieht, selbst als Erscheinung, sondern als Sache an sich selbst betrachtet wird; denn dort war es der Vernunft um das theoretische Erkenntniß der Natur der Dinge und, wie weit sie reichen könne, hier aber ist es ihr um praktische Bestimmung der Willkür nach Gesetzen der Freiheit zu thun, der Gegenstand mag nun durch Sinne, oder auch bloß den reinen Verstand erkennbar sein, und das Recht ist ein solcher reiner praktischer V e r n u n f t b e g r i f f der Willkür unter Freiheitsgesetzen. Eben darum sollte man auch billig nicht sagen: ein Recht auf diesen oder jenen Gegenstand, sondern vielmehr ihn bloß r e c h t l i c h besitzen; denn das Recht ist schon ein intellectueller Besitz eines Gegenstandes, einen Besitz aber zu besitzen, würde ein Ausdruck ohne Sinn sein.
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§6. Deduction des B e g r i f f s des bloß rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes (possessio noumenon).
Die Frage: wie ist ein äußeres Mein und Dein möglich? löst sich nun in diejenige auf: wie ist ein bloß rechtlicher (intelligibler) Besitz möglich? und diese wiederum in die dritte: wie ist ein s y n t h e t i s c h e r Rechtssatz a priori möglich? Alle Rechtssätze sind Sätze a priori, denn sie sind Vernunftsgesetze (dictamina rationis). Der Rechtssatz a priori in Ansehung des empirischen Besitzes ist a n a l y t i s c h ; denn er sagt nichts mehr, als was nach dem Satz des Widerspruchs aus dem letzteren folgt, daß nämlich, wenn ich Inhaber einer Sache (mit ihr also physisch verbunden) bin, derjenige, der sie wider meine Einwilligung afficirt (z. B. mir den Apfel aus der Hand reißt), das innere Meine (meine Freiheit) afficire und schmälere, mithin in seiner Maxime mit dem Axiom des Rechts im geraden Widerspruch stehe. Der Satz von einem empirischen rechtmäßigen Besitz geht also nicht über das Recht einer Person in Ansehung ihrer selbst hinaus. Dagegen geht der Satz von der Möglichkeit des Besitzes einer Sache außer mir nach Absonderung aller Bedingungen des empirischen Besitzes im Raum und Zeit (mithin die Voraussetzung der Möglichkeit einer possessio noumenon) über jene einschränkende Bedingungen hinaus, und weil er einen Besitz auch ohne Inhabung als nothwendig zum Begriffe des äußeren Mein und Dein statuirt, so ist er s y n t h e t i s c h, und nun kann es zur Aufgabe für die Vernunft dienen, zu zeigen, wie ein solcher sich über den Begriff des empirischen Besitzes erweiternde Satz a priori möglich sei. Rechtliches Postulat der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t . Es ist möglich, einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben; d. i.: eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür an sich (objectiv) herrenlos (res nullius) werden müßte, ist rechtswidrig.
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Denn ein Gegenstand meiner Willkür ist etwas, was zu gebrauchen ich physisch in meiner Macht habe. Sollte es nun doch rechtlich schlechterdings nicht in meiner Macht stehen, d. i. mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz nicht zusammen bestehen können (unrecht sein), Gebrauch von demselben zu machen: so würde die Freiheit sich selbst des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines Gegenstandes derselben berauben, dadurch daß sie b r a u c h b a r e Gegenstände außer aller Möglichkeit des Gebrauchs setzte, d. i. diese in praktischer Rücksicht vernichtete und zur res nullius machte; obgleich die Willkür formaliter im Gebrauch der Sachen mit jedermanns äußeren Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmte. — Da nun die reine praktische Vernunft keine andere als formale Gesetze des Gebrauchs der Willkür zum Grunde legt und also von der Materie der Willkür, d. i. der übrigen Beschaffenheit des Objects, wenn es nur ein G e g e n s t a n d der W i l l k ü r ist, abstrahirt, so kann sie in Ansehung eines solchen Gegenstandes kein absolutes Verbot seines Gebrauchs enthalten, weil dieses ein Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst sein würde. Ein Gegenstand meiner W i l l k ü r aber ist das, wovon beliebigen Gebrauch zu machen ich das physische Vermögen habe, dessen Gebrauch in meiner Macht (potentia) steht: wovon noch unterschieden werden muß, denselben Gegenstand in meiner Gewalt (in potestatem meam redactum) zu haben, welches nicht bloß ein Vermögen, sondern auch einen Act der Willkür voraus setzt. Um aber etwas bloß als Gegenstand meiner Willkür zu denken, ist hinreichend, mir bewußt zu sein, daß ich ihn in meiner Macht habe. - Also ist es eine Voraussetzung a priori der praktischen Vernunft einen jeden Gegenstand meiner Willkür als objectiv mögliches Mein oder Dein anzusehen und zu behandeln. Man kann dieses Postulat ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft nennen, was uns die Befugniß giebt, die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten: nämlich allen ändern eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben. Die Vernunft will, daß dieses
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als Grundsatz gelte, und das zwar als p r a k t i s c h e Vernunft, die sich durch dieses ihr Postulat a priori erweitert. In einem theoretischen Grundsatze a priori müßte nämlich (zu Folge der Kritik der reinen Vernunft) dem gegebenen Begriff eine Anschauung a priori untergelegt, mithin etwas zu dem Begriffe vom Besitz des Gegenstandes h i n z u g e t h a n werden; allein in diesem praktischen wird umgekehrt verfahren, und alle Bedingungen der Anschauung, welche den empirischen Besitz begründen, müssen weggeschafft(von ihnen abgesehen) werden, um den Begriff des Besitzes über den empirischen hinaus zu erweitern und sagen zu können: ein jeder äußere Gegenstand der Willkür kann zu dem rechtlich Meinen gezählt werden, den ich (und auch nur so fern ich ihn) in meiner Gewalt habe, ohne im Besitz desselben zu sein. Die Möglichkeit eines solchen Besitzes, mithin die Deduction des Begriffs eines nicht-empirischen Besitzes gründet sich auf dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft: „daß es Rechtspflicht sei, gegen Andere so zu handeln, daß das Äußere (Brauchbare) auch das Seine von irgend jemanden werden könne", zugleich mit der Exposition des letzteren Begriffs, welcher das äußere Seine nur auf einen n i c h t - p h y s i s c h e n Besitz gründet, verbunden. Die Möglichkeit des letzteren aber kann keinesweges für sich selbst bewiesen oder eingesehen werden (eben weil es ein Vernunftbegriff ist, dem keine Anschauung correspondirend gegeben werden kann), sondern ist eine unmittelbare Folge aus dem gedachten Postulat. Denn wenn es nothwendig ist, nach jenem Rechtsgrundsatz zu handeln, so muß auch die intelligibele Bedingung (eines bloß rechtlichen Besitzes) möglich sein. - Es darf auch niemand befremden, daß die theoretischen Principien des äußeren Mein und Dein sich im Intelligibelen verlieren und kein erweitertes Erkenntm'ß vorstellen: weil der Begriff der Freiheit, auf dem sie beruhen, keiner theoretischen Deduction seiner Möglichkeit fähig ist und nur aus dem praktischen Gesetze der Vernunft (dem kategorischen Imperativ), als einem Factum derselben, geschlossen werden kann.
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Anmerkungen 1. F. Tenbruck, „Über eine notwendige Textkorrektur in Kants „Metaphysik der Sitten"", Arch. f. Phil. Bd. 3 Heft 4, S. 216. Schon vor Tenbruck ist von G. Buchda 1929 ein Hinweis auf diese Textentstellung gegeben worden (R. Brandt, mündl.). Da er sich allerdings in einer größeren Arbeit („Das Privatrecht Kants", Diss. Jena 1929, S. 36f.) befindet, die offensichtlich wenig gelesen wurde, mußte diese Entdeckung ein zweites Mal gemacht werden. Die Überlegungen von Buchda laufen — nur weniger ausführlich dargelegt — auf dasselbe hinaus wie die Tenbruckschen. Er macht darüber hinaus den Vorschlag, die Abschnitte § 64-§ 6g an den § 9 anzuhängen, welcher allerdings nicht überzeugen kann, da das zu versetzende Textstück von der Erwerbung handelt, die erst im 2. Hauptstück Gegenstand der Erörterung ist, was eine Plazierung ab § 10 erfordert, wenn man den Text überhaupt in der Metaphysik der Sitten unterbringen will. In der Folge wird uns die Plazierung des „Tenbruckschen Einschubs" nicht weiter beschäftigen. Vgl. dazu: Th. Mautner „Kant's Metaphysics of Morals: a Note on the Text", KS 1981 S. 356. 2. Das Argument Tenbrucks für die Möglichkeit des Anschlusses von § 69 an § 63 in „4)" seiner Arbeit lautet: „Denn der neunte Absatz knüpft durch seinen Inhalt unmittelbar an das Problem der Deduktion eines praktischen Grundsatzes a priori an. Von dieser (? B. L.) aber war als Aufgabe am Ende des dritten Absatzes die Rede. Die Notwendigkeit dieser Aufgabe erklärt der Absatz 9 nun, sich dadurch textmäßig wie sachlich unmittelbar anschließend, durch den Hinweis auf die Kritik der reinen Vernunft, nach der „nämlich" (? B. L.) allen theoretischen Grundsätzen eine Anschauung a priori untergelegt werden muß, und bestimmt dann, daß im Gegensatz dazu „in diesem praktischen Grundsatz" (den eben der Absatz 3 aufstellte) von allen empirischen Bedingungen abgesehen werden muß „um den Begriff des Besitzes über den empirischen hinaus zu erweitern"." Tenbruck setzt sich mit seiner Behauptung, daß die Deduktion eines Grundsatzes angekündigt wird, in Widerspruch zum Text (Überschrift § 6!) und stellt darüber hinaus nicht die Frage, ob denn ein Beweis der angekündigten Art (d. i. durch „Abstraktion" — nicht nur irgendein Beweis überhaupt) in § 6 zu finden ist. So kommt er zu der Möglichkeit eines direkten Anschlusses von § 69 an § 63. Außer dem Absatz „4)", der aus ihm gezogenen Folgerung, daß der Text des § 6 durch bloßes Auslassen der genannten Abschnitte in eine konstistente Form gebracht werden könnte und einer auf S. 219 als notwendig behaupteten weiteren Textkorrektur bzgl. § 7 (vgl. dazu W. Kersting, in AZfPhil 1981 VI S. 36) sind alle übrigen Erörterungen Tenbrucks zu unterstreichen. Die Fragwürdigkeit des Anschlusses von § 69 and § 63 ist auch schon von R. Brandt in „Eigentumstheorien von Grotius bis Kant", Stuttgart 1974, S. 264 bemerkt worden. 3. Der „Satz von der Möglichkeit eines Besitzes an einer Sache außer mir", in § 63 als zu beweisender angekündigt, ist also wie in 1) schon angedeutet, das Postulat, da er a) beweistechnisch dasselbe zu leisten hat (d. i. Voraussetzung
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der possessio noumenon sein soll), b) selbst genauso bewiesen werden soll(te) wie es das Postulat wird (durch „Abstraktion") und c) dasselbe beinhaltet: der Satz „Es ist möglich jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben" ist in der Tat der „Satz von der Möglichkeit eines Besitzes einer Sache außer mir". Sowohl der Sperrdruck der Gegenbegriffe „theoretisch" und „praktisch", die deutliche Entgegensetzung des „theoretisch" gegen das „praktisch" durch das Wort „nämlich", als auch der deutliche Rückbezug des „diesen praktischen" in § 69 auf das „Grundsatz" im letzten Satz des § 2 sind auf rein philologische Weise ausmachbare Partikel, die zum Anschluß dieser Absätze nötigen (ganz im Gegensatz zu §63-§6g!). Vorländer sperrt in seiner Ausgabe der MdS (Meiner, Hamb. 1966, S. 60) ohne Angabe von Gründen hier „praktischen" - im Gegensatz zu Natorp in der Akademie-Ausgabe und den Originalausgaben von 1796/7, 98 — wohl um eine Symmetrie zu „theoretischen" herzustellen, die in der Tat durch den Wegfall des vorangegangenen Satzes verlorengegangen ist. Die Tatsache, daß in § 610 bei der Durchführung der Deduktion selbst das Postulat vor dem Zitat aus der „Exposition des Begriffs vom äußeren Mein und Dein" genannt wird, kann keinen Einwand gegen die umgekehrte Reihenfolge im Gesamttext abgeben, da allein die logische Struktur des Deduktionsarguments hier die Voranstellung des Postulats als Prämisse erfordert. Die geltungstheoretische Wichtigkeit des Postulats für das Privatrecht und damit für die gesamte Rechtslehre könnte Kant zu der Meinung geführt haben, das Verschwinden dieses zentralen Theoriestücks im § 6 (in welchem das Augenmerk auf die Deduktion des intelligiblen Besitzbegriffs gelenkt wird) sei völlig unangemessen: da nämlich das Postulat es ist, welches uns zwingt, den Rahmen des Rechts über das bloß innere Mein und Dein (d. i.: Freiheit) hinaus auch auf das äußere auszudehnen, also letztendlich dafür sorgt, daß die Rechtslehre nicht schon nach ihrer Einleitung (den „Prolegomenen") zu Ende ist, so sollte es in der Tat an der frühestmöglichen Stelle innerhalb der Abhandlung des äußeren Mein und Dein stehen, um ihm einen seiner Bedeutung angemessenen Platz zukommen zu lassen: gleich nach der Definition der in ihm vorkommenden Termini, d. i. nach § l. Die ernstzunehmende Ausschließung dieser Möglichkeit müßte über einen Beleg dafür verfügen, daß Kant die Druckschrift — zumindest in den entsprechenden Passagen - selbst noch kontrolliert bzw. gelesen hat. Die heute zugänglichen Äußerungen Kants (Briefe, Druckschriften und handschriftlicher Nachlaß) aus der Zeit nach 1796 liefern keinen Hinweis dafür. Die große Zahl der Druckfehler, die von der ersten in die zweite Auflage der Rechtslehre mitgenommen worden ist, macht ohnehin die kantische Kontrolle der Drucklegung seiner Spätschrift unwahrscheinlich (vgl. AA VI S. 526). Diese Behauptung kann und soll hier nicht bewiesen werden, vgl. Anm. 12.
10. Z. B. W. Kersting in seiner Arbeit „Transzendentale und naturrechtliche Eigentumsbegründung", ARSP 1981 LXVII2, S. 15, der sich nicht dazu durchringen kann, den Text des Beweises in der Druckschrift selbst zu interpretieren und anstelle dessen ein Nachlaßfragment (XXIII S. 336), welches
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ein anderes Argument als der Text von 1796/7 enthält (vgl. Anm. 12), heranzieht. 11. G. Lehmann: Kants Besitzlehre, in ders.: Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants, Berlin 1969, S. 264. 12. Erwähnt sei nur der beweistechnisch unerläßliche und nun auch erst im strengen Wortsinn mögliche Rückgnff auf den „Rechtssatz a priori in Ansehung des empirischen Besitzes" (§ 62) für den Beweis des Postulats — denn nichts anderes als eine Umformulierung des ersteren ist § 22 — 2. Satz: dort geht es (noch) nicht um äußere Gegenstände! 13. Vgl. R. Brandt, a.a.O., Anm. 2, S. 262.
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Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre Inhaltsverzeichnis: I. 1. Das Erlaubnisgesetz in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre". 2. Der status quaestionis. IT. 3. Zur Systematik des Erlaubnisgesetzes. 4. Die vorläufige Erlaubnis. 5. Exkurs: Französische Revolution und übereilte Reform. III. 6. Das Erlaubnisgesetz des äußeren Mein und Dein. IV. 7. Vernunft und Geschichte in der Kantischen Rechtslehre. Anhang: Der „bloße Begriff".
I. 1. Das Erlaubnisgesetz in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre Man kann ohne nähere Kenntnis der Argumentation und schwierigen Begründung der Kantischen Rechtslehre sehen, daß das „rechtliche Postulat der praktischen Vernunft" oder „Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft" (§ 2) für die gesamte Theorie von fundamentaler Bedeutung ist. Die Lehre vom Privatrecht ist eine Theorie des erwerbbaren äußeren Mein und Dein, und dessen rechtliche Möglichkeit und Notwendigkeit wird im rechtlichen Postulat bzw. Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft behauptet. Dies läßt sich ganz äußerlich im Text verifizieren. § 6 handelt von der „Deduktion des Begriffs des bloß rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes (possessio noumenon)"; die Deduktion macht einen unmittelbaren Gebrauch vom § 2: „Die Möglichkeit eines solchen Besitzes, mithin die Deduktion des Begriffes eines nicht-empirischen Besitzes gründet sich auf dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft: ,daß es Rechtspflicht sei, gegen andere so zu handeln, daß das Äußere (Brauchbare) auch das Seine von jemandem werden könne' . . ." (252). Im § 7 wird im Schlußabsatz noch einmal wiederholt, daß die Deduktion des intelligiblen Besitzes mit Hilfe des Postulats der praktischen Vernunft geleistet wird. —
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Wie das rechtliche Haben, so ist auch das Erwerben des äußeren Mein und Dein nur durch den Regreß auf das Postulat deduzierbar: „Die Möglichkeit auf solche Art (sc. ursprünglich) zu erwerben, läßt sich auf keine Weise einsehen, noch durch Gründe dartun, sondern ist die unmittelbare Folge aus dem Postulat der praktischen Vernunft" (263). Bei der „Exposition des Begriffs einer ursprünglichen Erwerbung des Bodens" (§ 16) wird desgleichen auf das Postulat als eine lex permissiva zurückgegriffen. Bevor es eine austeilende Gerechtigkeit im Staat gibt, läßt sich aufgrund einer „Gunst des Gesetzes (lex permissiva)" allen ändern eine Verbindlichkeit auferlegen, sich eines bestimmten äußeren Besitzes zu enthalten, obwohl er aufgrund einseitiger Willkür erworben wurde (267). Das Postulat begegnet entsprechend wieder in der „Deduktion des Begriffs der ursprünglichen Erwerbung" (268), und es bildet desgleichen das Zentrum in der Deduktion der abgeleiteten, vertraglichen Erwerbung (§ 19, Anm.). Sodann liefert das Erlaubnisgesetz die Begründung des Erwerbs des dritten Typs eines äußeren Mein und Dein, des auf dingliche Art persönlichen Rechts (§ 22). Auch die Erwerbungsart durch Ersitzung rekurriert auf das Postulat der rechtlich-praktischen Vernunft (§ 33). „Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustand geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor . . ." (§ 42) - der Übergang vom status naturalis in den status civilis wird vom Postulat bzw. Erlaubnisgesetz des § 2 getragen. „Wenn es rechtlich möglich sein muß, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben: so muß es auch dem Subjekt erlaubt sein, jeden ändern, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten", hieß es am Ende des § 8. Das Scharnierstück im öffentlichen Recht lautet: „Es würde also, wenn es im Naturzustand auch nicht provisorisch ein äußeres Mein und Dein gäbe, auch keine Rechtspflichten in Ansehung desselben, mithin auch kein Gebot geben, aus jenem Zustand herauszugehen" (§ 44). Das Postulat oder Erlaubnisgesetz ist also wenigstens die ratio fiendi des öffentlichen Rechts (nicht die ganze ratio essendi, die im suum überhaupt liegt, dem suum also internum und externum; ebendies ist VII, 237, A Ziffer 3 gemeint und bildet die Grundla-
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ge z.B. des Strafrechts bezüglich der Läsion des Körpers, nicht nur des äußeren suum eines ändern). Das Faktum der Relevanz von Postulat oder lex permissiva für die gesamte Konzeption der Kantischen Rechtslehre läßt sich also ohne alle Sachkenntnis rein äußerlich feststellen. 2. Der status quaestionis Man wird vermuten, daß die Sekundärliteratur zur Kantischen Rechtslehre diesen äußeren Hinweisen folgt und das rechtlichpraktische Postulat bzw. die lex permissiva zu dem oder wenigstens einem Zentrum ihrer Problemstellung macht. Das Gegenteil jedoch ist der Fall; es gibt — soweit ich sehe - keine Interpretation, die die Rechtslehre aus der Vorgabe des § 2 zu begreifen versucht1. Diese exzentrische Neigung der Kantforschung, das von Kant selbst in den Mittelpunkt gestellte Theorem beiseite zu schieben und sich um andere Probleme zu kümmern, hat verschiedene Gründe. Ich nenne einige und exemplifiziere sie an bestimmten Publikationen. Am einfachsten liegt der Sachverhalt dort, wo eine falsche Interpretation der Rechtsphilosophie Kants diese aus der kritischen oder auch der Transzendentalphilosophie ausklammert und damit die Möglichkeit eröffnet, die wesentlichen Gedanken der Kantischen Rechtsphilosophie in die 60er Jahre zurückzudatieren. Es wird sich nachher leicht zeigen lassen, daß die Struktur des Erlaubnisgesetzes von Kant erst in den 90er Jahren entwikkelt wird. Die Idee, Kant habe die Rechtsphilosophie bereits am Ende der 60er Jahre im Prinzip fertig vor Augen, muß zu einem Tabu führen, die Rechtslehre von 1796/97 noch unbefangen und methodisch zu lesen und zum Prinzip der Interpretation die eigenen Aussagen des Autors zu machen. Die bekannteste Publikation, die in dieser Weise an der Metaphysik der Sitten vorbei verfaßt ist, ist die Schrift von Christian Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen (Frankfurt 197l)2. Im ausführlichen Sachregister werden die Worte „Erlaubnisgesetz" und „rechtliches Postulat" nicht aufgeführt. In den Darlegungen fehlen sowohl die Begriffe selbst wie auch die mit ihnen bezeichnete
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Problemstellung — nur konsequent, wenn man der Meinung ist, daß bereits um 1764 die gleichen grundlegenden Bestimmungen vorliegen wie in der Metaphysik der Sitten, und daß am Ende des betrachteten Zeitraumes (um 1775) die gleichen „Themenkreise, Fragen und Antworten" wie in dem späten publizierten Werk vorliegen3. Ritter versäumt es, Themenkreis, Fragen und Antworten der Metaphysik der Sitten überhaupt zu untersuchen. Er gelaiigt zu seinem Ergebnis dadurch, daß er die Aussagen Kants aus der Frühphase mit passenden Zitaten aus dem Spätwerk komplettiert; er erzeugt so den Eindruck, es handele sich um eine identische Sache. Werner Busch hat in seiner Arbeit Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants 1762—1780 versucht, die Ergebnisse von Christian Ritter zu widerlegen4. Busch ist der m. E. korrekten Meinung, es gebe einen entscheidenden Bruch zwischen vorkritischer und kritischer Rechtsphilosophie, der mit der Dissertation von 1770 in Verbindung steht. In bezug auf die Metaphysik der Sitten von 1796/97 entsteht jedoch stillschweigend die gleiche Ansicht wie die von Ritter vertretene: sie wird lediglich als Niederschrift von Gedanken gesehen, über die Kant schon seit Jahrzehnten verfügte. Tatsächlich gelangt Kant zu wesentlichen Gedanken seiner Rechtslehre erst unmittelbar vor ihrer Publikation — hierin unterscheidet sich das Spätwerk nicht von den drei Kritiken. Aus rein systematischen Gründen und unabhängig von den Fragen der Genese der Kantischen Rechtslehre vertritt Julius Ebbinghaus in seinen zahlreichen thematisch einschlägigen Arbeiten5 die gleiche Meinung wie Christian Ritter. Die Rechtslehre wird aus dem Komplex der Transzendentalphilosophie ausgeklammert, wobei der Grund, der Ebbinghaus zu dieser Ausklammerung führt, ebenfalls schon die bloße Thematisierung des Postulats oder Erlaubnisgesetzes verhindert. Ausschlaggebend dafür ist, daß nach Ebbinghaus das Recht nicht die durch die Transzendentalphilosophie der Kritik der reinen Vernunft ermöglichte, durch die Ethik der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft positiv aufgewiesene Freiheit voraussetzt, sondern lediglich mit der empirisch aufweis-
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baren Freiheit in äußeren Handlungen operiert. Die Gültigkeit des Rechtsgesetzes als der Übereinstimmung der Freiheit eines jeden mit der aller ändern nach einem Gesetz läßt sich analytisch nach dem Satz vom Widerspruch dartun: wer unrecht handelt, widerspricht sich selbst6. Wie immer es um die Richtigkeit dieser Interpretation bestellt ist, Ebbinghaus begeht den (m. E. zweiten) verhängnisvollen Fehler in der unmittelbaren Anwendung des allgemeinen Rechtsgesetzes auf das öffentliche Recht nach dem Vorbild des Rousseauschen Contrat social. Ebbinghaus fragt nicht, warum bei Kant im Gegensatz zu Rousseau das Privatrecht vor dem öffentlichen Recht entwickelt wird und wie es kommt, daß am Anfang des ersteren und damit verbindlich auch für das zweite das Postulat oder Erlaubnisgesetz als synthetischer Satz apriori steht. Durch die Ausklammerung der Freiheitsbegründungsproblematik und der Begründung der Möglichkeit des äußeren Mein und Dein nimmt Ebbinghaus faktisch eine Rückdatierung der Kantischen Rechtslehre in die analytische Schulphilosophie vor. Dieser Anachronismus ermöglicht es, Probleme des Mein und Dein als Funktion des öffentlichen Rechts und nicht umgekehrt das öffentliche Recht als Funktion des — vielleicht problematischen — Mein und Dein zu behandeln. Kants System des Gleichgewichts wird einseitig etatistisch interpretiert und gegen das transzendentalphilosophische tertium datur ein analytisches Deduktionsverfahren geltend gemacht, das das Zurück zu Kant in ein Zurück vor Kant verwandelt7. Ein anderes Motiv, den Kantischen Gedanken aus dem Blickfeld zu verdrängen, liegt dort vor, wo die Interpretation sich nicht der Begründungsstruktur des Autors zuwendet, sondern eine eigene Erklärung für die Theorie offeriert. Die Verschiebung der Beweislast von der Begründung des Autors zur Erklärung des Interpreten macht eine Akzentuierung möglich, die interessant und aktuell sein mag, jedoch mit der Intention des Autors (die identisch ist mit der, die sich bei einer objektiv-bestimmenden Interpretation ergibt) nicht kongruieren muß. Ein Beispiel dafür ist die Arbeit von Richard Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant (Stuttgart 1973)8. „Ausgehend von der Eigentumslehre Kants, basiert die Untersuchung auf zwei Hypo-
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thesen . . .", heißt es in der Einleitung, aber das Verhältnis von Ausgang und Hypothese, von der Kantischen Eigentumslehre und der eigenen Theorie wirkt sich so aus, daß das Postulat und Erlaubnisgesetz nicht thematisiert werden. Kant ist Ideologe des frühbürgerlichen Kapitalismus, er „analysiert die Individuen in ihrem Verhalten als empirische Wesen, das, wie . . . gezeigt wurde, auf bedingungsloses Konkurrenzstreben, das bellum omnium in omnes, hinausläuft" (97). Aus einem ökonomistischen parti pris versäumt es Saage des weiteren, die tatsächlich aufweisbaren historischen Beziehungen der Kantischen Eigentumstheorie aufzudecken. Es ist nicht so sehr das bellum omnium in omnes, sondern die französische Revolution und das Problem der Reform in den mitteleuropäischen Staaten (vgl. unten II, 5). Ein weiterer Typ von Interpretation, der die Eigentümlichkeit der Rechtslehre verfehlt, ist durch die spezifische Form der Kantischen Schriften zur praktischen Philosophie bedingt. Wer sich mit der Problematik des kategorischen Imperativs befaßt, nimmt als Ausgangstext die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und bezieht noch die Kritik der praktischen Vernunft und allenfalls die Tugendlehre der Metaphysik der Sitten mit ein; die Tatsache jedoch, daß es einen kategorischen Imperativ gibt, der sowohl der Ethik wie auch der Rechtslehre zugrundeliegt und im Erlaubnisgesetz oder Postulat der Rechtslehre eine bestimmte Spezifikation erhält, wird in der einschlägigen Literatur nicht zur Kenntnis genommen. Man kann das Problem noch verschärfen: Legt man die genannten Schriften zugrunde, so scheint es ein Erlaubnisgesetz nicht geben zu dürfen. Ich möchte dies kurz darlegen. „Der kategorische Imperativ, indem er eine Verbindlichkeit in Ansehung gewisser Handlungen aussagt, ist ein moralisch-praktisches Gesetz. Weil aber Verbindlichkeiten nicht bloß praktische Notwendigkeit (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch Nötigung enthält, so ist der gedachte Imperativ entweder ein Gebot- oder Verbotgesetz, nachdem die Begehung oder Unterlassung als Pflicht vorgestellt wird" (222-223). Verboten sind die und nur die Handlungen, deren Maximen nicht verallgemeinerungsfähig sind. So ist es verboten zu lügen, weil der Gebrauch der Lüge die allgemeine Wahrhaftigkeit voraussetzt und
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de facto zugleich negiert. Der kategorische Imperativ, der hier als notwendiges und hinreichendes Kriterium fungiert, besagt nichts darüber, ob man im gegebenen Fall die Wahrheit sagen oder ob man schweigen soll. Es ist also indifferent, ob a oder non-a, falls nicht eine ethische Maxime und meine Urtheilskraft (VI, 411) eine Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten erzwingen. Eine bestimmte Handlung ist dann geboten, wenn ihr praktisches Gegenteil verboten ist9. Ist z. B. das Verschweigen einer bestimmten Tatsache verboten (weil es etwa die Zustimmung zu einer nach meiner Kenntnis falschen Darstellung wäre), so ist eine bestimmte Aussage geboten. Hiermit ist das Feld dessen erfüllt, was überhaupt bei Fragen der Handlungsbestimmung relevant sein zu können scheint. Wie findet hier noch ein Erlaubnisgesetz Platz? Verbotene Handlungen können nicht erlaubt sein, so scheint es, denn sonst könnte der kategorische Imperativ nicht die notwendige und hinreichende Bedingung des Ausschlusses bestimmter Handlungen aus den sittlich möglichen sein. Die sittlich indifferenten Handlungen bedürfen keines eigenen Gesetzes, weil sie ,,in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge (adiaphora)" (VI, 409) betreffen. Und was drittens geboten ist, ist erlaubt und möglich, weil es notwendig ist; die sittliche Notwendigkeit leitet sich nicht umgekehrt aus der schwächeren Erlaubnis ab. Es ist also kein Zufall, daß diejenigen Publikationen, die sich der Systematik der Kantischen Pflichtenlehre zuwenden, von einem Erlaubnisgesetz keine Notiz nehmen — es sprengt offensichtlich den Ansatz, der sich von der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft her ergibt. In der ausgezeichneten Studie der Paton-Schülerin Mary Gregor, The Laws of Freedom. A Study of Kant's Method of Applying the Categorical Imperative in the Metaphysik der Sitten (Oxford 1963) wird das Kantische Erlaubnisgesetz präzise und korrekt mit folgenden Worten umschrieben: „A permissive law states the conditions under which a general prohibition does not apply, and the permission to prohibit others from interfering with our exclusive use of an object is a limitation upon the prohibition, contained in the inherent right of freedom, against interfering with the free-
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dorn of activity of others" (58). Gregor erörtert das Erlaubnisgesetz nach dieser kurzen Erwähnung noch einmal im Zusammenhang einer bestimmten Kasuistik10. Aber das Erlaubnisgesetz ist spezifisch rechtlicher Natur und kann daher in einer Untersuchung, die — entgegen dem Untertitel — nur die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre behandelt, lediglich eine periphere Rolle spielen. Zu erwähnen ist eine neuere Studie von Klaus Hammacher mit dem einschlägigen Titel Über Erlaubnisgesetz und die Idee sozialer Gerechtigkeit im Anschluß an Kant, Fichte, Jacobi und einige Zeitgenossen11, wobei die Zeitgenossen sowohl die der genannten Autoren — z.B. Graf Windischgraetz, Rehberg — wie die des Autors des Aufsatzes sind, u. a. Habermas, Luhmann, K. Cramer. Da Hammacher zwischen den vielen Positionen seltsam hinund herfährt und jeweils im Anschluß an die ändern etwas eigenes einflicht, ist es schwer, den Gewinn in Sachen Kant festzuhalten. Ein Dissens zu der Auffassung, die im folgenden von mir entwikkelt wird, liegt außer im Methodischen schon im ersten Satz: „Das Thema, das ich behandeln möchte, soll beschränkt sein auf die Frage nach Erlaubnisgesetzen im Zusammenhang des politischen Handelns, in welchen Zusammenhang Kant diesen Begriff eingeführt h a t . . . " (121) — sicher hat die Kantische Version des Erlaubnisgesetzes Konsequenzen für politisches Handeln, aber er führt das Erlaubnisgesetz als ein Rechtsgesetz ein — als Vernunftgesetz ist es ein Rechtsgesetz apriori und kein Prinzip politischer Klugheit (Politik ist für Kant Klugheitslehre, die unter Rechtsprinzipien steht). Die einzige Erwähnung eines Erlaubnisgesetzes innerhalb der Tugendlehre — VI, 426 — führt Hammacher zu der Meinung, Kant behandle hier den „Unterschied von Legalität und Moralität, zwischen einem Handeln nach auf alle übertragbaren Regeln und einem Handeln aus persönlicher Zurechnung. Und die Erlaubnisgesetze stehen in diesem Zwischenbereich" (123). Handelt die Rechtslehre nicht von „einem Handeln aus persönlicher Zurechnung", wie Hammacher formuliert? Sind Gesetze der Moralität nicht „auf alle übertragbar"? Und um welche Erlaubnisgesetze handelt es sich? In der Ethik kommt nur dies eine vor. Der Fall selbst betrifft den Gebrauch der Ge-
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schlechtseigenschaften ohne den Zweck der Fortpflanzung — was ist hier legal und was moralisch? Leider verzichtet Hammacher hier und an den übrigen Stellen, wo Kant benutzt wird, auf die genauere Angabe des von ihm Gemeinten (im Gegensatz zu der oben erwähnten Studie von Mary Gregor, die sehr subtil den angeschnittenen Problemkomplex erörtert). II. 3. Zur Systematik des Erlaubnisgesetzes Kant selbst hat die Sonderstellung des Erlaubnisgesetzes innerhalb der Systematik von Gebot und Verbot gesehen - „eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis)" (VI, 223)12. Man kann fragen, fährt Kant fort, ob es dergleichen sittlich-gleichgültige Handlungen gebe, eine Frage, die hier offengelassen wird, die ihre eindeutige Antwort aber einmal im gesunden Menschenverstand, zum ändern in der Einleitung der Tugendlehre findet: „Phantastisch-tugendhaft aber kann doch der genannt werden, der keine in Ansehung der Moralität gleichgültigen Dinge (adiaphora) einräumt..." (409). Die weiteren Stichworte: „mit Fußangeln bestreut", „Fleisch oder Fisch", „Bier oder Wein", „Mikrologie", „Tyrannei" (409)i3. Aber ist dazu, daß es jemandem freisteht, etwas nach seinem Belieben zu tun oder zu lassen, noch ein Enaubnisgesetz erforderlich? „Wenn dieses (sc. erforderlich) ist, so würde die Befugnis nicht allemal eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) betreffen; denn zu einer solchen, wenn man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet, würde kein besonderes Gesetz erfordert werden" (223). Die Befugnis kann sich also einmal auf sittlich gleichgültige Handlungen beziehen, zum ändern jedoch auf Handlungen, die nicht im adiaphoron-Bereich liegen. Zur Ermöglichung dieser letzteren bedarf es eines besonderen Gesetzes, des Erlaubnisgesetzes. Dies kann nur deswegen der Fall sein, weil sie in bestimmter Hinsicht verboten sind, denn als nicht sittlichgleichgültig müssen sie geboten oder verboten sein; sind sie gebo-
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ten, bedarf es keiner Erlaubnis, also können sie nur in bestimmter Hinsicht verboten sein. Ob es ein Erlaubnisgesetz dieses Typs gibt, wird hier offengelassen, aber der Duktus der Überlegung ist natürlich nur sinnvoll, wenn Kant die tatsächliche Annahme eines Erlaubnisgesetzes begrifflich vorbereitet — daß Kant auch hier mit einem Erlaubnisgesetz rechnet, kann nach der Rolle, die es in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre spielt, nicht bezweifelt werden. Es sei noch angemerkt, daß die Aussage, eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) bedürfe keines besonderen Gesetzes, die Korrektur einer eigenen experimentierenden Überlegung ist. In den Vorarbeiten zur Rechtslehre heißt es: „Gesetze sind entweder die des Gebots oder Verbots oder Erlaubnisgesetze und werden durch sollen, nichttun sollen und dürfen ausgedrückt. . . nach dem ersteren ist also etwas erlaubt (Recht) oder unerlaubt (Unrecht) oder unter keinem moralischen Gesetze, also indifferent (vergönnt)" (XXIII, 384). Die gleiche Vorstellung findet sich in bestimmten Äußerungen der Vorlesung Vigilantius von 1793/94 zur Metaphysik der Sitten: „. . . und das alle Erlaubnisgesetze keine Imputation mit sich führen, da die Handlungen adiaphora sind, mithin nicht unter Pflicht- oder Zwangsrecht stehen" (XXVII, 560). Kant behauptet also in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten das Gegebensein eines Erlaubnisgesetzes auf einem moralisch nicht indifferenten Feld. Die gleiche Vorstellung findet sich schon in der Schrift Zum ewigen Frieden von 1795: „Ich habe hiermit nur beiläufig die Lehrer des Naturrechts auf den Begriff einer lex permissiva, welcher sich einer systematisch-einteilenden Vernunft von selbst darbietet, aufmerksam machen wollen" (VIII, 348). Auch in der Vorlesungsmitschrift Vigilantius von 1793/94 findet sich die gleiche Meinung, wenn auch noch zögernd. „Eine andere intrikate Frage aber ist es, die Hufeland aufgeworfen: ob es secundum jus naturae leges permissivae gäbe? Herr Kant verneint die Frage: da, insofern ein moralisches Gesetz konkurriert, um zu bestimmen, was erlaubt oder nicht erlaubt sei, nicht mehr eine indifferente Handlung zum Grunde liegen kann" (XXVII, 513). Hier also wird noch angenommen wie an der
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schon oben einbezogenen Stelle, daß das Erlaubsnisgesetz sich nur auf indifferente Handlungen beziehen kann. Aber an anderer Stelle heißt es: „Dies vorausgesetzt, glaubt Herr Kant, daß man die Frage: an datur lex permissiva in jure naturae? nicht schlechthin verneinen kann . . ." (XXVII, 515). Aber wie soll ein derartiges Gesetz neben Gebot und Verbot systematisch möglich sein? In der Schrift Zum ewigen Frieden verfugt Kant sichtlich über eine ihn befriedigende Lösung: das Erlaubnisgesetz bietet sich der systematisch-einteilenden Vernunft von selbst an. Aber wie die Einteilung aussieht, wird nicht ausgeführt. Man wird vermuten, daß es sich um einen Parallelfall zur Klassifizierung des möglichen äußeren Mein und Dein handelt. Kant schlägt den Rechtslehrern vor, neben dem üblichen dinglichen und persönlichen Recht eine dritte Klasse des auf dingliche Art persönlichen Rechts einzuführen14, und er begründet dies im Haupttext der Rechtslehre mit dem Rekurs auf die Kategorientafel15. Die lex permissiva bietet sich, so heißt es im Ewigen Frieden, „einer systematisch-einteilenden Vernunft von selbst dar". Die gleiche Formulierung verwendet Kant in der Religionsschrift von 1793: Die trias politica (nach VI, 313), angewandt auf die Person Gottes, „bietet sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar" (VI, 140). Eine Möglichkeit der Aufschlüsselung gibt die Reflexion 7986 (XIX, 573): „Also 1. die Substanz des Staats in den Gesetzen, 2. dieser ihre Causalität, 3. die Gemeinschaft"16. Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, bei der Einführung eines Erlaubnisgesetzes neben Gebot und Verbot an die logische Funktion bzw. Kategorie der Qualität mit den bejahenden, verneinenden und unendlichen Urteilen bzw. den Kategorien der Realität, Negation und Limitation zu denken. Wie „in einer transzendentalen Logik unendliche Urteile von bejahenden noch unterschieden werden, wenn sie gleich in der allgemeinen Logik jenen mit Recht beigezählt sind und kein besonderes Glied der Einteilung ausmachen"17, so wird in der kritischen oder transzendentalphilosophischen Rechtslehre die Dichotomie der juristischen Begriffe von Gebot und Verbot um eine dritte Position erweitert. In den Vorarbeiten zur Rechtslehre findet sich folgender Hinweis: „Ca-
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tegorien der Quantität und Qualität des Rechts . . . a) einseitige, vielseitige, allseitige Bestimmung der Willkür zu synthetischer Einheit b) Gebot, Erlaubnis und Verbot" (XXIII, 218), wobei die Reihenfolge der Kategorien der Qualität nur die vom Gebot, Verbot und Erlaubnis sein kann; in dieser Reihenfolge erscheint die Trias regelmäßig, vgl. u. a. refl. 8074: „Gebote, Verbote, Erlaubnisgesetze", wiederum in einem Quadrat möglicher Positionen an zweiter Stelle, also an dem Ort der Qualität. Kant behauptet das Gegebensein von Erlaubnisgesetzen im Naturrecht, nicht in der Ethik. Will man ihre sachliche Intention verstehen, wird man an eine spezifischrechtliche Problematik anknüpfen müssen, nicht eine allgemein moralische und nicht eine spezifisch ethische. Der systematische Ort des naturrechtlichen Erlaubnisgesetzes ergibt sich offenbar in einer Vermittlung von Gebot und Verbot: Es wird etwas „an sich" Verbotenes provisorisch erlaubt und damit geboten, den Rechtsanspruch der Verhinderung nicht wirksam werden zu lassen. Kant unternimmt hiermit einen Versuch, der dem des späten Platon im Sophistes vergleichbar ist; dort entwickelt Platon die Unhaltbarkeit der parmenideischen absoluten Kontrastierung von Sein und Nichtsein und gewinnt die Möglichkeit, vom Sein des Nichtseins zu sprechen. Ein analoges tertium datur im Rechtlichen, das Recht des Nichtrechts, gibt Kant, so wird sich zeigen, die Möglichkeit, das Werden des Rechts einzuleiten und es nicht im Nichts zu belassen.
4. Die vorläufige Erlaubnis Vergleicht man die Ausführungen der Vorlesungsmitschrift Vigilantius mit denen in der Schrift Zum ewigen Frieden und der Metaphysik der Sitten von 96/97, so ergibt sich eine entscheidende Differenz, die von Kant als solche nicht explizit benannt wird, die ihn aber mit Sicherheit in seinen Überlegungen geleitet hat. In der Vorlesung werden zwei Fälle eines Erlaubnisgesetzes genannt: Der Fall der Schiffbrüchigen, die um eine Planke kämpfen, und der Fall des Heroen, der mit Gewalt absque titulo einen Staat gründet.
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Im Prinzip gilt, daß jede Gewalt rechtlich legitimiert sein muß - „Gewalt muß nicht für Recht gehen" (XXVII, 514); dies Verbot erleidet jedoch eine Ausnahme im status naturalis: der Übergang in den Staat ist faktisch nur mit Gewalt möglich. Wollte man diese Gewalt mit einem universalen Verbot sanktionieren, „so würde dies den gesetzlosen Zustand verteidigen, mithin einen Zustand, wo kein Gesetz vorhanden oder nicht anerkannt wäre: dies ist aber ein dem allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit zuwiderlaufender Zustand, mithin muß man annehmen, daß die Natur es zulasse, in der Art, die freie Willkür der Menschen mit der allgemeinen Freiheit nach dem allgemeinen Gesetz in Übereinstimmung zu bringen; und also ist hier ein natürliches Erlaubnisgesetz zu der angewandten Gewalt vorhanden" (XXVII, 515). Eben dies gilt auch für den Fall, „wenn zwei sich um ein Brett beim Schiffbruch schlagen" (XXVII, 515). Kant hat das Notrecht im Fall des Schiffbruchs in der Metaphysik der Sitten geändert. Einmal wird nicht mehr unterschieden, ob zwei sich um ein Brett schlagen oder ob der eine es schon besitzt und der andere ihn herunterzustoßen versucht; nach der Vorlesung kann es in diesem letzteren Fall kein Recht der Besitznahme geben, „weil eben der zu Depossedierende schon im Besitz war, wodurch er sein Leben schützt: die Not des ändern kann nie ein Zwangsrecht geben, insofern der Grund der Handlung nicht schon vorher auf einem rechtsgültigen Zwangsrecht beruht; denn sonst würde der andere eben das Zwangsrecht haben müssen und dies ist unmöglich" (XXVII, 516). Anders ist der Fall, wenn noch keiner im Besitz des Brettes ist; hier muß Gewalt erlaubt werden, „um dadurch ein Recht zur Erhaltung des Lebens zu stiften. Es ist also auch hier die Maxime zu Grunde, daß zur Stiftung eines Rechtes Gewalt vor Recht gehe nach einem Erlaubnisgesetz" (XXVII, 516). In der Metaphysik der Sitten dagegen wird die Gesamtsituation so beurteilt, daß das strikte Recht und damit die Zwangsgesetze in ihr keine reale Funktion haben können (vgl. VI, 235-236). Zum ändern sieht Kant jetzt eine Differenz zwischen diesem Fall und dem der Staatsgründung. Der erste wird unter dem Titel des Notrechts gleichsam als bodenlose Problematik zu einem exterritorialen Komplex erklärt und vor die eigentli-
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ehe Rechtslehre gestellt. Das Erlaubnisgesetz dagegen hat, wie sich zeigte, seinen Ort in der Rechtslehre selbst. Die Gewalt, die das Erlaubnisgesetz ermöglicht, wird bezogen gedacht auf die Rechtswirklichkeit im ganzen. Das gleiche gilt vom Erlaubnisgesetz in der Schrift Zum ewigen Frieden: Es soll erlaubt sein die provisorische Weiterführung unrechtmäßig erworbenen Besitzes; das im Erlaubnisgesetz vorausgesetzte Verbot bezieht sich auf die künftige Erwerbungsart (VIII, 348). Es wird also Bezug genommen auf die Totalität des Eigentums in einem Staat, wobei die Vergangenheit mit ihren tradierten Einrichtungen und die Zukunft, deren Handlungen in unserer Gewalt sind, unterschieden werden. „Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis . . ." (VIII, 373) — wie im Privatrecht, ist auch im öffentlichen Recht erlaubt die provisorische Weiterführung historisch überkommener Institutionen, bis sich die Möglichkeit einer Änderung ergibt. Das Erlaubnisgesetz stiftet einen Rechtsmodus der Duldung von unvermeidlichen, schon geschehenen, institutionell verfestigten Gewaltformen. Diese Dimension fehlt im Fall des Schiffbruchs, und hierin liegt der Grund der Ausklammerung des Notrechts aus dem Komplex des Erlaubnisgesetzes. Die Gewalt, die das Erlaubnisgesetz vor dem Recht ermöglicht, hat provisorischen Charakter; Romulus erschlägt Remus — „Es muß zuletzt einer bleiben, der die Obermacht behauptet, und der die Absicht hat, zur Organisierung seiner Herrschaft ein allgemeines Recht zu stiften" (XXVII, 514, 515). Die Absicht geht auf Rechtsverhältnisse in Konformität mit dem Naturrecht. In der Metaphysik der Sitten benutzt Kant für die beiden Pole dieser Form des Erlaubnisgesetzes die Begriff provisorisch und peremtorisch. So heißt es innerhalb des Privatrechts: „Ein Besitz in Erwartung und Vorbereitung eines solchen Zustandes, der allein auf einem Gesetz des gemeinsamen Willens gegründet werden kann, der also zu der Möglichkeit des letzteren zusammenstimmt, ist ein provisorisch-rechtlicher Besitz, wogegen derjenige, der in einem solchen wirklichen Zustand angetroffen wird, ein peremtorischer Besitz sein würde" (VI, 256-257)18.
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Mit dem Begriffspaar provisorisch-peremtorisch knüpft Kant an eine Problemstruktur an, die wenigstens in die 70er Jahre zurückreicht und die wiederum mit der Urteils- und Kategorienlehre verbunden ist. Der provisorische Rechtstitel ist das Gegenstück zum problematischen Urteil, der peremtorische das Pendant zum kategorischen oder apodiktischen Urteil. Bei problematischen Urteilen wird offengelassen, ob sie wahr oder falsch sind; man nimmt sie probeweise an und untersucht, ob sie sich verifizieren lassen. Sie dienen der Auffindung des wahren — kategorischen oder apodiktischen — Urteils19. Analog dient das provisorisch Erlaubte der Entwicklung des wirklichen Rechts, der Verwirklichung also des Naturrechts, das sich peremtorisch behaupten läßt. Der Zusammenhang dieser beiden Komplexe, der vorläufig-provisorischen Erlaubnis und des problematischen Urteils, wird noch deutlicher, wenn man auf die Genese dieses Stücks der Urteils- und Kategorienlehre zurückgreift. In der noch nicht publizierten Mitschrift einer Anthropologievorlesung aus den 70er Jahren heißt es: „Zu den dunklen Vorstellungen gehören auch noch die vorläufigen Urteile. Ehe der Mensch ein Urteil fällt, welches bestimmt ist, so fällt er schon im voraus im dunklen ein vorläufiges Urteil. Dieses leitet ihn, um etwas zu suchen, z. E. wer unbekannte Länder sucht, wird doch nicht geradezu ins Meer fahren, sondern er urteilt vorher. Ein jedes bestimmtes Urteil hat also ein vorläufiges Urteil"20. Und an einer späteren Stelle: „Der Schein ist kein Urteil, sondern ein Grund zum vorläufigen Urteil. Es wäre sehr nötig, wenn in der Logik auch ein ganz apartes Kapitel von den vorläufigen Urteilen wäre, die zu mehreren Erfindungen Anlaß geben möchten"21. Die vorläufigen Urteile sind unerläßliche Versuche, tentamina, auf dem Weg zu einer dauerhaften, systematisch organisierten Erkenntnis22. - Die Korrelation der verschiedenen Modalitätsmomente, das Verhältnis also der problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteile untereinander bzw. das der zugehörigen Kategorien, müßte natürlich von der Zeit - die erst im Schematismus mit den Kategorien in Verbindung gebracht wird — abstrahieren. Kants entsprechende Formulierungen („. . . so daß man zuvor etwas problematisch urteilt, darauf auch wohl es assertorisch es als wahr an-
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nimmt, endlich als unzertrennlich mit dem Verstande verbunden . . . behauptet. . .", B 101) müssen, falls dies möglich ist, als nur metaphorisch interpretiert werden. Aber diese Eigentümlichkeit braucht uns hier nicht zu interessieren. Die Begriffe des Provisorischen und Peremtorischen sind eindeutig zeitlich strukturiert. (Es soll am Ende der Abhandlung versucht werden, den Charakter der hiermit gegebenen Zeit näher zu bestimmen). Die Theorie des vorläufigen Urteils, die bei Kant zur Lehre von der Modalität von Urteilen und Kategorien führt, ist historisch vorbereitet durch eine bestimmte Variante der Vorurteilslehre, das praejudicium in sensu juridico. Es handelt sich hierbei um den „Vorgriff auf ein im Augenblick noch nicht mögliches Urteil, das vorläufige Urteil als Vorentscheidung: es bedeutet (wie die einstweilige Verfügung) zumindest formal eine gewisse Vorwegnahme, sozusagen ein Urteil auf Verdacht hin"23. Wenn Kant die Differenz von einem durch Erlaubnisgesetz ermöglichten provisorischen und dem peremtorischen Recht in seiner Spätphase fruchtbar zu machen versucht, so knüpft er an die Tradition des praejudicium in sensu juridico an. Das Erlaubnisgesetz gebietet eine provisorische Duldung von etwas in einer lex generalis — nicht universalis — Verbotenem. In gleicher dialektischer Struktur begegnet der Begriff des Provisorischen auch im Zusammenhang der Kantischen Natur- und Kulturteleologie. So dient die dem Menschen inhalierende Anlage, sich besser zu stellen, als man ist, und vorteilhaftere Gesinnungen, als man wirklich hat, zu äußern, „nur gleichsam provisorisch dazu, um den Menschen aus der Rohigkeit zu bringen, und ihm zuerst wenigstens die Manier des Guten, das er kennt, annehmen zu lassen; denn nachher wenn die echten Grundsätze einmal entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind, so muß jede Falschheit nach und nach kräftig bekämpft werden, . . ,"24. Gegen den Rousseauschen Kulturpessimismus stellt Kant die mögliche positive Funktion des Scheins. Die Natur hat uns vorsorglich, provisorisch, mit dem Hang zum falschen Schein ausgestattet; er dient dazu, die Kluft zwischen bloßer Natur und vollendeter Sittlichkeit zu überbrücken. Eine ähnliche Uberbrückungsfunktion hat die provisorisch erlaubte Gewalt in den bestehenden Rechtsverhältnissen.
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Auf dem Gebiet der Rechtslehre ist die Konzeption eines Provisoriums im Naturzustand nicht gegen Rousseau gerichtet, sondern gehört in die Rubrik „Gegen Hobbes" (nach VIII, 289). Hobbes vertritt — wenigstens in einer wesentlichen Schicht seiner Argumentation — die Auffassung, daß status naturalis und status civilis sich als Nichts und Sein des Rechts entgegengestellt sind; hierin folgt die politische Theorie von Hobbes den Regeln seiner analytischen Logik. Das provisorische Recht des status naturalis ermöglicht Kant eine Entmachtung des Leviathan, er schöpft nicht, sondern bestimmt das vorhandene Recht (nach VI, 312, Zeile 19 und 32) und sichert es. Das Naturrecht ist nicht nur idealiter vor dem Staat denkbar, sondern hat eine - wenn auch nur dynamisch-provisorische — Wirksamkeit im status naturalis. Es ist dies eine Beobachtung, die für die Beurteilung der Entwicklung der Kantischen Rechtsphilosophie wichtig ist: Die Rechtskraft des Naturrechts wächst, die Macht des mortal God schwindet. So heißt es in einer Reflexion, die Adickes ,,um 1776-8" datiert: „Das Ganze Recht der Natur ist ohne bürgerliche Ordnung eine bloße Tugendlehre und hat den Namen eines Rechts bloß als ein Plan zu äußeren möglichen Zwangsgesetzen, mithin der bürgerlichen Ordnung" (7084; XIX, 245) - dies leugnet die Rechtslehre von 1796/97 entschieden; nicht erst die societas civilis schafft Recht, sondern dieses ist schon in provisorischer Form im Naturzustand wirksam und kann nur so die bürgerliche Gesellschaft zustande bringen. „Testamenta sind nicht juris naturae", heißt es in der Metaphysik der Sitten Vigilantius von 1793/94 (XXVII, 597) - „sunt iuris naturae", stellt die publizierte Rechtslehre dem entgegen; in der letzteren Fassung hat der Staat lediglich eine Erfüllungsfunktion. — Das provisorische Recht schafft die prinzipielle Möglichkeit, den Staat aus seiner Rechtsschöpfungsrolle zu drängen und ihn mit einem Vor-Recht der Menschen zu konfrontieren. 5. Exkurs: Französische Revolution und übereilte Reform Das Stichwort der Vorläufigkeit ermöglicht es, die Textbasis zu erweitern und Probleme miteinzubeziehen, die nicht explizit
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mit dem Titel des Erlaubnisgesetzes versehen sind, jedoch zur gleichen Problematik gehören. In einer Anmerkung der Schrift über die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft geht Kant auf die Französische Revolution und die Problematik der Selbstregierung eines Volkes ein. Man muß, so sagt er, dem Volk die Freiheit geben, seine Freiheit in Versuchen zu realisieren. Die ersten Versuche werden roh ausfallen; „allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen man frei sein muß)" (VI, 188). Und dann folgt der für uns einschlägige Gedanke: „Ich habe nichts dawider, daß die, welche die Gewalt in Händen haben, durch Zeitumstände genötigt, die Entschlagung von diesen drei Fesseln (sc. der politischen, der zivilen und der Glaubensfreiheit) noch weit, sehr weit aufschieben. Aber es zum Grundsatz machen, daß denen, die ihnen einmal unterworfen sind, überhaupt die Freiheit nicht tauge, und man berechtigt sei, sie jederzeit zu entfernen, ist ein Eingriff in die Regalien der Gottheit, die den Menschen zur Freiheit schuf" (VI, 188). Die Zeitumstände also können dazu nötigen, provisorisch und vorläufig ein bestehendes Unrecht (analog der statutarischen Kirche, vgl. Anm. 24) beizubehalten. Die Idee einer mit dem natürlichen Recht der Menschen zusammenstimmenden Konstitution, so heißt es im Streit der Fakultäten, ist die Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt; „mithin ist es Pflicht in eine solche einzutreten, vorläufig aber (weil jenes nicht so bald zustande kommt) Pflicht der Monarchen, ob sie gleich autokratisch herrschen, dennoch republikanisch (nicht demokratisch) zu regieren" (VII, 91). Vorläufig also ist die Unterdrückung der politischen Freiheit erlaubt. Diese Erlaubnis steht jedoch unter der Bedingung einer evolutio juris naturae; die Regenten haben die Pflicht, die dem Naturgesetz gemäße Verfassung wirklich im Laufe der Zeit zu realisieren. Der Problemkomplex, in den diese Gedanken gehören, ist einmal natürlich die Französische Revolution. Es kommt jedoch eine andere historische Komponente hinzu, nämlich die Reform der Gesetzgebung in Preußen und vermutlich auch in Österreich, Ein für die Genese der Kantischen Rechtslehre entscheidender
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Autor ist Ernst Ferdinand Klein, Kammergerichtsrat in Berlin und Mitverfasser des Allgemeinen Preußischen Landrechts. In einem Brief vom 22. Dezember 1789 an Kant ist exakt die Problemstellung entfaltet, die bei Kant zur Konzeption des Erlaubnisgesetzes im Ewigen Frieden führt. Klein fragt, ob es die Pflicht des Gesetzgebers sei, unrechtmäßige Einschränkung in der Freiheit, an die man sich gewöhnt habe, abrupt abzuschaffen. Er bezweifelt dies, nimmt also eine Erlaubnis unrechtmäßiger Institutionen an. „Was seit langen Zeiten gebräuchlich gewesen ist, scheint den Willen des Volks für sich zu haben. Da ich nun durch Verträge meine Freiheit einschränken darf, so weit ich mir dadurch nicht die Macht benehme, unerläßliche Pflichten25 zu erfüllen: So läßt sich wohl, wie ich glaube, die Beibehaltung solcher Gebräuche entschuldigen. Ich fühle selbst, daß ich hier nicht füglich das Wort rechtfertigen brauchen kann: aber was ist zu tun? Unsere Gesetze sind voll von solchen willkürlichen Einschränkungen. Ein Gesetzgeber, welcher auf einmal zu große Veränderungen vornehmen wollte, würde nichts gegen die herrschende Meinung ausrichten"26. In seinem Dialog über Freiheit und Eigentum von 1790, den er Kant zusandte27, vertritt Klein konsequent die Auffassung, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem Recht, ein Eigentum zu erwerben, und dem Recht, es zu besitzen. Das erstere muß dem letzteren weichen. „Daraus folgt auch, daß der Staat das Recht zu erwerben mehr einschränken könne, als das Recht zu besitzen"28. Das Besitzrecht ist weiter zu fassen als das Erwerbsrecht, weil das erstere den Rechtsbestand der Vergangenheit, die man nicht in seiner Gewalt hat, betrifft, das letztere die Norm für das zukünftige Handeln darstellt. Es gibt also nach Klein eine Erlaubnis, unrechtmäßig Erworbenes als legitimen Besitz weiterzuführen; der Gesetzgeber steht nicht unter der Rechtspflicht einer plötzlichen Änderung überkommener Institutionen. „Denn das Verbot betrifft hier nur die Erwerbungsart, die fernhin nicht gelten soll, aber nicht den Besitzstand der, ob er zwar nicht den erforderlichen Rechtstitel hat, doch zu seiner Zeit (der putativen Erwerbung) nach der damaligen öffentlichen Meinung . . . für rechtmäßig gehalten wurde", heißt es bei Kant im Ewigen Frieden in der Textpassage, die durch die
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erste Anmerkung zum Erlaubnisgesetz ergänzt wird (VIII, 347). Kant hat die gleiche Problematik wie Klein vor Augen, und man kann mit Sicherheit annehmen, daß er sich hier von Klein hat anregen lassen29. Nur wenn neben der Französischen Revolution das Problem einer Reform durch fürstliche Dekrete miteinbezogen wird, gewinnt die Frontstellung bei Kant Sinn, gemäß der nicht nur der Fürst ein Hemmnis auf dem Weg einer Verrechtlichung der Gewaltverhältnisse ist, sondern auch die herrschende oder öffentliche Meinung. Die angesprochene Problematik hat ihr Fundament in der preußischen Rechtsreform; aber zugleich führt die öffentliche Diskussion der übereilten Reform Josephs II. zu einer Intensivierung des Bewußtseins. In Österreich wurden den Reformkonservativen30 vorexerziert, wie der Herrscher es nicht machen darf. Der Graf von Windischgraetz schreibt in einem Programm vom Jahre 1785: „Convaincu que rien n'est plus nuisible dans un etat que l'instabilite de la legislation, il (sc. der Autor) ne desire pas du tout que les Chefs des nations se pressent d'executer memes ses propres intentions"31. Eine der vielen Warnungen von einer übereilten Reform durch den Regenten selbst. Kant nennt Windischgraetz im Zusammenhang der Systematik von Gebot, Verbot und Erlaubnisgesetz im Ewigen Frieden (VIII, 348) und bezieht sich hiermit auf das genannte Programm und dessen Preisfrage, wie eindeutige Vertragsformeln zu entwerfen seien, die jeden Streit über Eigentumsveränderungen ausschließen32. Ob Kant diese Schrift über den Titel hinaus kannte, läßt sich kaum ausmachen. Sechs Wochen nach dem Ausbruch der Französischen Revolution schrieb er an Friedrich Heinrich Jacobi, die Schrift von Windischgraetz „von der freiwilligen Abänderung der Konstitution in Monarchien" hänge offenbar mit zwei ändern seiner Werke „in einem System" zusammen; Kant hat sie also gelesen. Diese gegen die übereilte Reform Josephs II. gerichtete Verfassungsschrift muß, so heißt es weiter, „zum Teil als wundersam eingetroffene Wahrsagung, zum Teil als weiser Rat für Despoten, in der jetzigen krisis von Europa von großer Wirkung sein" (XI, 73). Der Titel dieser Schrift lautet: Discours dans lequel on examine les deux questions suivantes: 1. Un Monarque a-
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/-// le droit de changer de son chef une Constitution evidemment vicieuse? 2. Es t-U prudent a lui, est-il de son interet de l'entreprendre? Der Autor verneint die beiden Fragen, weder das justum noch das utile ist bei einer übereilten, eigenmächtigen Reform erfüllt. - „Der Staat ist ein autonom. Das ist eine heilige Pflicht, die ihm die Achtung vor das menschliche Geschlecht und die wesentliche Bedingung seiner Wohlfahrt auferlegt, diese Kunsteinrichtung nicht zu stören. Wehe dem Prinzen, der die Triebfeder oder das Schwungrad wegnimmt, welches alles in Ordnung hält,..." - so Kant in einer Reflexion zum Thema der Rechtsreform (refl. 7778)33. Kant entwickelt also sein reformkonservatives Konzept eines Erlaubnisgesetzes im Hinblick auf zwei historische Ereignisse, die Französische Revolution und die dynastischen Reformwerke in Preußen und Österreich. Zur Erfassung des begrifflichen Kontextes, in dem sich diese beiden Ereignisse darstellen, sei auf zwei Schlüsselbegriffe verwiesen, die in der zeitgenössischen politischen Publizistik immer wieder begegnen und die bei Kant eine dominierende Stellung einnehmen: Die „Anwendung" und die „Übereilung" mit dem Gegenbegriff des „allmählich", „nach und nach". Anwendung ist das Stichwort für das Verhältnis von naturrechtlicher Theorie und positiver Praxis. Zwischen Theorie und Praxis klafft ein Hiat; die Frage ist: wie läßt sich dieser Hiat überwinden, wie lassen sich die Normen und allgemeinen Sätze der Theorie auf die Praxis anwenden? Johann Friedel beschäftigt sich in seinen Fragmenten von 1786 mit der „zur Unzeit angewandten Staatsmystik" Josephs II.34; Kant, Gentz, Rehberg behandeln in ihren Schriften zum Verhältnis von Theorie und Praxis das Anwendungsproblem35; Adam Smith warnt vor der Anwendung von Theorien, die mit bloßem Systemgeist ausgeklügelt sind. Das Problem der Antinomie zwischen Naturrecht und bestehendem Recht, zwischen rechtlicher Praxis und naturrechtlicher Theorie ist nur eines der Anwendungsprobleme, die im ausgehenden 18. Jahrhundert erörtert wurden. — Maria Theresia schreibt an Joseph II.: „Ein Scherzwort, eine Redewendung, die Du in einem Buch oder bei irgend
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jemand findest, beschäftigt Dich, Du wendest sie bei erster Gelegenheit an ohne viel zu überlegen, ob sie auch paßt. . ,"36. A. F. J. Thibaut kritisiert die vorschnelle Anwendung der Kantischen Theorie durch Epigonen37; und in der Philosophie Kants selber hat die Anwendungsproblematik einen zentralen Ort38. Das zweite Stichwort ist das der Übereilung, der Überstürzung, des zu Plötzlichen. „Jede plötzliche Umänderung hat den Charakter des Schauerlichen und Zerrüttenden, . . .", heißt es in den Annalen von 179939. In den Europäischen Annalen von 1795 wird von der Revolution in Frankreich gesagt: „Von nun zeigte sich von den Theorien der Philosophen über Staatsverfassung in Frankreich eine vielleicht nur allzu plötzliche, allzu kühne Praxis"*0. Campe warnt in seinen Briefen aus Paris von 1790 vor der Übereilung41, in gleicher Weise urteilt Ernst Brandes42. Die übereilte Reform ist von der Anarchie bedroht, schreibt Kant im Ewigen Frieden (VIII, 373). Das Gegenteil des Übereilten und Überstürzten ist die Kontinuität der historischen Entwicklung. ,,Wenn nun der Fürst selbst sein Volk nach und nach an eine freiere Denkungsart gewöhnte, so würde sich der Segen der Freiheit auch ohne Wetter- und Wolkenbrüche durch die ihm angewiesenen Kanäle über sein Land verbreiten. Deswegen müßte der Fürst das Volk zur Teilnehmung an den öffentlichen Geschäften stufenweise gewöhnen und Männer zu bilden suchen, welche fähig wären, als Repräsentanten das Wohl der Nation zu besorgen", heißt es in einem Beitrag der Berlinischen Monatsschrift von 1785 mit dem Titel: Neuer Weg zur Unsterblichkeit der Fürsten43. Ernst Ferdinand Klein schreibt in der oben angeführten Schrift über Freiheit und Eigentum: „Aber eben daraus ergibt sich die Pflicht der Regierung, ihre Untertanen aufzuklären und sie nach und nach an den Genuß der Menschenrechte zu gewöhnen"44. Die Vorstellung des „nach und nach" des „allmählich" ist sichtlich an der naturphilosophischen Idee des chain of being, des Seins-Kontinuums orientiert45. Bei Kant gibt es wenigstens in der Spätphase eine Doppelkonzeption bezüglich dieses Kontinuums des Seienden: Eine gesteuerte Handlung, wie sie einzig die einer rechtlichen Vorschrift sein kann, muß sich am Ideal der kontinuierlichen
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Rechtsbewahrung bemessen. Die Natur kann jedoch durch abrupte Brüche das Ziel befördern oder verhindern; in Revolutionen wird die Geschichtskontinuität durch die Natur aufgehoben und das Ergebnis dem Zufall anheim gestellt. Eine Revolution kann niemals Rechtsgebot sein, sie kann jedoch einen rechtsfördernden Charakter haben, und sie hat diesen Charakter, wenn es die Revolution eines geistreichen, aufgeklärten Volkes ist (trotzdem ist es unmöglich, eben dieses Geschehen als rechtliche Handlung zu. legitimieren)46. Dies ist ein Aspekt der Gesamtproblematik in Kants Revolutionsidee. Ich fasse zusammen: Das Erlaubsnisgesetz Kants ermöglicht die Anwendung natur- oder vernunftrechtlicher Normen auf die Wirklichkeit im Modus einer allmählichen Reform. Kant fängt damit die rechtlich nicht mögliche Revolution von unten (Frankreich) oder die Revolution durch den Fürsten47 ab und vermittelt zwischen legitimer Rechtsforderung und rückständiger Wirklichkeit. III. 6. Das Erlaubnisgesetz des äußeren Mein und Dein a) Ein Erlaubnisgesetz (das „sich einer systematisch-einteilenden Vernunft von selbst darbietet") bezieht sich nach den Erörterungen von I. 3 nicht auf Handlungen, die indifferent oder geboten und somit eo ipso erlaubt sind, sondern auf - an sich — verbotene Handlungen. Es bedarf eines besonderen Rechtsgrundes, kategorisch ihre Nicht-Verhinderung zu gebieten. Das Postulat des § 2 der Rechtslehre kann man „ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva)48 der praktischen Vernunft nennen" (VI, 247). Aber was ist am Postulat verboten? Im Gegenteil, eine ihm zuwiderlaufende Maxime ist rechtswidrig — so steht es eindeutig in der ersten Formulierung (VI, 246). Die Aufgabe der Interpretation ist: herauszufinden, wo das Verbot liegen kann, gegen das sich das Postulat als Erlaubnisgesetz richtet. Es ist auszugehen von dem Begriff des angeborenen Rechts; es besteht in der Freiheit oder Unabhängigkeit von eines ändern nötigender Willkür, sofern die Freiheit mit jedes ändern Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann (VI,
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237). Hierauf bezieht sich Kant, wenn er im § 2 sagt, das Erlaubnisgesetz gebe uns eine Befugnis, „die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten" (VI, 247; vgl. Anhang). Die Erfüllung des Prinzips des angeborenen Rechts ist möglich durch die Gewährung der äußeren Handlungsfreiheit, durch die Beachtung also des bloßen Läsionsverbots des jeweiligen inneren suum. Zu diesem suum gehört nach der Exposition des Begriffs vom äußeren Mein und Dein im § 4 auch der physische Besitz. Ohne Verletzung meines angeborenen Rechts auf äußere Freiheit kann mir, was ich gerade in der Hand habe, worauf ich sitze etc., nicht entzogen werden. Das bloße Rechtsprinzip der angeborenen Freiheit ist das Prinzip eines egalitären Kommunismus: Jeder besitzt sich selbst und das, was er gerade besitzt. Freiheit und Gleichheit aller sind gewährleistet (es bedarf nur zur Wirksamwerdung des rechlich Gewährleisteten eines Leviathan, der jeden vom Leib und der physischen Habe des ändern abschreckt). Kant nun setzt gegen das Realismusprinzip des Kommunisten die Idealismusverpflichtung der praktischen Vernunft: „Da nun die reine praktische Vernunft keine andere als formale Gesetze des Gebrauchs der Willkür zu Grunde legt..." (VI, 246) — die praktische Vernunft gebietet kategorisch, von der physischen Relation des Gegenstandes der Habe abzusehen; es ist für sie gleichgültig, ob ich den Besitz physisch besitze oder nicht. Diese Indifferenzerklärung der praktischen Vernunft steht im Einklang mit dem Verstandesbegriff eines Gegenstandes der Willkür als eines rein intelligiblen Besitzes49; hätte die Kritik der reinen Vernunft nicht Raum und Zeit idealistisch interpretiert, so könnte die praktische Vernunft gegen den Besitzrealismus des Kommunisten nichts ausrichten - ihr würde der Begriff des intelligiblen Besitzes fehlen, auf den sie sich mit ihrer Indifferenzerklärung der physischen Relation stützen muß und den sie eben dadurch deduziert, d. h. als geltend und nicht nur ausgedacht nachweist. Und nun wird deutlich, weshalb Kant das Postulat als Erlaubnisgesetz fassen muß: Es befiehlt kategorisch, Handlungshinderungen nicht zu hindern, die dem Prinzip des angeborenen Rechts widersprechen. Die Befugnis eines äußeren Mein und Dein er-
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möglicht eine Freiheitsberaubung dort, wo keines Menschen angeborene Freiheit lädiert wird: Obwohl A durch seine Handlung des Gebrauchs eines bestimmten Gegenstandes die Freiheit von B nicht lädiert, kann er an ihr gehindert werden — das Postulat verlangt von ihm kategorisch, sich dieser Hinderung nicht in den Weg zu stellen, sondern ihr zu weichen. Ein Skandal, den der Kommunist zurecht — zunächst — als solchen empfindet. Die Freiheitseinschränkung ist illegitim, bemißt man Recht und Unrecht am angeborenen Menschenrecht. Die Problemlage läßt sich verdeutlichen durch den Rückbezug auf die Kritik der reinen Vernunft. Dem angeborenen Menschenrecht entspricht die Logik des Satzes vom Widerspruch und der Identität. Wie in der Kantischen Erkenntnistheorie diese Logik das durchgängige notwendige Kriterium der Wahrheit bildet, so ist das angeborene Menschenrecht in der Rechtslehre eine durchgängige Legitimationsschranke äußerer Handlungen. Der Kommunist nun verfährt wie die analytische Schulphilosophie: Sie erklärt die analytische Logik nicht nur zum notwendigen, sondern auch hinreichenden Wahrheitskriterium. Nun gibt es jedoch Urteile, so Kant, die notwendig falsch sind, obwohl sie dem Satz vom Widerspruch nicht widersprechen. Die Kritik der reinen Vernunft beantwortet die Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, für die die Logik von Identität und Widerspruch zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Wahrheitskriterium liefert. Parallel dazu behauptet die Kantische Rechtslehre: Es gibt Handlungen, die nicht dem angeborenen Menschenrecht widersprechen und trotzdem widerrechtlich sind. Daß zwei und zwei drei ist, daß ein Dreieck aus drei Strecken gebildet wird, für deren Länge es keine bestimmten Proportionen gibt, daß es ein Ereignis gibt, daß nicht als Folgeereignis eines ändern erscheint — all das ist nicht widersprüchlich, sondern falsch. Es ist notwendig falsch, weil in die Erkenntnis außer dem bloßen Begriff ein zweites Moment a priori eingeht, die Anschauung von Raum und Zeit. Parallel dazu wird das Unrecht bestimmter Handlungen, die nicht dem Begriff des Rechts als solchem widersprechen, durch den Rekurs jetzt nicht auf Anschauungen, sondern auf das Formalismusprinzip der reinen praktischen Vernunft bewiesen. Das
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Postulat der Vernunft ergänzt den bloßen Rechtsbegriff also in der gleichen Weise wie die Anschauung den bloß logischen Begriff. Wie die Anschauung (im Gegensatz zum Begriff) ein factum brutum ist, so der kategorische Imperativ und seine spezielle Form des Postulats oder Erlaubnisgesetzes. Besonders deutlich wird dies im § 19 innerhalb des Vertragsrechtes formuliert: Es ist schlechterdings unmöglich, von dem Erlaubnisgesetz oder Postulat einen Beweis zu liefern, „ebenso wie es für den Geometer unmöglich ist, durch Vernunftschlüsse zu beweisen, daß ich, um ein Dreieck zu machen, drei Linien nehmen müsse (ein analytischer Satz), deren zwei aber zusammengenommen größer sein müssen als die dritte (ein synthetischer; beide aber a priori)" (VI, 273). Es kommt ein weiteres Moment hinzu. Das Postulat gehört nicht nur an die gleiche Systemstelle wie die Ästhetik und teilt mit ihr nicht nur die Unbeweisbarkeit, sondern bezieht sich gleichsam spiegelbildlich auf die Anschauung. Bringt in der theoretischen Erkenntnis die Anschauung das fehlende Moment hinzu, um dem leeren Begriff einen möglichen Inhalt zu subjungieren, so wird die rechtliche Möglichkeit des äußeren Mein und Dein dadurch aufgewiesen, daß es möglich und notwendig ist, von der Raum-ZeitGegebenheit zu abstrahieren und dadurch einen Besitz zu ermöglichen, der über den Raum-Zeit-bestimmten Besitz des physischen Habens hinausgeht. In einem theoretischen Grundsatz, sagt Kant, müßte dem gegebenen Begriff eine Anschauung a priori untergelegt, mithin etwas zu dem Begriff vom Besitz des Gegenstandes zugetan werden; in einer Deduktion der praktischen Vernunft wird umgekehrt verfahren, „und alle Bedingungen von der Anschauung, welche den empirischen Besitz begründen, müssen weggeschafft (von ihnen abgesehen) werden, um den Begriff des Besitzes über den empirischen hinaus zu erweitern" (VI, 252). In der theoretischen Erkenntnis also wird die Anschauung hinzugetan, in der praktischen wird von ihr abstrahiert; diese Abstraktion ist nicht aufgrund des bloßen Rechtsbegriffs möglich, dem die Anschauung völlig fremd ist, sondern aufgrund des Postulats oder Erlaubnisgesetzes, das kategorisch das Formalismusprinzip fordert.
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Kant hat vermutlich die Rechts- und Tugendlehre insofern als systematisch gleichartige Ergänzung der Grundlegung von 1-785 und der Kritik der praktischen Vernunft angesehen, als beide Teile der Metaphysik der Sitten die Gegenstände freier Handlungen erörtern. Die Rechtslehre ist wesentlich eine Lehre des äußeren Mein und Dein, wie sich gleich zu Beginn unserer Erörterung leicht zeigen ließ; das Gegenstück in der Tugendlehre ist der Zweck der Handlung. „Zweck ist ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt (wodurch jene hervorgebracht wird)" (VI, 384). Jede menschliche Handlung hat notwendig einen Zweck; es muß nun Zwecke geben, die zugleich durch den kategorischen Imperativ zur Pflicht gemacht werden. „Denn gäbe es keine der gleichen, so würden, weil doch keine Handlung zwecklos sein kann, alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu anderen Zwekken gelten, und ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt" (VI, 385). Diese Überlegung ist das Analogon zum § 2, in dem die Notwendigkeit eines gesetzmäßig möglichen Gegenstandsgebrauchs gezeigt wird; würde die praktische Vernunft einen derartigen Gebrauch nicht gesetzlich erlauben, d. h. die Verhinderung kategorisch verhindern, so würde sie sich selbst aufheben. In beiden Fällen wird über den bloßen Begriff hinausgegangen, die praktische Vernunft erweitert sich und gibt sich durch den kategorischen Imperativ, bezogen auf menschliche Handlungen, Gegenstände a priori. Das Prinzip der Tugendlehre geht „über den Begriff der äußeren Freiheit hinaus und verknüpft nach allgemeinen Gesetzen mit demselben noch einen Zweck, den es zur Pflicht macht. Dieses Prinzip ist also synthetisch" (VI, 396)50. b) Das Erlaubnisgesetz soll uns die Befugnis geben, „allen ändern eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben" (VI, 247). Auf diese Spezifikation des Erlaubnisgesetzes wurde bisher nicht eingegangen. Es gibt zwei Gegenstandsklassen des äußeren Mein und Dein (die Kant vorzeichnet, aber als solche nicht benennt): Erstens Sachen und zweitens Gegenstände, die
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zum inneren Mein einer anderen Person gehören, nämlich ihre Willkür und ihr Zustand. Das Rechtsprinzip der äußeren Freiheit besagt, daß das innere Mein niemals eine res vacua sein kann, sondern rechtlich zu der Person gehört, deren Mein sie ist. Die Formulierung des Postulats (VI, 246) ist demnach irreführend: „Es ist möglich, einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben" gilt nach der Konstruktion Kants für beide Gegenstandsklassen, sowohl für Sachen wie auch für Willkür und Zustand eines ändern. Die als Äquivalent angeführte zweite Formulierung gilt jedoch nur für Sachen: „.. .; d. i. eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür an sich (objektiv) herrenlos (res nullius) werden müßte, ist rechtswidrig" — herrenlos können nur Sachen, nicht aber die Willkür und der Zustand einer menschlichen Person werden. Der zweite Satz ist kein Äquivalent des ersten — „d. i." —, sondern eine Folgerung für eine Teilklasse des möglichen äußeren Mein und Dein. Das Prinzip des Besitzidealismus und damit die synthetische Erweiterung des möglichen Mein und Dein über die äußere Freiheit hinaus gilt auch für nicht-sächliche Gegenstände: Es ist z. B. rechtswidrig, die vertragliche Vereinbarung über eine zu bringende Leistung für null und nichtig zu erklären, weil zwischen Vertragsabschluß und Leistungstermin Zeit verstrichen ist; aber die rechtswidrige Maxime würde hier nicht implizieren, daß die Willkür selbst zur res nullius würde (wohl aber wäre der Berufungsgrund dieser Maxime: Es gibt außer dem angeborenen Mein und Dein keine Freiheitsgesetzgebung, dieser Grund wäre seinerseits in Bezug auf Sachen das Prinzip ihrer objektiven Herrenlosigkeit. Vielleicht hat sich Kant den Zusammenhang in dieser Weise gedacht). Das äußere Mein und Dein nicht-sächlicher Art bedarf zu seiner rechtlichen Möglichkeit der vertraglichen Einstimmung dessen, dem die Willkür oder der Zustand als inneres suum zugehört (mit der Ausnahme des Rechts an einem Kind). Die Verpflichtung, die durch die Habe des ändern für den natürlichen Besitzer entsteht, ist also eine obligatio a se ipso contracta. Das äußere Mein und Dein beruht hier auf einer bilateralen vertragii-
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eben Vereinbarung auf der Grundlage des Postulats oder Erlaubnisgesetzes in seiner allgemeinen Form. Anders ist die Lage beim Sacheigentum: Hier gilt, daß die äußere Habe allen ändern eine Verbindlichkeit auferlegt, die sie sonst nicht hätten — durch das äußere meum einer Sache wird die Freiheit aller ändern nicht auf Grund ihres eigenen Willens eingeschränkt, sondern „weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben". Die Erlaubnis besagt hier also nicht nur, daß es verboten ist, uns in Berufung auf das angeborene Freiheitsrecht gegen eine Freiheitseinschränkung zu wenden, zu der wir selbst irgendwann unsere Einstimmung gegeben haben, sondern das Erlaubnisgesetz verbietet hier die Eliminierung einer Freiheitsberaubung, zu der wir nie einstimmten. Die Freiheitsberaubung ist ungesetzlich nicht nur, wenn man zum alleinigen Kriterium der Rechtsbeurteilung von Handlungen das angeborene Menschenrecht macht, sondern sie ist darüber hinaus „ungesetzlich", da sie auf einseitiger Willkür beruht. Hiermit ist das Problem für das Eigentumsrecht vorgezeichnet: Es muß die äußere Habe eines jeden, die die Freiheit aller ändern ungesetzlich einschränkt, dem Prinzip der Willenskonformität aller unterworfen werden: das provisorische Sacheigentum steht unter der Bedingung der näheren Bestimmung durch den allgemeinen Willen51. Hierauf soll im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden; es ist nur soviel deutlich: Der Kantische Staat hat einerseits eine Schutzfunktion im Hinblick auf das innere Mein und Dein und die äußere Habe, die aus dem inneren Mein und Dein eines ändern abgeleitet ist. Zu dieser Schutzfunktion bedarf es jedoch nur des Hobbesschen Leviathan, nicht des Kantischen bestimmenden allgemeinen Willens. Dieser ist wesentlich bezogen auf die Bestimmung des Sacheigentums; am allgemeinen Willen partizipieren deswegen nicht alle freien und gleichen Bürger, die im Prinzip nur über ein inneres Mein zu verfügen brauchen, sondern die Bürger, die über Eigentum verfügen und dadurch selbständig sind, wobei Kant als selbstverständlich voraussetzt, daß über die Habe nur die Habenden verfügen und bestimmen können (allerdings in Konformität mit dem potentiellen Erwerbswillen der Habenichtse). Die Auszeichnung der
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selbständigen Bürger im öffentlichen Recht ist also nicht zurückzuführen auf eine Anhängerschaft Kants an die Hausordnung Alteuropas (der Selbständige als pater familias) oder die frühkapitalistische Wirtschaft (der Selbständige als Kapitaleigner) — das mag alles richtig sein, die rechtsphilosophische Begründung der Eigentümlichkeit des allgemeinen Willens wird im § 2 begründet und hat entsprechend tiefere als zeitgenössische oder alteuropäische Wurzeln. In den beiden Abschnitten a und b (von III, 6) wurde zu zeigen versucht, daß es zwei Versionen des Erlaubnisgesetzes im § 2 gibt. Die erste allgemeinere besagt, daß es einen Rechtsgrund gibt, bestimmte Handlungen, die mit dem Prinzip der äußeren angeborenen Freiheit kompatibel sind, deren Verhinderung also nach eben diesem Prinzip verboten wäre, doch zu verhindern: „An sich" — nämlich unter Berufung auf die bloße Kompatibilität der äußeren Freiheit — ist es verboten, Handlungen, die die äußere Freiheit nicht lädieren, (in der Logik: Urteile, die nicht widersprüchlich sind) zu hindern (als - notwendig — falsch zu prädizieren). Gegen dieses denkbare Verbot stellt das Postulat das Formalismusprinzip der reinen praktischen Vernunft: die rechtlich-praktische Vernunft muß sich auf Grund dieses Prinzips erweitern und eine rechtliche Freiheitseinschränkung über das neminem laede des inneren suum eines jeden ermöglichen. Die zweite Version des Erlaubnisgesetzes ist einschlägig nur für eine der beiden grundsätzlichen Gegenstandsklassen des äußeren Mein und Dein, nämlich Sachen. Das Erlaubnisgesetz besagt hier, daß in Antizipation eines allgemein-gesetzgebenden Willens die Freiheit aller ändern durch den Willkürakt jeweils eines einzigen provisorisch eingeschränkt werden kann. Lehnt man die von mir angenommene Doppelbödigkeit des Erlaubnisgesetzes ab, so muß man als Kants Lehre unterstellen, daß die Willkür und der Zustand von Menschen zu brachliegenden Gebrauchsgegenständen erklärt werden, bezüglich deren der jeweils Erste ein Zugriffsrecht hat. Dies mag die Praxis vieler Zeiten und Völker sein, auch der Alteuropäer und Frühkapitalisten, aber es widerspricht Kants ausdrücklicher Lehre vom angeborenen Recht der äußeren Freiheit und Gleichheit (vgl. auch
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§ 19: „Die Erwerbung eines persönlichen Rechts kann niemals ursprünglich und eigenmächtig sein (denn eine solche würde nicht dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit meiner Willkür mit der Freiheit von jedermann gemäß, mithin unrecht sein)"). Es wurde oben (II. 4) zu zeigen versucht, daß die Kontrastbildung provisorisch-peremtorisch in einem systematischen Zusammenhang mit der Lehre von der Modalität von Urteilen bzw. Kategorien steht. Das problematische Urteil, das praejudicium oder judicium praevium, kann wahr oder falsch sein, es wird geprüft und läßt sich dann in ein kategorisches oder apodiktisches Urteil überführen. Die Theorie des problematischen Urteils erwächst bei Kant im Kontext seines endgültigen Übergangs von der analytischen Schulphilosophie zu Lockes Philosophie der Erweiterungsurteile52. Die Behauptung einer Erkenntnis ist provisorisch, bis sie sich eingliedern läßt in die Prinzipien und den Bestand der Erkenntnis. Die analytische Schulphilosophie braucht keine Theorie des provisorischen Urteils; das Problem der problematischen Synthesis stellt sich ihr nicht. Wenn diese Situationsskizze korrekt ist, so muß sich die Struktur von provisorisch-peremtorisch auf synthetische Rechtssätze a priori überhaupt beziehen und unsere Annahme, daß es ein provisorisches äußeres Mein und Dein nur beim Eigentum gibt, dürfte nicht richtig sein. Tatsächlich ist diese Annahme richtig; Kant kennt kein provisorisches rechtliches Haben, das sich aus dem inneren Mein eines ändern ableitet. Bezüglich der Willkür und des Zustands eines ändern wird, wie sich zeigte, die Freiheit „aller ändern" nicht über das analytische Rechtsprinzip hinaus eingeschränkt, und es liegt keine einseitige Antizipationshandlung in der Besitznahme vor. Ein Pendant zum problematischen Urteil darf sich also nur in der Internrelation der Personen finden, innerhalb deren das innere Mein des einen zum äußeren Mein des ändern wird. Und dies findet sich im Vertragsrecht tatsächlich. Kant nimmt eine Stufung von vorbereitenden und konstitutiven Akten der Willkür an. „Denn ein Anerbieten kann nicht eher ein Versprechen heißen, als wenn ich vorher urteile das Angebotene (oblatum) sei etwas, was dem Promissar angenehm sein könne . . ." (§ 19). Das „vor-
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her urteilen" ist das gesuchte Moment des prae-judicium. Beim Eherecht wäre das Gegenstück die Verlobungszeit, beim Gesinderecht könnte es ein Probe-Dienst-Zeit sein; nur beim Kind schließt sich das probeweise Vor-Leben mit der Möglichkeit, sich dann doch zurückzuziehen, peremtorisch aus. c) Die erste allgemeinere Version des Erlaubnisgesetzes hat ihre Wurzeln in der begrifflichen Systematik, wie sie oben dargelegt wurde (II. 3); die zweite Version steht in einer stärkeren Affinität zu den zeitgenössischen Problemen von Revolution und übereilter Reform (vgl. II. 5); der Mittelweg, dem Kant sich anschließt, ist die provisorische Erlaubnis der positiven Rechtsverhältnisse im Hinblick auf eine allmählich zu schaffende Konformität mit dem allgemeinen Willen. Diesen Gedanken sucht Kant fruchtbar zu machen für die Ermöglichung des äußeren Mein und Dein überhaupt und zwar speziell für den Sachbesitz; das Eigentum bedarf der Erlaubnis in der zweiten (und damit a fortiori auch in der ersten) Version. Abschließend sei eine Gegenprobe vorgeführt; bei einer früheren Konzeption des Sachbesitzes leitet Kant diesen aus dem Freiheitsprinzip unmittelbar ab und benötigt entsprechend kein (bezüglich unserer Interpretation der Doppelstruktur natürlich undifferenziertes) Erlaubnisgesetz oder Postulat. Diese frühere Konzeption wird in der Rechtslehre von 1796/97 ausdrücklich kritisiert. Es muß sich um eine Theorie handeln, die die Möglichkeit des äußeren Mein und Dein unmittelbar mit dem allgemeinen Rechtsprinzip verknüpft, in der also die prima occupatio nicht nur ein Akt einseitiger Willkür ist, sondern eine Handlung gesetzmäßiger Freiheit. Erst mit der Ablösung dieser Theorie müßte sich dann die Einführung eines Erlaubnisgesetzes an dieser elementaren Stelle als notwendig erweisen. Ein kohärenter Text zu diesem Problem findet sich in der Naturrechts-Vorlesung nach der Mitschrift Feyerabend53. Kant exponiert das Problem der Besitznahme durch einen einseitigen Akt, und er stellt die Frage: „Wodurch wird diese Anmaßung rechtmäßig?" (XXVII, 1341), die Anmaßung nämlich einer Einschränkung der Freiheit der ändern durch meine occupatio einer
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res vacua. Die Rechtmäßigkeit der Anmaßung beruht in dieser Theorie darauf, daß die Form der Sache, die ich okkupiere, durch Handlungen der Freiheit modifiziert wird: „Ein Produkt der Freiheit ist ein Produkt der Natur, welches durch meine Freiheit in Ansehung seiner Form modifiziert wird, z. E., ein Baum den ich behauen habe. Wer dieser Sache sich bedient, handelt wider meine Freiheit, weil er die Produkte meiner Freiheit, und die Handlungen meiner Freiheit hindert und die Absicht, die ich dabei habe" (XXVII, 1342). Nicht jeder Gebrauch einer Sache ist eine rechtliche Besitznahme; diese liegt nur da vor, „wo die Form der Sache durch Freiheit modifiziert wird" (ibid.)54 Hier also bedarf es keines Postulats oder Erlaubnisgesetzes, weil die Handlung selbst im Rechtsprinzip der gesetzmäßigen Übereinstimmung der Freiheit eines jeden mit der aller ändern begründet ist oder doch sein soll. Kant polemisiert gegen die von ihm selbst vertretene Auffassung in der Theorie von 1796/97. In der Anmerkung des § 17 heißt es, es sei völlig evident, daß die erste Bearbeitung, Begrenzung oder überhaupt Formgebung eines Bodens keinen Grund eines rechtlichen Besitzes der Substanz abgeben könne, sondern es muß umgekehrt ein rechtliches Besitzverhältnis vorliegen, so daß dann der Gegenstand beliebig gebraucht werden kann (VI, 268—69). Wir unterliegen gewissermaßen einer „Amphibolic der moralischen Reflexionsbegriffe"55 die uns denken läßt, es gebe eine rechtliche Verbindlichkeit von Sachen. — Die Kritik an der von ihm selbst vertretenen Theorie der ursprünglichen Erwerbung und die Neukonzeption der Rechtslehre mit der Grundlage eines Postulats oder Erlaubnisgesetzes stehen also in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis. IV, 7. Vernunft und Geschichte in der Kantischen Rechtslehre ,,Le premier qui ayant enclos un terrain s'avisa de dire, Ceci est ä moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la societe civile. Que de crimes, de guerres . . . n'eüt point epargnes au genre humain celui qui, arrachant les pieux ou comblant le fosse, eüt crie ä ses semblables: ,Gardez vous d'ecou-
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ter cet imposteur; vous etes perdus si vous oubliez que les fruits sont ä tous, et que la terre n'est ä personne!" — mit diesen klangvollen Sätzen beginnt Rousseau den zweiten Teil seines Discours zur l'inegalite von 1755. Kant hat seine Rechtslehre nicht mehr in direkter Auseinandersetzung mit Rousseau verfaßt; aber dessen Schriften waren ihm vertraut, und so ist es legitim, den zitierten Passus mit dem Postulat der praktischen Vernunft zu konfrontieren und den Beginn der Kantischen Rechtslehre als Antwort auf die revolutionsträchtige Meinung Rousseaus zu lesen. Rousseaus (nicht von ihm selbst vertretenes!) Verdikt ist rechtswidrig — es ermöglicht, in beliebigen Situationen die Grundlagen von Gesellschaft und Staat als Gewalt zu denunzieren und eine Revolution zu beginnen, um endlich aus dem status naturalis nackter Gewalt in den Friedenszustand der vom Naturrecht gewollten kommunistischen Gesellschaft überzugehen. Rousseau denunziert den rechtlosen Initiator der bürgerlichen Gesellschaft als Betrüger - Kant stellt dagegen an den Anfang der Rechtsgenese sein Erlaubnisgesetz in der engeren Version; es gebietet kategorisch, den Willkürakt einer einseitigen Besitznahme und ergo einseitigen Einschränkung der Freiheit aller ändern nicht zu verhindern, sondern ihm provisorische Gültigkeit unter der Bedingung des Eintritts in die societas civilis zu gewähren. Als Beginn der bürgerlichen Rechtsstiftung kann und muß die gesetzlose Willkür geduldet werden. Das Erlaubnisgesetz ist also faktisch identisch mit der Erlaubnis, jeden ändern, mit dem es zum Streit des äußeren Mein und Dein kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten (§8 Ende). Entsprechend dieser Konstruktion ist der Übergang aus dem Naturzustand in den Staat (§ 42) in enger Anlehnung an den § 2 konzipiert56. § 41 bringt wie § l definitorische Bestimmungen; dann wird die Gewalt zur Ermöglichung der gesetzlichen Bestimmung äußerer Handlungen und der nicht im physischen Besitz befindlichen Gegenstände erlaubt. Der Parallelismus von § 2 und § 42 wird dadurch gestört, daß Kant schreibt, der Grund des Postulats „exeundum est e statu naturali" lasse sich analytisch aus dem Begriff des Rechts entwik-
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kein; für das Erlaubnisgesetz des § 2 war es essentiell, daß sich die in ihm ausgesprochene Befugnis aus dem bloßen Begriff des Rechts nicht herausbringen ließ. Aber die vollständige Formulierung des § 42 bezieht sich auf den Begriff des Rechts „im äußeren Verhältnis". Es ist damit offenbar die Voraussetzung des Übergangs aus dem status naturalis in die bürgerliche Gesellschaft angesprochen, nämlich das provisorische Gegebensein eines äußeren Mein und Dein. In ihm liegt die Beziehung auf „alle ändern" und damit die Idee eines allgemeingesetzgebenden Willens. Im § 42 setzt Kant also die Synthesis des Postulats von § 2 voraus und kann auf der Grundlage des erweiterten Rechtsbegriffs den analytischen Charakter des Übergangszwanges behaupten. Das zunächst aktivistisch klingende Prinzip: Du sollst den status naturalis verlassen! ist beim näheren Zusehen also doch anders zu lesen. Du sollst, wenn jemand die Initiative ergreift, aus dem status naturalis in den einer austeilenden Gerechtigkeit überzugehen, keinen Widerstand gegen die nicht gesetzmäßige Handlung leisten, denn zu ihr ist er befugt. Ein Romulus wird sich immer finden; dem Remus ist geboten, sich seinem staatsgründenden Zwang, der notwendig noch nicht gesetzmäßig sein kann, nicht zu widersetzen. Analog sprach das Postulat der praktischen Vernunft kein apodiktisches: „Do it!" aus, sondern besagte, „daß es Rechtspflicht sei, gegen andere so zu handeln, daß das Äußere (Brauchbare) auch das Seine von irgend jemanden werden könne" (VI, 252)57. Das Erlaubnisgesetz bestimmt nicht nur den Rechtsbeginn in § 2 und § 42, sondern bezieht sich, wie aus dem Gesamtduktus der Kantischen Überlegungen schon klar wurde, auf die staatlichen Rechtsinstitutionen von Eigentum und Regierung bzw. Verfassung überhaupt. Ihre Fehler sind zu dulden im Hinblick auf eine allmähliche Korrektur; ohne diese Duldung ließe sich die evolutio juris nicht verwirklichen, zu der der Souverän verpflichtet ist: die Regierungsart der Vernunft-rechtlichen Idee des Staats anzugleichen und sie, „wenn es nicht auf einmal geschehen kann, allmählich und kontinuierlich dahin zu verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der einer reinen Repu-
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blik, ihrer Wirkung nach zusammenstimme" (VI, 340); so lange das suum cuique nicht als peremtorisches Recht realisiert ist, kann und muß ein provisorisches inneres Recht zugestanden werden (VI, 341). Die Beziehung jeden jetzigen Rechts auf eine prozessual zu realisierende Rechtsordnung besteht nicht nur im einzelnen Staat, sondern auf dem Globus der Erde im ganzen: Erst in der verwirklichten Utopie der Erdinsel wird es ein peremtorisches Eigentumsrecht geben, alle zuvorliegenden Aneignungen stehen unter dem Vorbehalt einer Korrektur gemäß der Idee eines über alle Freiheitsbeschränkungen befindenden allgemeinen Willens. So lange sich der ursprüngliche Vertrag nicht auf das ganze menschliche Geschlecht erstreckt, wird jede Erwerbung „immer nur provisorisch bleiben" (VI, 266). Alles Recht der Völker und alles äußere Mein und Dein der Staaten ist nur provisorisch, erst durch die Gründung eines allgemeinen Staatenvereins kann ein Zustand des peremtorischen Rechts entstehen (VI, 350). Von bestimmten äußeren Rechten zu reden ist also nur möglich durch die Beziehung eines scheinbar statisch Gegebenen auf eine dynamische Entwicklung in der Zeit — ohne die Idee einer künftigen Realisierung des peremtorischen Rechts hat das jetzige äußere Mein und Dein keine Grundlage. Das Erlaubnisgesetz in der zweiten Version führt zu einer Zeitwende in der Legitimation von Herrschaft und Eigentum: nicht in der Vergangenheit ist der Rechtstitel fundiert, sondern in der Zukunft. Das äußere Mein und Dein, soweit es aus dem inneren suum einer Person abgeleitet ist, partizipiert nicht an der Realisierung eines peremtorischen Rechtszustandes — nur das Sachenrecht steht hier zur Diskussion. Das Kentaurenrecht der dritten Klasse, das auf dingliche Art persönliche Recht, stiftet zwar wie das Sachenrecht einen Anspruch gegen jeden Besitzer (VI, 278; 282; 284), aber es gilt peremtorisch und bedarf wie der gesamte Komplex des inneren und äußeren Mein und Dein des Rechtsschutzes, aber nicht einer prozessualen Verrechtlichung eines im Vorgriff erfolgten einseitigen Akts der Willkür. b) Vernunft und Geschichte in der Kantischen Rechtslehre — um welche Geschichte handelt es sich? Bisher wurde nur die
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Zeitlichkeit bestimmter Rechtsmomente herausgearbeitet. Wir kamen zu dem paradoxen Ergebnis, daß zwar der Rechtsbegriff als intelligibler Begriff ohne Zeitbezug zu denken ist und die Leistung des Postulats in der Abstraktion von Raum- und Zeitbestimmungen lag, umgekehrt jedoch von wirklichen Eigentumsund Herrschaftsrechten nur gesprochen werden kann, wenn man den positiven Rechtsanspruch als provisorischen interpretiert und auf das Programm einer Rechtsrealisierung im ganzen bezieht58. Jedes bestehende Eigentums- und Herrschaftsrecht ist aufgrund der ungesetzlichen Gewalt, der es seine Entstehung verdankt, an sich nichtig; nur die Beziehung auf die Zukunft rettet den Gegenwartsanspruch. Die Zeit ist also konstitutiv für die Kantische Rechtstheorie. Kant äußert sich zum Problem der Zeit explizit nur bei der Erörterung der Abstraktion durch den kategorischen Imperativ, die hier freigelegte Zeitstruktur jedoch wird zwar einbezogen, jedoch nicht ausdrücklich thematisiert. Die Zeittheorie der Ästhetik und Analytik der Kritik der reinen Vernunft hilft wenig bei dem Versuch, zu verstehen, um welche Zeitlichkeit es sich in der Kantischen Rechtslehre handelt. Zeit ist die Form der Anschauung, mit Hilfe der Zeit lassen sich die Kategorien schematisieren. Die Zeit läßt sich vorstellen als Linie, auf der mit Hilfe der Verstandesbegriffe Ereignisse fixiert und in ihrem relativen Bezug zueinander objektiv bestimmt werden. Die Zeitbestimmung der Rechtslehre verstößt, so wird man vermuten, hiergegen nicht; aber die Fixierung positiver Rechte geschieht unter Einbeziehung einer Dimension, die in der Ästhetik und Analytik nicht thematisiert wird. Das Recht weist sich als solches durch die Möglichkeit aus, den jeweiligen Anspruch auf die zu verwirklichende Rechtsrealität eines zukünftigen Ganzen zu bestimmen. Der Ort, an dem man sich orientieren muß, um diese Zeitstruktur bei Kant näher zu bestimmen, ist die Dialektik der Kritik der reinen Vernunft, und zwar innerhalb des Versuchs, die positive Funktion der Ideen für die Verstandeserkenntnis zu erfassen. Die Idee leitet den Verstandesgebrauch und gibt ihm die Richtung auf das Ganze; sie ermöglicht es erst, daß die einzelnen Erkenntnishandlungen nicht blind vor sich hin addiert, sondern
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zweckmäßig auf ein Ziel hin bestimmt werden. (Im Bilde des Protagoras-Mythos: Der Verstand gleicht Epimetheus, der nur weiß, was er tut, wenn er sieht, was er macht. Erst die pro-metheische Vernunft kann im Licht des nunmehr eigenen Feuers voraussehen und planvolles oder vernünftiges Handeln des Verstandes ermöglichen.) In gleicher Weise fungiert die Idee einer peremtorischen Rechtsrealität der Menschheit als Telos, auf das die einzelnen Ansprüche von Besitz und Herrschaft bezogen werden und aus dem sie erst von der Vernunft legitimierbar sind. Die Stücke der Rechtslehre, die hier näher erörtert wurden, sind in ihrer Zeitstruktur Ideologisch konstruiert, der Anfang ist im Ende begründet; das Erlaubnisgesetz in seiner zweiten Version befiehlt kategorisch das respice finem: die Gewalt, mit der die Rechtsverhältnisse je noch belastet sind, ist rechtens, weil nur durch diesen Machtspruch des „als ob" das Recht im ganzen zu verwirklichen ist. Die Zeit der Geschichte ist das „Schema" der Rechtsverwirklichung. Gibt es eine analoge Funktion des Raumes? Auch der Raum wurde ausgeklammert durch die Abstraktionsleistung des kategorischen Imperativs; aber er tritt wieder in Erscheinung, und zwar in Form einer grenzenlosen, aber beschränkten Fläche: Hätte die Erde als der Wohnplatz der Menschen keine Kugelgestalt, so gäbe es keine Problematik der Rechtsrealisierung, denn jeder könnte auf einer unendlichen Fläche jeden ändern dazu nötigen, sich aus seiner konfliktträchtigen Nähe zu begeben (VI, 262; vgl. weiter 352; 453; VIII, 358; XXIII, 172; 322). Erst die Tatsache der Kugelform der Erde führt zum Zwang der Erstellung von Rechtsverhältnissen. Sie ist also für die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre" (nicht für die Tugendlehre!) ein empirisches Faktum apriori. Bezogen auf die Kugelfläche der Erde und die Geschichtszeit ist die prima occupatio in ihrer zeitlichen und räumlichen Bestimmung jeweils ohne zureichenden Grund (analog der Schöpfung Gottes in der Newtonschen Konzeption eines absoluten Raumes, wie Leibniz feststellte). Das hie et nunc geschieht ohne eine Legitimation im allgemeinen Rechtsprinzip. Die zur Pflicht gemachte Fortentwicklung jedoch ist bezogen auf das Ziel einer globalen
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peremtorischen Rechtsordnung. Die Kugelgestalt der Erde ist also das „Schema" einer zu ihrem Zweck und Ende gekommenen Rechtsgeschichte. Es bedarf nur eines Zitats aus der Kritik der reinen Vernunft, um die innere Affinität dieser Konzeption mit den Grundlagen von 1781 zu zeigen: „Unsere Vernunft ist nicht etwa eine unbestimmbar weit ausgebreitete Ebene, deren Schranken man nur so überhaupt erkennt, sondern muß vielmehr mit einer Sphäre verglichen werden, deren Halbmesser sich aus der Krümmung des Bogens auf ihrer Oberfläche (der Natur synthetischer Sätze a priori) finden, daraus aber auch der Inhalt und die Begrenzung derselben mit Sicherheit angeben läßt (A 762; vgl. u. a. IV, 263). Der globus (intellectualis) ist das „Schema" der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft; der globus terrestris ist das unverzichtbare „Schema" der rechtlich-praktischen Vernunft in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre". In ihm findet die prozessuale Rechtsverwirklichung ihr telos, ihr Ziel und Ende. Die Kantische Rechtsteleologie ist unterschieden von der Hegelschen. Ein wesentlicher Differenzpunkt liegt in der Konzeption des systematischen Ganzen als eines zeitlich offenen bei Kant und eines geschlossenen Systems bei Hegel. Kants Vorstellung von Zeit und Raum impliziert, daß zwar beiden gewisse Komponenten des absoluten Raums und der absoluten Zeit der Gassendi-Barrow-Newton-Tradition übernehmen, aber es gibt nach Kant keine Möglichkeit, den Raum und die Zeit im ganzen als Bezugssystem zu wählen, innerhalb dessen Bewegung und Ruhe absolut fixiert werden können. Desgleichen gibt es keine Möglichkeit, in einer gleichsam absoluten Geschichtszeit Ereignisse zu datieren und auf der Skala der Vernunftwerdung als vergangen, gegenwärtig oder künftig abzutragen. Die Französische Revolution gibt nicht den Stundenschlag in der Entwicklung des Absoluten an, sondern soll nur ein Indiz dafür sein, daß ein Fortschritt zum Besseren stattfindet und die Menschheit nicht das Schicksal des Sisyphos erleidet. Die absolute Zeit ist offen und läßt damit keine absolute Datierung zu. Dem entspricht, daß die Idee einer Rechtsvollendung keine Kategorie ist, die der Bestimmung von Phänomenen in der
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Erscheinungswelt dient. Es ist, so lange Geschichte auch dauert, niemals möglich, daß die Idee als realisierte aufgewiesen werden kann. Hegel dagegen operiert mit einer Geschichtszeit, die absolute Markierungen ermöglicht; er setzt Kategorie und Idee, Ding an sich und Erscheinung gleich und kann und muß damit zu einem geschlossenen ideologischen System gelangen. Zur Illustration des Unterschiedes sei daran erinnert, daß der frühe Kant sich mit der allgemeinen Theorie und Naturgeschichte des unendlichen Kosmos befaßt, während der junge Hegel über das abgeschlossene System von Sonne und Planeten reflektierte. Kants Ideen der Rechtslehre sind Ideen der praktischen Vernunft, sie begründen Rechte und Rechtspflichten, aber keine Erkenntnis positiv aufweisbarer Fakten. Bei Hegel wird, wie schon der Titel seiner politischen Hauptschrift besagt, die Rechtsphilosophie zur Staatswissenschaft. Wir können erkennen, daß es auch in der Menschenwelt letztlich vernünftig zugeht und Gott gerechtfertigt ist — nach Kant gibt uns die Rechtslehre nur die Grundlinien des praktischen Handelns, nicht der theoretischen Erkenntnis, die Vernünftigkeit ist kein garantiertes Datum, sondern eine verpflichtende Aufgabe. Und weiter: Kant bezieht sich auf das unabgeschlossene Rechtstotum der Menschheit, bei Hegel ist die höchste und letzte Realität der Staat. Nach Kant haben „wir" die Pflicht, das Recht der Menschheit zu realisieren59 — dieses kosmopolitische Subjekt der Rechtsverwirklichung in der societas generis humani ist dem Hegeischen Staatsdenken völlig fremd. Anhang: Der „bloße Begriff" Die Diagnose des Erkenntnisdefizits des bloßen Begriff findet sich schon in der Polemik von Francis Bacon gegen die aristotelische Syllogistik, die nach Bacon im rein Begrifflichen verharrt und nicht zu den Sachen selbst gelangt; das novum organum ist im Gegensatz zum organum des Aristoteles eine Logik nicht der Worte und eigenen Gedanken, sondern der Forschung und Erkenntnis60. - In modifizierter Form wendet Locke den gleichen
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Vorwurf gegen Descartes: Descartes' Theorie ist eine bloße Wortverwaltung, aber nicht die Theorie einer Erweiterung (enlarge) unserer Erkenntnis61. - Der Hauptvorwurf Kants gegen Leibniz ist von gleicher Struktur. So heißt es in dem Kapitel über die Amphibolic der Reflexionsbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft: „Aber, da in der Anschauung etwas enthalten ist, was im bloßen Begriff von einem Ding überhaupt gar nicht liegt, und dieses das Substratum, welches durch bloße Begriffe gar nicht erkannt werden würde, an die Hand gibt, nämlich einen Raum . . ." (A 284). Wir werden hiermit zurückversetzt in die entscheidende Abkehr Kants von der Leibniz-Wolffschen Philosophie im Jahre 1768: Die inkongruenten Raumstücke wie etwa rechte und linke Hand können begrifflich nicht als unterschieden bestimmt werden, es bedarf des Bezugs zum absoluten Raum, oder, in der Version von 1770, zur Anschauung. Leibniz verharrte bei der Analyse der bloßen Begriffe; Kants entscheidender Gedanke im Zuge der Entwicklung der kritischen Philosophie war: Es bedarf eines zweiten, heterogenen Moments, um Erkenntnis der Wirklichkeit zu ermöglichen. Das „Aufklärungs"programm der deutschen Schulmetaphysik mit ihrem Fundamentalunterschied von undeutlichen und deutlichen Vorstellungen „ist bloß logisch, und betrifft nicht den Inhalt" (A 43). Die Schulmetaphysik blieb „unwissentlich immer nur im Felde der Logik" (XX, 277)62. — Bei David Hume konnte Kant den gleichen Vorwurf gegen die Tradition des Rationalismus finden. Der Satz vom Widerspruch ist so wenig ein ausreichendes Prinzip der Begründung von sittlichen Vorstellungen wie der Erkenntnis der Wirklichkeit; in beiden Fällen kann die Logik nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung liefern. In einem Fall bedarf es der weiteren Komponente des moralischen Gefühls, im ändern der komplizierten Trias von Gewohnheit, Gefühl und Glauben. Hegel hat bekanntlich den gleichen Vorwurf gegen Kant erhoben. Mit der reinen praktischen Vernunft, so führt er in der Abhandlung Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts aus, läßt sich kein System der Sittlichkeit gewinnen, da nicht einmal „eine Mehrheit von Gesetzen möglich ist; in dem was über den reinen Begriff, oder weil dieser, insofern er als
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negierend das Viele, d. h. als praktisch gesetzt wird, die Pflicht ist, was über den reinen Begriff der Pflicht und die Abstraktion eines Gesetzes hinausgeht, nicht mehr dieser reinen Vernunft angehört; wie Kant, derjenige, der diese Abstraktion des Begriffs in ihrer absoluten Reinheit dargestellt hat, sehr gut erkennt, daß der praktischen Vernunft aller Stoff des Gesetzes abgehe, und daß sie nichts mehr als die Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkür zum obersten Gesetze machen könne"63. Die reine Form des Gesetzes führt zu einer bloß analytischen Einheit. „Und in der Produktion von Tautologien besteht nach der Wahrheit das erhabene Vermögen der Autonomie der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft; die reine Identität des Verstandes, im Theoretischen als der Satz des Widerspruchs ausgedrückt, bleibt auf die praktische Form gekehrt, eben dasselbe"64. Beim Eigentum gelangt die Gesetzgebung der praktischen Vernunft zu der Tautologie: Eigentum ist Eigentum und sonst nichts anderes, und mit gleichem Recht: Nichteigentum ist Nichteigentum und sonst nichts anderes. Aber zu zeigen, daß Eigentum sein müsse, ist die praktische Vernunft Kants nicht in der Lage65. Kant hat sichtlich die Kritik Hegels antizipiert in der Wendung, daß wir aus bloßen Begriffen vom Recht überhaupt die rechtliche Möglichkeit und Notwendigkeit eines äußeren Mein und Dein nicht herausbringen könnten. Es bedarf dazu eines komplementären Moments, das im bloßen Begriff nicht aufzudecken ist. Dieses komplementäre Stück ist das Erlaubnisgesetz oder das Postulat.Hegel konnte sich bei seinem gänzlichen Mißverständnis Kants an einer schon vorliegenden, Kant in Wolff verkehrenden Version orientieren. Einer der Versuche, Kant in das nihil novi der Schultradition zurückzudatieren, findet sich bei dem schwäbischen Philosophen Schwab; er publizierte in der Berlinischen Monatsschrift 1791 eine Abhandlung Über das höchste Prinzip der Sittlichkeit66. Die negative Variante dieses Prinzips lautet: „Vermeide allen Widerspruch in deinen Handlungen", die positive: „Handle so übereinstimmend, als dir möglich ist". Schwab meint, der Kantische Grundsatz der Sittlichkeit sei hiervon nicht so entfernt, wie es im ersten Augenblick scheine; Kant begünstige den Gedanken, daß sein formales Prinzip auf das
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bloße Widerspruchsprinzip hinauslaufe. Schwab beruft sich auf eben die Stelle der Kritik der praktischen Vernunft, die Hegel durchgängig als Beleg für seine These der Tautologiehaftigkeit des Kantischen Moralprinzips dient; es ist das Beispiel des Depositum, dessen Eigentümer verstorben ist und dessen Existenz nicht nachweisbar ist. „Das Gesetz", sagt Schwab, „nach welchem die Ableugnung eines Depositum, wenn sie mit Sicherheit geschehen könnte, erlaubt wäre, taugt also deswegen nicht, weil es auf einen Widerspruch hinausläuft: es setzt ein Depositum voraus, und doch würde es auf solche Art kein Depositum geben. Herr Kant argumentiert hier ungefähr ebenso, wie ich oben von dem Diebstahl argumentiert habe: dieser setzt das Eigentum voraus, und doch würde es, wenn das Stehlen erlaubt wäre, kein Eigentum geben. Das Unerlaubte, das Moralisch-Böse löst sich also in einen Widerspruch auf; und kann daher mit Grund und eigentlicher als bisher, das Moralisch-Unmögliche genannt werden"67. Kant brauchte sich nicht mehr durch Schwab warnen zu lassen; er war vertraut mit dem Problem eines bloß analytischen Moralprinzips und hatte nie die Absicht gehabt, mit dem Beispiel des Depositum sogleich eine Begründung des Rechts des äußeren Mein und Dein zu liefern. Aber vielleicht ist die Schwabsche Abhandlung eine der verborgenen Quellen des Hegeischen Denkens; sie würde den Tautologievorwurf gegen Kant zwar nicht entschuldigen, aber doch erklärbar machen. Wenn die Schwabschen Ausführungen zutreffen, dann ist Hegels Vorwurf gegen Kant tatsächlich berechtigt. Aber Schwab spricht nur von seinem eigenen Wolffianismus, nicht von dem Autor, den er interpretiert. Anmerkungen Es wird im folgenden die Akademie-Ausgabe der Gesammelten Schriften Kants zugrunde gelegt (Berlin 1900ff.). Zitate des Nachlasses werden z. T. in modernisierter Schreibweise gebracht. — Für kritische Hinweise danke ich Wolfgang Kersting (Hannover), Hariolf Oberer (Bonn), Werner Stark (Marburg), Burkhard Tuschling (Marburg), Hans Wagner (Bonn) und vor allem Bernd Ludwig (Marburg). Die Entdeckung des ursprünglichen Orts des § 2 der Kantischen Rechtslehre (vgl. B. Ludwigs Beitrag in diesem Band) hat mich zur Revision bes. des Abschnittes III. 6 geführt.
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1. Diese Kritik gilt nicht für die Habilitationsschrift von Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie (1981). Die Arbeit wurde mir nach Abfassung der vorliegenden Untersuchung bekannt. Kerstings Schrift ist jedoch keine Monographie zum Erlaubnisgesetz; so ergeben sich nur einige Überschneidungen (auf die im einzelnen hingewiesen wird). Rückblickend sehe ich, daß ein weitgehender Konsens auch mit zwei früheren Arbeiten von Wolfgang Kersting vorliegt: Freiheit und intelligibler Besitz; Kants Lehre vom synthetischen Rechtssatz a priori, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 6, 1981, 31—51, und Transzendentalphilosophische und naturrechtliche Eigentumsbegründung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 57, 1981, 157-175. 2. Vgl. dazu Hariolf Oberer, Zur Frühgeschichte der Kantischen Rechtslehre, in: Kant-Studien 64, 1973, 88-102. Vf., Rezension in: Philosophische Rundschau 20, 1974, 43-50. 3. Vgl. bes. a.a.O. 339. 4. Die Arbeit (Marburger Dissertation 1977) ist erschienen als Beiheft 110 der Kant-Studien, 1979. 5. Vgl. die Bibliographie in: Julius Ebbinghaus, Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, 335-339. Am besten zu konsultieren sind die im gleichen Band wieder abgedruckten Aufsätze Das Kantische System der Rechte des Menschen und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung und Die Idee des Rechts. 6. Vgl. zu dieser Auffassung von Ebbinghaus die Stellenangaben bei Gertrud Scholz, Das Problem des Rechts in Kants Moralphilosophie, Diss. Köln 1972, XX3. 7. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Wolfgang Kersting in einer Habilitationsschrift Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. 8. Vgl. Vf., Rezension in: Revista Venezolana de Filosofta 3, 1975, 155-158. 9. Vgl. Theodor Ebert, Kants kategorischer Imperativ und die Kriterien gebotene!', verbotener und freigestellter Handlungen, in Kant-Studien 67, 1976, 570—583. Ralf Dreier, Recht-Moral-Ideologie. Studien zur Rechtstheorie. Frankfurt 1981, 286—315 („Zur Einheit der praktischen Philosophie Kants") ist nicht aufgefallen, daß das Erlaubnisgesetz eine fundamentale Rolle hat und eine Untersuchung für das Thema unentbehrlich ist. Auch in der Dissertation vonn Gertrud Scholz (s. Anm. 6) findet das Erlaubnisgesetz keine Beachtung. 10. Es handelt sich um die einzige Inanspruchnahme des Erlaubnisgesetzes innerhalb der Tugendlehre (§ 7; VI, 426). Das Problem ist unmittelbar verbunden mit dem Äecteproblem der Ehe; bei Gregory S. 139—142. 11. Klaus Hammacher, Über Erlaubnisgesetze und die Idee sozialer Gerechtigkeit im Anschluß an Kant, Fichte, Jacobi und einige Zeitgenossen, in: Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte. Reinhard Lauth zum 60. Geburtstag, hrg. von K. Hammacher und A. Mues, StuttgartBad Cannstatt 1979, 121-141. 12. Es ist zu beachten, daß die hier erörterten adiaphora nichts zu tun haben mit den „moralischen Mitteldingen", die Kant in der Religion innerhalb der
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Grenzen der bloßen Vernunft ablehnt (vgl. VI, 22). Auf der Verwechselung von beidem beruht die Diskussion des Kantischen Rigorismus bei Oswald Schwemmer, Philosophie der Praxis, Frankfurt 21980, 184-192. Auch die adiaphora der stoischen Ethik haben mit der einschlägigen Problemstellung nichts zu tun außer dem Namen; die stoischen adiaphora beziehen sich auf sittlich gleichgültige Dinge, nicht auf Handlungen wie das Erlaubte durchgängig bei Kant (entsprechend der lex permissiva der Rechtstradition, s. u. Anm. 14). 13. Im gleichen Sinn äußert sich Kant nach der Vorlesungsmitschrift der Metaphysik der Sitten von Vigilantius: „Wo nun die Vernunft die ganze Handlung unserer freien Willkür überläßt, da ist keine Verpflichtung . . ." (XXVII, 512). 14. In der Rechtstheorie neu ist die fundamentale Funktion, die Kant dem Erlaubnisgesetz gibt; es wird als rechtliche Möglichkeit in der neuzeitlichen Rechtstheorie mitgeführt — vgl. u. a. Christian Wolff, Institutiones juris naturae et gentium, § 47; Alexander G. Baumgarten, Initia philosophiae practicae, Halle und Magdeburg 1760, § 68; Metaphysica, Halle und Magdeburg 1757, § 723 und § 969 und Gottfried Achenwall, lus naturae, Göttingen 6 1767 in den Prolegomena § 63 und § 90 und in der Introductio § 46 - aber es gewinnt keine systematische Funktion. Kants Erlaubnisgesetz der rechtlich-praktischen Vernunft stimmt mit der permissio überein, wie sie Grotius De jure bellt acpacis (1625) I, I, 9,1 als eine actio legis „quatenus alium ab eo cui permittitur obligat ne impedimentum ponat" bezeichnet. Auch Grotius gibt der so bestimmten permissio keinen systematisch relevanten Rang. Eine ausführliche Erörterung bringt Joachim Georg Darjes, Observations juris naturalis socialis et gentium, Jena 1751, 268-278 (Observatio XXVI: „De jure naturali permissivo"). - Im frühen Kaniianismus wird das Recht im Gegensatz zur Ethik als der Bereich des moralisch Erlaubten ausgemacht, vgl. dazu W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit A II 4. Kants eigene Konzeption des Erlaubnisgesetzes ist von diesen Versuchen, wenn ich richtig sehe, nicht beeinflußt. 15. Anders die Erklärung im Anhang zu den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre"; Kant meint hier, es sei natürlich zu fragen, ob sich in der einfachen Topologie begrifflicher Kombinationen nicht ein auf dingliche Art persönliches-Recht ergibt (VI, 357). Die beiden Zugangsarten schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander wie die transzendentale die allgemeine Logik ergänzt. - Auf die Klassen möglichen Besitzes wird unten näher eingegangen. Hier nur die Anmerkung, daß die triadische Gliederung entgegen der Meinung Kants in der juristischen Literatur bekannt ist, vgl. Anton Friedrich Justus Thibaut, Dissertatio Inauguralis De Genuina luris Personarum Indole, Veroque Huius Divisionis Pretio, Kiel 1796, 126 ff. Thibaut kennt nicht den Begriff des dinglich-persönlichen Rechts, der bei J. G. Darjes begegnet (vgl. Vf. in der in Anm. 2 genannten Rezension). Darjes benutzt des weiteren den Begriff des suum („ suum"), in Bezug auf alle angeborenen und erworbenen Rechte des Menschen, also schon in der Weite wie Kant selbst und damit in größerer Allgemeinheit als Lockes property-Begriff (life, liberty, estate), der nicht das Vertragsrecht, wenigstens
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nicht das Ehe- und Kindschaftsverhältnis umfaßt. Zu Darjes s. dessen Discours über sein Natur- und Völkerrecht, auf Verlangen herausgegeben, 3 Bände, Jena 1762-63, II, 575-6 und III, 1233 (vgl. auch G. Kleinheyer, s. Anm. 28,3l 6 und 15512). An der ersten der genannten Stellen handelt Darjes vom Vertragsrecht („Ergo ist die Acceptatio promissi ein Actus, quo quis vires alterius salva lege in suum recipit. . ."), an der zweiten vom Völkerrecht und dem suum gentium. Kant war nach Arthur Warda, Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922, 41 im Besitz dieses Buches von Darjes. 16. Den Hinweis auf die angezogene Reflexion gibt W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (C, Anm. 130). 17. Kritik der reinen Vernunft B 97.
18. Das Begriffspaar wird schon einmal in den Vorarbeiten benutzt, vgl. XXIII, 184, aber es ist dort noch bezogen auf die Naturteleologie, nicht die Rechtssystematik. Friedrich Schlegel spricht in seinem Versuch über'den Begriff des Republikanismus, veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden, in: Deutschland III, 7, 10-41, jetzt in (und zitiert nach): Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe VII, München-Paderborn-Wien 1966, 11-25, von der „provisorischen Regierung" (15; 25) und einem peremtorischen Gebot (24), bezieht jedoch die beiden Begriffe nicht systematisch aufeinander. Schlegel nennt seine eigene Gedanken einen „provisorischen Versuch" (14). Vgl. dazu meine in Anm. 22 angeführte Arbeit. 19. Kritik der reinen Vernunft B 100-101.
20. Das Manuskript ist verzeichnet als drittes Ms. germ. Quart. 400 der Berliner Kgl. Bibliothek, S. 44 (jetzt Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin). 21. A.a.O. 108-109. Vgl. weiter 155: „Vorläufiges Urteil ist ein Grund, über Dinge zu urteilen, der aber unzureichend ist. Aber ein bestimmtes Urteil zu fällen, gehört vor die Urteilskraft. Der Witz (sc. das Vermögen der vorläufigen Urteile) streift herum, wo er was findet, und dient also zur Erfindung, deswegen verleitet er auch zu Irrtümern . . .". Refl. 535 (von Adickes datiert 1792-94): „Von der Methode, vorläufig zu urteilen. Wenn in der Art, ein (noch) problematisches Urteil zu beweisen, Methode sein muß, so wird man auch methodisch (d. i. nach Prinzipien) verfahren müssen, nur allererst die Wahrheit zu suchen. Ein solches Urteil wird ein vorläufiges Urteil (iudicium praevium) heißen können .. .". 22. Zur Rolle der „Versuche" in Kants Idee der Wissenschaftsgeschichte und der politischen Geschichte vgl. Vf., Kant-Herder-Kühn, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5, 1980, 27-36. Die Versuche, die am Anfang gemacht werden, sind blind, tappend, im Hinblick auf das einzelne Subjekt, das sie systemlos unternimmt; sie sind methodisch, setzt man als Subjekt die Natur, die mittels der blinden Versuche als bestimmter Gelegenheitsursachen die latenten Keime zur Vernunftwerdung entfaltet. Kant verbindet Lukrez-Epikur mit der Stoa. Die Entwicklung einer Logik oder besser: Methodologie der Forschung wäre der Versuch, den Bereich der blinden tentamina auch für das forschende Subjekt von Anfang an methodisch zu disziplinieren. 23. Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. (Erscheint demnächst im Verlag Frommann-Holzboog,
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Stuttgart). Die in Anm. 21 zitierte Reflexion Kants (535) endet: „. .. der Jurist bereitet sich durchs Formale des Prozesses von einem vorläufigen Urteil (iudicium praevium) zum entscheidenden (iudicium determinans) vor". Diese Vorstellung scheint nicht mit dem praejudicium des klassischen römischen Rechts verknüpft zu sein. „Wie die übrigen richterlichen Erkenntnisse, die in einem Formularverfahren ergehen, sind auch die Urteile aus den Präjudizialklagen endgültig und unanfechtbar" (Karl Hackl, Praejudicium im klassischen römischen Recht, Salzburg-München 1976, 298). Kritik der reinen Vernunft B 776. Vgl. die Ausführungen im Ewigen Frieden zur provisorischen Veranstaltung der Natur, VIII, 363-364. In einem Zusatz der Refl. 1455 (datiert 1783—84) heißt es: „Zuerst wird die ganze menschliche Angelegenheit provisorisch unter die Eigenliebe getan, . . ." (XV; 639). Näher an die Situation in der Rechtslehre führt der Gebrauch des Begriffs „provisorisch" in der Religionsschrift von 1793: „Es ist also eine notwendige Folge der physischen und zugleich der moralischen Anlage in uns, . . . daß diese (sc. die Religion) endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten vereinigen, allmählich losgemacht werde, und so reine Vernunftsreligion zuletzt über alle herrsche, ,damit Gott sei alles in allem'" (VI, 121). Der Übergang von der Naturgeschichte des äußerlichen Statutenglaubens zur Vernunftreligion vollzieht sich „durch allmählich fortgehende Reform", nicht durch Revolution, soweit es menschliches planendes Handeln betrifft (VI, 122). — Das Vernünftigwerden soll nach einer nicht publizierten Notiz auch die Unversität erfassen: „Die unterste Fakultät muß einmal die oberste werden, d. i. alles der Gesetzgebung der Vernunft unterworfen werden" (Notiz in den Kantiana der Bayerischen Staatsbibliothek, Nr. 23. Ein Hinweis auf diese Sammlung des Schultz-Nachlasses findet sich in der Akademie-Ausgabe XX, 484). Die unerläßlichen Pflichten sind natürlich auch bei Kant dem Bereich des nur Erlaubten entzogen; so kann sich das Volk der Regierung nicht widersetzen „außer in den Fällen, welche gar nicht in die unionem civilem kommen können, e. g. Religionszwang. Zwang zu unnatürlichen Sünden: Meuchelmord etc etc." (Refl. 8051). Sittlich strikt verbotene Handlungen nicht zu tun, hat der Mensch jederzeit in seiner Gewalt; er hat jedoch nicht die Eigentumsordnung und die politischen Verhältnisse nach Rechtsprinzipien so in seiner Gewalt, daß er sie sogleich umändern kann. In der Akademie-Ausgabe der Kantischen Schriften XI, 116 (Paginierung der Ausgabe 1900). Vgl. schon die Frage im Brief vom 15. Juni 1789 an Kant: „Werden Sie in Ihrem nächsten Werke über die praktische Philosophie sich auf die Frage einlassen: Welche Grenzen der Willkür des Gesetzgebers (die Regeln der Klugheit abgerechnet) gesetzt sind?" (XI, 62). Vgl. den Brief vom 29. April 1790 (XI, 159) und die Erläuterung XIII, 267. Ernst Ferdinand Klein, Freyheit und Eigentum, abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der französischen Nationalversammlung, 1790. Die Passage ist auch abgedruckt in: ed. Claus Träger, Die Französische Revolution im Spiegel der deutchen Literatur, Leipzig 1975, 849. - Zu dem Gesamtzusammenhang vgl. bes. Hermann Conrad, Die geistigen Grundlagen des Auge-
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Reinhard Brandt meinen Landrechtsfür die preußischen Staaten von 1794 (AG für Forschung d. Landes Nordrhein-Westfalen, Geistesw. Heft 77), Köln und Opladen 1958; Gerd Kleinheyer, Staat und Bürger im Recht. Die Vorträge des Carl Gottlieb Svarez vor dem Preußischen Kronprinzen (1791 — 92), (Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen Bd. 47), Bonn 1959; Horst Möller, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 15), Berlin 1974. Ein ausdrücklicher Verweis auf Klein in diesem Problemfeld findet sich in der schon herangezogenen Vigilantius-Mitschrift: „Klein hat diesen Unterschied bemerkt, aber nicht auseinandergesetzt" (XXVII, 524; vgl. auch den Hinweis von G. Lehmann XXVII, 1130 ad loc.). Ich folge hiermit der Klassifikation von Klaus Epstein, The Genesis of German Conservatism, Princeton 1966,3—28 („A Preliminary Definition. Three Types of Conservatives"). „The three types, which will be labeled Defenders of the Status Quo, Reform Conservatives, and Reactionaries, constitute three different responses to this common challenge" (7). Die Herausforderung, die zu der Ausbildung des Konservativismus führt, liegt vor der französischen Revolution. Kant gehört eindeutig in die Gruppe der Reformkonservativen, wobei jedoch folgende Differenz in dieser Gruppierung zu beachten ist: Es gibt einerseits Autoren wie Rehberg, Gentz, später Hegel, die eine Revolutionierung von unten oder oben durch Reformen vermeiden und dadurch die ständisch gegliederte Gesellschaft erhalten wollen; auf der ändern Seite stehen Autoren wie Kant, Erhard oder auch der Präsident Morgenbesser (Beyträge zu einer republikanischen Gesetzgebung . . . Königsberg 1800), die sich am römischen Recht und Naturrecht orientieren und eine Reform zur allmählichen Verwirklichung der Republik anstreben. Unter ähnlicher Perspektive formuliert W. Kersting: „Steht Kants Vernunftrecht und Republikideal ,mit der offiziellen modernen Gegenwart al pari' so befindet sich seine Lehre von der republikanischen Reform mit der geistig-politischen Situation in Deutschland in Übereinstimmung, die durch ein revolutionsabwehrendes Bündnis zwischen bürgerlichem Frühliberalismus und politischem Spätabsolutismus geprägt war" (Wohlgeordnete Freiheit - s. Anm. l - C V 2 „Respublica Noumenon-Respublica Phaenomenon"). — Vgl. weiter das Standardwerk von Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815 (1951), Kronberg-Düsseldorf 21978 mit einem informativen Nachwort von Jörn Garber. Seite 9 der französischen Version des Programme . . . von 1785, vgl. dazu F. Schlichtegroll, Nekrolog der Teutschen für das 19. Jahrhundert II, Gotha 1803, 141-176 (146). Zu Windischgraetz vgl. XIII, 689 und die bibliographischen Angaben von K. Hammacher in dem oben erwähnten Aufsatz. Das von Hammacher nicht eingesehene Programm von 1785 liegt in der Pariser Nationalbibliothek. Seltsamerweise begegnen der Name und das Reformprogramm des Grafen Windischgraetz in keiner der Standardschriften zur österreichischen Reform. Das Auffinden einer formula im Rechtskontext ist natürlich keine Idee von Windischgraetz, vgl. außer der juristischen Tradition des römischen Rechts auch Cicero, De officiis III, 19.
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33. Ob Kant hierbei an Joseph II. dachte, ist ungewiß. Er erwähnt den österreichischen Kaiser in der Vorlesung Vigilantius im Zusammenhang des Strafrechts, sagt jedoch nichts von dessen übereilter Reform, vgl. XXVII, 551 und 556. 34. Johann Friedel, Historisch-philosophisch und statistische Fragmente, mehrenteils die österreichische Monarchie betreffend, Leipzig—Klagenfurt 1786, 54. Zitiert nach Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781-1795, Frankfurt 1977, 253. 35. Vgl. die einschlägige Sammlung von Dieter Henrich: Kant, Gentz, Rehberg. Über Theorie und Praxis, Frankfurt 1967. Besonders in Rehbergs Aufsatz (115-130) ist „Anwendung" des zentrale Stichwort. 36. Zitiert nach Leslie Bodi, a.a.O. 154. 37. Anton Friedrich Justus Thibaut, Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts, I, Jena 1798, 143. 38. Ich verweise hier nur auf den Allgemeinen Kant-Index (Wortindex zu Band 1-9 der Akademie-Ausgabe), hrg. von G.Martin, Berlin 1967, I, 74. 39. August von Hennings, Hat die französische Revolution der Sache der Freiheit genützt?, zitiert nach der oben (Anm. 28) angegebenen Sammlung von Claus Träger, S. 739. 40. August von Hennings, Frankreichs Staatsverwaltung, zitiert nach der Sammlung von Claus Träger, S. 753. 41. Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution, Braunschweig 1790, 35. 42. Ernst Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts, Hannover 1808, 100. 43. Die Passage ist abgedruckt bei Werner Krauss, Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze, Neuwied und Berlin 1965, 195-197. 44. Ernst Ferdinand Klein, Freyheit und Eigentum 128. Der Text lautet weiter: „Tut sie dies nicht, so handelt sie wie ein ungewissenhafter Vormund, der seinen Mündel in der Dummheit erhält". Und später: „Aber Sie selbst haben vorher schon behauptet, daß ein Volk nicht eher frei werden könne, als bis es dazu reif geworden ist ... Bei diesem innerlichen Kampfe des Staats wird doch die Freiheit eher gedeihen, als da, wo die Willkür ihrer Übermacht gewißt ist" (172). Es ist kaum möglich, daß Kant nicht an diese Passagen dachte, als er die oben einbezogene Anmerkung zur politischen Freiheit in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI, 188) schrieb. Es wurden nur zeitgenössische Quellen herangezogen; die Diskussion über die Problematik von Gesetzes- und Verfassungsänderungen ist so alt wie die politische Theorie; vgl. etwa Aristoteles, Politik B 8, bes. 1269a über die politische Opportunität, bestimmte fehlerhafte Einrichtungen bestehen zu lassen, ein Hinweis, zu dem J. G. Schlosser in seiner Übersetzung (Leipzig 1812) in einer Fußnote (97) sagt: „Die Richtigkeit dieser Bemerkung ist mit der Regierungsgeschichte eines noch nicht sehr lange abgegangenen Monarchen zu belegen". Zum Problem der Rechtsänderung vgl. auch die Hinweise von Hasso Hofmann in seinem Beitrag zu diesem Band, Kap. III, 4. 45. Vgl. dazu die Sammlung von Arthur Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Harvard 1936 u. ö.
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46. Vgl. bes. die Anmerkung VIII, 373: „Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift. . . Revolutionen aber, wo sie die Natur von selbst herbeiführt . . .". Hier wird nicht von einem für die rechtswidrige Handlung verantwortlichen Subjekt gesprochen, sondern Kant registriert das historische Faktum, daß ein Volk revolutioniert, wenn es unerträglich unterdrückt wird, daß es Revolutionen gibt, die, wie Meiners sagt, „durch unüberlegte Schritte der Regierungen selbst gleichsam erkünstelt, oder erzwungen werden" (C. Meiners, Geschichte der Ungleichheit unter den vornehmsten Europäischen Völkern I, Hannover 1792, 645). Ähnlich C. G. Svarez in seinen Kronprinzenvorträgen: Folgt der Regent nicht dem Recht, sondern allein dem Machtkalkül, so beschwört er eine Revolution herauf (vgl. G. Kleinheyer a.a.O. 51 —52) und E. F. Klein, Freyheit und Eigentum 39. Es wird von der Revolution als einem politischen Phänomen, nicht einem rechtlichen Problem gesprochen. Bei Kant kann dieses politische Natureignis, entstanden aus dem Mechanismus von Druck und Gegendruck, zugleich Ideologisch gefaßt werden, es ist, wie letztlich jede Veranstaltung der Vorsehung oder Natur, ein public benefit der Weltgeschichte — „denn was Revolutionen betrifft, die diesen Fortschritt abkürzen können, so bleiben die der Vorsehung überlassen und lassen sich nicht planmäßig der Freiheit unbeschadet einleiten" VI, 122; zum Kontext vgl. Anm. 24). Das Verdienst der Franzosen ist, daß sie sich die Idee des Rechts zueigen gemacht haben und so aus einem Instrument der Vorsehung zum selbsthandelnden Subjekt wurden. 47. Die Frage einer „Revolution durch den Fürsten" behandelt Johann Benjamin Erhard in seiner Kant vertrauten (u. a. VII, 87 und 345) Schrift Über das Recht des Volks zu einer Revolution (1795), München 21970, 51-52. 48. Zur Funktion des — heute störenden — beigegebenen lateinischen Begriffs, wo es sich um zentrale Termini der Rechtslehre handelt, vgl. den Hinweis von Reinhart Koselleck zum Lateinischen im Naturrechtspart des Preußischen Landrechts, in: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, 2612. 49. Zur Relation von Vernunftgesetz und Verstandesbegriff vgl. W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (s. Anm. 1) B 4 („Der synthetische Rechtssatz apriori"). — Die Untersuchung der transzendentalphilosophischen Grundlagen der Kantischen Rechtslehre ist bisher — z. T. aus den unter I, 2 angeführten Gründen — vernachlässigt worden. Eine Publikation, die diesem Thema gewidmet ist, von Cesare Goretti, L'impiego delle categoric o dei concettipuri ed U valore dei postulati nella filosofia giuridica Kantiana, in: Annali della Universitä di Ferrara 7, 1947, 87-162, leidet unter der penetranten Besserwisserei des Interpreten; sie ist für die Forschung unergiebig. 50. Wegen häufiger Fehlinterpretationen des Begriffs der Maxime ist es vielleicht nicht unnütz, noch darauf hinzuweisen, daß die Maxime, von der Kant in der Formel des Postulats im § 2 spricht, natürlich nicht die subjektive Meinung und tugendhafte Gesinnung des Handelnden im Auge hat, sondern das Prinzip, das einer Handlung als solcher zugrunde liegt, was immer sich der sie
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Ausführende dabei denkt. Den gleichen objektiven Charakter hat der Begriff der Maxime schon VI, 230: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime ..." beginnt das Allgemeine Prinzip des Rechts - des Rechts, für das die Gesinnung keine Rolle spielen soll. Andere Autoren benutzten für eben diesen Sachverhalt den Begriff der Deklaration, die in einer singulären Handlung liegt, was immer sich der Handelnde subjektiv dabei gedacht hat: „In transgressing the Law of Nature, the Offender declares himself to live by another Rule, than that of Reason", schreibt Locke (The Second Treatise of Government § 8, vgl. § 10). So auch Hobbes, Leviathan I, 15, Abs. 2: „He therefore that breaketh his Covenant, and consequently declareth that he thinks that he may with reason do so,. . ."; vgl. weiter II, 18, Abs. 5; De cive XIV, 20; Richard Cumberland spricht im gleichen Zusammenhang von der Maxime des Handelnden, De legibus naturae IV, l. - Kant klärt nicht das Verhältnis der Maxime als eines subjektiven Handlungsprinzips und der Maxime, die einer äußeren Handlung als solcher inhaliert. Rüdiger Bittner, Maximen, in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 6. —10. April 1974, Berlin 1974, II, 2, 485-498, nimmt von den Maximen der Rechtsphilosophie keine Notiz. Vgl. W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (s. Anm. 1) C I l („Das Principium exeundum e statu naturali"). Kersting schreibt: „Kants Naturzustand hat die systematische Aufgabe, die Bestimmungsbedürftigkeit des apriorischen Privatrechts aufzuzeigen. Die .Unbestimmtheit in Ansehung der Quantität sowohl als der Qualität des äußeren erwerblichen Objekts' ruft notwendig das souveräne subjektive Rechtsurteil auf den Plan", das dann seinerseits sich dem allgemeinen Willen unterstellt. Hier ist jedoch das Privatrecht auf das Sachenrecht restringiert - in der zweiten und dritten Klasse des äußeren Mein und Dein gibt es keine Bestimmungsbedürftigkeit. Vgl. Vf., Materialien zur Entstehung der Kritik der reinen Vernunft (John Locke und Johann Schultz), in: Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781-1981, hrg. von I. Heidemann und W. Ritzel, Berlin-New York 1981, 37-58. Abgedruckt im Anhangsband XXVII, 2, 2; der Titel lautet: Kants Naturrecht gelesen im Winterhalben Jahre 1784. Kants hier vertretene Vorstellung ist eine Verbindung zweier Ideenkomplexe; einmal wird die aus der römischen Rechtstradition vertraute Lehre benutzt, die Formgebung eines Gegenstandes stifte einen Rechtstitel, vgl. dazu Vf., Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart 1974, 22-23; zum ändern gehen Elemente der Lockeschen Theorie ein, gemäß der die Arbeit einen Rechtsanspruch stiftet - bei Locke ist von einer Formgebung nie die Rede, sondern die Arbeit wird gleichsam als ein materielles Etwas nach dem Vorbild animalischer Zeugung vorgestellt, vgl. The Second Treatise of Government (1690), Kapitel V. Kant wird den Lockeschen Traktat weder in der französischen noch der deutschen Übersetzung (von 1696 resp. 1718) gelesen haben, aber via Rousseau war ihm Lockes Idee der ursprünglichen Erwerbung vertraut; die Sätze: „Wenn jemand zuerst ein Land entdeckt und da eine Fahne aufsteckt und Besitz nimmt, so hat er noch kein Recht dazu. Aber wenn er das Land bearbeitet, am Lande seine Kräfte anwendet, dann hat er es
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Reinhard Brandt apprehendiert" (XXVII, 1342) geben Du Contrat social I, 9 („Du domaine reel") wieder. — Die Verknüpfung von Corpus Juris Civilis und Lockeschen Ideen ist eine verbreitete Lehrmeinung vor den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre". So vertritt auch Friedrich Gentz diese Auffassung in dem Aufsatz Über den Ursprung und die obersten Prinzipien des Rechts, in: Berlinische Monatsschrift 17, 1791, 370-396, vgl. bes. 383-84: Das Eigentumsrecht gründet sich darauf, daß wir etwas bewirken, hervorbringen, modifizieren. Es ist die „moralische Möglichkeit (Erlaubnis), die Freiheit eines jeden ändern von der Disposition über dasjenige zurückzuhalten, was ich durch eine erlaubte Äußerung meiner Selbsttätigkeit hervorgebracht, oder doch meiner Disposition unterworfen habe" (384). Der Begriff wird in der „Tugendlehre" gebraucht (VI, 442); er besagt: „Das, was Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere zu halten". Eine derartige Relationsverwechselung liegt auch dort vor, wo das Recht gegen andere Personen für ein Recht- und Pflichtverhältnis gegen Sachen gehalten wird. Darauf macht auch W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (s. Anm. 1) aufmerksam, vgl. CI und II („Naturzustand-Eigentum-Staat", „Der ursprüngliche Vertrag"). Die sittliche Notwendigkeit der Tat selbst gibt es bei Hegel in der Rechtsphilosophie: „Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein" (Grundlinien der Philosophie des Rechts § 41). „Die Person hat das Recht, in jede Sache ihren Willen zu legen, welche dadurch die Meinige ist, zu ihrem substantiellen Zwecke . . ." (§ 44). Das „muß" und der Zweck sind sittlicher Natur; in der Enzyklopädie heißt es unmißverständlich: „.. . es ist Pflicht, Sachen als Eigentum zu besitzen, d. i. als Person zu sein" (§ 486 Anm. der Edition von 1830). Kant trennt die angeborene Qualität des Personseins strikt vom ius adventitium des Eigentums. Die Zeiteliminierung — die sich auch auf die Enthistorisierung des Gesellschaftsvertrags erstreckt - ist sichtbarer als die im Gegenzug neu eingebrachte Zeitkomponente. Symptomatisch für die allgemeine Vernachlässigung der Zeitstruktur ist die Ausklammerung Kants aus dem philosophiegeschichtlichen Roman von Leo Strauß mit dem Titel Naturrecht und Geschichte (1953), Stuttgart 1956. Vgl. u. a. VI, 354: „uns .. . obliegt" eine Pflicht, auf den Friedenszustand hinzuwirken, „wir müssen so handeln . . .". Bacon findet das begriffliche Instrument seiner Polemik gegen die Sachleere der Syllogistik bei Aristoteles selbst, und zwar im Kontrast des bloßen logikon, der wortbezogenen Dialektik, zur gegenstandsbezogenen Erkenntnis; zu den verschiedenen Ausformungen dieses Kontrastes vgl. die im Index von Bonitz s. v. logikos angegebenen Stellen. Unter diesem Aspekt polemisiert Locke gegen das Verfahren, mit dem Descartes eine Wesenserkenntnis der res cogitans und der res extensa erreichen zu können glaubt, vgl. An Essay Concerning Human Understanding (1690), II, 1,10 und II, 13,11. In der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft wird dieser Vorwurf kurzerhand auf die gesamte bisherige Metaphysik bezogen: „Es ist
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also kein Zweifel, daß ihr Verfahren bisher ein bloßes Herumtappen, und was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen, gewesen sei" (B XV). In den Gesammelten Werken IV (Hamburg 1968), 434-435. A.a.O. 435. A. a. 0.436. Vgl. auch Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 135. Der Vorwurf wird ausführlich behandelt von Wolfgang Kersting, Die Ethik in Hegels ,Phänomenologie des Geistes', Diss. Hannover 1974, 115-238. Der Topos des Vorwurfs, sich nur in Begriffen zu bewegen und nicht ad res ipsas zu gelangen, wird von Schelling gegen Hegel (Zur Geschichte der neueren Philosophie, in: Schellings Werke, ed. Manfred Schröter, München 1927, V, 196—31; Hinweis Manfred Baum, mündlich) und ebenfalls von Marx gegen Hegel ins Spiel gebracht: er betreibe immer nur die Sache der Logik und nicht die Logik der Sache, (Aus dem wieder auf die gesamte Metaphysik bezogenen Vorwurf folgt notwendig, daß die Philosophen die Welt verschieden, weil ohne zureichenden theoretischen Grund, interpretieren. Wenn sie das Begriffsdefizit auffüllen und zur Welt und Wirklichkeit gelangen, dann auf Grund fremder Ursachen, nicht eigener Gründe — sie sind notwendig Ideologen). - „Warum war sie (sc. die Spekulation) nichts als ein leeres Spiel mit Formeln, die immer anders wiederkamen, und denen nie etwas entsprechen wollte?" fragt Schleiermacher in den Reden über die Religion (Zweite Rede, Absatz 5); seine Antwort: „Weil es an Religion gebrach, weil das Gefühl des Unendlichen sie nicht beseelte . . . Vom Anschauen muß alles ausgehen ...". Berlinische Monatsschrift 17, 1791, 477-491. A. a. O. 484. Zu Schwab vgl. die Biographie seines Sohnes Carl Heinrich von Schwab, Johann Christoph Schwab, Stuttgart 1821. Im Schriftenverzeichnis von Wilhelm Traugott Krug, Enzyklopädisch-philosophisches Lexikon III, Leipzig 1828, 613—614 fehlt das anonyme Werk Prüfung der Hobbesschen und Kant'sehen Behauptung, daß unabhängige Staaten im Zustande des Krieges gegen einander seyen. Nebst Briefen über den Reiseplan der Neufranken im Jahre 1796; mit Anmerkungen von + ++, Berlin 1815. Die Schrift wird Schwab in der Stuttgarter Landesbibliothek (Signatur: W 730) - zurecht zugeschrieben.
G. LÜBBE-WOLFF
Begründungsmethoden in Kants Rechtslehre untersucht am Beispiel des Vertragsrechts Schon die Begründungsstruktur ziemlich simpler Texte läßt sich normalerweise nicht auf weniger als einem Vielfachen der durch die untersuchten Begründungen selbst in Anspruch genommenen Anzahl von Seiten untersuchen. Dieses Bearbeitungsproblem verschärft sich für einen Text wie Kants Rechtslehre, der ja nicht für seine Simplizität berühmt ist. Ich habe deshalb zur näheren Analyse einen sehr kleinen, das Zustandekommen und die Verbindlichkeit der Verträge betreffenden Abschnitt ausgewählt, will aber versuchen, durch zu Erläuterungs- oder Interpretationszwecken oder einfach als Exkurs eingefügte Seitenblicke auf den übrigen Text die Frage mit zu beantworten, ob und inwiefern die Argumentationsweisen dieses Abschnitts insgesamt charakteristisch sind. I.
Im einleitenden Paragraphen des Abschnitts „Vom persönlichen Recht" (§ 18) bezeichnet Kant den Vertrag als denjenigen „Act der vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch überhaupt das Seine des Einen auf den Anderen übergeht"1. Die Betonung muß man in diesem Satz auf das Wort „überhaupt" legen. Überhaupt nur durch Vertrag, nicht durch irgendwelche einseitigen Rechtshandlungen kann etwas, — ein Gegenstand oder ein Recht auf gewisse Handlungen —, von einem anderen erworben werden, das ist die Behauptung, auf die es Kant ankommt und die er in den vorausgegangenen Sätzen zu begründen versucht hat. In der Begründung bezieht Kant sich zunächst auf das in der Einleitung der Rechtslehre formulierte „allgemeine Rechtsgesetz", demzufolge jede Handlung „recht" ist, „die oder
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nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann" 2 : die Erwerbung eines persönlichen Rechts, d. h. eines Rechts, bestimmte Handlungen von einem anderen zu verlangen, müsse immer eine abgeleitete, sie könne niemals ursprünglich und eigenmächtig sein, „denn eine solche würde nicht dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit meiner Willkür mit der Freiheit von jedermann gemäß, mithin unrecht sein"3. Es handelt sich hier um einen der bemerkenswerterweise recht wenigen Fälle der Begründung einer Rechtsregel durch Ableitung aus dem allgemeinen Rechtsgesetz. Als „Ableitung" bezeichne ich dabei die Behauptung, daß die zu begründende Rechtsregel (und ggf. zusätzlich: daß nur sie und keine alternative Regel) mit dem allgemeinen Rechtsgesetz vereinbar sei. Soweit ich sehe, kommt ein solcher Rekurs auf das allgemeine Rechtsgesetz in der Rechtslehre sonst nur noch in § 2 bei der Begründung des „rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft", in § 6 im Zusammenhang mit dem empirischen Besitz, und zur Begründung der Prioritätsregel beim Okkupationsrecht (§ 14) vor4. Häufiger finden sich dagegen Ableitungen aus dem Gebot, den Menschen jederzeit als Zweck, nicht als bloßes Mittel zu behandeln, (im Folgenden der Kürze halber: Achtungsprinzip), und gleichbedeutenden bzw. unmittelbar damit zusammenhängenden Grundregeln5. Dieses Gebot ist ein dem allgemeinen Rechtsgesetz gleichrangiger Fundamentalsatz; das ergibt sich unmittelbar nicht aus der Rechtslehre, in der das Achtungsprinzip nicht in gleicher Weise wie das allgemeine Rechtsgesetz mit Gründen eingeführt wird, sondern aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In der „Grundlegung" entwickelt Kant das Gebot „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden ändern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst", als eine bloße Umformulierung des kategorischen Imperativs, die dem Inhalt nach mit diesem identisch sei6. Demnach wäre auf dem Gebiet der Rechtslehre das Achtungsprinzip in der Sache identisch mit dem allgemeinen Rechtsprinzip, denn das allgemeine Rechtsprinzip ist nichts anderes als der auf das Recht bezogene kategorische Imperativ7. Fest-
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zuhalten bleibt also: Die Ableitung von Rechtssätzen und Rechtsinstituten aus dem obersten Grundsatz des Rechts spielt in der Rechtslehre eine ganz geringfügige Rolle, wenn man nur das „allgemeine Rechtsgesetz'' als Formulierung dieses obersten Grundsatzes ansieht. Betrachtet man dagegen, wie es m. E. der Auffassungs Kants entspricht, das oben erwähnte Achtungsprinzip und einige gleichbedeutende Sätze, wie z. B. das Verbot der Gleichsetzung von Menschen mit Sachen oder Eigentumsgegenständen, als gleichrangige, nach Kant sogar gleichbedeutende Formulierungen des obersten Prinzips des Rechts, dann spielen solche Ableitungen in der Rechtslehre eine sehr erhebliche Rolle — unter anderem für das Strafrecht, das Eherecht und das Individualrecht auf Auswanderung sowie für die Begründung des Bürgerrechts zur Mitwirkung an der Gesetzgebung8. Zurück zu dem Begründungsgang, der hier in erster Linie untersucht werden soll. Was hat Kant mit der zitierten Berufung auf das allgemeine Rechtsgesetz erreicht? Er hat damit einleuchtend begründet, warum persönliche Rechte niemals eigenmächtig, d. h. durch einseitige Handlung dessen, der erwerben möchte, erworben werden können9. Damit ist aber die am Schluß des Paragraphen aufgestellte Behauptung, daß Rechte von einem anderen nur durch einen die Mitwirkung beider Seiten voraussetzenden Vertrag erworben werden können, noch nicht gerechtfertigt. Ausgeschlossen wird durch die Berufung auf das allgemeine Rechtsgesetz nur die Möglichkeit der Erwerbung durch einseitige Handlung des Erwerbers. Wie steht es aber mit der Möglichkeit der Erzeugung eines persönlichen Rechts durch einseitige Willenserklärung des anderen? Warum soll es, konkret gefragt, nicht möglich sein, daß ich mich XY gegenüber durch einseitige Erklärung zu bestimmten Arbeitsleistungen oder zur Lieferung bestimmter Gegenstände verpflichte, und dadurch dem XY ein entsprechendes persönliches Recht gegen mich verschaffe? Wenn XY für meine Arbeitskraft oder für die versprochenen Gegenstände keine Verwendung hat, braucht er ja nicht auf der Einlösung des Versprechens zu bestehen. Weshalb verlangt man also seine vertragliche Zustimmung zu einem Rechtserwerb, der, was bei persönlichen Rechten, und nur von solchen ist ja hier die
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Rede, durchaus denkbar erscheint, - seine Freiheit gar nicht beeinträchtigt10? Hier scheint mir der auch historisch gesehen eigentlich begründungsbedürftige Punkt zu liegen. Das altrömische Recht kannte gewisse Fälle der Rechtserzeugung durch einseitiges Versprechen11; über eine Theorie des Vertrages als „erklärte Einigung", oder überhaupt über irgendeinen einheitlichen Vertragsbegriff, verfügte es dagegen nicht12. Wenn, nicht zuletzt infolge der Rezeption des römischen Rechts, der Bedarf nach einer Naturrechtslehre entstanden war, die unter anderem das Obligationenrecht auf einheitliche Grundlagen stellte und damit die Kompliziertheiten und Inkonsistenzen des alten römischen Rechts überwand, dann lag, was den hier behandelten Zusammenhang angeht, das eigentliche Problem bei der Frage der Annahmebedürftigkeit rechtserzeugender Versprechen und nicht bei der Selbstverständlichkeit, daß XY sich ein persönliches Recht gegen mich nur mit meiner Zustimmung verschaffen kann. Merkwürdigerweise geht Kant aber gerade auf diesen relevanten Punkt nicht näher ein. Zwar erwähnt er noch, daß der Erwerb eines Rechts nicht durch einen einseitigen Akt der „Verlassung" oder „Verzichtthuung" von Seiten des anderen stattfinden könne, weil damit noch nichts „erworben" werde; vielmehr sei zum abgeleiteten Erwerb eine „Übertragung (translatio)" erforderlich, die „nur durch einen gemeinschaftlichen Willen möglich" sei13. Aber damit wird, wie man sieht, nur behauptet, was zu begründen gewesen wäre: daß die für den abgeleiteten Rechtserwerb tatsächlich, nämlich per definitionem erforderliche Übertragung des Rechts nicht durch einseitiges Versprechen, sondern nur durch Vertrag möglich sein soll14. In dem, was Herr Scheffel (s. u. S. 311 ff.) zur Verteidigung dieses kantischen Beweisgangs anführt, stimme ich ihm insofern zu, als ich seine explizierende Wiedergabe der Argumentation Kants hier (wie auch in fast allen anderen Punkten) für völlig richtig halte. Ich glaube nur, daß seine Wiedergabe in dem hier zur Debatte stehenden Punkt dem Vorwurf, das nur wiederholt zu behaupten, was begründet werden müßte, ebensowenig entgeht wie der Text, den er so richtig rekonstruiert. Wie hätte aber die bei Kant fehlende Begründung auszusehen? Dazu muß man beachten, daß Kant keineswegs nur eine
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Auslegungsregel des Inhalts statuiert, daß eine auf die Übertragung eines persönlichen Rechts gerichtete Willenserklärung im Zweifel so zu verstehen ist, daß die Übertragung nur für den Fall des noch zu erklärenden Einverständnisses des Empfängers gewollt wird. Eine solche Auslegungsregel ließe sich leicht als die dem zumindest latenten wirklichen Willen des Erklärenden mit der größten Wahrscheinlichkeit entsprechende, und überhaupt als die, verglichen mit einer Auslegungsregel entgegengesetzten Inhalts, freiheitsfreundlichere15 rechtfertigen. Der Annahmebedürftigkeitsgrundsatz, nach dessen Begründung wir suchen, hat ersichtlich einen strengeren Sinn: nicht nur im Zweifel über den diesbezüglichen Willen desjenigen, der ein persönliches Recht übertragen möchte, sondern unter allen Umständen, d. h. selbst für den Falle, daß der Transferend ausdrücklich erklärte, auf eine Annahmeerklärung des Empfängers keinen Wert zu legen, soll die Übertragung eines persönlichen Rechts nur möglich sein, wenn der Empfänger akzeptiert. Diese weitergehende Regel, nach der ich mich, wie schon bemerkt, einem anderen auch dann nicht durch einseitiges Versprechen verpflichten und ihm ein entsprechendes Recht verschaffen kann, wenn der Erwerb dieses Rechts ihn in keiner Weise belastet, läßt sich nun nicht mehr aus Freiheitsgesichtspunkten rechtfertigen, die vielmehr gerade gegen eine solche Regel sprechen. Rechtfertigen läßt sie sich m. E. nur mit zwei Gründen: Erstens ist der Grundsatz der ausnahmslosen Annahmebedürftigkeit leichter zu administrieren als eine differenziertere Regelung, für die der Bedarf außerdem rein quantitativ gering wäre (wer legt schon, aus anderen als freiheitsprinzipienreiterischen Gründen, praktischen Wert auf die Möglichkeit, persönliche Rechte annahmefrei übertragen zu können?). Zweitens läßt er sich begründen aus einem gesamtgesellschaftlichen Interesse an dem zügigen Sach- und Dienstleistungsfluß, von dem die optimale Allokation dieser Güter (Sach- und Dienstleistungen) erwartet wird. Dieser Fluß würde behindert durch eine Regel, die es dem Inhaber von Sachwerten oder Arbeitskraft erlaubte, diese rechtsverbindlich und also unwiderruflich einem anderen zuzusichern, der nicht durch Annahme des Versprechens zu erkennen gegeben hat, daß er überhaupt Verwendung für sie hat.
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Der Inhaber von Gütern soll sich nicht an deren marktgerechtem Einsatz durch Selbstbindung verhindern dürfen. Daß wir diese pragmatischen Begründungen der Annahmebedürftigkeitsregel bei Kant nicht finden, hat an sich nichts weiter Verwunderliches. Kants Rechtslehre ist Teil einer praktischen Philosophie, deren Hauptanliegen gerade darin besteht, die Möglichkeit und Notwendigkeit einer nicht pragmatisch fundierten Sittenlehre zu demonstrieren, und die daher pragmatische Erwägungen ausdrücklich nur in untergeordneter, taktisch-werbender, nicht dagegen in begründender Funktion zulassen will16. Allerdings verstößt Kant in der Rechtslehre mehrfach gegen diesen von ihm selbst aufgestellten Grundsatz, indem er Rechtssätze mit reinen Wohlfahrts-, Nützlichkeits- oder Konvenienzargumenten begründet. Das geschieht auch auf dem Gebiet des Strafrechts, obwohl Kant ja für das Strafrecht Nützlichkeitserwägungen schärfer als irgendwo sonst zurückweist, und an anderer Stelle, irn dritten Hauptstück unter der Überschrift „Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit", finden sich sogar Parallelen zu dem eben vorgebrachten Argument der leichteren Administrierbarkeit17. II.
Nachdem in § 18 der Vertrag als die Rechtform des abgeleiteten Erwerbs entwickelt wurde, geht es in § 19 im ersten Abschnitt um die genaueren Voraussetzungen für das Zustandekommen eines Vertrages. Abweichend von den damals wie heute geltenden positivrechtlichen Regeln fordert Kant dazu nicht zwei Willenserklärungen, sondern vier, nämlich „zwei vorbereitende und zwei constituirende rechtliche Acte der Willkür; die beiden ersteren (die des Tractirens) sind das Angebot (oblatio) und die Billigung (approbatio) desselben; die beiden anderen (nämlich des Abschließens) sind das Versprechen (promissum) und die Annehmung (acceptatio)18". Das anschließende Argument für diese Konstruktion gehört zu einer Sorte, die heute unter einer modernen Bezeichnung geläufig, darum aber keineswegs neu ist: zur sprachanalytischen. „Denn", so lautet die Begründung, „ein Ver-
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sprechen kann nicht eher ein Versprechen heißen, als wenn ich vorher urtheile, das Angebotene (oblatum) sei etwas, was dem Promissar angenehm sein könne; welches durch die zwei ersteren Declarationen angezeigt, durch diese allein aber noch nichts erworben wird19". Eine für den Geschäftsverkehr — man denke an briefliche Vertragsabschlüsse — höchst umständliche und zeitraubende Verdoppelung der für das Zustandekommen eines Vertrages erforderlichen Rechtshandlungen deduziert Kant aus der bloßen Tatsache, daß die erste der beiden üblicherweise verlangten Willenserklärungen in der Sprache des gemeinen Rechts „promissio" oder „promissum" hieß und dieser Ausdruck, zumindest in der deutschen Wiedergabe durch „Versprechen", seiner Bedeutung nach impliziert, daß es sich um die Ankündigung von etwas nicht für ganz unerwünscht Gehaltenem handelt. Abgesehen davon, daß dieses Argument qua sprachanalytisches auf schwachen Füßen steht, (es bricht sofort zusammen, wenn man die promissio z. B. in „promissio vel minatio" umbenennt oder den heute üblichen neutraleren Ausdruck „Vertragsangebot" wählt), ist es auch vom immanent sprachanalytischen Standpunkt aus unschlüssig. Zugegeben, daß ich, um sprachrichtig „versprechen" zu können, vorher urteilen muß, daß das Versprochene dem Promissar angenehm sein könne — aber woraus folgt, daß dieses Urteil auch berechtigt und seine Berechtigung durch vorherige Anfrage geprüft sein muß? Sprachanalytische Argumente und die verwandte Argumentationsform des Schlußfolgerns aus vorangestellten, ihrerseits nicht weiter begründeten Definitionen kommen in der Rechtslehre relativ oft vor. Aus einer Definition wird beispielsweise der im Hinblick auf Ludwig XVI. und die Besorgnisse seiner europäischen Kollegen damals aktuelle Rechtssatz abgeleitet, daß der „Oberste im Staate" niemals bestraft werden könne. Er kann nicht bestraft werden, weil Kant im vorhergehenden Satz das Strafrecht definiert hat als „das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen20". Die Feststellung, daß Kant sich solcher für unser Verständnis wenig überzeugenden Argumente bedient, als Tadel vorzubrin-
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gen oder zu verstehen, hätte wenig Sinn. Den Standpunkt bloßer Besserwisserei einzunehmen, wäre hier insofern besonders naiv, als man es ja nicht mit einer individuellen „Fehlleistung" zu tun hat, sondern mit Beispielen einer Argumentationskultur, und Kulturen gegenüber greift bloße Kritik zu kurz, sie bedürfen der Erklärung. Ich möchte außerdem daran erinnern, daß gerade auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft eine durch das Vorherrschen sprachanalytischer, nämlich fachsprachanalytischer Begründungen gekennzeichnete Arbeitsweise noch Jahrzehnte nach Kant eine Blütezeit hatte: die später so genannte Begriffsjurisprudenz.
III. Der Hauptteil des § 19 befaßt sich mit einem Zentralproblem der Naturrechtsliteratur, mit der Verbindlichkeit der Verträge. Daß dieses Problem zentral und jede Lösung dafür in besonderem Maße begründungsbedürftig war, hatte einen ganz praktischen rechtshistorischen Grund. Die uns heute vielleicht als selbstverständlich erscheinende Regel, daß ein durch übereinstimmende Willenserklärungen frei vereinbarter Vertrag rechtsverbindlich ist, d. h. einklagbare Rechte und Verbindlichkeiten erzeugt, war dem in Deutschland seit der Mitte des 15. Jahrhunderts rezipierten römischen Recht fremd. Klagbare vertragliche Verbindlichkeiten konnten unter dem „Kontraktensystem" des altrömischen Rechts nur unter Wahrung ganz bestimmter Formen, von denen die Stipulationsform die vielseitigst verwendbare war, und vielfach nur mit festgelegtem Inhalt, d. h. gebunden an bestimmte Vertragstypen21, erzeugt werden. Nur vier Arten von Verträgen, die sogenannten Konsensualkontrakte, waren aufgrund bloßer übereinstimmender Willenserklärungen ohne besondere Formerfordernisse einklagbar: Kauf, Miete, Mandat und Gesellschaft. Formlose gegenseitige Verträge, die nicht zu einer dieser vier Arten gehörten, wurden als „Innominatkontrakte", namenlose Verträge, bezeichnet und waren nicht klagbar. Das betraf zum Beispiel den Tausch- und den Vergleichsvertrag. Wer allerdings die in einem solchen nichtklagbaren Vertrag versprochene Leistung erbracht hatte, konnte anschließend seinerseits die ver-
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sprochene Gegenleistung einklagen22. Auf diese letztere, seit der römischen Kaiserzeit verfestigte Regel geht wohl der naturrechtliche Lehrsatz des Juristen Theodor Schmalz zurück, von dem Kant in einem Brief Conrad Slangs vom 7. Oktober 1796 berichtet wird: Herr Prof. Schmalz stelle in seinem Naturrechte den Satz auf, daß Verträge „nicht verbindlich" seien, erst die „hinzugekommene Leistung" mache sie verbindlich23. Gemessen an der Entwicklung des positiven Rechts war Schmalz' Meinung rückständig, denn die römischrechtliche Regel von der Unklagbarkeit der „pacta nuda", der nackten, formlosen Verträge war zwar zunächst rezipiert, in der Folgezeit aber unter Berufung auf kanonisches Recht, Naturrecht und Gewohnheitsrecht allmählich verdrängt worden24. Begünstigt wurde diese Ablösung übrigens auch durch eine von Juristen des Mittelalters aus dem römischen Rechtsinstitut des „constitutum" entwickelte Lehre, nach der nichtklagbare Verträge durch einfache Wiederholung des Vertragsschlusses praktisch in klagbare verwandelt werden konnten25. Ich erwähne das, nur nebenbei, weil diese Lehre im Ergebnis auf merkwürdige Weise der oben behandelten Behauptung Kants gleicht, daß zum Abschluß eines verbindlichen Vertrages ein doppeltes Paar von Willenserklärungen erforderlich sei. Zu Kants Zeit galten, wie bemerkt, die alten Klagbarkeitsregeln positivrechtlich nicht mehr. Schon im Lauf des 17. Jahrhunderts war die Klagbarkeit aller Verträge zur herrschenden Juristenmeinung geworden26. Im 18. Jahrhundert war die positive Rechtslage in diesem Punkt so gut wie unbestritten27, aber das Problem war noch immer Gegenstand zahlreicher Dissertationen 28 und, wie die eben erwähnte Doktrin des Juristen und Naturrechtlers Schmalz zeigt, als naturrechtliches noch nicht ausgestanden. So viel zum Hintergrund der nun genauer zu untersuchenden Überlegungen Kants. IV.
Bei Kant nimmt die Diskussion der Verbindlichkeit von Verträgen die Form einer Untersuchung der Frage, wie der Rechtserwerb durch Vertrag möglich sei, an. Der Haupttext enthält nichts anderes als die Beantwortung dieser Frage.
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Die von Kant als Deduktion bezeichnete Begründung durch Erweis der Möglichkeit kommt in der Rechtslehre, hinsichtlich der Begründung konkreter Rechtsinstitute allerdings merkwürdigerweise so gut wie ausschließlich im privatrechtlichen Teil29, häufig und in charakteristischer Funktion vor. Das erste Hauptstück des ersten Teils der Rechtslehre dreht sich im wesentlichen um die für die Rechtslehre überhaupt grundlegende Frage: „wie ist ein äußeres Mein und Dein möglich?". Die Rechtsfiguren des Erwerbs durch Ersitzung und durch testamentarische Erbfolge werden ebenfalls durch Beantwortung der Möglichkeitsfrage deduziert, und auch in der Begründung der Erwerbung durch Okkupation und des Rechts auf Schutz des guten Namens nach dem Tode spielt diese Frage eine Rolle30. Wenn diese Begründungsform näher untersucht und vor allem herausgefunden werden soll, was eigentlich genau damit begründet wird und was nicht, muß die erste Frage wohl lauten, welchen Begriff von Möglichkeit Kant seinen Demonstrationen der Möglichkeit der Erwerbung durch Vertrag und anderer Rechtsinstitute zugrundelegt. Eine Paraphrasierung aus dem Anhang deutet darauf hin, daß als möglich diejenigen Rechtsinstitute verstanden werden, deren Begriff „ohne inneren Widerspruch"31 ist. Es würde sich danach um die an anderer Stelle so genannte „logische Möglichkeit"32 handeln. Was Kant unter innerer Widersprüchlichkeit oder Widerspruchsfreiheit eines Begriffs versteht, ist selbst eine schwierige Frage, die nur mit größerem Aufwand zu beantworten ist, als hier getrieben werden kann. Vor allem müßten dazu wohl die sehr zahlreichen Fälle, in denen Kant Rechtsregeln und -institute aufgrund eines von ihm diagnostizierten Widerspruchs zurückweist, einzeln daraufhin untersucht werden, ob ihnen ein einheitlicher Widerspruchsbegriff zugrundeliegt, und welcher33. Fest steht jedenfalls, daß begriffliche Widersprüchlichkeit für Kant eine (untechnisch gesprochen) Eigenschaft ist, deren Nachweis das betreffende Rechtsinstitut als solches disqualifiziert. Wichtig wäre nun, zu wissen, wie es sich im umgekehrten Fall verhält: Kann die Feststellung, daß ein innerer Widerspruch im Begriff eines bestimmten Rechtsinstituts nicht zu entdecken, der Begriff also möglich ist, den Schluß rechtfertigen, daß das Rechtsinstitut
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auch rechtlich gesehen, — etwa im Sinn der Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Prinzip des Rechts, — möglich ist? Mit anderen Worten: gilt, nach Kant, als ein Fall des „inneren Widerspruchs" bei Rechtsbegriffen auch die Unvereinbarkeit des entsprechenden Rechtsinstituts mit dem allgemeinen Prinzip des Rechts? Das ließe sich ja z. B. mit der Erwägung rechtfertigen, es liege etwas Widersprüchliches darin, daß ein Begriff als Rechtsbegnff auftritt, der in Wahrheit der Begriff von etwas mit dem allgemeinen Prinzip des Rechts Unvereinbarem, also der Begriff von etwas Unrechtlichem ist. Die Behauptung, ein Rechtsinstitut sei möglich im Sinn der Freiheit von begriffsinternen Widersprüchen, würde bei diesem Verhältnis die Behauptung seiner Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Prinzip des Rechts implizieren. Daß Kant etwas derartiges im Sinn hat, ist eine naheliegende Interpretationshypothese. Denn wenn er bei seinen Darlegungen der Möglichkeit verschiedener Rechtsinstitute von einem rein logischen Möglichkeitsbegriff Gebrauch machte, der nicht in der bezeichneten Weise die rechtliche Möglichkeit einschließt, dann wäre mit diesen Deduktionen für die spezifisch rechtliche Qualität des betreffenden Instituts noch rein gar nichts bewiesen. Und das wäre angesichts der Bedeutung, die Kant seinen Deduktionen zuzumessen scheint, ein merkwürdiges Ergebnis. Andererseits führt auch die aufgestellte Interpretationshypothese noch zu keinem befriedigenden Ergebnis. Denn unterstellt, Kants Deduktionen wären von der Art, daß mit ihnen, der Hypothese entsprechend, auch die rechtliche Möglichkeit des jeweiligen Rechtsinstituts bewiesen werden kann und soll, würde zu einer wirklichen philosophischen Begründung des Rechtsinstituts doch noch etwas wichtiges fehlen: der Beweis seiner rechtlichen Notwendigkeit. Die bloße Möglichkeit eines Rechtsinstituts, im Sinn der Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Rechtsgesetz, impliziert ja noch nicht, daß das Rechtsinstitut auch ein notwendiges, d. h. durch das allgemeine Rechtsgesetz oder sonst durch zwingende Vernunftgrundsätze, strikt gefordertes ist. Die praktische Bedeutung dieser Unterscheidung liegt darin, daß ein im erwähnten Sinn bloß mögliches Rechtsinstitut zur Disposition des Gesetzgebers stünde, der sich für oder gegen seine positivrechtliche Anerkennung entscheiden
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könnte; ein rechtlich notwendiges dagegen stünde nicht zur Disposition, seine Anerkennung auch im positiven Recht wäre Vernunftgebot. Kant äußert sich zu dieser praktischen Implikation der Unterscheidung von rechtlicher Möglichkeit und rechtlicher Notwendigkeit nicht; — Vernunftgebote unter allzu deutlicher Betonung ihrer Verbindlichkeit für den positiven Gesetzgeber zu formulieren, hätte in einer Rechtslehre, die ein korrespondierendes durchsetzbares Recht der Gesetzesunterworfenen nicht kennt, auch wenig Sinn34. Die Unterscheidung selbst trifft Kant aber, wenn er z. B. hinsichtlich des Begriffs des „auf dingliche Art persönlichen Rechts" die Frage stellt, ob dieser Begriff „nicht allein ohne inneren Widerspruch, sondern selbst ein nothwendiger (a priori in der Vernunft gegebener)"35 sei. Was ergibt nun im Hinblick auf die aufgeworfenen Fragen eine genauere Prüfung der in § 19 der Rechtslehre gegebenen Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag? Was ist die Tragweite des Beweises der Möglichkeit dieses Rechtsinstituts, und was erfährt man über dessen Notwendigkeit? Kants Beweis der Möglichkeit des Erwerbs durch Vertrag besteht darin, daß ein ganz bestimmter Einwand gegen diese Möglichkeit widerlegt wird, der Einwand nämlich, daß die für eine vertragliche Rechtsentstehung erforderliche Gleichzeitigkeit der vertragsbegründenden Willenserklärungen empirisch nicht zu bewerkstelligen sei. Zu den Einzelheiten dieser Beweisführung später; im Moment kommt es nur auf die Feststellung an, daß die Deduktion nicht den Charakter eines Beweises der Vereinbarkeit des Vertragsinstituts mit dem allgemeinen Rechtsgesetz hat oder wenigstens irgendeine Bemerkung dazu enthält, und daß der Einwand, dessen Zurückweisung den Möglichkeitsbeweis ausmacht, jedenfalls nicht explizit als Einwand gegen die Vereinbarkeit des Vertragsinstituts mit dem allgemeinen Rechtsgesetz formuliert ist. Es sieht demnach nicht so aus, als sei mit dem Beweis der Möglichkeit des Vertragsinstituts, mindestens unter anderem, der Beweis seiner rechtlichen Möglichkeit im Sinn der Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Rechtsgesetz gemeint, denn sonst müßte dieser letztere Beweis ja im Rahmen der Deduktion auf irgendeine wenn auch noch so abgekürzte Weise angetreten oder zumindest eine ent-
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sprechende Behauptung einigermaßen explizit aufgestellt worden sein. Nach einer Auskunft über den spezifisch rechtlichen Charakter des Vertragsinstituts, - seine rechtliche Möglichkeit oder Notwendigkeit -, muß man sich also außerhalb der „Deduktion" umsehen. Diese Auskunft findet sich an vergleichsweise untergeordneter Stelle, in der Anmerkung zu § 19. Erst hier wird die rechtliche Verbindlichkeit akzeptierter Versprechen, und damit zugleich die rechtliche Notwendigkeit des Vertrags als eines Rechtstinstituts, das diese Verbindlichkeit anerkennt, positiv behauptet. „Die Frage war:" — so erläutert Kant, obwohl die nun folgende Frage genaugenommen nicht die ist, die er im vorausgegangenen Haupttext gestellt und beantwortet hat, — „warum soll ich mein Versprechen halten. Denn daß ich es soll, begreift ein jeder von selbst. Es ist aber schlechterdings unmöglich, von diesem kategorischen Imperativ noch einen Beweis zu führen;... Es ist ein Postulat der reinen (von allen sinnlichen Bedingungen des Raumes und der Zeit, was den Rechtsbegriff betrifft, abstrahierenden) Vernunft."36 Ähnliches ließe sich auch für die anderen oben angeführten Rechtsinstitute, die Kant hauptsächlich in Form einer Erörterung der Möglichkeitsfrage behandelt, zeigen: zumindest implizit wird daneben auch die rechtliche Notwendigkeit des Instituts behauptet37. Um zum Vertragsrecht zurückzukommen: Die Bedenken, daß Kant über seiner Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag versäumt haben könnte, Antwort auf die in einer Rechtslehre doch interessierende Frage zu geben, ob das Rechtsinstitut des Vertrages im speziellen rechtlichen Sinn möglich und vor allem auch notwendig ist, sind also ausgeräumt. Dafür stellt sich aber gleich ein anderes Verständnisproblem: Wenn das Rechtsinstitut des Vertrages, indem es den „kategorischen Imperativ" der Einhaltung gegebener Versprechen zur Geltung bringt, notwendig ist, und zwar so offensichtlich und unbezweifelbar, daß ein jeder dies „von selbst" begreift, warum mußte dann seine Möglichkeit überhaupt noch besonders bewiesen werden? Folgt die Möglichkeit nicht aus der Notwendigkeit und wäre, wenn die Notwendigkeit eines Rechtsinstituts mit solcher Gewißheit fest-
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steht, der Hinweis auf diese Implikation nicht der beste Beweis, den man für seine Möglichkeit anführen kann? Tatsächlich geht Kant in einem anderen, besonders wichtigen Fall, bei der Deduktion des Begriffs eines „äußeren Mein und Dein" auf diese Weise vor38. Nachdem er die Frage nach der Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein aufgelöst hat in die weitere Frage, wie ein „bloß-rechtlicher (intelligibler) Besitz" möglich sei, beweist er die Möglichkeit des intelligiblen Besitzes, und damit mittelbar die Möglichkeit des äußeren Mein und Dein, aus dem zuvor entwickelten „rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft", in dem das Institut eines äußeren Mein und Dein aber bereits als ein notwendiges dargestellt worden ist. Ich gebe diese Begründung, weil sie so kompliziert ist, noch einmal in anderen Worten wieder: Das „rechtliche Postulat der praktischen Vernunft" besagt, daß jeder brauchbare Gegenstand das Seine von jemandem werden können müsse, daß also kein brauchbarer Gegenstand objektiv herrenlos sein dürfe, und postuliert damit das „äußere Mein und Dein" als ein notwendiges, vernunftgefordertes Rechtsinstitut. Ein äußeres Mein und Dein ist nun, wie Kant noch näher begründet, nur möglich, wenn ein nicht-empirischer, intelligibler, Besitz möglich ist. Da aber, ausweislich des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft, das Rechtsinstitut eines äußeren Mein und Dein sogar notwendig, (und demnach erst recht möglich,) ist, muß, als Voraussetzung davon, auch ein intelligbler Besitz möglich sein. Und da dieser also möglich ist, kann wiederum auch ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden39. Man kann sich fragen, warum Kant nicht auch in seiner Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag den Weg, die Möglichkeit dieses Rechtsinstituts aus seiner Notwendigkeit abzuleiten, wählt, bzw. warum ihn neben der Notwendigkeit die Möglichkeit des Instituts überhaupt noch gesondert interessiert. Man fragt sich außerdem, warum im Fall des „äußeren Mein und Dein" die Deduktion so kompliziert ausgefallen ist, obwohl hier ja das einfachere Verfahren des Schlusses von der Notwendigkeit auf die Möglichkeit angewendet wurde. Aus dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft, das mit dem Ausschluß objek-
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tiv herrenloser Sachen die Notwendigkeit eines äußeren Mein und Dein postuliert, hätte dessen Möglichkeit doch unmittelbar gefolgert werden können, — warum also der Umweg über die Subdeduktion der Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes, die dann doch nicht anders als durch Hinweis auf die postulierte Notwendigkeit eines äußeren Mein und Dein bewiesen werden kann? Ich glaube, daß diese Merkwürdigkeiten einheitlich zu erklären sind: Der Möglichkeitsbeweis bzw. das, was Kant so bezeichnet, ist der Ort der Auseinandersetzung mit Gegenargumenten gegen eine jeweils unabhängig von der eigentlichen Deduktion aufgestellte Behauptung, — die Systemstelle sozusagen, an der diese Primärbehauptung gegen Einwände und Bedenken abgesichert wird, die im Rahmen der Primärbegründung noch nicht explizit berücksichtigt wurden40. Es versteht sich ja, daß, wo Rechtssätze und Rechtsinstitute in einer Rechtslehre z. B. systematisch begründet, d. h. aus Prinzipien dieser Rechtslehre abgeleitet werden, diese Begründung insofern höchst unvollständig sein kann, als sie eben nur die Frage der Ableitbarkeit des Rechtssatzes oder Rechtsinstituts aus den gewählten Prinzipien beantwortet, Einwände und Probleme, die sich nicht auf diese Ableitbarkeit beziehen, aber nicht berücksichtigt. Im Fall des „äußeren Mein und Dein" wird beispielsweise die Primärbehauptung, daß es ein äußeres Mein und Dein geben müsse, - und zwar in der Weise, daß jeder brauchbare Gegenstand unter gewissen Bedingungen das Seine von jemandem wenden kann, — mit dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft aufgestellt und begründet. Diese Primärbegründung operiert mit dem Prinzip der Maximierung kompatiblen Freiheitsgebrauchs; sie enthält damit aber noch nichts für die Bewältigung eines juristischen Urproblemes, für die Konstruktion und das Verständnis des Verhältnisses von Eigentum und Besitz. Der Besitz ist einerseits so etwas wie die tatsächliche Grundlage des Eigentums und erscheint insofern als etwas im Verhältnis zum Eigentum Empirisches, andererseits scheint er aber insofern doch kein empirisches Verhältnis zu bezeichnen, als ich Besitzer des mir gehörenden oder von mir gepachteten Ackers auch bin, wenn ich nicht gerade mit den Füßen
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darauf oder mit dem Gewehr in der Hand daneben stehe. Diese notorische Merkwürdigkeit, (die z. B. später noch Gegenstand einer Kontroverse zwischen Eduard Gans und F. C. v. Savigny war41), ist es, die Kant nur auf dem Umweg über die Problematisierung des intelligiblen Besitzes ins Visier bekommen konnte und die er mit seiner Deduktion auf seine Weise aufzulösen versucht. Mir scheint, daß die Einwände, Bedenken, Schwierigkeiten etc., die Kant im Rahmen seiner Deduktionen bearbeitet, recht verschiedenartig sind, und daß in dieser Verschiedenartigkeit ein Grund dafür liegen könnte, daß es (mir jedenfalls) Schwierigkeiten macht, aus den verschiedenen Möglichkeitsbeweisen einen einheitlichen, klar umrissenen Möglichkeitsbegriff herauszudestillieren. In Kants Darstellung des Rechtsinstituts der Erwerbung durch Vertrag ist die Primärbehauptung der erst in der Anmerkung, und dort als eine Selbstverständlichkeit, aufgestellte Satz von der Verbindlichkeit der Verträge. Die Schwierigkeit, die Kant zum Thema der Deduktion gemacht hat, wurde schon erwähnt: wie kann eine Verbindlichkeit entstehen, wenn dazu der vereinigte Wille beider Parteien, mithin — so Kant - die gleichzeitige Erklärung des Willens beider erforderlich ist, während empirisch doch eine solche Gleichzeitigkeit niemals erreicht werden kann. Behoben wird die Schwierigkeit durch den Nachweis, oder besser, durch die Behauptung, daß, weil das vertragliche „Vehältniß (als ein rechtliches) rein intellectuell ist", von solchen empirischen Bedingungen abstrahiert werden dürfe: „die Lehre der Möglichkeit der Abstraction von jenen Bedingungen . . . ist selbst die Deduction des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag"42. Daß dieses „die wahre und einzig mögliche Deduction des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag" sei, sieht Kant, in der Anmerkung, „durch die mühselige und doch immer vergebliche Bestrebung der Rechtsforscher (z. B. Moses Mendelssohns in seinem „Jerusalem") zur Beweisführung jener Möglichkeit hinreichend bestätigt." Sieht man sich daraufhin Moses Mendelssohns „Jerusalem" an, so muß man allerdings feststellen, daß dort zwar mithilfe einer tatsächlich recht ungewöhnlichen Konstruktion die Verbindlichkeit der Verträge zu begründen versucht wird, die Begründung
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aber durchaus nichts mit dem von Kant zum Hauptthema gemachten Möglichkeitskeitproblem zu tun hat43. Kants Problem der Unmöglichkeit empirischer Gleichzeitigkeit kommt bei Mendelssohn nicht mit einem Wort vor, und ich habe, — bei allerdings unvollständiger Durchsicht zeitgenössischer Literatur —, auch sonst keinen Autor gefunden, der hier überhaupt eine Schwierigkeit, geschweige denn, wie Kant, darin die entscheidende Schwierigkeit der Begründung des Vertragsinstituts gesehen hätte44. Kant hat diese Schwierigkeit demnach möglicherweise selbst eroder gefunden. Zum Glück, denn was wäre aus der Deduktion geworden, wenn ihm dieses Problem nicht eingefallen wäre? Das einmal erkannte Problem mag nun durch die „transzendentale Deduktion" beseitigt worden sein. Beseitigt ist damit aber auch die Möglichkeit einer Antwort auf die praktisch wichtige Frage, wie das empirische Verhältnis zweier Willenserklärungen beschaffen sein muß, damit die Erklärungen als Ausdruck eines „vereinigten Willens" betrachtet werden können. Bürger und Jurist sind beruhigt, daß auf einer empirischen Gleichzeitigkeit der vertragsbegründenden Willenserklärungen nicht bestanden zu werden braucht; da sie es aber mit empirischen Fällen zu tun haben, können sie sich nicht aufs Transzendentale zurückziehen, sondern müssen wissen, was nun anstelle der Gleichzeitigkeit verlangt wird: muß zum Beispiel ein briefliches Vertragsversprechen unverzüglich, mit der nächsten Post, positiv beantwortet werden, damit ein Vertrag zustandekommt, oder wie lange kann der Gegner sich Zeit lassen? Wird das Angebot, wenn es nicht sogleich angenommen wird, von selbst hinfällig oder muß der Anbietende dazu sein Versprechen widerrufen? Solche Fragen, die sich auf das rechtlich geforderte zeitliche Verhältnis der vertragsbegründenden Willenserklärungen beziehen, beantwortet Kant nicht nur nicht, — was in einer philosophischen Rechtslehre und angesichts einer damals noch wenig entwickelten einschlägigen Rechtsdogmatik nicht besonders bemerkenswert wäre, — sondern er macht es durch seine Begründung auch positiv unmöglich, sie überhaupt nach Vernunftsgrundsätzen zu beantworten.
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Was sich, bezogen auf das Thema, als allgemeines Ergebnis der Untersuchung formulieren läßt, die ich hiermit abschließen möchte, ist wenig überraschend: die aufgefundenen Begründungen und Argumente sind von ganz verschiedener Art und von nach heutigen Begriffen wohl auch unterschiedlicher Plausibilität. Als wichtigeres Resultat erscheint mir ein nebenbei gewonnener Eindruck davon, wie sich das behandelte Exempel aufklärerischer philosophischer Rechtsbegründung zu den Problemlösungsbedürfnissen der juristischen und der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Praxis verhält. In erheblichem Umfang bezieht Kant sich mit seinen Fragen, Antworten und Begründungen auf konkrete historische, z. B. durch die Rezeptionsgeschichte vorgegebene Probleme und deren übliche Lösungen. Wo seine Rechtsphilosophie sich von dieser Basis verselbständigt und abhebt, nimmt sie in Details gelegentlich einen nicht nur nicht-pragmatischen, sondern unpragmatischen Charakter an und bleibt nur noch als Exerzierfeld seiner systematisch-philosophischen Interessen von Belang. In dieser letzteren Hinsicht, — in seinem Zusammenhang mit dem Gesamtsystem der kantischen Philosophie —, habe ich den untersuchten Text sicher nicht ausreichend gewürdigt und bin froh, daß Herr Scheffel hier einiges ergänzt hat. Die Frage etwa, inwiefern die Einpassung eines Systems von (in diesem Fall rechtsphilosophischen) Sätzen und Begriffen in das Gesamtsystem einer Philosophie als eine Form der Begründung des spezielleren philosophischen Systems und seiner Bestandteile gelten kann, oder ob nicht vielmehr die Begründungsverhältnisse genau umgekehrt liegen, - ob also z. B. die für das Vertragsrecht relevante Einteilung der Rechte in dingliche, persönliche und auf dingliche Art persönliche sich (mindestens unter anderem) dadurch als richtig erweist, daß sie nach den Kategorien der Substanz, Kausalität und Gemeinschaft gebildet ist, oder ob nicht eher umgekehrt diese allgemeine Kategorienbildung sich daran zu bewähren hat, daß sie auf angemessene Weise in solchen spezielleren Einteilungen reproduziert oder wiederaufgefunden werden kann, — solche Fragen also hätten zweifellos noch zum The-
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ma gehört. Sie können nun hier nicht mehr umfassend behandelt werden. Eins aber möchte ich zum Schluß doch noch sagen und damit Herrn Scheffel ausnahmsweise direkt widersprechen: Es ist sicher legitim, sich, wie streckenweise offenbar auch Kant selbst, in der Rechtslehre mehr für die Durchführung philosophisch-systematischer Gesichtspunkte, — z.B. für Einteilungen nach den Kategorien oder für die konsequente Anwendung des Verfahrens der transzendentalen Deduktion —, zu interessieren als für rechtsdogmatische Einzelheiten, die ja wirklich auch den Juristen überlassen bleiben können; wenn aber dabei dann doch, wie im Fall der oben behandelten transzendentalen Deduktion des Vertrags, Sätze von rechtsdogmatischem Inhalt oder zumindest von rechtsdogmatischer Relevanz produziert werden, und diese Sätze juristisch-dogmatisch völlig unbrauchbare Konsequenzen haben, dann würde ich das nicht, wie anscheindend Herr Scheffel, für einen dem Text, als philosophischem, ganz inadäquaten Befund halten, der die philosophische Geltung dieser Sätze und ihrer Begründung gar nicht betrifft. Anmerkungen 1. Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe (Kants gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich Preußischen (Preußischen, Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff.) Bd. 6, S. 203ff., 271. 2. MdS S. 230. 3. MdS S. 271. 4. In der Begründung des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft, das Maximen ausschließt, nach denen brauchbare Gegenstände objektiv herrenlos werden müßten, erfährt das allgemeine Rechtsgesetz eine wichtige Modifikation bzw. Erweiterung. Während es nach dem allgemeinen Rechtsgesetz in der im Text zitierten Formulierung nur auf die Kompatibilität des Freiheitsgebrauchs ankommt (Rechtskriterium ist die Verallgemeinerbarkeit der fraglichen Handlung(smaxime) unter Freiheitsgesichtspunkten), stellt die Begründung des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft auf die Maximierung kompatiblen Freiheitsgebrauchs ab: wenn man annehme, daß es objektiv herrenlose Sachen gebe, d. i. Sachen, die prinzipiell nicht Gegenstand von jemandes Eigentum werden können, „so würde die Freiheit sich selbst des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines Gegenstandes derselben berauben, dadurch daß sie brauchbare Gegenstände außer aller Möglichkeit des Gebrauchs setze, d. i. diese in praktischer Rücksicht zur res nullius machte; obgleich die Willkür formaliter im Gebrauch der Sachen mit jedermanns
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äußeren Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmte" (MdS S. 246). Das Maximierungsprinzip (so könnte man die hier aufgestellte Lehre nennen, nach der jede Einschränkung der äußeren Freiheit unrechtmäßig ist, die über das aus Kompatibilitätsgründen erforderliche hinausgeht), wird also damit begründet, daß andernfalls „ein Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst" (a.a.O.) eintreten würde. Nachw. s. u. Anm. 8. „Die angeführten drei Arten, das Princip der Sittlichkeit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes, deren eine die anderen zwei von selbst in sich vereinigt." (A.-A. Bd. 4 S. 436). Ich glaube nicht, daß ich, wie Herr Scheffel mir entgegenhält, an dieser Stelle Kants Unterscheidung zwischen rechtlichen und ethischen Grundsätzen vernachlässige. Der kategorische Imperativ ist doch, als oberster Grundsatz der gesamten (Rechts- und Tugendlehre umfassenden) Sittenlehre eben kein im Sinne einer Entgegensetzung rechtlicher und ethischer Prinzipien rein ethisches Prinzip, das infolge seines ausschließlich ethischen, nur die Triebfedern des Handelns betreffenden Charakters einer Übertragung oder Anwendung auf das Gebiet des Rechts gar nicht fähig wäre, sondern ein übergeordnetes Prinzip, das inhaltliche Anforderungen, auch solche, die den bloß äußeren Gebrauch der Willkür betreffen, einschließt. S. MdS S. 331 (Strafrecht), 278 (Eherecht), 281 (Sorgepflicht der Eltern), 338 (Auswanderungsrecht), 345 (Notwendigkeit der Zustimmung der Bürger, durch ihre Repräsentanten, zum Kriegführen allgemein und zu jeder besonderen Kriegserklärung). Das Recht zur (mindestens idellen) Mitwirkung bei der Gesetzgebung wird an der zuletzt genannten Stelle (S. 345) aus dem Achtungsprinzip begründet bzw. damit erläutert: der Mensch, „vornehmlich als Staatsbürger", müsse „im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden . .. (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst)". Zu den Mitbestimmungsrechten des Bürgers und ihrer Begründung s. auch S. 313 (Gesetzgebung) und S. 317 (Jury). Um den Unterschied zum dinglichen Recht deutlich zu machen: das Eigentumsrecht als das dingliche Recht par excellence kann eigenmächtig erworben werden, nämlich durch Okkupation, wenn die betreffende Sache herrenlos ist; von diesem Fall abgesehen gilt für dingliche Rechte, daß sie, analog zu den persönlichen und aus demselben Grund, nicht eigenmächtig erworben werden können. Anders steht es mit dinglichen Rechten, insbesondere mit dem Eigentumsrecht, dessen nur konsensuelle Übertragbarkeit viel eher einleuchtet, weil dingliches Eigentum in der Praxis kaum als völlig lastenfrei vorstellbar ist. Schon das römische Recht kannte, um nur die Minimallast zu erwähnen, Verantwortlichkeiten des Eigentümers dafür, daß von den Gegenständen seines Eigentums keine Gefahren für Dritte ausgehen, und es versteht sich, daß solche Verantwortlichkeiten privatrechtlich niemandem ohne seine Zustimmung aufgebürdet werden können. Was die persönlichen Rechte anbetrifft, so besteht natürlich die Möglichkeit, sie sich ebenfalls als prinzipiell nicht lastenfrei vorzustellen; man könnte sich etwa denken, daß jede beliebige persönliche Forderung dem Vermögen des Inhabers zugerechnet und als
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Gertrude Lübbe-Wolff Vermögensbestandteil besteuert wird, aber das ist eben nur eine mögliche, keine in praktischer Absicht unabdingbare oder gar zu Kants Zeit realistische Vorstellung. S. Bernhard Kubier, Geschichte des römischen Rechts, Aalen 1979 (Neudruck der Ausgabe Leipzig 1929), S. 171, A. Max Käser, Das römische Privatrecht, Erster Abschnitt, 2. Aufl. München 1971, S. 229. MdS. S. 271. Die in der „Eintheilung der Erwerbung des äußeren Mein und Dein" (MdS S. 259f. (260)) angeführte Form der Erwerbung aufgrund Gesetzes („lege") wird in die Unterscheidung von ursprünglichem und abgeleitetem Erwerb nicht ausdrücklich eingeordnet. Will man nicht annehmen, daß sie aus dem Bereich dieser Unterscheidung überhaupt herausfällt, wird man sie neben dem Vertrag als eine weitere Form des abgeleiteten Erwerbs anzusehen haben. Der Erklärende wird im Zweifel nur für den Fall einer Einverständniserklärung (= Annahmeerklärung) des Empfängers gebunden und bleibt andernfalls frei, über das fragliche persönliche Recht nach Belieben zu verfügen. MdS S. 482f. (die ethische Didaktik betreffend). Für pragmatische (mit der Abschreckungswirkung kalkulierende) Begründungen auf dem Gebiet des Strafrechts s. MdS S. 332 (Abschreckungseignung einer Strafe (hier: der für eine Verbalinjurie zu verhängenden) als Kriterium ihrer Verhältnismäßigkeit (Verbrechensangemessenheit)), MdS S. 235 f. (Unmöglichkeit erfolgreicher Abschreckung als Grund der subjektiven Straflösigkeit in Notstandsfällen). Für Parallelen zum Argument der leichteren Administrierbarkeit s. MdS S. 298, 301, 303 (inhaltliche Modifikation natur(zustands)rechtlicher Regeln im Hinblick auf die „Convenienz" der im bürgerlichen Zustand eingeschalteten Gerichte; vor Gericht müsse „das Recht in Ansehung einer Sache nicht, wie es an sich ist, . . . sondern wie es am leichtesten und sichersten abgeurtheilt werden kann . . . angenommen und behandelt" werden). Als Nützlichkeitsargument s. auch MdS S. 305 (pragmatischer Grund (Beweisuntauglichkeit) gegen die Rechtmäßigkeit des Zwangs zum Glaubenseid). MdS S. 272. A.a.O. MdS S. 331. Dieselbe Definition wird auch herangezogen, um zu begründen, daß es zwischen unabhängigen Staaten, die sich zueinander ja nicht in dem durch die Definition geforderten Verhältnis von Befehlshaber und Unterwürfigem befinden, keinen Strafkrieg geben könne; daraus ergeben sich dann noch weitere Konsequenzen für das Kriegsrecht, s. MdS S. 347 u. ff. Der wichtige, folgenreiche Satz, daß „eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie ... sich selbst gibt, unterworfen ist", wird über eine Zwischenfolgerung abgeleitet aus einer Definition des Begriffs der Person: „Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen . . ., woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen . . . (etc.)" (MdS S. 223). Warum
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das folgt, ist leicht zu sehen: weil in der zitierten Bestimmung des Begriffs der Person die zu beweisende Autonomie der Person bereits vorausgesetzt ist; sie ist nämlich nicht so sehr Folge davon, als vielmehr Bedingung dafür, daß die Handlungen der Person einer Zurechnung fähig sind. Den vor allem im Hinblick auf das Völkerrecht wichtigen Satz, nach dem nicht erst unter einer bürgerlichen Verfassung, sondern auch bereits im Naturzustand ein wenn auch nur provisorisches Mein und Dein möglich ist, begründet Kant ebenfalls aus einer vorangestellten Begriffsbestimmung: die bürgerliche Verfassung charakterisiert er als denjenigen „Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird" (MdS S. 256, Hervorh. G. L-W.). Woraus dann folgt: ausgemacht und bestimmt wird jedem das Seine schon vorher, i. e. im Naturzustand. In Kants Worten: „Alle Garantie setzt also das Seine von jemanden (dem es gesichert wird) schon voraus. Mithin muß vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr abgesehen) ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden . . ." (ff. (S. 256); Hervorh. i. O.). S. auch MdS S. 349: daß mit dem Friedensschlüsse die Amnestie verbunden sei, liege „schon im Begriffe desselben"; die Begründung besteht hier also in der Feststellung bzw. Behauptung, daß das Urteil, mit dem Friedensschlüsse sei die Amnestie verbunden, analytisch sei. S. Käser (Anm. 12) S. 477. Dazu und allgemein zum Kontraktensystem des alten römischen Rechts s. Heinrich Dernburg, Pandekten, Bd. 2, 2. Aufl. Berlin 1889, S. 17ff.; Käser (Anm. 12) S. 522ff. Conrad Slang an Kant, Brief v. 2. Okt. 1796, A.-A. Bd. 12, S. 97ff., 100. S. die ausführliche Darstellung der Entwicklung in Lothar Seuffert, Geschichte der obligatorischen Verträge, Nördlingen 1881. Das constitutum war in einer späten Entwicklungsphase des altrömischen Rechts ein formloser, aber klagbarer Vertrag (den man insofern eigentlich zu den Konsensualkontrakten hätte zählen müssen), durch den der Inhalt einer bereits bestehenden vertraglichen Verpflichtung nachträglich geändert werden konnte. Der (natürlich als eine Interpretation des altrömischen Rechts vorgetragene) Gedanke einiger mittelalterlicher Juristen war, daß dieses constitutum auch für nicht klagbare Verträge in der Weise verwendbar sei, daß der Inhalt des Vertrages nicht geändert, sondern bekräftigt, und die derart „konstituierte" Verpflichtung damit einklagbar wird; s. im Einzelnen Seuffert (Anm. 24), S. 15 ff., 76, 81, 110. Seuffert (Anm. 24), S. 130ff. Vgl. Gottl. Heineccius, Elementa iuris civilis secundum ordinem pandectarum, Amsterdam 1728, S. 124 (Pars I Tit. XIV § CCCLXXIV): „At hodie omnia pacta, animo deliberato inita, & legibus bonisque moribus haut repugnantia, & obligationem & actionem producere, non ambiguitur." S. die Aufzählung bei Seuffert, S. 138ff. Der Ausdruck „Deduktion" fällt noch einmal im Völkerrecht, ohne daß im dortigen Zusammenhang aber ein Möglichkeitsbeweis angetreten würde (s. MdS S. 345). S. MdS S. 263, 292, 294, 296.
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31. MdS, Anhang S. 358. 32. S. z. B. Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, A.-A. Bd. 3, S. 17 Anm. 33. S. MdS S. 235 (Notrecht), 246 (objektiv herrenlose Gegenstände 254 (faktischer Gewahrsam als Voraussetzung des Eigentums), 283 (Leibeigenschaftsvertrag), 305 (Glaubenseid), 320 (Widerstandsrecht), 342 (Rückgabe der gesetzgebenden Gewalt durch das Volk), 365 (Konstruktion des Ersitzungsrechts); für weitere Widerspruchs-Argumente s. MdS S. 231, 245, 251, 366. 34. Denn um eine zwangsbewehrte und in diesem Sinn rechtliche Verbindlichkeit könnte es sich unter der Voraussetzung der Ablehnung eines Widerstandsrechts im Verletzungsfall ja gerade nicht handeln. Zur Ablehnung eines Widerstandsrechts s. MdS S. 320. Vgl. die dementsprechend vorsichtige ein konkretes Rechtsinstitut betreffende Formulierung in MdS S. 294: „Also sind die Testamente auch nach dem bloßen Naturrecht gültig (sunt iuris naturae); welche Behauptung aber so zu verstehen ist, daß sie fähig und würdig seien im bürgerlichen Zustande (wenn dieser dereinst eintritt) eingeführt und sanctionirt zu werden." Kants Behandlung der „Beerbung" (§ 34, S. 293 f.) hat es übrigens ebenfalls mit der Bewältigung eines durch das römische Recht gestellten Problems zu tun. Nach frührömischem Recht galt der Nachlaß eines Verstorbenen bis zur Inbesitznahme durch den oder die Erben als herrenlos (res nullius) mit der Folge, daß die Plünderung des Nachlasses straflos war. Näheres bei Dernburg, Pandekten Bd. 3, 2. Aufl. Berlin 1889 S. 108. Um eine Alternative zu dieser Konstruktion geht es in § 34. 35. MdS S. 358. Vgl. auch Kritik der Urteilskraft, Einleitung, A.-A. Bd. 5 S. 172: „. . . Alles, was als durch einen Willen möglich (oder nothwendig) vorgestellt wird, heißt praktisch möglich (oder nothwendig) . . ." 36. MdS S. 273. 37. Daß die Ersitzung nicht ein beliebiges, sondern ein notwendiges, durch die Vernunft gefordertes Rechtsinstitut sein soll, wird man aus der Begründung schließen müssen, nach der ohne dieses Rechtsinstitut ein peremtorischer Besitz nicht möglich wäre; s. auch MdS S. 293: „Die Präscription des älteren Besitzers gehört also zum Naturrecht (est iuris naturae)". Zum Recht auf Schutz des guten Namens nach dem Tode s. MdS S. 295: „. . . unläugbare Erscheinung der a priori gesetzgebenden Vernunft". Die testamentarische Erbfolge teilt, da Kant das Testament als Vertrag konstruiert, den Notwendigkeitscharakter des Vertragsinstituts. Zum intelligiblen Besitz, zum äußeren Mein und Dein und zur Erwerbung durch Okkupation s. sogleich im Text und Anm. 39. 38. Gegen die Annahme, daß mit dem Erweis der Notwendigkeit eines Rechtsinstituts dessen „Deduktion" — die Demonstration seiner Möglichkeit — doch eigentlich als erledigt angesehen werden könne, läßt sich allerdings einwenden, daß man zwischen den beiden Fragen, ob, und wie etwas möglich sei, zu unterscheiden habe (zu dieser Unterscheidung s. Kant, Prolegomena, .— . Bd. 4 S. 271), und daß nur die Ob-Frage durch einen Nachweis der Notwendigkeit (oder, auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie: der Wirklichkeit, s. Prol. a. a. O.) beantwortbar, Gegenstand der Deduktion aber die Wie-
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Frage sei. Dieser Einwand ist ganz berechtigt und es wird ihm weiter unten im Text auch Rechnung getragen, indem gezeigt wird, daß Kants rechtsphilosophische Möglichkeitsdemonstrationen tatsächlich eine eigene, von irgendwelchen Notwendigkeitsbehauptungen oder -beweisen unabhängige Funktion haben (s. den übernächsten Abschnitt). An dieser Stelle geht es aber gerade darum, zu zeigen, daß Kant selbst beide Fragen ineinssetzt, wo er, bei der Deduktion des Begriffs eines „äußeren Mein und Dein", als Deduktion (also als Beantwortung der Wie-Frage) vorführt, was strenggenommen nur als Beantwortung der Ob-Frage gelten kann, nämlich eine Argumentation, die letztlich auf nichts anderes als auf die Notwendigkeit eines äußeren Mein und Dein hinausläuft. 39. Vgl. auch die Begründung der Möglichkeit des Erwerbs durch Okkupation, MdS S. 263: „Die Möglichkeit auf solche Art zu erwerben läßt sich auf keine Weise einsehen, noch durch Gründe dartun, sondern ist die unmittelbare Folge aus dem Postulat der praktischen Vernunft." Diese Formulierung ist merkwürdig, denn wenn es so ist, daß dem bereits bewiesenen rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft (s. o. S. 287) nur unter der Voraussetzung der Möglichkeit des Erwerbs durch Okkupation Genüge getan werden kann, die Möglichkeit dieser Erwerbungsweise also „unmittelbare Folge aus dem Postulat der praktischen Vernunft" ist, dann versteht man nicht recht, weshalb das Aufzeigen dieses Zusammenhangs nicht als eine Begründung für die Möglichkeit des Erwerbs durch Okkupation gelten soll. Vielleicht müßte man die zitierte Äußerung folgendermaßen „rekonstruieren": Die Möglichkeit der Erwerbung durch Okkupation ergibt sich unmittelbar aus dem Postulat der praktischen Vernunft, d. h. das Rechtsinstitut der Erwerbung durch Okkupation ist ein notwendiges Rechtsinstitut; auf keine andere Weise als diese kann auch seine Möglichkeit bewiesen werden. Vgl. auch MdS S. 296: Daß ein Recht des Menschen auf den Schutz seines guten Namens nach dem Tode „gegründet sei," sei „nicht zu streiten", die Möglichkeit desselben sei aber „keiner Deduction fähig". Wieder sollte man meinen, daß die Gründe, — welche auch immer —, die dazu zwingen, dieses Recht als in seinem Rechtscharakter unbestreitbar anzuerkennen, auch zur Rechtfertigung seiner Möglichkeit ausreichen müßte. 40. Hans Friedrich Fulda charakterisiert in einem in der Hauptsache Hegels Rechtsphilosophie betreffenden Aufsatz („Zum Theorietypus der Hegelschen Rechtsphilosophie", in: Veröffentlichungen der internationalen HegelVereinigung, hrsg. v. D. Henrich und R.-P. Horstmann, Bd. 11, Stuttgart 1982,) Kants Methode der Rechtsbegründung als den „transzendental-analytischen Typus, der nach dem Aufsuchen eines obersten apriorischen Grundsatzes dessen Geltung durch Apologie gegen mögliche Einreden sichern möchte." Diese Beschreibung ist nach dem im Text Ausgeführten verallgemeinerungsfähig: nicht nur hinsichtlich des obersten apriorischen Grundsatzes der praktischen Philosophie, sondern auch im Detail ist die beschriebene Vorgehensweise Kants charakteristisch. 41. S. Eduard Gans, Über die Grundlage des Besitzes, Eine Duplik, in: Eduard Gans, Philosophische Schriften, hrsg. v. Horst Schröder, Berlin (AkademieVerlag) 1971, S. 335 ff.
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42. MdS S. 273. 43. Moses Mendelssohn, Jerusalem, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1783, Brüssel 1968, S. 29ff., 50ff. 44. Bei Achenwall (Gottfr. Achenwall, lus naturale in usum auditorum, (hier zitiert nach der 7. Aufl. Göttingen 1781) S. 160) findet sich allerdings die Formulierung, die Kant vielleicht beeinflußt hat, daß zum Abschluß eines Vertrages die „voluntas simultanea" der Vertragsparteien erforderlich sei. Achenwall problematisiert diese Forderung und ihre Erfüllbarkeit aber in keiner Weise; er versteht sie offenbar auch nicht in einem problematisierbaren Sinn, sondern will damit Fälle eines zeitlichen Auseinanderfallens der Vertragserklärungen ausschließen, in denen nach der Alltagserfahrung die Erklärungen nicht mehr als Ausdruck eines übereinstimmenden Willens gelten können: „Non enim tecum consentio, si non volo id, quod tu vis. Ergo si, quod tu nunc demum vi (wenn, was du nun endlich willst, G. L.—W.), ego tantum olim volui, nunc autem nolo (ich ehemals (vor langer Zeit) ebenso wollte, nun aber nicht mehr will, G. L.—W.), non adest consensus, sed potius dissensus."
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Thesen zu Kants transzendentaler Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag
i. Die Lehre vom persönlichen Recht macht mit der vorhergehenden Lehre vorn Sachenrecht und der nachfolgenden von dem auf dingliche Art persönlichen Recht ein vollständiges systematisches Ganze aus: das Lehrstück „Von der Art, etwas Äußeres zu erwerben" (2. Hauptstück des Privatrechts). Den allgemeinsten Leitfaden für diese Einteilung liefern dabei die Kategorien der Relation „Substanz, Kausalität, Gemeinschaft" nach der Kategorientafel der Kritik der reinen Vernunft. Ich erwerbe einen äußeren Gegenstand meiner Willkür entweder als körperliche Sache (als Substanz) oder als Leistung (als Kausalität) eines anderen oder als Zustand einer anderen Person im Verhältnis zu mir (die Gemeinschaft mit ihr) (§ 10). 2.
Von dem Leitfaden der Kategorien der Relation macht Kant schon in § 4 anläßlich der Exposition des Begriffes vom äußeren Mein und Dein für eine vollständige Einteilung aller äußeren Gegenstände meiner Willkür Gebrauch. Die sich an die Exposition anschließende Definition des Begriffs des äußeren Mein und Dein (§ 5), Deduktion des Begriffs des bloß rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes (§6) und Anwendung des Prinzips der Möglichkeit des äußeren Mein und Dein auf Gegenstände der Erfahrung (§7) enthalten die Auflösung der Frage, wie synthetische Rechtssätze a priori möglich sind. Und diese Auflösung stellt die grundlegende Voraussetzung für die Lehre von der Erwerbung des äußeren Mein und Dein dar.
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Das allgemeine Prinzip aller äußeren Erwerbung (§ 10) nennt drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn von Erwerbung eines äußeren Mein oder Dein gesprochen werden können soll: a) ich muß das Objekt meiner Willkür in Übereinstimmung mit dem Gesetz der äußeren Freiheit (Rechtsprinzip) in meine Gewalt bringen; b) ich muß von diesem Objekt meiner Willkür Gebrauch zu machen nach dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft das rechtliche Vermögen haben und c) ich muß gemäß der Idee eines möglichen vereinigten Willens wollen, daß der Gegenstand meiner Willkür mein sein soll.
4. Nach der vollständigen Einteilung der Erwerbung des äußeren Mein und Dein (in § 10) erwerbe ich im Falle des persönlichen Rechts der Materie nach die Leistung (Kausalität) eines anderen und nach dem Rechtsgrunde der Erwerbung nur durch den Akt einer doppelseitigen Willkür (pacto). Letzteres wird in § 18 bewiesen. Hier wird gezeigt, daß die Erwerbung eines persönlichen Rechtes gegen einen anderen bzw. die Erwerbung durch die Tat eines anderen niemals (meinerseits) ursprünglich und eigenmächtig sein kann (wie es nur im Falle des Sachenrechtes möglich ist). Denn das hieße ohne Einwilligung des anderen und nicht nach Freiheitsgesetzen (also dem Rechtsprinzip zuwider) die Willkür des anderen in Besitz nehmen und ihn zu einer gewissen Tat bestimmen. Ich kann also nur dann durch die Tat eines anderen erwerben bzw. nur dann ein persönliches Recht gegen ihn erlangen, wenn ich ihn nach Rechtsgesetzen dazu bestimme. Das kann aber auch nicht heißen, daß ich durch eine rechtswidrige Tat des anderen gegen mich erwerbe. Denn die gibt lediglich einen Grund zur Forderung der unverminderten Wiederherstellung des Meinen ab, aber keinen zu einer darüber hinausgehenden Erwerbung. Die Erwerbung durch die Tat eines anderen kann also kein Akt einer einseitigen Willkür sein, sei er nun mit dem allgemei-
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nen Rechtsprinzip verträglich oder nicht. Daraus folgt, daß die Erwerbung durch die Tat eines anderen jederzeit von dem Seinen des anderen abgeleitet sein muß. Diese Ableitung aber kann kein negativer (und einseitiger) Akt der Verlassung oder Verzichttung seitens des anderen sein. Denn dadurch wird lediglich das Seine des anderen aufgehoben, aber nichts erworben. So ist nach § 18 eine Erwerbung durch die Tat eines anderen nur in Form einer Übertragung und diese nur durch einen gemeinschaftlichen Willen möglich. Der Akt aber der vereinigten Willkür zweier Personen ist der Vertrag. 5.
Während in § 18 nur gezeigt wird, in welcher Form die Erwerbung durch die Tat eines anderen bzw. die Erwerbung eines persönlichen Rechtes gegen einen anderen allein möglich ist, nämlich nur durch die Vereinigung der Willkür beider, d. h. nur durch Vertrag, wird dagegen in § 19 in der transzendentalen Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag darüber hinaus gezeigt, wie eine solche Erwerbung als eine objektiv gültige möglich ist bzw. worauf die Verbindlichkeit des Vertrages beruht oder warum ich als Promittent mein Versprechen halten soll, unter der schlechthin gültigen Voraussetzung, daß ich es halten soll. Folglich steht die Widerspruchsfreiheit und Unentbehrlichkeit (Notwendigkeit) des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag als eines Rechtsbegriffes (nach § 18) bereits fest, bevor in § 19 mit der transzendentalen Deduktion dieses Begriffes eine ganz andere, nämlich auf den Grund der Verbindlichkeit der Verträge bezogene Fragestellung in Angriff genommen wird. Nachdem zunächst gesagt worden ist, daß zu einem Vertrag zwei vorbereitende und zwei konstituierende rechtliche Akte der Willkür gehören und letztere beiden das Versprechen des Promittenten und die Annehmung des Promissars bzw. Akzeptanten sind, wird das Problem weiter zugespitzt. Wenn, wie schon nach § 18 feststeht, weder allein durch den besonderen Willen des Promittenten noch zusätzlich auch durch den besonderen Willen des Promissars das Seine des ersteren zu dem letzteren übergeht.
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sondern nur durch den vereinigten Willen beider, dann muß gezeigt werden, wie die beiden empirischen, in der Zeit immer nur auf einander folgenden Akte des Versprechens und der Annehmung „als in einem Augenblicke zugleich existierend" vorstellig gemacht werden können. Dies kann natürlich nicht so geschehen, daß gezeigt wird, daß sie als empirische Akte in der Zeit, als welche sie nur nacheinander sein können, zugleich sind. Denn das wäre ein Widerspruch. Das Zugleichsein der beiden Akte muß mit ihrem empirischen Nacheinandersein verträglich sein. Das ist nur unter Bedingung einer Abstraktion von dem empirischen Charakter der beiden Akte des Versprechens und der Annehmung möglich. Nur die transzendentale Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag kann nach Kant als die wahre und einzig mögliche Deduktion die Vereinigung des Willens beider Kontrahenten und das Zugleichsein beider Willenserklärungen einsichtig machen. Denn sie ist die Lehre von der Möglichkeit der Abstraktion von der Zeit als der sinnlichen Bedingung der empirischen, konstituierenden Akte des Vertrages. Diese transzendentale Deduktion setzt das erste der oben genannten drei Momente des allgemeinen Prinzips aller äußeren Erwerbung voraus und stellt selbst den Aufweis des zweiten und damit die Voraussetzung für das Statthabenkönnen des dritten Momentes dar. Im Falle des persönlichen Rechtes ist die Willkür irgendeines anderen zu einer bestimmten Tat nicht als solche schon Gegenstand meiner Willkür. Sie muß erst dazu gemacht werden, bevor ich sie überhaupt als das Meine haben und sogar erwerben kann. Durch die beiden vorbereitenden rechtlichen Akte des Traktierens wird die Willkür einer bestimmten anderen (physischen) Person zu einem möglichen Gegentand meiner Willkür und durch das Versprechen des anderen dann auch zu einem wirklichen Gegenstand meiner (d. h. des Promissars) Willkür. Dann erst ist es nach dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft (§ 2) möglich, die Willkür dieses anderen zu einer bestimmten Tat als das Meine zu haben. Diese Möglichkeit setzt also im Unterschied zu körperlichen Dingen (Substanzen) als Gegenständen meiner Willkür schon rechtliche Akte voraus. Die Erwerbung aber der Willkür des anderen setzt darüber hinaus
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auch noch einen rechtlichen Akt des Promissars, nämlich den der Annehmung des Versprechens voraus. Dadurch bringe ich als Promissar die Willkür des anderen als Gegenstand meiner Willkür in meine Gewalt. Ich nehme sie in empirischen Besitz. 6.
Die konstituierenden Akte des Versprechens und der Annehmung sind als empirische Aktus, als welche sie in der Zeit nur aufeinander folgen und niemals zugleich deklariert werden können, nur notwendige, aber noch keine hinreichenden Bedingungen der objektiven, rechtlichen Gültigkeit eines Vertrages. Dazu bedarf es noch der Vereinigung des Willens beider Kontrahenten. Aber diese Vereinigung kann nur unter einer durch das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft (§ 2) berechtigten Abstraktion von den empirischen Bedingungen gedacht werden (2. Moment des allgemeinen Prinzips aller äußeren Erwerbung). Der empirische Akt des Versprechens (die Erklärung) ist für den empirischen Akt der Annehmung (die Gegenerklärung) Voraussetzung. Daher ist in dem Zeitpunkt, in welchem der Akt des Versprechens stattfindet, der Akt der Annehmung noch nicht und in dem Zeitpunkt, in welchem der Akt der Annehmung stattfindet, der Akt des Versprechens nicht mehr. Diese logische und zeitliche Aufeinanderfolge unterscheidet den besonderen Willen des Promittenten formal vom besonderen Willen des Akzeptanten. Solange nun der Promissar noch nicht akzeptiert hat, ist der Promittent rechtlich betrachtet noch frei (vgl. auch das angeborene Recht; VI, 237f.). Er ist lediglich im Sinne des kategorischen Imperativs, daß ich mein Versprechen halten soll, überhaupt verpflichtet, sein Versprechen zu halten. Aber diese Verpflichtung verschafft dem Promissar nicht einmal möglicherweise ein Recht gegen den Promittenten (keine Befugnis, den Promittenten zur versprochenen Leistung zu zwingen). Dieser kann sich sein Versprechen gereuen lassen und es durch eine Gegenerklärung widerrufen. Wenn nun aber der Promittent sein Versprechen nicht widerrufen und der Promissar akzeptiert hat, so hat letzterer von der empirisch erklärten Willkür des Promittenten empirisch Be-
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sitz ergriffen. Mit dem Versprechen als einem empirischen Aktus in der Zeit ist jedoch, auch wenn es nicht widerrufen wird, vor der Akzeptation noch immer ohne Widerspruch die bloße Möglichkeit einer Willensänderung verbunden. Wenn daher der Promissar (in einem späteren Zeitpunkt) akzeptiert, so kann er sich nicht sicher sein, ob er auch den tatsächlichen Willen des Promittenten in Besitz nimmt. Denn dieser kann seinen Willen inzwischen auch ohne Erklärung (insgeheim) geändert haben. Aber auch mit der Akzeptation als einem empirischen Akte in der Zeit ist ohne Widerspruch die bloße Möglichkeit einer Willensänderung verbunden. Der Akzeptant braucht sich an seine auf das Versprechen folgende Gegenerklärung auch nicht für gebunden zu halten. Und zwar eben deswegen nicht, weil er sich nicht sicher sein kann, den tatsächlichen Willen des Promittenten akzeptiert zu haben. Daher kann sich der Promittent auch nicht sicher sein, ob sich der Akzeptant an seine Annehmung für gebunden hält bzw. ob er überhaupt (ein persönliches Recht) erwerben will. Durch die Akzeptation des Promissars als Akt eines besonderen Willens ist der Promittent vorerst bloß problematischerweise (in rechtlichem Sinne) gebunden, d. h. der Akzeptant hat vorerst bloß möglicherweise ein Recht gegen den Promittenten (die Befugnis, wenn er will, den Promittenten zur Leistung des Versprochenen zu zwingen). Der Akzeptant muß versichert sein, den tatsächlichen Willen des Promittenten in Besitz zu nehmen, und der Promittent muß versichert sein, daß der Akzeptant überhaupt (ein persönliches Recht) erwerben will, wenn die Gültigkeit des Vertrages eine ausgemachte Sache sein soll. Solange diese gegenseitige (nicht empirisch mögliche), gleichursprüngliche Versicherung nicht vorliegt, ist die Gültigkeit des Vertrages bloß problematisch. Um die Vereinigung des Willens des Promittenten mit dem des Akzeptanten und damit die assertorische Gültigkeit des Vertrages zu denken, muß man noch über den für die Gültigkeit eines Vertrages zwar notwendigen, aber noch nicht hinreichenden besonderen Willen sowohl des Promittenten als auch des Akzeptanten und damit über die empirische Erklärung und Gegenerklärung der Willkür eines jeden von beiden hinausgehen und von der
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Zeit abstrahieren. Dadurch wird die Möglichkeit ausgeschlossen, daß der Promittent einen anderen Willen hat als den in seiner Erklärung zum Ausdruck gebrachten seines Versprechens. Gerade daran muß der Akzeptant ein Interesse haben. Das Versprechen wird gewissermaßen als von dem Akzeptanten mitgegeben angesehen bzw. als aus einem gemeinsamen Willen hervorgehend. Es besteht keine Möglichkeit mehr, den entgegengesetzten Willen des Promittenten ohne Widerspruch zu denken. Und andererseits wird die Möglichkeit ausgeschlossen, daß der Akzeptant trotz seiner Akzeptation überhaupt nicht (kein persönliches Recht) erwerben will. Gerade daran muß der Promittent ein Interesse haben. Die Akzeptation wird gewissermaßen als von dem Promittenten mitvollzogen gedacht bzw. als aus einem gemeinsamen Willen hervorgehend. Es besteht keine Möglichkeit mehr, den entgegengesetzten Wille des Akzeptanten ohne Widerspruch zu denken. Das heißt nun aber beide Akte des Versprechens und der Annehmung als gleichursprünglich und als zugleich existierend denken. Durch die Akzeptation als einen aus einem gemeinsamen Willen hervorgehenden Akt ist der Promittent jetzt ausgemachterweise gebunden. Der Akzeptant hat jetzt ausgemachterweise ein persönliches Recht gegen den Promittenten (eine Befugnis zu zwingen). Er hat das Versprechen des Promittenten nicht nur akzeptiert (empirisch in Besitz genommen), sondern sogar rechtlich erworben.
7.
Im Zuge der Erörterungen des 1. Abschnittes seines „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum" (Berlin 1783) wirft M. Mendelssohn die Frage nach dem „Ursprung der Zwangsrechte und Gültigkeit der Verträge unter Menschen" (S. 29) auf und kommt damit auf die ersten Grundsätze des Naturrechts zu sprechen. Mit der Frage nach dem „Ursprung" der Gültigkeit der Verträge unter Menschen wirft M. Mendelssohn, mit Kant zu reden, die Frage auf „Warum soll ich mein Versprechen halten?" Auf diese Frage aber bleibt er (nach Kant) die Antwort schuldig.
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Nach Mendelssohn gründet sich der Begriff des Rechtes und der Pflicht auf den Begriff der Glückseligkeit, also auf den Begriff eines empirischen Zweckes. Der Mensch habe ein Recht auf gewisse Güter oder Mittel zur eigenen Glückseligkeit, insofern es den Gesetzen der Weisheit und Güte nicht widerspreche (S. 29), wobei jedoch nicht gesagt wird, was unter diesen Gesetzen zu verstehen sei. Und was nach den Gesetzen der Weisheit und Güte sogar geschehen müsse, sei Pflicht (S. 30). Es gebe aber vollkommene und unvollkommene Rechte sowohl als Pflichten (S. 32). Jene seien Zwangsrechte und Zwangspflichten, diese Bitten und Gewissenspflichten. Zuerst geht Mendelssohn auf die unvollkommenen Rechte und Pflichten ein. Wenn ein Mensch Güter oder Mittel zur eigenen Glückseligkeit besitze, die er entbehren könne, so sei er verpflichtet, solche zur fremden Glückseligkeit (und Vollkommenheit) anzuwenden. Und er selbst habe ein entsprechendes Recht, andere um solche Mittel zur Beförderung seiner eigenen Glückseligkeit (und Vollkommenheit) zu bitten. Keiner könne aber zur Erfüllung seiner Gewissenspflicht, anderen wohlzutun, gezwungen werden. Wenn ich nun dieser meiner Gewissenspflicht nachkomme und durch hinlängliche Willenserklärung meine Rechte an meinen entbehrlichen Mitteln zur eigenen Glückseligkeit an einen anderen abtrete und dieser sie durch eine hinlängliche Willenserklärung annehme, so höre das Meine auf, das Meine zu sein und werde das Seine des anderen. Durch die Annahme meines Versprechens verwandele sich meine Gewissenspflicht gegen den anderen in eine Zwangspflicht oder vollkommene Pflicht. Im Grunde komme alles bloß auf die beiden Willenserklärungen des Abtretens des Meinen und des Annehmens durch einen anderen an (S. 49). Ein Vertrag gründet sich auch nach M. Mendelssohn auf ein hinlänglich erklärtes Versprechen einerseits und die hinlänglich erklärte Annahme dieses Versprechens andererseits (S. 51). Aber das Versprechen wird dabei als eine Abtretung und Überlassung oder Übertragung eines Rechtes verstanden, in die der Promissar einwilligen muß. Wenn er es tut, ist das Versprechen des Promittenten rechtskräftig geworden. Nach M. Mendelssohn geht also schon durch den besonderen Willen des Promittenten
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und den besonderen Willen des Akzeptanten das Seine des ersteren zu dem letzteren über. Erklärung (Versprechen) und Gegenerklärung (Annehmung) sind als empirische Akte in der Zeit, die nur aufeinander folgen können, nicht bloß notwendige Bedingungen der Gültigkeit eines Vertrages (wie bei Kant), sondern zugleich sogar hinreichende. Das bedeutet aber einen Empirismus der Rechtsbegriffe. Mendelssohn nimmt damit nicht nur die Unmöglichkeit eines empirischen Zugleichseins der beiden Willenserklärungen an (wie Kant auch; das Gegenteil wäre ja ein Widerspruch), sondern überdies sogar eine Unmöglichkeit überhaupt, d. h. er leugnet die Möglichkeit, von den empirischen Bedingungen der Akte des Versprechens und der Annehmung zu abstrahieren und diese Akte als aus einem (nicht-empirischen) gemeinschaftlichen Willen des Promittenten und Akzeptanten hervorgehend und zugleich existierend zu denken. Dieser Empirismus der Rechtsbegriffe bezüglich der rechtlichen Gültigkeit eines Vertrages hat seine negative Entsprechung darin, daß Mendelssohn nur Gründe dafür anführt, daß ich mein Versprechen halten soll, aber nicht dafür, warum ich es halten soll; daß er sich also um einen Beweis für einen an sich unerweislich wahren kategorischen Imperativ bemüht. Mendelssohn übt an A. Ferguson (und seinem Übersetzer der „Institutes of Moral Philosophy" von 1769) Kritik. Er habe in seiner Moralphilosophie den Grund der Notwendigkeit, ein Versprechen zu halten, (den Grund dafür, daß ich überhaupt ein Versprechen halten soll) in der bei dem Mitmenschen erregten Erwartung und Unsittlichkeit der Täuschung gesehen (S. 52). Diese Notwendigkeit scheine aber nur eine Gewissenspflicht zu sein. Und es sei eigentlich die Frage, wodurch denn diese Gewissenspflicht in eine Zwangspflicht übergegangen sei? Nach Mendelssohn allein durch die Akzeptation des Promissars. Sie ist also über jenen allgemeinsten Grund hinaus der besondere (eigentlich rechtliche) Grund dafür, daß ich mein Versprechen halten soll. Der andere, der akzeptiert hat, kann mich im Verweigerungsfalle mit Gewalt dazu zwingen (S. 55). Die Notwendigkeit, mein Versprechen zu halten, ist der Grund, mich im Verweigerungsfalle mit Gewalt zwingen zu dürfen. Nach Kant dagegen ist unter der
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geschenkten Voraussetzung, daß man sein Versprechen halten soll, die Befugnis des Promissars, den Promittenten zur Erfüllung seines Versprechens zwingen zu dürfen, der rechtliche Grund dafür, warum dieser sein Versprechen halten soll. 8.
Das dritte Moment des allgemeinen Prinzips aller äußeren Erwerbung wird in den §§ 20 und 21 ins Auge gefaßt. Durch den Vertrag habe ich vorerst nur das Versprechen des anderen erworben, aber noch nicht das Versprochene. Ich habe vorerst nur ein persönliches Recht gegen eine bestimmte physische Person erworben: ich darf, wenn ich will, auf ihre Willkür wirken, mir etwas zu leisten. Ich muß dies auch wollen, dann erst erwerbe ich durch die Tat des anderen; dann erst wird das Versprochene das Meine etc.
MARIO A. CATTANEO
Menschenwürde und Strafrechtsphilosophie der Aufklärung In mehreren Schriften habe ich mich mit den vielfachen Seiten und mit den verschiedenen Denkern der Strafrechtsphilosophie des XVIII. Jahrhunderts befaßt. Das gegenwärtige Symposium gibt mir die angenehme Gelegenheit, über solche Probleme noch einmal, von einem allgemeinen Gesichtswinkel, nachzudenken und hier zu versuchen, eine zusammenfassende Darstellung der Hauptelemente der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung zu geben. Ich werde zwei Haupttendenzen des strafrechtlichen Denkens des XVIII. Jahrhunderts aufzeigen, welche, obwohl sie in Bezug auf Funktion und Zweck der Strafe einander entgegengesetzt sind, doch ein wichtiges gemeinsames Element haben. Die beherrschende Straftheorie im XVIII. Jahrhundert, die wir das strafrechtliche Denken der Aufklärung im engeren Sinne nennen können, hat in der naturrechtlichen Schule des XVIII. Jahrhunderts seine Wurzel (Grotius, Hobbes, Pufendorf). Die Straftheorie ist durch drei Hauptelemente charakterisiert1. Zuerst die Säkularisierung des Straf rechts, d. h. die Trennung des Naturrechts von der Moraltheologie, und damit die Unterscheidung von Sünde und Verbrechen (rechtlich strafbar ist nur das letztere). Unter Verbrechen wird ein äußeres Verhalten verstanden, welches das individuelle Recht des anderen verletzt; es werden also die Verletzungen bloß religiöser und moralischer Gesetze von der juristischen Bestrafung ausgeschlossen. Die Säkularisierung des Strafrechts entsteht bei Grotius; sie wirkt sich aus in den strafrechtlichen Theorien von Thomasius, Montesquieu, Beccaria und Hommel2. Das zweite Merkmal ist vielleicht das wichtigste bei der Gegenüberstellung der zwei Tendenzen des Strafdenkens im XVIII. Jahrhundert, insofern es den Zweck der Strafe betrifft; es handelt
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sich um die Verneinung des vergeltenden Charakters der Strafe. Diese Idee ist durch die Säkularisierung des Strafrechts bedingt; da die Strafe nicht mehr Sühne sein kann, soll sie einen irdischen Zweck haben; dieser Zweck dient der Gesellschaft in der Form der Prävention von künftigen Verbrechen. Aus zwei Gründen wird die Vergeltung abgelehnt: a) Bestrafen nur um der Strafe willen ist nicht imstande, die in der Vergangenheit begangene verbrecherische Tat zu eliminieren3; es kann also die vergeltende Strafe keinen echten Zweck haben, sie ist sinnlos, b) Die Vergeltung wird von den Aufklärern mit der Rache identifiziert; die Rache, obwohl oft als Gefühl verständlich, ist unvernünftig, unchristlich und menschenunwürdig. Die peinliche Gesetzgebung soll vernünftig sein und darf kein unedles Gefühl zur Grundlage haben. Die jetzt beschriebene Seite ist die pars destruens der Doktrin: Bekämpfung der Vergeltung als Funktion der Strafe. Andererseits hat die Aufklärung keine konsequente pars construens in dieser Beziehung entwickelt; im allgemeinen kann man sagen, daß die Aufklärer die präventive Straftheorie behauptet haben; aber sie haben nie deutlich erklärt, was sie unter „Prävention" verstanden, sie haben nie die möglichen verschiedenen Bedeutungen dieses Begriffes erarbeitet. Was sie interessierte, war die Reform des Strafrechts, die Bekämpfung eines barbarischen Strafsystems, aber sie haben keinen neuen soliden wissenschaftlichen Bau errichtet; erst die späteren Straf rechtsschulen — die Kantische Schule (Feuerbach, Grolman), die Utilitaristen im Gefolge Benthams, die Strafrechtler um Romagnosi und Carrara — nahmen diese Aufgabe in Angriff. Das dritte Merkmal der strafrechtlichen Aufklärung ist das Humanitätsgefühl, die Idee einer Reform des Strafsystems im Sinne der Menschlichkeit; der größte Beitrag der strafrechtlichen Aufklärung ist gerade die Zerstörung der gröbsten Härte und der schlimmsten Grausamkeiten des alten Strafsystems gewesen. In diesem Rahmen finden wir vor allem die Bekämpfung der sogenannten qualifizierten Todesstrafen, d. h. der Verhängung der Todesstrafe durch Marter, und die Bekämpfung der Folter als einem gerichtlichen Mittel zur Entdeckung der Wahrheit. Außerdem haben einige Schriftsteller (der hervorragendste Name in
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dieser Beziehung ist natürlich derjenige Beccarias) die Todesstrafe an sich bekämpft und deren Legitimität verneint. Dagegen haben Thomasius, Montesquieu, Hommel, Filangieri, in gewissem Sinn auch Voltaire (um einige Beispiele zu erwähnen), die Todesstrafe als legitim angesehen und sie zum Teil ausdrücklich verteidigt. Mit dem Humanitätsgefühl im Strafrecht ist auch die wichtige Idee der Proportion zwischen Verbrechen und Strafe verknüpft, die von allen Aufklärern propagiert wurde: diese Idee wird als Erfordernis der Gerechtigkeit gerechtfertigt. Das praktische Problem im XVIII. Jahrhundert war die Minderung der Höhe von Strafen, die für geringfügige Delikte (z. B. dem Gesindediebstahl) angedroht und verhängt wurden; die Polemik Voltaires gegen die französische Gesetzgebung und die Veränderung der preußischen Strafgesetze seitens Friedrichs des Großen sind in dieser Beziehung bezeichnend4. Die neuen Strafgesetzbücher am Ende des XVIII. Jahrhunderts und am Anfang des XIX. Jahrhunderts haben diese Erfordernisse kodifiziert. Unter den drei genannten Hauptmerkmalen der Straftheorie der Aufklärung ist das dritte (nämlich das Humanitätsgefühl) das wichtigste, d. h. dasjenige, welches die Aufklärung am tiefsten und klarsten bezeichnet und prägt und wonach die Denker des XVIII. Jahrhunderts am meisten strebten. Dies zu betonen ist für den späteren Vergleich und den Schluß meines Berichtes wichtig. Die zweite Doktrin des XVIII. Jahrhunderts, die wir analysieren müssen, ist die Straflehre Kants: Kant wirkt als Vollender der Aufklärung5. Kant hat das zweite Merkmal der herrschenden Straflehre im XVIII. Jahrhundert, nämlich die Idee der Präventivstrafe, insofern sie utilitaristisch aufgefaßt wird, angegriffen; sein Angriff wird dadurch erklärt und gerechtfertigt, daß Kant die Prävention als utüitaristische Funktion der Strafe und entsprechend als menschenunwürdig betrachtete. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre schreibt Kant: „Richterliche Strafe . . . kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn
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der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines ändern gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts vermengt werden, wowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüßen gar wohl verurteilt werden kann. Er muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen. Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas aufzufinden, was durch den Vorteil, den er verspricht, ihn vor der Strafe oder auch nur einem Grade derselben entbinde, nach dem pharisäischen Wahlspruch: ,Es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe'; denn wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erde leben"6. Ich möchte mich hier nicht ausführlich dem zweiten Teil dieser Stelle zuwenden, der Definition des Strafgesetzes als kategorischem Imperativ, obwohl ich diesen Punkt als entscheidend für die ganze Strafrechtsphilosophie Kants betrachte. Ich verweise nur auf zwei Probleme: die Definition scheint widersprüchlich zu sein, weil der kategorische Imperativ, als Imperativ der Moralität, die Befolgung des Gesetzes „aus Pflicht", aus Achtung fürs Gesetz gebietet, ohne Bedingung durch ein empirisches Motiv, während das Strafgesetz eine typisch empirische Triebfeder zur Handlung, nämlich die Strafe, enthält. Zweitens leitet Kant mit dieser Definition das Strafrecht unmittelbar von der Sittlichkeit ab, während er im allgemeinen Moral und Recht klar unterscheidet (Diesem Problem habe ich einen großen Teil meines Werkes über „Menschenwürde und Strafe in der Philosophie Kants" gewidmet, das in diesem Jahr erschienen ist). Das Thema, das wir hier behandeln müssen, betrifft jedoch das Verhältnis von Kants Straflehre und Strafrechtsphilosophie der Aufklärung (im engeren Sinne)7.
Eine kurze, aber treffende Gegenüberstellung dieser zwei Auffassungen (in Bezug auf die heutigen Strafrechtsprobleme) hat neulich Wolfgang Naucke gegeben. In seinem Mailänder Be-
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rieht vom März 1979 Generalprävention und Grundrechte der Person schreibt Naucke: „Die politische Philosophie der Aufklärung — durch Beccarias Schrift ,dei delitti e delle pene' (1764) glänzend in das Strafrecht übertragen — sieht die Rechtfertigung und die Wirkung der Strafe allein in ihren nützlichen Folgen für den Menschen. Die Strafe steht im Dienst menschlicher Zwecke . . . Verzicht auf Vergeltung zugunsten der Prävention wird eine der Hauptentwicklungslinien im Strafrecht . . . Die Aufklärung selbst aber entdeckt schon die Schwierigkeit, die präventiven Mittel in einem zweckabhängigen Strafrecht zu begrenzen. Im rationalen Strafrecht, das die Aufklärung für die neue Zeit prägt, bestimmt der Zweck des Strafrechts die Mittel des Strafrechts. Wer über die Zwecke verfügen kann, verfügt über die Mittel. Der Satz wirkt im Strafrecht wohltätig, soweit er wirkungslose Grausamkeit und ineffektive Unmenschlichkeit abzuschaffen hilft. Was aber ist zu sagen, wenn die Grausamkeit des Strafens zweckmäßige Wirkungen verspricht? Muß der Straftäter, von dem immer neue Verletzungen wichtiger Rechtsgüter zu besorgen sind, unschädlich gemacht, d. h. doch — wenn andere Mittel nicht nützen — getötet werden, vorausgesetzt, daß die Art der Tötung den Zweck der Tötung nicht überschreitet? Die Antwort ist in der Aufklärung teils ja [Rousseau] teils nein. Das ,nein' ist schwieriger zu begründen. An Beccarias Versuch ist das gut abzulesen. Die Todesstrafe sei nicht nützlich, sagt Beccaria, und bleibt damit im Rahmen der Argumentationslinien der Aufklärung . . . Das Strafrecht der General- und Spezialprävention hat eine feste positive Begründung aus vorausgesetzten Zwecken .. . Die Grundrechte der Person oder die Bürgerrechte dagegen begründen ein Strafrecht nicht. Diese Grundrechte ermöglichen es nur, Vorbehalte zu formulieren und das Strafrecht der Prävention an bestimmten Punkten zum Nachdenken, zur Verteidigung oder zum Nachgeben zu zwingen . . . Kant gelingt es, für die Theorie des Strafrechts diese Argumentationslinien neu zu bestimmen, die Fronten, die die Argumentation erreicht hat, umzukehren und damit das Strafrecht der Prävention in die Verteidigung zu drängen. Kant formuliert am Ende des 18. Jahrhunderts das allgemeine Problem des Verhält-
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nisses von Präventionsstrafrecht und Grundrechten der Person für das 19. und 20. Jahrhundert einprägsam und unabweisbar. . . Der Entwurf des Strafrechts aus seiner Nützlichkeit wird diskreditiert. Das ist nur zu verstehen als Folge der politischen Einsicht, daß die aufklärerisch-vernünftige Begrenzung eines zweckmäßigen Strafrechts in den Voraussetzungen und den Folgen mißlungen ist und immer mißlingen wird. Der Optimismus der Aufklärung, ein auf seine Nützlichkeit begründetes Strafrecht könne gar nichts anderes als wohltätigen Fortschritt bringen, ist verflogen . . . Kant erreicht nicht, daß der Entwurf des Strafrechts von seinen Zwecken her aufhört. Er erreicht aber, daß das zweckmäßige Strafrecht nicht für ein gerechtes Strafrecht ausgegeben werden kann. Ein nur präventives Strafrecht ist politisch möglich, und es hat Aussichten, sich faktisch zu halten, weil dies einer langen, wirkungsvollen, politischen Entwicklungslinie seit der Aufklärung entspricht. Aber seit Kant unterliegt ein solches Strafrecht in allen seinen Teilen dem Einwand, der Würde der Person zu widersprechen und damit nur zweckmäßig (aber nicht rechtlich) zu sein . . . Die Frage nach dem Verhältnis von Präventionsstrafrecht und Grundrechten des Menschen i s t . . . klar zu beantworten: ein lediglich präventiv — general — oder spezialpräventiv — begründetes Strafrecht ist politisch naheliegend, aber prinzipiell anzuzweifeln. Ein solches Strafrecht ist ein Recht mit deutlich geminderter Richtigkeitsgewähr''8. Dieses lange Zitat diente der Klarstellung des Problems, das von Naucke treffend gekennzeichnet wird. Ich möchte hinzufügen, daß Naucke, der Absicht seiner Schrift entsprechend, einerseits die beschränkte und sozusagen „negative" Seite der Kantischen Straflehre, d. h. ihre Ablehnung des Utilitarismus im Strafrecht als menschenunwürdig, und andererseits die Gefahr für die Menschenrechte, welche von der präventiven Straftheorie der Aufklärung herkommt, betont hat. Obwohl ich bis dahin mit Naucke übereinstimme, ist nach meiner Meinung die Frage komplizierter: hier möchte ich sie erweitern und ergänzen. Beide Straftheorien — die hier kurz geschildert wurden — haben in sich zwei Bestandteile, die einander widersprechen. Die
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Tatsache, daß die Aufklärung die Prevention als Strafzweck an die Stelle der Vergeltung stellt, und vor allem, daß sie eine grob formulierte Abschreckungstheorie verbreitet, ist zweifellos eine Gefahr; dies gilt besonders bei Thomasius und Friedrich dem Großen, welche den Zweck der Abschreckung in der Zufügung der als Beispiel fungierenden Strafe sehen (vor Feuerbach war übrigens die Unterscheidung zwischen Androhung und Zufügung nicht klar, mit der beschränkten Ausnahme Pufendorfs, und die Generalprävention galt normalerweise als Funktion der Zufügung der Strafe). Die Gefahr hat Naucke gezeigt: die Aufklärer ermöglichen die Anerkennung eines Strafrechts als legitim, sobald es vom präventiven Standpunkte zweckmäßig, tatsächlich jedoch ungerecht ist. Vor allem die abschreckende Wirkung der Zufügung der Strafe macht den individuellen Verbrecher zum bloßen Mittel der Generalprävention; in dieser Beziehung ist Kants Kritik vollständig gerechtfertigt. Hieraus könnte die sogenannte „exemplarische Strafe" entstehen, d. h. eine Strafe, welche strenger ist, als die Schwere des Verbrechens oder die Schuld des Verbrechens erfordert; in diesem Falle wird die Größe der Strafe nach dem Nutzen und den Erfordernissen der Gesellschaft und der Bekämpfung der Kriminalität im allgemeinen gemessen. Wenn dies auch wahr ist, so macht es doch nicht die ganze Wahrheit aus. In der Tat sind in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung zwei Gegenströmungen vorhanden, welche jener Gefahr zuwiderlaufen: das Humanitätsgefühl und das Prinzip der Rechtssicherheit. (1) Das Humanitätsgefühl erlaubt nicht, den Menschen mit grausamen Strafen herabzuwürdigen; der intensivste Kampf der Aufklärer richtete sich gegen die Grausamkeit des Straf systems. Die Proportion zwischen Verbrechen und Strafen — welche, wie wir sahen, die Aufklärer bedingungslos verfechten — ist ein Erfordernis der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit, das mit einem konsequenten präventiven Strafsystem nicht zu versöhnen ist9. Dieser Widerspruch ist von von Zahn im Fall Beccarias betont worden: „Beccaria vertritt eine Balanciertheorie im engern Sinne, die ihre besonderen Eigentümlichkeiten durch die scharfe Betonung des Abschreckungs- und des Spezialpräventionszwecks der Strafe erhält... Es ist sehr auffallend, daß
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gerade Beccaria, der wie kaum ein anderer dazu beigetragen hat, die Strafen zu mildern, nur solche Strafzwecke anerkennt, die mit sehr schweren Strafen am besten zusammenzustimmen scheinen"10. (2) Das Postulat der Rechtssicherheit gibt der Strafgewalt und der Funktion der Strafe klare und bestimmte Grenzen; nach diesem Prinzip ist die „exemplarische Strafe" völlig unerlaubt, da die Verhängung der Strafe — gemäß der Formel „nulla poena sine lege" - immer nur innerhalb der Grenzen des Gesetzes stattfinden soll. Der Nutzen der Gesellschaft findet immer im Strafgesetz und im Legalitätsprinzip eine Grenze. Zusammenfassend: der Widerspruch besteht darin, daß die Aufklärer einerseits eine Straflehre vertreten haben, welche theoretisch bis zu den letzten Konsequenzen durchgeführt, für die Gerechtigkeit und die Menschenrechte schädlich und gefährlich sein soll; und daß sie andererseits aus ethischen und politischen Motiven die Reform des Strafsystems im humanitären und rechtstaatlichen Sinne verlangt haben, und somit für Gerechtigkeit und Menschenrechte eingetreten sind. Vom historischen Gesichtspunkt ist das zweite das wichtigste; die theoretische Forderung der Präventionslehre wurde nicht konsequent durchgeführt; und übrigens waren die Aufklärer mehr „politisch" als „wissenschaftlich" geprägt. Ein klares Beispiel, das diese meine Interpretation bestätigt, ist Beccaria: sein angeblicher Utilitarismus war nur äußerlich und oft nicht überzeugend; was dagegen tief sein Werk erfüllt und seinen Ruhm ausmacht, ist sein Gerechtigkeitssinn und seine Menschenliebe. Sogar Voltaire, der einen übertriebenen Utilitarismus im Strafrecht vertritt, kann als Beispiel dienen; Voltaire sagte, daß die Todesstrafen verwerflich sind, nicht weil sie ungerecht, sondern weil sie unnützlich sind; der Verbrecher, der zum Tode verurteilt worden ist, dient nur dem Henker, nicht der Gesellschaft; besser wäre es, ihn zu Zwangsarbeit zu verdammen, welche dem Staate und der Gesellschaft nützlich sein kann11. Andererseits freilich vertrat Voltaire das Prinzip der Proportion von Verbrechen und Strafe als Forderung der Gerechtigkeit; und er verknüpfte seinen Namen mit der Verteidigung und Ehrenrettung vieler Unschuldiger, welche zu Unrecht verdammt worden waren (die berühmten Fälle Calas, Sirven, Martin, Lally-Tolen-
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dal usw.); dieser Kampf wurde im Namen der Gerechtigkeit und Nützlichkeit geführt. Soviel zur Analyse der strafrechtlichen Aufklärung. Kant hat vor allem den Utilitarismus und die Präventionslehre der Aufklärung kritisiert, und das gerade im Namen des Menschenrechts, des Prinzips des Menschen als Zweck an sich selbst, welches die zweite Formel des kategorischen Imperativ ausmacht12. Dies ist - wie auch Naucke meint — ein großes Verdienst Kants; er hat klar gezeigt, daß es unerlaubt ist, den Verbrecher (der ein Mensch ist) als ein bloßes Mittel zum Nutzen der Gesellschaft zu behandeln. Wenn Kant sagt, daß der Angeklagte zuerst als strafbar erkannt werden muß, bevor er verurteilt werden dürfe, vertritt er die beschränkte Version der Vergeltungslehre; diese ist auf dem Prinzip aufgebaut, daß nur derjenige bestraft werden darf, der schuldhaft und willentlich das Gesetz gebrochen hat. Dieser ist der beste Teil der Straflehre Kants, sein wichtiger und fortdauernder Beitrag zur Strafrechtsphilosophie. Dieser Teil der Kantischen Straflehre ist, wie H. Mayer und Naucke gezeigt haben13, sozusagen „negativ" geprägt; d. h., Kant zeigt, daß die utilitaristische Straftheorie unbegründbar ist, aber er ist nicht imstande, eine Vergeltungsstrafe positiv zu begründen; beweisen, daß eine einseitig orientierte Präventions- oder Abschreckungstheorie den Menschen als bloßes Mittel behandelt, bedeutet noch nicht, eine eigene Vergeltungslehre begründen; eine solche Argumentation reicht noch nicht hin, um zu beweisen, daß die Strafe, wenn nicht Abschreckung, so doch Vergeltung sein soll. Gerade diese Betonung ihrer „negativen" Bedeutung zeigt, daß die Diskussion der Kantischen Straflehre noch nicht an ihrem Ende ist; wie in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung so findet sich auch hier ein Widerspruch. Es ist bekannt, daß Kants Straftheorie mit einem strengen Rigorismus durchgeführt worden ist, der von vielen Interpreten, auch von Schülern und Anhängern, kritisiert wurde. Die Idee der Vergeltung als Prinzip der Rechtfertigung der Strafe führt in Kants Denken zur Widervergeltung (in der Form des „jus talionis") als einem Kriterium der Art und des Grades der Strafe; sein Rigorismus führt Kant zu der beharrlich wiederholten Behauptung, daß die einzig gerechte
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Strafe für den Mord die Todesstrafe ist. Hierin ist die unbarmherzige — nach meiner Meinung ungerechte — Kritik an Beccarias Straflehre und der „affektierten Humanität" des Mailänder Aufklärers begründet14. In der Bekämpfung der „qualifizierten Todesstrafen"15 stimmt Kant mit den Aufklärern überein und entwickelt eine Idee, die im Einklang mit der Menschenwürde steht; seine wiederholte Verteidigung der Todesstrafe jedoch kann nicht mit dem Grundsatz der Menschenrechte versöhnt werden. Einen groben Widerspruch mit der Idee der Menschenwürde, des Menschen als Zwecks an sich selbst, bildet die Kantische Annahme der Kastration als Strafe für Sexualverbrechen16; niemand kann leugnen, daß eine Verstümmelung des Körpers gerade das Gegenteil der zweiten Formel des kategorischen Imperativs bedeutet. Welche Folgerungen können wir jetzt aus der vorhergehenden Analyse ziehen? Einerseits behaupten die Aufklärer eine Theorie in bezug auf Funktion und Zweck der Strafe, die konsequent durchgeführt, zu Gerechtigkeit und Menschlichkeit widerstreitenden Folgen führen würde: die Präventions- und Abschrekkungstheorie. Andererseits jedoch wurden solche Folgen, die rein theoretisch abgeleitet werden können, historisch dadurch vermieden, daß der größte und wichtigste Teil der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung aus zwei Hauptmerkmalen bestand, die eine Forderung der Gerechtigkeit bildeten: ein Streben nach der Rechtssicherheit und Humanisierung des Straf systems. Umgekehrt in der Kantischen Straflehre. Theoretisch hat Kant einen sehr wichtigen Punkt behauptet (die Achtung der Menschenwürde auch in der Person des Verbrechers), welche gerade die schlechten Folgen der Abschreckungstheorie der Aufklärung vermeiden kann; in der Tat jedoch wird die Straflehre, welche auf diesem Prinzip aufgebaut worden ist, mit einer so unmenschlichen Strenge durchgeführt, daß sie letzten Endes Folgen erreicht, die jenem Prinzip selbst widersprechen. Anders gesagt: die theoretische Schwäche der Straftheorie der Aufklärung wird durch das praktische Reformstreben und durch die Menschlichkeit der Aufklärer gerettet; die Gesundheit des Grundsatzes der Strafleh-
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re Kants wird durch seinen übertriebenen Rigorismus untergraben und gefährdet. Beide Straflehren sind nicht ganz konsequent; beide bestehen aus zwei Hauptteilen, die einander widersprechen. Damit habe ich die inneren Widersprüche der zwei Strömungen der Strafrechtsphilosophie des XVIII. Jahrhunderts zu schildern versucht, die jedoch zur Entstehung und Entwicklung eines modernen und menschlicheren Strafrechts wesentlich beigetragen haben. Am Schluß eine Bemerkung zu einem wichtigen Merkmal, das beiden Strömungen gemeinsam ist. In seiner Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft hat Ernst Landsberg geschrieben: „Sein [Kants] Postulat von einer eigenartigen Würde, die jedem einzelnen Menschen zukommt, kraft deren Jedermann als Zweck an sich selbst dasteht, Niemand als Mittel, ohne zugleich dabei Zweck zu sein, gebraucht werden darf . . . ist doch geradezu der Anspruch des in einen metaphysischen Kanon gebrachten, wennschon eben dadurch in's Maßlose gesteigerten Humanitätsgefühls des achtzehnten Jahrhunderts"17. Diese Stelle ist nach meiner Meinung wichtig, weil sie klar die wahre Verknüpfung Kants mit der Aufklärung, das beste aufklärerische Erbe in Kants rechtsphilosophischem Denken bezeichnet. Die zweite Formel des kategorischen Imperativs Kants drückt in einer philosophischen Weise den Sinn der Menschlichkeit aus, der die Aufklärung im allgemeinen charakterisiert. Es ist gerade dieses Humanitätsgefühl, diese Idee der Menchenwürde, welche dazu beigetragen hat, die entehrenden und grausamen Strafen abzuschaffen: dieses ist das ewigdauernde Verdienst des Denkens des XVIII. Jahrhunderts in bezug auf das Strafrecht. Trotz aller Widersprüche und Gegensätze verknüpft eine solche hohe Idee des Menschenwertes die Strafrechtsphilosophie der Aufklärung einerseits und von Kant andererseits. Es scheint mir wichtig, die beste Seite beider Straftheorien, welche ihnen gemeinsam ist, zu betonen; es ist bezeichnend, daß dieses gemeinsame Merkmal, die Idee der Menschlichkeit, einerseits die gerechtigkeitswidrigen Folgen der Straftheorie der Aufklärung umgeht, andererseits den Hauptgrundsatz der Kantischen Straflehre ausmacht. Es ist für mich ein fruchtbarer Gegensatz, daß Kant die
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Aufklärung gerade im Namen der Idee der Menschenwürde kritisiert, eine Idee, welche ihrerseits den Inhalt des Prinzips ausmacht, das den größten und wichtigsten Beitrag der Aufklärung auf dem Gebiet des Strafrechts, d. h. der humanisierenden Reform des Strafsystems, durchdringt. Wenn Kant trotzdem, wie wir sahen, in bezug auf das Problem der Todesstrafe die „affektierte Humanität" Beccarias kritisiert, widerspricht er seinen eigenen Grundsätzen, würdigt er sogar den Menschenbegriff herab; er vergißt, daß Beccaria an einer wichtigen Stelle seines Buches Dei delitti e delle pene geschrieben hatte: „Non vi e libertä ogni quäl volta le leggi permettono ehe, in alcuni eventi, l'uomo cessi di esser persona, e diventi cosa"18. Dieser Satz — 1764 publiziert — ist zweifellos eine Vorwegnahme der zweiten Formel des kategorischen Imperativs. Übrigens vergißt auch Beccaria, daß dieser Grundsatz seinen utilitaristischen Behauptungen widerspricht, da das Utilitätsprinzip auch die Nicht-Achtung der Menschenwürde (wenn der Nutzen der Gesellschaft es erfordert) rechtfertigen kann. Die Widersprüche, welche aus diesem unmittelbaren Vergleich von Beccaria und Kant entspringen, bestätigen das, was bisher betont wurde; der Kern des ethischen Denkens der Aufklärung und Kants ist der Glaube an den hohen Wert des Menschen. Die Tatsache, daß beide, Beccaria (hier als Vertreter der Aufklärung betrachtet) und Kant die Möglichkeit jeder Behandlung des Menschen als Sache oder Mittel verwerfen, soll nicht unterschätzt werden (und im Gegenteil sollen ihre Gegensätze nicht überschätzt werden). Die Teile der hier geschilderten Straftheorien, welche einseitig einem bestimmten Zweck der Strafe dienen, sind die vergänglichsten; ihr dauernder Beitrag dagegen liegt im Glauben an den Wert der Menschenwürde. Das komplizierte Verhältnis zwischen Aufklärung und Kantischer Philosophie in bezug auf das Strafrecht führt uns zu folgendem Schluß, der noch für die heutige strafrechtliche Forschung wichtig und bedeutungsvoll ist: In der Strafrechtsphilosophie ist die Konsequenz an sich nicht empfehlenswert, weil ein einseitig durchgeführter Strafzweck schädlich für die menschlichen Werte ist; das Gleichgewicht und die Mäßigung der Aufklärer, welche zu menschlich dachten, um den prä-
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ventiven Zweck der Strafe konsequent durchzuführen, ist für uns in dieser Beziehung lehrreich. Andererseits hat Kant mit der Anwendung der zweiten Formel des kategorischen Imperativs einen großen Beitrag zur Vermenschlichung des Strafrechts geleistet; aber, wie gesagt, seine einseitige Bearbeitung des Prinzips der Vergeltung in der Straflehre hat auch ihn zu Ergebnissen geführt, welche für die menschlichen Werte gefährlich sind. Auch heute scheint die befriedigendste Lösung der großen Schwierigkeit der Strafrechtslehre darin zu liegen, daß man das beste aus der Erbschaft der strafrechtlichen Aufklärung und der Kantischen Straflehre auswählt; und dieses „beste" ist jene Denkungsart, welche die Gegensätze zwischen den zwei Straftheorien aufhebt: das Humanitätsgefühl und die Idee der Menschenwürde.
Anmerkungen 1. Siehe Mario A. Cattaneo, La filosofia della pena nei secoli XVII e XVIII, Ferrara 1974, I Kapitel. 2. Die Säkularisierung des Rechts im Denken Grotius liegt in dem berühmten Satz, das Naturrecht würde auch dann gelten, „etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum aut non curari ab eo negotia humana", De jure belli acpacis libri tres, Paris 1625, Prolegomena §11. Für die Säkularisierung im Denken der anderen erwähnten Schriftsteller siehe: Ch. Thomasius, Fundamenta Juris Naturae et Gentium, Halle 1705 (Nachdruck Aalen 1963); Montesquieu, Esprit des Lois, 1748, Buch XII, Kapitel 4; C. Beccaria, Dei delitti e delle pene, 1764 Kapitel XXIV; K. F. Hommel, Vorrede zu Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, Breslau 1778 (Nachdruck Akademie Verlag, herausgegeben von J. Lekscnas, Berlin 1966); Philosophiche Gedanken über das Criminalrecht, herausgegeben von K. G. Rössig, Breslau 1784. 3. Diese Kritik wurde schon von Seneca entwickelt: „... nam, ut Plato ait, nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur; revocari enim praeterita non possunt, futura prohibentur . . .", De Ira, I, 19. 4. Siehe darüber meinen Aufsatz Die Strafrechtsreform im Denken Voltaires und Friedrichs des Großen, in P. Brockmeier, R. Desne, J. Voss (Herausgeber), Voltaire und Deutschland, Stuttgart 1979, S. 313-325. 5. Siehe J. Santeler, Die Grundlegung der Menschenwürde bei I. Kant. Eine kritische Studie, Innsbruck 1962, S. 24 und 38; und mein Buch Dignitä umana e pena nella filosofia di Kant, Giuffe, Milano 1981, S. 41-42. 6. I. Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, herausgegeben von K. Vorländer, Hamburg 1966 (Nachdruck der IV Auflage 1922), II Teil, § E, S. 158-159.
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7. Wie im Text angedeutet, habe ich dieses Problem ausführlich in meinem erwähnten Buch Dignitä umana epena nella filosofia di Kant (Kapitel III, 3c, S. 287-310), behandelt. 8. W. Naucke, Generalprävention und Grundrechte der Person, in W. Hassemer, K. Lüderssen, W. Naucke, Hauptprobleme der Generalprävention, Frankfurt am Main 1979, S. 12-15. 9. Dieser Punkt ist von J. Nagler, Die Strafe. Eine juristisch-empirische Untersuchung, Leipzig 1918 (Nachdruck Aalen 1970), Ss. 340ff., 346ff., 351 ff., 600 Fußnote, betont worden. 10. K. von Zahn, Karl Ferdinand Hammel als Strafrechtsphilosoph und Strafrechtslehrer. Ein Beitrag zur Geschichte der strafpolitischen Aufklärung in Deutschland, Leipzig 1911, S. 83. 11. Voltaire, Prix de la justice et de l'humanite, 1777, Art. Ill, in (Euvres completes, Paris 1817, Band VI, S. 150: „condamnez le criminel ä vivre pour etre utile; qu'il travaille continuellement pour son pays, parce qu'il a nui ä son pays. II faut reparer le dommage; la mort ne repare rien". 12. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, herausgegeben von K. Vorländer, Hamburg 1965 (Nachdruck der III Auflage), II Abschnitt, S. 52: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden ändern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst". 13. H. Mayer, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Stuttgart und Köln 1953, S. 30; Kant, Hegel und das Strafrecht, in „Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag", Frankfurt am Main 1969, S. 69; W. Naucke, Kant und die psychologische Theorie Feuerbachs, Kiel 1962, S. 37-38. 14. I.Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, a.a.O., S. 162: „Hiergegen hat nun der Marchese Beccaria aus teilnehmender Empfindelei einer affektierten Humanität (compassibilitas) seine Behauptung der Unrechtmäßigkeit aller Todesstrafe aufgestellt". 15. Siehe I. Kant, ibid., S. 160—161, wo er von einem „von aller Mißhandlung, welche die Menschheit in der leidenden Person zum Scheusal machen könnte, befreiten Tod" als Strafe für den Mord spricht. 16. I. Kant, ibid., „Anhang erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre", Zusatz 5, S. 196. 17. E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, III Abteilung I Halbband, München und Leipzig 1898, S. 503. 18. C. Beccaria, Dei delitti e delle pene, Kapitel XVII.
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Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe Kants Theorie der staatlichen Kriminalstrafe ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt der systematischen Diskussion. Im Unterschied zur transzendentalphilosophischen Erkenntnis- und Gegenstandstheorie, auch zur Begründung des kategorischen Imperativs und der Autonomie des Willens werden Kants Ausführungen zur Kriminalstrafe aber ebenso wie die Hegels in der Regel bloß als Negativfolie zitiert. Angesichts der zeitgenössischen Bemühungen um eine Humanisierung des Strafrechts erscheint Kants These, nur das Wiedergeltungsrecht (ius talionis) könnte Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben (Die Metaphysik der Sitten [= MS], Akademietextausgabe [= A A] VI 332), als hoffnungslos überholt; gegenüber dem Bemühen, die Todesstrafe weltweit zu ächten, klingt es nach schlechter Metaphysik zu behaupten, wer gemordet habe, müsse auf jeden Fall sterben, da es kein anderes „Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit gäbe (ebd. 333). Dort, wo nur noch die Besserung (Resozialisierung) als angemessener Strafzweck angesehen wird, bestenfalls die Abschreckung (Generalprävention) noch als diskutabel gilt, die Vergeltung aber als primitiver Racheinstinkt der Gesellschaft erscheint (vgl. Menninger, Ostermeyer), dort muß die Devise heißen: „Abschied von Kant und Hegel" (Klug). Wichtige Impulse zu einer Humanisierung des Strafrechts stammen schon aus der Aufklärungsphilosophie. So forderte Beccaria, die Todesstrafe ganz abzuschaffen, und Bentham verpflichtete das Strafrecht auf die Verhinderung zukünftiger Straftaten, also auf Abschreckung. Wer sich mit der Straftheorie der Aufklärung nicht nur aus archivarischen Gründen befassen will, müßte sich daher weit eher mit Beccaria und Bentham als mit Kant auseinandersetzen. Doch gilt heute wie damals, daß die
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Abschreckungs- und die Besserungstheorie grundlegend Schwächen haben; beide schließen nicht aus, daß unter besonderen Umständen Unschuldige bestraft werden können, zudem häufen sich die Zweifel am tatsächlichen Abschreckungs-, neuerdings auch am Resozialisierungswert des Strafsystems (zur Diskussion vgl. Mabbot, Flew, Ewing, Henrici, Eser und Neumann-Schroth). Dabei sollte schon aus rechtstheoretischen Gründen die Vergeltungstheorie eine kritische Überprüfung verdienen. Der Philosoph, der die Vergeltungstheorie in der Aufklärungsepoche rehabilitiert hat, heißt Kant. Da Kants Gedanken zur Straftheorie heute öfter zitiert als näher untersucht werden (zu den Ausnahmen zählen Mayer, Murphy 1972 und Naucke), möchte ich in erster Linie die einschlägigen Texte analysieren. Dabei konzentriere ich mich auf Kants Hauptschrift zur Rechtsphilosophie, die Metaphysische (n) Anfangsgründe der Rechtlehre (= RL). Die Straftheorie findet sich in den Abschnitten D und E der Allgemeinen Anmerkung. . . zum Staatsrecht. Ob man die Vergeltung , die Besserung oder die Abschrekkung als legitimen Strafzweck behauptet — in jedem Fall setzt man voraus, daß der Staat überhaupt zum Strafen berechtigt sei. Da das Strafen ein Akt der Herrschaft ist, geht man weiterhin davon aus, daß nicht jede Form von Herrschaft illegitim sei. Beide Voraussetzungen sind nicht unbestritten, bedürfen daher einer Begründung. Für Kant beginnt sie mit der These, das Recht sei mit der Befugnis zu zwingen verbunden („Einleitung in die RL"). Eine gründliche Untersuchung von Kants Straftheorie muß daher zunächst die These von der Zwangsbefugnis des Rechts prüfen. /. Die Zwangsbefugnis des Rechts Die Verknüpfung des Rechts mit der Zwangsbefugnis war der vorkantischen Rechtsphilosophie geradezu selbstverständlich; ungeklärt war jedoch, wie sich die Verbindung schlüssig beweisen lasse. Dieser Beweis hat nicht nur akademische, sondern auch eine grundlegende politische Bedeutung. Denn durch die Zwangsbefugnis des Rechts wird die Freiheit der Bürger beein-
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trächtigt, was keiner gern hinnimmt. Schon aus diesem Grunde sind immer wieder neu Sozialutopien entworfen worden, die auf jegliche Herrschaft, damit auch auf den Zwangscharakter des Rechts verzichten. Gegenüber der Freiheit des Menschen trägt derjenige die Beweislast, der sie einschränken will. Dies hat Kant schon in seinen Vorarbeiten zur Rechtsphilosophie gesehen: „das Volk ist als solches dem Zwange der Gesetze unterworfen. Nun muß der, welcher sich anmaßt einen Zwang ausüben zu dürfen sein Recht beweisen, denn der Mensch (der gezwungen werden soll) ist von Natur frey". (AA XXIII, 259, Z. 18-28)
Kant stellt sich dieser Begründungspflicht; in seiner Rechtsphilosophie liefert er den schlüssigen Beweis für die Verbindung von Recht und Zwangsbefugnis und löst damit ein bis heute bedeutendes Grundproblem der Rechts- und Staatsphilosophie. Nach Kant folgt die Zwangsbefugnis unmittelbar aus dem Begriff des Rechtsprinzips (§ D und E der „Einleitung in die RL"). Die Überprüfung der Behauptung setzt daher eine Klärung des Rechtsbegriffs (§ B) und Rechtsprinzips (§ C), diese wiederum ein Verständnis des Kantischen Begriffs der Rechtsphilosophie (§ A und „Vorrede") voraus. 1. Die Rechtsphilosophie als apriorische Wissenschaft Die wichtigste Begriffsbestimmung der Rechtsphilosophie steckt schon im Titel der Schrift. Kants Rechtsphilosophie gehört zur Metaphysik der Sitten und trägt die nähere Überschrift „Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre". Nach der „Vorrede" ist die MS das System, das auf die Kritik der praktischen Vernunft (= Kp V} folgt (205). Als Teil der MS ist Kants Rechtsphilosophie nicht mehr praktische Vernunftkritik, setzt deren Einsichten jedoch sachlich voraus; sie ist keine vorkritisch-dogmatische, sondern kritische Philosophie; sie ist eine transzendentale Rechtsphilosophie, die den Maßstab a priori von allem positiven Recht aufstellt, das in einem emphathischen Sinn vernünftig sein will. Unter den vielen Ausdrücken, die Kant in der „Einleitung in die MS" erläutert, taucht der des Systems nicht auf. Nach der Kritik der reinen Vernunft (= KrV) versteht Kant
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„unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Theile untereinander a priori bestimmt wird." (B 860/A 832)
Das System ist ein gegliedertes, kein gehäuftes Ganzes (B 86l/ A 833), in dem die verschiedenen Teile der Erkenntnis ihre genaue Stelle im Verhältnis zu allen anderen Teilen erhalten und die Teile miteinander kein zufälliges Aggregat bilden, sondern nach notwendigen Gesetzen zusammenhängen. Nur eine Erkenntnis, die diesem philosophischen Begriff vom System genügt, ist für Kant wirklich Wissenschaft (B 860/A 832). Ähnlich heißt es in den Vorarbeiten: „Von der Eintheilung aller Rechtsverhältnisse nach principien a priori ihrer Vollständigkeit und Ordnung. Auf denselben beruht die Metaphysik des Rechts und ein Vernunftsystem, sonst ist es blos Aggregat.'4 (XXIII, 259, Z. 8) Indem Kant zur Erläuterung der MS auf den Begriff des Systems zurückgreift, beansprucht er für seine Rechtslehre, in jenem strengen, nämlich philosophischen Sinn Wissenschaft zu sein, nach der die Teile ein systematisches, nach notwendigen Gesetzen (a priori Prinzipien) zusammenhängendes Ganzes bildet. Als ein System, das auf den Einsichten der praktischen Vernunftkritik aufbaut, setzt Kants Rechtsphilosophie die „Unterscheidung des Sinnlichen in unserem Erkenntniß vom Übersinnlichen, dennoch aber der Vernunft Zustehenden" voraus (MS, 206, Z. 19-21) und konzentriert sich — als Metaphysik — auf „ein System der Erkenntniß a priori aus blosen Begriffen" (216, Z. 28f.). Genaugenommen spricht Kant bei seiner Rechtslehre jedoch nicht von einer „Metaphysik", sondern von „metaphysischen Anfangsgründen". Damit schränkt er den Anspruch seiner Rechtsphilosophie ein. Diese Einschränkung ist notwendig, da „der Begriff des Rechts als ein reiner, jedoch auf die Praxis (Anwendung in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellter Begriff ist" (205, Z. 10—12). Daher muß ein metaphysisches
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System des Rechts in seiner Einteilung „auch auf die empirische Mannigfaltigkeit jener Fälle Rücksicht nehmen" (ebd. Z. 13 f.), auf die der Rechtsbegriff anzuwenden ist. Nun ist „Vollständigkeit der Eintheilung des Empirischen aber unmöglich" (Z. 16f.), und die philosophische Rechtslehre liefert ebenso wie der zweite Teil der MS, die philosophische Tugendlehre, und früher schon die Philosophie der Naturwissenschaften (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft: MAdN) nur metaphysische Anfangsgründe ihres Sachgebiets. So weiß Kant, daß die Philosophie im Gegensatz zu einem überzogenen Rationalismus, der das gesamte positive Recht rein rational ableiten will, auf den kleinen, allerdings grundlegenden und entscheidenden Teil, den der Begriffs- und Prinzipienbestimmung, zu beschränken ist. Es ist daher nicht richtig zu sagen: „C'est ä notre avis avec Kant et grace ä sä philosophic que le rationalisme juridique gagne sä bataille decisive." (Villey, 11). Die Philosophie kann weder den Gesetzgeber noch Richter oder Rechtsgelehrten ersetzen. Ähnlich hatte Aristoteles das Wissen der philosophischen Ethik als , als Grundrißwissen bezeichnet, weil es letztlich dem Handeln verpflichtet ist, dieses in seiner empirischen Konkretion aber dem Handelnden selbst überlassen muß: Nikomachische Ethik l l, 1094b 11-1095 a 11; vgl. Hoffe 1971. Um der Vollständigkeit des Empirischen wenigstens nahe zu kommen, will Kant Begriffe einbringen, die selbst nicht integrierende Teile des Systems, vielmehr Beispiele der Anwendung auf die Erfahrung sind. Daher enthält die MS zwei in methodischer Hinsicht verschiedene Aussagen. Auf der einen Seite finden wir die eigentliche Rechtsphilosophie, „nämlich das Recht, was zum a priori entworfenen System gehört" und das Kant „in den Text" setzen will, während andererseits „die Rechte aber, welche auf besondere Erfahrungsfälle bezogen werden, in zum Theil weitläuftige Anmerkungen zu bringen" sind, „weil sonst das., was hier Metaphysik ist, von dem, was empirische Rechtspraxis ist, nicht wohl unterschieden werden könnte" (205 f.). Für eine Beurteilung der Kantischen Straftheorie ist es wesentlich, daß der erste Schritt, die Begründung der Zwangsbefugnis, „im Text" und sogar als Überschrift eines Paragraphen (§ D,
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vgl. § E), also eindeutig zur eigentlichen Rechtsphilosophie, zum a priori entworfenen System gehört. Der zweite Schritt, die Entwicklung des Rechtsinstituts der Kriminalstrafe, taucht dagegen in der „Allgemeine(n) Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins" auf. Es muß noch geprüft werden, ob dieser Teil einer Anmerkung im Sinne der „Vorrede" ist und dann eine methodisch gesehen weit geringere Bedeutung hat, so daß nur die These der Zwangsbefugnis in den eigentlichen, den aprioririschen Teil der Kantischen Rechtsphilosophie fiele, während die Einführung der Kriminalstrafe und die dazu gehörenden Erläuterungen über die Vergeltung und die Todesstrafe zur „Anwendung des Rechtsbegriffs auf besondere Erfahrungsfälle" gehören (so Mayer, 61). Eine Metaphysik der Sitten behandelt im Unterschied zur Metaphysik der Naturwissenschaft nicht Natur-, sondern Freiheitsgesetze (vgl. 214, Z. 13f.). Statt von Freiheitsgesetzen spricht Kant auch von Sittengesetzen (215, Z. 16), die im Unterschied zu den Naturgesetzen nur dann Gesetzescharakter haben, wenn sie „als a priori gegründet und nothwendig eingesehen werden können" (Z. 16). In knapper Wiederholung von Grundgedanken der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (= G M S) und der Kp V stellt Kant heraus: Die Lehren der Sittlichkeit „gebieten für jedermann, ohne Rücksicht auf seine Neigungen zu nehmen: blos weil und sofern er frei ist und praktische Vernunft hat" (216f., Z. 8f.). Die Freiheits- bzw. Sittengesetze werden daher „nicht aus der Beobachtung seiner selbst und der Thierheit in ihm, nicht aus der Wahrnehmung des Weltlaufs geschöpft. . ., sondern die Vernunft gebietet, wie gehandelt werden soll, wenn gleich noch kein Beispiel davon angetroffen würde, auch nimmt sie keine Rücksicht auf den Vortheil, der uns dadurch erwachsen kann, und den freilich rmr die Erfahrung lehren könnte" (Z. 10-18). Als Teil der MS ist auch die Rechtslehre keine pragmatische „Glückseligkeitslehre" (215, Z. 24); sie „kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden" (217, Z. 7f.). Die empirisch erkennbare Natur des Menschen kann deshalb nicht zur Begründung, wohl aber zur Anwendung der
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allgemeinen sittlichen Prinzipien rechtsphilosophische Bedeutung erhalten. Im Rahmen der Freiheitsgesetze unterscheidet Kant zwei Arten: die juridischen Gesetze, die nur äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit betreffen, von den ethischen Gesetzen, bei denen die Gesetze selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen (214, Z. 14ff.). Die Rechtsphilosophie behandelt also „nur die Freiheit im äußeren Gebrauche" (Z. 19f.), die Legalität, während die Moralität Gegenstand der philosophischen Tugendlehre ist; keineswegs ist die Rechtslehre „l'antichambre de la Tugendlehre" (Villey, 17; zum Verhältnis von Recht und Moral bei Kant vgl. Hoffe 1979). Innerhalb der äußeren Gesetze hebt Kant die natürlichen Gesetze, die auch ohne äußere Gesetzgebung bloß a priori durch die Vernunft erkannt werden können, von den positiven Gesetzen ab, zu deren Verbindlichkeit eine äußere Gesetzgebung unabdingbar ist. Als „ein System der Erkenntniss a priori aus bloßen Begriffen" (216, Z. 28f.), bezogen auf die äußere Gesetzgebung, gehört die Rechtsphilsophie zur „natürlichen Rechtslehre" (229, Z. 15), Kants Rechtsphilosophie ist also „Naturrecht, das auf lauter Principien a priori beruht", während, „das positive (statutarische) Recht aus dem Willen eines Gesetzgebers hervorgeht" (237, Z. 15 — 17). Da nach Kant die Prinzipien a priori aus der Vernunft stammen, ist eine Rechtsphilosophie Naturrecht im Sinne von Vernunftrecht. (Daß Kant der Äquivokation des Naturrechts aufgesessen sei: „ou bien il s'agit de la nature en tant qu'elle est la verite - ou bien il s'agit de la nature en tant qu'elle est l'etat primitif, prehistorique de rhomme" [Philonenko, 31], ist daher ein großes Mißverständnis.) Nur diese natürliche Rechtslehre kann in bezug auf das Recht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, da sie allein zu einer positiven Gesetzgebung die unwandelbaren „Principien" (ebd.) hergibt. Im Gegensatz zur heutigen Begriffsbildung begründet eine auch noch so umfassende und in alle Einzelheiten gehende Kenntnis der positiven Gesetze noch keine Rechtswissenschaft, sondern nur Rechtsgelehrsamkeit. Zur Wissenschaft gehört die Begründung des Rechts aus a priori Principien (ebd.);
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zur Wissenschaft ist allein die Philosophie fähig. Nicht die Kenntnis des positiven Rechts, sondern die des Naturrechts hat Wissenschaftscharakter. Während der Kenner des positiven Rechts, der Rechtsgelehrte, angeben kann, was „Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einen gewissen Zeit sagen oder gesagt haben" (229, Z. 22—24), versagt er vor der Frage, ob das positive Recht „auch recht sei", weil ihm das „allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne" (Z. 25 f.), verborgen bleibt. Statt von Recht und Unrecht würden wir heute von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sprechen: im Sinne politischer, nicht personaler Gerechtigkeit, also im Sinne der Gerechtigkeit als Rechtsidee, nicht als persönlicher Tugend. Es ist Aufgabe der Rechtsphilosophie als der eigentlichen Rechtswissenschaft, Begriff und Prinzip der politischen Gerechtigkeit zu bestimmen. Da die politische Gerechtigkeit der normative Maßstab ist, an dem sich das positive Recht als legitim oder illegitim ausweist, haben politische Gerechtigkeit und Naturrecht die sachliche Priorität vor dem positiven Recht. Mit diesen Begriffen Naturrecht, Vernunftrecht und (politische) Gerechtigkeit haben wir weitere Kriterien, um den methodischen Anspruch der Kantischen Straftheorie: Text oder Anmerkung, System a priori oder Anwendung, zu präzisieren. 2. Das Recht als wechselseitige Freiheitseinschränkung 2.1. Das Recht als kategorischer Imperativ Unter der Überschrift „Was ist Recht?" sucht Kant im § B nach dem „Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht" (230, Z. 7 f.). Dabei meint „Verbindlichkeit" nicht irgendein eventuell bloß technisch- oder pragmatisch-praktisches, sie meint ein sittliches Sollen. Denn Kant hat in der „Einleitung in die /5" definiert: „ Verbindlichkeit ist die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft" (222, Z. 3 f.). Daß der gesuchte
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Rechtsbegriff ein kategorischer Imperativ ist, Kant deshalb auch vom moralischen Begriff des Rechts spricht (230, Z. 8), muß zuerst irritieren, da der kategorische Imperativ in der GMS als Prinzip eines vernunftmäßigen Willens (IV 414) und in der KpV als Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft (V 30) bestimmt worden ist, diese Bestimmungen die Moralität betreffen und es der Moralität um eine innere, dem Recht aber um eine äußere Gesetzgebung geht. Andererseits führt Kant die „Verbindlichkeit" ausdrücklich als einen Begriff ein, der „der MS in ihren beiden Theilen gemein" ist (222, Z. l f.). Mangelt es Kants MS an Kohärenz? Kants Ausdruck „moralisch" (230, Z. 8) ist nicht Adjektiv zu „Moralität", sondern zu „Moral", die „Moral" ist aber nach der „Vorrede" der GMS jener rein rationale Teil der Ethik, der die Gesetze der Freiheit unabhängig von allen empirischen Überlegungen einer praktischen Anthropologie untersucht (IV 388). Als Teil der MS ist auch die Rechtsphilosophie von empirischen Überlegungen unabhängig. Ähnlich nennt Kant in der „Einleitung in die MS" die Gesetze der Freiheit im Unterschied zu den Naturgesetzen moralisch, wobei die Freiheitsgesetze, auf äußere Handlungen bezogen, juridisch, auf die Bestimmungsgründe der Handlung bezogen, ethisch heißen. Der Ausdruck „moralisch" ist also gegenüber der Unterscheidung von Rechts- und Tugendlehre indifferent; er betrifft die Freiheitsgesetze als a priori gültige Gesetze menschlichen Handelns, also die Gattung zu den beiden Arten, den juridisch- und den ethisch-moralischen Freiheitsgesetzen. Ebenso ist der kategorische Imperativ wörtlich als ein von empirischen Bedingungen unabhängig und daher unbedingt (kategorisch) gültiges Gebot des Handelns zu verstehen, ein Gebot, das noch offen läßt, ob man sich das Gebotene auch zur Maxime (Triebfeder) macht (Moralität) oder nicht (bloße Legalität). So verstanden ist der kategorische Imperativ das höchste Moralkriterium, das Kant in der allgemeinen, gegenüber dem Unterschied von Rechts- und Tugendlehre noch indifferenten „Einleitung in die MS" einführt und aus dem er später zwei verschiedene Gruppen von Pflichten: die Rechts- und die Tugendpflichten, ableitet
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(vgl. auch Gorer, 19ff.). Daher bestimmt Kant in der „Einleitung in die MS" den kategorischen Imperativ als eine unbedingte Verbindlichkeit gewisser Handlungen, ohne die Unterscheidung von äußerer Handlung und innerer Willensbestimmung einzubringen (222). Man muß also — was Scholz, 44 f. übersieht — zwei Begriffe von kategorischem Imperativ unterscheiden: einen allgemeinen oder weiteren Begriff, der die unbedingte Verbindlichkeit einer Praxis meint, von einem engeren und spezifisch ethischen Begriff, der die unbedingte Verbindlichkeit in bezug auf selbstgesetzte Willensgrundsätze (Maximen) fordert. Für den Rechtsbereich gilt der kategorische Imperativ nur im weiteren, für die Ethik (Tugendlehre) dagegen im engeren Sinn. Dabei hängt der engere vom weiteren Begriff, nicht aber der weitere vom engeren Begriff ab, so daß die Rechtsphilosophie von der Tugendlehre unabhängig bleibt — auch wenn wir den kategorischen Imperativ vor allem aus der GMS kennen, wo er in bezug auf Willensbestimmung, also auf das spezifisch ethische Thema definiert ist. Wenn Kant also nach dem moralischen Begriff des Rechts fragt und diesen als einen kategorischen Imperativ versteht, so sucht er keineswegs nach dem widersprüchlichen Begriff einer inneren Bestimmung der bloß äußeren Gesetzgebung. Ihm geht es vielmehr um den metaphysischen oder rein rationalen Begriff, um den Natur- und Vernunftbegriff von Recht, der zugleich das letzte Kriterium von Recht und Unrecht, von (politischer) Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und in diesem Sinne ihr höchstes normativ-kritisches Prinzip darstellt. Wer die vorethische Bedeutung von „moralisch" übersieht, muß - wie viele Kant-Interpreten — zum Schluß kommen, Kant habe das Recht nicht rein juridisch, vielmehr ethisch begründet. Richtig ist es, daß Kants Rechtsphilosophie auf der praktischen Vernunftkritik basiert. Doch ist diese Vernunftkritik Grundlegung der gesamten Metaphysik der Sitten, nicht nur ihres spezifisch ethischen Teiles, der Tugendlehre. Und dort, wo die praktische Vernunftkritik nicht mehr ausreicht, greift Kant auf rein juridische, nicht auf ethische Elemente zurück.
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2.2. Die Anwendungsbedingungen von Recht und Gerechtigkeit Anders als die Mathematik kann die Philosophie mit Definitionen nicht beginnen; sie muß sie aus der Sache entwickeln. Im Falle des Rechtsbegriffs hat die „Sache" zwei Aspekte, den Gattungsaspekt: es geht um einen moralischen, nicht einen empirischen Begriff, und die spezifische Differenz, die äußere Gesetzgebung. Kant setzt im zweiten Abschnitt von § B bei der spezifischen Differenz an. Er untersucht das, was den Rechtsbegriff „betrifft" (230, Z. 8), also den Sach- und Problembereich, auf den sich der Vernunftbegriff des Rechts bezieht. Man könnte auch von den Anwendungsbedingungen von Recht und Gerechtigkeit (circumstances of right and justice) sprechen. Worauf Kant nicht aufmerksam macht: Methodisch gesehen handelt es sich hier nicht um ein normatives, sondern um ein deskriptives, aber nicht notwendigerweise um ein empirisch-deskriptives Problem. Der Rechtsbegriff wird sich erst aus der Vermittlung dieses deskriptiven mit einem normativen Element ergeben, so daß Kant ebenso dem naturalistischen wie dem normativistischen Fehlschluß entgeht: Der normativ-kritische Begriff von Recht und Gerechtigkeit wird weder aus bloß deskriptiven (naturalistischer Fehlschluß) noch aus bloß normativen Überlegungen (normativistischer Fehlschluß), vielmehr aus ihrer Verbindung abgeleitet (vgl. Hoffe 1980). „Der Begriff des Rechts . . . betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegenüber einer anderen, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können." (230, Z. 9-11)
Diese Bestimmung nennt nicht nur die grundlegende Prämisse der Rechtslehre, daß sie sich nur auf die äußere Gesetzgebung, auf Handlungen als beobachtbare Ereignisse in der Zeit bezieht („Handlungen als Facta"). Sie enthält zwei weitere Gesichtspunkte, von denen der erste für die gesamte MS, der zweite nur für die Rechtsphilosophie gültig ist. (1) Die M5 betrifft jene Wesen, für die Freiheitsgesetze überhaupt einen Sinn haben, das sind Personen und nicht Sachen: zurechnungsfähige Subjekte (223, Z. 24f.) im Unterschied zu
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Dingen, die keiner Zurechnung fähig sind (Z. 32). (Die aus dem römischen Recht stammende Disjunktion von Personen und Sachen legt die für den Tierschutz gefährliche Konsequenz nahe, Tiere rechtlich als bloße Sachen zu betrachten). Indem Kant den Rechtsbegriff vom Begriff der Person als eines zurechnungsfähigen Subjekts und nicht vom Menschen her entwickelt, kommt er selbst bei den Anwendungsbedingungen des Rechts ohne Aussagen einer empirischen Anthropologie aus. Doch setzt Kant voraus, daß für die Menschen die Kategorie der Zurechnungsfähigkeit einen Sinn macht; in dieser Hinsicht braucht seine Rechtsbegründung (minimale) empirische Kenntnisse. Genaugenommen sind die empirischen Kenntnisse aber nicht für den Rechtsbegriff selber notwendig, sondern erst für seine „Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle" (vgl. 205, Z. 11 f.). Das gilt ebenso für die Fragen konkreter Rechtsfälle: ob alle Menschen zurechnungsfähig sind, inwieweit verminderte Zurechnungsfähigkeit oder sogar Unzurechnungsfähigkeit vorliegen. Deshalb bleibt der Begriff des Rechts ein reiner Begriff a priori. (2) Ein zurechnungsfähiges Subjekt allein schafft noch keine Rechtsprobleme. Diese ergeben sich erst dann, wenn es mehrere Personen gibt, die sich durch ihre Handlungen wechselseitig beeinflussen können. Im Gegensatz zu einer „Moralisierung" des Rechts scheiden Handlungen, die wie beispielsweise Selbstmordversuche den Urheber allein betreffen, aus dem Bereich gerechten Rechts heraus. Durch die Bestimmungselemente der Zurechnungsfähigkeit und der wechselseitigen Beeinflussung von Handlungen hebt Kant in genialer Klarheit das Entscheidende der Anwendungsbedingungen heraus und macht die Diskussion aller Zusatzprobleme zur Makulatur. Der im Anschluß an Hobbes entbrannte Streit, warum sich die Menschen gegenseitig beeinflussen, ob die Beeinflussung friedlicher oder aggressiver Natur ist und was die Gründe möglicher Aggressivität sind — alle diese anthropologischen, teilweise auch geschichtsphilosophischen Fragen kann Kant aus der Rechtsbegründung als überflüssig ausklammern. Selbst die Frage, warum sich zurechnungsfähige Subjekte wechselseitig beeinflussen, etwa weil sie wegen der begrenzten Erde
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den gemeinsamen Lebensraum miteinander teilen, kann dahingestellt bleiben. Auf diese Weise wird die Rechtsbegründung erstens gewaltig vereinfacht, zweitens den endlosen philosophischen Disputen um die richtige Anthropologie und Geschichtsphilosophie entzogen sowie drittens von empirischen Elementen tatsächlich freigehalten; Unterschiede zu anderen Philosophen wurzeln nicht „in der Verschiedenheit ihres Menschenbildes, ihrer Anthropologie" (Altmann, 43, für das Verhältnis Kants zu Mendelssohn). „Aber zweitens bedeutet er (der Begriff des Rechts O. H.) nicht das Verhältniß der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfniß) des Anderen, wie etwa in den Handlungen der Wohlthätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die Willkür des Anderen." (230, Z. 11-15)
Beim Recht geht es um das Wechselverhältnis von Willkür zu Willkür. Die Willkür ist das „Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objecte angetroffen wird" (213, Z. 14-16); sie ist „ein Vermögen nach Belieben zu thun oder zu lassen" (Z. 16f.). Es geht also um Freiheit, und zwar in Übereinstimmung mit dem Ansatz bei der Zurechnungsfähigkeit um Handlungs- und nicht um Willensfreiheit. Dort wo die Handlungsfreiheit „mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects verbunden ist" (Z. 17 f.), spricht Kant von Willkür, sonst von Wunsch (Z. 18f.). Während sich der Wunsch auch auf Gegenstände richten kann, die außerhalb der Reichweite der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten liegen, richtet sich die Willkür nur auf jene Objekte, die man tatsächlich hervorzubringen vermag. Man kann die Willkür daher auch reale Handlungsfreiheit nennen. Da sich das Recht als äußere Gesetzgebung auf Handlungen als Fakten und ihre wechselseitige Beeinflussung richtet, kommt es ihm auf die reale Handlungsfreiheit, nicht auf die Wünsche an. Bloße Wünsche verbleiben im Innerlichen; sie führen zu keinen Handlungen, können sich deshalb auch nicht wechselseitig beeinflussen. Erst wenn man in die Dimension äußerer Handlungen eintritt und
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irgendetwas unternimmt, um seine Wünsche zu verwirklichen, können Rechtsfragen auftauchen. Mit diesem Bestimmungselement wendet sich Kant gegen jede utilitaristische Gerechtigkeitstheorie, die durch ihr Kriterium „Wohlergehen aller Betroffenen" keinen Unterschied zwischen einer Beziehung auf die Willkür und einer auf Bedürfnis, damit auch keinen Unterschied zwischen dem Rechtsprinzip und der Tugendpflicht der Wohltätigkeit macht. Der dem Utilitarismus anhaftende Mangel an Unterscheidungsvermögen führt sowohl zu einer Verkürzung der Tugendpflichten, da die Pflichten gegenüber sich selbst ausfallen, als auch zu einer Ausweitung des Rechts in den Bereich des Ethischen. Kants Bestimmung hat eine darüber hinausgehende rechtspolitische Tragweite, schließt sie doch die Aufgaben der Sozial- und Wohlfahrtsstaatlichkeit aus dem rein rationalen Begriff des Rechts aus. Im Gegensatz etwa zu Wolff und Mendelssohn fallen die officia humanitatis nicht in den Aufgabenbereich des Naturrechts, und im Unterschied zum Selbstverständnis der modernen Staaten liegt nach Kant ihrer Entwicklung zum Sozial- und Wohlfahrtsstaat keine Gerechtigkeitsverpflichtung zugrunde. Sie hat die instrumentale Bedeutung, den „rechtlichen Zustand . . . sowohl innerlich, als wider äußere Feinde zu sichern" (Über den Gemeinspruch, AA VIII 298). Ähnlich heißt es in den Vorarbeiten: „Die beste Regierungsform ist nicht die worinn es am bequemsten ist zu leben (Eudämonie) sondern worinn dem Bürger sein Recht am meisten gesichert ist" (XXIII, 257, Z. 35-38).
Ebenso wie auf den Wunsch ist das Verhältnis der Willkür auf das bloße Bedürfnis (230, Z. 12 f.), sind folglich Handlungen der Wohltätigkeit oder Hartherzigkeit aus dem Vernunftbegriff des Rechts ausgeschlossen. Da zum bloßen Bedürfnis das Vermögen, die zu seiner Befriedigung notwendigen Objekte hervorzubringen, nicht schon strukturell hinzugehört, fällt das bloße Bedürfnis in die Dimension der Wünsche. Da das Recht nach seinem Vernunftbegriff nicht die Wünsche, Bedürfnisse und Interesse der Menschen betrifft, ist jene Pflicht, die sich auf die menschliche Bedürftigkeit richtet, die Pflicht, anderen in Not zu helfen, eine
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bloße Tugendpflicht (vgl. „Tugendlehre", §§ 23ff.). Freilich ist es auch eine Tugendpflicht, daß man den anderen nicht erniedrigt, daher „diese Wohltätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt" (4481), woraus man ein weiteres Argument für die Entwicklung des Sozialstaates ableiten könnte. Drittens kommt es nicht auf die Materie der Willkür, sondern nur auf die Form im Wechselverhältnis der Willkür an. Dabei versteht Kant unter der Materie der Willkür den „Zweck, den ein jeder mit dem Object, was er will, zur Absicht hat" (230, Z. 16 f.). Zur Erläuterung führt er ein Beispiel an: Wenn jemand eine Ware kauft, so werde nicht danach gefragt, ob sie dem Käufer auch zum Vorteil gereiche; das zu klären, sei vielmehr jedem selbst überlassen. In diesem Beispiel liegt die Willkür im Kaufen bzw. Verkaufen, das Wechselverhältnis im Tausch von Ware und Geld, die Materie der Willkür - hier eine etwas irreführende Bezeichnung - in der Absicht, die die Tauschpartner verfolgen, und die Form des Wechselverhältnisses wohl darin, daß der Tausch auf beiden Seiten bewußt und freiwillig oder aber unter Zwang und Betrug vonstatten geht. Daß es im Recht nicht auf die Materie der Willkür ankommt, begründet Kant nicht. Das Beispiel zeigt allenfalls, daß Kant seine These für unbestritten klar hält. Man könnte den Grund in dem Umstand vermuten, daß Kant hier einen moralischen Begriff von Recht bilde, für das Moralische sei aber der Ausschluß der Materie konstitutiv (vgl. KpV, §§ 2-4). Der Grund läge dann im Begriff des Moralischen, so daß die Begriffsbestimmung des Rechts mit ihrem dritten Element von den deskriptiven Anwendungsbedingungen zum genuin normativen Moment überginge. Gegen diese Vermutung spricht jedoch, daß die Form des Wechselverhältnisses nicht von vornherein rechtens ist, vielmehr auch ungerecht sein kann („aus Zwang und Betrug"), das Kriterium des Moralischen also noch aussteht. Deshalb ist der Grund im vormoralischen Element des Rechtsbegriffs, nämlich darin zu suchen, daß sich das Recht auf die äußeren Handlungen bezieht, die Materie im Sinne von Absicht aber innerlich ist.
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2.3. Der Begriff des Rechts Die „Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür" kann verschieden, sie kann vor allem gerecht oder ungerecht sein. Soll sie rechtens (gerecht) sein, so muß sie die Bedingung, frei zu sein, erfüllen (Z. 21). Wann aber kann die Form als frei gelten? Die Freiheit besteht nach Kant in der Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben, wofür — so der kategorische Imperativ im weiteren Sinn - die allgemeine Gesetzlichkeit das Kriterium abgibt. Die Form des Wechselverhältnisses soll also von sinnlichen Antrieben unabhängig sein und dem Kriterium der allgemeinen Gesetzlichkeit genüge leisten. Kant denkt also keineswegs an eine „raison pure subjective d'un individu" (Villey, 18). Nach einem explikativen „und" folgt der Teilsatz „ob durch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des ändern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse" (230, Z. 21 —23). Hier hebt Kant noch einmal das heraus, was in der vorangehenden Bedingung, nämlich frei zu sein, schon mitgesetzt, aber noch nicht ausgesprochen ist. Erst mit der Bedingung der Freiheit und ihrem Kriterium der allgemeinen Gesetzlichkeit führt Kant einen genuin normativen Aspekt in seine Argumentation ein. Zusammen mit der Anwendungsbedingung von Recht, der Form des Verhältnisses der beiderseitigen Willkür, ergibt sich daraus der normativ-kritische Rechtsbegriff: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des ändern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." (230, Z. 24-26)
Wenn Kant hier von einem Gesetz der Freiheit spricht, dann meint er wieder allgemein den Bereich des Moralischen im Unterschied zu dem der Natur. Es geht also nicht um eine spezifisch ethische Verbindlichkeit, und die Feststellung bleibt gültig, daß Kants Rechtsbegriff nicht ethisch, sondern juridisch begründet wird. Gemäß der normativen Bestimmung im Rechtsbegriff soll die Willkür des einen mit der des anderen (wir können betonen: jedes
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anderen) zusammen vereinigt werden können. Diese Forderung enthält die negative Seite, daß die Handlungsfreiheit von jedermann einzuschränken ist. Diese Einschränkung erfolgt sachlich noch vor der Begründung des öffentlichen Rechts und des Staatsrechts; sie ergibt sich schon aus einem vorstaatlichen Rechtsbegriff. Die Einschränkung ist notwendig, weil die reale Handlungsfreiheit mehrerer Personen vereinbar werden soll, womit zugleich der Maßstab formuliert ist. Nicht jede Art und jedes Maß an Freiheitseinschränkung sind rechtlich legitim, sondern allein jene Art und jenes Maß, ohne die sich die Handlungsfreiheit mehrerer Personen nicht miteinander vereinbaren lassen. Darüber hinaus ist die Einschränkung nur insoweit rechtens, als sie auf allen Seiten streng gleich geschieht. Angesichts dieses grundlegenden und auf alle überflüssigen Voraussetzungen und Kautelen verzichtenden Rechtsbegriffs muß man sich fragen, ob man Kant wirklich einen „point de vue strictement individualiste" (Villey, 18) vorwerfen kann. Gegen den Vorwurf spricht erstens, daß Kant, wie es Villey fordert (Villey, 18), nicht von Individuen, sondern von Beziehungen (nämlich von der wechselseitigen Beeinflussung) zwischen Individuen ausgeht, und zweitens, daß sich in Kants Formulierung für „den einen" und ,,den anderen" auch Gruppen (Familien und dergleichen) einsetzen ließen und man doch dasselbe Grundproblem behielte, wie man eine Mehrzahl von Handlungsfreiheiten nach einem allgemeinen Gesetz vereinbaren könne. 2.4. Das Prinzip des Rechts Auf den Begriff des Rechts folgt in § C das allgemeine Prinzip des Rechts: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann." (230, Z. 29-31).
Dieses Prinzip formuliert den höchsten Maßstab für Recht und Unrecht. Nach der „Einleitung in die MS" ist eine Tat recht, die
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pflichtmäßig (factum licitum), und unrecht, die pflichtwidrig (factum illicitum) ist" (223, Z. 35 ff.). Wie schon der kategorische Imperativ so ist auch das Rechtsprinzip primär ein Maßstab für das Erlaubte und Verbotene, nicht für das Gebotene. Kant gewinnt den Maßstab direkt aus dem Rechtsbegriff. Denn das allgemeine Prinzip des Rechts ist nichts anderes als der Begriff des Rechts, nur aus dem Blickwinkel rechtlich erlaubter Handlungen betrachtet. Weil das Recht der Inbegriff der Bedingungen der Vereinbarkeit von Handlungsfreiheiten ist, sind all jene Handlungen rechtlich erlaubt, die den Bedingungen der Vereinbarkeit gerecht werden. Das Rechtsprinzip lautet daher: „Eine jede Handlung ist recht, die ... mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann" (230, Z. 29-31).
Kant führt noch eine weitere Variante zur Bestimmung des Rechts ein. Außer dem Begriff und dem allgemeinen Prinzip des Rechts kennt er das allgemeine Rechtsgesetz: „handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne" (231, Z. 10—12).
Das Rechtsgesetz greift die Sache des Rechtsbegriffs und des Rechtsprinzips auf, formuliert sie aber als einen Imperativ. Da der Mensch im Unterschied zu einem „heiligen Wesen" nicht aus innerer Notwendigkeit moralisch handelt, hat das Rechtsprinzip (ebenso wie die Tugendpflicht) für den Menschen Aufforderungscharakter; es hat - wie der gesamte Bereich des Moralischen — die Form eines Imperativs (vgl. 222). 3. Die Zwangsbefugnis des Rechts Die Erläuterung zum allgemeinen Rechtsprinzip enthält schon den ersten Schritt von Kants Begründung der Zwangsbefughis. Aus dem Maßstab des rechtlich Erlaubten leitet Kant nämlich den Maßstab des rechtlich Verbotenen (das Unrecht) ab, das er mit Hilfe jenes Begriffs definiert, der für die Zwangsbefugnis entscheidend ist: des Begriffs des Hindernisses bzw. des Widerstandes.
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Das Unrechttun steht von seinem Begriff her im kontradiktorischen Gegensatz zum Rechthandeln: das Nicht-Rechte ist unrecht, das Nicht-Unrechte ist recht. Da das Rechthandeln das rechtlich erlaubte Handeln meint, ist das Unrechttun das rechtlich Unerlaubte oder rechtlich Verbotene. Rechtlich verboten ist ein Handeln, das jemanden an seinen rechtlich erlaubten Handlungen hindert. Denn — so lautet Kants Argument - das Hindernis kann mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen nicht bestehen. Dieses Argument ist triftig, da das rechtlich Erlaubte per definitionem das ist, was mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen bestehen kann; was dem rechtlich Erlaubten widersteht, fällt daher aus der Menge des rechtlich Erlaubten heraus. Zusammen mit der kontradiktorischen Beziehung von Recht und Unrecht folgt daher, daß ein Hindernis gegenüber dem rechtlich Erlaubten rechtlich verboten ist. Man mag sich wundern, daß Kant aus dieser Bestimmung ableitet, „daß nicht verlangt werden kann, daß dieses Princip aller Maximen selbst wiederum eine Maxime sei" (231, Z. 3f.). Doch ist die Ableitung triftig: Weil das rechtlich Erlaubte durch die Übereinstimmung mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen in notwendiger und zureichender Weise definiert ist, kann man an den Begriff des rechtlich Erlaubten keine weitergehenden Forderungen stellen. Sich das Rechtsprinzip selbst wiederum zum inneren Bestimmungsgrund, zur Maxime, (vgl. 225, Z. 34-36) des Handelns zu machen, ist aber eine weitergehende Forderung, die folglich aus dem Begriff des rechtlich Erlaubten herausfällt. Dann aber legt des Rechtsgesetz eine Verbindlichkeit auf, ohne zu erwarten oder zu fordern, daß der Handelnde sich diese Verbindlichkeit selbst auferlegt und seine Willkürfreiheit auf die Vereinbarkeit mit der Willkürfreiheit aller anderen von allein einschränkt; zu den rechtlich erlaubten Handlungen gehört es nicht, daß das Rechtsgesetz auch die Triebfeder der Handlungen abgibt. Weil der innere Bestimmungsgrund des Handelns für das allgemeine Rechtsprinzip keine Bedeutung hat, folgt — was Kant hier allerdings nicht diskutiert -, daß ein Gesinnungsrecht und Gesinnungsschnüffelei im Widerspruch mit dem Vernunftbegriff von Recht stehen, also Unrecht sind.
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Die Einschränkung der Handlungsfreiheit auf die Bedingungen der wechselseitigen Vereinbarkeit nennt Kant ein Postulat der Vernunft, „welches gar keines Beweises weiter fähig ist" (231, Z. 18). Diese Behauptung muß man genau lesen, damit man nicht glaubt, nach Kant seien das Postulat sowie das Prinzip, der Begriff und das Gesetz des Rechts keines Beweises fähig. Tatsächlich behauptet Kant, das Postulat sei keines Beweises „weiter" fähig, also müsse die bisherige Begründung ausreichen. In der soweit entwickelten Argumentation steht schon die These des § D, das Recht sei mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Denn nach § B ist eine Beschränkung der Handlungsfreiheit, nach § C aber keine Selbstbeschränkung gefordert. Dann aber muß die Beschränkung von außerhalb kommen. Insofern eine Beschränkung von außerhalb Zwang bedeutet, folgt unausgesprochen, daß die zum Rechtsbegriff gehörende Beschränkung in der Form eines Zwangs erfolgt. Kants ausdrückliche Begründung der Zwangsbefugnis folgt nach § D aus zwei Prämissen: PI : Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen. P2'· Nun ist alles, was Unrecht ist, ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen: der Zwang aber ist ein Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Daraus zieht Kant den Schluß (vgl. „Folglich"): C\: Wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. Unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung des Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht. Die Folgerung zieht Kant weiter in den Schluß: C-2'. Mithin ist mit dem Recht zugleich eine Befugnis, dem, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft. Die erste Prämisse (Pi) ist ein allgemeiner, nicht für das Recht spezifischer Satz. Mit bezug auf den Begriff der Wirkung formuliert er eine doppelte Negation: den „Widerstand gegen das Hin-
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dernis einer Wirkung", und behauptet - logisch einwandfrei —, daß die doppelte Negation eine Position (hier: eine Beförderung der Wirkung) sei und deshalb mit ihr zusammenstimme. Die zweite Prämisse (P2) enthält zwei Teile. Der erste Teil (P2.i) setzt die einfache Negation, das Hindernis einer Wirkung, mit dem Unrecht gleich. Diese Gleichsetzung gründet auf der Umkehrung jener Folgerung, die Kant im vorangehenden Paragraphen aus dem allgemeinen Rechtsprinzip gezogen hat. Im § C hatte Kant das Unrecht als ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen bestimmt. Die Umkehrung dieser Bestimmung bedeutet, daß alles, was unrecht ist, ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen ist. Weil das Unrecht durch das „Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen" notwendig und zureichend definiert wird, ist auch diese Umkehrung logisch einwandfrei. Der zweite Teil der zweiten Prämisse (P2.2) spricht den Zwang als eine Teilmenge des Hindernisses der Freiheit an. Daraus scheint das genaue Gegenteil der Titelthese zu folgen; der Zwang erscheint als unrecht. Doch eine solche Deutung übersieht, daß Kant hier den Zwang als ein Hindernis der Freiheit ohne den Zusatz des Moralischen „nach allgemeinen Gesetzen" definiert. Kants Schlußfolgerung von der Zwangsbefugnis ergibt sich erst aus der Verbindung der zweiten (?2.i und Pa.a) mit der ersten Prämisse (Pi). Die Folgerung zieht Kant im folgenden Satz (Ci), in dem er alle bisherigen Elemente noch einmal aufgreift. Der Satz hat hypothetische Struktur. Der Vordersatz „wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit . . . unrecht ist" greift den ersten Teil der zweiten Prämisse (P2.i) auf, brauchte daher nicht hypothetisch („wenn . . ."), sondern könnte gleich assertorisch („da . . .") formuliert werden. Der Nachsatz „so ist der Zwang . . . recht" greift die begriffliche Bestimmung des Zwangs aus dem zweiten Teil der zweiten Prämisse (?2.2) sowie die erste Prämisse (Pi) auf, wobei die doppelte Negation etwas abgewandelt wird; statt von „Widerstand gegenüber dem Hindernis . . ." spricht Kant von „Verhinderung eines Hindernisses . . ..". Zudem spricht er von dem, um das es im Recht geht und das die zweite Prämisse (P2) schon eingeführt hat, nämlich von der Freiheit.
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Mit der Schlußfolgerung d hat Kant bewiesen, daß der Zwang, der einem rechtlich nicht erlaubten Gebrauch der Freiheit entgegengesetzt wird, rechtens ist. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß mit dem Recht die Befugnis (d. h. nach MS, 222, Z. 27-29, die Erlaubnis) zu zwingen verbunden ist. Die Zwangsbefugnis folgt ausschließlich aus dem allgemeinen Rechtsprinzip zusammen mit Bedeutungsregeln der Sprache (wie beispielsweise der, daß die doppelte Negation eine Position ist). Es ist eine analytische Konsequenz des Rechtsprinzips, so daß Kant sie zu recht als „nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft" sieht (231, Z. 33f.). Damit hat Kant bewiesen, das zum rechtlich Erlaubten eine Erlaubnis zweiter Stufe gehört, die Erlaubnis nämlich, das, was auf der ersten Stufe rechtlich erlaubt ist, auch zu erzwingen. Der Zwang ist rechtlich erlaubt, freilich nicht jeder. Als Unterscheidungskriterium des legitimen vom illegitimen Zwang gilt die Unrechtsabwehr; nur die Verhinderung eines Hindernisses des rechtlich erlaubten Freiheitsgebrauches ist rechtens. Da das Rechtsgesetz aus der Anwendung rein rationaler Überlegungen auf das Zusammenleben zurechnungsfähiger Subjekte folgt und die Zwangsbefugnis ein analytisches Element des Rechtsgesetzes ist, wird auch die Zwangsbefugnis rein rational begründet; empirisch-pragmatische Überlegungen sind für diesen Schritt innerhalb der Begründung der Kriminalstrafe nicht notwendig. Die Zwangsbefugnis ist ebenso wie das Rechtsprinzip a priori gültig und ein integrales Element von Kants kritischer Rechtsphilosophie. Der auf den § D folgende Paragraph zieht die Folgerung aus der engen Verknüpfung. Weil die Zwangsbefugnis mit dem Rechtsprinzip analytisch verbunden ist, kann sie in die Definition des Rechtsprinzips eingehen. Als das Recht ohne jede ethische Beimischung irgendwelcher Tugendvorschriften kann das strikte Recht ,,auch als die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges vorgestellt werden" (232, Z. 1—5). Recht und Zwangsbefugnis sind nicht zwei verschiedene Dinge, aus denen man das Recht nachträglich zusammensetzen müßte.
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Das eine gehört vielmehr unmittelbar zum anderen: „Recht und Befugniß zu zwingen bedeuten also einerlei." (ebd., Z. 29); mit anderen Worten: ein Recht ohne Zwangsbefugnis ist gar kein Recht. Beispielsweise ist es für Kant rechtlich legitim, vom Schuldner die Bezahlung seiner Schulden zu fordern (genauer: sie zu erzwingen). Denn weil die Verpflichtung, Schulden zurückzuzahlen, nicht erst eine Tugendpflicht, sondern schon eine Rechtspflicht ist, geschieht ihre Einhaltung nicht nur durch den Appell an die Vernunft, sondern notfalls durch Zwang. Kants Begründung der Zwangsbefugnis enthält eine notwendige, keine zureichende Legitimation der Kriminalstrafe. Denn der Strafzwang ist begrifflich mehr als der bloße Rechtszwang (Erfüllungszwang). Zudem ist die Kriminalstrafe ein Institut des öffentlichen Rechts; es ist ein Element des Staates. Mit der Begründung des allgemeinen Rechtsprinzips ist die Notwendigkeit eines öffentlichen Rechtszustandes (Staates) aber noch nicht erwiesen. Die im Begriff des Rechts enthaltene Zwangsbefugnis ist eine vorstaatliche Befugnis. Sie steht dem einzigen bislang eingeführten Subjekt, der zurechnungsfähigen Person, zu. Die Begründung der Zwangsbefugnis erfolgt schon vor der Erörterung des im Naturzustand geltenden Privatrechts. Sie ergibt sich nicht erst aus den inneren Schwierigkeiten oder Widersprüchen des Naturzustandes; sie hat etwa im Gegensatz zu Hobbes eine grundsätzlichere Wurzel. Im Unterschied zu Rawls (240) wird die Zwangsbefugnis nicht nur von Hobbes, sondern ebenso von Kant behauptet. Wer den Zwang zu besorgen hat und wie er dabei vorgehen darf und soll, ob es in jedem einzelnen Fall tunlich ist, den Zwang anzuwenden — all diese Fragen sind für konkrete Anwendung der Zwangsbefugnis, nicht aber für seine prinzipielle Begründung von Bedeutung. //. Das Rechtsinstitut der Kriminalstrafe Obwohl Kant seine Straftheorie auf wenigen Seiten entwickelt (in der Akademieausgabe S. 331-337), antwortet er doch auf die
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bis heute wesentlichen Probleme. (1) Er klärt den Begriff staatlicher Kriminalstrafe, einschließlich des Problems, wer strafen dürfe; (2) er antwortet auf die Frage, wen man bestrafen darf, sowie (3) auf die Frage, was das Kriterium für Art und Maß der Strafe ist; außerdem behandelt er (4) das Spezialproblem der Todesstrafe. Auf all diese Fragen gibt Kant eine klare und dezidierte Antwort, so daß man fast von einer vollständigen Straftheorie sprechen kann. Andererseits sind die Antworten sehr knapp, oft verkürzt, so daß tatsächlich nur der Grundriß einer (vollständigen) Straftrechtstheorie vorliegt. 1. Der Begriff der Kriminalstrafe Kant untersucht nicht die natürliche Strafe, „dadurch das Laster sich selbst bestraft und auf welche der Gesetzgeber gar nicht Rücksicht nimmt" (331, Z. 20-22). Die Strafe, die er allein behandelt, ist die Kriminalstrafe als Institut des öffentlichen Rechts in seinem ersten Teil, dem Staatsrecht, das im Unterschied zum Völkerrecht das Verhältnis des Staates zu seinen Gliedern, den Bürgern untersucht: „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen." (§ 45, 313, Z. 10f.).
Sofern die „Gesetze a priori nothwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend, (nicht statutarisch) sind, ist seine Form die Form eines Staats überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprincipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient." (Z. 11-16).
Der Rechts- und Staatszustand steht im Gegensatz zum Naturzustand, in dem eine gesetzlose Freiheit herrscht; jeder kann das tun, was ihm recht und gut dünkt, so daß „vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können" (§44, 312, Z. 9f.). Im Rahmen der „Allgemeine(n) Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins"
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(318—337), der sich dem § 49 des Staatsrechts anschließt, handelt der längere Abschnitt E „Vom Straf- und Begnadigungsrecht". Der Abschnitt beginnt mit Bestimmungen der wichtigen Begriffe: Strafrecht, Verbrechen und richterliche Strafe, ohne die Bestimmungen weiter zu begründen. Auch ist ihre methodische Bedeutung nicht ohne weiteres klar. Nach Mayer erhebt Kant nicht den Anspruch, die Bestimmung des Strafrechts philosophisch deduziert zu haben; Kant verweise auch nicht auf eine anderwärts gelieferte Deduktion; es handele sich „ganz einfach um einen Erfahrungssatz" (Mayer, 63). Für Mayer spricht, daß sich Kants Bestimmung des Strafrechts im Rahmen der „Allgemeinen Anmerkung" findet, Anmerkungen aber gemäß der „Vorrede" der MS nicht das apriorische System des Rechts, vielmehr seine Anwendung auf besondere Erfahrungsfälle betreffen. Nun spricht Kant aber nicht einfach von einer Anmerkung, sondern von einer „allgemeinen" Anmerkung, so daß es sich schon deshalb kaum um „besondere" Erfahrungsfälle handeln kann. Außerdem spricht die Anmerkung über rechtliche Wirkungen, die sich „aus der Natur des bürgerlichen Vereins" (318, Z. 16f.) ergeben. Die Natur des bürgerlichen Vereins zu bestimmen, ist aber eine apriorische Aufgabe und wird vom Natur- oder Vernunftbegriff des Rechtszustandes gelöst. Ob auch die „rechtlichen Wirkungen" aus der „Natur des bürgerlichen Vereins" dieselbe apriorische Bedeutung haben, ist damit freilich noch nicht begründet. Da Kant aber im zweiten Absatz das Strafgesetz einen kategorischen Imperativ nennt (331, Z. 31 f.), der kategorische Imperativ eindeutig von allen empirischen Bedingungen unabhängig ist, da weiterhin — wie noch zu zeigen - schon die Begriffsbestimmung des Strafrechts Kants Vergeltungstheorie in nuce enthält, also mehr als definitorische Bedeutung hat; und weil überhaupt der Bereich des Strafrechts von Kant nachdrücklich von empirisch-pragmatischen Überlegungen frei gehalten wird, scheint die einleitende Begriffsbestimmung der Strafe im Gegensatz zu Mayer kein Erfahrungssatz zu sein, vielmehr auf apriorischen Bestimmungen zu beruhen. Für dieses Verständnis spricht auch die Tatsache, daß Kant die Vergeltungstheorie aus Gerechtigkeitsgründen vertritt (332f.), der
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Begriff der Gerechtigkeit aber dem des Naturrechts beziehungsweise Vernunftrechts entspricht, also wiederum eine apriorische Kategorie ist. Erfahrungssätze können feststellen, wo und wann das Institut der Kriminalstrafe besteht oder bestanden hat, welche Formen es annimmt; sie können aber nicht die Legitimität, die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, beurteilen. Kants Begriffsbestimmung des Strafrechts enthält in bewunderswerter Kürze und Klarheit fünf Wesenselemente der Sache. Das Strafrecht ist (1) das Recht, das (2) dem Befehlshaber (3) gegen dem Unterwürfigen zukommt, (4) ihn wegen seines Verbrechens (5) mit einem Schmerz zu belegen. (1) Obwohl wir unter „Strafrecht" gewöhnlich einen Rechtsbereich, also einen Teil des objektiven Rechts verstehen, spricht Kant das Strafrecht einem öffentlichen Subjekt zu, meint hier also ein subjektives Recht, eine rechtliche Befugnis. Da es Kant um die Legitimität des Strafrechts, das heißt um die Berechtigung einer öffentlichen Gewalt geht, den Bürgern einen Zwang aufzuerlegen, ist es richtig, daß er das Strafrecht hier subjektiv als Befugnis, nicht objektiv als Inbegriff von Strafrechtsbestimmungen definiert. (2) Als Institut des öffentlichen Rechts steht die Befugnis zu strafen der öffentlichen Gewalt, genauer: einem bestimmten Teil, dem Befehlshaber, zu. Der Ausdruck „Befehlshaber" steht für das Fremdwort „Exekutive" und hat nichts mit Hobbes' Idee einer absoluten Staatssouveränität zu tun. Im Gegenteil hat Kant angeborene Menschenrechte behauptet und auch die Idee der Gewaltenteilung vertreten. Weder die (gerichtliche) Zuerkennung der Strafe noch die Gesetzgebung, die die Rechtsbasis schafft, stehen in der Kompetenz der vollziehender Gewalt, während umgekehrt weder der Gesetzgebung noch der Rechtssprechung die Ausübung der Strafbefugnis zukommt. Weil die Strafbefugnis weder Privatpersonen noch der Gesellschaft, vielmehr einer rechtlich autorisierten öffentlichen Gewalt zugeordnet wird, ist sie — prinzipiell betrachtet und im Gegensatz zu heutiger Ideologiekritik am ganzen Strafrecht — kein Zeichen eines primitiven Racheinstinktes der Gesellschaft. Denn weder den Geschädigten noch der aufgebrachten Nachbarschaft und
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auch nicht einer diffusen Öffentlichkeit kommt die Strafbefugnis zu; sie gebührt allein einem Dritten, der dazu autorisierten Exekutive. Darüber hinaus dürfen die Exekutive nicht willkürlich, sondern nur nach Maßgabe eines Gerichtsurteils und das Gericht nur gemäß der geltenden Gesetzgebung handeln. Mit dem Ausdruck „Befehlhaber" macht Kant deutlich, daß es einer Rechts- und Staatsordnung um Herrschaft geht. In dem sich an Marx und andere Sozialutopien anschließenden Streit „Herrschaftsfreiheit oder gerechte Herrschaft?" steht Kant nachdrücklich auf seilen der gerechten Herrschaft. Er steht schon deshalb auf dieser Seite, weil sich mit dem Recht die Befugnis zu zwingen analytisch verbindet. Wenn Kant im folgenden Satz behauptet, der „Oberste im Staate" könne nicht bestraft werden, man könne sich nur seiner Herrschaft entziehen (331, Z. 6 f.), so spricht er die staatsrechtliche Person der Exekutive als eine natürliche Person an, was schon ein unzulässiger Kategorienwechsel ist, und setzt weiterhin voraus, daß eine natürliche Person nicht beides: Befehlshaber und Unterwürfiger, sein könne. Tatsächlich kann man jedoch die Übertragung der Befehls- und Strafgewalt an natürliche Personen als ein zeitlich beschränktes und widerrufbares Mandat verstehen. Dann aber ist es keineswegs widersprüchlich, einem straffällig gewordenen Mandatsträger die Exekutivgewalt zu entziehen und ihn auf der Grundlage eines Gerichtsurteils zu bestrafen. So folgt Kants Vorstellung, der Oberste im Staate könne nicht bestraft werden, nicht schon aus apriorischen, sondern erst aus zusätzlichen Überlegungen; sie gehört nicht zum kritischen Teil der Kantischen Rechtsphilosophie. Sie ist eine „konservative Parteinahme", die — systematisch betrachtet — persönliche Überzeugungen Kants voraussetzt, die man vielleicht aus Zeitumständen erklären, aber ebenso kritisieren kann. (3) Auch beim nächsten Bestimmungselement kann man historisch-politische, und zwar wiederum konservative Assoziationen ausfiltern, ohne Kants Grundgedanken aufgeben zu müssen. Daß das Strafrecht „gegen den Unterwürfigen" anzuwenden ist, schließt nicht ein, daß der Betroffene die staatsrechtliche Stellung eines Untertans einnehmen muß. Es ist ebenso möglich, zugleich
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neutraler und zutreffender, unter dem „Unterwürfigen" den Bürger zu verstehen, sofern und soweit er der vollziehenden Gewalt unterworfen ist. Da jeder Bürger — unmittelbar oder mit Hilfe von Repräsentanten — auch Mitglied der souveränen Herrschaftsgewalt ist (souverän ist nach Kant der vereinigte Volkswille), hat der Bürger staatsrechtlich gesehen eine doppelte Position: er ist nicht nur Unterwürfiger, sondern auch Gesetzgeber, obwohl Kant in bezug auf die gesetzgebende Körperschaft einmal mehr „konservativen Vormeinungen" erliegt, wenn er Kaufmannsund Handwerksgesellen, Dienstboten und alle Frauenzimmer aus jener aktiven Staatsbürgerschaft ausklammert, der das Recht der Stimmgebung allein zukommen soll (314f.). (4) Die Strafbefugnis wird gegenüber jemanden „wegen seines Verbrechens" ausgeübt. Darin unterscheidet sie sich von Steuern oder Quarantänemaßnahmen, daß sie für eine Rechtsübertretung und wegen ihr verhängt wird; die Strafe wartet mit ihrem Eingreifen, bis eine Übertretung, und zwar eine Rechtsübertretung und nicht irgendein Fehlverhalten tatsächlich eingetreten ist; jede Bestrafung eines rechtlich Unschuldigen ist eine schreiende Ungerechtigkeit, auch wenn sie im Einzelfall einen noch so großen Abschreckungs- oder Resozialisierungseffekt haben sollte. Die Strafe ist keine präventive, vielmehr eine post factumMaßnahme und unterscheidet sich deshalb auch von manipulativen Techniken einer „schönen neuen Welt", von den offenen oder versteckten Formen der Konditionierung und Propaganda, schließlich auch davon, asozial erscheinende Mitmenschen einfach unschädlich zu machen. Da nach Kant die Strafe nicht nur nach, sondern auch wegen des Verbrechens verhängt wird, nimmt er schon hier die im nächsten Absatz erscheinende allgemeine Vergeltungstheorie vorweg. Für ein rechtes Verständnis der Kantischen Strafrechtsbestimmung ist es wesentlich, daß Kant nicht einfach von Rechtsübertretung, auch nicht von Vergehen, sondern von der strengsten Form, dem Verbrechen, spricht. Das Strafrecht, das Kant untersucht und für das er das Vergeltungsprinzip verficht, ist — objektiv gesehen — das Kriminalrecht („Criminalgerechtigkeit": 331,
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Z. 11) im engeren Sinne, dem es um wirklich schwere Rechtsverstöße, um öffentliche Verbrechen, wie beispielsweise „falsch Geld oder falsche Wechsel zu machen, Diebstahl und Raub" (331, Z. 14f.), selbstverständlich auch um den Mord geht, allgemein um jene Rechtsübertretungen, durch die „das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person . . . gefährdet wird" (Z. 16f.); der Maßstab liegt also in der Verletzung der Staatssicherheit im Sinne eines Widerspruchs zu den Bedingungen des öffentlichen Rechtszustandes, wozu man nicht alle, sondern nur großangelegte Diebstähle zählen könnte (vgl. Naucke, 208f., auch Mayer, 61). Die Übertretungen des sogenannten bürgerlichen oder Polizeirechts werden dagegen von der „Civilgerechtigkeit" behandelt, fallen also nicht unter die Reichweite von Kants Vergeltungstheorie. Weiterhin gehört nach Kant — subjektiv betrachtet — zum Verbrechen die Vorsätzlichkeit, die sich der Rechtsübertretung bewußt ist (224, Z. 5 f.), während er eine „unvorsetzliche Übertretung, die gleichwohl zugerechnet werden kann, . . . bloße Verschuldung" nennt (Z. 4 f.). (5) Gegenüber dem Verbrecher erhält der Befehlshaber das Recht, ihm „Schmerz" (331, Z. 5), also ein Übel zuzufügen. Freilich hat nicht jedes Übel Strafcharakter. Weder eine schmerzliche (Zahn-)Arztbehandlung noch Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Dürreperioden, Springflut oder Lawinen sind im rechtlichen Sinn Strafen. Im Unterschied zu Naturkatastrophen ist die Verhängung der Rechtsstrafe eine bewußte und freiwillige Handlung; im Unterschied zur Arztbehandlung sucht der Betroffene die schmerzliche Behandlung nicht freiwillig auf; es liegt nicht in seinem Belieben, die Strafe anzunehmen; der Verbrecher wird mit dem Schmerz „belegt" (Z. 5); der Schmerz wird ihm auf gezwungen. Dieser Teil der Kantischen Strafrechtsdefinition trifft auch für jenes Strafrecht zu, das heute von Strafrechtsreformern vertreten wird, nämlich für ein bloßes Maßnahmerecht zum Zwecke der Besserung und Wiedereingliederung des Täters. Denn solange die Maßnahmen wegen einer Rechtsübertretung und von der dazu autorisierten Rechtsinstanz verhängt werden, vor allem aber, solange die Maßnahmen dem Täter auch ohne seine Zu-
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Stimmung auferlegt werden, ist auch die rechtlich verordnete und insofern notfalls erzwungene Sozialtherapie im wörtlichen Sinn ein Freiheitsentzug und in diesem Verständnis ein Übel. Dies gilt unabhängig von der empirischen Frage, wie der einzelne Betroffene das Übel verarbeitet, ob es zu seinen Gunsten oder Ungunsten geschieht. Es ist deshalb eine große Gedankenlosigkeit, mehr noch: ein Selbstbetrug, zu glauben, mit der Einführung der Resozialisierung könne man das Rechtsinstitut der Strafe abschaffen. 2. Die allgemeine Vergeltung als Strafprinzip Nach der ebenso kurzen wie klaren Begriffsbestimmung des Strafrechts folgt jene berühmte Stelle, an der Kant auf die zweite Frage einer Straftheorie, wer zu bestrafen sei, mit dem allgemeinen oder weiten Begriff von Vergeltung antwortet. „Richterliche Strafe (poena forensis). . . kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nicht bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüßen gar wohl verurtheilt werden kann. Er muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen." (331, Z. 20-31)
Kant kritisiert nachdrücklich alle sogenannten relativen Straftheorien, sofern diese sich absolut und die Vergeltung hintansetzen. Die relativen Theorien betrachten den Verbrecher bloß als ein Mittel zum Zwecke des Wohlergehens des Verbrechers (Besserung des Täters und seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft) oder der bürgerlichen Gesellschaft (Abschreckung als Schutz vor zukünftigen Verbrechen). Die Resozialisierung, die Spezialprävention und die Generalprävention scheiden also als letzte Strafzwecke aus, ohne daß Kant ihnen jede Berechtigung abspricht. Denn er sagt „niemals
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bloß", womit er —logisch gesehen - Besserung, Wiedereingliederung und Verhinderung (Abschreckung) weder als einzige noch als primäre Strafzwecke anerkennt. Kant behauptet jedoch kein „niemals", womit er den relativen Straftheorien eine subsidiäre (sekundäre) Bedeutung offen läßt. Daher endet seine These, der Mensch müsse erst strafbar befunden sein, mit dem Teilsatz „ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen" (Z. 29—31). Kant verbannt die Konkurrenz vom ersten Platz, nicht jedoch aus der ganzen Diskussion. Das Strafrecht darf also Besserungs-, Wiedereingliederungs- und Abschrekkungsgesichtspunkte enthalten, freilich nicht so, daß die Vergeltung dadurch eingeschränkt würde. So läge beispielsweise eine legitime Abschreckung allein in der (aus Vergeltungsüberlegungen folgenden) Gerechtigkeit der angedrohten Strafe. Der erste Strafzweck liegt in der Vergeltung — gemäß einem ersten, einem allgemeinen oder weiten Begriff von Vergeltung: Das Rechtsinstitut der Kriminalstrafe ist in dem Sinn Vergeltung, daß nur der Verbrecher bestraft werden darf und allein deshalb, weil er etwas verbrochen hat. Mit dieser Behauptung hebt Kant ein Element heraus, auf das keine Straftheorie verzichten kann, die auch nur in einem minimalen Sinn gerecht sein will. Die relativen Straftheorien: die Besserungs-, die Wiedereingliederungs- und die Abschreckungstheorie können von ihrem Begriff her nicht ausschließen, daß gelegentlich (unter besonderen Umständen) auch Unschuldige bestraft werden, sofern sie gebessert oder wiedereingegliedert werden oder aber die Gesellschaft vor großem Übel bewahrt bleibt; unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten darf man jedoch nur Schuldige bestrafen. Kant begründet seine Behauptung mit dem allgemeinen Prinzip seiner praktischen Philosophie, daß „der Mensch nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden" dürfe (Z. 25-27). In der G MS (IV, 427 ff.) finden sich einige Hinweise zur Begründung; da das Prinzip für die Rechtsphilosophie nicht spezifisch ist, überlasse ich deren Untersuchung einer eigenen Arbeit. Für die Rechtsphilosophie spezifisch ist jedoch die Frage,
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ob das Achtungsprinzip als Grundsatz aus der GMS für die Rechtsphilosophie überhaupt Gültigkeit hat, und die weitere Frage, warum Kant nicht auf das allgemeine Rechtsprinzip zurückgreift. In der Regel wird die GMS als Grundlegung bloß der Ethik (Tugendlehre) betrachtet. Für diese Ansicht spricht die Tatsache, daß Kant in der GMS Begriffe und Prinzipien entwickelt, die nur in die Ethik gehören: so das Handeln aus Pflicht, die Moralität oder die Autonomie des Willens. Auch der kategorische Imperativ, der nach der GMS die Verallgemeinerbarkeit der selbstgesetzten Willensgrundsätze, der Maximen, fordert, ist in dieser Formulierung für die Moralität und damit für die Ethik (Tugendlehre) spezifisch. Andererseits sagt schon der Titel Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, daß hier die gesamte systematische Philosophie des Praktischen, nicht nur die Tugendlehre zur Diskussion stehen soll. Auch die Unterscheidungen der „Vorrede" der GMS von rationaler und empirischer Untersuchung, von Metaphysik der Sitten und Metaphysik der Natur, sowie die Eingangsfrage der Schrift nach dem, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, gelten für den Gesamtbereich der praktischen Philosophie, nicht für den der Ethik im Unterschied zur Rechtsphilosophie. Daher darf man nicht von vornherein ausschließen, daß das Achtungsprinzip trotz seiner Herkunft aus der GMS doch rechtsphilosophische Bedeutung erhalten kann. Zudem bleibt Kant bei dem Prinzip nicht stehen, sondern begründet es damit, daß der Mensch nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt werden dürfte, weil er andernfalls unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt würde; das aber verbietet sich, weil der Mensch eine „angeborene Persönlichkeit" (331, Z. 27 f.) hat, die er im Unterschied zur bürgerlichen Persönlichkeit auch durch ein Gerichtsurteil nicht verlieren kann (Z. 28f.). Im Abschnitt IV der „Einleitung in die MS" hatte Kant das zurechnungsfähige Subjekt von der Sache als einem keiner Zurechnung fähigen Ding unterschieden. Eine Sache ist „jedes Object der freien Willkür, welches selbst der Freiheit ermangelt" (223, Z. 32f.). Dieser Mangel an Freiheit trifft
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aber für den Menschen nicht zu; ihn trotzdem wie ein „Object der freien Willkür" zu behandeln, widerspräche der Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz und wäre daher unrecht. Genau auf dieses allgemeine Rechtsprinzip spielt Kant mit seinem Verweis auf die angeborene Persönlichkeit an; denn als einziges angeborenes Recht hatte Kant die „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen kann" (237, Z. 29-31) definiert, und dieses Recht folgt unmittelbar aus dem allgemeinen Rechtsprinzip. Da Kant das Strafprinzip der allgemeinen Vergeltung aus Gerechtigkeitserwägungen („jederzeit nur dann, weil er verbrochen hat", „vorher strafbar befunden sein") und diese aus dem Achtungsprinzip begründet, ist es nicht richtig anzunehmen, der „logische Ort der Vergeltung" sei „die Transzendenz" (NeumannSchroth, 13). Kants Strafrechtstheorie beruft sich ebensowenig wie andere Teile seiner Rechtsphilosophie auf Gott, eine göttliche, kosmische Ordnung oder ein göttliches (kosmisches) Gesetz. Letzter Maßstab ist die praktische Vernunft; Kants praktische Philosophie ist ausdrücklich autonom und gerade nicht theonom orientiert. 3. Die spezielle Vergeltung als Strafprinzip Kant nennt das Strafgesetz einen kategorischen Imperativ, der — im Gegensatz zu den „Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre" (331, Z. 32 f.) — eine unbedingt gültige Verpflichtung ist, von der empirisch-pragmatische Überlegungen ferngehalten werden müssen. Der Nutzen oder Vorteil, den man mit einer Strafe suchen mag, entbindet nicht „von der Strafe, oder auch nur einem Grad derselben" (Z. 34f.). Mit dieser These geht Kant — ohne es auszusprechen, vielleicht auch, ohne es zu bemerken — über den allgemeinen oder weiten Begriff von Vergeltung hinaus. Er verwendet den speziellen oder engen Begriff, mit dem er die dritte Hauptfrage jeder Straftheorie beantwortet, welche Art und welches Maß an Strafe eine Rechtsübertretung (hier: ein Verbrechen) verdiene. Ein er-
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stes noch unausgesprochenes Behauptungselement besagt, das Maß der Strafe sei von empirisch-pragmatischen Gesichtspunkten völlig unabhängig; es müsse sich nach rein rationalen Überlegungen richten; und das kann hier nur heißen: nach der Art und Schwere des Verbrechens. Nicht nur die Begründung des Instituts des Strafrechts, sondern auch seine Anwendung auf bestimmte Falltypen soll rein rational geschehen. Der Hinweis auf den pharisäischen Wahlspruch, es sei besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe (331 f.), weist wieder zurück zum weiten Begriff der Vergeltung. Kant spielt nämlich auf eine Bestrafung, selbst ein Todesurteil an, das man im Namen der Staatsraison (des öffentlichen Wohlergehens) gegen einen offensichtlich Unschuldigen verhängt. Der pharisäische Wahlspruch verstößt also gegen die Forderung, daß nur ein Verbrecher bestraft werden dürfe, und allein deshalb, weil er etwas verbrochen habe. Der Übergang vom weiten zum engen Vergeltungsbegriff geschieht erst beim Beispiel gefährlicher medizinischer Experimente. Diese Experimente stehen für das öffentliche Wohl, um dessentwillen man keine Todesstrafe absetzen dürfe. Denn andernfalls würde man die Gerechtigkeit um einen Preis weggeben, was nach Kant unzulässig ist. In der G MS hatte Kant den Begriff des Preises von dem der Würde unterschieden: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde." (IV 434, Z. 32-34)
Nun hat nach Kant die Sittlichkeit und nur sie Würde (IV 435, Z. 5 ff.). Da das Strafgesetz für Kant ein kategorischer Imperativ, mithin eine sittliche Verbindlichkeit ist, hat sie Würde, ist „über allen Preis erhaben" und läßt kein Äquivalent zu. Wer aber die Gerechtigkeit wegen des öffentliches Wohls einschränkt, sucht einen Preis und widerspricht dem Würdecharakter der Gerechtigkeit. Kurz: ein Rückgriff auf die GMS erweist die Kantische Kritik an einem Absetzen der Todesstrafe als triftig — unter der Voraussetzung, daß die Verhängung der Todesstrafe aus Gerech-
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tigkeitsüberlegungen gefordert ist. (Diese Voraussetzung ist gar nicht so selbstverständlich, kann aber hier nicht weiter untersucht werden.) Im nächsten Absatz stellt Kant den Maßstab auf: „das Princip der Gleichheit, (im Stande des Züngleins an der Wage der Gerechtigkeit) sich nicht mehr auf eine, als auf die andere Seite hinzuneigen" (332, Z. 13—15). „Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) aber, wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturtheil), kann die Qualität und die Quantität der Strafe bestimmt angeben" (Z. 19-21). Selbst gutwillige Kant-Interpreten (z. B. Murphy 1972, 438), die gegenüber Kants Straftheorie nicht gleich von Primitivität, Unaufgeklärtheit, Inhumanität und Barbarei sprechen, behaupten, daß die spezielle Vergeltung nicht aus der allgemeinen Vergeltung folge. Kant habe zwar überzeugend nachgewiesen, daß die Schuld eine notwendige, nicht jedoch, daß sie eine zureichende Bedingung für die Kriminalstrafe abgebe. Die Kritik an der speziellen Wiedervergeltung kann sich schon darauf berufen, daß ihre wörtliche Anwendung zu offensichtlichen Schwierigkeiten, ja sogar Absurditäten führt. Sicher wäre es möglich, auf Eigentumsdelikte mit Vermögensstrafen, auf Körperverletzungen mit Leibesstrafen und auf Tötungsdelikte mit Todesstrafen zu antworten. Doch wie soll die Wiedervergeltung dort aussehen, wo ein kostbares Diebesgut nicht wiederbeschafft werden kann, der Täter überdies zu arm ist, um Ersatz zu leisten? Wie handelt man im Fall gestohlener Kunstgegenstände, die beschädigt werden oder nicht mehr auftauchen? Mehr noch: ist bei Körperverletzungen die Wiedervergeltung in der Form von Leibesstrafen nicht inhuman und barbarisch; kann man sich in Fällen von Vergewaltigung, Abtreibung, selbst Beleidigung eine Wiedervergeltung überhaupt vorstellen? Schon Hegel hatte gesehen, daß es sehr leicht ist, „die Wiedervergeltung der Strafe (als Diebstahl um Diebstahl, Raub um Raub, Äug' um Äug', Zahn um Zahn, wobei man sich vollends den Täter als einäugig oder zahnlos vorstellen kann), als Absurdität darzustellen" (Rechtsphilosophie, § 101, Zusatz).
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Doch hat er einen solchen Einwand zugleich für oberflächlich gehalten, da die genannte Absurdität mit dem rechtsphilosophischen Begriff der Wiedervergeltung nichts zu tun habe (ebd.). Bei Kant finden wir zwei Erläuterungen zum Prinzip der Gleichheit und dem Wiedervergeltungsrecht, die er beide offensichtlich für gleichbedeutend hält. Einerseits führt er einige Beispiele an, die - wie die Karrenarbeit oder die Hinrichtung jedes Mörders - ein oberflächlich-wörtliches Verständnis nahelegen, auf der anderen Seite bringt er einige Sacherläuterungen, bei denen schon eine erste Interpretation gegen „die Strenge des Prinzips" spricht. Nach der ersten Sacherläuterung geht es um den Stand des Züngleins auf der Waage der Gerechtigkeit, sich nicht mehr auf eine als auf die andere Seite hinzuneigen (332, Z. 13—15). Das Zünglein an der Waage zeigt das Bestehen oder Nichtbestehen eines Gleichgewichtes zwischen der einen und der anderen Seite an. Diese Anzeige ist unabhängig davon, was auf der linken oder der rechten Waagschale liegt, wie man die Waren und Gewichtsstücke findet oder wie man sie normiert; es mißt nur die Gleichgewichtigkeit beider Seiten. Entsprechend ist die Richtigkeit von Kants Prinzip der Wiedervergeltung von der Frage unabhängig, wie man die Art und Schwere des Verbrechens messen und die zugehörige Strafe finden kann. Ebenso fordert das „Prinzip der Gleichheit" (Z. 13) nichts anderes, als daß die Strafe gegenüber dem Tatbestand weder zu mild noch zu streng ausfallen darf. So verstößt es in der Tat gegen die Idee der Gerechtigkeit, wenn man in einem Einzelfall ein Exempel statuieren will und jemanden strenger als gewöhnlich bestraft oder wenn man für eine Klasse von Fällen aus Abschrekkungsgründen eine höhere Strafe verhängt als es die Schwere des Verbrechens verdient. So will Kant mit dem Prinzip der Gleichheit die subjektive Willkür des Richters als Element der Gerechtigkeit ausschalten und das Verbrechen selbst in seiner Schwere zum Bestimmungsgrund der Strafe machen: leichtere Verbrechen sind leichter, schwerere Verbrechen schwerer zu bestrafen. Da nach der allgemeinen Vergeltung die Strafe deshalb und nur deshalb verhängt werden darf, weil man etwas verbrochen hat, und
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weil die allgemeine Vergeltung als ein Element des moralischen Begriffs von Strafe ohne Äquivalent ist, kann das Verbrechen und nur das Verbrechen den Bestimmungsgrund des Strafmaßes abgeben. Dann aber bildet der allgemeine Vergeltungsbegriff tatsächlich die Grundlage für den speziellen Vergeltungsgedanken; Kants Übergang vom allgemeinen zum speziellen Vergeltungsgedanken erweist sich als legitim. Nun hat Murphy (1972, 338) eingewandt, die allgemeine Vergeltung sei ein notwendiger, aber kein zureichender Grund der Strafe. Selbst wenn man nur dann strafen dürfe, wenn jemand ein Verbrechen begangen habe, folge daraus noch nicht, daß man jedes Verbrechen bestrafen müsse. Doch zeigt eine nähere Betrachtung, daß hier die Differenz von notwendigem und zureichendem Grund einzuziehen, genauer: daß der notwendige auch der zureichende Grund ist. Sofern der Staat überhaupt irgendwann irgendjemanden bestraft und sofern die einzig legitime Strafgrundlage im Verbrechen liegt, darf der Staat aus Gerechtigkeitsgründen nicht die einen bestrafen und die anderen frei laufen lassen, genausowenig wie es ihm zusteht, die einen drakonisch, andere aber mild und nachsichtig zu beurteilen. Alle Unterschiede der Strafe dürfen sich nur aus dem Verbrechen selbst ergeben. Bei der Beurteilung des Verbrechens müssen natürlich Fragen der Zurechnungsfähigkeit, Unzurechnungsfähigkeit oder verminderten Zurechnungsfähigkeit, die des Vorsatzes, der Fahrlässigkeit oder des Rechtsirrtums aufgeworfen werden, da sie zur Bestimmung von Art und Schwere des Verbrechens hinzugehören. Darüber hinaus könnte man auch den sozialen Hintergrund des Täters mitberücksichtigen, weil er über die selbstverständliche Voraussetzung der Kantischen Rechtsphilosophie mitentscheidet, ein zurechnungsfähiges Subjekt zu sein. Zwar kann man bei Kants Erläuterungen und Beispielen im Abschnitt E der „Allgemeinen Anmerkung . . ." den Eindruck gewinnen, Kant vertrete einen „objektivistischen" Verbrechensbegriff, bei dem solche Fragen keine Rolle spielten. Doch folgt erstens ein solcher Verbrechensbegriff weder aus dem allgemeinen noch aus dem speziellen Vergeltungsbegriff, ist vielmehr die Folge einer angreifbaren Handlungstheorie, nämlich der Vorstellung, eine Tat habe
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eine und nur eine Beschreibung. Zweitens gehört der Vorsatz (das volle Bewußtsein der schweren Rechtswidrigkeit) zur Definition des Verbrechens und unterscheidet es von der bloßen Verschuldung (224, Z. 4-7), so daß der objektivistische Eindruck im Widerspruch zu Texten der der Rechtsphilosophie vorangeschickten „Einleitung in die MS1" steht. Wenn man aufgrund einer verminderten Zurechnungsfähigkeit, eines Rechtsirrtums oder anderer Gründe jemanden geringer bestraft, so weicht man nicht vom Prinzip der Gleichheit ab, leistet ihm vielmehr Genüge. Denn da die entsprechende Tat eine weniger schwere Rechtsübertretung darstellt, muß sie nach dem Prinzip der Gleichheit auch geringer bestraft werden. Eingeleitet mit einem „also" folgt eine zweite Erläuterung zum Gleichheitsprinzip, die nach Kant nur die Konsequenz des Prinzips samt seiner ersten Erläuterung ist: „was für unverschuldetes Übel du einem Anderen im Volk zufügst, das thust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tödtest du ihn, so tödtest du dich selbst." (332, Z. 15-19)
Auf den ersten Blick mag diese Behauptung als unsinnig erscheinen, da der zugrundeliegende Sachverhalt als eine Übelzufügung gegenüber einem anderen beschrieben wird und man hinzusetzen kann: nur gegenüber einem anderen. Damit ist aber die Möglichkeit ausgeschlossen, daß der Übeltäter zugleich Übelbetroffener ist. Erläutert wird die Behauptung am Beispiel des Stehlens: „wer da stiehlt, macht aller Anderen Eigenthum unsicher; er beraubt sich also (nach dem Recht der Wiedervergeltung) der Sicherheit alles möglichen Eigenthums; er hat nichts und kann nichts erwerben, will aber doch leben; welches nun nicht anders möglich ist, als daß ihn Andere ernähren." (333, Z. 4—8)
In diesem Abschnitt versteht Kant selbst die spezielle Vergeltung zu oberflächlich; auch bei näherer Betrachtung erweist sich seine Argumentation als nicht triftig, selbst dann, wenn man sie — mit Naucke, 208 - nur auf „großangelegte Diebstähle" bezieht. Richtig ist es, daß derjenige, der (im großen) stiehlt, das Eigen-
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turn aller unsicher macht, denn die Sicherheit des Eigentums besteht in der Sicherheit vor Diebstahl. Dort, wo Diebstähle trotzdem vorkommen, muß jeder um sein Eigentum fürchten. Daher kann Kant folgern, daß durch jeden (und wohl nicht nur durch den groß angelegten) Diebstahl die Sicherheit des Eigentums verlorengeht. Wenn man nach dem Prinzip der Gleichheit (Recht der Wiedervergeltung) den Verlust der Sicherheit auf den Dieb selbst überträgt, was schon nicht unproblematisch ist, da die Gleichgewichtigkeit von Verbrechen und Strafen keine wörtliche Gleichheit einschließt, folgt daraus nur, daß auch dem Dieb die Sicherheit des Eigentums, nicht aber das Eigentum selbst zu nehmen ist. Daher kann Kant nicht behaupten, der Dieb habe nichts und könne auch nichts erwarten, sondern nur: er habe nichts mehr sicher und könne auch nichts mehr auf Sicherheit erwerben. Wenn aber nur die Sicherheit und nicht das Eigentum selber verloren gehen, so ist auch die Konsequenz nicht notwendig, daß andere den Dieb ernähren müssen. Die zweite Erläuterung leistet also nicht die zu oberflächlich-wörtliche Interpretation der speziellen Vergeltung. Nach einem weiteren Argument sind alle vom Prinzip der Gleichheit und Wiedervergeltung verschiedenen Prinzipien erstens ,,hin und her schwankend" und können zweitens „anderer sich einmischenden Rücksichten wegen keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten" (332, Z. 22-24). Die vom Prinzip der Gleichheit abweichenden Maßstäbe heben auf spezielle oder allgemeine Abschreckung oder aber auf Eingliederung in die Gesellschaft ab. In allen drei Fällen sind empirisch-pragmatische Überlegungen zur Bestimmung des Strafmaßes erforderlich. Gegen die abweichenden Theorien spricht erstens ihr Mangel an Festigkeit und Beständigkeit. Sachlich gravierender ist aber das zweite Argument. Die anderen Prinzipien wollen Äquivalente („Rücksichten") einbringen, die es für die Gerechtigkeit als einen moralischen Begriff, der „über allen Preis erhaben ist", nicht geben kann. Wenn man nur deshalb bestraft werden darf, weil man verbrochen hat, und wenn die Strafe auch nur nach Maßgabe des Verbrechens zugesprochen werden darf, dann gehört zu einem gerechten Ur-
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teil zwar eine sogfältige Überprüfung des Straftatbestandes einschließlich der (empirischen!) Überlegungen hinsichtlich Zurechnungsfähigkeit, Rechtsirrtum oder Fahrlässigkeit. Sobald der Straftatbestand aber sicher festgestellt ist, kann eine Strafe nur nach seiner Maßgabe erfolgen. Abweichungen nach oben oder nach unten, also Rücksichten in der Strenge oder Milde, wären nur ungerecht. Weil die Gerechtigkeit als Vernunftidee von Recht eine unbedingte Forderung ist, darf sie nicht zu Gunsten anderer Maßstäbe aufgegeben werden. In dieser Hinsicht hat Kant zweifelsohne Recht: zur Befriedigung der Gerechtigkeit gibt es kein Surrogat. Literatur Altmann, A., Prinzipien politischer Theorie bei Mendelssohn und Kant, Trier 1981 Beccaria, C. B., Über Verbrechen und Strafen (orig. it. 1764), Leipzig 1905 Benn, S. J., An Approach to the Problems of Punishment, in: Philosophy 33 (1958) 325-341 Bentham, J., An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, hrsg. v. H. J. Burns- . L. A. Hart, London, 1970. Abschn. 12-17 Brown, S. M., Jr., Has Kant a Philosophy of Law? in: Philosophical Review 71 (1962) 33-48 Busch, W., Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants, 1762—1780, Berlin-New York 1979 Eser, A., Resozialisierung in der Krise? in: FS. f. K. Peters, Tübingen 1974,505 ff. Ewing, A.C., The Morality of Punishment, Montclair 1970 Fletcher, G. P., Rethinking Criminal Law, Boston-Toronto 1978 Flew, A., The Justification of Punishment, in: Philosophy 29 (1954) 291-307 Goyard-Fabre, S., Kant et 1'idee pure du droit. in: Archives de Philosophie du Droit, Bd. 26: l'utile et le juste, Paris 1981, S. 133-154 Gregor, M. J., Laws of Freedom. A Study of Kant's Method of Applying the Categorical Imperative in the Metaphysik der Sitten, Oxford 1963. Henrici, ., Die Begründung des Strafrechts in der neueren deutschen Rechtsphilosophie (Diss. Zürich), Aarau 1961 Hoffe, O., Recht und Moral: ein kantischer Problemaufriß, in: Neue Hefte für Philosophie, H. 17, Göttingen 1979, S. 1-36 Hoffe, O.: Naturrecht (Vernunftrecht) ohne naturalistischen Fehlschluß: ein rechtsphilosophisches Programm, Wien 1980 Hoffe, O., Transzendentale oder vernunftkritische Ethik (Kant)? in: Dialectica 35 (1981) 195-221
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MAXIMILIAN FORSCHNER
Kant versus Bentham Vom vermeintlich kategorischen Imperativ des Strafgesetzes Die Begründung der Strafpraxis ist bereits in der Epoche der Aufklärung ein ebenso zentrales wie kontroverses Thema der philosophia practica, genauer, des Traktats über vergeltende (retributive) bzw. ausgleichende Gerechtigkeit. Damals wurden jene Grundsätze formuliert, die noch heute die Auseinandersetzungen über dieses Thema bestimmen. Bei Belohnung und Bestrafung geht es um Formen des Vergeltens; dies scheint schon aus sprachlichen Gründen hinreichend klar: wir sprechen nur dann von Belohnung und Bestrafung, wenn jemandem dafür, daß er tatsächlich oder vermeintlich etwas getan hat, etwas gegeben bzw. zugefügt wird. In diesem Sinn redet jeder, der (in deontologischer oder utilitaristischer Rechtfertigungsabsicht) von Strafe spricht, auch von Vergeltung. Daß es bei Belohnung und Bestrafung um Formen des Ausgleichens geht, scheint nicht schon analytisch aus der Verwendung der Wörter „belohnen" bzw. „bestrafen" ersichtlich; mit alltäglich und seit alters gebrauchten Grundsätzen wie „Gleiches mit Gleichem vergelten" erläutern wir nicht die Bedeutung von „belohnen" und „bestrafen", sondern geben zu verstehen, wie die Praxis des Belohnens und Bestrafens zu geschehen habe oder führen einen rechtfertigenden Grund für diese Praxis an; wir beziehen sie auf die Idee der Gerechtigkeit. Die präzise Unterscheidung normativ-ethischer Fragen der Art „Wie läßt sich die Strafpraxis im allgemeinen rechtfertigen?" oder „An welchen Kriterien hat sich die Strafpraxis im einzelnen zu orientieren?" von logisch-semantischen Fragen wie „Was meinen wir, wenn wir von ,Bestrafen' reden?" oder „Impliziert der Begriff der Strafe den Bezug auf ein begangenes Verbrechen?" scheint mir von nicht geringer Tragweite. Sie ist geeignet, einige
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(Schein-)Probleme zu lösen, die bereits in der Auseinandersetzung Kants mit einer Position zutage treten, die „die Schlagenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht"1. Die heute noch fundamentale Kontroverse auf normativ-ethischer Ebene, für die in der Epoche der späten Aufklärung die Namen Kant und Bentham stehen mögen, und die sich mit den Stichworten „Vergeltungstheorie" versus „Preventions- und Besserungstheorie" benennen läßt, kann allerdings nicht mit sprach- bzw. begriffsanalytischen Mitteln allein beigelegt werden. Geboten ist jedoch auch hier, das Gesagte (die jeweiligen Grundbegriffe, Grundsätze und Argumente) so genau wie möglich zu formulieren, um die kontroversen Positionen auf ihre Plausibilität hin prüfen zu können. Was in diesem Zusammenhang besonderer Beachtung bedarf, ist die Behauptung Kants, das Strafgesetz sei ein aus der Idee der Gerechtigkeit resultierender kategorischer Imperativ2. /. Zur Bedeutung des Wortes ,,S trafen" 1. Die Standardbedeutung Das Wort „strafen" bzw. „bestrafen" wird gemeinhin vierstellig verwendet in dem Sinne, als es einen Sachverhalt beschreibt, in dem jemand (a) jemandem (b) etwas zufügt (c) dafür, daß dieser etwas getan hat (d). Die Bedingungen, die von einem Tun oder einem Erleiden erfüllt sein müssen, damit das Wort „Bestrafung" in seiner Standardbedeutung zu seiner Beschreibung korrekt verwendet wird, lassen sich demnach wie folgt umrißhaft charakterisieren3: (a) Bestrafen ist eine Form bewußten und gewollten Tuns4; nur von privaten oder durch ein öffentliches Regelsystem autorisierten Personen läßt sich sagen, sie würden „bestrafen"; nur eine Art wissentlichen und willentlichen Tuns kann im aktiven Sinne als „Bestrafung" bezeichnet werden. (b) Objekte des Bestrafens können gleichfalls nur Personen sein; nur wer für sein Tun zur Verantwortung gezogen werden kann, kann auch bestraft werden; Bestrafung im passiven Sinn
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setzt moralische und/oder juridische Zurechnungsfähigkeit voraus. (c) Jemanden bestrafen heißt, ihm bewußt und gewollt ein Übel (einen Schmerz, ein Leid, eine Beeinträchtigung, den Tod) zufügen. Was „Strafe" genannt wird, muß erstens etwas Unangenehmes und Unerfreuliches sein für den, der es erleidet5. Unter „Strafe" ist zum anderen zu verstehen ein Werk von Personen, d. h. nicht die bloß natürliche Folge eines regelverletzenden Tuns, die dieses bei sich und anderen auslöst. (d) Was „Bestrafung" genannt wird, ist eine absichtliche Gegenhandlung auf ein vorausgegangenes Vergehen hin. Bestrafung zielt auf einen Missetäter, der mit seinem Tun ein Gebot, eine Regel, eine Norm, verletzt hat; bestraft werden Personen für begangene Regelverstöße. (e) Was „Strafe" genannt wird, muß schließlich von einer Autorität auferlegt sein, die verliehen ist durch das Regelsystem, gegen das das Vergehen begangen wurde. 2. Die „Bestrafung eines Unschuldigen" Die genannten Bedingungen konstituieren die Standardbedeutung von „bestrafen"; sie sind keineswegs in jeder alltags-, bildungs- und wissenschaftssprachlichen Verwendung des Wortes erfüllt. Solch sekundäre Verwendungsweisen sind dadurch gekennzeichnet, daß sie eines oder mehrere der skizzierten Kriterien ignorieren und/oder neue hinzunehmen. So sprechen wir etwa im Alltag von der „Bestrafung" von Tieren und unmündigen Kindern; die Verhaltensforschung verwendet das Wort in Zusammenhängen tierischen Reaktionsverhaltens; Sigmund Freuds psychoanalytische Theorie glaubt, im Bereich des Unbewußten ein „Strafbedürfnis" ebenso wie eine Tendenz zur „Selbstbestrafung" ausmachen zu können6; Kant unterscheidet in seiner Rechtsphilosophie die richterliche Strafe (poena forensis) von der „natürlichen (poena naturalis), dadurch das Laster sich selbst bestraft"7. Vergleichsweise häufig ist von „stellvertretender" bzw. „kollektiver Bestrafung" die Rede, wenn Mitglieder einer sozialen
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Gruppe oder die ganze Gruppe für Taten mit einem Übel belegt werden, die einzelne oder mehrere Glieder der Gruppe ohne ihre Ermächtigung, Anstiftung, Kontrolle oder Erlaubnis begangen haben. Diese Verwendung des Wortes „Strafe" kommt insofern der Standardbedeutung nahe, als das Verständnis der Einheit von Gruppen nach Art einer einzigen (kollektiven) Person bei Menschen verbreitet war (und ist), die in nichtindividualistischen Denk- und Lebensformen verwurzelt waren (und sind). Mit dieser sekundären Verwendungsweise in engem Zusammenhang steht die (meist sorglose) Rede von der „Bestrafung eines Unschuldigen". Sie verdient deshalb besondere Beachtung, weil sie in der normativ-ethischen Kontroverse um die Rechtfertigung der Strafpraxis zwischen Vertretern kantischer und militaristischer Grundsätze eine nicht unerhebliche Rolle spielt8. „Bestrafen", so wurde gesagt, bedeutet nicht jede Art des Zufügens von Übel, sondern ein Zufügen von Übel unter ganz bestimmten Bedingungen. Eine dieser Bedingungen ist, daß die Zufügung für einen begangenen Regelverstoß des Betroffenen erfolgt. Besagt diese Bedingung, daß ein tatsächlicher Regelverstoß vorliegen muß, dann verwendet man „bestrafen" im strikten Sinn als Erfolgsverbum; dann ist die Bestrafung eines Unschuldigen aus logischen Gründen unmöglich und die Rede von der „Bestrafung eines Unschuldigen" widersprüchlich. Besagt diese Bedingung hingegen, daß ein vom Bestrafenden vermuteter Regelverstoß des Betroffenen vorliegen muß, dann ist der Fall der Bestrafung eines Unschuldigen logisch möglich; der Bestrafende kann sich in der Schuldzuweisung irren. Logisch unmöglich ist indessen, daß ein Unschuldiger bestraft wird, obwohl der Bestrafende um die Unschuld des Betroffenen weiß oder die Frage seiner Schuld oder Unschuld nicht in Betracht zieht. Eine derartige Zufügung von Leid ließe sich nicht als Bestrafung beschreiben. Besagt diese Bedingung jedoch nur, daß zumindest ein vom Bestrafenden behaupteter Regelverstoß des Betroffenen vorliegen muß, so wäre die Rede von der „Bestrafung eines Unschuldigen" auch dann noch korrekt, wenn der Bestrafende Andere nur
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glauben zu machen versucht, sein Tun beziehe sich auf einen begangenen Regelverstoß des Betroffenen. „Einen Unschuldigen bestrafen" hieße dann lediglich, ihn so zu behandeln, als wäre er schuldig. Allerdings läge hier kein Irrtum, sondern eine Täuschung vor, und es wäre sprachlich korrekter, nicht von Bestrafung, sondern vom Fingieren einer Bestrafung zu sprechen. Ob man die Bedeutung von „bestrafen" im ersten oder zweiten Sinne fixiert (die Alltagssprache legt die zweite Möglichkeit als Standard nahe), in beiden Bedeutungsvarianten (ja selbst in der dritten) ist ein Bezug auf einen begangenen Regelverstoß des Bestraften impliziert: wer sein Tun als Bestrafen versteht und ausgibt, muß auf ein tatsächliches oder unterstelltes begangenes Vergehen des Betroffenen verweisen; wer das Tun eines Anderen als Bestrafung beschreibt, muß sich und/oder anderen plausibel machen (können), daß dieser sein Tun als Gegenhandlung auf ein vorgängiges Vergehen des Betroffenen bezieht. Aus den wesentlichen Bedeutungselementen von „bestrafen" folgt, daß die absichtliche Zufügung von Übeln ohne Bezugnahme auf ein tatsächlich oder vermeintlich begangenes Vergehen des derart Behandelten keine Bestrafung sein, noch als solche bezeichnet werden kann. Soweit ich sehe, wird das Wort „punishment" von den Klassikern des Utilitarismus durchweg völlig normal (im Sinn der skizzierten zweiten Möglichkeit) verwendet. Ihnen unterstellen, sie hätten mit ihren Grundsätzen explizit oder implizit die Möglichkeit einer Bestrafung Unschuldiger als Mittel sozialer Kontrolle gerechtfertigt, und zwar im Sinn einer gesetzlich verordneten Zufügung von Leid ohne Rekurs auf begangene Vergehen, ist (ganz wörtlich zu nehmen) unsinnig9. 3. Kants Verwendung des Wortes „Strafe" Zur Verwirrung der rechtsphilosophischen Diskussion um die Strafpraxis scheint mir Kant dadurch beizutragen, daß er Fragen der Bedeutung und Fragen der Rechtfertigung vermengt. „Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen"10. Dieser Satz, der die Strafrechtsthematik
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in der Metaphysik der Sitten einleitet, erfüllt die Funktion einer Definition. Über die Institution der Strafe wird gesagt, daß sie dem Unterwürfigen „wegen seines Verbrechens" auferlegt wird. Die Formel „wegen seines Verbrechens" läßt sich in dem von mir diskutierten Sinn verstehen: bestraft wird jemand stets dafür, daß er einen Regelverstoß begangen hat. Unter „Schmerz" will Kant, dies machen die nachfolgenden Passagen hinlänglich deutlich, nicht nur leibliche Schmerzempfindung, sondern verschiedene Arten von Übel und Leid verstanden wissen; es ist die Rede von „Geldstrafe", „Wehtun des Hochmuts", „beschwerlichem Arreste", „Beschämung", „Karrendienst"11. „Richterliche Strafe", so fährt Kant nach einer etwas dunklen12 Unterscheidung zwischen Privatverbrechen und öffentlichen Verbrechen fort, „kann niemals bloß als Mittel,. . . sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat . . . Er muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen . . . zu ziehen"13. Es geht hier offensichtlich um eine Gliederung verschiedener Antwortmöglichkeiten auf die Frage, warum eine richterliche Instanz A eine Person B bestraft. Was Kant — nach meiner Bedeutungsanalyse von „bestrafen" korrekt — möglicherweise behaupten will, ist dies: wenn Bestrafung stattfindet, dann muß der Bestrafende immer auf die Frage nach dem Warum seines Tuns die Antwort geben können: „Weil die betroffene Person B dieses oder jenes verbrochen hat"; zusätzliche sinnvolle Antwortmöglichkeiten scheinen nicht ausgeschlossen: das ausschließende „jederzeit nur" des ersten Satzes wird durch die mißverständlich temporal formulierte Wendung „ehe noch daran gedacht wird" des zweiten Satzes wieder zurückgenommen; dafür spricht auch die vorausgehende nichtausschließende Rede davon, richterliche Strafe „niemals bloß als Mittel" zu verhängen. Der zweite wesentliche Punkt im zitierten Satz ist, daß das Objekt einer Bestrafung „vorher strafbar befunden sein" muß. Das Wort „strafbar" ist doppeldeutig. Einmal bezeichnet es, scholastisch gesprochen, das Materialobjekt des Prädikats „bestrafen": alles, was überhaupt bestraft werden kann. Zum ande-
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ren wird es häufig bereits im engeren Sinn von „straffällig" verwendet, etwa in der Wendung „jemand hat sich strafbar gemacht". Die Bedeutung von „straffällig" schließt die Bedeutung von „strafbar" ein. „Strafbar" meint also zumindest, daß das Objekt der Bestrafung ein überlegungs- und entscheidungsfähiges Subjekt sein muß. Bestraft werden können nur Personen. Jede Strafpraxis impliziert demgemäß, daß die mit Strafe belegten Objekte nicht „unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden"14, d. h. jede Strafpraxis setzt per definitionem voraus, den Bestraften als Person anzusehen15. Verwendet Kant dagegen „strafbar" an unserer Stelle im engeren Sinn von „straffällig", dann besagt der Satz: wenn Bestrafung stattfindet, dann muß ein vom Bestrafenden vermeinter oder nachgewiesener16 Regelverstoß des Bestraften vorliegen. Und es ist trivial, zu betonen, daß die Beantwortung der Frage, ob es sich in einem gegebenen Fall um eine Bestrafung handelt, der Beantwortung der Frage logisch vorausgehen muß, welchen Zweck der Bestrafende mit seinem Tun verfolgt. Es scheint auch trivial zu sagen: ehe ich die Frage stellen kann, wozu ich jemanden bestrafen soll, muß ich die Frage gestellt haben, ob jemand überhaupt ein strafbares Objekt ist bzw. ob er straffällig geworden ist. Unter dem von mir bislang verfolgten logisch-semantischen Gesichtspunkt ist an Kants Äußerungen zum Begriff der Strafe nichts Befremdliches festzustellen. Anders wird dies, wenn man die Perspektive ändert und den Passus, dem die Zitate entnommen sind, im ganzen betrachtet. Der Einleitungsabschnitt des Textes der Metaphysik der Sitten „Vom Straf- und Begnadigungsrecht" ist nicht nur als Erläuterung des Begriffs der richterlichen Strafe gedacht, sondern auch als Erläuterung des Begriffs einer gerechtfertigten, einer vernünftigen Strafpraxis. Kant will mit ihm bereits Entscheidendes gegen jene normative Strafrechtstheorie gesagt haben, die „die Schiagenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht". Und dies könnte einen Eudämonisten oder Utilitaristen etwas verwundern.
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//. Zur Rechtfertigung der Straf praxis 1. Kant versus Bentham Bestrafung ist eine menschliche Praxis und steht insofern immer auch unter präskriptiven Grundsätzen und Regeln. Die Frage „Warum bestrafen wir jemanden?" zielt deshalb stets auch auf Antworttypen, die orientierende und rechtfertigende Kriterien für diese Praxis anbieten Die Epoche der Aufklärung hat bezüglich der Rechtfertigung der Strafpraxis zwei unterschiedliche Grundpositionen formuliert. Für die eine ist das Vergeltungspostulat grundlegend, die andere läßt sich vom Utilitätsprinzip leiten. Kant ist ein entschiedener Verfechter des Vergeltungsgedankens. Der bereits für meine semantische Analyse herangezogene Text ist auch für Kants Behandlung der Rechtfertigungsfrage entscheidend; ich zitiere den relevanten Passus jetzt im Zusammenhang: „Richterliche Strafe. . . kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt... Er muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen. Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas auszufinden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe oder auch nur einem Grade derselben entbinde . . .; denn wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben"17. Spätestens die Rede vom Strafgesetz als einem kategorischen Imperativ macht deutlich, daß hier nicht nur und nicht primär expliziert wird, was unter „Strafe" zu verstehen sei, sondern auch, an welchen sittlichen Normen sich die Strafpraxis zu orientieren
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hat. Die Ausdrücke „kann niemals", „muß jederzeit", „kann nie bloß", „muß vorher" dienen nicht nur und nicht primär (wie von mir bisher unterstellt) der Beschreibung der Beziehungen zwischen den Bedeutungselementen von „bestrafen", sondern geben zu verstehen, was nach Kants Meinung bezüglich der Strafpraxis sein soll, sein darf und nicht sein darf. Der Abschnitt greift offensichtlich eine normativ-ethische Gegenposition an, die mit dem Titel „Glückseligkeitslehre" bezeichnet wird. Sie findet bei J. Bentham ihre klassische Formulierung; ich zitiere den relevanten Passus: „But all punishment is mischief: all punishment in itself is evil. Upon the principle of utility, if it ought at all to be admitted, it ought only be admitted in as far as it promises to exclude some greater evil"18. „The immediate principal end of punishment is to control action. This action is either that of the offender, or of others: that of the offender it controls by its influence, either on his w i l l . . . in the way of reformation', or on his physical power . . . by disablement; that of others it can influence no otherwise than by its influence over their wills . . . in the way of example"19. Um die Rechtfertigungsproblematik der Texte und ihre Lösungen adäquat formulieren und diskutieren zu können, scheint mir eine Differenzierung der unbestimmt-allgemeinen Frage „Warum belegen wir jemanden mit einer Strafe?" unerläßlich. Folgende Fragen sind im Zusammenhang der Rechtfertigung von Strafe unterscheidbar und der Unterscheidung20 bedürftig: (a) „Warum bestrafen wir überhaupt?" oder „Was rechtfertigt die Strafpraxis im allgemeinen?"; (b) „Warum bestrafen wir die bestimmte Person x?" oder „Wer darf bzw. soll bestraft werden?"; (c) „Warum bestrafen wir jemanden so, wie wir ihn bestrafen?" oder „An welchen Kriterien haben sich Art und Maß der Bestrafung zu orientieren?". 2. Das allgemeine Ziel der Strafe (a) In beiden der zitierten Texte scheint eine Antwort auf die erste Frage intendiert. Die Frage zielt auf eine Rechtfertigung im
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Sinne der Angabe eines allgemeinen Zieles der Institution der (gesetzlich geregelten21) Bestrafung, das einsichtigerweise erstrebenswert und verteidigungswürdig ist. Bentham spricht direkt vom „immediate principal end of punishment" und sieht es in der Kontrolle sozialen Handelns. Gedacht ist offensichtlich daran, daß durch die Institution der Strafe die Wahrscheinlichkeit des Vollzugs bestimmter sozial relevanter Handlungsweisen erhöht und die des Vollzugs anderer Handlungsweisen vermindert wird. Gefördert werden soll der Vorzug von Handlungsweisen, die dem guten Zusammenleben der Glieder einer Gesellschaft dienen bzw. dieses ausmachen, vermindert bzw. unmöglich gemacht werden soll der Vollzug von Handlungsweisen, die dem guten Zusammenleben abträglich sind. Strafe dient der Stützung der Befolgung eines Regelsystems, dessen Vollzug seinerseits das gute gesellschaftliche Leben ermöglichen, befördern und ausmachen soll. Oberster Maßstab der Rechtfertigung ist also der Nutzen, den die Institution der Strafe für jeden Menschen als Glied der Gesellschaft und für alle zusammen im Blick auf ein gutes Leben bringt. Strafe wird im genannten Zitat Benthams rein funktional und instrumenteil gedacht. Für sich genommen ist sie etwas Schlechtes: für den, der sie erleidet, bedeutet sie Schmerz, Leid, Beeinträchtigung oder Vernichtung von Lebens- und Handlungsmöglichkeiten; und was soll an der Tätigkeit des Bestrafens als solcher Gutes für den sein, der sie vollzieht? Sie muß sich demnach als ein Mittel rechtfertigen lassen, ohne dessen Einsatz das Zusammenleben der Menschen schlechter verlaufen würde als mit ihm. Umgekehrt sind Techniken sozialer Handlungskontrolle, die nicht mit der Androhung und Zufügung von Übeln für den Fall eines Regelbruchs operieren, wenn möglich der Strafe vorzuziehen. Benthams Thesen erscheinen auf den ersten Blick plausibel. (b) Kants Antwort auf die erste Frage ist weniger leicht zu bestimmen. Jedenfalls soll der Nutzen, den ein Strafsystem auf dem Wege von „reformation", „disablement" und „example" für den Straftäter selbst und seine Mitbürger bringen mag, nicht der primäre sittliche Rechtfertigungsgrund der Strafinstitution sein. Der Satz indessen, richterliche Strafe müsse jederzeit primär nur
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darum wider einen Täter verhängt werden, weil er verbrochen hat, ist prima facie keine (befriedigende) Antwort auf unsere erste Frage. Vielmehr scheint Kant der Frage der allgemeinen Rechtfertigung der Institution der Strafe gerade dadurch auszuweichen, daß er kategorisch behauptet: Strafe soll sein. Denn zu sagen „ich soll jemanden bestrafen deswegen, weil er verbrochen hat" heißt nicht mehr sagen als ,,ich soll jemanden bestrafen". Die These des Vergeltungstheoretikers kann in diesem Zusammenhang nicht die Aufgabe einer allgemeinen normativ-moralischen Begründung erfüllen, sondern nur die einer Erläuterung der Bedeutung des Wortes „Strafe". Im Begriff von „jemanden bestrafen" ist die Bestimmung „deswegen, weil er verbrochen hat" analytisch enthalten. Die Frage „Warum soll (bestimmten) Regelverstößen mit der Zufügung von Leid an den Täter begegnet werden?" bleibt so gesehen unbeantwortet. Mit seiner verunglückten allgemeinen Rechtfertigungsformel will Kant allem Anschein nach den erfolgreichen (nicht irrtümlichen oder fingierten) Vollzug richterlicher Strafe als ein Tun verstanden wissen, das bereits in sich selbst sinnvoll und vernünftig ist, ohne seinen Zusammenhang mit etwas Anderem, das seinerseits als wertvoll anzuerkennen wäre. Mehr noch: Strafe, so ist wohl Kants These zu verstehen, sei nur dann als sittlich gut gerechtfertigt, wenn sie primär um ihrer selbst willen eingerichtet und vollzogen wird. Eine explizierende Verschärfung der These dürfte der Satz enthalten, das Strafgesetz sei ein kategorischer Imperativ. Mit Strafgesetz qua kategorischem Imperativ ist ja wohl ein Grundsatz gemeint, der nicht nur ein vernünftiges, sondern ein absolut verbindliches Ziel enthält, der einer weiteren Begründung weder fähig noch bedürftig ist, und der den generell rechtfertigenden Grund für die Institution richterlicher Strafe darstellt. Nun hat Kant diesen Grundsatz in der Metaphysik der Sitten nicht ausformuliert, und es mag zunächst zweifelhaft erscheinen, ob er die Inanspruchnahme der Befugnis zu strafen einer unbedingt verpflichtenden notwendigen Bedingung unterstellt oder ob er Einrichtung und Vollzug richterlicher Strafe zur unbedingten Pflicht macht. Der Verlauf des Textes spricht eindeutig für letzte-
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res; ja die Alternative, dies läßt sich mit einem ergänzenden Argument zeigen, erweist sich als Scheinproblem: Wenn der primäre und entscheidende sittliche Rechtfertigungsgrund für die Ausübung des Strafrechts durch den Souverän stets nur der Umstand sein darf, daß ein Verbrechen begangen wurde, dann kann die Berücksichtigung anderer Umstände dem Souverän auch keinen vernünftigen Grund mehr geben, im einen Verbrechensfall sein Strafrecht in Anspruch zu nehmen und im anderen nicht22. Das von Kant ins Auge gefaßte Strafgesetz qua evidenter Grundsatz sittlicher Vernunft ließe sich dann folgendermaßen formulieren: Immer dann, wenn ein Verbrechen begangen wurde, soll der Täter dafür mit einem Übel belegt werden23. Die Frage ist, ob es sich hier tatsächlich um einen Grundsatz sittlicher Vernunft handelt, der uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann, der sich von selbst versteht und keiner weiteren Begründung mehr bedarf. Unterstellt, der juridische Begriff des Verbrechens impliziert auch die Bedeutung einer moralisch verwerflichen Tat, dann besagt der Grundsatz, daß derjenige, der etwas in Termini des moralischen und juridischen Regelsystems Verbotenes (ein malum morale et juridicum) getan hat, dafür etwas erleiden soll, das sich als außermoralisch schlecht (als malum physicum) beschreiben läßt. Wer schlecht handelt, dem soll es aufgrund dieses Handelns auch schlecht ergehen, und zwar, da sein Tun als Verbrechen absichtliches Tun ist, durch absichtliches Tun. Kants Rechtfertigung der Strafe als Vergeltung unterstellt als Ziel eine Balance, einen Gleichgewichtszustand von Praxis und Widerfahrnis, in dem den Handlungen eines Menschen entsprechende Behandlungen korrespondieren sollen. Nun ist es genau diese angeblich kategorische sittliche Forderung nach einer Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, von Praxis und Widerfahrnis im Kontext moralischen und juridischen Vergehens, die kritisch befragt werden muß. Was soll hier verglichen, zwischen wem und was soll hier ausgeglichen, wie soll hier ein Gleichgewicht hergestellt werden24? Zwischen regelwidrigem Tun und Erleiden eines Übels soll ein (als notwendiges Grund-Folge-Verhältnis beschreibbarer)25 Zu-
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sammenhang und eine (als Gleichgewichtszustand charakterisierbare)26 Entsprechung bestehen, die durch die Strafe gestiftet werden. Die in Frage stehende Korrespondenz wird von Kant im Kontext seiner Lehre vom höchten Gut beschrieben. Danach verbinden wir vernünftigerweise mit der Vorstellung sittlichen Verhaltens die Vorstellung, daß der so Handelnde auch glückswürdig, und mit der Vorstellung unsittlichen Verhaltens, daß der so Handelnde auch strafwürdig sei27. Für den gesamten Bereich der Sittlichkeit scheint nun die vernünftigerweise geforderte Korrespondenz von Glückswürdigkeit und Glück, Strafwürdigkeit und Leid nach menschlicher Erfahrung sich weder stets von selbst einzustellen noch von Menschen adäquat herstellbar zu sein. Die Moralität eines Menschen ist nicht zureichend erkennbar. Die ,Austeilung der Glückseligkeit in Proportion zur Sittlichkeit'28 und entsprechend des Übels in Proportion zur Schuld wird in den Vernunftpostulaten der Unsterblichkeit der Seele und des ausgleichenden Gottes einem intelligiblen Gericht überantwortet. Für den Bereich des Rechts, d. h. für das äußere und praktische Verhältnis von Personen untereinander29, läßt sich nach Kant der geforderte Zusammenhang von Verbrechen und Leiden des Verbrechers durch die Institution der Strafe mit geregelten Feststellungs-, Zumessungs- und Vollzugsverfahren stiften, „damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind"30. Vorausgesetzt wird, daß der „Wert" von Handlungen einer Person sich mit dem „Wert" von Behandlungen dieser Person verrechnen läßt, und daß es für den Bereich des Rechts im Falle von Verbrechen einer Verrechnung durch Menschen bedarf. Angeblich vernünftigerweise und kategorisch gefordert scheint also eine Korrespondenz von malum morale et juridicum und malum physicum. Kant verstrickt sich mit dieser These ganz offenkundig in die Schlangenwindungen der eigenen Glückseligkeitslehre. Dies gilt es zu erläutern. Einmal setzt seine Theorie der Strafe die Korrektheit seiner Verhältnisbestimmung von rechtem Verhalten und Glück voraus. Nur wenn man ,,die Vereinigung der moralisch bösen Handlung mit dem Fortbestehen oder dem Erlangen von Glückseligkeit"31 für möglich hält, kann man gegebenenfalls darin auch einen „Wi-
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derspruch zu der vernünftigen Ordnung aller möglichen Handlungen"32 in juridischer Hinsicht sehen, den es zu beheben gilt. Diese Annahme ist nicht selbstverständlich; sie setzt einen sonderbaren Glücksbegriff voraus, der von Bedeutungselementen sittlich-rechtlicher Praxis vollständig gereinigt und weitgehend in Termini des Besitzes und Genusses äußerer und leiblicher Glücksgüter konzipiert ist. Natürlich kann ein Schurke durch moralisch und juridisch unerlaubtes Handeln die Erreichung und Sicherung äußerer und leiblicher Glücksgüter betreiben und darin auch nachweislich erfolgreich sein. Ob er als solcher auch ein Leben zu führen vermag, das man sinnvollerweise „glückselig" nennen kann, ist mehr als fraglich. Dann aber stellt sich das Problem der Strafe nicht mehr unter dem leitenden Gesichtspunkt eines Ausgleiches von sittlich-rechtlichem Verhalten und Glück, Unsittlichkeit und Unglück. Eine zweite Frage betrifft die Objekte des Ausgleichs. Ein malum morale etjuridicum soll sinnvollerweise mit einem malum physicum vergolten werden. Nun dürften beide „Werte" inkommensurabel sein; was ist dann gemeint? Ist es der Betrag an Lust, den der Übeltäter auf Kosten Anderer durch sein Tun gewinnt und der durch ein gleiches Maß an zugefügter Unlust wieder aufgehoben werden soll? Dies scheint theoretisch und abstrakt gesehen keine unvernünftige Forderung zu sein (niemand soll durch unerlaubtes Handeln ein Plus an Vergnügen finden), sie dürfte aber, wie aus utilitaristischen Diskussionen hinreichend bekannt ist, zu unlösbaren Problemen in der Praxis führen33. Ist es das (außermoralische) Übel, das jemand durch sein unsittliches Tun Anderen zufügt, das mit einem ihm zugefügten äquivalenten Übel vergolten werden soll? Kant denkt offensichtlich in diese Richtung: „Was für unverschuldetes Übel du einem anderen im Volke zufügst, das tust du dir selbst an"34. Nicht das malum morale etjuridicum als solches wäre demnach der maßgebende „Wert", den es zu vergelten gilt, sondern das durch das malum morale et juridicum zugefügte malum physicum. Vorausgesetzt ist hier, daß die Vielzahl und Unterschiedlichkeit dessen, was als malum physicum beschreibbar ist, nach objektiven Standards qualitativ und quantitativ bestimmt und gegeneinander ver-
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rechnet werden kann. Dies mag in ganz engen Grenzen möglich sein. Vor noch schwierigere Probleme stellt die im Grundsatz geforderte reziproke Äquivalenz des durch die unrechte Handlung Anderen zugefügten Übels mit dem durch die Strafe zugefügten Übel: was ein Einzelner Anderen an objektiv beschreibbaren Übeln zufügen kann, ist keineswegs immer so, daß es auch ihm gleichwertig und gleichgewichtig zugefügt werden kann. Der archaische Grundsatz des ius talionis setzt recht schlichte Verhältnisse und grobe Handlungsschemata zwischen zwei gleichen Individuen oder Gruppen voraus, im Blick auf welche stets äquivalent-reziprokes Handeln und Behandeln möglich ist. Eine dritte und wesentliche Frage betrifft den angeblich selbstwerthaften Sinn der Vergeltung. Ist es in sich vernünftig und kategorisch geboten, ein Anderen zu Unrecht zugefügtes Übel mit der Zufügung eines Übels an den Täter zu beantworten? Genau dieses bestreitet Bentham. Ein so verstandenes „Strafgesetz" fordert die absichtliche Zufügung von Übeln ohne Rücksicht darauf, ob dadurch der Betrag von mala moralia und mala physica in der Welt vermindert wird. Kant kann auf diesen Einwand keine andere Antwort geben als die Versicherung, dies sei im Falle von Verbrechen vernünftig35. Allerdings verrät seine Sprache noch eine zweite Antwort: er spricht von „Blutschuld" und vom „zu tilgenden Staatsverbrechen"36. Danach wären Verbrechen anzusehen wie Schulden einer Person, die nur durch Bestrafung dieser Person zu tilgen sind. Wie ein dem Verbrecher durch Institutionen zugefügtes Übel dessen Schuld tilgen kann, bleibt allerdings dunkel37. Der Gedanke einer „Reinigung" bzw. „Tilgung" von moralischer und juridischer Schuld durch fremd- oder selbstauferlegtes Leiden des Täters ist alt und in religiösen Vorstellungen heute noch verbreitet. Er wird dadurch indessen nicht rational einsichtig oder begründbar. Eine vierte Frage betrifft das Recht als Instanz, die den geforderten Zusammenhang stiften soll. Kant spricht davon, daß das Strafgesetz ein Postulat der „öffentlichen Gerechtigkeit" sei. Nun ist nach § B der Einleitung in die Rechtslehre „das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (ius-
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tum et iniustum) erkennen könne"38, der Vernunftbegriff des Rechts. Dieser ist definiert als „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann"39. Kant müßte also nachweisen, daß dieser Inbegriff nicht nur die Zwangsbefugnis, sondern auch seine Version des Strafgesetzes impliziert. Er müßte nachweisen, warum und auf welcher Seite durch die Verletzung einer vernünftigen Rechtsregel ein vernünftiger und verpflichtender Rechtsanspruch darauf entsteht, daß der Rechtsbrecher ein Übel erleidet, ohne Rücksicht auf Folgen und Funktion dieses seines Erleidens für die Rechtssicherheit, die Wiedergutmachung des entstandenen Schadens, die Beispielhaftigkeit seines Tuns, sein eigenes künftiges Handeln etc. Kant hat diesen Nachweis nicht versucht und er dürfte sich schwerlich nachliefern lassen. Die Begründung des Strafgesetzes als eines kategorischen Imperativs erfolgt über die Idee des höchsten Guts und nicht über die Idee des Rechts. Es scheint höchst unangemessen, die Funktion juridischer Strafgesetzgebung mit der primären Aufgabe einer problematischen weltgerichtartigen Kompensation von unrechtem Verhalten mit Leid zu belasten. 3. Vergeltung als Prinzip der Strafzuerkennung Wenn Kant in der Vergeltung allgemeines Ziel und Rechtfertigung der Strafe als Institution sieht, so basiert diese Ansicht auf durchweg problematischen Prämissen. Benthams These, daß die allgemeine Rechtfertigung der Strafe in ihrer sozialen Funktion liege, erscheint plausibler. Gleichwohl hätte Kants Grundsatz in abgewandelter Formulierung einen guten Sinn: die Zufügung eines Straf Übels dürfe jederzeit nur dann wider einen Menschen verhängt werden, wenn er verbrochen hat und nach Maßgabe dessen, was er verbrochen hat. Der Begriff der Vergeltung hat seine rechtfertigende Funktion im Kontext der Antwort auf die obigen Fragen (b): Wer darf bzw. soll bestraft werden? und (c): Warum bestrafen wir jemanden so, wie wir ihn bestrafen?
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(a) Strafe, so Kant, hat mit Gerechtigkeit zu tun. Man mag, wie ich dies eingangs versuchte, den Begriff der Strafe im Sinne der Zufügung eines Übels an einen schuldigen Täter für seine Tat erläutern. So gesehen impliziert der Begriff der Strafe bereits das Prinzip der Vergeltung; das heißt aber: kein Tun läßt sich als Strafe verständlich machen oder rechtfertigen, wenn es sich nicht auf einen schuldigen Täter für seine Tat richtet. Damit ist nicht gesagt, daß die Strafpraxis als solche bereits (hinreichend) gerechtfertigt ist, wenn all jene und nur jene, die ein Verbrechen begangen haben, für ihre Verbrechen mit einem entsprechenden Übel belegt werden. Benthams Forderung nach einer utilitaristischen Rechtfertigung der Strafe als Institution ist durchaus noch sinnvoll und vereinbar mit dem Prinzip der Vergeltung, insofern dieses als notwendiger Maßstab der individuellen Berechtigung und des Maßes der Strafe behauptet wird40. Bestraft werden kann nur ein Täter für seine Tat. Angesichts verbreiteter Praktiken stellvertretender und kollektiver „Bestrafung" sowie der Möglichkeit, institutionell verordnete Zufügung von Leid als Mittel sozialer Kontrolle ohne Rücksicht auf Bedingungen der Strafe in Erwägung zu ziehen, läßt die Betonung des Elements der Vergeltung im Begriff der Strafe nicht als überflüssige Tautologie bzw. als bloße Definitionsangelegenheit erscheinen. Bestraft werden darf nur ein Täter für seine Tat. Strafe als Mittel sozialer Kontrolle und Wohlfahrt rechtfertigen bedeutet nicht, jede Zufügung von Leid an Einzelne oder Gruppen zu rechtfertigen, wenn deren notwendiger Zusammenhang mit der Ordnung und Wohlfahrt einer Gesellschaft aufgewiesen wird. Die Betonung der Vergeltung im Begriff der Strafe besagt in Rechtfertigungszusammenhängen, daß wir nur dann mit der absichtlichen bzw. institutionell geregelten Zufügung von Übeln an eine Person (als Mittel sozialer Kontrolle) einverstanden sein können, wenn diese an eine verantwortlich begangene Normverletzung der betreffenden Person gebunden ist. Denn nur dann ist gesichert, daß der Mensch nicht „bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt"41, sondern als Person betrachtet wird, die sich selbstverantwortlich zum Objekt einer derartigen Behandlung machen kann.
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Ein soziales Regelsystem ist dann gerecht, wenn es die Glieder der Gesellschaft nach relevanten Gleichheiten gleich und nach relevanten Ungleichheiten ungleich behandelt. Nun wäre ein Regelsystem, das im Falle von Regelverletzungen Maßnahmen vorsieht, die keinen Unterschied machen zwischen solchen Personen, die die Regeln verletzen und solchen, die sie befolgen, sicherlich nicht gerecht. Insofern ein Regelsystem zu seiner allgemeinen und konstanten Befolgung der Androhung und Anwendung negativer Sanktionen bedarf, ist die Institutionalisierung der Sanktionsregeln in Gestalt eines (vergeltenden) Strafsystems ein Postulat der Gerechtigkeit. Im Blick auf das Prinzip der Achtung vor der Würde der Person bildet der Umstand, daß jemand verantwortlich eine Regel verletzt hat, das unverzichtbare Kriterium der Zuerkennung einer negativen Sanktion. Und im Blick auf das Prinzip der Gleichheit der Personen, das eine nach relevanten Gesichtspunkten der Gleichheit gleiche Behandlung fordert, sind in einem derartigen Regelsystem alle gleich zu bestrafen, die eine Regel in gleicher Weise verletzt haben42. Sollten Bentham und die nachfolgenden Vertreter einer utilitaristischen Begründung sozialer Regeln diese Aspekte ignoriert oder stiefmütterlich behandelt haben, dann stünde es der moralischen Plausibilität ihres Konzepts gut zu Gesicht, neben dem Prinzip des möglichst großen Glücks der möglichst großen Zahl die Prinzipien der Gleichheit von und der Achtung vor Personen in ihre Überlegungen einzubeziehen bzw. stärker zu betonen43. (b) Nur ein Täter darf mit einer negativen Sanktion belegt werden, und zwar nur für seine Tat. Kants Forderung, daß die Zuerkennung des Strafmaßes an dem sich orientieren müsse, „was seine Taten wert sind"44, ist nach Gerechtigkeitsprinzipien gleichfalls einleuchtend. Es wäre höchst ungerecht, wenn Art und Gewicht des Vergehens für die Strafzumessung keine entscheidende Rolle spielten. Dies heißt allerdings nicht, daß für die Bestimmung des „Unwerts" eines Vergehens ebenso wie für die Angemessenheit des Strafmaßes utilitaristische Gesichtspunkte außer Betracht bleiben könnten. Wer vom Vergehen selbst den Maßstab für ein gerechtes Strafmaß erwartet, muß vorgängig eine Skala von Vergehen und entsprechenden Strafen aufstellen und
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rechtfertigen. Und die Rechtfertigung der Gewichtung einer Art von Vergehen wird schwerlich ohne Rekurs auf Aspekte der Rechtssicherheit, der Wohlfahrt, der Freiheit und Würde von Personen auskommen können, die von den Vergehen als Erleidende betroffen sind. Außerdem dürfte die Skala korrespondierender Strafen schwierig zu rechtfertigen sein, wenn wir uns weigern, auch die Konsequenzen in Rechnung zu stellen, die aus Strafen verschiedener Strenge entstehen würden. Die schwersten Vergehen sind jedenfalls solche, die wir aus verschiedenen moralischen und außermoralischen Gründen am wenigsten zu dulden bereit sind, und die zu verhindern wir das äußerste unternehmen sollten. Konsequenterweise sind dies diejenigen, die wir am strengsten strafen zu müssen glauben, um die Menschen davon abzuhalten, sie zu begehen. Es ist schwer zu sehen, wie die Aspekte der Abschreckung aus der Konstruktion und Rechtfertigung einer Strafskala eliminiert werden sollen45. Bezeichnend ist immerhin, daß Kant selbst für seine Unterscheidung von crimen publicum und crimen privatum ebenso wie für die Einschränkung des schlüpfrigen „Begnadigungsrechts" auf utilitaristische Argumente zurückgreifen muß46. Strafe ist ein Mittel sozialer Kontrolle, das nach unbedingt und zugleich verpflichtenden Kriterien der Erfordernis, der Gerechtigkeit und Humanität zu handhaben ist, aber sie ist nicht die einzige Technik zur Sicherung der Befolgung sozialer Regeln. Es ist weit besser, Lebensbedingungen zu schaffen, unter welchen es weniger potentielle Straftäter gibt, als die Zahl aktueller Verbrechen durch Strafpraxis niedrig zu halten. Strafe mag unter bislang bekannten Bedingungen der conditio humana ein notwendiges Mittel sein, es sollte jederzeit als ein letztes und bedauerliches Mittel angesehen werden. Anmerkungen 1. I. Kant, Metaphysik der Sitten, VI, 331 (ich zitiere nach der Akademie-Ausgabe). 2. MdS ebd.
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3. Vgl. hierzu v. a, A. Flew, The Justification of Punishment, in: Philosophy, vol. XXIX, 1954, 291-307; S. I. Benn, An Approach to the Problems of Punishment, Philosophy, vol. XXXIII, 1958, 325-341; sowie S. I. Benn/R. S. Peters, Social Principles and the Democratic State, London 71969, § 8, 173-195; K. Baier, Is Punishment Retributive, in: Analysis vol. 16 no. 2, 1955, 25-32. 4. Zur aristotelischen Analyse bewußten und willentlichen Tuns, die handlungstheoretisch immer noch grundlegend ist, vgl. A. Kenny, Aristotle's Theory of the Will, London 1979, Part One. 5. Insofern Strafe per definitionem etwas ist, was jemand ungewollt erleidet, läßt sie sich nur in Termini des außermoralisch Schlechten bestimmen. Zur Unterscheidung von „moralisch gut/schlecht" und „außermoralisch gut/ schlecht" vgl. W. K. Frankena, Ethics, Englewood Cliffs, N.J. 1963, chap. 1. 6. Vgl. v. a. S. Freud, Das ökonomische Problem des Masochismus, in: Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe Bd. III, Frankfurt/M. 1975, 350ff. 7. MdS, VI, 331. Mit poena naturalis will Kant wohl die natürlichen d. h. von selbst sich einstellenden Folgen beschrieben wissen, die ein lasterhaftes Leben für die physische und psychische Verfassung sowie die sozialen Beziehungen dessen hat, der es führt. 8. Vgl. den Beitrag von O. Hoffe in diesem Band; sowie J. D. Mabbot, Punishment, in: Mind 1939, 152-167. 9. Natürlich sind mit diesem Verweis auf die Bedeutungselemente von „Strafe" noch nicht Fragen der Art beantwortet: Warum sollen wir für ein System sozialer Hygiene und Kontrolle eintreten, in dem Maßnahmen, die dem einzelnen Leid bringen, nur dann ergriffen werden sollen, wenn er vermutlich oder tatsächlich ein Vergehen begangen hat? Warum ziehen wir diese Form sozialer Kontrolle (sc. die Bestrafung) anderen Formen vor, deren wir uns bedienen könnten, um asozialem Verhalten entgegenzuwirken? Vgl. H. L. A. Hart, Prolegomenon to the Principles of Punishment, in: Proceedings of the Aristotelian Society 60 (1959/60), dt. in: H. L. A. Hart, Recht und Moral, Göttingen 1971, 63. 10. MdS VI, 331. 11. MdS VI, 332ff. 12. Dunkel deshalb, weil Kant den Maßstab für ein öffentliches Verbrechen („weil das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird") nicht präzisiert: geht es handlungsutilitaristisch um die tatsächliche Gefährdung des Gemeinswesens durch das einzelne Vergehen oder regelutilitaristisch um die Gefährdung, die entstehen würde, wenn alle Mitglieder unter gleichen Umständen so handeln würden wie der Täter? Wenn letzteres, dann ist die Unterscheidung kaum brauchbar, da im Falle derartiger hypothetischer Verallgemeinerung sich wohl sehr viele Vergehen als für das Gemeinwesen gefährlich erweisen lassen. Beachtenswert ist jedenfalls, daß Kant sich für seine Unterscheidung eines utilitaristischen Gesichtspunktes bedient. 13. MdS VI, 331. 14. MdS VI, 331. 15. Kant spricht a.a.O. metaphorisch von seiner „angeborenen Persönlichkeit".
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16. Je nachdem, wie stark man das „befunden sein" interpretiert. 17. MdS VI, 331 ff. 18. An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789), ed. W. Harrison, Oxford 1948, Ch. XIII, § 1, II, p. 281. 19. Ebd. n. 1. 20. Auf die Bedeutung der Unterscheidung verweisen mit Nachdruck Benn/Peters und H. L. Hart. 21. Ich gehe davon aus, daß beide Texte von der Strafe als gesellschaftlicher Institution mit rechtlich geregelten Feststellungs-, Entscheidungs- und Volizugsverfahren handeln. Allerdings sind die Argumente weitgehend auf die informelle Strafpraxis bei der Verletzung außerrechtlicher Normen und Anordnungen übertragbar. 22. Kant nennt denn auch das Begnadigungsrecht „unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste, um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch doch in hohem Grade unrecht zu tun" MdS VI, 337. 23. Der Grundsatz entspricht dem Begriff der Strafe, den Kant im Anschluß an Wolff an anderen Stellen verwendet: „Eine Strafe ist ein Physisches Uebel, deßen Grund ein practisches böse ist" (XXVII, 150) „Strafe überhaupt ist das physische Uebel, was um des moralischen Uebels einem zu theil wird" (XXVII, 286). Vgl. dazu den für das Kant-Verständnis erhellenden Beitrag von H. Oberer in diesem Band. 24. Die Metaphorik, mit der von Kant der geforderte Ausgleich positiv beschrieben wird, reicht vom Bild einer Waage, auf der Handlungen mit Behandlungen aufgewogen werden (MdS VI, 332), über das Bild von Verletzung und Heilung (MdS VI, 333), Bedürfnis und Befriedigung (MdS VI, 333) eines Organismus zum Bild der Schulden, die es zu tilgen gilt (MdS VI, 333). Einen schlechten Ausgleich vertritt das Bild der Unschuld, die sich prostituiert und damit selbst zerstört (MdS VI, 332). 25. Vgl. KpV V, 37. 26. Vgl. MdS VI, 332. 27. Vgl. KpV V, 37. 28. Zur Formulierung vgl. Was heißt: Sich im Denken orientieren? VIII, 139. 29. Vgl. MdS VI, 230. 30. MdS VI, 333. Aufschlußreich scheint mir, daß Kant im Zusammenhang von „Strafe" vom „Wert" einer Handlung spricht. Der Wertbegriff ist in der ökonomischen Sphäre beheimatet und am Tauschverhältnis gebildet. Einen Hinweis auf den Vorstellungszusammenhang von Strafe und Tausch bzw. Arbeitspreis enthält noch die alltägliche Redewendung „jemandem etwas heimzahlen". 31. Metaphysik der Sitten, Vigilantius XXVII, 552. 32. Ebd. 33. Außerdem setzt die Forderung voraus, daß jeder Verbrecher an seinem Tun oder durch sein Tun tatsächlich Vergnügen findet. Das vermeinte und erhoffte Vergnügen kann ja nach diesem Konzept nicht Maßstab der Leidzufügung sein. 34. MdS VI, 332. Ich verstehe diesen Satz dahingehend, daß er auch eine präskriptive Komponente enthält.
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35. Und dies heißt möglicherweise nicht mehr, als daß viele Menschen es gerne sehen, wenn Verbrechern für ihre Verbrechen Übel zugefügt werden, zumal dann, wenn sie vom Verbrechen selbst unmittelbar betroffen sind. Wenn der naheliegende Hinweis auf die enge Beziehung des Kantischen Strafgesetzes zum Motiv der Rache von Kantianern meist als Verwechslung der Vernunftebene mit der Emotionsebene abgetan wird, so scheint ein (von Kant her gesehen verständliches) Unverständnis des Gesagten vorzuliegen. Rache ist ein Affekt. Affekte haben mit Urteilen zu tun. Affekte sind intentionale Dispositionen und Regungen und über Propositionen und deren Verifikation identifizierbar. Von jemandem sagen, er habe aus Rache gehandelt, mag heißen, er habe seine Handlungsziele nicht in ein vernünftiges Gleichgewicht gebracht, er habe nach subjektiver Willkür und privatem Urteil etwas getan, was zu entscheiden und zu tun ihm nicht zustand, er habe in seinem Streben nach Genugtuung das rechte Maß verloren und anderes mehr; aber es besagt auf jeden Fall und wesentlich, er habe einem Anderen absichtlich ein Übel zugefügt dafür, daß dieser tatsächlich oder vermeintlich ihm selbst oder einer ihm verbundenen Person ein Übel zugefügt hat. Daß es sich bei Rache um ein Motiv handelt, das ein überlegtes, aber meist unvernünftiges Handeln leitet, spricht weder für noch gegen die Vernünftigkeit eines Grundsatzes, der in einer durch Rache motivierten Handlung wesentlich im Spiel ist. 36. MdS VI, 333. 37. Schuld läßt sich in dem Sinne nicht beseitigen, als ein begangenes Verbrechen nicht ungeschehen gemacht werden und die schuldige Person ihr Vergehen nicht aus ihrer Lebensgeschichte streichen kann. Die Position der Verantwortung des Täters vor Anderen wird besser, wenn er in seinem Verhalten Besserung zeigt, wenn er nach Kräften den von ihm angerichteten Schaden wiedergutzumachen trachtet und wenn ihm von den Betroffenen vergeben wird. Eine Strafgesetzgebung, die diese Möglichkeiten ignoriert, beeinträchtigt oder unmöglich macht, scheint sittlich nicht zu rechtfertigen. 38. MdS VI, 229; gemeint ist das oberste Kriterium der Erkenntnis dessen, was ein gerechtes Recht, nicht dessen, was irgendwo geltendes Recht (quid sit iuris) sei. 39. MdS VI, 230. 40. Vgl. dazu H. L. Hart, Prolegomena 66ff. 41. MdS VI, 331. 42. Das Prinzip der Gleichheit begründet eine prima facie-Verpflichtung, die alle Strafgesetze einer Gesellschaft erfüllen müssen. Daß es nicht nur eine notwendige, sondern auch eine zureichende Bedingung für das Bestehen einer Verpflichtung zur Bestrafung und zur Art einer Bestrafung eines einzelnen Straftäters selbst unter Umständen darstellt, die jede utilitaristische Rechtfertigungsmöglichkeit ausschließen, scheint mir eine problematische Verabsolutierung des Prinzips zu sein. Kant möchte wohl einen derartigen Fall konstruieren: „Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden" MdS VI, 333. Ein Utilitarist könnte dem (abgesehen von der Problematik der Todesstrafe) nur
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44. 45. 46.
Maximilian Forschner zustimmen, wenn diese Bestrafung zum Schutz, zur Abschreckung, zur Förderung der Rechtsrespektierung der irgendwo Weiterlebenden vollzogen wird. Ob sich diese Prinzipien ihrerseits utilitaristisch begründen lassen oder als selbständige Prinzipien anzusehen sind, ist eine noch nicht ausdiskutierte Frage, John Rawls (A Theory of Justice, Oxford 1971, Chap. I) erachtet sie als selbständig und will seine Arbeit als ergänzendes Korrektiv zum Utilitarismus verstanden wissen. MdS VI, 333. Vgl. Benn/Peters, a.a.O. 187ff. Vgl. MdS VI, 331; MdS VI, 337. „. .. wenn durch Ungestraftheit dem Volke selbst in Ansehung seiner Sicherheit Gefahr erwachsen könnte".
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Über einige Begründungsaspekte der Kantischen Strafrechtslehre Hans Wagner zum 10. 1. 1982 l.
Kants Rechtslehre hat in der Zeit nach 17971 neben hoher Anerkennung stets auch vielerlei Ablehnung gefunden. Und so gewiß die Zustimmung nicht immer von entsprechender Einsicht in die argumentative Fundierung der Kantischen Lehre getragen war, so gewiß waren auch die Kritiker zumeist weit davon entfernt, den inneren Zusammenhang dieser Lehre und den Zusammenhang derselben mit ihren Prämissen zu kennen und zu würdigen. Insbesondere dann, wenn die Kritik sich nicht gegen die Kantische Rechtslehre im Ganzen, sondern nur gegen einzelne Theoriestücke richtete, die als unannehmbar empfunden wurden, berücksichtigten die Kritiker selten den Zusammenhang der Rechtslehre mit der kritischen praktischen Philosophie und selten den inneren Zusammenhang der Rechtslehre, ja, sogar selten genug die spezielle Argumentation des Theorems, dessen Ergebnis sie ablehnten. Ein bekannter Fall dieser Art ist die Auseinandersetzung mit Kants Lehre vom Recht der Ehe.2 Ganz ähnlich stellt sich die Lage auch im Hinblick auf Kants Staatsrechtslehre dar und hier wieder vor allem bezüglich seiner Theorie vom Recht der Strafe.3 Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, die Begründungsstruktur der Lehre vom öffentlichen Recht der Strafe in Kants kritischer Rechtsphilosophie zu skizzieren und im Anschluß auf einzelne immanente Probleme des Strafrechtskapitels der „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre" einzugehen.4
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In Kants Rechtsphilosophie müssen wir drei verschiedene Begründungsebenen unterscheiden: 1. Wir finden einen unmittelbaren Begründungsbezug auf das Sittengesetz, der sich nicht nur in der Begründung des Rechtsprinzips, sondern auch auf den spezielleren Ebenen abgeleiteter überpositiver Rechte nachweisen läßt. Diese Dimension praktischer Letztbegründung hat zweierlei Erscheinungsform. Sie tritt einerseits in der Begründung nachgeordneter Normen als absoluter Grund praktischer Geltung auf, aus welchem die allgemeine rechtliche Geltung abgeleitet wird, die ihrerseits wieder spezielle Weisen rechtlicher Geltung begründet.5 Andererseits stellt sie sich dar als die Idee eines vollendet vernünftigen Zustandes, der den Sinn der Geschichte bildet, der somit als glaubhafter Sinn des Menschengeschlechts in einem Reich auch der vollendeten gleichen äußeren Freiheit, also des als vollendet gedachten rechtlichen Zustandes besteht. Im Hinblick auf die geschichtsphilosophischen Elemente des letztgenannten Aspekts könnte man den hier in Rede stehenden Begründungsbezug auch als einen chiliastischen bezeichnen. 2. Unter Bezugnahme und Einschränkung auf den möglichen äußeren Willkürgebrauch folgt aus der erstgenannten eine zweite Begründungsebene, in welcher das Rechtsprinzip als Prinzip spezieller Praxisgeltung entwickelt und demzufolge die beiden Disziplinen der Sittenlehre unterschieden werden. Dies ist die rein vernunftrechtliche Dimension des rechtsphilosophischen Begründungsgangs, noch vor aller Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht, von überpositiven Normen des privaten und des öffentlichen Rechts. In ihr wird der Sinn und die Reichweite von Recht überhaupt bestimmt und das Recht strikt von der vorgenannten Letztbegründungsebene allgemeinster praktischer Gebote und Befugnisse unterschieden. Man kann die zweite Begründungsebene als die des perfekten, strikten Rechts überhaupt bezeichnen. 3. Ein drittes Begründungsstück bildet die Lehre von dem kategorischen Imperativ des Übergangs vom natürlichen in den bürgerlichen Zustand. Mit dieser Lehre tritt ein neuartiges, zeitlich-dynamisches Moment in die Korrelation von Norm und Nor-
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miertem ein. Sie begründet die Möglichkeit, bezüglich des Rechts, das jemand hat, und der Rechte, die jemand erworben hat, auch Recht zu bekommen (die iustitia distributiva); sie entwickelt die zwingende Forderung nach einem den überpositiven Rechtsnormen gemäßen positiven Recht und damit nach der Sicherung erworbener konkreter, im status naturalis bloß provisorischer, im status civilis aber peremtorischer Rechte. Es scheint mir nun, daß sich diese drei Begründungsaspekte auch im Besonderen der Kantischen Strafrechtslehre nachweisen lassen, und zwar u. a. auch als Schritte einer Einschränkung von universaler Strafwürdigkeit hin zu realer Strafmöglichkeit. II.
Ein oft übersehenes, dennoch wichtiges Element der Kantischen Strafrechtsbegründung findet sich schon in der erstgenannten Begründungsdimension, im Zusammenhang der Grundlegung praktischer Geltung überhaupt. Kant führt den Begriff der Strafe noch vor aller Möglichkeit einer Unterscheidung von Recht und Ethos im engeren Sinne (Tugend) ein und knüpft ihn an den Begriff des praktischen Gesetzes selbst, d. h. an das zurechenbare Verhältnis von Sollen und Handlung. „Die imputatio practica ist die subsumtion unter die Gesetze der freyheit überhaupt".6 Sie ist „Bestimung der Caussalität der freyheit in Ansehung einer Handlung unter allgemeinen practischen Gesetzen".7 Führt nun die allgemeine praktische Zurechnung zur Feststellung eines Widerspruchs mit einem praktischen Gesetz, so folgt daraus die Feststellung der Strafwürdigkeit der zugerechneten Handlung: „Endlich ist noch etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft, welches die Übertretung eines sittlichen Gesetzes begleitet, nämlich ihre Strafwürdigkeit".8 Die unmoralische Tat führt keine Minderung oder Verhinderung eigener Glückseligkeit mit sich, sie intendiert vielmehr eine Mehrung derselben. Aber sie verdient eine Minderung, ein Übel, sei es nun als natürliche Folge oder als verhängte Strafe; sie ist straf würdig. Man muß nicht annehmen, Kant rede hier nur von einer besonderen Art sittlicher Gesetze, deren Besonderheit eben darin besteht, daß ihre Über-
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tretung Strafe fordert. Vielmehr weist der Zusammenhang der Kantischen Überlegung und die der allgemeinen praktischen Imputation entsprechende Formulierung darauf hin, daß die Vernunftidee der Strafwürdigkeit (und mit ihr die Idee der Gerechtigkeit) ihren Ursprung im Feld der Prinzipien praktischer Geltung überhaupt hat. Demnach liegt der Ansatz der vernünftigen Idee der Strafe in der vorrechtlichen Dimension des Sittengesetzes und läßt sich demgemäß auch im Hinblick auf die Idee des höchsten Gutes weiterbestimmen. Ganz in diesem letzterem Sinne erläutert Kant denn auch schon 1793/4 in einer Vorlesung den Gedanken der Strafwürdigkeit der praktischen Gesetzesübertretung.9 Weil die Vernunft die Gesetzmäßigkeit des moralischen Verhaltens jederzeit mit der Würdigkeit zur Glückseligkeit verknüpft, muß man die Vereinigung der moralisch bösen Handlung mit dem Fortbestehen oder dem Erlangen von Glückseligkeit als einen Widerspruch zu der vernünftigen Ordnung aller möglichen Handlungen und als Zerstörung einer solchen Ordnung vorstellen. Die Wiederherstellung dieser Ordnung ist vernunftnotwendig, und Strafe, als unmittelbare und unbedingte Folge einer jeden praktisch gesetzwidrigen Handlung gedacht, ist (idealiter) die geforderte Wiederherstellung jenes idealen Ordnungsbestandes. Sie ist ihrem bloßen Begriff nach die vernunftnotwendige Folge der Gesetzesübertretung (quia peccatum est).10 Die Lehre vom höchsten Gut als Einheit von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit enthält demnach ein auch für die Rechtslehre grundlegendes Moment von Zuständlichkeit, d.h. die Vorstellung eines quasi statisch-vollendeten Zustandes aller möglichen praktischen Gesetzmäßigkeit, dessen Einheit durch Gesetzwidrigkeit verletzt, dessen Widerspruchsfreiheit durch Gesetzwidrigkeit widersprüchlich, dessen Balance durch Gesetzwidrigkeit zerstört wird. Die Idee dieses Zustands schließt nicht nur den Gedanken eines ethischen Gemeinwesens als Reich der Zwecke ein, sondern impliziert die „systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen"11 auch im Hinblick auf den äußeren Willkürgebrauch möglicher Rechtssubjekte. Da nun dieser gedachte Zustand die Vollendung alles dessen ist, was aus bloßer Vernunft, mithin unbedingt und uneinge-
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schränkt gesollt ist, so muß er gegenüber jeder Verletzung ohne alle Einschränkung und Bedingung wiederhergestellt werden. Noch vor allem Bezug auf möglichen Zwang und möglichen rechtlichen Strafvollzug wird eine solche ideelle Wiederherstellung von Kant im Begriff der Strafwürdigkeit als Element der praktischen Vernunftidee, also unbedingt notwendig, gedacht. (Man kann sich diese Überlegung verdeutlichen, indem man ihre Anwendung auf die äußeren Verhältnisse zwischen Staaten in der Idee eines ewigen Friedens (Chiliasmus) betrachtet.12 Man sieht auch sogleich, daß ihre Anwendung auf die Verhältnisse zwischen individuellen Rechtssubjekten zu den Konstitutionselementen des „Staats in der Idee" gehört. Und die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" ist nichts anderes als die Explikation dieser Zusammenhänge). Nur unter dieser Voraussetzung eines fundamentalen praktischen Strafbegriffs kann für Kant Strafe hernach ein besonderes rechtsphtiosophisches Thema werden. Der Begriff der Strafe, das wird man als das in unserem Zusammenhang Wesentliche der Kantischen Überlegung festhalten müssen, kann also aus bloßen Rechtsbegriffen gar nicht abgeleitet werden, sondern muß als grundlegender Begriff aus der praktischen Grundlegungssphäre in die Rechtslehre allererst eingebracht werden. Dem entspricht, daß die Idee der Strafwürdigkeit, wie wir gesehen haben, den Gesamtbereich möglicher Praxisgeltung betrifft, also auch jenen Bereich, für den eine „äußere" Gesetzgebung gar nicht möglich ist. Der Begriff der Strafe, den Kant hier benutzt, ist aus den Nachschriften seiner Vorlesungen bekannt: „Eine Strafe ist ein Physisches Uebel, deßen Grund ein practisches böse ist"13; „Strafe überhaupt ist das physische Uebel, was um des moralischen Uebels einem zu theil wird"14; „Man verbindet bey den Strafen mit dem moralisch Bösen ein physisches Uebel"15. Dieser Strafbegriff geht über die Autoren, die Kant den Vorlesungen zugrundelegte, auf Christian Wolff zurück, wo man liest: „malum physicum ob malum morale immissum . . . poena dicitur"16. Unter diesen Begriff fällt nicht nur die rechtliche Strafe, sondern — entsprechend der abstrakt vernünftigen Strafwürdigkeit aller
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Vergehen gegen praktische Gesetze - auch die Strafgerechtigkeit Gottes und der Begriff einer „natürlichen" Strafe, (poena naturalis) „dadurch das Laster sich selbst bestraft"17. Kant führt genau diesen „vor-rechtlichen" Strafbegriff in das obengenannte Theorem der allgemeinen praktischen Strafwürdigkeit in der „Kritik der praktischen Vernunft" ein und definiert dort Strafe als „ein physisches Übel, welches, wenn es auch nicht als natürliche Folge mit dem moralisch Bösen verbunden wäre, doch als Folge nach Principien einer sittlichen Gesetzgebung verbunden werden müßte"18.
III. Das zweite Begründungsstück der Strafrechtslehre findet sich in der reinen Rechtsbegründung der „Einleitung in die Rechtslehre" in den Paragraphen D und E. Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden und kann als Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwangs vorgestellt werden. Recht und Zwangsbefugnis sind einerlei.19 So gewiß wir mit diesen Bestimmungen gegenüber der ersten Begründungsebene eine Annäherung an das positive Recht erreicht haben, so gewiß sind wir damit dort noch nicht angelangt; das strikte Recht ist in seiner Bestimmtheit nach den Paragraphen D und E noch weit davon entfernt, positives Recht zu sein. Kants Terminologie steht insofern in voller Übereinstimmung mit der Tradition. Auch Leibniz hat (in einer Anmerkung zu Robert Filmers Staatslehre)20 ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das ius strictum vor allem Übergang in einen bürgerlichen Zustand besteht; er hat es dem ius latum der bloßen Billigkeit gegenübergestellt21. In anderer Entgegensetzung (nämlich zum weiten moralischen Recht), aber in derselben Abgrenzung gegenüber dem positiven Recht formuliert Christian Wolff geradezu eine Vorlage zur These des § D: „Ius perfectum dicitur, quod conjunctum est cum iure cogendi alterum . . ."22 und daß das ius perfectum das ius stricte dictum ist, kann man aus Baumgarten und Achenwall entnehmen: „complexus legum naturalium externarum seu cogentium.
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ius naturale stricte dictum"23 und „legum perfectarum scientia est ius naturale stricte dictum (ius naturale cogens)"24. Man könnte dazu auch noch zeitgenössische Belege aus Tieftrunk 25 und Meilin26 heranziehen, und Kants Vorlesungen bestimmen den Zusammenhang von Striktheit, Vollkommenheit und Erzwingbarkeit in genau derselben Weise; „legale Verbindlichkeit" und strides Recht gehören zusammen. 27 Kant begründet also das Zwangsmoment auf der Begründungsstufe des strikten überpositiven Rechts. Es gibt demnach ein Recht des Zwangs gegen jeden äußeren Willkürgebrauch, sofern dieser den Vernunftgesetzen seiner selbst, d. h. dem Recht überhaupt, zuwider ist. Das Recht selbst ist die Befugnis zu einem Zwang gegen rechtswidrige Hindernisse der äußeren Freiheit. Diese grundsätzliche Befugnis ist nach § D zunächst als eine solche des jeweiligen einzelnen Willkürsubjekts, das in seiner rechtmäßigen Freiheitsausübung behindert wird, vorgestellt. Nun führt Kant in § E aus, man könne diese Befugnis auch unter dem schon oben in II. eingeführten Gedanken eines vollendeten Zustandes von Gesetzmäßigkeit, und d. h. nun, nach der Einschränkung auf äußeren Willkürgebrauch durch das Rechtsprinzip, unter dem Aspekt eines vollendeten Zustandes von Rechtmäßigkeit betrachten. Dann muß dieser Zustand als der eines durchgängigen wechselseitigen gesetzlichen Zwanges erscheinen, gemäß der äußeren Freiheit aller nach allgemeinen vernünftigen Gesetzen. Man sieht leicht, daß hier auf den Bereich des möglichen vernünftigen äußeren Freiheitsgebrauchs genau dieselbe Systemvorstellung bezogen wird, die wir noch vor aller Differenzierung des freien Willkürgebrauchs in einen inneren und einen äußeren schon auf der Letztbegründungsebene des kategorischen Imperativs und der in ihm implizierten Idee der Strafwürdigkeit überhaupt vorgefunden haben. Und deshalb kann auch hier die sinnliche Vorstellung der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung in physischen Verhältnissen als „Darstellung im Räume" des letztendlich gesollten Zustandes im Verhältnis aller Handlungen eines möglichen äußeren Freiheitsgebrauches genutzt werden. Man nennt eine solche Darstellung eines Vernunftbegriffs in der Anschauung eine mittelbare oder analogische Darstellung; die
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aus ihr entspringende „Erkenntnis" heißt symbolische Erkenntnis.28 Zwischen den beiden §§ D und E wird also nicht etwa der Rechtsbegriff differenziert; beide gelten gleichermaßen vom strikten Recht, mag es im Folgenden als privates oder als öffentliches betrachtet werden. Sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß § D zunächst die Befugnis eines Einzelnen betrachtet, § E aber einen „Endzustand" aller möglichen vernünftigen Relationen von Recht und Zwang vorstellt und damit den rechtlichen Zwang über die bloße Befugnis hinaus zu einem selbst Gesollten weiterbestimmt, mithin zugleich auch über § D hinaus einen weiteren Schritt auf jene Realität hin macht, die sich in einem wirklichen bürgerlichen Rechtssystem findet. Strafe ist somit nun, d. h. unter der Bedingung des Rechtsprinzips, ein erstes Mal gegenüber dem (moralischen) Strafbegriff von II. eingeschränkt, nämlich auf dasjenige physische Übel, das einer äußeren Gesetzwidrigkeit gegenübergestellt wird. Insofern verstehen wir nun auch die Formulierung besser, die das strikte Recht als das ganz äußerliche vorstellt29: nicht nur das malum physicum (per def.), sondern auch das korrespondierende, auslösende malum morale ist nun ganz in die Äußerlichkeit des äußeren Willkürgebrauchs gesetzt. Strafe ist ohne Zwang nicht möglich, weil im allgemeinen niemand freiwillig sich ein Übel zufügen läßt oder zufügt. Jede Strafe ist also Zwang. Aber keineswegs ist jeder Zwang Strafe30. Und wenn wir uns nun im Hinblick darauf noch einmal dem Text der beiden Paragraphen D und E zuwenden, so sehen wir, daß dort zunächst und ausdrücklich nur von demjenigen Zwang die Rede ist, der gerade noch nicht Strafe ist. Mit dem Zwangsrecht ist also noch keineswegs - wie etwa J. C. G. Schaumann31 und der Kant nahestehende Königsberger Jurist Th. Schmalz32 meinten — der Begriff der Strafe hinreichend begründet. Die beiden Paragraphen der rechtlichen Zwangsbegründung enthalten, wenn man nicht eine außerhalb ihrer begründete und dann allererst unter sie subsumierbare Strafidee hinzunimmt, gar keine Begründung der Strafe. Sie begründen, für sich selbst betrachtet, überhaupt nur die Befugnis, durch Zwangsausübung Unrecht zu verhindern, entweder in der Weise der Prohibition (Prävention), etwa indem
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man den, der einen Mord (Krieg) vorbereitet, entwaffnet, oder in der Weise der Restitution, etwa indem man dem Dieb sein Diebesgut wieder abnimmt. Sie begründet weder, daß man den Mörder bestraft, noch daß man den Dieb nach Restitution seiner Beute ebenfalls (wenn auch angemessen weniger hart als jenen Mörder) bestraft. Nur sofern die Idee der Strafe als reine praktische Vernunftforderung systematisch schon verfügbar ist, kann die Idee der rechtlichen Zwangsbefugnis auf sie bezogen und als Moment der Weiterbegründung einer möglichen Realisierung dieser Idee genutzt werden. Es wird nun nämlich das a priori geltende Zwangsrecht auf jenen — durch die Unrechtshandlung in seinem Bestand gestörten — ideellen Rechtszustand bezogen, dessen Grundlage wir oben (II.) kennengelernt haben und der uns rechtsspezifisch in dem Momente der systematischen Totalität des § E begegnet ist. Es gilt unter der Voraussetzung dieses Bezugs, daß die real abgeschlossene und insofern nicht mehr durch Zwang verhinderbare Unrechtshandlung eine Funktion im Hinblick auf die Idee eines rechtlichen Zustands hat, durch die dieser in seiner idealen Bestimmtheit verletzt ist. Die Beseitigung dieser Verletzung aber ist nicht identisch mit der eventuellen realen Wiederherstellung der ursprünglichen rechtlichen Verhältnisse, z. B. des ursprünglichen rechtlichen Besitzverhältnisses nach einem Diebstahl. Man sieht das sofort, wenn man sich Verbrechen zuwendet, denen grundsätzlich keine mögliche reale Restitution korrespondiert. Wenn es nun aber einerseits auch einsichtig gemacht werden kann, daß in der Vorstellung einer rechtlichen Befugnis zu zwingen ohne die Idee eines vollendeten Rechtszustands und der Strafwürdigkeit seiner Störung die besondere rechtliche Zwangsmöglichkeit der Strafe noch gar nicht mitgedacht werden könnte, so darf man doch andererseits nicht etwa glauben, daß durch die Verbindung jener systematischen („chiliastisch-eschatologischen") Totalitätsvorstellung mit der rechtlichen Zwangsbefugnis die Möglichkeit der Strafe schon hinreichend begründet wäre. Denn es gibt im Naturzustand keine Befugnis zu strafen. In ihm bleibt vielmehr die rechtliche Zwangsbefugnis auf ebendasjenige beschränkt, was wir im Text der Paragraphen D und E allein
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vorgefunden haben: auf Prävention und Restitution. Die Frage „Ob die Befugnis zu strafen in statu naturali sey" beantwortet Kant denn auch mit „Negatur"33. IV.
Es muß also ein drittes Begründungsstück auftreten, das die rein rationale Strafnotwendigkeit mit der realen Zwangsbefugnis des rechtlichen äußeren Freiheitsgebrauchs dergestalt verknüpft, daß ein Recht zum strafenden Zwang entsteht. Diese Verknüpfung wird durch den Rechtsbegriff des status civilis begründet. Der Übergang in den status civilis ist notwendig, da der status naturalis schon als solcher ein Hindernis der Freiheit nach Rechtsgesetzen bildet. Die Idee einer Herbeiführung dieses Zustandes gemäß der Forderung der reinen Rechtsvernunft schließt eine vernunftbedingte Befugnis als abgeleitetes Recht jedes Einzelnen ein. Der Zwang zum Übergang in den status civilis hat insofern den Charakter einer die Einzelrechte sichernden Generalprävention. Dieser Zwang enthält noch keinerlei Straffunktion. Er dient allein der Schaffung des Zustandes eines allgemeinen Rechtswillens. Und erst durch die Grundlegung in einem als wirklich vorgestellten allgemeinen und öffentlich gesetzgebenden Willen wird Strafe als wirkliche möglich. Ein Einzelner kann kein Recht haben, dem Willkürgebrauch Anderer Gesetze vorzuschreiben, über deren Befolgung zu urteilen und gegebenenfalls die Übertretung zu bestrafen, da dies für jeden Anderen willkürlich und damit rechtswidrig wäre34. Nur unter der Voraussetzung eines öffentlichen Rechts haben wir einen allgemeinen Willen, der als Wille eines Jeden angesehen werden darf; erst dann haben wir auch ein allgemeines Gesetz von der Art, daß nach ihm gemäß dem Willen eines Jeden geurteilt werden kann, eine öffentliche urteilende Behörde und eine öffentliche Vollzugsgewalt. Erst dann darf (und muß aber auch) jeder Einzelne als Gesetzgeber betrachtet werden, nach dessen Willen Urteil und Vollzug geschehen. Die Realmöglichkeit der vernunftnotwendigen Strafe ergibt sich erst durch den Übergang aus dem natürlichen in den bürgerlich-rechtlichen Zustand.
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Dieser bürgerlich-rechtliche Zustand muß unter dem Aspekt der (in II.) genannten Vernunftnotwendigkeit auch als ein Stück des vorweggenommenen, d. h. in Zeitverhältnisse hereingenommenen höchsten Guts betrachtet werden. Das Moment der Zuständlichkeit, das wir in der Idee des höchsten Guts gefunden haben, hat nun nicht nur sein zeitliches Abbild im status civilis, sondern dieser ist — wenngleich unter Zeitbedingungen und aufgrund dieser Zeitbedingungen defizient — die äußere Realität des höchsten Guts. Daraus erst wird so recht Kants emphatische Verteidigung der Notwendigkeit einer strafenden Gerechtigkeit — wie übrigens auch seine rigorose Ablehnung eines Rechts auf Widerstand gegen die Staatsgewalt - verständlich: der Widerstand gegen die Staatsgewalt vernichtet ebenso wie der Verzicht auf die Strafgerechtigkeit die äußere Realität des höchsten Gutes. Demgemäß muß man nun das Verhältnis von Strafe und bürgerlichem Rechtszustand von beiden Verhältnisgliedern aus betrachten: Nicht nur macht einerseits erst der status civilis die Strafe wirklich möglich, sondern es ist andererseits auch um dieser Möglichkeit willen notwendig, in den bürgerlichen Zustand überzugehen. Wenn man sieht, in welchem Ausmaß Kant im Privatrechtskapitel sich bemüht hat, in immer neuen Ansätzen zu zeigen, daß und warum man aus naturrechtlichen Rechts- und Besitzverhältnissen in den staatlich-rechtlichen Zustand übergehen müsse, so kann man sich allerdings die Frage stellen, warum er dies am Problem der staatlichen Strafbefugnis nicht erneut zu zeigen unternommen hat. Mir scheint, da alle systematischen Bedingungen dafür erfüllt waren, daß nur äußerliche Gründe dafür angeführt werden können, wie sie denn auch tatsächlich in der Vorrede zur „Metaphysik der Sitten" entschuldigend geäußert werden: ,,Gegen das Ende des Buchs habe ich einige Abschnitte mit minderer Ausführlichkeit bearbeitet, als in Vergleichung mit den vorhergehenden erwartet werden konnte: theils weil sie mir aus diesen leicht gefolgert werden zu können schienen, theils auch, weil die letzte (das öffentliche Recht betreffende) eben jetzt so vielen Discussionen unterworfen und dennoch so wichtig sind, daß sie den Aufschub des entscheidenden Unheils auf einige Zeit wohl rechtfertigen können"35.
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V.
Man muß also auch in Kants Strafrechtslehre diese drei Grundlegungsaspekte unterscheiden: 1. Den Strafgedanken überhaupt als Implikat des positiven Freiheitsbegriffs, in der Bedeutung der prinzipiellen Strafwürdigkeit eines jeden Verstoßes gegen ein praktisches Gesetz, d. h. die Vernunftnotwendigkeit der Strafe. 2. Die auf die besonderen Bedingungen des Rechts eingeschränkte Befugnis, äußeren Willkürgebrauch zwangsweise gegen rechtswidrigen äußeren Freiheitsgebrauch einzusetzen, um Hindernisse des rechtmäßigen äußeren Freiheitsgebrauchs zu beseitigen, d. h. die natürlich-rechtliche Zwangsbefugnis als unerläßliche Bedingung der Realmöglichkeit der Strafe. 3. Die weitere Einschränkung der Strafmöglichkeit auf die Bedingungen eines öffentlich-rechtlichen, bürgerlichen Zustandes, in welchem allein und erstmalig die Befugnis entspringt, daß ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen strafenden Zwang gegen andere ausübt, aufgrund eines diesen Zustand (status civilis) konstituierenden allgemeinen Willens und in Übereinstimmung mit diesem allgemeinen Rechtssicherungs- und Rechtserhaltungswillen, der damit auch allgemeiner Strafwille ist, d. h. die zureichende Begründung der Realmöglichkeit der Strafe. Nun schränkt Kant darüberhinaus, d. h. innerhalb der Lehre vom öffentlichen Recht, die reale Möglichkeit des rechtlichen Straf ens noch weiter ein. Er unterscheidet zwischen öffentlichem Privatrecht und öffentlichem Strafrecht (Civilgerechtigkeit und Criminalgerechtigkeit) aufgrund der Unterscheidung zwischen crimen privatum (civile) und crimen publicum.36 Nur das crimen publicum wird „vor die Criminalgerechtigkeit gezogen", nur in seinem Falle ist nach Kant Strafe real zulässig und erforderlich. Man kann sich freilich fragen, ob die Aufnahme dieser Unterscheidung in die apriorische Rechtslehre tunlich war, oder ob Kant sich dadurch nicht vielmehr in die Gefahr begeben hat, einen empirisch-pragmatischen Rechtsbegriff apriorisch erläutern zu müssen. Seine Erläuterung dieser Unterscheidung scheint mir jedenfalls trotz der Beispiele, die er beifügt, nicht überaus klar und eindeutig zu sein. J. H. Tief trunk versuchte Kants Unter-
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Scheidung dahingehend zu interpretieren, daß das dem Civilgericht zugeordnete Verbrechen bei Übereinstimmung mit der Form des Rechts nur die Materie des Rechts einer Person beschädige, während das Staatsverbrechen auch der Form nach mit dem Recht im Widerspruch stehe, weil es den rechtlich-staatlichen Zustand als Bedingung möglicher Rechtssicherheit selbst betrifft.37 Aber gilt das letztere denn, wenn es prinzipiell verstanden wird, nicht auch für Betrug und Unterschlagung im status civilis, welche Verbrechen Kant als crimina privata nennt? Tieftrunk bezieht sich in seiner Interpretation auf Kants Kennzeichnung des crimen publicum als Verbrechen gegen die Staatssicherheit, als „Verletzung der Staatssicherheit im Besitze des Seinen eines jeden"38, die den Täter „unfähig macht, Staatsbürger zu sein"39. Aber auch diese Charakterisierungen scheinen mir ungeeignet, die eingeführte Differenz prinzipientheoretisch zu klären. Wenn durch das crimen publicum die Staatssicherheit der Idee nach verletzt wird, dann ist jeder Rechtsbruch im status civilis ein crimen publicum und also strafbar. Wenn aber crimen publicum nur dasjenige Verbrechen ist, durch welches die Sicherheit des Staates direkt verletzt wird, dann ist zwar „falsch Geld . . . zu machen" strafbar, aber nicht ohne weiteres der Mord. Das wird ganz deutlich in W. Nauckes Versuch, die Kantische Unterscheidung für das Strafrecht der Gegenwart fruchtbar zu machen.40 Mit Naucke ist gewiß festzuhalten, daß das Strafrecht im status civilis auf eine besondere Gruppe von crimina einzuschränken ist, weil es ad absurdum führt, den Begriff der strafbaren Rechtswidrigkeit so weit zu fassen, daß er sich auf das gesamte positive Recht erstreckt.41 Man wird ihm aber nicht soweit folgen können, anzunehmen, daß die Einschränkung der staatlichen Strafbefugnis durch Kant bis an die Grenze derjenigen Fälle reiche, durch welche die Staatssicherheit faktisch gefährdet wäre. Auch kann man es nicht für Kants Lehre halten, daß z. B. Diebstahl nur von einer gewissen Größe an als strafbares Verbrechen anzusehen sei, weil es „praktisch unmöglich (erscheine), durch einen geringfügigen Diebstahl das Eigentum aller unsicher zu machen"42, die Verunsicherung dieses Eigentums aber von Kant zum Kriterium der Strafbarkeit der Tat gemacht wird.
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Die Schwierigkeiten, die sich aus Kants Unterscheidung für unser Verständnis ergeben, resultieren daraus, daß Kant hier eine aus dem römischen Recht stammende Unterscheidung, die schon innerhalb des römischen Rechtes zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene Bedeutung hatte, zu fixieren und in den Rahmen seiner kritisch fundierten apriorischen Rechtslehre einzubauen versuchte. Während nämlich in Rom zunächst die Unterscheidung völlig eindeutig war - crimen publicum als Verbrechen gegen die per legem publicam festgestellte staatliche und sacrale Gemeinschaftsordnung (quod ad statum rei publicae Romanae spectat)43 — wurden sehr bald auch Verletzungen der privaten Rechte der Einzelpersonen in den Bereich der crimina publica aufgenommen, sofern sie zugleich den allgemeinen Frieden störten.44 Die ursprünglich bloß private Rache aufgrund eines crimen privatum wurde dabei in einen staatlich geschützten Bußanspruch umgewandelt, der dann ebenfalls, wie die öffentliche Strafe des crimen publicum, als poena bezeichnet wurde.45 Man sieht daraus, daß die Unterscheidung schon früh zu einer pragmatischen geworden ist; strafbare Handlungen waren schon sehr früh alle Verletzungen derjenigen Rechte, die der staatliche Gesetzgeber für besonders schutzwürdig und schutzbedürftig gehalten hat.46 Wie auch immer es sich aber nun mit dieser einschränkenden Bestimmung des real strafbaren Verbrechens verhalten mag, folgende Bedingungen für mögliche Rechtsstrafe müssen — soviel scheint mir mit Kant festzustehen - erfüllt sein: Das Verbrechen muß vom Täter mit dem Bewußtsein der Strafbarkeit der Tat verübt worden sein; es muß ihm (der Freiheit seines äußeren Willkürgebrauchs) zugerechnet werden können. Die Strafe muß die bloß rechtliche Folge der strafbar rechtswidrigen Tat sein, die Tat der einzige Grund der Strafe.47 Und die Tat muß in einem Zustande öffentlicher Strafgerechtigkeit nach Rechtsgesetzen geschehen sein, zu welchem Zustande und seinen Folgen der Täter selbst, wenn auch nicht als Verbrecher, sondern als moralische gesetzgebende Person (homo noumenon) und Bürger des Staates in der Idee, seine Einwilligung gegeben hat.48 Niemand wird bestreiten wollen, daß es staatliche Maßnahmen gibt und geben soll, um Vergehen und Verbrechen zu ver-
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hindern und Verbrecher so zu erziehen, daß mit einiger Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, daß sie nach Verbüßung ihrer Strafe nicht wieder straffällig werden. Aber man darf Vorbeugung, Abschreckung, Resozialisierung und alle übrigen möglichen und auch notwendigen Arten und Funktionen staatlicher Zwangsmaßnahmen gegenüber Rechtsverletzungen nicht mit dem Sinn und der Funktion der Strafe verwechseln. Die Strafe kann mit Besserungs- und Resozialisierungsmaßnahmen verbunden werden (das ist eine Frage des Strafvollzugs, nicht des Strafbegriffs), aber sie kann nicht in ihnen bestehen. Zu solchen nichtstrafenden Zwangsmaßnahmen ist der Staat berechtigt, ja verpflichtet; seine Zwangsbefugnis geht in seiner Strafbefugnis nicht auf.49 Aber Strafe selbst kann allein Vergeltung des Verbrechens sein, zum Zweck der Wiederherstellung des Rechtszustandes. Wer davon Abschied nimmt50, vernichtet das Recht um einer empfindsamen Utopie der Menschenliebe willen, deren Hauptmangel darin besteht, daß sie keine Realität besitzt, mag sie auch noch so angenehm das Gemüt theilnehmender Seelenforscher erwärmen. Die im Gesetz enthaltene Strafandrohung kann abschreckende Wirkung haben, aber auch die Abschreckung kann weder Grund der Strafe noch Grund des Strafmaßes sein, weil sonst der Täter durch die Strafe bloß als Mittel zu einem in der empirischen Person eines anderen liegenden Zweck gebraucht und das heißt mißbraucht würde. Die einzige vernünftige Abschreckungsmöglichkeit kann in der Gerechtigkeit der angedrohten Strafe liegen, d. h. darin, daß das Übel, das auf die Tat folgt, die Lust aus der Tat durch die gleich bemessene Unlust aus der Strafe wieder aufhebt. Diese - gerecht bemessene — Drohung ist vernunftmöglich, sie ist die einzige aus bloßer Vernunft mögliche, aber sie ist freilich unter Bedingungen der Realität nicht immer wirksam, weil der Verbrecher in der Regel sein Verbrechen in der Hoffnung begeht, nicht erwischt zu werden. Diese Hoffnung zu täuschen und sie nach aller Möglichkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen ist aber, wie Ebbinghaus nicht ohne Spott feststellt, „eine Angelegenheit der Kriminalpolizei, nicht der Rechtsphilosophie"51. In der Tat dürfte es unter der Voraussetzung der
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Gerechtigkeit der angedrohten Strafe in Verbindung mit einer Verbrechens-Aufklärungsquote von 100% kaum wirklich zurechenbare Verbrechen geben.52 Damit ist nun auch das Problem des Strafmaßes thematisiert. Das absolute Vergeltungsstrafrecht lehrt mit der Korrespondenz von Tat und Strafe auch die Korrespondenz von Tatumfang und Strafmaß. Das vernünftig bestimmte principium talionis ergibt sowohl die Qualität der Strafe (als Vergeltung), als auch die Quantität (als Ausgleich). „Das ius talionis der Form nach" ist also noch immer „die einzige a priori bestimmende . . . Idee als Prinzip des Strafrechts".53 Nur unter der Voraussetzung, daß Strafe a priori eine der Straftat angemessene Vergeltung ist, nicht mehr, aber auch nicht weniger, kann vermieden werden, daß die Strafbemessung zum bloßen Privaturteil wird und daß also die Möglichkeit eines gesetzlich allgemeinen Freiheitswillens mit den Implikaten der Rechtssicherheit und der Rechtsgleichheit untergeht.54 VI.
Ein besonderes Problem der Kantischen Strafrechtslehre war seit ihrer Veröffentlichung die Verschiedenheit der Konsequenzen, die Kant aus dem rationalen principium talionis für die Kasuistik der Strafen gezogen hat. Schon die zeitgenössischen Wolffianer haben auf die Straftheorie der reinen, absoluten Vergeltung überaus nervös reagiert. Heinrich Stephani wirft Kant eine Neigung vor, auf „gut alttestamentlich" strafen zu wollen55 und führt diese vermeintliche Neigung kurzerhand auf die bekannte „morgenländische Rachsucht" zurück.56 Das Kantische Strafprinzip der Vergeltung ist für ihn identisch mit dem „alttestamentlichen Prinzip"57. Und bis zum heutigen Tag wird in genau der gleichen Weise immer wieder das Vernunftprinzip der Gleichheit in der Relation von Tatmaß und Strafmaß mit dem emotionalen Motiv der Rachgier, dem „Talionsatavismus", verwechselt bzw. identifiziert.58 Aber Strafe ist keine Rache; sie ist jenseits aller Emotion bloß die vernünftige Rechtsforderung der Angemessenheit der Rechtsfolge zur Tat. Es lohnt sich nicht, lange bei diesem Mißver-
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ständnis zu verweilen und es lohnte nicht einmal, es auch nur zu erwähnen, wenn sich nicht hinter diesen und ähnlichen Angriffen auf das Vergeltungsprinzip in Kants Straftheorie ein Hinweis auf einen möglichen Fehler in Kants Anwendung desselben verbergen würde, der seinerseits jenem Mißverständnis zugrundeliegen könnte. Es wird nämlich in diesen Angriffen der Kantischen Lehre vom formellen Talionsprinzip angelastet, was nur einem materiellen Gebrauch dieses Prinzips entgegengehalten werden könnte, — der allerdings, wie wir alsbald feststellen werden müssen, bei Kant ebenfalls auftritt. Kant fordert — richtig — Talion „der Form nach", aber er wendet das Talionsprinzip in der Kasuistik der Strafbemessung teilweise materiell an. Es ist daher, wie mir scheint, kein Zufall, daß immer wieder Kritik an Kants Lehre von der Todesstrafe und von der Strafe der Kastration geübt worden ist. Ich kann (anders als Ebbinghaus59) auch unter Kants eigenen Anwendungsvoraussetzungen nicht einsehen, weshalb einerseits für „Kindsmord" und „Kriegsgesellenmord" von der Todesstrafe abzusehen60, diese aber andererseits für „Hochverrath" zu fordern sei.61 Prinzipientheoretisch gleichrangige Ausnahmeregelungen für andere Arten vorsätzlicher Tötung von Menschen lassen sich unschwer finden; empirische Momente wie z. B. Entwicklungsphasen des Ehrbegriffs und des Ehrgefühls, überhaupt des „objektiven Geistes" einer Kaste, einer Bildungsschicht, eines ganzen Volkes, sind aber kein zureichender Grund für prinzipientheoretische Ausnahmeregelungen des Strafrechts, sondern nur empirisch bedingte Kompromisse einer philosophischen Rechtslehre mit dem bestehenden, positiv geltenden Recht und Rechtsbewußtsein. Und was den „Hochverrath" (und manchen „Abgrund von Landesverrat") betrifft, so wissen wir inzwischen recht gut, daß man mit dergleichen Kriminalterminologie alles mögliche, vor allem aber alles gegenüber dem Selbsterhaltungsinteresse von Machthabern und Machtkonstellationen gravierend widersprüchliche bezeichnen und — auf Leben und Tod — kriminalisieren kann. Gleichermaßen ist es selbst unter Kants eigenen Anwendungsvoraussetzungen des Vernunftprinzips der Strafe nicht einzusehen, weshalb einerseits der Sexualverbrecher aus prinzipiellen Strafgründen (nicht etwa zur Prävention oder um
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ihm zu helfen) kastriert werden muß,62 andererseits aber alle übrigen Arten von Körperverletzung nicht durch die entsprechenden Arten von Amputation bestraft werden sollen. Man kann zeigen, daß diese Probleme innerhalb der Kantischen Strafrechtslehre auf einem unvermerkten Widerspruch in dieser Lehre beruhen und daß also die — obgleich überwiegend emotional, humanitär, bzw. pragmatisch argumentierenden — zeitgenössischen und späteren Einwendungen gegen Kants (und Hegels) Strafrechtstheorie der Vergeltung auf einen rationalen Grund zurückgeführt werden können. Julius Ebbinghaus, der gewiß von niemandem im Verdachte leichtfertiger Kantkritik gehalten wird, hat im Zusammenhang seiner Erörterung des Problems der Todesstrafe eine Überlegung angestellt, die sich gegen die Möglichkeit physischer Schmerzverursachung zum Zwecke der Strafe wendet und, wie ich meine, in ihrer Konsequenz den richtigen Weg eröffnet, den freilich Ebbinghaus dann — wie schon Kant selbst — nicht gegangen ist. Aus dem Rechte der Menschheit in der Person des Bestraften folgt, „daß das physische Übel, mit dem die Staatsgewalt die Verbrechen bedroht, nicht in körperlichen Schmerzen bestehen kann". Es gibt zwischen diesen „und der äußeren Freiheit des Menschen . . . überhaupt kein mögliches gesetzliches Verhältnis". „Nun lehrt aber die Erfahrung, daß jede Freiheitsbeschränkung, der der Mensch durch einseitigen Zwang von seiten anderer Menschen unterworfen wird, die Ursache einer . . . Unlust für ihn ist. In der Möglichkeit dieser . . . Unlust ist nun aber die Möglichkeit einer Sicherung der Staatsbürger gegen Verbrechen im Einklänge mit dem möglichen Rechte der durch sie Bestraften gegeben"63, und damit auch in Einheit mit der Forderung der gerechten Wiederherstellung des verletzten Rechtszustandes. Nun ist es möglich und sinnvoll, diese Überlegung konsequent auch auf die Todesstrafe und die Kastrationsstrafe anzuwenden. Man sieht dann unmittelbar, daß sie, als Arten strafender Körperverletzung, darin bestehen, einen physischen Schmerz zuzufügen. Insofern aber stehen sie im Widerspruche zu einer vernunftrechtlich möglichen Theorie der Strafe. Und sie fallen dadurch zugleich aus dem übrigen Zusammenhang des Strafens bei Kant
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heraus.64 Der Grund dafür liegt darin, daß Kant hier das alte, buchstäbliche, nämlich materielle Talionsprinzip („Auge um Auge") anwendet, daß er also — wohl unter dem Eindruck der zeitgenössischen Strafpraxis — von seinem Prinzip der formellen Anwendung dieses Prinzips zur Strafmaßbestimmung abgewichen ist. Nur das letztere aber ist vernünftig. Man muß die vernunftnotwendige Vergeltung von Straftaten im öffentlichen Recht streng und ausschließlich auf die Form der Talion einschränken. Nur in dieser Einschränkung läßt sich das ius talionis mit dem Rechtsprinzip widerspruchsfrei verbinden; das rein vernünftige Rechtsprinzip des gesetzmäßigen äußeren Freiheitsgebrauchs beschränkt das Vergeltungsrecht auf seine bloß formelle Funktion: Die Möglichkeit des äußeren Freiheitsgebrauchs, d. h. die äußere Freiheit selbst, ist das Substrat des Rechtsprinzips. Sie ist, als bloßes reales Vermögen, die Bedingung des wirklichen rechtlichen oder rechtswidrigen Freiheitsgebrauches. Als Bedingung des wirklichen Gebrauchs der Willkürfreiheit und damit aller rechtlich überhaupt relevanten Akte steht aber die äußere Freiheit des Menschen als solche für die öffentliche Gerechtigkeit, auch für die Gerechtigkeit der Strafe, gar nicht zur Disposition. Nur die Nutzung dieser Freiheit, die Beliebigkeit der rechtlich relevanten Akte, d. h. die Freiheit einzelner Handlungen im Raum und in der Zeit, kann überhaupt für die öffentliche Strafgerechtigkeit disponibel werden. Strafe kann demnach unter vernünftigen Rechtsbedingungen nur Abbruch an Sachen (Geldstrafe) oder Freiheitsstrafe als fremdbestimmte Einschränkung der Verwirklichung von Handlungen in Raum und Zeit sein; sie kann nur entweder Gegenstände des Freiheitsgebrauchs betreffen oder als Festsetzung des Täters für längere oder kürzere Zeit und an einer Stelle im Raum, beides aber durch Nötigung gegen seinen Willen, also durch die nötigende gesetzmäßige Willkür anderer, welche Nötigung der Täter als Bürger in der Idee immer schon anerkannt hat, erfolgen. Niemals aber kann Strafe unter Vernunftbedingungen die teilweise oder vollständige Vernichtung dessen sein, unter dessen Voraussetzung allererst rechtliches Handeln, Straftat und Strafvollzug möglich sind, also der äußeren freien Willkür selbst. Es erscheint uns zwar begründetermaßen
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als ungerecht, daß der Mörder weiterlebt, denn er hat in der Tat durch den Mord sein Leben verwirkt. Dennoch darf der Staat es ihm nicht nehmen, weil sich die öffentlich-rechtliche Strafbefugnis nur innerhalb der Grenzen der äußeren Willkürfreiheit, nicht aber über diese hinaus erstreckt.65 Mit der Entfernung aller Reste eines materiellen Vergeltungsrechts aus der Straftheorie sind dann aber auch die letzten möglichen Einwände gegen das Vergeltungsprinzip der gerechten Strafe hinfällig. Das Vergeltungsprinzip selbst kann aus einer rationalen Rechtstheorie nicht eliminiert werden ohne Aufhebung des Begriffs der Strafe überhaupt, d. h. aber auch ohne Leugnung äußerer Freiheit und damit des möglichen Sinns aller Rechtsgesetzgebung. So gewiß aber das Prinzip materieller Talion vernunftwidrig ist, so gewiß ist überhaupt eine philosophische Kasuistik der öffentlichen Rechtsstrafen unmöglich. Es ist zwar eine alte Tendenz in der philosophischen Rechtslehre, die Grenze der philosophischen Möglichkeit zu überschreiten. Aber es zeigt sich dennoch auch immer wieder, daß es keine vernunfttheoretische Möglichkeit gibt, dem Gesetzgeber des positiven Rechts die Mühe und Not abzunehmen, die darin besteht, einen gerechten Bezug zwischen allen möglichen Arten von Straftaten und jenen Beschränkungen des äußeren Freiheitsgebrauchs, die allein unter öffentlichen Rechtsbedingungen als Strafen möglich sind, herzustellen. Es gibt ebensowenig eine vernünftige Möglichkeit für die Rechtsphilosophie, dem Strafrichter sein wenig beneidenswertes Geschäft abzunehmen, von der Exekutive gar nicht erst zu reden.66 Man muß also dem Strafrechtsgesetzgeber durchaus zumuten, Überlegungen darüber anzustellen und zu entscheiden, welcher Umfang von Freiheitsbeschränkung ohne lebenslängliche Körperverletzung bzw. -Vernichtung einer Straftat bzw. einer Art von Straftaten angemessen ist. Strafe ist „Abbruch der Freiheit"67, aber Abbruch im Sinne der Einschränkung, nicht im Sinne der Verminderung bzw. der Vernichtung. Für diese Einschränkung muß der Gesetzgeber einen „Umrechnungsmodus" finden, der die Tat in der vernünftig möglichen Sphäre der öffentlichrechtlichen Strafen „abbildet". Man kann über solche notwendige „Umrechnung" spotten68, aber kein vernünftiger Strafgesetz-
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geber hat jemals etwas anderes getan, als genau eine solche Umrechnung zwecks allgemeiner Festsetzung der Strafandrohung vorzunehmen, und kein vernünftiger Richter hat jemals etwas anderes getan, als diese allgemeine Umsetzung für den einzelnen Fall weiterzuführen und zu vollenden. Anmerkungen 1. Zu den Versuchen, diese Rechtslehre schon vor 1797 zu antizipieren, vgl. den Beitrag von W. Kersting in diesem Band; besser als die dort vorgestellten Autoren hat Johann Christian Gottlieb Schaumann in seinem Vorgriff auf die kritische Rechtslehre das Kantische Prinzip getroffen (Kritische Abhandlungen zur philosophischen Rechtslehre. Halle 1795, S. 186, § 32). 2. So verwirft schon Hegel Kants Ehelehre mit mehr Empörung als Argumentation, und ihm folgen, teils moralisierend, teils ästhetisierend, viele Kritiker, von J. E. Erdmann bis C. A. Emge, M. Scheler und R. Reininger. Zu den emotional bedingten Ablehnungen gesellt sich neuerdings die Gruppe derer, die sich der Auseinandersetzung mit den Argumenten dadurch enthoben glaubt, daß sie „gesellschaftliche Bedingungen" hervorhebt, wie z. B. M. Buhr, Immanuel Kant. Leipzig 1967, S. 142. Hilfreich sind dagegen die Untersuchungen von A. Hörn, Immanuel Kants ethisch-rechtliche Eheauffassung. Düsseldorf 1936; J. Ebbinghaus, Über den Grund der Notwendigkeit der Ehe. Blätter für Deutsche Philosophie, X, S. l -21 und 148-160 und 240-253; auch schon M. Kronenberg, Kant. München 51918, S. 254. 3. Hier haben sich in den letzten Jahren besonders unrühmlich hervorgetan E. Schmidhauser, Vom Sinn der Strafe. Göttingen 1963, R. Schmid und C. Nedelmann, Kritik der Strafrechtsreform. Frankfurt/M 1968, U. Klug, Abschied von Kant und Hegel. In: J. Baumann (Hrsg.), Programm für ein neues Strafgesetzbuch. Frankfurt/M 1968, S. 36-41, U. Klug, Phänomenologische Aspekte der Strafrechtsphilosophie von Kant und Hegel. In: Phänomenologie, Rechtsphilosophie, Jurisprudenz. Festschrift für Gerhart Husserl. Frankfurt/M 1969, S. 212-233. 4. Zur Darstellung des Strafrechtstheorems selbst vgl. den Beitrag von O. Hoffe in diesem Band, sowie die älteren Untersuchungen von M. Salomon, Kants Strafrecht in Beziehung zu seinem Staatsrecht. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 33. Bd., 1912, S. 1-34, und A. Dyroff, Zu Kants Strafrechtstheorie. In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 17, 1924, S. 351-373. 5. Vgl. Vf., Rechtsgeltung und Praxisgeltung. In: Lehrstücke der praktischen Philosophie und der Ästhetik, hrsg. von K. Bärthlein und G. Wolandt. Basel/ Stuttgart 1977, bes. S. 99-108. 6. Refl. 7160, XIX, 260. 19 f. Kantzitate im Folgenden unter Angabe von Band (römische Ziffer), Seite und Zeile (arabische Ziffern) nach der AkademieAusgabe. 7. XIX, 305. 12f. (Refl. 7297).
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V, 37. 22f. (Kritik der praktischen Vernunft, § 8). XXVII, 552. 21-31 (Metaphysik der Sitten Vigilantius). VI, 363. 32; vgl. auch XXVII, 552. 6f., sowie 552.37-553.3. IV, 433. 17f. (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). Vgl. hierzu auch W. Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus. Heidelberg 1917, S. 106ff. 13. XXVII, 150. 9f. (Praktische Philosophie Powalski). 14. XXVII, 286.13f. (Moralphilosophie Collins); vgl. auch XXVII, 1435 (Moral Mrongovius). 15. XXVII, 552. l f. (Metaphysik der Sitten Vigilantius). 16. Institutiones Juris Naturae & Gentium. Halle 1749, S. 48 (§ 93). 17. VI, 331. 21 (Metaphysik der Sitten, Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen . . . E); der Begriff der poena naturalis kann im Folgenden wegen seines bloß analogischen Charakters außer Acht gelassen werden. 18. V, 37. 34-37 (Kritik der praktischen Vernunft, § 8). 19. VI, 231-233. 20. G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie (Buchenau/ Cassirer) Bd. II, Leipzig 1906, S. 514. 21. So übrigens schon das altrömische Recht! Vgl. C. L. Michelet, Naturrecht oder Rechtsphilosophie als die praktische Philosophie, enthaltend Rechts-, Sitten- und Gesellschaftslehre. Bd. II, Berlin 1866, S. 329. 22. Philosophia practica universalis. 1738, § 235. 23. Initia philosophiae practicae. Halle 1760, § 65. Zitiert nach der AkademieAusgabe XIX, 33. 24. Prolegomena Juris Naturalis. Göttingen 1754, S. 90 (§ 99). 25. Johann Heinrich Tief trunk, Philosophische Untersuchungen über das Privatund öffentliche Recht. Bd. I, Halle 1797, S. 113. 26. G. S. A. Mellin, Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie. Bde. 1-6, 1797-1804, Artikel „Recht". 27. Vgl. XIX, 299 (Refl. 7270); ferner XXIII, 250. 16-18, 252. 5; XXVII, 578. Iff., 1334. Iff. 28. J. H. Tieftrunk, a.a.O., S. 115f. 29. VI, 232. 16f. 30. So ausdrücklich z.B. XXVII, 1333. 19f. (Naturrecht Feyerabend). 31. Kritische Abhandlungen zur philosophischen Rechtslehre. Halle 1795, S. 234 (Abh. XII, § 17). 32. Das reine Naturrecht. Königsberg 1795, S. 74 (§ 93). 33. XIX, 486. 6 (Refl. 7677). Kant steht hier in direktem Gegensatz zu Locke, der für den Naturzustand eine Strafbefugnis jedes Einzelnen gegen den, der ihm Unrecht tut, behauptet (Second Treatise of Government, §§ 7—13). Wie Locke übrigens auch noch 1795 Th. Schmalz, a.a.O. 34. Vgl. hierzu J. A. Bergk, Briefe über Immanuel Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Leipzig 1797, S. 218f. sowie J. H. Tieftrunk, a.a.O., Bd. II, Halle 1798, S. 427. Deutlich von Kant beeindruckt noch D. Th. A. Suabedissen, Die Grundzüge der philosophischen Tugend- und Rechtslehre, (posthum) Marburg 1839, S. 127: „Die Strafe ist ursprünglich recht; das Recht zu strafen ist also ein ursprüngliches. Der einzelne Mensch
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35. 36. 37. 38. 39. 40.
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aber, wie er den ändern Einzelnen gegenübersteht, ist nur besondrer Wille, und darf seinen besondern Willen nicht statt des allgemeinen Willens, des Rechtswillens, setzen. Er ist also nicht berechtigt, das Strafrecht auszuüben." VI, 209. 8-14. VI, 331. 7-11. J. H. Tieftrunk, a.a.O., Bd. II, Halle 1798, S. 427-430. VI, 362. 34f. VI, 331. 8f. Die Reichweite des Vergeltungsstrafrechts bei Kant. In: Schleswig-Holsteinische Anzeigen. Justizministerialblatt für Schleswig-Holstein. Ausgabe v. 15. 9. 1964, S. 203-211. A.a.O. S. 205. A.a.O. S. 208. Dig. 1,1,1,2 (Ulpian). G. Dulckeit, Römische Rechtsgeschichte. München und Berlin 1952, S. 54f. A.a.O., S. 58f. Zu dem ganzen Komplex vgl. auch P. F. Girard, Geschichte und System des römischen Rechts. Berlin 1908, S. 424ff. Ganz in diesem pragmatischen Sinne führt denn auch zu Kants Zeit der schon mehrfach genannte Theodor Schmalz die Bestimmung der Strafbarkeit von Handlungen auf Tunlichkeitserwägungen des Gesetzgebers zurück: „Da die gesetzgebende Gewalt es nicht rathsam finden wird, jede ihr nachtheilige Handlung auf das äußerste zu rächen: so wird sie einen Unterschied machen . . . zwischen . . . Criminal- und Civilverbrechen". Das natürliche Staatsrecht. Königsberg 21804, S. 84 (§ 151). VI, 331. 24f. Vgl. hierzu H. Wagner, Kritische Philosophie. Systematische und historische Abhandlungen, hrsg. v. K. Bärthlein und W. Flach. Würzburg 1980, S. 151. Im Gedanken der Vergeltung ist aber für Kant durchaus auch der Gedanke des Ausgleichs enthalten. Daß Vergeltung sei, fordert die Vernunft durch die Idee der Gerechtigkeit; wie Vergeltung sein soll, bestimmt dieselbe Vernunft: gerecht! Vgl. V, 37. 30-32; VI, 332. 11-15, sowie oben II. und im Folgenden die Überlegungen zum Strafmaß. Vgl. VI, 335. 8-35, bes. 17-22. Kant ist in diesem Punkte völlig klar: V, 37. 25-30. Der Täter muß „vorher strafbar befanden sein" (VI, 331. 29-31; Hervorhebung von mir), ehe gegebenenfalls Resozialisierungsmaßnahmen an die Strafmaßnahme angehängt werden. Es ist insofern nicht akzeptabel, wenn Chr. Ritter (Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen. Frankfurt/M. 1971, S. 179) behauptet, Kant sei in der „Metaphysik der Sitten" kein Anhänger eines reinen Vergeltungsstrafrechts gewesen. Aus der Zulässigkeit, andere Maßnahmen (zur Besserung, Sicherung usw.) mit der Strafe zu verknüpfen, folgt für Begriff und Begründung der Strafe und ihres Maßes keinerlei Einschränkung des reinen Gerechtigkeitsprinzips der Vergeltung. - Allen „relativen" Straftheorien liegt übrigens der Fehler der Verwechslung von staatlich-rechtlicher Zwangsbefugnis in genere und der speziellen Befugnis des Staates zum strafenden Zwang zugrunde. Vgl. hierzu die unter Anm. 3 genannten Autoren. Wenn man sieht, was U. Klug in seinen Abschiedsbeiträgen für Kantische Strafrechtslehre hält und
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durch welche Art von Argumenten er sie für widerlegbar hält, muß man staunen; hier hat einer das Kunststück fertiggebracht, sich von etwas zu verabschieden, das er noch gar nicht kennengelernt hat. Konsequent, wenngleich prinzipientheoretisch irrelevant, ist in dieser Hinsicht nur Klugs Gewährsmann H. Kelsen, der den Begriff der Gerechtigkeit für unbestimmt erklärt und ihn ganz aus der Rechtsbegründung ausschließt (Was ist Gerechtigkeit? Wien 1953). J. Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit. Bonn 1968, S. 28. Wie selbst ein Gegner der Vergeltungstheorie anerkennt: J. Baumann, Der Alternativ-Entwurf der Strafrechtslehrer — eine Strafrechtserweichung? In: J. Baumann (Hrsg.), Programm für ein neues Strafgesetzbuch. Frankfurt/M 1968, S. 129. VI, 363. 2-5; vgl. 332. 19. Zur Geschichte vgl. G. S. A. Meilin, a.a.O., Artikel „Strafe", Ziff. 3. Willkürlich strafen ist „dem Begriff einer Straf-Gerechtigkeit buchstäblich zuwider" (VI, 363. 15f.). Auch hier verbietet Kant ausdrücklich das empirisch-pragmatische Argument (VI, 363. 3f.), die „pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung" (III, 248, 7f. = B 373). Anmerkungen zu Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre. Erlangen 1797, S. 121. A.a.O., S. 117. A.a.O., S. 124. Exemplarisch diesbezüglich wieder die ganze Reihe der Autoren von Kelsen bis Klug; ausdrücklich so J. Baumann, Zur Diskussion um die Todesstrafe. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 46, 1960, S. 81. J. Ebbinghaus, a.a.O., S. 70-77. VI, 336. 2f. VI, 320. 18-21. VI, 363. 5-11. J. Ebbinghaus, a.a.O., S. 27; vgl. hierzu auch H. Wagner, a.a.O., S. 154f. Man muß nicht unterstellen, daß Kant ein Bewußtsein von der Verschiedenartigkeit seiner Anwendung des Talionsprinzips gehabt hat. Wenn er freilich im Falle des Mordes sagt: „Hat er aber gemordet, so muß er sterben. Es giebt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit" (VI, 333. 11-13, Hervorhebung von mir), so könnte man wohl fragen, „gibt es ein solches denn in anderen Straftaten?, und wenn dort, warum dann nicht hier?" In der Tat gibt Kant keinen zureichenden Vernunftgrund an, aus welchem in diesem Falle materielle Talion an die Stelle des ius talionis formale treten soll. Nur am Rande soll angemerkt werden, daß damit die Gefahr eines Justizmords, durch welchen der status civilis idealiter weit mehr verletzt wird, als durch das Weiterleben von 100 Mördern, ebenso vermieden ist wie eine Befugnis des Staates, Menschen zur Tätigkeit des Henkers zu zwingen, welche Befugnis ebenfalls mit dem Rechte der Menschheit in der Person eines jeden im Widerspruch stünde. Vgl. generell VIII, 369. 28f., sowie Vf., a.a.O., S. 108f. XXVII, 1333. 21 f. (Naturrecht Feyerabend).
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68. Es ist eher ein Argument gegen die vernünftige Urteilsfähigkeit eines Autors als gegen das Vergeltungsprinzip der Gerechtigkeit, wenn damit argumentiert wird, daß Tat und Strafe keine vergleichbaren Größen sind. Das tertium comparationis ist die Freiheit des äußeren Willkürgebrauchs.
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Die der Natur des Menschen einzig angemessene Republik des Ernst Gottlob Morgenbesser Die deutsche Aufklärung wird heute wieder entdeckt: als ein politisches Bewußtsein, das in manchen Inhalten der französischen und englischen Aufklärung vergleichbar ist. Dabei wird deutlich, daß nicht nur das geschichtliche Ereignis der Französischen Revolution die deutschen Intellektuellen fasziniert hat1; sondern es zeigt sich, daß sich bereits vor 1789 ein kritisches Bewußtsein auch in Deutschland eigenständig auszubilden begonnen hat2. Vieles davon ist durch die nachfolgenden reaktionären Geistesströmungen, vor allem der Romantik, in die Vergessenheit gedrängt worden3, vieles gilt es für unsere heutige kritische Zeit daher wieder zu entdecken. Wie in diesem Aufsatz die „Beyträge zum republikanischen Gesetzbuche" des Ernst Gottlob Morgenbesser4. 1. Der Autor und sein Werk Im Jahre 1798 erschien - höchstwahrscheinlich - ein Buch, in dem ein anonym bleibender Verfasser „Beyträge zum republikanischen Gesetzbuche enthalten in Anmerkungen zum allgemeinen Landrechte und zur allgemeinen Gerichtsordnung für die preußischen Staaten" vorlegte. Genaueres konnte ich (bisher) nicht herausfinden, da die Angaben in den Bücherverzeichnissen nicht übereinstimmen. So findet sich der Beleg für die oben gebrachte Aussage nur im „Gesamtkatalog der preußischen Bibliotheken", der ab 1932 in Berlin von der Preußischen Staatsbibliothek herausgegeben wurde; leider ist der Druckort nicht angegeben. Wilhelm Heinsius führt in seinem „Allgemeinen Bücher-Lexikon"5 den Titel an: „Beyträge zum republikanischen Gesetzbuche mit Anmerkungen zum preußischen Landrecht. Königslutter.
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Culemann. 1798". Daneben kennt Heinsius noch eine andere anonym erschienene Arbeit: „Beyträge zum republikanischen Gesetzbuch. Königsberg. Nicolovius. 1800". Dieses letztgenannte Buch erwähnt auch das „Bücher-Lexicon" von Christian Gottlob Kayser6, allerdings als „Beiträge zum republikanischen Gesetzbuche, mit Anmerkungen zum allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten. Königsberg 1800". Die Kaysersche Titelangabe findet sich ebenso im „Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700—1910", herausgegeben bzw. bearbeitet von Hilmar Schmuck und Willi Gorzny7, das zusätzlich ein weiteres Buch angibt, nämlich: „Beyträge zum republikanischen Gesetzbuche, enthalten in Anmerkungen zum allgemeinen Landrechte und zur allgemeinen Gerichtsordnung für die preußischen Staaten. 1800"; damit mit einem Titel, der dem oben als erstes (im Gesamtkatalog der preußischen Bibliotheken) angeführten entspricht, mit Ausnahme des Erscheinungsjahres (1800 statt wie oben — 1798). Doch gibt auch dieser Gesamtkatalog den Hinweis auf eine zweite Auflage (genauer: auf mehrere Neuauflagen, da „1798 u. ö." angegeben ist). Somit kann davon ausgegangen werden, daß ein Buch mit dem Titel „Beyträge zum republikanischen Gesetzbuche enthalten in Anmerkungen zum allgemeinen Landrechte und zur allgemeinen Gerichtsordnung für die preußischen Staaten" zumindest in zwei Auflagen, 1798 und 1800, erschienen ist, wobei die 2. Auflage in Königsberg bei Friedrich Nicolovius herauskam. Das letztere ist sicher: denn ein Exemplar dieses Buches befindet sich in der Bibliothek von Varahagen von Ense in Berlin, das mir zur Verfügung stand und auch den folgenden Ausführungen - zitiert mit der bloßen Seitenangabe — zugrundeliegt. Zusätzlich gibt dieses Exemplar handschriftlich als Verfasser an: „Vom Präsidenten Morgenbesser in Königsberg". Auch der Gesamtkatalog der preußischen Bibliotheken bringt den Hinweis: „s. Morgenbesser, Ernst Gottlob" (doch ist der betreffende Band nicht mehr erschienen). Überhaupt Einigkeit in der Verfasserfrage besteht in der Wissenschaft, seitdem Wilhelm Dorow in seinen (anonym herausgegebenen) „Denkschriften und Briefen zur Charakteristik der Welt und Litteratur"8 anläßlich eines Brie-
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fes von Beyme an Varnhagen v. Ense die Autorenschaft Morgenbessers offengelegt hat9. Nur Günther Bernert führt in seiner „Bibliographie" der Arbeiten zum ALR die Arbeit - im übrigen mit dem Titel „Beyträge zum republikanischen Gesetzbuch, mit Anmerkungen zum allgemeinen Landrecht und zur allgemeinen Gerichtsordnung für die preußischen Staaten. Königsberg 1800" — ohne Verfasser an10. Die Verwirrung um den bzw. die Titel des Buches hat die Wissenschaft dagegen auch nicht gelöst. Ernst v. Meier gibt an, daß das Buch von Morgenbesser in Königsberg „zweimal herausgegeben [worden sei], 1798 und in einer neuen Titelausgabe 1800"11; Fritz Valjavec nennt Morgenbesser als den Verfasser eines „Republikanischen Gesetzbuches" und der „Beiträge zu einem republikanischen Gesetzbuch. Königsberg 1800"12; Uwe-Jens Heuer spricht nur von zwei Auflagen (1798 und 1800), die mit gleichem Titel jeweils bei Nicolovius in Königsberg erschienen seien13. Fritz Fischer erwähnt nur „Morgenbessers berühmtes »republikanisches Gesetzbuch' von 1800", das bei Friedrich Nicolovius gedruckt worden sei14. Im übrigen spricht auch K. A. Varnhagen von Ense in seinen Tagebüchern — auf die sich viele andere Autoren beziehen — nur von „Beiträgen zum republikanischen Gesetzbuche" Morgenbessers, die in „Königsberg 1800 bei Nicolovius" erschienen seien15. Der Grund für diese Verwirrung dürfte in dem Schicksal des Buches liegen. Es wurde in Wien von der Zensur verboten, durfte aber in Königsberg unbeanstandet erscheinen16; was Varnhagen v. Ense bereits 1838 verwunderte, da er in seinen Tagebüchern im Zusammenhang mit einer Diskussion u. a. mit dem Hegelianer Eduard Gans dazu ausführte: „Vor dreißig Jahren wurde das harmlos in Preußen gedruckt und gar nicht beachtet; dergleichen Meinungen, wie dort ausgedrückt werden, waren damals ohne Belang, jetzt ist das anders, das Buch könnte nimmermehr gedruckt werden, denn der Inhalt fände Eingang, und die Regierung verbietet es daher"17. Ähnlich schrieb er am 13. Mai 1846: „Herr Professor Simson in Königsberg sendet mir das seltne Buch des Präsidenten Morgenbesser ,Beiträge zum republikanischen Gesetzbuche'. ..; merkwürdig, was damals gedruckt werden durfte!"18 Den (wahrscheinlichen) Grund für diese Seltenheit gab
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Varnhagen v. Ense am 20. September 1855 selbst an: „Auch die »Beiträge zum republikanischen Gesetzbuche', von Morgenbesser in Königsberg 1800 harmlos gedruckt, wurden dreißig Jahre später auf Befehl beseitigt, da freilich nur wenig Abdrücke noch übrig waren"19. Jedenfalls scheint die Beseitigungsaktion recht gut geklappt zu haben, da v. Meier 1908 feststellen mußte, daß das Buch „so gut wie verschollen", nur mehr auf der königlichen Bibliothek in Berlin und auf der in Königsberg (hier in einem Sammelbande) vorhanden sei20. - So erklärt sich die Verwirrung um den Titel der Schrift; nicht jeder, der von ihr spricht, hat wohl ein Exemplar in der Hand gehabt. Die gleiche Vermutung spricht v. Meier auch für die inhaltliche Beurteilung der „Beyträge" in der Wissenschaft (bis zu seiner Zeit, d. h. bis 1908) aus21. Er ist der erste, der eine (sechsseitige) Inhaltsübersicht über das Buch von Morgenbesser bringt, allerdings mit der Beurteilung, es sei eine „nicht nur radikale, sondern [eine] halbverrückte Schrift"22. In ähnlicher Richtung nennt Otto Tschirch — allerdings ohne Hinweis auf das Buch - Morgenbesser „einen seltsamen philosophischen Querkopf" im Umkreis von Kant23, Hermann Conrad charakterisiert die Schrift von Morgenbesser ohne jede nähere inhaltliche Erörterung als „unklar und verworren und kaum als ernsthafte Auseinandersetzung mit dem ALR zu werten"24. Damit wendet sich Conrad scharf gegen die Arbeit „Allgemeines Landrecht und Klassenkampf" des DDR-Rechtshistorikers Uwe-Jens Heuer, der der Morgenbesserschen Arbeit einen ganzen Unterabschnitt widmet, da er in ihr eine bürgerlich-demokratische Kritik am Feudalsystem, selbst Ansätze zu sozialistischen Gedanken sieht25. Auch für Fritz Valjavec vertritt Morgenbesser Anschauungen, die zwar nicht „sozialistisch" im eigentlichen modernen Sinn des Wortes, aber wohl als Ansätze dazu aufzufassen seien26; freilich auch ohne jede weitere Erörterung irgendeines Inhalts der Morgenbesserschen Arbeit. Insgesamt kann man sagen, daß trotz (oder muß es heißen: wegen) der ausführlichen Darstellung durch v. Meier und Heuer die „Beyträge zum republikanischen Gesetzbuche" des Ernst Gottlob Morgenbesser heute vergessen sind27, das Buch und/
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oder der Verfasser werden in den Darstellungen der deutschen Aufklärung in der Regel nicht genannt28. Von Bedeutung dafür dürfte sein, daß diese Arbeit 1798 und 1800 eben ohne Angabe seines Verfassers erschienen ist. Denn an sich ist Ernst Gottlob Morgenbesser ein auch heute (noch) bekannter Mann. Er wurde am 21. September 1755 in Breslau als Sohn eines Arztes (Dr. Michael Morgenbesser) geboren und studierte nach der Gymnasialzeit in Breslau Jura in Frankfurt a. O. und Halle a. d. S. (von 1774 bis 1777). Für einen Bürgerlichen machte er danach eine erstaunliche Beamtenkarriere: 1777 Auskultator bei der westpreußischen Regierung, 1778 Referendar, 1779 Assessor beim ostpreußischen Hofgericht, 1780 Hofgerichtsrat, 1782 Rat bei der ostpreußischen Regierung und seit 1783 Examinator perpetuus, 1786 Geheimer Justizrat, 1792 Tribunalrat. 1804 wurde Morgenbesser Direktor, 1809 Vizepräsident und 1819 Präsident des Königsberger Oberlandesgerichts, in der letztgenannten Stellung im übrigen Nachfolger des Kanzlers von Schrötter und der einzig Bürgerliche bis zum l. Weltkrieg. Er starb in Königsberg am 22. Juli 182429. Morgenbesser war — was selbst die Kritiker an seinem Buch zugeben — einer der ausgezeichnetsten Justizbeamten Preußens, ein„Beamter von ganz ungewöhnlicher Arbeitskraft und dabei frei von jedem Strebertum"30. Carl Friccius beurteilt ihn wie folgt: „Morgenbesser war einer der merkwürdigsten Männer seiner Zeit. An allgemeiner wissenschaftlicher Bildung kamen ihm wenige gleich und als Rechtsgelehrter ordnete sich ihm jeder unter. Damit verband er eine Arbeitskraft, Gründlichkeit und Vollständigkeit, daß jeder, welcher ihn kennen gelernt hat, zugesteht, einen zweiten Mann dieser Art nicht gefunden zu haben. . . Am größten aber steht Morgenbesser in seiner sittlichen Denkund Handlungsweise da, und Kant hat keinen treuem und würdigern Schüler gehabt. Das Ziel, was er sich als Pflicht steckte, konnte nur er erreichen und ihn davon abzuwenden, wäre eine Unmöglichkeit gewesen. Was er als Recht und Gerechtigkeit erkannte, machte er ohne alle Rücksicht geltend, keine Gefahr schreckte ihn. Er war streng und unerbittlich im Amte, am strengsten aber gegen sich selbst"31. Bekannt geworden ist Morgenbes-
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ser vor allem durch seine Mitarbeit am Reformwerk des Freiherrn vom Stein (1807). Als (damaliger) Regierungsdirektor bereitete er verschiedene Unterlagen für den Chef des preußischen Provinzialdepartments, den Minister Freiherr von Schrötter, vor — nämlich bezüglich Bauernreform, Organisierung der Munizipalverfassung, Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, Vereinigung aller Zweige der Justiz unter einem Department, Regulierung der Kriegsschäden32 — und leistete auf diese Weise (mittelbar) Vorarbeiten auch für Stein33. Viel Erfolg war freilich seinen oft als radikal eingeschätzten Vorschlägen nicht beschieden!34 Vielleicht lag darin der Grund, daß Morgenbesser 1817 die Aufforderung von Beymes, an Gesetzesreformen mitzuarbeiten, ablehnte, was Friccius mit den Worten kommentiert: „Zum Unglück Preußens lehnte es Morgenbesser aus Bescheidenheit beharrlich ab . . . Morgenbesser wäre in Jahr und Tag mit der großen Arbeit fertig geworden"35. Zu erwähnen ist noch, daß die meisten Autoren, die auf Morgenbessers Mitarbeit an der Steinschen Reform hinweisen, sein Buch nicht erwähnen; selbst Krollmann nennt in seinen biographischen Angaben Morgenbesser als Autor nicht. Auch hierfür ist wohl das anonyme Erscheinen als „Beyträge" der Grund. — An sonstigen Arbeiten Morgenbessers ist nichts bekannt. Die Vermutung von Meier, Morgenbesser sei auch der Verfasser des Artikels zur Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit in der Königsberger Zeitung vom 20. Oktober 1808 und der beiden in Königsberg 1808 bei Nicolovius anonym erschienenen, von Stein offiziell empfohlenen und verbreiteten Broschüren gegen die Patrimonialgerichtsbarkeit und gegen die Erbuntertänigkeit36, trifft nicht zu37. Allerdings hat v. Meier darin recht, daß sie inhaltlich durchaus zu den „Beyträgen zum republikanischen Gesetzbuche" passen; deren Inhalt es nun aufzuarbeiten und vorzustellen gilt. 2. Die wesentlichen Inhalte der republikanischen Staatsverfassung Über das Schicksal des Buches von Morgenbesser wurde bereits berichtet: Es wurde in Wien von der Zensur verboten, sonst von
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vielen als verrückt und radikal abgelehnt. Morgenbesser selbst gibt in dem „Vorbericht" als seine Absicht an, bloß „Betrachtungen" zum ALR und zur AGO vorzulegen, damit keine Kritik zu üben oder gar Verbesserungen vorzuschlagen, da diese beiden Gesetze „die vollkommensten und vollständigsten in ihrer Art" seien (S. III). Doch scheint die Wiener Zensur wohl mit Recht die Sprengkraft dieser „Anmerkungen" gesehen zu haben. Denn ganze Abschnitte der beiden Gesetze werden mit einem einzigen Satz aufgehoben (z. B. über den Adelsstand [S. 99], über die allgemeinen Familienrechte und -pflichten [S. 89]), überhaupt wird die „republikanische Staatsverfassung" gefordert, da sie „die einzige [sei], welche mit der Natur des Menschen übereinstimmt" (S. VII, ähnlich S. IV). Dabei vertraut Morgenbesser auf eine Reform von oben: „In einer gut organisierten Monarchie kann die Umwandlung in eine Republik am leichtesten erfolgen, vorausgesetzt, daß der Monarch mit vorzüglichen Geistesgaben ausgerüstet und republikanisch gesinnt ist" (S. V)38. „Am schwierigsten wäre die Reform einer sog. Republik in eine wahre Republik, weil dort der Aristokratismus herrscht, der unter allen Staatsverfassungen am weitesten vom Republikanismus entfernt ist" (S. VI). Die Einsetzung einer Republik durch revolutionäre Gewalt lehnt Morgenbesser ab, da dies „der Natur der Sache widerspricht, mithin unmöglich ist" (S. V)39, sieht dabei aber die Gefahr (und die Möglichkeit), daß „das Zeitalter der Revolutionen, d. h. das Recht der Gewalt sich seinem Ende [noch nicht] nähere": „Das menschliche Geschlecht wird so lange von ihr mit eisernem Zepter beherrscht werden, bis wir uns durch freiwillige Reformen zum Republikanismus erheben" (S. IV). Erst mit Errichtung der Republik kann das Reich der Gewalt sein Ende finden und der Frieden fixiert werden (S. IV)40. Im folgenden sollen einige Inhalte dieser republikanischen Staatsverfassung nachgezeichnet werden. Morgenbesser hat seine Rechts- und Staatsphilosophie — wie der Untertitel zeigt — in Anmerkungen zum ALR und AGO verpackt41. Er nennt den jeweiligen Paragraphen der Gesetzbücher und verfaßt dazu Anmerkungen, die oft nur aus einem Satz bestehen, der zustimmend oder ablehnend oder erklärend ist, oft aber sich auch über mehre-
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re Seiten erstreckt. Auch im philosophischen Gehalt bestehen Unterschiede; neben eher positiv rechtlichen Bestimmungen42 finden sich grundlegende philosophische Erörterungen über Staat und Recht, freilich in unterschiedlichem Zusammenhang (eben als Anmerkungen zu Bestimmungen des ALR oder der AGO) formuliert, weshalb es erforderlich ist, sie aus diesem Zusammenhang herauszunehmen und in einen philosophisch-systematischen Zusammenhang zu bringen. Für einige grundlegende Fragen soll dies nun versucht werden. Als hilfreich erweist sich dabei die Orientierung an der Philosophie von Immanuel Kant, die Morgenbesser sicherlich gekannt hat43, was gleichfalls gezeigt werden soll. 2.1. Die Republik als Staat der Freiheit Bereits der Inhalt des Republik-Begriffs Morgenbessers ist von Kant beeinflußt. Dies zeigt sich zunächst in der Abgrenzung der Republik zur „Despotie" (S. 14, 36, 44, 48), wie sie auch Kant vornimmt als Einteilung der Regierungsformen (als der Arten, wie ein Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht, wofür gleichgültig ist, ob einer, einige oder alle diese Herrschergewalt besitzen, also ob Autokratie, Aristokratie oder Demokratie vorliegt)44. Dabei gibt Kant als wesentliches Merkmal des Republikanismus an „das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden" im Unterschied zum Despotismus, wo der Gesetzgeber und die Regierung zusammenfallen und beide letztlich den Privatwillen des Regenten darstellen45. Doch meint Morgenbesser mit „Republik"/,,Republikanismus" mehr als bloß diese Trennung von Gesetzgebung und Exekutive (auf die noch einzugehen sein wird). Für ihn ist die Republik der Staat schlechthin, wie er von der Natur des Menschen her allein zu denken ist: „Der Staat oder die Republik ist die bürgerliche Gesellschaft der Menschen zur gemeinschaftlichen Sicherstellung der angebornen Freiheit" (S. 33). Denn „der Mensch wird frei und zur Freiheit geboren" (S. 9)46, und zwar in gleicher Weise (S. 17, 23, 42), und „in der Republik muß jeder frei sein,
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der frei sein will" (S. 59). Nur auf diejenigen Bedingungen darf seine Freiheit eingeschränkt werden, „unter welchen sie mit der Freiheit aller nach einem allgemeinen Gesetze bestehen kann" (S. X). Auch dies ist im wesentlichen Inhalt der Philosophie Kants, und zwar auch betreffend die „einzig rechtmäßige Verfassung, nämlich [die] einer reinen Republik", „welche allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht"46. Ausdrücklich kennzeichnet Kant die Kombination von „Gewalt mit Freiheit und Gesetz" — in Unterscheidung zu Anarchie, Despotismus und Barbarei — als „Republik" und fügt hinzu, daß nur diese Republik „eine wahre bürgerliche Verfassung genannt zu werden verdiene; wobei man . . . unter Republik nur einen Staat überhaupt versteht"47. 2.2. Die Republik als Verfassung der Menschheit Morgenbesser übernimmt für seine Republik einen weiteren Gedanken Kants, gibt ihm aber eine schärfere und damit auch explosivere Fassung. „In der Republik [wird] das ganze Menschengeschlecht als eine einzige Gesellschaft betrachtet" (S. 14), wodurch die Unterscheidung von innerstaatlichem Recht und Völkerrecht aufgehoben ist, das Völkerrecht wegfallen kann (S. 15). Dabei ist sich Morgenbesser bewußt, daß dieses „Ziel der Vereinigung des Menschengeschlechts in eine einzige bürgerliche Gesellschaft" noch weit entfernt ist: doch „darf der Menschenfreund dieses Ziel niemals aus dem Auge verlieren" (S. IV), muß in kleinen Schritten danach streben, dieses Ziel zu erreichen, indem z. B. eine große, mächtige und kultivierte, auch nach innen starke Nation dem Krieg nicht nur mit Worten, sondern auch in der Tat entsagt (S. IVf.). Im Hintergrund steht sicherlich die kantische Ableitung des „Weltbürgerrechts"48 aus der „Vernunftidee einer friedlichen, wenngleich noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden"49. Morgenbesser geht aber über Kant hinaus. Denn Kant erwähnt zwar im Zusammenhang mit „aller rechtlichen Verfassung" (und zwar unmittelbar vor der Darstellung der republikanischen Verfassung) auch das Weltbür-
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gerrecht, „so fern Menschen und Staaten . . . als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind"50, doch denkt er im ganzen mehr von einem Völkerrecht und damit von einem Recht der Staaten (in ihrer Mehrzahl) her51. Der Unterschied wird deutlich in der Behandlung der Fremden. Kant verlangt bloß „Hospitalität", d. h. ihr Recht, nicht feindselig behandelt zu werden; der Staat kann sie freilich „abweisen, wenn es ohne [ihren] Untergang geschehen kann"52. Morgenbesser dagegen verbietet jedes Abschieben über die Grenze: selbst „fremde Bettler, wenn sie sich nicht zurückbegeben wollen, muß die Republik erziehen und ernähren" (S. 111). Überhaupt müssen Fremde gesetzlich genauso behandelt werden wie Einheimische, eine Diskriminierung kann nur durch ein „unnatürliches Gesetz" (S. 16) versucht werden. Darin sieht Morgenbesser nur die Konsequenz aus dem Ansatz bei der Natur des Menschen. „Die Menschen, soviel derselben in jedem Augenblick vorhanden sind, gehören zu einem Geschlecht. Sie machen also in Rücksicht auf ihre Natur eine einzige Gesellschaft aus, wenn sie sich gleich in eine Menge bürgerlicher Gesellschaften verteilt haben" (S. 1). Morgenbessers Konzeption der Republik als der Vereinigung des gesamten Menschheitsgeschlechts verhindert die Ausbildung eines eigentlichen (Staats)Bürgerbegriffs53. Es gibt für ihn kein „Bürgerrecht" (S. 93), sondern nur das angeborene Recht eines jeden Menschen auf Freiheit und Gleichheit. Wenn Morgenbesser den Terminus „Bürger" verwendet, meint er damit nur „alle Einwohner des Staats, welche in einer Stadt ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben, oder, wenn sie gleich auf dem Lande wohnen, sich doch nicht mit dem unmittelbaren Betriebe des Ackerbaues und der Landwirtschaft beschäftigen" (S. 93). Morgenbesser zieht eine weitere Konsequenz. „Der Gesetzgeber muß immer die menschliche Natur vor Augen haben. Da diese, überall dieselbe, sich immer gleich bleibt, so ist die Allgemeingültigkeit eine notwendige Eigenschaft der Gesetze" (S. l f.). Es ist nicht denkbar, daß ein Volk etwas für Recht erklärt, das ein anderes für Unrecht hält: Dies meint jedenfalls Morgenbesser (S. 2), der auf diese Weise das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts und auch der Kulturunterschiede zu
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verkennen scheint, obwohl er andererseits (und damit schlicht widersprüchlich) im Zusammenhang mit dem Repräsentationsproblem ausführt: „Auch in Absicht der reinen [natürlichen] Gesetze lehrt die bisherige Erfahrung, wie sehr die Stimmen voneinander abweichen" (S. 12). Als einzig mögliche Quelle der Unterschiedenheit von Gesetzen anerkennt Morgenbesser die Tatsache, „daß gewisse Geschäfte, Veränderungen oder Umstände nur bei dem einen Volke, nur an einem Orte betrieben werden, sich ereignen oder vorhanden sind" (S. 2). Für diese besonderen Verhältnisse müssen „empirische Gesetze" — auch „positive Gesetze" genannt (S. 27) — auch nach den Regeln der Klugheit formuliert werden, was ihre Änderung nicht ausschließt, weshalb sie jeweils öffentlich verlautbart werden müssen (S. 3). An ihrer Allgemeingültigkeit ändert dies freilich nichts: Denn der Inhalt wird im wesentlichen „durch richtige Schlußfolgen aus den reinen Gesetzen" — die auch „natürliche Gesetze" genannt werden (S. 27) —, die die ursprünglichen Rechtsgrundsätze enthalten, unveränderlich sind und keiner Verlautbarung bedürfen, hergeleitet (S. 3)54. Immer sind es somit die „ursprünglichen Rechtsgrundsätze", die - unter Anwendung auch der Regeln der Klugheit — die Lösung des besonderen Rechtsproblems ergeben (S. 7f.)55. Besondere Provinzialverordnungen, Statuten einzelner Gemeinheiten und Gesellschaften, Observanzen fallen deshalb in der Republik notwendig weg (S. 6f.). 2.3. Die Republik als Rechtsstaat Für Kant ist die republikanische Staatsverfassung dadurch gekennzeichnet, daß „das Gesetz selbstherrschend ist"56. Morgenbesser übernimmt dieses Erfordernis und folgert daraus, daß gewohnheitsrechtliche Vorschriften nicht anerkannt werden können (S. 7). Wegen des gleichen Grundes kann die Republik keine Lehnsverfassung haben: nur der Staat im Rahmen der Gesetze (und innerhalb der Familie der Hausvater) können Herrschaft ausüben und - als Kehrseite - Schutz gewähren (S. 77). Genauer enthält jeder Staat nach Kant drei Gewalten in sich, durch die er „seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheits-
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gesetzen bildet und erhält"57: Die gesetzgebende Gewalt (die Kant auch als Herrschergewalt und Souveränität bezeichnet), die vollziehende Regierungsgewalt (die in der Republik nur „zufolge dem Gesetz" verwalten darf) und die rechtsprechende Gewalt (die einem jeden das Seine nach dem Gesetz zuerkennt)58. In der Republik, die deshalb von der Despotie zu unterscheiden ist, kann der Gesetzgeber weder Regierer noch Richter sein, kann auch der Regierer nicht Richter sein, sondern die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen — worüber noch zu handeln sein wird — und der Richter muß durch das Volk in freier Wahl bestimmt werden59. Auch Morgenbesser geht von der Notwendigkeit der Trennung dieser drei Gewalten aus. Sie besteht für ihn darin, „daß der Richter, als Richter, sich nicht anmaße, ein neues Gesetz zu machen, daß die Handlungen der exekutiven Gewalt vom Buchstaben des Gesetzes unter keinerlei Vorwand abweichen, und daß die gesetzgebende Versammlung sich niemals erlaube, statt eines Gesetzes eine Sentenz (Handlung der richterlichen Gewalt) oder gar ein Dekret (Handlung der exekutiven Gewalt) zu machen" (S. 19 f. Anm.). Wie bei Kant müssen auch in der Morgenbesserschen Republik die Richter gewählt werden (S. 110). Unterschiedlich wird nur die Frage der Staatsführung gelöst. Kant geht im Ergebnis (freilich ohne echte Begründung)59 von der Monarchie aus, Morgenbesser verlangt, daß die „Oberhäupter" der Republik (deren Zahl er nicht angibt) von und aus der gesetzgebenden Versammlung gewählt werden (S. 106), wobei jährlich wenigstens eines von ihnen durch Neuwahl ersetzt werden soll (S. 19 Anm.). Die Oberhäupter hören nicht auf, Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung zu sein, was Morgenbesser ausdrücklich mit der Gewaltentrennung für vereinbar erklärt (S. 20 Anm.). Ihnen gegenüber ist jedermann zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet (S. 20 Anm.). Sie selbst müssen ihre Amtshandlungen öffentlich vollziehen, zumindest — bei Gefahr im Verzüge oder nach der besonderen Natur der Sache — unmittelbar nachher öffentlich bekanntmachen und darüber Rechnung legen. Insgesamt sind sie ohne Ausnahme an die Gesetze gebunden — weshalb sie keine „Machtsprüche" fällen dürfen (S. 8f., 61) — und
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müssen ihre Amtshandlungen gegenüber jeder Beschwerde (auch von Privatpersonen), die bei irgendeinem Richter eingebracht wird, verantworten (S. 8, 20f.Anm., 106f.). Keinerlei Art der Benutzung des Staatsvermögens darf ihnen eingeräumt werden, sie erhalten ihre Besoldung wie alle anderen „Staatsdiener" (S. 107 f.), da der Staat überhaupt keine Dienstleistungen erzwingen (S. 62, 70), sondern nur freiwillige Dienste gegen Entgelt annehmen darf (S. 22, 94). Die Majestätsrechte stehen nicht den Oberhäuptern, sondern der gesetzgebenden Versammlung selbst zu (S. 106). 2.4. Die Republik als Reich bloß des Rechts Weitgehend unter Kantischem Einfluß60 stehen auch die Ausführungen Morgenbessers zur Republik bloß als eines „Reiches des Rechts" (S. VIII), was ausschließt, sie auf Religion oder auf Tugend zu gründen. Denn es liegt Morgenbesser fern, „ein politisches Märchen dichten zu wollen". Seine Republik „besteht aus Menschen, also aus tierischen Vernunftwesen; und sie soll auf dieser Erde . . ., nicht in einem Ideenlande errichtet werden" (S. VI). Deshalb ist davon auszugehen, daß der Kampf mit dem physischen und dem moralischen Bösen weiterhin Aufgabe der Republikaner bleiben wird; und dies bedeutet die Notwendigkeit einer Rechtsordnung, die mit Zwang verbunden ist (S. VIII, 24). Religiöse Gesinnung bzw. Tugend lassen sich aber nicht erzwingen (S. VIII, 83). Denn Religion ist „Herzenssache, Angelegenheit des inneren, nicht des äußeren Menschen" (S. 44), weshalb der äußere Zwang von vornherein fehlgehen muß. Die religiösen Inhalte sind darüber hinaus unmittelbar bezogen auf die Moral (vgl. S. 87f.): Gott will, daß der Mensch sich frei aus sich heraus für das Gute entscheidet und seine Pflichten erfüllt. Der Gläubige „findet [deshalb] in der Erfüllung seiner Pflicht die Erfüllung des Willens Gottes" (S. 45), und zwar nur, wenn er dabei moralisch gehandelt hat, d. h. die Pflicht um der Pflicht willen (und damit aus moralischer Gesinnung heraus) erfüllt hat (S. 47); andernfalls wird ihn „[sein] Gewissen verdammen" (S. 88). Die Religion hat somit
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keine eigenständige Bedeutung für den Inhalt oder die Qualität der moralischen Pflichten, sie ist nicht einmal Stütze der Moral (S. 88). Sondern diese (und nicht die Religion) stellt die höchste Sinnebene der menschlichen Freiheit in der Welt dar. Alles andere (z. B. die Auffassung von Pflichten gegenüber Gott selbst) ist Aberglauben, der in der Republik nicht geduldet werden kann, sondern ausgerottet werden muß, da er unausbleiblich zum Despotismus führt (S. 45). — Das zur Religion Ausgeführte gilt im wesentlichen auch für die Tugendpflichten, die die Bildung und Ausführung eines Willens verlangen, der auf die eigene Vollkommenheit und/oder die fremde Glückseligkeit gerichtet ist und dabei nicht nach irgendwelchen Vorteilen oder Vorlieben fragt, sondern in moralischer Gesinnung erfolgt (vgl. S. VIII). Die republikanischen Gesetze dürfen somit nur „solche Endzwecke aufstellen, zu deren Erreichung der Zwang erlaubt und möglich ist" (S. VIII). Sie dürfen sich nicht auf die innere Gesinnung beziehen, sondern nur auf äußere Handlungen (S. IX), dürfen in diesem Sinne nur „äußere Gesetze" (S. 11) sein. Genauer kann der Zwang nur auf ein Unterlassen (eine Verhinderung) solcher bestimmter äußerer Handlungen gerichtet werden: die „menschliche Natur" „verträgt keinen unmittelbaren Zwang zum Handeln" (S. 24). Es ist deshalb ein eitles Unternehmen, durch Zwang eine bestimmte Handlung hervorbringen zu wollen; die republikanischen Gesetze können nur alternativ anordnen, entweder in bestimmter äußerer Weise zu handeln oder z. B. für den Schaden, der dadurch nicht abgewendet wird, Ersatz zu leisten bzw. genauer: zuzulassen, daß Ersatz aus dem Vermögen genommen wird (S. 25, 90). Wichtiger als dieses Problem der Möglichkeit des Zwanges ist die Frage nach seiner Erlaubtheit, damit die Frage nach der Rechtlichkeit des Zwanges. Morgenbesser geht diesbezüglich von der jedem Menschen in gleicher Weise angeborenen Freiheit (vgl. S. 23) aus, wobei unter „Freiheit" nicht (nur) die den besonderen Neigungen und Vorlieben folgende Willkür zu verstehen ist, sondern auch und wesentlich die Fähigkeit und Bestimmung zur „inneren Gesetzgebung". „[Jeder] i s t . . . sein eigener Gesetzgeber. Die gesetzgebende Gewalt ist in dem angebornen Recht zur
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Freiheit enthalten. Vermöge derselben gibt sich der Mensch teils innere, teils äußere Gesetze" (S. 9). Die innere Gesetzgebung die die Mitmenschen nicht eigentlich berühren, sondern im wesentlichen auf die eigene Vervollkommnung gerichtet ist — ist unabhängig davon, ob der Betreffende in oder außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft lebt, sie wird in beiden Fällen „von einem jeden ausgeübt, so weit er dazu fähig ist, das heißt, so weit seine Vernunft tätig ist" (S. 9). Die äußere Gesetzgebung betrifft das Zusammenleben mit anderen Menschen. Da jeder Mensch das angeborene Recht auf Freiheit gegenüber jedem anderen hat, folgert Morgenbesser, daß auch diesem anderen und damit wechselseitig jedem ,,die Verbindlichkeit angeboren [ist], die Freiheit seines Nebenmenschen aufrecht zu erhalten" (S. 33, ebenso 9f., 19ff.). Dies kann nicht bedeuten, daß er die freie Selbstbestimmung, diese innere und äußere Gesetzgebung, des anderen vorwegnehmen dürfte oder könnte: immer muß dieser andere selbst seine Freiheit verwirklichen. Möglich und geboten ist nur die „Sicherstellung" der fremden Freiheit (S. X, 10), damit die Schaffung der äußeren Voraussetzungen bzw. das Beiseiteräumen der äußeren Hindernisse, um dem anderen seine freiheitliche Selbstverwirklichung zu ermöglichen. Ein weiterer Schritt ist für Morgenbesser erforderlich, um diese Pflicht zur Sicherstellung der fremden Freiheit zu erfüllen. Es muß ein Zustand geschaffen werden, in dem Gewähr dafür besteht, daß die fremde (aber auch die eigene) Freiheit sichergestellt ist. Im „außerbürgerlichen Zustande" kann keiner dem anderen diese Gewähr leisten; „so entsteht daraus die Notwendigkeit des bürgerlichen Vereins" (S. 33f.), die Pflicht eines jeden, sich mit jedem anderen „zur bürgerlichen Gesellschaft zu vereinigen" (S. 10) oder — wenn man die damalige vor-Hegelische-Terminologie berücksichtigt, die noch nicht zwischen „bürgerlicher Gesellschaft" und „Staat" unterscheidet (vgl. S. 7,33)61 — in einen Staatsverband zu treten. Diesen Übergang vom außerbürgerlichen zum bürgerlichen (staatlichen) Zustande stellt sich Morgenbesser — hier im Gegensatz zu Kant62 — als ein tatsächliches geschichtliches Geschehen vor. Die Menschen vereinigen sich (wohl durch Abschluß eines
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Vertrages, was bei Morgenbesser selbst nicht ausdrücklich formuliert ist) zur bürgerlichen Gesellschaft (zum Staat) oder treten in eine bereits bestehende bürgerliche Gesellschaft (einen bestehenden Staat) ein (S. 18f.). Jeder bringt dabei „seine Persönlichkeit, das heißt: sein angebornes Recht zur Freiheit" (S. 34), damit das ,,angeborne Recht, sich selbst, auch die äußeren, Gesetze vorzuschreiben" (S. 10) — weshalb er im Staat als Person anzuerkennen ist (S. 34) -, aber auch z. B. sein Eigentum mit (S. 18). Morgenbesser kennt sogar Gesetze für diesen außerbürgerlichen Zustand, die durch die „Stiftung des Staates" nicht berührt werden, sondern der bürgerlichen (staatlichen) Sphäre entzogen bleiben: nämlich die Gesetze innerhalb der Familie, der familiären Gesellschaft (S. 27f.)63. „Durch den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft macht sich jedermann anheischig, die Freiheit jedermanns neben seiner eigenen aufrechtzuerhalten" (S. 19 f.). Genauer bedeutet dies die Verpflichtung eines jeden, dem Staat soviel von seinem Privateigentum zu überlassen, als dieser zur Erreichung dieser Sicherstellung der gemeinsamen Freiheit benötigt, jeden abzuhalten, die öffentliche Sicherheit zu verletzen (S. 21), vor allem aber darauf zu achten, mit keiner Handlung die Freiheit des anderen zu verletzen. Es bedarf dazu einer gegenseitigen Abstimmung der Menschen (der Mitglieder dieser Gesellschaft, dieses Staates), bringt doch jeder sein Recht auf äußere Gesetzgebung mit. Nur solche Handlungen dürfen damit gesetzt werden, die mit der Freiheit aller vereinbar sind (S. VIII), die im Sinne eines „allgemeinen Gesetzes der Freiheit" (und das ist: des „Sittengesetzes" selbst) möglich sind (S. VIII). Andererseits hat jeder zur Setzung solcher Handlungen auch das Recht, sie dürfen ihm von Rechts wegen nicht mit Zwang verboten werden. Somit wird das angeborene Recht auf Freiheit eines jeden nur „so weit eingeschränkt, als zum gleichmäßigen Genuß der Freiheit aller im Staate lebenden Menschen erforderlich ist" (S. 16 f., 21 Anm. 59), „als zur wechselseitigen Aufrechterhaltung der Freiheit und Gleichheit erforderlich ist" (S. 42); oder mit anderen Worten: „Der einzige Endzweck des Staats ist die Sicherstellung des gemeinschaftlichen Genusses der angeborenen Freiheit, also jedem Individuo die Gewähr zu
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leisten, daß seine Freiheit auf diejenigen Bedingungen eingeschränkt werde, unter welchen sie mit der Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze bestehen kann. Diese Gewähr kann nur durch gemeinschaftliche Beobachtung des Sittengesetzes geleistet werden. Also muß jedes Gesetz im republikanischen Codex und jedes Regierungsmittel in der Republik, nach den Gesetzen der Logik, auf das Sittengesetz zurückgeführt werden können" (S. X)64. Auch damit ist klargestellt, daß bloß unmoralische oder schändliche Handlungen nicht Gegenstand der Gesetze der Republik als des Reiches bloß des Rechts sein können. Noch mehr: Die Person hat sogar das Recht zu bloß willkürlichen Handlungen, sie darf jedes ihrer Rechte durchaus willkürlich ausüben, soferne sie damit nicht andere Willkür bzw. dem Recht eines anderen auf Willkür zuwiderhandelt (S. 31, 66). Das Recht dürfen das Motiv und die Gesinnung des Handelnden nicht interessieren (S. 41). Erforderlich ist die Verletzung eines Rechtes eines Nebenmenschen im angegebenen Sinne (vgl. S. 23). Deshalb dürfen sich die republikanischen Gesetze — da sie anderenfalls in den Despotismus umschlagen würden - nicht kümmern um die Pflichten bloß gegen sich selbst (S. 43), um die Verschwendung des eigenen Vermögens (S. 351), um den unehelichen Geschlechtsverkehr (S. 84): Dabei handelt es sich bloß um Inhalte von Tugendpflichten. Die Gesetze dürfen aus demselben Grund nicht Wohltätigkeit verlangen (S. 48) oder die Pflicht aufstellen, durch eigenen Fleiß die schädlichen Folgen gesetzwidriger Handlungen eines anderen zu vermindern oder zu verhüten (S. 51). Morgenbesser muß daher auch den bekannten § 67 des zweiten Titels des zweiten Teils des ALR („eine gesunde Mutter ist ihr Kind selbst zu säugen verpflichtet") ablehnen: „Die Natur treibt die Mutter, ihr Kind selbst zu säugen, und die Mutter, die diesen Trieb unterdrückt, kann für tugendhaft nicht gehalten werden. Aber eine Rechtspflicht dazu ist nicht vorhanden" (S. 87). — Ebensowenig dürfen die republikanischen Gesetze auf Inhalte irgendeiner Religion abstellen. Für das Eherecht müssen etwa die Schließung der Ehe, die Verhältnisse der Partner und die Frage der Auflösung der Ehe rein weltliche Probleme sein, was entge-
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gen den Vorschriften des ALR bedeutet, daß die Witwer ohne Wartezeit eine neue Ehe eingehen dürfen (S. 81), daß auch der Partner des Ehebruchs geheiratet werden darf (S. 81), daß eine Ehe auch zwischen Juden und Christen zulässig ist (S. 81) und — vor allem - daß jede Ehe geschieden werden darf, da nur das Tugendgesetz gebietet, die Ehe bloß durch den Tod trennen zu lassen (S. 83). Gleiches gilt für die Versorgung der Toten: Das Begräbnis ist durch „Polizeibedienstete" auf staatlichen Friedhöfen durchzuführen (S. 104). Ferner gibt es in der Republik „keine andere Glocken als die Sturmglocken, die unter der Aufsicht der Obrigkeit stehen" (S. 103); „öffentliche Bet-, Dank- und Festtage kann der republikanische Staat nicht anordnen" (S. 103). Er darf auch nicht berücksichtigen, ob jemand seine Bürgerpflicht aus religiösen Gründen nicht erfüllen will (S. 44, 101): dem Betreffenden bleibt nur das Recht auszuwandern (S. 101). Die (und zwar unterschiedslos: alle) Religionsgesellschaften überhaupt sind bloß geduldete Gesellschaften (S. 102), denen — mit Ausnahme des unter Aufsicht der Polizei stehenden öffentlichen Gottesdienstes65 — keinerlei „öffentliche Religionsübung" bewilligt werden darf (S. 101 ff.). Kein Geistlicher darf sich in die Führung der Staatsgeschäfte einmischen (S. 130). Schließlich dürfen die republikanischen Gesetze nicht auf Aberglauben abstellen, weshalb die Ablegung von Eiden66 (S. 45) und Gelübden (S. 47) unzulässig ist. — Andererseits ist zu bedenken, daß der religiöse Glaube eines Menschen keinerlei Bedeutung für seine Rechte im Staat haben darf. Selbst Atheisten sind als vollwertige Mitglieder des Staates anzuerkennen, soferne sie seinen Gesetzen gehorchen (S. 115). Die Beschränkung des republikanischen Staates auf das Reich des Rechts führt für Morgenbesser zu einer weiteren, im übrigen auch von Kant 67 gezogenen Konsequenz. Der Staat darf nicht patriarchalisch für das Wohl seiner Bürger sorgen wollen. Denn „in der Republik besteht das Wohl. .. lediglich in der wechselseitigen Aufrechterhaltung der angebornen Freiheit der Menschen" (S. 19 Anm.). Deshalb ist eine Kollision des gemeinschaftlichen Wohls mit den Vorteilen und Rechten der einzelnen Mitglieder des Staates nicht denkbar: „Jedermann befördert nur dadurch
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seinen Vorteil, daß er das gemeinschaftliche Wohl befördert, und wer diesem sein Privatinteresse vorzuziehen gedächte, würde eben dadurch seinen eigenen Nachteil unausbleiblich befördern" (S. 22). 2.5. Die Republik als Sozialstaat Über die Rechts- und Staatslehre Kants hinaus geht Morgenbesser in seinen „Beyträgen", indem er das Recht des einzelnen auf bestimmte positive Handlungen des Staates anerkennt. Im System Kants dagegen gibt es — neben dem Recht auf negative Freiheit (d. h. dem Recht, in seiner Freiheit nicht eingeschränkt zu werden) — nur ein einziges „Recht auf (etwas)", nämlich das angeborene Recht des Kindes auf Versorgung und Erziehung durch die Eltern, dem die entsprechende Pflicht der Eltern entspricht68. Morgenbesser lehnt diese besondere Pflicht der Eltern ab. „Denn in Rücksicht auf die Eltern ist die Geburt des Kindes der Erfolg einer Befriedigung des Naturtriebes. Insofern dabei keine Rechtspflicht verletzt wird, kann sie der Entstehungsgrund besonderer Pflichten nicht sein. Aber auch ebensowenig der Entstehungsgrund besonderer Rechte. Das Kind ist kein Gemächsel der Eltern, worauf ihnen Rechte zustehen. Der Mensch, sobald er geboren ist, gehört außer sich selbst keinem an" (S. 85 f.). Doch darf diese Ablehnung der besonderen Elternpflicht nicht mißverstanden werden. Denn Morgenbesser fährt fort: Das Kind „empfängt durch Unterhalt und Erziehung bloß das, was ihm als Mensch gebührt, und was er, sobald seine Kräfte es erlauben, seinen unerzogenen Nebenmenschen wieder zu leisten verpflichtet ist" (S. 86). Somit lehnt Morgenbesser die Elternpflicht bloß als eine besondere und ausschließliche ab. Eigentlich gilt die Pflicht zur Versorgung und Erziehung eines Kindes für jeden Menschen. „Dem Menschen ist das Recht zur Freiheit angeboren. Jedem Menschen muß also auch die Pflicht angeboren sein, seinem Nebenmenschen, dessen körperliche und Verstandeskräfte noch nicht so weit entwickelt sind, um von seinem angebornen Recht Gebrauch zu machen, so lange zu ernähren und zu erziehen, bis diese Entwicklung erfolgt ist" (S. 85).
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Morgenbesser zieht eine radikale Konsequenz. „Da . . . eine Pflicht, welche allen Menschen gleichmäßig obliegt, in der Ausführung nur allzuoft vernachlässigt werden würde, so gehört es zum Wesen des bürgerlichen Vereins, daß der Staat die Sorge für den Unterhalt und die Erziehung der Kinder übernimmt" (S. 86). Genauer: „Durch den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft hat jeder seinen Anteil an der allgemeinen Menschenpflicht zur Erziehung und Unterhaltung der Kinder auf den Staat übertragen" (S. 86f.); jeder, d. h. auch und gerade auch die Eltern des Kindes. Ihnen kann der Staat die Ausübung der (staalich, besser: staatlich gewordenen) Pflicht übertragen, er kann ihnen auch die Befugnis zur Erziehung verleihen (S. 86f.)69. Doch sind die Eltern dazu nicht im Rechtssinn verpflichtet; sie dürfen ihr Kind jederzeit dem Staat zum Unterhalt und zur Erziehung übergeben, ohne zu den Kosten irgendeinen Beitrag leisten zu müssen (S. 87). Noch weniger sind die anderen Erwachsenen rechtlich verpflichtet. Nur als Tugendpflicht kann die dem Menschen angeborene Pflicht, seinem Nebenmenschen zur Entwicklung der Freiheit zu verhelfen, anerkannt werden70, die insoweit die Eltern in größerem Maße betrifft als die anderen (S. 87). Jedenfalls hat der Staat die Pflicht, öffentliche Schulen einzurichten und zu unterhalten (S. 105). Privatschulen sind nicht zulässig, sondern alle Schulen ohne Ausnahme gehören zu den „Polizei-Anstalten" (S. 105)71. Unterrichtet werden darf — neben den sachlichen Wissensgebieten — nur Rechts- und Tugendlehre: „Man lehre die Kinder, daß sie ihre Pflicht deshalb ausüben müssen, weil ihr Gewissen sie sonst verdammen würde, und man überlasse es dem aus dem Erziehungszustande herausgegangenen Menschen, ob und was für eine Religion er sich bilden wolle" (S. 88). Das Recht auf Erziehung gegenüber dem Staat haben nicht nur die Kinder, sondern hat jeder, der unfähig ist, den Zweck seines Daseins — ein Leben in und aus Freiheit - zu erfüllen (S. 18), also auch jeder Erwachsene, der durch den Mißbrauch seiner Rechte (S. 32), vor allem durch Begehung eines Verbrechens (S. 5f., 26, 42) in den (moralischen) „Erziehungszustand" zurückgefallen ist. Der Staat ist verpflichtet, ihn „zum Gebrauch
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der Freiheit zu erziehen" (S. 43), was für einen Verbrecher heißt, ihn zu bessern (S. 112ff.)72. Bis dieses Ziel erreicht ist bzw. bis zumindest aufgrund bestimmter Tatsachen angenommen werden kann, daß der Betreffende nun seine Freiheit angemessen wird gebrauchen können, wird sein Recht auf Freiheit eingeschränkt (S. 10, 26), dahingehend, daß er den erforderlichen staatlichen Erziehungsmaßnahmen, u. U. auch in einer Strafanstalt, unterworfen werden darf. Die Morgenbessersche Republik ist aber nicht nur Erziehungsstaat, sie übernimmt auch - hierin ebenfalls über die Kantische Lehre hinausgehend73 - die Verpflichtung, für das leibliche Wohl aller Menschen zu sorgen (S. 36). Der Staat „muß einen jeden ernähren, der sich nicht selbst ernähren kann und den seine Eltern, Ehegatten oder Brotherrschaft nicht ernähren will oder kann" (S. 111)74. Überhaupt muß er sich um die Armen besonders kümmern. Brennt einem Bauern z. B. sein Haus ab, muß der Staat es wieder aufbauen lassen, falls der Betroffene zu arm dazu ist (S. 61). Auch soll den Armen der Zugang zu Gericht durch Verzicht auf die Gerichtsgebühren erleichtert werden (S. 109, 126, 143). Freilich braucht der Staat für die Erfüllung dieser Pflichten Geld. Diesbezüglich sind in der Republik nach Morgenbesser Abgaben und Zölle nicht zulässig (S. 107, 109), auch Straßen, Brücken, Dämme, Fähren, die nur staatliche sein können, dürfen kostenfrei benützt werden (S. 108f.). Ebensowenig hilft der Geldverkehr: denn die Ausgabe von Papiergeld führt immer zum Despotismus, „kann also kein republikanisches Produkt sein" (S. 36), die Münzen müssen genau ihrem Metallwert entsprechen (S. 73). Einnahmequellen des Staates sind deshalb bloß einmal die verhängten Geldstrafen, die nur ihm gehören (S. 93, 108), dann Zahlungen im Zusammenhang mit der Regelung des Eigentums in der Republik, auf die nun einzugehen ist. 2.6. Die Republik als sozialistischer Staat Diese von Morgenbesser für seine Republik abgeleitete Regelung des Privateigentums (und des Erbrechts) ist der Inhalt des Buches, der seinem Verfasser sowohl den Vorwurf der Radikali-
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tat als auch das Interesse des marxistischen Rechtshistorikers Heuer eingetragen hat. In der Tat entfernt sich Morgenbesser in diesen Passagen am weitesten von Kant75. Anzuknüpfen ist dabei an den Eintritt der Menschen in die bürgerliche Gesellschaft (in den Staat), der eine wesentliche Konsequenz hat: „Das Land, welches sie bewohnen, [wird] mit allem, was darin enthalten ist, das Eigentum des Staates, dergestalt daß jeder Mensch sein besonderes Eigentum vom Staate erwerben muß" (S. 17 f.). Daraus folgt: „Alles Grundeigentum gehört dem Staat. Er überläßt solches den Einwohnern teils für ein gewisses Kaufgeld eigentümlich, teils pachts-, teils erbpachts-76, teils erbzinsweise, zum Teil läßt er es administrieren. Alles, was hierdurch erworben wird, fließt in die Staatskasse, über deren Einnahme und Ausgabe jährlich dem Volke Rechnung abgelegt werden muß" (S. 107, 61). Allerdings macht Morgenbesser selbst eine Einschränkung. Er verlangt nämlich, daß ein jeder, der in die bürgerliche Gesellschaft tritt oder in selbiger geboren wird, von dem Staat bei demjenigen Eigentum geschützt wird, welches er in die Gesellschaft mitbringt (S. 18). Es wurde schon erwähnt, daß dahinter die Auffassung eines geschichtlichen tatsächlichen Überganges vom nicht-bürgerlichen in den bürgerlichen Zustand, die These von einem tatsächlich geschlossenen Gesellschafts(staats)vertrag steht. So anerkennt Morgenbesser durchaus ein vom Staat verliehenes oder beim Eintritt in den Staatsverband mitgebrachtes Privateigentum an Grund und Boden; und zwar ausdrücklich in unterschiedlichem Ausmaß. Insofern hat das angeborene Recht auf Gleichheit eine Grenze, da „durch den bürgerlichen Verein keine solche Gemeinschaft des Bodens gestiftet wird, die einem jeden Mitglied der Gesellschaft einen gleich großen Anteil gewährt" (S. 18). Doch anerkennt Morgenbesser diese (unterschiedlichen) Eigentumsrechte nur für die Lebenszeit des betreffenden Menschen. „In der Republik gehen die Rechte, welche zum freien Eigentum gerechnet werden, mit dem Tode des Besitzers auf andere nicht über, sondern fallen in das Gesamteigentum, also an den Staat zurück" (S. 28 f.) (was für Ehegatten, die in notwendi-
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ger Gütergemeinschaft leben [S. 81], erst nach dem Tode beider geschieht [S. 65, 83]). Da diese Abschaffung des Erbrechts wohl die berühmt-berüchtigste These Morgenbessers ist77, sei seine Begründung vollständig angeführt: „Die menschliche Natur weiß nichts von einer Wirkung nach dem Tode, von einer Befugnis des Eigentümers durch seine Handlung (Testaments- und VertragsErbfolge) oder Unterlassung (Intestat-Erbfolge) diejenigen zu bestimmen, auf welche sein Eigentum durch seinen Tod übergehen soll. Auch durch den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft kann ein solches Recht nicht begründet werden. Denn die Republik ist eine Gesellschaft von Menschen, die auf einander wirken78, und zwar nicht als bloße Körper, sondern als körperliche Vernunftwesen. Ein Leichnam wirkt als bloßer Körper; in der Reihe der Vernunftwesen ist er durch den Tod vernichtet; die Lebenden können also keiner solchen Wirkung unterworfen sein, die das Dasein eines Vernunftwesens voraussetzt. Auch läßt sich ein empirisches Gesetz, wodurch das Erbschaftsrecht eingeführt würde, auf das Sittengesetz nicht zurückführen. Die Intestat- und die notwendige testamentarische Erbfolge sowie diejenige freiwillig testamentarische und diejenige Verträge-Erbfolge, welche sich auf noch nicht existierende Menschen erstrecken, verletzen die angeborne Gleichheit der Menschen, indem sie den einen mit Vorrechten geboren werden lassen, die dem anderen fehlen. Alle Arten von Erbfolge widersprechen dem Sittengesetz auch in der Rücksicht, daß sie den Müßiggang privilegieren. Nach dem Sittengesetz dürfen nur diejenigen von fremdem Erwerb unterhalten werden, die nicht fähig sind, sich ihr Brot selbst zu verdienen; für diese aber muß der Staat sorgen. Jeder, der mit den erforderlichen physischen und moralischen Kräften begabt ist, muß für seinen Unterhalt selbst sorgen. Weist das empirische Gesetz gesunden Menschen Genuß ohne Arbeit an, so ist es um die republikanische Staatsverfassung geschehen! Das Erbschaftsrecht ist das Grab der Republik und die Wiege der Aristokratie, welche bekanntlich darauf beruht, da zu ernten, wo man nicht gesät hat" (S. 29f.). Man kann verstehen, welcher Sprengstoff für die Zeit Morgenbessers, die doch noch eine Zeit der Großgrundbesitzer war, in
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diesem Postulat der Abschaffung des Erbrechts lag. Darüber hinaus ließen sich seine näheren Ausführungen durchaus auch für unsere Zeit und für eine kapitalistische Wirtschafts- und Lebensweise fruchtbar machen. Man erinnere sich nur an seinen Satz: „Weist das empirische Gesetz gesunden Menschen Genuß ohne Arbeit an, so ist es um die republikanische Staatsverfassung geschehen!" (S. 30). Noch stärkere Bedeutung in diesem (modernen) Zusammenhang hat ein weiterer Inhalt der republikanischen Staatsverfassung im Sinne Morgenbessers: er lehnt die juristische (moralische) Persönlichkeit von Gesellschaften ab79. „In der Republik ist die bürgerliche Gesellschaft, welche den Staat ausmacht, die einzige moralische Person, außer welcher es keine andere geben kann noch darf. Die Gemeinheiten und Gesellschaften im Staate können also nicht als moralische Personen, sondern nur als Aggregate einzelner Menschen betrachtet und behandelt werden. Als solchen steht es ihnen allerdings frei, einen Gesellschaftsvertrag unter sich zu errichten, dem aber eine größere Wirksamkeit als die eines bloßen Vertrags nicht eingeräumt werden darf, der also in Rücksicht auf andere Menschen ohne alle Wirkung bleibt" (S. 7,120). Deshalb kann eine Gesellschaft auch kein Vermögen besitzen und keine Schulden machen (S. 91, 100f.). Dies gilt selbst für Städte und Gemeinden; auch sie können kein Vermögen erwerben oder besitzen (S. 59, 92, 94f.). 2.7. Die Republik als Demokratie So modern (vielleicht: sozialistisch) Morgenbesser in seiner Eigentums- und Erbrechtstheorie ist, so weit er sich dabei auch von Kant entfernt: so stark zeigt er sich wiederum in seiner Einschätzung der Demokratie von Kant beeinflußt. Zwar übernimmt Morgenbesser nicht die Gleichsetzung von Demokratie und Despotie durch Kant80, ganz im Gegenteil meint er, daß die „eigentlichen Demokratien der republikanischen Staatsverfassung am nächsten [kommen]" (S. VI)81. In diesem Sinne vertritt er auch den — im übrigen von Kant selbst formulierten, aber nicht widerspruchsfrei weitergedachten - Gedanken, daß die gesetzgebende Gewalt „nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen" könne82. Doch übernimmt Morgenbesser
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von Kant das Erfordernis der Selbständigkeit83: Nur wer keinen anderen als den Schutz und Befehl des Staates über sich erkennt, dürfe Anteil an der gesetzgebenden Gewalt nehmen; diejenigen Menschen — Morgenbesser verwendet die Kantische Gegenüberstellung von „aktivem Staatsbürger" und „passivem Schutzgenossen" nicht —, die auch unter dem Schutz und Befehl eines anderen stehen (alle Kinder und Minderjährigen, alle Frauen84, alle Geisteskranken, die Dienstboten, Lehrlinge und Gesellen, bloße Tagelöhner; darüber hinaus auch die Verbrecher oder die sonst in den Erziehungszustand zurückversetzten Erwachsenen), sind von der Mitwirkung an der gesetzgebenden Gewalt ausgeschlossen, da nicht sichergestellt werden kann, „daß ihre Stimme der bloße Nachhall der Stimmen ihrer Ernährer sei" (S. 11). Doch muß der letzteren Menschengruppe stets der Weg rechtlich offen stehen, sich in den Zustand der Selbständigkeit zu versetzen (S. 11). Sonst (also abgesehen von diesem Merkmal der Selbständigkeit/Unselbständigkeit) sind alle Menschen der Republik gleich, in gleicher Weise nur dem Gesetz unterworfen (S. 90f., 17, 23, 42) (weshalb es auch keine Gutsuntertänigkeit geben darf [S. 93]). Titel und Ränge, die Vorrechte begründen könnten, dürfen nicht geduldet werden (S. 99), ebensowenig Privilegien (S. 17). Die Geburt kann keine unterschiedliche Rechtsstellung begründen, es gibt keine Geburtsstände (S. 23, 56, 60, 99, 116) und keine allgemeinen Familienrechte oder -pflichten (S. 89). Nur die Verschiedenheit des Erwerbs — für den im übrigen notwendig Gewerbefreiheit gilt (S. 37, 78f., 96ff.)85 — kann zu verschiedenen Ständen führen: doch entsteht daraus nur „eine Verschiedenheit der Lebensart, aber keine Verschiedenheit der Rechte" (S. 23). Überhaupt darf es — die oftmalige Wiederholung zeigt, daß dies zentrales Anliegen Morgenbessers war — zu keiner Ausbildung eines „Staates im Staat" kommen. Deshalb dürfen Religionsgesellschaften (S. 44, 101), aber auch weltliche Gesellschaften (S. 6f., 91) keine verbindlichen Statuten erlassen. Auch „privilegierte Gesellschaften" sind aus diesem Grunde unzulässig (S. 90), ebenso „ein Stand, dessen notwendiges Erfordernis die Ehelosigkeit ist" (was überdies der menschlichen Natur
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widerspricht) (S. 45)86. In gleiche Richtung weist das Verbot der akademischen und der patrimonialen Gerichtsbarkeit (S. 106, 132)87. Nur im Namen des Volkes darf Recht gesetzt und gesprochen werden; welche Forderung dadurch gesichert ist, daß nicht nur die Oberhäupter der Republik — wie bereits erwähnt - von der gesetzgebenden Versammlung, sondern auch der Magistrat (S. 94), die Schulzen und Schöffen (S. 92), die Richter (S. 110), sogar die Lehrer in den Schulen (S. 105) jeweils von der Gemeinde zu wählen sind. Wie für Kant88 ist auch für Morgenbesser die Republik notwendig ein repräsentatives System des Volkes. Denn es ist „empirisch unmöglich, daß alle selbständigen Menschen, welche zu gleicher Zeit die Erde oder auch nur einen mäßigen Teil derselben bewohnen, an der wirklichen Abfassung der Gesetze unmittelbar teilnehmen können, und ebenso empirisch unmöglich ist es, in das republikanische Gesetzbuch nur solche Gesetze aufzunehmen, welche keine Stimme wider sich haben" (S. 11 f.). In der „empirischen Welt" bleibt somit nur der Weg, „daß jede Gemeine nach der Mehrheit der Stimmen ihre Repräsentanten zur Gesetzgebung wähle und daß diese Repräsentanten gleichfalls nach der Mehrheit der Stimmen die Gesetze abfassen" (S. 12). Doch ist das Augenmerk darauf zu legen, daß den Gesetzesverfassern das Bewußtsein, daß sie nur Repräsentanten des Volkes sind (weshalb es auch niemals darum gehen kann, die Minderheit zu unterdrücken), stets lebendig bleibt (S. 12f.). Morgenbesser schlägt in dieser Richtung vor, erstens einen Teil der gesetzgebenden Versammlung von Jahr zu Jahr durch Neuwahl zu ersetzen und — zweitens — die Gesetzesbeschlüsse fortwährender kritischer Prüfung durch das Volk auszusetzen (S. 13). Voraussetzungen für das Zuletztgenannte sind die Öffentlichkeit der Beratungen, die Pressefreiheit89 und das Recht jedes Menschen, „seine Zweifel gegen ein gegebenes Gesetz der Versammlung einzureichen" (wobei diese verpflichtet ist, die Eingabe zu erörtern) (S. 13f.). Hält das Gesetz der Kritik nicht stand, dann muß es zwar „unweigerlich und ohne Ausnahme" befolgt werden, bis es durch ein anderes Gesetz aufgehoben wird; doch darf kein Gesetz seine eigene Unaufhebbarkeit bestimmen (S. 13).
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2.8. Zusammenfassende Würdigung Damit sind die wesentlichen Inhalte der Morgenbesserschen Republik vorgestellt. Für etwaige Kritik ist hier nicht der Ort; was noch bleibt, ist nur eine kurze zusammenfassende Würdigung dieses Vorschlages der der Natur des Menschen einzig angemessenen Staatsverfassung. Von vornherein scheint die Kennzeichnung der „Beyträge" von Morgenbesser als einer halbverrückten Schrift und ihres Autors als eines philosophischen Querkopfes unangemessen. Sicherlich war Morgenbesser kein studierter Philosoph, sondern Jurist und auch als solcher unmittelbar praktisch tätig. Doch zeigt seine Arbeit eine angemessene Aneignung der Philosophie Kants, die er in einigen Punkten in durchaus origineller Weise weiterzudenken versuchte. Insgesamt hat dieses Buch wohl durchaus verdient, wieder entdeckt und vielleicht diskutiert zu werden. In einem anderen Punkt ist Ernst Gottlob Morgenbesser jedenfalls interessant. Seine „Beyträge zum republikanischen Gesetzbuche" zeigen sein starkes Engagement für die Errichtung eines Staates der Freiheit. Gerade in diesem Streben kann er auch und gerade von seiner Ausbildung und Tätigkeit her selbst den modernen Juristen Vorbild sein.
Anmerkungen Dazu vgl. Jacques Droz, Deutschland und die französische Revolution, Wiesbaden 1955; Ernst von Meier, Französische Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung Preußens im XIX. Jahrhundert Band I, II, Leipzig 1907, 1908. — Zum Einfluß der Französischen Revolution auf das ALR siehe Hermann Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts von 1794, Köln/Opladen 1958, S. 30ff.; auf die Philosophie von Kant vgl. Peter Burg, Kant und die Französische Revolution, Berlin 1974; Iring Feischer, Immanuel Kant und die Französische Revolution, in: Zwi Batscha (Hrsg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1976, S. 269ff.; auf den Freiherr vom Stein vgl. Walther Hubatsch, Stein-Studien, Köln/Berlin 1975, S. 74f., 97ff. - Zum deutschen Jakobinismus vgl. Jörn Garber (Hrsg.) Revolutionäre Vernunft, Kronberg 1974; Walter Grab (Hrsg.), Deutsche revolutionäre Demokraten Band I-V, Stuttgart 1971 ff.; Gert Mattenklott/K\aus R. Scheppe (Hrsg.), Demokratisch-revolutionäre Li-
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teratur in Deutschland: Jakobinismus, Kronberg 1975; Heinrich Scheel, Süddeutsche Jakobiner, Berlin/Ost 1962; Inge Stephan, Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789-1806), Stuttgart 1976. Dazu vgl. Zwi Batscha/Jörn Garber (Hrsg.), Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1981; Grab, Demokraten; Jost Hermand (Hrsg.), Von deutscher Republik 1775-1795, Frankfurt a. M. 1975; Hans J. Schütz (Hrsg.), Vernunft ist immer republikanisch, Modautal-Neunkirchen 1977; Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815, München 1951. Zu den Gründen der Vernachlässigung in der Wissenschaft vgl. Falko Schneider, Aufklärung und Politik, Wiesbaden 1978, S. 10. Zum Ganzen siehe Axel Kühn, Der schwierige Weg zu den deutschen demokratischen Traditionen, in: Neue Politische Literatur 18 (1973) S. 430ff. Für die Anregung zur Beschäftigung mit diesem Buch und für das Zur-Verfügung-Stellen einer Kopie danke ich Reinhard Brandt und Herbert Kadel, beide Marburg, sehr herzlich. Leipzig 1812, Band 1. Leipzig 1834, Band 1. München 1980, Band 11. Berlin 1840, Band IV, S. 24f. Vgl. Uwe-Jens Heuer, Allgemeines Landrecht und Klassenkampf. Die Auseinandersetzungen um die Prinzipien des Allgemeinen Landrechts Ende des 18. Jahrhunderts als Ausdruck der Krise des Feudalsystems in Preußen, Berlin/Ost 1960, S. 261. in: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 — Textausgabe, Frankfurt a. M. 1970, S. 46. Meier, Einflüsse II S. 178. Valjavec, Entstehung S. 186 Anm. 28. Heuer, Landrecht S. 261. Fritz Fischer, Ludwig Nicolovius, Stuttgart 1939, S. 140 Anm. 7. Tagebücher von K. A. Varnhagen von Ense Band l, Leipzig 1861, S. 97; Band 3, Leipzig 1862, S. 348; Band 12, Hamburg 1870, S. 257. Nach Meier, Einflüsse II S. 178. Varnhagen von Ense, Tagebücher I S. 97. Er zitiert dann den ihn „stark beeindruckenden" Satz von Eduard Gans: „Das aber ist der Fortschritt, ist der Beweis, daß solche Meinungen nicht mehr gleichgültig sind, sondern daß die Regierung selber sie hat, freilich wohl fürerst nur in Form der Furcht". Varnhagen von Ense, Tagebücher III S. 348. - Im übrigen ist dieses Exemplar heute noch in Berlin vorhanden, es diente auch dieser Untersuchung als Vorlage. Varnhagen von Ense, Tagebücher XII S. 257. Meier, Einflüsse II S. 179. Meier, Einflüsse II S. 179. Meier, Einflüsse II S. 181. Otto Tschirch, Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen vom Baseler Frieden bis zum Zusammenbruch des Staates (1795 — 1806) Band I, II, Weimar 1933; hier Band I, S. 19.
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24. Hermann Conrad, Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts, Köln/Opladen 1961, S. 47 Anm. 113. 25. Vgl. Heuer, Landrecht S. 259-270. 26. Valjavec, Entstehung S. 212 f., 186 Anm. 28. Die Kritik an der Einordnung Morgenbessers durch Valjavec durch Jörn Garber (in: Nachwort, in: ders., Vernunft S. 170, 182) ist deshalb überzogen. 27. Es ist deshalb nicht verständlich, warum Fritz Fischer von „Morgenbessers berühmtem Republikanischen Gesetzbuch' von 1800" spricht (Nicolovius S. 140 Anm. 7). 28. So z. B. nicht erwähnt in: Batscha/Garber, Gesellschaft; Peter Pütz, Die deutsche Aufklärung, Darmstadt 1978; Werner Schneiders, Die wahre Aufklärung, Freiburg i. Br. 1974; Schütz, Vernunft. 29. Vgl. Krollmann, in: Altpreußische Biographie Band II, Marburg 1967, S. 446. Weitere Angaben auch bei Georg Conrad, Geschichte der Königsberger Obergerichte, Leipzig 1907; Meier, Einflüsse II S. 181. 30. Krollmann, Biographie S. 446; ähnlich Meier, Einflüsse II S. 181. 31. Carl Friccius, ^unterlassene Schriften (hrsg. Heinrich Beitzke), Berlin 1866, S. 313f. 32. Vgl. die Dokumente in: Heinrich Sc/zee//Doris Schmidt (Hrsg.), Das Reformministerium Stein Bandl-III, Berlin/Ost 1966 (Register). 33. Zur Einschätzung der Tätigkeit Morgenbessers vgl. Walther Hubatsch, Die Stein-Hardenbergschen Reformen, Darmstadt 1977, S. 112; Heinz Singer, Die Mitarbeiter des Freiherrn vom Stein bei seinen Reformideen, Dissertation Heidelberg 1954. Überholt sind dadurch: Max Lehmann, Freiherr vom Stein Band II, Leipzig 1903, S. 361; Edgar Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen, in: Verwaltungsarchiv 2 (1894) S. 217, 437 (463f.); Ernst von Meier, Die Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und Hardenberg, München/Leipzig 1912, S. 137, 266, 286, 298. 34. So Hubatsch, Stein-Studien S. 61; Krollmann, Biographie S. 446. 35. Friccius, Schriften S. 314. 36. Meier, Einflüsse II S. 181. 37. Sondern als Verfasser (zumindest der Arbeiten zur Patrimonialgerichtsbarkeit) gilt Johann Gottfried Hoffmann (1765-1847). Vgl. Hubatsch, Reformen S. 187; Scheel/Schmidt, Reformministerium Nr. 312, 313. 38. Eigenschaften, die Morgenbesser Friedrich II. nicht ganz zutraut (nämlich: die Geistesgaben schon, aber nicht die erforderliche republikanische Gesinnung) (S. V). 39. Auch darin zeigt sich Morgenbesser als Schüler Kants, der die Ansicht vertrat: „Es ist doch süß, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den Forderungen der Vernunft (vornehmlich in rechtlicher Absicht) entsprechen; aber vermessen, sie vorzuschlagen, und strafbar, das Volk zur Abschaffung der jetzt bestehenden aufzuwiegeln.. . . Ein Staatsprodukt, wie man es hier denkt ..., ist ein süßer Traum; aber sich ihm immer zu nähern, nicht allein denkbar, sondern, so weit es mit dem moralischen Gesetze zusammen bestehen kann, Pflicht, nicht der Staatsbürger, sondern des Staatsoberhaupts" (Werke in
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zwölf Bänden, hrsg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1964, XI S. 366 Anm.). In der Republik kann es deshalb keine Festungswerke mehr geben (S. 67). — Auch bei Kant ist die republikanische Staatsverfassung mit dem ewigen Frieden verbunden, vgl. Werke XI S. 204 ff. Zu diesen Gesetzen vgl. Hans Hattenhauer, Einführung, in: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 - Textausgabe, Frankfurt a. M. 1970 (mit Bibliographie). Z. B. Behandlung der Probleme der Erlaubnis für Jäger, Schießpulver zu gebrauchen (S. 63), der Voraussetzungen für Branntweinbrennen (S. 37) und Bierbrauen (S. 79, 97); Darstellung der rechtlichen Fragen des Schadenersatzes (S. 50ff.), des Prozesses (S. 118ff.), des Vertrages (S. 66), der Lehrlingsausbildung (S. 95 f.). Vgl. Hubatsch, Stein-Studien S. 61; Wilhelm Wagner, Die preußischen Reformer und die zeitgenössische Philosophie, Köln 1957, S. 84ff. Als einen Kantianer bezeichnen Morgenbesser auch z. B. Friccius, Schriften S. 314; Meier, Einflüsse II S. 171 f.; Tschirch, Geschichte I S. 19. Kant, Werke XI S. 206f.; VIII S. 461 ff. - Vgl. zu diesem Zusammenhang von Republik(anismus) und Despotie auch Hermand, Vorbemerkung, in: ders., Republik S. 214f.: „Es ist sinnlos, diesen Republikbegriff auf unsere eigene Situation übertragen zu wollen. Was wir von ihm übernehmen können, ist lediglich das ideelle Postulat, jeder Form des Despotismus. . . entgegenzutreten". Deshalb gibt es in der Republik selbstverständlich keine Sklaverei (S. 90). Sie besteht notwendig aus „frei- und gleichgebornen Menschen" (S. 42). Kant, Werke VIII S. 464. Vgl. auch Werke XI S. 223: „Nun ist die republikanische Verfassung die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen angemessen . . . ist". Kant, Werke XII S. 686. Dazu vgl. Wolfgang Schild, Die Menschenrechte als Sinnräume der Freiheit und ihre Sicherung im Recht, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, Mainz 1981, S. 246 (252ff.). - Zum damaligen Republikbegriff sonst vgl. Batschal Garber, Gesellschaft; Hermand, Republik; Kühn, Neue pol. Lit. 18, S. 434ff.; Schneider, Aufklärung; Ralph-Rainer Wuthenow, Vernunft und Republik, Bad Homburg 1970. Zu diesem Streben nach dem Weltbürger als der allgemeingültigen Ausprägung des aufgeklärten mündigen Menschen allgemein vgl. Rudolf Vierhaus, Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 1789, in: Der Staat 6 (1967) S. 175 (183). Kant, Werke VIII S. 475. Kant, Werke XI S. 203 Anm. Vgl. Kant, Werke VIII S. 475 ff. Kant, Werke XI S. 213. Dazu vgl. J. H. Campe, in: Batscha/'Garber, Gesellschaft, S. 131 ff.; zusammenfassend Manfred Riedel, „Bürger, Staatsbürger, Bürgertum", in: O. Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe Band I, Stuttgart 1972, S. 672 ff.
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54. Näherhin betreffen diese empirischen (positiven) Gesetze die Privatverhältnisse der Menschen (z. B. das Hypothekenwesen, S. 23) oder die Staatsverwaltung. In letzterer Hinsicht nennt Morgenbesser sie „Polizeiverordnungen", wobei er unter „Polizei" die gesamte staatliche Verwaltung versteht (S. 4f.). — Strafgesetze können in der Republik nur reine (natürliche) Gesetze sein (S. 14), die deshalb eigentlich nach Morgenbesser keine Verlautbarung benötigen. 55. Jedenfalls dürfen die empirischen Gesetze niemals weitergehen als die reinen Gesetze (S. 27). 56. Kant, Werke VIII S. 464. 57. Kant, Werke VIII S. 437. 58. Kant, Werke VIII S. 436. 59. Vgl. Buhr, Kant S. 156ff.; Christian Ritter, Immanuel Kant, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1977, S. 272 (281). 60. Vgl. Schild, Menschenrechte S. 252ff. 61. Vgl. Manfred Riedel, Bürgerliche Gesellschaft und Staat bei Hegel, Neuwied 1970. 62. Vgl. Kant, Werke XI S. 153 („bloße Idee der Vernunft"). Dazu Wolfgang Schild, Freiheit - Gleichheit - „Selbständigkeit" (Kant): Strukturmomente der Freiheit, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, Kehl am Rhein 1981, S. 135 (143). 63. „So kann z. B. kein empirisches Gesetz dem Vater die Heirat mit seiner Tochter untersagen, weil das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern von der Stiftung des Staats unabhängig ist" (S. 28). — Zu dieser Einteilung der Gesellschaft in eine „familiäre" und eine „bürgerliche" siehe Wolfgang Schild, Hegels politische Philosophie und die Emanzipation der Frau, in: Klaus Hartmann (Hrsg.), Hegels Rechtsphilosophie, München 1982 (in Vorbereitung). 64. Diese fundamentale Bedeutung des Sittengesetzes für das republikanische Gesetzbuch hat für Morgenbesser unmittelbar praktische Konsequenzen: Zwar darf die Obrigkeit sich nicht „darum bekümmern, ob diejenigen, welche in dem Erziehungszustande sich nicht befinden, tugendhaft oder untugendhaft handeln", doch darf sie nicht „erlauben, daß das Laster als Gewerbe ausgeübt werde. In der Republik können also keine Hurenhäuser geduldet werden" (S. 84f.). Ebensowenig darf es geben Witwen-, Sterbe- und Aussteuerkassen (weil diese „höchst sittenverderbliche Institute" sind, S. 73), Lotterien, Glücksbuden und -spiele (S. 71). Auch dürfen Münzen nicht ausgegeben werden, deren Metallwert geringer ist als deren Nominalwert, weil darin eine „Verletzung des Sittengesetzes" liegen würde (S. 73). 65. Der häusliche Gottesdienst dagegen steht jedem frei, soferne er nicht fremde Rechte verletzt (S. 102). 66. Trotzdem soll der Falschaussagende in bestimmten Fällen (Falschaussage vor der Obrigkeit, auch dem Gericht, Verletzung einer „angelobten Pflicht" durch den Staatsdiener) wie ein Meineidiger behandelt werden (S. 117, 121, 142). 67. Vgl. Kant, Werke XI S. 360 Anm.
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68. Kant, Werke VIII S. 393. Dazu vgl. Schild, Freiheit S. 144ff. 69. Für dieses Elternrecht tritt Morgenbesser ausdrücklich ein (S. 87), ohne freilich eine ausdrückliche Begründung dafür zu geben. Im Hintergrund steht wohl die Ausgrenzung des Familienverhältnisses aus der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. S. 27 f.). 70. Damit hat Morgenbesser im Ergebnis - freilich nicht in der Begründung die Auffassung Kants erreicht (dazu vgl. Schild, Menschenrechte S. 254ff.). 71. Zu diesem alten (und weiten, die gesamte Verwaltung umfassenden) Polizeibegriff (vgl. S. 4 f.) siehe Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre: Polizeiwissenschaft, Neuwied 1966 (München 21980). 72. Zu dieser im Gegensatz zu Kants Vergeltungstheorie der Strafe stehenden Auffassung vgl. Wolfgang Schild, Aufklärerisches Strafrecht als Erziehungsrecht, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1982 (in Vorbereitung). 73. Vgl. dazu Ritter, Kant S. 286f.; Schild, Freiheit S. 153. 74. Deshalb ist der Staat — und nicht die Herrschaft — zur Vorsorge für kranke Dienstboten verpflichtet (S. 90). 75. Vgl. Kant, Werke VIII S. 355 ff.,443 ff. (zum Eigentumsrecht), VIII S. 408 ff. (zum Erbrecht). Dazu siehe Reinhard Brandt, Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, S. 167ff.; Richard Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, Stuttgart 1973, S. 55 ff. — Zur damaligen Diskussion um das Eigentumsrecht überhaupt vgl. Günter Birtsch, Freiheit und Eigentum, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Eigentum und Verfassung, Göttingen 1972, S. 179ff. 76. Vgl. dazu S. 78: „Wenn gleich die Erblichkeit in der Republik wegfällt, so besteht das Geschäft [nämlich Erbpacht] dennoch. Statt ,erblich' wird »eigentümlich* gesetzt". 77. Sie wird in der Regel überliefert mit einem (angeblichen) Ausspruch Morgenbessers: daß die Französische Revolution nicht weit genug gegangen sei, da sie das Erbrecht nicht abgeschafft habe. Vgl. z. B. Meier, Einflüsse II S. 179; Tschirch, Geschichte I S. 19 (auf den Eigentumsbegriff selbst bezogen). 78. Nämlich als „Wesen in der Wirklichkeit", weshalb auch ungeborene Kinder keine Rechte haben können (S. 34, 82). 79. Auch hierin im Einklang mit einer allgemeinen Tendenz der Aufklärung, vgl. dazu Hans von Voltelini, Die naturrechtlichen Lehren und die Reformen des 18. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 105 (1910) S. 65 (96f.). 80. Kant, Werke XI S. 206, XII S. 686. 81. Doch sind sie „ihrer Natur nach" nur kleine Staaten, deren Bestehen vom guten Willen der (stärkeren) Nachbarstaaten abhängt. Deshalb können sie sich „bei ihrer prekären Existenz zur Republik (nicht) erheben, wenn sie gleich die ersten sein würden, sich mit einer wahren Republik zu vereinigen, entstände sie an ihren Grenzen" (S. VI). Morgenbesser denkt dabei sicherlich vor allem an die Schweiz. 82. Kant, Werke VIII S. 432. 83. Dazu vgl. Schild, Freiheit S. 135 ff. 84. Zur Stellung der Frau vgl. S. 35, 82. 85. Auch Einfuhrverbote dürfen nicht erlassen werden: „Man sporne die Industrie durch Prämien (an), aber man mache niemals durch Hemmung der
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Wolfgang Schild Konkurrenz die Konsumenten von dem Egoismus der Kaufleute und Fabrikanten abhängig" (S. 78 f.). - Der dahinterstehende Glaube an die Erfolge der wirtschaftlichen Konkurrenz zeigt sich auch in der Prognose Morgenbessers, daß es in der Republik keine Hungersnot geben könne, da stets ausreichende Getreidemagazine vorhanden sein werden (S. 67). Vgl. auch S. 93: Wenn Juden oder Zigeuner eine Sonderbehandlung beanspruchen, also einen Staat im Staate bilden wollen, „so müssen sie als Landstreicher behandelt werden". In der Republik gibt es ferner keine Berg-, See-, Handels- und Militärgerichte (S. 140), selbst die Unterscheidung in Zivil- und Kriminalgerichte fällt fort (S. 94). Vgl. Kant, Werke VIII S. 464, XI S. 207f. Eine Pressefreiheit, „die durch nichts eingeschränkt wird, als durch das schlechthin unerlaubte Bestreben, bloß auf die Leidenschaften der Menschen zu wirken" (S. 13). Eine Zensur findet - obwohl Schriften nicht gedruckt werden dürfen, die bloß auf die Einbildungskraft und Sinnlichkeit zu unmoralischen Zwecken wirken wollen — nicht statt: „Die Druckerpresse muß ganz frei sein, ohne dadurch die Verantwortlichkeit der Drucker und Verleger aufzuheben" (S. 116).
Personenregister (Das Verzeichnis erstreckt sich ausschließlich auf den Text der Beiträge; auch von Eigennamen abgeleitete Worte sind aufgenommen.) Achenwall, G. 404 Achilles 74 Adickes, E. 249 Adorno, Th. W. 2 Althusius, J. 14, 30 Altmann, A. 347 Aristoteles 15, 16, 18, 21, 24, 79, 82-4, 272, 339 Augustin 27 Bacon, Fr. 1,4-6, 88, 272 Bahrdt, C. Fr. 112-5, 119 Barbeyrac, J.-J. 62 Barrow, I. 271 Baumgarten, A. G. 404 Beccaria, C. 98, 321, 323, 325, 327, 328, 330, 332, 335 Bellarmin 17 Bentham, J. 322, 335, 376, 377, 3835, 390-3 Bentley, R. 83 Bergk, J. A. 133-5 Berkeley, G. 2 Bernert, G. 426 Beyme, K. Fr. v. 426, 429 Bodin, J. 14, 30, 31 Boutenvek, Fr. 148, 198 Boyle, R. 83 Brandes, E. 254 Busch, W. 236 Calas 328 Calvin, J. 61 Campe, J. H. 254 Carmichael, G. 61, 62 Carnap, R. 2 Carrara, Fr. 322 Cervantes, M. 86 Christus 16 Cicero, M. T. 3, 17, 85 Clarke, S. 2, 47
Coke, E. 88, 89 Conrad, H. 427 Cramer, K. 240 Cudworth, R. 2 Dalrymple, J. 70 Demosthenes 13 Descartes, R. 2, 5, 6, 8, 24, 273 Diderot, D. 2 Dirlmeier, F. 82 Dorow, W. 425 Ebbinghaus, J. 3, 236, 237, 413, 415, 416 Epikur 13, 18 Epimetheus 270 Erhard, J. B. 179, 185-90, 192, 197, 204-10 Eser, A. 336 Ewing, A. C. 336 Ferguson, A. 319 Feuerbach, L. 3 Feuerbach, P. J. A. 149, 157-61, 167, 322, 327 Feyerabend, G. 264 Fichte, J. G. 3, 148, 149, 151-4, 160, 161, 165 Filangieri, G. 323 Filmer, R. 404 Fischer, Fr. 426 Flew, A. 336 Frege, G. 2 Freud, S. 378 Friccius, C. 428, 429 Friedel, J. 253 Friedrich III. 17 Friedrich d. Gr. 323, 327 Galilei, G. 20, 21 Gans, E. 301, 426 Gassendi, P. 271 Gebhard (Erzbischof) 13
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Personenregister
Genovesi, A. 86 Gentz, Fr. 178, 253 Gerson, J. 16 Goethe, J. W. v. 86 Gorer 344 Gorzny, W. 425 Gregor, M. 239-41 Gregor (Papst) 14 Grolmann, K. L. W. 322 Grotius, H. 12, 15, 21, 29, 73, 149, 321 Habermas, J. 2, 240 Kammacher, Kl. 240, 241 Hegel, G. W. Fr. 271-5, 335, 369, 416, 426, 438 Heidegger, M. 2 Heinrich IV. 14 Heinsius, W. 424, 425 Henrich, D. 178 Henrici, A. 336 Herakleides Pontikos 85 Hesiod 12 Heuer, J.-U. 426, 427 Heydenreich 149, 156, 157 Hippel, E. 184 Hobbes, Th. 2, 12, 16, 18, 20-3, 29, 30, 49, 54, 55, 87, 93, 186, 187, 200, 249, 261, 321, 346, 357, 360 Hoffe, O. 339, 341, 345 Home, H. 2, 70 Homer 71, 73 Hommel, K. F. 321, 323 Horkheimer, M. 2 Hufeland, G. 120, 149, 150, 163, 242 Hume, D. 2, 47-54, 56-8, 65-7, 69, 70, 75, 79, 83, 273 Husserl, E. 2 Hutcheson, Fr. 47-9, 51-4, 62-4, 66, 67, 69 Irenäus 15 Jacobi, F. H. 252 James I. 88 Joseph II. 252, 253 Justinian 13 Kant, I. l, 4, 7, 8, 12, 25-9, 33, 7981, 83, 87, 94, 100, 121, 127, 130-5, 148, 150, 155, 158, 1619, 178-81, 192, 193, 195, 197202, 204-10, 218, 220, 222, 233,
235-69, 271-75, 286-9, 291303, 311, 314, 317, 319, 322-7, 329-33, 336-73, 376-94, 399406, 408-12, 414-7, 427, 428, 431-6, 438, 440-42, 444, 445, 447-50 Kayser, Chr. G. 425 Klein, E. F. 126-9, 251, 252, 254 Klug, U. 335 Kritias 80, 82 Krollmann, Chr. 429 Krug, L. 120 Lally-Tolendal, Th. A. 328, 329 Landsberg, E. 331 Lautenbach, M. 13 Leechmann, W. 62 Leibniz, G. W. 2, 80, 273 Le Mercier de la Riviere 118 Locke, J. 2, 5-8, 12, 22, 23, 32, 49, 54, 55, 62, 72, 79, 87, 88, 92-4, 263, 272 Ludwig XVI. 292 Luhmann, N. 240 Lukrez 13 Mabbot, J. D. 336 Mandeville, B. 48, 54-6 Manegold von Lautenbach 13, 17 Marcuse, H. 2 Maria Theresia 253 Martin 328 Martini, K. A. 26 Marx, K. 3, 23, 361 Mayer, H. 329, 336, 340, 359, 363 Meier, E. 426, 427, 429 Meilin, G. S. A. 405 Mendelssohn, M. 301, 302, 317-9, 347, 348 Menninger, K. 335 Millar, J. 70 Möser, J. 132 Montesquieu 69, 321 Morgenbesser, E. G. 424-50 Morgenbesser, M. 428 Murphy, J. G. 336, 369, 371 Natorp, P. 222 Naucke, W. 324-9, 336, 363, 372, 411 Neumann, U. 336, 367 Newton, I. 67, 270
Personenregister Nicolovius, Fr. 425, 426, 429 Nietzsche, Fr. 2 Ockham 16 Odysseus 73 Ostermeyer, H. 335 Overton, R. 91 Parmenides 244 Paton, H. J. 239 Philonenko, A. 341 Piccolomini, A. S. 17 Pius II. 17 Platon 3, 4, 6, 79, 80, 82, 85-7, 244 Prometheus 270 Protagoras 270 Pütter, J. St. 20 Pufendorf, S. 12, 19, 21, 61, 65, 73, 83,321, 327 Pythagoras 85 Quincy, J. 98 Rawls, J. 357 Rehberg, A. W. 178, 240, 253 Reich, Kl. 179 Remus 246, 267 Ritter, Chr. 235, 236 Robertson, W. 76 Romagnosi 322 Romulus 246, 267 Rousseau, J.-J. 2, 12, 16, 23, 24, 29, 33, 94, 133, 237, 248, 249, 266, 325 Rüssel, B. 2 Saage, R. 237, 238 Sartre, J. P. 2 Savigny, F. C. v. 301 Scheffel, D. 289, 303, 304 Schaumann, J. C. G. 406 Schlegel, Fr. 3, 179 Schlettwein, J. A. 118 Schmalz, Th. 294, 406 Schmid 168, 169 Schmuck, H. 425 Scholz, G. 344 Schrötter, v. 428, 429 Schroth, U. 336, 367 Schwab, J. Chr. 274, 275 Seysell, C. de 3 Simson 426
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Sirven 328 Sisyphos 271 Smith, A. 67-77, 253 Sokrates 82, 84 Spinoza, B. 2, 55 Slangs, C. 294 Stein, v. 429 Stephani, H. 414 Svarez, C. G. 26, 84, 125 Tacitus 71 Telemachus 74 Tenbruck, F. 218, 219 Theon 83 Thibaut, A. F. J. 254 Thomas von Aquin 15, 18 Thomasius, Chr. 2, 27, 321, 323, 327 Tieftrunk, J. H. 405, 410, 411 Tillotson, J. 83 Tschirch, O. 427 Tyrrell, J. 88 Ulpian 13, 14 Valjavec, Fr. 426, 427 Varnhagen von Ense, K. A. 425-7 Vattel, E. v. 32 Vico, G. 21 Vigilantius, J. Fr. 242, 244, 249 Villaume, P. 115, 116 Villey, M. 341, 350, 351 Vitoria, F. 17 Voltaire 323, 328 Vorländer, K. 222 Voss, Chr. D. 121 Voßler, O. 99 Wagner, H. 399 Weber, M. 29, 30 Wilson, J. 97 Winckelmann, J. J. 3 Windischgraetz, v. 240, 252 Witte, S. S. 120 Wittgenstein, L. 2 Wollaston, W. 47 Wolff, Chr. 2, 32, 108, 109, 111-4, 116, 118, 119, 125-7, 135, 155, 168, 273-5, 348, 403, 404, 414 Zahn, K. v. 327 Zeiller, F. 26
JOHN LOCKE Symposium Wolfenbüttel 1979 Edited by R. Brandt Large-octavo. VIII, 234 pages. 1980. Cloth DM 68,ISBN 3110082667
Werner Busch
Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants 1762-1780 Groß-Oktav. X, 176 Seiten. 1979. Ganzleinen DM 82,ISBN 3 11 007874 0 (Kantstudien-Ergänzungshefte, Band 110)
Julius Ebbinghaus
Wozu Rechtsphilosophie? Ein Fall ihrer Anwendung Oktav. IV, 30 Seiten. 1972. Kartoniert DM 3,80 ISBN 3110041847
Preisänderungen vorbehalten
Walter de Gruyter
W DE
G
Berlin · New York