Rechtliche Strukturen der Diskriminierung der Juden im Dritten Reich [1 ed.] 9783428475360, 9783428075362


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German Pages 282 Year 1993

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Rechtliche Strukturen der Diskriminierung der Juden im Dritten Reich [1 ed.]
 9783428475360, 9783428075362

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Schriften zur Rechtsgeschichte Band 61

Rechtliche Strukturen der Diskriminierung der Juden im Dritten Reich Von

Martin Tarrab-Maslaton

Duncker & Humblot · Berlin

M A R T I N TARRAB-MASLATON

Rechtliche Strukturen der Diskriminierung der Juden im Dritten Reich

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 61

Rechtliche Strukturen der Diskriminierung der Juden im Dritten Reich

Von

Martin Tarrab-Maslaton

Duncker & Humblot - Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Tarrab-Maslaton, Martin: Rechtliche Strukturen der Diskriminierung der Juden im Dritten Reich / von Martin Tarrab-Maslaton. — Berlin: Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zur Rechtsgeschichte ; H. 61) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07536-6 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Hermann Hagedorn GmbH & Co., Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-07536-6

Meinen Eltern und meinen Brüdern Marc und Matthias

Vorwort D e r Rechts- u n d Staatswissenschaftlichen F a k u l t ä t der Universität B o n n lag die durch ein Promotionsstipendium der Friedrich Naumann-Stiftung geförderte A r b e i t als Dissertation i m Sommersemester 1991 vor. Wenngleich i n der Bundesrepublik Deutschland die Verfassung u n d eine vierzigjährige rechtsstaatliche Tradition den demokratischen Staat verankert haben, so können doch zahlenmäßig w i r k l i c h relevante Flüchtlingsströme, die infolge des Zusammenbruchs der kommunistischen D i k t a t u r e n i m östlichen Teil Europas möglich erscheinen u n d dann die politische Herausforderung der Z u k u n f t sein werden, Ängste erzeugen, die Rufe nach radikalen legislativen Maßnahmen aufkommen lassen. Ebenso radikale, derzeit noch eine verschwindende Minderheit bildende politische Kräfte k ö n n t e n sich dann dazu aufgefordert fühlen, solche Gesetzesvorschläge zu formulieren. Die A r b e i t k a n n dazu beitragen, deren wahren Charakter zu erkennen; zu hoffen ist, daß diese Tauglichkeit stets v o n rein theoretischem Nutzen bleiben wird. F ü r die wissenschaftliche u n d persönliche Förderung, die mein verehrter Lehrer, Herr Prof. D r . Bernhard Schlink, m i r i m Rahmen der Erstellung der A r b e i t entgegengebracht hat, danke ich sehr. Ebenso gilt mein D a n k für die umfassende redaktionelle Betreuung meiner lieben Studienkollegin u n d jetzigen Rechtsreferendarin Caroline Vedder. Konstanze Bergsdorf b i n ich für das sorgfaltige u n d geduldige Korrekturlesen sehr dankbar. Bonn, i m Dezember 1991

Martin Tarrab-Maslaton

Inhaltsübersicht

Einleitung

23

1. Kapitel Von der sektoralen Diskriminierung bis zu den Nürnberger Gesetzen

25

1. Abschnitt: Sektorale Diskriminierung

25

2. Abschnitt: Sektor-übergreifende Diskriminierungen

62

2. Kapitel Rechtliche Strukturen der wirtschaftlichen Diskriminierung

100

1. Abschnitt: Gesetze und Verordnungen zur Einschränkung von Erwerbsmöglichkeiten; sektorale und sektorübergreifende Diskriminierung

100

2. Abschnitt: Gesetze und Verordnungen als Mittel direkten Vermögenszugriffs

151

3. Abschnitt: Diskriminierung durch Zahlungspflichten

204

4. Abschnitt: Exkurs: Ideologische Zielsetzung und ökonomischer Ertrag

245

3. Kapitel Wertendes Ergebnis / strukturierende Beschreibung der in den behandelten Vorschriften enthaltenen Diskriminierungselemente

250

Literaturverzeichnis

257

Anlagen

273

Inhaltsverzeichnis Einleitung

23

1. Kapitel Von der sektoralen Diskriminierung bis zu den Nürnberger Gesetzen

1. Abschnitt Sektorale Diskriminierung A. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 (GWBB) I. Allgemeines zur Gesetzgebung im Dritten Reich

25

25 25

1. Handelnde Organe

25

2. Verfahren

27

II. Initierung, Inhalt, verfolgte Absicht und Entwicklung des GWBB 1. Initiierung, Inhalt und verfolgte Absicht

29 29

a) Initiierung des Verfahrens zum Erlaß des GWBB als Reaktion auf faktische Diskriminierung

29

b) Inhalt und verfolgte Absicht des GWBB

32

2. Entwicklung des GWBB

36

a) Verordnungen

36

b) Verfügungen und Erlasse zur Durchführung des GWBB

38

III. Objektiv erreichter Ausgrenzungserfolg 1. Bewertung des objektiven Ausgrenzungserfolgs innerhalb des Anwendungsbereiches des GWBB

41

41

12

Inhaltsverzeichnis 2. Ausgrenzungserfolg des Arierparagraphen allgemein

42

IV. Deckungsgleichheit von beabsichtigter und tatsächlich erzielter Ausgrenzung

43

B. Das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14.7.1933 (GWSt)

46

I. Verfestigung der diktatorischen Regierungspraxis II. Inhalt und Entwicklung des GWSt sowie Adressaten der Ausgrenzung

46 .

48

1. Inhalt

48

2. Entwicklung des Gesetzes

49

a) 1. VO zum GWSt

49

b) Handlungsspielräume

50

3. Adressaten der Ausgrenzung

51

a) Ostjuden

51

b) Politische Emigranten

53

III. Wirkung des GWSt 1. § 1 GWSt

54 54

a) Zahlen

54

b) Bewertung

56

2. § 2 GWSt IV. Ergänzungen der diskriminierenden Paragraphen des GWSt und faktische Vereitelung des gewünschten Erfolges des § 1 GWSt

57

58

1. Ergänzung der diskriminierenden Paragraphen des GWSt

58

2. Vereitelung eines Verlassens des Reichsgebietes nach Widerruf der Staatsangehörigkeit gemäß § 1 GWSt

60

Inhaltsverzeichnis 2. Abschnitt Sektor-übergreifende Diskriminierungen Α. Das Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935 (RbG) I. Besonderheiten des Gesetzgebungsaktes

62 62

1. Der Reichstag im Dritten Reich

62

2. Verabschiedung der Nürnberger Gesetze durch den Reichstag - eine propagandistische Marginalie?

63

II. Inhalt, Entwicklung und Handlungsspielräume 1. Inhalt des RbG

65 65

a) Das Gesetz selbst

65

b) Die inhaltsbestimmende erste Verordnung zum RbG

66

c) Defizite der Definition und der völkische NS-StaatsbegrifF

67

2. Entwicklung des RbG

69

a) Erste Gruppe

70

b) Vierte Gruppe

71

III. Geschaffene Handlungsspielräume contra legem: Diskriminierung sogenannter jüdischer Mischlinge auf Erlaßebene

73

IV. Diskriminierungsziel und Diskriminierungserfolg

75

1. Diskriminierungsziel des RbG und der ersten Verordnung

75

2. Objektiver Diskriminierungserfolg und partielle objektive Zweckverfehlung

77

B. Das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.9.1935 (BISchG)

80

I. Besonderheiten des Gesetzgebungsaktes II. Inhalt, Entwicklung und Handlungsspielräume des BISchG 1. Inhalt des BISchG a) Die in den §§1-4 aufgestellten Verbote

80 82 82 82

14

Inhaltsverzeichnis b) Strafbewehrung der Verbote und sonstige Vorschriften des BISchG

85

2. Entwicklung des BISchG und Rechtssicherheitserwartung

85

3. Handlungsspielräume und Überprüfung der Rechtssicherheitserwartung

87

a) Erlaßpraxis

88

b) Justizpraxis

90

III. Ausgrenzungsintention und objektiv erreichter Diskriminierungserfolg . . 1. Ausgrenzungsintention

92 92

a) Generelle Intention

92

b) Einzelintention

92

c) Ausgrenzungsadressaten

94

2. Objektiver Diskriminierungserfolg IV. Ende sektoral begrenzter Diskriminierung und formale Gleichstellung bei tatsächlicher Ungleichbehandlung

95

97

1. Ende sektoral begrenzter Diskriminierung

97

2. Formale Gleichstellung und tatsächliche Ungleichbehandlung

98

2. Kapitel Rechtliche Strukturen der wirtschaftlichen Diskriminierung 1. Abschnitt Gesetze und Verordnungen zur Einschränkung von Erwerbsmöglichkeiten; sektorale und sektoriibergreifende Diskriminierung A. Das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7.4.1933 (GZR)

100 100

I. Parallelen zum GWBB und der nationalsozialistische Anwaltsbegriff als Diskriminierungserleichterung des GZR 100 1. Parallelen zum GWBB

100

2. Der nationalsozialistische Anwaltsbegriff zur Diskriminierungserleichterung 101

Inhaltsverzeichnis a) Der nationalsozialistische Anwaltsbegriff

101

b) Die erreichte Diskriminierungserleichterung

103

II. Inhalt des GZR und Unterschiede zum GWBB, Kompetenzkonflikte als Entwicklungscharakteristikum des GZR und standesinterne Organisation des DAV zur Fortfuhrung des GZR 105 1. Inhalt des GZR und Unterschiede zum GWBB

105

2. Kompetenzkonflikte als Entwicklungscharakteristikum des GZR

107

3. Standesinterne Organisation des DAV zur Fortführung des GZR

...

III. Diskriminierungsabsicht und objektiver Diskriminierungserfolg des GZR 1. Diskriminierungsabsicht

109 111 111

a) Allgemeines

111

b) Intentionsdifferenzen

113

2. Objektiver Ausgrenzungserfolg

114

a) Zahlen

114

b) Andere Diskriminierungswirkungen

116

IV. Spezifischer Diskriminierungsmechanismus des GZR: Ausnutzung wirtschaftlicher Ängste des Anwaltsstandes und Aufgreifen tradierten wirtschaftlichen Antisemitismus zur Einschränkung der Erwerbsmöglichkeiten jüdischer Anwälte 117 1. Existenzängste des Anwaltsstandes

117

2. Antisemitismus tradierende Organisationen

119

3. Aufgreifen wirtschaftlicher Ängste und hergebrachten Antisemitismus im GZR 120 B. Verordnungen zum RbG zur weiteren Erwerbsbeschränkung I. Die 5. und 6. VO zum RbG

121 122

1. Inhalt beider Verordnungen

122

2. Durchführung der 5. VO

123

3. Ausgrenzungsabsicht und Diskriminierungserfolg

124

16

Inhaltsverzeichnis a) Ausgrenzungsabsicht

124

b) Diskriminierungserfolg

125

II. Die 4. und 8. VO zum RbG

126

1. Erreichtes Diskriminierungsniveau der 4. und 8. VO

126

2. Inhalt der 4. und 8. VO

127

3. Diskriminierungsziel und Ausgrenzungserfolg

128

a) Diskriminierungsziel

128

b) Ausgrenzungserfolg

130

C. Die 1. VO zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12.11.1938 (VAJW) 130 I. Umstrukturierungen als Voraussetzung wirtschaftlicher Diskriminierung

130

1. Schachts Einfluß und Umorganisation des Reichswirtschaftsministeriums 131 2. Der Beauftragte des Vieijahresplanes, Rechtsquellen und Einordnungsprobleme 133 a) Rechtsquellen

133

b) Einordnungsprobleme

134

II. Inhalt, Entwicklung und Handlungsspielräume

136

1. Inhalt der VAJW

136

2. Entwicklung

137

3. Handlungsspielräume

139

III. Diskriminierungsziel und Diskriminierungserfolg

141

1. Diskriminierungsziel

141

2. Diskriminierungserfolg

144

IV. Doppelte wirtschaftliche Ausgrenzungsrichtung der VAJW : gesetzlich nicht normierter, aber durch die Zielerreichung der VAJW hervorgerufener Erfolg und Umfang der Systematisierung 147

Inhaltsverzeichnis 1. Doppelte wirtschaftliche Ausgrenzungsrichtung

147

2. Gesetzlich nicht normierter, aber durch die Zielerreichung der VAJW mitbewirkter Erfolg 148 3. Umfang der Systematisierung

149

2. Abschnitt Gesetze und Verordnungen als Mittel direkten Vermögenszugriffs

151

A. Das Gesetz über die Einziehung kommunistischen Vermögens (GEkV) und das Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens (GEfV) 151 I. Entstehungsgeschichte

151

1. Nationalsozialistische Beseitigung der Linken

151

2. Parallelen und Unterschiede zum GWSt

153

II. Inhalt und Rechtsfragen III. Antisemitische Funktion des GEkV i. V.m. dem GEfV

155 157

1. Ideologisch geleistete Vorarbeit

157

2. Herstellung der antisemitischen Funktion

159

3. Intention und Diskriminierungserfolg des GEkV und des GEfV

161

IV. Ausgrenzungstechnik des GEkV und GEfV

162

B. Die Verordnung über die Anmeldung jüdischen Vermögens (VAjV) vom 26.4.1938 und die Anordnung aufgrund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden (AnO) vom 26.4.1938 164 I. Stufenverhältnis zwischen der V A j V und der AnO

164

II. Inhalt der VAjV und der AnO sowie die anschließende Genehmigungspraxis 165 1. Inhalt der V A j V und der AnO

165

a) Die VAjV

165

b) Die AnO

167

2 Tarrab-Maslaton

18

Inhaltsverzeichnis 2. Verwaltungspraxis III. Diskriminierungsintention der VAjV und der AnO

171

1. Diskriminierungsintention der V A j V

171

2. Ausgrenzungsabsicht der AnO

172

IV. Diskriminierungserfolg der VAjV und der AnO

V.

169

173

1. Diskriminierungserfolg der VAjV

173

2. Ausgrenzungserfolg der AnO

176

Unterschiedliche, sich jedoch ergänzende Ansiedlung des Ausgrenzungserfolges und objektiv erhöhte Diskriminierungswirkung 178

C. Die Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens (VEjV) vom 3.12.1938

180

I. Weitergabe unbeschränkter Machtbefugnisse an eine nachgeordnete Exekutivstufe und „geplante Strukturlosigkeit" 180 II. Inhalt der VEjV, Konkretisierung durch den Erlaß vom 6.2.1939 und Arisierungsablauf 182 1. Inhalt der VEjV und Konkretisierung durch den Erlaß vom 6.2.1939

182

a) Art. 1

182

b) Art. 2

185

c) Art. 3

188

d) Art. 4

189

e) Art. 5

190

III. Perfektionierte Arisierungspraxis

190

IV. Intention und objektiver Diskriminierungserfolg der VEjV

192

1. Intention

192

a) Einzelintentionen

192

b) Gesamtintention der VEjV

196

2. Objektiver Ausgrenzungserfolg, Zweckerreichung und Zweckverfehlung 197

V.

Inhaltsverzeichnis

19

Optimierte Ausgrenzungstechnik der VEjV

200

3. Abschnitt Diskriminierung durch Zahlungspflichten

204

A. Originäre NS-Abgabenvorschrift: die Verordnung über die Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit („Judenvermögensabgabe", JVerA) vom 12.11.1938 und die Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben (VWjG) vom 12.11.1938 204 I. Entstehung originärer NS-Abgaben II. Inhalt und Durchführungserlasse

206

1. Inhalt

206

2. Verwaltungspraxis

207

a) Geregelte Praxis

207

b) Willkürliche Praxis

212

III. Ausgrenzungsintention und Erfolg der JVerA und der V W j G

215

1. Diskriminierungsintention der JVerA und der V W j G

215

a) Intention der JVerA

215

b) Intention der V W j G

217

2. Objektiver Ausgrenzungserfolg

219

a) Zahlen

219

b) Qualitativer Ausgrenzungserfolg

221

IV. Eingesetzte Techniken B. Die Reichsfluchtsteuerverordnung I. Historie der Reichsfluchtsteuer (RFlSt) II. Inhalt und Entwicklung der Reichsfluchtsteuerverordnung (RFlStV)

2*

204

223 226 226 . . . 228

1. Die Reichsfluchtsteuerverordnung des Jahres 1931

228

2. Die Reichsfluchtsteuerverordnung unter den Nationalsozialisten

232

20

Inhaltsverzeichnis a) Legislative Veränderungen

232

b) Rechtsprechung

234

III. Ausgrenzungsintention und Diskriminierungserfolg

235

1. Ausgrenzungsintention

236

2. Objektiver Diskriminierungserfolg

239

IV. Ausgrenzungstechnik: „Aufsattelung"

242

4. Abschnitt Exkurs: ideologische Zielsetzung und ökonomischer Ertrag

245

3. Kapitel Wertendes Ergebnis / strukturierende Beschreibung der in den behandelten Vorschriften enthaltenen Diskriminierungselemente 1. Diskriminierungsskala

250

2. Rechtliche Mittel

251

3. Diskriminierungstauglichkeit rechtlicher Mittel

254

Literaturverzeichnis

257

Anlage 1

273

Anlage 2

278

Abkürzungsverzeichnis AnO Art. AnwBl. BISchG BNSDJ BVerfGE BVP C.V. DAV DJ DJZ DNVP DPhilBl. DR DRiZ DRPf. DVO GBl. GEfV GEkV GGO GWBB GWSt GZR IsrFamBl. i.V.m. JR JVerA JW

MBliV NJW NSDAP PrGS RAB1. RbG RFH RFlSt RFlStV RG

Anordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden Artikel Anwaltsblatt Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre Bund nationalsozialistischer Deutscher Juristen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, amtliche Sammlung Beauftragter für den Vieijahresplan Central Verein Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum Deutscher Anwaltverein Deutsche Justiz Deutsche Juristenzeitung Deutsch-Nationale Volkspartei Deutsches Philologenblatt Deutsches Recht Deutsche Richterzeitung Der deutsche Rechtspfleger Durchführungsverordnung Gesetzesblatt Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens Gesetz über die Einziehung kommunistischen Vermögens Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft Israelisches Familienblatt in Verbindung mit Jüdische Rundschau Verordnung über die Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit Juristische Wochenschrift Ministerialblatt für die Preußische innere Verwaltung (ab Anfang 1934) Neue juristische Wochenschrift Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Preußische Gesetzessammlung Reichsarbeitsblatt Reichsbürgergesetz Reichsfinanzhof Reichsfluchtsteuer Reichsfluchtsteuerverordnung Reichsgericht

Abkürzungsverzeichnis

22 RGBL RGSt RGZ RMB1. RMBliV

= = = = =

RStBl. RWMB1. VAjV VAJW

=

VEjV VWjG

=

VJhZG VO

= = =

=

= =

Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, amtliche Sammlung Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, amtliche Sammlung Reichsministerialblatt Reichministerialblatt für die Preußische innere Verwaltung (bis Ende 1933) Reichssteuerblatt Reichsministerialblatt für Wirtschaft Verordnung über die Anmeldung jüdischen Vermögens Verordnung über die Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Verordnung

„Und Schreiben wurden gesandt durch die Läufer in alle Länder des Königs, man solle vertilgen, töten und umbringen alle Juden ... und ihr Hab und Gut plündern. Eine Abschrift des Schreibens sollte als Gesetz erlassen werden." (Altes Testament, Buch Ester, Kapitel 3, Verse 13 und 14)

Einleitung Das Zitat gibt eine historische Episode unter der Regierungszeit Xerxes des I. (486-479 v.Chr.) — im Alten Testament Ahasvérus —, deren Inhalt im Buch Ester berichtet wird, wieder 1 . Es zeigt, daß die Verfolgung einer Minderheit, hier der jüdischen Minorität, bereits zur damaligen Zeit rechtlich fixiert wurde. Während der nationalsozialistischen Diktatur sind Diskriminierungen der jüdischen Bevölkerung vielfaltig normiert worden 2 . Schon während des Krieges widmeten sich Fraenkel „The dual state" (1941)3 und Neumann „Behemoth, structure and practise of national socialism" (1944)4 dieser Tatsache. Die nach dem Krieg veröffentlichte Literatur zum Thema Judenpolitik im Dritten Reich ist praktisch nicht überschaubar, zumal häufig Beiträge, die nach ihrem Inhalt einen direkten Bezug zu dieser Politik kaum vermuten lassen, einzubeziehen sein können. Beispielsweise untersuchte Puppo 1988 „Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Dritten Reiches"; eine Arbeit, deren Ergebnisse den Hintergrund wirtschaftlich orientierter antisemitscher Vorschriften erhellt. Dies deutet an, wie wenig erfolgversprechend der Versuch wäre, einen erschöpfenden Literaturüberblick zu geben, kann doch nicht einmal eine Reduzierung auf Arbeiten, die allein die Judenpolitik behandeln, vorgenommen werden. Von daher überraschen die Einschränkungen Hüttenbergers aus dem Jahre 19805 und Snyders von 19876, wonach ihre Bibliographien keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben ebensowenig wie die Tatsache, daß ein entsprechender Vorbehalt in der Spezialbibliographie Rüpings zum Strafrecht im Nationalsozialismus aus dem Jahre 1985 fehlt. Hier wird aus diesen Gründen dies gleichfalls nicht versucht, wären doch Auswahl und die in ihr liegende 1 2

Brockhaus, Bd. 20, 1974, S. 532.

Umfassende Auflistungen dieser Vorschriften haben Blau 1965 und Walk 1981 erstellt. 3 Erste Ausgabe in deutscher Sprache „Der Doppelstaat", 1949. 4 Deutsche Erstausgabe „Behemoth, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus", 1949. 5 Hüttenberger, 1980, S. Iff. 6 Snyder , 1987, S. Iff.

24

Einleitung

Gewichtung der Arbeiten letztlich willkürlich und auch wenig nützlich, denn die in den Beiträgen diskutierten Fragen werden, soweit sie in Zusammenhang mit den einzelnen Gesetzen stehen, dort behandelt. Stattdessen soll lediglich exemplarisch auf die Arbeiten Majers (1981), Müllers (1987) und Gruchmanns (1988) hingewiesen werden, um zu verdeutlichen, daß das Thema Justiz und Drittes Reich sowie die rechtlich gewährleistete Judenverfolgung, wie Bundesjustizminister Engelhard anläßlich einer Ausstellungseröffnung zu diesem Thema 1988 feststellte, verstärkt seit den 80er Jahren wissenschaftlich diskutiert wird 7 . Wenngleich dabei neben einer Fülle von empirisch historischen Fakten auch Grundlinien nationalsozialistischer antisemitischer Politik angesprochen werden, so scheint es bislang nicht versucht worden zu sein, die Frage zu beantworten, ob zwischen eingesetzten rechtlichen Mitteln und objektiv erzielter Diskriminierung ein spezifischer Zusammenhang besteht; ob also bestimmte rechtliche Mittel immer nur bestimmte Diskriminierungserfolge zeitigen können, während umgekehrt dasselbe Mittel andere Erfolge verfehlen muß. In der vorliegenden Arbeit werden solche strukturellen Diskriminierungstauglichkeiten an einer Auswahl antisemitischer Gesetze aufgezeigt. Diese einzelgesetzlichen Betrachtungen stellen dabei die von der Norm beabsichtigten und dann bewirkten Diskriminierungen fest, und es wird gefragt, welche rechtlichen Mittel dazu herangezogen wurden. Von dieser einzelgesetzlichen Betrachtung losgelöst werden resümierend die ausgemachten Diskriminierungstauglichkeiten rechtlicher Mittel wertend zusammengestellt.

7 Wiedergegeben im Vorwort des vom Bundesministerium der Justiz herausgegebenen Ausstellungskataloges „Justiz und Nationalsozialismus".

Î. Kapitel

Von der sektoralen Diskriminierung bis zu den Nürnberger Gesetzen 1. Abschnitt

Sektorale Diskriminierung A. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4. 1933 (GWBB) I. Allgemeines zur Gesetzgebung im Dritten Reich Grundlegende Änderungen der Gesetzgebung und des Gesetzgebungsverfahrens zu skizzieren ist nötig, da nur vor diesem Hintergrund die spezifischen Gründe, die zum Erlaß eines antisemitischen Gesetzes führten, und die daraus folgende Relevanz ministerieller und parteipolitischer Vorschläge eingeordnet werden können. 1. Handelnde Organe

Betrachtet man Gesetze aus der NS-Zeit, muß die Verlagerung der Gesetzgebungsbefugnis von der Legislative, dem Parlament hin zur Exekutive, der Regierung beachtet werden. Diese Verschiebung, die auf Art. 48 Satz 2 Weimarer Reichsverfassung (WRV) gründete, und durch das sogenannte Ermächtigungsgesetz vom 24. 3.1933 1 etabliert wurde, erhellt die Relevanz von Gesetzesund Verordnungsvorhaben auf Regierungsebene. Nach Art. 1 des Gesetzes, dessen verfassungsrechtliche Legalität nach wie vor umstritten ist 2 , konnte die Reichsregierung selbst Gesetze beschließen. Solche,

1

RGBl. 1933 1, S. 141. Während nach einer Ansicht (Schmitt, Verfassungslehre, 1970, S. 103; weitere Vertreter bei Arnold, 1932, S. 16 ff.) verfassungsändernde Gesetze nur verfassungsmäßig waren, wenn die Identität und Kontinuität der Verfassung als Ganzes gewahrt blieb, vertrat die herrschende Meinung (Anschütz, 1933, Art. 76 Anm. 2) einen anderen Standpunkt. Sie ging davon aus, daß jede Verfassungsänderung ohne inhaltliche Beschränkung auf dem durch Art. 76 WRV vorgesehenen Weg möglich sei. In der Diskussion nach 1945 stehen sich zwei Positionen gegenüber: Einerseits wird die formale Legalitätsfrage als sekundär betrachtet und es wird der Scheincharakter der Legalität, da die Nationalsozialisten die Legalität nur als ^littel zur Beseitigung der 2

26

1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

das Gewaltenteilungsprinzip durchbrechenden Gesetze konnten darüber hinaus gemäß Art. 2 Abs. 1 von der Reichsverfassung abweichen. Eine weitere Änderung ergab sich aus Art. 13 des sogenannten Ermächtigungsgesetzes. Danach konnte nun der Reichskanzler Gesetze ausfertigen und im Reichsgesetzblatt verkünden lassen. Diese Abweichungen des Gesetzgebungsverfahrens von Art. 70 WRV, der eine Beteiligung des Reichspräsidenten einschließlich seiner Befugnis, das Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen 3 , vorsah, zeigt die völlige Verselbständigung der nationalsozialistischen Regierungsgesetzgebung. Die Bedeutung des Gesetzes kann kaum überschätzt werden. Gerade in der Anfangszeit des NS-Staates gab das Ermächtigungsgesetz die Möglichkeit, Regierungsgesetze durchzusetzen. Bis Kriegsbeginn waren es insgesamt 922 Gesetze4, die auf das Ermächtigungsgesetz zurückgingen. Nimmt man hinzu, daß die Gesetzgebungstätigkeit im nationalsozialistischen Staat zugunsten einer extremen Verordnungstätigkeit nachgeordneter Exekutivstufen abnahm 5 — nach Kriegsbeginn wurden nur noch 64 Regierungsgesetze erlassen6 —, so ist die Wichtigkeit des Ermächtigungsgesetzes für die Anfangsphase der nationalsozialistischen Gesetzgebung hinreichend belegt. Die NS-Programmatik konnte nun von der Regierung umgesetzt werden. Dieser Programmatik 7 entsprechend war eines der ersten Gesetze, das aufgrund des Ermächtigungsgesetzes erlassen wurde, ein auch antisemitisches Gesetz, das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (GWBB) 8 . A m GWBB zeigt sich, daß die handelnden Organe das Ermächtigungsgesetz als Machtinstrument brauchten. Wollte man im Beamtentum grundlegende personelle Veränderungen vornehmen, so war dies nur durch Suspendierungen möglich. Dem stand jedoch Art. 129 WRV entgegen, der die Anstellung des Beamten auf Lebenszeit bestimmte, die Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte der Beamten festlegte und dessen Änderung unstreitig nur durch verfassungsänderndes Verfassung nutzen wollten, betont {Bracher, 1983, S. 54). Andererseits wird auch heute noch im Ergebnis die damals herrschende Meinung vertreten (Schneider, 1968, S. 427). Näher zu der gesamten Problematik Biesemann, 1988, S. lOff.; Frehse, 1985, S. 161 ff. und Wadle, 1983, S. 170, 173f. 3 Anschütz, 1933, Art. 70 Anm. 3 m.w.N. 4 Brintzinger, Bd. 1, 1954, S. 349, 352. 5 Frehse, 1985, S. 178. 6 Brintzinger, Bd. 1, 1954, S. 349, 352. 7 Rosenberg, 1932, S. 15 ff. kommentiert das Programm der Nationalsozialisten aus dem Jahre 1920 eingehend; Harnoss, 1957, S. 186 stellt ebenfalls heraus, daß das Ermächtigungsgesetz zielgerichtete antisemitische Politik, der NS-Programmatik entsprechend, ermöglichen sollte. 8 RGBl. 1933 I, S. 175.

1. Abschn.

. Sektorale Diskriminierung —

e

r

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7

Gesetz, nicht aber durch einfaches Reichsrecht möglich war 9 . Die Umsetzung der NS-Programmatik 10 setzte daher als Machtinstrument ein Gesetz voraus, das verfassungsabweichende Vorschriften ermöglichte und den politischen Exekutivorganen, insbesondere dem Reichskanzler, direkte legislative Handlungen erlaubte. Beiden Erfordernissen — Verfassungsabweichung und legislative Handlung der politischen Exekutive — genügte das Ermächtigungsgesetz. Das GWBB durchbrach mit seinen Suspendierungsmöglichkeiten 11 die Weimarer Reichsverfassung (Art. 129 WRV). Da sich die handelnden Organe beim Erlaß des GWBB des Ermächtigungsgesetzes bedienen konnten, betrachtete auch die Rechtsprechung — wie im Falle eines Universitätsprofessors — diese Verfassungshandhabung als legal. Das Reichsgericht führte aus, daß es zwar die Entscheidung gegeben habe, daß die Ersetzung des Emeritatgehalts durch eine Pension bei den Hochschullehrern gegen Art. 129 WRV verstoßen würde. Allerdings treffe dies nicht mehr zu, „ . . . weil insoweit die Schranken der WRV durch das Ermächtigungsgesetz beseitigt worden seien" 12 . 2. Verfahren

M i t der Regierungsgesetzgebung änderte sich das Gesetzgebungsverfahren. Nicht mehr die Geschäftsordnung des Reichstages, sondern die Geschäftsordnung der Reichsregierung und die gemeinsamen Geschäftsordnungen der Reichsministerien bestimmten den Gang des Verfahrens. Gemäß Art. 57 WRV und § 18 Ziffer l a der gemeinsamen Geschäftsordnungen der Reichsministerien (GGO) erhielten die Reichsminister der Reichsregierung alle Gesetzentwürfe, und bei Meinungsverschiedenheiten über Fragen, die den Geschäftsbereich mehrerer Ministerien berührten, waren die Gesetzentwürfe zur Beratung und Beschlußfassung vorzulegen. Dieser Artikel sollte sicherstellen, daß die Regierungsgesetzgebung wirklich eine kollegiale Gesetzgebung blieb. Insbesondere wollte dieser Artikel eine Ersetzung des kollegialen Regierungswillens durch den Einzelwillen eines Fachministers oder des Reichskanzlers vermeiden 13 und die Abstimmung im Kabinett sichern. Gleich zu Beginn der NS-Regierung wurde die Geschäftsordnung der Reichsministerien geändert 14 . Danach konnten Gesetze, die aufgrund des 9

Anschütz, 1933, Art. 129 Anm. 2. Eine ausführliche Analyse der NS-Programmatik im Hinblick auf das Beamtentum nimmt Mommsen, 1966, S. 20 ff. vor und weist dabei nach, daß die hierarchischen Strukturen aus der Kaiserzeit, die streng an dem Verhältnis von Befehl und Gehorsam ausgerichtet waren, sich während der Weimarer Republik erhalten hatten und von daher die Beamten in weiten Teilen der NS-Programmatik aufgeschlossen gegenüberstanden. 10

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§§ 2, 3, 4, 5 und 6 GWBB, die nachfolgend noch vorgestellt werden. RGZ 155, 246 (250). 13 Anschütz, 1933, Art. 57 Anm. 1; ausführlich zur GGO Brecht, Die Geschäftsordnung der Reichsministerien, 1933. 14 RMB1. 1933 I, S. 386. 12

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Ermächtigungsgesetzes erlassen wurden, in einem vereinfachten Gesetzgebungsverfahren verabschiedet werden, und eine Beschlußfassung im schriftlichen Umlauf war zulässig (§ 57c Abs. 4 GGO IL). Zwar sollten Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ministerien schriftlich festgehalten werden (§ 57c Abs. 1 S. 4 GGO II.). Eine mündliche Erörterung und Beschlußfassung des Kollegialorgans Regierung war aber im wesentlichen beseitigt, wenn man berücksichtigt, daß praktisch alle Gesetze Regierungsgesetze waren, die innerhalb der Ermächtigung des Gesetzes vom 24. 3. 1933 erlassen wurden. Die Regierung verlor ihre Funktion als kollegiales Organ 15 . In der nationalsozialistischen Staatsrechtslehre wurde dies begrüßt, denn das Kabinett sollte nach deren Auffassung nicht dazu dienen, wichtige politische Entscheidungen mehrheitlich zu treffen, sondern lediglich als Führerrat die Entscheidung des Führers sachlich stützen 16 . Eine weitere Veränderung, die gerade im Bereich der antisemitischen Gesetzgebung nach dem 1.12. 1933 wesentlich war, stellte die Aufnahme von Heß als Minister ohne Geschäftsbereich dar 1 7 . Durch ihn sollte die Zusammenarbeit von Partei und Staat, insbesondere die Durchsetzung der NS-Programmatik, garantiert werden 18 .

15 Goebbels, 1987 (dieses Datum bezieht sich auf den Zeitpunkt der Neuherausgabe, siehe Literaturverzeichnis), S. 410 bemerkt am 22.4. 1933 in seinem Tagebuch: „ I m Reichskabinett ist die Autorität des Führers nun ganz durchgesetzt. Abgestimmt wird nicht mehr. Alles geht viel schneller, als wir zu hoffen gewagt hatten." Rebentisch, 1989, S. 40 f. teilt diese Auffassung und bewertet das Umlaufverfahren als praktische Voraussetzung, um auf die Einberufung von Kabinettssitzungen überhaupt zu verzichten. 16 Ausdrücklich findet sich diese Auffassung bei Hoche, 1936, S. 67 und Köttgen, 1937, S. 74. 17 §2 des Gesetzes zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat, RGBl. 1933 I, S. 1016. 18 Adam, 1972, S. 97 stützt diese Auffassung zusätzlich mit dem Hinweis, Heß' Stab, der sog. Stab des Stellvertreters des Führers, sei ausschließlich mit Personen besetzt worden, die trotz formeller Einordnung des Stabes in die NSDAP Gewähr für staatspolitischen Einfluß durch ihre gleichzeitige Arbeit in Ministerien boten. Rebentisch, 1989, S. 68 f. zeigt, wie sehr Heß Position nach langen parteiinternen Kämpfen gefestigt war und daß die Erringung dieser Stellung zu einem Monopol hinsichtlich der Befugnis, den politischen Willen der NSDAP gegenüber den Ministerien zu vertreten, geführt habe.

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II. Initiierung, Inhalt, verfolgte Absicht und Entwicklung des GWBB 1. Initiierung, Inhalt und verfolgte Absicht

a) Initiierung des Verfahrens zum Erlaß des GWBB als Reaktion auf faktische Diskriminierung Die Umstrukturierung des Beamtenapparates der Weimarer Republik gehörte zu einer der wesentlichen nationalsozialistischen Forderungen. Der Reichssachbearbeiter für Beamtenfragen der NSDAP, Sprenger 19, hatte in einem Programm gefordert, daß parteipolitisch orientierte Beamte, Nicht-Qualifizierte und Juden aus dem Staatsdienst entfernt werden müßten. Schon aus der Forderung im nationalsozialistischen Programm von 1920 ging hervor, daß Juden aus dem Staatsdienst auszuscheiden hatten. Denn da Juden keine Staatsbürger sein konnten 20 und andererseits die Staatsbürgerschaft Voraussetzung zur Erlangung und Innehabung eines öffentlichen Amtes war, mußte die Suspendierung der Juden erfolgen. Dementsprechend wäre zu erwarten gewesen, daß ein dem GWBB entsprechendes Gesetz mit einem antisemitischen Paragraphen von der nationalsozialistischen Staatsleitung unmittelbar nach der sogenannten Machtergreifung verabschiedet worden wäre. Tatsächlich war dann jedoch nach 1933 eine andere Entwicklung zu beobachten. Jüdische Staatsanwälte und Richter waren schon kurz nach der Machtergreifung Adressaten antisemitischer Ausschreitungen, die zum Ziel hatten, diese Justizangehörigen zu verdrängen. In Chemnitz wurde zum Beispiel das Gericht besetzt und jüdische Beamte von SA-Männern genötigt, ihre Ämter zu verlassen. Auch in anderen Städten, so in Görlitz und Berlin, wurden Gerichtsverhandlungen gesprengt 21. Die jeweils zuständigen Justizverwaltungen hatten noch keine parteiprogrammatischen Überlegungen in personeller Hinsicht angestellt und so konnten sie nur reagieren, indem sie den Betroffenen empfahlen, das Verfahren zu vertagen bzw. Urlaub zu nehmen 22 . Obwohl zu diesem Zeitpunkt die Justizverwaltungen noch 19 Sprenger's Forderung, die Beamten, „ . . . die ohne die vorgeschriebene Vor- und Ausbildungszeit in der Revolution aus parteipolitischen Rücksichten (eingestellt worden seien) a b z u b a u e n . . s t e l l t Müller, Beamtentum und Nationalsozialismus, 1933, S. 6 f. als Kernpunkt der Machtergreifung aus Sicht der Beamtenschaft dar; entsprechend gibt er Sprenger's Auffassung, die er insbesondere bei öffentlichen Anlässen äußerte, größtenteils im Zitat wieder. 20 Punkt 4 des NSDAP-Parteiprogramms von 1920, Kommentierung bei Rosenberg, 1932, S. 15 ff. 21 Krach, 1991, S. 172 f. hat unter Bezugnahme auf Erlebnisberichte des damals in Breslau tätigen Anwalts Ludwig Foerder diese Überfalle und die mit ihnen einhergehenden Gewaltausbrüche plastisch beschrieben. Speziell zur Staatsanwaltschaft, vgl. Rüping, 1990. 22 Schwarzbuch, 1934, S. 45,95,105,106; dieses Schwarzbuch erschien erstmals 1934 in Paris unter Leitung von Leo Motzkin's, der das Comité des délégations Juifs gegründet

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

nicht m i t Nationalsozialisten besetzt w a r e n 2 3 , schützten die leitenden Beamten ihre jüdischen Kollegen vor diesen Ausschreitungen nicht. Vielmehr arrangierten sich die meisten Justizangehörigen m i t dem Nationalsozialismus 2 4 v o n der H o f f n u n g geleitet, i m Gegensatz zu den jüdischen Kollegen unbehelligt zu bleiben oder aber sie unterstützten offen die Nationalsozialisten. Der Verein „Preußische Richter u n d Staatsanwälte" forderte z u m Beispiel bereits i m A p r i l 1933 seine Mitglieder auf, „sich i n die gemeinsame K a m p f f r o n t A d o l f Hitlers einzugliedern u n d sich dem B u n d nationalsozialistischer deutscher Juristen anzuschließen, denn nur unbedingte Geschlossenheit ist die Vorbedingung für ein Obsiegen i n unserem K a m p f ' 2 5 . Selbst wenn m a n nicht so weit gehen w i l l , daß solche Äußerungen ein Indiz für einen weit verbreiteten Antisemitismus i n der deutschen Justiz sind, so k a n n m a n aber feststellen, daß sich diese H a l t u n g objektiv als Tolerierung antisemitischer M a ß n a h m e n auswirkte. A u c h i m k o m m u n a l e n Bereich wurde durch massiven D r u c k , der v o n SATruppen nicht zuletzt durch die A n d r o h u n g v o n Tätlichkeiten erzeugt wurde, versucht, Umbesetzungen durchzusetzen 2 6 . W i e wenig die Staatsführung zu

hatte. Darin werden neben amtlichen Verlautbarungen vor allem Zeitungsberichte ausgewertet, die antisemitische Stimmungen und Berichte über Ausschreitungen wiedergeben. 23 Kregel, 1986, S. 27ff. hat exemplarisch diese Politik im Bereich des O L G Celle nachgezeichnet und kommt zu dem Ergebnis, daß das Tempo, indem diese Verwaltungen personell durch Nationalsozialisten besetzt werden konnten, maßgeblich von der Mitarbeit der vorhandenen Beamten abhing. Für den OLG-Bezirk Hamburg hat Johe, 1967, S. Iff. die Situation der Richter untersucht. Seiner Ansicht nach habe die Mehrzahl der Richter den nationalsozialistischen Einflußnahmeversuchen standgehalten. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Angermund, 1990, S. 72ff.: Zwar seien in den ersten Monaten nach der sog. Machtergreifung Justizverwaltungen teils von sich aus an die NSDAP-Mitglieder unter den Beamten und Richtern herangetreten zwecks Berichts über ihre dortigen Verdienste, um sie entsprechend zu bevorzugen, insgesamt aber hätten sich insbesondere Heß und sein Stab nicht mit ihrem Versuch durchgesetzt, maßgeblichen Einfluß auf die Personalpolitik der Justiz zu erhalten. Während einer Veranstaltung zum Gedenken an die Verdienste jüdischer Juristen hat Wassermann, 1988, S. 38 ein anderes Bild skizziert: Wie in der Gesellschaft, so sei auch in den Gerichten passives, entgegenkommendes und selbständig agierendes antisemitisches Verhalten von Seiten der Justiz zu beobachten gewesen. 24 Eindeutig zeigt dies die Erklärung des preußischen Richtervereins in DJZ 1933, S. 453: „ . . . es (gilt) die Ehre und die Würde des durch die nationale Revolution geschaffenen Staates ... zu schützen"; Rüthers, 1988, S. 2826 sieht es als erwiesen an, daß Juristen unmittelbar nach der Machtergreifung selbständig mehr getan hätten als die NSMachthaber erwartet hätten; Hartstang, 1986, S. 38 f. stützt diese Auffassung und meint weiter, daß sich in der Justiz zahlreiche Sympathisanten der Nationalsozialisten fanden, die liberale Rechtsauffassungen schon seit der Weimarer Republik hätten bekämpfen wollen. 25

DRiZ 1933, S. 156.

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diesem Zeitpunkt an unkontrollierten Aktionen, die den NS-Einfluß sicherstellen sollten, interessiert war, zeigt ein Erlaß des Reichsinnenministeriums anläßlich der Neuwahl der gemeindlichen Vertretungskörperschaften. In diesem Erlaß vom 30. 3.1933 werden die Aufsichtsbehörden angewiesen, ordnungsgemäße Neuwahlen zu gewährleisten 27. Der tiefere Grund für diese Ablehnung unkontrollierter Aktionen lag hinsichtlich der Beamtenschaft in einem machtfestigenden Aspekt, der aus einem anderen Umstand folgte. Sofort alle Beamte durch Parteigenossen zu ersetzen, scheiterte daran, daß quantitativ wie qualitativ solche Ressourcen fehlten. Wäre es nun dennoch zu unkontrollierten Säuberungsaktionen weiterhin gekommen, hätte die Exekutive einen wichtigen Personalbestand verloren, ohne den eine effektive und daher machtsichernde Verwaltung mehr als gefährdet gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund erscheint es problematisch, den Umstand, daß Gewaltaktionen vor legislativen Maßnahmen stattfanden, heranzuziehen, um die These zu belegen, daß die späteren legislativen Akte allein Reaktionen waren, um außerrechtliche Aktionen zu sanktionieren. Dies wird aber vielfach angenommen 28 . Mommsen 29 betrachtet das GWBB entsprechend als gesetzliches Mittel, der bislang ungesetzlich durch Nationalsozialisten betriebenen Ämterpatronage eine rechtliche Grundlage zu geben. Andere 30 beschränken diese These nicht auf das GWBB. Sie sehen in der zeitlichen Abfolge — illegale Aktion/spätere Legalisierung — eine allgemeine Taktik der Machtergreifung. Als nicht bloß reagierend beurteilt hingegen Adam 3 1 das Verhältnis von rechtswidrigen Handlungen und gesetzlichen Maßnahmen. Illegaler Terror sei

26 Beispiele für solche Ausschreitungen, die denen gegenüber den Justizangehörigen (siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.a) vergleichbar waren, finden sich bei Mommsen, 1966, S. 31 ff.; Majer, 1981, S. 156 und WolframIKlein, 1969, S. 219ff. 27 MBliV 1933 S. 405 = Erlaß V I a) I 1240. 28 So von Mommsen, 1966, S. 39; Bracher/ Sauer/ Schulz, 1960, S. 172; Majer, 1981, S. 156; Liesner, 1985, S. 54. 29 Mommsen, 1966, S. 39. 30 BracherISauerISchulz, 1960, S. 172; Majer, 1981, S. 156. 31 Adam, 1972, S. 46. Vortmann hat in einem Aufsatz versucht, juristischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu beschreiben. Während er eine ganze Reihe von Beispielen nennt, in denen Anwälte Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisteten, stellt er hinsichtlich der Richterschaft fest: „Aus den Reihen der ... Richter ... war ... nur in geringem Maße Widerstand zu spüren (Es) bleibt festzustellen, daß nur wenige den Mut fanden, wie der Gerichtsassessor Martin Gauger, der 1934 an den für ihn zuständigen Landgerichtsdirektor schrieb: Nach sorgfältiger Prüfung sehe ich mich gewissenshalber außerstande, den Treueid auf den Reichskanzler und Führer Adolf Hitler zu leisten, wie ihn das Reichsgesetz

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

nämlich von oben zum Teil hervorgerufen worden, jedenfalls aber erwünscht gewesen, um für schon geplante Gesetze eine entsprechende Akzeptanz zu schaffen. Gegen die eingangs geschilderte Ansicht, die den nur sanktionierenden Aspekt in den Vordergrund stellt, spricht die in ihr liegende Überbewertung des zeitlichen Faktors. Nur weil ein Gesetz illegalen Aktionen folgt, auf ein kausales Verhältnis zu schließen, erscheint fraglich. Ebenso vernachlässigt diese Interpretation den Stellenwert von Befehl und Gehorsam in den nationalsozialistischen Organisationen, denen ein disziplinierender Effekt entgegenkam. Nicht nur den bürgerlichen Gruppen, auf die man noch angewiesen war, sollte gezeigt werden, daß man streng nach Recht und Gesetz handeln wollte. Zugleich agierte die nationalsozialistische Führung nach innen durch Propagierung dieser legalen Maßnahmen. Adams Erklärungsversuch hingegen trägt diesem Befehlsverhältnis Rechnung. Schließlich spricht für ihn, daß die Vorschläge zu einem dem GWBB entsprechenden Gesetz schon vor der Machtergreifung erarbeitet worden waren 32 . Allerdings muß bezweifelt werden, ob die außergesetzlichen Aktionen tatsächlich begrüßt wurden. Hiergegen spricht der oben genannte Erlaß und die machtsichernde Funktion einer effektiven Verwaltung. Aus diesen Gründen erscheint es sachgerechter, den Zeitpunkt der Verabschiedung des GWBB auf unkontrollierte gewalttätige Aktionen unterer Parteigliederungen zurückzuführen. Einen Anstoß zur Erarbeitung eines Gesetzes mit dem Ziel, nachträglich rechtswidrige Aktionen zu legalisieren, wie es die überwiegende Ansicht annimmt, bewirkten diese Aktionen dagegen kaum. b) Inhalt und verfolgte

Absicht des GWBB

Das GWBB gab die Möglichkeit zur Suspendierung, „ . . . auch wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen" (§ 1 Abs. 1 GWBB). Adressaten möglicher Entlassungen waren „Beamte, die seit dem 9.11. 1918 in das Beamtenverhältnis eingetreten sind, ohne die für ihre Laufbahn vorgeschriebene oder übliche Vorbildung oder sonstige Eignung zu besitzen ...", sogenannte Parteibuchbeamte (§ 2 Abs. 1 GWBB), „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß

vom 20. 8. 1934 für alle Beamten verlangt 4 ." (Vortmann, 1990, S. 196 unter Bezugnahme auf Bundesminister der Justiz, 1989, S. 300). 32 Nicolai, 1932, S. 54; umfangreiche Nachweise zu den Vorarbeiten bei Adam, 1972, S. 28 f., der dort zeigt, daß bereits 1930 die innenpolitische Abteilung der NSDAP unter Nicolai und die Rechtsabteilung unter Frank Entwürfe zur „Ausscheidung von Juden ... aus dem deutschen Volk" erarbeitet hatten. Teil dieses Kataloges war die Überprüfung beamtenrechtlicher Akte der Jahre 1918 und 1919.

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sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten ..." (§4 Satz 1 GWBB) und „Beamte, die nichtarischer Abstammung sind ..." (§ 3 Abs. 1 GWBB, der sogenannte Arierparagraph) 33 . Die Intention des Gesetzes wurde in § 1 beschrieben 34. Danach sollten Suspendierungsmöglichkeiten eröffnet werden, um ein nationales Berufsbeamtentum wiederherzustellen. Ein gesetzliches Mittel zur Erreichung dieses Zwecks bot § 2, in dem festgeschrieben wurde, daß Beamte ohne entsprechende fachliche Eignung zu entlassen seien. Betrachtet man diesen Text, so ist eine ausgrenzende, diskriminierende Absicht nicht ersichtlich. Vielmehr scheint dieser Paragraph gerade sachlich ungerechtfertigte Privilegien korrigieren zu wollen. Der Reichssachbearbeiter für Beamtenfragen, Sprenger 35, hatte schon vor Erlaß des GWBB gefordert, daß insbesondere sogenannte Revolutionsbeamte als Personen ohne entsprechende Vorbildung zu betrachten seien. Selbst wenn man dies hinzunimmt, scheint die fehlende sachliche Eignung im Vordergrund zu stehen. Auch de iure wurde die wahre Intention jedoch rasch klargestellt. Als ungeeignet im Sinne des §2 GWBB waren alle Beamten anzusehen, die der kommunistischen Partei, Hilfsorganisationen oder Ersatzorganisationen angehörten. Solche Personen waren zu entlassen36. Eine zusätzliche Ausweitung wurde durch § 2a Abs. 2 GWBB erreicht, der bestimmte, daß alle Beamten zu entlassen seien, die sich in Zukunft im marxistischen, d. h. sozialdemokratischen oder kommunistischen Sinne betätigen. Eine Angabe, wonach zu prüfen sei, ob sozialdemokratisch eingestellte Beamte sachlich geeignet sind, findet sich nicht. Vielmehr unterstellte man, daß Beamten linker Couleur die sachliche Eignung fehlte. Resümierend kann festgestellt werden, daß § 2 GWBB Andersdenkende aus dem Dienst entfernen wollte, da der Begriff der sachlichen Eignung inhaltsleer war. § 4 GWBB eröffnete die Möglichkeit, Beamte zu entlassen, „ . . . die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, ... jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten ...". Die Entlassung konnte ausgesprochen werden. Gerade wegen dieses einen Ermessensspielraum eröffnenden Tatbestandsmerkmals könnte die diskriminierende Intention der Vorschrift fraglich sein, da ein solcher Spielraum gegen, aber auch für den Adressaten genutzt werden kann. Die vorzunehmende Ausfüllung dieses Ermessensspielraums indes beseitigt solche Zweifel. Kommentierend wurde festgelegt, daß „ . . . der nationale Staat schon in seinem eigenen Interesse die 33 34 35 36

RGBl. 1933 I, S. 175. RGBl. 1933 I, S. 175. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.a). VO vom 11.4. 1933, RGBl. 1933 I, S. 195.

3 Tarrab-Maslaton

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Beamten, die unter § 4 fallen, in der Regel entlassen ( w i r d ) . . d a er sonst keine Gewähr dafür habe, seine Politik durchzusetzen 37. Es ist bezeichnend, daß nicht eine mögliche Gefahrdung der Institution Staat als Rechtfertigung der Suspendierung, sondern eine Behinderung der nationalsozialistischen Politik als Grund für Suspendierungen angeführt wird. Diskriminiert wurden somit Personen, die nicht die Gewähr dafür boten, für die nationalsozialistische Politik rückhaltlos einzutreten 38 . Eine rassische Diskriminierung sah § 3 GWBB vor. Zwingend wurde darin festgelegt, daß Beamte nichtarischer Herkunft in den Ruhestand versetzt werden müssen 39 . Wegen der Bedeutung, die dieser Paragraph später erhielt und die in anderem Zusammenhang noch darzustellen sein wird, stellen sich bei der nun zu behandelnden Intention des GWBB zwei Fragen. Einmal, wie der Arierparagraph innerhalb des GWBB wirken sollte — unmittelbarer Anwendungsbereich — und zum zweiten, ob intendiert war, dieser Vorschrift Vorbildcharakter für die rechtliche Fixierung der Diskriminierung in anderen Segmenten der Gesellschaft zu verleihen — mittelbarer Anwendungsbereich. Die gewollte Diskriminierung im Anwendungsbereich des GWBB stand schon früh vor der Schwierigkeit zu bestimmen, wer Arier und wer Jude sei. Unmittelbar mit dieser Begriffsbestimmung war nämlich die Frage verbunden, wie intensiv antisemitisch der Gesetzgeber handeln wollte und welchen Umfang die Ausgrenzung final haben sollte 40 . Daß Juden Personen waren, die von zwei jüdischen Eltern abstammten, löste keineswegs das Problem, wollte man auf diesen Personenkreis die rassisch begründete Suspendierung nicht begrenzen. Es mußte daher festgestellt werden, welche sogenannten Mischlinge ebenfalls als Juden im Sinne des § 3 GWBB zu betrachten seien. Ein Erfordernis, das dringlich war, was auch der maßgebliche Verfasser des GWBB, Seel, einräumte, da die Rassenkunde den Begriff Arier nicht positiv definieren könne 4 1 . Legislativ wurde in der ersten Durchführungs37 Seel, 1933, S. 68, hatte in seiner Funktion im Innenministerium maßgeblich an der Erarbeitung des GWBB mitgewirkt. 38 Stolleis, 1974, S. 223 ff. weist anhand verschiedener Interpretationen des Begriffs Staatswohl die durch die Nationalsozialisten angestrebte Herstellung einer Identität von Nationalsozialismus und Staat nach: „Eine Verletzung der Interessen des Nationalsozialismus war eine Verletzung von Rechtsinteressen, Regimefeinde wurde Reichsfeinde." Schneider, 1988, S. 36 ff. teilt diese Auffassung und belegt sie durch die nationalsozialistische Handhabung des deutschen Beamtengesetzes. Während vor 1933 die politische Treuepflicht verstanden worden sei als Distanz zu radikalen Parteien, habe man den Beamten nach 1933 positiv auf ein nationalsozialistisches Bekenntnis festgelegt. 39 RGBl. 1933 I, S. 175. 40 Der Begriff Ausgrenzung wird nachfolgend synonym zum Begriff Diskriminierung gebraucht. 41 Seel, 1933,S. 61; ebenso Lösener, 1935,S. 930 f., der dies auf die Herkunft des Wortes Arier aus der Sprachwissenschaft zurückführt.

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Verordnung zum G W B B 4 2 definiert, daß „ . . . als nichtarisch gilt, wer von nichtarischen, insbesonderen jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt". Dabei genügte es, „ . . . wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nichtarisch ist". Als Indiz für diese Eigenschaft galt die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion. Der Arierparagraph im GWBB sollte also ausgesprochen weit diskriminierend eingreifen, die sogenannten Vierteljuden wurden sogar durch § 3 GWBB in Verbindung mit Ziffer 2 der ersten Durchführungsverordnung zum GWBB erfaßt. Sinn und Zweck des Arierparagraphen lagen darin, eine „ . . . Überfremdung des deutschen Beamtenkörpers ...", eine Sicherung der arischen Zusammensetzung der Beamtenschaft und eine Durchsetzung des NS-Programms für den Sektor des Beamtentums zu gewährleisten 43. Eine allgemeingültige, über das Beamtenrecht hinausgehende Funktion — wie sie zum Beispiel durch einen in einer Präambel enthaltenen Hinweis auf die Notwendigkeit, jüdischen Einfluß allgemein zurückdrängen zu wollen und daher innerstaatlich damit lediglich zu beginnen — war nicht festgeschrieben. Dem GWBB ist also nicht zu entnehmen, ob der Gesetzgeber über den Bereich des Beamtenrechts hinaus eine Geltung und damit eine erweiterte Diskriminierung wollte. Andererseits wurde von der NS-Literatur der Arierparagraph schon bald als Vorbild für die gesamte NS-Rassengesetzgebung bewertet 44 . Bezeichnend für dieses Verständnis ist der Titel einer Schrift von Schulz 45 , der lautet: „Warum Arierparagraph?". Darin wird versucht zu zeigen, wieviele Juden prozentual an Schulen, Hochschulen und in bestimmten Berufsgruppen vertreten sind, und daß deshalb der Arierparagraph in all diesen Bereichen eingeführt werden müßte, also nicht eine einzelgesetzliche Maßnahme, sondern eine generelle Vorgehensweise verkörpere. Tatsächlich fanden sich auch in anderen Gesetzen, so zum Beispiel im Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft 46, in der Verordnung über die Zulassung von Ärzten und Tätigkeiten bei den Krankenkassen 47 , in der Prüfungsordnung für Apotheker 4 *, in dem Gesetz über die Überfüllung von Schulen und Hochschulen 49 , um nur einige zu nennen, Arierparagraphen. 42

RGBl. 1933 I, S. 195. Seel, 1933, S. 61; ders., in Deutsches Beamtenrecht, 1933, S. 9ff.; Deeg, 1939, S. 70f.; ebenso Reichsinnenminister Frick bei Schulz, 1934, S. 66. 44 So etwa bei Wagner, 1936, S. 61; Schiedermair, 1939, S. 5; den Vorbildcharakter bejaht auch Grami , 1958, S. 66. 45 Schulz, 1934, S. Iff. 46 RGBl. 1933 I, S. 188. 47 RGBl. 1933 I, S. 222. 48 RGBl. 1934 I, S. 769. 49 RGBl. 1933 I, S. 225 f. 43

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Dennoch lassen diese Indizien die Frage unbeantwortet, ob der Gesetzgeber über den beschriebenen legislativen Rahmen hinaus wollte, daß der Arierparagraph von der Gesellschaft allgemein übernommen wurde und in andere gesellschaftliche Bereiche, etwa in das Sport- und Vereinswesen oder in die Wirtschaft Eingang finden sollte. Selbst eine Absicht des Gesetzgebers, in diesen Bereichen dem Arierparagraphen wenigstens mittelbar — zum Beispiel durch das Progagieren von Einstellungsverboten für Juden — Geltung zu verschaffen, sucht man vergeblich. Eine positive Aussage hinsichtlich eines etwaigen Willens des Gesetzgebers, dem Arierparagraphen ganz allgemein, d. h. über den gesetzlich geregelten Rahmen hinaus zur Geltung zu verhelfen, kann daher nicht getroffen werden. 2. Entwicklung des GWBB

a) Verordnungen Bereits am 11.4. 1933 erging die erste Verordnung zur Durchführung des G W B B 5 0 . Es wurde bereits gezeigt 51 , daß diese Verordnung normieren sollte, wer Arier und wer Jude war, weil die ethnischen Mischformen Unklarheiten bewirkten. Schon der Verordnungstext decouvriert in § 3 Abs. 3 die Untauglichkeit dieser Konkretisierung des Arierparagraphen. Bei Zweifeln an der Abstammung war danach ein Gutachten des beim Reichsministerium des Innern bestellten Sachverständigen für Rassenforschung einzuholen 52 . In einer Ansprache vor der außerordentlichen Hauptversammlung der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte in Leipzig am 21. 6. 1933 erläuterte der Sachverständige für Rassenforschung im Innenministerium, Gercke 53 , seine Aufgaben. In erster Linie seien die Quellen der Familienforschung, insbesondere die Kirchenbücher, zentral zusammenzufassen. Zweitens müßte die gesamte Familienforschung in den Dienst der Erforschung der rassischen Herkunft gestellt werden, um so drittens die Ermittlung der Rassezugehörigkeit von Personen zu ermöglichen. Die weitere Entwicklung des GWBB war hauptsächlich durch Vorschriften bestimmt, die die Kündigungsmodalitäten — die Höhe, die Zeit und die Anspruchsvoraussetzungen zum Erhalt von Ruhegeld — regelten 54 .

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RGBl. 1933 I, S. 195. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.b). 52 Zur Darstellung einer solchen rassischen Begutachtung siehe Anlage 1, in der ein Arzt in Mannheim ein erbbiologisches und rassisches Gutachten über eine Person abgibt. 53 Gercke, 1933, S. 13ff. 54 2. VO zur Durchführung des GWBB, RGBl. 1933 I, S. 233 ff.; 4. VO zur Durchführung des GWBB, RGBl. 1933 I, S. 515; 5. VO zur Durchführung des GWBB, RGBl. 19331, S. 697; 6. VO zur Durchführung des GWBB, RGBl. 19331, S. 808; 4. Gesetz zur Änderung des GWBB, RGBl. 19341, S. 203; 3. VO zur Änderung und Ergänzung der 51

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Wie schon im ursprünglichen Gesetzestext (§ 3 Abs. 2 S. 1 GWBB), in dem Frontkämpfer von den Suspendierungsvorschriften ausgenommen wurden, so fand bei den weiteren Verordnungen dieser Umstand ebenfalls Berücksichtigung. Trotz dieser Privilegierung war auch für diesen Personenkreis das GWBB nicht ohne Auswirkungen, denn sie wurden häufig zwangsversetzt oder beurlaubt 55 . Erschwert wurde der Erhalt dieser Anerkennung durch die Voraussetzung, einen urkundlichen Nachweis 56 über die Kriegsteilnahme zu erbringen. Neben dieser Dispensvorschrift hatte der Reichsminister des Innern die Möglichkeit, Ausnahmen in Einzelfallen im Einvernehmen mit den zuständigen obersten Reichs- und Landesbehörden zuzulassen, sofern dringende Rücksichten der Verwaltung das erforderten (§ 3 Abs. 2 S. 2 GWBB). In der dritten Durchführungsverordnung 57 zum GWBB erfuhr diese Möglichkeit eine einengende Präzisierung insofern, als § 3 Abs. 2 S. 2 GWBB sich auf Fälle beziehe, in denen für eine Vertretung des Deutschen Reichs im Ausland keine Vertreter arischer Abstammung zur Verfügung stehen. Im Inland hingegen mußten die Verwaltungserfordernisse ausgesprochen dringend sein, und die Kommentarliteratur 58 stellte insoweit fest, daß die Vorschrift unbedingt restriktiv zu handhaben sei. Zusammenfassend ist die Entwicklung auf Verordnungsebene des GWBB durch drei Merkmale gekennzeichnet: Die Entwicklung war erstens nicht primär von der antisemitischen Komponente des Gesetzes bestimmt. Dies läßt sich insbesondere durch die erste und dritte Durchführungsverordnung belegen. Darin wurde festgelegt, daß nicht nur die Angehörigen der kommunistischen Partei, sondern ebenso die Angehörigen aller Hilfs- und Erwerbsorganisationen als ungeeignet zu betrachten waren. I n der dritten Verordnung wird diese Ausweitung fortgeführt. Ungeeignet sind danach alle Personen, die sich im kommunistischen Sinne betätigt haben unabhängig von ihrer bestehenden organisatorischen Zugehörigkeit. Die Dispensmöglichkeiten des § 3 Abs. 2 GWBB trugen zweitens innenpolitischen59 und verwaltungstechnischen Gegebenheiten Rechnung.

2. DVO zum GWBB, RGBl. 1934 I, S. 373; 4. VO zur Änderung und Ergänzung der 2. DVO zum GWBB, RGBl. 19341, S. 477; 5. VO zur Änderung der 2. DVO zum GWBB, RGBl. 1935 I, S. 4, die letzte VO zur Ergänzung des GWBB erging 1940, RGBl. 1940 I, S. 666. 55

Kregel, 1986, S. 26ff. hat detailliert diese Wirkungen für den OLG-Bezirk Celle untersucht. 56 1. VO zur Durchführung des GWBB, RGBl. 1933 I, S. 195, dort Ziffer 2 (2) zu § 3 GWBB. 57 RGBl. 1933 I, S. 245. 58 Seel, 1933, §3 Anm. 18. 59 Eindeutig zeigt dies das Schreiben Hindenburgs an Hitler vom 2.4. 1933 bei Hubatsch, 1965, S. 375 f., in dem der Reichspräsident ultimativ Ausnahmen für jüdische Frontkämpfer verlangte.

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Schließlich dominierten drittens quantitativ Vorschriften zur Abwicklung finanzieller Folgeangelegenheiten nach Suspendierung oder Versetzung 60. b) Verfügungen

und Erlasse zur Durchführung

des GWBB

Zum GWBB sind zahlreiche Verfügungen und Erlasse ergangen 61. Diese betrafen ebenso wie die oben 62 genannten Verordnungen in erster Linie die Durchführung des GWBB auf Gemeindeebene und finanzielle Abwicklungsangelegenheiten. Im Rahmen finanzieller Abwicklungsangelegenheiten legte man ein Ruhegehalt (§8 GWBB) für Beamte, die aufgrund des §3 oder des §4 GWBB ausgeschieden waren, unter Zugrundelegung des in § 8 GWBB vorgesehenen, an der Anzahl der Dienstjahre ausgerichteten Berechnungsmodus neu fest. Die von diesem Paragraphen Betroffenen wurden bei der Bemessung gleich behandelt, obwohl ihr Ausscheiden zum einen rassisch (§ 3 GWBB) und zum anderen politisch (§ 4 GWBB) begründet war. Anders verhielt es sich bei den von § 2 GWBB erfaßten Personen. Diesbezüglich fanden sich keine entsprechenden Erlasse, weil den sogenannten Parteibuchbeamten schon §2 GWBB einen Anspruch auf Ruhegehalt versagte und ihnen lediglich für weitere drei Monate nach ihrer Entlassung die Bezüge weiter gewährt wurden. Andere Erlasse waren geeignet, die diskriminierende Wirkung des GWBB und der dazu ergangenen Verordnungen zu verstärken. Eine Ausweitung der diskriminierenden Paragraphen des GWBB bewirkten solchen Erlasse, die den Anwendungsbereich vergrößerten. Zwar hatte schon § 1 Abs. 2 GWBB bestimmt, daß Beamte im Sinne des GWBB diejenigen sind, die „ . . . unmittelbare 60

Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.a). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Verfügungen und Erlasse zum GWBB: 1. Ausführungsvorschrift zum GWBB, PrGS 1933, S. 157; Allgemeinverfügung zum GWBB, DJ 1933, S. 151; Allgemeinverfügung zum GWBB, DJ 1933, S. 160; Allgemeinverfügung zum GWBB, DJ 1933, S. 164; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 635 ff.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 644; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S.619ff.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S.629ff.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 687 ff.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 718; 2. Ausführungsvorschrift zum GWBB, PrGS 1933, S. 199ff.; 3. Ausführungsvorschrift zum GWBB, PrGS 1933, S. 202ff.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 731 ff.; 4. Ausfuhrungsvorschrift zum GWBB, PrGS 1933, S. 264f.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 809ff.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 830; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 854ff.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 862f.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 863 ff.; Runderlaß zum GWBB, Walk, 1981, S. 41 Rn. 195; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 913 f.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 941 f.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 1047 ff.; Erlaß zum GWBB, RAB1.19331, S. 227; Erlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1933, S. 1115ff.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1934, S.38ff.; Runderlaß zum GWBB, MBlPrVerw 1934, S. 239ff. 61

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Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.b).

1. Abschn.

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und mittelbare Beamte des Reiches, unmittelbare und mittelbare Beamte der Länder und Beamte der Gemeinde und Gemeindeverbände, Beamte von Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie diesen gleichgestellt(en) Einrichtung(en) und Unternehmen (sind)", wobei Satz 2 dieses Paragraphen auch die Bediensteten der Sozialversicherungen einbezog. Angestellte und Arbeiter der Gemeinden und Gemeindeverbände sowie gleichgestellte Einrichtungen und Unternehmen wurden erst durch die zweite Durchführungsverordnung des GWBB in Verbindung mit einem ministerialen Erlaß tatsächlich einbezogen63. Einschränkend muß allerdings angemerkt werden, daß das Recht, Angestellte und Arbeiter einzubeziehen, schon die zweite Durchführungsverordnung gab 6 4 . Dennoch war es erst der oben genannte Erlaß, der eine Praktizierung erlaubte. Mag man dem Erlaß vom 18. 6.1933 65 noch wenig Bedeutung beimessen, weil es gerade der Sinn von Durchführungserlassen ist, Praktikabilität zu erreichen, so darf dennoch nicht übersehen werden, welche Handlungsspielräume die konkrete Ausgestaltung des Abstammungsnachweisverfahrens eröffnete. Gemäß Ziffer 1 Abs. 1 des Richtlinienerlasses 66 zum GWBB hatten die Leiter aller dem Regierungspräsidenten nachgeordneten Behörden jeden Beamten, der bei ihnen beschäftigt war, zum Ausfüllen des Fragebogens 67 zu veranlassen. Damit eine richtige und vollständige Ausfüllung der Fragebögen gewährleistet war, schrieb Ziffer 4 Satz l 6 8 eine Bekanntmachung der GWBB-Vorschriften 69 und Satz2 derselben Ziffer eine Besprechung vor, „ . . . um die Fragen zu erörtern, auf die es bei der Ausfüllung des Fragebogens ankommt". Eine Analyse dieses Richtlinienteils scheint isoliert gesehen eine wertfreie Besprechung nahezulegen, soll sie dem Beamten doch nur die Erfüllung einer durch das GWBB legal postulierten Pflicht ermöglichen. Erst die Einbeziehung eines weiteren Erlasses läßt den möglichen 70 Gang der Besprechung erahnen. In einem Runderlaß vom 11.7. 1933 71 wurden die Behördenleiter aufgefordert, NS-Gedankengut zu verbreiten. Wörtlich wird von den Behördenleitern gefordert, „ . . . die Beamten zu eingehender Beschäftigung mit den Grundsätzen 63

RGBl. 1933 I, S. 233 i. V.m. MBlPrVerw 1933, S. 688f. RGBl. 1933 I, S. 233. 65 MBlPrVerw 1933, S.688f. 66 MBlPrVerw 1933, S. 620f. 67 Wiedergegeben ist der Fragebogen in Anlage 2 der Arbeit. 68 MBlPrVerw 1933, S. 622. 69 Genannt werden im Erlaß (MBlPrVerw 1933, S. 622) das GWBB (RGBl. 1933 I, S. 175), die 1. DVO zum GWBB (RGBl. 1933 I, S. 195) und die 3. DVO zum GWBB (RGBl. 1933 I, S. 245). 70 Eine Quelle, die authentisch Auskunft über den Gang einer solchen Besprechung geben könnte, konnte nicht gefunden werden. 71 MBlPrVerw 1933, S. 808. 64

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

... des Nationalsozialismus (zu veranlassen)". Abs. 5 des Runderlasses macht es den Behördenleitern „ . . . zur Pflicht, auch persönlich aufklärend und belehrend auf die Beamtenschaft in diesem Sinne einzuwirken und sich bei Gelegenheit davon zu überzeugen, daß den Beamten das wesentliche Gedankengut der Bewegung nicht mehr fremd geblieben ist". Die Besprechung eines Fragebogens, der u. a. die Durchsetzung des nationalsozialistischen Rasseverständnisses durch die Fragen 4a)-e) zu §3 GWBB wollte, eröffnete den Behördenleitern hinreichende Möglichkeiten, der Beamtenschaft NS-Ideologie pflichtgemäß näher zu bringen 72 . Da die Gestaltung der Besprechungen im Ermessen des Behördenleiters stand, schaffte die Besprechungspflicht Handlungsspielraum, sich diskriminierend zu äußern. Die in Abs. 5 des oben genannten Erlasses vom 11.7. 1933 statuierte Pflicht legt eine verbale Diskriminierung schon durch die Darstellung der NS-Ideologie nahe 73 . Eine andere Ausführungsvorschrift überließ es den Regierungspräsidenten, rechtlich vorgeschriebene nationalsozialistische Stellungnahmen diskriminierend weiterzugeben oder eine gegenteilige Position zu beziehen. Nach Ziffer 13 des Richtlinienerlasses zum G W B B 7 4 hatten die Regierungspräsidenten die eingegangenen Berichte, die gemäß Ziffer 8 7 5 vom Behördenleiter anzufertigen waren, wenn nach dessen Auffassung eine der Suspendierungsvorschriften des GWBB gegeben war, zu prüfen. Bei dieser Prüfung verpflichtete Satz 3 Ziffer 13 des Erlasses 76 die Regierungspräsidenten, „ . . . insbesondere ... die zuständigen Gauleiter der NSDAP zu beteiligen". Während diese Vorschrift ein Einfließen nationalsozialistischer Gesichtspunkte obligatorisch festschrieb, verblieb den Regierungspräsidenten Handlungsspielraum. Diese hatten die Zweifelsfalle einschließlich eines ausführlichen Berichts dem Fachminister vorzulegen und mußten „ . . . zu einer abweichenden Auffassung des Gauleiters Stellung nehmen" (Ziffer 16 Abs. 1 S. 2) 7 7 . Ob er dabei der durch den Gauleiter vertretenen Parteilinie diskriminierend beipflichtete oder entgegentrat, lag tatsächlich im Belieben des Regierungspräsidenten. Jedoch sollte die Relevanz dieses Spielraums nicht überschätzt werden. Zum einen waren die NS-Machthaber bestrebt, die Posten der Regierungspräsidenten

72 Siehe Anlage 2, dort S. 254, insbesondere der Einschub in der Mitte, in dem darauf hingewiesen wird, daß entsprechende Nachweise, also Abstammungsnachweise, unter Umständen rassischen Gutachten beizufügen sind. 73 Die Erziehung und Schulung der Beamtenschaft in dem hier beschriebenen Sinne wurde bei der Praktizierung späterer Beamtengesetze fortgeführt, und insbesondere bei Beförderungen wurde nationalsozialistische Verläßlichkeit verlangt («Schneider, 1988, S. 77 ff. m.w.N.). 74 75 76 77

MBlPrVerw MBlPrVerw MBlPrVerw MBlPrVerw

1933, S. 624. 1933, S. 623. 1933, S. 624. 1933, S. 625; für den Bereich der Justizverwaltung vgl. DJ 1933, S. 161.

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schnell mit NS-Anhängern zu besetzen78, so daß eine Abweichung im Sinne der Ziffer 16 Abs. 1 S. 3 eher zufallig war. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß zwischen Regierungspräsident und Gauleiter regelmäßig eine einvernehmliche nationalsozialistische Linie gefunden wurde. Zum anderen dürfte die Anzahl der Fälle gering gewesen sein. Dennoch ist die Möglichkeit des Regierungspräsidenten zur Stellungnahme ein Fall, in dem die rechtliche Ausgestaltung diskriminierend gedachter und zumeist so praktizierter Verfahren Handlungsspielräume schuf. I I I . Objektiv erreichter Ausgrenzungserfolg 1. Bewertung des objektiven Ausgrenzungserfolgs innerhalb des Anwendungsbereiches des GWBB

Der objektive Diskriminierungserfolg des GWBB blieb hinter den Erwartungen zurück 79 . Einerseits war das Gesetz befristet. Damit wollte man zwar nicht den Erfolg des Gesetzes gefährden, sondern gedacht war diese Befristung nur zur Beruhigung des Berufsbeamtentums. So war das Gesetz ursprünglich bis zum 30. 9. 1933 befristet 80 und wurde durch mehrfache Änderungen 81 verlängert, um erst durch das deutsche Beamtengesetz82 außer Kraft gesetzt zu werden. Obwohl die Befristung also die Wirkung des Gesetzes unberührt lassen sollte, kollidierte das langwierige Verfahren mit der ursprünglich geplanten Geltungsdauer des Gesetzes. Die Durchführung des Gesetzes als erste Voraussetzung zur Erreichung des angestrebten Erfolges konnte wegen dieses Konfliktes trotz mehrfacher Fristverlängerungen nicht abgeschlossen werden 83 . Zum anderen konnten sich vielfach jüdische Beamte auf ihre Frontkämpfereigenschaft berufen 84 .

78 Zahlen dazu bei Pfundtner, 1937, S. 54ff.; zur Anzahl der ausgeschiedenen Regierungspräsidenten in Preußen kurz nach der Machtergreifung vgl. Bracher / Sauer / Schulz, 1960, S. 490. 79 Anhand verschiedenen Zahlenmaterials wird diese Auffassung von Mommsen, 1966, S. 54f. und Majer, 1981, S. 168 geteilt. 80 RGBl. 1933 I, S. 175, § 7 Abs. 2. 81 RGBl. 1933 I, S. 389, 518, 655; RGBl. 1934 I, S. 263, 604, 845. 82 RGBl. 1937 I, S. 41 ff., dort §§ 184f. 83 Aktenvermerk des Reichsinnenminister Frick vom 27. 4. 1933, wiedergegeben bei Mommsen, 1966, S. 159. 84 Bracher ! Sauer ! Schulz, 1960, S. 505 m.w.N.; zahlenmäßig war der objektive Ausgrenzungserfolg der §§ 2 und 4 ebenfalls gering, wie die umfangreichen statistischen Nachweise bei Mommsen, 1966, S. 54 und Bracher / Sauer / Schulz, 1960, S. 507 zeigen, die jedoch alle auf die gleiche Statistik des Leiters der Beamtenabteilung des preußischen Innenministeriums, Schütze, zurückgehen und dessen Ausarbeitungen bei Pfundtner, 1937, S. 50 und S. 55 f., wiedergegeben sind. Danach wurden von April 1933 bis Ende Dezember lediglich 1.474 Beamte entlassen oder in den Ruhestand versetzt.

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Es bleibt zu sagen, daß trotz der Dispensmöglichkeit für Frontkämpfer die Durchsetzung der Suspendierung jüdischer Beamter wesentlich häufiger erfolgte als die Handhabung der §§ 2 und 4 gegen politisch mißliebige Personen. Dieser erhöhte Diskriminierungserfolg des § 3 ist auf eine spezifische tatbestandliche Konstruktion zurückzuführen. Anders als §4 eröffnet §3 nämlich keinen Ermessensspielraum. Vielmehr mußten nichtarische Beamte entlassen werden, falls keine Dispensmöglichkeit vorlag. Die keinen Ermessensspielraum eröffnende Konstruktion des § 3 sicherte das Erreichen der beabsichtigten Ausgrenzung im Anwendungsbereich des GWBB. 2. Ausgrenzungserfolg des Arierparagraphen allgemein

Bislang wurde nur die Frage beleuchtet, welchen objektiven Diskriminierungserfolg das GWBB innerhalb der Beamtenschaft hatte. Nun soll geprüft werden, ob der Arierparagraph darüber hinaus objektiv diskriminierend wirkte, also in andere Lebensbereiche hinein. Die folgende Zusammenstellung kann belegen, in welch einem umfassenden Rahmen der Arierparagraph Vorbildcharakter entwickelte. § 4 der Satzung des Deutschen Apotheker-Vereins schrieb vor, daß ordentliches Mitglied nur werden kann, wer im Sinne des GWBB Volksgenosse ist 8 5 . Der deutsche Philologen-Verein beschloß im April 1933 den Ausschluß nichtarischer Lehrer aus den Lehrer-Vereinen 86. Die Zugehörigkeit zur deutschen Turnerschaft setzte arische Abstammung bis ins Geschlecht der Großeltern voraus, und die Dispensmöglichkeit für Frontkämpfer galt nicht 8 7 . Nichtarische Ärzte wurden von Behandlungen arischer Patienten durch die Nichtanerkennung von Rechnungen nichtarischer Ärzte seitens des Hartmannbundes und des Verbandes der Privaten Krankenversicherungen ausgeschlossen88. I m Verein der Blinden Akademiker Deutschlands wurde im Juni 1933 ein Arierparagraph eingeführt 89 . Selbst die Mitgliedschaft im Deutschen Schachbund war Juden durch einen Arierparagraph verboten 90 . Einen entsprechenden Beschluß faßte der Reichsverband der Deutschen Schriftsteller, so daß auch dort der Arierparagraph galt 9 1 . In Gesangsvereinen galt der Arierparagraph ebenfalls 92 . Aus den Kriegervereinen wurden Juden durch einen Arierparagraphen ausgeschlossen93. 85

JR Nr. 79/80 vom 4.10. 1933, S. 610. DPhilBl. 1933, S. 181/198. 87 IsrFamBl. Nr. 21 vom 24. 5. 1933, S. 4. 88 JR vom 11.7. 1933, S. 323; diese Regelung wurde schon im Mai 1933 vom Hartmannbund erlassen. 89 JR vom 7. 7. 1933, S. 310. 90 JR vom 11.7. 1933, S. 326. 91 Schwarzbuch, 1934, S.441. 92 JR vom 25. 8. 1933, S.453. 93 C.V. vom 4.10. 1933, Nr. 38. 86

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Eine Maßnahme, die angesichts des § 2 Abs. 3 GWBB, der für Frontkämpfer eine Ausnahme vorsah, überrascht, wenngleich kaum davon ausgegangen werden kann, daß alle Mitglieder des Reichskriegerbundes Kriegsteilnehmer gewesen sein dürften. Den Hamburger Bürgervereinen konnten Juden durch einen dort eingeführten Arierparagraphen ebenfalls nicht mehr angehören 94 . Diese Übersicht, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, zeigt klar, in welchem Bereich der relevante, objektive Ausgrenzungserfolg des Arierparagraphen lag. Die beschriebene umfassende Rezipierung einer entsprechenden Vorschrift im nichtstaatlichen, insbesondere im privaten Bereich, erfaßte viel größere Personenkreise als die Beamtenschaft. Zur Erklärung dieser Übernahme mag angeführt werden, daß sie ebenfalls staatlich sei, hatten die Nationalsozialisten doch von Beginn an eine Gleichschaltung betrieben. Ein solcher Erklärungsversuch überzeugt angesichts des frühen Zeitpunkts der Einführung von Arierparagraphen in den verschiedenen Vereinigungen nicht. Der frühe Zeitpunkt spricht gegen diese Interpretation und es muß auch gesehen werden, daß die betriebene Gleichschaltung vielfach erfolglos blieb. Die großen Industrieverbände zum Beispiel behaupteten sich noch recht lange gegen eine Gleichschaltung 95 . Aus diesen Gründen ist es richtiger, die schnelle und umfassende Rezipierung in nichtstaatlichen Organisationen auf unterer Ebene auf vorhandenes soziales antisemitisches Potential zurückzuführen 96 . Es bleibt festzuhalten, daß die wirklich relevante, objektive Ausgrenzungsleistung außerhalb des Anwendungsbereiches des GWBB lag, nämlich im noch nicht staatlichen, gesellschaftlichen Bereich. IV. Deckungsgleichheit von beabsichtigter und tatsächlich erzielter Ausgrenzung Bislang konnte gezeigt werden, daß der relevante, objektive Ausgrenzungserfolg des GWBB außerhalb des Anwendungsbereiches des Gesetzes lag, und es wurde ebenfalls nachgewiesen, daß ein Wille des Gesetzgebers, dem Arierparagraphen über seinen Anwendungsbereich hinaus Geltung zu verschaffen, positiv nicht festgestellt werden kann 9 7 . Unbeantwortet lassen diese Feststellungen allerdings die Frage, ob der objektive Ausgrenzungserfolg dem Willen des Gesetzgebers widersprach. Auf 94

C.V. vom 19.4. 1934. Bracher ! Sauer ! Schulz, 1960, S. 265 m.w.N. belegen dies mit der Darstellung des Konflikts verschiedener Industrieverbände mit Orts- und Gauverbänden der NSDAP. 96 So im Ergebnis auch Bracher / Sauer / Schulz, 1960, S. 277; vgl. zu dieser Problematik Lamm, 1951, S. 34, der dazu insbesondere das Verhältnis der jüdischen Gemeinden zu ihrer Umwelt untersucht. 97 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.a). 95

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

einen entgegenstehenden Willen des Gesetzesgebers kann indes allein aus dem Faktum, daß der Wortlaut des Gesetzes eine Beschränkung auf das Beamtentum vorsah, kaum geschlossen werden. Eine Billigung der Rezipierung des Arierparagraphen bleibt nämlich trotz des Wortlautes denkbar. Erst die Zusammenstellung der folgenden staatlichen Anordnungen erlaubt eine positive Beantwortung der Frage, ob die objektive Diskriminierung durch die Rezipierung des Arierparagraphen dem Willen des Gesetzgebers nicht entsprach. Der Reichsarbeitsminister wies in einem Erlaß 98 daraufhin, daß Personalleiter und Betriebsräte keinesfalls dazu berechtigt sind, gegen den Willen des Geschäftsführers jüdische Angestellte zu entlassen. Weiter ging eine Anordnung des Reichswehrministers, der ausdrücklich das politische Ziel feststellte, gesetzliche Beschränkungen für Nichtarier nicht auf Gebiete auszudehnen, für welche sie nicht bestimmt sind 9 9 , und ein Verbot in Preußen von Eingriffen Unbefugter in die Schul- und Hochschulverwaltung läßt weiterhin die Interpretation zu, daß der Gesetzgeber über den Anwendungsbereich des GWBB hinaus keine Anwendung des Arierparagraphen wollte. Auch ein weiterer Erlaß 1 0 0 legt diesen Schluß nahe. Darin wird darauf hingewiesen, daß eine Entlassung wegen Rassenzugehörigkeit in Widerspruch zur Politik der Reichsregierung steht. Wenn man sich verdeutlicht, daß der Arierparagraph als Konsequenz genau eine solche Entlassung nach sich gezogen hätte, so wird klar, daß eine Ausdehnung des Arierparagraphen nicht gewollt war. Die Ernsthaftigkeit des Entgegenwirkens geht auch aus einem Erlaß 1 0 1 des Reichsarbeitsministeriums hervor, in dem erneut ausdrücklich daraufhingewiesen wird, daß auf wirtschaftlichem Gebiet keine Ausnahmegesetze für Juden gelten und eine Entfernung bzw. Nichteinsteilung jüdischer Arbeitnehmer zu unterbleiben hat. Daß dieser Eingrenzungswille über den wirtschaftlichen Sektor hinaus die Diskriminierung aus staatlicher Sicht sektoral auf den Staatsapparat begrenzen sollte, zeigt eindeutig der schon zitierte Erlaß des Reichsinnenministeriums, denn in ihm wurde daraufhingewiesen, daß die Grundsätze des § 3 GWBB nicht ausgedehnt werden sollten und daß die Ariergesetzgebung keinen Eingang in Bereiche finden sollte, für die sie nicht gedacht sei. Es bleibt zu fragen, warum der Gesetzgeber diese Beschränkung vornahm und weitere Instrumentarien, wie er sie später mit den Nürnberger Gesetzen zur Durchsetzung rassischer nationalsozialistischer Programmatik bereitstellte, zurückhielt.

98

Schwarzbuch, 1934, S. 379. IsrFamBl. vom 24. 5. 1934, Nr. 21, S. 3 wiedergegeben bei Walk, 1981, S. 27. 100 Erlaß des Reichsinnenministeriums vom 17.1. 1934, im Zitat bei Genschel, 1966, S. 88 Anm. 123. 101 JR vom 5.1. 1934, Nr. 1 /2, S. 4. 99

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Die Beschränkungen bis zum 5. 3.1933 sind einfach erklärbar. Den Nationalsozialisten lag daran, aus dem bürgerlichen Lager Wähler zu gewinnen. Dabei schien es anfangs nötig, die geplante rassische Diskriminierung bis zur Reichstagswahl zurückzustellen 102 . Spätere inhaltliche Grenzen legislativ diskriminierender Maßnahmen wurden durch drei Gründe bewirkt: Den Nationalsozialisten lag in der Zeit unmittelbar nach der sogenannten Machtergreifung daran, die bestehende Macht zu konsolidieren bzw. zu einer Alleinherrschaft auszubauen 103 . Diese angestrebte Festigung durfte durch ein zu massives, allein von nationalsozialistischer Ideologie motiviertes rassisches Vorgehen gegen Deutsche jüdischen Glaubens nicht gefährdet werden, solange man den bürgerlichen Koalitionspartner brauchte. Der aber wollte die Rechtsposition deutscher Juden unberührt lassen 104 . Ein zweiter Grund, insbesondere für staatliches Wirken gegen antisemitische Maßnahmen in der Wirtschaft lag in der Notwendigkeit, die ökonomischen Ressourcen zu sichern. Personell wurde durch Schacht diesem Anliegen im Kabinett Hitler Rechnung getragen. Schacht betonte jedoch mehrfach ausdrücklich 1 0 5 , daß er die freie Betätigung der Juden in der Wirtschaft für wichtig halte. Schließlich ist die in der sektoralen Beschränkung antisemitischer Maßnahmen zum Ausdruck kommende Zurückhaltung außenpolitisch bedingt gewesen. Das Auswärtige Amt intervenierte mehrfach, um den außenpolitischen Schaden zu begrenzen 106 . Diese Gefahr hatte nach Auffassung des Auswärtigen Amtes einen hohen Grad erreicht und veranlaßte den deutschen Gesandten Keller vor einer Kommission des Völkerbundes zu der Feststellung, daß „ . . . die Ausübung der jüdischen Religion ... in Deutschland völlig frei ..." sei 107 . Zusammenfassend kann gesagt werden, daß aus den genannten Gründen der Gesetzgeber eine Rezipierung des Arierparagraphen nicht wollte und die dennoch erfolgte Übernahme in andere Bereiche mit der entsprechenden 102 Lamm, 1951, S. 37 belegt diese Auffassung mit Stimmen aus den jüdischen Gemeinden in Deutschland, die diesen Standpunkt vertraten. 103 Statt aller haben Bracher / Sauer / Schulz, 1960, S. 53 f. diesen Aspekt der nationalsozialistischen Machtergreifung detailliert nachgezeichnet. 104 Entsprechend versicherte von Papen in der Jüdischen Rundschau vom 10. 3. 1933: „Die jüdischen Staatsbürger dürfen versichert sein, daß ihnen die gleichen Behandlung wie allen guten Staatsbürgern zuteil werden wird. Jeder jüdische Bürger, der die Staatsbürgerpflichten erfüllt, darf auf eine gleiche Behandlung seitens der Staatsautoritäten rechnen." 105 Schacht, 1949, S. 16; anfangs war Schachts Einfluß groß genug, den Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, Feder, der für antisemitische Maßnahmen in der Wirtschaft eintrat, zu entlassen. 106 Unter Bezug auf Äußerungen von Neurath, Reichsaußenminister, teilen diese Auffassung Adam, 1972, S. 89f. und Lamm, 1951, S. 44f. 107 JR vom 4.10. 1933, Nr. 38.

1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

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Erweiterung der diskriminierenden Wirkung zu einer Diskrepanz zwischen gesetzlich gewollter und tatsächlich erreichter Ausgrenzung führte.

B. Das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14.7. 1933 (GWSt) Das GWSt ist ebenfalls ein Beispiel sektoraler, also sachlich und personell beschränkter Diskriminierung. Zugleich eignet es sich dazu, die Verfestigung nationalsozialistischer Regierungspraxis zu skizzieren. I. Verfestigung der diktatorischen Regierungspraxis Eingangs wurde allgemein beschrieben, wie sich die Gesetzgebung des NSStaates charakterisieren läßt. In den folgenden Kapiteln wird die Beschreibung reduziert, und es sollen nur noch gewisse Besonderheiten des jeweiligen Gesetzes, die aber auch die Entwicklung des nationalsozialistischen Gesetzgebungsapparates verdeutlichen, dargestellt werden. Die Verabschiedung des GWSt erfolgte ohne jede parlamentarische Beteiligung durch den Reichskanzler, den Reichsjustizminister und den Reichsarbeitsminister 1 . Bemerkenswert ist, daß man zu Beginn des NS-Regimes noch Wert auf eine kollegiale Ausfertigung legte. A n der unbeschränkten Macht der Reichsregierung 2 und, wie noch zu zeigen ist, damit an Hitlers Diktatur änderte dies nichts. Staatsrechtlich wurde die veränderte Position der verschiedenen Organe aus einem anderen Gesetzesbegriff abgeleitet3. Das Gesetz wurde nicht mehr als Ergebnis einer demokratischen Auseinandersetzung im Gesetzgebungsorgan Parlament verstanden, sondern als A k t der Führung. Höhn sieht daher die Gesetzgebung der Rassenpolitik als einen Ordnungsakt an, den der Führer dem Volk gibt. Der Staat ist dabei keine

1

RGBl. 1933 I, S. 480. Ein Begriff, den Bracher (Bracher ! Sauer ! Schulz, 1960, S. 413f.) prägte. 3 Kirschenmann, 1971, S. 21 ff. hat den Gesetzesbegriff im Nationalsozialismus analysiert: Ausgehend von der Vorstellung, daß Recht und Gesetzesrecht identisch sein müßten, hätten sich der diktatorischen Struktur des Nationalsozialismus entsprechend die materiell quantitativen Anforderungen des nationalsozialistischen Gesetzes reduziert auf den Willen des Führers. Äußerungen dieses Willens wurden zum Gesetz unabhängig davon, in welcher Rechtsform — Gesetz, Verordnung oder Erlaß — dieser Wille zum Ausdruck gekommen sei. Im Ergebnis sei das Gesetz im Nationalsozialismus nichts anderes gewesen als eine in Satzform gebrachte Willensäußerung des Führers. 2

1. Abschn. Β. Sektorale Diskriminierung — Revokation / Expatriation

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regierungsunabhängige Institution mehr; er wird Instrument in der Hand der Regierung 4. Innerhalb des Organs Regierung mußte so auch staatsrechtlich Hitlers Wille dominieren. Die Staatsrechtslehre unterschied dazu innerhalb der Regierung zwischen verschiedenen Organen, die hierarchisch geordnet waren. Die Minister wurden als dem Reichskanzler unmittelbar nachgeordnete Behörden eingeordnet. Ausdrücklich wird betont, daß diese Nachordnung von dem Richtlinienbestimmungsrecht des Art. 56 WRV verschieden sei. Die neue interne Kompetenz des Reichskanzlers gehe vielmehr so weit, daß er auch Einzelfragen in den Ressorts unmittelbar entscheiden könne 5 . Diese staatsrechtliche Bewertung der Entscheidungsverhältnisse innerhalb der Regierung zeigt, daß die Mitunterzeichnung der beteiligten Ressortminister, wie sie beim GWSt erfolgte, inzwischen lediglich eine inhaltsleere Formalität war. Legislativ handelndes Organ war immer mehr der Reichskanzler. Überträgt man diese Sichtweise der Verhältnisse der Organe zueinander auf das kabinettsinterne Gesetzgebungsverfahren, so fragt sich, ob es überhaupt noch zu einem Beratungsverfahren kam, und wenn ja, welchen Stellenwert dieses Verfahren hatte. Das GWSt entstand im Reichsinnenministerium als Kabinettsvorlage und wurde zur Beratung dem Kabinett vorgelegt 6 und beraten. Es ist also ein gewisser Gegensatz zwischen staatsrechtlich eingeräumter absoluter Kompetenz und tatsächlichem Verhalten Hitlers im Kabinett zu konstatieren. Dieser Gegensatz kann indes zeitlich erklärt werden. Broszat 7 hat nachgewiesen, daß die Beratungen kontinuierlich abnahmen. Während in den ersten drei Monaten der NS-Herrschaft insgesamt 31 Sitzungen der Reichsregierung stattfanden, reduzierte sich diese Zahl in den Monaten A p r i l / M a i auf 16 Sitzungen und betrug in der Zeit von Juni 1933 bis März 1934 zwar 29, von April bis Dezember 1934 aber nur noch 13 Sitzungen. I m übrigen hatten die Sitzungen der Regierung mit Beratungen und kollegialen Entscheidungsfindungen nichts mehr zu tun 8 .

4

Höhn, 1934, S.433f. m.w.N. MeissnerIKaiserberg, 1935, S. 66 m.w.N. Doch nicht nur das Verhältnis zwischen Reichskanzler und Ressortminister, sondern auch zwischen Gesetz und Regierung wurde entsprechend anders verstanden: „Das Parlament spielt heute eine wesentlich andere Rolle. Es ist nicht mehr hervorragendes Gesetzgebungsorgan. Die Reichsregierung, verkörpert im Führer, schafft unbehindert von allen bisherigen formalen Kompetenzregelungen die neuen Gesetze. So gibt es keine allein dem konstitutionellen Staat eigentümliche Unterscheidung zwischen Gesetz und Regierung mehr" {Höhn, 1934, S. 435). 5

6

Adam, 1972, S. 80ff. gibt die Originaldokumente ebenso wie Lehmann, 1976, S. 49 ff

an. 7 8

Broszat, 1986, S. 350 f. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.I.2.

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Das GWSt ist daher, obwohl verschiedene Organe formell handelten und eine Kabinettssitzung folgte, dennoch als eines der ersten diktatorisch erlassenen, auch antisemitischen Gesetze zu betrachten. II. Inhalt und Entwicklung des GWSt sowie Adressaten der Ausgrenzung 1. Inhalt

Das GWSt 9 hatte zwei zu unterscheidende Regelungsgegenstände. § 1 erlaubte den Widerruf von Einbürgerungen und § 2 die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. Der Widerruf konnte ausgesprochen werden, „ . . . falls die Einbürgerung nicht als erwünscht anzusehen ist" 1 0 . Die Rechtsfolge des Widerrufs ging über den Verlust der Staatsangehörigkeit hinaus, denn die Betroffenen erwarben ihre alte Staatsangehörigkeit nicht zurück; sie wurden staatenlos 11 . Dies folgte aus dem in den meisten Ländern geltenden Grundsatz, daß Personen, die eine neue Staatsangehörigkeit annehmen, zugleich ihre bisherige verloren 12 und daraus, daß das GWSt ex nunc 1 3 , also nicht rückwirkend auf den Zeitpunkt der Einbürgerung bezogen wirkte 1 4 . Von den Wirkungen des Widerrufs waren gemäß § 1 Satz 2 GWSt „ . . . auch diejenigen Personen (erfaßt), die (die) deutsche Staatsangehörigkeit ... ohne die Einbürgerung nicht erworben hätten". An andere Voraussetzungen war die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit geknüpft. § 2 Satz 1 GWSt sah vor, daß „Reichsangehörige, die sich im Ausland aufhalten, ... der deutschen Staatsangehörigkeit verlustig erklärt werden (können), sofern sie durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt haben." Satz 2 dieses Paragraphen des GWSt bestimmte die gleiche Rechtsfolge unter der alleinigen Voraussetzung, daß „ . . . Reichsangehörige, die einer Rückkehraufforderung nicht Folge leisten, die der Reichsminister des Innern unter Hinweis auf diese Vorschrift an sie gerichtet h a t " 1 5 . Anders als der Widerruf erstreckte sich 9

RGBl. 1933 I, S. 480. Wie schon oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.b) Fn. 38 erwähnt, hat Stolleis die Vermischung von nationalsozialistischen und Reichsinteressen aufgezeigt. Diesen Gedanken verdeutlicht er ebenfalls am Beispiel des GWSt und weist nach, daß das darin enthaltene Tatbestandsmerkmal der „Unerwünschtheit" letztlich auf den Begriff des Gemeinwohls im nationalsozialistischen Sinne zurückgeht (Stolleis, 1974, S. 225 f.). 11 Hering, 1933, S. 621. 12 Meilicke, 1933, S. 1916ff. 13 Lichter, 1943, S. 52. 14 Hering, 1933, S. 621 ff. 15 Diese Ausbürgerungsmöglichkeit kann vernachlässigt werden, denn bis auf einen Fall wurde keine Ausbürgerung auf diese Möglichkeit gestützt (nach Lehmann, 1976, 10

1. Abschn. Β. Sektorale Diskriminierung — Revokation / Expatriation

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die Aberkennung keineswegs ipso iure auf die Angehörigen. Vielmehr sah § 2 Satz 7 GWSt vor, daß „ . . . der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Auswärtigen ... im einzelnen Falle (beschließt), inwieweit sich der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit auf den Ehegatten, auf die ehelichen oder an Kindes Statt angenommenen Kinder, bei Frauen auf die unehelichen Kinder erstreckt". Ebenso verschieden war die Geltungsdauer. Während die Widerrufsmöglichkeit nur zwei Jahre bestand (§ 1 Satz 5 GWSt), war eine begrenzte Geltungsdauer des § 2 GWSt nicht vorgesehen. Damit bestand unbefristet die Möglichkeit, das Vermögen ausgebürgerter Personen zu beschlagnahmen (§ 2 Satz 3 GWSt). 2. Entwicklung des Gesetzes

α) 1. VO zum GWSt Zum GWSt ergingen relativ wenige ergänzende Bestimmungen 16 , insbesondere im Vergleich zum G W B B 1 7 . Entscheidend war die erste VO zur Durchführung des GWSt 1 8 , denn sie präzisierte das Tatbestandsmerkmal der Unerwünschtheit des §1. Wer unerwünscht war, sollte nach völkisch-nationalen Grundsätzen beurteilt werden, wobei die rassischen, staatsbürgerlichen und kulturellen Gesichtspunkte in erster Linie zu berücksichtigen waren 19 . Dementsprechend kamen für den Widerruf „ . . . insbesondere in Betracht: Ostjuden . . . " 2 0 . § 2 des GWSt erhielt seine inhaltliche Konkretisierung ebenfalls durch die erste Durchführungsverordnung zum GWSt. Bestimmte diese Verordnung den Anwendungsbereich des § 1 relativ genau, so ließ sie denjenigen des § 2 weithin unklar. Die Treuepflicht war verletzt, „ . . . wenn ein Deutscher der feindseligen Propaganda in Deutschland Vorschub geleistet oder das deutsche Ansehen oder die Maßnahmen der nationalen Regierung herabzuwürdigen versucht hat". Auch die Literatur unterließ eine inhaltlich genaue Beschreibung dieser Generalklausel. Es wurde lediglich betont, daß § 2 allgemein „ . . . politische Schädlinge ..." meine und deshalb die Norm ausgesprochen extensiv zu handhaben sei 21 . Seebach22 hielt eine Anwendung dieses Paragraphen auf S. 58; für die Richtigkeit dieses Recherchenergebnisses spricht, daß selbst in der detaillierten Ausarbeitung Liesners, 1985, zum GWSt Hinweise fehlen, die eine relevante Praktizierung der Rückkehraufforderungsvariante belegen könnten). 16 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: VO zur Durchführung des GWSt, RGBl. 1933 I, S. 538; VO über die deutsche Staatsangehörigkeit, RGBl. 1934 I, S. 85. 17 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.b). 18 RGBl. 1933 I, S. 538. 19 Abs. 1 Satz 1 und 2 der VO zur Durchführung des GWSt (RGBl. 1933 I, S. 538). 20 Abs. 1 Satz 5 der VO zur Durchführung des GWSt (RGBl. 1933 I, S. 538). 21 Lichter, 1943, S. 54.

4 Tarrab-Maslaton

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

treuloses und schädigendes Verhalten jeder Art für zulässig. Alleinige Voraussetzung sei, daß die Handlungsweise sich unmittelbar gegen den Bestand des Staates richte, also politisch motiviert sei. Andere Verbrechen könnten die Aberkennung hingegen nicht nach sich ziehen 23 . b) Handlungsspielräume § 1 und § 2 GWSt formulierten „Kann-Bestimmungen". Ein solches Können scheint Handlungsspielräume zu eröffnen. Hinzu kommt die Frage, wie in § 1 GWSt das Tatbestandsmerkmal der Unerwünschtheit und in § 2 dasjenige des treuwidrigen Verhaltens gegenüber dem Deutschen Reich zu verstehen ist. Hinsichtlich des § 1 GWSt definierte man den Begriff des Könnens als Merkmal, das den Widerruf nicht zwingend festlegt, sondern in das pflichtgemäße, nach keiner Richtung eingeengte Ermessen der Behörde stellt 24 . Nicht nur der Wortlaut der 1. D VO zum GWSt 2 5 läßt darauf schließen, daß die Ausübung des Ermessens regelmäßig auf den Widerruf hinauslief. Ein sachlicher, verschuldensunabhängiger 26 Grund war die Blutsfremdheit, die bei Ostjuden vorlag. Das Tatbestandsmerkmal der Unerwünschtheit war also durch die DVO so konkretisiert, daß der Widerruf gegen Ostjuden zu ergehen hatte. Entsprechend weist Hering 2 7 darauf hin, daß die DVO bezüglich des Ermessens die Richtlinie für die Entscheidung bilde. Darüber hinaus findet sich der noch weitgehendere Standpunkt 28 , daß keine Anhaltspunkte für die Erwünschtheit vorliegen müßten, sondern ein Fehlen positiver Merkmale für die Feststellung der Unerwünschtheit ausreichten und bei Ostjuden eine entsprechende Vermutung eingreife 29 . Wie ein solcher Widerruf erfolgte, mag ein Beispiel 30 zeigen: Ein in Bosnien geborener Zahnarzt hatte seit 1928 die deutsche Staatsangehörigkeit. 1934 betrieb man den Widerruf der Einbürgerung, da die Verfolgung zivilrechtlicher 22

Seebach, 1936, S. 51. So auch Lange, 1936, S. 43. 24 Lichter, 1943, S. 51. 25 Insbesondere Ostjuden kamen für den Widerruf in Betracht, siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.2. 26 Lösener, 1935, Bd. I, Gruppe 2, Beitrag 12, S. 25. 27 Hering, 1933, S. 621 ff. 28 Horn, 1935, S. 46. 29 Ein Indiz für eine entsprechende Vorgehensweise bilden Zahlen aus Baden: Dort richteten sich innerhalb der ersten 8 Monate von 111 Widerrufen 82 gegen Ostjuden (Göll, 1934, S. 136). Die Gesamtzahl der Widerrufsbescheide beläuft sich nach den vollständigen Aufzeichnungen des Bundesverwaltungsamtes in Köln auf 10.487 Bescheide. Davon betrafen 6.943 Juden und 3.544 Nichtjuden (Hepp/ Lehmann, 1985, S. XIII). 30 Abgedruckt sind die Originalakten dieses Falles bei Liesner, 1985, S. 49 ff. 23

1. Abschn. Β. Sektorale Diskriminierung — Revokation / Expatriation

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Ansprüche seinerseits als „erpresserisches", „von rücksichtslosem Eigennutz diktiertes" einer „typisch ostjüdischen Einstellung" entsprechendes Verhalten bewertet wurde. § 2 GWSt erfuhr gleichfalls durch die 1. DVO eine nähere Bestimmung. Auch hier konnte eine Aberkennung ausgesprochen werden, wenn treuwidriges Verhalten vorlag. Wie unbestimmt dieses Tatbestandsmerkmal war 3 1 , zeigt die sich anschließende Verwaltungspraxis. I m Reichsanzeiger wurden die Namen der Ausgebürgerten mit einer Begründung veröffentlicht 32 . Diese sogenannten Begründungen verdeutlichen, welchen enormen Handlungsspielraum § 2 GWSt gab. Treulosigkeit lag vor wegen des Berichtes eines jüdischen Kantors über Mißhandlungen im Konzentrationslager 33 , wegen der Wohnsitzverlegung eines ehemaligen SPD-Angehörigen nach Prag, der dort als „Propagandist Landesverrat" betreibe 34 , wegen der sexuellen Irrlehren eines Arztes, die angeblich das deutsche Volk demoralisieren sollten 35 , wegen des Berichts einer Witwe „ . . . über das Märtyrium ihres Mannes in deutschen Konzentrationslagern .. . " 3 6 , wegen der Bezeichnung Deutschlands als „kriegslüstern" durch einen jüdischen Anwalt 3 7 , um nur einige Beispiele zu nennen 38 . 3. Adressaten der Ausgrenzung

a) Ostjuden Die in erster Linie als unerwünscht stigmatisierten Ostjuden waren schon vor der Machtergreifung Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und Diskriminierungen. Zwischen 1921 und 1925 war die Problematik einer Zuwanderung von Ostjuden im Reichstag kontrovers diskutiert worden. Diese Auseinandersetzung war politisch so relevant, daß das Reichsinnenministerium in einer „Denkschrift über die Ein- und Auswanderung nach bzw. aus Deutschland in den Jahren 1910-1920" 39 ein Kapitel den sogenannten Ostjuden widmete. Darin wurde festgestellt, daß ein zahlenmäßiger Nachweis der Ostjuden schwierig sei, weil das Glaubensbekenntnis bei der Einwanderung nicht 31

Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.2.a). Eine Wiedergabe findet sich bei Hepp / Lehmann, „Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger 1933 -1945 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen", 1985. 33 Reichsinnenministerium, Aktz.: A5541/5013c) bei Liesner, 1985, S. 114f. 34 Reichsinnenministerium, Aktz.: A5541/5013c) bei Liesner, 1985, S. 114f. 35 Reichsinnenministerium, Aktz.: A5541/5013c) bei Liesner, 1985, S. 114f. 36 Reichsinnenministerium, Aktz.: A5541/5013c) bei Liesner, 1985, S. 114f. 37 Reichsinnenministerium, Aktz.: A5541/5013c) bei Liesner, 1985, S. 114f. 38 Reichsinnenministerium, Aktz.: A5541/5013c) bei Liesner, 1985, S. 114f. 39 Verhandlungen des Deutschen Reichstages 1922, Bd. 372, Nr. 4804, S. 4385 f. 32

4*

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

festgehalten werde und weil „ . . . ebenso wie bei allen übrigen Einwanderern .. man sich auch der Meldung entziehe 40 . Aus dem vorliegenden Zahlenmaterial des Arbeiterfürsorgeamtes der jüdischen Organisationen und eigenen „ . . . rohen Schätzungen ..." ergebe sich, daß zwischen 1914 und den ersten Nachkriegsjahren etwa 105000 Juden eingewandert seien. Ab- bzw. rückgewandert seien davon 12000 in den Osten, 30000 nach Amerika und 5 000 in andere westliche Industrieländer. Die Zahl des verbleibenden Restes sei schwankend und unter Einbeziehung einer Dunkelziffer müßte von etwa 70000 Juden ausgegangen werden 41 . Bedenkt man, daß sich diese 70000 Personen auf 62411000 Reichsangehörige 42 verteilten, dann sind die Ausschreitungen gegen diese Minderheit um so weniger verständlich. Auf Veranlassung des Generals von Seeckt wurden zum Beispiel am 27. 3. 1920 250 Ostjuden in Berlin verhaftet 43 . A m 23. 4.1920 versuchte die bayerische Landesregierung 5000 Ostjuden auszuweisen44. Zu schwerwiegenden physischen Mißhandlungen seitens der Wachmannschaften kam es im Internierungslager Stangard. Die Zeitschrift „Die Jüdische Arbeiterstimme" 45 berichtete, daß Wachmannschaften — von alltäglicher Prügel abgesehen — aus einer brennenden Baracke fliehenden Ostjuden mit Erschießung gedroht hätten und sogar ein Feldwebel erklärt hätte: „Die Juden sollen ruhig verbrennnen". Diese Mißstände in den Internierungslagern, die auf Veranlassung des sächsischen Innenministers Dominikus errichtet worden waren, gaben den Anlaß zu einer Debatte im preußischen Landtag 46 . Dominikus räumte die katastrophalen Zustände ein und versprach Abhilfe. Diese, aus den 20er Jahren stammenden, diskriminierenden Vorfalle zeigen, daß die in § 1 GWSt in Verbindung mit der 1. DVO niedergelegte Diskriminierungsrichtung keineswegs originär nationalsozialistisch war. Sie konnte vielmehr auf bestehende Ressentiments konservativer Kreise zurückgreifen. So regte der national-konservative Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, Bang, schon am 6. 3. 1933 bei Lammers eine völkische Gesetzgebung gegen die Zuwanderung von Ostjuden an 4 7 , und Hitler selbst bezog sich am 40 Maurer, 1986, S. 63 stützt diese Feststellung durch den Hinweis, daß häufig Ostjuden ohne Spezifizierung in den Ausländerstatistiken der Länder geführt wurden. 41 Verhandlungen des Deutschen Reichstages 1922, Bd. 372, Nr. 4804, S. 4385 f. 42 Statistisches Bundesamt, 1985, S. 13. 43 AdlerjRudel, 1959, S. 115; Maurer, 1986, S. 324f. berichtet von weiteren Ausschreitungen in Oberschlesien und Berlin, die sich teils gegen einzelne, teils gegen die Ostjuden als Gruppe richteten. 44 AdlerjRudel, 1959, S. 115. 45 Die Jüdische Arbeiterstimme, 1. Jahrgang, Berlin 1. 6. 1921, Nr. 6. 46 Preußischer Landtag, 41. Sitzung vom 15.1. 1921, S. 28/30. 47 Briefwechsel Bang-Lammers bei Bracher ! Sauer ! Schulz, 1960, S. 249f. Fn. 96.

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14. 7. 1933 auf eine positive Einstellung des nationalen Koalitionspartners zur Verabschiedung eines Gesetzes gegen die Ostjuden 48 . Wie sehr das GWSt national-konservativen Strömungen Rechnung trug, zeigt umgekehrt die Unzufriedenheit mit diesem Gesetz in nationalsozialistischen Kreisen. Mehrfach betonten sie, daß das GWSt nicht voll dem Parteiprogramm entspreche und zur Lösung der Judenfrage ungeeignet sei 49 . Daraus kann geschlossen werden, daß die Nationalsozialisten zwar auch Ostjuden staatsbürgerlich benachteiligen wollten, der vom GWSt erfaßte Adressatenkreis aber hinter dem programmatisch ins Auge gefaßten Personenkreis zurückblieb. b) Politische Emigranten Wie unscharf der Tatbestand des § 2 GWSt trotz der Einbeziehung der ersten DVO war und wie extensiv die Verwaltung diese Vorschrift anwendete, konnte bereits nachgewiesen werden 50 . Es fragt sich, ob diese weite Fassung des Adressatenkreises der Intention des Gesetzgebers entsprach. Ein entsprechend positiver Rückschluß ist möglich, sofern die Formulierung des Gesetzes gewollt war. Bereits zu Beginn der NS-Herrschaft erging eine Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung 51 . § 3 der Verordnung stellte Personen unter Strafe, die „ . . . vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art (aufstellen oder verbreiten), die geeignet ist, das Wohl des Reiches oder des Landes oder das Ansehen der Reichsregierung oder einer der Landesregierungen oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbände schwer zu schädigen ...". In dieser Verordnung war in Zusammenhang mit einem anderen Straftatbestand auch für die Fälle einer Auslandsstraftat eine Verfolgung vorgesehen 52. I m Gegensatz zu § 2 GWSt waren die Tatbestände dieser Verordnung indes ausgesprochen klar definiert. Entsprechend eindeutig ist die Kommentierung zu dem späteren, nahezu inhaltsgleichen § 90 StGB. Das Merkmal „Behauptung tatsächlicher A r t " wurde als auch in anderen Vorschriften verwendeter Terminus verstanden 53. Hätten die NS-Machthaber § 2 GWSt begrenzen wollen, so hätten sie sich einfach dieser nur drei Monate vor dem GWSt ergangenen Vorschrift bedienen 48 So Adam, 1972, S. 80 f. Fn. 60 unter Bezugnahme auf eine Äußerung Hitlers vor dem Reichskabinett. 49 Tatarinj Tarnheyden, 1934, S. 36 f.; so auch Göll, 1934, S. 136. 50 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.2. 51 RGBL 1933 I, S. 135. 52 § 2 Abs. 3 der VO (RGBl. 1933 I, S. 135). 53 Von Olshausen, 1942, §90 Anm. l f . m.w.N.

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

können. Ließ man diese Möglichkeit ungenutzt, um stattdessen den völlig unscharfen Begriff der Treulosigkeit einzuführen, so ist der Rückschluß zulässig, daß die NS-Machthaber ein beliebig nutzbares Instrument schaffen wollten, um politisch mißliebigen Personen die Staatsbürgerschaft zu nehmen. Neben der entsprechenden Auslegung durch die Literatur kann zusätzlich aus diesem Umstand geschlossen werden, daß die tatbestandliche Nichteingrenzung des betroffenen Personenkreises gewollt war 5 4 .

I I L Wirkung des GWSt 1. § 1 GWSt

a) Zahlen Eine quantitative Feststellung der Wirkung des GWSt — verstanden als Bewirkung der Auswanderung — bereitet Schwierigkeiten, und bei der Wiedergabe solcher Zahlen ist Vorsicht geboten. Vielfach beruhen die Zahlen auf Schätzungen55, und es läßt sich daher nur schwer abschließend beurteilen, in welchem absoluten Maß die Zahl der im deutschen Reich ansässigen Ostjuden abgenommen hat. Erschwert wird eine spezifische Bezifferung dadurch, daß zumeist 56 generelle Auswanderungszahlen für alle Juden angegeben werden, was einer differenzierten Feststellung der darin anteilsmäßig enthaltenen Ostjuden entgegensteht. Adler/Rudel 5 7 versuchen eine Übersicht anhand der Staatsangehörigkeit zu geben. Danach sinkt die Zahl der Ostjuden, zu denen die Verfasser Polen, Österreicher, Tschechoslowaken, Ungarn, Rumänen, Russen, Litauer, Juden anderer Länder und schließlich Staatenlose zählen, von 1933 bis 1939 von 98747 auf 25 800 Personen. Diese Angaben lassen jedoch nur sehr bedingt eine quantitative Wirkung des GWSt erkennen. Einmal erstrecken sich diese Zahlen auf einen über die Geltungszeit des § 1 GWSt — 1933 bis 1935 — hinausgehenden Zeitraum. Es läßt sich daher nicht feststellen, welche antisemitischen Maßnahmen, die des GWSt oder spätere, die Auswanderung bewirkten. Zweitens ist es problematisch, die Zahlen nur hinsichtlich der genannten Staatsangehörigen zu nennen. Als Ostjuden im Sinne des § 1 GWSt in Verbindung mit der 1. DVO wurden nämlich auch Personen bezeichnet, die einen Wohnsitz im westlichen Ausland hatten und erst von dort ins Deutsche 54

Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.2.a). So etwa die Zahlen bei AdlerI Rudel, 1959, dort Tabelle C, S. 165. 56 So die von Grami, 1958, S. 79 und von Bracher/ Sauer/ Schulz, 1960, S. 283 wiedergegebenen Zahlen. 57 Adlerj Rudel, 1959, dort Tabelle E, S. 166. 55

1. Abschn. Β. Sektorale Diskriminierung — Revokation / Expatriation

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Reich einwanderten 58 . Ob dieser Umstand Berücksichtigung fand, lassen die Statistiken von Adler/Rudel offen. Beachtet man diese Relativierungen, bleibt bemerkenswert, daß die Zahl staatenloser Juden mit einem Anteil von 13000 im Jahre 1939 und somit von 50% der im Jahre 1939 im Reichsgebiet ansässigen ausländischen Juden sehr hoch ist. Dies gilt um so mehr, weil vor umfassenden legislativen Maßnahmen die Zahl der staatenlosen Juden 1933 bei 19000 lag. So weisen Adler/Rudel 5 9 daraufhin, daß die Zahl von 13000 ein Indikator für die Wirkung des § 1 GWSt ist, denn die Staatenlosigkeit war eine Folge des Widerrufs 60 . Mehr als ein Indikator können diese Zahlen jedoch kaum sein, da seit 1935 gleichzeitig die Nürnberger Gesetze wirkten. Die quantitative Wirkung läßt sich regional etwas genauer in Sachsen feststellen. Dort waren bis zum 31.12.1936 2 220 Widerrufe erlassen worden 61 . Bei einer Gesamtzahl von 6868 deutschen Juden 62 ist das Widerrufsinstrument außerordentlich effektiv gewesen, wenn man hinzunimmt, daß von den fast 7000 dort ansässigen deutschen Juden nicht alle ehemalige Ostjuden gewesen sein dürften. Läßt sich die Wirkung des Gesetzes an Zahlen schwerlich feststellen, so kann die quantitative Grenze der Wirkung zeitlich festgestellt werden. Die Geltungsdauer des § 1 GWSt endete nämlich gemäß § 1 Satz 4 GWSt am 31.12. 1935 63 . Die Befristung der Anwendungsmöglichkeiten darf jedoch nicht dazu verführen anzunehmen, der Gesetzgeber habe ein quantitativ begrenztes Anwenden des GWSt gewollt. Befristet war das Gesetz vielmehr, weil angenommen wurde, daß die Überprüfungen der Einbürgerungen und Widerrufe bis 1935 erfolgt sein würden 64 . Die zeitliche Begrenzung sollte also keineswegs die Effektivität in Frage stellen, sondern trug dem Umstand Rechnung, daß man davon ausging, bis zu diesem Zeitpunkt die gewollte Wirkung erreicht zu haben. Zu der quantitativen Wirkung ist eine Hinzufügung nötig: Durch Auswertungen des Bundesverwaltungsamtes, die lückenlos jede Ausbürgerung angeben, liegt für die Einzelausbürgerung nach §2 verläßliches Zahlenmaterial vor 6 5 . 58

Meilicke, 1933, S. 1917; Horn, 1935, S.46. Adlerj Rudel, 1959, S. 152. 60 Meilicke, 1933, S. 1918; Seebach, 1936, S. 52; Lange, 1936, S. 44. 61 Diese Zahl entstammt einem Beitrag eines nicht genannten Verfassers in der Zeitschrift „Rasse und Recht", hrsg. von Erich Ristow, 1937, Heft 1, S. 423. 62 Eine Zahl, die sich ergibt, wenn man von den 20.584 Personen jüdischen Glaubens, die Adler!Rudel, 1959, S. 165, Tabelle C für das Jahr 1933 in Sachsen nennen, 13.716 ausländische Juden abzieht, denn für einen Widerruf kamen nur die verbleibenden 6.868 Juden mit deutscher Staatsangehörigkeit in Betracht. 63 RGBl. 1933 I, S.480 i.V.m. Abänderungsgesetz vom 10.7. 1935, RGBl. 1935 I, S. 1015. 64 Pfundtner ! Neubert, 1942, S. l f . 65 Hepp!Lehmann, 1985, S. III. 59

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Insgesamt wurden danach aufgrund des § 2 GWSt in der Zeit vom 25. August 1933 bis zum 7. April 1945 39006 Personen — Ausbürgerungen nach den Nürnberger Gesetzen sind darin nicht enthalten — ausgebürgert 66. b) Bewertung Alle Rechte und Pflichten, die ein Staat einem Bürger gibt, sind von seiner Staatsangehörigkeit abhängig. Entsprechend sieht Majer 6 7 im GWSt eines der wichtigsten Gesetze zur Durchsetzung völkischer Ungleichheit mit einem hohen Grad an Effizienz. Verstärkend diskriminierend habe sich die in § 1 Satz 2 angeordnete Sippenhaft ausgewirkt 68 . Unter Verweisung auf andere totalitäre Staaten ordnet Makarov 6 9 dem GWSt zentrale Bedeutung zur Durchsetzung individueller Ausbürgerungen zu. Nach Liesners Ansicht ist das GWSt ein Instrument, das geeignet ist, unbegrenzt gegen rassische Gegner vorgehen zu können 70 . Er betrachtet die Auswirkungen der rassenpolitischen Ausbürgerung des NS-Staates als ausgesprochen gravierend und sieht in der Rückgängigmachung dieses Unrechts einen wichtigen Bereich der Wiedergutmachung. Dies habe sich in Art. 116 Abs. 2 GG niedergeschlagen, der für Personen, die im Deutschen Reich ihre Staatsangehörigkeit verloren haben, den Anspruch auf Wiedereinbürgerung vorsieht. Ein Unrecht, das von Anfang an nichtig sei, sehen Hepp/Lehmann 7 1 in den Ausbürgerungsvorschriften, denn sie hätten die Schädigung und Vernichtung menschlichen Lebens von Anfang an zum Ziel gehabt. Ein Diskriminierungsschwerpunkt läge in der ächtenden Wirkung. Diese Wirkung zu verstärken, sei Aufgabe der Ausbürgerungslisten gewesen72. Es ist zutreffend, einen Ausgrenzungsschwerpunkt in dem Widerruf als solchem und in der daran anknüpfenden Staatenlosigkeit zu sehen. Deutlicher wird die ganze Tragweite des Widerrufs, wenn seine Folgen analysiert werden.

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Die Summe der Ausbürgerungen nach Hepp / Lehmann (1985, S. III) gemäß §1 GWSt (10.487) und gemäß § 2 GWSt stimmt somit annähernd mit den Zahlen Liesners (1985, S. 110) überein, der von gut 50.000 Fällen insgesamt ausgeht. 67

Majer, 1981, S. 195f. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.l. 69 Makarov, 1948, S. 257. 70 Liesner, 1985, S. 26f. 71 Hepp/Lehmann, 1985, S. X V I I . 72 Hepp ILehmann, 1985, S. X V I I bezeichnen diese Listen daher als Proskriptionslisten; ein Begriff, der die öffentliche Bekanntmachung der Namen der Geächteten im alten Rom bezeichnet. 68

1. Abschn. Β. Sektorale Diskriminierung — Revokation / Expatriation

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Durch den Widerruf verloren die Betroffenen endgültig ihre Staatsangehörigkeit 7 3 . Dieser Status bewirkte neben dem Umstand, daß die Auswanderung fast unmöglich wurde, die Degradierung der Betroffenen im Deutschen Reich und auch — eine ohne Staatsangehörigkeit illegale Ausreise als geglückt vorausgesetzt — im Ausland zu Personen minderen Rechts. Staatenlosen war nämlich jegliche Arbeit verboten, und es drohte die Abschiebung 74 . I m Deutschen Reich führte der Widerruf ebenfalls zur Ausweisungsmöglichkeit und dazu, eine Rückkehr unterbinden zu können 75 . Legale Erwerbsmöglichkeiten waren in Folge der Staatenlosigkeit stark begrenzt, denn § 3 der Verordnung über ausländische Arbeitnehmer 76 , der gemäß §2 derselben Verordnung für Staatenlose gleichermaßen galt, legt dem Arbeitgeber die Pflicht auf, sich die Beschäftigung genehmigen lassen zu müssen. Hatte der Arbeitgeber die Beschäftigungsgenehmigung erhalten, so war damit noch keineswegs gesagt, daß der potentielle Arbeitnehmer seine Arbeit aufnehmen konnte. Vielmehr war dazu nach § 10 der Verordnung eine Arbeitserlaubnis erforderlich. Diese wurde versagt, wenn Gründe in der Person des Arbeitnehmers entgegenstanden. Bei unerwünschten Personen im Sinne von § 1 GWSt war davon regelmäßig auszugehen. Ein weiterer Punkt, der hier lediglich dazu dienen soll, die umfangreichen Konsequenzen der Staatenlosigkeit weiter zu belegen, ergab sich aus der Zivilprozeßordnung (ZPO). § 110 ZPO schreibt nämlich vor, daß Staatenlose wie Ausländer wegen der Prozeßkosten Sicherheit zu leisten haben. Die klageweise Verfolgung bestehender Ansprüche war also erheblich erschwert. 2. §2 GWSt

Eine verstärkte Wirkung des § 2 erreichte man durch zwei weitere Faktoren: §2 Sätze 3 und 4 GWSt sahen die Möglichkeit vor, das Vermögen bei Einleitung des Aberkennungsverfahrens zu beschlagnahmen und nach Aberkennung dessen Einziehung zugunsten des Reiches vorzunehmen. Die sich an die Beschlagnahme anschließende Verfügungsbeschränkung schloß Immobilien ein und konnte, obwohl die Beschlagnahme bereits im Reichsregister veröffentlicht war, im Grundbuch eingetragen werden 77 . Von dieser Wirkung waren Personen mit einer zweiten Staatsangehörigkeit, also Personen, die trotz der 73

Eine Wirkung, auf die die damaligen Beiträge ausdrücklich hinwiesen, vgl. Hering, 1933, S. 623; Göll, 1934, S. 136; Meilicke, 1933, S. 1918; Seebach, 1936, S. 52; Lange, 1936, S. 44. 74 Grami , 1958, S. 79 f. hat diese Wirkungen in einem Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte umfassend dargestellt. 75 Meilicke, 1933, S. 1919. 76 RGBl. 1933 I, S. 26. 77 Dies bestimmte sich nach §380 Abs. 2-4 Reichsabgabenordnung (RGBl. 1931 I, S. 161, 210), der für die Beschlagnahme nach § 2 GWSt galt, vgl. Hering, 1933, S. 624.

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Aberkennung nicht staatenlos waren, ebenfalls erfaßt. Eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit war für die Beschlagnahme nämlich unerheblich 78 . Ein zweiter Aspekt, der sich verschärfend auswirkt, lag in der Geltungsdauer. Während § 1 GWSt befristet war, fehlt § 2 diese Einschränkung. Die zeitlich unbegrenzte Geltung erlaubte somit eine längere Anwendung der Vorschrift und eignete sich auch dazu, die Wirkungen des Gesetzes durch andere Vorschriften auszubauen. § 1 des „Gesetzes über die erbrechtlichen Beschränkungen gemeinschaftswidrigen Verhaltens" 79 Schloß Personen, „ . . . die aufgrund des §2 (GWSt) der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt worden (sind) ..." von erbrechtlichen Zuwendungen aus und untersagte Deutschen Schenkungen an Ausgebürgerte. Resümierend kann gesagt werden, daß die Wirkungen des § 2, insbesondere wegen der vermögensrechtlichen Komponente gegenüber § 1, einschneidender waren. IV. Ergänzungen der diskriminierenden Paragraphen des GWSt und faktische Vereitelung des gewünschten Erfolges des § 1 GWSt 1. Ergänzung der diskriminierenden Paragraphen des GWSt

Betrachtet man § 1 GWSt, so kann eine sektorale Begrenzung der antisemitischen, durch das GWSt realisierten Staatsangehörigkeitspolitik festgestellt werden. Unerwünscht im Sinne des § 1 GWSt in Verbindung mit der ersten DVO waren in erster Linie die sog. Ostjuden. Bei der Differenzierung zwischen Ostjuden und anderen Juden handelte es sich um keine künstliche Trennung durch die Nationalsozialisten, vielmehr entsprach sie einer sozialen Realität. So äußerte der Verband nationaldeutscher Juden, daß man mit Zionisten und Ostjuden nichts gemein habe; andere jüdische Verbände veröffentlichten ähnliche Verlautbarungen 80 . Diese Stellungnahmen zeigen, wie wenig sich diese 78 Meilicke, 1933, S. 1919; Lichter, 1943, S. 56; Horn, 1935, S. 50 unter Anführung von RG JW 1924, S. 1529. Dieses Zitat von Horn — in dem Fall ging es um die Frage, ob der Besitz einer zweiten Staatsangehörigkeit neben der deutschen die Unfähigkeit zum Geschworenenamt bewirkt — ist allenfalls zulässig, wenn man dem Satz des Reichsgerichts, daß für die Frage der Mitwirkungsbefugnis „ . . . allein der Umstand von Bedeutung (ist), ob er (der Geschworene) ein Deutscher ist", so versteht, daß im Staatsangehörigkeitsrecht andere Staatsangehörigkeiten generell unerheblich sind. 79

RGBl. 1937 1, S. 1161. Telegramm des Nationalverbandes der Juden an Hitler, bei Bracher / Sauer / Schulz, 1960, S. 282 Fn. 106; Diels, 1950, S. 277; nach Maurer, 1986, S. 341 f. wird diese interne jüdische Auseinandersetzung belegt durch die Bewertung der Ausschreitungen (siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.3.a) als „Ostjudenpogrom" seitens des Verbandes Nationaldeutscher Juden. 80

1. Abschn. Β. Sektorale Diskriminierung — Revokation / Expatriation

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Juden durch § 1 GWSt gefährdet sahen. Eine Vorstellung, der § 1 GWSt nur ausgesprochen bedingt entsprach. Zwar war die erste DVO an Ostjuden adressiert, sie war jedoch nicht abschließend81; vielmehr nannte sie nur Beispiele, positive Dispensmöglichkeiten, insbesondere für Frontkämpfer standen einem wirksamen Widerruf ebenfalls nicht entgegen82. Doch selbst ohne diesen möglichen Gebrauch des § 1 wurden deutsche Juden durch das GWSt in ihren Rechten beeinträchtigt. Häufig emigrierten Juden schon zu Beginn der NS-Herrschaft 83 , um wie viele politisch Andersdenkende ihrer Tätigkeit weiter nachgehen zu können. Während die politische Beschränkung bei den nichtjüdischen Emigranten das Leitmotiv war, kamen bei den jüdischen Auswanderern die Furcht vor dem virulenter werdenden Antisemitismus 84 hinzu und verstärkte den Druck, Deutschland zu verlassen. In welch einem erheblichen Umfang deutsche Juden von der Aberkennung nach § 2 GWSt betroffen waren, ist belegbar durch den überproportionalen Anteil deutscher Juden an dem von der Aberkennung erfaßten Personenkreis 85. Beispielsweise waren von den 38 Ausgebürgerten in der Ausgabe des Reichsanzeigers vom 11. 6.1935 86 allein 17 Personen jüdischen Glaubens. Zweifelhaft ist es jedoch, wenn Liesner 87 , Majer 8 8 und wohl auch Adam 8 9 in diesem Zusammenhang davon ausgehen, bereits die Emigration an sich sei ein treuloses Verhalten im Sinne des GWSt gewesen und Juden aus diesem Grunde schon durch die Emigration von § 2 GWSt in verstärktem Maße erfaßt worden wären. Zwar liegt dieser Schluß nahe. Ein überzeugender Beleg für diese These fehlt aber sowohl bei Majer und Liesner als auch bei Adam. Umgekehrt ist vielmehr feststellbar, daß im Reichsanzeiger das sogenannte propagandistische Verhalten angeführt wird 9 0 und in dem Aktenstück, auf das Liesner 91 verweist, 81

Seebach, 1936, S. 59. Seebach, 1936, S. 60. 83 1933 emigrierten 37000 Juden, Statistik bei Bracher/Sauer/Schulz, 1960, S. 283. 84 Neben den bislang erwähnten Ausschreitungen (siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.a) sei dabei auch an den Boykott jüdischer Geschäfte am 1.4. 1933 erinnert. Goebbels bezeichnete dieses Datum in seinem Tagebuch als Beginn „ . . . eines Kampfes gegen die Juden bis aufs Messer ..(Goebbels, 1987, S. 400), falls die jüdische Hetze im Ausland nicht bald beendet werde. Andere Zeitgenossen bewerten den Boykott ebenfalls als Beginn „ . . . einer systematischen Judenverfolgung" (Diels, 1950, S. 277). 82

85

Hepp/Lehmann, 1985, S. IX. Reichsanzeiger 1935, Nr. 133, 1. Beilage. 87 Liesner, 1985, S. 18. 88 Majer, 1981, S. 197f. 89 Adam, 1972, S.81. 90 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.2.b). 91 Liesner, 1985, S. 114ff. hat die Aktenstücke des Reichsinnenministeriums (Aktz.: I A5541 / 5013 c), auf die in der Reichsanzeigerausgabe (Reichsanzeiger 1935, Nr. 133, 1. Beilage) verwiesen wird, wiedergegeben. Ausführlich wird dort die das treulose Verhalten 86

60

1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

ausführliche Darstellungen des propagandistischen Verhaltens gegeben werden. Wäre bloß die Emigration als treuloses Verhalten ausreichend gewesen, so ergäben solche Begründungen keinen Sinn. Bestärkt wird diese kritische Würdigung durch einen Geheimerlaß Himmlers aus dem Jahre 1937 92 . Darin werden die Gründe, die zur Expatriation ausreichen, reduziert. Es reiche, wenn ein im Ausland lebender Jude sich rassenschänderisch, linkspolitisch, unter Verstoß gegen Devisengesetze oder unter Entwicklung sonstigen volkswirtschaftlich schädlichen Verhaltens im Ausland aufhielte. Würde die Annahme Liesners, Majers und Adams zutreffen, so ergibt dieser Erlaß ebenfalls keinen Sinn. Dies ändert allerdings nichts an der ergänzenden Funktion des § 2 GWSt. Denn während von dem Widerruf in der Regel nur Ostjuden erfaßt wurden und die Zustellung des Widerrufes ein konstitutives Erfordernis dieser Maßnahme war 9 3 , konnte die Aberkennung auch gegen Nicht-Naturalisierte, sondern von Geburt an deutsche Juden ausgesprochen werden. Eine weitere Ergänzung ergab sich aus dem Umstand, daß eine Zustellung bzw. der Versuch einer Zustellung entbehrlich waren. Die wirksame Aberkennung erfolgte bereits durch die Publizierung im Reichsanzeiger. Schließlich konnte im Gegensatz zu §1 GWSt nach §2 GWSt eine Vermögensbeschlagnahme ausgesprochen werden 94 . 2. Vereitelung eines Verlassens des Reichsgebietes nach Widerruf der Staatsangehörigkeit gemäß § 1 GWSt

Eine räumliche Trennung zwischen Juden und dem deutschen Volk zu schaffen, bezeichnete die nationalsozialistische Ideologie als ein Gesamtziel aller gesetzlichen Maßnahmen gegen die jüdische Minderheit 95 . Die Abwanderung aus dem Reichsgebiet sei die einzige Möglichkeit, die „Judenfrage" zu lösen und ein „arteigenes Leben" des deutschen Volkes zu gewährleisten 96. Das gleiche rassische Verständnis lag bereits § 1 GWSt zugrunde. Vor 1933 sei bei Einbürgerungen das Postulat der Reinerhaltung der Rasse eine gänzlich unbekannte Kategorie gewesen. Die Vernachlässigung dieses Kriteriums sei insbesondere Ostjuden zugute gekommen. Es gelte nun, diese unerwünschten Elemente auszubürgern 97. Gemeint war mit der Ausbürgerung im Sinne von § 1 i.S.d. §2 GWSt begründende Tätigkeit genannt (siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.2.b). 92 Bei Lehmann, 1976, S. 56. 93 Eine Ersetzung der Zustellung durch Veröffentlichung im Reichsanzeiger war nur möglich, wenn die Zustellung weder im Deutschen Reich noch im Ausland möglich war (RGBl. 1933 I, S. 538). 94 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.l. 95 Schiedermair, 1939, S. 4 m.w.N. 96 Schiedermair, 1939, S. 4 m.w.N.

1. Abschn. Β. Sektorale Diskriminierung — Revokation / Expatriation

61

GWSt nicht eine bloße Acht, ausgelöst durch das Stigma der Staatenlosigkeit. Entsprechend der allgemeinen Zielsetzung in der Judenfrage wollte man durch § 1 GWSt Ostjuden aus dem Reichsgebiet entfernen 98 . Die Staatenlosigkeit zog nämlich die Anwendbarkeit des Gesetzes über die Reichsverweisung 99 nach sich. § 6 dieses Gesetzes stellte Staatenlose Ausländern gleich; letztere konnten aus dem Reichsgebiet verwiesen werden. Dieser Zweck kollidierte jedoch mit einer völkerrechtlichen Übung. Danach pflegten Staaten Personen ohne Staatsangehörigkeit die Aufnahme zu verwehren 100 . Vielmehr traf die Aufnahmepflicht den Staat, dem der Staatenlose einmal angehört hatte 1 0 1 . Mittels unmittelbaren Zwangs, d. h. Abschiebung, war ein Verlassen des Reichsgebietes nicht durchsetzbar 102 ; die staatenlosen Juden mußten im Reich verbleiben. Sie erhielten einen Staatenlosenpaß und eine Aufenthaltsgenehmigung 103 . Setzt man dieses Ergebnis in Relation zu der ursprünglichen Zielsetzung — Bewirkung der Auswanderung 104 —, ist die Verfehlung dieses Ziels konstatierbar. Die gewollten Ziele wurden lediglich innerstaatlich erreicht 105 .

97

Göll, 1934, S. 134. Horn, 1935, S. 49 m.w.N. 99 RGBl. 1934 1, S.213. 100 Grami , 1958, S. 82; teilweise wird offenbar auch die Ansicht vertreten, daß diese Übung Grund für die „Polenaktion", bei der über 18 000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit am 28. und 29.10.1938 über die polnische Grenze verbracht wurden, gewesen sei: „Die deutschen Behörden wollten die im Reich lebenden Ostjuden (...) loswerden, bevor sie ihre polnische Staatsangehörigkeit verloren" (Büttner, 1986, Bd. II, S. 60). Gerade aber wegen der völkerrechtlichen Übung, etwaig staatenlos gewordene Personen in ihr vorheriges Staatsgebiet zurückzuschicken, ist diese Annahme zweifelhaft. 98

101 102 103 104 105

Seebach, 1936, S. 61; Strupp, 1925, S. 593. Seebach, 1936, S.61. Göll, 1934, S. 136. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.IV.2. mit den dortigen Nachweisen. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.IV.2. mit den dortigen Nachweisen.

2. Abschnitt

Sektor-übergreifende Diskriminierungen A. Das Reichsbürgergesetz vom 15.9. 1935 (RbG) I. Besonderheiten des Gesetzgebungsaktes 1. Der Reichstag im Dritten Reich 1

Bei dem R b G und dem Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (das sogenannte Blutschutzgesetz) handelte es sich formal um Parlamentsgesetze des Deutschen Reichstages2, also Gesetze, die ohne Nutzung des Ermächtigungsgesetzes zustande kamen. Der formale Charakter des Reichstages als Legislativorgan ergab sich aus einer Reihe von Gründen, die letztlich zur Legislativgewalt der Regierung führten 3 . Diese durch das Ermächtigungsgesetz eingeräumte Befugnis bestand jedoch parallel zur Gesetzgebungskompetenz des Reichstages, die dem Parlament auch nach Erlaß des Ermächtigungsgesetzes blieb 4 . Während das Gesetzgebungsrecht des Reichspräsidenten Hitler 1934 ausdrücklich zugesprochen wurde 5 , erledigte sich dieses Recht des Parlaments durch die Zusammensetzung des Reichstages. Nachdem am 14. 7. 1933 außer der NSDAP alle übrigen Parteien verboten worden waren 6 , stellte Frank 7 entsprechend fest: „Es gibt keine Fraktionen im Reichstag mehr und keine Diskussionen. Der Reichstag ist kein Parlament mehr." Staatsrechtlich hat Huber 8 die Funktion des Reichstages im nationalsozialistischen Sinne beschrieben. Er spricht dem Reichstag die kontrollierende Funktion gegenüber der Regierung ab und verneint dessen Gesetzgebungsbe1

RGBl. 1935 1, S. 1146. RGBl. 1935 I, S. 1146; bereits im damaligen Schrifttum wurde hervorgehoben, daß ein Parlamentsgesetz in der Regierungspraxis ein Ausnahmefall sei (Lösener / Knost, 1941, S. 42). 3 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.I. 4 RGBl. 1933 I, S. 141: Art. 1 „ . . . außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren" waren Regierungsgesetze daneben möglich. 5 RGBl. 19341, S. 529, dort wurde das Verordnungsrecht des Reichspräsidenten Hitler übertragen. 6 RGBl. 1933 I, S. 479. 7 Frank, 1935, S. 384. 8 Huber, 1939, S. 207ff. m.w.N. 2

2. Abschn. Α. Übergreifende Diskriminierung — Reichsbürgergesetz

63

fugnis. Gegen letztere Feststellung könne nicht angeführt werden, daß der Reichstag wie zum Beispiel am 15. 9.1935 Gesetze beschließe. Die Gesetzesinitiative gehe nämlich vom Führer aus. Abstimmungen im Reichstag hätten daher nur die Funktion, Übereinstimmung mit dem Willen des Führers zu zeigen. Gesetzgeber des deutschen Volkes sei der Führer, keinesfalls der Reichstag. Eine Kontrollfunktion entfalle, da die Volksgemeinschaft eine Opposition und ihre Kontrolle der Regierung überflüssig mache. Reichstagsbeschlüsse seien insoweit am ehesten mit Volksabstimmungen zu vergleichen: Sie sollen die Willensgleichheit von Volk und Regierung deklamieren. Mithin läßt sich feststellen, daß der Reichstag lediglich ein Forum war, um Erklärungen Hitlers entgegenzunehmen und von der nationalsozialistischen Führung beschlossene Gesetze per Akklamation gutzuheißen9. 2. Verabschiedung der Nürnberger Gesetze durch den Reichstag — eine propagandistische Marginalie?

Fehlten dem Reichstag die üblichen, einem Parlament Macht verleihenden Befugnisse, so bleibt zu fragen, wieso Hitler sich des Reichstages zur Verabschiedung der Nürnberger Gesetze bediente. Der Zeitpunkt und der Ort legen propagandistische Gründe 10 , insbesondere die Annahme nahe, daß die Gesetze durch die Reichstagsbeteiligung eine öffentlichkeitswirksame Aufwertung erfahren sollten. Hitler hatte die Staatssekretäre Pfundtner und Stuckardt am Abend des 13.9. 1935 beauftragt, ein Reichsbürgergesetz zum 15.9. 1935 vorzulegen. In der Nacht auf den 14. 9. 1935 befahl man die nachgeordneten Beamten nach Nürnberg, um ihnen am Mittag in groben Umrissen die Vorstellungen Hitlers mitzuteilen 11 . Drobisch 12 bezweifelt diese Angabe. Unter Berufung auf einen Erlaß Globkes, in dem Standesbeamte angewiesen werden, keine Trauungen zwischen 9

Drobisch, 1973, S. 145; Bracher/Sauer/Schulz, 1960, S. 214f. I m Volksmund wurde der Reichstag fortan als Deutschlands „teuerster Gesangsverein" bezeichnet (Bracher I Sauer ! Schulz, 1960, S. 352; Deuerlein, 1963, S. 31). Schneider, 1988, S. 27 ff. beurteilt die Stellung des Reichstages ebenso. Er stützt sich dabei auf einen Vorgang des Jahres 1942. Hitler habe sich anläßlich eines ihm zu milde erscheinenden Strafurteils vom Reichstag ein unbeschränktes Eingriffsrecht hinsichtlich aller Richter, Soldaten und Beamten bescheinigen lassen und zwar nicht durch Gesetz, sondern durch einfachen feststellenden Beschluß, um der uneingeschränkten Führergewalt schon durch diese Form Rechnung zu tragen. 10 So Sigg, 1951, S. 46 unter Hinweis auf das Flaggenverbot, „ . . . das seiner Natur nach eher in eine polizeiliche Ordnungsvorschrift ..." als in das RbG gehört hätte, das Staatsangehörigkeitsfragen geregelt habe. Weil die Flagge aber propagandistisch von hohem Stellenwert gewesen sei, habe man die Vorschrift ins RbG aufgenommen. 11 Ein Hauptbeteiligter, Minsterialrat Lösener, hat die Entstehungsgeschichte nachgezeichnet (Lösener, 1961, S. 264ff.). 12

Drobisch, 1973, S. 146.

64

1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Ariern und Nichtariern vorzunehmen, vertritt er die Ansicht, die Entwürfe zu den Nürnberger Gesetzen seien schon wesentlich früher vom Reichsinnenministerium ausgearbeitet worden. Einmal fehlt bei Drobisch ein Beleg, durch den der Wortlaut des Erlasses feststellbar wäre. Unabhängig davon verkennt er, daß Lösener die zeitliche Abfolge allein auf das RbG unter Ausschluß des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre bezieht. Die von Lösener nachgewiesene zeitliche Abfolge stützt die Annahme, die Reichstagsbeteiligung habe tatsächlich nur einer öffentlichkeitswirksamen Aufwertung des RbG gedient. Der Ort, Nürnberg, legt dies ebenfalls nahe. Zum Ort sagte Göring: „Der Ort wurde gewählt, weil die nationalsozialistische Bewegung in einem innigen Zusammenhang steht mit (den) ihnen (gemeint waren die Abgeordneten) heute vorgelegten Gesetzen" 13 . Gegen eine propagandistische Funktion zur Aufwertung des RbG durch den Reichstag spricht jedoch folgendes: Der Auftrag, ein RbG abzufassen, erging drei Tage nach der Einberufung der Reichstagsabgeordneten 14. Wenigstens bei der Einberufung konnte daher eine Mitwirkung des Reichstages am RbG als propagandistische Unterstützung des Gesetzes nicht intendiert gewesen sein. Umgekehrt zeigt Löseners Bericht, daß das RbG selbst eine Aufwertung des Reichsparteitages bewirken sollte. Hitler hatte das RbG in Auftrag gegeben, damit durch den Reichstag der Reichsparteitag eine zusätzliche Aufwertung erhielt 15 . Die Propagandafunktion des Reichstages bestand somit in einer Hervorhebung der Wichtigkeit des Parteitages, kaum in einer öffentlichkeitswirksamen Unterstützung des RbG, so daß sich resümierend sagen läßt, daß die Verabschiedung des RbG durch den Reichstag keineswegs auf eine Hervorhebung der Wichtigkeit des RbG abzielte, sondern daß der Reichstag und das RbG dem Reichsparteitag dienten 16 .

13

Wiedergegeben bei Wulf, 1960, S. 9. Lösener, 1961, S. 273; Wulf, 1960, S. 9. 15 Lösener, 1961, S. 275. 16 Anderer Ansicht offenbar Adam, 1985, S. 20 f., der das RbG als Rechtsfertigungsinstrument zur Einberufung des Reichstages bewertet und dazu außenpolitische Gründe — Abschwächung des von Mussolini aufgeputschten Abessinienkonflikts — anführt. 14

2. Abschn. Α. Übergreifende Diskriminierung — Reichsbürgergesetz

65

II. Inhalt, Entwicklung und Handlungsspielräume 1. Inhalt des RbG

a) Das Gesetz selbst Das RbG bestimmte in drei kurzen Paragraphen, daß „Staatsangehöriger ist, wer dem Schutzverband des Deutschen Reiches angehört..." (§ 1 Abs. I ) 1 7 , das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, insbesondere für den Erwerb der Staatsbürgerschaft weiterhin gilt (§ 1 Abs. 2), Reichsbürger nur der Staatsangehörige deutschen Blutes, der außerdem seine Treue zum Staat bewiesen hat, sein kann (§ 2 Abs. 1) und nur letzterer volle Rechte genießt (§ 2 Abs. 3). Darüber hinaus sah das Gesetz die Verleihung eines Reichsbürgerbriefes zur Erlangung der Reichsbürgerschaft vor und enthielt eine Verordnungsermächtigung. Die Erklärung der Kürze und des geringen Aussagegehaltes des RbG ergibt sich aus der schon angesprochenen Entstehungsgeschichte des Gesetzes. Bedingt durch den Zeitverlust, der entstand, bis die zuständigen Beamten Nürnberg erreicht und sich mit den Vorstellungen Hitlers vertraut gemacht hatten, begann die Abfassung der Inhalte des RbG, die von den Beamten nachts festgelegt worden waren, nur eine halbe Stunde vor der Verkündung 18 . Hitler selbst hatte kaum inhaltliche Vorgaben gemacht, deshalb mußten die Verfasser schnellstens ohne Vorüberlegungen ein Gesetz verfassen, dessen Text bereits wiedergegeben wurde. Leiten ließen sich die Ministerialbeamten von zwei Grundüberlegungen: Einmal sollte das bestehende Staatsangehörigkeitsrecht für Juden weiterhin gelten, und es sollte durch eine möglichst unverbindliche Formulierung Zeit gewonnen werden, um Inhalte besser fassen zu können 19 . Die Stimmung, in der diese Formulierung erfolgte, wird als ausgesprochen gereizt beschrieben. Man sah sich durch eine „Laune Hitlers" 2 0 zu einer nicht zu erledigenden Aufgabe angehalten. Das RbG sei unter diesen Umständen aus „Phrasen ... zusammengestellt" worden.

17

RGBl. 1935 I, S. 1146. Lösener, 1961, S. 275, die Authentizität der Darstellung wird belegt dadurch, daß alle namhaften Autoren, die sich mit der NS-Rassengesetzgebung beschäftigen, diese Quelle heranziehen, teilweise sogar wörtlich wiedergeben (vgl. Bracher/ Sauer/ Schulz, 1960, S. 286ff.; Majer, 1981, S. 201 f.; Adam, 1972, S. 125 ff.; Gruchmann, 1985, S. 124). 18

19

Lösener, 1961, S. 275. Lösener, 1961, S. 275; anzumerken bleibt, daß Lösener in seinen damaligen Veröffentlichungen (Lösener, 1935, S. 931) insbesondere den Abstufungsgedanken zwischen Reichsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit als grundlegende Erkenntnis darstellt, die im RbG ihren Niederschlag gefunden habe. Wegen seiner eigenen Beteiligung an der Erstellung der Nürnberger Gesetze räumt Lösener ein, daß seine Veröffentlichung 1961 über die Tätigkeit als „Rassereferent" auch rechtfertigende Elemente enthalte. Eine Relativierung, die so ausdrücklich bei Ole, 1987, passim hinsichtlich der Darstellung richterlicher Tätigkeit fehlt. 20

5 Tarrab-Maslaton

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

b) Die inhaltsbestimmende erste Verordnung zum RbG Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß das RbG erst in der Zusammenschau mit der ersten Verordnung 21 einen faßbaren Inhalt zeigen kann. Das RbG hatte lediglich festgelegt, allein der Reichsbürger könne Träger voller politischer Rechte sein, und daß die Reichsbürgerschaft deutsches oder artverwandtes Blut sowie die Treue zum Staat voraussetze. I m Zentrum des RbG stand ungeschrieben die Frage, wer deutschen oder artverwandten Blutes war und wer nicht; denn die Zuordnung oder Verweigerung politischer Rechte hing davon ab. Von den sieben Paragraphen der ersten Verordnung regeln daher zwei (§§ 5 und 2) begrifflich, wer Jude bzw. wer jüdischer Mischling ist. Die §§ 1 und 6, in denen bestimmt war, daß nur Personen deutschen Blutes die Reichsbürgerschaft (§1) erhalten, wobei die Wahlberechtigung vorübergehend ausreichte und eine Ausdehnung der blutmäßigen Anforderungen nur für die NSDAP möglich war, im übrigen der Genehmigung durch das Reichsinnenministerium und den Stellvertreter des Führers bedurfte (§6), hängen ebenfalls direkt von der vorgenommenen Definition ab. Gleiches gilt für §4, wonach Juden keine Reichsbürger sein könnten und ihnen die Fähigkeit fehle, öffentliche Ämter zu bekleiden. § 2 definierte den sogenannten jüdischen Mischling. Dies waren Halb- bzw. Vierteljuden deutscher Staatsangehörigkeit, also Personen, die von zwei oder einem der Rasse nach jüdischen Großelternteil abstammen 22 . Jüdisch zu sein, wurde bei den Großeltern unwiderleglich vermutet, wenn der betreffende Großelternteil der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat 2 3 . Positiv sollte § 5 festlegen, wer Jude sei. Man schaffte zwei Gruppen von Juden: Die sogenannten Rassejuden waren Personen mit wenigstens drei der Rasse nach jüdischen Großeltern. Dabei bewirkte ebenfalls die Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft eine unwiderlegliche Vermutung 24 , „daß ein Großelternteil jüdisch gewesen ist". Die zweite Gruppe waren die sogenannten Geltungsjuden 25 . Als Jude galt demnach „ . . . auch der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende 21

RGBl. 1935 I, S. 1333. §2 Abs. 2 der 1. VO (RGBl. 1935 I, S. 1333). 23 Ausdrücklich wird dies in den Kommentierungen von Beyer, 1936, S. 26, Stuckart/Globke, 1936, S. 64, Deisz, 1938, S. 54 und Feldscher, 1943, S. 32 festgestellt. 24 Lösener/Knost, 1941, S. 59; Stuckart / Globke, 1936, S. 74; Massfeiler, 1935, S. 3418 und Schulz, 1938, S. 30 ff., der sich in seiner Dissertation „Die Rechtsstellung der jüdischen Mischlinge", Göttingen 1938, umfassend mit der Position jüdischer Mischlinge nach den sogenannten Rassegesetzen befaßt. 25 § 5 Abs. 2 der 1. VO (RGBl. 1935 I, S. 1333). Wieck hat in seiner teils biographischen Arbeit „Zeugnis vom Untergang Königsbergs — ein Geltungsjude berichtet", 1988, den seltsamen Zustand nachgezeichnet, der aus 22

2. Abschn. Α. Übergreifende Diskriminierung — Reichsbürgergesetz

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jüdische Mischling der zugleich der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört oder aus einer Ehe mit einem Rassejuden, die nach dem Erlaß des Blutschutzgesetzes geschlossen wurde, stammte, oder aus einem außerehelichen Verkehr mit einem Rassejuden hervorgegangen war. Den so definierten Juden stand kein Stimmrecht zu. Sie konnten kein öffentliches Amt bekleiden und wurden, sofern sie noch Beamte waren, in den Ruhestand versetzt 26 . c) Defizite der Definition und der völkische NS-Staatsbegriff Defizite der vorgestellten Definition des Begriffs Jude eignen sich zur Widerlegung des nationalsozialistischen, völkischen Staatsbegriffs. In der Staatslehre des Dritten Reiches legte man Wert auf die Feststellung, daß die liberale Staatsauffassung im Sinne eines Gegensatzes zwischen abstrakter Staatspersönlichkeit und Individuum nationalsozialistischer Staatsauffassung diametral entgegenstehe. Im Nationalsozialismus fehle dieser Gegensatz. Vielmehr bildeten Volk und Staat eine Einheit, die durch das gemeinsame Blut begründet werde, und diese Blutsgemeinschaft bewirke die völkisch-politische Gleichheit zwischen Volk und Staat. Staat müsse daher als die „völkisch-politische Organisation des lebendigen Organismus Volk" verstanden werden, das danach eine blutsgebundene Gemeinschaft ist, in die der einzelne aufgrund seiner rassischen Artgleichheit eingegliedert sei 27 . einem verfemt sein einerseits und der Zugehörigkeit zu Verwandten der Herrenrasse andererseits resultierte: Etwa wenn er die Uniformmütze des Sohnes des christlichen Vaters aus erster Ehe anzog, gerade nachdem er in der Schule antisemitischen Hetzparolen ausgesetzt gewesen war. 26 §4 der 1. VO (RGBl. 1935 I, S. 1333). 27 StuckartI Globke, 1936, S. 21 ff.; Hitler, 1940, S. 433; Stuckart / Schiedermair, 1939, S. 7; Frank, 1935, S. 18f.; Lösener ! Knost, 1941, S. 18ff.; Boschan, 1937, S. 152ff.; Säbisch, 1935, S. 18; Schulz, 1938, S. 8 f. Kohlj Stolleis, 1988, S. 2851 haben das staatsrechtliche Schrifttum aus der damaligen Zeit bewertet. Im Vordergrund habe zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft der Ansatz gestanden, die nationalsozialistische Machtergreifung und die Beseitigung von Grundrechten zu rechtfertigen. Neben Huber, Ule, Scheuner und Carl Schmitt nennen sie auch Hans J. Wolff „Die neue Regierungsform des deutschen Reichs", 1933 (KohlI Stolleis, 1988, S. 2851 Fn. 23). Battis, 1989, S. 884f., ein Schüler Wolffs, hat diese Zuordnung kritisiert. Huber habe die Schrift Wolffs verrissen und festgestellt, daß sie „den Grundgedanken des neuen politischen Werdens nicht (entspreche)". Ule habe Wolffs Schrift sogar als „ . . . Angriff gegen den totalen Staat" bewertet (Battis, 1989, S. 885). Die Stellung der Juden in der nationalsozialistischen Staatsrechtslehre wurde von Rapp 1989 untersucht. Sie gelangt unter anderem zu dem Ergebnis, daß „ . . . die wegbereitenden Schriften der Staatsrechtslehrer, die sich für die Erhaltung des rassischen Volksbestandes4 aussprachen, wie auch die Schriften der Staatsrechtslehrer aus der Gruppe der Jungen

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Der Begriff Rasse bildet in dieser Vorstellung das gemeinsame biologische Bindeglied, auf dem der völkische Staat aufbaut. Eine abschließende, positive Definition des Begriffs Rasse konnte der Nationalsozialismus indes selbst nach eigenem Verständnis nicht leisten 28 . Allerdings wurde davon ausgegangen, daß durch das RbG und die zum RbG erlassene erste Verordnung negativ die volksfremde jüdische Rasse definiert und wenigstens so die rassische Volksgemeinschaft festgelegt worden sei 29 . Bei näherer Analyse dieser Definition fallt demgegenüber folgendes auf: Wer volljüdisch war, entschied sich nach der Religionszugehörigkeit. Zwar wird hervorgehoben, Religion und Rasse hätten nichts gemein 30 , andererseits bewirke die Mitgliedschaft in der jüdischen Religionsgemeinschaft eine unwiderlegliche Vermutung, volljüdisch zu sein. „Sie (die unwiderlegliche Vermutung) kann also nicht durch den Nachweis entkräftet werden, daß der Großelternteil nur 75% oder noch weniger oder auch überhaupt keine jüdische Erbmasse h a t " 3 1 . Hier wird somit der Religionszugehörigkeit Priorität sogar vor der nachgewiesenen arischen Blutszugehörigkeit eingeräumt. Demnach führte sich die nationalsozialistische Rassenlehre selbst ad absurdum. Zugleich ist damit die Inhaltsleere des zentralen Begriffs nationalsozialistischer Staatsauffassung bewiesen. Wenn Staat blutsmäßig gebildete Volksgemeinschaft ist 3 2 , Blutsgemeinschaft Rassengemeinschaft bedeutet 33 , dann muß der Begriff Rasse festlegbar sein, um die innere Logik dieser Staatsauffassung aufrechterhalten zu können. Geht man von der logischen Minimalanforderung einer Definition — Ausgrenzung derjenigen, die rassisch außerhalb des deutschen Volkskörpers stehen — ab, so entfallt die inhaltliche Festlegung des Begriffs Rasse; der Staat als Volks-, d.h. Blutsgemeinschaft kann dann nicht gedacht werden. Die begriffliche Widersinnigkeit des RbG und der ersten Verordnung widerlegt damit zugleich die Vorstellung eines Staates im Sinne einer Blutsgemeinschaft 34.

Rechten4 (dazu zählt Rapp Forsthoff, Maunz, E.R.Huber, Küchenhoff und C.H.Ule)... die Verantwortlichkeit der deutschen Staatsrechtslehre für die unter dem nationalsozialistischen Regime begangenen Verbrechen vor Augen (führen)". 28 Feldscher, 1943, S. 18ff.; Boschan, 1937, S. 154; so auch Gruchmann, 1985, S. 123 unter Bezugnahme auf eine Äußerung Löseners vor der Strafrechtskommission am 5.6. 1934. 29 Stuckart \Globke, 1936, S. 25f.; Deisz, 1938, S. 44f.; Lösener/Knost, 1941, S. 58. 30 Lösener ! Knost, 1941, S. 52; Deisz, 1938, S. 53f.; Brandis, 1936, S. 36. 31 Massfeiler, 1935, S.3418; so auch Leppin, 1937, S. 3076; Stuckart/ Globke, 1936, S. 64; GüttlLindenIMassfeiler, 1936, S. 197; Brandis, 1936, S. 37. 32 Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.l.c). 33 Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.l.c). 34 So eindeutig diese Widerlegung des Staatsbegriffes ist, so sehr verwundert es, daß diese Widersprüchlichkeit nicht auffiel bzw. unbenannt blieb. Allerdings legt die oben gezeigte fortlaufende Betonung, daß Religionszugehörigkeit und Blutszugehörigkeit zu

2. Abschn. Α. Übergreifende Diskriminierung — Reichsbürgergesetz

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2. Entwicklung des RbG

Der ersten inhaltsbestimmenden Verordnung zum RbG folgten zwölf weitere Verordnungen 35 . Diese verteilten sich auf einen Zeitraum von acht Jahren und erlauben eine Unterteilung in vier Gruppen: Die zweite und dritte Verordnung (erste Gruppe) stehen einmal durch die klarstellende Funktion der zweiten Verordnung und zweitens wegen des inhaltlichen Bezuges der dritten Verordnung auf die in der ersten Verordnung getroffene Judendefinition in einem direkten, hier darzustellenden Zusammenhang mit dem RbG. Eine zweite Gruppe bilden vier Verordnungen, die Erwerbsmöglichkeiten einschränken 36 , damit materiell der wirtschaftlichen Diskriminierung zuzuordnen sind, die später eigenständig zu behandeln sein wird. Drittens können die siebte und neunte Verordnung 37 als weniger relevante Schritte innerhalb der Entwicklung des RbG genannt werden. I m Vergleich zu den bislang angeführten Gruppen sind diese weniger wichtig, da sie lediglich eine Neufestsetzung der Ruhegehälter (siebte Verordnung) und eine einzelne Sondervorschrift (neunte Verordnung) enthalten 38 . In der letzten, vierten Gruppe 39 erfolgt eine an das RbG anknüpfende, inhaltlich aber weit über das Gesetz hinausgehende Ausgrenzung, die den Endpunkt der Entwicklung des Gesetzes kennzeichnet. Allein die erste und die vierte Gruppe sind unmittelbare Entwicklungsstufen des RbG.

trennen seien, den Schluß nahe, daß, statt mit inhaltlichen Argumenten den Versuch zu machen, diesen Widerspruch aufzulösen, solche plakativen Postulate über ihn hinwegtäuschen sollten. 35 1. VO zum RbG, RGBl. 1935 I, S. 1335; 2. VO zum RbG, RGBl. 1935 I, S. 1524; 3. VO zum RbG, RGBl. 1938 I, S. 627; 4. VO zum RbG, RGBl. 1938 I, S. 969; 5. VO zum RbG, RGBl. 1938 I, S. 1403; 6. VO zum RbG, RGBl. 1938 I, S. 1545; 7. VO zum RbG, RGBl. 19381, S. 1751; 8. VO zum RbG, RGBl. 19391, S. 47; 9. VO zum RbG, RGBl. 1939 I, S. 891 ; 10. VO zum RbG, RGBl. 19391, S. 1097; 11. VO zum RbG, RGBl. 19411, S. 722; 12. VO zum RbG, RGBl. 1943 I, S. 268; 13. VO zum RbG, RGBl. 1943 I, S. 372. 36 4. VO zum RbG, RGBl. 19381, S. 969; 5. VO zum RbG, RGBl. 19381, S. 1403; 6. VO zum RbG, RGBl. 1938 I, S. 1545; 8. VO zum RbG, RGBl. 1939 I, S. 47. 37 7. VO zum RbG, RGBl. 1938 I, S. 1751; 9. VO zum RbG, RGBl. 1939 I, S. 891. 38 „Bei Anwendung des § 5 Abs. 2 der ersten Verordnimg zum Reichsbürgergesetz ... gilt ... (nicht) als mit einem Juden verheiratet, der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende Staatsangehörige jüdische Mischling, dessen Ehe in Österreich nach österreichischem Recht dem Bande nach nicht getrennt werden konnte, aber am 16. September 1935 rechtskräftig von Tisch und Bett geschieden war ...". 39 10. VO zum RbG, RGBl. 19391, S. 1097; 11. VO zum RbG, RGBl. 19411, S. 722; 12. VO zum RbG, RGBl. 1943 I, S. 268; 13. VO zum RbG, RGBl. 1943 I, S. 372.

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

a) Erste Gruppe § 1 der zweiten Verordnung zum RbG erklärte, wer Beamter sei und somit gemäß § 4 der ersten Verordnung in Verbindung mit § 1 der zweiten Verordnung auszuscheiden hatte. Die bis zum Jahre 1935 in der Beamtenschaft von Suspendierungen nach den Paragraphen des GWBB ausgenommenen Frontkämpfer 40 sollten wie ihre schon 1933 ausgeschiedenen Kollegen keine Beamten mehr sein können. In den Kommentierungen zur zweiten Verordnung wird auf die Kongruenz des Beamtenbegriffes mit dem des GWBB hingewiesen, nur würden nun ergänzend auch Frontkämpfer suspendiert 41. Eine zusätzliche Ausweitung der rassisch motivierten Benachteiligung bewirkte die Erstreckung auf jegliche Träger öffentlicher Ämter. Dies waren „ . . . Personen, die dazu bestellt sind, obrigkeitliche und hoheitliche Aufgaben zu erfüllen" (§ 5 Abs. 1 der zweiten Verordnung). Erfaßt waren zum Beispiel Notare, Handelsrichter, Schöffen, Geschworene, Konkursverwalter, Zwangsverwalter, Lotterieeinnehmer, Stempelverteiler, Schiedsmänner, Bezirksschornsteinfeger und Fleischbeschauer, wobei selbst dieser Katalog nicht einmal abschließend war 4 2 . § 6 der zweiten Verordnung weitete zusätzlich den Begriff des öffentlichen Amtes des RbG auf Personen, die die Stellung eines leitenden Arztes an öffentlichen sowie freien gemeinnützigen Krankenanstalten bekleideten, und auf Vertrauensärzte aus. Diese Ärzte mußten ihre Tätigkeit ipso iure am 31.3. 1936 beenden. Wie der oben beschriebene Beamtenbegriff erfuhr der Begriff des leitenden Arztes gleichermaßen eine extensive Auslegung. Leitender Arzt sei jeder Mediziner, der im Krankenhaus selbständig eine Station leite 43 . Zusätzlich erschwert wurde die Position der von § 6 erfaßten Personen, weil sie jegliche Ansprüche, insbesondere Pensionsansprüche verloren 44 . Die zweite Verordnung erklärte somit nicht nur die Begriffe des öffentlichen Amtes im Sinne des RbG und der ersten Verordnung, vielmehr erweiterte sie durch den Inhalt der Erläuterungen den erfaßten Personenkreis. Die im Sommer 1938 erlassene dritte Verordnung zum R b G 4 5 bestimmte eine Registrierung jüdischer Gewerbebetriebe (§ 7) und knüpfte die Registrierungspflicht unmittelbar an die Judendefinition des RbG und der ersten Verordnung an (§1). Erfaßt wurden nahezu alle rechtlichen Formen wirtschaftlichen Handelns: einzelkaufmännische Betriebe, offene Handelsgesellschaften, Kom-

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Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.a). Stuckart/Globke, 1936, S. 82; Deisz, 1938, S. 72. 42 Stuckart / Globke, 1936, S. 90; diese Tätigkeiten finden sich auch in einem Erlaß des Reichsinnenminsteriums vom 21.12. 1935 in DJ 1936, S. 98. 43 StuckartIGlobke, 1936, S. 92; Deisz, 1938, S. 79. 44 Stuckart/Globke, 1936, S. 92. 45 RGBl. 1938 I, S.627f. 41

2. Abschn. Α. Übergreifende Diskriminierung — Reichsbürgergesetz

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manditgesellschaften, Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien, sofern bei den letzteren, sei es durch Stimmanteil oder Vertretungsbefugnis, jüdischer Anteil maßgeblich war. Schließlich definierte man unabhängig von der Rechtsform Betriebe als jüdisch, wenn tatsächlich jüdischer Einfluß vorherrschte. In die Verordnung wurde weiterhin eine Ermächtigung zur Stigmatisierung jüdischer Betriebe aufgenommen (§ 17). Danach bestand die Möglichkeit, jüdischen Betrieben eine Kennzeichnungspflicht aufzugeben 46. Die dritte Verordnung führte somit die Judendefinition des RbG erstmals im wirtschaftlichen Lebensbereich vorbereitend ein 4 7 . Sie ist deshalb ein eigenständiger Entwicklungsschritt, verbleibt jedoch durch die Aufnahme der vom RbG vorgegebenen Definition im engen Zusammenhang mit diesem Gesetz. b) Vierte Gruppe Eine vierte Gruppe von Verordnungen bilden die zehnte, elfte, zwölfte und dreizehnte Verordnung zum R b G 4 8 . Die zehnte Verordnung ähnelte dabei in gewisser Hinsicht der dritten Verordnung, weil diese ebenfalls organisatorischen Charakter hatte. § 3 bestimmte, daß alle deutschen und staatenlosen Juden in Deutschland in der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zusammenzufassen sind. Wie die dritte Verordnung Gewerbebetriebe registrierte, so gewährleisteten die Mitgliederverzeichnisse der Reichsvereinigung die Registrierung der Juden im Reichsgebiet. Flankiert wurde diese Erfassung durch Auflösung sämtlicher jüdischer Organisationen von den Schulen über die Vereine bis zur Wohlfahrtspflege. Diese Institutionen, deren soziale Funktion angesichts der zunehmenden Bedrängnis immer unverzichtbarer war 4 9 , konnten nur als Teil der Reichsvereinigung fortbestehen (§§ 5, 8). Während die Wichtigkeit der Diskriminierungen durch die zwölfte und dreizehnte Verordnung — bei der zwölften lag sie darin, daß Juden vom Erwerb der Staatsangehörigkeit ausgeschlossen wurden und bei der dreizehnten Verord-

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Von dieser Ermächtigung wurde, soweit ersichtlich, kein Gebrauch gemacht. Erklärt werden kann dieser Umstand mit der wenige Monate später einsetzenden Arisierung, die zur Beseitigung jüdischer Betriebe führte. Eine Kennzeichnung erübrigte sich danach; einen Gebrauch negiert auch Puppo, 1988, S. 275 f. 47 Der vorbereitende Charakter — den NS-Kommentatoren einräumten (Stuckart I Schiedermair, 1939, S. 59) — ergibt sich aus späteren sog. Arisierungsmaßnahmen, die anhand der Registrierung vorgenommen wurden (Drobisch, 1973, S. 147). 45 10. VO zum RbG, RGBl. 19391, S. 1097; 11. VO zum RbG, RGBl. 19411, S. 722; 12. VO zum RbG, RGBl. 1943 I, S. 268; 13. VO zum RbG, RGBl. 1943 I, S. 372. 49 Lamm, 1951, S. 101 ff. hat diese Arbeit insbesondere bezüglich der jüdischen Gemeinden nachgezeichnet; zur jüdischen Wohlfahrtspflege vor 1933 siehe insgesamt Adlerj Rudel, 1959.

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

nung in der Zuordnung der Ahndungskompetenz für Straftaten an die Polizei— schon wegen des dann kaum noch vorhandenen Adressatenkreises 50 gering war, entfaltete die elfte Verordnung ungleich größere Relevanz. Wie das GWSt sollte die elfte Verordnung den Juden ihre Staatsangehörigkeit nehmen. Während das GWSt aber lediglich Individualaberkennungen bzw. Widerrufe der Staatsangehörigkeit vorsah und regelmäßig 51 nur bestimmte Gruppen Adressaten der Expatriation bzw. Revokation waren, erfaßte die elfte Verordnung alle Juden im Ausland, bürgerte sie also kollektiv aus. Entsprechend mehr Personen — zwischen 170 000-240 000 52 — verloren ihre Staatsangehörigkeit. Während bei einem Vorgehen nach § 2 GWSt Gründe genannt werden mußten 53 und erst dann bezüglich der einzelnen Aberkennung ein Vermögensverfall angeordnet wurde, entfiel dies bei der elften Verordnung. Ausreichend war nun expressis verbis der Aufenthalt des jüdischen Bürgers im Ausland (§§ 1, 2). Das Vermögen dieser Personen verfiel dem Reich (§ 3), ohne daß es auf eine Freiwilligkeit des Aufenthalts ankam. Selbst ein zwangsweises Verlassen des Reichs durch Deportation erfüllte den objektiven Tatbestand des gewöhnlichen Auslandsaufenthalts 54. Hatte das RbG noch festgelegt, daß deutsche Juden Staatsangehörige waren und dem Schutzverband des Deutschen Reiches angehörten, so nahm die elfte Verordnung als Endpunkt der Entwicklung des RbG den Juden selbst diese Position 55 .

50 Während 1933 noch 502.799 Juden gezählt wurden CLamm, 1951, S. 223 m.w.N.), waren es bei Erlaß der zwölften Verordnung im April 1943 nur noch 31807 (Blau, 1965, S. 10, der diese Zahl der durch die Reichsvereinigung vorgenommenen, vom Reichssicherheitshauptamt angeordneten monatlichen statistischen Erhebungen entnimmt). 51 Insbesondere §2 GWSt schaffte Möglichkeiten, auch andere Gruppen als die Ostjuden zu erfassen (siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.3.b). 52 Hepp/Lehmann, 1985, S. X X X I V . 53 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.2.b). 54 Adam, 1972, S. 301 unter Bezugnahme auf ein vertrauliches Schreiben des Reichsministeriums des Innern an die obersten Reichsbehörden; Majer, 1981, S. 213 m.w.N. 55 Der hohe Unrechtsgehalt der 11. VO wird durch eine Entscheidung des BVerfG untermauert: Danach sei die 11. VO von Anfang nichtig gewesen, da sie den vollständigen diskriminierenden Ausschluß der Juden bezweckt habe und insbesondere der hinzutretende Vermögensverfall dazu gedient habe, die Juden auch im Ausland zu vernichten. Die VO widerspreche daher „ . . . fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit ..." (BVerfGE 23, 98 ff., 106 f.). Ein sehr plastisches Beispiel der Auswirkungen der 11. VO zum RbG bietet Jungfer, 1991, S. 2748 ff. in einem Aufsatz zum Gedenken an Dr. Julius Magnus, einen der renommiertesten Juristen der 20er Jahre.

2. Abschn. Α. Übergreifende Diskriminierung — Reichsbürgergesetz

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ΠΙ. Geschaffene Handlungsspielräume contra legem: Diskriminierung sogenannter jüdischer Mischlinge auf Erlaßebene Die Zahl der zum RbG und den sich anschließenden Verordnungen ergangenen Erlasse und Durchführungsanordnungen ist fast unüberschaubar 56. Zumeist sind es Anordnungen gegenüber Juden im Sinne des Reichsbürgergesetzes und der ersten DVO. So etwa ein Erlaß 5 7 , der feststellt, das Amt eines Beisitzers am Spruchausschuß des Arbeitsamtes sei ein öffentliches Amt im Sinne des RbG und der ersten Verordnung und gleiches gelte für die Tätigkeit von Schiedsmännern, Fleischbeschauern und Stempel Verteilern 58. Allerdings sind ebenfalls Erlasse vorhanden, die zum Teil die Gleichstellung der sogenannten Mischlinge ersten Grades sichern und andere, die zusätzliche Diskriminierungen gegen sie vorsahen. Die Gleichstellung wurde bestimmt für Kinderbeihilfen 59 , für den Status als Gemeindebürger 60, für die Betreuung sogenannter jüdischer Mischlinge durch das Winterhilfswerk 61 , durch die Feststellung, daß eine Entziehung der Doktorwürde aufgrund der sogenannten Mischlingseigenschaft unzulässig sei 62 , eine Promotion weiterhin möglich blieb 6 3 , diese Personen in der Wirtschaft nicht benachteiligt werden dürften 64 und sie sogar Mitglieder der Hitlerjugend werden könnten 65 . 56 Runderlaß zum RbG bei Blau, 1965, S. 31; Anordnung zum RbG bei Walk, 1981, S. 140 Rn. 50; Runderlaß zum RbG, DJ 1936, S. 105; Allgemeinverfügung zum RbG, DJ 1936, S. 105; Erlaß zum RbG bei Walk, 1981, S. 153 Rn. 115; Richtlinie zum RbG bei Blau, 1965, S. 35; Allgemeinverfügung zum RbG, DJ 1936, S. 745 ff.; Erlaß zum RbG, RWMB1. 1937, S. 38ff.; Runderlaß zum RbG, MBlPrVerw 1937, S. 518ff.; Erlaß zum RbG, RAB1. 1937, S.229ff.; Schreiben zum RbG bei Walk, 1981, S. 230 Rn. 492; Runderlaß zum RbG bei Walk, 1981, S. 265 Rn. 62; Anordnung zum RbG, RStBl. 19391, S. 296; Runderlaß zum RbG, MBlPrVerw 1936, S. 1985 ff.; Runderlaß zum RbG, MBlPrVerw 1941, S. 2197; Allgemeinverfügung zum RbG, DJ 1942, S. 82; Runderlaß zum RbG bei Walk, 1981, S. 365 Rn. 314; Verfügung zum RbG bei Walk, 1981, S. 365 Rn. 315; Runderlaß zum RbG, MBlPrVerw 1942, S. 1711 f.; Runderlaß zum RbG bei Walk, 1981, S. 387 Rn. 427; Verfügung zum RbG bei Walk, 1981, S. 388 Rn. 432; Runderlaß zum RbG bei Walk, 1981, S. 398 Rn. 486, wobei diese Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. 57 Erlaß des Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitsversicherung vom 7. 8. 1936 bei Walk, 1981, S. 169 Rn. 197. 58 Siehe dazu auch Erlaß des Reichsinnenministeriums vom 21.12. 1935, DJ 1936, S. 98. 59 Erlaß des Reichsfinanzministeriums vom 18.11. 1935, RStBl. 1935, S. 1443. 60 Ausführungsanweisung in RGBl. 1936 I, S. 272, wiederholt in MBlPrVerw 1937, S. 518 ff. 61 Anweisung des Reichsbeauftragten für das Winterhilfswerk 1936 / 37 vom 8.12.1936 bei Keil, 1961, S. 94ff. 62 Erlaß des Reichswissenschaftsministeriums vom Dezember 1936 bei Walk, 1981, S. 179 Rn. 248. 63 Runderlaß des Reichswissenschaftsministeriums vom 15.4. 1937 bei Blau, 1965, S. 38 Nr. 121.

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Zeitgleich ergingen jedoch entgegengesetzt Erlasse, die diese sogenannten Mischlinge benachteiligten. Man untersagte ihnen zum Beispiel die Lehrbefugnis an Hochschulen und das Führen des entsprechenden Titels 66 . Studenten der Medizin wurden trotz gewährter Immatrikulation nicht zur Vorprüfung bzw. Prüfung zugelassen67. Schüler erhielten keine Begabtenförderung 68, um nur einige der Benachteiligungen zu nennen. Nach Kriegsbeginn wandelte sich dieses Bild. Die sogenannten Mischlinge im Sinne des RbG und der ersten Verordnung waren immer stärkerer Diskriminierung ausgesetzt. So wurde ihnen jegliche Ausbildungsbeihilfe versagt 69 , die Schulaufnahme verweigert 70 , aus den Schulen entlassen71, Kinderbeihilfen vollständig gestrichen 72 und schließlich zwang man die männlichen „Mischlinge" im Jahre 1944 sogar zum Arbeitseinsatz 73 . Schon die benachteiligenden Erlasse bis Kriegsbeginn widersprachen den Regelungen des RbG. Ausdrücklich sah die erste Verordnung vor, daß „ . . . die Vorschriften des § 1 (auch) gelten für Staatsangehörige jüdische Mischlinge ..." (§ 2), und § 1 bestimmte, „ . . . vorläufig (gelten) als Reichsbürger die Staatsangehörigen Deutschen oder artverwandten Blutes ...", die im September 1935 das Reichstagswahlrecht besessen haben (§ 1). Entsprechend eindeutig sah die Kommentarliteratur in der grundsätzlichen Gleichbehandlung eine gesetzlich fixierte Pflicht 74 . Der maßgeblich an der Entstehung der ersten beiden Verordnungen beteiligte Ministerialrat Lösener betrachtete dementsprechend diese sogenannten Halbju64 Erlaß des Reichswirtschaftsministeriums vom 3. 8. 1938 bei Lösener/Knost, 1941, S. 237. 65 RGBl. 1939 I, S.710ff. 66 Erlaß des Reichswissenschaftsministeriums vom 14. 2. 1936 bei Sauer, Bd. I, 1966, S. 127 Nr. 110. 67 Erlaß des Reichswissenschaftsministeriums vom 20.10.1937 bei Sauer, Bd. II, 1966, S. 364 Nr. 527. 68 Verfügung des Oberbürgermeisters von Berlin vom Juni 1938 bei Walk, 1981, S. 231 Rn. 496. 69 Bekanntmachung des Reichswissenschaftsministeriums vom 13. 3. 1942 bei Walk, 1981, S. 366 Rn. 317. 70 Runderlaß des Reichswissenschaftsministeriums vom 2. 7. 1942 bei Adam, 1972, S. 326 Fn. 112. 71 Runderlaß des Reichswissenschaftsministeriums vom 9. 9. 1942 bei Blau, 1965, S. 113 Nr. 412. 72 Verfügung des Leiters der Parteikanzlei vom 25.9. 1942 bei Walk, 1981, S. 388 Rn. 431. 73 Erlaß Himmlers vom Oktober 1944 bei Keil, 1961, S. 422. 74 Lösener ! Knost, 1941, S. 51; Stuckart ! Globke, 1936, S.66f.; Deisz, 1938, S. 53f. Letzterer bezeichnet die Auffassung, daß die sog. Mischlinge 1. Grades gleich zu behandeln seien, als herrschende Meinung, allerdings ohne andere Ansichten zu nennen.

2. Abschn. Α. Übergreifende Diskriminierung — Reichsbürgergesetz

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den weitgehend vor Diskriminierungen durch die erste Verordnung geschützt. Er betont allerdings — wobei insoweit Selbstrechtfertigung mit ein Darstellungsmotiv gewesen sein kann, was Lösener einräumt 75 — den harten Widerstand verschiedener Nazi-Ideologen, die bereits bei Entstehung der ersten Verordnung gegen sein Bestreben, diesen Personenkreis keinen Diskriminierungen auszusetzen, sogar sogenannte Vierteljuden erfassen wollten 7 6 . Ob diese gegenläufigen Strömungen in den, die Mischlinge ersten Grades benachteiligenden Erlassen hervortraten, kann nur gemutmaßt werden. Fest steht hingegen, daß diese Erlasse Handlungsspielräume contra legem, d. h. gegen das RbG und die erste Verordnung eröffnen. Ungeklärt ist hingegen, warum sich nach Kriegsbeginn diese Erlaßpraxis derartig vollständig durchsetzen konnte. Neben den Kriegsereignissen dürfte die Wannsee-Konferenz entscheidend dazu beigetragen haben. Dort war beschlossen worden, die sogenannten Halbjuden den Juden grundsätzlich gleichzustellen 7 7 . Zwar blieb die Verwirklichung dieser von Heidrich und Eichmann auf Himmlers Veranlassung vorgeschlagenen Verfahrensweise 78 aus. Dennoch dürfte das Ressortübergewicht 79 der SS spätestens in der Zeit seit der WannseeKonferenz das verschärfte Vorgehen gegen die sogenannten Halbjuden unabhängig vom RbG erklären. IV. Diskriminierungsziel und Diskriminierungserfolg 1. Diskriminierungsziel des RbG und der ersten Verordnung

Obwohl angesichts der Entstehungsgeschichte80 eine wohlüberlegte Zielsetzung fraglich erscheint, ordnete das damalige Schrifttum dem RbG und der ersten Verordnung einen festen, klar umgrenzten Zweck zu. Man rekurrierte dazu unmittelbar auf Ausführungen Hitlers; er habe die Unzulänglichkeit des Staatsangehörigkeitsrechts der Weimarer Verfassung festgestellt 81, die in dem Umstand liege, daß die rassische Zugehörigkeit irrelevant gewesen sei. Darin liege bereits der Grundgedanke differenzierender Staatsangehörigkeitskategorien, gestaffelt nach rassischer Zugehörigkeit 82 . Bezüglich der Juden habe das 75

Lösener, 1961, S. 264. Lösener, 1961, S. 280f. 77 Zitat aus dem sog. Wannsee-Protokoll: „Mischlinge 1. Grades sind im Hinblick auf die Endlösung der Judenfrage den Juden gleichgestellt" (Poliakov / Wulf ; 1955, S. 124). 78 Ein Ergebnis, zu dem Kempner, 1961, S. 142 in seiner Wiedergabe der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg ebenfalls kommt. 79 Pätzold, 1983, S. 110 sieht dieses Ressortübergewicht bereits seit 1936 als gegeben an und belegt diese Auffassung mit den Konflikten gegenüber dem Reichsinnenministerium. 80 Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.I., insbesondere die dort nachgewiesene propagandistische Funktion. 76

81 Diese Ausführungen finden sich schon in Hitlers „Mein K a m p f 4 (hier zitierte Auflage Hitler, 1940, S. 488). 82

Heintzeler,

1935, S. 265.

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

RbG entsprechend den Zweck, durch die andere Staatsangehörigkeitskategorie eine politische Trennung der Juden von der deutschen Bevölkerung zu bewirken 83 . I m einzelnen versprach man sich diesen Erfolg von den im RbG und in der ersten Verordnung vorgesehenen Rechtsfolgen, wonach Juden keine Reichsbürger werden konnten (§ 2 Abs. 2 RbG); ausgegrenzt waren sie danach konkret bei Volksabstimmung und Reichstagswahlen84. §4 der ersten Verordnung ergänzte, daß Juden kein öffentliches Amt bekleiden können 85 . In der Literatur wurde dazu ausgeführt, diese Vorschrift sei von dem Gedanken motiviert, die bisherigen Privilegierungen jüdischer Frontkämpfer, die einer durchgehenden Separierung im Wege stünden, aufzuheben 86. Schließlich hatte die Judendefinition den Sinn, grundlegend rassisch die auszugrenzende Gruppe festzulegen 87, um so den Abschluß und die Lösung der Judenfrage zu erreichen 88 . Die Abschneidung politischer Rechte und die Definition richteten sich entsprechend gegen alle Juden. Waren bis dahin Juden in bestimmten Berufsgruppen 89 oder sozial eingrenzbare Teile der jüdischen Bevölkerung — wie die Ostjuden 90 — Adressaten der Ausgrenzung, waren das RbG und die erste Verordnung dazu gedacht, ausnahmslos gegen die jüdische Minderheit vorzugehen. Wenngleich § 7 der ersten Verordnung Hitler selbst die Möglichkeit einräumte, Personen aus dem Anwendungsbereich der Verordnung auszunehmen, so ändert dies an der Ausnahmslosigkeit der Verordnung nichts. Während die Dispensvorschriften des GWBB nämlich häufig angewendet wurden 91 , war § 7 der ersten Verordnung rasch eine leere Marginalie. Knapp einen Monat nach der ersten Verordnung legte ein Runderlaß 92 das Dispensverfahren fest. Ausdrücklich bestimmte die Regelung, „ . . . daß eine Befreiung (...) nur in ganz besonders liegenden Ausnahmefallen befürwortet werden (kann), in denen schwerwiegende Gründe vom Gesichtspunkt der Allgemeinheit (...) eine Abweichung von der Regelung nahelegen, die in den Nürnberger Gesetzen als Grundlage für den Aufbau von Volk und Staat geschaffen worden ist". Allein in Fällen, „ . . . die nicht von vornherein zur Ablehnung reif erscheinen ...", könne ein weiteres 83 Heintzeler, 1935, S. 265; ebenso die Kommentierungen von Lösener/Knost, S. 23 und StuckartIGlobke, 1936, S. 16, 47. 84 Stuckart IGlobke, 1936, S. 69; Deisz, 1938, S. 57. 85 Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.l.b). 86 Lösener ! Knost, 1941, S. 57; Deisz, 1938, S. 60. 87 Stuckart IGlobke, 1936, S. 73 m.w.N. 88 Lösener, 1961, S. 278. 89 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.b). 90 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.3. 91 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.a). 92 MBlPrVerw 1935, S. 1455; DJ 1936, S. 105.

1941,

2. Abschn. Α. Übergreifende Diskriminierung — Reichsbürgergesetz

77

Verfahren überhaupt erwogen werden. Trotz dieses restriktiven Wortlauts blieb ein Befreiungsverfahren möglich. Ein Schreiben des Reichsministers und Chefs der Reichskanzlei, Lammers, aus dem Jahre 1938 gibt indes dem Reichsinnenministerium und allen nachgeordneten Behörden Hitlers Entscheidung zur Kenntnis, „ . . . daß gnadenweise Befreiungen von den für Juden geltenden Bestimmungen ausnahmslos abgelehnt werden müssen" und daß „der Führer beabsichtigt, auch selbst solche Gnadenerweise nicht zu bewilligen" 93 . Obwohl bereits der Wortlaut des Duchführungserlasses eine entsprechende Handhabung des § 7 nahelegt, ist die ausnahmslose Anwendung ab 1938 sicher feststellbar und damit zugleich das Ende der sektoral beschränkten Diskriminierung. 2. Objektiver Diskriminierungserfolg und partielle objektive Zweckverfehlung

Ob die generelle Stoßrichtung, die allgemeine vollständige politische Trennung 9 4 , Erfolg zeitigte, kann durch Beleuchten der Wirkung der einzelnen ausgrenzenden Vorschriften beurteilt werden. Die im Amt verbliebenen Frontkämpfer waren aufgrund der Befragungen im Rahmen des G W B B 9 5 vollständig erfaßt und konnten ihrer Suspendierung nicht entgehen. Wie sich schon beim GWBB herausgestellt hatte, fielen mehr Personen als angenommen unter die Frontkämpfer begünstigende Klausel 96 ; die quantitative Wirkung ist daher zu beachtén. Hinzu kam für die Betroffenen psychisch erschwerend, daß sie ihre Treue zum deutschen Volk sogar im Sinne des § 2 RbG erfüllt hatten 97 . Einer staatsbürgerlichen Honorierung stand nun 93

Das Originalschreiben ist vollständig abgedruckt bei Liesener, 1985, S. 39. Die besondere Schärfe dieses Gesetzeszwecks spiegelt sich auch in der Diktion des damaligen Schrifttums zu Fragen der Nürnberger Gesetze wider: Es geht um die „Ausscheidung" der Juden aus dem deutschen Volkskörper (Huber, 1941, S. 25); die grundlegende Bedeutung liege darin, ein weiteres Eindringen jüdischen Blutes in den deutschen „Volkskörper" zu verhindern (Stuckart/ Globke, 1936, S. 15). Berning hat das Vokabular des Nationalsozialismus ausführlich analysiert. Sie bezeichnet den Begriff „Volkskörper" als biologische Metapher, der Ausdrücke wie Volksschädling, Blutvergiftung, Zersetzung und andere zugrundelägen. Davor müsse der Volkskörper — gleichsam wie vor einer Krankheit — geschützt werden (Berning, 1964, S. 201 f.). Umfassend hat auch Bein, 1965, S. 121 ff. die NS-Semantik und Diktion untersucht: Ausgehend von der Feststellung, daß Sprache ein genaues Abbild einer Vorstellung gibt, weist er die Übernahme rassistischer Diktion des 19. Jhd. durch die Nationalsozialisten, insbesondere bei der sog. Endlösung, nach. 94

95 96

Fragebogen zum GWBB in RGBl. 1933 I, S. 245; siehe unten Anlage 2. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.a).

97 Zwar führte §1 der 1. VO dazu, daß das Reichsbürgerrecht vorläufig allen Wahlbürgern ohne besondere Prüfung, ob der Bürger auch durch ein Verhalten seine Treue dem deutschen Volk gegenüber bewiesen hatte (§ 2 RbG), verliehen wurde. Dennoch bestand Einigkeit darüber, daß die Wehrdienstleistung zukünftig als Treuebeweis i. S. d. § 2 RbG gewertet werden sollte (statt aller Stuckart/ Globke, 1936, S. 54).

78

1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

aber endgültig 98 der objektive Tatbestand der jüdischen Blutszugehörigkeit entgegen. Die Beurteilung der objektiven Diskriminierung, die aus der Abschneidung politischer Rechte folgte, setzt voraus, den davor vorhandenen Bestand solcher Rechte festzulegen. In § 3 der ersten Verordnung ist das Stimmrecht in politischen Angelegenheiten genannt, und kommentierend werden ebenfalls die Reichstagswahl und jegliche Abstimmungen in Angelegenheiten des Staates als politische Rechte in diesem Sinne angeführt 99 . Das Verbot anderer politischer Parteien und die gesetzliche Fixierung der NSDAP zur alleinigen Einheitspartei 100 machten das Wahlrecht wertlos, da eine Wahlmöglichkeit objektiv fehlte 101 . Ähnliches gilt für andere Abstimmungen in Angelegenheiten des Staates. Zeitgleich mit dem Parteienverbot war das „Gesetz über die Volksabstimmung" 1 0 2 verabschiedet worden. Danach konnte die Regierung das Volk befragen, „ . . . ob es einer von der Reichsregierung beabsichtigten Maßnahme zustimmt oder nicht". Neben der tatsächlichen, die Grundsätze einer freien, gleichen und geheimen Wahl durchbrechenden Ausgestaltung der Reichstagswahl und der Volksabstimmung 103 hatte Goebbels selbst die Funktion dieser politischen Kundgaben erläutert. Die Volksabstimmung diene dazu, dem Ausland den einheitlichen Volkswillen zu bekunden 104 , und die gleiche Funktion habe der Reichstag. Der zutiefst diktatorische Charakter einer solchen Abstim98

Die Blutszugehörigkeit wurde als objektives, weil von einem Verhalten unabhängiges Tatbestandsmerkmal aufgefaßt (Lösener, 1935, S. 931). 99 LösenerI Knost, 1941, S. 19; Deisz, 1938, S. 57. 100 RGBl. 1933 I, S. 479. 101 Die daraus resultierende Funktion des Reichstages wurde bereits oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A . I . l . dargestellt. 102 RGBl. 1933 I, S. 479. 103 Broszat, 1986, S. 127 hat diese Abstimmung beschrieben. Bei der Volksabstimmung vom 12.11.1933 wurde ganz massiv nationalsozialistische Propaganda eingesetzt, die sich selbst in der Fragestellung widerspiegelt („Billigst du, deutscher Mann, und du, deutsche Frau, diese Politik deiner Reichsregierung und bist du bereit, sie als den Ausdruck deiner eigenen Auffassung und deines eigenen Willens zu erklären und dich feierlich zu ihr zu bekennen?"). Bracher I Sauer ! Schulz, 1960, S. 214 und S. 350 f. weisen ebenfalls nach, daß das Wahlrecht im Dritten Reich ohne Inhalt war und rekurrieren dabei ebenfalls auf die Ausgestaltung der Wahlen. Auch staatsrechtlich fand diese tatsächliche Gestaltung der Volksabstimmung einen Niederschlag. Koellreutter, 1936, S. 147 stellt fest: „Wenn ... der §2 des Gesetzes über Volksabstimmung (feststelle) bei der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen*, so ist diese Vorschrift nur von formaler Bedeutung. Denn es gibt bei einer solchen Volksabstimmung keine andere Möglichkeit als eine Mehrheit festzustellen.". 104 Wiedergabe eines Zeitungsinterviews Goebbels aus dem Jahre 1933 bei Bracher ! Sauer ! Schulz, 1960, S. 351.

2. Abschn. Α. Übergreifende Diskriminierung — Reichsbürgergesetz

79

mung ging ebenfalls aus einer Äußerung Goebbels hervor. A m 8.11.1933 stellte er zu der anstehenden Wahl vom 12. November fest: „Der 12. November wird ein Markstein der deutschen Geschichte werden. Wir werden endlich einen Reichstag haben, der aus einem Guß ist . . . " 1 0 5 . Resümierend läßt sich sagen, daß die „Träger der vollen politischen Rechte" kein solches Recht hatten; sie vielmehr zu propagandistischen Akklamationen mißbraucht wurden. Objektiv kann daher in der Versagung der Möglichkeit, an solchen Wahlen teilzunehmen, keine Diskriminierung durch Rechtsentzug gesehen werden. Der diskriminierende Erfolg verblieb auf der Ebene der Stigmatisierung durch die schriftliche und verbale Verkündung der Paragraphen zum RbG und der ersten Verordnung, wonach Juden von der politischen Teilhabe ausgeschlossen sind. Die beabsichtigte politische Trennung durch Ausschluß der Juden von der Mitbestimmung am Schicksal des Staates 106 blieb aus, und insoweit ist partiell objektiv eine Zweckverfehlung des RbG konstatierbar. Schließlich bleibt zu prüfen, welche Wirkung mit der Festlegung des Begriffs Jude verknüpft war. Vor dieser Definition hatte man in der rassischen Gesetzgebung mit dem Begriff des Ariers gearbeitet. Die Schwächen dieses Begriffs sollten durch eine klare Definition überwunden werden 107 , um so eindeutig den Adressatenkreis weiterer Maßnahmen ausfindig machen zu können. Wie innerhalb des Arierbegriffes entschied jedoch auch beim Begriff des Deutschblütigen in Zweifelsfallen die Religionszugehörigkeit 108 . Die ausgrenzende Wirkung entstand daher nicht durch eine brauchbarere Definition, sondern dadurch, daß die hergebrachte Definition erstmals über den bislang einzelgesetzlich beschränkten Geltungsbereich hinaus allgemeingültig in allen Bereichen — non-sektoral — Anwendung fand. Feststellbar ist somit, daß das RbG und die erste Verordnung ihre generelle Absicht der völligen Trennung durch die angeordneten Rechtsfolgen teilweise erreichten. Der legislative Zweck trat ein bezüglich der öffentlichen Ämter und mit der oben genannten Einschränkung durch eine im Anwendungsbereich unbeschänkte Definition, wer als Jude zu behandeln sei. Eine politisch trennende, materiell-rechtliche Ungleichbehandlung durch Entzug politischer Mitwirkungsrechte wurde hingegen verfehlt 109 . 105

Interview mit Goebbels, bei Bracher/ Sauer/ Schulz, 1960, S. 351.

106

So ausdrücklich Brandis, 1936, S. 12.

107

Lösener, 1935, S. 931 führt aus, daß die Schwäche des Arierbegriffs sich aus dem Umstand ergebe, daß der Begriff der Sprachwissenschaft entnommen sei. Ursprünglich sei Sprache und Blutszugehörigkeit zwar kongruent gewesen. I m Laufe der Geschichte sei aber eine Divergenz entstanden. Angehörige des arischen Sprachraums seien teilweise blutsmäßig keine Arier mehr, während Angehörige des nichtarischen Sprachraums blutsmäßig Arier gewesen seien. Nötig sei es deshalb festzulegen, wer blutsmäßig zum deutschen Volk gehörte. 108 Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.l.b).

80

1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

B. Das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.9. 1935 (BISchG) I. Besonderheiten des Gesetzgebungsaktes Die am RbG aufgezeigten 1 Besonderheiten des Gesetzgebungsaktes gelten gleichermaßen für das BISchG 2 , insbesondere bezüglich der Funktion des Reichstages, denn beide Gesetze wurden anläßlich des Nürnberger Parteitages verabschiedet. Ob das BISchG wie das RbG aus propagandistischen Gründen ohne inhaltliche Vorüberlegungen entworfen und verabschiedet wurde, scheint hingegen fraglich. Die rassisch motivierte Forderung, Ehen und anderen intimen Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Herkunft legislativ entgegenzuwirken, war früh Teil der nationalsozialistischen Ideologie. Bereits Rosenberg hatte in seinem „Mythos des 20. Jahrhunderts" 3 gefordert, „Ehen zwischen Deutschen und Juden (...) zu verbieten (...), geschlechtlich(en) Verkehr, Notzucht usw. zwischen Deutschen und Juden (...) je nach der Schwere des Falles mit Vermögensbeschlagnahme, Ausweisung, Zuchthaus oder Tod zu bestrafen". Dieser Beleg läßt allerdings nicht zwingend den Schluß zu, daß die Überlegungen zum BISchG gründlicher als die überhastete Erstellung des RbG erfolgten; denn ideologisch hatte bereits das Parteiprogramm der NSDAP aus dem Jahre 1920 gefordert, Juden eine mindere Staatsangehörigkeit zu verleihen 4 . Während dieser Programmpunkt aber zu Beginn der nationalsozialistischen politischen Tätigkeit vernachlässigt wurde, widmeten die Nationalsozialisten dem Gedanken einer Prävention rassischer Vermischung erhöhte Aufmerksamkeit. Im Reichstag brachte Hitlers Fraktion unter Führung des späteren Reichsinnenministers Frick schon 1930 einen Gesetzentwurf zum Schutz der deutschen Nation ein. In Anlehnung an Rosenbergs Ausführungen wird darin die Bestrafung von Personen wegen Rasseverrats mit Zuchthaus, in schweren Fällen mit Todesstrafe gefordert. Dabei lag der Verrat an der Rasse nach dem Gesetzentwurf bei Personen vor, die „ . . . durch Vermischung mit Angehörigen der jüdischen Blutsgemeinschaft oder farbiger Rassen zur rassischen Verschlechterung und Zersetzung des deutschen Volkes ..." beitragen oder beizutragen drohen 5 . Der Staatssekretär im preußischen Justizministerium und spätere Vorsitzende des Volksgerichtshofes, Freister 6 , griff den ideologisch

109 Die Auswirkungen späterer Verordnungen zum RbG werden dabei noch gesondert zu untersuchen sein. 1 Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.I.2. 2 RGBl. 1935 1, S. 1146. 3 Rosenberg, 1932, S. 569. 4 Punkt 4 und 5 des Parteiprogramms der NSDAP bei Hofer, 1957, S. 28. 5 Reichstag IV. Wahlperiode 1928, Drucksache Nr. 1741, ausgegeben am 13. 3. 1930.

2. Abschn.

. Übergreifende Diskriminierung —

i c h g e s e t z 8 1

gewollten u n d i n Gesetzentwurfsform vorliegenden Vorschlag i n einer D e n k schrift „Nationalsozialistisches Strafrecht" auf. I n h a l t l i c h entsprach der d o r t vorgeschlagene Tatbestand des Rasseverrats dem Vorschlag der nationalsozialistischen Reichstagsfraktion 7 . Flankiert wurde diese gesetzesvorbereitende A r b e i t d u r c h massiven D r u c k verschiedener nationalsozialistischer

Organisationen, der sogar

Rechtsun-

sicherheit b e w i r k t e 8 . Verschiedentlich hatten sich Standesbeamte

nämlich

angesichts der nationalsozialistischen Staatsideologie u n d Forderungen nationalsozialistischer Juristen entsprechend 9 geweigert 1 0 , Mischehen zu schließen

6 In einer Ausstellung des Bundesjustizministeriums (Bundesminister der Justiz, 1989, S. 210) sind Auszüge aus der Personalakte Freislers wiedergegeben, die die Funktion dieses sog. Gerichtes deutlich machen. Das Antrittsschreiben Freislers hatte folgenden Wortlaut: „Mein Führer. Ihnen, mein Führer, bitte ich melden zu dürfen: Das Amt, das Sie mir verliehen haben, habe ich angetreten und mich inzwischen eingearbeitet. Mein Dank für die Verantwortung, die Sie mir anvertraut haben, soll darin bestehen, daß ich treu und mit aller Kraft an der Sicherheit des Reiches und der inneren Geschlossenheit des deutschen Volkes durch eigenes Beispiel als Richter und als Führer der Männer des Volksgerichtshofes arbeite; stolz, Ihnen, mein Führer, dem obersten Gerichtsherrn und Richter des deutschen Volkes, für die Rechtsprechung Ihres höchsten politischen Gerichtes verantwortlich zu sein. Der Volksgerichtshof wird sich stets bemühen, so zu urteilen, wie er glaubt, daß Sie, mein Führer, den Fall selbst beurteilen würden. Heil mein Führer! In Treue Ihr politischer Soldat Roland Freister". Wie sehr aus diesem Verständnis eine Verkennung grundlegender rechtlicher Prinzipien folgte, zeigt ein Schreiben des Reichsministers der Justiz an den Leiter der Parteikanzlei (Bundesminister der Justiz, 1989, S. 210): „ I m Nachtrag zu den bereits überreichten Urteilen des 1. Senats des Volksgerichtshofes überreiche ich das Urteil gegen Max Prinz zu Hohenlohe-Langenburg vom 12. Dezember 1943. Aus dem Urteil ist nicht ersichtlich, aus welchen gesetzlichen Bestimmungen die Verurteilung erfolgt ist. Das Urteil erinnert an den früheren gescheiterten russischen Versuch, ohne gesetzliche Bestimmung Recht zu sprechen ..." 7 "Nationalsozialistisches Strafrecht", 1933, S. 47ff.; umfassendes Quellenmaterial zu dieser Reform findet sich bei Schubert/ Regge/ Riess/ Schmid, 1988, deren Arbeit zusammenfassend von Werle, 1988, S. 2865 dargestellt wird. A u f den speziell rassischen Gesichtspunkt des Entwurfes geht dabei Werle nicht ein. 8

A u f welchem Niveau dieser Druck ausgeübt wurde, mag eine Äußerung Streichers in einem Gespräch mit Angehörigen des Reichsinnenministeriums belegen: U m die Dringlichkeit legislativer Maßnahmen zu verdeutlichen, wird darauf hingewiesen, „daß schon bei einem einzigen Beischlaf eines Juden mit einer Ariern die Schleimhäute der Scheide durch den artfremden Samen derart ,imprägniert' würden", daß die Frau nie mehr reinblütige Arier gebären könne (Lösener, 1961, S. 267, der an der besagten Besprechung teilnahm). 9 So die Forderung des BNSDJ, ein Eheverbot in einem Rassegesetz festzuschreiben (DR 1934, S. 518). 10 Brandis, 1936, S. 10. Daß der Sinn des BISchG auch darin bestand, der durch diese Weigerung entstandenen Rechtsunsicherheit entgegenzuwirken, geht aus verschiedenen Kommentierungen hervor. Darin wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es dem Standesbeamten nicht erlaubt ist, abweichend vom BISchG seine Amtshandlung zu verweigern; er sie vielmehr, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen vorlägen, auszuführen hätte (statt aller Stuckart/ Globke, 1936, S. 96).

6 Tarrab-Maslaton

82

1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

und hatten sogar auf Oberlandesgerichtsebene Recht bekommen 11 . Dieser ideologische Druck dürfte die Vorarbeiten zum BISchG ebenfalls beeinflußt haben. Im Gegensatz zum RbG gab es somit bereits vor 1933 konkret fixierte, dem späteren BISchG entsprechende Vorlagen. Drobischs 12 nicht zwischen dem RbG und dem BISchG differenzierende Annahme, daß abweichend von der Darstellung Löseners lange vor dem Parteitag ministeriale Vorarbeiten geleistet waren, bestätigt sich also lediglich bezüglich des BISchG 13 .

II. Inhalt, Entwicklung und Handlungsspielräume des BISchG 1. Inhalt des BISchG

Zeigte sich die überhastete Erstellung des RbG in kaum zu fassenden Inhalten und entsprechend wenigen Regelungen, so weist das länger vorbereitete BISchG demgegenüber einen konkret faßbaren und umfangreicheren Regelungsgehalt auf. Der vollständige Regelungsumfang wird dabei erst durch einige Paragraphen der ersten Verordnung zum BISchG deutlich 14 . a) Die in den §§1-4

aufgestellten

Verbote

§ 1 untersagte „Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ...", schrieb die Nichtigkeit dennoch geschlossener Ehen, selbst wenn sie im Ausland geschlossen wurden, vor und stellte fest, daß eine entsprechende Nichtigkeitsklage allein der Staatsanwalt erheben konnte 1 5 . Der Intention des RbG entsprechend 16, eine allgemeingültige Definition des Begriffs Jude bereitzustellen, griff man auf diese zurück 1 7 , um

11 RG in JW 1934, S. 2613, in dem ein die Verweigerung billigendes Judikat des OLG Karlsruhe aufgehoben wird. 12 Drobisch, 1973, S. 146; siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.I.2. 13 Bezogen auf das RbG und auf das BISchG kann seine These, gerade wegen der nur beim BISchG belegbaren Vorgaben, nicht aufrechterhalten werden, siehe bereits oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.I. 14 RGBl. 1935 I, S. 1334. 15 Über diesen eherechtlich wirkenden Aspekt hinaus hat C. König, 1987 die Position der Frau im Recht des Nationalsozialismus umfassend untersucht. Sie bewertet in diesem Zusammenhang das BISchG als einen Eingriff in die individuelle Lebensgestaltung, in der durch die nur bedingte Strafbarkeit der Frau zum Ausdruck komme, daß die Nationalsozialisten Frauen ein eigenes Bestimmungsrecht vorenthalten hätten (die alleinige Verantwortlichkeit des Mannes für die sog. Rassenschande wurde in § 11 der 1. VO festgelegt, RGBl. 1935 I, S. 1334). 16

Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.IV.l. § 1 der 1. VO zum BISchG; Beyer, 1936, S. 58; Lösener/Knost, auch Müller, 1938, S. 45. 17

1941, S. 127 und so

2. Abschn. Β. Übergreifende Diskriminierung — ,Blutschutzgesetz'

83

klarzumachen, welche Ehen verboten sind und wer von den übrigen Verboten betroffen war. § 2 der ersten Verordnung zum BISchG erstreckte das Eheschließungsverbot auf Juden und sogenannte Vierteljuden. § 3 derselben Verordnung schrieb eine Genehmigungspflicht für bestimmte Ehen vor. Im Ergebnis kann man eine Aufteilung zwischen unzulässigen Ehen und solchen, die genehmigungspflichtig waren, ausmachen. Verboten waren Ehen zwischen einem Juden deutscher oder fremder Staatsangehörigkeit und einem deutschen Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes 18 ; „zwischen einem Juden deutscher oder fremder Staatsangehörigkeit und einem Staatsangehörigen jüdischen Mischling mit einem jüdischen Großelternteil; zwischen einem deutschen Staatsangehörigen jüdischen Mischling mit einem Großelternteil und einem Staatsangehörigen jüdischen Mischling mit einem jüdischen Großelternteil" 19 . Nur mit Genehmigung konnten folgende Verbindungen eingegangen werden: Die Ehe zwischen einem deutschen Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes und einem „Staatsangehörigen jüdischen Mischling mit zwei volljüdischen Großeltern .. . " 2 0 . Genehmigungsbedürftig waren darüber hinaus die Ehe zwischen einem „staatsangehörige(n) jüdische(n) Mischling mit einem volljüdischen Großelternteil" 21 und „eine(m) Staatsangehörigen jüdischen Mischling mit zwei jüdischen Großeltern" 22 und schließlich die Ehe zwischen einem „staatsangehörige(n) jüdische(n) Mischling mit zwei jüdischen Großeltern ... (und) eine(m) deutschen Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes oder eine(m) Staatsangehörigen jüdischen Mischling mit einem volljüdischen Großelternteil" 23 . Vergleicht man die verbotenen mit den genehmigungsbedürftigen ehelichen Verbindungen fallt eine gewisse Unlogik auf. Einerseits war es Vierteljuden verboten, untereinander zu heiraten, jedoch andererseits Halbjuden, also Personen, die rassisch einen größeren jüdischen Blutsanteil besaßen, erlaubt, unter der Voraussetzung einer Genehmigung zu heiraten. Die Darstellung der auch ohne Genehmigung erlaubten Ehen erklärt dies. Eine „deutsch reinrassige Person" konnte genehmigungsfrei einen Vierteljuden und umgekehrt heiraten, denn deren Nachkommenschaft war blutsmäßig „reinrassisch deutsch" 24 . 18 19 20 21 22 23 24

6*

Beyer, 1936, S. 59; Heintzeler, 1935, S. 267f. Brandis, 1936, S.48ff.; Deisz, 1938, S.93ff. Statt aller Stuckart/ Giobbe, 1936, S. 99. Stuckart/Globke, 1936, S. 99. Lösener ! Knost, 1941, S. 129f.; Brandis, 1938, S. 54. Stuckart/Globke, 1936, S. 99; Deisz, 1938, S. 93f. Gütt/Linden ! Massfellner, 1936, S. 222 m.w.N.

84

1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Ähnlich bei den Halbjuden: Sie konnten untereinander oder Volljuden heiraten, da es so ebenfalls zu einer reinrassigen Nachkommenschaft kam, gingen aus solchen Verbindungen doch reinrassige Juden im Sinne des § 5 RbG, wonach Jude war, „ . . . wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt", hervor. Es konnten schließlich reinrassige Juden ebenfalls genehmigungsfreie Verbindungen eingehen, die eine rassische Vermischung ausschlossen, also Halb- oder Volljuden ehelichen. Der eingangs als unlogisch bezeichnete Gegensatz ist somit gerade logisch. Wurde die Ehe zwischen einem Halbjuden und einem „reinrassigen Deutschen" genehmigt, entstand zwar ein Vierteljude. Von ihm konnte aber keine „rassische Gefahrdung" ausgehen, da ihm all diejenigen Verbindungen verboten waren, bei denen die Nachkommenschaft halbjüdisch geworden wäre. Die Frage, welche Verbindungen verboten, genehmigungsbedürftig oder genehmigungsfrei waren, entschied sich also allein danach, ob reinrassige oder gemischtrassige Nachkommenschaft zu erwarten war. Verboten waren alle Verbindungen, deren Nachkommenschaft zu einer Erhöhung des jüdischen Blutsanteils geführt hätte. Genehmigungsbedürftig, aber nicht verboten waren Ehen, bei denen Mischlinge zweiten Grades, also Vierteljuden entstehen konnten; genehmigungsbedürftig, weil eine nicht reinrassige Nachkommenschaft zu erwarten war; nicht generell verboten, weil von Vierteljuden keine „rassische Gefahr" ausging. Diese Logik darf jedoch über die Untauglichkeit des Rassebegriffs zur blutmäßigen Bestimmung nicht hinwegtäuschen, denn letztlich ausschlaggebend war die Religionszugehörigkeit, die allein von der theologischen Überzeugung abhing 25 . Neben diesen Verbindungen war auch „außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" verboten (§ 2 BISchG). Näher bestimmte § 11 der ersten Verordnung zum BISchG, daß damit allein der Geschlechtsverkehr gemeint sei 26 . Diese Vorschrift dehnte die Strafbarkeit allerdings zugleich auf den Verkehr zwischen Juden und sogenannten Vierteljuden aus 27 . Des weiteren untersagte §3 BISchG Juden, „weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt..." zu beschäftigen; nichtarische, ausländische Personen durften hingegen dort tätig sein 28 .

25

Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.l.b). Inwieweit sich die Gerichte daran hielten oder durch bestimmte Methoden Handlungsspielräume sich eröffneten, wird noch zu prüfen sein. 27 Umfassend zum Begriff Geschlechtsverkehr Becker, 1937, S. 22 f. 28 Gerber, 1936, S. 544. 26

2. Abschn.

. Übergreifende Diskriminierung —

chgesetz

85

Schließlich verwehrte man ihnen das Hissen der Reichs- und Nationalflagge, erlaubte das Zeigen der jüdischen Farben, und die Ausübung dieser Befugnis stand formal unter staatlichem Schutz (§ 4 BISchG).

b) Strafbewehrung der Verbote und sonstige Vorschriften des BISchG Die in die intimste Sphäre eingreifenden rassischen Verbote erfuhren durch ihre Strafbewehrung eine zusätzliche Verschärfung. § 5 drohte für die Zuwiderhandlung gegen § 1 mit Zuchthaus, und dem Mann, der gegen § 2 verstieß, ebenfalls mit Zuchthaus und stellte für eine Mißachtung der §§3 und 4 Gefängnisstrafe bis zum einem Jahr wahlweise mit Geldstrafe in Aussicht. I m übrigen sah das BISchG eine Ermächtigungsnorm zum Erlaß der erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften vor (§ 6) und bestimmte schließlich, daß §3 erst am 1.1. 1936 in Kraft treten sollte; somit blieb den betroffenen deutschen Hausangestellten die Möglichkeit, rechtzeitig eine andere Anstellung zu finden 29 . Eine weitere Überlegung gegen eine ad hoc in Kraft tretende Regelung dürfte in der Prävention zusätzlicher Arbeitslosigkeit gelegen haben.

2. Entwicklung des BISchG und Rechtssicherheitserwartung

Zum BISchG sind weniger Verordnungen als zum RbG ergangen 30. Relevant ist allein die teilweise bereits dargestellte erste Verordnung, da die Verordnung des Jahres 1940 lediglich eine Ergänzung zu §11 enthält 31 . Darin wird die alleinige Verantwortlichkeit des Mannes für den Verstoß gegen das Verbot der Rasseschande festgeschrieben. Die beiden Verordnungen des Jahres 1938 ordnen die Einführung der Nürnberger Gesetze in Österreich und in den sudetendeutschen Gebieten an. Schließlich legte man 1941 fest, daß das BISchG nicht für ehemalige polnische Staatsangehörige gilt und übernahm es weitgehend für das Protektorat Böhmen und Mähren. Die geringe Anzahl der Verordnungen erklärt sich aus zwei Gründen: Einmal hatte das Gesetz selbst klare Regelungen getroffen, die durch eine Verordnung ergänzt wurden.

29

Stuckart/Globke, 1936, S. 125; Gütt/Linden/ Massfellner, 1936, S.218. l . V O zum BISchG, RGBl. 19351, S. 1334; VO über die Einführung der Nürnberger Rassegesetze im Lande Österreich, RGBl. 19381, S. 594,930,934; VO über die Einführung der Nürnberger Rassegesetze in den sudetendeutschen Gebieten, RGBl. 1938 I, S. 1997; VO zum BISchG, RGBl. 1940 I, S. 394; 2. VO zum BISchG, RGBl. 1941 I, S. 297; 3. VO zum BISchG, RGBl. 1941 I, S. 384. 31 RGBl. 1940 I, S. 394. 30

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Zum anderen war es üblich 3 2 , Verfahrensfragen, etwa das Befreiungsverfahren nach § 7 RbG und § 16 der ersten Verordnung zum BISchG, per Erlaß zu regeln. Die erste Verordnung umfaßte 15 Paragraphen. Neben den oben erläuterten §§ 3,2 und 11 enthielt sie folgende Regelungen: § 1 verwies ausdrücklich auf den Begriff Jude nach der Definition des RbG. Weiterhin formulierten die §§ 4 und 6 Sollvorschriften, in denen festgelegt wurde, daß Ehen zwischen Vierteljuden sowie Ehen, bei denen davon ausgegangen werden konnte, daß „ . . . aus ihr eine die Reinerhaltung des deutschen Blutes gefährdende Nachkommenschaft zu erwarten ist", nicht geschlossen werden sollten. Durch die erste Vorschrift wollte man „ . . . das möglichst baldige Verschmelzen der deutsch-jüdischen Mischlinge mit den Trägern deutschen oder artverwandten Blutes erreich(en)" 33 , und §6 war gedacht zur Verhinderung der Vermischung mit anderen „minderwertigen Rassen" außer der jüdischen 34 . Dabei mußte das NichtVorliegen eines Ehehindernisses im Sinne des § 6 durch ein Ehetauglichkeitszeugnis nachgewiesen werden (§7) 3 5 . Der in der Kommentarliteratur 36 vertretenen Auffassung folgend, sah § 5 der ersten Verordnung demgemäß vor: „Die Ehehindernisse wegen jüdischen Blutseinschlages sind durch §1 des Gesetzes und durch die §§2-4 dieser Verordnung erschöpfend geregelt." Es dürften derartige Paragraphen 37 der Nürnberger Gesetze und Hitlers Äußerungen, wonach nunmehr — gemeint war seit Erlaß der Nürnberger Gesetze — die sogenannte Judenfrage endgültig gelöst sei 38 , gewesen sein, die zu verhalten positiven Stimmen 39 der jüdischen Repräsentanten führten. Sie waren

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So etwa im GWBB, siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.b). Gütt/Linden j Massfellner, 1936, S. 264; Brandis, 1936, S. 84f. 34 Auch in diesem Zusammenhang findet sich bereits in der Diktion ein Beispiel für das andere Menschen deklassierende Weltbild des Nationalsozialismus. § 6 solle verhindern, daß es zu Mischlingen kommt, wie man sie aus der französischen Besatzungszeit kenne. Solche „Negerbastarde" seien der „Reinerhaltung" des deutschen Volkes abträglich (Gütt/Linden/Massfellner, 1936, S. 226). 35 Ausdrücklich wurde in § 7 angeordnet, daß es sich um ein Ehetauglichkeitszeugnis i.S.d. §2 des Ehegesundheitsgesetzes (RGBl. 1935 I, S. 1246) handeln mußte. Dieses Zeugnis konnte nur erteilt werden, nachdem sich beide Partner einer umfangreichen physischen Untersuchung durch ein Gesundheitsamt unterzogen hatten. 33

36 Zur gegenteiligen Handhabung durch die Rechtsprechung vgl. L G Königsberg, DJ 1935, S. 1387; A G Bad Sülze, JW 1935, S. 2309. 37 Hierher gehört ebenfalls §11, der festlegte, daß nur der Geschlechtsverkehr außerehelicher Verkehr i. S. d. § 2 BISchG sei. 38 „Der Parteitag der Freiheit vom 10.-16. September 1935", offizieller Bericht über den Verlauf des Reichsparteitages mit sämtlichen Kongreßreden; diese Form von Eindeutigkeit und Endgültigkeit findet sich auch auf Erlaßebene, so etwa (MBlPrVerw 1935, S. 1429), dazu nachfolgend.

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von der Erwartung getragen, die Nürnberger Gesetze würden trotz der in ihnen fixierten Diskriminierungen eine gewisse Rechtssicherheit erzeugen. Neben den weniger relevanten §§ 8, 9,10,13 und 1140 enthielten die §§ 12,15 und 16 Inhalte, die die Entwicklung des BISchG beeinflußten. § 12 zog in seinem Abs. 2 den Kreis der im Haushalt beschäftigten Personen sehr weit und ließ eine extensive Handhabung geradezu angezeigt erscheinen. Gemeint war nämlich neben der unmittelbaren Tätigkeit einer Hausangestellten zugleich andere alltägliche Arbeiten, die mit dem Haushalt in Verbindung stehen. § 15 legte fest, daß Staatenlose vom BISchG und der Ausführungsverordnung erfaßt seien, wenn sie ihren Wohnsitz im Inland haben oder früher gehabt haben. Diese Vorschrift weist auf eine Ergänzungsfunktion des BISchG hin, die noch darzustellen sein wird. Schließlich kannte die erste Verordnung eine Dispensvorschrift (§ 16). Wie in den bisherigen Gesetzen gab es formal eine Befreiungsmöglichkeit von den Vorschriften des BISchG und der ersten Verordnung durch Hitler selbst. Welcher materielle Gehalt dieser Norm zukam, wird anschließend geprüft werden. Die genannten Vorschriften der ersten Verordnung stützten formal, insbesondere angesichts dieses detaillierten Inhalts, die Annahme, die weitere Entwicklung des BISchG würde mit der durch sie geschaffenen Rechtssicherheit eine gewisse Befriedung bringen. 3. Handlungsspielräume und Überprüfung der Rechtssicherheitserwartung

Konnte man diese Annahme vertreten, so fragt sich, ob sie durch die anschließende Praxis bestätigt wurde. Dabei muß eine Differenzierung zwischen der Erlaß- und der Justizpraxis vorgenommen werden. Erstmals kam nämlich letzterem Element wegen der strafbewehrten Norm des BISchG erhöhte Bedeutung zu.

39 Kulka, 1984, S. 602 f. gibt diese Ansicht aus dem Blickwinkel der nicht-jüdischen Bevölkerung anhand geheimer Berichte der Gestapo wieder, während Schoeps, 1970, S. 13 dies mit dem allgemeinen Patriotismus der deutschen Juden verbindet; eine Sichtweise, die Lösener, 1961, S. 278 als Mitverfasser der Gesetze teilt. 40 Es wurden darin die Zuständigkeit des Staatsanwalts für die Nichtigkeitsklage (§ 8), eine Entscheidungsbefugnis des Reichsinnenministeriums bei Aufgebotsversagung gegenüber Ausländern (§ 9) geregelt, festgelegt, daß eine vor einer deutschen Konsularbehörde geschlossene Ehe als im Inland geschlossen gilt (§ 10), eine deutsche Hausangestellte strafbar ist, wenn sie im jüdischen Haushalt verbleibt (§ 13) und das Inkrafttreten der Verordnung (§ 17).

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a) Erlaßpraxis Eine erschöpfende Beurteilung dieser Praxis kann aufgrund der Vielzahl der Anordnungen nicht geleistet werden 41 . Allerdings deutet die Wiedergabe einiger dieser Erlasse in allen wesentlichen Kommentierungen 42 auf deren zentrale Wichtigkeit hin. Der Erlaß vom 26.11. 1935 erläuterte genauer das Verbot der Rassenmischehen. Im wesentlichen werden darin die Definition des Juden bzw. Mischlings aus dem RbG und der ersten Verordnung zum RbG aufgeführt. Daneben finden sich Anweisungen, wie jüdische Mischlinge zu bezeichnen sind. Wichtiger ist indes die wiederholt gemachte Feststellung, wonach es den Standesbeamten untersagt ist, von den Anweisungen des Runderlasses abzuweichen; ein Umstand, der die Erwartung rechtlicher Sicherheit miterzeugt haben dürfte 43 . Allerdings, und insoweit ist eine Relativierung angezeigt, räumt der Erlaß dem Beamten einen Ermessensspielraum ein. Grundsätzlich sei es ihm zwar verwehrt, andere als die genannten Urkunden zur Erstellung des Aufgebots zu verlangen, der Standesbeamte könne jedoch fordern, „daß weitere Urkunden, insbesondere die Heiratsurkunden der Großeltern vorgelegt werden, wenn bestimmte Tatsachen bekannt seien, die für eine andere als die von den Verlobten behauptete Abstammung sprechen". Genau an dieser Stelle verblieb dem „ . . . mit dem Nationalsozialismus vertraut gemachten..." Beamten Handlungsspielraum 4 4 . A m 4.12. 1935 45 erfuhren die Dispensverfahren im Sinne des § 7 der ersten Verordnung zum RbG und des § 16 der ersten Verordnung zum BISchG eine rechtliche Fixierung. Es wurde festgelegt, welche Behörden zuständig sind, welche Voraussetzungen geprüft werden müssen und daß eine Stellungnahme des Gauleiters einzuholen ist. Nicht nur dieses letzte Erfordernis, sondern zugleich die Voraussetzung erinnern an das G W B B 4 6 ; denn es sollte bei der 41 Runderlaß zum BISchG, Walk, 1981, S. 143 Rn. 65; Verfügung zum BISchG, Hoffmann, 1963, S. 51; Erlaß zum BISchG, MBlPrVerw 1936, S. 1199f.; Erlaß zum BISchG, Blau, 1965, S. 37; Runderlaß zum BISchG, RMB1. 1937, S. 1139f.; Erlaß zum BISchG, MBlPrVerw 1938, S. 1722; Erlaß zum BISchG, Walk, 1981, S. 294 Rn. 199; Anordnung zum BISchG, DJ 1942, S. 489 — ohne Anspruch auf Vollständigkeit, weitere Erlasse bei Blau, 1965. 42 Die drei hier darzustellenden Erlasse (Erlaß vom 26.11. 1935 in MBlPrVerw 1935, S. 1429; Erlaß vom 23.12. 1935 in MBlPrVerw 1935, S. 881; Erlaß vom 4.12. 1935 in MBlPrVerw 1935, S. 1455) finden sich bei Globke ! Stuckart, 1936, S. 151 ff.; Brandis, 1936, S. 94 ff.; Lösener, 1941, S. 186ff. und Gütt I Linden IM assf ellner, 1936, S. 252ff. gleichermaßen. 43 Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.2. 44 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.b). 45 Zur Relevanz des Erlasses im Zusammenhang mit dem RbG siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a). 46 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.b).

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Prüfung des Dispensgesuchs neben den rassischen, seelischen und charakterlichen Eigenschaften die politische Zuverlässigkeit und die Teilnahme am Weltkrieg Berücksichtigung finden. Zusätzlich war ein Gutachten des Gesundheitsamtes beizubringen, das sich auf die rassischen Merkmale des Antragstellers erstrecken mußte. Die wiederum genaue Festlegung selbst dieses Dispensverfahrens legt es nahe, Rechtssicherheit zu erwarten 47 . Wie hinsichtlich des Erlasses vom 26.11.1935 muß dem aber widersprochen werden. Es ist Hitlers persönliche Willkür, die zeigt, wie illusionär die Rechtssicherheitserwartung war. Eine über Lammers wiedergegebene Äußerung Hitlers ohne jegliche rechtliche Fixierung reichte, um ein noch so sehr durch seine Regelungsdichte Rechtssicherheit versprechendes Verfahren zum bloßen formalgesetzlichen Überbleibsel werden zu lassen. Völlig losgelöst von Gesetz, Verordnung und Erlaß entschied Hitlers Wille 4 8 . Formell könnte man zwar den Standpunkt vertreten, die Entscheidung, gleichmäßig keinen Dispens zuzulassen, gewährleiste rechtliche Sicherheit. Der materielle Regelungsgehalt steht dieser Sichtweise entgegen, denn Hitlers oben genannte Entscheidung hatte nicht zum Inhalt, nach Prüfung der Dispensanliegen solche ablehnend zu bescheiden, sondern überhaupt die Dispensmöglichkeit als solche zu beseitigen und zwar ohne diese Abschaffung zu fixieren, geschweige denn zu publizieren. Während die publizierte Dispensvorschrift also fortbestand, war sie materiell abgeschafft worden. In Folge dieser Diskrepanz ergab sich objektiv eine erhebliche Rechtsunsicherheit, denn die Normadressaten gingen von einer Rechtslage — Dispensmöglichkeit — aus, die tatsächlich gar nicht mehr bestand. Dieses Bild wird durch den Runderlaß vom 23.12. 1935 vervollständigt. Umfangreich und genau war darin das Verfahren zur Genehmigung von Ehen jüdischer Mischlinge (§ 3 der ersten Verordnung zum BISchG) enthalten. Es wurden die zuständigen Antragsbehörden, die Genehmigungsvoraussetzungen, die denjenigen im Erlaß vom 4.12. 1935 einschließlich der Stellungnahme des Gauleiters entsprachen, mit der Hinzufügung, daß die Familiengeschichte des Antragstellers zu erforschen sei, und sogar ein Genehmigungsausschuß beim Reichsinnnenministerium genannt, dessen Zusammensetzung und Beratungsprocedere teilweise detailliert auf die Zivilprozeßordnung Bezug nahm — einschließlich der anfallenden Gebühren.

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Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.2. Vgl. oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.l.b) im Zusammenhang mit dem RbG; das Orginalschreiben ist vollständig bei Liesner, 1985, S. 39 abgedruckt. Wiedergegeben wird darin eine Äußerung Hitlers, daß es in keinem Falle Ausnahmebewilligungen von den für Juden geltenden Vorschriften mehr geben dürfte. 48

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Potentiell waren von diesem Verfahren nach Angaben Löseners 72000 Menschen betroffen 49 . Für diesen Personenkreis wäre eine so schwerwiegende Beeinträchtigung der Gestaltung ihrer persönlichen Lebensverhältnisse, die das Genehmigungserforderais einer Ehe an sich schon mit sich brachte, bei der Aussicht, diese Ehe durch eine Genehmigung legal schließen zu können, tragbarer gewesen. Der Ausschuß selber funktionierte insbesondere wegen der beteiligten Parteimitglieder nur kurz 5 0 . Nachdem das Verfahren vor dem Ausschuß durch ein Verwaltungsverfahren ersetzt worden war, häuften sich die Anträge. Lösener schätzt die Zahl seit 1935 auf einige Tausend. Obwohl das Verfahren zunehmend undeutlich geworden war, konnten Beamte des Reichsministeriums des Innern für einige wenige positive Bescheide sorgen, bis schließlich im Anschluß an die oben wiedergegebene Äußerung Hitlers das Verfahren gesetzeswidrig gänzlich eingestellt wurde. b) Justizpraxis Im BISchG waren erstmals rassisch motivierte strafbewehrte Vorschriften enthalten, die die gesamte jüdische Bevölkerung betrafen. Die Anwendung des Gesetzes durch die Strafjustiz war Gegenstand umfassender Untersuchungen 51 , und vorliegend soll lediglich ein kurzer Einblick in die der Justiz gewährten Handlungsspielräume gegeben werden. Die Justiz wendete die Strafvorschriften in zahlreichen Fällen an 5 2 . Gemeinsam ist dabei den Verfahren eine extensive Auslegung der Tatbestände, hohe Strafmaße und eine ungleich mildere Behandlung deutscher Delinquenten 53 . Ausgangspunkt extensiver Auslegung war insbesondere das Tatbestandsmerkmal des außerehelichen Verkehrs. I m Dezember 1935 legte das Reichsgericht54 fest, nicht nur der Beischlaf sei außerehelicher Verkehr im Sinne des Gesetzes. Eine Auffassung, die eindeutig die vom Gesetzgeber vorgegebene Auslegung durchbrach, hatte doch § 11 der ersten Verordnung zum BISchG bestimmt: „Außerehelicher Verkehr im Sinne des § 2 des Gesetzes (gemeint ist das BISchG) ist nur der Geschlechtsverkehr." Müller erklärt dieses Faktum durch die Neuheit des Tatbestandsmerkmals Geschlechtsverkehr 55. Dieser Begriff sei erstmals durch § 11 der ersten Verord49

Lösener, 1961, S. 282. Lösener, 1961, S. 284. 51 Exemplarisch seien hier die Arbeiten von Sigg, 1951; Schorn, 1959; Wulf \ 1960; Robinson, 1977; Müller, 1987; Gruchmann, 1988 und Lücken, 1988 aufgezählt. 52 Eine ausführliche Statistik findet sich bei Robinson, 1977, S. 7. 53 Robinson, 1977, S. 76 f. hat nachgewiesen, daß im Durchschnitt jeder zu Zuchthaus verurteilte Jude 1557 Tage und jeder Deutschblütige 894 Tage im Zuchthaus verbringen mußte. 54 RGSt 70, S. 375 f. (Großer Senat); Becker, 1937, S. 25 f. 50

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nung eingeführt worden, während davor die Begriffe Beiwohnung, Beischlaf und Unzucht in der Gesetzessprache verwendet worden seien. So habe auch der klärende § 11 der Auslegung nicht entgegengewirkt. Lengemann 56 hat die Rolle des Reichsgerichts bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals außerehelicher Verkehr ebenfalls analysiert. Er vertritt die Auffassung, daß dem Nationalsozialismus gegenüber dem Reichsgericht nur im Bereich des Rasserechts ein Einbruch gelungen sei, der jedoch auf den scharfen Druck, der seitens der Nationalsozialisten ausgeübt worden sei, zurückgehe. Angesichts der gesetzlich vorgegebenen Auslegung in der ersten Verordnung erscheint diese Bewertung Lengemanns zweifelhaft, verkennt sie doch die Möglichkeit des Reichsgerichts, sich auf den Verordnungstext zurückzuziehen 5 7 . Die hier vorgestellte extensive, gegen den Wortlaut der Verordnung vorgenommene Auslegung belegt, wie trügerisch die Hoffnung war, durch das umfassende Regelungswerk zum BISchG rechtliche Sicherheit zu erlangen. Der 2. Strafsenat des Reichsgerichts dehnte die Anwendung des § 2 BISchG noch weiter aus und formulierte im Leitsatz: „Rasseschande nach §§ 2 und 5 Abs. 2 BISchG kann auch begangen werden, ohne daß es zu einer körperlichen Berührung zwischen den Beteiligten kommt" 5 8 . Eines einfachen Mechanismus bediente man sich, um „deutschblütigen Männern, die mit dem BISchG wie jüdische Männer in Konflikt geraten konnten" 5 9 , Strafmilderung zukommen zu lassen, indem schlicht ihren Einlassungen, sofern sie das Verhalten der jüdischen Partnerin als Prostitution oder ähnlich darstellten, geglaubt wurde. So findet sich etwa in einem Urteil des Landgerichts Hamburg der Satz: „Die Zeugin B. ist eine geschlechtsgierige, moralisch verwahrloste Jüdin, die mit ihrem hemmungslosen Geschlechtstrieb und ihrer Rücksichtslosigkeit beide Angeklagte unter starkem Einfluß hatte" 6 0 . 55

Müller, 1987, S. 107; so auch Sigg, 1951, S. 52 f. Lengemann, 1974, S. 77 ff. 57 Lücken, 1988, S. 290 teilt diese Bewertung und stützt sie mit der Kommentierung Löseners (Lösener I Knost, 1941, S. 53), wonach die Beschränkung auf den Geschlechtsverkehr ausdrücklich vom Willen des Gesetzgebers getragen gewesen sei. 56

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RGSt 70, S. 375 (Großer Senat). Stuckart ! Globke, 1936, S. 122; Deisz, 1938, S. 123. 60 Robinson, 1977, S. 67 unter Bezugnahme auf Originalakten des Landgerichts Hamburg. Ein weiteres plastisches Beispiel für die Rechtsprechung in Fällen von Rassenschande findet sich bei Schimmeler, 1984, S. 96ff. Hinsichtlich der Eigenschaft Volljude ergaben sich beim Täter Zweifel, da seine Mutter nicht bekannt war. Dazu führen die Richter aus: „Was seine (des Täters) Mutter anlangt, so ist bereits darauf hingewiesen, daß es in Rußland um 1900 ganz unwahrscheinlich war, daß ein Jude eine Nichtjüdin heiratete Bezüglich des Tatbestandsmerkmals volljüdisch legte man also insoweit ausdrücklich eine Vermutung zuungunsten des Angeklagten zugrunde. Ähnliche Judikate in Fällen von Rassenschande sowie die nach dem Kriege ausgeblie59

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

ΙΠ. Ausgrenzungsintention und objektiv erreichter Diskrimimerungserfolg 1. Ausgrenzungsintention

Die Intention des BISchG ist im Vergleich zum RbG in Folge der frühzeitigeren Überlegungen sehr viel detaillierter nachweisbar. a) Generelle Intention Die Gesamtstoßrichtung des BISchG geht aus der Präambel hervor 61 : „durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes ist ...". Diese Erkenntnis und ihre Umsetzung durch Rassentrennung bzw. Verhinderung von Rassenvermischung gehen unmittelbar auf Hitlers rassische Ideologie zurück. In der Passage „Gefahren der Rassenmischung" in „Mein K a m p f wurde die „ . . . heiligste Verpflichtung ...", die Reinerhaltung des Blutes genannt. Pflicht des völkischen Staates sei es, „ . . . die Ehe aus dem Niveau einer dauerhaften Rassenschande herauszuhalten ...", um so „ . . . Mißgeburten zwischen Mensch und Affe" zu verhindern 62 . In späteren Beiträgen zum BISchG wurde diese generelle Absicht des Gesetzes denn auch ausdrücklich auf Hitlers Rassenideologie gestützt: Der „ . . . Grundsatz der Blutreinheit", der schon in Hitlers „Mein K a m p f festgeschrieben sei, solle durch das BISchG gesichert werden 63 . Daß „der völkische Staat... die Rasse in den Mittelpunkt des Lebens.. , " 6 4 zu setzen habe, sei in Hitlers Werk gefordert und darum zugleich umfassende Zielsetzung der durch das BISchG gewährleisteten gesetzlichen Rassenpflege 65. Hitler habe in „Mein K a m p f die Erkenntnis niedergeschrieben, daß „(die) Erhaltung (der) Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen"66 Staatszweck sei. Genau dieser durch Rassentrennung und Verhinderung von Rassenmischung zu erreichende Staatszweck findet sich in der Präambel als grundlegender Gesetzeszweck des BISchG wieder 67 . b) Einzelintention War dies die Gesamtintention, so hatten die einzelnen ausgrenzenden Vorschriften darüber hinaus zugleich einen speziellen Zweck. bene strafrechtliche Verfolgung der beteiligten Richter finden sich in einem Ausstellungskatalog des Bundesministers der Justiz, 1989, S. 426 f. 61 Lösener ! Knost, 1941, S. 22, 126. 62 Hitler, 1940, S. 444f. 63 Freisler, 1936, S. 385 f. 64 Hitler, 1940, S. 324. 65 Stuckart ! Globke, 1936, S. 13. 66 Hitler, 1940, S. 433. 67 Boschan, 1937, S. 10.

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Der in seiner Rechtsfolge ein Eheverbot aussprechende § 1 BISchG sollte legitime Verbindungen zwischen den verschiedenen Rassen und die aus solchen Verbindungen hervorgehenden Mischlingsrassen verhindern 68 . Die Vermischungsprävention bezog sich bei dieser Vorschrift also auf die legitime Fortpflanzung 69 . Dieses Ehehindernis war darüber hinaus zugleich zur Ermöglichung einer strafbewehrten Repression gedacht. Wollte man eine Bestrafung vorsehen, mußte sie, dies hatte Reichsjustizminister Gürtner auf Freislers frühere Forderung nach entsprechenden Strafvorschriften entgegnet, durch ein zivilrechtliches Verbot vorbereitet werden. Nur was bürgerlich-rechtlich verboten sei, könne strafrechtliche Sanktion erfahren; nicht hingegen die erlaubte Eheschließung70. Dem trug § 1 BISchG Rechnung. Zur möglichst umfassenden Vermischungsprävention war es erforderlich, ergänzend zu § 1 den illegitimen Verkehr zu unterbinden. Dies bezweckte § 2 BISchG 71 . Intendiert war darüber hinaus der mit dem Verbot außerehelichen Geschlechtsverkehrs nötige Schutz der deutschen Frau. Sie sei durch das Wesen der Juden gefährdet 72 . Eine derart niedrige Intention tritt ebenfalls in § 3 BISchG hervor. Sinn der Vorschrift war es, der Gefahrdung deutscher Frauen vorzubeugen und damit zugleich der Realisierung der Gefahr, d.h. der Rassenvermischung entgegenzuwirken 7 3 . Die „ . . . rasseverderbliche geschlechtliche Gefahrdung . . . " 7 4 wurde dabei angenommen, wenn eine deutsche Frau in einem jüdischen Haushalt, dem ein Jude im Sinne des RbG angehörte, tätig war. Vollständig zeigt sich die Intention indes erst durch die Decouvrierung des Strafzwecks: Zwar ist es bereits eine gravierende Diskriminierung, Tätigkeitsverhältnisse rassisch motiviert zu unterbinden. Andererseits gibt es im geltenden Strafrecht in § 174 StGB ebenfalls eine Vorschrift, die vor der sexuellen Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses schützen will. Dieses Motiv muß als legitimer Strafzweck betrachtet werden. In § 3 BISchG findet er sich aber nicht, denn es war gleichgültig, ob der Haushaltsvorstand, also die Person, zu der ein Abhängigkeitsverhältnis hätte bestehen können, Jude war. Die Anwesenheit eines jüdischen Mannes im Haushalt überhaupt reichte vielmehr 75 . Nicht ein mögliches Abhängigkeitsver68

Statt aller Stuckart/ Globke, 1936, S. 94 ff. So ausdrücklich Feldschner, 1943, S. 54 und Deisz, 1938, S. 89. 70 Gruchmann, 1985, S. 122 f. hat auf diese Kontroverse zwischen Gürtner und Freisler vor der amtlichen Strafrechtskommission 1934 hingewiesen. 71 Stuckart IGlobke, 1936, S. 111; Deisz, 1938, S. 109 und Massfellner, 1935, S. 342. 72 Freisler, 1936, S. 386 wies diesem Wesen eine „ . . . die Unberührbarkeit deutschen Blutes nicht anerkennende Geschlechtsgier der Juden ..." zu. 73 Eine Auffassung, die sich so ausdrücklich in einer ganzen Reihe von Kommentaren und Beiträgen findet, vgl. Lösener I Knost, 1941, S. 138; Gütt ! Linden ! Massfellner, 1936, S. 211; Verspohl, 1936, S. 26 und Müller, 1938, S. 109ff. 69

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Stuckart/Globke, 1936, S. 113. Gütt ! Lindenj Massfellner, 1936, S. 211; Lösener ! Knost, 1941, S. 138f. und Verspohl, 1938, S. 38. 75

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hältnis, sondern die Unterstellung permanenter Verführungsabsicht als jüdischem Wesen eigen kommt darin zum Vorschein. Wie bei den bislang analysierten Vorschriften des BISchG findet sich ein unmittelbarer Bezug zu Hitlers Rassenideologie, in der bereits die Schändungsabsicht als jüdisches Charakteristikum dargestellt wurde 76 . Im Vergleich zu den §§1-3 BISchG ist §4 BISchG von seiner Intention her verschieden. Das Verbot des Flaggenhissens war dazu gedacht, selbst öffentlich zu zeigen, daß Juden nicht zum deutschen Volk gehören 77 . Alle vier Paragraphen sollten in ihrer Zweckerreichung durch die in § 5 BISchG ausgesprochene strafrechtliche Sanktion unterstützt werden. Darüber hinaus verpflichtete man die Justiz erstmals unmittelbar der nationalsozialistischen Rassenideologie. Durch die Strafvorschrift vertraue der nationalsozialistische Staat „ . . . den Kampf um die Reinheit des Blutes ..." der deutschen Rechtspflege an; von ihr sei zu verlangen, diese Aufgabe mit aller Kraft und rücksichtslos anzupacken 78 . c) Ausgrenzungsadressaten Die letztgenannte Vorschrift erfaßte alle Juden. Geltung für sämtliche Juden hatten dabei die §§ 1 - 3 BISchG, wobei insoweit der Wunsch zu heiraten, eine nicht-eheliche Beziehung oder die Anstellung einer Deutschen hinzutreten mußten, um die vorgesehene Diskriminierung zu aktualisieren. Hervorzuheben ist noch, daß die Vorschriften des BISchG nicht nur deutsche, sondern zumeist gleichzeitig staatenlose und ausländische Juden betraf, wobei bei letzteren der Reichsinnenminister im Einzelfall zu entscheiden hatte, ob ein Ehehindernis im Sinne des § 1 BISchG vorliegt. Adressat der Ausgrenzung war neben der deutschen jüdischen Bevölkerung also ebenso die deutsche Bevölkerung. § 3 BISchG konnte einen Deutschen treffen, wenn er wußte, daß ein Jude Teil seines Haushalts ist 7 9 . § 1 BISchG galt für den deutschen Teil gleichermaßen, und schließlich war dem deutschen Mann durch § 2 BISchG eine außereheliche Beziehung zu einer Jüdin untersagt. Der generellen Intention 8 0 des Gesetzes entsprechend war somit das gesamte deutsche Volk vom BISchG rechtsbeschränkend betroffen. Die Deutsche betreffenden Beschränkungen waren dabei kein bloßer Reflex der Diskriminierung jüdischer Personen. Solche Reflexe gab es häufig bei ausschließlich gegen 76 Hitler, 1940, S. 357: „Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet 77 78 79 80

StuckartI Globke, 1936, S. 118 und Deisz, 1938, S. 117. Freister, 1936, S. 386. Gütt/Linden/Massf'ellner, 1936, S. 218; Deisz, 1938, S. 131 und Verspohl, 1938, S. 76. Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.III.l.b).

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Juden gerichteten Diskriminierungen, denn natürlich führte zum Beispiel der Ausschluß eines jüdischen deutschen Polizeibeamten dazu, daß Deutsche, die diesem Beamten besonders vertraut hatten, sich an ihn nicht mehr wenden konnten. Dieser Reflex ist jedoch zu unterscheiden von Maßnahmen, die originär Rechte nicht-jüdischer Deutscher, wie etwa die freie Wahl des Ehepartners beschneiden sollten. Die Diskriminierung liegt somit nicht in einer Ungleichbehandlung — schließlich war die gesamte deutsche Bevölkerung betroffen —, sondern im Motiv des Verbots, der Vermischung höherwertigen nicht-jüdisch-deutschen Blutes mit minderwertigem jüdischen Blut entgegenzuwirken. 2. Objektiver Diskriminierungserfolg

Aus dem oben zum Abschluß Gesagten ergibt sich direkt die quantitative Wirkung der Paragraphen des BISchG 81 . Sie erfaßte staatenlose und deutsche Juden gleichermaßen. Eine differenziertere Betrachtung verdienen die jeweiligen Paragraphen hinsichtlich ihrer Zweckerreichung. Einen wohl hundertprozentigen Erfolg — d.h. Verhinderung von Ehen zwischen Deutschen und Juden — erzielte § 1 BISchG 82 . Die naheliegende Erklärung ergibt sich aus dem Verfahren der Eheschließung selbst. Standesbeamte waren durch das BISchG, aber auch schon vor diesem Gesetz, verpflichtet, den Aufgebotsantrag zu prüfen. Nimmt man die in Folge des G W B B 8 3 wenigstens nicht ablehnende Haltung der ganz überwiegenden Mehrheit der Standesbeamten dem Nationalsozialismus gegenüber hinzu, so ist ein Grund der hundertprozentigen Wirkung des § 1 BISchG gefunden. Eine zu erwartende staatliche Überprüfung durch den dem nationalsozialistischen Staat verpflichteten Beamten dürfte im übrigen das Stellen von Aufgebotsanträgen verhindert haben, zumal man Gefahr lief, bestraft zu werden. Umgekehrt folgt daraus, daß eine sozialdiskriminierende Wirkung durch Gerichtsverfahren nicht eintrat 84 . Der Gesetzeszweck — Verhinderung der Rassenmischung aus legitimen Verbindungen — wurde somit umfassend erreicht. Öffentliche Gerichtsverfahren wegen Rassenschande fanden häufig statt 8 5 . Eine rassisch motivierte, diskriminierende Ideologie in staatliche Vorschriften 81 Genau festgehalten ist die quantitative Wirkung des § 5 Abs. 2 BISchG: Verurteilungen 1935 = 11; 1936 = 358; 1937 = 512; 1938 = 434; 1939 = 365 und 1940 = 231, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jahrgang 56-59 (1937-1941). 82 So auch Leppin, 1937, S. 3076. 83 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.b). 84 Freisler, 1936, S. 386 geht davon aus, daß es überhaupt nicht zu Verstößen gegen § 1 BISchG gekommen ist bzw. kommen würde. 85 Vgl. einige Nachweise bei Freisler, 1936, S. 386f.; Leppin, 1937, S. 3076 und umfassend für den Bezirk des OLG Köln Robinson, 1977, S. 74f.

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

umgesetzt, führte hier zu schwerwiegendsten Eingriffen in den Kernbereich menschlicher Intimsphäre. Die öffentliche Prüfung der Tatbestandsmerkmale des §2 BISchG, insbesondere des außerehelichen Verkehrs, brachte für die Betroffenen schwerste Erniedrigungen mit sich. Da nicht nur der Beischlaf dieses Tatbestandsmerkmal erfüllte 86 wurde detailliert tatsächliches oder vermutetes menschliches Intimverhalten offengelegt 87. Zugleich läßt die Häufigkeit der Fälle von Rassenschande aber eine Beurteilung der Zweckerreichung des § 2 BISchG zu. Sie deutet auf eine partielle Zweckverfehlung hin. Nur partiell muß gesagt werden, weil kaum auszumachen ist, in wieviel Fällen es zu rassisch unerwünschter Nachkommenschaft kam. Nachweisbar und insoweit ein Beleg für die Verfehlung des Zwecks ist hingegen die Zahl der Rassenschande-Prozesse an sich 88 , die allerdings nur indizielle Bedeutung für die teilweise Zweck Verfehlung haben kann. Die Zahl der Verurteilungen läßt angesichts der extensiven Auslegung 89 nämlich nicht den Schluß zu, daß in all diesen Fällen wirklich eine intime Beziehung bestand, also der eigentliche Gesetzeszweck oder aber mehr erreicht wurde, d.h. es selbst ohne rassengefährdende Intimkontakte zu Verurteilungen kam. Die durch § 3 BISchG erreichte Wirkung ist von zwei Perspektiven her zu beleuchten. Vital betroffen waren deutschblütige Hausangestellte, die ihren Arbeitsplatz verloren 90 . Eine entsprechend schwere, weil existenzgefahrdende Folge blieb wegen des § 3 BISchG für den jüdischen Adressatenkreis der Vorschrift aus. Weiterhin muß die beeinträchtigende Wirkung gegenüber dem jüdischen Adressatenkreis durch Verlust einer geübten Arbeitskraft relativiert werden. Erlaubt war es nämlich, fremde Staatsangehörige einzustellen91. Wenngleich mit Schwierigkeiten, so war eine Substituierung also möglich. Nur mutmaßen kann man, wie das Verbot weiteren Kontaktes im gleichen Haus zwischen Menschen gewirkt hat, die seit geraumer Zeit zusammenlebten. Denkbar sind Fälle, in denen die Hausangestellten ihr emotionales Zuhause verloren und insoweit verstärkter Beeinträchtigung ausgesetzt waren.

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Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.3.b). Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.III. 1. Fn. 60. 88 Selbst damalige NS-Juristen gingen aufgrund der Zahl der Verfahren davon aus, daß der Gesetzeszweck durch Strafgesetze nicht erreicht werden könnte; so etwa Leppin, 1937, S. 3076 und unter Bezugnahme auf die in Fn. 81 genannten Zahlen auch Lücken, 1988, S. 288, der zusätzlich insoweit feststellt, daß ein Schwerpunkt der Strafrechtspraxis Juden gegenüber in der Anwendung des § 2 BISchG gelegen habe. 89 Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.3.b). 90 Kross, 1938, S. 29 und Sigg, 1951, S. 92 gehen davon aus, daß zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit Hausangestellte in gewerblichen Betrieben belassen wurden; einen Beleg dafür geben sie indes nicht an. 91 Vgl. oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a). 87

2. Abschn.

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Den Effekt des Flaggenverbots auszumachen, verlangt, sich die damalige Bedeutung des Flaggenhissens vor Augen zu führen. Im Gegensatz zur Zeit in der Weimarer Republik war die Flagge als Symbol nationaler Zugehörigkeit ungleich wichtiger geworden. Lag somit in dem Ausschluß an sich bereits eine schwere Beschränkung, so wurde sie durch die Häufigkeit der Anlässe erweitert. Bei jedem Anlaß, den der deutsche Nachbar zum Flaggenhissen nutzen konnte, mußte sich der jüdische Nachbar strafbedroht ausschließen. Weiterhin brachte das Verbot eine für jeden sichtbare Kennzeichnung mit sich. Häuser und Wohnungen ohne Flaggen deuteten auf jüdische Bewohner hin und allein von daher ist es rein tatsächlich anzunehmen, daß von der Erlaubnis, die jüdische Flagge zu hissen, kaum Gebrauch gemacht wurde; zumal angesichts der zunehmenden Aggressivität der Nationalsozialisten schon das Fehlen einer nationalsozialistischen Flagge ein an Gefährlichkeit nicht zu unterschätzender Umstand war. Im Ergebnis ist festzustellen, daß das BISchG ausgesprochen effektiv war und seinen trennenden Zweck im wesentlichen erreichte. IV. Ende sektoral begrenzter Diskriminierung und formale Gleichstellung bei tatsächlicher Ungleichbehandlung 1. Ende sektoral begrenzter Diskriminierung

Das RbG und das BISchG betrafen alle jüdischen Menschen im Einflußbereich der Nationalsozialisten 92 . Ein weiterer Beleg für diese These läßt sich einer Vorschrift in der ersten Verordnung zum BISchG entnehmen. § 15 legte die Geltung des BISchG und seiner Ausführungsvorschriften für Staatenlose mit Wohnsitz im Deutschen Reich sowie für Staatenlose, die sich zwar im Ausland befinden, jedoch früher die deutsche Staatsangehörigkeit besessen haben, fest. Diese Vorschrift trug insgesamt der vielfach gegebenen Staatenlosigkeit der im Inland oder vormals im Inland wohnenden Juden Rechnung. So waren im Jahre 1933 etwa 19.000 Juden staatenlos93. Der rassische Ansatz des BISchG verlangte, diese Personen zu erfassen, kam es doch zur Erreichung der Vermischungsprävention allein auf die Blutszugehörigkeit an. Darüber hinaus beleuchtet §15 einen anderen Aspekt: Das GWSt nahm vielen Juden selbst im Ausland ihre Staatsangehörigkeit 94. Bewußt wurde deswegen eine Formulierung gewählt, die genau diesen Personenkreis betraf 95 ; eine Ergänzungsfunktion des BISchG, die den angestrebten Zweck, mit dem 92 93 94 95

Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.l.b). Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.III. 1. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.III. 1. Brandis, 1936, S. 60.

7 Tarrab-Maslaton

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1. Kapitel: Von sektoraler Diskriminierung zu Rassegesetzen

Gesetz umfassend für alle erreichbaren Juden eine Diskriminierung zu bewirken, zeigt. Zudem enthielt § 15 eine verfeinerte Ausgrenzungstechnik: Erstmals stimmte man ein diskriminierendes Gesetz — das BISchG — mit einem anderen ausgrenzenden Gesetz — dem GWSt — ab. Die Geltungsdauer des § 1 GWSt wurde verlängert, bis das RbG bzw. das BISchG in Kraft getreten waren 96 , und parallel blieb § 2 GWSt bestehen, um hinsichtlich des Vermögens 97 weiterhin ein Instrument gegen die jüdische Bevölkerung zu haben, das den Nürnberger Gesetzen fehlte. Man hatte also das GWSt genau auf die Nürnberger Gesetze abgestimmt, um möglichst effektiv durch zwei sich ergänzende Gesetze eine optimierte Diskriminierung zu gewährleisten. 2. Formale Gleichstellung und tatsächliche Ungleichbehandlung

Das Verbot der Rassenvermischung, sei es durch Heirat oder außerehelich, stellte sowohl den deutschblütigen als auch den jüdischen Mann unter Strafe 98 . Während das Flaggenverbot und die Beschäftigung nicht-jüdischer Personen im Haushalt allein wegen des nur für Juden geltenden Inhaltes diskriminierten, verhielt sich dies bei den Rassenmischungsverboten anders. Der ausgrenzende Charakter der Vorschriften lag im Verbot intimer Beziehungen zwischen Juden und Deutschen an sich. Die Diskriminierung fand also formal nicht mittels einer Ungleichbehandlung von Juden und Deutschen vor dem Gesetz, sondern durch die rassische Motivation des Verbotes statt. In der Motivation kam zum Ausdruck, Bevölkerungsteile trennen zu wollen, wobei jedoch die gesamte Bevölkerung betroffen war. Die Rechtsprechung näherte die gesetzlich festgeschriebene gleichmäßige Pönalisierung deutscher und jüdischer Personen den allein im Hinblick auf Juden geltenden Beschränkungen an 9 9 . Ob diese Praxis Folge judikativer Eigendynamik oder staatlich angeordneter Umgehung gesetzlicher Voraussetzungen war, ist schwierig zu beurteilen. Für die Annahme einer seitens der Justiz initiierten Ungleichbehandlung contra legem spricht die damals diskutierte Frage, welche Strafe bei einem Rassenschandedelikt angemessen sei 100 . Hier setzte sich folgende Argumentation durch, die die Ungleichbehandlung rechtfertigte: Das Delikt der Rassenschande erfaßte zwei Tatbestände, die gemessen am Zweck des Gesetzes — Schutz des deutschen Blutes — nicht ranggleich beurteilt werden könnten. 96

§ 1 GWSt sollte gemäß Satz 5 dieser Vorschrift nur 2 Jahre gelten. A m 10. 7. 1935 verlängerte man das Gesetz, so daß es bis zum 31.12. 1935 galt (RGBl. 1935 I, S. 1015). 97 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.III. 1. 98 Statt aller Lösener ! Knost, 1936, S. 143. 99 Zu dieser Praxis siehe bereits oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.3.b), Gruchmann, 1988, S. 878 geht weiter und bezeichnet das BISchG generell als Mittel, „ . . . einen weiteren Grundsatz des Rechtsstaates (zu zerstören): die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz". Ausdrücklich bezieht er dabei das gesamte BISchG in diese Wertung ein.

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Verkehre ein deutscher Mann mit einer Jüdin, so sei in erster Linie die deutsche Ehre verletzt, während der Angriff des jüdischen Mannes unmittelbar die deutsche Rasse gefährde; eine höhere kriminelle Energie mithin regelmäßig die schärfere Bestrafung des jüdischen Delinquenten begründe 101 . Ein solcher Ansatz findet sich unmittelbar in Urteilsbegründungen wieder. Robinson 102 hat statistisch nachgewiesen, daß Deutsche in den meisten Fällen zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, während gegenüber jüdischen Delinquenten regelmäßig auf Zuchthaus erkannt wurde. Ähnlich wie Freisler begründete die sechste Kammer des Landgerichts Hamburg: „Grundsätzlich erkennt das Gericht gegen Juden, die sich der Rassenschande schuldig gemacht haben, auf Zuchthausstrafe. Eine Zuchthausstrafe erscheint dem Gericht unerläßlich, weil es sich bei dem Blutschutzgesetz um ein Grundgesetz des deutschen Volkes handelt, welches die Reinerhaltung der deutschen Rasse sicherstellen soll" 1 0 3 . Diese auf eigenen Erwägungen beruhende Begründung der Justiz legt es nahe, die Ungleichbehandlung als von ihr intendiert zu betrachten, zumindest was das Strafmaß angeht. Gestützt wird diese Interpretation von dem Umstand, daß Anordnungen, die die beschriebene, vom Gesetz abweichende judikative Praxis verbindlich machten, fehlen. Die beschriebene Rechtsprechung ist mithin ein Fall, in dem vorgeblich aufgrund von Gesetzen, tatsächlich jedoch selbständig contra legem Diskriminierung stattfand.

100

Freisler, 1936, S. 391. Freisler, 1936, S. 391 ff.; Crohne, 1938, S. 1640ff. begründete dieses Ergebnis anders: Gefängnis sei lediglich für die ersten Fälle gedacht gewesen, während nunmehr regelmäßig auf Zuchthaus erkannt werden müsse. 101

102 103

*

Robinson, 1977, S. 75 f. Bei Robinson,-.1977, S. 76.

2. Kapitel

Rechtliche Strukturen der wirtschaftlichen Diskriminierung 1. Abschnitt

Gesetze und Verordnungen zur Einschränkung von Erwerbsmöglichkeiten; sektorale und sektorübergreifende Diskriminierung A. Das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7.4. 1933 (GZR) I. Parallelen zum GWBB und der nationalsozialistische Anwaltsbegriff als Diskriminierungserleichterung des GZR 1. Parallelen zum GWBB

Zunächst läßt sich zwischen dem GWBB und dem GZR ein zeitlicher Zusammenhang nachweisen, denn beide Gesetze wurden am 7.4.1933 ausgefertigt 1 . Neben der Ausfertigung erfolgte auch die abschließende Beratung am selben Tag 2 . Da bei dieser Sitzung jedoch eine ganze Reihe von Gesetzen endgültig beraten wurden 3 , kann allein die Zeitgleichheit keinen hinreichenden Beleg für die Parallelität der Gesetze abgeben und muß lediglich als äußerer Zusammenhang bewertet werden. Die Verwandtschaft des GZR mit dem GWBB hat Adam durch die Auswertung primärer Quellen belegt4. Schlegelberger hatte wegen des Drucks der Länderjustizbehörden bei Hitler angeregt, baldmöglichst eine einheitliche Regelung des Anwaltswesens zu 1 RGBl. 19331, S. 175 vom 7. 4.1933 (GWBB) und RGBl. 19331, S. 188 vom 7.4.1933 (GZR). 2 Ein Umstand, der bereits in damaligen Veröffentlichungen herausgehoben wurde, um einen Sachzusammenhang nachzuweisen (Grimm, 1933, S. 652). 3 Über diese Kabinettssitzung berichtet Goebbels, 1987, S. 404: „ I n einer sechsstündigen Kabinettssitzung werden eine Reihe von einschneidenden Gesetzesentwürfen angenommen ... Wir machen ganze Arbeit. Woran sich unsere Gegner die Zähne ausbeißen, das wird hier in ein paar Stunden ohne jeden Widerstand erledigt ...". 4 Adam, 1972, S.65ff. und Gruchmann, 1988, S. 135ff., letzterer beschreibt die Entstehungsgeschichte unter Bezugnahme auf die gleichen Primärquellen wie Adam inhaltlich nahezu gleich.

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erlassen. I m Reichsjustizministerium erarbeitete man daraufhin einen Gesetzentwurf, der das Ausscheiden der jüdischen Anwälte aus der Rechtsanwaltschaft regelte. Während der Besprechung mit den Länderjustizbehörden zeigte der Entwurf seine fehlende Konsensfahigkeit, ging er einigen Ministerien doch nicht weit genug. Erst nachdem Hitler den Entwurf des Reichsjustizministeriums unterstützt hatte, konnte dieser sich durchsetzen. In den Grundlinien zum Entwurf war unter anderem vorgesehen, das GZR dem GWBB anzupassen5. Entsprechend bezieht sich das GZR inhaltlich ausdrücklich auf das GWBB. § 1 GZR legt fest, daß „ . . . die Zulassung von Rechtsanwälten, die im Sinne des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. 4.1933 nichtarischer Abstammung sind ..." zurückgenommen werden kann. Diesen Nichtariern im Sinne des GWBB sollte die Zulassung zur Anwaltschaft versagt werden (§ 2 GZR) und wie das GWBB 6 sah das GZR eine Dispensvorschrift für Frontkämpfer und für vor dem Jahre 1914 zugelassene Anwälte vor; beide Gesetze waren gleich lang befristet. 2. Der nationalsozialistische Anwaltsbegriff zur Diskriminierungserleichterung

a) Der nationalsozialistische

Anwaltsbegriff

Die Nationalsozialisten definierten ihren Anwaltsbegriff zunächst negativ durch eine Abgrenzung von der sogenannten freien Advokatur, die daher zunächst darzustellen ist. Der Begriff freie Advokatur entstammt einer historischen Entwicklung. Die Preußenkönige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. hatten im Rahmen ihrer Staatsorganisation den Anwalt einbezogen. Friedrich der Große gliederte die Anwälte unmittelbar in Justizbehörden ein. Den Anwälten entsprachen die sogenannten Assistenzräte. Sie waren Teil des Richterkollegiums. Endpunkt dieser Verstaatlichung bildeten die sogenannten Justizkommissionsräte, die zwar von den Parteien gewählt werden konnten, aber alle Staatspflichten der preußischen Beamten hatten 7 . I m Gegensatz zu diesem absolutistischen Verständnis des Anwalts standen die Bestrebungen nach 1848, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatten 8 . Sie zielten, liberalem Staatsverständnis entsprechend, auf eine Annäherung des Rechtsanwalts hin zu einem Beistand des Bürgers gegenüber dem Staate ab. Ein A n waits Verständnis, das begrifflich das 5

Adam, 1972, S. 66 ff.; Hartstang, 1986, S. 33 bezeichnet das GZR sogar als ein bloßes Zusatzgesetz zum GWBB, belegt diese These jedoch nicht weiter. 6 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.a). 7 Weißler, 1905, S. 296 ff. widmet sich dieser Entwicklung in seiner Anwaltsgeschichte; unter Bezugnahme darauf auch Hartstang, 1986, S. 18. 8 In seiner Schrift „Betrachtung über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtspflege" trat Anselm von Feuerbach schon 1821 für die Stärkung der Anwaltschaft gegenüber der Richterschaft ein (nach Weißler, 1905, S. 443).

102

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Schlagwort der freien Advokatur prägte. Der Advokat ist hier der zum Zwecke der Verteidigung Herbeigerufene, während der Begriff des Rechtsanwalts dem Inhalt des objektiven Rechts nähersteht. Inhaltlich wurden vier Prinzipien genannt, die zur Sicherstellung der freien Advokatur erforderlich seien: das Ende der Beamtenstellung, die Bildung von Advokatenkammern mit alleiniger Disziplinargewalt, Erlaubnis zur freien Honorarvereinbarung und Freigabe der Advokatur, d.h. Zulassungspflicht bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen ohne die Möglichkeit weiterer staatlicher Einflußnahme 9 . Für die freie Advokatur traten im Vormärz und danach namhafte Juristen wie Brentano, Hecker, Storm und von Gneist ein 1 0 . Durchsetzen konnte sich die Forderung nach der freien Advokatur in der Rechtsanwaltsordnung des Jahres 1878. M i t ihr hatte man die gesetzliche Garantie der Freiheit vom Staat, der Freiheit von der richterlichen Disziplinaraufsicht und die Freiheit der Zulassung erreicht 11 . Der nationalsozialistische Anwaltsbegriff war gekennzeichnet durch eine Abwendung von der freien Advokatur, die verstanden wurde als Ausdruck eines liberalen Staatsverständnisses, das von dem Gegensatz des Staates einerseits gegenüber dem Bürger andererseits geprägt sei. Den Inhalten der freien Advokatur — Freiheit der Zulassung, Freiheit der Berufsausübung — liege entsprechend der liberale Anspruch einer Freiheit vom Staate zugrunde 12 . Nationalsozialistisches Staatsverständnis mache diesen liberalen Freiheitsbegriff überflüssig. Der Staat sei keine eigene Größe mit eigenem Herrschschaftsanspruch, sondern Teil des Volkes, dem er zu dienen habe. Für den Anwalt als Teil des Volkes entfiele darum die Notwendigkeit eines Kampfes gegen den Staat, zu dem er die Freiheit der Advokatur nötig hätte; letztere werde darum beseitigt 13 . Positiv definierten die Nationalsozialisten einen diametral entgegengesetzten Anwaltsbegriff; man näherte den Anwalt dem Staat an. Diese Annäherung 9

In neuerer Zeit hat Huffmann, 1967, S. 24 in ihrer Dissertation umfassend die Historie der freien Advokatur nachgezeichnet. Reifner, 1984, S. 380ff. kritisiert die überwiegende Geschichtsschreibung zum Anwaltsberuf, da sie von der Erzählung individueller Geschichten beherrscht und weniger darauf angelegt sei, die demokratischen Fundamente dieses Berufs herauszuarbeiten. 10 Von Gneist, 1867, S. 1 ff.; umfassend zu den Ansichten der übrigen: Huffmann, 1967, S. 80 ff. 11 Huffmann, 1967, S. 61 ff.; ebenso König, 1987, S. 13, der speziell die Entwicklung der Rechtsanwaltsordnungen untersucht hat. 12 So ausdrücklich Seydel, 1936, S. 1818; Noack, 1938, S. 26. Marxen, 1975, S. 171 ff. hat diesen Aspekt in seiner Dissertation primär im Hinblick auf die Grundsätze liberaler Strafverteidigung untersucht. 13 Hein, 1938, S. 446; auch Massov, 1936, S. 19ff. betrachtet den Gegensatz zwischen Volk und Staat als aufgehoben. Unter Bezugnahme auf diese Quellen kommen auch ebenfalls Weinkauf I Wagner, 1968, S. 322 und Hartstang, 1986, S. 44 zu diesem Ergebnis.

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führte den Rechtsanwalt konsequent hin zu einer fast beamtenähnlichen Stellung, einem Staatsdiener 14. Gerechtfertigt wurde diese Auffassung mit dem höheren Wert, den das Gemeinschaftsgut Recht gegenüber dem Individualinteresse des Mandanten habe 15 . Weil das Recht einen so hohen Stellenwert habe, sei der Anwalt diesem objektiven Punkt verpflichtet und dem staatlichen Zweig, der dieses Gut schütze — Gerichtsbarkeit —, verpflichtet 16 . Seine Position zur Gerichtsbarkeit müsse anders als früher verstanden werden, denn der Anwalt stehe keinesfalls im Gegensatz zur Gerichtsbarkeit, sondern im nationalsozialistischen Staat werde er ein Teil von i h r 1 7 . Bei seiner Arbeit müsse sich der Anwalt dieser Position stets bewußt sein und ihr durch die gemeinsame Suche mit dem Gericht nach dem Recht Rechnung tragen. Der Anwalt sei Führer zum Recht und daher nicht mehr Rechtsanwalt, sondern Rechtswahrer 18 . Für das Anwaltsrecht hatte diese Auffassung unmittelbare Folgen. Abweichend vom bislang geltenden Zulassungsanspruch wurde ein der öffentlichrechtlichen Stellung angepaßtes Konzessionssystem eingeführt, um staatlichen Einfluß zu sichern. Weiterhin legte man die Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufes genau fest. Darin wurde insbesondere das Verhältnis des Anwalts zu Volk und Staat geregelt. Der Rechtsanwalt sei den tragenden Staatsgedanken, die sich in der Programmatik der NSDAP niedergeschlagen hätten, verpflichtet und sei aus diesem Grunde aufgefordert, aktiv für den Nationalsozialismus tätig zu werden 19 . b) Die erreichte Diskriminierungserleichterung Die Quasiverstaatlichung des Anwaltsstandes und die durch das neue Anwaltsverständnis gewährleistete staatliche Einflußnahme hatten bezüglich der antisemitischen Politik eine konkrete Funktion: Sie lag in der Erleichterung der Diskriminierung jüdischer Menschen im gesellschaftlichen Segment der Anwaltschaft, führte man doch die freie Advokatur unmittelbar auf jüdischen Einfluß zurück 20 . Freie Advokatur hieß Freiheit von staatlicher Einflußnahme, und der sich in der freien Advokatur widerspiegelnde Liberalismus war mit der von den 14 So ausdrücklich Noack, 1938, S. 1526; Seydel, 1936, S. 1819; Neubert, 1934, S. 1763 und Ciaren, 1933, S. 1252. 15 Für den Strafprozeß folge daraus, daß „ . . . der Verteidiger... nur der Wahrheit- und Rechtsfindung, nicht aber individuellen Interessen des Beschuldigten (diene)", so Haug, 1939, S. 58 ff. 16 Noack, 1938, S. 1525; Neubert, 1934, S. 1763. 17 Ciaren, 1933, S. 1254. 18 Neubert, 1934, S. 1763; zur grundsätzlichen Stellung des Verteidigers Haug, 1939, in seiner gleichnamigen Dissertation. 19 Noack, 1938, S. 1526ff. und Neubert, 1934, S. 1763. 20 So etwa Finger, 1935, S. 26 und Seydel, 1936, S. 1819.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Nationalsozialisten geplanten rassisch motivierten Ausgrenzung von Grund auf unvereinbar. Darum war die Beseitigung der freien Advokatur ideologische Voraussetzung zur Realisierung antisemitischer Programmatik. Untermauert wird diese These durch Betrachtung der politischen Funktion des Rechtswahrers. Er war Staatsdiener 21 und damit nach nationalsozialistischer Ideologie nicht bloß der Institution Staat, sondern der ihn tragenden Ideologie, dem Nationalsozialismus, verpflichtet 22 . Tragendes Element des Nationalsozialismus war der Rassegedanke, der insbesondere jüdischen Menschen eine Existenzberechtigung innerhalb des deutschen Volkes absprach 23 . Übertragen auf den Sektor der Anwaltschaft war der Rechtsanwalt standesintern diesem staatlichen Antisemitismus wegen seines staatsdienerähnlichen Status verpflichtet. Konsequenterweise legten daher die Standesregeln diesen spezifischen, weil auf die Anwaltschaft bezogenen Antisemitismus, verbindlich für alle Mitglieder fest. Deutschen Anwälten war jedwede berufliche Verbindung mit Juden untersagt 24 . Gemeint war damit nicht nur ein echtes Sozietätsverhältnis, sondern schon ein gemeinsames Anmieten von Räumen 25 . Darüber hinaus wurde festgeschrieben, daß jegliche berufliche Hilfe jüdischen, mit Vertretungsverbot belegten Anwälten unzulässig sei. Schließlich forderte man von allen Mitgliedern den Ariernachweis und Schloß jüdische Anwälte aus den Rechtsanwaltskammern aus 26 . Diese konkreten Ausformungen der Verpflichtungen des Rechtswahrers gegenüber der nationalsozialistischen Rassenideologie zeigen, daß der nationalsozialistische Anwaltsbegriff die Diskriminierung jüdischer Anwälte durch das GZR erleichterte.

21

Ciaren, 1933, S. 1250. Neubert, 1934, S. 1763; Noack, 1938, S. 1525; Raeke, 1936, S. 2. 23 Noack, 1938, S. 1525. 24 AnwBl. 1933, S. 167. 25 AnwBl. 1933, S. 167. 26 AnwBl. 1933, S. 205; Göppinger hat bereits 1963 „Die Verfolgung der Juristen jüdischer Abstammung durch den Nationalsozialismus" nachgezeichnet. In der im Jahre 1990 erschienenen 2. völlig neu überarbeiteten Auflage „Juristen jüdischer Abstammung im Dritten Reich" wurden insbesondere die einzelnen Kurzbiographien diskriminierter jüdischer Juristen vervollständigt. Er hebt ebenfalls den hier zitierten Beschluß des Gesamtvorstandes der Anwaltskammern hervor und stellt ergänzend fest, daß der nationalsozialistische Rechtswahrerbund davon unabhängig gegen noch zugelassene jüdische Rechtsanwälte permanent hetzte. 22

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II. Inhalt des GZR und Unterschiede zum GWBB, Kompetenzkonflikte als Entwicklungscharakteristikum des GZR und standesinterne Organisation des DAV zur Fortführung des GZR 1. Inhalt des GZR und Unterschiede zum GWBB

Die §§ 1 und 2 des GZR wurden bereits vorgestellt 27 . Daneben enthielt das GZR vier weitere Vorschriften. Wie das GWBB so sah auch das GZR den Ausschluß kommunistisch tätiger Personen vor. Rechtsanwälte, die sich so betätigt hatten, mußten ausscheiden (§ 3). Davon waren nicht nur individuell Kommunisten bzw. Linke im weitesten Sinne betroffen 28 . Vielmehr wurde unmittelbar die Rote Hilfe zerschlagen. Die K P D hatte das gleichnamige Rechtsversicherungssystem ins Leben gerufen. 113 dauernd beschäftigte Anwälte standen den Versicherten zur Verfügung. Über eine ähnliche Organisation verfügten die Gewerkschaften. Alle dort beschäftigten Anwälte verloren auf Dauer ihre Zulassung, und der linken Klientel fehlte von einem Tag auf den anderen der gewohnte rechtliche Beistand 29 . Eine weitere Entsprechung zum GWBB stellte § 6 GZR dar. Darin wurde für ein etwaiges, sich aus der Rücknahme der Zulassung ergebendes Kündigungsbedürfnis für „ . . . Räume, die der Rechtsanwalt für sich oder seine Familie gemietet hatte ..." auf das „Gesetz über das Kündigungsrecht der durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums betroffenen Personen" verwiesen 30. Den §§ 4 und 5 GZR fehlte eine Entsprechung im GWBB. § 4 gab der Justizverwaltung die Möglichkeit, bis zur endgültigen Entscheidung über die Wiederzulassung ein Vertretungsverbot auszusprechen; diese Kann-Vorschrift eröffnete der Verwaltung ein erhebliches Diskriminierungspotential, das noch darzustellen sein wird. § 5 gab dem jüdischen Anwalt nach der Zulassungsentziehung gegenüber seinen angestellten Dienstverpflichteten einen außerordentlichen Kündigungsgrund. Obwohl im April 1933 die diktatorische Regierungs- und Polizeipraxis gerade wegen den Inhaftierungswellen nach dem Reichstagsbrand durch nichtstaatliche SA-Kräfte deutlich geworden war, empfand die Reichsvereinigung der Rechtsanwalts- und Notarsangestellten diese Vorschrift als so bedrohlich, daß sie offen dagegen Stellung bezog. Zwischen 35.000 und 40.000 Angestellte 27

Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.l. Der Begriff der kommunistischen Tätigkeit sollte wie beim GWBB (siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, Il.l.b) weit ausgelegt werden; vgl. Grimm, 1933, S. 654. 29 Umfassend hat Reifner, 1984, S. 384 diesen Aspekt nachgezeichnet. 30 RGBl. 1933 I, S. 187; im Kern sah das Gesetz für die jüdische Seite lediglich die Kündigung innerhalb der gesetzlichen Frist vor und billigte dem Vermieter ein Widerspruchsrecht zu. 28

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

seien bei jüdischen Rechtsanwälten beschäftigt. Viele hätten ein hohes, eine Neubeschäftigung ausschließendes Alter erreicht und würden so um so mehr von §4 potentiell geschädigt31. Neben diesen Unterschieden zeigten auch die stark dem GWBB angeglichenen §§ 1 und 2, die sich gegen Nichtarier richteten, gewisse inhaltliche Unterschiede auf: Während § 3 GWBB bestimmte, daß „Beamte, die nichtarischer Abstammung sind ..." in den Ruhestand zu versetzen waren 32 , legte § 1 GZR fest, daß die Zulassung nichtarischer Anwälte zurückgenommen werden kann. Ebenfalls war § 2 GZR, der die erstmalige Zulassung von der Ariereigenschaft abhängig machte, eine Kann-Vorschrift. Auf zwei Gründe geht diese formale Milderung zurück; ob es sich um eine tatsächliche handelte, wird die Analyse der Erlaßpraxis zeigen. Begründet wurde die Kann-Vorschrift des GZR mit einem Bedürfnis zur Vermeidung von Härten, die wegen der im Gegensatz zur Beamtenschaft fehlenden Ruhegehaltsregelung möglich seien 33 . Zweitens ist die Kann-Vorschrift aus einem Konflikt zwischen dem Reichsjustizministerium und Teilen der Landesjustizverwaltungen erklärbar. Die Vorschläge des Reichsjustizministers Gürtner blieben, insbesondere durch die Kann-Formulierung, hinter den Erwartungen Franks und des späteren preußischen Justizministers Kerrl zurück 34 . Kerrl hatte nämlich bereits vor dem GZR durch eine perfide Praxis in Preußen die Ausschaltung jüdischer Anwälte betrieben, indem er am 3. 3.1933 alle jüdischen Anwälte mit einem generellen vorübergehenden Vertretungsverbot belegte 35 . Nachdem er erkannt hatte, daß Gürtner sich mit seinen Vorstellungen zum GZR würde durchsetzen können, stellte er den vom Vertretungsverbot Betroffenen ihre Wiederzulassung in Aussicht, wenn sie rechtsverbindlich erklären würden, mit der durch das Vertretungsverbot geschaffenen Lage vorerst einverstanden zu sein 36 . Dieser Versuch zeigt, wie sehr die formale Sicherstellung von

31

Gruchmann, 1988, S. 136 unter Bezugnahme auf die Vossische Zeitung vom 9. 4.

1933. 32

RGBl. 1933 I, S. 175. Grimm, 1933, S. 654f. 34 Den Erlaß der VO begrüßte Noack, 1938, S. 2729, da die derzeitige Situation, in der trotz des GZR immer noch jüdische Anwälte tätig seien, nun 1938, nach fünf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft untragbar sei. Franks Linientreue zeigte sich auch in seiner späteren Funktion als Leiter der Akademie für deutsches Recht. Pichinot hat 1981 diese Institution umfassend untersucht und beschreibt sie (S. 150 ff.) als den Versuch, die Verwirklichung des nationalsozialistischen Programms auf dem gesamten Gebiet des Rechts durchzusetzen, wobei Franks Rolle als maßgeblich bewertet wird. 33

35

Wiedergegeben bei Ostler, 1971, S. 414 Anm. 14. Gruchmann, 1988, S. 135 f. hat diese Weisung Kerrls an die Präsidenten der Oberlandesgerichte dargestellt. Über die Weisung hinaus wird darin die Bewertung 36

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Milderungen nationalsozialistischer Politik entgegenlief, was von damaligen nationalsozialistischen Juristen wie Freisler im übrigen ausdrücklich hervorgehoben wurde 37 . 2. Kompetenzkonflikte als Entwicklungscharakteristikum des GZR

Zu Beginn der NS-Herrschaft oblag der Weimarer Verfassung entsprechend die Justizverwaltung den Ländern 38 . Daher waren sie für die Durchführung des GZR zuständig. Im Rahmen der Durchführung bediente man sich jedoch kaum des Instruments der Verordnung, sondern zog allgemeine Verfügungen vor 3 9 . Darüber hinaus vollzog sich die tatsächliche Entwicklung zur Einschränkung der Tätigkeit jüdischer Anwälte durch die Gleichschaltung der Standesorganisationen, die den Grundgedanken des GZR fortführten und deren diskriminierende Tätigkeit noch darzustellen sein wird. Trotz der geringen Zahl sind die Verordnungen nicht ohne Aussagekraft, sondern belegen einen für den Beginn der NS-Herrschaft symptomatischen Kompetenzkonflikt 40 , der sich auf die antisemitische Gesetzgebung im Bereich der Anwaltschaft ebenfalls auswirkte und der durch Hinzunahme von Verfügungen auf Landesebene nachfolgend verdeutlicht werden kann. § 1 Abs. 1 der ersten VO zum G Z R 4 1 verwies zur Bestimmung des Begriffs der Frontkämpfereigenschaft auf die erste VO zum GWBB. Die Parallelität zwischen dem GWBB und dem GZR wurde also bei der Durchführung der Gesetze fortgeführt 42 . Interessanter ist indes § 1 Abs. 2 der ersten VO zum GZR. Geregelt wurden zwei Fälle: Satz 1 bestimmte, daß bei Verneinung der Frontkämpfereigenschaft

vorgegeben, daß bei Personen, die die Anerkennung verweigerten, Zweifel an der Loyalität gegenüber der neuen Regierung anzunehmen seien. 37 Während eines Zusammentreffens verschiedener Landesjustizminister mit Gürtner im Reichsjustizministerium hatte Freisler beklagt, daß es immer noch viel zu viele Wiederzulassungen jüdischer Anwälte gebe und solche Praktiken die nationalsozialistische Revolution gefährdeten (dargestellt bei Gruchmann, 1988, S. 142 ff.). 38 Diese unstreitige Zuweisung wurde aus der Genese der Verfassung hergeleitet. Der Antrag, dem Reich die Justizverwaltung zuzugestehen, war abgelehnt worden und stattdessen wurde in Art. 103 WRV der Satz aufgenommen, daß die ordentliche Gerichtsbarkeit — womit auch ihre Verwaltung gemeint war — durch das Reichsgericht und die Länder ausgeübt werden sollte (ausführlich dazu Anschütz/ Thoma, 1930, Bd. II, S. 354ff.). 39 Belegt wird dies durch einen Vergleich. Auf Länder- und Reichsebene sind lediglich vier VO (GBl. Bremen 1933 Nr. 33, S. 133; Thüringische Gesetzessammlung Mai 1934, S. 281; RGBl. 1933 I, S. 528; RGBl. 1933 I, S. 699) ergangen, während demgegenüber in wenigen Monaten eine Fülle von Verfügungen ergingen. 40 Dazu Mommsen, 1983, S. 390; Rürup, 1986, S. 97 m.w.N. 41 RGBl. 1933 I, S. 528. 42 Vgl. oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, A . I I . l .

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

trotz Eintragung in die Kriegsstammrolle oder Kriegsrangliste der Betroffene eine Entscheidung des Reichsjustizministers einholen konnte, und Satz 2 gab den Landesjustizverwaltungen die Möglichkeit, eine solche Entscheidung herbeizuführen, wenn sie trotz der Eintragung Zweifel an der Frontkämpfereigenschaft hegten. Zur Durchführung der Gesetze über die Zulassung zur Rechts- und Patentanwaltschaft bestand nach Ansicht des Reichsjustizministeriums also die Notwendigkeit, zu einer einheitlichen Handhabung zu kommen, an der es offenbar mangelte und die man durch die Zuständigkeit des Reichsjustizministeriums sichern wollte. Die Betrachtung der Thüringischen VO zum GZR stützt diese Interpretation 4 3 . Während gesetzlich die diskriminierenden Paragraphen als KannVorschriften ausgestaltet waren, legte das Thüringische Justizministerium das generelle Ausscheiden fest. Schließlich ist der hier zum Ausdruck kommende Kompetenzkonflikt, der sich bereits bei der Festschreibung von Milderungen im GZR abgezeichnet hatte 44 durch entsprechend kontroverse Diskussionen zwischen dem Reichsjustizministerium und den Länderressorts nachweisbar und zeigt darüber hinaus, daß dieser Konflikt, obwohl Gürtner sich bei der Gesetzesformulierung durchgesetzt hatte, selbst nach Erlaß des GZR im Rahmen der Durchführung fortbestand 45 . Frank hatte die Spitzen der Landesjustizverwaltungen zusammengerufen, um zu beraten, wie man mittels entsprechender Durchführungsbestimmungen die durch das GZR im Ergebnis fast vereitelte Säuberung der Justiz dennoch durchführen könnte. Kerrl hielt seine Bestimmungen aufrecht und erst massive Interventionen stellten die reichsrechtliche Regelung sicher. Ein wichtiger Indikator, der auf diesen zähen Streit hinweist, ist die zweite VO zum GZR 46. Darin stellte Gürtner am 1.10. 1933 offiziell fest, daß „...jeder Anwalt und Patentanwalt, der aufgrund der Gesetze vom 7. und 22. April 1933 in seinem Beruf verblieben ist, nicht nur im vollen Genuß seiner Berufsrechte (bleibt), sondern ... auch Anspruch (hat) auf die Achtung, die ihm als Angehöriger seiner Standesgemeinschaft zukommt". Erklärbar ist diese Verordnung neben den abweichenden Verordnungen der Länder, wie etwa in Thüringen, durch eine gegensätzliche Verfügungspraxis; ein Vergleich einiger Verfügungen zeigt dies. In Preußen hatte man bereits vor dem GZR angeordnet, jüdischen Anwälten das Betreten des Gerichtsgebäudes zu verbieten, und hatte das Erscheinen vor Gericht lediglich einem Prozentsatz von ihnen erlaubt, der der jüdischen Bevölkerung entspreche 47. Noch drei Tage vor dem Erlaß des GZR wurde dieses 43

Gesetzessammlung für Thüringen 1933, S. 281 f. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2. 45 Gruchmann, 1988, S. 140 hat diesen Konflikt unter besonderer Hervorhebung der Biographie Gürtners nachgezeichnet. 46 RGBl. 1933 I, S. 699. 44

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faktische Vertretungsverbot 48 durch Verfügung dahingehend konkretisiert, daß es „ . . . auch die Unterzeichnung von Klageschriften und Schriftsätzen in Prozessen ..." umfasse 49. Abweichend verfuhr man in Oberschlesien. Dort wurden Vertretungsverbote, die sich nach Erlaß des GZR auf dessen § 4 hätten stützen können, am 9.6.1933 ausgesetzt, und den jüdischen Anwälten wurde erlaubt, bis zur Entscheidung über ihre weitere Zulassung tätig zu bleiben 50 . Derart unterschiedliche Verfügungen zeigen zugleich, wie man mit den KannVorschriften der §§ 1 und 2 umging: Im Regelfall wurden sie als Muß-Normen angewandt 51 ; eine höchst uneinheitliche Handhabung, die aber die Entwicklung des GZR kennzeichnete, und so konnte ganz entsprechend das Reichsjustizministerium seinen Standpunkt erst durch die zweite VO durchsetzen.

3. Standesinterne Organisation des DAV zur Fortführung des GZR

Gezeigt wurde bereits 52 , wie die Standesvereinigung der Anwälte die Stoßrichtung des GZR rezipierte. Doch nicht allein diese Anordnungen an die Standesmitglieder dürfen als Fortführung des GZR begriffen werden. Vielmehr stand zugleich die Neuorganisation des DAV mit unter dem Postulat, dem GZR standesintern Geltung zu verschaffen 53. Die personelle Umstrukturierung begann frühzeitig. Zu Beginn des Jahres 1933 waren im Vorstand des DAV elf jüdische Mitglieder vertreten 54 . Noch am 26. 3. 1933 bezeugten die übrigen vierzehn nichtjüdischen Mitglieder des Vorstandes antisemitischen Bestrebungen gegenüber eine ablehnende Haltung,

47 Schwarzbuch, 1934, S. 110 ff.; zu dieser Quelle siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.a) Fn. 22. 48 Neumann, 1976, S. 7, der damals als Anwalt von dieser Praxis betroffen war, bezeichnete dieses Vorgehen als „Ausschluß jüdischer Anwälte ... im Verwaltungswege". 49 Nachzulesen ist der Text des Erlasses bei Blau, 1965, S. 12 Nr. 2. 50 Schwarzbuch, 1934, S. 176; der Erlaß findet sich bei Walk, 1981, S. 29. 51 Diese Ansicht wird auch von Ostler, 1971, S. 253 und ebenso von Neumann, 1976, S. 8 unter Bezugnahme auf seine eigene Biographie geteilt. 52 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, A.I.2.b); König, 1987, S. 44f. nennt zudem einige Fälle, in denen Anwälte in Schreiben an Ministerien von sich aus forderten, „ . . . das Judentum in Sache und Person völlig auszumerzen". 53 Göppinger, 1990, S. 118 ff. stellt den oben erwähnten Umstand im Zusammenhang mit der Gleichschaltung des deutschen Anwaltsverein dar. Diese Gleichschaltung habe personell sehr schnell dazu geführt, den maßgeblich im BNSDJ tätigen Rechtsanwalt Dr. Voß zum Präsidenten zu berufen. Eine der ersten Maßnahmen dieses Präsidenten bestand in dem Aufruf an alle nicht rein arischen Mitglieder sofort aus dem DAV auszutreten (unter Bezugnahme auf AnwBl. 1933, S. 137). 54

S. 32.

Wiedergegeben sind diese Zahlen auch bei Ostler, 1971, S. 229 und Hartstang, 1986,

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

indem sie weiterhin gegen eine Angliederung an solche Juristenverbände eintraten, die Juden per Statut nicht aufnahmen 55 . Eine rasche Änderung dieser Position trat zu Beginn des Monats April 1933 ein. Der Präsident des DAV, Dix, schrieb am 7. 4. 1933 unter Bezugnahme auf das GZR: Er halte es „ . . . im Interesse der Erhaltung der Selbständigkeit des D A V unbedingt (für notwendig), daß die von der Entwicklung betroffenen Mitglieder des Vorstandes unverzüglich, wenn möglich telegraphisch ihre Ämter niederlegten" 56 . Dix übernahm ausdrücklich die Gewissensverantwortung für diese Aufforderung. Gegen dieses Telegramm erhob sich Widerspruch. Obwohl die Adressaten ihre Ämter niedergelegt hatten, bezog die Arbeitsgemeinschaft der rheinischwestfälischen Anwälte gegen den DAV-Präsidenten und gegen das GZR Stellung. Dix wurde zur Niederlegung seines Amtes aufgefordert und die Aufhebung des GZR verlangt 57 . Justizrat Carstens hielt es ebenfalls für falsch, „das Hasenpanier ..." zu ergreifen, wie es Dix seiner Ansicht nach tat 5 8 . Dix Verhalten wird verschieden beurteilt. Ostler betrachtet es als nicht von bloßer Opportunität gekennzeichnet, vielmehr habe man damit lediglich den politischen Fakten Rechnung getragen, um die Eigenständigkeit des DAV weiter zu gewährleisten 59. Krach bezeichnet Dix Position zwar zunächst als ambivalent, schließt sich dann aber Ostlers Bewertung bezüglich der Zielsetzung der dixschen Taktik ausdrücklich an 6 0 . Demgegenüber sieht Reifner 61 die Position des DAV anders. Das Verhalten des DAV-Vorstandes sei kein passiv duldendes, von den Umständen erzwungenes Ereignis gewesen. Vielmehr habe der Vorstand agiert, indem er freiwillig die Gleichschaltung betrieben habe. Ostlers Standpunkt wird gestützt durch die Rede Franks vor dem D A V 6 2 . Am 18.5.1933 hatte Frank festgestellt, „ . . . die Entwicklung (des DAV hinein in den BNSDJ) (gehe) ... entweder so wie sie ihnen (die DAV-Mitglieder) heute möglich ist. Wenn sie nicht so geht, dann würde (er) bedauern, die gleiche Methode wie bei den marxistischen Gewerkschaften anwenden zu müssen". Bedenkt man, daß Ostler Dix Position gutheißt, um die Selbständigkeit des DAV zu wahren, so wird dieser Rechtfertigungsversuch mit Blick auf die von 55

Göppingen 1990, S. 118 unter Bezugnahme auf Ostler, 1971, S. 229ff. Dieses Telegramm ist in seinem Wortlaut wiedergegeben bei Ostler, 1971, S. 230 f. und Hartstang, 1986, S. 33. 57 Ebenfalls bei Ostler, 1971, S. 231 und Hartstang, 1986, S. 33. 58 Ostler, 1971, S. 467 Anm. 8 hat dieses Schreiben dort zitiert. 59 Ostler, 1971, S. 230 ff. 60 Krach, 1991, S. 224. 61 Reifner, 1984, S. 380. 62 Abgedruckt ist die Rede Franks in JW 1933, S. 1225. 56

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Ostler selbst dargestellte Entwicklung nach dem Ausscheiden der jüdischen Vorstandsmitglieder widerlegt, und sie zeigt zugleich, wie sehr Dix Verhalten tatsächlich mithalf, das GZR im DAV durchzusetzen. Diese Hilfe kann nämlich gerade im Ausscheiden der jüdischen Vorstandsmitglieder gesehen werden, die, resultierend aus ihrer Funktion, Einflußmöglichkeiten hatten, die eine Verurteilung des legislativen Antisemitismus, ähnlich wie es die Arbeitsgemeinschaft rheinisch-westfälischer Anwälte getan hatte, ermöglicht hätte. Ohne sie konnte dieser Widerstand kaum entstehen. I m übrigen sorgten die Personen, die durch Dix Verhalten verstärkt Einfluß gewannen, rasch für die Auflösung des DAV in Form seiner Aufnahme in den BNSDJ 6 3 . Der von Dix begrüßte 64 Vertrauensmann des BNSDJ im DAV, Voß, hatte bereits vor seiner Wahl ins Präsidium des DAV geäußert, daß „ . . . neben dem BNSDJ für den DAV kein Raum sei". Endpunkt der Entwicklung war die Zusammenkunft des DAV am 18. 5. 1933, also etwa einen Monat nach Dix Aufruf an die jüdischen Vorstandsmitglieder: Beschlossen wurde, der DAV werde selbständiger Teil des BNSDJ. Die formelle Auflösung dieses selbständigen Teils erfolgte bereits im Dezember 1933. Betrachtet man dieses Ergebnis, so ist Ostlers Rechtfertigungsversuch widerlegt. Selbst bei einem etwaigen massiven Widerstand durch den D A V hätte seine Auflösung Franks Drohung entsprechend kaum wesentlich schneller erfolgen können. Schließlich spricht für Reifners These der freiwilligen Gleichschaltung die Reaktion der Zuhörer Franks. Honoriert wurde seine Rede mit „Heil-Rufen, stürmischem Beifall und Händeklatschen der Versammlung" 65 . I I I . Diskriminierungsabsicht und objektiver Diskriminierungserfolg des GZR 1. Diskriminierungsabsicht

a) Allgemeines Auch bei der Ausgrenzungsabsicht ist eine Parallele zum GWBB auszumachen. Letzterem entsprechend hatte das GZR nicht eine, sondern mehrere Adressatengruppen. Anwälte, die sich kommunistisch betätigt hatten (§3 GZR), wobei dies ähnlich extensiv ausgelegt wurde 6 6 , waren ebenso betroffen wie jüdische Anwälte. 63 Wenngleich Göppingen 1990, S. 118 ff. zu dieser verschiedenen Beurteilung nicht ausdrücklich Stellung bezieht, so stellt auch er heraus, daß die durch Dix bewirkten personellen Veränderungen und die Hinzuziehung nationalsozialistischer Personen die Auflösung, nicht aber den Erhalt der Eigenständigkeit des DAV gefährdet hätten. 64 Bei Bracher ! Sauer I Schulz, 1960, S. 518f. 65 Wiedergegeben sind diese Reaktionen in der Rede Franks, die in JW 1933, S. 1227 abgedruckt ist. 66 Siehe auch schon oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, Α. I I . l .

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Gegenüber den nichtarischen A n w ä l t e n 6 7 folgte die Eliminierungsintention des G Z R aus der Auffassung, daß deutsches Recht allein v o n reinrassigen Deutschen angewendet werden k ö n n e 6 8 u n d die vorhandenen jüdischen A d v o katen Ergebnis einer „Durchseuchung" des Anwaltsstandes seien, die eine umfassende Reinigung „ . . . der deutschen Anwaltschaft v o n rassenfremden Mitgliedern . . . " erforderlich m a c h e 6 9 . Dieses Erfordernis zeige sich u m so deutlicher, wenn m a n die Position des Rechtsanwalts betrachte. I h m k o m m e eine Vertrauensposition zu, die „ . . . volksfremden E l e m e n t e n . . . die M ö g l i c h k e i t (gebe), mittels einer solchen Vertrauensstellung die Volksseele zu v e r g i f t e n " 7 0 . Z u r vollständigen Ausschaltung fremdrassischer Elemente müsse eine gegen sie gerichtete völlige N e u o r d n u n g des Rechtslebens erfolgen 7 1 .

67 Da in diesem Punkt das GZR auf das GWBB verwies (§ 3), gilt das zu diesem Begriff Gesagte (siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.b) ganz entsprechend. 68 So Frank auf dem Nürnberger Parteitag 1935, wiedergegeben bei Noack, 1938, S. 2796. 69 Frank, 1935, S. 1525. 70 Frank, 1935, S. 1525 und Noack, 1938, S. 2796. 71 Grimm, 1933, S.651. Eine Vorstellung, die auch die Rechtswissenschaft betraf. Carl Schmitt (DJZ 1936, S. 1194ff.) hatte den Kampf der Rechtswissenschaft „ . . . gegen den jüdischen Geist" propagiert und ihn unter anderem damit begründet, „ . . . daß jüdische Meinungen in ihrem gedanklichen Inhalt nicht mit Meinungen deutscher ... Autoren auf eine Ebene gestellt werden (könnten)". Der Jude habe zur deutschen geistigen Arbeit eine rein parasitäre Beziehung, von der die Rechtswissenschaft durch Eliminierung jüdischer Autoren gereinigt werden müsse. Schmitts Rolle beschränkte sich indes nicht auf die Lehre, sondern schon 1933 hatte er praktische Auslegungshilfen gegeben, um im Rahmen der Rechtsauslegung den Grundsätzen des Nationalsozialismus Geltung zu verschaffen; so insbesondere durch seine Veröffentlichung „Neue Leitsätze für die Rechtspraxis" (JW 1933, S. 2793). Diese Leitsätze hat Majer, 1982, S. 163 während einer Tagung zum Thema „Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus" umfassend beleuchtet (die Beiträge dieser Tagung sind bei Rothleuttner, 1983, wiedergegeben) und Rüthers, „Entartetes Recht, Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich", 1988, S. 125ff., bezeichnet in seinem Buch Carl Schmitt als Paradigma eines systemtragenden Juristen des Dritten Reiches, wobei er ebenfalls dessen Rolle im „Kampf gegen den jüdischen Geist" hervorhebt. Trotz dieser recht eindeutigen Äußerungen ist Carl Schmitts Position auch insoweit nach wie vor umstritten. Schwab, 1970, S. 135f., erklärt diese Position Schmitts weniger mit einer antisemitischen Einstellung als mit seinem Anliegen, durch die Kennzeichnung der Unsitte des Plagiats entgegen zu wirken und so die Reputation deutscher Wissenschaft zu wahren, wenn er ebenda feststellt: „ . . . concerned with the widespread German practice of plagiarizing Jewish authors, Schmitt insisted, however, that if a Jewish author had to be cited at all, he must not be ignored but mentioned as a Jewish author 4 . By insisting on this Schmitt had hoped to raise the respectability of German scholarship which had received mortal blows since 1933 ...". Ob dieser Erklärungsversuch durchgreift, bedenkt man, daß Schmitt Kelsen erfolgreich 1932 überzeugte, für seine Berufung nach Köln in Nachfolge des verstorbenen Stier-Somlo zu votieren, um dann eben gegen diesen Fürsprecher bereits 1933 die Entlassung wegen

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Daneben sollte das GZR Rechtssicherheit schaffen, um,,... nach Überwindung der Periode der revolutionären Tatsachen, die ihrer Natur nach nur eine vorübergehende sein dürfte, für die Frage der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wieder einen festen Rechtsboden (zu schaffen)" 72 . Zwischen den Intentionen, Rechtssicherheit zu schaffen und die Eliminierung nichtarischer Anwälte zu erreichen, entstand ein Konflikt. Und nur eine dieser beiden Ausgrenzungsabsichten fand letztlich ihren Niederschlag im GZR. b) Intentionsdifferenzen Kerrl und Frank wollten ihre rigorose Erlaßpraxis, die sie bereits vor dem 7. 4. 1933 durchgeführt hatten und die zu einer fast völligen Ausschaltung jüdischer Anwälte geführt hatte, gesetzlich fixiert wissen. Bei der Erarbeitung des GZR wollten sie deshalb insbesondere nicht, daß in den Gesetzestext Dispensvorschriften aufgenommen würden. Vielmehr sollten Ausnahmen weiterhin allein der Ausführung der Landesjustizverwaltungen überlassen bleiben 73 . Die tatsächlich hinter dieser Forderung stehende Absicht ist leicht erkennbar. Aus nationalsozialistischer Sicht wäre es konsequent gewesen, den Frontkämpferdispens entfallen zu lassen, ändert diese Bewährung doch nichts an der rassischen Zugehörigkeit als Primat nationalsozialistischer Politik 7 4 . Dem stand jedoch im Jahre 1933 Hindenburgs Wille entgegen75. Die geforderte Möglichkeit, Ausnahmen erst im Rahmen der Ausführung zu regeln, hätte dazu gebraucht werden können, Hindenburgs Willen zu umgehen. Entsprechend hatte Freisler das GZR mit seiner fest umrissenen Dispensnorm als Rückschlag gegenüber einer früher bewährten Praxis bezeichnet76. Dieser Rückschlag geht auf die Vorstellung des Reichsjustizministeriums hinsichtlich eines neu zu schaffenden GZR zurück. Dort wurde eine der seiner jüdischen Herkunft zu betreiben (so Rapp, 1990, S. 179 unter Heranziehung eines Zitats Hans Mayers, eines Stier-Somlo-Schülers), mag dahingestellt bleiben. Wie aktuell die Diskussion um Schmitt ist, zeigen im übrigen die Arbeit Quartischs, 1989, sowie die Herausgabe eines „Carl Schmitt Glossariums" durch E.v.Medem, denn in beiden Abhandlungen wird ebenfalls Schmitts Haltung jüdischen Gelehrten gegenüber behandelt. 72 Grimm, 1933, S. 653. Eingehend zur Person Grimms, insbesondere zu seiner latent antisemitischen Einstellung Krach, 1991, S. 134, der sich dazu u.a. auf Äußerungen Grimms nach 1945 bezieht. 73 Gruchmann, 1988, S. 145 f. hat den hier im Ergebnis skizzierten Konflikt anhand der vorhandenen Primärquellen insbesondere aus dem ehemaligen Reichsinnenministerium umfassend ausgewertet und dabei das Verhältnis zwischen Frank und Kerrl als spannungsreich beschrieben, sobald persönliche Positionen in Rede gestanden hätten. 74 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.a) zum Frontkämpferdispens. 75 Das entsprechende Schreiben findet sich im Wortlaut bei Hubatsch, 1965, S. 375 f.; siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.b). 76 Gruchmann, 1988, S. 142 hat diese Äußerung Freislers wiedergegeben. 8 Tarrab-Maslaton

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Parteilinie bedingt entgegengesetzte Intention verfolgt. Zwar wollte man auch dort die Zahl jüdischer Anwälte reduzieren 77 , wichtiger erschien es aber, das unkontrollierte Handeln der Landesjustizverwaltungen zu beenden. Maßgeblich hat Gürtner diese Absicht verfolgt. Dabei handelte es sich allerdings nicht um eine singuläre, einer positiven Haltung dem Judentum gegenüber entspringende Absicht, sondern die hinsichtlich des GZR verfolgte Intention entsprach dem grundlegenden Motiv Gürtners, legislativ Rechtssicherheit zu schaffen, um Staatsautorität zu sichern 78 . I m vorliegenden Zusammenhang muß also festgehalten werden, daß grundsätzlich sowohl von den nationalsozialistisch geführten Justizverwaltungen der Länder als auch vom Reichsjustizministerium eine Reduzierung jüdischer Anwälte gewollt war. Diese vorhandene gemeinsame antisemitische Intention wurde aber im Reichsjustizministerium von der Absicht überlagert, nationalsozialistische, die staatliche Autorität gefährdende Handlungen zu kontrollieren. Bezüglich des GZR fand diese primäre Intention des Reichsjustizministeriums ihren Niederschlag in der von den Nationalsozialisten kritisierten, eine vollständige Reduzierung verhindernde Dispensvorschrift für Frontkämpfer. Sie setzte den Willen der Staatsautorität — Hindenburgs — durch 7 9 . 2. Objektiver Ausgrenzungserfolg

a) Zahlen Die quantitative Wirkung des GZR ist relativ genau feststellbar. Insgesamt waren am 7. 4. 1933 19.500 Anwälte zugelassen80. Unter ihnen befanden sich 3.370 sogenannte nichtarische Anwälte 8 1 . Regional gab es 77 Lorenzen, 1943, S. 178 f. stellt dies als einen der Kernpunkte nationalsozialistischer Politik, die auch vom Reichsjustizministerium verfolgt worden sei, dar. Hachenburg, 1933, S. 609, selbst jüdischer Rechtsanwalt und wissenschaftlich durch seine Mitwirkung am HGB-Kommentar „Düringer/Hachenburg" bekannt, trat zwar gleichfalls für eine Reduzierung zuzulassender Anwälte ein, wandte sich aber öffentlich (DJZ 1933, S. 609, 1264) gegen die allein jüdische Personen treffenden Regelungen des GZR (zur Biographie Hachenburgs Ostler, 1983, S.468 Anm.468; der s., 1983, S. 55; Hartstang, 1986, S. 39; Göppinger, 1990, S. 374 ff. widmet sich Hachenburg unter besonderer Berücksichtigung seiner Arbeit in der Schriftleitung der Juristischen Wochenschrift (auch eine Anzahl anderer Kurzbiographien jüdischer Juristen findet sich dort). 78

Gürtners Position und diese grundlegende Zielrichtung seiner Politik hat Gruchmann, 1988 detailliert beschrieben. Er kommt auf S. 57 ff. zu dem Ergebnis, daß es ein tragischer Fehler Gürtners gewesen sei anzunehmen, Staatsautorität auf Dauer gegen die Nationalsozialisten sicherstellen zu können. 79 Siehe dazu bereits oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2.b). 80 Noack, 1938, S. 2796; Weniger, 1937, S. 1331. 81 Noack, 1938, S. 2796 und Weniger, 1937, S. 1391. Dieses Zahlen Verhältnis sollte nicht dazu führen, angebliche jüdische Unterwanderung als belegt anzusehen, da man dann objektiv die nationalsozialistische Prämisse, daß in

1. Abschn. Α. Erwerbsmöglichkeiten — Rechtsanwaltschaft

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erhebliche prozentuale Schwankungen, so daß es falsch wäre, zur Nachvollziehung des Zahlenverhältnisses arischer zu nichtarischen Anwälten die letztgenannte Zahl einfach in Relation zur Gesamtzahl der zugelassenen Rechtsanwälte zu setzen. Vielmehr gab es in den Städten einen erhöhten Anteil jüdischer Anwälte. In Frankfurt waren 275, in Breslau 376 und in Berlin 1.879 zugelassen82. Den Nationalsozialisten bot der prozentuale Anteil ein ständiges propagandistisches Angriffsziel: „Ein Viertel der ganzen Anwaltschaft war jüdisch und was lag näher, als daß dieses Viertel bei den typischen, immer wieder in Erscheinung tretenden, hervorstehenden Charaktereigenschaften dieser Rasse allmählich zum Typenvertreter der Anwaltschaft überhaupt wurde.. . " 8 3 . Propagandistisch geeignet war der zahlenmäßige Anteil der jüdischen Bevölkerung in dieser Berufssparte aus folgendem Grund: Man konnte den eigenen, schon vorhandenen radikalen und rassisch motivierten Antisemitismus tarnen durch die Behauptung, lediglich zu beabsichtigen, den Juden den Anteil in der Anwaltschaft zukommen zu lassen, der ihrem Bevölkerungsanteil entsprach 84 und so zugleich den radikaleren rassischen Antisemitismus während der nur proportionalen Zurückdrängung in einem speziellen gesellschaftlichen Segment breiten Bevölkerungskreisen nahezubringen. Die quantitative Wirkung des GZR unterschied sich regional. Während in Städten mit höherem Anteil jüdischer Anwälte mehr Personen betroffen waren — in Berlin von 1879 569 Personen, in Breslau von 376 108 und in Frankfurt von 275 jüdischen Anwälten 105 85 —, fanden sich ebenfalls Regionen, in denen die quantitative Wirkung geringer war, schon weil absolut weniger jüdische Anwälte vorhanden waren. In Naumburg schieden von 81 23 nichtarische Anwälte aus, in Kassel von 43 13 und in Kiel von 34 jüdischen Anwälten lediglich 6 Personen. Absehbare, regional differente quantitative Wirkungen blieben speziell für die antisemitische Politik im Bereich der Anwaltschaft nicht ohne Auswirkung. Verfechter der Parteilinie sahen vielmehr die Möglichkeit, durch Dislocierung innerhalb der vom GZR vorgegebenen Grenzen die Wirkung des Gesetzes zu verstärken. Dislocierung bedeutete in diesem Zusammenhang, denjenigen Anwälten, die wegen des Frontkämpferdispenses wiederzuzulassen waren, ihre Zulassung nur an einem Ort mit einer geringeren Zahl verbleibender jüdischer

jedem Berufsstand nur so viele jüdische Bürger tätig sein dürften, wie sie prozentual dem Gesamtbevölkerungsanteil entsprechen, teilen würde. 82 Wiedergegeben bei Gruchmann, 1988, S. 151. 83 Noack, 1938, S. 2796. 84 So ausdrücklich Schulz, 1934, S. 6 und 28; zur Akzeptanz dieses antisemitischen Motivs in der Bevölkerung Kulka, 1984, S. 606 f. 85 Ergebnis der Feststellung des preußischen Justizministeriums über die Durchführung des GZR in DJ 1934, S. 950. 8*

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Anwälte zu erlauben. Geregelt werden sollte diese Dislocierung durch Ausführungsbestimmungen der Landesjustizverwaltungen 86, um quantitative Ungleichgewichte ausgleichen zu können. Aus den bereits erwähnten Gründen 87 vermochte sich diese Position im Vollzug des GZR nicht durchzusetzen. Bezüglich aller OLG-Bezirke insgesamt führte das GZR dazu, daß von 3 370 zugelassenen nichtarischen Anwälten 1084 ausschieden. Vergleicht man den quantitativen Erfolg mit der Intention des Reichsjustizministeriums, so zeigt sich die Überlagerung der antisemitischen Stoßrichtung; wie beabsichtigt, behielten zwei Drittel der jüdischen Anwälte ihre Zulassung. Der eingetretene quantitative Erfolg deckte sich also mit der Intention des Reichsjustizministeriums. b) Andere Diskriminierungswirkungen Die dargestellten quantitativen Resultate geben lediglich einen Teil des objektiven Ausgrenzungserfolges wieder. Andere Sachverhalte potentieren diesen Erfolg wesentlich. So wurden die Rechtsanwaltsverzeichnisse im Jahre 1933 alsbald durch den BNSDJ geführt. Zu ihnen hatten nichtarische Anwälte keinen Zugang bzw. wurden gelöscht 88 . Der unmittelbare Zusammenhang zum GZR ergibt sich aus dem Umgang mit den Anwaltsverzeichnissen, der auf eine Rezipierung des GZR zurückzuführen ist. Dem Arierparagraphen des GZR entsprechend war Nichtariern die Aufnahme im BNSDJ versagt und so konnten sie auch nicht in die Anwaltsverzeichnisse gelangen bzw. in ihnen verbleiben. Die das GZR verstärkende Wirkung folgte dabei aus der Tatsache, daß selbst die jüdischen Anwälte, die nicht vom GZR betroffen waren, hinsichtlich des Führens in den Verzeichnissen genauso behandelt wurden, wie die durch das GZR unmittelbar suspendierten. Eine andere Diskriminierung trat mittelbar ein, darf aus diesem Grunde aber keineswegs vernachlässigt werden. Die Stigmatisierung jüdischer Anwälte hatte zu einer erheblichen Erschwernis ihrer Tätigkeit geführt, selbst wenn sie sie trotz des GZR weiter ausüben konnten. So mußten nichtjüdische Bürger Benachteiligungen bei der Verfolgung ihrer Rechte befürchten, ließen sie sich durch einen jüdischen Rechtsbeistand vertreten; sei es, weil ihr Vertreter Bedrohungen oder Behinderungen ausgesetzt war, sei es, weil sie selbst als Judenfreunde auf ein gerechtes Urteil kaum hoffen konnten 89 . 86

Gruchmann, 1988, S. 147f. zitiert die entsprechenden Entwürfe. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, A . I I . l . 88 Heinrich, 1979, S. 151 hat diese Praxis für den Bereich des OLG-Bezirks München wiedergegeben. 87

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Schließlich resultierte eine Steigerung des Diskriminierungserfolgs des GZR aus einer selbst auf Erlaßebene nicht fixierten Praxis. Durch die vor dem GZR ergangenen Verfügungen 90 hatten alle jüdischen Anwälte ihre Zulassung de facto verloren. Die Herstellung des durch das GZR gewollten Zustandes erforderte also eine Wiederzulassung unter den Voraussetzungen des GZR, wie etwa den Nachweis der Frontkämpfereigenschaft. Dieser Nachweis wurde den Betroffenen erschwert, indem man ζ. B. über den Eintrag in der Kriegsstammrolle hinaus den Nachweis der Teilnahme an einem Gefecht forderte, und die Antragsentscheidung übermäßig lange dauerte 91 . Letzteres wird mittelbar durch eine Äußerung Freislers belegt. Er hatte ausgeführt, daß nicht gesagt werden könne, wieviel Personen wieder zugelassen würden, da „ . . . erst nach Prüfung der einzelnen Angaben..." eine Entscheidung gefallt würde 92 . IV. Spezifischer Diskriminierungsmechanismus des GZR: Ausnutzung wirtschaftlicher Ängste des Anwaltsstandes und Aufgreifen tradierten wirtschaftlichen Antisemitismus zur Einschränkung der Erwerbsmöglichkeiten jüdischer Anwälte 1. Existenzängste des Anwaltsstandes

Eine Diskussion über die wirtschaftliche Situation der Rechtsanwälte setzte bereits nach dem 1. Weltkrieg ein und war Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen 93 . Anhand der Umsatzsteuerstatistik wurde nachgewiesen, welch geringes Einkommen Anwälte durchschnittlich hätten 94 . Danach erreichten im gesamtwirtschaftlich eher positiv zu beurteilenden Jahr 1927 ein Drittel der Anwälte einen Jahresumsatz von lediglich 10000 R M . Lediglich 13% verblieb ein monatliches Einkommen von 3000 RM. Eine Situation, die sich in den Jahren 1930-33 noch verschlimmerte und ein Anwaltsproletariat befürchten ließ. 1932 konnte festgestellt werden, daß 6000 Anwälte ein so geringes Einkommen hatten, daß ihnen das Bestreiten der Lebenshaltungskosten Sorge bereitete 95 . Bezieht man diese 6000 Personen auf die Gesamtzahl zugelassener 89 Hachenburg, 1933, S. 1264 nennt eine Reihe von Drohungen, die immer noch vorkämen, obwohl sie offiziell gegen Anwälte, die nach Erlaß des GZR weiter zugelassen seien, zu unterbleiben hätten. 90 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.2. 91 Neumann, 1976, S. 8 hat ein entsprechendes Verfahren, das er in seiner Zeit als Breslauer Anwalt durchlief, nachgezeichnet und darin die übermäßig lange Bearbeitungsdauer näher geschildert. 92 Das Interview Freislers mit dem Berliner Tageblatt vom 12.4. 1933 ist bei Gruchmann, 1988, S. 140 wiedergegeben. 93 Siehe etwa die Beiträge von Friedlaender, 1919; Buhmann, 1920; Meyer, 1920; Zeltner, 1920; Biermann, 1923 und Abraham, 1930. 94 Thalheim, 1931, S. 3498. 95 Thalheim, 1931, S. 3500; Siegmund, 1931, S. 337.

118

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Anwälte — 1933 waren es 19000 96 —, so dürfte nahezu ein Drittel der Anwaltschaft massiv in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht gewesen sein. M i t dieser quantitativen Analyse ging die Frage einher, welche berufsspezifischen Gründe die wirtschaftliche Situation verschlechterten und wie diesen Ursachen entgegengewirkt werden könnte. In erster Linie führte man die Misere auf die Überfüllung des Anwaltsstandes zurück. U m dies zu belegen wurde die Zahl der Gesamtbevölkerung in Relation zur Gesamtzahl der zugelassenen Anwälte gesetzt. Kam 1919 auf 5225 Einwohner ein Anwalt, im Jahre 1927 auf 4282 Einwohner ein Anwalt 9 7 , so steigerte sich dieses Zahlenverhältnis 1933. Zugelassen waren etwa 19.000 Anwälte, so daß auf 3 374 Einwohner ein Anwalt kam 9 8 . Doch nicht nur die Zahl der zugelassenen Anwälte, sondern auch der Referendare, die größtenteils zukünftige Anwälte waren, stieg an und wurde als für den gesamten Stand bedrohlich bewertet 99 . Schließlich hob man hervor, die Zahl der Anwälte steige zusätzlich wegen des massiven Drängens ausgeschiedener Beamter in den Anwaltsstand 100 . Durch die Beschränkung des Arbeitsfeldes kam ein weiterer Grund für wirtschaftliche Einbußen hinzu. Dies resultierte nicht aus dem Faktum, daß zahlende Mandantschaft wegen der schlechteren wirtschaftlichen Situation ausblieb 101 , vielmehr hatte eine echte Reduzierung des Arbeitsgebietes stattgefunden. So hatte das Arbeitsgerichtsgesetz den Parteienprozeß wieder möglich gemacht und in Preußen kam es zu einer weiteren Konkurrenz durch die sogenannten Verwaltungsrechtsräte 102. Potenziert wurde diese Lage durch die Nichtanpassung der Gebührenordnung an die steigenden Lebenshaltungskosten 103 . 96

Weniger, 1937, S. 1391 und Noack, 1938, S. 2796. Für das Jahr 1932 konnte die Zahl zugelassener Anwälte nicht exakt festgestellt werden. Diese Zahl fehlt sowohl in den Statistiken Reifners, 1984, S. 386 als auch bei Gruchmann, 1988, S. 151 und Hartstang, 1986, S. 36. Da jedoch für das Jahr 1931 - 17.200 (Reifner, 1984, S. 336) — und 1933 — ca. 19.000 (Noack, 1938, S. 2796; Weniger, 1937, S. 1391) — diese Zahlen vorliegen, dürfte die Zahl der zugelassenen Anwälte 1932 zwischen 17.000 und 19.000 gelegen haben. 97 Nach Ostler, 1971, S. 207. 98 Reifner, 1984, S. 386. 99 Thalheim, 1931, S. 3497; Hachenburg, 1933, S. 347. 100 Finger, 1935, S. 17 f. 101 Finger, 1935, S. 14 zeigt statistisch, daß die Zahl der zahlenden Mandanten etwa gleich blieb. 102 Pinner, 1928, S. 21 f.; während Pinner die Verwaltungsräte lediglich nennt, untermauert er seinen Hinweis auf das Arbeitsgerichtsgesetz durch die Feststellung, daß dessen Novelle den Ausschluß der Anwälte in der ersten Instanz und die Abschaffung des Anwaltszwangs in zweiter Instanz beinhalte. 103

Pinner, 1928, S. 21 f. hebt hervor, daß demgegenüber Löhne und Gehälter per Tarifvertrag angehoben worden seien.

1. Abschn.

. Erwerbsmöglichkeiten —

e

n

1

1

9

Unmittelbar aus diesen Erklärungen leiten sich die Forderungen zur Eindämmung der wirtschaftlichen Bedrohung ab. Es wurde vorgeschlagen, die Tätigkeitsfelder unter den Anwälten aufzuteilen, um so quantitativ vorhandene Konkurrenz abzubauen und wirtschaftliche Konsolidierung zu erreichen. In Anlehnung an den englischen Geschäftsanwalt, den solicitor, sollte eine Zweiteilung zwischen beratendem Geschäftsanwalt und prozessierendem Gerichtsanwalt erfolgen 104 . Gegen die Aufnahme anwaltlicher Tätigkeit nach der Pensionierung oder sonstigem Ausscheiden aus der Beamtenschaft sprach man sich aus und forderte ein entsprechendes gesetzliches Verbot. Im Vordergrund stand jedoch das Postulat, einen Numerus Clausus einzuführen 1 0 5 . Dabei gab es Unterschiede, worauf dieser bezogen werden sollte. Zumeist wurde der Numerus Clausus hinsichtlich der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, vereinzelt zugleich oder nur für das Studium verlangt 106 . 2. Antisemitismus tradierende Organisationen

Teil der deutschen Rechten war bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Fülle von antisemitischen Organisationen, in denen Juristen stark repräsentiert waren. Eine der bekanntesten Organisationen war der Alldeutsche Verband. Seit 1908 von dem Antisemiten Heinrich Class geführt, forderte diese Organisation konkrete wirtschaftliche Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung. In seinem Buch „Wenn ich Kaiser wäre" finden sich folgende Postulate: Juden sollen der Fremdengesetzgebung unterstellt werden; öffentliche Ämter, Staats-, Militärdienst, Beamtentum, der Beruf des Lehrers und Bankiers müßten ihnen unzugänglich gemacht werden 107 . Klar ist hier die generelle Richtung erkennbar, der jüdischen Bevölkerung wesentliche Erwerbsfelder zu versperren. In den 20er Jahren fand sich wirtschaftlich motivierter Antisemitismus auch in einer berufsständischen Organisation. Der Deutsch-Nationale Handlungsgehilfenverband, der eine der bedeutendsten Angestelltengewerkschaften wurde, verweigerte Juden die Aufnahme und bot in seiner Zeitung „Handelsmacht" verschiedenen Autoren die Möglichkeit, Kritik an der beruflichen Tätigkeit der jüdischen Bevölkerung zu üben 1 0 8 . 104

Diese Vorschläge machten Abraham, 1930, S. 369 f. und Hachenburg, 1933, S. 610. So die Berichte über entsprechende Forderungen des Berliner Anwaltsvereins in DJZ 1928, S. 827 und Äußerungen des Staatssekretärs Fritzes in DJZ 1928, S. 828 f. 106 Diese damalige Numerus Clausus-Diskussion ist umfassend bei Ostler, 1971, S. 214f. dargestellt. 107 Freymann — Class Pseudonym —, 1914, S. 60 und 63. 105

108

Mosse, 1966, S. 222 hat das Verhältnis zwischen der deutschen Rechten und den Juden in der Vorkriegszeit zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht. Dabei hat er herausgearbeitet, daß das Verhältnis der deutschen Juden von Patriotismus gekennzeichnet war, während die deutsche Rechte zunehmend durch den rassischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts geprägt wurde.

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

120

Vor der NSDAP wurde der Antisemitismus entscheidend durch die DNVP getragen; also von der Partei, deren Mitglieder in der Anfangsphase des Nationalsozialismus insbesondere im Reichsjustiz- und Reichsinnenministerium und damit in den Ministerien vertreten waren, die das GZR entworfen hatten. So war etwa der Staatssekretär im Reichsministerium des Inneren, Pfundtner, Mitglied der DNVP; ebenso der spätere Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, Bang, der dabei seine völkische Anschauung betonte. Er hatte bereits an der antisemitischen Zeitschrift „Deutschlands Erneuerung" mitgearbeitet und als einer der ersten umfangreiche legislative Diskriminierungsvorhaben seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten formuliert 109 . Die wirtschaftliche Komponente des Antisemitismus trat in dieser Partei wiederum deutlich hervor. Anfang 1919 war von der DNVP die „Verjudung" Berlins angeprangert worden und man hatte es als Neu-Jerusalem verunglimpft. Ausdrücklich wurde in das Parteiprogramm der Kampf gegen die „Vorherrschaft des Judentums" aufgenommen und gefordert, für Juden in allen Fächern einen Numerus Clausus festzulegen 110. Nicht zuletzt in Äußerungen von Juristen findet sich eine antisemitische Grundströmung wieder. Der Amtsrichter und deutsch-nationale Beinert beurteilte antisemitische und diffamierende Zeitungsbeiträge in dem gegen die Redakteure gerichteten Verfahren folgendermaßen: „Das deutsche Volk erkennt mehr und mehr, daß das Judentum schwerste Schuld an unserem Unglück trage. A n einen Aufstieg unseres Volkes ist nicht zu denken, wenn wir nicht die Macht des Judentums brechen ... Die Gedanken, welche die Angeklagten vortrugen, stellen keine Gefahrdung unserer öffentlichen Ruhe dar, nein, sogar die Besten unseres Volkes teilen diese Auffassung" 111 . 3. Aufgreifen wirtschaftlicher Ängste und hergebrachten Antisemitismus im GZR

I m GZR fanden die beschriebenen Existenzängste wie der bestehende Antisemitismus einen konkreten Niederschlag. § 1 sah die Möglichkeit vor, Zulassungen nichtarischer Anwälte zurückzunehmen, verdrängte die Juden mithin wirtschaftlich. §2 eröffnete die Option, Junganwälten den Zugang zu versperren, im Ergebnis also ein echter Numerus Clausus und damit die partikulare, weil ausschließlich für Juden geltende Übernahme einer Forderung des Anwaltsstandes zur eigenen wirtschaftlichen Konsolidierung. Noch deutlicher zeigt sich dieses Aufgreifen vorhandenen Antisemitismus im Schrifttum zum GZR. 109 110

Mosse, 1966, S. 222 ff. Mosse, 1966, S. 228; siehe auch zu dieser Diskussion oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt,

A.IV.l. 111

Foerder,

1925, Bd. I, S. 528.

1. Abschn. Β. Erwerbsmöglichkeiten — Verordnungen zum RbG

121

Der jüdische Anteil an der Rechtsanwaltschaft beruhe auf „Charaktereigenschaften dieser Rasse .. . " 1 1 2 . Als Anwalt sei es Juden nämlich möglich, „ . . . in das Seelenleben seines Gastvolkes einzudringen, um dort destruktiv entartend zu wirken und so das Gastvolk immer bereiter zu machen zur Aufnahme der jüdischen Unkultur, des jüdischen Giftparasiten.. , " 1 1 3 . Während hier schon an der Diktion belegbar die rassische Komponente und damit mehr ein nationalsozialistisches antisemitisches Leitmotiv im Vordergrund steht, ist dennoch eine ältere Form des Antisemitismus nachweisbar. Die von Noack angeblich nachgewiesene Eindringungsabsicht als „seelische Anlage des Judentums" war bereits in Günthers „Rassenkunde des jüdischen Volkes" 1 1 4 vorhanden und gipfelt in der Aussage, daß die jüdische Seele vom „Amerikanismus", der Gier nach „schrankenlosem Geldgewinn" gekennzeichnet sei. Dieses Motiv ist von Seydel aufgenommen worden, indem er schildert, die Freiheit des Erwerbsstrebens hieße für jüdische Anwälte in erster Linie, Freiheit größtmöglichen Gewinn zu machen 115 . Daher sei das GZR nötig gewesen, um den durch den jüdischen Einfluß bewirkten Eindruck des „Geschäftemachers" 116 von der Anwaltschaft abzuwehren. Die Nationalsozialisten hatten also tatbestandlich zur Beschränkung der Erwerbsmöglichkeiten jüdischer Anwälte bestehende wirtschaftliche Ängste und vorhandenen spezifischen wirtschaftlichen Antisemitismus aufgegriffen.

B. Verordnungen zum RbG zur weiteren Erwerbsbeschränkung Hatte das GZR durch den Frontkämpferdispens noch relativ vielen, nämlich rund zwei Drittel der im Jahre 1933 zugelassenen jüdischen Anwälte, die Wahrnehmung ihres Berufes erlaubt und waren Ärzte lediglich begrenzt diskriminiert worden 1 , so änderte sich dies sowohl für die Anwaltsschaft als auch für die Ärzte durch vier Verordnungen, die in den Jahren 1938 und 1939 zu den Nürnberger Gesetzen ergangen sind. Diese gemeinsame Stoßrichtung der Verordnungen rechtfertigt ihre gleichzeitige Behandlung 2 .

112

Noack, 1938, S. 2796. Noack, 1938, S. 2796, der dieselbe Aussage auch auf die jüdischen Ärzte bezog. 114 Günther, 1930, S. 284, 307. 115 Seydel, 1936, S. 1819. 116 Friedrich, 1938, S. 1300. 1 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.III.2. 2 Oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.2.a) wurden sie bereits als zweite Gruppe zusammengefaßt. 113

122

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

I. Die 5. und 6. VO zum RbG 1. Inhalt beider Verordnungen

A m 27. September 1938 erging die 5. VO zum RbG 3 . Sie regelte in neunzehn Paragraphen die weitere Zukunft jüdischer Anwälte. Zentrale Vorschrift war § 1 : „Juden ist der Beruf des Rechtsanwalts verschlossen. Soweit Juden noch Rechtsanwälte sind, scheiden sie nach Maßgabe der folgenden Vorschriften aus der Rechtsanwaltschaft aus." Die §§ 2 und 3 regelten die Kündigung von Miet- und Dienstverhältnissen. Der zweite Komplex der 5. VO bestimmte, wie zukünftig jüdische Anwälte agieren konnten. Als sogenannten Konsulenten war ihnen von nun an ausschließlich die Vertretung von Juden erlaubt (§§ 8 und 10). Umfassend wurden die Zulassungsvoraussetzungen für Konsulenten geregelt. Dem GZR entsprechend wurde ein Zulassungsanspruch negiert und die Zulassung von einem Bedürfnis nach Konsulenten im jeweiligen OLG-Bezirk abhängig gemacht. Erstmals findet sich in dieser primär die Erwerbsmöglichkeit begrenzenden Verordnung eine Vorschrift, die Erträge Verbleibender abschöpft. § 14 verpflichtete die Konsulenten nämlich, im eigenen Namen, „ . . .jedoch für Rechnung vom Reichsminister der Justiz zu bestimmenden Ausgleichsstellen Gebühren und Auslagen (zu erheben)". Es ist allerdings hervorzuheben, daß die Ertragsabschöpfung hier in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erwerbsbeschränkung liegt, es sich somit nicht um eine davon zu unterscheidende Vermögensabschöpfung handelt. Nach Abs. 2 verblieb ihnen „ . . . als Vergütung für ihre Berufstätigkeit und als Entschädigung für Kanzleikosten ... ein Anteil an den aus ihrer Berufstätigkeit anfallenden Gebühren". Die bei der Ausgleichsstelle verbleibende Summe sollte genutzt werden, um ausscheidenden und ehemaligen Frontkämpfern Unterhaltszuschüsse zu gewähren. Wie die Arbeit dieser Stelle geregelt war, wird anschließend beleuchtet. Schon die vorgestellte Regelung zeigt indes, daß den von der Diskriminierung Betroffenen der Ausgleich der eintretenden wirtschaftlichen Nachteile für diejenigen, die noch stärker betroffen waren — endgültig Ausscheidende —, aufgebürdet wurde. Die verbleibenden Konsulenten erfüllten so objektiv die Funktion der Gewährleistung des Existenzminimums für die durch die Diskriminierung Betroffenen, wobei die Vergabekontrolle seitens der Nationalsozialisten wiederum ihre Kontrolle sicherte. Eng an diese Verordnung knüpfte die 6. VO zum RbG an. Wie das GZR im Jahre 1933 hatte sich damals ein entsprechendes Gesetz gegen die Patentanwälte gerichtet, das die Löschung nichtarischer Patentanwälte im Sinne des GWBB in der Liste der Patentanwälte bestimmte und für Frontkämpfer eine Ausnahme3

RGBl. 1938 I, S. 1403.

1. Abschn. Β. Erwerbsmöglichkeiten — Verordnungen zum RbG

123

möglichkeit vorsah 4 . Fünf Jahre nach diesem Gesetz sollte der Frontkämpferdispens den Patentanwälten ebenfalls entzogen werden. Dazu wurde die 6. VO zum RbG verabschiedet. Weitestgehend übernahm man dabei die 5. VO; allerdings fehlt die Etablierung eines Patentkonsulenten. Der Grund lag darin, daß vor dem Reichspatentamt kein Anwaltszwang herrschte, es dem Antragsteller mithin möglich war, sein Gesuch selbst oder von einer anderen Person stellen zu lassen. Wichtig ist vorliegend die mittels der 5. und 6. VO zum RbG bewirkte Verschließung eines Erwerbsfeldes und die Zwangsverwaltung der geringen Erträge jüdischer Konsulenten; Erträge verblieben somit nicht mehr beim Erwerbenden. 2. Durchführung der 5. VO

Die Durchführungsbestimmungen konzentrierten sich auf die Regelung des Konsulentenwesens, da die übrigen Anwälte in Folge ihres Ausscheidens ipso iure nicht mehr von einer Verwaltungspraxis betroffen sein konnten. Die 5. VO hatte das Verfahren zur Konsulentenzulassung geregelt. Anschließend wurden entsprechende Richtlinien erlassen 5, die bestimmten, welche Antragsunterlagen einzureichen seien, welche Pflichten der Konsulent habe und welches Verhältnis zu den Aufsichtsbehörden bestehe. Aus dem BISchG 6 wurde das Verbot übernommen, „ . . . weibliche Hilfskräfte deutschen oder artverwandten Blutes ..." unter 45 Jahren zu beschäftigen. Im Rahmen der staatlichen Aufsicht gab man den Konsulenten auf, ein Register zu führen, in dem alle Rechtsangelegenheiten genau festzuhalten waren. Die Aufsichtsbehörde hatte das Recht, ständig Einsicht in dieses Register zu nehmen. Außerdem wurden Durchführungsbestimmungen erlassen, die die Ausgleichsstellen betrafen. Diese, bei der Reichsrechtsanwaltskammer angesiedelte Stelle hatte folgende Beträge an die Konsulenten weiterzugeben: „ . . . die Auslagen im Sinne des Kostengesetzes", einen Pauschalbetrag als Entschädigung für Kanzleiunkosten und darüber hinaus einen Gebührenanteil: Für Beträge bis zu 300 R M waren dies 90%, für die Beträge von 300 bis 500 R M 70%, für Beträge von 500 bis 1000 R M 50% und von Gebühren für Beträge für über 1000 R M gar nur 30% 7 . Alle übrigen Einnahmen verblieben der Ausgleichsstelle. Die Verwendung der Gelder, d.h. wann Unterhaltszuschüsse zu gewähren waren, hing von der Erfüllung einer Vielzahl von Voraussetzungen ab und lag selbst dann noch im Ermessen der Rechtsanwaltskammer, der der ausgeschiedene Anwalt angehört hatte. Ein Anspruch bestand nicht 8 . 4 5 6 7

RGBl. 1933 I, S.217f. Wiedergegeben in JW 1938, S. 2798 ff. Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a). JW 1938, S. 2797 f.

124

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung 3. Ausgrenzungsabsicht und Diskriminierungserfolg

a) Ausgrenzungsabsicht Die Diskriminierungsintention steht in einem engen Zusammenhang mit dem GZR und personellen Umstrukturierungen des Jahres 1937/38. Letztere ergab sich aus dem Ausscheiden Schachts und Neuraths, die die extremen Parteikräfte, die eine härtere Gangart in der sogenannten Judenfrage anstrebten, immer wieder bremsten 9. Schacht hatte dies mit dem Argument erreicht, daß wirtschaftlicher Schaden drohe, der die Aufrüstung gefährde und Neurath durch den Hinweis auf negative Reaktionen des Auslandes. Nachdem diese personellen Hindernisse beseitigt waren, konnte sich die Parteilinie, die von Frank und Kerrl bereits während der Erarbeitung und Durchführung des GZR vertreten worden war 1 0 , durchsetzen. Die 5. VO wurde begrüßt, da so ein untragbarer Zustand beendet würde 11 , denn trotz des GZR sei noch ein erheblicher Anteil jüdischer Anwälte verblieben — im Jahr 1938 1.753, etwa 10% der zugelassenen Anwälte. Diese sollten durch die 5. VO ausscheiden. Das Belassen der Konsulenten wurde als konsequente Durchführung des Rassengedankens gelobt. Da es einem „ . . . deutschen Rechtsanwalt nicht (zuzumuten sei), für einen Juden tätig zu werden, er würde sich standesrechtlich vergehen...", so sei es umgekehrt ein „ . . . Gebot der Billigkeit, daß der Jude bei der Wahrnehmung seiner Rechte sich eines Rassegenossen bedienen darf ..., dem deutschen Volksgenossen der deutsche Rechtswahrer, und dem Juden der jüdische Konsulent" 1 2 . Schließlich kam eine andere Absicht hinzu, die schwieriger zu erschließen ist. Sie ist weniger in einer weiteren, direkten Ausgrenzungsabsicht gegen die jüdische Minderheit zu sehen, sondern ergibt sich aus der Funktion, die den Konsulenten zugedacht war. In erster Linie dachte man daran, sie als Ansprechpartner der Behörden bei wirtschaftlichen Abwicklungsangelenheiten zu benutzen 13 . Die Betrachtung der geringen Konsulentenzahl verdeutlicht den Zentralisierungseffekt. Belegt wird diese Annahme durch den Umstand, daß die Tätigkeit der Konsulenten beschränkt werden konnte: Als Verteidiger konnten sie nämlich später jederzeit zurückgewiesen werden.

8

JW 1938, S. 2798. Schleimes, 1970, S. 214; Details zur Amtsführung im Auswärtigen Amt unter von Neurath finden sich auch bei Döscher, 1987, S. 67 ff. 10 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, A . I I . l . 11 Noack, 1938, S. 2797. 12 Noack, 1938, S. 2797. 13 Lorenzen, 1943, S. 187f. 9

1. Abschn.

. Erwerbsmöglichkeiten —

erordnung

125

b) Diskriminierungserfolg Quantitativ ist die Wirkung der 5. VO relativ exakt feststellbar, während entsprechende Zahlen für die 6. VO vollständig fehlen. Von den im Jahre 1938 zugelassenen 1.753 jüdischen Anwälten verblieben nur 173 Konsulenten, d. h. es schieden zwingend 1.580 Anwälte aus 14 . Obwohl wegen der Beendigung der Tätigkeit ipso iure zukünftige qualitative Ausgrenzungen ausbleiben mußten, ist die fast 100%ige quantitative Wirkung zugleich eine Ausgrenzungsqualität — vollständige Ausschaltung. Schließlich ergab sich ein qualitativer Erfolg aus der Frontkämpfereigenschaft der Ausscheidenden, die sich so besonders verletzt fühlen mußten. Unterschiedlich ist demgegenüber der Erfolg hinsichtlich der Konsulenten zu beurteilen. Sie waren schon wegen der Bezeichnung Konsulent gegenüber anderen Anwälten mit identischer Ausbildung benachteiligt, wobei verschärfend hinzukam, daß sie diesen Begriff erklären mußten durch den „ . . . auf Schildern, Briefbögen, Geschäftskarten und bei ähnlichen Ankündigungen ..." hinzuzufügenden Satz: „zugelassen nur zur rechtlichen Beratung und Vertretung von Juden" 15 . Außerdem konnten sie ihrer jüdischen Mandantschaft — daß diese Begrenzung der Möglichkeiten, die Interessen des Mandanten wahrzunehmen, die schärfste Diskriminierung darstellte, ist offensichtlich — weniger Schutz bieten. Dies resultierte aus der Registerpflicht 16 . Jüdische Mandanten wurden von ihrem Konsulent registriert und dieses Register konnte, wie bereits erwähnt, die zuständige Justizbehörde jederzeit einsehen. Das Berufsgeheimnis als Voraussetzung für das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant wurde durch diese Maßnahme zutiefst erschüttert. Neben der Begrenzung der Mandantschaft stellt das Abschöpfen der Erträge durch die Ausgleichsstelle eine neue Diskriminierungsqualität dar. Hier griffen die Nationalsozialisten unmittelbar auf Erträge einer verbleibenden jüdischen Bevölkerungsgruppe zu, um damit Folgen der legislativen Diskriminierung den übrigen Ausscheidenden gegenüber zu mildern, genauer den NS-Staat vor potentiellen Wohlfahrtsansprüchen zu bewahren. Historisch ungeklärt ist bislang die Frage, wo die Summen letztlich verblieben, die nicht den Unterhaltszuschußempfangern zuflössen.

14

JW 1937, S. 2802 f. Der entsprechende Erlaß findet sich in JW 1938, S. 24. 16 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, B.I.2.; Anordnung des Reichsjustizministeriums I l l j ) in JW 1938, S. 2799. 15

126

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

II. Die 4. und 8. VO zum RbG Die 4. und 8. VO bilden bezüglich vorhergehender Beschränkungen einen Endpunkt, und die 5. und 6. VO zeigen zugleich inhaltliche Parallelen, die eine Diskriminierungssystematik im Bereich der Erwerbsmöglichkeiten aufzeigen. 1. Erreichtes Diskriminierungsniveau der 4. und 8. VO

Legislativ folgte die Diskriminierung jüdischer Ärzte erstmals in Anknüpfung an das G W B B 1 7 , indem jüdische Kassenärzte per Verordnung ausgeschlossen wurden. Etwas anderes galt dem GWBB entsprechend für Frontkämpfer. Festzuhalten bleibt jedoch, daß private Praxen jüdischer Ärzte ausgenommen waren, ihnen ein relativ breites Betätigungsfeld erhalten blieb. Dies führte dazu, daß trotz der Rezipierung des GWBB über die Hälfte der jüdischen Ärzte nicht von dieser ersten legislativen Diskriminierung betroffen waren 18 . Gerade bei den jüdischen Ärzten fand daher die Diskriminierung kaum legislativ oder durch Übernahme des Arierparagraphen statt. Häufig wurden etwa jüdische Gynäkologen sexueller Verfehlungen bezichtigt 1 9 , um so zwei diskriminative Wirkungen zu erzeugen: Einmal eröffnete diese potentielle Verfehlung Handhabe, die Bestallung nach § 5 der Reichsärzteverordnung 20 , also aufgrund eines bestehenden Gesetzes, zurückzunehmen und so war eine unmittelbare Erwerbsbeschränkung im Einzelfall, nicht hingegen kollektiv erreichbar trotz erlaubter Berufsausübung. Daneben schloß sich die Wirkung an, daß nichtjüdische Frauen, die trotz angeblich möglicher Verfehlungen jüdische Ärzte weiterhin konsultierten sozialer Ausgrenzung ausgesetzt waren. Nochmals hingewiesen sei an dieser Stelle auf die verstärkte Diskriminierung mittels Rezipierung des Arierparagraphen. Neben sozialer Ausgrenzung sahen sich Patienten deshalb zur diskriminierenden Meidung jüdischer Ärzte veranlaßt. Daneben hatten sie massive finanzielle Konsequenzen zu befürchten, da die Begleichung der Rechnungen jüdischer Ärzte von den Kassen abgelehnt wurde und so von ihnen selbst bezahlt werden mußten 21 . I m übrigen muß in eine Beurteilung des im Jahre 1938 erreichten Diskriminierungsniveaus der schon vorgestellte § 6 der 2. VO miteinbezogen werden. Danach wurde der Begriff des öffentlichen Amtes im Sinne des RbG ausgeweitet und galt umfassend für leitende Ärzte in Krankenhäusern 22 . 17

Siehe bereits oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.III.2. Dies stellen ausdrücklich Ostrowski, 1963, S. 320 und TennstedtI Leibfried, S. 214ff. anhand von statistischem Material fest. 19 Kater, 1987, S. 333 zeigt diese Diffamierungen jüdischer Ärzte auf. 20 Wiedergegeben ist diese Verordnung bei Fett, 1935, S. 2. 21 Kater, 1987, S. 329. 18

1979,

1. Abschn. Β. Erwerbsmöglichkeiten — Verordnungen zum RbG

127

2. Inhalt der 4. und 8. VO

A m 25. 7.1938 stellten die jüdischen Ärzte, am 17.1.1939 die Zahnärzte und Apotheker ihre Tätigkeit ein. Ein Erfolg, der auf langes Drängen des Reichsärzteführers Wagner zurückging. Bereits bei Erlaß der 1. VO zum RbG hatte er ein schärferes Vorgehen insbesondere gegen jüdische Ärzte verlangt. In den Jahren 1935 und 1936 war dies jedoch an Löseners Einwendungen gescheitert und hatte lediglich zum Ausscheiden von Ärzten im Rahmen des § 6 geführt 23 . Mitte 1937 hatte Wagner einen weiteren Vorstoß in diese Richtung unternommen. Unter Hinweis auf große Unzufriedenheit der NS-Ärzteschaft forderte er das endgültige Ausscheiden nichtarischer Ärzte 2 4 . In der 4. V O 2 5 wurde festgelegt, daß „ . . . Bestallungen (Approbationen) jüdischer Ärzte erlöschen ..."(§ 1), eine widerrufliche Ausnahmegenehmigung durch den Reichsminister des Innern erfolgen kann (§ 2), neue Bestallungen Juden zu versagen sind (§4) und die mit einer Ausnahmegenehmigung Versehenen nur die eigene Familie bzw. Juden behandeln dürften (§ 3). Letztere hatten sich Krankenbehandler zu nennen 26 . Im übrigen wurden besondere Kündigungsvorschriften für im Zusammenhang mit der Ausübung des Ärzteberufes abgeschlossene Dienst- und Mietverträge vorgesehen. Sie konnten vor dem gesetzlich oder vertraglich festgelegten Kündigungszeitpunkt beendigt werden, sofern darüber eine Einvernahme erzielt wurde 27 . Ohne dieses Einvernehmen blieb indes der dienstberechtigte Arzt trotz Verlustes seiner Erwerbsquelle zur Zahlung der Vergütung verpflichtet. Bezüglich der Mietverträge verwies man wiederum auf das „Gesetz über das Kündigungsrecht der durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums betroffenen Personen vom 7.4. 1933" 28 . Dieser Verweis ist mehr als eine bloße gesetzestechnische Marginalie. Vielmehr ist er ein Indiz zunehmender Systematisierung der antisemitischen Gesetzgebung. Mußte man zu Beginn der legislativen Lösung der sogenannten Judenfrage neue Gesetze konstruieren, so wurde nun eine Verflechtung bestehender Vorschriften herangezogen. Eine Wertung, die über diese Verwei-

22 Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II. 1 .b); zur Gleichschaltung der medizinischen Verbände siehe auch Schmuhl, 1987, S. 138 ff. 23 Lösener, 1961, S. 280f. 24 Wiedergegeben bei Kater, 1987, S. 330. Unzufriedenheit in diesem Sinne klingt auch bei Schulz, 1934, S. 62 an, wenn er feststellt: „ . . . immer noch..." 3.641 jüdische Ärzte seien vorhanden. 25 RGBl. 1938 I, S. 969. 26 RGBl. 1938 I, S. 1310. 27 RGBl. 1938 I, S.969§2. 28 RGBl. 1933 I, S. 187.

128

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

sungstechnik hinaus inhaltlich nachgewiesen werden kann. Dazu bieten sich die 4., 5., 6. sowie die 8. VO an. Diese Verordnungen stimmten in weiten Teilen nahezu wörtlich überein; beispielsweise bei der Festlegung der Kündigungsmodalitäten von Dienstverträgen 29 . Später wird noch zu prüfen sein, ob diese inhaltliche Verknüpfung schlicht durch den bestehenden Sachzusammenhang — alle vier Verordnungen richteten sich gegen freie Berufe — erklärbar ist und somit die hier aufgestellte Annahme zunehmender Systematisierung allein im Bereich der freien Berufe gilt oder aber über diesen Sachzusammenhang hinaus Gültigkeit beanspruchen kann. 3. Diskriminierungsziel und Ausgrenzungserfolg

a) Diskriminierungsziel Die Diskriminierungsintention geht klar aus dem Inhalt hervor: Jüdische Ärzte sollten nicht weiter praktizieren. Eine Reduzierung auf diesen Inhalt ließ den ideologisch rassischen Hintergrund, der als Motiv Teil der unmittelbar im Gesetzestext zum Ausdruck kommenden Ausgrenzungsabsicht und daher Maßstab der Beurteilung des objektiv erreichten Ausgrenzungserfolges ist, unberücksichtigt. Die Intention, jüdischen Ärzten vollständig die Praktizierung ihres Berufs zu verbieten, wird getragen von demselben antisemitischen Leitmotiv, das im GZR zum Ausdruck kommt: Wie der Beruf des Anwalts bietet der des Arztes Juden die Möglichkeit, „ . . . mit allen Fasern (ihres) seele(n)- und kulturzerstörenden Charakters bei allen Gastvölkern ... einzudringen" 30 . Der Beruf des Arztes sei ein Vertrauensberuf. „Der durch Krankheit Erschütterte braucht und sucht auch geistige Anlehnung und erwartet sie von dem, der ihm in seiner Not helfen soll. Dem gegenüber ist er am aufgeschlossensten und dadurch dringt ein Arzt in das Seelenleben seiner Patienten ein. Das hat der Jude erkannt. Aus der Vertrauensstellung des Arztes ... heraus versucht er, in das Seelenleben seines Gastvolkes einzudringen, um dort destruktiv entartend zu wirken und um so das Gastvolk immer bereiter zu machen zur Aufnahme der jüdischen Unkultur, des jüdischen Giftparasiten" 31 . Oben 32 wurde bereits die Eingliederung dieses Seelenmotivs in den hergebrachten Antisemitismus nachgewiesen. Ganz entsprechend bediente man sich

29

Vgl. § 6 der 4. VO (RGBl. 1938 I, S. 969) mit § 2 der 5. VO (RGBl. 1938 I, S. 1403), mit § 3 der 6. VO (RGBl. 1938 I, S. 1545) und § 6 der 8. VO (RGBl. 1939 I, S. 47 f.). 30 Noack, 1938, S. 2793. 31 Noack, 1938, S. 2793. Die schon in dieser Diktion zum Ausdruck kommende sozialdarwinistische Einstellung hat Schmuhe, 1987, S. 173 ff. bzgl. der nationalsozialistischen Aktionen gegen sog. „lebensunwertes Leben" beschrieben und dabei insbesondere den teilweise massiven Widerstand der Kirchen nachgezeichnet. 3 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, . I . 3 .

1. Abschn. Β. Erwerbsmöglichkeiten — Verordnungen zum RbG

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dieses antisemitischen Vorurteils zur Begründung und Zielsetzung legislativer Maßnahmen gegen die Ärzte. Neben dem Grund, der im rassischen Antisemitismus selbst zu sehen ist, findet sich nämlich das Argument, Juden müßten ausgeschaltet werden, weil sie, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, in einem erhöhten Maße repräsentiert seien, das zurückgedrängt werden müsse 33 . Die hohe Akzeptanz dieses Motivs und seiner Prämisse, eine Überrepräsentierung sei negativ zu beurteilen, mag nicht zuletzt auf Konkurrenzneid rückführbar gewesen sein. Begünstigt wurde die hohe Akzeptanz ferner von der Unkenntnis historischer Zusammenhänge, deren Ergebnis, unabhängig vom beruflichen Wollen der jüdischen Bevölkerung, diese Überrepräsentierung war 3 4 . Resümierend kann festgehalten werden, daß die Intention, Juden auszuschalten, bei der Ärzte- und bei der Anwaltschaft von den gleichen zwei Leitmotiven getragen war: dem Motiv der Zurückdrängung der Überrepräsentierung und dem des rassischen Antisemitismus. Zugleich ist erkennbar, daß die tatbestandlich nachgewiesene Verwandtschaft zwischen Gesetzen gegen Juden in den freien Berufen auf der gleichen Motivation beruht. Belege, die diese zweite Ausgrenzungsintention, die im Verbleib eines Prozentsatzes jüdischer Ärzte als bloße sogenannte Krankenbehandler allein für Juden lag, nachweisen, finden sich nicht. Stellt man den Verbleib dieser wenigen Ärzte in den Gesamtzusammenhang nationalsozialistischer Judenpolitik ein, so läßt sich sagen: I m Verbot, Nichtjuden zu behandeln, kommt die Trennungsintention zum Ausdruck. Daneben deutet die dem Prozentsatz der jüdischen Bevölkerung angepaßte Zulassungszahl sogenannter Krankenbehandler auf das Ziel, eine separate jüdische Gesundheitsvorsorge zu etablieren, hin 3 5 . Zugleich 33

Schulz, 1934, S. 58 f. Obwohl Juden im Mittelalter diskriminiert wurden, bediente sich selbst der Adel der Kunst jüdischer Ärzte. Diesem Umstand dürfte es zu verdanken sein, daß in Frankfurt Juden bereits 1678 zum Medizinstudium zugelassen wurden und ab 1721 ihre Promotion möglich war. Es war deshalb nicht erst die Emanzipation im Gefolge der Französischen Revolution, die jüdische Mediziner hervorbrachte. Andererseits gab dieses historische Ereignis gerade durch die Übernahme der französischen Ideale in den einzelnen deutschen Staaten den schon vorhandenen jüdischen Ärzten breitere Wirkungsmöglichkeiten. Entscheidend gefördert wurde diese Entwicklung hin zu den freien Berufen durch eine ausgrenzende Praxis im Staatswesen. Selbst nach der rechtlichen Gleichstellung blieben Juden faktisch staatliche Berufe verschlossen (dazu Kudelien, 1985, S. 57 ff.). Der Anteil jüdischer Ärzte war also nichts anderes als das Ergebnis lang geübten Antisemitismus, und insoweit war die Spezialisierung auf bestimmte Berufssparten aufgezwungen. Diese Erklärungen wurden jedoch durch den vorgestellten rassischen Antisemitismus, der in seiner Einfachheit leichter akzeptiert wurde als komplexe historische Vorgänge, verdrängt. 35 Kater, 1987, S. 332 hat zugleich eine Erklärung dafür gegeben, wieso es im Gegensatz zu den praktizierenden Rechtsanwälten nicht zur Regelung von Ausgleichs- und Abwicklungsmodalitäten kam: Sie auf dem Verwaltungswege zu reglementieren war entbehrlich, da die meisten Krankenbehandler in den israelitischen Krankenhäusern der 34

9 Tarrab-Maslaton

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

findet sich hier wiederholt die Absicht, Juden nur noch in dem Umfang eine berufliche Tätigkeit zu erlauben, die ihrem prozentualen Anteil an der Bevölkerung entsprach 36 . b) Ausgrenzungserfolg Im Juli 1938 waren ca. 3100 jüdische Ärzte im Deutschen Reich tätig 3 7 . Sie verloren ihre Bestallungen, und lediglich 709 durften als sogenannte Krankenbehandler mit einer widerruflichen Genehmigung Juden weiterbehandeln. Bedenkt man, daß im Jahre 1938 etwa 200 000 38 Juden medizinisch zu versorgen waren, wird ein qualitativer Diskriminierungseffekt des Approbationsentzuges deutlich. Die medizinische Versorgung der jüdischen Bevölkerung verschlechterte sich extrem durch die geringe Zahl verbliebener Ärzte, die von Juden konsultiert werden konnten, zumal sie hauptsächlich in den israelitischen Krankenhäusern beschäftigt waren. Eine Stigmatisierung bewirkte das Gebot, sich als sogenannte Krankenbehandler bezeichnen zu müssen. Trotz gleicher Qualifikation erfolgte so öffentlich, d.h. bereits am Türschild, eine Diskriminierung, die darüber hinaus die Parallelität zwischen der 4. und 5. VO zum RbG zeigt. Zusammenfassend ist die Erreichung des gewünschten Erfolges — Separierung und kollektives Berufsverbot — zu konstatieren.

C. Die 1. VO zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12.11. 1938 (VAJW) I. Umstrukturierungen als Voraussetzung wirtschaftlicher Diskriminierung Die VAJW ist signifikant für die Ende 1937 einsetzende Diskriminierung der Juden in allen Wirtschaftsbereichen. So wie der VAJW wurde den nachfolgenden legislativen Maßnahmen der Weg mittels der bereits angedeuteten personellen Umstrukturierung geebnet. Diese Neuordnung war indes nicht allein personeller Natur, sondern war zusätzlich von der Überantwortung der sogenannten Arisierung an ein neues Staatsorgan mit umfassender Machtfülle gekennzeichnet.

Kultusgemeinden Beschäftigung fanden. Letztere existierten sogar noch während der Deportationen. 36 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.3.a). 37 Kudelien, 1985, S. 75 und Leibfried, 1982, S. 11 unter Bezugnahme auf statistisches Material. 38 Eine genaue Zahl für das Jahr 1938 fehlt. Im Januar 1939 gab es 221.763 Juden, von denen jedoch 25.783 ausländische Juden waren (Adler/Rudel, 1959, S. 165).

1. Abschn. C. Erwerbsmöglichkeiten — Ausschaltungsverordnung

131

Beide Fakten, die personelle Neuordnung und die Schaffung eines neuen Organs, müssen bei den zukünftig zu erörternden legislativen Maßnahmen nach 1937 beachtet werden. 1. Schachts Einfluß und Umorganisation des Reichswìrtschaftsminìsterìums

Die Rolle Schachts eignet sich dazu, die personellen Veränderungen, die die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung in der Wirtschaft ermöglichten, herauszuarbeiten. 1934 hatte Hitler dem Reichsbankpräsidenten Schacht das Wirtschaftsministerium offeriert. Schachts Sachkompetenz stand außer Frage und die durch ihn zu erreichende wirtschaftliche Konsolidierung stellte die wichtigste Voraussetzung zur Wiederaufrüstung dar 1 . Dabei war der wirtschaftsprogrammatische Ansatz Schachts keineswegs neu. Neomerkantilistischen Plänen entsprechend hatte Schacht Hitlers Frage, wie er (Schacht) eine wirtschaftliche Konsolidierung, insbesondere eine Verbesserung der negativen Devisenlage des Reiches erreichen wolle, beantwortet: „Ich würde nie mehr kaufen, als ich bezahlen kann und ich würde möglichst bei den Ländern kaufen, die auch bei mir kaufen" 2 . Eine neomerkantilistische Position, mit der sich der Reichsbankpräsident schon in seiner in Kiel erschienenen Dissertation „Der theoretische Gehalt des englischen Merkantilismus" 1899 auseinandergesetzt hatte. Allein die Durchsetzung dieses wirtschaftlichen Konzepts, das einen ungestörten Außenhandel voraussetzte, begründete Schachts Position den Juden wie auch seine Forderung Hitler gegenüber, Juden wirtschaftliches Agieren wie bisher zu erlauben 3 . Hatte die eingeräumte wirtschaftliche Handlungsfreiheit und die Rücksicht auf Juden konkret das Ziel, eine Finanzierung der Aufrüstung zu ermöglichen, so deutet sich bereits an, daß mit Erreichung der Wiederaufrüstung die Einflußnahme Schachts und der damit einhergehende Kurs der jüdischen Bevölkerung gegenüber verändert werden würde. Die Entwicklung der Jahre 1934-37 bestätigte dies. Gleich zu Beginn seines Ministeramtes konnte Schacht die Demission Feders erreichen 4, eines Parteiideologen erster Stunde, der bereits 1932 in seiner Schrift „Kampf der Hochfinanz" nationalsozialistische Wirtschaftsprogrammatik festgelegt hatte. I m Frühjahr 1936 war Schachts Position so stark, daß er eine offizielle Balkanreise als 1

Diese Aufgabe der gesamten deutschen Wirtschaft nennt Hitler selbst in seiner Denkschrift über den Vierjahresplan; wiedergegeben ist dieser Text in VJhZG 1955, S. 205f.; ähnlich beurteilte auch v.Krosigk, 1951, S. 186f. Schachts Position. 2 Schacht, 1953, S. 403; zitiert ist dieser Wortwechsel auch bei Boelcke, 1983, S. 77. 3 Schacht, 1953, S. 320. 4 Treue, 1960, S. 189 zeichnet diesen Konflikt nach und deutet dabei an, daß es für Schacht ohne größere Schwierigkeiten möglich gewesen war, den Parteiideologen Feder aus seiner Position zu verdrängen. *

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

höchster staatlicher Repräsentant des Reiches in Wirtschaftsfragen absolvierte 5 . Mögen andere Faktoren, insbesondere die beginnenden Olympischen Spiele eine Milderung der antisemitischen Politik im Jahre 1936 zusätzlich bewirkt haben, so war Schachts großer Einfluß dafür ein weiterer Grund. Im Jahre 1936 zeichnete sich bereits erstmals ein Konflikt zwischen Göring und Schacht ab. Göring war am 27. April von Hitler zum obersten Koordinator in allen Rohstoff- und Devisenfragen ernannt worden. Während Schacht bis in das Jahr 1937 hinein die immer noch negative Devisenbilanz betonte, einer inflationären zusätzlichen Geldschöpfung entgegentrat und damit letztlich Hitlers Aufrüstungspläne verzögerte, blieb Göring Hitler ergeben 6. Dieser Konflikt eskalierte im Herbst 1936. Göring sah sich heftiger Kritik Schachts ausgesetzt gegenüber den von Göring vorgetragenen wirtschaftlichen Plänen Hitlers. Unabhängig von der Devisenlage verlangte er nämlich, sofort mit einer völlig autarken Produktion kriegswichtiger Güter und Rohstoffe zu beginnen7. Wie Schacht schon mit finanziellen Argumenten dem laufend entgegengetreten war, so erneuerte er seine Kritik, indem er wirtschaftliche Boykottmaßnahmen der anderen Staaten und dadurch die Ruinierung der deutschen Exportwirtschaft vorhersagte. Göring hingegen, dem es an wirtschaftlichem Sachverstand nach eigener Aussage fehlte 8 , entgegnete: „Die Durchführung des Befehls des Führers ist ein unumgängliches Gebot" 9 . Durch diese unbedingte Treue wuchs Görings Einfluß stetig. Nachdem Schacht zu Beginn des Monats November 1937 merkte, daß jegliche Argumentation sinnlos geworden war, drängte er Hitler, ihn zu entlassen. Dem wurde am 26. November 1937 entsprochen. Seine Demission hatte umfassende personelle Änderungen im Reichswirtschaftsministerium zur Folge. Einige Beamte nutzten den sich so manifestierenden zunehmenden NS-Einfluß 10 , um sich der wirtschaftlichen Diskriminierung der Juden durch Versetzung in Referate, die nicht mit der sogenannten Judenfrage zu tun hatte, zu entziehen; so etwa der Leiter des Referats „Abwehr unzulässiger Eingriffe in die Wirtschaft", Hoppe 1 1 . Die antisemitische Aufgabe, die dem Reichswirtschaftsministerium zugedacht war, geht aus der Aufstellung einer vollständig neuen Abteilung, benannt Judenfragen, die der ehemalige SAFührer Krüger leitete, hervor. Im März 1939 bestand die Abteilung aus einem Grundsatzreferat, einem Referat „Antisemitische Maßnahmen im Ausland" und dem „Arisierungsreferat" 12 . Krüger nahm seine Aufgabe umfassend wahr

5

Treue, 1960, S. 193. Schweitzer, 1956, S. 359. 7 Wiedergegeben bei Treue, 1960, S. 196 ff. 8 Treue, 1960, S. 188 m.w.N. 9 Bei Schweitzer, 1956, S. 349. 10 Die Organisation des Reichswirtschaftsministeriums unter Anwendung des Führerprinzips ist aus nationalsozialistischer Sicht von Quecke, 1941 dargestellt worden. 11 Dessen Versetzungswunsch gibt Boelcke, 1983, S. 211 wieder. 6

1. Abschn. C. Erwerbsmöglichkeiten — Ausschaltungsverordnung

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und schrieb den Standardkommentar zu den sogenannten Arisierungen mit dem Titel „Lösung der Judenfrage in der deutschen Wirtschaft". In der Einleitung des Kommentars wird in der Diktion sein rassischer Antisemitismus deutlich. Er schreibt unter dem Titel der Einleitung „Schöpferisches oder parasitäres Judentum": „So oft Juden im Laufe der Weltgeschichte in einen anderen Volkskörper eingedrungen sind, entstand... ein Judenproblem... Dieses Problem ergibt sich bei allen Wirtsvölkern ..." und würde unter dem Stichwort der sogenannten Judenfrage thematisiert 13 . 2. Der Beauftragte des Vierjahresplans, Rechtsquellen und Einordnungsprobleme

Göring war kurze Zeit in Personalunion Beauftragter des Vierjahresplans (BVP) und Wirtschaftsminister. In der erstgenannten Funktion bildete der BVP ein zentrales Organ zur Verwirklichung der wirtschaftlichen Verfolgung der Juden, die durch eine entsprechende Machtfülle ermöglicht wurde. a) Rechtsquellen Die Kompetenz Görings leitete sich aus der „Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplans" her 1 4 . Darin wurde festgelegt: „ . . . Generaloberst Göring trifft die zur Erfüllung der ihm gestellten Aufgabe (Durchführung des Vierjahresplans) erforderlichen Maßnahmen und hat soweit die Befugnis zum Erlaß von Rechtsverordnungen und allgemeinen Verwaltungsvorschriften". Darüber hinaus wurde ihm unmittelbare Weisungsberechtigung gegenüber allen Behörden und Parteiorganisationen eingeräumt. Wenngleich die nachfolgend zu skizzierende Aufteilung des Amtes nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik diente, so gaben die einzelnen Geschäftsgruppen daneben auch die Mögichkeit, in einzelnen Sachbereichen antisemitische Politik wirtschaftlich zu realisieren. Das Amt gliederte sich in mehrere Geschäftsgruppen, wodurch bereits deutlich wird, daß die antisemitische Aufgabe nicht im Vordergrund stand. Die vier Geschäftsgruppen bestanden aus der Geschäftsgruppe „Preisbildung", „Ernährung", „Devisen" und „Forsten", und diese jeweiligen Gruppen erließen eine Fülle spezifischer Verordnungen in ihren Sachbereichen 15. Neben diesen 12

Bei Boelcke, 1983, S. 372 Anm. 81 findet sich diese Aufstellung und auch weitere Hinweise auf die personelle Zusammensetzung des Reichswirtschaftsministeriums. 13 Krüger, 1940, S. 9; wegen dieser Funktion erhielt Krüger intern im Reichswirtschaftsministerium den Beinamen „Judenkrüger" (nach Boelcke, 1983, S. 211). 14 RGBl. 1936 I, S. 887. 15 Allein die Geschäftsgruppe „Preisbildung" erließ bis Mitte 1937 folgende Verordnungen: Verbot von Preiserhöhungen (RGBl. 19361, S. 955), Lebensmittelvertrieb (RGBl. 1937 I, S. 428), Wild- und Geflügel VO (RGBl. 1936 I, S. 1007 f.), Fleisch- und

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Gruppen gab es Generalbevollmächtigte, die dem Amt angegliedert waren, in über einem Dutzend Sachgebieten über die Bauwirtschaft, das Kraftfahrwesen bis hin zur Abteilung technischer Nachrichtenmittel 16 . Organisatorisch gab es Überschneidungen mit dem Reichswirtschaftsministerium. Göring gliederte bis auf die Geschäftsgruppe „Preiskontrolle" die übrigen Gruppen in das Wirtschaftsministerium ein und machte die Geschäftsgruppenleiter zu den Leitern der Abteilungen im Reichswirtschaftsministerium. So hatte Göring, begünstigt durch den Umstand, daß der neue Wirtschaftsminister Walter Funk völlig parteiuntergeben war, die gesamte staatliche Wirtschaftsmacht in einer Person vereinigt 17 . b) Einordnungsprobleme Die Festlegung der Kompetenz Görings kann verdeutlichen, welche inhaltlichen Möglichkeiten er hatte, um die sogenannte Lösung der Judenfrage auf wirtschaftlichem Gebiet voranzutreiben und beleuchtet zugleich seine Position im nationalsozialistischen Staat. Die Zuständigkeit des BVP wurde nach dem Ziel des Vierjahresplans bestimmt; es lag in der wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Deutschen Reiches. Formal konnte dabei die Kompetenz des BVP an den durch ihn bereits ergangenen Vorschriften festgemacht werden. In der „2. VO zur Durchführung des Vierjahresplans" 18 hatte der BVP Vergehensstrafen bei Verstößen gegen seine Anordnungen vorgesehen. Dies war nur möglich, weil seine Rechtsverordnungen Gesetzesqualität hatten 19 . Die Kompetenz zum Erlaß solcher Verordnungen war keine ausschließliche. Vielmehr verblieb der Reichsregierung im gleichen Sachgebiet eine entsprechende Kompetenz. Feststellbar war dieses Faktum im Regierungsgesetz über die Bestellung eines Reichskommissars für die Preisbindung 20 und in dem Gesetz gegen Wirtschaftssabotage 21. In der gemeinsamen Verabschiedung dieser Gesetze durch die Reichsregierung und dem BVP lag ein zusammenwirkender Gesetzesakt. Wurstwaren (RGBl. 1936 I, S. 1141), ähnliche VO ergingen für Getreide, Kartoffeln, Weiden, Holz, Spinnstoffe, Düngemittel, Papier, Schmieröle und Kraftfahrzeugteile. 16 Tenenbaum, 1956, S. 122, der darüber hinaus angibt, es hätten ursprünglich zwei weitere Geschäftsgruppen bestanden. 17 Boelcke, 1983, S. 185 f. hat Funks Ära dementsprechend als in jeder Hinsicht unbedeutend beschrieben. 18 RGBl. 1936 I, S. 936. 19 Bossung, 1937, S. 116ff. sieht darin einen qualitativen Beweis, daß es dem nationalsozialistischen Recht gelungen sei, sich von der Weimarer Verfassung zu lösen, denn in ihr sei das Verordnungsrecht zur völlig abhängigen AusführungsVO zurückgedrängt gewesen, während im nationalsozialistischen Staat auf dem Verordnungswege die Regierung materiellen Gesetzen schneller Geltung verschaffen könne. 20 21

RGBl. 1936 I, S. 422. RGBl. 1936 I, S. 999.

1. Abschn. C. Erwerbsmöglichkeiten — Ausschaltungsverordnung

135

Weiterhin ging man damals davon aus, der BVP leite sein Gesetzgebungsrecht vom Führer selbst ab; Göring deshalb an keine Mitwirkung anderer gebundene Kompetenz habe, weil sie wegen der Ableitung vom Führer selbst einer Gesetzeskompetenz gleichstehe22. Daraus wurde gefolgert, die so begründete Gesetzgebungsqualität bewirke, daß die Gesetze und Verordnungen, die der BVP erlasse, sogar bestehendes Reichsrecht ändern könnten. Schließlich erlaube diese Kompetenz die Feststellung, daß es der Macht des Führers entsprechend keine Begrenzung der Gesetzgebungskompetenz des BVP gebe. Sie entziehe sich wegen dieser Ableitung wie die Rechtssetzung des Führers jeder gerichtlichen Überprüfung. Letztere sei im NS-Staat für politische Akte auch nicht mehr zu fordern, da gerichtliche Überprüfung Ausdruck des im NS-Staat obsoleten Prinzips der Gewaltenteilung sei 23 . War zu Beginn der NS-Herrschaft die diktatorische Regierungspraxis ein das Ermächtigungsgesetz nötig machendes Ziel 2 4 und hatte sich bezüglich Hitlers Position diese Praxis verfestigt 25 , so zeigte sich zum Jahreswechsel 1937/38 an der soeben nachgezeichneten damaligen staatsrechtlichen Bewertung der Position des BVP eine weitere Facette der NS-Diktatur. Offen wird das zentrale demokratische Prinzip der Gewaltenteilung als überwunden und durch die zentrale Gewalt des Führers ersetzt erklärt. Diese Gewalt sei unbeschränkbar, mithin einer gerichtlichen Kontrolle entzogen. I n der Übertragbarkeit dieser uneingeschränkten Macht auf den BVP tritt die Vollständigkeit der Diktatur zutage. Unumschränkte, unkontrollierte, zentrale Macht ist nicht mehr an die Person des Führers gebunden, sondern zeichnet die Funktion anderer Staatsorgane, hier des BVP, ebenfalls aus 26 . Diese neue Qualität verdient verstärkte Beachtung bei der Analyse der antisemitischen Politik auf wirtschaftlichem Gebiet. Zwar hatte der BVP nicht in erster Linie zur Aufgabe, antisemitische Wirtschaftspolitik zu realisieren. Er hatte aber zentral unumschränkte Machtbefugnisse zur Sicherstellung des Vierjahresplanes. Eine Machtfülle, die einem einzelnen Staatsorgan wirtschaftliche Diskriminierung erlaubte.

22

So Bossung, 1937, S. 116ff. Bossung, 1937, S. 116ff. 24 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A . I . l . 25 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.I. 26 Puppo, 1988, S. 180f. sieht die verstärkte Position durch den Umstand bestätigt, daß Hitler durch Führererlaß Görings Macht ausweiten konnte, ohne daß ihm eine Rechtsquelle diese Möglichkeit gab, da das Ermächtigungsgesetz nur der Regierung erlaubte, Gesetze zu erlassen. 23

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

II. Inhalt, Entwicklung und Handlungsspielräume 1. Inhalt der VAJW

Bereits durch Änderung der Gewerbeordnung hatte man Juden das Bewachungsgewerbe, das Detektivwesen, den Immobilienhandel, das gewerbsmäßige Vermittlungswesen von Immobilienverträgen und Darlehen, das Heiratsgewerbe und das Fremdenführerwesen untersagt 27 . Einen ungleich vollständigeren Schritt zur Beschneidung von Erwerbsmöglichkeiten bildete die V A J W 2 8 . Göring hatte diese Verordnung „ . . . aufgrund der Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplans.. . " 2 9 erlassen. Juden im Sinne des RbG war es ab 1.1. 1939 verboten, Einzelhandelsverkaufsstellen, Versand- oder Bestellkontore sowie Handwerksbetriebe zu betreiben (§ 1 Abs. 1). Ebenso wurde ihnen verboten, „ . . . auf Märkten aller Art, Messen oder Ausstellungen Waren oder gewerbliche Leistungen anzubieten, dafür zu bewerben oder Bestellungen darauf anzunehmen" (§ 1 Abs. 2). Bei Verstoß gegen dieses Verbot wurde den jüdischen Gewerbetreibenden, zu deren Definition ausdrücklich auf die 3. VO zum RbG verwiesen wurde 3 0 , polizeiliche Schließung angedroht (§ 1 Abs. 3). § 2 der VAJW verbot jedwede Betriebsführertätigkeit, d.h. Tätigkeit als Unternehmer 3 1 . Juden konnten somit keine Unternehmer mehr sein. Über selbständige Tätigkeiten hinaus konnte jüdischen leitenden Angestellten innerhalb von 6 Wochen unter Verlust der Versorgungsbezüge und Abfindungsansprüche gekündigt werden (§ 2 Abs. 2). Weiterhin wurde Genossenschaften verboten, jüdische Mitglieder zu haben, und ipso iure wurde deren Ausscheiden angeordnet, wodurch eine besondere Kündigung entbehrlich war (§ 3). Jegliche genossenschaftliche Erwerbsmöglichkeit, sei es in der Landwirtschaft, im genossenschaftlich organisierten Bank- oder Versicherungswesen, war damit beseitigt. M i t diesem Ausschluß wurden gleichzeitig den Juden, die Mitglied in Wohnungsgenossenschaften waren, ihre Wohnungen genommen, da solche nur von Genossenschaftsmitgliedern bewohnt werden durften 32 . So verschieden die wirtschaftlichen Sparten, in denen Juden eine weitere Tätigkeit verboten wurde, sind, so gleich ist das dahinter stehende Prinzip. Die Verbote nennen zwar Branchen, knüpfen aber an Organisationsformen der Erwerbstätigkeit an. Verbot die Gewerbeordnungsnovelle genau bezeichnete

27

RGBl. 1938 I, S. 823. RGBl. 1938 I, S. 1580. 29 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.I.2. 30 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.I.2.; die dort vorgenommene Beurteilung der 3. VO als Vorbereitung teilt auch Puppo, 1988, S. 276. 31 Dazu verweist die VAJW auf die Legaldefinition des „Betriebsführers": „ I m Betriebe arbeiten der Unternehmer als Führer des Betriebes ...",§ 1 des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit, RGBl. 1934 I, S. 45. 32 Drobisch, 1973, S. 206. 28

1. Abschn. C. Erwerbsmöglichkeiten — Ausschaltungsverordnung

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Branchen, so nennt die VAJW Einzelhandelsverkaufsstellen, Versandgeschäfte, gewerbliche Leistungsanbietungen auf Messen und Ausstellungen, also branchenübergreifende wirtschaftliche Organisationsformen 33. Gleiches gilt hinsichtlich der personell ausgerichteten Beschränkungen. Es wird nicht festgelegt, in welchen Branchen jüdischen Unternehmern die Arbeit versagt ist, sondern die Betätigungsform Unternehmer als solche wird verboten. Schließlich gilt wiederum in allen Wirtschaftszweigen die Kündigungsmöglichkeit gegenüber leitenden Angestellten. 2. Entwicklung

Beide zur VAJW erlassenen Durchführungsverordnungen 34 kennzeichnen die Entwicklung der VAJW, wobei die 1. DVO erlaubt, einen weiteren Ausgrenzungsaspekt innerhalb der wirtschaftlichen antisemitischen Maßnahmen zu zeigen. Zwei Verfahren statuierte die 1. DVO, die die Auflösung der Juden verbotenen Gewerbeunternehmen regelte: ein Überführungs- und ein Abwicklungsverfahren. Letzteres war als Regelfall gedacht, denn grundsätzlich sollten Einzelhandelsverkaufsstellen, Versandgeschäfte oder Bestellkontore von Juden aufgelöst und abgewickelt werden (§ 1 Abs. 1 der 1. DVO). Ausnahmsweise konnte eine Weiterführung im Anschluß an die Überführung des Unternehmens in nichtjüdisches Eigentum genehmigt werden, soweit dies zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung erforderlich war (§ 2 Abs. 2 der 1. DVO). Die Abwicklung nach § 2 bestimmte, daß der Verkauf oder die Versteigerung von Waren an Letztverbraucher unzulässig seien. Alle Waren müßten zunächst „ . . . der zuständigen Fachgruppe oder Fachvereinigung oder deren bezirklicher oder fachlicher Untergliederung angeboten werden"; sie hatte für die Unterbringung der Güter zu sorgen, und schließlich sollte eine Bewertung durch vom Präsidenten der Industrie- und Handelskammern zu bestimmende Sachverständige erfolgen (§ 2 Abs. 1 der 1. DVO). Falls die Fachgruppe bzw. die anderen genannten Organisationen es für erforderlich hielten, konnten sie einen Abwickler bestellen35, dessen Kosten von dem abzuwickelnden Unternehmen

33 Wagner9 1941, S. 76 bewertet die VAJW insoweit als Fortsetzung der bereits in der Gewerbeordnung eingeleiteten Entfernung der Juden aus einzelnen Gewerbezweigen hin zur „sogenannten Gesamtentjudung". 34

1. DVO RGBl. 1938 I, S. 1642; 2. DVO RGBl. 1938 I, S. 1902. Regelmäßig sollte der jüdische Unternehmer einen Gewerbebetrieb selbst abwickeln, die Bestellung des Abwicklers also nur ausnahmsweise erfolgen. In beiden Fällen kam es jedoch nicht zum freihändigen Verkauf, sondern zwingend zur Anbietung des Lagers an die staatlichen Stellen, und erst sie konnten in Ausnahmefällen einen Verzicht auf den Ankauf erklären (Wagner, 1941, S. 118ff.). Sauer, 1966, hat im Auftrag der Archivdirektion Stuttgart Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime in zwei Bänden zusammengestellt. Umfassend gibt er in Bd. I auf S. 216 ff. eine 35

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

zu tragen waren (§3 der l . D V O ) . Schließlich wurde die Löschung der Handwerksbetriebe aus der Handwerksrolle angeordnet. Die 2. DVO gestaltete die personelle Ersetzung näher. Dem sogenannten Reichstreuhänder der Arbeit 3 6 oblag es danach, Betriebsführer zu benennen, die „ . . . die blutsmäßigen Voraussetzungen für den Erwerb des Reichsbürgerrechts (erfüllten)" 37 (§ 1 der 2. DVO). Die Ersetzung erstreckte sich zudem auf Juden, „ . . . die als gesetzliche Vertreter juristischer Personen und Personengesamtheiten ... Betriebsführer sind" (§ 2 Abs. 1 der 2. DVO). Dabei konnte der Reichstreuhänder von der Bestellung des Betriebsführers absehen, „ . . . wenn neben den Juden andere Personen als gesetzliche Vertreter Betriebsführer sind und dadurch eine ordnungsgemäße sozialpolitische Führung des Betriebes gewährleistet ist" (§ 2 Abs. 2 der 2. DVO). Des weiteren verbot man Juden, stellvertretende Betriebsführer zu sein (§ 3 der 2. DVO), verpflichtete sie, dem „Reichstreuhänder der Arbeit... unverzüglich Anzeige zu erstatten", falls § 3 oder § 2 vorlagen (§ 4 der 2. DVO) und ordnete die Entschädigungslosigkeit für alle persönlichen oder wirtschaftlichen Nachteile an (§ 5 der 2. DVO). Schließlich konnte der Reichsarbeitsführer Ausnahmen erlassen (§ 6 der 2. DVO). Inhaltlich verließ man mit der 1. DVO die Stufe der bloßen Erwerbsbeschränkungen, denn eine Folge der Erwerbsverbote — vorhandenes ungenutztes Betriebsvermögen — war so erfaßt; sie lag in einer vermögensrechtlichen Beschränkung. In engstem Zusammenhang mit den Erwerbsverboten stand somit ein Vermögenszugriff und damit ein weiterer Aspekt wirtschaftlicher Diskriminierung. Darüber hinaus wurde zukünftiger Erwerb verboten und zugleich die wirtschaftlichen Realwerte des jüdischen Unternehmens beseitigt. Ein Zugriff, der bei isolierter Betrachtung der l . D V O noch sektoral war, wurden doch durch sie nicht alle, sondern nur die unmittelbaren unternehmerischen Vermögensteile abgewickelt. Mittelbar kommt in der 2. DVO ebenfalls zum Ausdruck, daß neben Erwerbsbeschränkungen aktuell oder zukünftig Vermögenszugriffe eine weitere Facette wirtschaftlicher Diskriminierung schon bei den Vorschriften waren, die primär eine Erwerbsbeschränkung zum Inhalt hatten. § 5 der 2. DVO Schloß

Verfügung des Bezirksamtes Heidelberg vom 15.12.1938 an eine Schuhhandlung wieder: „ . . . Die Abwicklung haben sie gemäß § 3 der genannten Verordnung (gemeint ist die VAJW) selbst vorzunehmen. Das noch vorhandene Warenlager haben sie spätestens innerhalb einer Woche der Bezirksfachgruppe des Einzelhandels in Heidelberg, Schiffgasse 13, zum Verkauf anzubieten. Erst wenn diese ausdrücklich erklärt, daß ihr die Unterbringung der Ware nicht möglich ist, kann sie anderweitig veräußert werden ...". 36

Die Aufgaben der Reichstreuhänder waren im Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit geregelt (RGBl. 1934 I, S. 45 und 47 f.). Organisatorisch handelte es sich um Reichsbeamte, die der Dienstaufsicht des Reichsarbeitsministers unterstanden (§ 18) und hauptsächlich für die Erhaltung des Arbeitsfriedens in allen, einem größeren Wirtschaftsgebiet angehörenden Betrieben zu sorgen hatten (§ 1 i.V.m. § 19). 37 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.2. Fn. 36.

1. Abschn. C. Erwerbsmöglichkeiten — Ausschaltungsverordnung

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Entschädigungsansprüche aller Art aus. Durch Ersetzung des jüdischen Unternehmers (§ 1 der 2. DVO) mit einem nationalsozialistischen Betriebsführer hatte man die betrieblich-organisatorische Voraussetzung geschaffen, das Betriebsvermögen nationalsozialistischer Nutzung zugänglich zu machen. Ein Zulassen von Entschädigungsansprüchen hätte den erwirtschafteten Wert finanziell wenigstens teilweise an den jüdischen Unternehmer zurückgeführt und die nationalsozialistische Bewertung jüdischen Betriebsvermögens de facto rückgängig gemacht. Der Entschädigungsausschluß sicherte also im Zusammenhang mit personeller Umbesetzungsmöglichkeit die nationalsozialistische Nutzbarmachung bestehenden jüdischen Vermögens und stellt insoweit ebenfalls einen Vermögenszugriff dar. 3. Handlungsspielräume

Die VAJW und die 1. und 2. DVO eröffneten Handlungsspielräume. Ausgesprochen klar zeigt § 2 Abs. 2 der VAJW dies. Jüdischen leitenden Angestellten konnte gekündigt werden. Ob indes davon Gebrauch gemacht wurde, stand völlig im Belieben der Betriebsleitung. Je nach ideologischer Ausrichtung konnte betriebsintern vorhandener Antisemitismus ausgelebt werden, konnte er übergeordneten Betriebsinteressen, falls etwa der leitende Angestellte unentbehrlich war, untergeordnet werden, konnte man jedoch auch diese Kündigungsmöglichkeiten unberücksichtigt lassen. Nicht dem einzelnen Unternehmen, sondern staatlichen Stellen gaben demgegenüber die 1. und 2. DVO neue Spielräume. Die dem Reichstreuhänder der Arbeit gegebene Möglichkeit, von der Bestellung eines Betriebsführers abzusehen (§ 2 Abs. 2 der 2. D V O ) 3 8 , bot indes neben dieser staatlichen Stelle anderen Handlungsspielräume, erlaubte diese Vorschrift doch, die jüdische Betriebsleitung zu schützen, indem man etwa mittels der eigenen Parteizugehörigkeit „ . . . eine ordnungsgemäße sozialpolitische Führung des Betriebes ..." glaubhaft machte. Umgekehrt bot selbst diese Möglichkeit betriebsinternem Antisemitismus ein Einfallstor, da ohne die Ersetzung der jüdischen Betriebsleitung die „ . . . ordnungsgemäße sozialpolitische Führung des Betriebes ..." gefährdet war. Wie dieses Ausleben vorhandenen Antisemitismus betriebsintern gegen den jüdischen Unternehmer aussehen konnte, verdeutlicht ein Schreiben der Deutschen Arbeitsfront vom 11.4. 1938, das zugleich die Beteiligung dieser NSUntergliederung an der Schaffung solcher Handlungsspielräume bereits vor Erlaß der VAJW belegt: „Die Gefolgschaft der Leder A G Werke Neu-Isenburg überreichte dem Betriebsobmann Horst S. eine von allen Gefolgsleuten unterschriebene Liste, in welcher die Forderung aufgestellt wurde, daß der jüdische Angestellte und bisherige Betriebsführer Dr. Ernst Kaufmann den 38

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.2.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Betrieb verlassen sollte, da die Gefolgschaft es ablehne, noch länger unter einem Juden und für einen Juden zu arbeiten, sie wolle endlich, daß der Ertrag ihrer Hände für das Volk und nicht mehr für einen Juden verwendet werde .. . " 3 9 . Nur teilweise am Gesetzestext nachweisbar sind die von der l . D V O gewährten Diskriminierungsspielräume. Indem die Bestellung der für die Warenbewertung zuständigen Sachverständigen dem Präsidenten der jeweils zuständigen Industrie- und Handelskammern anheimgegeben wurde (§ 2 Abs. 2 Ziffer 2 der l . D V O ) 4 0 , konnte er durch diese Auswahl Einfluß bei der Warenbewertung nehmen. Je nach ideologischer Ausrichtung war es möglich, sich dazu eines „sattelfesten Parteigängers" oder eines anderen Sachverständigen zu bedienen, mit den zu erwartenden Abweichungen bei der Bewertung jüdischer Waren. In dieser Regelungslücke und deshalb nicht unmittelbar am Gesetzestext nachweisbar liegt die schärfste Diskriminierungsoption der 1. DVO. Geregelt ist die Warenverwahrung und die Abwicklung. Es fehlt indes eine Bestimmung darüber, wem die nach der Abwicklung verbleibenden Sachoder Finanzwerte zustehen, weshalb davon ausgegangen werden muß, daß sie in der Hand der für die Aufsicht über die Abwicklung zuständigen Stelle (§ 1 Abs. 1 VAJW i.V.m. §1 Abs. 2 der l . D V O ) oder, sofern Waren nicht in die Abwicklung gelangten, bei der „ . . . zuständigen Fachgruppe oder Zweckvereinigung oder deren bezirklicher oder fachlicher Untergliederung ..." (§2 Abs. 2 Ziffer 2 der 1. DVO) blieben. A n den jüdischen Eigentümer wurden sie nicht ausgekehrt 41 , sondern auf einem Sperrkonto gelassen. Die Führung dieser Konten durch NS-Parteigliederungen erlaubt die Annahme einer Verwertung, die im Ergebnis einem Entzug der finanziellen Werte gleichkam. In einem Erlaß des Reichswirtschaftsministeriums zeigt sich, wie sehr dort klar war, welche Möglichkeiten gerade die örtlichen Stellen hatten, denn der 39

Wiedergegeben bei Benz, 1989, S. 570. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.H.2.; zur Tätigkeit der Industrie- und Handelskammern stellten Brune, 1941, S. 40ff. und Maelcke, 1938, S. 1631 fest, daß die gutachterliche Tätigkeit der Kammern die wichtigste Voraussetzung einer funktionierenden Arisierung sei. 41 Zu diesem spezifischen Aspekt der VAJW äußert sich, soweit ersichtlich, in der wissenschaftlichen Diskussion nur Genschel, 1966, S. 200. Er stellt zwar fest, daß der Verlust für Juden bei Geschäftsauflösung größer sei als bei der Arisierung im Sinne eines Unternehmensverkaufs war, läßt jedoch offen, ob dem jüdischen Unternehmer, der von dem Verbot der VAJW betroffen war, ein Vermögensanteil verblieb. Umgekehrt stellt auch er fest, daß die Waren nach Ermessen der örtlichen Fachverbände verteilt werden konnten. Eine Entschädigung für jüdische Eigentümer oder gar Auskehrung etwaiger Verkaufsgewinne gibt Genschel dabei nicht an. Selbst bei Wagner, 1941, S. 118 ff. wird nur ausführlich beschrieben, daß die Forderungen der Gläubiger so wie staatliche Abwicklungskosten zu begleichen seien. Es finden sich keine Hinweise darauf, daß an den jüdischen Eigentümer eine Auskehrung zu erfolgen habe. Vielmehr stellt er auf S. 125 fest: „ U m auf alle Fälle eine befriedigende Abgeltung aller Forderungen zu erreichen, wurden die eingehenden Erlöse auf einem Sperrkonto gesammelt und solange auf diesem Konto geführt, bis aus der Verwertungssumme alle sich ergebenden Forderungen abgegolten waren." 40

1. Abschn. C. Erwerbsmöglichkeiten — Ausschaltungsverordnung

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Erlaß verbot den örtlichen Behörden, allein die Überführungsgenehmigung 42 zu erteilen. Vielmehr müsse dem Minister Bericht erstattet werden 43 . Es liegt nahe, hinter dieser Berichtspflicht eine Kontrollabsicht zu vermuten. Gerade bei der Überführung jüdischer Betriebe in arische Hände war dieses Bedürfnis vorhanden. Die übrige Erlaßpraxis auf Reichsebene läßt keine besondere Verankerung von Spielräumen erkennen. Angeordnet wurde, daß jüdische Einzelhandelsgeschäfte, die zu Weihnachten neu eröffnet haben, polizeilich zu schließen seien 44 , ausländischen Staatsangehörigen bis zum 31.12. 1938 die Weiterführung ihrer Geschäfte zu gestatten sei 45 und schließlich wurde betont, das Verbot des § 1 Abs. 2 der VAJW verbiete lediglich den Marktverkauf. Der vollständige Ausschluß jüdischer Bürger zugleich von Markteinkäufen sei hingegen gesetzeswidrig. Letztere Anordnung zeigt, daß es bei der VAJW auch zu einer nicht legislativen Ausgrenzung gekommen ist: Juden wurde über den Verkauf hinaus ebenso der Kauf von Waren auf Märkten verboten.

I I I . Diskriminierungsziel und Diskriminierungserfolg 1. Diskriminierungsziel

Während zu den meisten antisemitischen Gesetzen Primärquellen, die den Willen des Gesetzgebers wiedergeben könnten, fehlen, ist dies bei den drei am 12.11.1938 und der kurz danach auf den Weg gebrachten Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens anders 40 . Die Gesetzesintention ist in der Niederschrift einer Besprechung im Reichsluftfahrtministerium wiedergegeben 4 7 , deren Anlaß das am 7.11.1938 von Herschel Grynspan in Paris verübte Attentat an dem Botschaftsangehörigen vom Rath war 4 8 . Obwohl die Nationalsozialisten den anschließenden Pogrom, in dem Juden getötet, Synagogen verwüstet und vielfach geplündert wurden, als spontanen Volkszorn zu deklarie42

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.2. Erlaß des Reichswirtschaftsministeriums zur 1. DVO zur VAJW wiedergegeben bei Walk, 1981, S. 267. 44 Herrmann, 1974, S. 453 Nr. 110, der den Erlaß in seiner Dokumentation zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Rheinland-Pfalz und im Saarland wiedergibt. 45 Bei Walk, 1981, S. 269 Rn. 81. 43

46 VAJW (RGBl. 1938 I, S. 1580), VO über die Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit (RGBl. 19381, S. 1579), VO zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben (RGBl. 1938 I, S. 1581) undVO über den Einsatz jüdischen Vermögens (RGBl. 1938 I, S. 1668). 47 Diese Besprechung findet sich häufig, so etwa schon in „Der Prozeß", 1948, S. 499 und auch bei Lösener, 1961, S. 288 ff., der an der Besprechung teilnahm und seiner Ansicht nach wichtige Betonungen hervorhebt. 48 Details zum Hergang des Attentats und zur Person Herschel Grynspans finden sich bei Lauber, 1981, S. 52ff. und bei Döscher, 1988, S. 57ff.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

ren suchten, ist es angesichts der eindeutigen Quellenlage bewiesen, daß dieser Pogrom — euphemistisch als Kristallnacht bezeichnet — ein organisierter A k t nationalsozialistischer Gewalt war 4 9 . Neben diesen unmittelbar folgenden Ausschreitungen wurde die besagte Besprechung abgehalten, wobei damit nicht gesagt ist, daß die dort beschlossenen legislativen Akte spontan aus dieser Zusammenkunft hervorgingen. Insbesondere die VAJW konnte sich vielmehr auf einen entsprechenden Entwurf Funks aus dem Sommer 1938 stützen 50 . Ein genauer Hinweis, welche Teile der Besprechung welcher Verordnung zuzuordnen sind, ist schwierig, da keine genaue Trennung zwischen Arisierung im Sinne eines Unternehmenskaufs durch einen Arier und dem entschädigungslosen Warenentzug, wie er in der VAJW geregelt ist, gemacht wird. Daß es neben den entschädigungslosen Aneignungen von Waren auch einen Unternehmensverkauf geben sollte, ist allerdings eindeutig feststellbar, wenn Göring ausführt: „Der Jude wird aus der Wirtschaft ausgeschieden und tritt seine Wirtschaftsgüter an den Staat ab. Die Entschädigung wird im Schuldbuch vermerkt und wird ihm zu einem bestimmten Prozentsatz verzinst. Davon hat er zu leben. Es ist selbstverständlich, daß wir diese Arisierung nicht... zentral in Berlin machen können." 51 Deutlich anders sollte gegen bestimmte Geschäfte vorgegangen werden. „Zunächst gibt der Wirtschaftsminister bekannt, welche Geschäfte er überhaupt stillegen will, weil sie überbesetzt sind. Diese Geschäfte scheiden bei der Arisierung von vornherein aus. Die vorhandenen Waren sind für andere Geschäfte zum Verkauf freizustellen. Soweit sie nicht abgesetzt werden können, wird sich irgendein Weg finden, sie in die Winterhilfe einzuführen oder sonstwie zu verwerten." 52 . Zwischen Arisierung und Warenaneignung zukünftig unerwünschter Betriebe wurde also unterschieden. Eine Feststellung, die durch die Betrachtung der damaligen Arbeit der Industrie- und Handelskammern bestätigt wird. Brune 53 hebt hervor, daß die Kammern Gutachten zu bearbeiten hätten, die die Veräußerung jüdischer Betriebe betrafen. Hinsichtlich der Person des Erwerbers sei neben der persönlichen Zuverlässigkeit und Sachkunde auf vorhandenes Eigenkapital zum Erwerb des Betriebes zu achten. Zum Verhältnis der VAJW und dieses Prüfungsverfahrens führt er hingegen aus: „Die Prüfung der

49 Kemper/Haensel, 1950, S. 89ff.; Genschel, 1966, S. 177f.; Facius, 1959, S. 148; Adler, 1974, S. 37; Sauer, 1966, Bd. II, S. 8 ff.; Hofer, 1957, S. 291. Die drei zuletzt Genannten geben insbesondere Anordnungen an örtliche SA-Einheiten wieder, in denen der Auftrag zum Pogrom gegeben wird, während die ersteren sich lediglich auf diese Dokumente beziehen. 50 Wiedergegeben sind diese Dokumente bei Genschel, 1966, S. 187 und Puppo, 1988, S. 278. 51 "Der Prozeß", 1948, S. 499f. und Puppo, 1988, S. 284, der die VAJW ohne diese Differenzierung generell als entschädigungslose Enteignung beurteilt. 52 "Der Prozeß", 1948, S.499. 53 Brune, 1941, S. 45.

1. Abschn. C. Erwerbsmöglichkeiten — Ausschaltungsverordnung

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Sachkunde bei Käufern jüdischer Einzelhandelsverkaufsstellen durch die Industrie- und Handelskammern war nun bereits mit der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12.11.1938 in Wegfall gekommen, da durch diese Verordnung den Juden der Betrieb von Einzelhandelsverkaufsstellen vom 1.1.1939 ab untersagt worden war." In der Fußnote zu dieser Passage führt er §1 Abs. 1 der l . D V O an und nennt als Regelfall Auflösung und Abwicklung der Betriebe, wodurch ein Prüfungsverfahren, welcher Kaufpreis zu zahlen sei, entfiele. Daraus geht ebenfalls hervor, daß die Arisierung ein anderes Verfahren war und unmittelbar mit der Aneignung von Waren i.S.d. VAJW nichts zu tun hatte. Zugleich weist Görings Äußerung, „ . . . weil sie überbesetzt sind", auf ein Diskriminierungsmotiv und -ziel hin, verdeckt jedoch ein ebenfalls vorhandenes, nicht originär diskriminativ motiviertes Ziel. Die zu verurteilende Überbesetzung stellt ein klassisches Leitmotiv gerade des Antisemitismus gegen wirtschaftliche Betätigung der jüdischen Bevölkerung dar 5 4 . Die Zurückführung der Überbesetzung ist das motivierte Ausgrenzungsziel mit diskriminativem Charakter. Ein anderes Ziel der VAJW und ein dem vorausgehendes Motiv wird erst nach der Betrachtung der wirtschaftlichen Situation des Dritten Reiches 1938 klar. Schacht hatte diesbezüglich eine Denkschrift verfaßt, die die Gefahren der wirtschaftlichen Lage zeigte 55 , und wiederum Göring selbst räumte die angespannte, die Aufrüstung in Frage stellende Devisenlage ein. „Die materiellen Aufgaben: Die Aufgabe ist, das Rüstungsniveau von einem Stand von 100 auf einen Stand von 300 zu bringen. Dem stehen fast unüberwindliche Hindernisse entgegen, da schon jetzt Mangel an Arbeitern besteht, da die Kapazität der Fabriken voll ausgenutzt ist, da durch die Ausgaben des letzten Sommers die Devisenreserven erschöpft sind und da die Finanzlage des Reiches ernst und schon jetzt ein Defizit aufweist... Finanzen: Sehr kritische Lage der Reichsfinanzen. Abhilfe zunächst durch die der Judenschaft auferlegte Milliarde und durch die Reichsgewinne bei Arisierung jüdischer Unternehmen" 56 . Belegt ist damit zunächst das finanzielle Motiv der sogenannten SühneverOrdnung 57 54 Vgl. bereits oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.3.a). Belegt ist der Zusammenhang zwischen diesem klassischen antisemitischen Motiv und der VAJW auch in der Arbeit Wagners. Wagner, 1941, S. 6 ff. bezeichnet die Überbesetzung als Folge des jüdischem Wesen eigenen Strebens nach meistmöglicher wirtschaftlicher Macht. Konkret benennt er deshalb auf S. 78 die Rückführung als Ziel der VAJW. 55

Schacht, 1953, S. 494 und unter Bezugnahme darauf auch Boelcke, 1983, S. 217. Kemper/Haensel, 1950, S. 80. Da dies an späterer Stelle wichtig sein wird, ist schon hier daraufhinzuweisen, daß sich der kritische Punkt in erster Linie auf die wirtschaftliche und nur bedingt auf die Rohstofflage bezog. 57 VO über die Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit, RGBl. 1938 I, S. 1579; dazu später 2. Kapitel, 3. Abschnitt. 56

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

sowie der Arisierung und daß sie eine entsprechende Besserurig der finanziellen Lage zum Ziel hatten. Gleiches gilt indes ebenso für die VAJW. Nachgewiesen wurde bereits 58 , daß die VAJW ungeregelt ließ, wie die finanziellen Überschüsse der Abwicklung endgültig zu verwerten waren, sie also, da sie an die Juden nicht ausgekehrt wurden, dem Reich tatsächlich, wenigstens während der Zwangsverwaltung auf den Sperrkonten, verblieben 59 . Resümierend ist hinsichtlich der Motive und der Zielsetzung folgendes zu sagen: Der VAJW lag erstens das klassische antisemitische Motiv der Überbesetzung zugrunde, deren Reduzierung das diskriminierende Ziel der VAJW war, wodurch sie der Erwerbsbeschränkung diente. Zweitens ist ein nicht antisemitisches Motiv — Verbesserung der Devisenlage — feststellbar, und dieses Ziel sollte ebenso durch die finanziellen Ergebnisse der VAJW erreicht werden. 2. Diskriminierungserfolg

Quantitativ läßt sich der Ausgrenzungserfolg bezüglich des Diskriminierungsziels der Zurückführung der Überbesetzung in Teilbereichen der VAJW ausmachen. Im Juli 1938 waren 5800 jüdische Handwerksbetriebe verblieben, von denen im Dezember 1938 noch 345 existierten 60 . Nachweisbar ist allerdings nicht, ob die verbleibenden 345 Betriebe jüdische Unternehmen waren oder sich in Überführung befanden bzw. überführt waren. Da die VAJW keine Ausnahme zuließ, ist davon auszugehen, daß diese 345 lediglich von der Auflösung ausgenommen waren, d.h. in arische Hände überführt wurden 61 . Insgesamt nahm man also allen jüdischen Handwerkern mittels Auflösung oder Überführung die Möglichkeit, in den 5 800 Betrieben weiterhin tätig zu sein. Beachtet werden muß zusätzlich der Zeitpunkt der Erhebung. Die VAJW trat erst nach der Erhebung des Monats Juli 1938 in Kraft. Aus diesem Grunde muß offenbleiben, ob bei Erlaß der VAJW im November genau 5800 Betriebe vorhanden waren, und es ist deswegen nötig, die Zahl der von der VAJW betroffenen Betriebe etwas geringer zu veranschlagen. Weniger klar ist die quantitative Wirkung der VAJW bezüglich der Einzelhandelsunternehmen . Unter Bezugnahme auf Angaben der Textilzeitung Berlin vom 3.12.1938 und der Berliner Morgenpost vom 25.11. 1938, die Barkai als vermutlich authentische Wiedergabe offizieller Zahlen bewertet 62 , geht er von ca. 9000 jüdischen

58 59 60 61 62

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.3. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.3. Wiedergegeben sind diese Zahlen bei Barkai, 1986, S. 157 Fn. 16 m.w.N. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.2. Barkai, 1986, S. 155.

1. Abschn. C. Erwerbsmöglichkeiten — Ausschaltungsverordnung

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Einzelhandelsunternehmen aus. Zwar gibt es eine quasi-offizielle Statistik des Reichswirtschaftsministeriums 63, wonach 14803 Betriebe liquidiert wurden, und eine Addition der Zahl der Handwerksbetriebe mit der von Barkai angenommenen Zahl der Einzelhandelsverkaufsunternehmen scheint dessen Annahme von 9000 Einzelhandelsunternehmen zu bestätigen. Will man durch diese Addition die Zahl der 9000 Betriebe bestätigt sehen, so muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß Krüger den Begriff der Liquidation, für die er die Zahl 14803 nennt, ausschließlich im Zusammenhang mit der Durchführung der VAJW verwendete. Ob Krüger dies tat, ist indes zweifelhaft, denn er nennt 5976 entjudete Betriebe ohne zwischen den Fällen der Übernahme im Sinne des §4 VAJW i.V.m. §1 der l . D V O 6 4 und den Arisierungsfallen nach später ergangenen gesetzlichen Vorschriften zu differenzieren, weshalb die Zahl von 9000 von der VAJW betroffenen Einzelhandelsunternehmen lediglich wahrscheinlich ist. Überhaupt nicht zahlenmäßig nachvollziehbar ist die Wirkung des Ausschlusses genossenschaftlicher Beteiligungen und der Kündigungsmöglichkeit gegenüber leitenden Angestellten. Hinsichtlich der Genossenschaften liegt dies an dem Umstand, daß Zahlen fehlen, wieviel Juden in Genossenschaften tätig waren. Die Beurteilung der quantitativ objektiven Wirkung der zweiten Diskriminierung scheitert indes nicht an fehlendem Zahlenmaterial, sondern an der fehlenden Aussagekraft darüber, wieviele Betriebe von der Kündigungsmöglichkeit Gebrauch gemacht haben und wieviele leitende jüdische Angestellte aus anderen Gründen ausschieden. Schließlich ist ebenfalls eine Lücke bei der Feststellung der quantitativen finanziellen Erfolge der VAJW konstatierbar, was kaum verwundert, denn die Bewertung der Waren wurde von den örtlichen Fachgruppen vorgenommen. Ein quellenmäßiger Nachweis würde somit voraussetzen, daß die Fachgruppen vor Ort die Bewertung jedes einzelnen Betriebes schriftlich fixiert hätten. I m übrigen dürften, abhängig vom Verkauf der Waren seitens der Fachgruppen, in der Begleichung der Forderungen durch die auf den Sperrkonten vorhandenen Summen laufende Zahlungsein- und -ausgänge erfolgt sein, die eine Fixierung der finanziellen Wirkung der VAJW schon bezüglich der einzelnen Verwertung, geschweige denn hinsichtlich aller Verwertungsvorgänge vereiteln. Eine neue Qualität und damit ein erhöhtes Diskriminierungspotential liegt in der Abfassung der sonderrechtlichen Vorschriften auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, das bis dahin kaum ausgrenzende Vorschriften kannte 65 . Andererseits bedarf diese Beurteilung einer Relativierung, wenn man beachtet, daß Juden nicht generell aus der Betriebsgemeinschaft ausgeschlossen wurden durch die 63 Dabei handelt es sich um Zahlen, die der Leiter der Abteilung Judenfragen im Reichswirtschaftsministerium, Krüger, 1940 in seinem Kommentar zur VAJW nennt. 64 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.2. 65 Puppo, 1988, S. 287; siehe auch bereits oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.3.

10 Tarrab-Maslaton

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

VAJW. Diese ungleich schärfere Beschneidung erfolgte erst 1941 66 . Eine weitere Diskriminierungsqualität kann durch Beschreibung zweier Komponenten erfaßt werden. Die VAJW bestand aus einer Erwerbsbeschränkung und einem Vermögenseingriff. Bedenkt man die Vielzahl bereits bis 1938 ergangener Erwerbsverbote 6 7 , muß die Potenzierung der diskriminierenden Wirkung der VAJW, die in einer nahezu vollständigen Erwerbsbeschränkung lag, erkannt werden. Viele der mit Berufsverbot Belegten waren in Kleinstgewerbe ausgewichen68, so daß die Beseitigung selbst dieser Erwerbsform um so stärkere Wirkung zeitigte. War die Arbeitslosigkeit bei den Erwerbsverboten bis 1938 selten eine Konsequenz der Erwerbsbeschränkung, eben weil der Betrieb eines Kleingewerbes möglich blieb, so bewirkte die VAJW in einem nicht unerheblichen Maße Arbeitslosigkeit unter der jüdischen Bevölkerung 69 und hatte insoweit ungleich stärkere beeinträchtigende Wirkung; zumal die Bestreitung der Lebenshaltungskosten fast unmöglich war und das soziale Stigma der Arbeitslosigkeit hinzukam. Die ideologische Bewertung der Arbeitslosigkeit durch die Nationalsozialisten zog eine weitere Folge für die gesetzlich arbeitslos gemachten Juden nach sich. Da der „ . . . nationalsozialistische Staat kein Interesse daran (hat), die Arbeitskraft der einsatzfahigen arbeitslosen Juden unausgenutzt zu lassen und diese unter Umständen aus öffentlichen Mitteln ohne Gegenleistung zu unterstützen, (ist es) anzustreben, alle arbeitslosen und einsatzfahigen Juden zu beschäftigen .. . " 7 0 . Vorgesehen war insbesondere der Einsatz in Baukolonnen, wobei eine Trennung von der übrigen Belegschaft zu erfolgen hatte und bezüglich der Bezahlung wurde gefordert, daß eine Bezahlung gleich christlichen Taglöhnern auszubleiben habe, „ . . . da man die Juden ja erst arbeiten lehren muß . . . " 7 1 . Ein Überblick zeigt, wie sehr die VAJW durch die Erfassung der letzten Erwerbsräume zunächst Arbeitslosigkeit und dann das Bedürfnis nach Zwangs-

66

RGBl. 1941 I, S. 681. Der dort vorgesehene völlige Ausschluß wurde folgendermaßen im Gesetzestext selbst (§1) begründet: „Der Jude kann als Artfremder nicht Mitglied einer deutschen Betriebsgemeinschaft sein, die sich auf dem Grundsatz der gegenseitigen Treuepflicht ... aufbaut...". 67

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.l. Barkai, 1986, S. 161; Richards, 1982, S.221f. zeigt unter der Beleuchtung von Selbstzeugnissen die Sozialgeschichte der Juden in Deutschland von 1918 bis 1945. 69 So führt der Präsident der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in einem Erlaß an die Präsidenten der Landesarbeitsämter am 17.1. 1939, also 19 Tage nach dem Stichtag der Verbote der VAJW aus: „Nach den mir vorliegenden Berichten hat sich die Zahl der arbeitslosen Juden erheblich vermehrt..." (bei Sauer, 1966, Bd. II, S. 72). 68

70

So der bereits erwähnte Erlaß des Präsidenten der Reichsarbeitsanstalt vom 17.1.

1939. 71

Sauer, 1966, Bd. II, S. 74f.

1. Abschn. C. Erwerbsmöglichkeiten — Ausschaltungsverordnung

147

arbeit hervorrief. Da diese Wirkungen alle erwerbsfähigen Juden betrafen, die selbständig keine anderweitige Beschäftigung fanden, wovon angesichts der Summe bestehender Maßnahmen auszugehen ist 7 2 , sind diese Ausgrenzungen nicht mehr auf eine Gruppe der jüdischen Bevölkerung beschränkt, sondern erfassen die gesamte jüdische Bevölkerung, sind also sektorübergreifend. Im Zusammenhang mit dieser Diskriminierungsqualität verdeutlicht sich die Wirkung des finanziellen Zugriffs, den die VAJW bot. Finanzielle Mittel, etwa aus der Versilberung des Betriebs, waren gerade wegen fehlender Erwerbsmöglichkeiten dringend nötig. Durch den Entzug, genauer die Unterbewertung der Waren, und die Überweisung der Erlöse auf ein Sperrkonto standen diese Mittel nicht mehr zur Verfügung und verschärften die Lage der Betroffenen erheblich. Vergleicht man abschließend Ausgrenzungsziel und -erfolg, kann gesagt werden, daß die Zurückdrängung erreicht wurde und ein finanzieller Erfolg eingetreten ist, der jedoch kaum exakt beziffert werden kann. IV. Doppelte wirtschaftliche Ausgrenzungsrichtung der VAJW: gesetzlich nicht normierter, aber durch die Zielerreichung der VAJW hervorgerufener Erfolg und Umfang der Systematisierung 1. Doppelte wirtschaftliche Ausgrenzungsrichtung

Der Titel der VAJW und ihr Inhalt legen nahe, die Verordnung einzuordnen als Mittel, Erwerbsfelder zu beschränken. Diese Funktion sollte sie ohne Frage erfüllen. Die zweite wirtschaftliche Ausgrenzungswirkung hatte hingegen den Charakter eines Vermögenszugriffs. Konstruktiv wurde also mit der VAJW ein Instrument doppelter wirtschaftlicher Ausgrenzungsrichtung geschaffen. Bezüglich der Vermögenskomponente muß dabei auf ein Konstruktionsspezifikum hingewiesen werden. Tatbestandlich war die Liquidierung der Vermögensgegenstände geregelt; es fehlen indes Bestimmungen, die dem NS-Staat die Aneignung finanzieller Erträge sicherten 73. Die Aneignung erfolgte mittels der Sperrkontenpraxis und war insofern nicht normiert. Bezüglich des vermögensrechtlichen Teils liegt ein weiteres, wieder tatbestandlich nachzuweisendes Spezifikum in der sektoralen Beschränkung des Vermögenszugriffs. Während wegen der bereits ergangenen Erwerbsbeschränkungen und wegen der Anknüpfung des Erwerbsverbots an die Organisation des Gewerbes alle Erwerbsmöglichkeiten erfaßt waren 74 , war der Vermögenszugriff sektoral beschränkt. Die Liquidierung war nämlich nur für Einzelhandelsverkaufsstellen, Versand- oder Bestellkontore vorgesehen (§ 1 VAJW). Vermögen 72 73 74

10*

Vgl. auch oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.2. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.3. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.l.

148

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

als solches, etwa Bankguthaben oder andere stille Vermögenswerte, mithin ein großer Vermögenssektor, blieb ausgespart. In der VAJW findet sich somit eine rechtliche Quelle, die sektorale und non-sektorale Diskriminierung enthielt. Eine Bewertung, die zugleich zuläßt, die VAJW in den Gesamtkontext der erreichten Ausgrenzung zu stellen. Die nahezu völlige Erwerbsbeschränkung war erreicht, und es ist im Sinne einer weiter eskalierenden Diskriminierung 75 konsequent, mit dieser rechtlichen Quelle, die die Erwerbsmöglichkeiten endgültig verschloß, das neue Diskriminierungsfeld des Vermögens sektoral zu eröffnen. 2. Gesetzlich nicht normierter, aber durch die Zielerreichung der VAJW mitbewirkter Erfolg

Obwohl in der Verordnung über die Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben die vorgestellte Zwangsarbeit nicht festgelegt war, steht diese erreichte Ausgrenzung in engem Zusammenhang mit ihr; letzteres ergibt sich aus der Zielerreichung der VAJW. Eines der Ziele bestand in der Versperrung von Erwerbstätigkeiten. Die Erreichung dieses Ziels bewirkte Arbeitslosigkeit 76 . Wie der Vermögenszugriff ist diese Diskriminierung nicht in der VAJW normiert. Dennoch unterscheiden sich beide in der VAJW normierten Diskriminierungen. Dem Vermögenszugriff fehlte die gesetzliche Fixierung; er war aber gewollt 77 . Obwohl es offenkundig war, daß perfektionierte Erwerbsbeschränkung Arbeitslosigkeit bewirken würde, war diese hingegen nicht gewollt. Belegbar ist diese Annahme durch die Diskussion um die Zwangsarbeit. Hätte man Arbeitslosigkeit gewollt, hätte es nahegelegen, gleichzeitig Zwangsarbeit anzuordnen. Trotz eines entsprechenden Vorschlags Heydrichs auf der Besprechung vom 12.11. 1938 78 blieben Bestimmungen zur Statuierung von Zwangsarbeit aus. Wäre eines der Ziele der VAJW die Bewirkung von Arbeitslosigkeit gewesen, so hätte man diesen Gedanken jedoch aufgreifen bzw. erörtern müssen, was mit der arbeitslosen jüdischen Bevölkerung zu geschehen habe. Wie wenig man dies getan hatte, zeigt sich an den Diskussionen hinsichtlich einer etwaigen Zwangsarbeit der jüdischen Bevölkerung. So berichtet der Leiter des Arbeitsamtes Mannheim an den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Südwestdeutschland am 13.1. 1939 betreffend den Arbeitseinsatz von Juden: „ . . . es (ist) mir nicht (möglich), im Benehmen mit den verschiedensten Stellen eine für Juden geeignete Arbeit ausfindig zu machen. Einem Träger von

75

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III. 1. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.2. 77 Vgl. oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, A.III.l.b) und C.III.2. 78 Wiedergegeben ist diese Äußerung Heydrichs bei Adam, 1972, S. 210 und ebenfalls während der Besprechung bei Adler, 1974, S. 208 f. 76

1. Abschn. C. Erwerbsmöglichkeiten — Ausschaltungsverordnung

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Maßnahmen oder einem Unternehmer ist es nicht möglich, seiner Gefolgschaft einen Teil jüdischer Arbeitskräfte beizugeben, dazu vielleicht gesondert Aufsichtspersonal zu stellen, um sie gesondert von den deutschen Volksgenossen einzusetzen. Auch dürften Maßnahmen innerhalb oder in der Nähe einer Großstadt sich zum Einsatz von Juden nicht eignen. Ich halte es für zweckmäßig, im Lande Baden die arbeitslosen einsatzfahigen Juden in einem Lager (vielleicht Lager Ankenbuck) zur Arbeit zusammenzufassen." Dieser Inhalt zeigt, daß Zwangsarbeit geplant war, hingegen Arbeitslosigkeit und ihre Folgen bei Verabschiedung der VAJW der Intention des Gesetzgebers keineswegs entsprachen. Organisatorisch nämlich kamen diese Vorschläge zur Anordnung von Zwangsarbeit beschäftigungsloser Juden nicht vom Beauftragten des Vierjahresplans, also der die diskriminierenden Vorschriften im wirtschaftlichen Bereich erlassenden Institution auf Reichsebene. Vielmehr machten örtliche Arbeitsämter und der Präsident des Reichsarbeitsministeriums auf die Folgen der VAJW aufmerksam und schlugen Abhilfe durch die bezeichneten Zwangsmaßnahmen vor. Es mag sein, daß diese Vorschläge von der eigentlich initiativen Stelle für die VAJW — Göring — unterstützt wurden, aber sie wurden eben nicht von ihr initiiert: Ein weiterer Beleg für die These, bei Erlaß der VAJW habe der Wille, Arbeitslosigkeit zu bewirken, gefehlt. 3. Umfang der Systematisierung

Die verschiedenen Verweise zwischen den zum RbG ergangenen Verordnungen lassen inhaltlich eine Systematisierung erkennen 79 . Offen blieb bislang, ob diese Systematisierung innerhalb der Sperrung von Erwerbsmöglichkeiten lediglich bei den freien Berufen zu finden ist oder bei allen Erwerbsfeldern nachgewiesen werden kann. Wie zwischen den Verordnungen des RbG ist in der VAJW ein Verweis vorhanden. Zur Definition des jüdischen Gewerbebetriebes (§ 1 Abs. 3 VAJW) bediente man sich der in der 3. VO vorhandenen Legaldefinition 80 . Soweit die Systematisierung durch Verweis erfolgte, ging sie somit über den Bereich der freien Berufe hinaus. Obwohl ein schlichter Verweis die Annahme einer Systematisierung lediglich bedingt belegt — möglicherweise entstammt er nicht einer entsprechenden Absicht, sondern diente bloß der gesetzgebungstechnischen Vereinfachung, die in der Vermeidung von Wiederholungen lag —, stützt ein zeitlicher Umstand die Vermutung. Die 3. VO war am 14. 6.1938 81 , also 5 Monate vor der VAJW ergangen. Mehr als dieser enge zeitliche Zusammenhang belegt ein inhaltlicher Konnex die Systematisierung im gesamten Bereich der Erwerbsfelder. Die 3. VO definierte 79 80 81

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.2. Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.2.a). RGBl. 1938 I, S.627f.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

den jüdischen Gewerbebetrieb und legte die Registrierung fest. Sie hatte primär bezüglich späterer staatlicher Zugriffsmöglichkeiten vorbereitenden Charakter 8 2 , weil die Unternehmen bestehen blieben. Der Verweis in § 1 Abs. 3 VAJW führte die vorbereitende Wirkung fort, indem der diskriminierende Zugriff — Verbot der in der VAJW genannten Erwerbsfelder — genau die Gewerbebetriebe erfaßte, die in der 3. VO definiert und registriert worden waren. Zunehmende Systematisierung im gesamten Bereich jüdischer Erwerbstätigkeit ist darüber hinaus an den in der 5. VO zum RbG und bei den in der VAJW vorgesehenen finanziellen Zugriffen erkennbar. Zunächst müssen allerdings die Unterschiede zwischen dem Abschöpfen von Konsulentenerträgen 83 und der Liquidierung jüdischer Betriebe gesehen werden. Die Abführung der Erträge stellte einen Zugriff auf den Profit aus noch erlaubter Tätigkeit dar. Das Betriebsvermögen, d.h. die Kanzlei, blieb hingegen unangetastet. Demgegenüber war die vermögensrechtliche Komponente der VAJW zunächst von anderer Natur, denn gerade das Betriebsvermögen war dem Zugriff ausgesetzt. Trotz dieses Unterschiedes belegen die vermögensrechtlichen Komponenten der 5. VO und der VAJW eine Systematisierung im Gesamtsektor der Erwerbsmöglichkeiten: Sie liegt in dem in beiden Gesetzen vorhandenen Ausschluß, Juden Vermögen aus Erwerb im weiteren Sinne zu belassen. Bei der 5. VO ist dies wegen der Ertragsabschöpfung aus laufender Tätigkeit offensichtlich. In der VAJW sorgte man durch das Verbot, den Betrieb selbst zu veräußern — d. h. in Form einer letzten Verkaufstätigkeit —, dafür. Mag diese Parallele den oben gezeigten Unterschied kaum vollständig beseitigen können, so zeigen beide Gesetze die Diskriminierungsrichtung an, neben der Erwerbsbeschränkung die unmittelbaren Vermögenserträge oder die mittelbaren Erträge — Ertrag aus freihändigem, eigenhändigen Verkauf des Unternehmens — abzuschöpfen; sei es durch die Ausgleichsstelle wie bei der 5. VO oder im Wege einer Sperrkontenpraxis wie bei der VAJW. Schließlich belegt ein weiterer Umstand die Systematisierung der Vorschriften auf dem gesamten Gebiet der Erwerbstätigkeit. Wiederum betrifft dies die 5. VO und die dort vorgesehene Konsulententätigkeit. Diese Tätigkeit war von vornherein vorgesehen, um die geplante Liquidierung jüdischer Betriebe durch Bereitstellung eines Ansprechpartners zu erleichtern 84 und sie waren also insofern aufeinander abgestimmt. Betrachtet man die spezifischen Verweise und die inhaltlichen Abstimmungen zwischen den Vorschriften zur Erwerbsbeschränkung, so kann festgestellt werden, daß nicht allein der Sektor der freien Berufe, sondern der gesamte Bereich der Erwerbsbeschränkung im oben beschriebenen Sinne systematisiert war. 82 83 84

Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.2.a). Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, B.I.2. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, B.I.3.

2. Abschnitt

Gesetze und Verordnungen als Mittel direkten Vermögenszugriffs A. Das Gesetz über die Einziehung kommunistischen Vermögens (GEkV) und das Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens (GEfV) I. Entstehungsgeschichte 1. Nationalsozialistische Beseitigung der Linken

Das GEfV wurde am 14. 7.1933 1 erlassen und nahm auf das G E k V 2 Bezug. Beide entstammen also der Frühphase des nationalsozialistischen Regimes. Während dieser Phase stand der Kampf gegen die Linke im Vordergrund 3 , und dieses Vorgehen ist zugleich eine Erklärung der Entstehungsgeschichte beider Gesetze. Im Januar und Februar 1933 wurde der Kampf gegen sozialistische und kommunistische Parteien noch nicht legislativ, sondern administrativ geführt, wobei Göring als Reichskommissar für das preußische Innenministerium maßgeblich tätig wurde. Drei Runderlasse zeigen, welche Entschlossenheit bereits dieser administrative Kampf durch die Benutzung des Innenministeriums seitens der Nationalsozialisten annahm. A m 7. 2.1933 wurden die Polizeibehörden angewiesen, bestes Einvernehmen mit den nationalen Verbänden zu erreichen, da in ihnen „ . . . die wichtigsten staatserhaltenden Kräfte vertreten sind" 4 . „ . . . die nationale Propaganda (müsse) mit allen Mitteln (unterstützt) werden" und „ . . . dem Treiben staatsfeindlicher Organisationen mit den schärfsten Mitteln ..." entgegengetreten werden und „ . . . wenn nötig, rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch 1

RGBl. 1933 I, S. 479. RGBl. 1933 I, S. 293. 3 Bereits Anfang März hatte Hitler als Parole der nationalsozialistischen Umwälzung die „ . . . Vernichtung des Marxismus" genannt (Aufruf Hitlers vom März 1933 bei Hof er, 1957, S. 55). Bartel, 1958, S. 1001 hat die internen Probleme, denen sich die Linke bei ihrem Kampf gegen den Nationalsozialismus ausgesetzt sah, nachgezeichnet. Er beschreibt dabei insbesondere den Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, der maßgeblich aus der Moskauverbundenheit der KP hervorgegangen sei. 4 MBliV 1933 I, S. 169. 2

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

gemacht werden" 5 . Parallel dazu sorgte ein weiterer Erlaß 6 betreffend „Amtliche Verlautbarungen zu politischen Ausschreitungen in der Presse" für eine Verdeckung des SA- und SS-Terrors der Öffentlichkeit gegenüber. Einen legalen Anstrich erhielt dieser Terror in einem Geheimerlaß vom 22. 2. 1933, der festlegte, daß zur Bekämpfung linksradikaler, insbesondere kommunistischer Umtriebe eine Polizeiverstärkung durch freiwillige Hilfspolizei nötig wäre. Ihre Rekrutierung erfolgte aus den nationalen Verbänden, also SA, SS und Stahlhelm 7 . Der legislative Angriff auf die politische Linke setzte unmittelbar nach dem Reichstagsbrand ein. Zunächst organisierte jedoch Göring einen polizeilichen Zugriff. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar ordnete er die Verhaftung der kommunistischen Abgeordneten an, ließ KPD-Funktionäre verhaften, veranlaßte die Schließung der KPD-Parteibüros und erließ ein unbefristetes Verbot der KPD-Presse sowie ein 14-tätiges Verbot er SPD-Presse in Preußen. Allein dort wurden in den Monaten März und April 25.000 Personen in Schutzhaft genommen8. A m 28.2. 1933 erfolgte die einschneidenste legislative Maßnahme: die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat 9 . Die Genese dieser Verordnung belegt die eingangs aufgestellte These, daß das GEfV und das GEkV unmittelbar aus der Zerschlagung linker Parteien erklärbar sind. A m Tag des Reichstagsbrandes unterzeichnete Hindenburg die besagte Verordnung. Hitler hatte die Notwendigkeit der Verordnung begründet mit der Furcht vor einem kommunistischen Aufstand, dessen Beginn der Reichstagsbrand bilde 1 0 . Papens Aussage zufolge 11 gelang es Hitler, in der Kabinettssitzung vom 28. 2. 1933 die konservativen Mitglieder zu überzeugen und bis auf Papens Widerspruch gegen §2 der Verordnung wurde sie noch am Nachmittag verabschiedet. Die Verordnung setzte die Art. 114-118,123,124 und 153 WRV außer Kraft und somit waren „ . . . Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telefon- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Hausdurchsuchungen, von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch 5 MBliV 1933 I, S. 169; das Dokument ist vollständig in einer Ablichtung bei Schnabel, 1957, S. 55 wiedergegeben. 6 MBliV 1933 I, S. 170. 7 MBliV 1933 I, S. 169. 8 Bracher I Funke j Jacobsen, 1986, S. 276 unter Bezugnahme auf die polizeilich registrierten Schutzhaftfalle. Sie nehmen dabei an, daß tatsächlich noch wesentlich mehr Personen, insbesondere durch die SA und SS verhaftet wurden. 9 RGBl. 1933 I, S. 83. 10 Niederschrift der Kabinettssitzung vom 28.2.1933 in Akten des Auswärtigen Amtes 3598/7919, S. 17ff., zitiert nach Bracher/Sauer/Schulz, 1960, S. 83 Fn. 31. 11 Papen, 1952, S. 309f.

2. Abschn. Α. Direkter Vermögenszugriff — Parteivermögen

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außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen ..." für zulässig erklärt (§ 1). Daneben legte man für bestimmte Verbrechen, die bisher mit lebenslanger Haft belegt waren, die Todesstrafe fest (§ 5). Diesen Beschränkungen konnte jedermann ausgesetzt werden. Begründet wurden sie allerdings mit der nötigen „ . . . Abwehr kommunistischer, staatsgefahrdender Gewaltakte" 12 . War so die Möglichkeit geschaffen, allgemein gegen politisch Andersdenkende vorzugehen, wurde wenig später legislativ dem linken politischen Gegner die materielle Grundlage durch das GEkV und GEfV unter Berufung auf dieselbe abzuwehrende Gefahr genommen. Entsprechend wird in der Präambel des GEkV festgelegt: „ . . . um kommunistischen Bestrebungen dienendes Vermögen einer staatsfeindlichen Verwendung für die Dauer zu entziehen , . . " 1 3 . Durch Ausweitung des staatsfeindlichen Motivs griff man kurze Zeit danach auch auf das SPD-Vermögen zu und eröffnete zukünftigen Vermögenseinziehungen breitesten Raum, indem man dem Reichsminister des Innern die Möglichkeit gab festzustellen, ob ein Vermögen volks- oder staatsfeindlicher Nutzung diene 14 . 2. Parallelen und Unterschiede zum GWSt

Das GWSt war nicht die einzige Vorschrift, die dem Kampf gegen die Linke entstammte. Dieses Gesetz weist Parallelen und Unterschiede zum GEkV auf, durch deren Aufzeigen sich die ursprünglich vorhandene bzw. nachträglich hinzugefügte antisemitische Komponente beider Gesetze beurteilen läßt. Das GWSt und das GEkV weisen zunächst eine Gemeinsamkeit auf, denn sie gehören beide zu den 42 sogenannten Juligesetzen, die nicht nur nach Goebbels Ansicht „ . . . von größter Bedeutung" 15 waren. Auch die Deutsche Juristenzeitung widmete den sogenannten Juligesetzen breiten Raum, da „ . . . eine Fülle bedeutsamer Gesetze verabschiedet worden sei, (die) ... Verfassungsrecht, Wirtschaftspolitik, Finanzwesen und Justizgesetzgebung ..." betrafen. Der Beitrag stellt unmittelbar im Anschluß an das GWSt das GEkV vor 1 6 . Bezüglich des vermögensrechtlichen Einschlages ist eine weitere Übereinstimmung feststellbar. §2 Satz 3 des GWSt 1 7 sah vor, daß das Vermögen einer Person, der man die Staatsangehörigkeit aberkannt hatte, als dem Reich verfallen erklärt werden konnte. In der Diktion verschieden legt das GEfV 12 Präambel der VO des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat (RGBl. 1933 I, S. 83). 13 RGBl. 1933 I, S. 293. 14 RGBl. 1933 I, S.479f. 15 Goebbels, 1987, S. 446. 16 Kaisenberg, 1933, S. 1011 ff., der kommentierend hinzufügt, daß diese Gesetze politisch von größter Bedeutung seien, weil in ihnen das von Hitler angekündigte Ende der nationalsozialistischen Revolution zum Ausdruck komme. 17 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.l.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

i. V. m. § 1 GEkV fest, daß staats- und volksfeindliches Vermögen eingezogen werden kann. Gemeint war mit der Verfallserklärung ebenfalls die Einziehung 18 . Nachweisbar ist dies über den genannten Beleg hinaus durch das „Gesetz über die Gewährung von Entschädigung bei der Einziehung oder dem Übergang von Vermögen" 19 . Darin werden Entschädigungsfragen im Hinblick auf kommunistisches und staatsfeindliches Vermögen — erster Abschnitt des Gesetzes —, bezüglich dem Reich verfallenden Vermögens — zweiter Abschnitt des Gesetzes — und hinsichtlich des Vermögens der früheren Arbeitsgeber- und Arbeitnehmervereinigungen — dritter Abschnitt des Gesetzes — einheitlich geregelt. Dieser Systematik entsprechend sind die Vorschriften des zweiten Abschnittes weitgehend übereinstimmend mit denjenigen des ersten. Augenfällig ist im übrigen, daß in beiden Gesetzen nicht ipso iure die Vermögenseinziehung erfolgt, sondern die einschlägigen Tatbestände als sogenannte Kann-Vorschriften formuliert sind, und es in beiden einer Einziehungsbzw. Verfallserklärung seitens der zuständigen Behörde in jedem einzelnen Fall bedurfte. Der Verzicht auf eine Einziehung mit ipso iure-Wirkung erklärt sich aus dem Umstand, daß die Gesetze in der Frühphase des NS-Regimes erstellt wurden, in der allgemein noch zurückhaltender vorgegangen wurde 20 . Gegenüber diesen Ähnlichkeiten sind folgende Unterschiede zwischen den Gesetzen erkennbar. Während durch die Verfallserklärung eingezogenes Vermögen dem Reich zustand, war dies beim GEkV und GEfV zunächst anders. Die aufgrund dieser Verordnungen eingezogenen Vermögen standen nämlich den Ländern zu, was wenigstens in der Anfangsphase des Dritten Reiches einen erheblichen Unterschied bedeuten konnte, bestanden die Länder doch zunächst noch fort. Ein wesentlicher Unterschied findet sich weiterhin hinsichtlich der antisemitischen Komponente. Das GWSt enthielt antisemitische Paragraphen. Solche fehlen sowohl dem GEkV als auch dem GEfV völlig. Andererseits muß erkannt werden, daß auch im GWSt die Teile, die sich gegen Staatsfeinde richteten 21 und daher am ehesten in einen Vergleich einbezogen werden können, ebenfalls keine ausdrücklich antisemitische Vorschrift enthielten; insbesondere keine, die spezifisch jüdisches Vermögen betraf. Es konnte jedoch nachgewiesen werden, daß die Anwendung des § 3 Satz 2 GWSt sich häufig gegen jüdisches Vermögen richtete und dieses von Anfang an erreichte Ergebnis auf dem Erlaßwege verstärkt wurde 22 . Selbst insoweit fehlt im GEkV und GEfV eine direkte Entsprechung. Beide waren also in ihrer ursprünglichen Fassung weder ausdrücklich noch mittelbar ein antisemitisches Regelwerk. 18 19 20 21 22

So ausdrücklich Erbe, 1938, S. 223. RGBl. 1937 I, S. 1333. Siehe dazu bereits oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.IV. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.3.b). Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.3.b).

2. Abschn.

. Direkter Vermögenszugriff —

evergen

155

Eine weitere Differenzierung lag darin, daß das GWSt beherrscht wurde von Vorschriften, die sich gegen Personen richteten. Demgegenüber werden im GEkV und GEfV der gesetzlich fixierte Zugriff gegen das Vermögen von Organisationen bestimmt. II. Inhalt und Rechtsfragen Das GEfV selbst erklärte „die Vorschriften des Gesetzes über die Einziehung kommunistischen Vermögens ( G E k V ) . . . auf Sachen und Rechte der sozialdemokratischen Partei Deutschlands und ihrer Hilfs- und Ersatzorganisationen sowie auf Sachen und Rechte, die zur Förderung marxistischer oder anderer nach Feststellung des Reichsminsters des Innern volks- und staatsfeindlicher Bestrebungen gebraucht oder bestimmt sind ..." für anwendbar 23 . Dadurch galt für die im GEfV Genannten folgendes: „Die an den eingezogenen Gegenständen bestehenden Rechte ..." gingen unter (§3 Satzl). Eine Ausnahme galt bei Grundstücken. Rechte an ihnen blieben erhalten, es sei denn, daß durch die „ . . . Hingabe des Gegenwertes eine Förderung ..." volks- und staatsfeindlicher Bestrebungen beabsichtigt war (§ 3 GEkV). Gläubiger konnten eine Entschädigung zur Vermeidung von Härten erhalten (§ 4 GEkV). § 5 GEkV legalisierte entsprechende Maßnahmen, die vor dem GEkV ergangen waren, indem festgestellt wurde, daß solche Maßnahmen bestätigt werden können. Schließlich wurde das Wirksamwerden der Einziehung durch Zustellung oder öffentliche Bekanntgabe (§6), die Entschädigungslosigkeit gegenüber den Betroffenen (§ 7) und eine Verordnung zur Ermächtigung des Reichsinnenministers (§ 8) festgelegt. Das GEkV i. V.m. GEfV bewirkte eine Reihe von zivilrechtlichen Fragestellungen, die die eingangs dargestellte überstürzte Entstehung belegen und einen Aspekt beleuchten, der für die spätere antisemitische Funktion der Vorschriften wichtig ist. Die Rechtsprechung hatte über folgende Fallkonstellation zu entscheiden: Der Kläger hatte einer marxistischen Organisation ein bürgschaftsgesichertes Darlehen hingegeben. Nach Auflösung der Organisation und Einziehung des Vermögens gemäß GEkV i.V.m. GEfV wollte der Kläger aus der Bürgschaft vorgehen. Das Reichsgericht ging davon aus, in den Einziehungsgesetzen sei die Frage der Übernahme der Passiva ungeregelt geblieben. Dies ergebe sich daraus, daß der Gesetzgeber in § 4 lediglich eine Ausnahmeerstattung für Härtefalle vorgesehen habe. Nach allgemeinen Grundsätzen müßte daher der Bestand der Bürgschaft beurteilt werden. Sie sei akzessorisch, woraus folge, daß durch Auflösung des Schuldners die Hauptforderung erlösche und deswegen die Bürgschaft nicht mehr bestehe24. 23 24

RGBl. 1933 I, S. 479. Reichsgericht in JW 1935, S. 2625.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Unter Auslegung des Wortlauts des GEkV und des GEfV trat man dem entgegen. Gerade weil §4 die Möglichkeit gebe, Gläubigern des von der Einziehung Betroffenen eine Befriedigung zu gewähren, müsse vom Fortbestand der gesicherten Forderung und damit der Bürgschaft ausgegangen werden. Befriedigt werden könne nur eine Schuld. Von einem Gläubiger wiederum könne man nur bei Bestand der Schuld sprechen 25. Der an der Erstellung der Einziehungsvorschriften beteiligte Ministerialrat Hoche nahm zu dieser Problematik ausführlich Stellung. Dem Gesetzgeber sei es allein darauf angekommen, Vermögen, das staatsfeindlichen Zwecken diene, durch Einziehung unschädlich zu machen. Dies habe schnellstens geschehen müssen, damit „ . . . den zuständigen Behörden die Möglichkeit (gegeben werde), ohne viel Federlesens ..." zuzugreifen. Eine sorgfaltige oder langwierige Entscheidung zivilrechtlicher Fragen hätte den staatspolitischen Zweck gefährdet, und die Lösung dieser Frage sei darum nicht erfolgt 26 . Obwohl klar war, welche offenen und komplizierten zivilrechtlichen Probleme eröffnet wurden, war der Kampf gegen die Linke von so überragendem Interesse, daß diese Priorität zur Vernachlässigung zivilrechtlicher Fragen führte. Belegen diese Ausführungen die überstürzte Entstehung, so ist ein anderer rechtlicher Aspekt des GEkV und des GEfV für die spätere Funktion der Gesetze erheblich. § 1 GEkV i. V.m. GEfV hatte festgelegt, daß die Einziehung solcher Sachen und Rechte erlaubt ist, die zur Förderung volks- und staatsfeindlicher Bestrebungen dienen. Dies wurde im Anschluß an die Nennung der KPD, ihrer Hilfs- und Ersatzorganisationen bzw. der SPD und ihrer Hilfs- und Ersatzorganisationen bestimmt. Die enge Anknüpfung an diese Organisationsformen hätte es nahegelegt, für das Tatbestandsmerkmal der volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen ebenfalls einen gewissen, wenigstens tatsächlichen Organisationsgrad, der die Volks- und Staatsfeindlichkeit nahelegt, zu fordern mit der weiteren Konsequenz, daß Vermögenswerte einer einzelnen, nicht organisierten natürlichen Person nach dem GEkV i. V. m. dem GEfV von der Einziehung ausgenommen gewesen wären. In der zeitgenössischen Diskussion unterblieb diese Auslegung. Mehr noch: Der Rechtsprechung 27 reichten zum Beispiel folgende Feststellungen aus: „ A m 31. Mai 1933 wurde der Sch. wegen kommunistischer Betätigungen in Haft genommen und ein Kraftrad, das er mit sich führte, beschlagnahmt, weil vermutet wurde, daß er es im kommunistischen Nachrichtendienst benutze. Durch Verfügung vom 29. Juni 1933 sprach der Regierungspräsident aufgrund des § 1 des Gesetzes über die Einziehung kommunistischen Vermögens vom 26. Mai 1933 (RGBl. I, S. 293) die Einziehung des Kraftrades aus". Zur Frage der 25 26 27

Schneider, 1935, S. 2626. Hoche, 1935, S. 2627. PrOVG in RVerwBl. 1935, S. 456f.

2. Abschn.

. Direkter Vermögenszugriff —

e v e r g e n 1 5 7

Abgrenzung der Beschlagnahme von der Einziehung und zur weiteren Frage, ob der Rechtsweg eröffnet sei, nimmt das Gericht Stellung. Die kommunistische Betätigung als solche reicht aber im übrigen, um die Vermutung zu festigen, daß das Kraftrad nachrichtendienstlich genutzt wurde. Im Ergebnis bedeutet dies, daß alle Sachen solcher Personen den Eigentumsschutz verloren, sofern sie einem Eigentümer dienten, der kommunistische oder volks- bzw. staatsfeindlich tätig war 2 8 . In der Fachpresse wurde eine noch extensivere Auslegung vorgenommen. Die weite Fassung des GEkV und des GEfV ergebe, „ . . . daß auch Gegenstände von Privatpersonen eingezogen werden können...", sofern der Reichsinnenminister deren Gebrauch und Bestimmung für volks- und staatsfeindliche Zwecke festgestellt hat 2 9 . Das GEkV i.V.m. dem GEfV war somit unmittelbar nach seiner Entstehung geeignet, sich Vermögenswerte Privater entschädigungslos anzueignen. Die Entschädigungslosigkeit stellt auch das „Gesetz über die Gewährung von Entschädigungen bei der Einziehung oder dem Übergang von Vermögen" nicht in Frage, da die danach zu gewährende Entschädigung nicht dem von der Einziehung Betroffenen gewährt wurde 30 .

III. Antisemitische Funktion des G£kV i.V.m. dem GEfV 1. Ideologisch geleistete Vorarbeit

Die im folgenden aufzuzeigende, nachträglich dem GEkV und GEfV beigelegte antisemitische Funktion war schon durch andere Gesetze ideologisch vorbereitet worden 31 . I m Zusammenhang mit dem GEkV und GEfV geschah diese Vorarbeit im Wege der Festlegung des Begriffes Staats- und Volksfeind sowie durch eine allgemeine rassische Ideologie. In letzterer war ein zentraler Punkt der Höchstwert der arischen Rasse 32 , die in einem permanenten geschichtlichen Kampf mit ihrer Gegenrasse, dem Judentum, stehe33. Die jeweilige Rasse mit ihren unveränderlichen Eigenschaften bildete nach NS-Auffassung die Grunddeterminante jeder Geschichte. 28 Zum völlig neuen rassisch geprägten Eigentumsbegriff im Nationalsozialismus führt von Massow, 1936, S. 46 auch unter Bezugnahme auf die im GWSt vorgesehene Einziehungsregelung aus: „Daher ist heute Recht..., was deutsch-arische Menschen für Recht empfinden." Und er führt S. 49 weiter aus: „Der liberale Eigentumsbegriff hingegen verschwindet zugunsten des vom Gemeinsinn geprägten Eigentumsverständnisses des Nationalsozialismus." 29 Hoffmann, 1936, S. 147. 30 § 8 Abs. 1 in RGBl. 1937 I, S. 1333ff. 31 Vgl. oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.3. und 2. Kapitel, 1. Abschnitt, A.I.2.b). 32 So ausdrücklich Hitler, 1940, S. 321 ff. 33 Ausführliche Nachweise finden sich zu diesem kampfbezogenen Verständnis zweier Rassen bei Zischka, 1986, S. 76.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Folglich war die Geschichte geprägt vom Kampf der Rassen gegeneinander. Das Wort Kampf läßt dabei nicht hinreichend die Wichtigkeit und vor allem die Schärfe dieses Kampfes erkennen. Die Gegenrasse verfolge das Ziel, die arische Rasse physisch zu vernichten. Dabei sei diese Gegenrasse nicht Teil der menschlichen Gemeinschaft, sondern Untermensch 34 . Der Kampf gegen die Juden, die die Führerschaft der Untermenschenwelt innehätten 35 , entscheide daher über die Zukunft der Menschheit. Diese Darstellung des jüdischen Feindes in der NS-Ideologie läßt den Bezug zum GEkV zunächst kaum erkennen. Beleuchtet man jedoch die ideologische Funktion des Kommunismus innerhalb des militanten rassischen Antisemitismus, zeigt sich eine gewisse Stringenz zwischen dieser Funktion und dem GEkV. Die Bekämpfung des Kommunismus und des Antisemitismus stehen nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr wurde der Marxismus in der staatlichen Ausprägung des bolschewistischen Rußland als ein jüdisches Instrument zur Erringung der Weltherrschaft begriffen 36 . Dieses Instrument ist also Teil des Kampfes zwischen Ariern und Judentum und die Bekämpfung des Kommunismus somit zugleich Kampf gegen das Judentum. Zeigt dies die allgemeine, gesetzesunspezifische ideologische Verbindung zwischen Antikommunismus und Antisemitismus, so wurde so objektiv ganz konkret die Anwendbarkeit des GEkV auf die jüdische Bevölkerung ideologisch vorbereitet. Der genaue Titel des GEkV lautet: „Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens". Lange vor der rechtlichen Ausdehnung dieses Gesetzes auf die jüdische Bevölkerung definierte man den Begriff des Staatsfeindes. Die NS-Ideologie gab nämlich vor, die liberalem Denken entstammende Trennung von Staat und Volk beseitigt zu haben 37 . Entsprechend gebe es nicht den Staatsfeind einerseits und den Volksfeind andererseits, sondern jemand, der sich gegen den Staat richte, sei immer Volksfeind, d. h. persönlicher

34 Dieser Begriff verharmlost den damit gemeinten, tiefste Feindschaft zum Ausdruck bringenden Inhalt: „Der Untermensch —jene biologisch scheinbar völlig gleichgeartete Naturschöpfung mit Händen, Füßen und einer Art von Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen — geistig, seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier ...", Poliakovl Wulf\ 1955, S. 217, die diesen Text durch Übersetzung eines Verhandlungstexts des Nürnberger Gerichts (Nürnberger Military Tribunal, Bd. X I I I , S. 226 f.), in dem aus der Schrift „Der Untermensch", Der Reichsführer SS, SS-Hauptamt (Hrsg.), Berlin 1935 zitiert wird, wiedergeben. 35 Hitler, 1941, S. 751. Diese, hier noch allgemein vorgestellte Sichtweise findet sich innerhalb des wirtschaftlichen Kampfes gegen die Juden spezieller wieder. Der Rassenkampf der Wirtschaft (Köhler, 1939, S. 9) sei von jüdischer Seite geplant: „Die Lehre von der Eigengesetzlichkeit, Absolutheit und Internationalität der Wirtschaft ... (sei) nicht etwa nur ein bloßer Gelehrtenirrtum ..., sondern sie (die Lehre) ist der große ... Feldzugplan des jüdischen Angriffs ... gegen die Völker... und bedarf... (der) Abwehr". 36 So bereits Hitler, 1940, S. 350ff. 37 Siehe oben . Kapitel, . Abschnitt, .II...

2. Abschn.

. Direkter Vermögenszugriff —

evergen

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Feind jedes einzelnen 38 . Volksfeind sei „ . . . ewig gleich" „der Jude", dessen volksfeindlicher Charakter in der Bevölkerung anerkannt wäre 39 . Die spätere rechtliche Erstreckung des GEfV nutzte also objektiv erstens eine allgemeine ideologische Verbindung zwischen Antikommunismus und Antisemitismus und zweitens seine ideologisch vorhandene, gesetzesspezifisch nutzbare Definition der Juden als Volksfeinde aus 40 . 2. Herstellung der antisemitischen Funktion

Diese vorhandene ideologische Vorarbeit erleichterte die Herstellung der antisemitischen Funktion, wozu ein Bedürfnis bestand, weil der Zugriff auf jüdisches Vermögen erheblich in Frage gestellt war: In der 11. DVO zum RbG hatte man einen Vermögensverfall festgelegt, falls sich Juden im Ausland aufhielten, wobei es unerheblich war, ob dieser Aufenthalt freiwillig oder erzwungen, d.h. mittels Deportation begründet war 4 1 . Frühzeitig mußte man erkennen, daß das Vermögen zweier Gruppen der jüdischen Bevölkerung nicht nach der 11. DVO zum RbG erreichbar war. Es handelte sich um Juden, die vor Erlaß dieser Verordnung ausgewiesen werden sollten, jedoch den Freitod gewählt hatten, und zweitens solchen, die durch Ausweisung, aber vor Erlaß der 11. DVO zum RbG im Ausland verstorben waren 42 — quantitativ etwa 10-15% aller ausgewanderten Juden 43 . Problematisch wurde der Zugriff auf das verbleibende Vermögen aus einem zivilrechtlichen Grund. Die Hinterbliebenen machten ihre Erbansprüche formell bei den Nachlaßgerichten geltend, und die Finanzämter, die nach der 11. DVO zum RbG für die Einziehung neben anderen Behörden zuständig waren, sahen sich außerstande, auf die Einziehung ohne rechtliche Grundlage hinzuwirken 44 . A u f entsprechende Hinweise verfügte das Reichssicherheitshauptamt aus diesem Grunde, daß „ . . . im Sammelverfahren festgestellt (sei), daß das Vermögen sämtlicher Juden, die am 13. 2. 1940 im Regierungsbezirk Stettin evakuiert 38

Heydrich, 1936, S. 121. Heydrich,, 1936, S. 121 f. 40 Polomski, 1986, S. 363 ff. sieht ebenfalls einen Konnex zwischen dem GEkV /GEfV und dem Begriff Reichsfeind. Die eigentumsrechtlichen Sanktionen gegen die Verschwörer vom 20.7. 1944 seien mit denen im GEkV/GEfV vergleichbar, weil in beiden Eigentumsrechte potentiell oppositioneller Gruppen verletzt wurden, wobei die Entziehung des Eigentums der Verschwörer des 20. Juli Techniken des GEkV/GEfV nutzte. 39

41

Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.2.b). NG-5371, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Baden vom 2.2. 1942, der diese Fälle als zahlreich bezeichnet. 43 NG-5371, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Baden vom 2. 2. 1942, Bl. 2. 44 NG-5370, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Pommern in Stettin vom 11.3.1942, der ausführt: „Das Vermögen dieser verstorbenen Juden fallt nicht unter die 11. Verordnung und ist dem Reich nicht verfallen. M.E. steht der Nachlaß den Erben zu, wenn er nicht durch besondere Verfügung zugunsten des Reiches eingezogen wird." 42

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

(worden) sind, gemäß der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz dem Reich verfallen sind" 4 5 . Gegen diese Verfügung wurde geltend gemacht: „ . . . diese Entscheidung des Reichssicherheitshauptamtes (sei bedenklich), da es sich bei den Verstorbenen um Personen handelt, die überhaupt nicht unter die 11. Verordnung fallen." Daraufhin wurde die Verfügung vom 22. 4.1942 „ . . . als... nicht geschehen ..." betrachtet 46 und man legte fest, daß statt der Anwendung der 11. DVO zum RbG das Vermögen der Betroffenen als volks- und staatsfeindliches Vermögen im Sinne des GEkV und GEfV einzuziehen sei 47 . Obwohl sich dieser Schriftverkehr an die Frage, wie die Einziehung erfolgen könnte, auf Stettin und Baden bezieht, ergab die vorgenommene Anwendung des GEkV und des GEfV eine allgemein praktizierte Einziehung. Bereits am 16. 2. 1940 lag ein Bericht eines Korrespondenten der Züricher Zeitung dem Auswärtigen Amt vor, wonach entsprechend der Deportationen in Stettin Vorbereitungen in Danzig, Königsberg und einigen norddeutschen Städten abgeschlossen seien 48 . Seit 1940 hatte das Reichssicherheitshauptamt die Planung der Deportationen und die Verwertung der verbleibenden Vermögen in die Wege geleitet. Zu letzterem nutzte man allgemein das GEkV und das GEfV 4 9 . Durch die Feststellung der Volks- und Staatsfeindlichkeit jüdischen Vermögens wurde die antisemitische Funktion des GEkV und des GEfV rechtlich fixiert. Während die rückwirkende Anwendung der 11. DVO zum RbG bei der Verwaltung auf rechtliche Bedenken stieß 50 , blieben diese wegen der beschriebenen ideologischen Vorarbeit bei der Feststellung der Volks- und Staatsfeindlichkeit jüdischen Vermögens und der daraus resultierenden Anwendung des GEkV und des GEfV aus.

45 NG-5368, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Pommern in Stettin vom 5. 6.1942, der mit diesem Wortlaut die Verfügung des Reichssicherheitshauptamtes vom 22.4. 1942 — IV Β 4-b4-B Nr. 305/42 — wiedergibt. 46 NG-5368, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Stettin in Pommern vom 28. 5. 1942. 47 NG-5368, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Stettin in Pommern vom 28. 5. 1942, dort S . 2 ( = S. 3/4 des Originals). Anzumerken ist, daß durch Feststellung der Volks- und Staatsfeindlichkeit des Vermögens die nicht aufrechtzuerhaltende Feststellung des Reichssicherheitshauptamtes, wonach die 11. DVO den Verfall bestimmte, geändert wurde. Bedenklich ist es daher, wenn Fauck, 1966, S. 25 und unter Bezugnahme auf seine Darstellung auch Majer, 1981, S. 277 Fn. 50 behaupten, die betreffenden Vermögen seien entweder durch Erklärung der Volks- und Staatsfeindlichkeit oder doch durch Anwendung der 11. DVO auf die Fälle vor deren Inkrafttreten eingezogen worden. 48

NG-1530, streng vertrauliches Dossier vom 16. 2. 1940. Van der Leeuw, 1962, S. 2ff.; er stellt entgegen Fauck, 1966, S. 25 und Majer, 1981, S. 277 fest, daß die 11. DVO zum RbG die zwei genannten Gruppen nicht erfaßte „ . . . und die individuelle Einziehung der Vermögen ... weitere Dienste leisten (mußte)." 50 NG-5368, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Stettin in Pommern vom 28. 5. 1942. 49

2. Abschn.

. Direkter Vermögenszugriff —

evergen

161

3. Intention und Diskriminierungserfolg des GEkV und des G£fV

Die originäre Intention ergibt sich aus der bereits geschilderten Entstehungsgeschichte51. Beabsichtigt war, mit den beiden Regelungswerken der linken Opposition und anderen oppositionellen Gruppen die materielle Grundlage zu nehmen. Diese machtpolitische Stoßrichtung war allerdings nicht die einzige Intention. Vielmehr trat eine zunächst auf den politischen Feind bezogene fiskalische Intention hinzu. Ursprünglich erfolgte die Einziehung nach dem GEkV bzw. dem GEfV zugunsten des Landes 52 . Die Vermögen der oppositionellen Gruppen kamen also den Ländern zugute. Es kann davon ausgegangen werden, daß diese Verwertung im wesentlichen bis Kriegsbeginn abgeschlossen war. Bezüglich des politischen Gegners fehlte danach der finanzielle Gegenstand, der eine andere fiskalische Regelung erforderlich gemacht hätte. So betrachtet verwundert ein Führererlaß vom 29. 5. 1941, dessen § 1 bestimmte: „ I n den Fällen, in denen nach den geltenden Vorschriften zur Verhinderung volks- und staatsfeindlicher (reichsfeindlicher) Bestrebungen Vermögen oder Vermögensteile eingezogen werden können, erfolgt die Einziehung zugunsten des Reiches" 53 . Eingezogen wurde aufgrund des bestehenden Bedürfnisses 54 jüdisches Eigentum. Erst durch den Führererlaß war der reichsfiskalische Zugriff auf jüdisches Vermögen, welches mittels der beschriebenen Erklärung zunächst zu volks- und staatsfeindlichem Vermögen gemacht war, möglich. Die Herstellung der antisemitischen Funktion richtete sich also ganz konkret darauf, neben möglichst vollständigen Einziehungen jüdischen Vermögens auch dafür zu sorgen, dieses Vermögen ausschließlich dem Reich zukommen zu lassen. Anzumerken bleibt, daß dem reichsfiskalischen Zugriff nicht der vor dem Führererlaß liegende Zeitpunkt der Deportation entgegenstand. Denn die Einziehung dieser Vermögen erfolgte erst 1941, also ein knappes Jahr nach der Deportation, und zu diesem Einziehungszeitpunkt galt bereits der Führererlaß 5 5 . Eine präzise Bezifferung der eingezogenen Vermögenswerte ist kaum zu leisten. Zwar liegen Zahlen, die den Gesamtwert des geraubten jüdischen Gutes belegen, vor. Es fehlen aber Hinweise darauf, welche Teile aufgrund welcher gesetzlichen Maßnahme geraubt wurden. Annähernd ermittelbar werden hingegen diese Zahlen, indem man nachvollzieht, welche Anteile der jüdischen Bevölkerung von der Einziehung aufgrund des GEkV / GEfV betroffen waren, 51

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, A. § 1 GEkV. 53 RGBl. 1941 I, S. 303. Dabei bleibt anzumerken, daß wenigstens formal die Finanzhoheit der Länder erhalten blieb bzw. der Wortlaut des GEkV und des GEfV die Länder als Begünstigte nannte. 54 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, A.III.2. 55 Vgl. oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, A.III.2. und A.III.3. 52

11 Tarrab-Maslaton

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

durch die Betrachtung der Deportation in Stettin und Baden im Jahr 1940. Dort deportierte man 1.120 Juden und zog von 860 das Vermögen nach der 11. DVO zum RbG ein 5 6 . Etwa 260 Personen wurden von dieser Verordnung nicht erfaßt, ihr Vermögen dementsprechend nach dem GEkV und dem GEfV eingezogen. In Baden waren 1940 6504 Juden von Deportation betroffen 57 . Unter Bezugnahme auf diese Evakuierungsaktion stellte der Oberfinanzpräsident Baden fest, daß die Fälle, in denen eine Vermögenseinziehung nach der 11. DVO zum RbG unmöglich sei, „ . . . sehr zahlreich seien" 58 . Erfaßt wurde das gesamte Vermögen der Betroffenen, wie sich aus der Zusammenstellung der vorgestellten Techniken ergibt. Im GEkV und im GEfV wurden alle Sachen und Rechte der Einziehung unterworfen, die volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen dienten, das GEkV und das GEfV wurden angewendet auch auf Privatpersonen, und jüdisches Vermögen wurde zu volksund staatsfeindlichem Vermögen erklärt, wodurch man in der Konsequenz alle Sachen und Rechte einzelner jüdischer Menschen, deren Vermögen ja staatsund volksfeindlich war, einziehen konnte. Diese dargestellte Diskriminierungsqualität des GEkV und des GEfV wird in ihrer Schärfe von Fauck 5 9 , Majer 6 0 und wohl ebenso von Adler 6 1 verkannt, weil sie annehmen, die 11. DVO zum RbG sei allgemein und rückwirkend angewendet worden. Die Eigenständigkeit des GEkV und des GEfV und ihre Anwendung neben der 11. DVO zum RbG zeigen dagegen, daß die vorgestellten Techniken in ihrer Summe ein erhebliches Diskriminierungspotential zusätzlich bereitstellten 62 . IV. Ausgrenzungstechnik des G£kV und GEfV Abstrahiert man die aufgezeigte Ausgrenzungstechnik, kann folgendes gesagt werden: Tatbestandlich blieben beide Gesetze unverändert. Die ausgrenzende Funktion wurde erreicht durch Erstreckung auf Private 63 und der verbindlichen Feststellung seitens der Verwaltung durch Einzelverfügungen, das Tatbestands56

NG-5370, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Pommern in Stettin vom 11.3.

1942. 57

Schreiben Heydrichs vom 29.10. 1940, abgedruckt bei Kempner, 1961, S. llOf. NG-5371, Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Baden vom 2.2. 1942. 59 Fauck, 1966, S. 25 f. 60 Majer, 1981, S. 277. 61 Adler, 1974, S. 518. 62 Zu allgemein ist Puppos, 1988, S. 288 Bewertung des GEkV und des GEfV, wenn er feststellt: „Als Rechtsgrundlage für die Wegnahme des der jüdischen Bevölkerung noch verbliebenen Vermögens diente (das GEkV und das GEfV)", weil diese Gesetze nicht allein einen Vermögenszugriff ermöglichten und diese Aussage offenläßt, wie nach der 11. DVO zum RbG verfahren wurde. 3 Siehe oben 2. Kapitel, . Abschnitt, .II. 58

2. Abschn.

. Direkter Vermögenszugriff —

evergen

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merkmal der Volks- und Staatsfeindlichkeit liege bei Vermögensteilen jüdischer Personen vor 6 4 . Diese Technik findet sich bedingt wieder, wenn man ein anderes Gesetz betrachtet, welches ebenfalls mit einem Feindbegriff arbeitet. 1940 wurde eine „Verordnung über die Behandlung feindlichen Vermögens" (VfV) erlassen 65. Bestimmt wurde darin der Begriff der feindlichen Staaten (§ 2), des Feindes (§ 3), des feindlichen Vermögens im Inland und es wurde für dieses Feindesvermögen ein umfassendes Zahlungsverbot festgelegt, das im Ergebnis praktisch der Beschlagnahme gleichkam und, wenn auch nur unter bestimmten Voraussetzungen, die endgültige Einziehung vorsah. Zunächst findet sich hierin nur eine bedingte Ausgrenzungsparallele, weil die Erstreckung auf Private im Gesetz und nicht durch Auslegung wie beim GEkV und dem GEfV vorgenommen wurde. Diese Abweichung kann aber vernachlässigt werden, wenn man wiederum erkennt, daß Juden den feindlichen Staaten durch eine verbindliche Erklärung der Verwaltung gleichgestellt wurden. § 3 Abs. 1 Satz 2 VfV erklärte: „Natürliche Personen, die einem feindlichen Staat angehören oder die im Gebiet eines feindlichen Staates ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt haben ..." zu Feinden. Gemäß §3 Abs. 1 VfV konnte der Reichsminister der Justiz Ausnahmen erlassen. Eine solche, allgemeinverbindliche Verfügung wurde am 27.6. 1940 erlassen: „Deutsche Staatsangehörige, die auf dem Gebiet eines feindlichen Staates interniert sind und außer der deutschen Staatsangehörigkeit die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes besitzen, sind nicht als Feinde im Sinne des § 3 Abs. 1 (VfV) anzusehen. Auf Personen, die Juden sind oder als Juden gelten ..., findet der Erlaß keine Anwendung." Positiv formuliert heißt dies, daß deutsche Juden, die im Ausland als „Deutsche—Feinde" betrachtet wurden und deshalb wie andere Deutsche interniert wurden, vom Deutschen Reich dennoch als Feinde des Deutsches Reiches behandelt wurden und ihr im Reich verbliebenes Vermögen ihrem rechtmäßigen Zugriff vorenthalten blieb. Verfehlt wäre es allerdings, dieser Diskriminierung die gleiche quantitative Relevanz beizumessen wie der geschilderten Praktizierung des GEkV und des GEfV. Diese Praxis belegt jedoch, daß die Technik, rechtsverbindlich Juden zu Volks-, Staats- und Kriegsfeinden zu erklären benutzt wurde, um einen möglichst vollständigen Vermögenszugriff noch vor der 11. DVO zum RbG und nach Erlaß der 11. DVO zum RbG für die Fälle, die in der Verordnung nicht erfaßt wurden, sicherzustellen.

64 65

1

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, A.III. 1. RGBl. 1940 1, S. 191 ff.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

B. Die Verordnung über die Anmeldung jüdischen Vermögens (VAjV) vom 26.4. 1938 und die Anordnung aufgrund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden (AnO) vom 26.4. 1938 I. Stufenverhältnis zwischen der VAjV und der AnO Die VAjV und die AnO standen in einem Verhältnis zueinander, dessen Betrachtung die Unabhängigkeit nationalsozialistischer Rechtssetzung von bestehenden Vorschriften und Görings Praktizierung seiner unbeschränkten Machtbefugnis zeigt. Die Kompetenz, die VAjV zu erlassen, leitete Göring aus der Generalermächtigung zur Durchführung des Vierjahresplanes ab 1 . In §7 der VAjV ist festgelegt, daß „ . . . der Beauftragte für den Vierjahresplan ... die Maßnahmen treffen (kann), die notwendig sind, um den Einsatz des (im Sinne der VAjV) anmeldepflichtigen Vermögens im Einklang mit den Belangen der deutschen Wirtschaft sicherzustellen" 2. Aufgrund dieser Ermächtigung wiederum erging die A n O 3 , die ebenfalls der Beauftragte für die Durchführung des Vierjahresplanes (BVP) erließ. Während also die Generalermächtigung von einem übergeordneten NS-Organ, d. h. Hitler, erging, hatte die Ermächtigung in der VAjV nicht den Sinn, nachgeordneten Exekutivstufen Rechtssetzungskompetenz zu geben, denn Ermächtigender und Ermächtigter war der BVP. Insoweit fehlt es mithin an einem Stufenverhältnis zwischen der VAjV und der AnO. Ein solches Verhältnis könnte allerdings die Rechtsnatur einer Verordnung gegenüber einer Anordnung nahelegen, wenn man eine Verordnung als abstrakt-generelle Norm begreift gegenüber einer Anordnung verstanden im Sinne einer konkreten Einzelfallregelung, zurückgehend auf die abstraktgenerell regelnde Verordnung. Die VAjV statuierte allgemein für alle Juden die Pflicht, abstrakt definiertes Vermögen innerhalb einer allgemein geltenden Frist anzumelden. Schon diese grobe Skizzierung zeigt den abstrakt-generellen Regelungscharakter der VAjV. In der AnO wurde ebenfalls allgemein eine Genehmigungspflicht für sämtliche Veräußerungen jüdischer Betriebe, Werte und für Neueröffnungen festgelegt; Einzelfallregelungen fehlen. Materiell war die AnO also ebenfalls eine Verordnung und deshalb der VAjV objektiv nicht nach-, sondern gleichgeordnet. Die Trennung ergab sich lediglich aus dem vermeintlichen Bedürfnis, die Genehmigungsnormen übersichtlich aus der VAjV auszugliedern. Ein materielles Stufen Verhältnis fehlt hingegen. 1

RGBl. 1936 I, S. 887. RGBl. 1938 I, S. 414. 3 Die Präambel der AnO in RGBl. 1938 I, S. 415 lautet entsprechend: „Aufgrund des §7 der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26.4. 1938 (RGBl. 1938 I, S. 414) ordne ich an:". 2

2. Abschn. Β. Direkter Vermögenszugriff — Anmeldungsverordnungen

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In der inhaltlichen Gleichartigkeit der Regelungskategorie durch denselben Verordnungsgeber hinter anderer Bezeichnung tritt die unbeschränkte Macht des BVP, losgelöst von bestehenden Vorschriften, zutage. Entsprechend wurde festgestellt: „Alle in dieser Hinsicht (zur Durchführung des Vierjahresplanes) notwendigen Maßnahmen können somit (durch den BVP) ohne Rücksicht auf bestehende Zuständigkeiten und Rechtsvorschriften getroffen werden, sei es im Wege des Erlasses von Rechtsverordnungen und allgemeinen Verwaltungsvorschriften ... oder durch Erlaß von allgemeinen Anordnungen oder ... Einzelanordnungen" 4 . Der BVP stand somit bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse auch in der sogenannten Judenfrage außerhalb aller formellen Vorschriften, konnte er sich doch jederzeit selbst für zuständig erklären, und außerhalb bestehender materieller Vorschriften war ihm erlaubt, Recht, das mit bestehenden Normen kollidierte, wirksam zu erlassen 5. II. Inhalt der VAjV und der AnO sowie die anschließende Genehmigungspraxis Steht schon das fehlende Stufenverhältnis zwischen der VAjV und der AnO einer gleichgeordneten Behandlung nicht entgegen, so bestätigt sich die Richtigkeit dieser Sichtweise im Rahmen einer einheitlichen Wiedergabe der Vorschriften. 1. Inhalt der VAjV und der AnO

a) Die VAjV Die VAjV bestand aus einer Präambel, die die Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplanes als Grundlage zum Erlaß der VAjV nannte 6 . Acht weitere Paragraphen schlossen sich an, von denen die in § 7 beschriebene Ermächtigung bereits vorgestellt wurde 7 und von denen die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden in § 6 vernachlässigt werden darf. § 1 bestimmte den personellen Anwendungsbereich und die Anmeldungspflicht. Juden im Sinne des § 5 der 1. VO zum RbG hatten danach ihr gesamtes Vermögen anzumelden, wobei diese Pflicht ebenfalls den nichtjüdischen Ehegatten traf, und jede Person mußte getrennt ihr Vermögen angeben. § 2 enthielt eine Legaldefinition des Begriffs Vermögen im Sinne der Verordnung. Dies war „ . . . das gesamte Vermögen ohne Rücksicht darauf, ob es von irgendeiner Steuer befreit ist oder nicht." Ausgespart waren lediglich Mobilien zum persönlichen Gebrauch, die keine Luxusgegenstände waren 8 . Dieser Vermögensbegriff wurde 4 5 6 7

Markmann ! Enterlein, 1938, S.61. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.I.2. RGBl. 1936 I, S. 887. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.I.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

folgendermaßen ausgelegt: Werte, die steuerlich nicht zum Vermögen gerechnet wurden, wie Urheberrechte, Kunstgegenstände — ganz generell Vermögenswerte im weitesten Sinne —, waren Vermögen im Sinne der VAjV und mußten daher angemeldet werden 9 . Genau bestimmt wurde die Pflicht, mit welchem Wert diese Gegenstände anzugeben waren (§ 3). Anzumelden war der „gemeine Wert", wobei lediglich Gegenstände unter 5.000 R M herausfielen. Gemeint war damit „ . . . der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Gutes bei einer Veräußerung zu erzielende ..." Wert 1 0 . Welches Verwaltungsverfahren mit dieser, den Anmeldepflichtigen treffenden Bewertungspflicht, die schon durch den weiten Bewertungsbegriff ausgesprochen umfangreich war, korrespondierte, wird noch darzustellen sein. §4 bestimmte, daß die „Anmeldung ... unter Benutzung eines amtlichen Musters 11 bis zum 30. 6. 1938 bei der ... zuständigen ... Verwaltungsbehörde abzugeben (war)". Selbst falls ausnahmsweise eine Verlängerung der Frist zugesprochen wurde, mußte das Vermögen bis zu diesem Zeitpunkt schätzungsweise angegeben werden. Die Anmeldung und Bewertung war keine einmalige Verpflichtung. § 5 enthielt nämlich eine „Vermögensänderungs-Anzeigepflicht". Danach hatte der Anmeldepflichtige „ . . . unverzüglich jede Veränderung (Erhöhung oder Verminderung) seines Vermögens ..., die über den Rahmen einer angemessenen Lebensführung oder des regelmäßigen Geschäftsverkehrs hinausgeht (anzuzeigen)". Ausdrücklich wies § 5 Abs. 2 auf die Geltung dieser Pflicht auch für solche Personen hin, deren Vermögen momentan nicht anmeldepflichtig war, da es weniger als 5.000 R M betrug. Wiederum wurde diese dauernde Selbstüberprüfungspflicht extensiv ausgelegt. Festgestellt wurde daher, daß eine Änderungsanzeigepflicht bestehe, „ . . . wenn sich auch ohne Bestandsänderung der Wert des Vermögens ändert" 1 2 . Der jüdische Eigentümer mußte also ständig prüfen, ob unabhängig von irgendwelchen vermögensrelevanten Vorgängen Marktpreise zu Vermögensänderungen führten. Mit welcher Ernsthaftigkeit die Anmeldungs-, Bewertungs-

8 §2 Abs. 2; Sigg, 1951, S. 99 stellt das Fehlen der Anmeldepflicht als Teil des objektiven Tatbestandes der Strafvorschrift der VAjV vor. Richtig ist, daß ohne bestehende Anmeldungspflicht ein Straftatbestand ausschied. Allerdings muß gesehen werden, daß eine falsche Beurteilung der Frage, ob ein Gegenstand anmeldungspflichtig im Sinne von § 2 Abs. 2 war, gerade die Bestrafung auslöste. 9

Statt aller insoweit am umfassendsten die Dissertation von Wagner, 1941, S. 63. Wagner, 1941, S. 64. 11 Dieses Muster war eine ausgesprochen komplexe und detaillierte Unterlage, die praktisch keinen Gegenstand ausließ. Wiedergegeben ist dieses Formular bei Adler, 1974, S. 54. Die authentische Wiedergabe erstreckt sich dort über sieben Seiten. 12 Wagner, 1941, S. 65. 10

2. Abschn. Β. Direkter Vermögenszugriff — Anmeldungsverordnungen

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und Anzeigepflicht zu beachten war, zeigt § 8 der VAjV. Bereits die fahrlässige Verletzung einer dieser Pflichten, etwa die unrichtige oder nicht rechtzeitige Erfüllung, konnte mit Freiheitsstrafe geahndet werden; bei vorsätzlicher Begehung in einem besonders schweren Fall mit bis zu 10 Jahren Zuchthaus 13 . Gleichfalls war der Versuch strafbar. Zur Frage, wann ein besonders schwerer Fall gegeben sei, finden sich keine Judikate oder Kommentierungen aus der damaligen Zeit. Sigg geht davon aus, daß ein schwerer Fall in Fällen vorgelegen haben dürfte, in denen große Summen Tatobjekt waren, und begründet diese Aussage mit dem finanzwirtschaftlichen Charakter der Vorschrift 14 . Eine Aussage, die zur Prämisse hat, die Strafgerichtsbarkeit habe versucht, Juden gegenüber das Tatbestandsmerkmal schwerer Fall genau zu definieren. Dies erscheint jedoch fraglich, worauf Sigg selbst in § 9 ihrer Arbeit mit dem Titel „Die Berücksichtigung der Judeneigenschaft des Täters in der Rechtsprechung über nichtrassenrechtliche Strafgesetze" durch die Analyse verschiedener Judikate, die eine willkürliche Strafbemessung belegen, nachweist 15 . b) Die AnO A m 26. 4. 1938 ergingen die VAjV und die A n O 1 6 ; letztere war ungleich umfangreicher als die VAjV. Anschließend wird der Inhalt der AnO skizziert und allein der zentrale § 1 ausführlicher vorgestellt, weil an ihn alle übrigen Paragraphen mit Ausnahme des § 7 anknüpfen. § 1 statuierte eine Genehmigungspflicht für die Veräußerung jüdischer Betriebe aller Art. Deklaratorisch Schloß § 2 Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts zur Umgehung der Genehmigungspflicht aus. Anschließend wurde das Genehmigungserfordernis in einem Sonderfall für entbehrlich erklärt und § 4 verpflichtete Notare, die Frage zu stellen, ob ein Jude Vertragspartei sei. Den Nachweis der Entbehrlichkeit einer Genehmigung hatte die Grundbuchbehörde nach eigenem Ermessen zu fordern, falls sie Anlaß zur Annahme hatte, eine Genehmigungspflicht bestehe (§ 5); dieselbe Behörde hatte einen Widerspruch ins Grundbuch einzutragen, falls ohne Genehmigung im Sinne des § 1 eine Rechtsänderung eingetragen wurde (§ 6). Neu- und Filialeröffnungen von Betrieben wurden genehmigungspflichtig (§§ 7 und 8). § 9 regelte die Zuständigkeit, während § 10 als einziges Rechtsmittel die Beschwerde beim Reichswirtschaftsminister zuließ. Schließlich legte § 11 fest, daß die Verletzung der AnO nach den Vorschriften der VAjV bestraft werden konnte. 13 14 15 16

RGBl. 1938 I, S.414. Sigg, 1951, S. 103 f. Sigg, 1951, S. 105ff. RGBl. 1938 I, S.415.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Einige dieser Paragraphen bildeten den Anlaß für umfangreiche Auslegungsfragen, deren Beantwortung den tatsächlichen Inhalt der Vorschriften verdeutlicht. I m Zentrum der AnO stand § 1, weil durch ihn die einschneidenste Pflicht statuiert wurde. § 1 Abs. 1 lautete: „Die Veräußerung oder Verpachtung eines gewerblichen land- oder forstwirtschaftlichen Betriebes sowie die Bestellung eines Nießbrauchs an einem solchen Betrieb bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Genehmigung, wenn an dem Rechtsgeschäft ein Jude als Vertragsschließender beteiligt ist. Das gleiche gilt für die Verpflichtung zur Vornahme eines solchen Geschäfts." Das Tatbestandsmerkmal der Veräußerung dehnte man aus auf Schenkungen, selbst eines jüdischen an seinen nichtjüdischen Ehepartner. So wurde festgestellt, daß die AnO in ihrer Auslegung mit keinen zivilrechtlich défini torischen Schranken belegt werden dürfe. Vielmehr entstehe durch § 1 der AnO unabhängig von einer etwaigen Entgeltlichkeit eine Genehmigungspflicht, die aus diesem Grunde Schenkungen gleichermaßen erfasse 17. Veräußerungen im Sinne des § 1 Abs. 1 seien im übrigen die Abtretungen von Rechten, das Überlassen eines Patents, Übertragung von Anteilen an Gesellschaften oder ihre Verpfandung, falls ein solcher Anteil 10% des Gesellschaftskapitals erfasse 18. Ebenfalls extensiv wurde das Merkmal gewerblicher Betrieb ausgelegt. Zunächst gelte die von der Rechtsprechung erarbeitete Definition. Gewerbe sei danach jede gleichmäßig fortgesetzte, auf Gewinn zielende Tätigkeit, die nicht bloß vorübergehend ist 1 9 . Diese Definition und auch gewerbesteuerliche Bestimmungen seien nur ein Leitfaden, was unter gewerblichem Betrieb im Sinne der AnO zu verstehen sei. Sie seien insbesondere nicht abschließend. Deswegen könne ein jüdischer Gewerbebetrieb selbst dann vorliegen, wenn überwiegend jüdisches Darlehen verwendet würde 20 . Gleich bewertet werden müsse die Übertragung von Vertretungen, etwa in der Versicherungsbranche 21. Obwohl durch den Verweis auf die 1. DVO und die die 3. DVO zum R b G 2 2 die Merkmale „ein Jude als Vertragsschließender" ( l . D V O ) und „jüdischer Gewerbebetrieb" (3. DVO) eindeutig bestimmt zu sein schienen23, wurden beide Tatbestandsmerkmale ausgedehnt verstanden, allerdings ohne dabei von der l . D V O zum RbG abzuweichen24. Vielmehr legte man deren RassebegrifT

17 18 19

MarkmannIEnterlein, 1938, S. 63 und Krüger, 1940, S. 229. Krüger, 1940, S.21. Landmann ! Rohmer, 1938, S. 34 ff., dort mit umfassenden Rechtsprechungsnachwei-

sen. 20

MarkmannIEnterlein, 1938, S. 73. MarkmannIEnterlein, 1938, S. 75. 22 Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.2.a). 23 Die Untauglichkeit der Definition wurde bereits oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.l.c) nachgewiesen. 24 Krüger, 1940, S. 240. 21

2. Abschn. Β. Direkter Vermögenszugriff — Anmeldungsverordnungen

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zugrunde, interpretierte den Begriff Vertragsschließender aber eigenständig. Selbst wenn der Vertrag von einem Arier unterzeichnet sei, könne ein Jude Vertragsteil sein, etwa wegen des Umstandes, daß er Vertretener sei 25 . Darüber hinaus könne ein solcher Fall vorliegen, wenn etwa der nichtjüdische Ehegatte ein Unternehmen verkauft. Hier müsse beachtet werden, „ . . . daß bei Ehegatten immer die Vermutung besteht, daß der Jude irgendeinen maßgeblichen Einfluß auf die Geschäftsführung ausüben wird, so daß der Betrieb als jüdisch im Sinne der 3. DVO zum RbG angesehen werden muß" 2 6 . Ferner müsse dem Mißverständnis entgegengetreten werden, nur wenn eine Vertragspartei Jude ist, liege dieses Tatbestandsmerkmal vor bzw. Veräußerung ausschließlich unter Juden sei genehmigungsfrei. Vielmehr bedürfe das Rechtsgeschäft allein unter Juden ebenfalls der Genehmigung 27 . Schließlich legte man § 1 Abs. 2 — „Wird das Rechtsgeschäft genehmigt, so gilt die Genehmigung auch für das diesem Verpflichtungsgeschäft entsprechende Erfüllungsgeschäft als erteilt." — folgendermaßen aus: Wenn die AnO Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäft erfasse, so folge daraus, daß in Fällen, da das Verpflichtungsgeschäft vor Erlaß der AnO rechtswirksam abgeschlossen wurde, jedoch noch nicht erfüllt sei, das nach Erlaß der AnO vorzunehmende Erfüllungsgeschäft genehmigungspflichtig sei, mit der weiteren Folge, daß bei Genehmigungsverweigerung rückabgewickelt werden müsse 28 . Zusammenfassend kann man feststellen, daß die VAjV eine Anwendungs-, Bewertungs- und Änderungsanzeigepflicht zum Inhalt hatte, die AnO eine umfassende Genehmigungspflicht für Veräußerungen und Neueröffnungen aufstellte, und die selbst fahrlässige Verletzung dieser Pflichten strafbewehrt war. 2. Verwaltungspraxis

Der die Zuständigkeit regelnde §9 der AnO — festgelegt wurde die Zuständigkeit der höheren Verwaltungsbehörde als Genehmigungsbehörde, daß örtlich die Behörde zuständig sei, an deren Ort der Betrieb gelegen war, bei der Eröffnung dort, wo sie erfolgen sollte und die Befugnis des Reichswirtschaftsministeriums, bei Zweifelsfragen die Zuständigkeit zu bestimmen — stellte fest, die Genehmigung werde lediglich auf Antrag erteilt. Im Mittelpunkt dieses, auf Antrag eröffneten Verwaltungsverfahrens stand die gutachterliche Stellungnahme der Industrie- und Handelskammer (IHK)

25

Krüger, 1940, S. 240; Maelicke, 1938, S. 1629. Markmann I Enter lein, 1938, S. 112. A n dieser Stelle zeigt sich ein rassisches Motiv. Begründet wird die Vermutung nämlich in keiner Weise. Die Formulierung legt nahe, daß die Verfasser von der ideologischen Prämisse ausgingen, Juden seien per se geschäftstüchtig und würden im Unternehmen die Geschäftsführung an sich bringen. 27 Krüger, 1940, S. 240. 28 Markmann ! Enterlein, 1938, S. 113ff. 26

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

sowie des Gauleiters 29 . Denn eine ablehnende Stellungnahme einer dieser beiden Verfahrensbeteiligten führte zur Versagung der Genehmigung 30 mit der Folge, daß dem jüdischen Bürger eine Versilberung seiner Werte, zum Beispiel zwecks Auswanderung unmöglich gemacht wurde. Selbst der das Verfahren regelnde Erlaß ließ jedoch offen, wie die I H K vorzugehen hatte. Dennoch bildeten sich gewisse Grundsätze heraus 31 , die folgendermaßen skizziert werden können: Im wesentlichen sollte die I H K feststellen, ob der Betrieb erhaltungswürdig war. Dies war zu verneinen, wenn „ . . . nach der Zahl der innerhalb des bisherigen sachlichen und örtlichen Betätigungsbereiches des zu veräußernden Betriebes bereits vorhandenen gleichartigen Gewerbebetrieben ein allgemeines volkswirtschaftliches Interesse an der Weiterführung des Geschäfts nicht besteht und eine bereits vorhandene ... Überbesetzung das Eingehen des Betriebs allgemein erwünscht erscheinen läßt" 3 2 . Die I H K Berlin beurteilte dies konkret folgendermaßen: „Wenn zum Beispiel im Falle der Veräußerung einer Tabakwarenverkaufsstelle in einer Entfernung bis zu 240 Metern nicht weniger als 14 andere Tabakgeschäfte liegen und sich in näherer Umgebung einer jüdischen Drogerie 17 andere Drogerien, 10 Seifengeschäfte und 6 Apotheken befinden, so dürfte ein volkswirtschaftliches Interesse an der Erhaltung der in Rede stehenden Betriebe nicht gegeben sein" 33 . Diese Darstellung zeigt den großen Spielraum, der der mit der Begutachtung beauftragten Person bei der Beurteilung, ob in einem konkreten Geschäftsbezirk die Erhaltungswürdigkeit fehlte, anheimfiel. Die schlichte Aufzählung vorhandener Betriebe sagt letztlich überhaupt nichts über das Bedürfnis, zumal die Anzahl der Betriebe auch zu einer volkswirtschaftlich gesunden Konkurrenz führen konnten. Entscheidend ist aber, daß das oben genannte Beispiel eben in keiner Weise ein verbindliches Kriterium enthält, sondern lediglich einen Fall zeigt, in dem der Beurteiler der I H K Berlin ein volkswirtschaftliches Interesse verneinte. Wie hingegen in den einzelnen Orten verfahren wurde, hing von der Beurteilung des jeweiligen Gutachters ab. Dabei muß erneut beachtet werden 34 , daß die Gutachterbestellung dem Präsidenten der jeweiligen I H K oblag, dessen Auswahl zwischen strengen und weniger strengen Parteigenossen für eine so vage vorgezeichnete Entscheidung maßgeblich gewesen sein dürfte.

29 Festgelegt wurde das Verfahren, insbesondere die Anhörungspflicht bzgl. des Gutachters in einem Runderlaß des Reichswirtschaftsministeriums vom 5. 7. 1938, der nicht veröffentlicht wurde und authentisch auch nicht mehr erhalten ist, jedoch in seinen wesentlichen Teilen mit Hilfe des damaligen Schrifttums wiedergegeben wurde, vgl. Markmann ! Enterlein, 1938, S. 5 des Vorwortes, Maelicke, 1938, S. 1631 und Brune, 1941, S. 41. 30 Markmann IEnterlein, 1938, S. 144. 31 Umfassend wiedergegeben bei Brune, 1941, S. 42 ff. 32 Ziffer 3 des Erlasses des Reichswirtschaftsministeriums bei Brune, 1941, S. 41. 33 Maelicke, 1938, S. 1634. 3 Siehe b e n 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.3.

2. Abschn. Β. Direkter Vermögenszugriff — Anmeldungsverordnungen

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Die Möglichkeit direkten nationalsozialistischen Einflusses im Genehmigungsverfahren tritt ebenfalls in der Einschaltung des Gauleiters zutage, der sich gutachterlich äußern sollte 35 . Beachtet man seine streng ideologisch ausgerichtete Funktion, erscheint es naheliegend anzunehmen, daß der Gauleiter regelmäßig für das „Eingehenlassen" des jüdischen Betriebes gewesen sein dürfte: Beim Verkauf wäre es nämlich nicht auszuschließen, daß dem jüdischen Unternehmer doch noch Finanzwerte zugeflossen wären. I I I . Diskriminierungsintention der VAjV und der AnO Die VAjV und die AnO verfolgten eindeutig nachvollziehbare Ausgrenzungsabsichten. 1. Diskriminierungsintention der VAjV

M i t der Anmeldepflicht 36 bezweckte man die Ermittlung jüdischen Vermögens, die ausgesprochen vollständig und genau sein sollte. Dies ergibt sich aus § 1 Abs. 2 VAjV, der den nichtjüdischen Ehegatten anmeldungspflichtig machte, und aus § 1 Abs. 3 VAjV, der die personell getrennte Anmeldungspflicht statuierte. Als unzureichend beurteilte man also, allein das Vermögen der jüdischen Bevölkerung im Sinne des § 5 der 1. DVO zum RbG zu registrieren, sollte doch zugleich das Ehegattenvermögen erfaßt werden. Der Perfektionismus der VAjV, d.h. die Absicht, jüdische wirtschaftliche Werte oder solche, die möglicherweise jüdischem Einfluß ausgesetzt sein könnten, ausnahmslos zu erfassen, steht ebenfalls hinter der Vermögensdefinition. War durch § 1 VAjV der personelle Anwendungsbereich festgelegt, so mußte von § 2 VAjV das gegenständlich erfaßte Vermögen umfassend definiert werden. Die Loslösung vom steuerrechtlichen VermögensbegrifP 7 sollte ermöglichen, Vermögenswerte, die steuerrechtlich nicht erfaßt waren, anmeldungspflichtig werden zu lassen. M i t Ausnahme der Gegenstände zur täglichen Lebensführung vervollständigte sich somit die staatliche Kontrolle. Hatte § 1 VAjV etwaige Erfassungslücken im personellen Anwendungsbereich geschlossen, §2 VAjV Ausweichmöglichkeiten für die Betroffenen in sachlicher Hinsicht — etwa wegen der Möglichkeit, gewisse Gegenstände nicht angeben zu müssen — beschränkt, so setzt sich die Absicht möglichst perfekter Erfassung in der Bewertungsvorschrift des § 3 VAjV fort. Die Bewertung wurde demgemäß am Verkaufswert des Gegenstandes im Rechtsverkehr allgemein ausgerichtet. Diese objektive Festlegung war dazu gedacht, den Betroffenen die Möglichkeit zu nehmen, durch das Einfließenlassen subjektiver Kriterien, etwa der Geltendmachung des Umstandes, daß man als Jude am Markt nur einen 35 36 37

Krüger, 1940, S. 263. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a). Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a).

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

hinter dem wahren Wert zurückbleibenden Erlös erzielen könnte, weil der Käufer die Zwangslage ausnutzen würde, abzuschneiden. Diese drei Einzelintentionen — vollständige personelle Erfassung, ausnahmslose Erfassung relevanter Sachwerte und personenunabhängige objektive Bewertung — sollten zukünftig erhalten bleiben, d.h. durch die Änderungsanzeigepflicht fortlaufend aktualisiert werden. Dabei hatte diese Pflicht daneben den Sinn, „ . . . die Bewegung jüdischen Vermögens ... zu überwachen" 38 . Tritt bei dieser Zusammenschau der Einzelintentionen bereits eine allgemeine Absicht — Vollständigkeit der Erfassung — hervor, so können darüber hinaus andere der VAjV zugrunde liegende Intentionen nachgewiesen werden. Die Vollständigkeit der Wertermittlung war dazu gedacht, jüdischen Einfluß auf das deutsche Wirtschaftsleben ermitteln zu können 39 . Darin wird eine rassisch vorurteilsbedingte Diskriminierungsabsicht deutlich. Die Wertermittlung erlaubte ein überkommenes antisemitisches Vorurteil, das der Vorherrschaft des Judentums in der Wirtschaft 40 , nachzuweisen. Die zweite allgemeine Absicht ist weniger inhaltlicher, denn verfahrenstechnischer Art. Im Jahre 1938 hatte sich die Forderung nach einer „Iyösung der Judenfrage in der Wirtschaft" durchgesetzt 41. Dazu war es vorbereitend nötig, möglichst detailliert festzustellen, welche Werte vorhanden waren, um einen zu konstruierenden Zugriff effektiv zu gestalten. Genau letztere Absicht tritt hinter der zeitgenössischen Bewertung 42 , die VAjV diene zur Vorbereitung der Lösung der Judenfrage in der Wirtschaft, hervor. 2. Ausgrenzungsabsicht der AnO

Wie die VAjV war die AnO gleichermaßen von einem komplexen Intentionsbündel bestimmt. Im Zentrum der AnO steht der die Genehmigungspflicht an sich statuierende § 1. Dessen Intention wurde folgendermaßen beschrieben: Der Genehmigungszwang habe einmal den Sinn, dem Staat zu ermöglichen, wirtschaftlich lenkend durch behördliche Kontrolle bislang unkontrollierten Arisierungen entgegenzuwirken. Ohne staatliche Mitwirkung seien diese Arisierungen häufig im Ergebnis nichts anderes als eine getarnte Fortführung des Betriebes durch seinen jüdischen Inhaber gewesen, indem bei ihm die tatsächliche Geschäftsführung verblieb. Der direkte Einfluß auf die Übernahme könne dies endgültig verhindern 43 . 38 39 40 41 42 43

Hefermehl, 1938, S. 1981 m.w.N. Statt aller Wagner, 1941, S. 59. So ausdrücklich Maelicke, 1938, S. 1628ff. und Brune, 1941, S. 42ff. Krüger, 1940, S. 210. Krüger, 1940, S. 207f.; Markmann/Enterlein, 1938, S. 12 der Einführung. Wagner, 1941, S.68f.

2. Abschn. Β. Direkter Vermögenszugriff — Anmeldungsverordnungen

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Eine zweite Intention habe rein volkswirtschaftlichen Charakter. Der Genehmigungszwang erlaube es zu prüfen, ob die Genehmigung der Veräußerung und Fortführung des Betriebes volkswirtschaftlich erwünscht sei. Zur fachlichen Beurteilung dieser Frage erstelle die I H K ein Gutachten, das erlaube zu prüfen, ob eine Überbesetzung des konkreten Wirtschaftszweiges vorliege 44 . Werde diese, allein volkswirtschaftlich zu beurteilende, Überbesetzung festgestellt, erfordere eine gesunde Volkswirtschaft, die Genehmigung zu verweigern 45 . Ausdrücklich wurde in diesem Zusammenhang herausgestellt, daß § 1 AnO zwei Absichten keinesfalls verfolge. Die Genehmigungsvorschrift solle keinen Konkurrenzschutz bewirken, denn abnehmende Konkurrenz und damit einhergehende Wettbewerbsverzerrung zu Lasten der Verbraucher widerspreche dem Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz". Schließlich stehe in engem Zusammenhang mit der Ablehnung des Konkurrenzschutzes der Grundsatz der Konzentration-/Monopolvermeidung, was durch Konkurrenzschutz gerade gefördert werde 46 . Daraus ergebe sich auch, daß es § 1 der AnO fernliege, direkte Eingriffe auf jüdisches Vermögen zu bewirken 47 . Die übrigen Paragraphen der AnO sollten den eingangs dargestellten Zweck lediglich unterstützen. So hatte das Umgehungsverbot des § 2 allein die Absicht, die vollständige Erfassung der Rechtsgeschäfte im Sinne der AnO zu unterstreichen 48 . § 3 wiederum stellte zur Sicherung der Zweckerreichung des § 1 fest, die Ausnahmen vom Genehmigungserfordernis seien abschließend, waren die zusätzlichen Kontrollen doch dazu gedacht, neben den zuständigen Verwaltungsbehörden eigenständig ein einstweiliges Genehmigungserfordernis im Sinne des § 1 AnO zu prüfen 49 . Das Verbot neuer Eröffnungen stellte schließlich sicher, daß nach einer Genehmigungsverweigerung eine Neueröffnung ausblieb. IV. Diskriminierungserfolg der VAjV und der AnO 1. Diskriminierungserfolg der VAjV

Wieviele Personen aufgrund der VAjV erfaßt wurden und welchen bezifferbaren Umfang die Werte hatten, kann mit Einschränkungen anhand einer Statistik des Auswärtigen Amtes skizziert werden 50 . Danach hatten von 320000 Rasseju44

Daß die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens mit diesen auch noch nachfolgend weiter darzustellenden Postulaten hinsichtlich der Veräußerung oder Fortführung eines Betriebes nicht übereinstimmte, wurde bereits oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.III, dargestellt. Nachfolgend wird das Verhältnis zwischen den vorgeblichen Zwecken und dem tatsächlichen Diskriminierungserfolg noch zu beleuchten sein. 45 46 47 48 49 50

Maelicke, 1938, S. 1634; Jähning, 1938, S. 899 und Brune, 1941, S. 42ff. Markmann ! Enterlein, 1938, S. 57; Maelicke, 1938, S. 1634. Krüger, 1940, S. 276. So ausdrücklich Markmann/Enterlein, 1938, S. 122. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.b). Dok. NG-1793, wiedergegeben bei Genschel, 1966, S. 205.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

den im Deutschen Reich ohne Österreich 147586 ein Vermögen über 5000 R M angemeldet. Beziffert wurde deren Vermögen mit 7 538 Milliarden R M 5 1 . Ob die übrigen Personen von der Pflicht tatbestandlich ausgenommen waren oder sich ihr entzogen, kann definitiv nicht festgestellt werden, woraus sich eine der Einschränkungen der zahlenmäßigen Erfassungen ergibt. Zwar wurden damals Fälle genannt, in denen es zur Nichtanmeldung gekommen war. Schubert 52 meint etwa sagen zu können: „Aus der Fülle des vorhandenen Materials sei ein Beispiel angeführt. Aufgrund verschiedener Beobachtungen wurden in der Zeit vom 29. 6. 1938 bis 3. 7. 1938 durch insgesamt zwölf Kriminalbeamte bei 103 Juden Hausdurchsuchungen durchgeführt, die verdächtigt waren, unangemeldetes Vermögen ... in ihren Wohnungen aufzubewahren". Dabei seien Werte von 600000 R M beschlagnahmt worden. Zum einen bleibt offen, bei wieviel Personen diese Werte aufgefunden werden konnten. Ob also eine oder hundert Personen sich der Anmeldungspflicht entzogen hatten, kann danach nicht gesagt werden. Zum anderen ist der Wert verschwindend gering. Zu Recht weist Genschel53 darauf hin, angesichts der tausend Millionenbeträge seien selbst einige Millionen zu vernachlässigen. Indizien sprechen im übrigen für die Annahme, daß ausgesprochen viele Juden der VAjV nachkamen. Durch die Strafbewehrung 54 schon fahrlässigen Verhaltens drohte eine Pönalisierung, deren Realisierungsgefahr durch die Frist zunahm. Außerdem bestand bei einer Bestrafung die Gefahr, das Vermögen in Folge Einziehung zu verlieren; es also nicht nur registriert, sondern endgültig entzogen wurde 55 . Wegen des durch den Anwendungsbereich 56 der VAjV erfaßten Personenkreises muß als zweite Einschränkung zur richtigen Einschätzung der eingangs vorgestellten Statistik beachtet werden, daß die genannten 320000 Juden immer sogenannte Rassejuden, d.h. arische Ehegatten, die der Anmeldungspflicht ebenfalls unterlagen, nicht berücksichtigt wurden. Qualitativ lassen sich drei Diskriminierungsrichtungen nachweisen. Die Anmeldungspflicht als solche stigmatisierte die Betroffenen. Der übrigen Bevölkerung wurde nämlich so offenbar, daß die wirtschaftlichen Werte dieser Gruppe besonderer Kontrolle bedurften. Wichtig ist wiederum bei dieser wie bei den folgenden Ausgrenzungsqualitäten, daß ebenfalls der nichtjüdische Ehegat51 Boelcke, 1983, S. 214 gibt für seine Zahlen zwar keine Primärquelle an. Da sich diese aber mit denen Genschels hinsichtlich der erhobenen Daten, des Zeitpunktes der Erhebung sowie des geographischen Bezugs decken, kann davon ausgegangen werden, daß sich seine Zahlen ebenfalls auf die Quelle Auswärtiges Amt beziehen. 52

Schubert, 1943, S. 16 f. Genschel, 1966, S.205f. 54 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a). 55 Schewe, 1937, S. 15ff. m.w.N. stellt in seiner Dissertation „Einziehung, Verfallserklärung, Konfiskation, Beschlagnahme und Sicherstellung" ausdrücklich heraus, daß bei der Einziehung der Gegenstand endgültig dem Staat verbleibe. Siehe oben 2. Kapitel, . Abschnitt, .II... 53

2. Abschn. Β. Direkter Vermögenszugriff — Anmeldungsverordnungen

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te erfaßt wurde. Rassisch konsequent erfolgte somit eine Ausweitung, die das private Zusammenleben belastete, weil jetzt selbst der arische Ehepartner einer Pönalisierungsgefahr ausgesetzt war. Erstmals — und darin liegt eine zweite Qualität — bestand diese Gefahr fortlaufend. Die besondere Schärfe der Änderungsanzeigepflicht zeigt sich in dem Dilemma, vor dem die Anmeldungspflichtigen standen: Einerseits war festgelegt, daß die Vermögensänderung eine reine Bewertungsänderung im Sinne einer Wertsteigerung ohne jede Vermögensbewegung, auf die man Einfluß hatte, sein konnte 57 . Ständig mußte also der Eintritt einer solchen Veränderung beachtet werden. Verkehrswerte festzustellen, konnte bei Gegenständen, die börsenüblich gehandelt wurden, möglich sein. Doch wie sollte der strafbewehrten Unterschätzung solcher Gegenstände entgegengewirkt werden, bei denen so ein Wert nicht feststellbar war? Ging man mit einem Gegenstand, dessen Wert möglicherweise über 5000 R M lag, zu einem potentiellen Käufer in der Nachbarschaft, der um die Anmeldungspflicht des jüdischen Nachbarn wußte, bestand die Gefahr dem Käuferinteresse entsprechend, einen zu geringen Wert genannt zu bekommen; ahnte der Käufer doch eine mögliche zukünftige Verkaufspflicht. Wurde der eigene unmittelbare Wohnbereich verlassen, in dem man als Jude bekannt war, standen der im Sinne des §3 richtigen Bewertung dennoch unüberwindliche Hindernisse entgegen. Zwei oder drei Gegenstände bewertet haben zu wollen, mochte unverdächtig sein. Sollte die Anmeldungs- und Bewertungspflicht jedoch ohne gefahrliche Fehler erfolgen, so mußte jeder einzelne Gegenstand bewertet werden, und es war mit Entdeckung des faktischen Verkaufszwanges zu rechnen, was wiederum die Gefahr der Unterbewertung nach sich zog. So oder so mußte also eine eigene Überbewertung vorgenommen werden, um wirklich der Bestrafungs- und damit der Vermögensverlustgefahr zu begegnen. Drittens ist in der Lückenlosigkeit der Registrierung einer einzelnen Gruppe ein weiterer ausgrenzender Erfolg zu sehen. Zwar hatte es bereits vor der VAjV solche Pflichten gegeben58. Davon waren aber nicht alle Juden betroffen. Gilt diese Aussage der erstmaligen non-sektoralen Erfassung für die jüdische Bevölkerung, so gilt sie erneut verschärft hinsichtlich nichtjüdischer Ehepartner, denn sie wurden überhaupt erstmalig registriert. M i t der Registrierung wurde zugleich die Möglichkeit geschaffen, spätere Eingriffe zu perfektionieren. Naturgemäß liegt darin kein unmittelbarer Diskriminierungserfolg der VAjV, sondern ein mittelbarer, im Wege einer Erleichterung späterer legislativer und exekutiver Ausgrenzungen.

57 58

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a). Siehe etwa oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, B.I.2.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung 2. Ausgrenzungserfolg der AnO

Zahlen, die erlauben, die Genehmigungsverfahren im gesamten Reichsgebiet zu beziffern, fehlen 59 . Detailliertes Zahlenmaterial liegt hingegen für Berlin vor. Dabei handelt es sich um einen Bericht der I H K 6 0 . Vom 27. 4. bis zum 31.10. 1938 erstattete die I H K Berlin 928 Gutachten. Die Veräußerungsverfahren erfaßten, wie durch den weiten sachlichen Anwendungsbereich der AnO bezweckt 61 , eine Vielzahl von Unternehmenszweigen. Allein 180 betrafen Großhandelsbetriebe in den Bereichen Textilien, Papier, Metall, Werkzeugmaschinen, Lebensmittel, Süßwaren, Tabak, Elektro, Kosmetik, technischen Bedarf, Mineralöle und ähnliche Zweige 62 . In allen Großhandelsbetrieben war also der Drang zum Verkauf vorhanden. In Industriebetrieben zeigt sich ein ähnliches Bild. So in den Bereichen Textilien, Druck, Eisen, Metall, Chemie, Möbel und Elektro. In den genannten Branchen kam es ebenfalls bei Einzelhandelsgeschäften zu Genehmigungsverfahren, und schließlich sind diese Verkaufsbestrebungen gleichfalls nachgewiesen für die Vermittlungs-, Bank-, Pfand- und ähnliche Gewerbe 63 . Erkennbar wird an dieser Aufzählung, daß ein Zweck, nämlich die möglichst vollständige Veräußerungskontrolle insoweit erreicht wurde, als für sämtliche Wirtschaftsbetriebe Genehmigungen beantragt wurden. Qualitativ muß erkannt werden, wie sich das extensive Verständnis des Genehmigungserfordernisses auswirkte 64 . § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 zeigten, daß Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäft die Genehmigungspflicht auslösten 65 . Dieses Verständnis führte zu einer Rückwirkung der VAjV, in der eine eigene Ausgrenzungsqualität liegt. Entsprechend wurde bezüglich § 1 festgestellt: „Ist also vor Inkrafttreten der Anordnung das Verpflichtungsgeschäft als rechtsgültig abgeschlossen, das Erfüllungsgeschäft aber noch nicht getätigt, so bedarf letzteres für sich allein noch der ... Genehmigung" 66 . Die zivilrechtlichen Kategorien des Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäfts wurden durch diese Sichtweise genutzt, um eine Rückwirkung — Erfassung von Veräußerungsgeschäften vor Geltung der AnO — zu bewirken. Offenkundig wird hier die willkürliche Handhabung zivilrechtlicher Auslegungstechniken zur 59 Die von Krüger, 1940, S. 44 f. angeführte Statistik, auf die sich G enscheis, 1966, S. 206 f. quantitative Feststellungen stützen, nennt zwar eine Zahl liquidierter oder arisierter Betriebe, läßt jedoch nicht erkennen, ob diese Verfahren auf die AnO zurückgingen. 60 61 62 63 64 65 66

Wiedergegeben von Maelicke, 1938, Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, Maelicke, 1938, S. 1632. Maelicke, 1938, S. 1633. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, Wagner, 1941, S. 113. Wagner, 1941, S. 113 und Krüger,

S. 1628 ff. B.II.l.b).

B.II.l.b). 1940, S. 241.

2. Abschn. Β. Direkter Vermögenszugriff — Anmeldungsverordnungen

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Optimierung des Ausgrenzungserfolges: Während die Kategorien Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäft beibehalten wurden, denn sie ergaben eine rückwirkende und damit verstärkende Diskriminierung, ging man von diesen Kategorien bezüglich des Schenkungsbegriffs ab 6 7 , weil nämlich das Festhalten an diesem Begriff eine Begrenzung des Ausgrenzungserfolges bewirkt hätte 68 . Eine weitere Qualität resultierte aus dem Erkennen des vorbereitenden Charakters der VAjV. Erkennbar war, daß die Registrierung dem späteren Zugriff dienen sollte oder aber wenigstens dienen konnte. Einen Genehmigungsantrag gemäß § 1 der AnO zu stellen und so die Arisierung zu ermöglichen, zog diese Erkenntnis nach sich, mußte man doch Schlimmeres befürchten. Krüger stellt dementsprechend fest: „Die Anordnung aufgrund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26.4. 1938 hat, obwohl Zwangsbestimmungen für die Entjudung darin nicht getroffen waren, in starkem Maße zur freiwilligen Überführung jüdischer Betriebe in deutsche Hände geführt." 69 Eine deutliche Charakterisierung dieser sogenannten freiwilligen Arisierung als materiellem Zwangseingriff gibt Schleunes70, indem er sagt: „Until november 1938, the transfer of Jewish holdings into Aryan hands came about through these so-called voluntary agreements. A voluntary meant only that Jewish owners were compensated for the transfer of their properties and that the sale was negotiated and sealed by legal contract. Compensation, of course, was never equal, to the value of their property ... Nor where Jewish property owners paid in currency which could be transferred out of Germany." Bereits vor der Sperrkontenpraxis war der materielle Zugriff so also möglich. Richtig ist es, in der sogenannten freiwilligen Arisierung eine Folge der VAjV und der AnO zu sehen. Andererseits konnte gezeigt werden, wie die AnO bereits selbst materiell beschränkende Wirkung zeitigte und daß darin der einschneidendste Ausgrenzungserfolg lag. Veräußerungsgenehmigungen wurden in erheblichem Umfange nicht nur erteilt, sondern eben auch verweigert 71 . Eine solche Verweigerung hatte den Zwang der Betriebsliquidierung zur Folge, da die Weiterführung genehmigungsbedürftig war. Die Zusammenschau der Liquidierungsfolge wegen einer Genehmigungsverweigerung und die vorgebliche Intention, das Genehmigungserfordernis habe rein volkswirtschaftliche Zwecke, diene mithin keinem Konkurrenzschutz, decouvriert zweierlei: Einmal hatte die AnO sehr wohl einen direkten Zwangseingriff zur Folge, nämlich bei Genehmigungsverweigerung. Ganz offen fordert Wagner insoweit, es müsse in allen Fällen beantragter Genehmigung geprüft werden, ob nicht bereits heute „ . . . durch Versagen der Genehmigung die 67 68 69 70 71

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.b). Markmann ! Enterlein, 1938, S. 63ff. Krüger, 1940, S. 276. Schleunes, 1970, S. 158. Maelicke, 1938, S. 1628.

12 Tarrab-Maslaton

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Liquidation der Firma erzwungen und damit zur Bereinigung des betreffenden Wirtschaftszweiges beigetragen werden kann" 7 2 . Zum anderen war Folge der Liquidation das Fehlen eines Konkurrenten, also objektiv gerade Konkurrenzschutz 73 . Schließlich traf drittens diese Bereinigung nicht die am jeweiligen Marktsegment Beteiligten insgesamt, sondern immer die allein der Genehmigungspflicht unterliegenden Juden. Im Ergebnis zog die Genehmigungsverweigerung also den direkten diskriminierenden Ausschluß jüdischer Konkurrenz und zugleich einen materiellen Eingriff — Liquidierungserzwingung — nach sich. V. Unterschiedliche, sich jedoch ergänzende Ansiedlung des Ausgrenzungserfolges und objektiv erhöhte Diskriminierungswirkung Die VAjV erfaßte umfassend vorbereitend alle jüdischen Vermögenswerte 74. Eine Betrachtung dieser Verordnung ohne die AnO zeigt somit einen Schwerpunkt im Bereich des quantitativen Ausgrenzungserfolges, wurden doch alle — non-sektoral — Juden und deren Ehepartner erfaßt. Mag in der gesteigerten quantitativen Erfassung zugleich eine Ausgrenzungsqualität liegen, so bleibt die Aussage, daß die VAjV keine materiellen Zwangseingriffe ermöglichte, richtig. Qualitativ erreicht sie daher ein hinter der AnO verbleibendes Ausgrenzungsniveau — nimmt man dieselbe isolierte Betrachtung bei der AnO vor, kann eine entgegengesetzte Feststellung getroffen werden. Der Anwendungsbereich des § 1 war zwar ausgesprochen weit gesteckt und wurde mittels der dargestellten Auslegung zusätzlich erweitert 75 . In Gang gesetzt wurde das Verfahren jedoch erst auf Antrag. So betrachtet hing der Grad des quantitativen Erfolges von der zuvor getroffenen Verkaufsentscheidung ab. Qualitativ hingegen beinhaltete die AnO eine einschneidendere Diskriminierung, weil sie unmittelbare materielle Auswirkungen zeitigte 76 . Es kann mithin festgestellt werden, daß die VAjV stärker quantitativ als qualitativ diskriminierte, während die AnO weniger quantitativ, sondern zu einem höheren Grad qualitativ wirkte. Ein Zusammenführen beider Regelungswerke erlaubt es, die objektiv arbeitsteilige Diskriminierung, die hinter diesen unterschiedlichen Aüsgrenzungsschwerpunkten hervortritt, zu erkennen. Die vollständige — non-sektorale — 72 Wagner, 1941, S. 79; Jähring, 1938, S. 899 spricht davon, daß im Zuge der Genehmigungsverweigerung „ . . . getrost ein Betrieb eingehen . . k ö n n e . 73 Genschel, 1966, S. 207 schätzt, daß mehr als zwei Drittel der Betriebe liquidiert wurden, was den Grad erreichten Konkurrenzschutzes ahnen läßt. 74 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l. 75 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.b). 76 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.2.

2. Abschn. Β. Direkter Vermögenszugriff — Anmeldungsverordnungen

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Registrierung beinhaltete zwar keine unmittelbaren materiellen Beeinträchtigungen, ließ solche indes zukünftig befürchten. Die allein bei beantragten Verkäufen — daher sektoral — quantitativ beschränkte Diskriminierung erlaubte hingegen materielle Eingriffe. Sieht man diese Schwerpunkte gleichzeitig, wird deutlich, daß die sogenannte freiwillige Arisierung Folge der durch die VAjV und AnO gewährleisteten arbeitsteiligen Diskriminierung war. Während die VAjV umfassend psychisch verunsicherte und so Verkaufsanträge begünstigte, erlaubte die AnO den selektiven Zugriff je nach wirtschaftlichem Bedürfnis des konkret betroffenen Marktsegments. Offen geblieben sind bislang zwei Fragen: Zum einen stellt sich die Frage, ob die beschriebene arbeitsteilige Diskriminierung gewollt, und zum anderen, ob der objektive Erfolg der AnO — Liquidation bei Genehmigungsverweigerung — beabsichtigt war. Die Beantwortung letzterer Fragestellung hängt von der Bewertung der Ausgrenzungsintentionen der AnO ab. Sie lagen in der Kontrolle der Arisierung und des regulierenden Eingriffs in volkswirtschaftlich unerwünschte Betriebsfortführungen. Ausdrücklich waren Zwangseingriffe nicht intendiert 77 . Die im damaligen Schrifttum vertretenen Auffassungen 78 zeigen jedoch, daß die Liquidation als Form des Zwangseingriffs gegenüber volkswirtschaftlich unerwünschten Betrieben angesprochen wurde. Es ist daher entbehrlich, die ausdrücklich nicht vorhandene Intention anzuzweifeln. Nachweisbar ist nämlich die billigende Inkaufnahme des objektiven Erfolges der Liquidation. Schwieriger ist die Beantwortung der Frage, ob die objektiv vorhandene arbeitsteilige Diskriminierung intendiert war. Die vorbereitende Absicht stand eindeutig im Vordergrund 79 und diese Absicht bewirkt den organisatorischen Charakter der Vorschrift. Die psychische Verängstigung und die daraus resultierende Antragstellung findet sich nicht als Intention. Mehr noch: Auch eine bewußte Billigung der arbeitsteiligen Wirkung als Nebenfolge kann nicht nachgewiesen werden. Resümierend kann folgende Feststellung getroffen werden: Die Ermöglichung eines qualitativ scharfen Eingriffs durch die AnO wurde als in Betracht kommende Nebenfolge in Kauf genommen. M i t dieser Einschränkung kann ebenso bezüglich dieses objektiv materiellen Erfolges von einer Deckungsgleichheit von Ausgrenzungsintention und -erfolg gesprochen werden. Eine Intention des Inhalts, arbeitsteilige Diskriminierung zwischen der VAjV und der AnO zu bewirken, fehlt. Als Intention konnte eine arbeitsteilige Diskriminierung selbst nur in Form einer gebilligten Nebenfolge nicht entste-

77 78 79

12*

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.III.2. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.III.2. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.III.l.

180

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

hen, denn dem stand das Primat der Intention perfekter Vorbereitung des späteren materiellen Zugriffs im Wege.

C. Die Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens (VEjV) vom 3.12. 1938 I. Weitergabe unbeschränkter Machtbefugnisse an eine nachgeordnete Exekutivstufe und „geplante Strukturlosigkeit" Die Ermächtigung zum Erlaß der VEjV leitete sich ab aus „§ 1 der zweiten Anordnung des Beauftragten für den Vierjahresplan aufgrund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 24.11. 1938" 1 . Zwischen der VAjV und der ersten Anordnung bestand ein Stufenverhältnis, da wegen des § 7 VAjV Ermächtigender und der so Ermächtigte identisch und rechtlich gleichgeordnet waren 2 . Demgegenüber ist ein Unterschied hinsichtlich der ebenfalls aufgrund des § 7 VAjV ergangenen zweiten Anordnung feststellbar. Göring ordnete danach an: „§ 1: Die Maßnahmen, die notwendig sind, um den Einsatz des anmeldepflichtigen Vermögens im Einklang mit den Belangen der deutschen Volkswirtschaft sicherzustellen, werden vom Reichswirtschaftsminister . . . getroffen" 3 . Der erste Unterschied ergibt sich also aus der fehlenden personellen Identität zwischen Ermächtigendem und Ermächtigten; denn Reichswirtschaftsminister war nicht Göring, sondern Funck. U m ein etwaiges Stufenverhältnis ausmachen zu können, muß mithin geklärt werden, in welchem Verhältnis der Ermächtigende, Göring, zum ermächtigten Reichswirtschaftsminister, Funck, stand. Oberstes Gremium zur Koordinierung der wirtschaftlichen Planungsmaßnahmen war der Generalrat des Vierjahresplanes. Neben dem bereits beleuchteten parteiideologisch begründeten Stufenverhältnis 4 folgte es aus dieser Organisationsform. Die Staatssekretäre des Reichswirtschafts-, Reichslandwirtschaftsund Reichsverkehrsministeriums waren Mitglieder des Generalrates. Dadurch konnte der Beauftragte für den Vierjahresplan unmittelbar in die jeweiligen Ressorts durch Weisungen an die Mitglieder des Generalrates eingreifen. Noch stärker abstufend wirkte sich die innere Neuorganisation des Reichswirtschaftsministeriums aus. I m Ergebnis wies dieses Bündel aus parteiideologischer Unterordnung, neuorganisatorischer Einflußnahme und ministeriumsinterner personeller Umorganisation dem Wirtschaftsressort eine Göring klar nachgeordnete Position zu 5 . Welche Befugnisse das Reichswirtschaftsministerium 1 2 3 4

RGBl. 1938 I, & 1709. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.I. RGBl. 1938 I, S. 1668. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.I.

2. Abschn. C. Direkter Vermögenszugriff — jüdisches Vermögen

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hinsichtlich des Einsatzes des jüdischen Vermögens hatte, insbesondere ob diese gleich denen des Beauftragten des Vierjahresplanes waren, ergibt sich aus einem Vergleich des § 7 VAjV und der zweiten Anordnung. Wörtlich übereinstimmend wird festgestellt, daß die Ermächtigten — bei der ersten Anordnung Göring, bei der zweiten Anordnung Funck — die Maßnahmen treffen, die nötig sind, um den Einsatz jüdischen Vermögens in Einklang mit den deutschen Wirtschaftsbelangen zu sichern. Die Schrankenlosigkeit dieser Befugnisse wurde bereits nachgewiesen6. Eine wirkliche Delegation 7 hätte also die Weitergabe unbeschränkter Machtbefugnisse an eine nachgeordnete Exekutivstufe bedeutet. Nachweisbar ist demgegenüber, daß Göring sich durch die zweite Anordnung hinsichtlich des Einsatzes des jüdischen Vermögens keineswegs seiner eigenen Befugnisse durch Delegation begab, sondern lediglich zusätzlich eine nachgeordnete Exekutivstufe mit den Betroffenen gegenüber unbeschränkten Machtbefugnissen ausstattete8; in der zweiten Anordnung somit eine Ausweitung und nicht eine Abgabe seiner Befugnisse zu sehen ist. A m 21. 2. 1939 erließ Göring „ . . . aufgrund des § 7 der VAjV die dritte Anordnung, wonach alle Juden . . . die in ihrem Eigentum befindlichen Gegenstände aus Gold, Platin oder Silber sowie Edelsteine und Perlen... an die nach der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens... eingerichteten öffentlichen Ankaufsstellen abzuliefern (hatten)" 9 . M i t der genaueren Verfahrensausgestaltung wurde der Reichswirtschaftsminister betraut (§§ 2 und 3 der dritten Anordnung). Erstens ist durch die §§ 2 und 3 das oben beschriebene Stufenverhältnis belegt. Zweitens beweist die dritte Anordnung, daß lediglich eine Ausweitung der Machtbefugnisse und keine Delegation in der zweiten Anordnung zu sehen ist, war es dem Beauftragten für den Vierjahresplan doch möglich, neben dem Reichswirtschaftsministerium in gleicher Sache aus eigener Kompetenz regelnd auch nach Erlaß der zweiten Anordnung tätig zu werden. Die hier am Verhältnis der zweiten Anordnung zu § 7 VAjV verdeutlichte Mehrfachzuständigkeit zweier Organe mit gleichen Befugnissen zur Diskriminierung einer Minderheit beleuchtet ein weiteres Entwicklungsstadium des nationalsozialistischen Staats. Durchbrechende und doppelt vorhandene Kom5 Puppo, 1988, S. 185 f. beurteilt das Verhältnis zwischen Vierjahresplanrealisierung und der Institution des Reichswirtschaftsministeriums dahingehend, daß durch die Organisationsreform des Reichswirtschaftsministeriums Göring dafür Sorge getragen hatte, daß beide Institutionen zu einer einheitlichen Behörde unter seiner Führung verschmolzen wurden (unter Bezugnahme auf Facius, 1959, S. 157 und Petzina, 1968, S. 67). 6 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.I. 7 Der Delegationscharakter wurde im damaligen Schrifttum ausdrücklich herausgestellt, so etwa bei Hefermehl, 1938, S. 1983 und Krüger, 1940, S. 277. 8 So auch Puppo, 1988, S. 280. 9 RGBl. 1939 I, S. 282.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

petenzen bezeichnete erstmals Arendt als „geplante Strukturlosigkeit" 10 . Sie führt aus, daß im totalen Staat sich durchbrechende Mehrfachkompetenzen, Errichtung neuer Ämter mit unklar abzugrenzenden Kompetenzen und undeutliche Instanzenwege regelmäßig aufzufinden seien. Diese Strukturlosigkeit sei nicht Zufall, sondern geplant. Sie diene dazu, jedwede Berechenbarkeit staatlichen Handelns zu verhindern und dadurch zu unterdrückende Minderheiten der ständigen Unsicherheit auszusetzen, von wem Ausgrenzungen zu erwarten und wessen Anordnungen verbindlich sind 11 . Überträgt man die Totalitarismus-Deutung, kann gesagt werden, daß durch die zweite Anordnung der jüdischen Minderheit neben dem Beauftragten für den Vierjahresplan ein weiteres NS-Organ mit gleich umfangreichen Befugnissen gegenüberstand. Maßnahmen drohten von diesen beiden Organen, und es war für die jüdische Minderheit nicht feststellbar, welche Instanz letztlich verbindlich den Einsatz jüdischen Vermögens bestimmte. II. Inhalt der VEjV, Konkretisierung durch den Erlaß vom 6.2. 1939 und Arisierungsablauf 1. Inhalt der VEjV und Konkretisierung durch den Erlaß vom 6. 2. 1939

Die 23 Paragraphen der VEjV gliedern sich in fünf Artikel. Art. 1 betraf gewerbliche, Art. 2 land- und forstwirtschaftliche Betriebe, Grundeigentum und sonstiges Vermögen, Art. 3 Wertpapiere, Art. 4 Juwelen, Schmuck und Kunstgegenstände und Art. 5 legte allgemeine Vorschriften fest. a) Art. ί Nach § 1 dieses Artikels konnte „dem Inhaber eines jüdischen Gewerbebetriebes (dritte Verordnung zum R b G ) . . . aufgegeben werden, den Betrieb binnen einer bestimmten Frist zu veräußern oder abzuwickeln", wobei diese Anord10

Arendt, 1966, S. 623. Eine weitere Funktion der Strukturlosigkeit liege darin, durch die „ . . . dauernde Konkurrenz von Instanzen, deren Funktionen sich nicht nur überschneiden, sondern die mit der gleichen Aufgabe betraut sind, . . . Opposition oder Sabotage unmöglich (zu machen)", Arendt, 1966, S. 639. Neben Arendt grundlegend zur Totalitarismus-Theorie am Beispiel des NS-Staates Fraenkel, „Der Doppelstaat", 1974; Neumann, „Behemoth", 1942; Bracher, „Die deutsche Diktatur", 1969. Schneider, 1988, S. 17 ff. hat die Geschichte der Totalitarismus-Theorie nachgezeichnet und darauf hingewiesen, daß auch die Nationalsozialismusforschung den ursprünglichen Ansatz, der in einer Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und Stalinismus liege, bedingt in Frage stelle, wenn sie herausstellt, daß es unzutreffend sei, die nationalsozialistische Herrschaft — totalitärem Denken entsprechend — als monolithisch aufgebaut zu verstehen und stattdessen diese Herrschaft immer mehr als polikratisch beschreibt. 11

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nung mit Auflagen versehen werden konnte 1 2 . Der Begriff des Gewerbebetriebes war identisch mit demjenigen der ersten Anordnung 1 3 . Die Frage, wann überhaupt nach § 1 eine Veräußerung oder Liquidation angeordnet werden sollte, wurde in der Kommentierung von Krüger, der entscheidend an der Erstellung der VEjV mitgearbeitet hatte, folgendermaßen beantwortet: Grundsätzlich sei der sogenannten freiwilligen Arisierung der Vorzug zu geben. Erst wenn sie nicht zustande komme, müsse mit § 2 VEjV gearbeitet werden 14 . Dieser Konnex decouvriert den tatsächlichen Zwang zur freiwilligen Arisierung. Entweder man verkaufte bzw. liquidierte den Betrieb oder man wurde dazu gezwungen. Zur Verdeutlichung des Zwangs bei freiwilliger Arisierung eignet sich die inhaltliche Wiedergabe des § 1 Satz 2, der Auflagen ermöglichte. Inhalt der Auflagen konnte insbesondere ein bestimmter Erwerber oder ein bestimmter Preis sein, und nur bei Einhaltung der Auflage wurde die aufgegebene Veräußerung genehmigt 15 . Die Vertragsessenzen Parteien und Preis waren mithin der freien Bestimmung entzogen. Die Schärfe des durch die Anordnung nach § 1 VEjV bewirkten Eingriffs hing davon ab, ob die Veräußerung oder Abwicklung gefordert wurde. Liquidation führte zu ungleich größeren Einbußen und bedeutete daher einen größeren materiellen Eingriff 16 . Abhängig war die Entscheidung zwischen Veräußerung und Liquidation „ . . . von allgemeinen volkswirtschaftlichen Belangen" 17 . Welche Belange eine Abwicklung, welche eine Veräußerung erforderlich machten, wurde anders als bei der VAJW — dort primär bei Überbesetzungsabwicklung 1 8 — beurteilt. Gewisse Branchen, etwa im Großhandel, „ . . . in denen die Juden die völlige Herrschaft an sich gerissen hatten", müßten trotz dieser Überbesetzung überführt und nicht liquidiert werden, um die Großhandelswirtschaft in diesen Zweigen zu erhalten. Gleiches gilt für bestimmte Industriebetriebe, um deren Produktionskraft der Durchführung des Vierjahresplanes zuzuführen. Andererseits gebe es zum Beispiel im Großhandel ebenfalls Zweige, in denen nach der Liquidation noch ausreichend viele arische Betriebe existierten; hier sei die Liquidation vorzuziehen 19 . Diese Ausführungen Wagners zeigen den Unterschied zur VAJW. Während dort die Entscheidung allein von einer Überbesetzung abhing, stand bei § 1 12

RGBl. 1938 I, S. 1709. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.b); so auch Krüger, 1940, S. 279. 14 Wie wenig freiwillig diese Arisierung war, wurde bereits oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.2. gezeigt. 15 Riefensauer, 1939, S. 1273 hat insbesondere die Auflagenpraxis aus damaliger Sicht geschildert. 16 Vgl. auch oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.2. 17 Krüger, 1940, S. 289 und inhaltlich gleich Riefensauer, 1939, S. 1273. 18 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.2. und C.II.3. 19 Wagner, 1941, S. 97 f. 13

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VEjV die Nützlichkeit im Vordergrund. Erst wenn der Liquidation solche Nützlichkeitserwägungen nicht entgegenstanden, gab man ihr den Vorzug. In § 2 des Art. 1 wurden in vier Absätzen eine etwaige Treuhänderschaft geregelt. Die Einsetzung des Treuhänders in jüdischen Gewerbebetrieben konnte zur Fortführung, Veräußerung oder Abwicklung erfolgen, wenn dem Inhaber des Betriebes gegenüber eine Anordnung nach § 1 ergangen war und er dieser innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkam. § 2 Abs. 2 ermächtigte den Treuhänder „ . . . zu allen gerichtlichen und außergerichtlichen Geschäften und Rechtshandlungen . . . " , die zur Erledigung seiner Aufgaben nötig waren. Für die jüdischen Inhaber hatte die Einsetzung die Folge, daß er das Recht verlor, „ . . . über Vermögenswerte zu verfügen, zu deren Verwaltung der Treuhänder eingesetzt ist" (§ 4). Regelmäßig war dies eine vollständige Verfügungsbeschränkung, die dem Inhaber jegliche Handlungsmöglichkeit nahm 2 0 . Wegen dieser einschneidenden Folge war die Frage, wann ein Treuhänder einzusetzen sei, für die Betroffenen entscheidend, zumal der Gesetzestext lediglich besagte, daß insbesondere — nicht hingegen ausschließlich — bei Nichtbefolgung der Anordnung die Einsetzung erfolgen konnte. Da auch der Durchführungserlaß vom 6. 2.1939 dies offenließ 21 , war die diesbezügliche juristische Auseinandersetzung von Bedeutung. Scholl 22 vertrat die Auffassung, bereits ohne die Nichtbefolgung der Anordnung nach § 1, also sofort ab Geltung der VEjV, könne der Treuhänder eingesetzt werden. Nach Ablauf der in der Anordnung gesetzten Frist müsse er eingesetzt werden. Krüger 2 3 hingegen sah den Sinn einer Anordnung nach § 1 zugleich darin, dem Adressaten die Möglichkeit einer eigenen Veräußerung zu geben. Dies würde, teilte man Schölls Ansicht, unmöglich sein. In der tatsächlichen Entwicklung verlor dieser Streit wegen der möglichen und praktizierten Fristbemessung an Bedeutung. Regelmäßig wurde die Veräußerungs- oder Abwicklungsanordnung so kurz bemessen, daß sich die Frage der sofortigen Treuhänderbestellung erübrigte bzw. auch nach Krügers Auffassung die Einsetzung unmöglich war 2 4 . Deutlich wird an dieser Diskussion der verschärfte Kurs in der Judenpolitik. Obwohl der Gesetzgeber weitere Zugriffsmöglichkeiten schaffte, gab es Stimmen, die diese Möglichkeiten extensiver auszulegen suchten 25 . 20

Höver,1941,S. 13 unter Bezugnahme auf Krüger. Krüger, 1940, S. 308 stellt fest, daß die Verfügungsbeschränkung für das Betriebsvermögen und alle Arten von Verfügungen gelte. Lediglich im Fall der Fortführungstreuhänderschaft könne es die Ausnahme geben, daß der Inhaber noch veräußern dürfe. 21 Durchführungserlaß „Einsatz des jüdischen Vermögens" vom 6. 2.1939 in RMBliV 1939, S. 266 ff. 22 Scholl, 1940, S. 9. 23 Krüger, 1940, S. 295 und so auch Höver, 1941, S. 13 jedoch ohne Begründung. 24 Krüger, 1940, S. 296.

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§ 2 Abs. 3 wies den Treuhänder an, die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns walten zu lassen und Abs. 4 bürdete dem Betriebsinhaber die Kosten der treuhänderischen Verwaltung auf. Wie die Bewertung tatsächlich unter Beobachtung dieser Sorgfalt aussah, wird noch zu zeigen sein. Hier soll zunächst nicht unerwähnt bleiben, daß neben der staatlichen finanziellen Schadloshaltung durch § 2 Abs. 4 gleiches hinsichtlich etwaiger Pflichtverletzungen des Treuhänders galt. Der Staat haftete keinesfalls für Fehler des Treuhänders, und seine Eigenhaftung könne nur ganz ausnahmsweise in Betracht kommen 26 . § 3 legte die Ersetzung der Zustellung bei Abwesenheit des Inhabers durch Bekanntmachung im Reichsanzeiger fest; eine Möglichkeit, die sich schon im 5 Jahre vorher ergangenen GWSt findet 27. Schließlich endet Art. 1 mit der Feststellung in § 5, daß die Genehmigungspflicht nach der AnO erhalten bleibt. Eine Auswirkung dieses Paragraphen war die direkte Einflußnahme auf die Preisgestaltung freiwilliger Veräußerungen 28. b) Art. 2 § 6 des Art. 2 gab unter Verweis auf die im übrigen geltenden §§ 2 und 4 die Möglichkeit, Juden aufzugeben, ihre land- bzw. forstwirtschaftlichen Betriebe, ihr anderes land- und forstwirtschaftliches Vermögen, sonstiges Grundeigentum oder andere Vermögensteile zu veräußern 29 . Im Durchführungserlaß wurde für die gesamte VEjV festgehalten, daß eine Entjudung . . . grundsätzlich nicht in Frage (kommt) bei jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen und solchen Einrichtungen und Betrieben, die ausschließlich der Förderung der jüdischen Auswanderung dienen" 30 . Eine Einschränkung, die im Rahmen der Intention der VEjV näher untersucht wird. Hier soll sie lediglich als Schranke bezüglich aller Gegenstände genannt werden. Wie bei gewerblichen Betrieben konnten auch hier Auflagen ergehen. § 8 stellte solche Veräußerungen unter einen Genehmigungsvorbehalt 31. Dieser galt 25

Wenngleich es bei der hier skizzierten Diskussion nicht um Kompetenzfragen ging, zeigt sie inhaltlich eine andere Facette geplanter Strukturlosigkeit. Krüger war Teil des Diskriminierungsorgans Reichswirtschaftsministerium und Scholl des Diskriminierungsorgans BVP (dort Preisbindungsstelle). Beide wurden also durch die dargestellte unterschiedliche Auslegung inhaltlich verschieden in gleicher Sache und daher für die Betroffenen unberechenbar tätig. 26

Krüger, 1940, S. 304 f. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.2.b); vgl. auch 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.III, l.b). 28 Siehe dazu oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.2. 29 Weniger relevant sind die §§ 7,9 und 10. § 7 sah ein umfassendes Neuerwerbsrecht für Grundstücke und Rechte an ihnen vor. § 9 legte die Ersetzung der Genehmigung nach § 1 AnO für land- und forstwirtschaftliche Betriebe durch eine Genehmigung nach § 8 VEjV fest, und § 10 bestimmte ein Vorkaufsrecht des Reichs für Grundstücke im Räume Berlin. 30 Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939 in RMBliV 1939, S. 266 ff. 27

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uneingeschränkt für Grundstücke und unter der Voraussetzung vorheriger Veräußerungsanordnung nach § 6 für sonstige Vermögensteile. Der Verweis auf §§ 2 und 4 zeigt die Möglichkeit, die bereits beschriebene Zwangsveräußerung oder Abwicklung von einem Treuhänder durchführen zu lassen32. Schon vorher, also bei der angeordneten Veräußerung seitens des jüdischen Inhabers, war der direkte staatliche Einfluß wegen des Genehmigungserfordernisses gewährleistet, denn die Genehmigungserteilung war vom vereinbarten Kaufpreis und von der Person des Erwerbers abhängig 33 . Bezüglich des Grundstückskaufpreises sollte eine Genehmigung nur erfolgen, falls sich der Preis „ . . . im Rahmen des Verkehrswertes" hält 3 4 . Dieser Erlaß sei weitgehend nötig „ . . . zur Abdeckung von öffentlichen Lasten . . . und (diene dem ehemaligen jüdischen Eigentümer) zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes" 35. Hinsichtlich der Erwerber beschränkte sich der Durchführungserlaß lapidar darauf festzustellen, „ . . . daß nicht einer volkswirtschaftlich unerwünschten Spekulation mit Grundstücken Vorschub geleistet (werden dürfe)". Zu berücksichtigen seien insbesondere öffentliche Bedürfnisse, zum Beispiel Raumbedarf für Parteidienststellen 36. Offengeblieben ist bislang, was dem Begriff „ . . . sonstige Vermögensteile" unterfiel, der im Vergleich zu den Begriffen land- und forstwirtschaftlicher Betrieb, anderes land- oder forstwirtschaftliches Vermögen und sonstiges Grundeigentum weiter gefaßt war. Der Durchführungserlaß gibt gewisse Hinweise, soweit er im Zusammenhang mit dem Begriff der sonstigen Vermögensteile Beteiligungsrechte an Unternehmen, die nicht zweifelsfrei als jüdische Gewerbebetriebe zu bezeichnen sind, nennt 37 . In der damaligen Kommentierung finden sich deutlichere Hinweise. Nach Scholl sind sonstige Vermögensteile gerade Rechte an Grundstücken 38 , wobei die Formulierung zeigt, daß nicht ausschließlich diese, sondern eben nur insbesondere solche Rechte gemeint sind. 31 Von § 6 und § 8 wurde durch vorformulierte Verfügungen Gebrauch gemacht: „Sie haben ihre sämtlichen in der Gemeinde Augustenfeld, Landkreis Dachau gelegenen landwirtschaftlichen Grundstücke samt den Gebäuden und dem lebenden und toten Inventar sofort der Bayerischen Bauernsiedlung GmbH, München, Kanalstr. 29 zum Kauf anzubieten. Die Bayerische Bauernsiedlung ist von dieser Anordnung verständigt. Der abzuschließende Käufvertrag ist binnen einer Frist von 6 Wochen nach Zustellung dieser Anordnung auf dem Wege über den Landrat in Dachau zur Genehmigung gemäß § 8 der neben bezeichneten Verordnung hierher vorzulegen. Die Nichtbeachtung der bevorstehenden Anordnung wird bestraft ..(wiedergegeben bei Benz, 1989, S. 551 f., dort auch weitere Beispiele zur Arisierung von Grundstücken). 32

Siehe oben S. 276 f. Krüger, 1940, S. 314 f. weist auch bei § 6 darauf hin, daß die Entjudung der in § 6 genannten Gegenstände nach §§ 2 und 4 „ . . . zunächst jedenfalls praktisch (sich) nicht in den Formen einer zwangsweisen Entjudung abspielen (solle)". 33 Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939, RMBliV 1939, S. 271. 34 Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939, RMBliV 1939, S. 272. 35 Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939, RMBliV 1939, S. 272. 36 Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939, RMBliV 1939,' S. 272. 37 Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939, RMBliV 1939, S.*268. 38 Scholl, 1940, S. 22.

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Ausdrücklich stellt Krüger entsprechend fest: „ M i t der Möglichkeit, andere Vermögensteile zur Zwangsentjudung zu bringen, ist eine Generalklausel gegeben, die es ermöglicht, alle Sachen und Rechte aus jüdischem Besitz in arische Hände zu überführen" 39 . Zusammenfassend bot Art. 2 folgende Eingriffsmöglichkeiten: Immobilien, Mobilien und Rechte zu veräußern, die Preisgestaltung per Auflage festzulegen und gegebenenfalls diese Gegenstände durch Treuhänderschaft der Verfügung des jüdischen Eigentümers zu entziehen, d.h. zu beschlagnahmen40.

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Krüger, 1940, S. 321. Gleich zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft beschäftigen sich zwei Arbeiten mit dem Begriff der Generalklausel. Zwar wurden diese Arbeiten zumeist vor der Verabschiedung der hier behandelten Gesetze erstellt. Dennoch zeigt sich eine Bewertung, die den allgemeinen Stellenwert von Generalklauseln verdeutlicht. Hedemann sprach 1933 noch von einer „Flucht in die Generalklausel" und bezeichnete dies als Gefahr für Recht und Staat. Dabei warnte er vor diesem Institut, weil es nur zu schnell gebraucht werden könne, um Willkür Tür und Tor zu öffnen, insbesondere wenn sie zum „ . . . Hort einer Weltanschauung (würden)" (Hedemann, 1933, S. 71 ff.). Kaum ein Jahr darauf untersuchte Karl Hermann Schmitt in seiner 1934 abgeschlossenen Arbeit — erschienen 1935 — die Funktion von „Treu und Glauben im Verwaltungsrecht". Positivistischer Einfluß habe vormachen wollen, Generalklauseln hätten einen faßbaren materiellen Inhalt. Dies sei indes nie der Fall gewesen. Richtiger sei es, die Rechtsüberzeugung des Volkes, der ursprünglichsten Rechtsquelle, über Generalklauseln in die Rechtsfindung einfließen zu lassen. Von Rechts- und Ordnungsnormen müsse über diesen Weg abgewichen werden „ . . . in den Fällen, in denen ihre (der Rechts- und Ordnungsnormen) Anwendung zu einem Ergebnis führen würde, das mit dem aus der Rechtsüberzeugung geborenen Recht nicht im Einklang stehe Willkürlichem staatlichen Handeln war so breiter Raum gegeben und ganz entsprechend ist die Bedeutung von Generalklauseln im Recht der nationalsozialistischen Zeit nach 1945 bereits mehrfach Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Diskussion gewesen, soweit die klassischen Generalklauseln (§§ 138, 242 BGB, § 1 UWG) nationalsozialistischem Denken Eingang boten. Rüters „Die unbegrenzte Auslegung" untersuchte sie 1968 hauptsächlich innerhalb des unerlaubten Wettbewerbs- und des Arbeitsrechts. Stolleis „Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht" analysierte dieselben, wobei er insbesondere danach fragte, wie der nationalsozialistische Gemeinschaftsgedanke innerhalb der §§ 138, 242 BGB angewendet wurde. 1988 hat Börner versucht, allgemeiner „Die Bedeutung der Generalklauseln für die Umgestaltung der Rechtsordnung in der nationalsozialistischen Zeit" zu untersuchen, insbesondere bezieht er teilweise das Sozialversicherungs-, Steuer- und Zivilprozeßrecht sowie die Rechtsprechung mit ein. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß die Rechtsprechung Generalklauseln nutzte, um der nationalsozialistischen Rassenlehre Geltung zu verschaffen. Dabei rekurriert er insbesondere auf die Arbeit Uffelmanns „Die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofes unter nationalsozialistischem Einfluß in den Jahren 1933-1945", 1987, siehe oben S. 351 Fn. 1032. Weiterhin führt er Fälle an, in denen der NS-Gesetzgeber legislativ Generalklauseln nutzte bzw. solche spezialgesetzlich neu vorsah, wo sie fehlten. 40 Daß es sich im Ergebnis um eine Beschlagnahme handelte, wurde bereits gezeigt. Hinsichtlich des Art. 2 der VEjV sind mithin die Ausführungen Majer s, 1981, S. 271 — sie geht davon aus, Mobilien seien allein nach den §§11 fT. gewissen Beschränkungen ausgesetzt gewesen — also ungenau.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

c) Art. 3 Art. 3 (§§ 11-13) ordnete einen Depotzwang für Wertpapiere an. Innerhalb einer Woche nach Inkrafttreten der Verordnung mußten Juden „ . . . ihre gesamten Aktien, Kuxe, festverzinsliche Werte und ähnliche Wertpapiere in ein Depot bei einer Devisenbank einlegen" 41 . Für neuerworbene Papiere galt dies ebenfalls. Durch Abs. 2 wurde die jüdische Minderheit verpflichtet, etwaigen Depotinhabern „ . . . ihre Eigenschaft als Juden anzuzeigen", woraufhin die Depotinhaber „die Depots und Schuldbuchkonten . . . als jüdisch zu kennzeichnen (hatten)" (Abs. 3). Die Einlegungspflicht selbst interpretierte man keineswegs im Sinne eines materiellen Zugriffs auf das jüdische Wertpapiervermögen, bliebe doch die Berechtigung und Inhaberschaft unberührt 42 . Welch einen geringen wirklichen Wert diese Berechtigung und Inhaberschaft hatte, mag folgendes verdeutlichen: Zwar hatte der Durchführungserlaß vom 6. 2.1939 die fortdauernde Inhaberschaft und Berechtigung bestätigt, jedoch einschränkend hinzugefügt, daß von einer zwangsweisen Überführung „ . . . vorläufig . . . abzusehen ist" 4 3 . Schon diese Einschränkung des Durchführungserlasses zeigt die Möglichkeit, nach der VEjV auf Wertpapiere zugreifen zu können, denn ohne diese Möglichkeit würde die Beschränkung des Erlasses leerlaufen. Ganz konkret eröffnete die Generalklausel (§ 6) die Option zur Zwangsentjudung von Wertpapieren 44 . Unabhängig davon bestimmte § 12 eine Verfügungsbeschränkung, da „Verfügungen über die in ein jüdisches Depot eingelegten Wertpapiere sowie Auslieferungen von Wertpapieren aus solchen Depots . . . der Genehmigung . . . (bedurften)" 45 . Die Genehmigungserteilung kam in Betracht für Verkäufe zugunsten des jüdischen Eigentümers bis zu einem Höchstbetrag von 1000 R M einmalig pro Kalendermonat, falls ein dringendes Bedürfnis nachgewiesen wurde und der Verkäufer glaubwürdig das Fehlen anderer Barmittel versicherte 40. Ungleich weniger restriktiv war zu verfahren, falls die Genehmigung beantragt wurde, um Steuern oder Abgaben zu bezahlen. Dann mußte genehmigt werden, wenn der entsprechende Abgabenbescheid vorgelegt wurde, der jüdische Eigentümer versicherte, daß ihm Barmittel oder andere Kostbarkeiten nicht zur Verfügung stehen und er die unwiderrufliche Anweisung gab, das Geld unmittelbar an das Finanzamt zu überweisen 47. Diese Genehmigungsmöglichkeit bedeutete wirtschaftlich die Entziehung zugunsten des Staates. Da nämlich die zuerst genannte 41

RGBl. 1938 I, S. 1710. Krüger, 1940, S. 372. 43 Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939, RMBliV 1939, S. 266. 44 Krüger, 1940, S. 371; ein weiterer Beleg, der gegen Majers (1981, S. 271) Ansicht spricht, lediglich Immobilien seien nach den §§ 6 ff. dem nationalsozialistischen Zugriff ausgesetzt gewesen. 45 RGBl. 1938 I, S. 1710f. 46 Erlaß des Reichswirtschaftsministeriums vom 19.1. 1939 — IV 166/39C X I — wiedergegeben bei Krüger, 1940, S. 374f. 42

2. Abschn. C. Direkter Vermögenszugriff — jüdisches Vermögen

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Möglichkeit der Auszahlung ausgesprochen restriktiv gefaßt war, kommt sie ebenfalls einem Berechtigungsentzug gleich. Diese faktische Devisenbeschlagnahme klammerte zwar ausländische Juden aus, erfaßte hingegen staatenlose48. Die hier vorgenommene Bewertung der Auszahlungspraxis als faktischem Entzug von Barmitteln wird neben dem zitierten Erlaß durch ein Beispiel untermauert, das zeigt, daß bare Mittel für den eigenen Bedarf nicht reichten. Das Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde Hamburg berichtete über das Genehmigungsverfahren: „Ich bitte den Betrag von R M 25,— zur direkten Auszahlung an Frl. Maria Weissenbacher freizugeben. Diese war 18 Jahre bei meiner Familie und ist heute 60 Jahre alt. Ich möchte ihr monatlich diese Zuwendung machen, kann dies aus dem mir zustehenden Freibetrag (aber) nicht erübrigen" 49 . d) Art. 4 In Art. 4 (§ 14) erging das Verbot, Juwelen, Schmuck und Kunstgegenstände mit einem Wert über 1000 R M zu veräußern, zu erwerben und zugleich wurde festgelegt, daß solche Gegenstände „ . . . nur v o n . . . öffentlichen (reichseigenen) Ankaufsstellen erworben werden (dürfen)" 50 . Durch die dritte Anordnung aufgrund der Verordnung über die Anmeldung jüdischen Vermögens erfolgte eine Verschärfung dieses Paragraphen. Ganz allgemein hatten danach Juden Gold, Platin oder Silber sowie Edelsteine und Perlen an die Verkaufsstellen abzuliefern, unabhängig von deren Wert 5 1 . Obwohl zunächst bestimmt wurde, der Wert solle bei der Bestimmung des Ankaufspreises am Weltmarktpreis ausgerichtet werden abzüglich 10% Gebühr des Auszahlungswertes 52, darf dies nicht zu der Annahme verleiten, den Eigentümern sei 90% des wahren Wertes ausgezahlt worden. Zwar könne einem Auszahlungsantrag des ehemaligen Eigentümers bei Guthaben ab 2000 R M aufwärts stattgegeben werden. Ausgezahlt werden dürften aber nur 500 R M , während der Rest gemäß § 59 DevisenG auf ein Sperrkonto überwiesen werden mußte 53 .

47 Erlaß des Reichswirtschaftsministeriums vom 19.1. 1939 — IV 166/39C X I — bei Krüger, 1940, S. 375. 48 Krüger, 1940, S. 376. 49 Bei Benz, 1989, S. 560. 50 Wie sehr die Bewertungspraxis dieser Stellen zu einem Vermögensentzug führte, zeigt ein Bericht des zuständigen Leiters der städtischen Leihanstalt Dortmund: „ . . . Für Edelsteine und Perlen zahlen wir 60% des üblichen Beleihungswerts (!). Irgendwelche Einwände über die Höhe der Ankaufspreise durften von den Juden nicht gemacht werden. Sie mußten mit dem zufrieden sein, was sie von uns bekamen . . ( b e i Benz, 1989, S. 565). 51 RGBl. 1939 I, S. 282. 52 Krüger, 1940, S. 370. 53 Erlaß des Devisenfahndungsamtes vom 5. 3. 1939, bei Walk, 1981, S. 286.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

e) Art. 5 Art. 5 (§§ 15 - 24) enthielt allgemeine Vorschriften, von denen hier lediglich die §§15 und 23 näher interessieren 54. § 15 konkretisierte den möglichen Inhalt von Auflagen. Nach Abs. 1 konnte dem Erwerber aufgegeben werden, eine Geldleistung zugunsten des Reiches abzuführen. Gegenüber der jüdischen Minderheit könne die Genehmigung für alle genehmigungspflichtigen Geschäfte — Veräußerung von Gewerbebetrieben, jüdischen Grundbesitzes, sonstiger Werte — vorsehen, „ . . . daß anstelle des Ganzen oder eines Teiles des vorgesehenen Entgelts Schuldverschreibungen des Deutschen Reiches . . . oder Schuldbuchforderungen (gegen das Deutsche Reich) . . t r e t e n (§ 15 Abs. 2) 5 5 . Hier sei bereits darauf hingewiesen, daß Auflagen schon ergehen konnten, wenn „sachgerechte volkswirtschaftliche . . . " Erwägungen vorhanden waren. Welchen objektiven Erfolg § 15 Abs. 2 zeitigte, wird noch darzustellen sein. § 25 schließlich verwies auf die Strafvorschriften des § 8 der ersten Anordnung bei Verstößen gegen §§ 4, 6 Satz 3, 8, 11, 12 und 14, stellte also bereits fahrlässige Vergehen unter Strafe. I I I . Perfektionierte Arisierungspraxis I m Zusammenhang mit der VAJW wurden bereits erste Arisierungspraktiken vorgestellt 56 . In erster Linie betraf dieses Vorgehen Betriebe und deren Waren. Die VEjV hingegen erlaubte auf wesentlich mehr Vermögensgegenstände zuzugreifen, was ein sich perfektionierendes Arisierungsverfahren bewirkte, in dessen Zentrum die Bewertung der Wertgegenstände stand. Wie bei der VAJW wurde der Kaufpreis während des VEjV-Verfahrens ebenfalls im Wege einer Addition der Einzelwerte festgelegt 57 ohne Bewertung des „good-will" und anderer immaterieller Werte. Bedenkt man, wie entscheidend der Wert zum Beispiel der vorhandenen Geschäftskontakte, die 1938 auch bei jüdischen Großbetrieben noch zahlreich waren, war, wird die ganze Unterbewertung durch diese Vernachlässigung deutlich. Die Perfektionierung kann hinsichtlich immaterieller Werte zusätzlich gezeigt werden. Wurde eine Auflage nach § 15 54

§ 16 verwies klarstellend auf die 3. VO zum RbG, § 17 legte die sachliche Zuständigkeit nachgeordneter Verwaltungsbehörden fest, § 18 regelte die örtliche Zuständigkeit, § 19 sah die Möglichkeit der Beschwerde beim Reichswirtschaftsminister als einzigen und abschließenden Rechtsbehelf vor, § 20 legte für land- und forstwirtschaftliche Vermögenswerte die Zuständigkeiten fest, § 21 gleiches für Verfügungen gegen Juden fremder Staatsangehörigkeit, § 22 übertrug die VEjV sinngemäß auf das Sudetenland und § 24 bestimmte schließlich das sofortige Inkrafttreten der VEjV. 55 § 14 und § 15 Abs. 2 erwähnen die Sperrkontenmöglichkeit. Praktiziert wurde diese Technik jedoch schon vor Erlaß der VEjV bei der Durchführung der VAJW (siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.H.3.). 56 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.3. 57 Grundstücksbewertungen erfolgten anhand des Verkehrswertes (siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.b).

2. Abschn. C. Direkter Vermögenszugriff — jüdisches Vermögen

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Abs. 1 — Ausgleichsabgabe des Käufers an das Deutsche Reich — erlassen, mußte sie berechnet werden. Bei der Festsetzung ihrer Höhe fanden immaterielle Werte sehr wohl Berücksichtigung 58 . Ähnlich unterschiedlich wurde bei der sogenannten Risikoreserve als Teil der Bewertung verfahren. Dem Käufer gestand die genehmigende Behörde einen Abzug wegen zu erwartender Anlaufkosten (Risikoreserve) zu 5 9 . Unberücksichtigt blieb dabei, daß der Verkäufer, sei es beim Aufbau des Geschäftes oder bei der Übernahme ebenfalls solche Kosten hatte. Diese durften in die Bewertung nicht eingestellt werden. Ganz entsprechend behandelte man Schulden und Außenstände. Eine Übernahme wurde versagt 60 , und so mußte der jüdische Verkäufer von dem ihm verbleibenden, wegen der Unterbewertung bereits geschmälerten Wert weitere Abzüge durch Schuldenausgleich an Private hinnehmen 61 . Ob Schuldner ihre Außenstände beglichen und, wenn ja, an wen tatsächlich geleistet wurde, kann dabei nur vermutet werden. Nahe liegt es, angesichts der politischen Situation von einem endgültigen Forderungsausfall auszugehen. Schließlich wußte sich der Schuldner dem jüdischen Gläubiger gegenüber in jeder Hinsicht politisch geschützt 62 . Erwähnt werden muß ein weiterer Aspekt. Zwar kann, weil die folgende Beschreibung die „illegalen Arisierungen" betrifft, naturgemäß deren vollständiges Ausmaß nicht festgestellt werden. Daß es neben der gesetzlich fixierten Beraubung durch Unterbewertung und Sperrkontenpraxis ebenso solche Formen der Aneignung jüdischen Eigentums gab, steht hingegen außer Frage. Zwei Fälle seien exemplarisch dargestellt: Im Zuge der Pogromnacht des 9. Novembers waren über 20000 Personen verhaftet worden 63 . Unter ihnen befand sich der Rechtsanwalt und Notar Neumann, der schildert, daß seine Haftentlassung aus dem Konzentrationslager allein deshalb veranlaßt wurde, weil seine Frau einem ortsansässigen SA-Führer das Familienhaus verkaufte 64 . Die Verkaufsentscheidung selbst beruhte mithin auf einer Erpressung. Gerade bei Grundstücksgeschäften kam es häufig zu 58

Wagner, 1941, S. 226ff. und Schubert, 1943, S. 104ff. Wagner, 1941, S. 178 f. 60 Wagner, 1941, S. 149ff. 61 Die Tilgungspflichten dem Staat gegenüber werden im folgenden Abschnitt vertieft behandelt. 62 Belegt ist diesé Vermutung durch eine Äußerung Görings: Während der maßgeblichen Besprechung vom 12.11. 1938 hatte er festgestellt, daß Juden soweit wie möglich Titel abzusprechen sind (Lösener, 1961, S. 289). Entsprechende legislative Akte unterblieben indes. 63 Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei Heydrich an den preußischen Ministerpräsidenten Göring vom 11.11. 1938 wiedergegeben bei Hof er, 1957, S. 292 f. 64 Neumann, 1976, S. 27ff.; Heydrich selbst hatte im übrigen am 16.11. 1938 angeordnet, „ . . . Arisierungshandlungen dürfen durch die Inschutzhaftnahme der Besitzer . . . nicht gestört werden . . . " und daß jüdische Schutzhäftlinge zu solchen Verhandlungen zu entlassen seien (Fernschreiben Heydrichs bei Pätzold, 1983, S. 183). 59

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

psychischem und physischem Zwang durch örtliche Parteifunktionäre. Unter korruptem Zusammenwirken staatlicher unterer Verwaltungsbehörden und Parteistellen wurden zum Beispiel in Nürnberg und Fürth die Juden gezwungen, ihre Grundstücke zu 10% des Nennwerts zu veräußern, wobei der Vertragsschluß etwa in Fürth im Keller des Rathauses von SA-Männern erzwungen wurde 65 . Korruption gab es nicht nur bei Immobilien. Solche Arisierungsverfahren fanden sich auch bei der Aneignung anderer Werte. Arische Betriebsobmänner ließen sich vom jüdischen Eigentümer eine unwiderrufliche Generalvollmacht ausstellen, wobei unterstellt werden darf, daß der Vollmachtserteilung kaum ein autonomer Geschäftsentschluß zugrunde lag. M i t dieser Vollmacht ausgestattet verhandelten die örtlichen Parteifunktionäre, denen die Vollmacht vorher weitergegeben worden war, mit potentiellen Käufern. Dabei verblieben schon nach der Vertragsgestaltung 25% des Preises den örtlichen Parteistellen, genauer den abschließenden NS-Funktionären selbst 66 . Welche Summen diese Art von Vertreter an seinen vertretenen jüdischen Geschäftsherrn auskehrte, kann man sich dabei unschwer vorstellen. Zusammenfassend kann bereits hier, vor der detaillierten Darstellung des objektiven Erfolges gesagt werden, daß die VEjV wegen der Gestaltung der gesetzlich fixierten Durchführung und durch die korrupten Praktiken zu einer umfassenden Enteignung der jüdischen Minderheit führte. IV. Intention und objektiver Diskriimnierungserfolg der VEjV 1. Intention

Hinter der VEjV im Ganzen steht eine allgemeine politische Absicht, die zwar bei der VAJW schon vorhanden war, jedoch jetzt im Rahmen der VEjV deutlich als angestrebter Zweck des Gesetzes genannt wird. Daneben haben die einzelnen Vorschriften der VEjV ganz spezifische Ausgrenzungsrichtungen, die den hohen Grad der Perfektionierung belegen. a) Einzelintentionen Sinn und Zweck der Veräußerungsverfügung (§ 1 Satz 1,1. Alternative) lag darin, den sogenannten freiwilligen Verkauf zu bewirken, da man so eine schnellere Arisierung erreichen konnte 6 7 . Das Wahlrecht — Veräußerung oder Abwicklung (§ 1 Satz 1,2. Alternative) — erlaubte dabei in gleicher Weise wie im Rahmen der ersten Anordnung, nach allgemeinen volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten den jüdischen Betrieb eingehen zu lassen68. 65 Majer, 1981, S. 271 betrachtet ein solches zwangsweises Vorgehen als Regelfall, gibt für diese Annahme aber keine weiteren Belege an. 66 Der weitere Zugriff in Form des Auferlegens von Abgaben wird im 3. Abschnitt eigenständig behandelt. 67 Krüger, 1940, S.281.

2. Abschn. C. Direkter Vermögenszugriff — jüdisches Vermögen

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Der Auflagenbefugnis (§ 1 Satz 2) wurde „ . . . lediglich die Bedeutung (beigemessen), daß die Verwaltungsbehörde mit der Aufforderung bereits Forderungen im Hinblick auf die Art der Durchführung der Veräußerung verbinden kann" 6 9 . Wie wenig dies der wahren Intention entsprach, wird bei der gleichzeitigen Betrachtung des Genehmigungszwangs (§ 5) deutlich. Inhalt der Auflage konnte insbesondere der Kaufpreis sein. Unabhängig von der Auflagengestaltung des § 15 Abs. 2 lag die tatsächliche Intention auch darin, mittels einer Auflage die sogenannte freiwillige Arisierung inhaltlich festzulegen. § 2 bezweckte die direkte Zwangsarisierung, sei es durch Fortführungs- 70 , Veräußerungs- oder Abwicklungstreuhänderschaft. Gedacht war diese Arisierung als Ersatzvornahme der angeordneten Veräußerung bzw. Abwicklung. Teilt man die Auffassung, daß die Treuhänderschaft als Zwangsverfahren lediglich bei Nichtbefolgung, d.h. subsidiär möglich war 7 1 , ändert dies an der Absicht, durch diese Mittel direkt die sogenannte freiwillige Arisierung zu erzwingen, nichts. Dieser oben 72 näher erläuterte Konnex war nämlich keinesfalls zufallig. Vielmehr hieß es im Durchführungserlaß dazu, die Zwangstreuhänderschaft sei anzuwenden, falls „ . . . der jüdische Eigentümer sich gegen eine Veräußerung sperrt oder Verhandlungen . . . aus sonstigen Gründen unmöglich sind" 7 3 . Die Treuhänderschaft als Druckmittel anzuwenden, war also gewollt. Der Umfang der Verfügungsbeschränkung (§ 4), die die Treuhänderschaft nach sich zog, war allgemein. Dem jüdischen Inhaber sollte so überhaupt jede Einflußmöglichkeit genommen werden 74 . Gedacht war somit an mehr als eine schlichte Verfügungsbeschränkung. Eine Verfügungsbeschränkung läßt die Eigentumsverhältnisse unberührt. Dies galt damaliger Auffassung zufolge ebenso für Verfügungsbeschränkungen im Sinne des § 4 7 5 . Diese Betrachtungsweise — Beibehaltung der Eigentumsverhältnisse — vernachlässigt jedoch unzulässig den korrespondierenden § 2, die Treuhänderschaft. Regelmäßig hatte 68 Hier gilt hinsichtlich dieser Möglichkeit die gleiche Intentionsinterpretation wie bei der AnO, siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.2. 69

Krüger, 1940, S. 291 m.w.N. Die Fortführungstreuhänderschaft als Ausnahmefall sollte die Abwicklung bzw. Veräußerung sichern, falls Vermögensteile sukzessiv veräußert wurden (Wagner, 1941, S. 226 ff.). 70

71 Zu dem Meinungsstreit im damaligen Schrifttum, ob gleichzeitig mit der Anordnung nach § 1 die Treuhänderschaft nach § 2 ergehen konnte (siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.a). 72

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.2. Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939, RMBliV 1939, S. 267. 74 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.a). 75 Statt aller Krüger, 1940, S. 290ff. m.w.N. Schewe, 1937, S. 37ff. beleuchtet den Begriff nicht im Zusammenhang mit der VEjV, sondern stellt in den Mittelpunkt des Begriffs Beschlagnahme deren Charakter als vorübergehende Verfügungsbeschränkung unter Beibehaltung der Eigentumsverhältnisse. 73

13 Tarrab-Maslaton

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

sie die Abwicklung oder Veräußerung zum Inhalt 7 6 und bis zur Erfüllung der treuhänderischen Aufgabe blieb die Verfügungsbeschränkung erhalten. Der Sinn der §§ 2 und 4 lag mithin in einem faktischen Eigentumsentzug. Teil davon war die Verfügungsbeschränkung. Sie hatte unabhängig von dem formell fortbestehenden Eigentum materiell den Sinn, die Enteignung vorzuverlagern. Vollständige Kontrolle über alle sogenannten Entjudungsverfahren zu garantieren, war Sinn des § 5. Der fortbestehende Genehmigungszwang erlaubte es, die Intention des § 1 der ersten Anordnung — Beendigung unkontrollierter Arisierungen, volkswirtschaftliche Regulierung und Beseitigung jüdischer Konkurrenten als billigend in Kauf genommene Nebenfolge — auf die andere Vermögensgegenstände erfassende VEjV zu übertragen. Insoweit gelten die dortigen Ausführungen zur Intention des § 1 der ersten Anordnung ganz entsprechend 77. Die Generalklausel des § 6 Abs. 2 sollte es ermöglichen, in allen Problemfallen, d.h. gegenüber solchen Vermögensgegenständen, die nicht von anderen Vorschriften erfaßt wurden, einen Zugriff zu eröffnen 78 . I m Vordergrund der Vorschrift stand aber § 6 Abs. 1. Eine im Rahmen der bisherigen Ausgrenzungsgesetzgebung neue, wenngleich ideologisch betrachtet von einer ursprünglichen NS-Anschauung getragene Absicht verfolgte § 6 Abs. 1, soweit Immobilien im weitesten Sinne arisiert werden sollten. Teil der Blut- und Bodenpolitik 79 war die Forderung, „nur deutsche Volksgenossen dürfen Besitzer deutschen Bodens sein" 80 . Sinn aller Vorschriften des Art. 3 sei es darum, „ . . . die Bereinigung des deutschen Grund und Bodens von Juden . . . " herbeizuführen 81. Zwar muß erkannt werden, daß Immobilien, insbesondere wenn auf ihnen ein Produktionsbetrieb errichtet war, erheblichen wirtschaftlichen Wert hatten und insoweit schlicht Vermögensinteressen maßgeblich waren. Der wirtschaftliche Aspekt war bei Grundstücken überhaupt aber nachrangig, was durch die vorläufige Zurückstellung der generellen Arisierung jüdischer Immobilien bei gewerblichen Betrieben deutlich wird 8 2 . Hier tritt ein Rangverhältnis zwischen 76

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.a). Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.III.2. 78 Krüger, 1940, S.321. 79 Ein nicht antisemitischer Teil dieses ideologischen Aspekts war die Suche nach Lebensraum im Osten, der im vorliegenden Zusammenhang nicht interessiert. Zu diesem Aspekt nationalsozialistischer Ideologie Hof er, 1957, S. 167 ff. m.w.N. 80 Erklärung der NS-Parteileitung im Manifest zum deutschen Bodenrecht Anfang März 1930 wiedergegeben bei Scholl, 1940, im Vorwort zur 1. Auflage. 81 Krüger, 1940, S. 314. Höver, 1941, S. 12 belegt dies durch ein Zitat des Kammergerichts Berlin (wiedergegeben in D R 1939, S. 1251), wonach die VEjV, soweit Immobilien betroffen seien, den Sinn habe, „ . . . den Einfluß des Judentums auf deutschen Grundbesitz restlos zu beseitigen . . . " . 82 Entsprechend hatte das Reichswirtschaftsministerium angeordnet: „ . . . vorbehaltlich einer Sonderregelung für . . . landwirtschaftlich oder forstwirtschaftlich genutzten Grundbesitz . . . (kommt) die Anwendung von Zwangsmitteln (der VEjV) nur (bei der) 77

2. Abschn. C. Direkter Vermögenszugriff — jüdisches Vermögen

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ideologisch und wirtschaftlich motivierten legislativen Absichten des NSGesetzgebers hervor. Weil die Masse der Immobilien wirtschaftlich weniger interessant war, ließ man deren Arisierung ungeachtet des hohen ideologischen Stellenwerts der Blutund Bodenpolitik ungenutzt. Daß indes Art. 2 der VEjV von der Blut- und Bodenpolitik ebenso bestimmt war, belegt Sinn und Zweck des § 7. Diese Vorschrift wurde als spezielle Norm verstanden, „ . . . um eine Ausweitung des jüdischen Einflusses zu verhindern.. . " 8 3 . Ein Vergleich der §§ 6 und 7 belegt die Annahme, daß primär ein wirtschaftliches Ergebnis beschleunigt erreicht werden sollte unter Zurückstellung ideologischer Aspekte. Arisierungen benötigten Verwaltungsressourcen, die angesichts der Vielzahl zu bearbeitender Vorgänge begrenzt waren 84 . Hier mußte also zwischen ideologischer Forderung — Entjudung sämtlichen nichtarischen Grundbesitzes — u n d schneller Aneignung wirtschaftlich relevanter Güter entschieden werden; anders bei § 7. Ein einfaches, vollständiges gesetzgeberisch ausgesprochenes Verbot beanspruchte nahezu keine Verwaltungsressourcen, trug jedoch ideologischen Forderungen Rechnung, ohne die schnelle Arisierung zu gefährden. Der Genehmigungszwang gemäß § 8 intendierte die konsequente Fortführung der § 1 Abs. 1 der ersten Anordnung zugrunde liegenden Intention 8 5 . Während § 5 diese Übertragung für die Gegenstände des Art. 1 der VEjV bestimmte, vollzog § 8 sie in erster Linie für Immobilien. § 9 stellt deshalb klar, die Genehmigung nach § 8 werde von § 1 Abs. 1 der ersten Anordnung ersetzt, um das Verfahren zu beschleunigen86. Erkennbar wird an dieser spezifizierten, weil nach Gegenständen differenzierenden Übertragung die Absicht, die schon bei der vorbereitenden VEjV bestand, möglichst vollständige Erfassung im Rahmen des durchführenden Zugriffs zu erhalten. Daneben hat das Genehmigungsinstrument den Sinn, die Zwangstreuhänderschaft anzuordnen, indem man die Genehmigung zum Beispiel wegen Nichteinhaltung einer Auflage verweigerte, denn dann war die sogenannte freiwillige Arisierung gescheitert 87. Entjudung gewerblicher Betriebe (in Betracht)... Ebenso ist die zwangsweise Gesamtentjudung des nicht landwirtschaftlich oder forstwirtschaftlich genutzten Grundbesitzes . . . im gegenwärtigen Augenblick noch nicht in Angriff zu nehmen." Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939, RMBliV 1939, S. 266. 83 Krüger, 1940, S. 328; Scholl, 1940, S. 16 stellt entsprechend fest: „Eine Erweiterung der Voll- oder Teilherrschaftsrechte von Juden über deutschen Boden ist danach für alle Zeiten unmöglich." 84 So stellt der Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939 (RMBliV 1939, S. 265) trotz der Zurückstellung der meisten Immobilien fest: „Die Durchführung der wirtschaftlichen Entjudungsgesetze stellt an die Verwaltungsbehörden . . . außerordentliche Anforderungen." 85

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.III.2. Krüger, 1940, S. 358; insoweit hatte § 9 also lediglich eine klarstellende Funktion. 87 Zur inhaltlichen Gestaltung der Auflage siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.a). 86

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Der Depotzwang für jüdische Wertpapiere — Art. 3, §§ 11,12 und 13 — hatte nach damaliger, quasi offizieller Verlautbarung allein den Sinn, „ . . . überstürzte Verkäufe und damit nachteilige Wirkungen auf den Kapitalmarkt und Kursrückgänge zu verhindern" 88 . Eine zwangsweise Entjudung fehle deshalb 89 . Wie wenig damit die tatsächliche Intention offenbart wird, zeigt § 12, der Verfügungen über Wertpapiere genehmigungspflichtig machte. Praktisch sollten Genehmigungen, die es dem jüdischen Inhaber erlaubten, über seine Wertpapiere in nennenswertem Umfang zu verfügen, nicht erteilt werden 90 . Die Einlegungspflicht war also dazu gedacht, hinreichend Gegenstände bereit zu stellen, die der Verfügungsbeschränkung unterfielen. §§11 und 12 sollten so im Ergebnis dazu dienen, jüdisches Wertpapiervermögen zu beschlagnahmen. Ungleich offener wird diese Intention bei § 14 und seiner Verschärfung verfolgt 91 . Schon die ursprüngliche Formulierung — Erwerbs-, Verpfandungsund Veräußerungsverbot — zeigte die Beschlagnahmeabsicht. Der Ablieferungszwang war die folgerichtige Weiterführung des Veräußerungsverbots, wollte man diese Werte für das Reich doch sichern. Wiederum durch Hinzuziehung der Intention einer anderen Vorschrift wird erhellt, daß die Beschlagnahme faktischen Enteignungscharakter hatte. § 15 Abs. 2 erlaubte es, Schuldverschreibungen statt des Verkaufserlöses auszuhändigen. Diese konnten jedoch kaum zu Bargeld gemacht werden, weil sie nur in geringem Umfang überhaupt ausgezahlt wurden. Die an die offiziellen Ankaufsstellen abzuliefernden Juwelen und dergleichen waren wirtschaftlich somit verloren bzw. mußten wegen der Kriminalisierungsandrohung (§ 23), die die Einziehung bei Nichtablieferung nach sich ziehen konnte 9 2 , verloren gegeben werden. Dieser Sinn des § 15 Abs. 2 — faktische Enteignungsmöglichkeit — leitet über zur Gesamtintention der VEjV. b) Gesamtintention der VEjV Die bislang lediglich unkommentiert vorgestellte Grenze der VEjV — keine Arisierung solcher Einrichtungen, die der jüdischen Auswanderung dienen 93 — weist auf die gesamte Intention einer Auswanderungsbewirkung hin. Obwohl erst bei der VEjV diese allgemeine Intention deutlich als direkter Gesetzeszweck benannt wird 9 4 , lag diese Intention schon früheren Gesetzen in 88

Krüger, 1940, S. 371 ; der quasi offizielle Charakter ergibt sich aus seiner Funktion im Reichswirtschaftsministerium, siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.2. Fn. 63. 89 Krüger, 1940, S. 370 verweist dabei jedoch direkt auf die Generalklausel des § 6 Abs. 2, der eine solche Zwangsentjudung allgemein erlaube. 90 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.2. 91 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.d). 92 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.d). 93 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.b); auch bei der Besprechung im Reichsluftfahrtministerium (siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III. 1.) hatte Göring ganz generell gefordert, die Juden müßten ins Ausland (bei Lösener, 1961, S. 289).

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anderen Bereichen zugrunde 95 . Ein anderer historischer Umstand untermauert die Absicht, die jüdische Bevölkerung zur Auswanderung zwingen zu wollen. Ende Januar 1939 wurde im Reichsinnenministerium eine „Zentralstelle für jüdische Auswanderung" gebildet. Sie hatte den Sinn, die jüdische Auswanderung in jeder Hinsicht zu fördern. In diesen Gesamtzweck ist die antisemitische Gesetzgebung einzustellen. Allerdings ist dies nicht die alleinige Gesamtintention der VEjV. Ein anderer Sinn, insbesondere der antisemitischen Gesetzgebung auf wirtschaftlichem Gebiet lag in der Aneignung der wirtschaftlichen Werte der jüdischen Minderheit. Diese Intention ist belegbar durch die bereits nachgewiesene vollständige Erfassung — VAjV — und anschließende Verwertung — VAJW, VEjV — der gesamten wirtschaftlichen Werte. Während Göring in erster Linie diese Werte zur Finanzierung der Aufrüstung nutzen wollte 9 6 , sah Goebbels darin den Sieg der ideologischen radikalen Ansicht. Mögen die Motive also unterschiedlich gewesen sein, so ist die Gesetzesintention — vollständige Beraubung der jüdischen Minderheit — die gleiche 97 . 2. Objektiver Ausgrenzungserfolg, Zweckerreichung und Zweckverfehlung

Der quantitative Erfolg des Art. 1 VEjV, Arisierung gewerblicher Betriebe, kann allein hinsichtlich der VEjV kaum beziffert werden. Die insoweit gemachte Einschränkung gegenüber Krügers Statistik arisierter Betriebe, weil in ihr keine Differenzierung dahingehend stattfindet, welche Liquidation oder Arisierung auf welche Verordnung zurückgeht, gilt ebenso für Art. 1 der V E j V 9 8 . Allerdings ist es nun nach Vorstellung beider, die faktische Enteignung jüdischer Betriebe maßgeblich bestimmenden Verordnungen möglich, mit dieser Statistik den quantitativen Erfolg insgesamt zu zeigen. Nach Krügers Angaben waren von „ . . . 39 532 jüdischen Betrieben, die am 1. 4. 1938 bestanden . . . am 1. 4. 1939 14803 liquidiert, 5976 entjudet, 4136 in der Entjudung begriffen und 7127 wurde überprüft, ob sie zu entjuden seien" 99 . Eine differenzierende, wenngleich nicht bezifferbare Bewertung des quantitati94

Riefensauer, 1939, S. 1272 und Krüger, 1940, S. 314f. Daß dies eine allgemeine Richtung der antisemitischen Gesetzgebung überhaupt war, geht auch aus einem Referentenentwurf für eine Ansprache auf einer Tagung der Regierungspräsidenten hervor: Danach sei das „ . . . innenpolitische Ziel der Judenpolitik . . . die Auswanderung", wiedergegeben bei Paetzold, 1983, S. 200 f. 96 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III. 1. 97 Goebbels, 1987, S. 533, Tagebucheintragung vom 13.12. 1938: „ . . . sie (die Juden) werden in kürzester Frist gänzlich aus dem deutschen Wirtschaftsleben ausgeschieden. Sie können keine Geschäfte mehr betreiben . . . Jedenfalls wird jetzt tabula rasa gemacht. Ich arbeite großartig mit Göring zusammen! Die radikale Meinung hat gesiegt." Das Verhältnis von Ideologie und Ökonomie wird an anderer Stelle noch betrachtet werden. 98 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.a). 99 Krüger, 1940, S. 44. 95

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

ven Erfolges der VAJW einerseits und der VEjV andererseits erlaubt die Feststellung Krügers, daß „ . . . nach der restlosen Entjudung des Handwerks und einzelner Gewerbebetriebe und der fast völligen Entjudung des Einzelhandels . . . die Entjudung der Industrie besonders in (gewissen) Sparten . . . gut fortgeschritten (sei)" 1 0 0 . Handwerk, Einzelhandel und teilweise Gewerbetätigkeit wurden von der VAJW erfaßt, während die enteignende Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung in Industrie und Großhandel in erster Linie von der VEjV bestimmt war 1 0 1 . Die VAJW hatte somit in ihrem sachlichen Anwendungsbereich schon vollständig ihr Ausgrenzungsziel erreicht, als die Durchführung der VEjV noch „gut fortschritt". Ebenfalls schwierig ist es, die quantitative Wirkung des Art. 2 — land- und forstwirtschaftliche Betriebe, Grundeigentum und sonstiges Vermögen — festzuhalten. Zwar liegen Zahlen vor, die den Wert des gesamten angemeldeten Vermögens zeigen, eine Differenzierung nach Gegenständen fehlt hingegen 102 . Differenziertere Zahlen liegen für Österreich vor. Nach Angaben Schuberts 103 belief sich das land- und forstwirtschaftliche Vermögen auf 39673000 R M und das übrige Grundvermögen auf 521162 000 R M . Hinsichtlich dieses Vermögens wie auch bezüglich der Immobilien im Reich muß jedoch beachtet werden, daß die Arisierung nicht generell erfolgte, sondern nach „ . . . volkswirtschaftlichem Bedürfnis" 104 . Ob in Österreich oder im Altreich also wirklich diese Werte vollständig arisiert wurden, muß offenbleiben 105 . Bewirkt wurde diese Unsicherheit im übrigen von der postulierten vorläufigen Zurückstellung der Enteignung des Grundvermögens, wie dies der bereits vorgestellte Durchführungserlaß bestimmte 106 . Zahlen, die den quantitativen Erfolg des Depotzwangs (§§ 11—13) bereits für das Jahr 1938 bezifferbar machen, fehlen ebenfalls. Jedoch sind die Einnahmen aus der Verwertung von Wertpapieren und Zinsscheinen, die dem Reich aufgrund der 11. VO zum RbG verfallen waren, feststellbar. Im Rechnungsjahr 1942 waren dies 56798122,45 R M , im Rechnungsjahr 1943 69315818,35 R M und 1944 60 Millionen R M 1 0 7 . Diese Verwertungszahlen nach der 11. DVO zum RbG und sonstigen Vorschriften erlauben es, sich dem Wert der einzulegenden Wertpapiere im Jahr 1938 folgendermaßen zu nähern: Die Verwertung von 100

Krüger, 1940, S. 44. Gewerbliche Tätigkeiten wurden auch durch die Änderungen der Gewerbeordnung (siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.l.) beschränkt, und Großhandelsbetriebe konnten ebenfalls nach der VAJW enteignet werden, obwohl dies regelmäßig nicht der Fall war. 101

102

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.l. Schubert, 1940, S. 16 ff. und 117 ff. 1( * Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.a). 105 Undeutlich insoweit Genschel, 1966, S. 205, der ebenfalls Schuberts Statistik heranzieht, jedoch die Frage unbeantwortet läßt, ob die genannten Werte tatsächlich arisiert wurden oder nicht. 106 Durchführungserlaß vom 6. 2. 1939, RMBliV 1939, S. 266. 107 NG-4904 bei Adler, 1974, S. 544f. 103

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Wertpapieren begann im Jahre 1938. Geht man davon aus, daß wegen der Strafandrohung die Anmeldung und Einlegung bis Ende 1938 weitgehend erfolgt waren und die Verwertung im selben Jahr begann, so waren im Jahr 1938 mehr als die Summe der in den Rechnungsjahren 1942—44 verwerteten Papiere von dem Depotzwang betroffen — Papiere im Wert von mehr als 186 Millionen RM. Die Vielzahl der abzuliefernden Edelmetallgegenstände sowie Edelsteine und Perlen erklärt, daß Zahlen, die deren Wert im Ganzen angeben, fehlen. Allerdings, und darin liegt bereits eine qualitative Diskriminierungswirkung des §14, wurde in Ergänzung dieser Vorschrift am 21. 2. 1939 bestimmt, daß die 1000 R M Freigrenze nunmehr entfalle 108 . Realwerte waren bei einer Auswanderung ausgesprochen wichtig, und ihr Entzug war daher um so einschneidender. Wie einsehneidend, zeigt die Darstellung eines mittelbaren Diskriminierungserfolges. Zur Genehmigung einer Wertpapierverfügung war der Nachweis erforderlich, über keine anderen Barmittel zu verfügen. So waren die Betroffenen gezwungen, wenn sie ihrer Straffälligkeit entgehen wollten, zunächst vorhandenes Barvermögen zu verbrauchen. Durch diese mittelbare Wirkung erfolgte mithin eine staatliche Bestimmung über vorhandene Barmittel mit der weiteren Folge, daß nach deren Verbrauch die Beschränkungen gegenüber sonstigem Vermögen potenziert diskriminierend wirkte, hatte man doch keine anderen Mittel mehr zur Verfügung. Eine Erweiterung des Diskriminierungserfolges im Wege einer Ausdehnung der zeitlichen Anwendbarkeit wurde im übrigen von der schon vorgestellten rückwirkenden Auslegung, die für die VEjV ebenfalls galt, erreicht 109 . Betrachtet man den weiteren qualitativen Diskriminierungserfolg, so ist festzustellen, daß dieser in erster Linie in dem Vermögenszugriff auf nunmehr alle Wertgegenstände, also Betriebsvermögen, Immobilien, Wertpapiere und Schmuck lag. Zugleich wurden die letzten Erwerbsquellen — Industrie-, Großhandels- und landwirtschaftliche Tätigkeit — endgültig verschlossen. I m übrigen ist neben der enteignenden Wirkung der unterbewertenden Verfahren 110 in der Normierung der Sperrkontenpraxis und in ihrer regelmäßigen Praktizierung eine scharfe Ausgrenzungsqualität zu sehen. Unabhängig von der Art des Vermögensgegenstandes wurde so wirtschaftlich umfassend enteignet. Dieser perfekte Zugriff verfolgte zwei Ziele: einerseits dem NS-Staat wirtschaftliche Werte zuzuführen und andererseits Juden zur Auswanderung zu 108 Objekte im Wert bis zu 300 R M konnten die Ankaufsstellen zunächst selbst erwerben; lagen sie darüber mußten sie an die Zentrale in Berlin abgeliefert werden. Im März 1939 wurde diese Grenze auf 150 R M herabgesetzt (Arndt, 1966, S. 121). 109 Vgl. oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.2.; bezüglich der VEjV so auch ausdrücklich Krüger, 1940, S. 353. 110 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.III.l.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

bewegen. Zwischen diesen beiden Intentionen kam es zu einem Zielkonflikt. Die Aneignung wirtschaftlicher Werte sollte vollständig erfolgen. Dies ging so weit, daß Auszahlungen und überhaupt—etwa Devisentransfer—Zugriffe jüdischer Personen auf ihre Konten regelmäßig nur gewährt wurden, wenn die Lebensführung dies unbedingt notwendig machte 111 . Zur Auswanderung waren aber Devisen erforderlich, deren Transfer zusehends schwieriger wurde. Wenngleich verwaltungsorganisatorisch von Seiten des NS-Regimes Auswanderungszentralen geschaffen wurden und legislativ, etwa bei der VEjV durch die Anweisung, Einrichtungen, die der Auswanderung dienten, unberührt zu lassen, die Auswanderung scheinbar möglich bleiben sollte, wurde die Erreichung des Ziels Auswanderung wegen des Vermögensentzuges vereitelt 112 . Vor diesem Hintergrund wird erneut der scharfe Einschnitt, den die Wegnahme realer Werte bewirkte, deutlich. Wie die Entscheidung des Zielkonflikts zwischen Aneignung jüdischen Vermögens einerseits und der Bewirkung der Auswanderung andererseits sich zueinander verhalten, wird zu Beginn des zweiten Abschnittes gesondert behandelt werden. A n dieser Stelle möge der Hinweis genügen, daß die Auswanderung selbst mit Kosten belastet wurde, die nachfolgend dargestellt werden. Zusammenfassend bleibt als Diskriminierungsqualität der VEjV der perfekt enteignende Zugriff auf alle wirtschaftlich relevanten Vermögensgegenstände und die Erschwerung der Auswanderung festzuhalten; schließlich wurden letzte Erwerbsquellen endgültig verschlossen. V. Optimierte Ausgrenzungstechnik der VEjV Neben der Spezialisierung, die in den den Diskriminierungsgegenständen jeweils angepaßten einzelnen Paragraphen der VEjV als Mittel zur Optimierung zum Ausdruck kommt, läßt sich gegenüber früheren antisemitischen Gesetzen eine verfeinerte Ausgrenzungstechnik feststellen. Zunächst findet man diese Annahme belegt durch das Aufgreifen vorbereitender Gesetze. M i t der 3. VO zum RbG hatte man jüdische Gewerbebetriebe registriert, und von der VAjV waren umfassend sonstige Vermögensgegenstände gleichermaßen erfaßt worden 1 1 3 . Die legislativ die materielle Enteignung regelnde VEjV nutzte diese Vorbereitung, indem sich der normierte Zugriff genau auf diese erfaßten Gegenstände bezog 114 . Dadurch wurde die Vollständigkeit der Erfassung in das Stadium der Durchführung überführt. Schließlich erlaubte diese Abstimmung zu prüfen, ob registrierte oder angemeldete 111 112 113 114

RMBliV 1939, S. 272. Wie hier Genschel, 1966, S. 257; Adler, 1974, S. 3 ff. und Majer, 1981, S. 272 ff. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a). Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a).

2. Abschn. C. Direkter Vermögenszugriff — jüdisches Vermögen

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Gegenstände vorenthalten wurden. In diesem Fall konnte bereits nach den strafrechtlichen Vorschriften eine unmittelbare Einziehung erfolgen. Doch die Spezialisierung läßt sich nicht allein mit der konsequenten Ausrichtung der VEjV an vorbereitenden Verordnungen zeigen. Auch die Betrachtung einzelner Paragraphen der VEjV eignet sich dazu. Die sogenannte freiwillige Arisierung war so konstruiert 115 , daß durch die Vertragsgestaltung seitens der Parteien eine schnelle Veräußerung bei dennoch direkter staatlicher Festlegung der Vertragsessentialia mittels Auflagen möglich war. Die Arisierung hatte tatsächlich Zwangscharakter 116 , was wiederum im Wege einer sorgsamen legislativen Konstruktion erreicht wurde. Nach herrschender Meinung subsidiär sah der § 2 die Zwangsarisierung genau derjenigen von der Abwicklungs- oder Veräußerungsanordnung betroffenen Gegenstände gemäß § 1 v o r 1 1 7 . Von Anfang an war §2 mithin so gestaltet, daß er primär die Zweckerreichung der schnelleren und deswegen Präferenz beizumessenden sogenannten freiwilligen Arisierung erlaubte, bei gleichzeitiger abschließender Sicherung des direkten Vermögenszugriffs. Dieser doppelte, in sich abgestufte Aufbau ist gemessen an der sonstigen NS-Gesetzgebung als differenzierte Konstruktion zu bewerten 118 . Wie genau die VEjV vorgedacht war, läßt sich weiter stringent an der Ausgestaltung des Zwangszugriffs nachweisen. Die Treuhänderschaft war je nach Veräußerung oder Liquidation verschieden; in beiden Fällen erfolgte gleichzeitig ein Verfügungsverbot, wodurch die Enteignung aus der Sicht des jüdischen Eigentümers vorverlagert wurde, es dem Staat zur finanziellen optimalen Ausbeute wegen der Treuhänderschaft jedoch möglich blieb, optimale Abschlüsse im Einzelfall und nicht im Wege allgemeiner Verwaltungsanweisungen zu erreichen. Eine im Ansatz bereits in der VAJW enthaltene legislativ fixierte Möglichkeit, einen optimierten Ausgrenzungsgrad zu erreichen, findet sich in der VEjV wieder. Ob ein Betrieb veräußert oder liquidiert werden sollte, konnte staatlich bestimmt werden. Fortgeführt wird dies in der VEjV, indem dieses Wahlrecht industriellen Produktionsbetrieben gegenüber zur Sicherung der Aufrüstung anders ausgeübt wurde als gegenüber Großhandelsbranchen und dort wiederum differenziert nach Nutzungsgesichtspunkten. Die Optimierung der Ausbeutung bewirkte hier also nicht eine neue Vorschrift, sondern ging von einer fallspezifischeren Anwendung aus. A m deutlichsten belegbar ist die Optimierung an den Generalklauseln der VEjV, vornehmlich in den §§ 6 Satz 1 und 15 Abs. 2. Diese Bestimmung, die 115

Vgl. oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.2. Siehe oben 2.Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.2. 117 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.a). 118 Nachgewiesen wurden völlig unzureichende Konstruktionen bereits im GEkV und im GEfV, siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II. 116

202

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

ermöglichte, andere Vermögensteile der sogenannten Zwangsentjudung gleichfalls zuzuführen, machte Auslegungsmethoden119 entbehrlich. Die Generalklausel ermöglichte nämlich, „ . . . alle Sachen und Rechte aus jüdischem Besitz in arische Hände zu überführen" 120 . Fallspezifisch wurden Hauptanwendungsgebiete — Überführung von Beteiligungen, Grundstücksbelastungen aller Art, Patente und sonstige Rechte — genannt, die eben, weil § 6 Satz 1 eine Generalklausel war, nicht als abschließend betrachtet wurden 1 2 1 . Diese rechtsmethodisch übliche Bewertung einer Generalklausel eröffnete gegenwärtig und zukünftig den Weg, ohne die geringsten weiteren legislativen Maßnahmen auf Vermögensgegenstände zuzugreifen, wo es opportun erschien. Optimierung bedeutet hier über eine verfeinerte Konstruktion einer einzelnen Vorschrift hinaus die Bereitstellung einer sachlich und zeitlich unbegrenzt — nonsektoralen — nutzbaren Generalklausel neben genau spezifizierten Paragraphen. Eröffneten sich in Folge der Spezifizierung Lücken, konnte man sie sofort durch die Generalklausel schließen. Dies gilt ebenfalls für § 15 Abs. 2, denn sachlich gleich — erfaßt waren alle Gegenstände122 — und zeitlich unbegrenzt konnten Schuldverschreibungen zur Begleichung des Kaufpreises zugeteilt werden. Allerdings hatte diese Rechtsfolge eine weitere Konsequenz, die zur Optimierung der Arisierungsausbeute beitrug. Sie ergibt sich aus §15 Abs. 2 und §§11 und 12 der VEjV. Die Schuldverschreibungen oder Schuldbuchforderungen gehörten zu den Wertpapieren im weiteren Sinne des § 11 1 2 3 . Sie waren deshalb einzulegen und über sie konnte nur so bedingt verfügt werden, daß eine faktische Enteignung die Folge dieser Einlegungspflicht war 1 2 4 . Der aus der Sicht des Dritten Reiches optimierte Ausbeutungserfolg ist offensichtlich: Die staatlichen Ankaufsstellen brauchten keine von Devisen abgedeckten Barmittel bereitzustellen, und der vom privaten Käufer zu zahlende Preis nahm Barmittel ebensowenig in Anspruch. Wirtschaftlich war mithin eine Gegenleistung entbehrlich. Umgekehrt konnten diese Wertpapiere dazu genutzt werden, dem NS-Staat Devisen zuzuführen; zur Bezahlung fälliger Steuern und Abgaben konnten die Papiere direkt dem Staat überschrieben werden 125 . Der Staat wiederum konnte die Papiere freihändig veräußern, um sich Devisen über die international tätige Reichsbank zu verschaffen. Neben den allgemeinen Möglichkeiten optimierter Ausbeute durch Generalklauseln konnten § 15 Abs. 2 i. V. m. den §§11 und 12 dazu genutzt werden, ohne

119 120 121 122 123 124 125

Vgl. oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.b). Krüger, 1940, S. 321. Krüger, 1940, S. 322 f. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.e). Krüger, 1940, S. 371. Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.e). Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.e).

2. Abschn. C. Direkter Vermögenszugriff — jüdisches Vermögen

203

die Aufwendung irgendwelcher realer oder realisierbarer Gegenwerte alle Vermögensgegenstände zu enteignen. Optimierend konnte die Nutzung dosiert werden, indem jeweils neue Steuern und Abgaben geschaffen wurden.

3. Abschnitt

Diskriminierung durch Zahlungspflichten A. Originäre NS-Abgabenvorschrift: die Verordnung über die Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit („Judenvermögensabgabe", JVerA) vom 12.11. 1938 und die Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben ( V W j G ) vom 12.11. 1938 I. Entstehung originärer NS-Abgaben Beschlossen wurden die JVerA und V W j G wie die VAJW und die VEjV auf der Sitzung im Reichsluftfahrtministerium vom 12.11.1938 1 . Im Gegensatz zur VAJW und der VEjV bestanden detaillierte Vorüberlegungen nicht, wie Passagen des stenographischen Protokolls, in denen es vornehmlich um die JVerA und die VAJW ging, zeigen. Die Verkündung des Entschlusses, den deutschen Juden eine Strafkontribution aufzuerlegen, entstand während dieser Besprechung. Mit greller und schneidender Stimme habe Göring, so Lösener 2 , in einer überraschenden Äußerung erklärt, daß den Juden „ . . . als Strafe für ihre ruchlosen Verbrechen" 3 eine Kontribution von 1 Milliarde R M auferlegt wurde. Ein inhaltlicher Aspekt stützt die eingangs vorgenommene Bewertung und zeigt gleichzeitig erneut die Ungebundenheit führender NS-Organe an vorgegebene Ressortbereiche. Die Kontribution sollte strafen; entsprechend lautet der Vorspruch zur JVerA: „Die feindliche Haltung des Judentums . . . erfordert... harte Sühne" 4 . Wenngleich Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan nahezu unbeschränkte Machtbefugnisse besaß, so war es dennoch unstreitig, daß deren Nutzung in einem etwa auszumachenden Zusammenhang mit der Durchführung des Vierjahresplanes stehen müßte 5 . Die Festlegung einer 1

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.l. Lösener, 1961, S. 290. 3 Lösener, 1961, S. 290 zitiert Göring mit der Aussage: „ . . . als Sühne für das Verbrechen". In der stenographischen Niederschrift („Der Prozeß", 1948, S. 499 ff.) heißt es hingegen: „ . . . Strafe für ihre ruchlosen Verbrechen." Die stenographische Niederschrift ist jedoch unvollständig — worauf dort hingewiesen wird — und daher werden in erster Linie Löseners Aufzeichnungen zugrunde gelegt. 4 RGBl. 1938 I, S. 1579. 2

3. Abschn.

. Zahlungspflichten —

r v e r o r d n u n g 2 0 5

kollektiven Geldstrafe läßt diesen Zusammenhang zunächst nicht erkennen. Andererseits hatte Göring bereits Strafvorschriften erlassen, wie etwa § 8 AnO. Sie standen aber gerade im Zusammenhang mit der Aufgabenerfüllung, denn sie waren zur Durchführung der VAjV und ähnlichem gedacht. Der erstmalige Erlaß einer Strafvorschrift durch ein bislang dazu nicht ermächtigtes Organ belegt somit die Kompetenzüberschneidung innerhalb der JVerA. Deutlich wird die wenig kontrollierte Entstehung auch bei der VWjG: Die materiellen Schäden, die die deutsche Bevölkerung den Juden zugefügt hatte, seien Folge einer berechtigten Abwehrreaktion gewesen. Der Schaden müsse aus diesem Grunde die jüdische Bevölkerung treffen 6 . Allerdings entstand dabei folgendes Problem: Zumeist waren die jüdischen Eigentümer versichert. Ohne Zugriff auf die Vermögenssumme erklärte Göring: „ . . . würde also folgendes dabei herausspringen: Daß das Volk in einer berechtigten Abwehr dem Juden hat einen Schaden zufügen wollen und daß dann tatsächlich der Schaden von der deutschen Versicherungsgesellschaft gedeckt wird". Zwar könne man die Versicherung von der Zahlungspflicht befreien, dadurch würde jedoch auf Rückversicherungen verzichtet. Diese internationalen Verpflichtungen brächten aber Devisen, die man brauche. Der geladene Vertreter der Versicherungswirtschaft Hilgard wies ebenfalls auf die internationalen Verpflichtungen hin und machte geltend, daß man „ . . . an der Erfüllung . . . vertraglicher Verpflichtungen nicht gehindert (werde)". Man betreibe internationale Geschäfte, die der deutschen Devisenbilanz zugute kämen. Dieses internationale Vertrauen müsse erhalten bleiben. Das Ergebnis der weiteren Diskussion war dann eine Beschlagnahmetechnik. Die Versicherungen blieben zwar anspruchsverpflichtet, jedoch beschlagnahmte der Staat den Anspruch des jüdischen Versicherungsnehmers. Die Diskussion zwischen Göring und Hilgard einerseits und der erst dann entwickelte Modus zum Einstreichen der Versicherungssumme durch den Staat andererseits zeigen, daß man sich erst zu diesem Zeitpunkt eine abgabenrechtliche Zugriffsmöglichkeit detailliert erdacht hatte. Der Zeitpunkt des Erlasses der JVerA und der V W j G sowie deren Kürze belegen zusätzlich die dargestellte Entstehung. Die Besprechung im Reichsluftfahrtministerium war am 12. November gegen Mittag beendet; unmittelbar danach hatte die Formulierung stattgefunden 7, und ebenfalls am 12. November hatte Göring sie unterzeichnet 8. Entsprechend kurz waren die JVerA und die VWjG. Sie umfaßten insgesamt fünf Paragraphen, von denen zwei Ermächtigungen zum Erlaß von Durchführungsvorschriften enthielten 9 . 5

Die Diskussion im damaligen Schrifttum zur staatsrechtlichen Position Görings wurde oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.I.2. bereits skizziert. 6 Dieser Teil der Besprechung ist wiedergegeben bei Hirsch, 1984, S. 368 f. unter Bezugnahme auf das Protokoll Löseners. 7 Lösener, 1961, S. 289f. 8 RGBl. 1938 I, S. 1579 und 1581. 9 RGBl. 1938 I, S. 1579 (JVerA) und 1581 (VWjG).

206

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Daß diese Vorschriften einem regelrechten legislativen Aktionismus entstammten, kann abschließend anhand einer Äußerung Görings nachgewiesen werden, die zugleich seine unbeschränkten Machtbefugnisse in wirtschaftlichen Dingen ein weiteres Mal deutlich werden läßt. Wie es zu bewerkstelligen sei, der jüdischen Bevölkerung Versicherungsansprüche zu nehmen, war für Göring weder inhaltlich noch ressortmäßig ein Problem: „Hier (gemeint sind die Versicherungsansprüche) wäre die Sache verhältnismäßig einfach, indem ich eine Verordnung mache, daß diese Schäden, die aus dieser Aufwallung gekommen sind, nicht von den Versicherungen zu decken sind" 1 0 . Probleme, die wie oben geschildert, schwieriger zu lösen waren, ergaben sich allein aus der internationalen Verflechtung und der Sicherung von Devisen. Der deutschen jüdischen Bevölkerung als Strafe Abgaben aufzuerlegen, war 1938 hingegen ohne irgendwelche Absprachen mit anderen Ressorts eigenmächtig durch Göring möglich. II. Inhalt und Durchführungserlasse 1. Inhalt

Neben der Durchführungsermächtigung an den Reichsfinanzminister (§ 2) legte § 1 JVerA fest: „Den Juden deutscher Staatsangehörigkeit in ihrer Gesamtheit wird die Zahlung einer Kontribution von 1 Milliarde R M an das Deutsche Reich auferlegt" 11 . § 1 der V W j G bestimmte, daß „alle Schäden . . . , (die) am 8., 9. und 10. November 1938 an jüdischen Gewerbebetrieben und Wohnungen entstanden sind, . . . von dem jüdischen Inhaber oder jüdischen Gewerbetreibenden sofort zu beseitigen (sind)". § 2 Abs. 1 V W j G legte ihnen die Kosten dafür auf unter Beschlagnahme der Versicherungsansprüche, während § 3 V W j G schließlich eine Durchführungsermächtigung enthielt 12 . Die Durchführung beider Verordnungen wurde in der „Durchführungsverordnung über die Sühneleistung der Juden" (VSJ) gemeinsam geregelt 13. Der Kürze des Verordnungstextes entsprechend enthielt diese Durchführungsverordnung die inhaltsbestimmenden Essentialia der Abgaben Vorschriften, insbesondere Abgabenpflicht und Bemessungsgrundlage. Abgabenpflichtig waren deutsche und staatenlose Juden im Sinne des §5 der 1. DVO zum RbG, die von der Anmeldungspflicht nach der V A j V 1 4 betroffen waren (§ 1 VSJ). Im Gegensatz zur VAjV war in Mischehen lediglich der jüdische Ehegatte abgabepflichtig (§ 2 10

Lösener, 1961, S. 289 ff. RGBl. 1938 I, S. 1579. 12 RGBl. 1938 I, S. 1581. 13 RGBl. 1938 I, S. 1638. Daß diese inhaltsbestimmenden Voraussetzungen einer Abgabennorm der JVerA und der V W j G fehlen, belegt ebenfalls deren spontane Entstehung, zumal in der VSJ Verweisungen ausreichten, um die Abgabenpflicht zu konkretisieren. Siehe oben 2. Kapitel, . Abschnitt, .II.l. 11

3. Abschn.

. Zahlungspflichten —

r e r o r d n u n g 2 0 7

VSJ). Bemessen wurde die Abgabe unter Zuhilfenahme der VAjV. Das dort angegebene Vermögen wurde zur Grundlage der Abgabenbemessung gemacht, wobei das Finanzamt befugt war, bei Beanstandungen der Vermögensanmeldung den Vermögenswert zu berichtigen (§ 3 VSJ). § 4 VSJ legte den Anteil, der als Abgabe zu entrichten war, auf 20% des Vermögens fest und schrieb deren Begleichung in drei Raten vor 1 5 . § 5 VSJ bestimmte eine gesamtschuldnerische Haftung der Ehegatten außer für Mischehen, und § 6 legte die Zuständigkeiten fest. Wichtiger waren die §§ 7-10. Die beschlagnahmten Versicherungsansprüche mußten an das Reich geleistet werden. Dabei wurden diese Zahlungen zwar auf die Abgabe nach § 1 VSJ angerechnet, „übersteigende Beträge verblieben (jedoch) dem Reich". Möglich war die Inzahlungnahme von Sachgütern (§ 8 VSJ), eine Formulierung, die die Schärfe der dahinter stehenden Eingriffsmöglichkeiten nicht zeigt und erst in den Verwaltungsbestimmungen hervortritt. Nach § 9 (Anwendbarkeit der Reichsabgabenordnung) konnten Sicherheitsleistungen verlangt werden. Bei der Anwendbarkeit der Reichsabgabenordnung wurden Juden Beschränkungen ausgesetzt. So war abweichend von der Reichsabgabenordnung allein die Beschwerde bei den Finanzämtern, nicht aber die Rechtsbeschwerde vor den Finanzgerichten zulässig. Schließlich legte § 10 die Vorläufigkeit der Regelung fest. Die Zahlungspflicht konnte erweitert oder beschränkt werden, je nachdem, ob die Milliarde erreicht war. 2. Verwaltungspraxis

Obwohl durch die VSJ der Inhalt der JVerA und der V W j G näher bestimmt war, waren es erst einige Runderlasse, die hinreichend den vollständigen Inhalt des gesamten Regelungswerkes und seiner Durchführung erkennen ließen 16 . a) Geregelte Praxis Der erste Erlaß vom 23.11. 1938 stellte „Grundsätzliches" voran. Den Finanzämtern wurde erklärt, daß sie eine Mitwirkungspflicht bei der Realisierung des Strafcharakters der Abgaben hätten. Die Arbeit sei zu beschleunigen, 15

A m 19.10. 1939 wurde festgestellt, daß 20 v.H. zur Erreichung der Kontributionssumme unzureichend seien. Daraufhin wurde der abgabepflichtige Anteil des Vermögens auf 25 v.H. erhöht (RGBl. 1939 I, S. 2059). 16 Runderlaß des Reichsfinanzministeriums vom 23.11.1938,RStBl. 1938, S. 1073-75; Runderlaß des Reichsfinanzministeriums vom 3.12. 1938, RStBl. 1938, S. 1112-15; Runderlaß des Reichsfinanzministeriums vom 10.12. 1938, RStBl. 1938, S. 1129-30; Runderlaß des Reichsfinanzministeriums vom 31.1. 1939, RStBl. 1939, S. 246-48. Die ersten drei Erlasse wurden in ihren wesentlichen Zügen als Pressenotiz des Reichswirtschaftsministeriums an gleicher Stelle genannt. Daran zeigt sich, daß die Erlasse nicht bloßes Innenrecht waren, sondern in ihren groben Zügen den Betroffenen bekannt sein sollten, eben weil maßgebliche Inhalte erst aus ihnen hervorgingen.

208

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

„ . . . da nur eine rasche Einziehung der Vermögensabgabe ihrem Wesen als Sühneleistung gerecht w i r d " 1 7 . Die VSJ diente dabei hier zur Bestimmung des Kreises der Abgabepflichtigen, während die Bemessungsgrundlage mittels eines Hinweises auf die VAjV und die erste AnO erklärt wurde. Der „gemeine Wert" sei dabei nicht dadurch beeinträchtigt, daß der Eigentümer Jude sei 18 . Im Rahmen der Bemessungsgrundlage wurden die Finanzbeamten dazu angehalten, während der Berechnung des Abgabenanteils anhand des Vermögensverzeichnisses nach der VAjV diese dort gemachten Angaben zugleich zu überprüfen und bei etwaigen Beanstandungen einen geänderten Gesamtwert des Vermögens der Berechnung zugrunde zu legen 19 . Geklärt wurde des weiteren das Verhältnis von Schäden und Versicherungsansprüchen innerhalb der Berechnung des abgabepflichtigen Vermögens. Diese Schäden seien grundsätzlich als Abzugsposten, somit wertmindernd einzustellen, wobei allerdings die korrespondierenden Versicherungsansprüche ebenfalls beachtet werden müßten; daß zugunsten des Reiches beschlagnahmt wurde, sei zu vernachlässigen 20. Allerdings, und insoweit könnte man geneigt sein, den offensichtlichen Unrechtsgehalt dieses Zusammenhangs — grundsätzlich wertmindernde Berücksichtigung, jedoch Berichtigung nach oben im Wege einer Berücksichtigung beschlagnahmter, der Verfügungsgewalt des Anspruchsberechtigten also entzogener Versicherungsansprüche — nicht in aller Schärfe zu sehen 21 , wurde auf § 7 VSJ verwiesen, der geleistete Zahlungen der Versicherungen mit der Abgabe verrechnete. Zum einen entstand so die unabhängig von vorhandenen Ansprüchen berechnete Höhe der Abgabe und die sofortige Pflicht, sie in dieser Höhe zu erfüllen. Zum anderen fand die Anrechnung geleisteter Zahlung nur unter Einbehaltung übersteigender Beträge durch das Reich statt 22 . Diese verzögerte Anrechnung ist mehr als eine Marginalie, denn eine Stundung der Abgabenbeträge wegen vorhandener Versicherungsansprüche blieb aus; in zunächst voller Höhe mußte die Summe mit Barmitteln beglichen werden und der übersteigende, dem Reich verfallende Betrag aus der Versicherungsleistung wurde höher, d.h. für den anspruchsberechtigten jüdi17

RStBl. 1938, S. 1073. Zum Begriff des „gemeinen Wert" siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a). Dieser Hinweis ist ein Indiz dafür, daß der „gemeine Wert" nicht der reale Marktwert jüdischen Eigentums, sondern der Wert arischen Eigentums zugrunde gelegt wurde; daß dieser nicht realisierbar war, wurde bereits oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.l. gezeigt. 19 Wenige Absätze danach wird diese Überprüfungs- und ggf. Ergänzungspflicht im Zusammenhang mit der Bewertung nicht bezifferter Wertgegenstände wiederholt. Der Kontrolle und Nachbesserung wurde also ein hoher Stellenwert beigemessen (RStBl. 1938, S. 1074). 20 RStBl. 1938, S. 1074. 21 So Genschel, 1966, S. 203 Fn. 124, wenn er entsprechend feststellt: „Demnach (gemeint ist § 7 VSJ) brauchten die versicherten jüdischen Geschäftsinhaber die Schäden der Reichskristallnacht wenigstens nicht zusätzlich zur Sühneleistung zu tragen." Siehe oben 2. Kapitel, . Abschnitt, .II.l. 18

3. Abschn. Α. Zahlungspflichten — Pogromverordnungen

209

sehen Versicherungsnehmer der Anspruch wertloser, da der zu verrechnende Betrag abnahm. A m Ende der Passage des Erlasses, der die Bemessungsgrundlage betrifft, findet sich nun gegenüber der zweimal genannten Überprüfungs- und Ergänzungsanweisung verschärfend die Anweisung, daß die Staatsanwaltschaft einzuschalten ist, falls Vermögensgegenstände verschwiegen oder falsch bewertet worden seien. Neben der Aktualisierung der Strafandrohung des § 8 AnO war für den Fall der Bestrafung die direkte Einziehung möglich 23 . Grundsätzlich war vorgesehen, daß den Abgabepflichtigen ein „Bescheid über die Judenvermögensabgabe" zugehen müsse. Ein Muster dieses Formulars war im Reichsteuerblatt abgedruckt, jedoch hinzugefügt, daß bereits vor der Zustellung eines solchen Bescheides und unabhängig von der Sollstellung durch die Finanzkassen „ . . . die Abgabenpflichtigen (Einzahlungen) ohne Aufforderung zu entrichten (hätten)" 24 . Die geleistete Zahlung wurde dann zur vorläufigen Bemessungsgrundlage der Höhe der Abgabe insgesamt25 und falls daraufhin „ . . . keine oder nicht ausreichende Zahlungen (geleistet wurden)..., war die Abgabe . . . beizutreiben"; eine Mahnung war entbehrlich 26 . Durch die Verpflichtung zur pauschalen Vorausleistung ohne Bescheid verpflichtete sich der Leistende also automatisch zur weiteren Zahlung unabhängig vom Gang des weiteren Verwaltungsverfahrens. Am Schluß dieses ersten Erlasses wurde speziell hinsichtlich jüdischer Unternehmen eine Sicherheitsleistung konstruiert. Den die Genehmigung nach der VEjV erteilenden Behörden wurde aufgegeben, daß 20% des Kaufpreises als Sicherheitsleistung auf die JVerA einzubehalten seien 27 . Anwartschaften, Billigkeitsmaßnahmen sowie die Verwendung des Aufkommens wurden im wesentlichen im zweiten Runderlaß angesprochen 28. Dabei finden sich zwei Positionen, die einen Teil der detailliert später darzustellenden Intention bereits erkennen lassen: Es gebe Eingaben, in denen von Volksgenossen darauf hingewiesen worden sei, die JVerA schmälere Anwartschaften auf 23

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV.l. RStBl. 1938, S. 1074f. 25 „Gleichzeitig hat die Finanzkasse das Vierfache des eingezahlten Betrages . . . zum Soll zu stellen" (RStBl. 1938, S. 1074). Erst nachdem das Vierfache des ersten eingezahlten Betrages zum Soll gestellt war, wurde diese erste Rate mit der dann fixierten Gesamtsumme verrechnet. 26 RStBl. 1938, S. 1074. 27 RStBl. 1938, S. 1075. 28 RStBl. 1938, S. 1113-15; daneben finden sich Ausführungen zu den Eigentumsverhältnissen — Umschreibungen könnten bei der Bemessung der Abgabe mindernd allein bei formeller Belegbarkeit anerkannt werden —, zur Anwendung des Reichsbewertungsgesetzes — Pensionsansprüche wurden danach nicht bei der Bemessung als Kapitalwert einbezogen — und schließlich wurde bekanntgegeben, daß die Ankaufsstelle für Kostbarkeiten und Kunstgegenstände bei der I H K Berlin eingerichtet werde. 24

14 Tarrab-Maslaton

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

jüdisches Vermögen. Der darin geäußerten Bitte, solche Ansprüche bei Bemessung der Abgabe zu berücksichtigen, könne nicht entsprochen werden 29 . Gleiches gelte hinsichtlich der Behauptung, wegen früherer schädigender Handlungen von Juden einen aus dem Abgabeaufkommen zu begleichenden Entschädigungsanspruch zu haben. Dem Zugriff des Staates müsse Priorität eingeräumt werden. Dies wurde im wesentlichen aus dem Wesen der JVerA gerechtfertigt. Sie lege „ . . . den Juden eine Kontribution an das Deutsche Reich (auf), daß . . . ausschließlich dem Deutschen Reich als dem Sachwalter des gesamten deutschen Volkes (zustehe)" 30 . Neben dieser Intention — Aneignung zugunsten des Reiches bei Bemessungsfragen — findet sich eine zweite. Vorbehaltlich einer Einzelentscheidung des Reichsfinanzministers seien „ . . . Anträge auf Billigkeitsmaßnahmen . . . abzulehnen", denn „ . . . die Judenvermögensabgabe ist eine Sühneleistung" 31 . Der strafende Charakter, der seitens der Behörden mittels eines beschleunigten Verfahrens entstehen sollte, wurde durch Abschneiden solcher Billigkeitsmaßnahmen fortgeführt. A m 10.12. 1938 teilte man den Devisenbanken mit, welche Mitwirkungspflicht ihnen bei der Inzahlungnahme von Wertpapieren obliege 32 . Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Wertpapiervorschriften der V E j V 3 3 wurde festgestellt, daß hinsichtlich des ersten Teilbetrages der JVerA eine Inzahlungnahme ausscheide, jedoch dort, wo dies wegen fehlender Barmittel unabänderlich sei, die Vorschriften der VEjV zu beachten seien. Die in § 12 VEjV angeordnete Verfügungsbeschränkung war dabei Gegenstand einer besonderen Erörterung. Soweit es darum gehe, über Wertpapiere zur Begleichung von Forderungen aus der JVerA zu verfügen, sei diese Genehmigung erteilt und der gleichlautende Auftrag auszuführen. Allerdings müßten die Wertpapiere nicht an das Finanzamt, sondern „ . . . von der beauftragten Bank in ein für die Preußische Staatsbank . . . Berlin zu errichtendes Depot (umgelegt werden)" 34 . Daneben waren die Banken dazu verpflichtet, bei „ . . . einem für die Banken erkennbaren Verstoß gegen die Vorschrift . . . dem zuständigen Finanzamt unverzüglich Mitteilung zu machen" 35 . Da in diesem Erlaß ausführlich auf andere Verordnungen, insbesondere die VEjV verwiesen wurde, umfaßte die Mitwirkungspflicht materiell mehr: Diese Überprüfung der Vorschrift führte inhaltlich nämlich gleichzeitig zur Kontrolle, ob zusätzlich diese Vorschriften ebenfalls beachtet worden waren. Private Geldinstitute traf also die Obliegen29

RStBl. 1938, S. 1113. RStBl. 1938, S. 1114, im Original sind die Worte „an das Deutsche Reich", .ausschließlich" und „gesamten deutschen Volkes" durch Kursivdruck hervorgehoben. 31 RStBl. 1938, S. 1114. 32 Runderlaß vom 10.12. 1938, RStBl. 1938, S. 1129-30. 33 Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.c). 34 RStBl. 1938, S. 1130. 35 RStBl. 1938, S. 1130. 30

3. Abschn.

. Zahlungspflichten —

r v e r o r d n u n g 2 1 1

heit, mit eigenem Personal staatliche legislative Zwangsmaßnahmen einer Minderheit gegenüber durchzuführen und die Einhaltung anderer Vorschriften zu sichern. „Wegen etwaiger im Zusammenhang mit dem Umsatz der Wertpapiere . . . entstehender Kosten haben die Banken sich an die abgabepflichtigen Juden zu halten." Obwohl der gesamte Vorgang staatlich verordnet war, stellte also der Erlaß fest: „Das Reich übernimmt diese Kosten nicht." Die Tätigkeit der Banken bei der Enteignung jüdischen Vermögens erfolgte allerdings nicht nur aufgrund staatlicher Anordnung. Fritz Andre, ein Direktor der Dresdner Bank, hat die eigenständigen Aktivitäten der Banken während der Jahre 1936-39 vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal folgendermaßen beschrieben: „Die Arisierungsgeschäfte außerhalb Berlins sind von den betreffenden Filialen selbständig erledigt worden. Ich nehme an, daß bei großen Objekten der Vorstand, mindestens aber das zuständige Vorstandsmitglied über die Angelegenheit auf dem Laufenden gehalten und vor endgültiger Abmachung die Angelegenheit zur Entscheidung ihm unterbreitet worden ist. Die Bank hat außerdem im Rahmen der für die Geschäftstätigkeit geltenden Richtlinien hier und da Kredite gewährt, μιη die Fabrikation der arisierten Unternehmungen sicherzustellen, und in gewissen Fällen auch die Verhandlungen der Interessenten mit ministeriellen Stellen erleichtert. Es kann in Einzelfallen, wo die Filiale keine Möglichkeit hatte, die Arisierung mit Erfolg zu bearbeiten, dazu gekommen sein, daß die in Berlin eingerichtete Stelle mit der betreffenden Firma befaßt wurde, da sich in Berlin mehr Möglichkeiten ergaben und die auf Beteiligung gerichteten Wünsche häufiger waren. Die Entscheidung, welcher Geschäftsfreund mit bedeutenderen Arisierungsobjekten befaßt werden sollte, wurde vom Vorstand bzw. dem zuständigen Vorstandsmitglied nach Absprache mit Kollegen, die an der (sich) anbahnenden geschäftlichen Verknüpfung interessiert sein könnten, getroffen.. . " 3 6 . Wie schon bei Wertpapieren machte der Erlaß vom 13.12. 1938 die Inzahlungnahme von Grundstücken davon abhängig, daß Barmittel nicht vorhanden waren 37 . Jedoch traten weitere Voraussetzungen hinzu. Eine Inzahlungnahme war selbst, wenn keine anderen Werte vorhanden waren, ausgeschlossen „ . . . bei a) Grundstücken, die mehreren Eigentümern gehören, sofern nicht sämtliche Eigentümer ihre Anteile dem Reich übertragen wollen; b) Grundstücken, die offensichtlich überbelastet sind; c) Grundstücken, deren Wert nach Abzug der Belastungen und der durch den Eigentumsübergang . . . " entstehenden Kosten die Abgabe übersteigt „ . . . , so daß das Reich noch herauszahlen müßte" 3 8 . Allein, wenn Barmittel fehlten und die Voraussetzungen a)-c) nicht zutrafen, wurde vom Reichsfinanzministerium der Oberfinanzpräsi36 37 38

14*

Wiedergegeben bei Benz, 1989, S. 557. Runderlaß des Reichsfinanzministers vom 13.12. 1938, RStBl. 1938, S. 1130. RStBl. 1938, S. 1130.

212

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

dent mit der Wertbemessung der in Zahlung zu nehmenden Grundstücke betraut. Er hatte dabei nochmals die Voraussetzungen a)-c) zu prüfen, nun aber unter noch genauerer Betrachtung des Katastermaterials und genauer Bezifferung des verbleibenden Wertes. Die Kosten dieses Verfahrens trafen den jüdischen Eigentümer, denn: „Die Inzahlungnahme von Grundstücken ist eine Vergünstigung gegenüber dem abgabepflichtigen Juden. Der Abgabepflichtige . . . hat deshalb außer den jeweiligen Kosten die bei dem Übergang der Grundstücke auf das Reich entstehenden Steuern zu tragen". Diese Darstellung zeigt, daß die Inzahlungnahme von Wertpapieren und Grundstücken ausgesprochen restriktiv gehandhabt wurde. Dies blieb im Erlaß vom 31.1.1939 im wesentlichen gleich 39 . Erkennbar wird daran, daß die engen Voraussetzungen über die Sicherstellung einer baren Begleichung des ersten Teilbetrages zum Zahlungstermin hinaus einen weiteren Sinn hatten 40 . Auch danach blieb es bei derselben Praxis mit derselben Begründung. Welche abgestufte Bewertung der Einziehung der JVerA zugrunde lag, belegt neben der primären Pflicht, die Abgabe bar zu erfüllen, das Verhältnis der inzahlungsnahmefahigen Gegenstände zueinander. Schmuck war vor der Annahme von Wertpapieren zu veräußern. Erst danach wurden Wertpapiere angenommen, und Grundstücksinzahlungnahmen hingen wieder davon ab, daß keine Wertpapiere mehr vorhanden waren 41 . Die Durchführung der JVerA war also langfristig angelegt, wobei primär auf bares Vermögen zugegriffen wurde, und sekundär sonstiges Vermögen in der erklärten Staffelung der jüdischen Bevölkerung kollektiv entzogen wurde.

b) Willkürliche

Praxis

Die Praktizierung der V W j G beschränkte sich nicht auf die Beschlagnahme von Versicherungsansprüchen. § 1 V W j G hatte bestimmt, daß „ . . . alle Schäden, (welche während des 9. und 10.11. 1938) an jüdischen Gewerbebetrieben und Wohnungen entstanden (waren)... von dem jüdischen Inhaber oder Gewerbe39 Runderlaß des Reichsfinanzministers vom 31.1. 1939, RStBl. 1939, S. 246-48. So beläßt dieser Erlaß ausdrücklich die bisherigen Erlasse in Geltung, bringt aber sowohl für Wertpapiere als auch für Grundstücke Verfahrenserleichterungen. Insbesondere wird den zuständigen Stellen die rasche Zusendung von Formularen versprochen, um die schriftlichen Erklärungen der jüdischen Eigentümer schneller erhalten zu können. 40

Ausdrücklich wird darauf im ersten Erlaß hingewiesen: „ M i t Rücksicht darauf, daß es den Abgabepflichtigen im allgemeinen möglich sein wird, die für die erste Teilzahlung am 15.12.1938 erforderlichen Beträge flüssig zu machen, wird eine Inzahlungnahme... in der Regel abzulehnen sein" (RStBl. 1938, S. 1075). 41 „Es muß verfolgt werden, daß Abgabepflichtige vor der Inzahlunggabe von Wertpapieren und Grundstücken ihren Besitz an Kostbarkeiten und Kunstgegenständen veräußern und das erlöste Bargeld zur Bezahlung der Juden Vermögensabgabe verwenden" (RStBl. 1939, S. 247).

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treibenden sofort zu beseitigen . . . (waren)", und gemäß § 2 V W j G habe „die Kosten der Wiederherstellung . . . der Inhaber der betroffenen jüdischen Gewerbebetriebe und Wohnungen... (zu tragen)" 42 . Entsprechende Verfügungen ergingen alsbald. Aufgrund der V W j G wurde einem jüdischen Gewerbetreibenden folgende Anordnung vom Bürgermeister am 15.11. 1938 zugestellt: „Demzufolge (gemeint war die VWjG) erhalten Sie die Auflage, an ihrem Haus folgende Instandsetzungen schnellstens ausführen zu lassen: (1) Instandsetzung der beschädigten Fenster; (2) Anbringung von Fensterläden, soweit erforderlich; (3) Instandsetzung der Hausfassade; (4) Beseitigung jeglicher Aufschriften ihrer Firma . . . Sofern Sie nicht in der Lage sein sollten, die Kosten der Instandsetzung zu bezahlen, haben ihre vermögenden noch hier wohnenden Rassegenossen einzuspringen. Ich erwarte restlose Erfüllung der Anordnung der Regierung" 43 . Die Durchführungsverordnung zur JVerA und V W j G legte nicht fest, wie Instandsetzungsmaßnahmen erfolgen sollten. Formal gedeckt war die Anordnung somit nur, soweit dem Adressaten selbst eine Wiederherstellung aufgegeben wurde. Eine Ausfallhaftung der übrigen ortsansässigen Juden hingegen erfolgte willkürlich. Ähnlich willkürlich verfuhr man bei der Frage, wer die Abbruchkosten der Synagogen zu tragen habe. Zunächst kann diese These durch die unterschiedlichen Wege der Kostenabwälzung belegt werden. In Laupheim kam es zu einem öffentlich-rechtlichen Schenkungsvertrag: „Wir (der Vorstand der israelitischen Gemeinde Laupheim) übernehmen freiwillig sämtliche durch den Brand der Synagoge entstandenen Kosten, insbesondere die der Brandbekämpfung, der Sprengung der Synagoge, der Abbruch- und Aufräumarbeiten sowie in Zusammenhang damit sonstige entstandene Schäden (Beschädigung der benachbarten Gebäude und ähnliches) . . . Wir erklären ausdrücklich, daß wir vorstehende Verpflichtung vollständig freiwillig und ohne jeden Zwang auf uns genommen haben" 44 . Schon die Existenz dieses Vertrages zeigt, daß seitens der Verwaltung davon ausgegangen wurde, die Kostentragungspflicht ergebe sich bezüglich der Synagogen nicht aus der V W j G unmittelbar. Anders ging das Bürgermeisteramt in Gailingen am 22.12.1938 vor: Da „ . . . die jüdische Gemeinde ihrer Verpflichtung zur Beseitigung der Trümmer der abgebrandten Synagoge in Gailingen nicht nachgekommen i s t . . . " , wurde die Ersatzvornahme zu Lasten der Eigentümer angeordnet 45 . Mithin ging die Verwaltung von einer bestehenden Verpflichtung zur Beseitigung aus. 42

RGBl. 1938 I, S. 1581. Wiedergegeben bei Sauer, Bd. II, 1966, S. 44. 44 Protokoll des Bürgermeisteramtes der Stadt Laupheim vom 25.11.1938, bei Sauer, Bd. II, 1966, S. 47. 45 Bericht des Bürgermeisteramtes Geilingen an das Bezirksamt Konstanz vom 22.12. 1938, bei Sauer, Bd. II, 1966, S. 47f. 43

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Daß die Inanspruchnahme willkürlich war, zeigen indes nicht allein diese verschiedenen Vorgehens weisen. Der Verordnungstext nennt allein die Pflicht, Schäden an Gewerbebetrieben und Wohnungen zu beseitigen (§ 1 VWjG). § 2 V W j G wiederholt diese Formulierung 46 ; überhaupt fehlt ein Hinweis, daß Beseitigungskosten zu tragen seien. Willkürlich war also die Inanspruchnahme als solche unabhängig von der konkreten Handlungsform, derer sich die Verwaltung bediente. Die angeführten Beispiele eignen sich, die vorangestellte These zu belegen, obwohl es sich um ländliche Regionen handelte. Wie richtig die These der willkürlichen Praxis einer Kostenabwälzung ist, zeigt abschließend das Beispiel Berlin. 40% der im Jahre 1938 in Deutschland lebenden Juden wohnten in der Reichshauptstadt. Anders als die beiden bislang beschriebenen Fälle war die in Berlin angewandte Technik deswegen relevanter. Wegen der Beschlagnahme der Versicherungsansprüche mußten auch die weniger solventen jüdischen Personen die Kosten der Wiederherstellung des Straßenbildes bar bestreiten. Waechtler, Gaupropagandaleiter in Berlin, gab aus diesem Grunde den jüdischen Repräsentanten auf, 5 Millionen R M bereitzustellen. Davon mußten die Kosten der anfallenden Schadensbeseitigungsarbeiten, die nicht von den jüdischen Schuldnern beglichen werden konnten, bezahlt werden 47 . Hier wurde also ein dritter Weg gefunden. Eine gesonderte Grundlage hielt man für entbehrlich, sondern betrachtete den so geschaffenen Sonderfonds und die kollektive Ausfallhaftung als von der V W j G gedeckt. Indem die Summe unabhängig von einem tatsächlichen Zahlungsverzug fallig gestellt wurde, erfolgte eine zusätzliche Ausweitung. Zweifelhaft könnte angesichts dieser verschiedenen Vorgehensweisen sein, ob es zulässig ist, diese Haltungen seitens des Staates und der Partei der Durchführung der VWjG zuzuordnen, denn schließlich fehlte in der V W j G ein Anhaltspunkt, der einen direkten Bezug zu dieser Durchführungspraxis — Begleichung von Beseitigungskosten bei Synagogen — erkennen läßt. Demgegenüber muß aber zunächst gesehen werden, daß ein gewisser Sachzusammenhang bestand. Die Wiederherstellung des Straßenbildes umfaßte die Zuweisung der Wiederherstellungskosten für Schäden an Wohnungen und Gebäuden, die während des Pogroms entstanden waren, und Schäden an anderen Gebäuden anläßlich desselben Ereignisses stehen damit in Zusammenhang. Außerdem, und dies rechtfertigt die Einordnung im übrigen, lagen Zahlen, die die Schäden an über 170 Synagogen betrafen, schon bei Erlaß der V W j G vor. Dazu Goebbels: „ . . . Die Synagogen (müssen) aufgelöst werden. Die Juden müssen das bezahlen . . . Das muß nun, glaube ich, als Richtschnur für das ganze Land herausgegeben werden, daß die Juden selbst die beschädigten oder abgebrannten Synagogen zu beseitigen haben.. Z' 4 8 . Eindeutig war die aufgezeigte,

46

Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, A . I I . l . Schreiben Waechtlers an Goebbels vom 21.11.1938, abgedruckt in „Der Weg", Heft 37, 1946. 47

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wenngleich eigenständige Praktizierung der V W j G gewollt, womit sich die Frage, welchen Inhalt die Diskriminierungsintention überhaupt hatte und welche Erfolge eintraten, stellt. I I I . Ausgrenzungsintention und Erfolg der JVerA und der VWjG 1. Diskriminierungsintention der JVerA und der VWjG

Die mit der JVerA und der V W j G verfolgten Absichten lassen sich anhand der Feststellung, welche allgemeinen Intentionen überhaupt vorhanden, in welcher oder welchen Normen sie enthalten und von wem die jeweiligen Ausgrenzungen intendiert waren, darstellen. Anschließend kann nach dem Verhältnis dieser Intentionen innerhalb der JVerA einerseits und der V W j G andererseits gefragt werden. a) Intention der JVerA Schon die zu Beginn dieses Abschnitts in anderem Zusammenhang genannte Einleitung der JVerA läßt die Absicht zu bestrafen erkennen: „Die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich, die auch vor feigen Mordtaten nicht zurückschreckt, erfordert... harte Sühne" 49 . Offenkundig war die JVerA somit dazu gedacht, eine konkrete Tat — Mordanschlag auf den Botschaftsangehörigen vom Rath — zu sühnen. Wiederum an der JVerA selbst läßt sich die Sühne durch Bestrafung nachweisen. Ausdrücklich bezeichnet § 1 JVerA die zu zahlende Summe als „Kontribution". Von seiner Entstehung her entstammt dieses Wort dem 15. Jahrhundert und war dort noch die Bezeichnung für alle Arten von Steuern. Seit dem 19. Jahrhundert wurde unter einer Kontribution die von der Bevölkerung eines der kriegerischen Besetzung unterliegenden Gebietes zugunsten der Besatzungsmacht zwangsweise erhobene Geldleistung verstanden 50 . Nach der Haager Landkriegsordnung konnte sie strafend nur verhängt werden, sofern sie aufgrund eines schriftlichen Befehls und unter der Verantwortlichkeit eines leitenden Kommandanten erhoben wurde 51 . Der Wortlaut weist also ebenfalls 48 So Goebbels während der Besprechung im Reichsluftfahrtministerium vom 12.11. 1938. Die hier wiedergegebene Passage findet sich bei Eschwege, 1979, S. 107. Anzumerken bleibt, daß diese Facette der V W j G — Beseitigungskosten für Synagogen durch nachgeordnete Stellen in verschiedenster Weise — von der Literatur, soweit ersichtlich, nicht berücksichtigt wird. 49

RGBl. 1938 I, S. 1579. Dietz, 1912, S. 421 f. Judenkontributionen nach einem Mord hatte es auch schon im Mittelalter gegeben. Im Jahre 1130 kam es nach dem Tode eines Mannes, der von einem jüdischen Arzt behandelt worden war, zu Ausschreitungen, und die Juden Londons wurden daraufhin mit einer Kontribution von etwa 2000 D M belastet (Suchy, 1986, S. 117). 50

51

Art. 45 f. der Haager Landkriegsordnung, die Bestandteil der Abkommen der Haager Friedenskonferenzen von 1899-1907 war (Dietz, 1912, S. 421 f.). Nach Art. 33 des

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

die gewollte Pönalisierung nach, zumal er keinesfalls zufallig war. Ausdrücklich hatte Göring während der Besprechung im Reichsluftfahrtministerium am 12.11.1938 erklärt: „Ich werde den Wortlaut wählen, daß die deutschen Juden . . . als Strafe . . . eine Kontribution . . . auferlegt bekommen" 52 . Schließlich stützen weitere eindeutige Äußerungen die Feststellung, daß die JVerA als Strafe gedacht war. Nachdem Göring die geplante Formulierung vorgestellt hatte, bewertete er ihren abschreckenden Charakter folgendermaßen: „Das wird hinhauen. Die Schweine werden einen zweiten Mord so schnell nicht machen .. , " 5 3 . Und im größeren Zusammenhang hatte der Beauftragte für den Vierjahresplan festgehalten, daß „ . . . das Judentum in dieser Woche zack-zack eins nach dem anderen um die Ohren bekommt" 5 4 . Gedacht war aber auch daran, neben einer Sühne weitere finanzielle Mittel zu realisieren. Ein Ziel, das sich weniger eindeutig am Text der JVerA nachweisen läßt, denn die zu zahlende Summe (1 Milliarde RM) bezeichnet in § 1 allein die Höhe der Kontribution, mithin die Strafe. Ob diese Summe von Anfang an zur Aneignung wirtschaftlicher Ressourcen bestimmt war, bleibt insoweit offen. Die Devisensituation des Reiches 1938 war problematisch und die Verbesserung der finanziellen Lage zur Durchführung der Wiederaufrüstung ein vorrangiges Ziel 5 5 . Ausdrücklich nannte Göring in diesem Zusammenhang die Kontribution: „ . . . Da durch die Ausgaben des letzten Sommers die Devisen erschöpft sind und da die finanzielle Lage des Reiches ernst i s t , . . . Sehr kritische Lage der Reichsfinanzen. Abhilfe zunächst durch die der Judenschaft auferlegte Milliarde .. . " 5 6 . Zureichend belegt dies indes nicht, daß die wirtschaftliche Stoßrichtung der JVerA originär beigegeben wurde, denn diese als Nachweis für die beabsichtigte ökonomische Seite der Regelung häufig angeführte Äußerung stammt vom 18.11. 1938, während die JVerA schon am 12.11. 1938 in Kraft IV. Genfer Rotkreuzabkommens vom 12. 8. 1949 war sie als Kollektivstrafe verboten. Bezüglich der JVerA ist es dabei unerheblich, daß dieses Verbot erst nach dem Kriege erlassen wurde, denn selbst nach der Haager Landkriegsordnung war die Zulässigkeit von einer Besatzungssituation abhängig, an der es innerhalb des Deutschen Reiches augenscheinlich fehlte. 52

Bei Eschwege, 1979, S. 113. Bei Eschwege, 1979, S. 113. 54 Bei Eschwege, 1979, S. 109. 55 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.1.; daß die Wiederaufrüstung die zentrale Aufgabe der NS-Wirtschaftspolitik darstellte, hebt auch Buchmann, 1989, S. 15 f. hervor. Seiner Ansicht nach zeigte sich dies besonders an der Geldpolitik, die darauf ausgerichtet gewesen sei, von der Reichsbank möglichst unbegrenzt Kredite zu erhalten, unabhängig davon, wie eine Refinanzierung am internationalen Geldmarkt möglich war. 56 Äußerung Görings vor dem Reichsverteidigungsrat, zitiert nach Kemptner / Haensel, 1950, S. 80; gleichlautend wiedergegeben bei Kochan, 1957, S. 119. Daß die JVerA eine nicht unerhebliche Rolle in der Wirtschaftspolitik des Jahres 1938/39 spielte, wird von Buchmann> 1989, S. 13 ff. nicht erwähnt. Angesichts des angeführten Zitats Görings, mehr noch, wenn man bedenkt, daß durch diese Darstellung der antisemitische Aspekt der NSWirtschaftspolitik unvermittelt bleibt, ist dies kritisch zu beurteilen. 53

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trat. Offen bleibt deswegen, ob Göring lediglich eine finanzielle Auswirkung begrüßte oder ein ursprüngliches Ziel der JVerA meinte. Überzeugender ermöglicht die Art des Zugriffs eine originäre ökonomische Intention nachzuweisen. Abstrakt gab es zwei Möglichkeiten mittels Abgaben jüdisches Vermögen nutzbar zu machen, nämlich eine fortlaufende Steuer oder eine einmalige Sonderleistung. Beides erwähnte Göring entsprechend am 12.11. 1938 und wählte den Begriff der Sonderleistung: „ . . . Wir wollen das nicht jetzt mit einem gewissen Steuerzuschlag machen, sondern mit einer einmaligen Kontribution. Damit ist mehr gedient.. , " 5 7 . Betrachtet man bezüglich dieser Wahl die prekäre finanzielle Situation einerseits 58 und den von Hitler persönlich terminierten Aufrüstungsabschluß andererseits 59, ist die ursprünglich intendierte ökonomische Absicht deutlich erkennbar, denn die erforderlichen finanziellen Mittel mußten kurzfristig und schnell beschafft werden. Dazu eignete sich eine einmalige Sonderleistung ungleich besser als langfristig zu kalkulierende Steuerzuschläge. Ob der strafenden oder der wirtschaftlichen Intention innerhalb der JVerA eine Präferenz zukam, ist schwierig zu beurteilen. Zunächst muß zur Beantwortung dieser Frage erkannt werden, daß Göring zwar beide Intentionen mittrug, das strafende Moment bei Goebbels Überlegungen jedoch im Vordergrund stand. Während Göring den wirtschaftlichen Aspekten erhöhte Aufmerksamkeit schenkte, schlug Goebbels umfassende andere Strafen wie Betretungs-, Beförderungs- und ähnliche Verbote vor. Der Vorschlag zur strafenden Kontribution kam ebenfalls von Goebbels und knüpfte an ähnliche Gedanken Hitlers anläßlich des Gustloff-Attentats an 6 0 . Hitler hatte dabei zur Wiedergutmachung an einen Sonderfonds gedacht, der aber nicht zuletzt an Görings Bedenken hinsichtlich internationaler Reaktionen damals gescheitert war. Es zeigte sich also ein gewisses Übergewicht, mit der Kontribution strafen zu wollen. Die wirtschaftliche Intention blieb daneben indes fast gleich stark vorhanden. b) Intention der VWjG Wiederum ein pönalisierender wie ein ausbeutender Zweck wurde mit der V W j G verfolgt. 57

Bei Hirsch, 1984, S. 368. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.l. 59 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.l., wo diesbezüglich auf den Vierjahresplan Bezug genommen wird. 60 Im Februar 1936 hatte David Frankfurter den Landesgruppenleiter der NSDAP in der Schweiz, Wilhelm Gustloff getötet. Nach einer Äußerung Stuckarts hatte Hitler in einer Besprechung nach einem Vortrag Fricks zur Fortführung der Judengesetzgebung den Plan einer Erhebung einer Judensondersteuer grundsätzlich gebilligt und geäußert, daß darauf hinzuwirken sei, dieses Gesetz bereits nach Ende des Gustloff-Prozesses zu verkünden (GStA Rep 335/11/480). 58

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Die wirtschaftliche Intention kommt in den zu Beginn des Abschnitts nachgezeichneten Besprechungsteilen zum Ausdruck: Rückversicherungen, die Devisen brachten, sollten der Volkswirtschaft nicht entzogen, sondern zugeführt werden, und gleichzeitig sollte der Schaden bei der jüdischen Bevölkerung verbleiben 61 . Zusätzlich läßt sich an einem anderen Umstand die Absicht der NSKriegsrüstung, Finanzen durch die Nichtauszahlung der Versicherungssummen zufließen zu lassen, erkennen. Der Vertrauensmann der Arbeitsfront und von Göring zum Staatsrat im Reichswirtschaftsministerium bestellte Schmeer 62 hatte vorgeschlagen, „ . . . daß man von dem angemeldeten Vermögen . . . einen bestimmten Prozentsatz festlegt . . . (etwa 15%) . . . , so daß alle Juden gleichmäßig zahlen und von diesem Betrag den Versicherungen das Geld (zurückerstattet) werde" 63 . Vehement trat Göring diesem Vorschlag entgegen. Die Versicherungen seien nun einmal haftbar und es müsse außer Betracht bleiben, ihnen das Geld zum Geschenk zu machen: „ . . . Nein, das Geld gehört dem Staat" 64 . Wäre es bei der JVerA allein darum gegangen, die jüdische Bevölkerung durch eine unversicherte Schadensbegleichungspflicht zu bestrafen, hätte es ausgereicht, die Versicherungen das Geld in einen Fonds zahlen zu lassen, um so ihre internationale Reputation zu wahren und ihnen zu gestatten, sich im übrigen aus dem Fonds zu befriedigen, wie es Hilgard vorgeschwebt hatte. Dezidiert entschied aber Göring in diesem Zusammenhang, daß das Geld dem Staat zukommen sollte; eine Entscheidung, die in keiner Weise auf eine strafende, sondern allein wirtschaftliche Intention zurückgeht. Gleiches gilt hinsichtlich Schmeers Vorschlag. Das vorhandene jüdische Vermögen war begrenzt, so daß die Fondslösung im Ergebnis 15% des jüdischen Vermögens dem Staat entzogen hätte. Erneut zeigt sich daran, daß der strafende Zweck nicht allein stand, denn dazu wäre die 15 %ige Fondslösung oder die schlichte Zahlungssperre gleich geeignet gewesen, der ökonomische Aspekt war ausschlaggebend. So eindeutig die Intention zu strafen in der JVerA vorhanden war, so fraglich erscheint es, ob ihr eine ähnliche Intention neben der wirtschaftlichen zugrunde lag. Dafür spricht zunächst der Wortlaut, der die Wiederherstellungspflicht unmittelbar an die „ . . . Schäden, welche durch die Empörung des Volkes über die Hetze des internationalen Judentums gegen das nationalsozialistische Deutschland" anknüpft 6 5 , also an den Mord an vom Rath. Zunächst wird diese 61

Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, A.I. Kehrl, 1973, S. 112 schildert den großen Unmut, der im Rèichswirtschaftsministerium durch Görings personalpolitische Eingriffe aufkam, da völlig fachfremde und geistig ihren Aufgaben nicht gewachsene Parteiemporkömmlinge leitende Funktionen überantwortet wurden. 63 Bei Hirsch, 1984, S. 370. 64 Bei Hirsch, 1984, S. 370. 65 RGBl. 1938 I, S. 1581. 62

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Annahme ebenfalls gestützt durch den Ablauf der Sitzung im Reichsluftfahrtministerium, während der Göring die angerichteten Schäden als gerechte Empörung des Volkes über die Ermordung Raths bezeichnete. Aus dieser Sicht war die Schadenszufügung also die Strafe für den Mord. Um der V W j G eine originäre Strafintention zukommen zu lassen, sind diese Argumente allein kaum tragfahig. Vielmehr führt die Art der Strafe zu einer sachgerechteren Beurteilung. Pönalisierend gedacht waren die organisierten Ausschreitungen selbst 66 . Erst nachträglich, nämlich während der Erörterungen im Reichsluftfahrtministerium, stellte sich ihre Kontraproduktivität wegen der vorhandenen Versicherungen heraus. Intendiert war durch das VWjG, die Strafe im Wege einer Beseitigung der Versicherungsansprüche zu sichern. Ob sich die V W j G darüber hinaus auch selbst objektiv strafend auswirkte, ist damit nicht gesagt, vielmehr ist lediglich die fehlende originäre eigenständige Pönalisierung und die Absicht der Sicherung solcher als Strafe gedachten vorherigen Maßnahmen nachgewiesen. Zugleich zeigt sich, daß im Vordergrund die wirtschaftliche Intention stand. Inhaltlich fehlt eine Abstimmung der Intention der JVerA und der V W j G zueinander. Allerdings sind beide in der Durchführungsverordnung gemeinsam geregelt. Dennoch war die Durchführung verschieden, was im Rahmen der Darstellung der Verwaltungspraxis bereits gezeigt wurde. Anzumerken bleibt insoweit, daß das Stufenverhältnis innerhalb der JVerA — Bar-, Wertpapierzahlung, Grundstücke — erst dort festgelegt wurde. Faßt man die Absichten der JVerA und der V W j G zusammen, bleibt folgendes festzuhalten: Die JVerA sollte strafen und wirtschaftlichen Profit bringen, wobei das Strafmoment überwog. Die V W j G sollte die als Strafe gedachten Maßnahmen sichern sowie ökonomische Vorteile dem Staat zuführen. Hier stand der ökonomische Aspekt im Vordergrund. 2. Objektiver Ausgrenzungserfolg

a) Zahlen Der quantitative Erfolg der JVerA ist anhand einer authentischen Quelle exakt bezifferbar. Die Restverwaltung des ehemaligen Reichsfinanzministe66 Daß sie organisiert waren, steht außer Zweifel (siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III. 1. und die dortigen Nachweise). Gleiches gilt auch für den strafenden Charakter, den diese antisemitischen Ausschreitungen hatten. Die Gendarmerieabteilung Buchen meldete entsprechend: „Anläßlich der Ermordung (Raths in Paris)... wurde von der Ortsgruppe der N S D A P . . . eine Aktion gegen... Juden unternommen" (Sauer, Bd. II, 1966, S. 23 f.). In einem Fernschreiben an alle Staatspolizeiämter heißt es: „ . . . Aktionen werden in ganz Deutschland stattfinden ..(wiedergegeben bei Walk, 1981, S. 249). Wie diese aussehen sollten, war ebenfalls genau bestimmt: „Sämtliche jüdischen Geschäfte sind sofort... zu zerstören" (bei Walk, 1981, S. 249). Die tatsächlichen Geschehnisse dieser Nacht sind umfassend bei Kochan, 1957, S. 50ff. und Drobisch, 1973, S. 190ff. dargestellt.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

riums stellte aufgrund der Reichshaushaltsrechnungen von 1938-40, 1942/43 und des Reichshaushaltsplans 1944 folgende Zahlen zusammen 67 . Danach nahm das Reich 1938 498514808 R M , 1939 533126504 R M und 1940 94971183 R M als „JudenVermögensabgabe" 68, insgesamt also etwa 1,127 Milliarden R M ein 6 9 . Daß diese Zahl über der ursprünglich veranschlagten Milliarde lag, ging auf die Erhöhung aus dem Jahre 1939 zurück, die angeblich erforderlich gewesen war, um überhaupt eine Milliarde zu erreichen; ein Umstand, der innerhalb der Analyse eingesetzter Ausgrenzungstechniken näher beleuchtet werden wird. Dem quantitativen Erfolg der Inzahlungnahmevorschriften kann man sich folgendermaßen nähern: Bereits bei Fälligkeit der ersten Rate in Höhe von 250 Millionen R M mußten trotz der restriktiven Weisungen 80 Millionen R M in nicht baren Mitteln angenommen werden 70 ; ein Anteil, der bei den folgenden Raten wegen der weiteren Abnahme barer Mittel zugenommen haben muß, wobei keine Aussage darüber gemacht werden kann, welche Realwerte — Schmuck, Juwelen, Wertpapiere oder Grundstücke — primär enthalten waren. Vornehmlich dürften es Wertpapiere gewesen sein, da Grundstücke erst zuletzt akzeptiert wurden und umfangmäßig Schmuck insgesamt nennenswerte Summen kaum erbracht haben dürfte. Hinsichtlich des quantitativen Erfolgs der V W j G liegen ebenfalls Zahlen vor. Insgesamt flössen aus dieser Quelle dem Staat etwa 225 Millionen R M von Versicherungsgesellschaften zu 7 1 ; eine Summe, die im Verhältnis zum Erfolg der JVerA gering ist. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß diese 225 Millionen R M insoweit für die NS-Machthaber einen hohen Wert aufwiesen, als sie aufgrund der Rückversicherungen der Rüstungswirtschaft Devisen zuführten. Der Umfang so gewonnener Devisen indes entzieht sich einer exakten Bezifferung. Daß der quantitative Ausgrenzungserfolg gerade im Zusammenhang mit der JVerA zugleich eine Diskriminierungsqualität enthält, mag ein Beispiel zum Schluß des in Zahlen ausgedrückten Erfolges zeigen. Dr. med. Ury richtete ein 67

NG-4904, Schreiben der Restverwaltung des ehemaligen Reichsfinanzministeriums an die Central Commission of Germany, British Element, Finance Division, vom 14.11. 1946, wiedergegeben bei Genschel, 1966, S. 206 Fn. 139 und bei Adler, 1974, S. 544. 68 Der Begriff „Judenvermögensabgabe" war seit der 1. DVO (siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, A.) die Kurzbezeichnung für die JVerA. 69 International Military Tribunale, Vol. X X I I , S. 536, zitiert nach Kochan, 1957, S. 122. 70 Drobisch, 1973, S. 206; Genschel, 1966, S. 206 Fn. 139 weist zu Recht daraufhin, daß der tatsächliche Anteil noch höher gewesen sein dürfte, denn bei der Bewertung von Gegenständen zur Inzahlungnahme wurde häufig ein geringerer Wert als bei der Anmeldung veranschlagt (zu dieser Bewertungspraxis siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.3. und 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.IV). 71

Diese Zahl beruht auf Schätzungen Hilgards hinsichtlich der versicherten Schadenssummen (Lösener, 1961, S. 290).

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Milderungsgesuch an das Finanzamt Ulm hinsichtlich der zu leistenden Judenvermögensabgabe, die ihn und seine Frau mit 3000 R M belasten würden und führte dazu in seinem Schreiben aus: „Der Stand unseres beiderseitigen Vermögens, welcher der Judenvermögensabgabe zugrunde lag, war am 12.11. 1938 48 398 R M und 12645 RM. Dagegen war der Stand am 12. 9.1939 . . . nur noch 42584 R M , was einer Verminderung von mehr als 30% in zehn Monaten gleichkommt. Diese Verminderung ist entstanden 1. durch die Judenvermögensabgabe, 2. durch Auswanderungskosten für unseren im März des Jahres ausgewanderten . . . Sohn und 3. meine Krankheit und völlige Erwerbslosigkeit . . . Da ich . . . gezwungen bin, vom Kapital zu leben . . . , bitten wir . . . um den völligen Erlaß der ersten Rate" 7 2 . Das Gesuch war erfolglos. b) Qualitativer

Ausgrenzungserfolg

Welchen einschneidenden Diskriminierungserfolg die JVerA und die V W j G bewirkten, ergibt sich neben diesem Beispiel aus der Betrachtung folgender Ausgrenzungsqualitäten, denen nur teilweise eine entsprechende Intention originär zugrunde lag. Schon die bisher vorgestellten Verordnungen hatten den jüdischen Deutschen keine nennenswerten Erwerbsmöglichkeiten mehr belassen und ihnen wesentliche Vermögenswerte genommen. Der weitere Zugriff auf noch vorhandene Mittel verschlimmerte die Verarmung daher potenzierend, und dieser Erfolg ergab sich nicht nur daraus, daß insgesamt etwa ein Viertel der Vermögenssubstanz durch die JVerA und die V W j G eingebüßt wurden 73 , sondern ebenso aus einer abgestuften Inzahlungnahmepraxis 74 . Zwar gab es diese Praxis zeitlich parallel bei der Durchführung der VEjV. Sie war jedoch begrenzt auf die Genehmigungserteilung zur Verfügung über Wertpapiere 75 . Mittels der gleichen Praxis wurden die Folgen der subsidiären Inzahlungnahme innerhalb der JVerA — Verbrauch sämtlicher barer Mittel, Schmuck, Wertpapiere, Grundstücke — den Juden gegenüber insgesamt (nonsektoral) ausgeweitet. Gleiches gilt für die zunehmende objektive Verhinderung der Auswanderung, die, wie schon nachgewiesen, generell eines der Ziele antisemitischer Politik gewesen war, hatte der subsidiäre Zugriff auf reale Werte so doch alle Juden betroffen und nahm ihnen allen die zur Auswanderung notwendigen Realwerte. Eine demgegenüber spezifisch der JVerA zuzuordnende Diskriminierung lag in der strafenden Qualität. Dabei ist eingangs festzuhalten, daß eine Strafandrohung an sich antisemitischen Gesetzen häufig beigegeben war, etwa im BISchG, der VAJW oder der VEjV, um nur einige zu nennen. Obwohl bereits die Strafbewehrung einer an sich diskriminierenden Pflicht einen 72 73 74 75

Wiedergegeben bei Sauer, Bd. II, 1966, S. 66. Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, A.III.2.a). Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, A.III.2.a). Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.e).

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

hohen Diskriminierungsgrad zeigt, setzen diese doch den individuellen Verstoß, die einzelne Tat voraus, um die Strafe zu aktualisieren; eine keineswegs zufallige Voraussetzung, sondern ein fester Bestandteil nationalsozialistischer Strafrechtspolitik. Bereits 1933 wurde insoweit das Verhältnis „Nationalsozialismus und Strafrecht" von Peters beschrieben 76. Nach einer Charakterisierung des vom Liberalismus gekennzeichneten Strafrechts der Ära Bismarck und Weimar führt er hinsichtlich des „modernen nationalsozialistischen Strafrechts" aus: „Freilich, nach einer Richtung hin ist und bleibt auch das moderne Strafrecht immer individuell gerichtet nach der Täterseite. Täter ist immer nur die Einzelpersönlichkeit, die für die von ihr als Individuum begangene Tat zur Verantwortung gezogen wird. Das bedeutet zweierlei: 1. Der einzelne ist nur insoweit strafrechtlich verantwortlich, als ihm persönlich die Straftat zugerechnet werden kann. Eine Verantwortung für das Verhalten einer Gemeinschaft... ist nicht nur dem geltenden Strafrecht fremd, sondern wird es auch im modernen Strafrecht nicht geben. 2. Nur der einzelne als solcher ist verantwortlich; die Bestrafung einer Gemeinschaft findet strafrechtlich nicht statt, wenngleich die Ansicht denkbar ist, man denke etwa an die Verhaftung der Sippe für die Sippengenossen . . . Die Einzelverantwortlichkeit ist . . . ein hervortretendes Merkmal der neuen Bewegung, wie es vor allem im Führerprinzip zum Ausdruck kommt. Wie staatsrechtlich und politisch die Verantwortung auf dem einzelnen ruht, so kann sie auch strafrechtlich nur auf den einzelnen bezogen werden" 77 . Die eingangs genannten ausgrenzenden Vorschriften belegen, daß diese grundsätzliche Auffassung keine Marginalie im Schrifttum war, sondern selbst gegenüber der jüdischen Bevölkerung zunächst praktiziert wurde. So gesehen erreichte die JVerA einen gegenüber überhaupt angedrohter strafrechtlicher Sanktion erhöhten Diskriminierungsgrad wegen der Beseitigung des individuellen Täterschaftserfordernisses. Die von der JVerA beabsichtigte Bestrafung ist in Abkehr davon eine Kollektivstrafe für den von Herschel Grynspan begangenen Mord an vom Rath 7 8 . Obwohl diese Qualität die VWjG, soweit sie anläßlich derselben Tat in Kraft gesetzt wurde, ebenfalls besaß, entwickelte sich daneben ein anderes Diskriminierungspotential. Sicher war es objektiv eine kollektive Geldstrafe, Versicherungsansprüche zu beschlagnahmen und so angerichtete Schäden dem Geschädigten aufzubürden, unabhängig davon, ob mit diesem strafenden Erfolg eine primäre Intention korrespondierte oder die strafende Absicht nachgeordnet war. Im Rahmen der Durchführung der V W j G wurde jedoch aufgrund der endgültigen Beseitigung der Synagoge ein an Schärfe häufig vernachlässigtes Diskriminierungsniveau erreicht. Durch die seit 1933 zusehends schlimmeren 76 77 78

Peters, 1933, S. 1561 ff. Peters, 1933, S. 1563. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.l.

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. Zahlungspflichten —

r v e r o r d n u n g 2 2 3

Maßnahmen gpgen die jüdische Bevölkerung bestand das Gemeindeleben nicht allein aus der Praktizierung des religiösen Bekenntnisses. Wohlfahrtspflege, Wirtschaftshilfe, Schul- und Bildungswesen, Berufsfortbildung und Auswanderungshilfe machten das jüdische Gemeindeleben zunehmend aus 79 . Psychologisch und räumlich war die Synagoge und ihre Nebengebäude Mittelpunkt dieses Lebens, so daß die Zerstörung der Gotteshäuser und das Gebot, deren Reste zu beseitigen, eine wichtige, vielleicht die wichtigste Voraussetzung jüdischen Lebens im Dritten Reich zerstörte. Daher ist es eine unvollständige Sichtweise, wenn Majer und wohl auch Adler die JVerA und V W j G lediglich als Signal für die Enteignungspolitik bzw. als psychologische Unterstützung der Enteignungsmaßnahmen bewerten 80 . Vielmehr beinhaltete die Zerstörung selbst die gezeigte Wirkung. Vergleicht man nun gewollte und erreichte Diskriminierung, ergibt sich folgendes: Wirtschaftlich wurde wie beabsichtigt von der JVerA ein direkter finanzieller Erfolg erzielt, und die gewollte strafende Wirkung trat gleichfalls ein. Obwohl eine originäre Weisung hinsichtlich der Inzahlungnahme von höchster Stelle fehlt und es insoweit nicht gesagt werden kann, daß eine entsprechende Ausgrenzungsintention vorhanden war, entwickelte diese Praxis einen sowohl strafenden wie auch wirtschaftlich diskriminierenden Erfolg. Eine Deckungsgleichheit von Intention und Erfolg läßt sich bei der V W j G ebenfalls im wirtschaftlichen wie im strafrechtlichen Bereich feststellen, wobei ein Teil der durch die V W j G und ihre Durchführung erzielten Wirkungen — endgültige Beseitigung der Synagogen — gewollt war, jedoch in der V W j G keinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden hat. IV. Eingesetzte Techniken Es bleibt zu fragen, welche Techniken eingesetzt wurden, um die beabsichtigten Wirkungen zu erreichen. Innerhalb der Verwaltungspraxis wurde die Beschleunigung des Verfahrens genutzt, um den strafenden Effekt zu verschärfen 81. Konkret erreichte man dies 79 Bereits 6 Jahre nach Kriegsende hat Lamm in seiner Dissertation „Über die innere und äußere Entwicklung des deutschen Judentums im Dritten Reich" die Tätigkeiten der jüdischen Gemeinden ausführlich beschrieben. Trotz der zu keinem Zeitpunkt homogenen Organisationsstruktur wurde zum Beispiel ein überregionales Finanzierungssystem ins Leben gerufen. Die „Blaue Karte" gab allen Gemeindemitgliedern die Möglichkeit, monatliche Beträge von 25 Pfennig bis 5 R M für die Sozialarbeit zu spenden. Mehr als 82000 Personen wurden durch die jüdische Winterhilfe 1937 mit dem Nötigsten versorgt; das waren 25% der Gemeindemitglieder. Eine zusätzliche Berufsausbildung erhielten 1937 4720 Personen (Lamm, 1951, S. 98 ff.). Die hier genannten Beispiele geben dabei «nur einen Ausschnitt des breiten Tätigkeitsfeldes wieder. Im neueren Schrifttum ist die Arbeit der Gemeinden dargestellt worden von Benz, 1988, S. 314ff., Paucker, 1986, S. 124ff. und speziell die Situation der Ostjuden bis einschließlich 1933 von Maurer, 1986, S. 82ff. 80 81

Majer, 1981, S. 260ff. und Adler, 1974, S. 493. Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, A.II.2.a).

224

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

mittels eines Verzichts auf die genaue Berechnung der einzelnen Abgabe und Festlegung einer pauschalen Vorausentrichtung der ersten Rate 8 2 . Wenngleich in den verschiedenen Runderlassen die schnelle Abwicklung gefordert wird, um die Strafe sicherzustellen, so darf demgegenüber nicht vernachlässigt werden, daß diese Vorgehensweise den ökonomischen Erfolg gleichfalls förderte. Die Wahl einer Kontribution statt einer Steuer, um schnell nennenswerte finanzielle Mittel zu erlangen 83 und so den ebenfalls verfolgten legislativen wirtschaftlichen Zweck zu erreichen, wäre verfehlt worden, wenn das Abgabenverfahren erheblich verzögert worden wäre. In dieses Bild fügt sich das Stundungsverbot 84 als Mittel, um Zahlungsverzögerungen zu verhindern, nahtlos ein, denn solche Verzögerungen hätten den strafenden und ökonomischen Erfolg wenigstens abgeschwächt. Auch in anderen Bereichen finden sich ebenso wie auf der Verwaltungsebene zur vollständigen Zweckerreichung und damit optimaler Diskriminierung spezifische Techniken. § 10 der Durchführungsverordnung hatte einen „Erreichungsvorbehalt" festgeschrieben, wonach das vorzeitige Ende oder die weitere Abgabepflicht davon abhängig gemacht wurde, daß die Summe von 1 Milliarde R M erreicht wird. Diesen „Vorbehalt" gebrauchte man 1939 durch Heraufsetzung des Anteils auf 25%, und wiederum wurde diese Heraufsetzung mit einem „Vorbehalt" versehen. Der Reichsfinanzminister konnte danach „ . . . die Zahlungspflicht beschränken, sobald der Betrag von 1 Milliarde R M erreicht w a r " 8 5 . Selbst diese Heraufsetzung wurde also erneut mit einem Vorbehalt versehen, endete bei Erreichung der Summe mithin keineswegs automatisch, sondern machte eine entsprechende Entscheidung des Reichswirtschaftsministers erforderlich. Die individuell erbrachte Abgabe stellte den Leistenden also mitnichten endgültig frei, und eine Erweiterung der Strafe durch Abgabenerhöhung blieb möglich. Eng verknüpft mit diesem Aspekt ist, daß die Kontribution kollektiv festgelegt wurde. Daran läßt sich sehr genau die bedachte Wahl des zur Zweckerreichung geeigneten gesetzlichen Instruments nachweisen. Wäre die Kontribution individuell festgelegt worden, hätte fehlende Liquidität des einzelnen eine Rolle gespielt. Wegen der allgemeinen summenmäßigen Festlegung war dieser Aspekt unerheblich, denn das Kollektiv mußte ökonomisch eintreten. Deutlicher wird dieser Nutzen des Instruments, stellt man sich konkret eine, wenngleich strafbare 86 Abgabenentziehung vor. Der wirtschaftliche Erfolg bliebe erhalten, da die summenmäßige Erreichung ausschlaggebend war. Die NS-Machthaber hatten so ein, den wirtschaftlichen Erfolg absolut

82 83 84 85 86

Siehe oben 2. Kapitel, 3. Siehe oben 2. Kapitel, 3. RGBl. 1939 I, S. 2059. Siehe oben 2. Kapitel, 3. Siehe oben 2. Kapitel, 3.

Abschnitt, A.II.2.a). Abschnitt, A.III.l.a). Abschnitt, A . I I . l . Abschnitt, A.II.2.a).

3. Abschn. Α. Zahlungspflichten — Pogromverordnungen

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gewährleistendes Mittel. Zugleich verschärfte dieses Instrument den kollektiven Strafcharakter. Nicht nur die Erhebung der Kontribution überhaupt erfolgte aufgrund einer Tat, mit der man nichts zu tun hatte 87 , sondern Straftaten anderer während des Abgabenverfahrens, d.h. Entziehung von der Abgabenpflicht, führten zu einer erhöhten Strafhaftung und damit erneut zu einer Bestrafung für die Tat eines anderen. Bereits in anderem Zusammenhang wurde die die V W j G bestimmende Konstruktion — formales Verbleiben des Anspruchs beim Versicherungsnehmer, Beschlagnahme im Moment der Auszahlung 88 — vorgestellt. Es soll aus diesem Grunde die Vorgehensweise, die zur Kostentragung für die Beseitigung jüdischer Gotteshäuser erdacht wurde und die in ihrer strafenden Wirkung berücksichtigt werden muß, analysiert werden. Feststellbar sind drei angewendete Konstruktionen, wobei einschränkend zu sagen ist, daß bedingt durch die Vielzahl der notwendigen Abwicklungen vor Ort möglicherweise auch anders vorgegangen wurde. Genutzt wurde eine vertragliche Konstruktion, eine Anordnung einschließlich kollektiver Ausfallhaftung und eine Kostenübernahmeanordnung, wobei die Kosten nach einer Schätzung durch das jüdische Kollektiv im Voraus zu entrichten waren 89 . Diese drei Techniken weisen unterschiedliche Diskriminierungspotentiale auf. Man kann sagen, daß die erste Form mangels Ausfallhaftung ein geringeres Potential gegenüber der zweiten Form mit Àusfallhaftung aufweist und die stärkste Beschneidung die kollektive Tragungspflicht mit Vorausleistung bewirkte. Weil diese Techniken einzelne Abwicklungen betrafen, verbietet es sich, von einer Technik zur Erreichung des der V W j G innewohnenden Zwecks zu sprechen. Das Verhältnis V W j G — Realisierung bezüglich der Beseitigung von Synagogen — weist jedoch ein anderes Element auf: Auf nachgeordneter Ebene wurden eigenständig quasi rechtliche Wege gesucht, um den zwar vorhandenen, aber im Text der V W j G nicht zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers zu erreichen. Recht eindeutig belegt ist diese These anhand einer Betrachtung des gemeinsamen Nenners der gewählten Konstruktionen vor Ort. Allen gemeinsam ist ein kollektives Element, sei es durch die Wahl des Vertragspartners — Vertreter des Kollektivs — oder durch die Haftung aller. Der kollektive Charakter ist das tragende Moment der JVerA, und genau in diesem Wesenszug gleichen sich die gewählten Konstruktionen an, um den Willen des nationalsozialistischen Gesetzgebers dort zu erreichen, wo seine ausdrückliche Formulierung fehlt — innerhalb der VWjG. 87

Tatsächlich war es eine Einziehung, also der endgültige Entzug einer Sache oder eines Rechts (Schewe, 1937, S. 9 ff. m. w. N.) und dies wäre auch die korrektere Bezeichnung für den kollektiv strafenden Charakter der V W j G gewesen, denn im damaligen Strafrecht war die Einziehung als Teil möglicher Strafe vorgesehen; so etwa in den §§ 152, 295, 360, 367 und 369 StGB (zur Einziehung als Teil der Strafe vgl. Schewe, 1937, S. 9ff.). 88 Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, A . I I . l . 89 Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, A.II.2.b). 15 Tarrab-Maslaton

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

B. Die Reichsfluchtsteuerverordnung Der fiskalische Zugriff auf das jüdische Vermögen erfolgte über die von den NS-Machthabern erdachten Vorschriften hinaus ebenso mittels variierter Nutzung vorhandener Gesetze. I. Historie der Reichsfluchtsteuer (RFlSt) U m die Natur dieser Abgabe richtig einordnen zu können, ist es erforderlich darzustellen, daß diese Abgabe bereits in der Weimarer Republik entstanden war und von den Nationalsozialisten übernommen wurde 1 . 1

Historisch betrachtet reicht die Geschichte der Fluchtsteuer viel weiter zurück. Im Mittelalter findet sich bereits die Figur des „Abschoß", zunächst als allgemeine Beschreibung einer Steuer und später als „Abzugsgeld", „Nachsteuer" sowie „gabella emigrationis" (Grimm, Bd. 9,1960, S. 1596). Das Recht der Abhängigen, den Herrn bzw. dessen Gebiet zu verlassen, war beschränkt, und erst nach der Reformation fand dieses Recht im Westfälischen Frieden (Art. 5 § 36) überhaupt Anerkennung, wurde aber von der Zustimmung des Landesherrn abhängig gemacht, der diese — wenn überhaupt — nur nach Leistung einer Abgabe erteilte. Auch diese Abgabe hatte in erster Linie den Zweck, die Auswanderung zu verhindern, hielt sich doch die Vorstellung, daß „ . . . der Staat... an seinen Untertanen ... ein Recht (habe), dem sich diese nicht durch eigenmächtiges Verlassen des Gebietes entziehen dürfen ..." (Lion ! Hartenstein, 1932, S. 101). Die Form der „gabella emigrationis" entstammte dem Fremdenrecht. Fremden gab man auf, bei der Wiederauswanderung eine Abgabe an den König wegen des eintretenden Steuerverlustes zu entrichten, und bei ihnen wurde die Höhe schon nach dem tatsächlich mitgenommenen Vermögen bemessen. U m welch ein hergebrachtes Institut es sich bei dieser Steuerart handelte, belegt auch das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794. In den §§140-183 sind Abgaben im Zusammenhang mit der Auswanderung ausführlich geregelt. § 141 bestimmt: „Wer von seiner Freiheit oder erhaltenen Erlaubnis zur Auswanderung Gebrauch machen will, muß von seinem inländischen Vermögen dem Staate in der Regel 10 von Hundert als ein Abfahrtsgeld entrichten" (Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 in der hier zitierten Textausgabe S. 624 f. In dieser Kodifikation ist § 141 Teil der Vorschriften „Von Auswanderungen, Abfahrts- und Abschoßgeldern", der den zweiten Abschnitt des 17. Titels „Von den Rechten und Pflichten des Staates zum besonderen Schutze seiner Unterthanen" einleitet). Auch im Preußischen Allgemeinen Landrecht stand mithin die rechtmäßige Auswanderung unter einem Erlaubnisvorbehalt, und derjenige, der die Erlaubnis beantragte oder das Privileg genoß, ohne Erlaubnis auswandern zu dürfen, mußte einen erheblichen Vermögensanteil opfern. Erkennbar wird daran das Interesse des Landesherrn, die Auswanderung zu verhindern und nur, wenn dies nicht gelingt, als Kompensation die Auswanderungsabgabe zu erhalten. Nach 1815 wurde im Zuge der Einigungsbewegung diese Steuer zurückgedrängt bzw. aufgehoben. In der Deutschen Bundesakte war die Freiheit von aller Nachsteuer noch davon abhängig, daß das Vermögen des Auswandernden in einen anderen Bundesstaat übergeht und mit diesem keine besonderen Freizügigkeitsverträge bestanden (Emminghaus, 1824, S. 642). Demgegenüber erweitert legt die Preußische Verfassung von 1850 in Art. 11 fest: „Abzugsgelder dürfen nicht erhoben werden", unabhängig davon, wohin der Bürger auswandert (Grabower, 1932, S. 407 f., der ebd. insbesondere die Denkschrift Humboldts aus dem Jahre 1813 zitiert, in der Humboldt festgestellt habe, „daß die Freizügigkeit ... Grundlage aller Vorzüge, welche der Deutsche für seine individuelle

3. Abschn. Β. Zahlungspflichten — Reichsfluchtsteuerverordnung

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Brüning sah sich 1931 veranlaßt, diese klassische Abgabe erneut zu erheben. Steuer- u n d Kapitalflucht hätten ein M a ß erreicht, das die finanzielle Lage des Staates bedrohe. A l l e i n 1931 trat ein Devisenverlust v o n 5 M i l l i a r d e n R M e i n 2 . U m dieser Situation entgegenzuwirken, wurde a m 18. 7. 1931 die „Verordnung des Reichspräsidenten gegen die K a p i t a l - u n d Steuerflucht" erlassen 3 . Dabei handelte es sich u m eine ausgesprochen umfangreiche Verordnung, die weit über 45 Seiten i m Reichsgesetzblatt umfaßte. D i e R F l S t bildete einen Teil dieses Gesetzeswerkes, das insgesamt den Sinn hatte, für eine Konsolidierung v o n Wirtschaft u n d Finanzen zu sorgen. Welche W i r k u n g e n die R F l S t zeitigen sollte u n d auf welche M o t i v e des Gesetzgebers sie zurückgeht, zeigt die A m t l i c h e Begründung exakt. A u f g r u n d der hohen steuerlichen Belastung i m Reich hätten „ . . . eine Reihe v o n wohlhabenden Deutschen . . . i m Jahre 1931 die deutsche H e i m a t verlassen, u m sich i m benachbarten A u s l a n d anzusiedeln" 4 . Dabei habe m a n festgestellt, „ . . . daß diese Personen nach ihrer Wohnsitzverlegung keineswegs die Beziehung zu Deutschland aufgegeben haben oder aufgeben wollen; sie halten sich auch nach Aufgabe ihres Wohnsitzes vielfach i m I n l a n d auf. E i n derartiges Verhalten bedeute Verrat an der deutschen Volksgemeinschaft.. . " 5 . Eingrenzend wurde Existenz aus der Verbindung Deutschlands zu einem Ganzen zu ziehen vermag", sei und dazu, so Grabower, gehörte nach Humboldts Ansicht „ . . . das dem in einem anderen deutschen Staat Auswandernden nicht ein Abzug von seinem Vermögen gemacht werde"). Die Reichs Verfassung des Jahres 1871 schließlich gewährte vollständige Freizügigkeit, und bereits 1870 wurden gesetzlich sämtliche Beschränkungen der Auswanderung beseitigt (Seweloh, 1934, S. 955). Bis 1918 blieb diese Rechtslage unverändert. Am 20. 7. 1918 wurde das „Gesetz gegen die Steuerflucht" erlassen, das zwar, wie der Unterstaatssekretär im Reichsschatzamt Schiffer meinte, mit der „gabella emigrationis" nichts mehr gemein habe, jedoch Sicherheitsleistungen vorsah. Schiffer äußerte in der 1. Lesung des Gesetzes entsprechend: „Einmal steht die Erhebung eines sogenannten Abschosses mit den bundesstaatlichen Verfassungen und den heutigen Grundanschauungen von menschlicher Freiheit in Widerspruch ... Alle Nachteile einer gabella emigrationis ... vermeidet der Entwurf..., der (nur eine) Weiterbesteuerung (trotz Auswanderung) sei" (zitiert nach Lion IHartenstein, 1932, S. 103). Genau diese Leistungen führten faktisch zu einer einmaligen, vollständigen und damit der RFlSt ähnelnden Abgabe, da in Folge der Inflation die Sicherheit wirtschaftlich zusehends verfiel. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Vorläufer der RFlSt immer auf dem Grundgedanken beruhten, daß der fiskalische Verlust an laufenden Steuereinnahmen durch eine einmalige Leistung bei der Auswanderung abgegolten werden sollte, wobei diese primär die Auswanderung verhindern wollte. 2 Fischer, 1968, S. 71, der diese Zahl unter Bezugnahme auf Conze / Raupach, 1967, S. 35 ff. aus einem Devisenabzug ausländischer Kreditgeber in Höhe von 3 Milliarden R M und einer Verlegung von Geldern durch private Eigentümer in Höhe von 2,25 Milliarden R M ins Ausland errechnet. 3 4 5

1

RGBl. 1931 I, S. 700ff. Zitat aus der Amtlichen Verlautbarung, nach Lion / Hartenstein, 1932, S. 105 ff. Zitat aus der Amtlichen Verlautbarung nach Lion /Hartenstein, 1932, S. 105 ff.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

festgestellt, daß es der Reichsregierung keineswegs daran liege, gerechtfertigte Auswanderungen zu verhindern. Vielmehr sollten allein Personen erfaßt werden, die lediglich auswandern, um dem Staat Steuern zu entziehen. Die RFlSt setze aus diesem Grunde erst bei bestimmten Vermögensgrenzen ein. Das Argument der Leistungsfähigkeit fand besondere Beachtung. Einhellig verstanden die Rechtsprechung und das damalige Schrifttum diese Intention des Gesetzgebers dahingehend, daß durch die RFlSt dem Reich eine letzte große Abgabe gesichert werden solle, um so durch die Auswanderung bedingte Steuerausfalle zu kompensieren 6. II. Inhalt und Entwicklung der Reichsfluchtsteuerverordnung (RFlStV) Die RFlStV ist häufig geändert worden 7 . Dabei sind diese Änderungen bis auf die des Jahres 1932 in der Zeit des Nationalsozialismus erfolgt. Vor dem Hintergrund der anschließend darzustellenden ursprünglichen Fassung der RFlStV wird erkennbar, an welchen Stellen die Nationalsozialisten Änderungen einfügten und wie sich diese auf die gesamte Verordnung auswirkten. 1. Die Reichsfluchtsteuerverordnung des Jahres 1931

§ 1 RFlStV bestimmte, welche Personen überhaupt der Steuerpflicht unterlagen. Dies waren: „Personen, die am 31. März 1931 Angehörige des Deutschen Reiches gewesen sind und in der Zeit nach dem 31. März 1931 und vor dem 1.1. 1933 ihren inländischen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufgegeben haben, (haben) eine Reichsfluchtsteuer zu entrichten" 8 . Ausführlich stellte § 2 fest, wer von der RFlSt befreit war (§ 2 Ziffer 1-3) und ab welchem Vermögen die Pflicht einsetzte. Allerdings wurde letzteres in Ziffer 4 ebenfalls in Form einer Befreiungsvorschrift festgelegt. Danach waren „Personen, die weder am 1. Januar 1928 noch am 1. Januar 1931 steuerpflichtiges Vermögen von mehr als 200000 R M gehabt und die außerdem weder in dem Steuerabschnitt, der im Kalenderjahr 1931 endigt, noch in den beiden,vorange6

R F H in RStBl. 1934, S. 795; umfassend hat Uffelmann die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofes unter nationalsozialistischem Einfluß in den Jahren 1933-1945 in der gleich betitelten Dissertation untersucht, vgl. zur RFlSt dort S. 103 ff. Im Schrifttum stellen den Kompensationscharakter Seweloh, der als Reichsfinanzrat primär mit der RFlSt beschäftigt war und die praktische Seite durch mehrjährige Erfahrung kannte, 1934, S. 959 f., Kapp, 1938, S. 1619, Mussfeld, 1940, S. 41 und in der Nachkriegsliteratur Echterhölter, 1970, S. 298 sowie Jagdfeld, 1972, S. 259 fest. Nahezu wörtlich findet sich dieses Kompensationsmotiv in der Verlautbarung der Nationalsozialisten zur Verlängerung der RFlSt (RGBl. 1934 I, S. 598). 7 RGBl. 19321, S. 571 f.; 19341, S. 392; 1935 I, S. 844; 1936 I, S. 961; 1937 I, S. 1385f. und 1939 I, S. 125. 8 RGBl. 1931 I, S.731.

3. Abschn. Β. Zahlungspflichten — Reichsfluchtsteuerverordnung

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gangenen Steuerabschnitten steuerpflichtiges Einkommen von mehr als 20000 R M gehabt haben", befreit 9 . Positiv formuliert setzte die Steuerpflicht also überhaupt erst bei Personen ein, die entweder ein Gesamtvermögen von mehr als 200000 R M oder ein steuerpflichtiges Einkommen von mehr als 20000 R M gehabt hatten. Die genannten Ziffern 1-3 legten hingegen fest, wann die Steuerpflicht entfiel, nämlich bei Auslandsbeamten (Ziffer 1), Personen, die erst nach 1927 eingewandert waren (Ziffer 2), und schließlich bei Personen, deren Wohnsitzverlegung im deutschen oder volkswirtschaftlichen Interesse stand (Ziffer 3). Der geringe Anwendungsbereich der Ziffern 1 und 2 führte dazu, daß die Begriffe des deutschen oder volkswirtschaftlichen Interesses als Befreiungsvoraussetzung häufig die Rechtsprechung beschäftigten. Unter Bezugnahme auf den Gesetzeszweck, der darin liege, lediglich Auswanderungen zu verhindern, die der Steuerflucht dienten, zeigten sich in der Rechtsprechung vor 1933 folgende Leitlinien: Zwar wurde hervorgehoben, daß volkswirtschaftliches von deutschem Interesse verschieden sei 10 ; in der Rechtsprechung fand diese Unterscheidung aber keinen Niederschlag. Im deutschen Interesse lag danach zum Beispiel die Auswanderung eines Oberingenieurs, der bei einer Maschinenbaufirma in Deutschland beschäftigt war, weil er nun in seiner letzten Position im Ausland für deutsche Firmen verstärkt Handelsbeziehungen knüpfen konnte 1 1 . Ganz allgemein kam man zu folgendem Auslegungsergebnis: Die richtige Beurteilung des deutschen Interesses gehe hervor aus einem streng an sachlichen Gesichtspunkten orientierten Vergleich zwischen dem Vorteil der Auswanderung und dem Nachteil, der dem Deutschen Reich durch die Auswanderung entstehe. Überwiege der Nachteil, fehle das deutsche Interesse bzw. bei überwiegendem Vorteil liege der Befreiungsgrund vor 1 2 . Die Höhe der Steuer legte § 3 fest. Zu entrichten sei „ . . . ein Betrag in Höhe eines Viertels des gesamten steuerpflichtigen Vermögens ...". Dies sei „ . . . das 9

RGBl. 1931 I, S.731. Lion ! Hartenstein, 1932, S. 120: „ . . . volkswirtschaftliche Rechtfertigung der Auswanderung nach der Reichsfluchtsteuerverordnung (und) ... deutsches Interesse (seien nicht) i d e n t i s c h . . A u f S. 116 beziehen sie sich dabei auch auf die Amtliche Begründung zum Steuerfluchtgesetz, die parallel zur RFlStV heranzuziehen sei. Im deutschen Interesse könne demnach etwas liegen, was volkswirtschaftlich nach den augenblicklichen Verhältnissen durchaus nicht gerechtfertigt sei. „ . . . Beispiel: Die Entsendung einer deutschen Theatergruppe ... nach dem Ausland unter erheblicher Subvention 10

11

R F H 3, 73; ein weiteres Beispiel findet sich in R F H 3, 87. R F H 13, 206: „Denn wie der Reichsfinanzhof bereits in der Entscheidung Bd. 3, S. 91 der Sammlung ausgesprochen und seitdem in ständiger Rechtsprechung festgehalten hat, rechtfertige nicht schon jedes geringfügige Interesse des Reiches, das durch die Auswanderung gefördert werden würde ...". „Der Vorteil, den die Auswanderung dem Reiche ... bringt, muß also in einem entsprechenden Verhältnis zur Einbuße an Steuern stehen Weiter dazu Lion ! Hartenstein, 1932, S. 119. 12

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

durch den Vermögensteuerbescheid festgestellte Gesamtvermögen . . z u dem unter gewissen Voraussetzungen Gesellschaftsanteile und Schenkungen hinzuzurechnen waren 13 . Das Interesse des Staates, durch die RFlStV der Auswanderung entgegenzuwirken, um so Steuereinnahmen dauernd zu erhalten, wird bei § 7, der den Wegfall der RFlSt und Zuschläge im Fall der Rückkehr innerhalb von zwei Monaten festlegte, deutlich. Hätte die primäre Absicht in einer Vermögensabschöpfung bestanden, wäre eine solche „goldene Brücke" überflüssig gewesen. U m eine unbedingte Durchführung der RFlStV zu gewährleisten, zog die Verletzung der Steuerpflicht nach dieser Verordnung schwere Folgen nach sich, die im Sanktionskatalog des § 9 niedergelegt waren und weit über die sonstigen negativen Folgen anderer Steuervergehen hinausreichten 14 . § 9 Nr. 1 legte die Bestrafung, Nr. 2 einen Steckbrief und Nr. 3 die Vermögensbeschlagnahme als Sanktion fest. Welch einen einschneidenden Charakter die Strafe hatte, wird gleichzeitig daran deutlich, daß sie nicht als Ordnungswidrigkeit geahndet werden konnte, sondern der „ . . . Steuerpflichtige ... wegen Steuerflucht mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft (wurde). Neben der Freiheitsstrafe ist auf Geldstrafe zu erkennen. Der Höchstbetrag der Geldstrafe ist unbeschränkt . . . " 1 5 . Neben dem Strafmaß zeigen auch die Voraussetzungen der Strafe die Schärfe des Instruments: „Die Bestrafung tritt nicht ein, wenn der Steuerpflichtige nachweist, daß ihn kein Verschulden trifft." Ausgelöst wurde die Strafe somit allein dann, „ . . . wenn der Steuerpflichtige binnen zwei Monate von der Entstehung der Steuerschuld (§ 4) ab gerechnet weder die gesamte Reichsfluchtsteuer (§ 3) nebst Zuschlägen (§ 6) entrichtet noch dem Finanzamt nachweist, daß er wieder einen Wohnsitz im Inland begründet... hat..."; die Schuld war als widerlegliche Vermutung ausgestaltet16. Die Bestrafung und die anderen Folgen waren mithin allein von der Erfüllung dieses objektiven Tatbestandes abhängig. So erging auf Kosten des Gesuchten ein Steuersteckbrief, der die Aufforderung enthielt, „den Steuerpflichtigen, falls er im Inland betroffen wird, vorläufig festzunehmen..." (§ 9 Nr. 2). Wenngleich es kein Novum war, die Zustellung durch öffentliche Bekanntgabe von Steckbriefen zu ersetzen, so war es doch neu, die Voraussetzung eines richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Haftbefehls fallen zu lassen. Auch an diesem Detail zeigt sich die Schärfe der RFlStV 1 7 . Neben, nicht anstatt, der 13

RGBl. 1931 I, S. 732. So ausdrücklich Thümen, 1932, S. 19; Lion I Hartenstein, 1932, S. 149 und Seweloh, 1934, S. 1360. 15 RGBl. 1931 I, S. 734. Die Geldstrafe mußte dabei neben der Freiheitsstrafe ausgesprochen werden, vgl. Seweloh, 1934, S. 1361. 16 Lion IHartenstein, 1932, S. 153; Peters, 1938, S. 87 und Seweloh, 1934, S. 1361 sowie Thümen, 1932, S. 19. 14

3. Abschn. Β. Zahlungspflichten — Reichsfluchtsteuerverordnung

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Strafe ordnete § 9 Nr. 3 die Beschlagnahme des Vermögens des Steuerpflichtigen durch das Finanzamt an. Dabei diente sie der „ . . . Sicherung der Ansprüche auf Reichsfluchtsteuer, Geldstrafe, Zuschläge und Kosten. Die Ansprüche auf Geldstrafe und Kosten des Steuerverfahrens fallen auch dann unter die Sicherung, wenn die Strafe noch nicht verhängt ist ...". Eingangs wurden die beiden generellen Intentionen der RFlStV des Jahres 1931 — Auswanderungsverhinderung und Kompensation des Steuerausfalls — und ihr Verhältnis zueinander beleuchtet 18 . Stellt man die einzelnen Vorschriften und ihre jeweilige Intention in diesen Zusammenhang ein, ist der primäre Zweck der Auswanderungsvereitelung erneut belegt. Die RFlStV enthält in der Mehrzahl Vorschriften, die potentiell Betroffene, d.h. Auswanderungswillige benachteiligen. Nachteilig ist die Hinzurechnung bestimmter Vermögensteile, da so die Steuerpflicht schneller erreicht wird (§ 3), ebenso § 4, der die Steuer ipso iure ohne weiteren Bescheid entstehen läßt, § 5, der die Steuer kurzfristig fallig stellt, der in § 6 festgelegte hohe Säumniszuschlag und vor allem der einschneidende Sanktionskatalog des § 9. Den Betroffenen günstig ist demgegenüber die Befreiungsmöglichkeit (§ 2), das Rückkehrprivileg (§ 7) und die Befristung (§ 2). Letzteres ergibt sich daraus, daß der potentielle Auswanderer das mögliche Ende der die Auswanderung behindernden staatlichen Maßnahmen absehen konnte. Alle ausführlich festgelegten negativen Folgen konnte der Ausgewanderte also durch Rückkehr beseitigen. Wäre es der Regierung Brüning darauf angekommen, langfristig dem Staat Einnahmen aus der RFlStV zuzuführen, so wäre das Rückkehrprivileg kontraproduktiv gewesen. Wie schon eingangs gezeigt, belegt diese Abhängigkeit der RFlSt von § 7, daß die Verhinderung der Auswanderung der primäre Zweck der RFlStV war.

17

RGBl. 1931 I, S. 734. Hingewiesen wurde auf erlassene Steuersteckbriefe auch in anderen Publikationen, so etwa im RStBl. 1938, S. 1077 unter der Rubrik Steuersteckbriefe: „Steuersteckbriefe sind gegen folgende Personen erlassen worden: 1. Alfred Dienstfertig, geb. 8.3.1887 zu Grottkau, und seine Ehefrau Eva, geb. Jacoby, geb. 19.4.1898 zu Berlin, zuletzt wohnhaft in Berlin W 15, Meinekestr. 24, zur Zeit in Amerika. Geschuldete Reichsfluchtsteuer 56000 R M , fallig gewesen am 12.12. 1935, nebst Zuschlag ... 2. Dr. Walter Stern, geb. 2.11.1880 zu Berlin, und seine Ehefrau Lilli, geb. Ostberg, geb. 4. 6.1884 zu Berlin, zuletzt wohnhaft in Berlin-Charlottenburg, Knesebeckstr. 72/73, zur Zeit in Amsterdam? Holland. Geschuldete Reichsfluchtsteuer 6293 R M , fallig gewesen 18. 8. 1937, nebst Zuschlag ...", im Anschluß an beide wird die entsprechende Ausgabe des Reichsanzeigers, in dem die Steckbriefe veröffentlicht wurden, genannt. Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.I.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung 2. Die Reichsfluchtsteuerverordnung unter den Nationalsozialisten

a) Legislative

Veränderungen

A m 18. 5.1934 erfolgten die wichtigsten Veränderungen. Zunächst wurde die Freigrenze herabgesetzt. Befreit waren nunmehr „Personen, die weder am 1.1. 1931 noch bei einer späteren Veranlagung zur Vermögensteuer ein Gesamtvermögen von mehr als 50.000 R M gehabt haben und deren Gesamtvermögen auch durch die Zurechnung nach §3 Abs. 3 den Betrag von 50000 R M nicht übersteigt ..."; die Einkommensgrenze von 20000 R M wurde hingegen beibehalten (§2) 1 9 . Positiv formuliert wurden nunmehr also wesentlich mehr Personen als vor der Novelle nach der RFlStV steuerpflichtig, da diese Pflicht nicht erst oberhalb von 200000 R M , sondern bereits bei 50000 R M einsetzte. Ausgeweitet wurden ebenfalls die zurechenbaren Vermögensteile im Rahmen der Bemessungsgrundlage. Während § 3 in der alten Fassung vorsah, lediglich Gesellschaftsanteile (§3 Abs. 2 Ziffer 1) und Schenkungen/Erbschaften von mehr als 10000 R M (§ 3 Abs. 2 Ziffer 2) bei dem festzustellenden Vermögen zu berücksichtigen, wurden diesen beiden Posten drei weitere hinzugefügt. Hinzuzurechnen innerhalb der Prüfung des §2 waren nun „ . . . der Wert des Vermögens, das der Steuerpflichtige in der Zeit ab dem für die Feststellung des Gesamtvermögens maßgebenden Stichtag bis zur Aufgabe des inländischen Wohnsitzes ... aus der Aufhebung einer fortgesetzten Gütergemeinschaft oder aus der Abfindung für den Verzicht auf den Anteil an einer fortgesetzten Gütergemeinschaft in Höhe von mehr als 10000 R M erhalten hat..." (§ 3 Abs. 3 Ziffer 3), „ . . . 4. die zum Vermögen des steuerpflichtigen gehörenden Stücke der Reichsanleihe 1929 und der Reichsbahnanleihe 1931 . . u n d unter Ziffer 5 „ . . . der bei dem letzten Vermögensteuerbescheid unberücksichtigt gebliebene halbe Wert von Aktien, Kuxen, sonstigen Anleihen sowie Genußscheinen an inländischen Gesellschaften . . . " 2 0 . Die Herabsetzung der Freigrenze, d.h. die schon bei geringerem Vermögen einsetzende Steuerpflicht, wurde von §3 ergänzt, da die Ausweitung der hinzuzurechnenden Posten das relevante Vermögen erhöhte, und die Freigrenze somit schneller überschritten war. Beide Paragraphen führten somit, wenngleich auf verschiedenen Wegen, zum selben Ziel — Erweiterung des Kreises reichsfluchtsteuerpflichtiger Personen. Das Rückkehrprivileg entfiel und in Art. 2 wurde rückwirkend angeordnet, daß diejenigen, die unter Berufung auf § 7 die RFlSt nicht gezahlt hatten, jetzt den Nachweis führen mußten, „ . . . daß die polizeiliche Anmeldung mit den tatsächlichen Verhältnissen übereinstimmt"; ohne diesen Nachweis entstand die Reichsfluchtsteuerpflicht von neuem 21 . 19 20 21

RGBl. 1934 I, S. 392. RGBl. 1934 I, S. 392. RGB1. 1934 I, S. 392.

3. Abschn. Β. Zahlungspflichten — Reichsfluchtsteuerverordnung

233

§ 7 neuer Fassung hatte einen vollständig anderen Inhalt: „Das Finanzamt kann Sicherheitsleistung verlangen, wenn diese nach ihrem Ermessen erforderlich ist, um gegenwärtige oder zukünftige Ansprüche auf Reichsfluchtsteuer, sonstige, vor der Auswanderung zu leistende Steuern oder andere steuerpflichtige Gegenleistungen zu sichern ...". Neben noch nicht falligen Ansprüchen waren dies zugleich solche, „ . . . deren zukünftige Entstehung ... wahrscheinlich ist.. . " 2 2 . Der tatsächliche Zugriff auf das Vermögen des Auswandernden wurde mittels dieser Vorschrift vorverlegt, und der Verwaltung ein umfangreiches Ermessen hinsichtlich des Zugriffszeitpunkts eingeräumt. Nicht mehr nach zwei Monaten, sondern bereits nach einem Monat Rückstand sah § 9 der neuen Fassung vor, daß die vorgesehenen Sanktionen — Freiheits- und Geldstrafe, Steckbrief, Vermögensbeschlagnahme — eintraten 23 . Flankiert wurden diese legislativen Änderungen von einer entsprechend ergänzten Verwaltungspraxis und Rechtsprechung. Besonders deutlich wird dies hinsichtlich der §§ 2 und 3. So wurde festgelegt, daß „ . . . bei auswandernden Juden und jüdischen Mischlingen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Freistellungsbescheinigung in der Regel nicht vorliegen. In Ausnahmefallen kann (anstelle der Erteilung einer Freistellungsbescheinigung) von ... der Reichsfluchtsteuer teilweise oder ganz abgesehen werden. Diese Ausnahmefalle sind mir (dem Reichsfinanzminister) zur Entscheidung vorzulegen . , . " 2 4 . Gesehen wurde offenbar, daß es zu einer Kollision zwischen Steuer- und Judenpolitik kommen konnte. Als sogenannte Billigkeitsmaßnahme behielt sich der Reichsfinanzminister vor, in Fällen, „ . . . in denen die an sich erwünschte Auswanderung eines Juden oder jüdischen Mischlings durch Erhebung der Reichsfluchtsteuer verhindert (wurde), Anträge auf Ermäßigung oder Erlaß der Reichsfluchtsteuer (zu bescheiden)". Solche Anträge waren dem Reichsfinanzminister zur Entscheidung vorzulegen 25 . Dieser Erlaß zeigt, wie sehr die jüdischen Bürger bei der Anwendung des §2 ungleich behandelt wurden, denn eine Prüfung der Voraussetzungen des § 2 blieb aus, war doch so von Amts wegen festgestellt, daß diese Vorschrift bei Juden nicht einschlägig sein konnte. Zur Klärung des Verhältnisses zwischen JVerA und RFlStV erließ der Reichsfinanzminister am 7.2.1939 einen weiteren Erlaß: „Bei der Bemessung der Reichsfluchtsteuer ist von dem um die Judenvermögensabgabe gekürzten Betrag auszugehen ... Ist bereits eine ausreichende Sicherheit für die Reichsfluchtsteuer geleistet, so bin ich damit einverstanden, daß der zu sichernde Betrag der Reichsfluchtsteuer um ein Fünftel ermäßigt und der frei werdende

22 23 24 25

RGBl. 1934 I, S. 392. RGBl. 1934 I, S. 392. Erlaß des Reichsfinanzministers vom 23.12. 1937, RStBl. 1937, S. 1295. Erlaß des Reichsfinanzministers vom 23.12. 1937, RStBl. 1937, S. 1295.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Teil der Sicherheit auf die Sicherheitsleistung für die Judenvermögensabgabe angerechnet w i r d " 2 6 . Soweit ersichtlich, wurde nicht festgelegt, wie das durch §7 eingeräumte Ermessen — Sicherheitsleistung — speziell Juden gegenüber auszuüben sei 27 . In der Literatur findet sich lediglich eine Wiedergabe des Erlasses vom 19. 5.1934 28 und eine Kurzbemerkung bei Peters, wonach „ . . . die Entscheidung (ob Sicherheit zu verlangen sei) nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit zu treffen ist. Letztere ist nach nationalsozialistischer Weltanschauung zu beurteilen" 29 . Da dieser Anschauung gemäß der jüdischen Bevölkerung in wirtschaftlichen Dingen Betrugsabsicht, Übervorteilung, Steuerhinterziehung und anderes wesenseigen war 3 0 , dürfte die Entscheidung regelmäßig auf eine Sicherheitsleistung hinausgelaufen sein, sofern nicht schon die Auswanderungsabsicht nach den Beispielen (c) und (d) vorgelegen hat 3 1 . b) Rechtsprechung Die Rechtsprechung stand häufig vor der Frage, wie die Auswanderung von sogenannten Nichtariern zu beurteilen sei. So in folgendem Präzendenzfall 32: Ein jüdischer Rechtsanwalt hatte seinen Beruf und wenig später seinen Wohnsitz aufgegeben, um im Ausland zu studieren und Vertretungen deutscher Firmen zu übernehmen. Streitig war, ob die Aufgabe des Wohnsitzes ein Fall des § 2 Nr. 3 RFlStV sei, also im deutschen oder volkswirtschaftlichen Interesse 26

Erlaß des Reichsfinanzministers vom 7. 2. 1939, RStBl. 1939, S. 250. Allerdings findet sich ein Erlaß, der vier Beispielsfalle nennt. Sicherheit sei zu fordern: „(a) für die Zeit, in der der Steuerpflichtige den Nachweis der Freistellungsvoraussetzungen führt, (b) bei Personen, die als leitende Angestellte im Ausland tätig sind, bei denen aber die Aufgabe des inländischen Wohnsitzes wahrscheinlich, (c) bei Auslandsreisen ... unter Umständen, die darauf schließen lassen, daß (die Personen) nicht zurückkehren werden ..." sowie bei Personen, die „ . . . beginnen, ihre inländischen Vermögenswerte ... unter Umständen zu veräußern, die auf die Absicht einer späteren Auswanderung schließen lassen" (Runderlaß des Reichsfinanzministers vom 19. 5. 1934, RGBl. 1934 I, S. 603). Die beiden letzten Fälle dürften bei jüdischen Bürgern häufig vorgelegen haben. 27

28

So etwa bei Seweloh, 1934, S. 1358 und Haase, 1934, S. 808. Peters, 1938, S. 74. 30 Köhler, 1939, S. 4ff. 31 Die Vordrucke dieser Sicherheitsbescheide, bei denen nur noch Name und Summe einzusetzen waren, stellten entsprechend lapidar fest: „Nach den Feststellungen des Finanzamtes beabsichtigen Sie, Ihren inländischen Wohnsitz aufzugeben. Sie haben daher gemäß § 7 Reichsfluchtsteuerverordnung... Sicherheit in Höhe von... zu leisten..." (nach Adler, 1972, S. 84). Adler gibt noch weitere Vorgänge aus den Jahren 1938 -1943 wieder; es handelt sich dabei um Schicksale aus Würzburg. Adler, 1972, S. 674ff. beruft sich dabei auf Originalakten dieser Vorgänge, die im Staatsarchiv Würzburg lagern; eine genaue Aktenzeichenangabe fehlt allerdings. 32 Diese Einordnung wurde einhellig im damaligen Schrifttum vorgenommen, etwa bei Haase, 1934, S. 838; Seweloh, 1938, S. 816 und Peters, 1938, S. 31 f. 29

3. Abschn. Β. Zahlungspflichten — Reichsfluchtsteuerverordnung

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liege. Dazu hatte der Kläger vorgetragen, die von ihm auszuführende Tätigkeit fördere die deutsche Ausfuhr. Im übrigen sei es offizielle Politik, daß die jüdische Auswanderung im deutschen Interesse liege 33 . Der Reichsfinanzhof wies den Kläger ab. Die RFlStV sei Teil der Verordnung zur Sicherung des Haushalts des Jahres 1931 gewesen34 und habe beabsichtigt, die Abwanderung wohlhabender Steuerzahler zu verhindern. Dieser Zweck werde verfehlt, würde man einen Umstand, dem der damalige Gesetzgeber keinerlei Relevanz beimaß, als Befreiungsgrund anerkennen. Denn bei Erlaß der RFlStV stand die Frage, ob die Auswanderung von sogenannten Nichtariern im deutschen Interesse liege, noch nicht zur Debatte. Sie müsse daher jetzt von der Rechtsprechung entschieden werden. Würde man die nichtarische Eigenschaft des Klägers berücksichtigen, könnten selbst die reichsten Nichtarier ohne Nachteil den deutschen Steuergesetzen entgehen. Dies wäre mit dem Grundsatz der steuerlichen Gerechtigkeit und Gleichmäßigkeit unvereinbar. Für die steuerliche Betrachtung sei die nichtarische Herkunft somit unbedeutend. Die Rassezugehörigkeit eines Steuerpflichtigen scheide im Rahmen der RFlSt aus jeder Erörterung aus 35 . Im übrigen ergebe der Vergleich des Vor- und Nachteils, daß die in Aussicht genommene Tätigkeit zu unbestimmt sei. Formell hielt also der Reichsfinanzhof an seiner Rechtsprechung bis 1933 fest 36 mit der entscheidenden Neuerung einer unterschiedlichen Beurteilung des Tatbestandsmerkmals der „deutschen Interessen". Während es diesem entsprach, Juden aus nahezu allen Erwerbszweigen zu vertreiben und letztlich offizielle Regierungspolitik war, ihre Auswanderung zu fördern, beurteilte sich dies steuerrechtlich anders. Dem Gesetzeszweck der RFlStV entsprechend war die Abwanderung leistungsfähiger Bürger unerwünscht. I I I . Ausgrenzungsintention und Diskriminierungserfolg Änderungen der RFlStV verfolgten einen bestimmten Zweck und führten bei der jüdischen Bevölkerung zu erheblichen Einschnitten.

33 Reichsfinanzhof in Steuer und Wirtschaft, Teil II, 1934, S. 423 f.; ähnliche Fallgestaltungen in RStBl. 1934, S. 566 und S. 590 sowie 1937, S. 949. 34 Vgl. dazu oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.I. 35 Reichsfinanzhof in Steuer und Wirtschaft, Teil I I 1934, S. 426. Daran hielt der Reichsfinanzhof sogar in einem Fall fest, in dem der jüdische Kläger schwer mißhandelt, seine Wohnung versiegelt und sein Vermögen beschlagnahmt worden war (Reichsfinanzhof in RStBl. 1934, S. 1225). Erkennbar wird in diesem speziellen Punkt, daß die Rechtsprechung der Verwaltung „voraus war", die die Befreiungsmöglichkeit bei Juden wegen entsprechendem deutschen Interesse erst später durch Erlaß verneinte. 36 Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung 1. Ausgrenzungsintention

Die allgemeine Begründung der Novelle des Jahres 1934 wird durch den Satz eingeleitet, daß die Vorschriften der RFlSt notwendig sind, „ . . . um die Abwanderung von leistungsfähigen Steuerzahlern zu verhindern ..." oder, falls dies nicht gelänge, eine Kompensationsabgabe für Steuerausfalle zu erzielen 37 . Eindeutig ist die Auswanderungsverhinderung also das primäre Gesamtziel nach 1934. Obgleich die Herabsetzung der Freigrenze 38 die Änderung einer einzelnen Vorschrift betrifft, findet sich deren Begründung im Allgemeinen Teil. Die Ausweitung des Anwendungsbereiches sei wie die übrigen Neuerungen notwendig, damit die RFlSt wirksamer werde. Bislang erlaube die bestehende Freigrenze ein Einkommen von 19000 R M und ein Vermögen von 198000 RM. „Es erscheint erforderlich, künftig in jedem Fall auch die Personen zu der letzten großen Abgabe heranzuziehen, die ein Vermögen von mehr als 50000 R M gehabt haben" 39 . Zwar sind diese Ausführungen als Begründung betitelt. Es bleibt allerdings offen, warum es erforderlich erscheint, die genannten Personen einzubeziehen. Inhaltlich schweigt die offizielle Verlautbarung also über die gesetzgeberische Absicht, die mit der Herabsetzung verfolgt wurde. Umfassender wurde erklärt, warum § 7 (Rückkehrprivileg) 40 beseitigt werden müsse. Ursprünglich sei die Vorschrift eingefügt worden, „ . . . weil die Reichsfluchtsteuer mit rückwirkender Kraft erhoben wurde. Es waren damals zahlreiche Fälle vorhanden, in denen Steuerpflichtige im Laufe des Jahres 1931 nach Erfüllung ihrer laufenden Verpflichtung ins Ausland gezogen waren und nunmehr durch die Verordnung vom 8.12. 1931 der Reichsfluchtsteuer unterworfen wurden. Diesen Personen sollte Gelegenheit gegeben werden, die Reichsfluchtsteuer durch Wiederbegründung eines inländischen Wohnsitzes zum Wegfall zu bringen. Die Vorschrift ist jetzt entbehrlich, zumal da sie in einigen Fällen zur Umgehung geführt hat .. . " 4 1 . Als Darlegung der wirklichen Gründe vermögen selbst diese Ausführungen kaum zu überzeugen. Wenn der genannte Grund zutraf, so ist es unverständlich, warum nicht bereits bei der Änderung 1932 § 7 aufgehoben wurde, um so mehr, wenn die von den NS-Machthabern gegebene Begründung — Privileg für eine in einer ganz bestimmten Zeit ausgewanderte Personengruppe — zutreffend gewesen wäre. Entsprechend wurde im Schrifttum festgestellt, daß § 7 ganz allgemein den Sinn 37 38 39 40 41

RStBl. 1934, S. 592. Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.2.a). RStBl. 1934, S. 598. Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.l. RStBl. 1934, S. 599.

3. Abschn. Β. Zahlungspflichten — Reichsfluchtsteuerverordnung

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habe, denjenigen, der sich „ . . . eines Besseren besinnt ... wieder in Gnaden (aufzunehmen)" 42 . § 9 neuer Fassung, in dem die Frist des § 9 alter Fassung auf einen Monat gekürzt wurde, erhielt folgende Begründung: „Dies bedeutet, daß die Folgen der Nichtzahlung von Reichsfluchtsteuer (Bestrafung, Steuersteckbrief) bereits einen Monat nach Entstehung der Reichsfluchtsteuer eintreten" 43 . Wieso dies geschehen ist, also der wirkliche Grund der Neuregelung, bleibt offen. Neben der eingangs wiedergegebenen generellen Intention der Auswanderungsverhinderung tritt eine weitere hervor, betrachtet man ein allen Änderungen gemeinsames Merkmal. Jeweils eignen sie sich dazu, den finanziellen Erfolg zu optimieren. Daß dieser Erfolg gewollt war, steht angesichts der schon mehrfach dargestellten prekären Situation des Reichshaushalts außer Frage 44 . Bis hierhin bleibt es jedoch dabei, daß eine ausdrückliche antisemitische Absicht auf gesetzlicher Ebene nicht nachweisbar ist, zumal die später erfolgten Verlängerungen ebensowenig aus sich heraus eine antisemitische Komponente erkennen lassen. Es fragt sich, ob eine solche Intention, wenn nicht am Gesetz, so doch an den die Anwendung bestimmenden Rechtsquellen, d.h. an der Verwaltungspraxis, ersichtlich wird. Prima facie muß auch dies verneint werden, denn der Reichsfinanzminister hatte Billigkeitsmaßnahmen nach seiner Entscheidung vorgesehen, sofern die Auswanderung verhindert würde. Diese Sichtweise vernachlässigt indes die regelmäßige Art der Anwendung der RFlSt Juden gegenüber 45, die — u n d insoweit besteht ein direkter inhaltlicher Zusammenhang zu legislativen Veränderungen — ohne die nationalsozialistisch geformte RFlStV unmöglich gewesen wäre. So eröffnete § 7 in seiner neuen Fassung die Möglichkeit, für wahrscheinlich entstehende Ansprüche Sicherheit zu verlangen. Indem der Reichsfinanzminister in Frage kommende Fälle beispielhaft aufzählte, insbesondere das Vorliegen einer Auswanderungsabsicht genügen ließ, konnte die nachgeordnete Verwaltung durch entsprechend vorformulierte Bescheide von Juden regelmäßig Sicherheitsleistung verlangen, ihnen so erhebliche Vermögensteile faktisch entziehen 46 . 42 So etwa Thümen, 1932, S. 19 und ähnlich Seweloh, 1934, S. 1134, wenn er feststellt, „ . . . (die) Vorschrift ... (sei) in erster Linie auf solche Personen gemünzt, die sich bei Inkrafttreten der Verordnung im Ausland befanden und denen Gelegenheit gegeben werden sollte, durch ihre alsbaldige Rückkehr nach Deutschland der Reichsfluchtsteuer zu entgehen. Sie gilt nach dem klaren Wortlaut aber auch für die später ausgewanderten Personen." 43

RStBl. 1934, S. 599. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.l. 45 Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.2.a); aus den im Text nachfolgend genannten Gründen ist es verfehlt, wenn Jagdfeld, 1972, S. 260 diesen Erlaß anführt, um die RFlStV und ihre Praktizierung der jüdischen Bevölkerung gegenüber darzustellen. 44

238

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Noch deutlicher tritt die gewollte antisemitische Praktizierung der RFlStV in der verbindlich geregelten Anwendung der Befreiungsmöglichkeit hervor 47 . Indem die von der Rechtsprechung bereits vorgenommene Auslegung 48 , wonach trotz der Absicht der Regierung der deutsch-nationalen Erhebung, nichtarische Personen im Interesse des deutschen Volkes zur Auswanderung zu zwingen, ein solches Interesse kein deutsches Interesse im Sinne der RFlStV sei, festgeschrieben wurde, war eine rigorose Anwendung der RFlStV Juden gegenüber gewährleistet. Der tatsächlich betroffene Adressatenkreis belegt schließlich, daß die scheinbar diskriminierungsneutralen Verlängerungen des RFlStV gemeinsam mit der dargestellten bewährten antisemitischen Verwaltungspraxis die RFlStV zu einem antisemitischen Gesetz machen sollten, wobei damit noch unbeantwortet bleibt, ob dieser Aspekt im Vordergrund stand oder gewünschte Nebenfolge einer anderen Intention war. Spätestens nach 1935 waren es zumeist Juden, die das Deutsche Reich verließen. Dies räumte sogar das damalige Schrifttum ein 4 9 und wurde in der Nachkriegsdiskussion ebenfalls hervorgehoben 50. Verlängerte man die RFlStV, nachdem bekannt war, daß im Gros Juden von ihr betroffen waren, so ist die antisemitische Willensrichtung der Verlängerungen und zugleich der dann tatsächlich zumeist Juden gegenüber angewendeten übrigen Paragraphen nachgewiesen. Kann somit aus diesen Gründen festgestellt werden, daß die RFlStV auch einen antisemitischen Zweck hatte, so bleibt die Frage, wie der hier erneut zu Tage tretende Zielkonflikt — Auswanderung der jüdischen Bevölkerung bei bestmöglicher finanzieller Ausbeute — gelöst wurde. Im Falle der RFlStV erscheint insoweit eine optimale Lösung gefunden worden zu sein, als die primär 46 Daß sich die Verwaltung dieser Möglichkeit bediente, wurde oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.2.a) bereits gezeigt. 47 Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.2.a). 48 Zugleich ist damit ein Beispiel aus der finanzgerichtlichen Rechtsprechung gegeben, daß, wie jüngst von Bundesjustizminister Engelhard (NJW 1989, S. 211) geäußert, die eigenständige Fortentwicklung des Rechts im nationalsozialistischen Sinne durch die Rechtsprechung zeigt. 49 So etwa Mussfeld, 1940, S.41; Haase, 1934, S. 836 ff. und ähnlich Peters, 1938, S. 31 f., der ebd. die umfassende Rechtsprechung zum Problem der RFlStV im Verhältnis zum Judentum darstellt. 50 So etwa bei Bühler, 1953, S. 181; Genschel, 1966, S. 258f.; Jagdfeld, 1972, S. 249f.; Adler, 1972, S. 435; Echterhölter, 1970, S. 198; Majer, 1981, S. 283 f. Hilberg, 1982, S. 100 belegt dies mit einem Beispiel: Das Wirtschaftsamt Frankfurt berichtete 1934 bereits, daß von 42 Personen, die von "der RFlSt betroffen waren, 41 nichtarischer Herkunft seien. Kritisch muß angemerkt werden, daß die genannten Autoren die RFlStV zwar als ein Gesetz bezeichnen, durch das die jüdische Bevölkerung betroffen wurde, sie es aber unterlassen, dieses Gesetz in den Kanon antisemitischer Gesetze einzustellen. Stattdessen werden zumeist Zahlen angeführt, die das erhöhte Aufkommen parallel zur steigenden Zahl jüdischer Auswanderer belegen. Nachfolgend wird dazu noch Stellung genommen.

3. Abschn. Β. Zahlungspflichten — Reichsfluchtsteuerverordnung

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gewünschte Wirkung — Auswanderung — eine neue finanzielle Nutzung in Form einer Abgabe auslöste. Inwieweit diese Lösung tatsächlich funktionierte, also dieser gewünschte doppelte Erfolg eintrat, soll nun geprüft werden. 2. Objektiver Diskriminierungserfolg

Welche quantitativen Erfolge die RFlStV brachte, ist relativ exakt bezifferbar. 1932/33 waren es Einnahmen in Höhe von lediglich 1 Million R M 5 1 . Von 1935-1939 nahm diese Zahl außergewöhnlich zu: 1935/36 45 Millionen R M , 1936/37 70 Millionen R M , 1937/38 81 Millionen R M und 1938/39 sogar 342 Millionen R M 5 2 . 1938 und 1939 wanderten eine große Zahl jüdischer Personen aus. Lamm, Blau und Genschel nennen für das Jahr 1938 40000 und für das Jahr 1939 78000 Personen 53. Betrachtet man die Einnahmen aus der RFlSt zusammen mit diesen Auswanderungszahlen, so könnte dieser objektive Erfolg — hohe Auswandererzahl und hohe RFlSt-Einnahmen — zunächst ein Beleg für die Annahme sein, daß beide Intentionen — Auswanderungsbewirkung bei gleichzeitig gewollter optimaler finanzieller Ausbeute — einen entsprechenden Erfolg nach sich zogen. Insoweit scheinen die Bewertungen Hilbergs 54 , Genschels55 und Jagdfelds 56 wonach die erzwungene Auswanderung finanziell von der RFlSt genutzt worden sei, richtig zu sein, wenngleich sie dieses Zahlenverhältnis als Argument nicht ausdrücklich anführen. Gegen die Annahme, daß durch die RFlStV Auswanderung und finanzielle Ausbeute erreicht wurde, sprechen aber andere Gründe. Zunächst ist kaum nachweisbar, ob die registrierten Auswanderungen nur legal erfolgten, denn sie gehen größtenteils auf Schätzungen zurück, die unter 51

Hilberg, 1982, S. 101 unter Bezugnahme auf eine Veröffentlichung der Deutschen Bank vom 30. 5. 1939. Jagdfeld, 1972, S. 260 nennt 0,9 Millionen R M und bezieht sich dabei auf Angaben Bühlers, 1953, S. 179, der jedoch nicht die Quelle bezeichnet, die seine, allerdings nur geringfügig abweichenden Zahlen, belegen. 52 Authentisch sind diese Zahlen durch die Reichshaushaltspläne von 1935 (Einzelplan X V I I , S. 4), 1936 (Einzelplan X V I I , S. 4), 1937 (Einzelplan X V I I , S. 8), 1938 (Einzelplan X V I I , S. 4 und 10) und 1939 (Einzelplan X V I I , S. 4 und 10) belegt. Hilbergs (1982, S. 100) Zahlen ab 1935/36 stimmen mit den Zahlen Jagdfelds (1972, S. 260) bzw. denen Bühlers (1953, S. 179) überein. Mussfeld, 1940, S. 41 bewertet die RFlSt als Haushaltsposten: „Die Reichsfluchtsteuer stellt seit einigen Jahren einen beachtlichen Posten im Reichshaushalt dar." Auch daran zeigt sich der hohe fiskalische Wert der RFlSt. 53 Lamm, 1951, S. 223; Blau, 1965, S. 282; Genschel, 1966, S. 290. 54 Hilberg, 1982, S. 100. 55 Genschel, 1966, S.258f. 56 Jagdfeld, 1972, S. 260.

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

anderem auf den Verzeichnissen der jüdischen Gemeinden beruhen. Für diese war es jedoch unerheblich, wie das Gemeindemitglied ausschied, sei es nun wegen legaler oder illegaler Ausreise. Da die RFlSt indes eine legale Ausreise voraussetzte, kann nicht gesagt werden, daß in allen statistisch festgehaltenen Fällen tatsächlicher Ausreise eine RFlSt gezahlt wurde. Ebenso muß folgender Zusammenhang bedacht werden: Durch §7 war es möglich, die Zahlung der RFlSt von der tatsächlichen Wohnsitzaufgabe abzukoppeln. Zwar erlaubte die Norm lediglich, einen Sicherheitsbescheid zu erlassen, die Betroffenen konnten jedoch die RFlSt wegen der beabsichtigten Auswanderung direkt begleichen. Daran zeigt sich, daß die bereits dargelegte Interpretation der oben angeführten Zahlen keineswegs naheliegend ist, sondern die Einnahmen aus der RFlSt auch angestiegen sein können durch Zahlungen von Personen, die dann dennoch im Reich verblieben 57 . Gleichermaßen unzulässig wäre es indes, von einer generellen Abkopplung der tatsächlichen Auswanderung von den RFlSt-Einnahmen auszugehen. Jedoch muß beachtet werden, daß der sogenannte Sicherheitsbescheid die weitaus überwiegend praktizierte Form der Anwendung der RFlStV darstellte 58 , und § 7 die Zahlung im Ergebnis lange vor der Auswanderung sicherstellte. Schließlich muß die bereits mehrfach dargestellte finanzielle Lage und der akute Finanzbedarf des Reiches beachtet werden 59 . Die Abkopplung tatsächlicher Auswanderung von erzielten Steuereinnahmen ermöglichte es, dem Reich schneller Gelder zuzuführen. Dazu eigneten sich besonders Maßnahmen, die die Zahlung von der individuell zu treffenden Auswanderungsentscheidung unabhängig machten. Vieles spricht deshalb für die Annahme, im Vordergrund der Durchführung der RFlStV habe weniger die Ermöglichung der Auswanderung, sondern die Einnahmenerzielung unabhängig von der erfolgten Auswanderung gestanden. Der Sicherheitsbescheid erreichte zugleich eine weitere Wirkung. Wie andere zu leistende Sicherheiten auch, entzog die Befolgung des Bescheides bare Mittel, ohne zur Tilgung zu führen, schränkte die Betroffenen mithin in ihrer Dispositionsfreiheit, die zur Ermöglichung der Auswanderung notwendig war, ein. Der Umfang der zu leistenden Abgabe — ein Viertel des Vermögens — verdeutlicht dabei diese Beschränkung, womit sich die Frage anschließt, ob dieser erhebliche Einschnitt durch die JVerA noch verstärkt wurde. Nach dem Erlaß des Reichsfinanzministers vom 7. 2. 1939 60 konnte der zu leistende Sicherheitsbetrag herabgesetzt werden, falls ausreichende Sicherheiten 57 Adler, 1972, S. 842 hat ein solches Beispiel wiedergegeben: A m 11.11. 1938 wurde der 1869 geborenen Frau Rosen der Sicherheitsbescheid nach § 7 zugestellt. Frau Rosen beglich die RFlSt in voller Höhe, wanderte dann jedoch nicht aus. 58 Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.2.a), insbesondere der dort wiedergegebene Erlaß des Reichsfinanzministers. 59 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.l.

3. Abschn. Β. Zahlungspflichten — Reichsfluchtsteuerverordnung

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für die sich aus der JVerA ergebenden Zahlungspflichten geleistet worden waren. Im übrigen wurde festgelegt, daß bei der Bemessung der RFlSt „ . . . von dem um die Judenvermögensabgabe gekürzten Vermögen auszugehen (ist)" 6 1 . Ob dies wirklich die Intention dieser Vergünstigung war, läßt sich nicht belegen. Möglich ist es ebenso, daß dieser Erlaß bezwecken sollte, die Verwaltungen von zusätzlichen Inzahlungnahmeverfahren freizustellen, zu denen es bei einer doppelten Abschöpfung barer Mittel verstärkt gekommen wäre. Außerdem spricht ein anderer Umstand gegen die Auffassung, diese sogenannte Vergünstigung habe der Auswanderungserleichterung gedient. Wäre es den NS-Machthabern wirklich darauf angekommen, die Auswanderung zu ermöglichen, hätte es der Systematik der RFlStV entsprochen, diese Erleichterung im Rahmen der Befreiung gesondert zu regeln, etwa mittels einer abgestuften Befreiungsmöglichkeit innerhalb des § 2 mit dem Inhalt, daß bei einer Behinderung der Auswanderung eine gestaffelte Reduzierung in Betracht gekommen wäre. Eine solche Regelung fehlt indes. Vielmehr wurde ausdrücklich festgestellt, daß eine Befreiung bei Juden regelmäßig ausscheide62. Ersetzt wurde diese — allein einer wirklich vorhandenen Absicht, die Auswanderung durch Abgaben nicht zu behindern, entsprechende — rechtliche Regelung ebensowenig von der sogenannten Vergünstigung, bei der Bemessung der RFlSt von dem um die auf der JVerA beruhenden Verpflichtungen gekürzten Vermögen auszugehen, denn sie führte keineswegs dazu, daß eine etwaige Auswanderung erleichtert wurde. Die Anrechnung war begrenzt und konnte schon deswegen einer in Folge der Abgabenerhebung individuell bestehenden Auswanderungsverhinderung kaum Rechnung tragen. Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß aufgrund der JVerA trotz der Anrechnung die Abgabenbelastung insgesamt anstieg. Eine wirkliche Anrechnung im Sinne der Vermeidung einer Doppelbelastung wäre möglich gewesen, indem man die geleistete Judenvermögensabgabe in Abzug von der anfallenden RFlSt gebracht hätte. Die bloße Reduzierung der Berechnungsgrundlage ist dagegen keine wirkliche Vergünstigung. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Ausgrenzungsqualität der RFlSt in der Abkopplung der Steuerpflicht von der Auswanderung, die der Sicherheitsbescheid gewährleistete, lag, liquide Mittel erneut entzogen und so die Auswanderung erschwert wurde. Der ursprüngliche Gesetzeszweck — Auswanderungsverhinderung — wurde auf diese Weise, wenn auch nicht durch die abschreckende Wirkung angedrohter Abgaben, sondern wegen der vorverlegten Erhebung erreicht. 60

Siehe dazu oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.2.a). RStBl. 1939, S. 250; Mussfeld, 1940, S. 41 begründete den Erlaß damit, daß „ . . . die doppelte Belastung mit der Judenvermögensabgabe und der Reichsfluchtsteuer ... die Auswanderung eines Juden nicht unmöglich machen (soll)." 62 Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.2. 61

16 Tarrab-Maslaton

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

IV. Ausgrenzungstechnik: „Aufsattelung" Die RFlStV ist innerhalb der die jüdische Minderheit treffenden Gesetze ein Beispiel für eine „Aufsattelungstechnik". Gemeint ist mit dieser Bezeichnung der Einsatz eines bestehenden Gesetzes in variierten Formen, um eine Ausgrenzung zu erreichen. Daß darin das Wesen der rechtlichen Mittel — sei es im Wege gesetzlicher Änderungen oder nachgeordneter Rechtsquellen — zu sehen ist, die die von der RFlSt bewirkte Diskriminierung ausmachte, zeigt sich an den Inhalten der Änderungen selbst. Sie betrafen sowohl die Freigrenze 63 sowie mehrfach die Geltungsdauer 64 . Die früher einsetzende Steuerpflicht ließ dabei das gesetzliche System der RFlSt unberührt. Daß diese Beibehaltung des Systems keineswegs zufallig, sondern gewollt war, beweisen die späteren Verlängerungen der RFlStV, da sie sich im wesentlichen auf die Verlängerungen selbst beschränkten und umfassendere Änderungen der RFlStV ausblieben. Neben diesem Umstand sind es zusätzliche Vorteile, die die NS-Machthaber dazu veranlaßten, die RFlStV in ihrer Konstruktion kaum verändert bestehen zu lassen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang § 9 mit seinem für die Weimarer Zeit exorbitanten Strafcharakter, der hinsichtlich der Härte der angedrohten Strafen und von seinen Nebenfolgen her — Steckbrief und Vermögensbeschlagnahme — nationalsozialistischen Bedürfnissen entsprach; eine Feststellung, die eindeutig durch das GWSt, also ein originäres NS-Gesetz belegbar ist 6 5 . Dieses Gesetz sah die gleichen Nebenfolgen wie die RFlStV vor. Es bestand deshalb keine Veranlassung, diesen Teil der RFlStV mit entsprechenden Regelungen zu versehen; eine schlichte Verlängerung reichte aus. Auch ein Optimierungsgesichtspunkt legte die möglichst unveränderte Fortgeltung der RFlStV nahe. Dabei ist hier zunächst an einen optimierten finanziellen Erfolg, der bezweckt war, gedacht 66 . Neue gesetzliche Vorschriften bergen das Risiko, in der Anwendung—wenigstens während der Anfangszeit — erhebliche Schwierigkeiten zu bringen. Bei Steuergesetzen ist dies verstärkt zu erwarten, enthalten sie doch naturgemäß unbestimmte Komponenten, denn vor der Steuererhebung kann nicht gesagt werden, welcher finanzielle Erfolg exakt 63

Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.2.a). Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt. B.II.2.a). 65 Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.I. Das GWSt entfaltete keine rückwirkende Kraft (siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.I.). Ein Umstand, der im Rahmen der RFlStV von Bedeutung war, stellte der Reichsfinanzhof doch fest, daß wegen des Fehlens dieser Wirkung auch derjenige reichsfluchtsteuerpflichtig werde, der vor dem 1.4. 1931 die Reichsstaatsangehörigkeit durch Einbürgerung erworben habe, und der Widerruf nach dem 1.4. 1931 erfolgt sei (Reichsfinanzhof in Steuer und Wirtschaft 1936, Teil II, S. 393 ff.). Siehe oben 2. Kapitel, . Abschnitt, .III.l. 64

3. Abschn. Β. Zahlungspflichten — Reichsfluchtsteuerverordnung

243

eintreten wird. Einkommen, Vermögen oder Umsatz, kurz der Gegenstand, auf den sich die Abgabe bezieht, ist ständigen Schwankungen unterworfen. Dadurch entstehen gerade in der Anwendung fortlaufende Probleme, und der Gesetzgeber kann kaum kalkulieren, welche Einnahmen zu erwarten sind. Die genaue Bestimmung des Steuerertrages ist es aber, die bei ehrgeizigen Projekten, wie es die NS-Aufrüstung fraglos war, enorme Bedeutung erlangt. Ohne den Ertrag kalkulieren zu können, stand die Realisierbarkeit solcher Projekte in Frage. Führt man dagegen ein gesetzliches Abgabeninstrument unter Beibehaltung hergebrachter Essentialia fort, profitiert der Staat von der Erfahrung der Finanzämter und kann so in einem Abgabensektor kalkulierbarere Ergebnisse erzielen. Entsprechend stellte Mußfeld, Regierungsrat im Reichsfinanzministerium und von daher mit der Verwaltungspraxis der Finanzämter vertraut, ein Jahr nach Kriegsbeginn fest: „Die Reichsfluchtsteuervorschriften haben sich in der gegenwärtigen Fassung (gemeint war die Fassung einschließlich des Jahres 1939)67 gut eingespielt. Jede Änderung außer der der Stichtage würde zu einer Beeinträchtigung des bisher sich reibungslos abwickelnden Verfahrens führen. Die Vorschriften sind deshalb weder abgemildert noch verschärft worden.. . " 6 8 . So optimal das vorgefundene Instrument war, so unbrauchbar, ja vollständig nutzlos drohte es zu werden. Die Auswanderung Deutscher tendierte gegen Null. Hier ist nun der exakte Schnittpunkt zwischen der nur finanziellen und der ausschließlich antisemitischen Gesetzgebung vorzufinden. Ohne Anwendungsbereich, d.h. ohne eine nennenswerte Zahl reichsfluchtsteuerpflichtiger Personen taugte das Institut nicht. Der Anwendungsbereich ergab sich indes zusehends aus der bewirkten Auswanderung der jüdischen Bevölkerung, wobei die legislativen Veränderungen selbst die Diskriminierungen hervorriefen 69 . Dieser Bewertung mag entgegengehalten werden, daß es sich verbiete, ein für alle Bürger und nicht allein für die Angehörigen einer Minderheit verbindliches Gesetz als diskriminierend zu bezeichnen. Teilte man diese Auffassung, würde aber ein wichtiger Punkt vergessen. Die Verlängerungen während der Dauer des Dritten Reiches wurden vorgenommen, als weitgehend bekannt war, daß die jüdische Bevölkerung von der RFlStV primär betroffen war. Es war daher unnötig, den Tatbestand ausdrücklich diskriminierend auf die jüdische Minderheit zu begrenzen, sondern derselbe Zweck wurde von einem weiterhin 67

Siehe oben 2. Kapitel, 3. Abschnitt, B.II.2. Mussfeld, 1940, S. 42. 69 Aus diesem Grunde ist es verkürzt, wenn Genschel, 1966, S. 258, Majer, 1982, S. 283 und Hilberg, 1982, S. 100 die erreichte Ausgrenzung als Folge einer auf die jüdische Minderheit konzentrierten Anwendung darstellen. Dabei vergessen sie die hier nachgezeichneten legislativen Akte — insbesondere die Verlängerungen —, ohne die die von ihnen hervorgehobene Art der Ausgrenzung unmöglich gewesen wäre. 68

16*

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2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

allgemeingültigen Gesetz, das regelmäßig die auszugrenzende Minderheit betraf, erreicht. Die Betonung der Allgemeingültigkeit verstanden im Sinne eines Gegensatzes zur Diskriminierung würde somit dazu führen, gewollte und rechtlich fixierte Beeinträchtigungen der Minorität nicht entsprechend zu bewerten. Hinsichtlich der RFlStV ließe diese Einschätzung zusätzlich einen weiteren Aspekt unberücksichtigt. Ein Gesetz ohne minderheitsbeschränkende Tatbestände läßt weniger leicht gewollte Einschränkungen der Minorität erkennen. Gerade zu Beginn der NSHerrschaft kam dieser Effekt den Machthabern gelegen, denn so war es möglich, internationale Reputation weniger zu schädigen. Ein Faktor, der 1934 — mithin im Zeitpunkt der ersten und entscheidenden Verlängerung der RFlStV — und wohl auch noch unmittelbar nach den Olympischen Spielen 1936 — zweite Verlängerung — wichtig war 7 0 . Schließlich ist es der „gesetzliche Output", der die hier vorgenommene Bewertung rechtfertigt. Für die Adressaten der Benachteiligung ist es nämlich unerheblich, wodurch der Gesetzgeber sie ihnen zufügt: Die Verlängerung eines allgemein verbindlichen Gesetzes mit faktisch reduziertem Anwendungsbereich entspricht aus dieser Sicht der Etablierung eines nur die Minderheit tatbestandlich treffenden Gesetzes. „Aufsattelung" ohne ausdrücklich formulierte Minderheitstatbestände stellt daher ebenfalls legislative Diskriminierung dar, sofern ein gesetzgeberischer oder ihm gleichwertiger Akt festzustellen ist. Bei der RFlStV waren dies die genannten Verlängerungen.

70 Zu solchen außenpolitischen Rücksichtnahmen siehe auch oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, C.I.l.

4. Abschnitt

Exkurs: Ideologische Zielsetzung und ökonomischer Ertrag Diese Relation betrifft die Frage nach dem Verhältnis zwischen nationalsozialistischer Rassenideologie und ökonomischer Nutzung der Unterdrückung. Dabei soll geklärt werden, ob ein gegensätzlicher Zusammenhang auszumachen ist; etwa in dem Sinne, daß der den rassischen Ansatzpunkt ausmachende Kern einer Vermischungsprävention und Rassentrennung nur zu Lasten ökonomischer Ausbeute gehen konnte. Das Verhältnis beider Aspekte konkretisiert sich an quantitativen Punkten der Auswanderung — als Zielerreichung der rassischen Ideologie — und ökonomischen Ergebnissen. Notwendig ist es dabei, eine zeitliche Zäsur im Jahre 1941 zu machen, da danach eine Auswanderung kaum mehr möglich war 1 . Von der Auswanderung aus dem Deutschen Reich im Jahre 1933, an der sich zusammenfassend die Wirkung der ersten legislativen Maßnahmen unter dem ideologischen Aspekt erkennen läßt, waren hauptsächlich politisch Engagierte und Freiberufler betroffen. Einen authentischen Hinweis geben die Berichte der Jüdischen Rundschau vom 15. September 1933 und 8. Juni 1934 sowie die Rosenstock-Studie2. Im Frühherbst 1933 waren danach 38000 Juden aus dem 1 Diese Zäsur ergibt sich aus den im Oktober 1941 beginnenden Deportationen, die von intern angeordneten endgültigen Auswanderungsverboten begleitet wurden. Adler „Der verwaltete Mensch", 1974, S. 27ff. hat die entsprechenden geheimen Weisungen Hitlers und Eichmanns widergegeben. Daraus geht hervor, daß an der Auswanderung insbesondere wegen der „ . . . kommenden Endlösung der Judenfrage ..." kein Interesse mehr bestehe. 2 Lamm, 1951, S. 209 ff. hat Berichte der Jüdischen Rundschau und eine Studie Rosenstocks bereits 1951 umfassend ausgewertet. A u f Lamms Arbeit gehen die hier wiedergegebenen Zahlen hauptsächlich zurück, da sie das differenzierteste Bild abgeben. Im Ergebnis weichen die Zahlen Genschels, 1966, S. 265 ff. und Adlers, 1974, S. 26 ff. davon nicht ab, lassen aber die verschiedenen Auswanderungspotentiale weniger genau erkennen und weisen nicht darauf hin, daß diese Zahlen überwiegend auf Schätzungen jüdischer Wohlfahrtsverbände zurückgehen, die mit der Auswanderung beschäftigt waren. Soweit ersichtlich hat allein Lamm die unveröffentlichte Studie Dr. Rosenstocks „5 Jahre jüdische Auswanderung" verwertet, die aufgrund der Ereignisse im November 1938 nicht mehr verlegt werden konnte. Rosenstock war im Rahmen seiner Arbeit für den Hilfsverein der Juden in Deutschland bis 1939 mit der Auswanderung beschäftigt. Allerdings gibt Lamm in seinem Literaturverzeichnis nur Rosenstocks Arbeit „With the Communities in Germany", London 1950, an und läßt offen, ob es sich dabei um die spätere Veröffentlichung des oben genannten Manuskripts handelt.

246

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Reichsgebiet ausgewandert, 1934 22000,1935 21000,1936 24500,1937 23500, 1938 14000 und bis zum 1. September 1939 weitere 78000 Personen. Somit waren knapp 50% der jüdischen Bevölkerung aus dem Reichsgebiet ausgewandert. Spitzen der Auswanderung sind dabei die Jahre 1933 und 1939. Sehr viel schwieriger ist es demgegenüber, möglichst genau den ökonomischen Ertrag der Diskriminierung zu beziffern. Dies geht darauf zurück, daß sich der Ertrag aus Abgaben einerseits und Verwertungsvorgängen wirtschaftlicher Substanz andererseits ergab. Hinsichtlich des erstgenannten Postens ist eine exakte Bezifferung möglich, da diese Beiträge allgemein erhoben wurden. Aus der Reichsfluchtsteuer ergaben sich von 1933-1938/39 Einnahmen von insgesamt 539 Mio. R M , wobei 1933/34 und 1938/39 die höchsten Ergebnisse erzielt wurden 3 . Die Juden Vermögensabgabe brachte bis einschließlich 1940 etwa 1,25 Mrd. R M ein 4 . Der Gesamtertrag des Staates bei anderen wirtschaftlichen Diskriminierungsmaßnahmen entzieht sich weitgehend einer zahlenmäßigen Festlegung. Zunächst erklärt sich dies aus dem Umstand, daß die finanziellen Ergebnisse der Arisierungsmaßnahmen insgesamt aus einer Summe im Ablauf völlig verschiedener Vorgänge resultierten: Wie genau der einzelne Betrieb unterbewertet wurde, welche Summen an den Eigentümer ausgekehrt wurden oder wo andere Erträge — etwa die der VAJW verblieben 5 — usw. machen ein solches Resümee schwerlich möglich. Und selbst da, wo exaktes Zahlenmaterial vorliegt, ist ein Gesamtertrag lediglich unzureichend zu beziffern. So bewirkte die VAJV zwar die Anmeldung vorhandenen jüdischen Vermögens, im Ergebnis 1938 eine Summe von 7.538 Mrd. R M 6 . Doch diese Zahl gibt allein Auskunft über Vermögen mit mehr als 50.000 R M und sagt hinsichtlich erzielter Einnahmen vor 1938 nichts aus. Möglich ist es aber, inhaltlich zwischen Substanz- und Abgabeerträgen zu differenzieren und zu fragen, wie sich die Auswanderung auf die verschiedenen Quellen auswirkte. Substanzverwertungen sind einmalige Vorgänge. Stellt man sie der Auswanderung voran, ergibt sich kein Gegensatz — vielmehr eine Ergänzung. Bei Abgaben ist eine weitere Differenzierung nötig. Hier kommt es darauf an, ob die Abgabe einmalig oder auf Dauer erhoben wird. Im ersten Fall ist es der Erhebungszeitpunkt, der entscheidet. Die Reichsfluchtsteuer war unmittelbar mit der Auswanderung verknüpft, so daß sie ebenfalls ergänzend wirkte. Nach der Auswanderung steht der diskriminierte Personenkreis etwa für Erwerbsabgaben — zum Beispiel Abgabe der Anwälte — indes nicht mehr zur Verfügung. Diese Quelle fallt dann aus. 3 4 5 6

Siehe Siehe Siehe Siehe

oben oben oben oben

2. 2. 1. 2.

Kapitel, Kapitel, Kapitel, Kapitel,

3. 3. 1. 2.

Abschnitt, Abschnitt, Abschnitt, Abschnitt,

B.III.2. A.III.2.a). C.II.3. B.IV.l.

4. Abschn. Exkurs

247

Kann man sich so den Erträgen nähern, fehlt zur Beurteilung dieser Summen deren negative Seite sprich die Kosten, die der NS-Staat aufwenden mußte, um die Erträge zu erzielen. Dabei ist zwischen staatsinternen und außenwirtschaftlichen Kosten zu unterscheiden. Eine Quantifizierung zusätzlicher administrativer Kosten ist praktisch unmöglich. Zwar kann vermutet werden, daß volkswirtschaftlich gesehen objektiv Mehrkosten anfielen. Exakten Aussagen steht jedoch der Umstand der Beschäftigung eines weitestgehend vorhandenen Beamtenapparats entgegen. Dessen Arbeitsbelastung schlägt sich aber nicht in quantifizierbaren Mehrkosten, sondern in Reibungsverlusten und etwaigen Verzögerungen nieder. Gemessen an den Erträgen dürfte diese Größe zu vernachlässigen sein. Die außenwirtschaftliche Lage war keineswegs problemlos. Gerade im Zusammenhang mit der Erstellung des 4-Jahres-Plans zeigten sich 1936 wirtschaftliche Schwächen, die der Realisierung der ehrgeizigen Rüstungs- und Kriegspläne Hitlers entgegenstanden7. Diese zusätzlichen Anforderungen überforderten die deutsche Wirtschaft. Außenwirtschaftliche Kosten der Diskriminierung müssen davon unterschieden werden. Sie betreffen nicht einen weiteren Bedarf zusätzlicher Wirtschaftskraft. Vielmehr hingen diese Kosten davon ab, wie sich Sanktionen der westlichen Wirtschaft als Reaktion auf die antijüdischen Maßnahmen auswirkten; Sanktionen, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem Erreichen des ideologischen Ziels der Auswanderung stehen. Jüdische Auswanderungszahlen zeigten den benachbarten Nationen, wie rassische Politik im Dritten Reich betrieben wurde. Daran wird deutlich, daß die Auswanderung neben Ertrags- bzw. Abgabenausfallen mittelbar volkswirtschaftlich weitere negative Relevanz nach sich zog; wie relevant, entschied der Grad außenwirtschaftlicher Abhängigkeit. Je größer diese war, desto eher konnten solche Kosten anfallen. Erbe hat nachgewiesen, daß bereits 1935 die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom westlichen Ausland ausgesprochen gering war. So handelte es sich bei der Konjunktur der Jahre 1933 -1938 um eine ausgesprochene Binnenkonjunktur, was die in dieser Zeit gleichbleibenden Prozentzahlen der Im- und Exporte bei dennoch steigendem Volkseinkommen zeigen. Auch die Rohstoffzufuhr hatte wegen der Verlagerung nach Südosteuropa, Vorderasien und Südamerika gesichert werden können, so daß die Boykottaktionen zu diesem Zeitpunkt — ab 1933 — praktisch wirkungslos waren 8 . Hinzu kam, daß Deutschlands außenpolitische Stärke aufgrund des englischen Flottenabkommens von 1935 und der Rheinlandbesetzung zugenommen hatte, mithin politisch kein Interesse an einer Verschärfung der Situation staatlicherseits bestand. Hinter dieser vergleichenden Ertrags-/Kostenbetrachtung steht die generelle Frage, in welchem Verhältnis nationalsozialistische Rassenideologie und Ökonomie standen. 7 8

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III. 1. Erbe, 1958, S. 76, 82.

248

2. Kapitel: Strukturen wirtschaftlicher Diskriminierung

Wenngleich diese grundsätzliche Frage im Rahmen dieses Exkurses nicht erschöpfend behandelt werden kann, so sollen doch Anhaltspunkte zur Klärung dieses Verhältnisses aufgezeigt werden: Finden sich Hinweise, daß man die Wirtschaft der Ideologie dienstbar machte? Verhielten sich beide dynamisch zueinander oder hatten möglicherweise wirtschaftliche Erfordernisse Priorität? Die Eliminierung der Juden aus der Wirtschaft gehört zu den Motiven des Antisemitismus, die seit dem 19. Jahrhundert vorhanden waren und von den Nationalsozialisten fortgeführt wurden 9 . Fritschs „Antisemiten-Katechismus" entwickelte sich entsprechend zum „Handbuch der Judenfrage" 10 und unter Bezugnahme auf ihn schreibt eines der ersten Mitglieder der nationalsozialistischen Reichstagsfraktion, Graf E. Reventlow: „Wirtschaftlich hat die jüdische Tätigkeit Deutschland nur geschadet, unterhöhlt und geschwächt... Jüdische Hochfinanz sei schuld an der Wirtschaftskrise des Jahres 1930 (und sie sei) ... mit wissenden Augen die Ursache der deutschen Wirtschaftskatastrophe geworden ...". Juden müßten daher aus dem deutschen Wirtschaftsleben verschwinden 11 . Der Ablauf der Eliminierung der Juden aus der Wirtschaft zeigt gegenüber diesem ideologischen Imperativ ein abgeschwächtes Bild. Göring stimmte die Nutzung jüdischer Güter auf machtpolitische Erfordernisse, insbesondere die Rüstung ab 1 2 . Jedoch wurde gleichzeitig der mittelständischen Parteistruktur Rechnung getragen, wenn auch eher psychologisch, denn mit unmittelbaren finanziellen Zuwendungen: Örtliche Fachgruppen bildeten Warenlager aus jüdischen Einzelhandelsgeschäften 13. Mochte der finanzielle Gewinn des einzelnen bei einem günstigen Erwerb von einzelnen Gegenständen kaum ins Gewicht fallen, so war doch der Eindruck gewährleistet, jüdisches Wuchergut würde dem deutschen Volk wieder zugeführt werden. Ähnlich psychologisch befriedigend wirkte die Schließung jüdischer Geschäfte, die indes gleichzeitig einen mittelbaren finanziellen Effekt zeitigte, weil der jüdische Konkurrent ausgeschaltet wurde. 9 Massing zeichnete die „Vorgeschichte des politischen Antisemitismus" 1959 nach. Theodor Fritsch hatte 1896 die „Deutsche Antisemitische Vereinigung" gegründet. Deren Programmatik, die Massing analysiert hat, wurde maßgeblich durch Fritschs Schrift „Antisemiten-Katechismus", 1891, bestimmt: Juden hätten alles käuflich gemacht, die Volksvertretung durch Bestechung unterwandert und am Börsenkrach verdient. 10

Fritsch „Handbuch der Judenfrage", 1938. Reventlow „Nationalsozialismus und Judentum", 1932, S. 185 ff. Eine weite Verbreitung fand der Beitrag Köhlers „Rassenkampf der Wirtschaft", 2. Aufl. 1938. Ausdrücklich forderte er darin eine „deutsche Wirtschaft anstatt Judenwirtschaft" und behauptete: „Die Wirtschaft war ein jüdisches Reich auf deutschem Boden und die nationalsozialistische Revolution nahm dieses Reich den Juden wieder ab." Mit welcher Vehemenz dieses ideologische Dogma verfolgt wurde, zeigen auch andere Überschriften einzelner Abschnitte dieser Schrift wie „Die jüdische Verwirtschaftung als Rassenkampf"; „Kein Ausgleich, keine Versöhnung", ebd., S. 1 ff. 11

12 13

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.III.l. Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.3.

4. Abschn. Exkurs

249

Dieser im Verhältnis zur strikt artikulierten Ideologie schwächere tatsächliche Befund bedeutet zunächst, daß zwischen Ökonomie und rassischer Anschauung ein Kräftespiel vorhanden war. Zugleich zeigt dies, daß sich weder für die Annahme, die Ideologie habe sich die Wirtschaft dienstbar gemacht, noch für die umgekehrte These überzeugende Indizien finden lassen. Versucht man deshalb dieses Kräftespiel näher zu umschreiben, gibt die historische Entwicklung Hinweise: Bis zum Sommer 1933 wurde das ideologische Postulat von unteren Parteigliederungen in Terroraktionen manifestiert. Wirklich durchgreifende, legislative Aktivitäten blieben hingegen aus, während sich Ende 1937 der ideologische Druck verstärkte. Gesetzlich fixierte Arisierungsmaßnahmen waren aber dann, wenigstens auch, ertragsorientiert — Rüstungsfinanzierung — und bewirkten eine straffe, staatlich zentralisierte — Beauftragter für den Vierjahresplan — Organisation der Arisierungsmaßnahmen. Ein Umstand, der einem völligen Ausleben unorganisierter antisemitischer Potentiale entgegenstand. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß rein quantitativ die Vertreibung keine Gefahrdung des finanziellen Ertrages bewirkte. Bezüglich der dahinter stehenden grundsätzlichen Frage des Verhältnisses zwischen Ideologie und Ökonomie ist feststellbar, daß sich eher Anhaltspunkte finden, die auf ein wechselndes, denn auf ein stetig gleichbleibendes Verhältnis dieser beiden Größen zueinander schließen lassen.

3. Kapitel

Wertendes Ergebnis/strukturierende Beschreibung der in den behandelten Vorschriften enthaltenen Diskriminierungselemente Nachfolgend werden, losgelöst von den einzelnen Gesetzen, resümierend die bislang ausgemachten Diskriminierungsqualitäten sowie die dazu eingesetzten rechtlichen Mittel dargestellt und schließlich werden beide wertend unter dem funktionalen Gesichtspunkt der Diskriminierungstauglichkeit rechtlicher Mittel zusammengeführt. 1. Diskriminierungsskala

Rechtliche Diskriminierungen weisen unterschiedliche Intensitäten auf, die sich durch eine Skala abbilden lassen: Ein vergleichsweise geringes Niveau erreichen kennzeichnende Regelungen. Ihr Ausgrenzungserfolg liegt zwar auch in der Kennzeichnung selbst, mehr aber in der Vorbereitung folgender Beeinträchtigungen 1. Qualitativ relevanter ist die Rechtsbeschneidung bzw. die Statuierung minoritätsbezogener Pflichten. Beide enthalten einen sachlichen sowie einen personellen Bereich. Rechtlicher Status, Erwerbsmöglichkeiten und wirtschaftliche Werte sind dabei die Gegenstände des sachlichen Feldes2. Der personelle Sektor teilt sich auf in Diskriminierungen des politischen Gegners, Teile der jüdischen Minderheit und potentiell der gesamten Minorität 3 . Ob ein optimaler Ausgrenzungsgrad konkret eintritt, hängt von der Kombination der Elemente ab. Sachlich ansetzende Regelungen verhalten sich dabei zueinander letztlich neutral, da sie in ihrer Gesamtheit gleichermaßen eine Existenzbedrohung nach sich ziehen.

1

Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, B.I. Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.b); 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.l.; 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l. 3 Siehe oben 2. Kapitel, 1. Abschnitt, C.II.l.; 2. Kapitel, 2. Abschnitt, A.II.; 2. Kapitel, 3. Abschnitt, A . I I . l . 2

3. Kapitel: Wertendes Ergebnis

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Je größer hingegen der erfaßte Personenkreis ist, desto direkter tritt der Ausgrenzungserfolg ein. 2. Rechtliche Mittel

Eingangs bedarf es der Feststellung, daß die in den bisherigen Kapiteln genannten Ausgrenzungen vorwiegend, keineswegs jedoch ausschließlich eine rechtliche Fixierung erfahren haben. Offen illegale Aktionen finden sich ebenso wie rechtsnahe Ausgrenzungen, etwa die Pflicht der Beamten, Fragebögen mit ihrem Vorgesetzten zu besprechen. Beiden Diskriminierungsaspekten fehlt wie der Justiz- und Verwaltungspraxis die Allgemeinverbindlichkeit. Genau diese Allgemeinverbindlichkeit besitzen die folgenden Regelungen: Es sind rechtliche Mittel mit Normcharakter. Sie können in Gebote, Verbote und Strafvorschriften aufgeteilt werden. Gebote sind teils an die Minorität direkt gerichtet; sie begründen unmittelbar, d.h. ohne daß es eines weiteren Schrittes der Verwaltung bedarf, Pflichten (direkt diskriminierende Verbote) 4 . Hingegen gibt es umgekehrt Gebote, die einen Umsetzungsakt gerade benötigen, mithin zunächst an die Verwaltung adressiert sind und ihr aufgeben, gegen die Minorität vorzugehen (verwaltungsbezogene Gebote) 5 . Beide Gebote unterscheiden sich darüber hinaus ebenso in ihrem tatbestandlichen Aufbau; ein Umstand, der sich bei den noch zu behandelnden Verboten und Strafvorschriften gleichermaßen nachweisen läßt. So sind im Feld direkt diskriminierender Gebote regelmäßig Tatbestände vorhanden, die inhaltlich einen überaus weiten Bereich abdecken; Generalklauseln6 werden dazu indes nicht herangezogen. Vielmehr werden präzise Formulierungen eingesetzt, die dem Adressaten kein Ermessen einräumen 7 . Stattdessen werden Imperative verwendet, die dem zu diskriminierenden Adressaten genau vorschreiben, wie er sich zu verhalten hat.

4

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.b); 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.b). Siehe oben 1. Kapitel, 1. Abschnitt, A.II.l.b); 1. Kapitel, 1. Abschnitt, B.II.l. 6 Siehe dazu oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l.b). 7 Der Begriff „Ermessen" ist dabei hier in einem erweiterten Sinne verwendet. Herkömmlich bedeutet Ermessen, daß das Handeln der Verwaltung nicht schon durch eine Rechtsvorschrift, die die Grundlage dafür bildet, eindeutig festgelegt ist, sondern daß die Behörde einen gewissen Spielraum bei der Frage des „Ob" und/oder des „Wie" des Handelns hat (Kopp, VwVfG 1983, S. 571 m.w.N.). Genau ein solcher Spielraum hinsichtlich des „Wie" ist auch hier gemeint, jedoch mit dem Unterschied — und deshalb Ermessen im weiteren Sinne —, daß der Adressat dieses „Wie" bzw. diesen Spielraum bei der Frage der gesetzlich statuierten Pflicht erhält. 5

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3. Kapitel: Wertendes Ergebnis

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß direkt diskriminierende Gebote weite, präzise und ohne Ermessen formulierte Tatbestände aufweisen. Demgegenüber ist es die Nutzung generalklauselartiger Vorschriften, die die verwaltungsbezogenen Gebote kennzeichnet, sei es mittels Einsatzes unscharfer Formulierungen, sei es durch nicht abschließende Aufzählungen. Ein weiterer Differenzierungspunkt resultiert aus der Einräumung von Ermessensspielräumen, die die Verwaltung zur Bewirkung individueller Ausgrenzungen nutzen konnte. Ein anderes rechtliches Mittel sind Verbote, also Vorschriften, die anordnen, ein Verhalten zu unterlassen. Gemeint sind damit nicht behördliche Verbote mit oder ohne Ausnahmemöglichkeit aufgrund ermächtigender Gesetze, weil sie nur einzelfallbezogen angeordnet wurden, sondern legislativ fixierte Unterlassungsanordnungen, die im Gegensatz dazu per definitionem ein größeres Diskriminierungspotential bereitstellen 8. Verbote haben mit direkten Geboten gemeinsam, daß präzise Formulierungen eingesetzt werden; dies reicht bis zu Legaldefmitionen, während Generalklauseln fehlen. Eignet sich das Begriffspaar präzise / Generalklausel zur Beschreibung tatbestandlicher Speziflka, so verändert sich dies kategoriebedingt beim Begriff des Ermessens. Die Verbote selbst stellen kein Ermessen bereit. Soweit repressive Verbote normiert sind, werden Abweichungen davon anders zugelassen, nämlich durch die Figur des Dispenses und seiner Ausgestaltung. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist ein solches repressives Verbot mit Dispens zulässig, wenn überragende öffentliche Interessen dies rechtfertigen, der Gesetzgeber selbst die Voraussetzungen der Dispenserteilung bindend festlegt und so rechtsstaatswidrigen willkürlichen Genehmigungserteilungen/ -versagungen vorbeugt 9 . Ein repressives Verbot enthielt das Spendensammlungsgesetz10 aus dem Jahre 1934, das bis in die 60iger Jahre angewendet und vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig beurteilt wurde 11 . In diesem Gesetz stand es im Ermessen der Behörden, ob nicht nationalsozialistischen Organisationen ein Dispens zur Spendensammlung erteilt wurde. Die Verfassungswidrigkeit ergab sich daraus, daß der Verwaltung im Ergebnis eine unbegrenzte Genehmigungsmöglichkeit eingeräumt wurde. Diese Aussage, die zugleich zeigt, daß die repressiven Verbote mit Dispens in der nationalsozialistischen Zeit dazu dienten, ohne jegliche Bindung und damit willkürlich exekutiv handeln zu können, gilt insgesamt für die hier behandelten repressiven Verbote der jüdischen Minderheit gegenüber. 8

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.II.l. Drews /Wache/Vogel/Martens, 1986, S.447f. 10 RGBl. 1934 I, S. 1086 und DVO SammlG RGBl. 1934 I, S. 1250. 11 BVerfGE 20, 150 ff.

9

3. Kapitel: Wertendes Ergebnis

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Bezogen auf die tatbestandliche Analyse zeigen diese Ausführungen folgendes: Der Begriff Ermessen ist bei Ge- und Verboten nutzbar; bei Verboten aber erst im Anschluß an einen Zwischenschritt. Er liegt darin, einen Dispens überhaupt festzuschreiben und seine Erteilung/Versagung einem schrankenlosen Ermessen zugänglich zu machen. Dadurch konnte im Ergebnis eine Dispenserteilung Juden gegenüber ausbleiben. Das Verbot galt ausnahmslos. Straftatbestände sind wiederum kategoriebedingt einer Beschreibung durch die bislang genutzten Begriffe entzogen. Ihr Diskriminierungspotential kann allerdings anhand des Umfangs strafbewehrten Verhaltens, der Schuldform, der Deliktsnatur sowie allgemein im Wege einer Skizzierung des Analogieverbots ausgemacht werden. Ersteres zeigen die Tatmodalitäten, die regelmäßig aus einer ganzen Gruppe von Verhaltensweisen bestanden, ohne gesondert die strafbegründende Handlungspflicht festzulegen 12. Diese weite Erfassung setzte sich in der Schuldform fort, wurde doch fahrlässiges Verhalten gleichermaßen bestraft. Im übrigen ist es die Deliktsnatur, die zu einer umfassenderen Strafandrohung führt — den Tatbestand also weit werden läßt. Ein Erfolgsdelikt setzt die Verletzung des Rechtsguts voraus, ein konkretes Gefährdungsdelikt macht weniger, nämlich die konkrete Gefahrdung strafbar, während das abstrakte Gefahrdungsdelikt im Prinzip die Gefährlichkeit eines Verhaltens an sich unter Strafe stellt. So betrachtet verwundert es nicht, daß ganz allgemein gefordert wurde, das neue nationalsozialistische Strafrecht ganz grundsätzlich als Gefährdungsstrafrecht auszugestalten13. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die Ausgestaltung der Strafvorschriften des BISchG als Gefahrdungsdelikte konsequente Folge dieses grundsätzlich anderen Strafrechtsverständnisses war. Im nationalsozialistischen Staat wurden Generalklauseln auch im Strafrecht bereitgestellt. Von entscheidender Bedeutung waren dabei indes keine Tatbestände des Besonderen Teils oder Strafvorschriften in Spezialgesetzen gegen die 12

Siehe oben 1. Kapitel, 2. Abschnitt, B.II.l.a). Diese Forderung ist entsprechend ein zentraler Punkt der Denkschrift des preußischen Justizministers über nationalsozialistisches Strafrecht (Nationalsozialistisches Strafrecht, Denkschrift des preußischen Justizministers, Berlin 1933), die der amtlichen Kommission zur Novellierung des Strafrechts vorlag und deren Ziel es war, das Strafrecht „ . . . von den liberalistischen individualistischen Schlacken" (Freister, DJ 1933, S. 623) zu befreien. Umfassend ist die Arbeit dieser Kommission, deren Abschluß durch den Kriegsbeginn ausblieb von Schubert/ Regge/ Riess/ Schmid „Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts", Berlin 1988, bearbeitet worden. Der Beitrag Lükens zur Strafrechtsgeschichte zeigt das Verhältnis des Nationalsozialismus zum materiellen Strafrecht, 1988, auf. Er kommt dabei nicht nur bezüglich der speziell gegen Juden gerichteten Straftatbestände, sondern allgemein zu dem Ergebnis, daß das materielle Strafrecht tiefe Einschnitte erfuhr und neues Strafrecht außerhalb bestehender Strafnormen durch einfache Verordnungen geschaffen wurde. 13

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3. Kapitel: Wertendes Ergebnis

jüdische Bevölkerung. Die Aufhebung des Analogieverbots und die Einführung des § 2 StGB, der das Strafanwendungsrecht umgestaltete, enthielt die wichtigste Generalklausel des Strafrechts 14. §2 StGB ermöglichte eine Bestrafung durch entsprechende Gesetzesanwendung, wenn „ . . . die Tat nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient . . . " 1 5 . Die Generalklausel des gesunden Volksempfindens gebe die Anschauung anständiger Leute wieder 16 . Gesund sei dabei nur die Rechtsanschauung, die der deutschen und nationalsozialistischen Rechtsidee entspreche 17 . Juden gegenüber wurde die Strafanwendungsvorschrift im Zusammenhang mit den §§ 1 und 2 des BISchG eingesetzt. Auslandstaten konnten nach dem Wortlaut nicht bestraft werden. Da das BISchG aber ein nationalsozialistisches Grundgesetz war, wurde über § 2 StGB auch die Auslandstat analog § 1 und 2 BISchG bestraft 18 . 3. Diskriminierungstauglichkeit rechtlicher Mittel

Kategoriebedingt weisen die verschiedenen rechtlichen Mittel unterschiedliche Ausgrenzungspotentiale auf. Sie können nun durch Vorstellung der rechtsformtypischen Diskriminierungsvor- und -nachteile abschließend konkretisiert werden. Verwaltungsbezogene Gebote stellten besonders spezialisierte Diskriminierungsmöglichkeiten bereit, weil sie es erlaubten, den erforderlichen Umsetzungsakt gegenüber dem zu Diskriminierenden ganz genau auf den einzelnen Fall abzustimmen. Die so statuierte Pflicht ist, eben weil sie lediglich einzelfallbezogen ist, extrem effektiv, ein Vorteil, der notwendig zwei Nachteile bewirkt: Zunächst ist ein Umsetzungsakt nötig, der den Nachteil des Zeitverlustes nach sich zieht, und zweitens wird nur der einzelne Fall erfaßt und nicht die breite Palette von Fällen. 14 Die umfangreiche Spezialliteratur zur Analogie ist in der Bibliographie Ruppings, 1985, S. 74ff. wiedergegeben. Zur weiteren Vertiefung hinsichtlich des Strafrechts im Nationalsozialismus wird auf die Habilitationsschrift Werls „Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich", 1989, sowie auf die Dissertation Lükens „Der Nationalsozialismus und das materielle Strafrecht", 1988, hingewiesen. 15

RGBl. 1935 I, S. 839. Wachinger, 1939, S. 76. 17 Dahm, DStrR, 1934, S. 97 ff. 18 Schönke, 1943, § 2 StGB IV.3. mit weiteren Anmerkungen; dazu auch Lüken, 1988, S. 289 f. unter Bezugnahme auf Crohne, 1938, S. 1240. Ausführlich widmete sich Stein „Gesetzesvorschriften über die Strafzumessung, insbesondere die Strafrahmen, im zukünftigen deutschen Strafrecht", 1935. Die hier nachgezeichnete damalige Auffassung zur Fixierung von Strafrahmen geht hauptsächlich auf diese Dissertation zurück. In der neueren Literatur hat Werle, 1989, S. 718 f., die damalige Vorgehensweise dargestellt. Er sieht den Schwerpunkt gleichfalls in der schlichten Erweiterung der Strafrahmen, allerdings flankiert von besonderen zusätzlichen Strafschärfungsgründen. 16

3. Kapitel: Wertendes Ergebnis

255

Vorteilhaft ist andererseits, daß verwaltungsbezogene Gebote Nachbesserungsmöglichkeiten in Richtung auf gesetzliche Fehler boten, d.h. etwaige Gesetzes-Diskriminierungslücken mit geringem Aufwand beseitigt werden konnten. Ein gerade im nationalsozialistischen Staat häufig auftretendes Problem ergab sich allerdings aus den diesem System wesenseigenen Kompetenzunklarheiten innerhalb der Verwaltung, die für zusätzliche Reibungsverluste sorgten. Unter dem Aspekt der Diskriminierung sind sie indes ambivalent zu beurteilen, bewirkten sie doch den Diskriminierungsvorteil, daß die auszugrenzende Minderheit ständig darüber im Unklaren gelassen wurde, wessen Weisungen verbindlich waren 19 . Direkt diskriminierende Gebote vermieden die Nachteile der verwaltungsbezogenen Gebote und boten aufgrund ihrer direkten Adressierung den Vorteil schnellen Wirkens in einer Vielzahl von Fällen, woraus allerdings umgekehrt ein geringerer Grad einzelfallspezifischer Effektivität folgte und ein Nachbessern zur Herstellung effektiverer Diskriminierung schwerer war. Gemeinsam ist beiden Gebotsarten, daß sie Pflichten statuieren. Noch einmal läßt sich sagen: Gebote statuieren Pflichten; sie sind als verwaltungsbezogene Gebote einzelfalleffektiv, aber zeitaufwendig, als direkte Gebote zeitlich effektiv, aber weniger falleffektiv. Verbote zeigen eine gewisse Gemeinsamkeit mit direkten Geboten. Diese hier haben den Vorteil schnellen Wirkens, da Umsetzungsakte entfallen. Die Allgemeingültigkeit der Verbote bewirkt die Erfassung breitester Kreise. Anders als Gebote stellen Verbote ein Mittel bereit, das geeignet war, eine geringere Wertigkeit der Minderheit der restlichen Bevölkerung gegenüber plastisch darzustellen. Rechte aller wurden zu Privilegien der Mehrheit und konnten so propagandistisch genutzt werden. Wichtiger ist aber ein Wesensunterschied zwischen Ge- und Verboten. Dieser Wesensunterschied liegt darin, daß Verbote nicht Pflichten statuieren, sondern Rechte entziehen. Für den legislativ Diskriminierenden bewirkt daher das Verbot — eben weil es nur Rechte entziehen kann — den Nachteil, wirtschaftliche Werte nicht nutzen zu können, wie dies durch die Wirkung der Gebote — Pflichtenstatuierung — möglich ist. Die Wirkung legislativer Untersagungen liegt somit mehr auf der Seite der Minderheit, die ipso iure durch sie benachteiligt wird. In einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen die Vorund Nachteile von Strafnormen, beurteilt man sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Diskriminierungstauglichkeit. Strafen eignen sich dazu, unterstützend zu wirken bezüglich aufgestellter Ge- und Verbote. Darin liegt aber zugleich die Schwäche dieser Instrumente, denn sie können ihr eigentliches Diskriminie19

Siehe oben 2. Kapitel, 2. Abschnitt, C.

256

3. Kapitel: Wertendes Ergebnis

rungspotential, die Sanktion, nicht von sich aus entfalten, sondern die Aktualisierung der Sanktion ist von der Nichtbeachtung anderer Vorschriften — der Tatbegehung — abhängig. Das dann bereitgestellte Potential ist allerdings qualitativ erheblich größer als von Ge- und Verboten, soweit Freiheitsstrafe und Konzentrationslager folgten.

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Anlage 1

273

Anlage 1

< I

I,

den

5 . Ho ν e m b e r

1334.

G - u t a c h t e n über erbbiologischen

und r a s s i s c h e n fl··^·^·.

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die

i · · · ,

Bezirk.

Oesterreich,

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wohnhaft

Luftschiffhalle,

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Eigenschaften

geboren

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Ή

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o f l H H H ·

1373

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geboren

2.

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uneheliches

l i s e h e n liagd

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gebürtig

und r ö m i s c h - k a t h o l i s c h

des R e g i e r u n g s k o m m i s s a r s

arischer

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Butter

Abstammung; u n d s t e t s

• • • • in

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vom 2 3 . 1 1 1 . 1 3 3 4

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Erkundigungen .urden l a u t

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getauft.

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- WÊ^MI,

3t.Stefan

der V a t e r

von:

I H ^ H

SroBmutter nichts

St.Stefan I X . 1934

in

beJfl·-

anscheinend

Anlage 1

274

/ i t :

a b s i c h t l i c h so beantwortet. Um diese Langel zu e r setzen wurde zur e r b b i o l o g i s c h e n und ras sekundlichen Untersuchung g e s c h r i t t e n und folgendes Die .• •

.. Ι · Ι

festgestellt:

;3sur.dheitlich 3 Untersuchung des

hat keine k ö r p e r l i c h e n und g e i s t i g e n

Krankheiten und Krankheitsanlagen f e s t s t e l l e n können· Lunge und herz s i n d von r e g e l r e c h t e r Beschaffenheit. Der o r i n e n t h a l t k e i n Eiweiß und k e i n Zucker. Die Beflexe sind r e g e l r e c h t . H i t den 13.Lebens j ä h r hat p · ·

- < Β Η Η meinen rechten Ellenbogen v e r -

s t a u c h t , wovon noch heute eine müBige Bewegungsbeschrlnkung zurückgeblieben i s t . I T ^ H I ^ H i s t

seinen

A l t e r entsprechend w e i t s i c h t i g . Seine Öhren s i n d ohne krankhafte Veränderungen und s e i n Gehör i s t noch v ö l l i g r e g e l r e c h t . An den G e s c h l e c h t s t e i l war eine k r a n k h a f t e Veränderung n i c h t nachweisbar. Die Wassermanns che B l u t r e a k t i o n f i e l n e g a t i v aus. P ' l ^ ·

^HHH

gehört

zur Blutgruppe 0. Die köperbaulich e Untersuchung des iïe·^·

hat ergeben, daß er 169 cm groß i s t ,

urmlünge 60 cm

P i · ·

die

und die Beinlänge 8o,5 cm b e t r ä g t .

Der Brustumfang hat 38/96/88 cm, der Beckenumfaug 37 cm und s t e h t damit i n harmonischem V e r h ä l t n i s . Das Gewicht b e t r ä g t S7 kg; der Schädelumfang 53,5 cm, der Kopfindex 80,64 und der Gesichtsindex 93,37. Die Haltung des P ^ · r e c h t , der Gang f r e i ,

ist

auf-

die i / i r b e l s ü u l e gleichmäßig

geschwungen und das Kreuz h o h l . Die beiden Beine s i n d schlank und haben eine r e g e l r e c h t e Aussparung. Die M i t t e l h a n d i s t schlank und schmal und die Finger sind l a n g ; ebenso sind die Fu3e l a n g . Die Farbe der

275

Anlage 1

- 3 -

M

Augen i s t blau, die iîasenwurcel i s t hoch, die I-Iasenf l i i g e l sind wagrecht, dar Hasenrucken i s t

gewellt

und die Ilasenspitze s p r i n g t scharf v o r . Die S t i r n e i s t hoch und s t e i l . Die Haare sind dunkelbraun, und s c h l i c h t · Die Körperbehaarung i s t Die U n t e r l i p p e i s t

dick

regelrecht.

aufgeworfen.

Das körperbauliche B i l d e r g i b t Menschen von a t h l e t i s c h - s c h l a n k e r

einen

Gestalt.

liach seiner rassischen Eigenschaft gehört

i v e l ^ ^ · · zu den harmonischen M i s c h l i n g e n

m i t uberwiegend nordischem Einschlag. Er i s t überwiegend n o r d i s c h , w e i l die Größe m i t 169 cm und der Kopfindex m i t 80,64 nur wenig vom nordischen Menschen abweicht, dessen Mindestgröße 170 cm und dessen Kopfindex b i s zu 79 bet r ä g t . Außerdem weicht N e · · ·

durch s e i n dunkles

dickes Haar, seine grobgemeißelten Gesichtszüge m i t s t e i l e r S t i r n e und s t a r k e r aufgeworfener

Unterlippe

und der a t h l e t i s c h - s c h l a n k e n G e s t a l t vom nordischen Menschen ab. Besonders diese l e t z t e r e n Merkmale lasser eine Blutmischung m i t der d i n a r i s c h e n Rasse erkennen. Der dinarische Mensch i s t

gleichfalls

170 cm groß, hat aber nur höchstens 85 Kopfindex und dickes schwarzes Haar und dunkle Augen. Von der o s t i s c h e n und westischen Hasse und von außereuropäischen Rassen sind keine Merkmale bei H e · ·

aufzufinden. Diese F e s t s t e l l u n g , daß

e i n harmoniocher M i s c h l i n g m i t uberwiegend nordischem Einschlag und d i n a r i s c h e r Blutmischung i s t ,

findet

i h r e Bestätigung i n don beiden Söhnen R ^ m ^ o d e r

Anlage 1

276

r m m t und J i ^ H I

- Ί · ^ · ·

wie i n den Gutachten über die

erbbiologi-

schen und rassischen Eigenschaften der beiden Söhne nachgewiesen i s t ,

i s t der ä l t e s t e Sohn H f l · ·

H · ! · i l e · · · e i n harmonischer M i s c h l i n g m i t

oder star-

kem d i n a r i s c h e n Einschlag und n o r d i s c h e r

Blutmischung

der zweite Sohn o ^ · · l i e · · · aber i s t

uberwiegend

n o r d i s c h e r Hasse. ü u f beigegebenen L i c h t b i l d e r n sind die Angaben nachzuprüf en. Jch fasse mein r j i d u r t e i l kurz f

·

zusagen:

x J e · · · i s t s e i n e r k ö r p e r b a u l i c h e n Zusammen-

setzung und seinen Itassenmerkmalen nach z w e i f e l s f r e i e i n a r i s c h e r Mensch f r e i von E r b k r a n k h e i t e n .

Anlage :

2 Lichtbilder.

Anlage 1

277

Anlage

Anlage 2 SRr. 48 — ì a g btr Stulgabe: Sttiin, ben 6. OTai 1933

258 gntafle

F r a g e b o g e n 3ur ©urdjfüijrung

Ì>e6 © e j e f e e s 3 i i r

bee S e r u f ö b e a m t e n t i i m s

5BieÎ>eri)erîteIlung

D o m 7 . SIpril 1 9 3 3

(SReidjfsgefefcbl. I 6.175)

1. flame Sornamrn SBo^nori unb SBetynung ©eburtSort, «tag, -monat unb «ja&r Äonftifioti (aucf) frühere Äonfeffton)

Ζ SlmtebQeidjnunfl 3. § 2 bee ©efetjee: a) SBann finb Sie tn bo8 ©eamienuer^Itnie eingetreten? î>urd> ®rnennung jum ßallÄ Teit 9. SRooember 1918: b) JCKibtn Sie bie füi 3$re l'aufbaÇn üop gefd>riebene ober ΰί>Ιϊφ« ©orbilbuug*)

ober

c) fonftige (Signung·) befeflen?

·) SJorbilbung unb Eignung fmb furj ju begriinben. Wti$6gr[rtjbl 1933 I

Anlage 2

«gefe&blûtt, 3erfteIIung beê ©erufS· beamtentum« com ll.Bpril 1933 (*ΚΓΪφδgefeibl. I e. 195) au § 3, 9lr. 2 Mbf. 1? HRacbtteife ju 4 c bi8 β gemäjj ber (Érften Serorbnuna jur 'DurtÇfityrung bee ©efedre jur ©ieber^erfleflung be« Serufebeamtentume oom I I . Stpril 1933 — JKeidjegefefcbl. I 6 . 195 — ju § 3, SRt. 2 abf. 2, fìnb beizufügen.) alfiere Angaben über bie «bftemmung: «Item: Piarne be8 Patere Vornamen etanb unb ©eruf SDofynort unb 2Do$nung (Beburteort, -tag, -monat unb «jat>r eterbeort, 'tag, -monat unb -ja&r Äonfefflon (aud) frühere Äonfeffton)

Anlage

280

Str. 4 8 —

ber «uêgobe: Berlin, ben 6. üJlai 1933

©rburtiname ber flutter Stornameli ©eburteort, «tag, .menât unb .ja^r 6ter6fort, -tag, -monat uub -jaÇr Äonfeffton (ουφ frühere Äcnfeffion)

©rofteltern: Warnt bee ©roSuater« (oäter^erfeiti) SJontamen etanbimb «eruf ffiofyiort ©eburtSort, -tag, »monat unb »ja^r 6terbeort, 'tag, «monat unb «ja^r Äonfeffton (ουφ frühere ftonfeffion)

©eburtêname ber ©rofimutter (oâte^erfeitS).. SBornamen ©eburteort, -tag, .monat unb 'jnljr Sterbeort, -tag, »monat unb «ja^r ftonfeffion iamb frühere ftonfeffion)

255

Anlage 2

256

HeicÇêgefefrbiait, 3a$rgang 1 9 3 3 , Zeil

I

9iame bei ©rofccaterS (müttfriie^erfeite)

ÎQornanun

۔anb unb Beruf

©otynort

©eburteort, -tag, -monat unb «ja$r . .

Sterbeort, -tag, ^monat unb «ja^r

Äonfeffton (οη φ frühere Äonfeffion)

®eburt8name ber (ftrofjm utter (mütte^erfeitS)

Sornamen

©eburtSort, «tag, -monat unb -ja$r

Sterbeort, «tag, 'monnt unb «ja^r

Äonfeffion (αιιφ frühere Äonfeffion)

5. § 4 bee ©efefce* unb 9lr. 3 ber «rften «Du^füfjrung&oerprfcnung oom ll.SIpril 1933: a)3BeM)en politiféen Parteien (jaben Sie bisher angehört? Ώοη η >αη η biê wann? ·)

b) ©aren Sie 3Äitalieb be8