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German Pages 258 Year 2015
Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 72 Abt. A: Abhandlungen zum Römischen Recht und zur Antiken Rechtsgeschichte
Recht im frühen Rom Gesammelte Aufsätze Von Joseph Georg Wolf
Duncker & Humblot · Berlin
JOSEPH GEORG WOLF
Recht im frühen Rom
Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Herausgegeben vom Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br.
Neue Folge · Band 72 Abt. A: Abhandlungen zum Römischen Recht und zur Antiken Rechtsgeschichte
Recht im frühen Rom Gesammelte Aufsätze
Von Joseph Georg Wolf
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Fotosatz Voigt, Berlin Druck: Prime Rate Kft., Budapest Printed in Hungary ISSN 0720-6704 ISBN 978-3-428-14592-8 (Print) ISBN 978-3-428-54592-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84592-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Der Sammelband ,Recht im frühen Rom‘ enthält Aufsätze und Vorträge, die in verschiedenen Zeitschriften, Festschriften und Akademieabhandlungen veröffentlicht worden sind. Hinzugefügt habe ich fünf bisher unveröffentlichte Vorträge, die ich vor einigen Jahren an verschiedenen Orten gehalten habe. Es schien mir angebracht, die so weit verstreuten Arbeiten in einem Sammelband zusammenzufassen. Der Gerda Henkel Stiftung, insbesondere Frau Dr. Kühnen und Herrn Dr. Hanssler, danke ich vielmals und herzlich für die Übernahme der Kosten des Sammelbandes. Im Verlag Duncker & Humblot danke ich ebenfalls herzlich Frau Heike Frank für ihre wirkungsvolle Unterstützung der Herstellung des Sammelbandes. Freiburg i. B. im Februar 2015
Joseph Georg Wolf
Inhalt Die XII Tafeln und die Magna Graecia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lanx und licium. Das Ritual der Haussuchung im altrömischen Recht . . . . . . . . . . .
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Der Legisaktionenprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zur legis actio sacramento in rem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Normdurchsetzung im römischen Zivilprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Funktion und Struktur der Mancipatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Mancipatio und legis actio sacramento in rem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 In mancipio esse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Die manumissio vindicta und der Freiheitsprozeß. Ein Rekonstruktionsversuch . . . 167 In iure cessio und manumissio vindicta: Überlegungen zu zwei archaischen Rechtsgeschäften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 ,Comitia, quae pro conlegio pontificum habentur‘. Zur Amtsautorität der Pontifices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Die literarische Überlieferung der Publikation der Fasten und Legisaktionen durch Gnaeus Flavius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Die XII Tafeln und die Magna Graecia I. 1. Zum Jahre 462 v. Chr. schreibt Titus Livius, daß der Volkstribun Terentilius Arsa ein die Macht und Willkür der Konsuln beschränkendes Gesetz forderte1. Im Jahre 454 war es soweit, Plebs und Patrizier verständigten sich über die Gesetzgebung, konnten sich aber nicht über den Gesetzgeber einigen.2 Um Zeit zu gewinnen, wurde eine Gesandtschaft von drei, bei Livius und Dionysius namentlich genannten Männern nach Athen geschickt, um die Gesetze Solons abzuschreiben und die Sitten und Rechte anderer griechischer Stadtstaaten zu erkunden. Als sie mit den attischen Gesetzen zurückgekehrt waren, wurden, wie Livius zum Jahre 452 berichtet3, wieder auf Drängen der Volkstribunen, eine Gesetzgebungskommission von zehn Männern (decem viri legibus scribundis) auf ein Jahr gewählt4, ausschließlich Patrizier, unter ihnen die drei Gesandten5. In der Kommission herrschte unica concordia, die größte Eintracht, und gegen Dritte zeigten die Männer größte Unparteilichkeit: summa adversus alios aequitas erat 6. Ihre Arbeit, die Gesetze7, stellten sie, auf zehn Tafeln geschrieben, öffentlich mit der Aufforderung aus, die Bürgerschaft möge Vorschläge zu ihrer Verbesserung machen8. Die verbesserten Gesetze wurden von den Centuriatskomitien gebilligt9, den zehn Tafeln aber im nächsten Jahr von einer zweiten Zehnmännerkommission10, die wieder nur aus Patriziern bestand, noch zwei Tafeln hinzugefügt. Auch diese beiden Tafeln wurden unter den Konsuln, die bald nach dem – durch den Virginia-Prozeß veranlaßten – Sturz der Kommission gewählt wurden11, von den Centuriatskomitien gebilligt – so daß fortan das Gesetzeswerk ,die Zwölftafeln‘ waren12. 1 Liv. 3. 9. 2, 3–5. Einzelne Vorgänge werden auch von anderen Autoren erwähnt und in Auswahl in den Anmerkungen angeführt. 2 Liv. 3. 31. 8. 3 Liv. 3. 32. 5–7. 4 Unter Suspension aller Magistraturen und auch des Volkstribunats. Stark verkürzt Cic. rep. 2. 36 (61). 5 Liv. 3. 33. 3–5. 6 Liv. 3. 33. 8. 7 Der Gesetzgebungsauftrag ist durch die Fasten gesichert: Wieacker, Die XII Tafeln in ihrem Jahrhundert, in Les origines de la republique Romaine, Fondation Hardt (1967) 294. 8 Liv. 3. 34. 1–5; Dion. Hal., Antiquitates Romanae 10. 57. 5. 9 Liv. 3. 34. 6. 10 B. Kübler, Decemviri, in RE 4 (1901) 2258/9. 11 Liv. 3. 54. 5–6; 3. 55. 1; Dion. Hal. ant. 10. 60; 11. 46.
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Cicero erwähnt die Gesandtschaft nach Athen weder in den libri de legibus noch in den libri de re publica, was vermuten lassen könnte, daß er von ihr nichts wusste. Auch Plutarch, in seinem Kapitel über Solon, sagt nichts über die Gesandtschaft, obwohl er aus Livius und Dionysius Halicarnassus von ihr sicher gewußt hat. Nach Pomponius sollen indessen die zehn Männer von den griechischen Städten Süditaliens die Gesetze erbeten haben, um auf ihnen das eigene Gemeinwesen zu gründen13. In den wenigen Fragmenten, die in den Digesten aus Gaius’ libri ad legem duodecim tabularum erhalten sind14, findet sich kein Wort über die Gesandtschaft nach Athen. Dionysius, der von 30 bis 8 v. Chr. in Rom gelehrt hat, berichtet dagegen nicht nur von Gesandten, die nach Athen, sondern auch von Gesandten, die zu den griechischen Städten in Süditalien geschickt worden sind15. Noch Augustinus will im ,Gottesstaat‘ wissen, daß die Römer, bald nach der Gründung ihrer Stadt, ,von den Athenern die Gesetze Solons geliehen haben16. 2. Bei dieser Quellenlage17 kann es nicht wundernehmen, daß die Meinungen unserer Literatur kontrovers sind. Extrem sind die Interpretationen des italienischen Historikers Pais18 und des französischen Rechtshistorikers Lambert19. Pais verwirft die überlieferte Entstehungsgeschichte der Zwölftafeln insgesamt und verlegt ihre Schlußredaktion in die Zeit des Appius Claudius Caecus, also in die Jahre um 300 v. Chr. Noch radikaler hält Lambert die Zwölftafeln für eine private Sammlung von Rechtsregeln, die er, mit Wahrscheinlichkeit, Sex. Aelius Paetus Catus20 zuschreibt, dem Konsul des Jahres 198 v. Chr. Er war Jurist, dessen Bildung und Gelehrsamkeit Ennius rühmt und später, wiederholt, auch Cicero21. In seinen Tripertita hat er den Text der Zwölftafeln wiedergegeben und dessen philologische und juristische Interpretation bis auf seine Tage dargestellt22. Pais’ und Lamberts Thesen haben nur Widerspruch gefunden. Schon Lenel hat sie
12 Liv. 3. 34. 7–8 zum Jahre 451. Stark verkürzt Tac. ann. 3. 27. Siehe auch Plinius ep. 8. 24. 4. Zur Überlieferung der Zwölftafeln Wieacker (cit. A. 7) 294–296. 13 D 1. 2. 2. 4 Pomponius libro singulari enchiridii. 14 O. Lenel, Palingenesia iuris civilis (1889) I 242–246. 15 Dion. Hal. ant. 10. 51. 5. 16 Aug. civ. 2. 16. 17 Die zahlreichen Widersprüche gerade auch in Livius verzeichnet Theodor Kipp, Geschichte der Quellen des römischen Rechts (4. Aufl. 1919) 33/4 A. 1. 18 Storia di Roma I (1898) 572, I (2. Aufl. 1899) 632. 19 Nouvelle Revue historiquede droit 26 (1902) 149; Le probleme de l’origine des XII Tables (1902). Dazu siehe etwa Wieacker (cit. 7) 297–299. 20 E. Klebs, Aelius Nr. 105, RE 1 (1893) 527. 21 Cic. rep. 1. 18. 30. 22 Paul Krüger, Geschichte der Quellen und Litteratur des römischen Rechts (2. Aufl. 1912) 59; Wieacker (cit. A. 7) 295 hält sie für die älteste Hauptquelle; Römische Rechtsgeschichte I (1988) 537.
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entschieden zurückgewiesen und bei dieser Gelegenheit nicht nur den Gesetzescharakter der Zwölftafeln herausgestellt, sondern auch ihre Gesetze als ihrer Zeit, dem 5. Jahrhundert, gemäß gewürdigt23. Der unverkennbar griechische Einfluß könne Zweifel an der Datierung des Gesetzes ebenfalls nicht begründen. Indessen verbirgt Lenel nicht seine Zweifel an der „Geschichtserzählung“, die wir bei Livius und Dionysius lesen. Auf Einzelheiten geht er nicht ein; aber daß die Gesandtschaft nach Athen nicht unter seine Zweifel fällt, ist kaum anzunehmen. Ludwig Mitteis24 räumt ein, daß man die ,Erzählung von der Gesandtschaft‘ für eine Legende oder doch für ,die Entstellung anderer Tatsachen‘ halten kann. Für Paul Krüger liegt auf der Hand, ,daß man nicht nach Athen zu gehen brauchte, um die Solonischen Gesetze in Abschrift zu erhalten‘. Theodor Kipp25 hält Livius’ Darstellung für eine Erzählung von Sagen, in denen die Gesandtschaft nach Athen nicht zu den Tatsachen gehörten, die feststehen. Für Bernhard Kübler26 sind die ,alten Annalisten‘ nacherzählten Berichte von Livius und Dionysius eine ,Sage‘. Leopold Wenger27 dagegen mißtraut nicht den ,einheitlichen Berichten über die Gesandtschaft nach Athen‘ und sieht keinen Anlaß, der ,modernen Kritik lieber zu folgen als den Quellen‘. Verstehen wir ihn richtig, so stellt er die Gesandtschaft nach Athen nicht in Frage. Max Kaser28 sieht in den Einzelheiten der überlieferten Berichte ,großenteils Legenden‘; insbesondere sei die ,Glaubwürdigkeit der Gesandtschaft‘ umstritten. Gerhard Radke29 spricht lediglich von ,bewußter Kontaktaufnahme mit griechischer Gesetzgebung‘. Für Wieacker30 sind ,Gesandtschaften der Dezemvirn nach Unteritalien und dem griechischen Mutterland‘ eher begründende Erfindungen als zutreffende Erinnerung an Vorgänge des 5. Jahrhunderts. Es seien die Widersprüche der Überlieferung, die diese Annahme nahe legten. 3. Die Widersprüche in den überlieferten Berichten und dieses bunte Meinungsbild lassen uns der Mehrheit der Stimmen beipflichten, daß die Gesandtschaft nach Athen eine Erfindung sein muß. Sie ist vermutlich veranlaßt durch die Übereinstimmung einiger Zwölftafelsätze (auf die wir bald zu sprechen kommen) mit solonischen Gesetzen. Daß allerdings diese Zwölftafelsätze der Ertrag
23 Geschichte und Quellen des römischen Rechts von C. G. Bruns, neu bearbeitet von Otto Lenel, in Holtzendorff-Kohler, Enzyclopädie der Rechtswissenschaft (7. Aufl. 1915) 324/5; zu Lambert insb. SZ 26 (1905) 498–524. Außerdem siehe Th. Kipp (cit. A. 17) 35 A. 4. 24 Römisches Privatrecht I (1908) 15. 25 Th. Kipp (cit. A. 16) 33–35. 26 Geschichte des römischen Rechts (1925) 20. 27 Die Quellen des römischen Rechts (1953) 365. 28 Römische Rechtsgeschichte (1967) 67. 29 Archaisches Latein (1981) 123. 30 Römische Rechtsgeschichte (1988) 302.
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der Gesandtschaft nach Athen gewesen wären, ist wohl auszuschließen. Und dies umso mehr, als Rom, wenn auch in Ständekämpfen zerrissen, keine unbedeutende Stadt mehr war und gewiß zu den griechischen – kulturell allemal überlegenen – Kolonien in Süditalien Verbindungen unterhielt: zu Kyme, Neapolis oder Poseidonia, zu Tarentum, Kaulonia, Lokroi oder Rhegion – alles längst etablierte Städte, wo sich der römische Gesetzgeber kundig machen konnte, und die vielleicht Roms Bürgerschaft auch dazu vermocht haben, zur Bindung und Zügelung der patrizischen Herrschaft ein Gesetz zu fordern. 4. Schließlich ist nicht zu übersehen, daß die Überlieferung erst im letzten republikanischen Jahrhunderte einsetzt, 350 Jahre und mehr, nachdem die Zwölftafeln Gesetz geworden waren. Als Livius mit 76 Jahren 17 n. Chr. starb, hatte er an seinem Geschichtswerk Ab urbe condita 40 Jahre gearbeitet. Schanz und Hosius sagen von ihm, daß ihn Quellenstudium nicht interessierte und „daß er keinen kritischen Geist besaß“ 31. Im Jahre 27 v. Chr. oder wenig später veröffentlichte er die ersten 5 Bücher und damit seine Darstellung der ereignisreichen Gesetzgebungsgeschichte: mehr als 400 Jahre nach dem wirklichen Geschehen. Der Grieche Dionysius Halicarnassus veröffentlichte 7 v. Chr. – ein Jahr, nachdem er Rom, wo er seit 30 v. Chr. lebte, wieder verlassen hatte – seine ,Römische Archäologie‘, ein Werk der rhetorischen Geschichtsschreibung, das mit dem 1. Punischen Krieg endete. Nach heutiger Kritik ist seine Darstellung oftmals ohne klare Kenntnisse der altrömischen Verhältnisse32 und darum auch für die Geschichte der Zwölftafeln nicht zuverlässig. Nach den Fasten, wie gelegentlich vermutet wurde, konnten Livius und Dionysius die Geschichte des 5. Jahrhunderts nicht rekonstruieren. Die von den pontifices – auf der Grundlage der mit wichtigen politischen und religiösen Ereignissen der Stadt adnotierten Fasten – in Buchform (Schriftrollen) angelegten annales maximi sind erst für das Jahr 404 v. Chr. bezeugt33. Und auch wenn das Datum ihrer Anlage früher anzusetzen wäre: als 387 v. Chr. Rom von den Galliern eingenommen wurde und die Stadt in Flammen aufging, sind die bis dahin geführten annales maximi vernichtet worden. Überzeugend bleibt aber vor allem, was schon Lenel34 zu bedenken gab und jetzt auch Wieacker35, daß nach 400 Jahren zuverlässige und „derart ins Einzelne 31 Martin Schanz, Carl Hosius, Geschichte der römischen Literatur (4. Aufl. 1935, Nachdruck 1980) 306–308. Ähnlich Gian Biagio Conte in F. Graf (Herausgeber), Einleitung in die lateinische Philologie (1997) 221–223, 222: „es fehlen ihm Rationalismus und Skepsis eines Sallust oder Tacitus“, 223: „so konnte historia zu rhetorischer Aktivität eher als zur Suche nach Wahrheit werden. Nach eigener Aussage stellt Livius die dramatische . . . Darstellung der Geschichte vor eine Wahrheitssuche um ihrer selbst willen.“ 32 Eduard Schwartz, Dionysios Nr. 113, in RE 5 (1903) 934/5; Michael von Albrecht, Dionysios Nr. 20, in Der kleine Pauly II (1967) 70. 33 Cic. rep. 1. 16. 25. 34 Lenel (cit. A. 22) 325. 35 Wieacker (cit. A. 29) 302/3.
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gehende Kunde über den Gang einer gesetzgeberischen Aktion des 5. Jahrhunderts“ nicht mehr vorhanden war. 5. Nach diesen Überlegungen halten wir fest: Die Zehnmännerkommission und ihre Machtfülle und auch ihre Datierung36 stehen nicht in Frage und erst recht nicht ihr Gesetzeswerk. Auch die Nachrichten über die zweite Kommission des folgenden Jahres, die den zehn Tafeln noch zwei hinzugefügt hat, und deren Sturz sind kaum zu bezweifeln. Die Gesandtschaft nach Athen dagegen unterliegt nicht nur härtestem Zweifel, man wird sie vielmehr als eine später erfundene Legende ausschließen müssen37. Damit werden griechischer Einfluß und griechische Vorbilder der Zwölftafelgesetzgebung nicht ausgeschlossen38. Im Gegenteil: es wäre eher verwunderlich, wenn die Zehnmännerkommission bei der intensiven Ausstrahlung der griechischen religiösen und säkularen Kultur auf Italien auch schon im 5. Jahrhundert auf Konsultation und Rat griechischer Städte im Süden oder auch Siziliens, von Neapolis etwa, Tarentum, Croton, Locri oder Syrakus39, die alle ihre Gesetze hatten und in Gesetzgebung erfahren waren, verzichtet hätte. Den Ertrag dieser Beratung nehmen wir uns jetzt vor. II. 1. Das Zwölftafelgesetz ist bekanntlich nicht überliefert. Cicero mußte noch als Knabe die Zwölftafeln wie ein carmen necessarium auswendig lernen, was nicht mehr üblich war, als er sich dessen nach 50 Jahren erinnerte40. Natürlich waren sie nicht mehr die Zwölftafeln in ihrer originalen Sprache; die Sprache hatte sich in den 350 Jahren, die seit der Gesetzgebung vergangen waren, enorm entwickelt, und das Gesetz war stufenweise angepaßt worden41. Was wir von den Zwölftafeln wissen, wissen wir sozusagen aus zweiter Hand, aus Zitaten, die, seltener, das Gesetz wörtlich wiedergeben oder, so meistens, seine Vorschriften und Regeln umschreiben. Darum kennen wir weder die Anzahl seiner Gebote und Verbote noch die Folge ihrer Ordnung. Denn nur ausnahmsweise wird auch die Tafel genannt. So schließen wir aus Cicero, daß die erste Tafel mit der Ladung vor Gericht, der in ius vocatio begann42; von Dionysius Halicarnassus erfahren wir, daß die Vorschriften über die patria potestas auf der vierten Tafel43 36
Wieacker (cit. A. 7) 310–314. Vincenzo Arangio-Ruiz, Storia del diritto Romano (1937) 60/1; Max Kaser, Römische Rechtsgeschichte (2. Aufl. 1967) 67; Wieacker RIDA 3 (1956) 468; (cit. A. 7) 344: „höchst unwahrscheinlich“; Studi Volterra (1971) III 782–784. 38 Paul Krüger (cit. A. 22) 14; Fritz Schulz, Prinzipien des römischen Rechts (1934, Nachdruck1954) 5; Wieacker (cit. A. 7) 330–332, 333–337. 39 Noch vor 450 gründete Syrakus auf Ischia, Korsika und Elba Niederlassungen. 40 Cic. leg. 2. 23. 59. 41 Gerhard Radke, Archaisches Latein (1981) 123–135; Giacomo Devoto, Geschichte der Sprache Roms (1968) 71–76, 86–90; Wieacker (cit. A. 7) 316–318. 42 Cic. leg. 2. 4. 9: A parvis enim Quinte didicimus, ,si in ius vocat‘ atque alia eius modi leges nominare. Siehe auch Gaius libro primo Ad legem duodecim tabularum D 50. 16. 233 pr. 43 Dionysius 2. 16. 4. 37
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und, wieder von Cicero, daß die Beschränkungen des Bestattungsluxus auf der zehnten Tafel standen44. 2. Es sind diese Beschränkungen des Bestattungsluxus, von denen Cicero sagt, daß sie fere, größtenteils, aus der Gesetzgebung Solons übernommen worden sind45. Das zeitliche Zusammenspiel paßt durchaus46. Die zum Ausgleich der Stände gedachten Reformgesetze Solons sind zu Beginn des 6. Jahrhunderts ergangen und wurden nach dem Ende des peloponnesischen Krieges im Jahre 403 v. Chr. durch Volksbeschluß in ihrer Geltung bestätigt47. Wann sie verfielen, ist offenbar nicht mehr auszumachen48. In den Städten der Magna Graecia, die sie in Teilen wahrscheinlich rezipiert hatten, galten sie vermutlich länger als in den Städten des Mutterlandes. a) Bei drei Luxusverboten wiederholt Cicero, daß sie aus der solonischen Gesetzgebung übernommen worden sind. Das Verbot, mehr als drei ricinia der Toten mit ins Grab zu geben49, sollen die decem viri mit nahezu denselben Worten auf die zehnte Tafel gesetzt haben: Cicero, de legibus 2. 25. 64 Postea quom, ut scribit Phalereus, sumptuosa fieri funera et Lamentabilia coepissent, Solonis lege sublata sunt, quam legem eisdem prope verbis nostri Xviri in decimam tabulam coniecerunt. Nam de t r i b u s r e c i n i i s et pleraque illa Solonis sunt.
Festus50 wollte wissen, daß die Verfasser der Zwölftafeln jedes viereckige Kleidungsstück recinium genannt haben. Wie der Mann das recinium als Toga, hätte die Frau das recinium als Obergewand getragen, versehen mit einem Purpursaum. An anderem, fast benachbartem Ort51 fügt Cicero den drei recinia noch eine tunicula purpurea hinzu, was außer Frage stellt, daß mit recinium ein Frauengewand bezeichnet wurde52. Der Purpursaum läßt nur den Schluß zu, daß das recinium das Kleidungsstück einer Frau der Oberschicht, vermutlich einer Frau senatorischen Ranges war. Einer Toten durften also nur drei recinia dieser Art
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Cic. leg. 2. 25. 64. Cic. leg. 2. 23. 59. 46 Solon wurde um 640 v. Chr. geboren und war 594/3 Archon und Schiedsrichter in Athen. 47 Plutarchos, Solon 25 berichtet, daß Solon seinen Gesetzen Rechtskraft für hundert Jahre gegeben habe. 48 Indessen siehe Aly, Solon, in RE III A (1927) 960/1. 49 Plutarchos, Solon 21 i. f. Die Dreizahl spielt auch sonst eine Rolle: Plut., Solon 20: wer eine Erbin heiratet, muß ,ihr jedenfalls dreimal monatlich beiwohnen‘; bei sonstigen Heiraten darf die Braut nur drei Gewänder mitbringen; 21: eine Frau, die eine Reise macht, durfte nur drei Kleider bei sich haben. 50 Festus s. v. recinium p. 274 M (Lindsay [1913] p. 342). 51 De legibus 2. 23. 59. 52 Siehe auch Nonius Marcellus s. v. ricinium. 45
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und eine purpurne Tunica mit ins Grab gegeben werden. Zugleich macht diese Beschränkung aber auch deutlich, daß ihr Adressat nicht jedermann, sondern gezielt die Frauen der Oberschicht waren53. b) Im selben Text folgt unmittelbar auf die Beschränkung der Grabbeigaben das Verbot der Totenklage: Cicero, de legibus 2. 25. 64 Nam de tribus reciniis et pleraque illa Solonis sunt; de lamentis vero expressa verbis sunt: MULIERES GENAS NE RADUNTO NEVE LESSUM FUNERIS ERGO HABENTO. Cicero, de legibus 2. 23. 59 Extenuato igitur sumptu tribus ricinis et tunicula purpurea et decem tibicinibus, tollit etiam lamentationem: MULIERES GENAS NE RADUNTO NEVE LESSUM FUNERIS ERGO HABENTO. L. Aelius lessum quasi iudicio verum esse, quia lex Solonis id Ipsum vetat. Haec laudabilia et locupletibus fere cum plebe Communia. Quod quidem maxime e natura et tolli fortunae Discrimen in morte.
Wieder sagt Cicero, daß das Verbot der Totenklage schon ein Gesetz Solons war54. Die Klageweiber waren keine Verwandten, sie waren sozusagen ,gemietet‘ und wurden für ihr Tun bezahlt. Mulieres genas ne radunto war für Festus55 das Verbot, sich mit den Fingernägeln die Wangen so aufzukratzen56, daß Blut floß. Und Servius zitiert in seinem Kommentar zu Vergils Aeneis57 Varro mit der Erklärung, daß mit dem Blut der Klageweiber ,den Göttern der Unterwelt‘ Genüge getan werden sollte. Lessum lesen wir nur bei Cicero58. Eine etymologische Erklärung des Wortes gibt es nicht59. Lucius Aelius Stilo, dem Cicero folgte, hat lessus als ,Trauergeheule‘ gedeutet60; wir übersetzen das Wort mit ,Totenklage‘. Cicero hält auch 53 Joachim Marquardt, Das Privatleben der Römer (2. Aufl. 1886, Nachdruck 1964) 345: „Solenne Begräbnisse sind in Rom nur bei hochgestellten Personen und Mitgliedern vornehmer Familien üblich. Sie wurden schon früh dazu benutzt, den Glanz und das Ansehen des Hauses dem Volke vor Augen zu stellen und daher mit einer Pracht ausgestattet, welche die erste Veranlassung zu den Luxusgesetzen gegeben hat.“ 54 Plutarchos, Solon 21 i. f. 55 Festus p. 273 M (Lindsay 1913 Seite 338). 56 Plinius n. h. 11. 157; Servius in Vergilii Aeneida 12. 606; Cic. Tusc. 2. 55. 57 Servius in Vergilii Aeneida 3. 67. 58 Cic. leg. 2. 25. 64; 2. 23. 59. 59 A. Walde, J. B. Hofmann, Lateinisches etymologisches Wörterbuch (4. Aufl. 1965) I 787; A. Ernout, a. Meillet, Dictionnaire étymologique de la langue latine (4. Aufl. 1985) 352. 60 M. Schanz, C. Hosius, Geschichte der römischen Literatur (4. Aufl. 1927, Nachdruck 1979) 232/3: eher in einem lexikographischen Werk als in einem Kommentar zu den XII Tafeln. Ähnlich Goetz, L. Aelius Nr. 144, in RE 1 (1893) 532. H. Blümer, Die römischen Privataltertümer (1911) 490.
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dieses Verbot für eine lobenswerte Regelung, weil es die Reichen gleichstellt mit der plebs – was wieder nur den Schluß zuläßt, daß ausschließlich die besser gestellte Oberschicht Klageweiber anstellen konnte, so wie auch nur sie der Adressat der Beschränkungen der Grabbeigaben war. c) Im selben Zusammenhang berichtet Cicero, daß die Zwölftafeln mit der Beschränkung des Bestattungsaufwands auf zehn Flötenbläser auch der Gesetzgebung Solons gefolgt sind61: Cicero, de legibus 2. 23. 59 Extenuato igitur sumptu tribus ricinis et tunicula purpurea et d e c e m t i b i c i n i b u s tollit etiam lamentationem: MULIERES GENAS NE RADUNTO NEVE LESSUM FUNERIS ERGO HABENTO.
Diese Beschränkung kann keinen anderen Anlaß gehabt haben als die Einschränkung der Grabbeigaben und das Verbot der Totenklage, ihr Adressat mithin auch hier nicht der einfache Mann, sondern die wohlhabende Oberschicht, die mehr als zehn Flötenbläser verpflichten konnte. 3. Bei den übrigen, verhältnismäßig zahlreichen Verboten der zehnten Tafel wird über ihr Vorbild oder ihre Herkunft nichts gesagt. Verboten werden nämlich außerdem: den Leichnam in urbe zu bestatten oder zu verbrennen; die Hölzer für den Scheiterhaufen zu glätten; den Scheiterhaufen aufwendig zu besprengen; longae coronae dem Toten mit in das Grab zu geben (mit Ausnahme durch Leistung erworbener Kränze); Gold dem Toten mitzugeben (mit Ausnahme von Zahngold: dentes auro iuncti); den Leichnam gewerbsmäßig von Sklavenhand salben zu lassen; dem Toten einen Myrrhe-Trunk einzuflößen; vor der Totenbahre in einem Kästchen Weihrauch zu brennen (acerra ara, quae ante mortuum poni solebat, in qua odores incendebant 62) und, schließlich, einen Umtrunk zu reichen. Das eine oder andere dieser Verbote könnte aus Solons Gesetzgebung übernommen oder einem seiner Gesetze nachgebildet sein. Cicero bemerkt immerhin dreimal, daß die Bestimmungen der zehnten Tafel , die den Begräbnisluxus einschränken, großenteils aus der solonischen Gesetzgebung übernommen worden sind63: Cicero, de legibus 2. 23. 59 Iam c e t e r a i n X I I minuendi sumptus sunt lamentationisque funebris, t r a n s l a t a s e S o l o n i s f e r e l e g i b u s . Cicero, de legibus 2. 24. 60 C e t e r a quidem funebria quibus luctus augetur X I I s u s t u l e r u n t . 61
Weitere Quellen bei Blümer (cit. A. 60) 491 A. 12. Festus-Paulus p. 18 M. 63 Wieacker RIDA 3 (1956) 474: Das meiste dieser Vorgänge kennten wir aus den etruskischen Grabkammern insbesondere von Tarquinia, deren Malereien zwischen 530 und 470 anzusetzen wären. Und da mit dem Sturz der Könige etruskisches Adelsleben aus Rom nicht verschwand, hätten die decem viri die solonische Gesetzgebung nicht auszuschreiben brauchen. Auch großgriechische Parallelen bräuchten nicht bemüht zu werden. Wenige Jahrzehnte später wären diese Verbote nicht mehr aktuell gewesen. 62
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Cicero, de legibus 2. 25. 64 Nam de tribus reciniis et p l e r a q u e i l l a S o l o n i s s u n t .
Wie Cicero diese Kenntnisse erworben hat, ist nicht ersichtlich. Man hat erwogen, daß im Nachhinein Parallelen zu den eigenen Gesetzen in Solons Gesetzgebung entdeckt wurden, im 3. oder 2. Jahrhundert v. Chr., und diese Entdeckung dazu geführt hat, die Abhängigkeit von den solonischen Vorbildern zu konstruieren. Doch diese Vorstellung zufälligen Gleichlaufs ist eher eine Zumutung und hat auch keine Gefolgschaft gefunden. Vielmehr liegt nahe, daß Cicero sein Wissen aus dem Zwölftafelkommentar seines Lehrers Lucius Aelius Stilo64 erlangt hat und Aelius Stilo seine Kenntnisse vermutlich aus den annales maximi. Wenn eine Überlieferung Wahrscheinlichkeit beanspruchen darf, so ist es diese – mit der Folge, daß Ciceros Angaben zur Herkunft der Zwölftafelsätze zwar nicht das Ergebnis eigener Nachforschungen, aber doch einer zuverlässigen Überlieferung sind. Diese Überlieferung gewinnt alle Glaubwürdigkeit durch den gesellschaftlichen Umbruch in den Jahrzehnten nach der Vertreibung der etruskischen Könige. Die Plebs setzte ihre Forderungen durch mit der dauernden Abkehr von den hierarchischen etruskischen Gesellschaftsformen, mit ihrer eigenen definitiven Konstituierung65 und eben den Zwölftafeln, die die erstrebte Rechtsgleichheit zu einem guten Teil brachte. 4. Ebenso deutlich und für unser Thema noch erheblicher ist die großgriechische Ausstrahlung auf Rom auch schon in diesen Jahren66: angeführt von Kyme, nach Strabon der ältesten griechischen Kolonie in Italien und Sizilien, die Rom das Alphabet gebracht haben soll und deren sibyllinische Bücher von Rom eingeholt worden sind. Schon 493 v. Chr. haben die tribuni plebis den Kult der drei Gottheiten Ceres, Liber und Libera in Rom eingeführt67; 484 v. Chr. wurde die aedis Castoris geweiht, einer Gottheit zweifellos griechischer Herkunft und in den griechischen Städten Süditaliens besonders verehrt68, und früher schon, 495 v. Chr., der Kult des Mercurius, des Gottes der Kaufleute, gegründet69 – vermutlich in Zusammenhang mit der Einrichtung des collegium mercatorum, das den von großgriechischen Städten vermittelten Handel mit dem griechischen Mutter64 Cic. Brutus 56. 205. Daß Aelius einen Zwölftafelkommentar geschrieben hat, bezweifelt Goetz, Aelius Nr. 144, in RE 1 (1893) 533. 65 Vermutlich in Zusammenhang mit der Einrichtung des Volkstribunates bei der ersten secessio 494 v. Chr. – was vielfach bestritten wird. 66 Wieacker (cit. A. 7) 334/5. 67 Auf Anweisung der sibyllinischen Bücher. Das nach den griechischen Gottheiten benannte und von griechischen Künstlern ausgeschmückte Heiligtum war der sakrale Mittelpunkt der plebeischen Gemeinde: Georg Wissowa, Religion und Kultus der Römer (2. Aufl. 1912) 297/8; Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte (1960) 161/2. 68 Wissowa (cit. A. 66) 268–271; Latte (cit. A 66) 173–176. 69 Wissowa (cit. A. 66) 304–306; Latte (cit. A 66) 162/3.
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land betreute; nicht zu vergessen die Beteiligung griechischer Künstler und Handwerker bei dem Bau und der Ausschmückung römischer Tempel; schließlich die wachsende wirtschaftliche Dominanz von Syrakus auch in Latium seit etwa 475 v. Chr. In diesem Umfeld, einer vielfachen Durchdringung des religiösen, kulturellen und auch wirtschaftlichen Lebens Italiens und der Stadt Rom, konnte es nicht ausbleiben, daß auch die Zwölftafelkommission die Stadtrechte griechischer Städte als Vorbild und auch die Erfahrung dieser Städte durch Austausch und Ratsuche genutzt hat. Mit welchen Städten oder welcher Stadt Austausch und Beratung stattgefunden haben, ist ungewiß. Poena, entlehnt aus dem griechisch-dorischen poina70, könnte auf Kroton oder Lokroi weisen. Von einer krotonischen Gesetzgebung ist nichts bekannt, und um die Mitte des 5. Jahrhunderts war Kroton, nach zermürbenden Kriegen, seit Jahren im Niedergang. Lokroi dagegen, wohl noch im 8. Jahrhundert gegründet, eine Kolonie mit gemischter Bevölkerung, aber dorischem Dialekt, könnte Roms Ratgeber gewesen sein. Seine Gesetzgebung noch im 7. Jahrhundert soll die erste in Europa gewesen sein71, was, wie sich versteht, nicht ausschließt, daß sie später korrigiert oder auch ergänzt worden ist – der Stadtstaat mithin durchaus solonische Gesetze übernommen haben kann. Diese Hypothese ist indessen äußerst schwach und eher zu vernachlässigen. Die Mitwirkung eines Hermodor bei der Abfassung oder Redaktion der Zwölftafeln können wir übergehen; sie ist eine Legende72. 5. Ein starkes und vielleicht das überzeugendste Argument für griechische Beratung und Übernahme solonischer Gesetze sind Stil und Grammatik der Zwölftafelsätze. Die Zwölftafeltexte, die uns in Fragmenten vorliegen, sind nicht die Gesetzestexte in ihrer ursprünglichen Fassung. Sie liegen uns vor „in verjüngter Gestalt“; an ihnen hat sich „die nationale Grammatik herangebildet“ – Einsichten, die wir Eduard Norden verdanken73; sie sind „lautlich meist modernisiert, aber für Formenlehre, Wortgebrauch und Syntax eine reiche Quelle“. Viele Formeln seien identisch mit griechischen des Rechts von Gortyn; ein Zusammenhang sei unzweifelhaft. Das unmittelbare Vorbild für die decem viri könnten aber nur die Kodifikationen der griechischen Kolonien Süditaliens gewesen sein. Das griechische Vorbild ist darin unübersehbar, daß die knappe Klarheit der Zwölftafelsätze der gesamtem späteren römischen Gesetzgebung fremd ist. Zwei70 A. Ernout, a. Meillet, Dictionnaire étymologique de la langue latine (4. Aufl. 1985) 518. 71 William Oldfather, Lokroi, in RE 13 (1927) 1318–1324; Kurt von Fritz, Zaleukos, in RE IX A (1967) 2298–2301. 72 Friedrich Münzer, Hermodoros Nr. 3, in RE 8 (1912) 859–861: Wieacker RIDA 3 (1956) 468; (cit. 7) 343/4. 73 Eduard Norden, Die römische Literatur (5. Aufl. 1954) 7.
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gliedrige Sätze wie Si in ius vocat ito oder Ni it antestamino oder Patronus si clienti fraudem fecerit sacer esto sind durch (das nicht mehr parataktische, sondern) hypotaktische Satzgefüge, durch den bedingenden Nebensatz (si, ni), klare und vor allem auch allgemein gültige Normen. Diese fachgerechte Einordnung wird von den dreigliedrigen Sätzen, deren syntaktisches Gefüge zwei Bedingungen aufweist, bestätigt: Si membrum rupsit, ni cum eo pacit, talio esto oder Si nox furtum faxsit, si im occisit, iure caesus esto. Dieser Befund verleiht dem allgemein gültigen Rechtssatz sprachlich den – bis heute – eindeutigen sinngerechten Ausdruck. Die im Wortlaut überlieferten Zwölftafelsätze haben durchweg diese angemessene sprachliche Gestalt – auch soweit sie unbedingt und darum eingliedrig und, wie die mehrgliederigen Ausdrucksweisen, von allgemeiner Geltung sind: Igitur en capito oder Post meridiem praesenti litem addicito oder Adsiduo vindex adsiduus esto oder Hominem mortuum in urbe ne sepelito neve urito. Es ist nicht zu übersehen, daß die meisten Zwölftafelsätze syntaktisch Bedingungssätze sind, gelegentlich in Verbindung mit Relativsätzen, so etwa in dem Gesetz Si volet suo vivito. Ni suo vivit, q u i eum vinctum habebit, libras farris endo dies dato. Si volet, plus dato. Darum ist oft die Frage gestellt worden, ob die lateinische Sprache, gleich der griechischen, schon in der Mitte des 5. Jahrhunderts dieser syntaktischen Gestaltung fähig war. Sie ist mit der Einschränkung beantwortet worden, daß solche grammatische Gestaltung in dieser frühen Zeit ohne das Vorbild und Beispiel griechischer Rechtsaufzeichnungen kaum möglich gewesen wäre74. 6. Unter dieser Voraussetzung ist auch die Annahme gestattet, daß nicht nur die Gesetze, deren Herkunft Cicero vermerkt, aus griechischen Vorgaben übernommen, sondern auch die einschränkenden Verbote, deren Herkunft nicht ausdrücklich vermerkt wird, griechischen Vorlagen entlehnt oder nach griechischem Vorbild verfaßt worden sind. Das entspräche der wiederholten Anmerkung Ciceros, daß die Einschränkungen des Begräbnisluxus großenteils – über die Magna Graecia, wie wir meinen – aus der solonischen Gesetzgebung herrühren. Zu denken wäre an die Verbote, in urbe zu bestatten und zu verbrennen; das Holz für den Scheiterhaufen mit der Axt zu glätten; oder den Scheiterhaufen aufwendig zu besprengen. 7. Außerdem wären auch Gesetze zu untersuchen, die wir in unsere Überlegungen nicht einbezogen haben. Als Beispiel zu nennen wäre etwa die Satzungsautonomie: das Gesetz, das Gemeinschaften aller Art – Kollegien, Brüder- und Genossenschaften, Handwerkern und selbst Tischgenossen – das Recht einräumt, sich verbindliche Regeln zu geben, die allgemeine Gesetze nicht verletzen. Darüber berichtet Gaius in seinen libri ad legem duodecim tabularum75 mit dem 74 Paul Krüger (cit. A. 22) 14/5; Fritz Schulz (cit. A. 38) 5; Wieacker RIDA 3 (1956) 487–491. 75 D 47. 22. 4. (= XII T. 8 Nr. 27). Wieacker RIDA 3 (1956) 469.
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Hinweis, daß dieses Gesetz ex lege Solonis in die Zwölftafeln übernommen worden ist. – Oder das Zwölftafelgesetz, das wir durch Festus kennen76 und das jedem erlaubte, mit Zug- und Lasttieren ein fremdes Grundstück beliebig zu durchqueren, wenn kein Weg mit Steinen markiert war: VIAM MUNITO: NI SAM DELAPIDASSINT, QUA VOLET IUMENTO AGITO. – Und ein letztes Beispiel: Tacitus schreibt in seinen Annalen77, daß ein Gesetz der Zwölftafeln den Darlehenszins auf 1/12 des Kapitals beschränkte, ein Verbot, von dem er auch zu Recht bemerkt, daß es gegen die wohlhabende Oberschicht gerichtet war: nam primo duodecim tabulis sanctum, ne quis unciario fenore amplius exerceret, cum antea ex libidine locupletium agitaretur. Die unterschiedlichen Überlieferungswege, den diese Nachrichten genommen haben, verlangen spezifische Analysen, die hier nicht vorgesehen waren und einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben. III. Auf den Sturz der etruskischen Herrschaft folgte ein Jahrzehnte währender Ständekampf, in dem sich die Plebs organisierte und als Einheit konstituierte. Ihr Ziel war die Überwindung ihrer Benachteiligung, war Teilhabe an der Ordnung und Führung des Gemeinwesens, war Isonomie. Die Zwölftafeln sind ein Markstein dieser Bewegung, und die Gesetze, die den Begräbnisluxus einschränken, ein deutlicher Ausdruck der erstrebten Gleichberechtigung. Ihre Nachbildung solonischer Gesetze oder gar der solonischen Gesetzgebung ist darum keine Überraschung78. Denn auch Solons Gesetzgebung war ein ,revolutionärer Bruch mit dem alten Recht‘79 und ihre Absicht der Ausgleich der Stände, die Gleichheit vor dem Gesetz80.
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Festus p. 371 M (= XII T. 7 Nr. 7). Wieacker RIDA 3 (1956) 476. Tacitus ann. 6. 16. 2. Cicero leg. 2. 59. 64; Livius 3. 31. 8. Wolfgang Aly, Solon, in RE 3 A 958. W. Aly (cit. 79) 965.
Lanx und licium Das Ritual der Haussuchung im altrömischen Recht Nach Zwölftafelrecht ist fur manifestus auch der Dieb, der durch die Haussuchung lance et licio überführt wird.1 Vor Gericht gebracht, wird er, weil seine Tat für offenkundig gilt, in einem summarischen Verfahren alsbald dem Bestohlenen addiziert, der ihn dann töten darf.2 Daß die Tat für offenkundig gilt, wenn der Dieb durch die Haussuchung lance et licio überführt wird, läßt uns – begünstigt durch ein reiches, nicht nur indoeuropäisches Vergleichsmaterial auch erkennen, daß diese Haussuchung an Gerüft und Spurfolge gebunden war.3 Das Ritual, das bei der Haussuchung selbst beachtet werden mußte, und das ihr den Namen der quaestio lance et licio gegeben hat, hat dagegen eine schlüssige Erklärung bis heute nicht gefunden. Dabei hat es an Erklärungsversuchen seit jeher nicht gefehlt. Sie sind vor kurzem noch einmal sorgfältig von Franz Horak gemustert worden,4 dessen negative Bilanz auch neuen Versuchen die ungünstigste Prognose stellt.5 I. 1. Die ersten direkten Nachrichten über die dezemvirale Haussuchung lance et licio stammen aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert. Unsere Gewährsmänner sind Gaius, Gellius und Festus, deren Berichte freilich eine literarische Tradition repräsentieren, die über die Juristen und Antiquare der späten Republik und frühen Kaiserzeit wohl auf die tripertita des Sex. Aelius Catus, also immerhin bis in die Zeit um 200 v. Chr. zurückführt.6 Die wichtigste Quelle ist Gaius. Nach seinem Bericht gaben die Zwölf Tafeln dem Bestohlenen das Recht, ein fremdes Haus nach der ihm gestohlenen Sache 1
Gai. 3, 192; Gell. 11, 18, 9. Gai. 3, 189. 3 Aus der reichen Literatur: W. Schulze, SB Akad. Berlin 1918, 481 ff. = Kleine Schriften (Göttingen 1934) 160 ff.; Cl. Frh. v. Schwerin, Die Formen der Haussuchung in indogermanischen Rechten (Mannheim 1924) 45 ff.; Rabel, SZ 52 (1932) 478; L. L. Hammerich, Clamor (Kopenhagen 1941) 6 ff., 22 ff.; Wieacker, Festschrift Wenger I (München 1944) 154 ff.; D. Daube, Studies in Biblical Law (Cambridge1947) 190 ff. 4 RE sv. Quaestio lance et licio (1963). 5 Horak, aaO. 801. Schwerin, aaO. 32: „Andere als hypothetische Erklärungen werden sich für lance licioque überhaupt nicht finden lassen.“ 6 Vgl. Wieacker, XII Tafeln 295. 2
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zu durchsuchen. Dabei bestimmten sie, ut qui quaerere velit, nudus quaerat, licio cinctus, lancem habens.7 Bei Gellius wird diese Haussuchung quaestio cum lance et licio genannt8, ein durch sie erwiesenes furtum: per lancem et licium conceptum.9 Neben diesen Wendungen war zur näheren Bezeichnung der quaestio auch ein bloßes lance et licio üblich, dessen Bedeutung eine in der Epitome des Paulus Diaconus erhaltene Festus-Glosse erklärt.10 Sie lautet: Lance et licio dicebatur apud antiquos, quia qui furtum ibat quaerere in domo aliena licio cinctus intrabat, lancemque ante oculos tenebat propter matrum familiae auf virginum praesentiam.
2. Über den Wortlaut der Zwölftafelsätze läßt sich diesen Zeugnissen so gut wie nichts entnehmen. Für sicher darf nur gelten, daß in ihnen die Worte lanx und licium vorkamen. Unbegründet ist aber die verbreitete Annahme, diese Worte hätten in der Verbindung lance et licio in den Zwölf Tafeln gestanden;11 auch die Alliteration, auf die viele verweisen, ist dafür kein Indiz.12 Die griffige Formel lance et licio kann vielmehr ebensogut eine außer- oder nachdezemvirale Bildung zur Bezeichnung der förmlichen Haussuchung sein. 3. Über das Ritual der dezemviralen Haussuchung gewinnen wir dagegen folgendes Bild. Dreierlei schrieb es vor: Der Haussuchende mußte nackt, licio cinctus und mit einer lanx ausgerüstet sein. Diese drei Erfordernisse sind freilich nicht gleichmäßig belegt. Daß lanx und licium Requisiten des Rituals waren, verbürgt die Bezeichnung der quaestio. Daß mit dem licium der Haussuchende cinctus war, berichtet Gaius und bezeugt mit denselben Worten die Festus-Glosse. Über die lanx hören wir dagegen auch von Gaius nur, daß der Haussuchende sie ,haben‘ mußte (lancem habens), während die Festus-Glosse überliefert, daß er sie ,vor die Augen hielt‘ (ante oculos tenebat).13 Für das Erfordernis der Nacktheit steht von unseren Autoren jedenfalls Gaius ein, unterstützt von der Turiner Institutionenglosse, die aber vielleicht nur wieder 7
3, 192. 16, 10, 8. 9 11, 18, 9. 10 Festus-Paulus p. 117 M. 11 So bekanntlich auch alle Ausgaben seit R. Schöll, Legis duodecim tabularum reliquiae (Leipzig 1866) 147. 12 In den als Zwölftafeltext überlieferten Sätzen und Worten sucht man vergeblich nach einer alliterierenden Verbindung. Dazu E. Wölfflin, SB Akad. München 1861, II, 29 = Ausgewählte Schriften (Leipzig 1933) 242. 13 Von unbestimmtem Wert ist die Turiner Institutionen-Glosse 466: Ita enim fiebat, ut is, qui in alienam domum introibat ad requirendam rem furtivam, nudus ingrediebatur discum fictilem in capite portans, utrisque manibus detentus (ed. P. Krüger, Ztschr. f. Rechtsgesch. 7 [1868] 78). 8
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ihn selbst reproduziert.14 Als indirektes Zeugnis darf aber auch die Festus-Stelle in Anspruch genommen werden. Nach Festus hält der Haussuchende die lanx vor die Augen propter matrum familiae aut virginum praesentiam. Diese Begründung macht keinen Sinn. Sie bleibt ungereimt auch in der Auslegung, die ihr zuerst Heineccius15 gegeben hat, daß nämlich der Haussuchende, weil er sich seiner Nacktheit schämt, vor den Frauen des Hauses sein Antlitz verbarg. Die Erklärung propter matrum familiae aut virginum praesentiam paßt dagegen gut zu licio cinctus, wenn man, wie Gaius16 und andere antike Schriftsteller,17 das licium als eine Art Kleidungsstück zur Bedeckung der partes necessariae deutet. Man wird daher annehmen müssen, daß Verrius Flaccus mit propter matrum familiae aut virginum praesentiam die Bestimmung licio cinctus erklärt hat, und diese Erklärung wohl erst in der Epitome des Paulus Diaconus auf die lanx bezogen worden ist. Auf licio cinctus gemünzt, setzt die Erklärung aber voraus, daß der Haussuchende nackt war.18
4. Die dezemvirale Haussuchung lance et licio ist frühzeitig außer Brauch gekommen.19 Sicher hat schon das 2. vorchristliche Jahrhundert sie nicht mehr gekannt. Als in Rom antiquarisches Interesse erwachte, hatte sich jede Anschauung von ihrem Ritual längst verloren. Das Überlieferungswissen war auf die Nachrichten geschrumpft, die dann auch uns noch erreicht haben. Den Römern der ausgehenden Republik waren die Zwölftafelvorschriften, daß der Haussuchende nackt sein, licio cinctus sein und eine lanx haben mußte, so rätselhaft, wie sie uns erscheinen. Der Schlüssel zu ihrem Verständnis ist die Bedeutung von licio cinctus. Licium heißt ,Faden‘ und kann eine Kordel, ein Band oder eine Schnur sein,20 wie etwa in dem alten inlicium vocare, der Einberufung des Volkes in den durch ein licium eingehegten Abstimmungsbezirk.21 Die antiken Schriftsteller konnten sich mit dieser Bedeutung von licium keinen Reim auf licio cinctus machen. Gaius sah keinen anderen Ausweg als die Annahme, die schon Verrius Flaccus vertreten oder erwogen hat,22 licium sei hier consuti genus, quo partes necessariae tegerentur, eine Art (wohl mit dem licium) Zusammengenähtes, also ein Kleidungs14
Siehe Anm. 13. Antiquitatum Romanarum iurisprudentiam illustrantiam Syntagma5 (Straßburg 1741) IV 1, 19. 16 3, 193: Quid sit autem licium, quaesitum est: sed verius est consuti genus esse, quo necessariae partes tegerentur. 17 Das ergibt sich aus Gaius’ sed verius est. 18 Um diesen Hinweis wäre dann die Glosse von Paulus verkürzt worden, und zwar, wie andere Glossen, unter dem Gesichtspunkt, die Erläuterung strickt auf das Stichwort, hier lance et licio, zu beschränken. Horak, aaO. 797 hält propter matrum familiae aut virginum praesentiam für eine „spätere Glosse“. 19 Dazu Horak, aaO. 789. Außerdem s. Daube, aaO. 288 f. 20 Eine gute Übersicht bei Forcellini sv. Licium. 21 Varro, ling. 6, 86; 88; 94; 95; Festus-Paulus p. 113 M. 22 Oben nach Anm. 17. 15
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stück zur Bedeckung der partes necessariae.23 Diese hilflose Sinngebung ist ersichtlich durch das Gebot der Nacktheit inspiriert worden. Gleichwohl hat die moderne Romanistik sie zunächst ohne Zögern übernommen – als läge nicht auf der Hand, daß Gaius mit dieser Hypothese völlig im Dunkeln tappte. Es muß die Suggestion des indoeuropäischen Vergleichsmaterials gewesen sein, die für die Übernahme dieser antiken Erklärung alle methodische Rücksicht suspendiert hat. Nur für einen Schurz (wie man licium denn sofort übersetzte), nicht aber für einen Faden finden sich nämlich Parallelen in den Haussuchungsformen der germanischen Rechte und des griechischen Rechtsbereichs.24 Gegen Jhering und Leist, Pernice und Mommsen25 hat von den älteren allein Karlowa26 licium richtig mit ,Faden‘ übersetzt; konnte aber erst Schwerins schöne Untersuchung über „Die Formen der Haussuchung in indogermanischen Rechten“ durchsetzen, daß eine Erklärung von licio cinctus, weil „methodisch allein zulässig“, „von der sicheren Bedeutung licium = Faden“ ausgehen muß.27 Schwerin war dann freilich ebenso ratlos wie die antiken Interpreten. Seine Lösung ist eines der verwegensten Beispiele rechtsvergleichender Auslegung. Die Bindung der Haussuchung an Gerüft und Spurfolge ist in den germanischen Quellen deutlich und für die römische quaestio wahrscheinlich. Schwerin wollte mehr.28 Er legte licium die metaphorische Bedeutung ,Spur‘ bei, schlug vor, für lanx doch lax (ein Wort, das wir nur aus Festus kennen29) zu nehmen, und kam so für lance et licio zu der Erklärung „durch listige Verfolgung der Spur“. Sein Kritiker Goldmann30 entschied sich für die von Schwerin31 verworfene Hypothese, daß der Haussuchende den Faden als Apotropäikum umgelegt habe;32 die lanx hielt er für einen Zauberspiegel, mit dessen Hilfe das Unbekannte erforscht, nämlich „der Dieb in zauberischer Weise ermittelt werden“ sollte.33 Nach anderen, vor allem neueren Erklärungen waren lanx und licium ursprünglich oder auch noch unter den Zwölf Tafeln reine Zweckgeräte. Bei Kar23 3, 193 (s. Anm. 16); leider erfahren wir nichts über die anderen Erklärungen, auf die nur das sed verius est hindeutet. 24 Vgl. Schwerin, aaO. 7 ff., 15 ff. 25 Jhering, Geist des röm. Rechts II, 14 (Leipzig 1880) 159 Anm. 208; ders. Vorgeschichte der Indoeuropäer (Leipzig 1894) 14 ff.; B. W. Leist, Graeco-italische Rechtsgesch. (Jena 1884) 248; A. Pernice, SZ 17 (1896) 181 Anm. 8; Th. Mommsen, Röm. Strafrecht (Leipzig 1899) 748 mit Anm. 2. 26 Röm. Reditsgesch. II 1 (Leipzig 1901) 778 f. 27 S. 15. Dazu Horak, aaO. 793 f. 28 S. 31 f. 29 Festus-Paulus p. 116 M. sv. Lacit: decipiendo inducit. Lax etenim fraus est. 30 Germ. Abt. 45 (1925) 457 f., insb. 468. 31 S. 30. 32 Dazu Horak, aaO. 796. 33 SZ Germ. Abt. 45 (1925) 465 ff. Dazu Horak, aaO. 799 ff.
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lowa34 sind sie Symbole für einmal wirklich verwendete „Werkzeuge“, die lanx für „das Mittel der Wegnahme der Sache“, das licium für „das Mittel der Fesselung des Diebes“. Kaser35 hält heute für wahrscheinlicher, daß der Strick, für den er licium nimmt, auch noch zur Zwölftafelzeit als wirkliche Fessel vom Haussuchenden mitgeführt wurde; die lanx deutet er dagegen, wie schon Rudorff und Leist, als Opferschale.36 Für Kunkel,37 der sich auf H. Fränkel beruft, und für Wieacker38 schließlich ist licium der Strick zum Fortführen des wiedergefundenen Tieres, lanx die Schüssel zum Wegschaffen anderer Mobilien. Alle diese Erklärungen des licium lassen die Überlieferung außer acht, daß der Haussuchende mit dem Faden oder der Schnur cinctus war.39 Auch wenn cinctus nicht heißen muß, daß er mit dem licium ,gegürtet‘ war, vielmehr jeder Körperteil cinctus sein kann, sind diese Deutungen mit dem Gebot licio cinctus nicht vereinbar. In Wirklichkeit liefert gerade die bei Gaius und Festus überlieferte Wortverbindung licio cinctus den Schlüssel zur Lösung. II. Nach einem Satz von Varro,40 den eine dichte Überlieferung absichert, trugen die Flamines, weil sie stets capite velato, verhüllten Hauptes, waren, immer auch einen Faden, oder besser: ein Band um den Kopf geschlungen: caput habebant cinctum filo. Nach dem Vorgang Wolfgang Helbigs41 läßt sich zeigen, daß diese Kopftracht ursprünglich nicht auf Priester beschränkt, daß sie vielmehr in dem Jahrhundert vor den Zwölf Tafeln die allgemeine Kopftracht bei kultischen Handlungen war. 1. Für die Flamines war es nefas, barhäuptig aufzutreten.42 Ihre eigentliche Kopfbedeckung, die für den Flamen Dialis immer vorgeschrieben blieb,43 war der pilleus, ein auf allen Darstellungen steifer, kegel- oder kuppelförmiger, meist
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AaO. 779. AJ 340. 36 A. F. Rudorff, Röm. Rechtsgesch. II (Leipzig 1859) 352 Anm. 21; Leist, aaO. 249; ebenso jetzt auch J. M. Polak, Symbolae van Oven (Leiden 1946) 252 ff., und, vorsichtig abwägend, Horak, aaO. 797 ff., 801. 37 P. Jörs, Röm. Privatrecht, 2 neu bearb. v. W. Kunkel (Berlin 1935) 254 Anm. 10. 38 RIDA3 3 (1956) 479 f. 39 Insoweit zutreffend Horak, aaO. 795 f. unter 4. und 6. 40 Ling. 5, 84 (s. zu Anm. 71). 41 Über den Pilleus der alten Italiker, SB Akad. München 1880, 487 ff. Ergänzend und weiterführend E. Samter, Der Pilleus der röm. Priester und Freigelassenen, Philologus 53 (1894) 537 ff., wiederholt in: Familienfeste der Griechen und Römer (Berlin 1901) 33 f. 42 Serv. Aen. 8, 664 (s. Anm. 50). 43 Gell. 10, 15, 16 u. 17. 35
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hoher Hut.44 An ihm war als Zeichen der priesterlichen Würde eine virga befestigt, wohl ein Ölzweig,45 der den pilleus überragte. Die virga wurde von einem wollenen filum gehalten, mit dem der pilleus umwunden war. Sie hieß apex.46 Die Grammatiker leiten diese Bezeichnung von apere her, das nach Festus die Alten für comprehendere vinculo gebraucht haben.47 Nach diesem Attribut, dem apex, wurde auch der ganze pilleus so genannt.48 Und nach diesem seinem Namen apex hieß wieder das wollene filum, mit dem der pilleus umwunden war, apiculum, Kleiner apex’: apiculum filum quo flamines velatum apicem gerunt.49 Diese Bezeichnung des filum als apiculum erklärt sich sofort, wenn neben dem apex auch das bloße filum als Kopftracht üblich war. Tatsächlich trugen die Flamines, mit Ausnahme des Flamen Dialis, wenn sie nicht in vollem Ornat auftraten, statt des apex das bloße filum.50
44 Der pilleus war einmal, wie Helbig nachgewiesen hat, die allgemeine Kopftracht des freien Mannes und scheint, wenn wir die tarquinischen Grabmalereien auch für Rom als Zeugnis nehmen dürfen, nicht vor dem 5. Jh. außer Mode gekommen zu sein. Die spätere Zeit kennt den pilleus nur noch als außergewöhnliche Kopfbedeckung: bei den Saturnalien (Martial. 11, 6, 4 u. 14, 1, 2); als Zeichen der erlangten Freiheit (s. Anm. 54); und als die zum Ornat gehörige Kopftracht der Flamines, Pontifices (etwa Festus p. 355 M.) und Salier (Dion. Hal. 2. 70. 2). 45 Gegen Helbig, aaO. 511: Samter, aaO. 537 f.; ebenso J. Marquardt, Römische Staatsverwaltung 1112, bes. v. G. Wissowa (Leipzig 1885) 330. 46 46 Serv. auct. Aen. 10, 270: . . . dicitur autem apex virga, quae in summo pilleo flaminum lana circumdata et filo conligata erat, unde etiam flamines vocabantur. hoc autem nomen a veteribus tractum est: apere enim veteres ritu flaminum adligare dicebant; unde apicem dictum volunt. – Serv. Aen. 2, 683: Apex proprie dicitur in summo flaminis pilleo virga lanata, hoc est, in cuius extremitate modica lana est. – Festus-Paulus p. 10 M.: Albogalerus a galea nominatus, est enim pilleum capitis, quo Diales flamines, i. e. sacerdotes lovis utebantur; fiebat enim ex hostia alba lovi caesa, cui affigebatur apex virgula oleaginea. Vgl. Festus-Paulus p. 18 M. (s. Anm. 47); Serv. Aen. 8, 664 (s. Anm. 50) und Isid. etym. 19, 30, 5 (s. Anm. 48). 47 Festus-Paulus p. 18 M. sv. Apex: qui est sacerdotum insigne, dictus est ab eo, quod comprehendere antiqui vinculo apere decebant. Vgl. Serv. auct. Aen. 10, 270 (s. Anm. 46) und Isid. etym. 19, 30, 5 (s. Anm. 48). 48 Zum Beispiel Gell. 10, 15, 16; Suet. bei Serv. auct. Aen. 2, 683; Isid. etym. 19, 30, 5: Apex est pilleum sutile quod sacerdotes gentiles utebantur, appellatus ab apiendo, id est adligendo. Nam virgula, quae in pilleo erat, conectebatur filo, quod fiebat ex lana hostiae. 49 Festus-Paulus p. 23. M. Nach Helbig gehörte auch das filum „ursprünglich neben dem Pilleus zu den Abzeichen des freien Römers“ (aaO. 504). Mit dieser Annahme strapaziert Helbig seine These, daß die priesterliche Kopftracht ursprünglich die allgemeine war. In Wahrheit deutet alles darauf hin, daß die Binde, soweit wir überhaupt zurücksehen, stets ein besonderes Attribut war. 50 Diese wohl frühzeitige Lockerung der Bekleidungsvorschriften wird später damit motiviert, daß der pilleus zu warm war, Serv. Aen. 8, 664 ,Lanigerosque apices‘: flamines in capite habebant pilleum, in quo erat brevis virga desuper habens lanae aliquid. quod cum per aestus ferre non possunt, filo tantum capita religare coeperunt; nam nudis penitus eos capitibus incedere nefas fuerat: unde a filo quo utebantur, flamines dicti sunt, quasi filamines. verum festis diebus filo deposito pillea necesse erat accipere . . .
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Wie wir uns dieses filum vorzustellen haben, zeigt eine wegen des herben Realismus ihrer Bildnisse bekannte Graburne aus der Mitte des 1. Jhs. v. Chr., die in Volterra gefunden worden ist.51 Es ist eine wulstige, in dieser Darstellung völlig glatte Kopfbinde, die den Verstorbenen als Priester kennzeichnet.52 Dieselbe Lockerung der sakralen Bekleidungsvorschriften können wir außerdem noch zweimal beobachten: bei der Flaminica53 und in dem Brauch, bei der Freilassung dem libertus einen pilleus aufzusetzen.54 Die ursprüngliche, tutulus genannte Kopfbedeckung der Flaminica war, wie der pilleus, ein hoher, steifer Hut.55 Anders als der pilleus der Priester, der neben der Kopfbinde in Gebrauch blieb, war dieser Tutulus der Flaminica schon vor der Zeit unserer literarischen Quellen von der bloßen Binde völlig verdrängt worden: an die Stelle der Haube war eine nach ihr, nämlich auch tutulus genannte Haartracht getreten, zu der eine Binde, die vitta, gehörte, die nach Varro das aufgebundene Haar ,verhüllte‘56, nach Verrius Flaccus in das Haar
51 Abb. 1 u. 2. Die Urne ist in allen einschlägigen Werken abgebildet, u. a. in: Etruskische Kunst2 (Zürich 1956) Abb. 113; G. Mansuelli, Etrurien und die Anfänge Roms2 (Baden-Baden 1965) 168; P. Bargellini, Die Kunst der Etrusker (Hamburg 1960) Abb. 169; Kunst und Leben der Etrusker, Ausstellungskatalog (Köln 1956) Abb. 60, Beschreibung H. Jucker S. 175 Nr. 480 mit weit. Literaturangaben. 52 Vgl. H. Jucker in: Kunst und Leben der Etrusker 175 Nr. 480. Die Bildnisse der etruskischen Graburnen zeigen bekanntlich den Verstorbenen in aller Regel mit einem Kranz. 53 Helbig, aaO. 513 ff.; Samter, aaO. 538 ff. 54 Der Freigelassene empfing den Pilleus capite raso (Plaut. Amph. 462; Non. p. 528 M. = lib. 12 sv. Calvi; Liv. 45, 44, 19; Serv. Aen. 8, 564). Nach Helbig, aaO. 504; Mommsen, Staatsr. III 429, und anderen war dieser Brauch „zunächst nichts als die Annahme der gemeinen bürgerlichen Weise“. Samter, aaO. 1540 ff., konnte dagegen zeigen, daß er ursprünglich sakrale Bedeutung hatte; seine, ansprechende Erklärung, daß der freigelassene Sklave „durch Abschneiden des Haares und velatio capitis lustriert“ wurde, ist allerdings hypothetisch. Auf diesen Brauch geht es zurück, wenn später der pilleus zum Attribut der Liberias und am Ende der Republik zum Symbol der Freiheit wird; wir erinnern etwa an den Denar des Brutus und L. Plaetorius Cestianus, dessen Revers mit der Inschrift EID. MAR. einen pilleus zwischen zwei Dolchen zeigt, oder an die Notiz Suetons (Nero 57, 1), daß nach Neros Tod die ganze Plebs den pilleus trug. Vgl. im übrigen Helbig, aaO., 490 f.; Marquardt, Privatleben 355, 571 f.; Wissowa, Religion 138 f. 55 Helbig 516 ff. Der pilleus der Priester kann darum auch gelegentlich tutulus genannt werden: Festus p. 355 M. sv. Tutulum; Varro, ling. 7, 44; Suet. bei Serv. auct. Aen. 2, 683. Reiche Anschauung geben die Malereien der älteren tarquinischen Grabkammern (etwa bis 490): Tomba delle Leonesse (Monumenti della pittura antica scoperti in Italia, Sezione I: La pittura etrusca, Tarquinii, Fasc. I [Rom 1937] Tav. A; M. Pallottino, La peinture etrusque [Genf 1952] 43, 47); Tomba della Caccia e Pesca (Monumenti Tav. C; L. Banti, Die Welt der Etrusker [Stuttgart 1960] Farbt. II); Tomba dei Vasi Dipinti (Monumenti 11, Fig. 10); Tomba del Vecchio: Abb. 5 (P. F. S. Poulsen, Etruscan Tomb Paintings [Oxford 1922] 37, Fig. 30; O. W. v. Vacano, Die. Etrusker in der Welt der Antike [Hamburg 1957] 32, Abb. 5); Tomba del Barone (Pallotino, aaO. 55 ff.); Tomba delle Bighe (Poulsen, aaO. 22, Fig. 15). In den an 2., 3. und 4. Stelle genannten Tomben ist der tutulus mit einer oder mehreren Binden umwunden. 56 Ling. 7, 44. Bezeichnenderweise hat velare zu seiner eigentlichen die Bedeutung ,umwinden, umgeben, schmücken‘ angenommen.
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Lanx und licium hineingeflochten wurde.57 Aus Livius58 wissen wir, daß wie der priesterliche pilleus auch der pilleus des Freigelassenen durch eine wollene Binde ersetzt werden konnte: Im Jahre 217 v. Chr. wurden die römischen Truppen nach einem siegreichen Treffen mit den Puniern bei Benevent von den Bürgern dieser Stadt zu einem Mahle geladen. Die volones, die unmittelbar nach der Schlacht für frei erklärt worden waren, erschienen zu diesem Fest mit dem Zeichen der soeben erworbenen Freiheit: pilleati auf lana alba velatis capitibus volones epulati sunt.
2. Die priesterliche capitis velatio filo59 war eine der vielen Anwendungen der Wollbinde im römischen Kultus.60 Die Kopfbinde wird darum auch gewöhnlich, wie die sakral-rituelle Wollbinde überhaupt, vitta oder infula genannt.61 Infulae, so erklärt eine Festus-Glosse, sind filamenta lanea, quibus sacerdotes et hostiae templaque velantur.62 Diese Aufzählung kann vor allem aus den Dichtern vielfach belegt,63 aber leicht auch noch ergänzt werden: Mit wollenen Binden wurden wie die Tempel auch Altäre,64 heilige Haine65 und geweihte Bäume66 ge-
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Festus p. 355 M. sv. Tutulum. 24, 16, 16 ff. 59 Vgl. Liv. 1, 32, 6 (s. Anm. 72). 60 Im griechischen Bereich spielte sie eine womöglich noch größere Rolle. Bezeichnend etwa Festus p. 313 M. sv. Stroppus: est, ut Ateius Philologus existimat, quod Graece (strüion) vocatur, est quod sacerdotes pro insigni habent in capite . . . Das (strüion) ist die Tänie, die man um den Kopf bindet. Neben die Kopfbinde oder auch an ihre Stelle ist häufig, wie seit dem Beginn des 5. Jh. auch in Etrurien, der Kranz getreten, den die homerischen Gedichte aber noch nicht kennen (Helbig, aaO. 508 f.). Reiches Material für Griechenland und Rom bei I. Pley, De lanae in antiquorum ritibus usu, = Rel.gesch. Vers. u. Vorarb. XI 2 (Gießen 1911). Außerdem vgl. P. Stengel, Die griech. Kultusaltertümer2 (München 1898) 44; S. Eitrem, Opferritus und Voropfer (Kristiania 1915) 383; M. Nilsson, Gesch. d. griech. Religion I (München 1941) 136 f. Herrn Kollegen Gundert verdanke ich den Hinweis auf Herodot 1. 199: bei der babylonischen Tempelprostitution tragen die Frauen, die im Bezirk der Mylitta auf die Möglichkeit, ihre heilige Verpflichtung einzulösen, warten, einen ,Schnurkranz‘ (stÝanoò þmiggoò) um den Kopf. 61 Gelegentlich werden infula und vitta als verschiedene Teile derselben Kopftracht unterschieden, so etwa in Verg. Aen. 10, 537 f.: nec procul Haemonides, Phoebi Triviaeque sacerdos, infula cui sacra redimibat tempora vitta. Dazu Serv. Aen. 10, 538: Infula fascia in modum diadematis, a qua vittae ab utraque dependent: quae plerumque lata est, plerumque tortilis de alba et cocco. Von ihm offenbar abhängig Isid. etym. 19, 30, 3 u. 4: Gentilium vates infulas, apices, pillea sive galeria utebantur. Infula est fasciola sacerdotalis capitis alba in modum diadematis, a qua vittae ab utraque parte dependent, quae infulam vinciunt; unde et vittae dictae sunt, quod vinciant . . . Vgl. die einschlägigen Lexika, bes. William Smith, Dictionary of Greek and Roman Antiquities2 (London 1849) sv. Infula und Vitta. 62 Festus-Paulus p. 113 M.; vgl. auch p. 81 M. sv. Exinfulabat. 63 Sacerdotes: Pley, aaO. 40 ff.; außerdem etwa Cic. Verr. II 4, 110; Tac. ann. 1, 57; Verg. Aen. 2, 220 f.; Aen. 3, 80 f., dazu vgl. Serv. Aen. 3, 81 und Suet. Caes. 79, 1; Gell. 7, 7, 8 (Fr. Arv.); Henzen, Exord. I Anm. 7, Comm. 28. Hostiae: Pley, aaO. 48 ff.; außerdem etwa Varro, ling. 7, 24. Templa: Pley, aaO. 52 f. 64 Pley, aaO. 51 f. 58
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schmückt. Tacitus67 berichtet über die Konsekration des Tempelbezirks beim Wiederaufbau des Kapitols im Jahre 70: spatium omne, quod templo dicabatur, evictum vittis coronisque; vittae waren auch um den Grundstein gebunden. Mit einer Wollbinde wurde das Totenbett eingefaßt68 und bei der in domuni deductio der Türpfosten von der Braut, bevor sie über die Schwelle gehoben wurde, umwunden.69 Binden waren aber auch, um ein letztes Beispiel zu nennen, wie der Ölzweig das Zeichen der um Schutz, Hilfe und Gnade Bittenden.70 3. Das filum war als Attribut der Priesterwürde so selbstverständlich, daß man sogar flamen von filamen ,Fadenträger‘ herleitete: Flamines, quod in Latio capite velato erant semper ac caput cinctum habebant filo, filamines dicti.71 Diese Varro-Stelle dokumentiert zugleich, daß wie der mit dem filum umwundene apex auch das apiculum, also das bloße filum als velatio capitis galt.72 Die Verhüllung des Hauptes, die den Priester ständig kennzeichnete, war bekanntlich eine allgemeine Forderung des römischen Ritus.73 In der Zeit unserer Quellen verhüllte der Römer bei Opferhandlungen, aber ebenso bei anderen sakralen Akten, sein Haupt mit der Toga, indem er sie von hinten über den Kopf zog.74 Dieser Verhüllungsgestus ist frühzeitig an die Stelle der einmal allgemein geübten capitis velatio filo getreten, wie sie das Ornat der Priester erhalten hat. 65 Pley, aaO. 55. Ov. fasti 3, 263 ff.: Vallis Aricinae silva praecinctus opaca est lucus, antiqua religione sacer . . . (267) Licia dependent, longas velantia caepes, et posita est meritae multa tabella deae. 66 Pley, aaO. 56 ff. Die beste Anschauung geben die Malereien der tarquinischen Tomben della Caccia e Pesca und dei Vasi Diptini (Nachweise in Anm. 79). 67 Hist. 4, 53. 68 Prop. 4, 6, 30: cincta funesta lanea vitta toro. 69 Pley, aaO. 83: Marquardt, Privatleben 55 Anm. 10; Samter, Familienfeste (oben Anm. 41) 80 ff. 70 Pley, aaO. 61 f. 71 Varro, ling. 5, 84; Festus-Paulus p. 87 M. sv. Flamen Dialis: dictus, quod filo assidue veletur. indeque appellatur flamen, quasi filamen . . .; Serv. Aen. 8, 664 (s. Anm. 50) = Isid. etym. 7, 12, 19; Serv. auct. Aen. 10, 270 (s. Anm. 46); Dion. Hal. 2, 64, 2. 72 Vgl. auch Festus-Paulus p. 87 M. (s. Anm. 71) i.V. m. Gell. 10, 15, 17 (s. Anm. 43). Außerdem etwa Liv. 1, 32, 6: Legatus ubi ad fines venit. unde res repetuntur, capite velato filo – lanae velamen est – ,audi, Iuppiter‘ inquit . . .; Henzen CCIII, Z. 22 f.: inde praetextati capite velato vittis spiceis coronati lucum ascenderunt. 73 Latte 383; ders., RE sv. Immolatio (1914) 1123; Wissowa, Religion 396 Anm. 5, 417 zu Anm. 3, 499 f.; Marquardt, Staatsverwaltung III 176 Anm. 6; ders., Privatleben 561 f. 74 Wir kennen diese Art der Kopfbedeckung von vielen bildlichen Darstellungen. Ob sie auch eine Eigentümlichkeit des cinctus Gabinus war (so etwa Marquardt, Privatleben 562: K. O. Müller, Die Etrusker, neu bearb. v. W. Deecke I [Stuttgart 1877] 250 f.) oder gar die Eigentümlichkeit des c. G., die sich dauernd erhalten hat (Wissowa, Religion 396 Anm. 5; Mau, RE sv. Cinctus Gabinus [1899], scheint mir zweifelhaft. Der einzige Beleg für diese Ansichten, Serv. Aen. 5, 755, ist mit dem, was wir sonst über den c. G. wissen (vgl. insb. Serv. Aen. 7, 612; Isid. etym. 19, 24, 7), kaum vereinbar. –
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Daß pilleus und filum wirklich einmal die allgemeine kultische Kopftracht waren, zeigen uns die Malereien der älteren etruskischen Grabkammern. Daß ihr Zeugnis auch für Rom gilt, ist für den Bereich des sakralen Brauchtums am wenigsten zweifelhaft. Besonders aufschlußreich sind die Malereien der Tomba delle Iscrizioni aus der 2. Hälfte des 6. Jhs.75 Sie vergegenwärtigen die Vorbereitung der Leichenfeier.76 Die blinde Tür in der Mitte der Rückwand (Abb. 3) ist der Zugang zur Tomba des Verstorbenen.77 Ihr nähert sich von der einen Seite eine Gruppe von Reitern, die bei den Spielen zu Ehren des Toten wahrscheinlich ein Wettrennen austragen werden.78 Bei der Tür empfängt sie ein junger Mann, der in der rechten Hand einen Zweig und in der erhobenen linken eine Binde hält.79 Von der anderen Seite kommen Tänzer heran, die ein Flötenspieler begleitet, und denen zwei Sklaven folgen, die, offenbar für das Symposion zu Ehren des Toten, einen Krater, Kannen (eine Oinochoe und eine Olpe) und auch noch ein Trinkgefäß (einen Kantharos) herbeitragen. Dieser Personengruppe (auf der rechten Hälfte der Rückwand und der linken Hälfte der rechten Seitenwand: Abb. 3 u. 4) gilt unser besonderes Interesse.80 Drei der tanzenden Männer, von links nach rechts: der erste, vierte und fünfte, tragen nämlich steife, kegelförmige pillei, die auf halber Höhe von einem Band umgeben sind; während der Flötenspieler nur mit eben diesem Band geschmückt ist, und der ihm folgende Tänzer dieses Band
Auch die Deutung der ,Verhüllung‘ ist kontrovers. Nach Deubner (Arch. f. Rel.Wiss. 8, Usenerheft [Leipzig 1905] 70) und Latte (s. Anm. 73) ist ihre Bedeutung eine apotropäische, ist sie ein Abwehrritus: Sie soll die Aufmerksamkeit konzentrieren und etwa von außen kommende böse Vorzeichen ihrer Geltung für den Menschen berauben (vgl. Verg. Aen. 3, 405 ff.; Festus p. 322 M. sv. Saturnia). H. Diels (Sibyll. Blätter [1890] 69 Anm. 2, 121 f.) und Samter (s. Anm. 41) glauben dagegen, daß sie urspünglich ein Lustrationsritus war. Aus dieser lustralen Bedeutung könnte sich die apotropäische ergeben haben. 75 Poulsen, aaO. (oben Anm. 55) 14 ff. 76 Helbig, aaO. 498: „Scenen aus der zu Ehren des Todten abgehaltenen Leichenfeier“; ähnlich Poulsen, aaO. 14 ff. 77 Diese Erklärung wird durch die etwa gleichzeitigen Malereien der Tomba degli Auguri entschieden gestützt: Die Rückwand dieser Tomba zeigt dieselbe blinde Tür, flankiert aber von zwei ihr zugewandten Personen, die mit einer Hand auf ihren Kopf schlagen, während sie mit der anderen auf die Tür weisen. Dieser Gestus ist der der Totenklage: C. Sittl, Gebärden der Griechen und Römer (Leipzig (1890) 21 Anm. 3; 24 Anm. 9; 65. Vgl. Poulsen, aaO. 11; Pallottino, aaO. (oben Anm. 55) 37. 78 Vgl. Liv. 1, 35, 9: ludicrum fuit equi pugilesque, ex Etruria maxime acciti. 79 Verschieden gemusterte Binden hängen in regelmäßigen Abständen sozusagen von der Decke herab. Dieser Bindenschmuck kehrt in vielen Grabkammern wieder und ist besonders reich in den Tomben della Caccia e Pesca (Monumenti, Tarquinii, Fasc. II [Rom 1938]; Pallottino, La peinture 49 f.) und dei Vasi Dipinti (Monumenti, Tarquinii, Fasc. I Tav. IV–VI). Daß diese Dekoration infulae sind, ist nicht immer erkannt worden, vgl. aber Poulsen, aaO. 19 f. 80 Vgl. Helbig, aaO. 498 f.
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neben einem anderen Kopfschmuck trägt.81 Der sechste in der Reihe, durch Schuhwerk, Brustband und den beigeschriebenen Namen (Ara Vinacna) als freier Etruskus ausgewiesen,82 ist ohne Kopfputz; indessen ist nicht ausgemacht, ob er zur Gruppe der Tänzer gehört und nicht vielmehr die Sklaven heranführt; als Symposiast wird er spätestens beim Gelage das Kopfband anlegen. Das Symposion selbst zeigen die Malereien der wenig jüngeren Tomba delle Leonesse:83 auf der Rückwand,84 flankiert von einem Kitharisten und einem Flötenspieler, ein gewaltiger Volutenkrater, in dem Wein und Wasser gemischt werden;85 im Rücken des Flötenspielers ein junges, emphatisch tanzendes Paar, beide barfuß, der Bursche unbekleidet, das Mädchen in einen transparenten Schleier gehüllt; kontrastreich zu diesem Paar auf der anderen Seite des Kraters eine elegante Tänzerin, gemessenen Schrittes, reich und vornehm gekleidet, auf dem Kopf den tutulus; aus den Seitenwänden86 dann je zwei Symposiasten. Sie sind alle in der gleichen Haltung dargestellt, Details aber nur noch bei zwei von ihnen zu erkennen. Der eine hält in der ausgestreckten Rechten einen Zweig, der andere einen runden Gegenstand87 und in seiner Linken, als einziger, eine Trinkschale (einen calix). Beide tragen aber das Kopfband, das hier deutlich als dicke mehrfarbige Schnur bestimmt werden kann.88 Das Band bleibt in den Tomben von Tarquinia bis in das 1. Jahrzehnt des 5. Jhs. die rituelle Kopftracht beim Tanz und Symposion; dann wird es schnell durch den Kranz, der von Griechenland kommt, verdrängt.89 Für Chiusi aber, in dem Neuerungen sich stets erst sehr viel später durchsetzten als in den südetruskischen Küstenstädten, ist noch für die Mitte des 5. Jhs. die capitis velatio filo beim Symposion bezeugt. In der hier entdeckten Tomba del Colle90 zeigen die Malereien neben vielfältigen Spielen ein ausgedehntes Symposion, dessen zehn
81 Die Kopfbinden sind, soweit das Bildmaterial es erkennen läßt, von derselben Struktur, wie die von der Borde herabhängenden. Der vierte Tänzer trägt solche Binden auch an den Armen. Nachweise von tutuli mit Binden in Anm. 55. 82 Helbig, aaO. 500. 83 Monumenti, Tarquinii, Fasc. I, beschrieben v. Pericle Ducati; Pallottino, La peinture 43 ff. 84 Ducati, aaO. (Anm. 83) 3 ff. 85 Unrichtig Pallottino, aaO. 44, der den Krater für eine Aschenurne hält. Neben dem Krater hängt ein simpuvium (s. Anm. 93). 86 Ducati, aaO. 6 ff. 87 Ducati, aaO. 6: „o una sfera o un anello“. 88 Ducati aaO. 6, von dem, der den Zweig hält: „la corona attorno al capo è un grosso cordone con una fila di punti di color chiaro“, von dem anderen: „chioma bionda, circondata da un nastro adorno di fascette oblique a zig-zag“ (vgl. Abb. Monumenti Tav. B; Pallottino, aaO. 48). 89 Helbig, aaO. 508 f.; vgl. oben Anm. 60. 90 Monumenti, Clusium, Fasc. I (Rom 1940), beschrieben v. R. Bianchi Bandinelli.
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Teilnehmer alle das Kopfband tragen.91 Der zeremonielle Charakter der Versammlung ist deutlich;92 niemand macht Anstalten zu speisen, die kleinen Geschirrtische, bei Gelagen mit Gerät gefüllt, sind leer. Wie in der Tomba delle Leonesse hält einer der Symposiasten in seiner Rechten einen frischen Zweig. Vor den anderen Teilnehmern ist er außerdem durch ein weißes Gewand ausgezeichnet; in der Linken hält er eine große henkellose Schale und wird, wieder als einziger, von einem Sklaven, der auch ein simpuvium bereit hält, aus zwei kleinen Krügen bedient. Die Kleinheit dieser Krüge, die wohl Wasser und Wein enthalten, die besonderen Attribute des Symposiasten, vor allem aber das simpuvium93 lassen darauf schließen, daß hier eine Libation vorbereitet wird. 4. Fassen wir zusammen: Für das Jahrhundert vor den Zwölf Tafeln dokumentieren die Malereien der etruskischen Grabkammern den bindenumwundenen pilleus und das bloße filum als Kopftracht beim Tanz und Symposion der Leichenfeier. Da im späteren Rom pilleus und filum die rituelle Kopfbedeckung der Priester sind, darf für sicher gelten, daß wie in Altetrurien so im Rom der vordezemviralen Zeit pilleus und filum die allgemeine kultische Kopfbedeckung waren. III. Kehren wir jetzt zur quaestio lance et licio zurück, so liegt nahe, daß die Vorschrift der Zwölf Tafeln, der Haussuchende müsse licio cinctus sein, die sakralrituelle capitis velatio filo gebot.94 1. Diese Annahme gewinnt an Wahrscheinlichkeit durch das zweite Erfordernis, an das die Zwölf Tafeln die Haussuchung binden: die Ausstattung des Haussuchenden mit einer lanx. Lanx ist in den Quellen immer eine Schüssel oder Schale, ihrer Verwendung nach meistens eine Servier- oder Tafelschüssel, oft
91 Bianchi Bandinelli, aaO. 18, hält die Kopfbinden für „fili di lana“ und vermerkt 22 Anm. a: „Le corone tornano in tune le numerose rappresentazioni di banchetti e andre quelle portate sulla testa appainono . . . non di fiori, ma di fili di lana“. 92 Über ihren Anlaß vgl. Bianchi Bandinelli, aaO. 22 Anm. c. 93 Das simpuvium oder simpulum, eine Art Schöpfkelle, war ein Libationsgefäß, Festus-Paulus p. 337 M.: Simpulum vas parvulum non dissimile cyatho, quo vinum in sacrificiis libabatur; Varro, ling. 5, 124; Plin. nat. 35, 158 (s. Anm. 98); Apul. apol. 18 (s. Anm. 98); Schol zu Iuv. 6, 342. Es gehörte zu den ältesten römischen Opfergeräten und war auch das Symbol der Pontifices; über sein Verhältnis zur patera vgl. C. E. Marindin, Classical Review 4 (1890) 69 ff., und in Smith’s Dictionary of Antiquities sv. Simpulum. Das simpuvium erklärt hier wie auf anderen Darstellungen (s. Anm. 107) die unhandliche Größe der Schale. 94 Die Bezeichnung der priesterlichen Kopfbinde als filum ist eine Metonymie; eigentlich ist filum der Faden. Ein licium dagegen kann ein Faden, kann aber auch eine Schnur, eine Kordel oder ein Band sein (s. Anm. 20). Als Bezeichnung der Kopfbinde trifft es den Gegenstand besser als das Wort filum.
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eine Opferschale, seltener die Waagschale.95 Ein indirekter Hinweis auf ihre Funktion bei der Haussuchung ist Gaius’ Bemerkung, daß die lanx nicht aus einem bestimmten Material zu sein brauchte: certe non dubitatur, cuiuscumque materiae sit ea lanx, satis legi fieri.96 Diese Feststellung ist offenbar das Fazit einer Diskussion.97 Diese Diskussion kann nur durch eine Überlieferung ausgelöst worden sein, nach der die lanx eine bestimmte Beschaffenheit hatte. Ihre Beschaffenheit konnte von erwähnenswerter Bedeutung aber nur dann gewesen sein, wenn sie ein Opfergefäß war. Opfergefäße mußten nämlich aus Ton sein.98 Die Turiner Institutionenglosse hat diese Erinnerung bewahrt: sie schöpft gewiß aus einer alten Tradition, wenn sie die lanx der Haussuchung als discus fictilis bezeichnet.99 Diese Erklärung der lanx ist nicht neu: Schon Rudorff und Leist und in neuerer Zeit Polak und Kaser100 haben vermutet, daß sie eine Opferschale war. Diese Deutung und unsere Erklärung des licium stützen einander. Zum licium als sakral-ritueller Kopfbedeckung paßt die lanx als Opfergerät; andererseits kann es nur verwundern, daß ihre Erklärung als Opferschale nicht auch sofort zu unserer Erklärung des licium geführt hat; denn eine Opferhandlung ohne capitis velatio kennt der ,römische Ritus‘ nicht.101 Für die Ausstattung mit licium und Opfergerät liefern wieder die archäologischen Monumente die gewünschte Anschauung. Die Graburne aus Volterra102 zeigt den Verstorbenen tatsächlich mit licium und Spendeschale:103 Auf das licium haben wir schon hingewiesen;104 die Opferschale liegt mit ihrer verzierten Unterseite nach oben auf dem Kissen, auf das der Verstorbene sich stützt; mit der linken Hand hält er sie fest; der dritte und vierte Finger greifen in den sogenannten Omphalos der Schale. Aber auch die drei Pilleusträger der Tomba delle Iscrizioni105 sind mit einer
95 Horak, aaO. 797; W. H. Groß, Der kleine Pauly sv. Lanx (1968); Smith’s Dictionary of Antiquities (oben Anm. 61); und Forcellini sv. Lanx. 96 3, 193 i. f. 97 Vgl. Leist, aaO. 248 f. 98 Latte, RE sv. Immolatio 1124; Henzen, aaO. 30. Varro, ling. 5, 121: harum figuras in vasis sacris ligneas ac fictilis antiquas etiam nunc videmus; Dion. Hal. 2, 23, 5; Val. Max. 4, 4, 11; Plin. nat. 35, 158: in sacris quidem etiam inter has opes hodie non murrinis crystallinisve, sed fictilibus prolibatur simpuviis: Apul. apol. 18: eadem paupertas etiam populo Romano Imperium a primordio fundavit, proque eo in hodiernum diis immortalibus simpuvio et catino fictili sacrificat. 99 Vgl. Anm. 13. 100 Die Fundstellen in Anm. 35 und 36. 101 Vgl. etwa Marquardt, Staatsverwaltung III 176, 186 ff.; Wissowa, Religion 396 Anm. 5; Latte, RE sv. Immolatio 1123. 102 Abb. 1 u. 2. Nachweise in Anm. 51. 103 Die patera, hier eine Omphalosschale, gehört jedenfalls in der Zeit, aus der unsere Quellen stammen, nicht zu den lances. 104 Oben zu Anm. 52. 105 Poulsen, aaO. 15 Fig. 8 und 19 Fig. 12. Vgl. oben nach Anm. 79.
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Lanx und licium Schale ausgerüstet: die vierte Figur in der Reihe der Tänzer mit einer Spendeschale, deutlich daran zu erkennen, daß sie ohne Handhabe ist; die beiden anderen Pilleusträger mit einem calix, einer flach geschnittenen Trinkschale, aus der man aber auch spendete.106 In der Tomba dei Vasi Dipinti schließlich, einer tarquinischen Grabkammer aus der Zeit um 500, haben wir einen Tänzer, dessen Attribute das bloße licium und eine große, als Trinkschale kaum geeignete henkellose Schüssel sind.107
2. War die lanx ein Opfergerät und das licium die sakral-rituelle Kopfbinde, dann muß die Haussuchung lance et licio zumindest ursprünglich mit einem Opferakt verbunden gewesen sein.108 Die Zwölftafelzeit scheint diesen Opferakt nicht mehr, gekannt zu haben. Nach Zwölftafelrecht mußte der Bestohlene, der Haussuchung begehrte, nackt und mit lanx und licium ausgestattet sein: wenn er in diesem Aufzug vor dem fremden Hause erschien, mußte er eingelassen und mußte ihm die Durchsuchung des Hauses gestattet werden. An den Vollzug einer Opferhandlung, auf die lanx und licium hindeuten, war die Haussuchung ersichtlich nicht gebunden. Andernfalls hätten die Zwölf Tafeln auch wohl den Opferakt selbst und nicht die Ausstattung des Haussuchenden mit lanx und licium vorgeschrieben, und wäre dementsprechend die quaestio nach dem Opferakt und nicht nach der Ausstattung des Haussuchenden für diesen Opferakt benannt worden.
106 So wie die patera, ursprünglich wie der calix eine Trinkschale (Varro, ling. 5, 122), auch später noch in dieser Verwendung begegnet, vgl. Smith’s Dictionary of Antiquities (oben Anm. 61) sv. Patera i. f. 107 Abb. 6. Monumenti, Tarquinii, Fasc. I Tav. C, Tav. VI Abb. 2, S. 14 Fig. 14. Die Rückwand derselben Tomba (Tav. VI Abb. 1, S. 11 Fig. 10) zeigt den Verstorbenen zusammen mit seiner Frau auf einer Kline. Während sie mit dem tutulus geschmückt ist, trägt er das bloße licium (wie in der Tomba del Vecchio: Abb. 5). In der Linken hält er einen übergroßen, als Trinkschale kaum geeigneten calix; zu seiner Seite steht aber ein Knabe, der dem Paar zwei simpuvia (s. Anm. 93) entgegenreicht. Vgl. auch die Rückwand der zweiten Kammer der Tomba della Caccia e Pesca: Fasc. II Tav. C, 5. 12 Fig. 12. 108 Leist, aaO. 249; und Kaser, AJ 340, denken ohne weiteres an ein Trankopfer. – Die Schriftsteller nennen lanx nur die Opferschale, auf der Früchte, Kuchen, die exta oder auch Weihrauch dargebracht werden: Verg. georg. 2, 194 u. 394; Aen. 8, 284; 12, 215; Ov. Pont. 4, 8, 39; fasti 1, 454; Prop. 2, 13, 23; Auson. monos. 105 = p. 165 ed. R. Peiper (Leipzig 1886): Turibula et paterae: quae tertia vasa deum ? lanx. Als Libationsgerät kommt sie nicht vor. Gleichwohl können wir nicht ausschließen, daß der vermutete Opferakt eine Libation war. Denn die literarischen Zeugnisse sprechen nur für ihre Zeit, und ein Rückschluß ist um so weniger gestattet, als lanx, anders als etwa patera oder calix, nicht der Name eines Geschirrs bestimmter Form, sondern eine Sammelbezeichnung für Schalen und Schüsseln aller Art war; vgl. Marquardt, Privatleben 652 f.; Blümner, Die röm. Privataltertümer (München 1911) 391, 393; Schneider, RE sv. Lanx (1924) 695; W. H. Groß, Kl. Pauly, und Smith’s Dictionary of Antiquities sv. Lanx. Zu den lances zählten etwa die catini, tiefe, napfartige Schüsseln (Varro, ling. 5, 120), die auch für Wasser benutzt wurden (Varro, rust. 1, 63, 1); und eine lanx ist nach dem Sprachgebrauch der Quellen auch die Schale, die der Tänzer der Tomba dei Vasi Dipinti (s. Anm. 107) oder der Symposiast der Tomba del Colle (s. oben nach Anm. 92) in der Hand hält.
Lanx und licium
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Nach Zwölftafelrecht brauchte der des Diebstahls verdächtige Hausherr den Bestohlenen zur Haussuche nur dann einzulassen, wenn dieser mit lanx und licium versehen war. Waren lanx und licium aber die Rudimente eines Opferrituals, dann war diese Opferhandlung einmal die Voraussetzung, unter der die Haussuchung verlangt werden konnte. Damit ergäbe sich zugleich, daß der Opferakt nicht erst im Innern des Hauses, sondern vom Haussuchenden, bevor er Einlaß begehren konnte, vollzogen werden mußte; und weiter, daß der Opferakt der Sicherung des Hausherrn diente. Ehe wir versuchen, die Bedeutung dieses Opfers näher zu bestimmen, ist zuvor noch auf die dritte Vorschrift der Zwölf Tafeln einzugehen: daß der Haussuchende nackt sein mußte. 3. In einer Zeit, in der jedermann seine Waffe mit sich führt, bedeutet die Entblößung zugleich das Ablegen der Waffe, die Nacktheit also auch Waffenlosigkeit. Der Sinn der Vorschrift nudus quaerat, die so oder ähnlich im griechischen Rechtsbereich109 und in vielen germanischen Rechten110 wiederkehrt, kann daher kaum zweifelhaft sein.111 Haussuchung bedeutet unmittelbare Gefährdung des Hausfriedens. Verlangt die Rechtsordnung, daß der des Diebstahls verdächtige Hausherr dem Bestohlenen sein Haus zur Durchsuchung öffnet, so muß sie zugleich und nach Möglichkeit die Wahrung des Hausfriedens sichern. Unverzichtbar ist die Waffenlosigkeit des Haussuchenden. Ihr Gebot reicht aber nicht aus. Der Hausherr muß für sich und die Seinen um Leib und Leben fürchten, wenn er nicht auch sicher sein kann, daß der Mann, dem er die Tür öffnet, unbewaffnet ist. Dessen konnte er aber nur gewiß sein, wenn dieser Mann nackt oder doch so unbekleidet war, daß er eine Waffe nur sichtbar tragen konnte. Die Vorschrift der Zwölf Tafeln, daß der Haussuchende das fremde Haus nackt betreten muß, sicherte diese beiden Bedingungen der Wahrung des Hausfriedens, die Waffenlosigkeit des Haussuchenden und ihre Offensichtlichkeit.112 Dieser Zweck der Vorschrift verlangte nicht völlige Entblößung.113 Andererseits muß nudus auch nicht völlige Nacktheit bedeuten.114 Als nudus galt auch, wer nur mit der Tunika bekleidet war. In früherer Zeit wird dann gewiß auch derjenige nudus gewesen sein, der nur den Lendenschurz trug,115 welcher einmal das übliche Unterkleid war und kaum vor dem 4. Jh. von der Tunika verdrängt 109 Plat. leg. XII 954 A; Aristoph. Nub. 497 ff. und dazu Schol. ed. Fr. Dübner (Paris 1842), S. 104 n. 499. 110 Sie schreiben regelmäßig vor, daß der Haussuchende ,ungegürtet‘ sein muß; vgl. etwa Schwerin, aaO. 7 ff., und Horak, aaO. 790 f. 111 Eine Zusammenstellung der bisherigen Deutung bei Horak, aaO. 790 ff. 112 So auch Leist, aaO. 247 f.; Wieacker, RIDA3 3 (1956) 479 f.; Horak, aaO. 791, 801. 113 Bezeichnend Plat. leg. XII 954 a: gumnÎò í xitwnßskon æxwn åzwstoò. 114 Siehe Forcellini und Georges sv. Nudus. 115 Smith’s Dictionary of Antiquities sv. Nudus.
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worden ist.116 Nur diesen Lendenschurz, das sogenannte subligar oder subligaculum, tragen auch die Tänzer der Tomba delle Iscrizioni.117 Wenn sie aber nudus sind, dann bietet sich die Hypothese an, daß die Nacktheit des Haussuchenden durch den Ritus des Opfers gefordert war, auf das licium und lanx hindeuten,118 und daß mithin die Waffenlosigkeit des Haussuchenden und ihre Offenkundigkeit ursprünglich durch Ritualgebot gesichert wurden. 4. Mit dieser Hypothese wird ein unmittelbarer Funktionszusammenhang zwischen dem aus lanx und licium erschlossenen Opferakt und der Haussuchung selbst angenommen. Ein solcher Funktionszusammenhang ist um so glaubhafter, je deutlicher sich der allgemeine Zusammenhang von Opferakt und Haussuchung darstellt. Gaius119 berichtet im Zwölftafelkommentar: Plerique putaverunt nullum de domo sua in ius vocari licere, quia domus tutissimum cuique refugium atque receptaculum sit, eumque qui inde in ius vocaret vim inferre videri. Der Kläger, der den Schuldner aus dessen Haus vor Gericht lud, trug Gewalt in das Haus. Denn der in ius vocatio war Gewaltanwendung inhärent; der Geladene, der nicht freiwillig folgte, konnte gewaltsam vor den Prätor geschleppt werden. Durfte diese Eigenmacht auch unter Verletzung des Hausfriedens geübt werden? Das war die Frage, bei der die Meinungen auseinandergingen, die aber die Zwölftafelliteratur 116 Blümer, aaO. 205; Smith’s Dictionary of Antiquities sv. Subligaculum. Die Vermutung dieser und anderer Autoren, daß für das subligaculum „in alter Zeit“ der Name licium gebräuchlich gewesen sei, stützt sich nur auf Gai 3, 193: . . . consuti genus esse, quo necessariae partes tegerentur. Diese Erklärung entspricht nämlich Non. p. 29 M. sv. Subligaculum: est, quo pudendae corporis partes teguntur. Vgl. auch Isid. etym. 19, 22, 5. 117 Ebenso die der Tomba dei Vasi Dipinti (Monumenti, Tarquinii, Fasc. I Tav. C, Tav. VI Abb. 2 u. 3, S. 14 f. Fig. 14 u. 15) und einige der Tomba della Caccia e Pesca (Fasc. II S. 4 ff. Fig. 4, 5 u. 7). Poulsen, aaO. 15, schreibt die Nacktheit der in der Tomba delle Iscrizioni dargestellten Reiter (vgl. oben nach Anm. 77) dem „Einfluß der griechischen Kunst“ zu. Ich glaube nicht, daß diese Vermutung begründet ist. Daß jedenfalls die Tänzer so dargestellt sind, wie sie wirklich auftraten, verbürgt schon die Beischrift ihrer Namen. Zu erinnern wäre auch an den aus ältester Zeit überkommenen Kultdienst der Luperci (Wissowa, Religion 559 ff.; Latte 84 ff.), die am Fest der Lupercalia nackt, nur mit einem Schurz aus Ziegenfell bekleidet, ursprünglich um den Palatin, später auf der via Sacra auf- und abliefen. Die Erklärung ihres für die spätere Zeit wunderlichen Aufzugs als die alte Hirtentracht (vgl. Latte 86) trifft kaum das Richtige. Das Fest fiel auf den 15. Februar, also mitten in den Winter. Der Umlauf war ein Lustrationsritus. Es wurde eine Ziege, nach anderen ein Bock geopfert. Die Luperci selbst wurden mit einem später verschollenen Wort als Böcke (creppi) bezeichnet. All das macht vielmehr glaubhaft, daß der Schurz aus Ziegenfell von vornherein eine Kulttracht war und offenbar lustralen Charakter hatte. 118 Nacktheit ist im römischen Kultus selten (anders Schwerin, aaO. 29; zutreffend Horak, aaO. 795). Aber auch hier können Änderungen eingetreten sein. So ist es auffällig, daß in den tarquinischen Tomben des vorrückenden 5. Jhs. (Tomba dei Leopardi, Tomba del Triclinio: beide gegen 470) die Tänzer nicht mehr im bloßen Lendenschurz, sondern in vollem Gewande dargestellt sind. 119 D 2, 4, 18.
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überwiegend verneinte: Auch berechtigte Eigenmacht hatte an der Schwelle des Hauses Halt zu machen.120 Diese Unverletzlichkeit des Hausfriedens beruhte nicht auf profaner Rechtssatzung; erst in den Bürgerkriegszeiten der späteren Republik wurde sie auch durch Gesetzeszwang gesichert.121 Sie war aus Vorzeiten überkommenes ,heiliges Recht‘, das Cicero, in der Rede de domo sua ad pontifices (109), aus all den religiösen Beziehungen herleitete, die am römischen Hause hafteten:122 Quod est sanctius, quid omni religione munitius quam domus unius cuiusque civium? hic arae sunt, hic foci, hic di penates, hic sacra, religiones, caerimoniae continentur: hoc perfugium est ita sanctum omnibus, ut inde abripi neminem fas sit.123 Der Bruch des Hausfriedens war nefas, Friedensbrecher in früherer Zeit gewiß aber schon derjenige, der ungebeten das Haus oder die Hofstelle betrat. Unter diesen Bedingungen ist die Bedeutung des Opferaktes leicht erklärlich: Mit dem Opfer unterstellte sich der Hausfremde der Friedensordnung des Hauses; mit ihm bezeugte er Gewaltlosigkeit und wurde zugleich selbst unverletzlich.124 IV. 1. Wenn es wirklich zutrifft, daß die Zwölf Tafeln über die solenne Haussuchung nicht mehr gesagt haben, als daß sie zulässig ist und der Haussuchende nackt und mit lanx und licium ausgestattet sein muß, dann können sie damit nur das zu ihrer Zeit geübte Verfahren angedeutet und legitimiert haben. Von diesem Verfahren machen wir uns nunmehr folgendes Bild. In den zur Zwölftafelzeit noch ganz überwiegend bäuerlichen Verhältnissen mit ihrer extensiven und darum notwendig weiträumigen Bodennutzung und ihren dementsprechend offenen Siedlungsformen war es vor allem der Weidediebstahl, dessen Verfolgung typischerweise zur Haussuchung führte.125 Bei Weide120 Vgl. auch Ofilius bei Paul. 4 ed. D 47, 10, 23; Paul. 1 ed. D 2, 4, 21; A. Pernice, SZ 17 (1896) 180 f., und, auch zum Folgenden, Polak, Symbolae van Oven 257 ff. 121 Durch die lex Cornelia de iniuriis: Ulp. 56 ed. D 47, 10, 5 pr. 122 Vgl. etwa Weinstock, RE sv. Penates (1937) 425 ff.; Latte 89 ff. 123 Außerdem vgl. Cic. Vatin 22. 124 Rudorff, Röm. Rechtsgesch. II 352 Anm. 21, sieht in der Opferschale „das Anerkenntnis des Hausfriedens“. – Leist, aaO. 249; Kaser, AJ 340; und Polak, aaO. 254, glauben, daß das Opfer den Hausgöttern dargebracht wurde. Nach Leist sollte es die „Friedlichkeit oder Kampflosigkeit des (an sich nicht freundlichen) Actes“ der Haussuchung hervorheben, nach Kaser dagegen „die Rache der Hausgötter“ abwenden, die der Haussuchende verletzt hat. Diese Vorstellung findet im Kultus der römischen Hausgötter keinerlei Grundlage. Wohl aber ist nicht auszuschließen, daß das Opfer dem Lar fundi, dem guten Geist des Anwesens (der später erst im Hause verehrt wird), dargebracht wurde. 125 Das gestohlene Gut mußte einmal von der Art sein, daß es bei einer Haussuchung überhaupt gefunden, und zum andern so beschaffen sein, daß es als das Gut des Bestohlenen identifiziert werden konnte.
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diebstahl war das gewöhnliche Verdachtszeichen die Spur des abgetriebenen Viehs, die das Haus des Verdächtigten mit dem Tatort verband. Ihr folgte der Bestohlene mit seinen Nachbarn, die er, sobald er den Diebstahl entdeckte, zusammenrief; sie kannten so gut wie er selbst seinen Viehbestand und konnten, wenn die Sache vor den Magistrat kam, den Diebstahl, die Spurfolge und die Identität des wiedergefundenen Viehs bezeugen; ihr Zeugnis war es, das die Tat, wenn die Haussuchung erfolgreich war, zum furtum manifestum machte. Der Bestohlene wird weder sogleich Haussuchung verlangt, noch aber den Verdächtigen lange gefragt haben, ob das Vieh in seinem Hause sei; unter Hinweis auf die Verdachtszeichen wird er den Hausherrn vielmehr kurzerhand aufgefordert haben, das gestohlene Vieh herauszugeben. Bestritt der Verdächtige, das Vieh zu haben, dann konnte er sich von dem Verdacht des Diebstahls nur reinigen, indem er die Haussuchung zuließ; erst dann wird der Bestohlene die Haussuchung auch verlangt haben. Der zu Unrecht des Diebstahls verdächtigte Hausherr brauchte die Haussuchung selbst nicht zu fürchten; um so mehr mußte er aber befürchten, daß unter dem Vorwand der Diebstahlsbezichtigung Raub oder Gewalttat geplant waren. Dieser Möglichkeit wirkte die Vorschrift entgegen, daß der Haussuchende nackt, licio cinctus und mit einer lanx ausgerüstet sein mußte. Die Überlieferung läßt die Annahme nicht zu, daß auch noch die dezemvirale Haussuchung den Opferakt verlangte, auf den lanx und licium hindeuten. Da das licium aber auch noch zur Zwölftafelzeit die allgemeine sakral-rituelle Kopftracht war, vermuten wir, daß die Ausstattung des Haussuchenden mit lanx und licium immer noch als verbindliches Zeichen der Gewaltlosigkeit galt, die tatsächlich durch das Gebot der Nacktheit verbürgt wurde. 2. Der Opferakt, den wir aus lanx und licium erschließen, führt uns in eine Zeit zurück, die jenseits aller historischen Erinnerung liegt und nur in ihren allgemeinen Bedingungen greifbar ist. Die soziale Lebensform dieser Frühzeit, in der noch keine staatliche Macht den Landfrieden sicherte, war die auf sich gestellte bäuerliche Hausgemeinschaft, die in akuten Notlagen und Gefährdungen auf die Hilfe der Nachbarn rechnen darf. Als auf der Grundlage der Nachbarschaftsgemeinschaft die politische Gemeinde entstand, faßte man sie als das vergrößerte Haus auf, „in dem sich dieselben Tätigkeiten vollziehen wie im Privathause“.126 Entsprechend dieser Denkweise übernahm die altrömische Gemeinde viele Riten des bäuerlichen Hauses.127 Zu ihnen gehörte auch die clarigatio.128
126
Latte 147. Latte 18 ff., 108 ff., 146 f. u. ö. 128 Latte 121 f.; Wissowa, Religion 553; Marquardt, Staatsverwaltung III 420 f.: Außerdem, m. weit. Lit., Hausmaninger, Österreich. Zeitschr. f. öffentl. Recht 11 (1961) 335 ff. 127
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Bevor die altrömische Wehrgemeinde zum Kriegszug gegen ein Nachbarvolk aufbrach, entsandte sie eine Abordnung von Fetialen in die fremde civitas, um, wie die Formel lautet, res repetere.129 Zu ihrer Ausrüstung gehörte ein Büschel Kraut mit Erdreich, das im Burgbezirk gerupft wurde; es sollte sie draußen, in fremdem Gebiet, vor Unheil schützen. An der Spitze der Gesandtschaft stand als der in eigentliche Bevollmächtigte der Gemeinde der pater patratus.130 Er trug das priesterliche Gewand, das Haupt velatum filo.131 In feierlicher Formulierung erhob er die rerum repetitio beim überschreiten der Grenze, wenn ihm der erste Mann begegnete, beim Eintritt in die Stadt und dann noch einmal auf dem Markt; zugleich beschwor er jedesmal die Gerechtigkeit seiner Forderung.132
Die clarigatio war ursprünglich auf Familienfehden gemünzt. Die Institution des pater patratus und des res repetere der Formel sind dafür die sichersten Indizien. Mit dem pater patratus schuf sich die Gemeinde, als sie die clarigatio in den Staatskultus übernahm, einen Ersatz für den ihr fehlenden ,natürlichen‘ pater familias.133 Res repetere aber kann nur heißen: ,entwendetes Gut zurückfordern‘.134 Die Formel datiert damit den Ursprung des Rituals in eine Zeit, in welcher der gewöhnliche Anlaß einer Fehde Diebstahl und Raub waren; zugleich vergegenwärtigt sie eine Situation, wie sie bei der Diebstahlsverfolgung lance et licio nicht anders vorgestellt werden kann. Die Parallelen liegen auch im übrigen auf der Hand. Die Abweichungen bedeuten dagegen wenig; sie können sich leicht bei der Eigenentwicklung der Institute herausgebildet haben.135 Jedenfalls stehen sie nicht der Annahme im Wege, daß die völkerrechtliche clarigatio und das Haussuchungsverfahren inter cives eine gemeinsame Wurzel haben: Die rerum repetitio ist ersichtlich ein Residuum der Diebstahlsverfolgung in vorstaatlicher Zeit, aus der auch die historische quaestio lance et licio überkommen ist.
129
Liv. 1, 32, 5. Das gesamte Quellenmaterial bei den in Anm. 128 genannten Auto-
ren. 130
Liv. 1, 24, 4–6. Dion. Hal. 2, 72, 6: Liv. 1, 32, 6 (s. oben Anm. 72). 132 Liv. 1, 32, 6–8; 4, 30, 14: cum more patrum iurati repeterent res; Dion. Hal. 2, 72, 6 f. 133 Latte 121 Anm. 3; Wissowa, Religion 551 Anm. 8. 134 Latte 121. 135 So waren die sagmina bei der Diebstahlsverfolgung inter cives natürlich überflüssig. Denn sie waren ja mit dem an der Wurzel hängenden Erdreich das Symbol des heimischen Bodens, dessen Kraft die Fetialen in fremdem Gebiet vor Unheil schützen sollte. – Da sie die sagmina mit sich führten, stellt sich die Frage, auf welche Weise sie das Kraut mit dem daran hängenden Erdreich trugen. Nach Liv. 1, 24, 5 waren die Fetialen mit vasa ausgerüstet, was indessen einfach ,Gerät, Gepäck‘ heißen kann. Daß zu den vasa eine lanx gehörte, die gar die sagmina aufnahm, ist keine vertretbare Hypothese. 131
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Diese Einsicht bringt keine konkreten Aufschlüsse über den mit der Haussuchung einmal verbundenen Opferakt.136 Sie bestätigt uns aber schlagend, daß längst vor der Errichtung staatlicher Ordnungsmacht bei der Diebstahlsverfolgung Formen eingehalten wurden, die das nackte Faustrecht zügelten und die Willkür eindämmten, nämlich die Anwendung von Gewalt sowohl hinausschoben wie auf ihren Zweck festlegten und damit zugleich die äußeren Bedingungen für eine friedliche Beilegung des Konflikts schufen. Diese Formen waren sakrale Riten, ihre Beachtung war religio, die Ordnung, die sie verbürgten, im Religiösen begründet. In diese Umwelt paßt es, wenn die Haussuchung mit einer religiösen Handlung, wenn sie mit einem Opferakt verbunden war, der die Beteiligten auf Gewaltlosigkeit verpflichtete; der dem zu Unrecht verdächtigten Hausherrn gestattete, sich gefahrlos durch Gewährung der Haussuchung vom Verdacht des Diebstahls zu befreien; der die Möglichkeit einer friedlichen Auseinandersetzung aber auch für den Fall offen hielt, daß der Bestohlene dem wirklichen Dieb ,auf die Spur gekommen war‘. 3. Nach diesem hypothesenreichen Entwurf entdeckt uns der Nachweis, daß die lanx ein Opfergerät und das licium die sakral-rituelle Kopfbinde war, ein Stück Früh- und Vorgeschichte des römischen Rechts: Wenn das Bild, das wir zeichneten, der Wirklichkeit nahe kommt, dann vergegenwärtigt das Ritual der dezemviralen quaestio lance et licio die Entwicklung eines durch religiöse Bindungen und sakrale Handlungen geformten Brauchs zu einem profanen Rechtsinstitut.
136 Das res repetere ist nur für die clarigatio bezeugt, für das Haussuchungsverfahren aber ohne weiteres wahrscheinlich. Die Gerechtigkeit der rerum repetitio wurde vom pater patratus beschworen. Bei der griechischen þra mußte der Haussuchende schwören, ,er hoffe ganz gewiß, die Sache zu finden‘ (Plat. leg. XII 954 a). Von einem Eidopfer ist hier nicht die Rede; wir wissen aber, daß im griechischen Bereich die Eidesleistung stets von einem Opfer begleitet war, gewöhnlich von einem Trankopfer (P. Stengel, Die griech. Kultusaltertümer3 [München 1920] 136 ff.; und: Opferbräuche der Griechen [Leipzig 1910] 19 ff., 78 ff.; Nilsson, Gesch. der griech. Religion I 128 ff.). Aber auch im römischen ist das Eidesopfer keineswegs unbekannt. Beim Abschluß eines foedus wurde ein Ferkel geopfert, das der pater patratus mit einem Stein erschlug, den er dann mit einer Verwünschung wegschleuderte (Liv. 1, 24, 6–9; Polyb. 3, 25, 6; Festus-Paulus p. 115 M. sv. Lapidem silicem; Latte 122 ff.; Wissowa, Religion 552). Der ganze Akt wird von Livius, wie die Beeidung der rerum repetitio (1, 32, 8), ius iurandum genannt. Eine Libation als Eidopfer ist für die früheste Zeit durch die sponsio bezeugt. Danach rückt in den Bereich des Möglichen, daß die für die clarigation bezeugte Beeidung des res repetere einmal von einem Trankopfer begleitet war – und lanx und licium Residuen eben dieses Opfers sind. Die Kette der Vermutungen, die zu dieser Erklärung des Rituals der quaestio führt, ist natürlich viel zu schwach, als daß diese Erklärung wirklich gewagt werden könnte.
Lanx und licium
Abb. 1: Deckel einer Urne mit Ehepaar (Volterra, Museo Guarnacci)
Abb. 2: Dasselbe, Seitenansicht
Abb. 3: Tomba delle Iscrizioni: Rückwand
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Lanx und licium
Abb. 4: Tomba delle Iscrizioni: rechte Seitenwand, linke Hälfte.
Abb. 5: Tomba del Vecchio
Abb. 6: Tomba die Vasi Dipinti: rechte Seitenwand, Ausschnitt.
Der Legisaktionenprozeß* I. Zur Einführung 1. In den Jahrhunderten der klassischen Jurisprudenz, der frühen Kaiserzeit von Augustus bis Alexander Severus, von Labeo bis Modestin, wurde in Zivilsachen vor Gericht per concepta verba verfahren, id est per formulas1. Der Formularprozeß hatte seinen Ursprung in der Fremdengerichtsbarkeit2, die nicht auf Gesetzen gründete, sondern auf der Jurisdiktionsgewalt des Prätors. Sie griff alsbald auf die ordentliche Gerichtsbarkeit über und verdrängte seit der mittleren Republik Schritt für Schritt den Prozeß der legis actiones3. Eine lex Aebutia, ein Plebiszit, das dem späteren 2. Jahrhundert v. Chr. zugeschrieben wird4, hat die formulare condictio, vielleicht aber auch schon den Formularprozeß überhaupt legitimiert5, während eine der beiden augusteischen leges Iuliae6 aus dem Jahre 17 v. Chr. die Legisaktionen – bis auf zwei Ausnahmen7 – aufgehoben und an ihrer Stelle den Formularprozeß mit einer Reihe von Kautelen für alle Arten von Klagen gesetzlich anerkannt hat8.
* Nur mit dem Namen des Verfassers oder abgekürzt werden zitiert: M. A. von Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozeß I Legis Actiones (1864) II Formulae (1865) III Cognitiones (1866); F. L. von Keller, A. Wach, Der römische Civilprocess und die Actionen (6. Ausgabe 1883); M. Kaser, Das römische Zivilprozessrecht (1966); vor allem durch Zusätze und Literatur erweitert und Auslassungen verkürzt: M. Kaser/ K. Hackl, Das römische Zivilprozessrecht (2. Aufl. 1996); G. Pugliese, Il processo civile romano, I. Le legis actiones (1962) II. il processo formulare (1963). Die monographische Literatur wird von den hier genannten Verfassern angeführt. 1 Gai 4. 30. 2 L. Mitteis, Römisches Privatrecht (1908) 43, 50; L. Wenger, Formula, RE 6 (1909) 2859 Z. 32; Kaser 109, 111; Pugliese II 41; F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte (1988) 451. 3 Der Begriff der legis actiones kommt erst im 2. Jh. v. Chr. auf und erklärt sich offenbar aus der gesetzlichen Grundlage dieser Klagrituale: Gai 4. 11; Pomponius liber singularis enchiridii D 1. 2. 2. 6; Pomponius 39 ad Quintum Mucium D 19. 5. 11; Keller/Wach 54 mit A. 186; L. Mitteis (cit A. 2) 50 ff.; Kaser 24/5, 114.; M. Kaser/ K. Hackl, 35/6. 4 Giovanni Rotondi, Leges publicae populi romani (1966) 304/5; Bethmann-Hollweg II 4/5 mit A. 2; Keller/Wach 110 mit A. 270; M. Kaser, Römisches Rechtsgeschichte (2. Aufl. 1967) 142. 5 Kaser 114/5. 6 Wohl die Lex Iulia iudiciorum privatorum: Rotondi (cit. A. 4) 448/450. 7 Gai 4. 31. Kaser 25. 8 Gai 4. 30. L. Wenger, Formula, RE 6 (1909) 2859/60; Kaser 115/6.
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Der Legisaktionenprozeß
2. Die frührömische, vordecemvirale Gerichtsbarkeit ist uns nicht zugänglich9. Auf sie sind nur Rückschlüsse möglich, die indessen allesamt hypothetisch sind10. Die frühesten Nachrichten gibt uns, soweit erhalten, die Zwölftafelgesetzgebung aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr.11. Da das Gesetz in seinem originalen Wortlaut nicht überliefert ist12, wird durchweg unterstellt, daß der im Laufe der Jahrhunderte mehrfach angepasste Text den Inhalt des Gesetzes unverändert bewahrt hat13. Wahrscheinlichkeit hat allerdings die Vermutung, daß die Könige auch die Gerichtsherrn waren und nach ihrer Vertreibung im Jahre 509 v. Chr. die – bis zur Einrichtung der Prätur 367 v. Chr. – wechselnden obersten Magistrate, die ihre Stellung einnahmen. Nicht von der Hand zu weisen ist ebenfalls die Vermutung, daß der König, dem gewiß die volle Gerichtsbarkeit zustand, zu seiner Entlastung den Prozeß nur einleitete und die Urteilsfindung einem Urteilsrichter übertrug, was der Ursprung der Zweiteilung des zivilen Gerichtsverfahrens gewesen sein könnte14. Daß auch die pontifices Gerichtsgewalt hatten, ist nach allem, was wir über sie wissen, auszuschließen15. Andererseits steht außer Zweifel, daß die Zwölftafeln einige der fünf bezeugten Legisaktionenprozesse nicht erst einführten, sondern lediglich fixierten und damit in ihrer Geltung bestätigten. Zudem bekunden sie eine vordecemvirale Gerichtsgewalt16. 3. Wörtlich überlieferte Fragmente und indirekte Zitate der Zwölftafeln geben uns authentische Nachrichten über den frühen Legisaktionenprozeß17. Die ergiebigste Quelle ist allerdings das 4. Buch der gajanischen Institutionen18. Gaius hat seine Institutionen zwar erst um 161 n. Chr. geschrieben. Gleichwohl dürfen sie 9
Kaser 17–24. Bethmann-Hollweg 36, 46; Ulrich Manthe, Römisches Privatrecht, in Einleitung in die lateinische Philologie hg. von F. Graf (1997) 454. 11 Die ersten, von einer ausschließlich patrizisch besetzten Kommission verfassten 10 Tafeln wurden 451 v. Chr. von den Centuriatcomitien angenommen, die 11. und 12. Tafel von einer zweiten, mit Patriziern und Plebejern besetzen Kommission verfaßt und 449 v. Chr. Gesetz. 12 Von kleinen Teilstücken abgesehen, die wir dem Interesse der Grammatiker verdanken; siehe etwa Gerhard Radke, Archaisches Latein (1981) 124–135. 13 Radke (cit. A. 12) 123–136. 14 Die Überlieferung schreibt die Zweiteilung des Verfahrens dem König Servius Tullius zu: Dion. Hal. 4. 25. 2; 4. 36. 2 – eine wohl legendäre Zuordnung. – BethmannHollweg 56; Kaser 31, 23/4. 15 Sie wird von Georg Wissowa, Religion und Kultus der Römer (2. Aufl. 1912) und Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte (1960) nicht einmal erwähnt. 16 Siehe unten bei A. 52. – Bethmann-Hollweg 49. 17 Beispiele: Pomponius Porphyrios, Hor. Sat. 1. 9. 74: SI IN IUS VOCAT, ITO. NI IT, ANTESTAMINO. IGITUR EN CAPITO. – Festus, s. v. struere 408: SI CALVITUR PEDEMVE STRUIT, MANUM ENDO IACITO. – Gellius 16. 10. 5: ADSIDUO VINDEX ADSIDUUS ESTO. PROLETARIO IAM CIVI QUIS VOLET VINDEX ESTO. 18 Gai 4. 10–30. 10
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im Großen und Ganzen als verläßliche Unterrichtung über den frühen Prozeß in Privatsachen gelten. Ihre historische Verläßlichkeit und ihre literarisch sorgfältig klare Darstellung waren offenbar das Interesse und die Absicht des Schuljuristen und Schriftstellers Gaius, was auch seine 6 Bücher ad leges XII tabularum nachdrücklich belegen. II. Die legis actiones: Allgemeines 1. Gaius19 nennt fünf Arten, modi, von legis actiones: drei Erkenntnis- und zwei Vollstreckungsverfahren. Von den Erkenntnisverfahren waren offenbar zwei schon in Geltung, als die Zwölftafeln Gesetz wurden: die legis actio sacramento in zwei Versionen, in personam und in rem20; und die, vermutlich jüngere, legis actio per iudicis arbitrive postulationem21. Die dritte, die legis actio per condictionem, ist später erlassen worden, auch sie in zwei Versionen22: durch eine lex Silia23 für Ansprüche auf certa pecunia24, durch eine lex Calpurnia25 für Ansprüche auf alia certa res. Das wohl ältere, von den Zwölftafeln legitimierte Vollstreckungsverfahren per manus iniectionem war von eigener Art26. Es setzte nicht nur voraus, daß die Haftung des Schuldners außer Streit stand. Der haftende Schuldner, der die in Geld bezifferte Schuld nicht bezahlt hatte, und dem der vollstreckende Gläubiger auf der Gerichtsstätte, vor dem Magistrat, vor den er ihn geladen hatte, die Hand anlegte, konnte sich von dieser Bemächtigung nicht selbst befreien. Er mußte einen vindex stellen, der das Zugriffsrecht des Gläubigers bestritt und mit ihm über die Haftung des Schuldners und damit über das Zugriffsrecht des Gläubigers prozessierte. – Auch die legis actio per pignoris capionem scheint nicht erst durch die Zwölftafeln erlassen worden zu sein27. Ihre Zuständigkeit war eng begrenzt und teils durch Herkommen, teils durch Gesetz bestimmt. Sie war insofern von besonderer Eigenart, als sie nicht in iure stattfinden mußte, sondern an beliebigem Ort vollzogen werden konnte, und daß Anwesenheit oder gar Mitwirkung des Magistrats nicht erforderlich war. 2. Die legis actiones hatten ihre Geltungsgrundlage in Volksgesetzen. Daraus folgte, daß sie ausschließlich römischen Bürgern vorbehalten waren und, wie sich 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Gai 4. 12. Gai 4. 13–17. Gai 4. 17 a. Gai 4. 19. Nach Rotondi (cit. A. 12) 261 vor 204 v. Chr. Gai 4. 19. Nach Rotondi (cit. A. 12) 263 nach 204 v. Chr. Gai 4. 21–25. Gai 4. 26–29.
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versteht, nur gewaltfreien römischen Bürgern28. Auch gewaltfreie Frauen konnten eine legis actio anstrengen, doch nur mit auctoritas ihres Tutors. Dasselbe galt für unmündige Knaben und Mädchen. Für den infans mußte sein Tutor prozessieren – während im übrigen eine Vertretung in den Legisaktionenverfahren ausgeschlossen war29. 3. Die Gerichtsstätte war jedenfalls seit den Zwölftafeln auf dem comitium30. Dort mußten sich Kläger und Beklagter vor dem Magistrat einfinden, wie bei den kontradiktorischen Klagen, so auch bei der manus iniectio. Den Beklagten vor den Magistrat zu bringen, war Sache des Klägers, das Mittel die – auf der ersten der zwölf Tafeln normierte – in ius vocatio31. Der Kläger mußte sie wohl in einer Formel dem Beklagten zusprechen, und der Beklagte der Ladung sofort Folge leisten. Weigerte er sich, stand es dem Kläger frei, ihm vor Zeugen die Hand aufzulegen und, weigerte sich der Beklagte nach wie vor, mit Gewalt vor den Magistrat zu bringen. War der Geladene krank oder alt, sollte der Kläger ihm ein Lasttier oder eine Kutsche stellen32. Der vocatus mußte, wie gesagt, dem Kläger sofort folgen, es sei denn, daß ein vindex für ihn eintrat, sich damit, an Stelle des Geladenen, dem Kläger haftbar machte und ihm vor den Magistrat folgte33. 4. Die Zweiteilung des privaten Gerichtsverfahrens stand offenbar schon für die Kommission der Zwölftafelgesetzgebung außer Frage34; ein offenkundiger Hinweis ist die legis actio per iudicis arbitrive postulationem35. Der erste Abschnitt des Verfahrens fand in iure, vor dem Magistrat statt, der zweite apud iudicem, vor dem Urteilsrichter oder einer Richterbank. Der Aufgabenbereich des Gerichtsmagistrats wurde mit ,do, dico, addico‘ umschrieben: do stand für iudicem dare, dico für vindicias dicere, addico für die Zuweisung eines Urteilsgerichts. An dies nefasti waren diese Akte, mit Ausnahme der legis actio per pignoris capionem, nicht zulässig.
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Kaser 45/6; Bethmann-Hollweg 49, 51. Daß der vindex oder im Freiheitsprozeß der adsertor die Interessen eines anderen wahrnahm, sind keine Ausnahmen, da sie selbst in jeder Hinsicht Kläger oder Beklagter waren. Vgl. Kaser 46/7. 30 XII T. I. 7. – Bethmann-Hollweg 73–75. 31 XII T. I. 1: SI IN IUS VOCAT, ITO. NI IT, ANTESTAMINO. IGITUR EN CAPITO. – I. 2: SI CALVITUR PEDEMVE STRUIT, MANUM ENDO IACITO. 32 XII T. I. 3: SI MORBUS AEVITASVE VITIUM ESCIT, QUI IN IUS VOCABIT, IUMENTUM DATO. SI NOLET, ARCERAM NE STERNITO. 33 Keller/Wach 231/3; Kaser 49. 34 Eine Hypothese zu ihren Anfängen oben bei A. 14. Nach Kaser 32/3 war ein wesentliches Motiv der Zweiteilung das Verlangen der Parteien nach sachgerechter Entscheidung durch unparteiische Richter, ein zusätzliches allerdings auch die Entlastung des Magistrats. 35 Gai 4. 17 a = XII T. II 1 1 b. 29
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Gerichtsmagistrat war, allen Quellen zufolge, der Prätor. Die Prätur ist indessen erst 367 v. Chr. durch eine lex Licinia Sextia eingerichtet worden36, und es ist keine Frage, daß bis dahin die Gerichtsgewalt mit dem höchsten Staatsamt verbunden war. Welches aber nach dem Sturz des Königtums bis 367 v. Chr. das höchste Staatsamt war, steht dahin. 5. Der Gerichtsmagistrat bewilligte oder verweigerte das Urteilsgericht. Mit dessen denegatio war das Verfahren beendet. Bewilligte er das Urteilsgericht, ließ er die Streitparteien die Spruchformel sprechen und ernannte auf ihren Antrag das Gericht: einen Einzelrichter, einen iudex unus oder einen arbiter, oder eine Richterbank. Durch die Spruchformel der Streitparteien wurde das Urteilsgericht über das Verfahren instruiert und auf die Grenzen des Streitthemas festgelegt. (a) In aller Regel bestellte der Magistrat einen Einzelrichter37: in einem kontradiktorischen Verfahren einen iudex, in einem Schlichtungsverfahren – wie bei der actio familiae erciscundae, der Erbteilungsklage – oder in einem Schätzungsverfahren – wenn etwa eine Geldbuße nach einem Schätzwert zu berechnen war – einen arbiter. Indessen ebnete sich der Unterschied schon frühzeitig ein, weil etwa bei pönalen Klagen dem iudex auch die Aufgabe der Schätzung der Buße zufiel. Bis in das späte 2. Jahrhundert v. Chr. konnten nur Senatoren zu Urteilsrichtern bestellt werden. Erst die lex iudiciaria des Gaius Gracchus von 122 v. Chr. öffnete die Liste auch für equites, leitete aber zugleich für die nächsten hundert Jahre eine wechselvolle Reformhektik ein. (b) Über die Richterbank der centumviri und die der decemviri gibt es für die Frühzeit so gut wie keine Quellenbelege38. Gleichwohl werden sie heute bis in die Frühzeit datiert, weil noch unter dem Prinzipat bei einer Gerichtssitzung der centumviri eine Lanze, das alte Symbol der Staatsgewalt, aufgestellt wurde39 und ihre Funktion als Urteilsgericht nach wie vor an die Einleitung des Verfahrens durch die legis actio sacramento gebunden war40. Über das frühe Gericht der decemviri wissen wir noch weniger, durch Cicero41 lediglich, daß sie in Sakramentsprozessen als Urteilsrichter bestellt wurden, wenn über die Freiheit eines Menschen zu entscheiden war. 6. Die Zwölftafeln haben die Streitverhandlung in iure zeitlich eingeschränkt. Die Verhandlung sollte ante meridiem beginnen und mit Sonnenuntergang en36
Rotondi (cit. A 3) 219. Kaser 41/2; Keller/Wach 33–37. 38 Kaser 37–41; Keller/Wach 24–32 und 22–24. 39 Gai 4. 16. 40 Gai 4. 31. Die centumviri urteilten – jedenfalls in späterer Zeit – in Ausschüssen oder Kammern (consilia; auch iudicia: 2. 14. 4) und waren zuständig für die hereditatis petitio, die querela inofficiosi testamenti und andere Fälle von Bedeutung: Plin. epist. 6. 33; Val. Max. 7. 8 und 7. – Bethmann-Hollweg, 56–60; Kaser 38–40. 41 Cicero, de domo sua 78; pro Caecina 97. 37
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den42. Konnte das Verfahren nicht vor Sonnenuntergang beendet werden, mußte es vertagt werden. Das Instrument der Vertagung war das vadimonium43. Der Beklagte mußte vades, Gestellungsbürgen, beibringen, die dem Kläger versprachen und sich ihm damit haftbar machten, den Beklagten in dem vorgesehenen neuen Termin zu stellen. Unterblieb die Gestellung, hafteten dem Kläger die vades, die sich allerdings freikaufen konnten. 7. Keine Gemeinsamkeit der legis actiones war so selbstverständlich und ersichtlich wie ihre Einleitung und Begründung durch einen Formalakt der Streitparteien. Der Formalakt erforderte den Vollzug genau definierter Spruchformeln, die, wie gesagt, in Volksgesetzen vorgegeben oder – weniger wahrscheinlich – gesetzlichen Vorschriften nachformuliert waren44. Die Spruchformeln der drei kontradiktorischen Erkenntnisverfahren – der legis actiones sacramento, per iudicis arbitrive postulationem und per condictionem – sowie das Vollstreckungsverfahren der legis actio per manus iniectionem bestanden in einem Austausch von Wortformeln, die einander widersprachen. Die Vollstreckung per pignoris capionem sah dagegen nur eine Spruchformel des vollstreckenden Gläubigers vor, die nicht vor dem Gerichtsmagistrat, jedoch in Anwesenheit des Vollstreckungsschuldners gesprochen werden mußte. Die gesetzliche Geltungsgrundlage der legis actiones gebot die strikte Einhaltung des Wortlauts der Formeln. Die geringste Abweichung bewirkte die Nichtigkeit der Klagbegründung. Gaius45 bringt das Beispiel, daß der Kläger, der wegen ,abgeschnittener Weinreben‘ klagte, seinen Anspruch verlor, weil er in der Formel vites und nicht, was der Wortlaut gebot, arbores gesagt hatte46. 8. Der Vollzug der Spruchformel markierte das Ende des Verfahrens in iure. Indessen mußte es nicht unbedingt so weit kommen. War die Ladung des Beklagten gelungen und standen jetzt die Streitparteien vor dem Gerichtsmagistrat, dann trug der Kläger formlos sein Begehren vor und prüfte daraufhin der Magistrat, auch durch Befragen der Streitparteien, die Prozeßvoraussetzungen: ob die Parteien prozessfähig waren, ob das Begehren des Klägers überhaupt Rechtsschutz genoß, ob das Gericht zuständig war und ob nicht schon ein anderer Prozeß über dasselbe Begehren stattgefunden hatte oder anhängig war. War eine dieser Prozeßvoraussetzungen nicht gegeben, wies er das Begehren des Klägers zurück und beendete damit das Verfahren.
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XII T. I./, 9. – Bethmann-Hollweg, 75–88; Keller/Wach 19. Varro, de lingua Latina 6. 74. André Fliniaux, Le vadimonium (1908) 1–35; Kaser 51. – Das Vertagungsvadimonium ist von dem später eingeführten sogenannten Ladungsvadimonium strikt zu unterscheiden. 44 Gai 4. 11. 45 Gai 4. 11. 46 Keller/Wach 56; Kaser 24. 43
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Waren die Prozeßvoraussetzungen erfüllt, konnte der Beklagte das Begehren des Klägers anerkennen oder bestreiten. Das Anerkenntnis, das vermutlich in einer Formel geschehen mußte, führte bei der actio sacramento in rem sofort zur addictio des Eigentums, bei actiones in personam, wie nach einer Verurteilung, binnen 30 Tagen zur Vollstreckung. Bestritt dagegen der Beklagte das Begehren des Klägers, erteilte der Magistrat die zuständige legis actio und gestattete den Streitparteien den Vollzug der Spruchformel und damit die Streitbegründung und Definition des Prozeßprogramms. 9. ,Von Altersher‘, so liest man bei Keller und Wach, schloß das Verfahren in iure mit der litis contestatio, einer Zeugenanrufung der Streitparteien47. Der Aufruf sei ein Solennitätsakt gewesen und die Aufgabe der Zeugen, über ,den ganzen Hergang in iure‘, so erforderlich, Auskunft zu geben48. Ähnlich schreibt Bethmann-Hollweg, daß die Streitparteien ,durch eine förmliche Zeugenaufrufung‘, die litis contestatio, das ganze Verfahren in iure beglaubigten49. Für Pugliese war die litis contestatio ,l’invito rivolto ai testimoni di constatare la controversia tra le parti, in modo da potere in futuro darne eventuale testimonianza‘50. Und um noch eine Meinung zu nennen: nach Kaser war die Aufgabe der aufgerufenen Zeugen, den Vollzug der Spruchformel zu bezeugen51. Wir verfolgen die Frage nicht weiter, weil es über die litis contestatio im Legisaktionenprozeß keinerlei zuverlässige Nachrichten gibt. III. Die legis actio sacramento 1. Von den fünf legis actiones, die Gaius nennt, wird die l e g i s a c t i o s a c r a m e n t o für die älteste gehalten; sie soll längst vor den Zwölftafeln durch ein Gesetz, wie ihr Titel sagt, eingerichtet worden sein52. Noch Gaius sagt von
47 Festus-Paulus p. 57 M.: Contestari litem dicuntur duo aut plures adversarii, quod ordinato iudicio utraque pars dicere solet: testes estote. – p. 38 M.: Contestari est, cum uterque reus dicit: Testes estote. – Festus p. 273 M.: . . . ,Reus est, qui cum altero litem contestatam habet, sive is egit, sive cum eo actum est . . .‘. Nach Meinung vieler sprechen diese Texte von den legis actiones. Festus habe Verrius Flaccus, De verborum significatu rezipiert und Verrius Flaccus die Ergebnisse der republikanischen grammatischen und antiquarischen Forschung gesammelt. Vgl. etwa Pugliese I 389–392. 48 Keller/Wach 297. 49 Bethmann-Hollweg I 102. 50 Pugliese I 389/90. 51 Kaser 57–59; M. Kaser/K. Hackl 74–80. 52 In der Tat liegt nahe, daß sacramentum ursprünglich nicht, wie wir sehen werden, eine Summe Geldes, sondern ein Eid war, mit dem jede Streitpartei die Richtigkeit ihrer Rechtsbehauptung beschwor; vgl. Festus p. 344 M. und Festus-Paulus p. 345 M.; Kaser 61/2. – Sacramentum könnte, wenngleich weniger wahrscheinlich, die Geldsumme aber auch darum heißen, weil sie ursprünglich in sacro, in eine Tempelkasse, gezahlt werden mußte: Varro lingua latina 5. 180. Vgl. auch Keller/Wach 57.
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ihr, daß sie eine actio generalis war53, was bedeutet, daß sie stets zuständig war, wenn für das Begehren des Klägers keine andere Klagart gesetzlich vorgesehen war54. Zugleich ergibt sich daraus, daß ihre Spruchformel sozusagen neutral gefaßt55, mithin nicht auf ein konkretes Klagbegehren formuliert war, und weiter, daß sie von Fall zu Fall um das konkrete Begehren des Klägers ergänzt werden mußte. 2. Die auffälligste Eigenheit der legis actio sacramento bestand indessen darin, daß die Streitparteien sich gegenseitig aufforderten, für die Richtigkeit ihrer Rechtsbehauptungen, nach Art einer Wette, ein sacramentum, eine Summe Geldes einzusetzen. Bestritt der Beklagte das Begehren des Klägers, so forderte ihn der Kläger auf, das sacramentum zu leisten: QUANDO NEGAS, TE SACRAMENTO QUINGENARIO PROVOCO56. Der Beklagte antwortete: ET EGO TE. Der Geldbetrag war gestuft: lag der Streitwert bei 1000 As oder mehr, betrug das sacramentum 500 As; lag er unter 1000 As oder ging der Rechtsstreit um die Freiheit eines Menschen, betrug das sacramentum 50 As57. Wer im Prozeß unterlag, verlor seinen ,Wetteinsatz‘ an das aerarium, die Staatskasse58, wer obsiegte, erhielt seinen Einsatz zurück. Ursprünglich mußten die Streitparteien das sacramentum sofort, bei der Streitbegründung, in einen Tempelschatz zahlen59; später, wie Gaius berichtet60, der Unterlegene erst nach dem Urteilsspruch in publicum, an den Staat. IV. Die legis actio sacramento in rem 1. Von den Spruchformeln der beiden Versionen, der legis actio sacramento in personam und der in rem, ist vollständig nur die der l e g i s a c t i o s a c r a m e n t o i n r e m überliefert61. Das Ritual der Eigentumsklage (wie wir sie nach ihrem primären Zweck nennen) erforderte, daß die umstrittene Sache, wenn sie beweglich war oder, wie 53
Gai 4. 13. Gai 4. 13. 55 Vgl. Probus 4. 1: A.T.M.D.O.: aio te mihi dare oportere. Anders Kaser 65 A. 11: obwohl die Klage generalis gewesen sei, werde ihre Formel den Klaggrund genannt haben. 56 Probus 4. 2: Q.N.T.S.Q.P. 57 XII T. 2. 1; Gai 4. 14. – Die Beträge von 500 und 50 As sind offenbar an die Stelle von 5 Rindern und 5 Schafen getreten, die der Zahlungsmaßstab waren, bevor Rom in der 1. H. des 3. Jhs. eigenes Geld in Bronze goß (aes grave) und demnächst prägte. Vgl. Festus p. 237 M. s. v. Peculatus. – Keller/Wach 59/60 mit A. 199. 58 Nach Gaius 4. 13: poenae nomine. 59 Varro lingua latina 5. 180. 60 Gai 4. 13. – Bethmann-Hollweg 126–146. 61 Die legis actio sacramento in rem war zuständig für alle Herrschaftsrechte, zu denen insbesondere das Eigentum gehörte, aber etwa auch die Feldservituten oder die Erbschaft. 54
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etwa ein Tier, sich bewegen konnte, auf die Gerichtsstätte gebracht oder geführt wurde. War die umstrittene Sache unbeweglich oder so beschaffen, daß sie nicht auf die Gerichtsstätte gebracht oder geführt werden konnte, wie etwa eine Säule oder ein Schiff oder eine Herde Schafe, so wurde ein Stück von der Säule oder eine Planke des Schiffs oder ein Schaf der Herde vor den Magistrat gebracht62. Als erstes unterrichtete der Kläger formlos, in freier Rede, den Magistrat über sein Klagziel: daß er der Eigentümer der beigebrachten Sache sei und ihm darum das Eigentum auch zugesprochen werden müsse. Erklärte sich der Beklagte mit derselben Rede und fand der Magistrat die Prozeßvoraussetzungen gegeben, dann forderte er die Streitparteien auf, das Ritual zu vollziehen. Anerkannte der Beklagte die Behauptung des Klägers, fand das Verfahren mit der addictio der umstrittenen Sache unverzüglich sein Ende. 2. Die Streitparteien standen, wie wir uns vorstellen müssen, neben der umstrittenen Sache, etwa dem umstrittenen Sklaven, wohl einander gegenüber, und jeder hielt eine festuca, einen Stab, in der Hand, der in der Spruchformel nach seiner Funktion vindicta genannt wird. Als erster sprach der Kläger seine Behauptung, wobei er eine Hand an den Sklaven legte: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO. SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI. Und während er sprach, legte er auch die festuca auf den Sklaven. Was der Kläger gesprochen und getan hat, wiederholte der Beklagte. Auch er legte eine Hand an den Sklaven und sprach: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO. SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI. Und während er sprach, legte auch er seine festuca auf den Sklaven. Jetzt ergriff der Magistrat das Wort und befahl den Streitparteien, den Sklaven loszulassen: MITTETE AMBO HOMINEM. Danach hatten wieder die Parteien das Wort. Der Kläger forderte den Beklagten auf zu erklären, aus welchem Grunde er vindiziert, nämlich behauptet habe, daß der Sklave ihm gehöre: POSTULO ANNE DICAS QUA EX CAUSA VINDICAVERIS. Darauf der Beklagte: IUS FECI SICUT VINDICTAM INPOSUI. Jetzt forderte der Kläger den Beklagten auf, das sacramentum zu leisten: QUANDO TU INIURIA VINDICAVISTI D AERIS SACRAMENTO TE PROVOCO. Was der Beklagte, abschließend, mit den Worten beantwortete: ET EGO TE. War die umstrittene Sache eine res mancipi und hatte der Beklagte sie gekauft und war sie ihm manzipiert worden, so war der Veräußerer verpflichtet, als auctor dem verklagten Käufer Prozeßhilfe zu leisten, nämlich die Rechtmäßigkeit des Erwerbs zu bezeugen. Der Beklagte mußte ihn förmlich laden63 und der geladene Veräußerer in einem neuen Termin die Gewährschaft erbringen64. 62
Gai 4. 17. Probus 4. 7: Q.I.I.T.C.P.A.F.A.: quando in iure te conspicio postulo anne far auctor; Cicero, pro Caecina 19. 54; pro Murena 12. 26. 63
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Nachdem das Ritual vollzogen war65, zahlten die Streitparteien das sacramentum ein, das sie später, wie Gaius berichtet, dem Magistrat versprachen und für dessen Erfüllung sie Bürgen stellten66. Der Magistrat sprach einer der beiden Parteien für die Dauer des Verfahrens den Besitz der umstrittenen Sache zu, vindicias dicebat, und hielt die ausgewählte Partei an, dem Gegner Bürgen für den Fall zu stellen, daß dieser den Prozeß gewann und er ihm den Sklaven herausgeben mußte67. 3. Das Verfahren in iure schloß mit der Ernennung eines Einzelrichters oder einer Richterbank durch den Magistrat und der wechselseitigen Aufforderung der Streitparteien, am übernächsten Tag vor dem iudex oder der Richterbank zu erscheinen68. Die Zwölftafeln sahen allerdings auch noch in diesem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit, daß die Parteien sich verständigten und ihren Streit beilegten. Dazu sollte sich dann der Magistrat äußern: REM UBI PACUNT ORATO69. Verständigten sie sich nicht, sollten sie die Streitsache auf dem comitium oder auf dem forum am Vormittag verhandeln: NI PACUNT IN COMITIO AUT IN FORO ANTE MERIDIEM CAUSSAM COICIUNTO70. 4. Das Verfahren vor dem Urteilsgericht, dem iudex oder der Richterbank, war formlos. Die Verhandlung begann mit der causae coniectio, einer gedrängten Darstellung der Streitlage, die offenbar von beiden Parteien vorgetragen wurde71. Sodann trug jede Partei ihre Argumente vor, und nach diesen Parteivorträgen erfolgte das Beweisverfahren. War eine Partei ausgeblieben, wurde post meridiem der anwesenden Partei die umstrittene Sache zugesprochen72. Waren beide Parteien anwesend, was die Regel war, dauerte dieser zweite Prozeßabschnitt allenfalls bis Sonnenuntergang. In der Frühzeit, so wird durchweg angenommen, war die Beweiswürdigung an feste Regeln gebunden73. Der Dieb etwa, der in flagranti ergriffen oder in dessen 64
Kaser 72/3. Eine Interpretation der legis actio: J. G. Wolf, Zur legis actio sacramento in rem, in Römisches Recht in der europäischen Tradition, Symposion aus Anlaß des 75. Geburtstages von Franz Wieacker, herausgegeben von O. Behrends, M. Diesselhorst, W. E. Voß (1985) 1–39. 66 Gai 4. 16. 67 Kaser 73/4: M. Kaser/K. Hackl 99–101. 68 Gai 4. 15: Postea tamen quam iudex datus esset, comperendinum diem ut ad iudicem venirent denuntiabant; Probus 4. 9: I.D.T.S.P.: in diem tertium sive perendinum; Festus-Paulus p. 283 M.: Res conperendinata significat iudicium in diem tertium constitutum. 69 XII T. 1. 6. 70 XII T. 1. 7. – Rhetorica ad C. Herennium 2. 13. 20. 71 Gai 4. 15 i. f. 72 XII T. 1. 8.: post meridiem praesenti litem addicito. 73 Auch zum Folgenden Kaser 85–87; M. Kaser/K. Hackl 117–120. 65
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Haus lance licioque das gestohlene Gut gefunden wurde74, war der Tat überführt. Und der Besitzer der gestohlenen Sache war, wenn sie bei ihm testibus praesentibus entdeckt wurde, des furtum conceptum schuldig. Erst allmählich soll die freie Beweiswürdigung aufgekommen und sich zögernd entwickelt haben. Die durch Eid bekräftigte Parteiaussage, aber auch die Aussage der stets vereidigten Zeugen waren dagegen seit alters die bevorzugten Beweismittel. 5. Auch das Urteil war an keine Form gebunden. Es heißt sententia, weil es die persönliche Überzeugung des Richters wiedergibt. Im Verfahren der legis actio sacramento in rem ist das Urteil ein Feststellungsurteil: es stellt fest, welche Streitpartei der Eigentümer der umstrittenen Sache, in unserem Fall des Sklaven, ist. Nach der Struktur der Spruchformel stellt das Urteil allerdings in erster Linie fest, wessen sacramentum ,rechtmäßig‘ und wessen sacramentum ,nicht rechtmäßig‘, wessen iustum und wessen iniustum ist: iustum ist das des Eigentümers, iniustum das des Nicht-Eigentümers. Gleichwohl ist nicht wahrscheinlich, daß sich das Urteil auf die Feststellung ,iustum‘ beschränkte, vielmehr ist anzunehmen, daß es auch die Entscheidung der eigentlichen Rechtsfrage nach dem Eigentümer der umstrittenen Sache zum Ausdruck brachte75. War der Zwischenbesitz bei der unterlegenen Partei, dann konnte die obsiegende Partei jetzt die Sache, um die gestritten wurde, von ihrem Gegner herausverlangen. V. Die legis actio sacramento in personam 1. Über die l e g i s a c t i o s a c r a m e n t o i n p e r s o n a m haben wir erheblich weniger Nachrichten. Insbesondere ist im Codex Veronensis die Seite 192 nicht mehr zu lesen, wo Gaius von der persönlichen Sakramentsklage handelte und auch ihre Spruchformel wiedergegeben haben muß. Es versteht sich, daß die Ladung vor den Magistrat bei der legis actio sacramento in personam nicht anders vonstatten ging als bei der Sakramentsklage in rem. Erst mit dem Beginn der Verhandlung in iure zeigten sich die Unterschiede. Jetzt legte der Kläger sein Begehren dar: seinen Anspruch gegen den, nach seinem Vortrag, verpflichteten Beklagten. Wieder versteht sich, daß er den Anspruch begründen, seinen Ursprung ausführen mußte, ein Delikt etwa, Diebstahl oder Körperverletzung, oder ein Rechtsgeschäft, aus dem der Beklagte verpflichtet war und haftete. War das Begehren des Klägers offenkundig, die Haftung des Beklagten etwa durch ein furtum manifestum oder einen Libralakt – vielleicht ein 74 Zum Ritual der Haussuchung im altrömischen Recht J. G. Wolf, Lanx und licium, in Sympotica Franz Wieacker sexagenario Sasbachwaldeni a suis libata (1970) 59–79. 75 Keller/Wach 60/1: „denn über dieses Recht (das Eigentum) war ja gewettet, und von dem Befinden des Richters über dasselbe musste der Entscheid abhängen, der allein seine eigentliche und förmliche Aufgabe ausmachte, nämlich, wessen Wette gut, und wessen dagegen verloren und verfallen sei . . .“; Kaser 8; M. Kaser/K. Hackl 122/3.
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legatum per damnationem, ein nexum oder eine Zusicherung des modus agri – begründet, so war sie unmittelbar vollstreckbar, das Erkenntnisverfahren überflüssig und die Verhandlung beendet. In allen anderen Fällen nahm die Verhandlung ihren Verlauf, trug der Beklagte seine Einwände vor, prüfte alsdann der Magistrat die Prozeßvoraussetzungen und verlangte schließlich den Vollzug der Spruchformel. 2. Versuchen wir eine Rekonstruktion, so ist Probus’ Abkürzungsliste hilfreich. Der Kläger begann nach Probus76 mit der Behauptung: AIO TE MIHI DECEM MILIA AERIS DARE OPORTERE. Wir vermuten indessen, daß er in seiner Behauptung den Rechtsgrund nannte, sie also gelautet haben könnte77: TE MIHI FURTUM PATERAE AUREAE FECISSE AIO oder AIO TE EX TESTAMENTO MILIA AERIS MIHI DARE OPORTERE. An sie schloß er die Aufforderung an78: ID POSTULO AIAS AN NEGES. Anerkannte der Beklagte den Anspruch des Klägers, war das Verfahren beendet und der Beklagte der Vollstreckung ausgesetzt. Widersprach er dagegen formgerecht, forderte ihn der Kläger auf, das sacramentum zu leisten79: QUANDO NEGAS TE SACRAMENTO QUINGENARIO PROVOCO. Worauf der Beklagte, wie in der Spruchformel der actio in rem80, entgegnete81: ET EGO TE. Wohl auf förmlichen Antrag des Klägers82 ernannte der Magistrat alsdann einen iudex oder eine Richterbank, während sich die Parteien wechselseitig aufforderten, am übernächsten Tag vor dem Urteilsgericht zu erscheinen. Eine nachdecemvirale lex Pinaria verfügte, daß die Bestellung des Urteilsgerichts nicht mehr sofort nach dem Vollzug der Spruchformel erfolgte, sondern erst nach 30 Tagen in einem neuen Gerichtstermin83. In der Folge dieser Reform forderten sich die Streitparteien nunmehr wechselseitig auf, an diesem Termin wieder vor den Magistrat zu kommen, und in diesem Termin, am vorbestimmten Tag vor dem Urteilsrichter zu erscheinen. 3. Das Urteilsgericht endete mit dem Freispruch des Beklagten oder seiner Verurteilung. Lautete die Verurteilung auf Leistung und zahlte der Verurteilte nicht ohne weiteres, war dem obsiegenden Kläger die Vollstreckung des Urteils im Wege der legis actio per manus iniectionem anheimgestellt. Wurde der Be76
Probus 4. 1. Ebenso Keller/Wach 71. – Bethmann-Hollweg 147–150. Kaser 65. 78 Wohl wie in der Spruchformeln der legis actiones per iudicis postulationem und per condictionem: Gai 17 a und 17 b. So auch Kaser 65. 79 Probus 4. 2. Kaser 65; Keller/Wach 71. 80 Gai 4. 16. 81 Kaser 65. 82 Probus 4. 8: T.PR.I.A.V.P.V.D.: te ptaetor iudicem arbitrumve postulo uti des. 83 Gai 4. 15. Keller/Wach 59; Kaser 82/3. Für willkürlich hält Rotondi (cit. A. 4) 472/3 die Datierung der lex Pinaria in das Jahr 432 v. Chr. 77
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klagte aber wegen einer schweren Körperverletzung, nämlich wegen einer Verstümmelung verurteilt, erlaubten die Zwölftafeln Talion: Vergeltung durch die gleiche Verstümmelung84. Sie konnte allerdings durch die Vereinbarung einer Geldzahlung abgewendet werden. VI. Die legis actio per judicis arbitriva postulationem 1. Die legis actio per iudicis arbitrive postulationem war offenbar jünger als die Sakramentsklagen und ist vielleicht erst mit den Zwölftafeln in Geltung gekommen85. Unterrichtet über sie sind wir vor allem durch das Gaiusfragment, das 1933 in Ägypten bekannt geworden ist86. Die legis actio per iudicis arbitrive postulationem erforderte keinen ,Wetteinsatz‘, was vermutlich der Anlaß ihrer Einrichtung war. Sie war zwar, was die Zwölftafeln verordneten, für Klagen aus Stipulation zuständig, aber auch de hereditate dividenda inter coheredes87. Die Erbteilung war kein kontradiktorisches Verfahren, es gab keinen Kläger und keinen Beklagten, und darum mit der Sakramentsprozedur nicht vereinbar. Es war folglich auch unproblematisch, als später eine lex Licinnia der legis actio per iudicis arbitrive postulationem auch die Teilung einer gemeinschaftlichen Sache zuwies88. 2. Bis zum Vollzug der Spruchformel nahm das Verfahren keinen anderen Verlauf als bei den besprochenen Legisaktionsprozessen. Mit der Spruchformel, die Gaius wiedergibt, verfolgt der Kläger einen Anspruch aus Stipulation. Er behauptet, daß ihm aus dieser Stipulation certa pecunia geschuldet werde und fordert den Magistrat sofort auf, weil der Beklagte formgerecht widerspricht, einen iudex oder arbiter einzusetzen: EX SPONSIONE TE MIHI X MILIA SESTERTIUM DARE OPORTERE AIO: ID POSTULO AIAS AN NEGES. Weil der Beklagte erwiderte, daß er nicht schulde, wendet sich der Kläger zunächst gegen ihn und dann gegen den Magistrat mit den Worten89: QUANDO TU NEGAS TE PRAETOR IUDICEM SIVE ARBITRUM POSTULO UTI DES. Bei den Teilungsklagen war die Spruchformel, wie sich versteht, anders gefaßt90. Von einem Anspruch, einer Behauptung und einer Gegenbehauptung war in den Spruchformeln der Teilungsverfahren natürlich nicht die Rede; hier strebten die Beteiligten 84
XII T. 8. 2.: SI MEMBRUM RUPSIT NI CUM EO PACIT TALIO ESTO. Bethmann-Hollweg (1864 !) 165–169; Keller/Wach 82 halten sie für „eben so alt wie das Sacramentum“; sie sei die „unentbehrliche Ergänzung dieser Processart“. Allerdings war ihnen Gai 4. 17 a noch nicht bekannt. 86 Gai 4. 17 a. 87 Gai 4. 17 a. 88 Gai 4. 17 a; Marcianus D 4. 7. 12. Ihre Datierung ist umstritten: Rotondi (cit. A. 4); Kaser 78 A. 4; M. Kaser/K. Hackl 108 A. 5. 89 Vgl. Probus 4. 8.: T.PR.I.A.V.P.V.D.: te praetor iudicem arbitrumve postulo uti des. 90 Kaser 80. 85
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gemeinsam eine Auseinandersetzung durch den arbiter an. Für die Rekonstruktion der Spruchformel gibt es indessen keinen Anhalt. VII. Die legis actio per condictionem 1. Die l e g i s a c t i o p e r c o n d i c t i o n e m ist für Ansprüche auf certa pecunia mit der lex Silia, für Ansprüche auf aliae certae res mit der wohl noch späteren lex Calpurnia Gesetz geworden91. Das Datum dieser leges ist nicht überliefert und darum umstritten. Rotondi92 datiert die lex Silia vor 204 v. Chr., die lex Calpurnia „certo posteriore alla Lex Silia“; Monier93 zwischen 200 und 150 v. Chr.; Pugliese94 ins 3. Jahrhundert v. Chr. – was Kaser95 für das Wahrscheinlichste hält. 2. Die legis actio per condictionem war zuständig für die Rückforderung der Darlehensvaluta und die Rückforderung einer rechtsgrundlosen Zuwendung, für Ansprüche aus Stipulation auf ein certum, aus Litteralkontrakt und furtum. Aus welchem Grunde die legis actio per condictionem eingeführt worden ist, wußte man zu Gaius’ Zeiten nicht mehr96; denn ihre Zuständigkeit habe mit der der Sakramentsklage und der legis actio per iudicis arbitrive postulationem konkurriert. Indessen ist durchaus möglich, daß die genannten Ansprüche der Zuständigkeit der beiden älteren legis actiones mit der Einrichtung der legis actio per condictionem entzogen wurde. Wir werden sehen, daß die Eigenart der legis actio per condictionem für ihre Einrichtung maßgebend war. 3. Der Termin in iure war zweigeteilt. Nach Ladung und Vorlauf, wie sie uns bekannt sind, erfolgte die Spruchformel. Wie stets begann der Kläger97: AIO TE MIHI SESTERTIUM X MILIA DARE OPORTERE. ID POSTULO AIAS AN NEGES. Bestritt der Beklagte formgerecht, daß er die zehntausend Sesterzen schulde, forderte ihn der Kläger auf, nach 30 Tagen wieder in iure, vor dem Magistrat, zu erscheinen, um den iudex anzunehmen: QUANDO TU NEGAS IN DIEM TRICENSIMUM TIBI IUDICIS CAPIENDI CAUSA CONDICO. Erst in diesem zweiten Termin wurde die Bestellung des iudex beantragt und der Urteilsrichter vom Magistrat eingesetzt. 4. PER CONDICTIONEM, so belehrt uns Gaius, heiße die Klage, weil der Kläger dem Beklagten den 30. Tag ansage, und condicere bedeute in der ,altehrwürdigen‘ Sprache denuntiare, ,verkünden‘. Wichtiger ist zu sehen, daß durch 91 92 93 94 95 96 97
Gai 4. 19. – Bethmann-Hollweg 150–155; Keller/Wach 88–96; Kaser 80–82. Rotondi (cit. A. 4) 261 und 263/4. Raymond Monier, Manuel élémentaire de droit romain I (6. Aufl. 1947) 145. Pugliese 347. Kaser 81 A. 4; M. Kaser/K. Hackl 111 A. 4. Gai 4. 20. Gai 4. 17 b.
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das Gesetz selbst, unabhängig von der Absicht der Streitparteien, in das Ritual eine Frist von 30 Tagen sozusagen eingebaut war, in der der Rechtsstreit beigelegt werden konnte: sei es, daß der Beklagte die Schuld bezahlte, sei es, daß sie ihm erlassen wurde, oder sei es, daß die Streitparteien einen Kompromiß fanden. In dieser eigentümlichen Bestimmung liegt vermutlich der Grund der Einrichtung der legis actio per condictionem. Ob sich die Streitparteien, wie später bei der condictio des Formularverfahrens, schon bei der legis actio per condictionem gegenseitig verpflichtet haben für den Fall, daß sie unterliegen, dem Gegner ein Bußgeld zu zahlen, steht dahin98. Das Urteil war stets ein Leistungsurteil, das der obsiegenden Partei die Möglichkeit der Vollstreckung eröffnete. VIII. Die legis actio per manus iniectionem 1. Die legis actio per manus iniectionem war ein Vollstreckungsverfahren von umfassender Zuständigkeit99. Sie war das einzige Vollstreckungsverfahren für privatrechtliche Ansprüche, eröffnete aber nicht den Zugriff auf das Vermögen der Vollstreckungsschuldners, sondern auf seine Person: sie war Personalvollstrekkung. Mit dem Zugriff auf die Person des Schuldners und seine Zwangshaft sollte seine Umgebung, seine Verwandtschaft und wer ihm sonst nahe stand, angehalten werden, die geschuldete Summe Geldes zu zahlen und so die Haftung zu lösen. 2. Der Vollstreckungsgläubiger mußte, wie in den anderen Verfahren, den Schuldner vor den Magistrat laden, notfalls ihn auch gewaltsam vorführen, und zu Beginn der Verhandlung in iure, wie in allen Legisaktionsprozessen, sein Begehren in freier Rede darlegen. Er konnte damit nur Erfolg haben, wenn die Haftung des Schuldners und der Schuldbetrag außer Streit standen. Entweder mußte der Schuldner durch confessio in iure die Schuld anerkannt haben; oder sie mußte offenkundig sein – was bei furtum manifestum der Fall war und was die Zwölftafeln, aufgrund der rituellen Zeugenschaft, für Verbindlichkeiten aus negotia per aes et libram vorsahen100; oder, drittens, die Haftung mußte durch Verurteilung des Schuldners unwiderruflich feststehen. In jedem Fall war auch der Haftungsbetrag fixiert, was bei den schweren Folgen des Verfahrens, die dem unterlegenen Schuldner drohten, für die Ablösung der Haftung unerläßlich war. 3. Nach Prüfung dieser und der anderen Klagvoraussetzungen101 befahl der Magistrat den Vollzug der Spruchformel. Als Zeichen der Bemächtigung ergriff der Gläubiger ein Körperteil des Schuldners102 und sprach – wenn der Schuldner 98
Vgl. Kaser 81/82; M. Kaser/K. Hackl 112/3. Bethmann-Hollweg 155–165; Keller/Wach 96–101; Kaser 94–104; M. Kaser/ K. Hackl 131–145. 100 XII T. 6. 1. 101 Vgl. oben nach A. 46. 102 Gai 4. 21: et simul aliquam partem corporis eius prendebat. 99
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verurteilt worden war – die Formelworte: QUOD TU MIHI IUDICATUS SIVE DAMNATUS ES SESTERTIUM X MILIA QUANDOC103 NON SOLVISTI OB EAM REM EGO TIBI SESTERTIUM X MILIUM IUDICATI MANUM INICIO. Der Schuldner konnte die Hand nicht abschütteln und auch eine Antwort auf die Rede des Gläubigers war nicht vorgesehen. Wohl aber konnte er einen vindex stellen104, der die Hand des Gläubigers vom Schuldner nahm und für ihn mit dem Gläubiger über dessen Zugriffsrecht prozessierte, ihm dann aber auch persönlich haftete105. Der Schuldner war damit endgültig frei. Unterlag der vindex, verdoppelte sich die Haftungssumme106. 4. Trat kein vindex auf und unterblieb das manum depellere, sprach der Magistrat den Schuldner dem Gläubiger zu, der ihn dann abführte und in seinem Haus in Haft nahm. Er durfte ihn fesseln mit einem Strick oder mit Fußfesseln von allenfalls 15 Pfund Gewicht und mußte ihm, wenn der Schuldner sich nicht selbst versorgen wollte, täglich mit einem Pfund Speltbrei verköstigen107. So mußte er ihn 60 Tage gefangen halten, wenn nicht der Schuldner in diesen 60 Tagen doch noch ausgelöst wurde. Gegen Ende der Frist mußte der Gläubiger seinen Häftling an drei aufeinander folgenden Markttagen auf das comitium führen und die Geldsumme ausrufen, mit der der Schuldner ausgelöst werden konnte108. Blieb diese Vorführung unerhört, durfte er am dritten Markttag seinen Häftling töten oder trans tiberim in die Sklaverei verkaufen109. Livius schreibt allerdings schon zum Jahre 495 v. Chr.110, daß der Häftling nicht mehr getötet oder verkauft, sondern vom Gläubiger als Schuldknecht, der seine Schuld abarbeitete, gehalten wurde. Darum könnte die Gestattung der Zwölftafeln, den Schuldner zu töten oder zu verkaufen, schon zu ihrer Zeit nicht mehr in Übung gewesen sein. Eine lex Poetelia von 326 v. Chr. milderte schließlich das Los der Schuldknechte; denn sie verbot, sie in Fesseln zu halten111. Die Schuldknechtschaft soll sie nicht aufgehoben und auch die Vermögensvollstreckung nicht eingeführt haben112. 103 Festus P. 258 M.: „Quando“ . . . In XII quidem cum c littera ultima significat scribitur, idemque. – M. David: quamdoque; F. Eisele: quando te. 104 Gai 4. 21. 105 Vgl. XII T. 1. 4. 106 XII T. 6. 2. – Kaser 99; M. Kaser/K. Hackl 138/9. 107 XII T. 3. 3 und 4. – Kaser 101. 108 XII T. 3. 5. – Kaser 101. 109 Trans tiberim ist eine Metapher; denn um die Mitte des 5. Jahrhunderts war das andere Tiberufer nicht mehr Ausland. 110 Livius 2. 23. 6: ductum se ab creditore non in servitium, sed in ergastulum et carnificinam esse. 111 Rotondi (cit. A. 4) 230. Livius 8. 28. 8: pecuniae creditae bona debitoris, non corpus obnoxium esset. Ita nexi soluti, cautumque in posterum, ne necterentur. 112 Nach Kaser 103 soll sie auch Tötung und Versklavung nicht förmlich abgeschafft haben.
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lX. Die legis actio per pignoris capionem 1. Über die legis actio per pignoris capionem erfahren wir dagegen wenig113. Ihre Zuständigkeit wird zum Teil Gesetzen zugeschrieben, zum Teil aber auch den mores, dem Herkommen. Sie wurde nicht in iure vollzogen, nicht vor dem Magistrat und auch nicht unbedingt in Anwesenheit des Schuldners. Und anders als die übrigen von Gaius genannten Legisaktionen war sie auch an dies nefasti möglich. 2. Ihre Zuständigkeit war keine allgemeine, sondern auf Ansprüche des öffentlichen und sakralen Bereichs enumerativ beschränkt. So etwa war die pignoris capio beim Kauf eines Opfertiers zur Sicherung des gestundeten Kaufpreises möglich; auch zur Sicherung der Zahlung des Mietzinses, wenn ein Zugtier vermietet wurde, um vom Mietgeld ein Opfermahl zu bestreiten114. Und auch der Steuerpächter durfte ein Pfand nehmen, wenn der Steuerschuldner einer Vorschrift zuwider seiner Verpflichtung nicht nachkam. Außerdem war die Pfandnahme auch in Angelegenheiten der Soldaten gestattet. So durfte – nach Herkommen – der Soldat, dem der Sold vorenthalten wurde, von dem ,Zahlmeister‘ ein Pfand nehmen: ab eo, qui aes tribuebat, nisi daret, pignus capere115. 3. Das Pfand wurde immer ,mit bestimmten Worten‘ genommen, also mit einer Spruchformel: ex omnibus autem istis causis certis verbis pignus capiebatur116. Doch wie die Spruchformel lautete, ist nicht überliefert. Ebenso wenig wissen wir, ob vorweg die Rechtmäßigkeit der Pfandnahme geprüft wurde, und auch nicht, was mit der gepfändeten Sache schließlich geschah. Noch in der späten Republik soll die legis actio per pignoris capionem außer Brauch gekommen oder abgeschafft worden sein117. X. Schlußbemerkung Seit der mittleren Republik konkurrierte mit dem Legisaktionenprozeß das Formularverfahren. In seiner Grundkonzeption entsprach es dem Legisaktionenverfahren. Wie dieses war es zweigeteilt; wie im älteren so wurde auch im Formularverfahren das Streitprogramm in iure festgelegt; und wie im Legisaktionenso endete auch im Formularverfahren der Termin in iure mit der Einsetzung eines Urteilsgerichts, in aller Regel eines Einzelrichters, eines iudex. Anders als das Legisaktionen- kannte das Formularverfahren aber keine Spruchformel mehr. Formverstöße, die Prozeßverlust bedeuteten, waren damit ausgeschlossen. Das neue Verfahren stand nicht nur Bürgern offen, auch Peregrinen war es zugäng113 114 115 116 117
Keller/Wach 102–105; Kaser 104–106. XII T. 12. 1 = Gai 4. 28. Gai 4. 27. Gai 4. 29. Kaser 106.
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lich. Vor allem aber konnten auch Ansprüche, die nicht auf einer lex beruhten, im Formularverfahren eingeklagt werden. Bei diesen Eigenschaften kann es nicht verwundern, daß, wie schon berichtet, Augustus im Jahre 17 v. Chr. durch die leges Iuliae iudiciorum das Legisaktionenverfahren abschaffte – allerdings nicht ohne Ausnahme. Waren nach dem Begehren des Klägers als Urteilsrichter die centumviri zuständig, mußte das Verfahren nach alter Sitte mit der legis actio sacramento eingeleitet werden118. Zuständig waren sie vor allem in Erbschaftssachen, etwa für die querela inofficiosi testamenti oder die hereditatis petitio.
118 Zum iudicium der centumviri und ihrer Zuständigkeit Kaser 37–40; Das römische Privatrecht I (2. Aufl. 1971) 710, 711, 739.
Zur legis actio sacramento in rem* Wie die altzivilen Rechtsgeschäfte sind auch Roms frühe Prozeßformen Kunstgebilde: Nicht Brauch und Gewohnheit haben sie hervorgebracht; sie sind Expertenwerk, durchdachte Zweckschöpfungen einer rationalen Rechtskunde. Das gilt auch für die legis actio sacramento in rem, deren Ritual besonders altertümlich anmutet. Es wird von Gaius (4.16) folgendermaßen beschrieben1:
* Außer den üblichen werden folgende Abkürzungen verwendet: Bethmann-H. = M. A. v. Bethmann-Hollweg, Der röm. Civilprozeß, 1. Bd. Legis Actiones (Bonn 1864). Diósdi = G. Diósdi, Ownership in Ancient and Preclassical Roman Law (Budapest 1970). Hofmann-Szantyr = J. B. Hofmann/A. Szantyr, Lat. Syntax und Stilistik (München 1972) [2. Bd. von Leumann/Hofmann/Szantyr, Lat. Grammatik]. Huschke = Ph. E. Huschke, Zeitschrift für Rechtsgeschichte 7 (1868). Jhering = R. v. Jhering, Geist des röm. Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung I, II 1 u. 2, III (Nachdr. Darmstadt 1953/4). Karlowa, Beiträge = O. Karlowa, Beiträge zur Geschichte des röm. Civilprozesses (Bonn 1865). Karlowa, Civilprozess = O. Karlowa, Der röm. Civilprozess zur Zeit der Legisactionen (Berlin 1872). Kaser, EB = M. Kaser, Eigentum und Besitz im älteren röm. Recht (Köln/Graz 1. Aufl. 1942, 2. Aufl. [nur] mit Nachträgen 1956). Kaser, AJ = M. Kaser, Das altröm. ius (Göttingen 1949). Kaser, RZ = M. Kaser, Das röm. Zivilprozeßrecht (München 1966). Kaser, RP = M. Kaser, Das röm. Privatrecht I (München 2. Aufl. 1971). Keller = F. L. v. Keller, Der röm. Civilprozess u. die Actionen, 6. Ausgabe (Leipzig 1883) bearbeitet v. A. Wach. Kühner-Stegmann = R. Kühner/C. Stegmann, Ausführliche Grammatik der lat. Sprache, Satzlehre I/II (4. Aufl. 1962). Leumann = M. Leumann, Lat. Laut- und Formenlehre (München 1977) [1. Bd. von Leumann/Hofmann i Szantyr, Lat. Grammatik]. Lévy-Bruhl = H. Lévy-Bruhl, Recherches sur les actions de la loi (Paris 1960). Lotmar = Ph. Lotmar, Zur legis actio sacramento in rem (München 1876). Noailles = P. Noailles, Vindicta, in: Fas et ius (Paris 1948) 45–90, zuerst erschienen RH 19–20 (1940–41) 1–57. Pflüger = H. H. Pflüger, Die legis actio sacramento (Leipzig 1898). Pugliese = G. Pugliese, Il processo civile romano I: Le legis actiones (Corso di diritto romano, Rom 1961–62). Santoro = R. Santoro, Potere ed azione nell’antico diritto romano, Annali Palermo 30 (1967). Karen Bauer, Assistentin am Freiburger rechtsgeschichtlichen Institut, schulde ich für vielfache fördernde Ansprache großen Dank. 1 M. David, Gai Institutiones, Editio minor (Leiden 19642).
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Zur legis actio sacramento in rem Si in rem agebatur, mobilia quidem et moventia, quae modo in ius adferri adducive possent, in iure vindicabantur ad hunc modum: qui vindicabat, festucam tenebat; deinde ipsam rem adprehendebat, velut hominem, et ita dicebat: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO SECUNDUM SUAM CAUSAM; SICUT DIXI, ECCE TIBI, VINDIC4A TAM INPOSUI, et simul homini festucam inponebat. adversarius eadem similiter dicebat et faciebat. cum uterque vindicasset, praetor dicebat: MITTITE AMBO HOMINEM. illi mittebant. qui prior vindicaverat, sic dicebat: POSTULO, ANNE DICAS, QUA EX CAUSA VIN DICAVERIS? ille respondebat: IUS FECI, SICUT VINDICTAM INPOSUI. deinde qui prior vindicaverat, dicebat: QUANDO TU INIURIA VINDICAVISTI, D AERIS SACRA MENTO TE PROVOCO; adversarius quoque dicebat similiter: ET EGO TE; aut si res infra mille asses erat, scilicet L asses sacramentum nominabant. deinde eadem sequebantur, quae cum in personam ageretur.
Die Prozeßeinleitung zerfällt ersichtlich in zwei Abschnitte2. Der eigentlichen Streitbegründung in Rede und Gegenrede, mit der Aufforderung zur Eidesleistung und den Eidesleistungen selbst3, geht ein Vorspiel voraus. In diesem Vorspiel findet das vindicare statt; beide Prozeßgegner vindizieren, zuerst der Kläger, dann der Beklagte. Vom Verständnis dieser Vindikationen hängt das des ganzen Rituals ab. Jhering hat sie 1852 als ,Scheinakte‘ von Selbsthilfe und die ganze Szene als „Scheinkampf“ beschrieben4. Diese suggestiven Bilder beherrschen seither die Deutung des alten Rechtsgangs5. Für die meisten ist die Vindikation ein Zugriffs- oder Bemächtigungsakt: Die Prozeßgegner, die auf der Gerichtsstätte den herbeigeschafften Sklaven, jeder unter der Behauptung, er gehöre ihm, mit der Hand und mit einem Stab oder Stock 2 Ich verwende folgende Bezeichnungen: ,Prozeßeinleitung‘ nenne ich das ganze Ritual, das mit der Eigentumsbehauptung des Klägers beginnt und mit den Sakramentsleistungen endet. In der ,Prozeßeinleitung‘ unterscheide ich zwei Abschnitte; den ersten, der mit der Intervention des Magistrats endet, nenne ich ,Vorspiel‘ oder ,Vindikationsritual‘, den zweiten ,Streitbegründung‘. Im Vorspiel unterscheide ich zwei Teile: die ,Eigentumsbehauptung‘ und die ,Stabauflegung‘. Gaius nennt die gesamte Aktion einer Partei im Vorspiel, also ,Eigentumsbehauptung‘ und ,Stabauflegung‘, vindicare (s. u. nach Anm. 80); das Ritual gebraucht vindicare dagegen nur für die ,Stabauflegung‘ und auch nur für die des Beklagten (s. u. vor Anm. 114). Ich verwende ,vindizieren‘, ,Vindikation‘ überwiegend zur Bezeichnung der Stabauflegung, und zwar sowohl der des Klägers wie der des Beklagten. Wo ich bei der Verwendung von ,vindizieren‘, ,Vindikation‘ Gaius folge, wie hier in der Einleitung, ergibt es sich aus dem Kontext. Die Prozeßbeteiligten, die beide in derselben Rolle sind (u. bei Anm. 148 u. 161) und von Gaius nach qui prior vindicaverat und adversarius unterschieden werden, bezeichne ich, nur zur Erleichterung der Darstellung, mit Kläger und Beklagter. 3 Als das Ritual geschaffen wurde, waren die sacramenta Eide; s. u. nach Anm. 128. 4 Unverändert in der hier zitierten Auflage: Geist I 118 ff., insb. 150, 163 f. Über Vorgänger Jherings in der ,Selbsthilfetheorie‘ vgl. M. Staszków, SZ 80 (1963) 85 ff. Von großem Einfluß waren ersichtlich die ,Etymologischen Erörterungen von Rechtsausdrücken 1. Vindex, vindiciae, vindicere, vindicare, vindicta‘ Karl Otfried Müllers, Rheinisches Museum f. Jurisprudenz 5 (1833) 190–197. 5 Vgl. G. Broggini, SZ 76 (1959) 113 ff.; Pugliese 27 ff.; M. Staszków, SZ 80 (1963) 83 ff.; D. V. Simon, SZ 82 (1965) 138 ff. – alle mit Lit.
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berühren, bemächtigten sich seiner gewaltsam, der Kläger, wie manche hinzufügen, um ihn in Besitz zu nehmen, der Beklagte, um ihn zu verteidigen. In den „einander widersprechenden Bemächtigungsakten“ stelle sich der Kampf der Prozeßgegner um die Streitsache dar. Ihre „Zweikampfstellung“ komme auch in der Bezeichnung des Rituals mit ,Handgemeinwerden‘ zum Ausdruck – wie manum conserere seit Jhering unbekümmert übersetzt wird6. Mit dem Befehl, den Sklaven loszulassen, gebiete schließlich der Magistrat dem „stilisierten Kampf“ Einhalt7. Dieses verbreitete Konzept ist nicht das Ergebnis strenger Analyse. Durchweg ist vielmehr zu beobachten, daß die Interpretation von diesem Konzept ausgeht und das Detail des Rituals aus diesem Konzept zu erklären versucht. Und hier ist alles kontrovers. Ebenso wenig ist bisher eine konsistente Erklärung der ganzen Prozeßeinleitung gelungen. Wenn ich recht sehe, so wird sie gerade durch das Verständnis des Vindikationsrituals als Bemächtigungs- und Kampfdarstellung behindert. Denn diese Deutung ist verfehlt. Die Prozeßgegner werden nicht ,handgemein‘; es faßt nicht der eine den andern an, sondern der eine wie der andere den Sklaven. Und dieser Gestus bedeutet auch nicht Zugriff; wie das Formelwort, das er begleitet, ist er Eigentumsbekundung. Auch den Stab oder Stock kehren die Parteien nicht gegeneinander; jeder von ihnen richtet ihn vielmehr gegen den Sklaven, von dem er vorweg behauptet, er gehöre ihm. Was hier als Vorspiel zur Streitbegründung dargestellt wird, ist weder Bemächtigung noch Kampf. Die Parteien treten nicht gegeneinander an, sondern handeln nebeneinander. Jeder legt dem Sklaven die festuca auf, und das bedeutet, daß er ihn schlägt oder verletzt. Nur der Eigentümer darf aber den Sklaven schlagen. Einer von ihnen tut darum Unrecht: der Kläger, wenn die Eigentumsbehauptung des Beklagten richtig ist, der Beklagte, wenn die des Klägers zutrifft. Das Prozeßthema ist danach Recht oder Unrecht der beiden vorgespielten Taten. Da nur der Eigentümer rechtens gehandelt haben kann, wird mit der Rechtmäßigkeit der Tat inzidenter das Eigentum des Täters festgestellt. Diese Erklärung der legis actio sacramento in rem soll im Folgenden ausgeführt werden.
Der erste Abschnitt der Prozeßeinleitung: das Vorspiel I. Die Interpunktion der Spruchformel Die Scriptio continua des Veroneser Gaiuscodex gibt dem Mißverständnis der Spruchformel allen Spielraum:
6
Jhering I 114, 163 f.; s. aber auch II 2, 576. Die wörtlichen Zitate aus Kaser, AJ 18 und RZ 69; vgl. außerdem etwa D. V. Simon, SZ 82 (1965) 138 ff. mit überzeugender Ablehnung neuerer Gegenmeinungen. 7
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Zur legis actio sacramento in rem HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI.
Die Formel besteht aus zwei Hauptsätzen. Die Grammatik erlaubt, die Zäsur nach AIO oder nach der Klausel SECUNDUM SUAM CAUSAM oder auch erst nach SICUT DIXI zu legen. Die Editionen machen verschiedene Vorschläge. Heffter8 hat im Bonner Corpus, 1835, SICUT DIXI im Kommata gesetzt und damit dem Leser anheimgegeben, den Adverbialsatz zum ersten oder zum zweiten Hauptsatz zu ziehen. Die anderen frühen Ausgaben, die ich einsehen konnte, teilen dagegen eindeutig ab; sie setzen ein Kolon nach SICUT DIXI9. Von dieser Aufteilung der Formel ist zuerst, 1867, Huschke abgegangen; in der zweiten Auflage seiner Ausgabe10 schlug er vor: . . . SECUNDUM SUAM CAUSAM; SICUT DIXI, ECCE TIBI, VINDICTAM INPOSUI11. Dieser Vorschlag hat sich völlig durchgesetzt12. Studemund und Krüger13 haben sich sofort für Huschkes Interpunktion entschieden; Seckel und Kübler14 haben sie übernommen; und ihren Ausgaben wiederum sind alle späteren, von Girard15 bis David16, gefolgt17. Sie ist gleichwohl nicht aufrecht zu erhalten. Das Notenwerk des Valerius Probus18 verzeichnet unter den litterae singulares in legis actionibus (4.6) S.S.C.S.D.E.T.V. secundum suam causam sicut dixi ecce tibi vindicta. Die Siglen der Sammlung sind Abkürzungen von einzelnen Worten (wie quemadmodum, 5.20), Begriffen (usus fructus, 3.16), stehenden Wendungen (sive fraude sua, 3.24) zusammenhängenden Satzteilen (quando neque aias neque negas, 4.3) und ganzen Sätzen (quando negas, te sacramento quingenario provoco , 4.2). Jede abgekürzte mehrgliedrige Wortfolge ist unverkennbar eine Sinneinheit. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß secundum suam causam sicut dixi ecce tibi vindicta eine Ausnahme macht. Die Sigle S.S.C.S.D.E.T.V. 8 Gaii institutionum commentarii quattuor, in: Corpus Iuris Romani Anteiustiniani I (Bonn 1835) 1–120. 9 J. F. L. Goeschen/C. Lachmann, Gaii inst. comm. quattuor (Bonn 18413); E. Böcking, Gaii inst. comm. quattuor (Leipzig 18554); Ph. E. Huschke, Iurisprudentiae anteiustinianae quae supersunt (Leipzig 18611); R. Gneist, Institutionum et regularum iuris Romani syntagma (Leipzig 18802). 10 S. soeben Anm. 9. 11 S. auch Huschke 176. 12 Er ist vergeblich bekämpft worden von Lotmar 127 mit dem zutreffenden Argument, daß SICUT DIXI zu SECUNDAM SUAM CAUSAM gehört (vgl. u. bei Anm. 95). 13 Gai institutiones, Collectio liberorum iuris anteiustiniani I (Berlin 18761, 19237). 14 Gai inst. comm. quattuor (Leipzig 19031, 19398). 15 Textes de droit romain (Paris 1889/901, 19376 revidiert v. F. Senn, 19677 revidiert v. Ph. Meylan). 16 Gai institutiones, Editio minor (Leiden 19481, 19642). 17 Ebenso die gesamte Literatur bis 1940; vgl. u. Anm. 19 und 24. 18 P. Krüger, Collectio librorum iuris anteiustiniani (Berlin 18781) 141 ff.; I. Baviera, FIRA II (Florenz 1940, Neudr. 1968) 453 ff.
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verbürgt darum, daß der erste Satz der Spruchformel mit MEUM ESSE AIO endete19. Denselben Beweis erbringt die in iure cessio20. Das Rechtsgeschäft ist dem Sakrarnentsprozeß nachgebildet21 Wenn darum der Erwerber, wie im Prozeß der Kläger, den Sklaven, der ihm übereignet werden soll, mit der Hand anfassen und die Formel sprechen muß HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO, dann ist anzunehmen, daß diese Formel die Eigentumsbehauptung des Vindikationsrituals ist22. Schließlich ist auf die mancipatio zu verweisen23. Auch ihre Eigentumsbehauptung lautet: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO, und auch sie wird von der Handanlegung begleitet. Anders als die in iure cessio ist die mancipatio kein Derivat des Sakramentsverfahrens. Sie ist überhaupt kein ,nachgeformtes Rechtsgeschäft‘, sondern eine originäre Bildung. Die Übereinstimmung der Eigentumsbehauptungen im Prozeß- und Manzipationsritual erweist darum dieses Formelstück als ein Bauelement der ältesten juristischen Formelkunde. Die Beweislage läßt mithin keinen Zweifel; die Spruchformel des Vindikationsrituals ist zu lesen: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO. SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI, ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI 24.
II. Der Ablauf des Vorspiels Während der Vindikant die Spruchformel sprach, tat er zweierlei: mit der einen Hand faßte er den Sklaven an, mit der anderen legte er ihm eine festuca auf. Gaius hat die zeitliche Abfolge und das Zusammenspiel von Rede und Gesten mit großer Genauigkeit dargestellt. Der Vindikant nahm zunächst eine festuca in die Hand, faßte dann mit der anderen den Sklaven an und begann gleichzeitig mit 19 So zuerst Noailles 72 f. Zustimmend Luzatto 97 Anm. 2; Pugliese 278. Huschke 179 Anm. 6 unterstellt Val. Prob. ein Mißverständnis, um die gebotene Schlußfolgerung zu vermeiden. 20 Gai 2.24. 21 Kaser, RP 48 f. 22 Die Eigentumsbehauptung der legis actio könnte zwar für die in iure cessio um die Klausel SECUNDUM SUAM CAUSAM verkürzt worden sein. Es ist jedoch nicht ersichtlich, warum sie verändert worden sein sollte. 23 Gai 1.119. 24 So auch Kaser, EB 367, RZ 69, RP 128; Diósdi 97; L. Huchthausen, Gaius Institutionen (deutsche Übersetzung), in: Röm. Recht (Berlin u. Weimar 1983) 168. Bei Santoro 129 ff. finde ich nicht heraus, wie er schließlich interpungieren will; Jose Luis Murga, Derecho Romano Clasico, II. El Proceso (Zaragoza 1980) 122 ff., verzichtet auf eine Festlegung; A. Guarino, Diritto privato romano (Napoli 19847) 185 Anm., folgt weiterhin Huschke.
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der Spruchformel, und während er den zweiten Satz der Spruchformel sprach, legte er dem Sklaven die festuca auf 25. Gaius nennt den Vollzug dieses Rituals vindicare26. Die Prozeßgegner absolvierten es nacheinander; zuerst vindizierte der Kläger, dann der Beklagte. Hand und festuca nahmen sie jedoch nicht zurück, bevor der Magistrat befahl, den Sklaven loszulassen27. Der Befehl erging, ,nachdem beide vindiziert hatten‘. Die Vindikation des Klägers dauerte mithin während der des Beklagten noch an28. Auf diese Weise brachte das Ritual die Gleichzeitigkeit der Vindikationen zum Ausdruck, die von Gellius (20.10.7) ausdrücklich erwähnt wird: cum adversario simul manu prendere et in ea re sollemnibus verbis vindicare. Die Rücknahme von Hand und festuca erst auf Befehl des Magistrats widerspricht darum nicht der Beobachtung, daß der Handgestus zum ersten Teil der Spruchformel und die festuca zu ihrem zweiten Teil gehört29. Wir untersuchen zunächst den ersten Teil. III. Die Eigentumsbehauptung und die Handanlegung Die Interpretation des Vindikationsrituals verzichtet in aller Regel auf eine deutliche Unterscheidung seiner beiden Teile. Das Kriterium der üblichen Deutung des Rituals als Bemächtigungs- oder Zugriffsakt ist jedoch der Handgestus. 1. Die Handanlegung (a) Gaius beschreibt diesen Bestandteil des Rituals mit den Worten: rem adprehendebat. In der Verbindung rem adprehendere hat das Verbum keine spezifische Bedeutung30. Gaius sagt darum nur, daß der Vindikant die Streitsache ,an25
Nach Santoro 265 ff. hat der Vindikant dem Sklaven gleichzeitig die Hand angelegt und den Stab aufgelegt. Nach Beseler, SZ 49 (1929) 425 Anm. 2 u. Opora (1930) 33, „hält die Rechte den Stab, muß also der Griff auf die Sache mit der Linken geschehen“; er verweist dafür auf Verg. Aen. 5 380 ff. 26 Das Ritual selbst bezeichnet mit vindicare nur die Stabauflegung und auch nur die des Beklagten; s. u. vor Anm. 114. 27 Illi mittebant belegt die große Genauigkeit, mit der Gaius die Prozeßeinleitung schildert. 28 Lotmar 25. 29 Huschke 176; Lotmar 29. 30 Wie etwa in den Verbindungen fugitivum oder possessionem adprehendere. Ein bloßes rem adprehendere kommt bei den Juristen nicht wieder vor: Die res subrepta, die mein procurator ,ergriffen hat‘, ist nicht in meine potestas zurückgekehrt: D 41.3.41 Nerat7membr.; bei einer res peculiari servi mei subrepta genügt es auch nicht, daß der Sklave sie ,ergreift‘: D 41.3.4.7 Paul 54 ed. Die redempta, die mein procurator ohne mein Wissen ,ergriffen hat‘, besitze ich zwar, ersitze ich aber nicht D 41.3.47 Paul 3 ad Nerat. Wer eine res iacta ergreift, erwirbt sie nicht zu eigen: D 14.2.2.8 Paul 34 ad ed. Wer aus dem Vermögen einer Person, von der er glaubte, sie sei verstorben, pro herede rem adprehenderit, begeht kein furtum: D 47.2.84 Nerat 1 resp. Und wer ab initio mente praedonis rem hereditarias adprehendit haftet schärfer: D 5.3.25.5 Ulp 15 ed. In all
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faßte‘ oder ,ergriff‘; aus welchem Grunde oder zu welchem Zweck er sie ,anfaßte‘ oder ,ergriff‘, läßt rem adprehendebat offen. Bei der mancipatio verwendet Gaius für denselben Vorgang dasselbe Wort in derselben Bedeutung. Er lehrt hier (1.121), daß mit Ausnahme von Grundstücken res mancipi nur manzipiert werden können, wenn sie präsent sind, und fügt hinzu: ut eum, qui mancipio accipit, adprehendere id ipsum, quod ei mancipio datur, necesse sit. Und in den Darstellungen der mancipatio (1.119) und in iure cessio (2.24) beschreibt er mit rem tenens ita dicit auch nur das äußere Verhalten der Erwerber ohne jeden eigenen Hinweis auf dessen Bedeutung. (b) Gellius berichtet, was er, um eine Zeile von Eimius zu verstehen, ex iureconsultis und ex libris eorum über manum conserere in Erfahrung gebracht hat (20.10.7–9): Nam de qua [re] disceptatur in iure [in re] praesenti, sive ager sive quid aliud est, cum adversario simul manu prendere et in ea re sollemnibus verbis vindicare, id est ,vindicia‘. (8) Correptio manus in re atque in loco praesenti apud praetorem ex duodecim tabulis fiebat, in quibus ita scriptum est: si qui in iure manum conserunt. (9) Sed postquam praetores propagatis Italiae finibus datis iurisdictionibus negotiis occupati proficisci vindiciarum dicendarum causa [ad] longinquas res gravabantur, institutum est contra duodecim tabulas tacito consensu, ut litigantes non in iure apud praetorem manum consererent, sed ,ex iure manum consertum‘ vocarent id est alter alterum ex iure ad conserendam manum in rem, de qua ageretur, vocaret atque profecti simul in agrum, de quo litigabatur, terrae aliquid ex eo, uti unam glebam, in ius in urbem ad praetorem deferrent et in ea gleba tamquam in toto agro vindicarent.
Es geht ersichtlich um die legis actio sacramento in rem, und zwar um den ersten Teil der Prozeßeinleitung, um das Vindikationsritual31. Wir hören, daß der Handgestus ein Bestandteil des Rituals und Gegenstand einer Vorschrift der XII Tafeln war. Gellius bezeichnet ihn mit manu prendere und correptio manus, während die XII Tafeln, wie wir durch ihn erfahren, von manum conserere sprachen. Von vornherein setzt er das manu prendere gegen das vindicare deutlich ab32. Sein Bericht ist allerdings insofern ungenau, als nicht nur das vindicare, sondern auch das manu prendere, der Handgestus, sollemnibus verbis geschah; denn wie der Stabritus zum zweiten Satz der Spruchformel, gehört der Handritus zur Eigentumsbehauptung. diesen Fällen steht nicht der Besitzerwerb, sondern eine Wirkung in Frage, die von der Rechtsordnung verfügt wird; aus deren Kontext ergibt sich aber stets auch, daß der Handelnde die Sache nicht nur ,angefaßt‘ oder ,ergriffen‘, sondern in Besitz oder doch, wie der procurator und der Sklave, an sich genommen hat. 31 Gellius beginnt das Kapitel 20.10: Ex iure manum consertum verba sunt ex antiquis actionibus, quae, cum lege agitur et vindiciae contenduntur, dici hunc quoque apud praetorem solent. 32 Die zeitliche und räumliche Trennung der beiden Teile des Vindikationsrituals ist die Eigentümlichkeit des besonderen Verfahrens bei Grundstücken, das Gellius schildert.
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Gellius’ Interesse gilt indessen ausschließlich dem manum conserere. Die XII Tafeln hätten bestimmt, daß die Prozeßgegner stets ,in iure manum conserunt‘. Zur Einleitung eines Streits um ein Grundstück habe sich darum der Prätor an Ort und Stelle begeben; dort war dann offenbar ius33. Später sei jedoch üblich geworden, daß der Prätor den Parteien nicht auf das umstrittene Grundstück folgte, daß sie vielmehr dort, ohne daß er zugegen war, das manum conserere vollzogen, dann aber mit einem Stück Erde, das sie dem Grundstück entnahmen, vor ihn zurückkehrten und jetzt, in iure, an diesem Stück Erde, als eine pars pro toto das vindicare vornahmen34. Bevor sie die Gerichtsstätte verließen, um auf das Grundstück zu gehen, hätten sie sich ex iure, nämlich ebendorthin35 zum manum conserere gegenseitig ,gerufen‘36. Die Spruchformeln dieser gegenseitigen Aufforderung kennen wir aus Cicero37; zuerst sprach der Kläger, FUNDUS QUI EST IN AGRO QUI SABINUS VOCATUR, EUM EGO EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO. INDE IBI EGO TE EX IURE MANUM CONSERTUM VOCO; darauf der Beklagte: UNDE TU ME EX IURE MANUM CONSERTUM VOCASTI, INDE IBI EGO TE REVOCO. Die Formeln bestätigen den Bericht der Schriftsteller, daß zum Vindikationsritual der Handgestus gehörte.
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Vgl. Jhering II 2, 574; Beseler, Hermes 77 (1942) 84. Anders etwa Kaser, RZ 74 f.; wie schon in EB 225 ff. unterscheidet er nicht deutlich die beiden Teile des Vindikationsrituals, das manum conserere und das vindicare; andererseits löst er das manum conserere von der Eigentumsbehauptung ab und teilt damit auf, was schlechterdings zusammengehört. Der Kläger konnte nicht ohne weiteres mit seiner Aufforderung zum außergerichtlichen manum conserere beginnen; die der vocatio vorangestellte Eigentumsbehauptung (Cic. Mur. 26: s. sofort im Text) diente ihrer Vorbereitung. Der Beklagte konnte dann allerdings ohne weiteres mit seiner Gegenaufforderung antworten. Wenn die Parteien mit der Erdscholle zurückkehrten, ging das Verfahren vor dem Prätor nicht mit dem Dialog weiter, sondern mit dem vindicare; das ergibt sich einmal aus den Vokationen: die Parteien fordern sich gegenseitig zum manum conserere auf und zu nichts anderem; wir lesen es aber auch bei Gellius 20.10.9 i. f.; und schließlich müßte man sich fragen, wozu sonst die herbeigeschaffte Erdscholle hätte dienen sollen. Cicero macht de or. 1.10.41 offenbar davon Gebrauch, daß beim Streit um ein Grundstück ex iure manum consertum voziert, aber in iure vindiziert wurde. 35 Jhering II 2, 574, 644; Karlowa, Beiträge 2 ff. und Civilprozess 78 f.; Lotmar 16 f.; Kaser, RZ 74. Anders, nämlich im Sinne von ex iure civili verstehen das ex iure der Vokationsformel: Huschke 182; M. Fuhrmann, Marcus Tullius Cicero, Sämtliche Reden, Bd. 2 (1970) 311; wieder anders Santoro 197: „ex iure denota la ritualità del manum conserere“. 36 Den Bericht des Gellius, daß die Parteien sich g e g e n s e i t i g aufforderten (20.10.9: alter altetum), bestätigt das REVOCO der Spruchformel des Beklagten (Cic. Mur. 26: s. sofort im Text); wie hier etwa Huschke 181; Keller 70; Karlowa, Beiträge 8 und Civilprozess 78 f.; Lotmar 16 f.; Fuhrmann (o. Anm. 35) 311. Anders Kaser, RZ 74. 37 Mur. 26. Val. Prob. 4.4: E.I.M.C.V. ex iure manum consertum vocavit. Diesen Teil der Spruchformeln zitieren auch: Ennius ann. (Gell. 20.10.4); Cic. de or. 1.10.41; Varro 1.1.6.64. Daß manum und nicht manu consertum richtig ist, steht außer Zweifel; vgl. allerdings Santoro 190 ff. 34
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Wie die XII Tafeln sprechen sie auch von manum conserere, das demnach von alters her der technische Ausdruck für diese Ritualhandlung war. Gaius hat den Gestus mit rem adprehendere beschrieben. Wir sahen, daß dieser Ausdruck nur den äußeren Vorgang, das Anfassen oder Ergreifen der Streitsache bezeichnet und nichts über den Zweck der Handlung sagt. Dasselbe gilt von den Ausdrücken manu prendere und correptio manus, die Gellius für den Gestus verwendet und vermutlich von seinen juristischen Gewährsmännern übernommen hat. (c) Die Ausdrücke rem adprehendere, manu prendere und correptio manus treffen sich in der Bedeutung ,anfassen, ergreifen‘; ihre Anwendungsbereiche sind aber keineswegs kongruent. In der Verbindung possessionem adprehendere könnte adprehendere nicht durch prehendere oder corripere ersetzt werden. Pre(he)ndere wird überhaupt nicht gebraucht, wenn eine Sache zum Zwecke des Besitzerwerbs ergriffen wird38, corripere nur selten, und nur wenn es gewaltsam oder räuberisch geschieht39. Ihre Verwendung für den Handgestus des Vindikationsrituals hätte sich darum wohl verboten, wenn Gellius und seine Gewährsmänner mit der Ritualhandlung die Vorstellung verbunden hätten, daß der Vindikant die Streitsache ergriff, um sie in Besitz zu nehmen. Während Gaius und Gellius die Vorstellung vermitteln oder doch zulassen, daß der Vindikant die Streitsache ,ergriff‘, sagen die XII Tafeln und die Spruchformeln unzweideutig, daß er sie ,anfaßte‘ oder, wie manum conserere oft übersetzt wird, daß er an die Streitsache ,die Hand anlegte‘. Conserere bedeutet ,aneinanderfügen, zusammenbringen, verbinden, verknüpfen‘. ,Zusammengebracht‘ werden Gliedmaße und Körperteile: columbulatim labra conserens labris40; femori conseruisse femur41; teneros conserit usque sinus42; lateri conseruisse latus43. Diesem Anwendungsbereich ist manum conserere zuzurechnen, das in dieser elliptischen Form seit Plautus44 ausschließlich
38 Gaius 4.21 verwendet prendere bei der legis actio per manus iniectionem; hier heißt es: et simul aliquam partem corporis eius prendebat. Typische Beispiele für den Gebrauch von manu pre(he)dere: Flaut. Amph. 1116: der Zwillingsknabe Herakles ,packt‘ die Schlangen; Cato agr. 160 weist einem Heilrezept an, das Messer ,in die Hand zu nehmen‘; Caes. civ. 3.69.4: Caesar ,ergriff‘ die Feldzeichen der Fliehenden; vgl. außerdem: Cic. or. 100; Verg. Aen. 9.558; 2.584 ff. erscheint Aeneas die Mutter, ,ergriff‘ ihn mit der Rechten und hielt ihn fest (dextraque prehensurn continut) und sprach. Plant. Amph. 716: Alcumena hat zur Begrüßung Amphitruos Hand ,ergriffen‘. 39 S. ThLL s. v. corripio I. 40 Matius poet. 12. 41 Tib. 1.8.26. 42 Tib. 1.8.36. 43 Ov. her. (ep.) 2.58. 44 Mil. 3.
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in der eingeengten Bedeutung ,kämpfen‘ vorkommt45. Die Anschauung, die ihr zugrunde liegt, ist deutlich: Im Kampf wird Hand an Hand (manui manum) oder denn die Hand an den Gegner (corpori manum) gebracht46. Die Bedeutungsverengung beobachten wir schon bei Ennius47; sie muß jedoch jünger sein als die XII Tafeln. Denn das manum conserere der legis actio sacramento in rem bedeutet ersichtlich nicht ,kämpfen‘ 48: Der Vindikant legt seine Hand an die Streitsache, nicht aber an den Gegner. Die XII Tafeln und die Spruchformeln sprechen zwar nur von manum conserere. Gellius bezeugt jedoch ausdrücklich, daß das Objekt der Handanlegung die Streitsache war: alter alterum ex iure ad conserendam manum in rem, de qua ageretur, vocaret. Unabhängig von seinem Zeugnis sichern die Spruchformeln den Bezug des Zwölftafelsatzes49 auf die legis actio sacramento in rem, und verbürgen sie, daß manum conserere die Ritualhandlung war, die Gaius mit den Worten rem adprehendebat beschreibt50. (d) Wir schließen diese erste Teiluntersuchung mit dem Ergebnis: daß der Vindikant eine Hand an die Streitsache legte; daß der technische Ausdruck manum conserere und die Ausdrücke der Schriftsteller rem adprehendere, manu prendere und correptio manus nur diesen Vorgang beschreiben und nicht mitteilen, in welcher Absicht oder zu welchem Zwecke das Anfassen geschah; und daß darum aus den Bezeichnungen der Geste kein Aufschluß über ihre Bedeutung zu gewinnen ist. Die Deutung als Zugriffs- oder Bemächtigungsakt kann sich auf die Bezeichnungen der Ritualhandlung nicht berufen.
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ThLL s. v. 2. consero I B. Anschaulich auch Curt. 3.2.13: Vir viro, armis arma conserta sunt. 47 Ann. 272 f. (Gell. 20.10.4): Non ex iure manum consertum, sed magis ferro/rem repetunt regnumque petunt, vadunt solide vi. Ennius spielt hier mit einem für seine Zwecke verkürzten Zitat der Klausel TE EX IURE MANUM CONSERTUM VOCO. Das Zitat mußte bei jedermann die Assoziation der legis actio hervorrufen, infolge der Verkürzung um das sinnbestimmende VOCO offenbar aber auch die des ,Kämpfens‘. Denn Ennius verbindet beide zu der des ,Streitens ex iure‘: Die Verkürzung der Klausel um VOCO erlaubt ihm, durch das antithetische sed magis ferro dem ex iure die Bedeutung ,dem Rechte gemäß‘ zu geben und damit zugleich dem manum consertum die des ,Kämpfens‘. Vgl. Beseler, Hermes 77 (1942) 84 f.; auch die Erwägung Jherings II 2, 576. 48 Vgl. Beseler (o. Anm. 47); Lévy-Bruhl 80 ff. 49 ,Si qui in iure manum conserunt‘ (Gell. 20.10.8). 50 Für Varro 1.1.6.64 versteht sich, daß manum conserere in der Spruchformel nicht die eingengte Bedeutung hat: sic conserere manu[m] dicimur cum hoste; sic ,ex iure manu[m] consertum‘ ocare. Lévy-Bruhl 79 und Pugliese 66 Anm. 73 nehmen an, das manum conserere sei eine Eigentümlichkeit der Prozesse über Grundstücke und schwer bewegliche Mobilien gewesen. 46
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2. Die Bedeutung der Handanlegung und die Spruchformel (a) Handanlegung kann durchaus Zugriff und Bemächtigung bedeuten. Bei der Personalvollstreckung hatte sie diese Bedeutung; hier hieß sie manus iniectio. Das nach ihr benannte, den XII Tafeln wohl schon geläufige Verfahren51, die legis acio per manus iniectionem52, verschaffte dem Gläubiger die Vollstrekkungsgewalt an der Person des Schuldners und stellte deren Ausübung symbolisch durch manus iniectio dar53: In der Spruchformel54 nannte der Vollstrekkungskläger Grund und Umfang der Haftung und sprach dann aus, was er zugleich tat: OB EAM REM EGO TIBI . . . MANUM INICIO; bei diesen Worten ergriff er nämlich den Schuldner ,an irgendeiner Stelle seines Körpers‘ 55. Trat jetzt für den verfolgten Schuldner kein vindex auf, dann war der Gläubiger be51 Jedenfalls nach Gai 4.21. Ein zweifelhafter Beleg ist XII T. 3.2 (Gell. 20.1.45), vgl. Pugliese 309 Anm. 153. 52 Pugliese 303 ff.; Kaser, RZ 94 ff. 53 Genauer: Die legis actio per manus iniectionem verschaffte dem Gläubiger das Recht, die Exekution durchzuführen: den Schuldner zu ergreifen, ihn abzuführen, ihn schließlich zu töten oder zu verkaufen; erst mit dem vollständigen Vollzug ihres Rituals, einschließlich der addictio (Gell. 20.1.44), stand ihm dieses Recht zu, war der Schuldner in seiner Vollstreckungsgewalt; erst jetzt durfte er den Schuldner wirklich ergreifen und abführen. Von dem, was das Ritual bewirkte, ist zu unterscheiden, was es zum Ausdruck brachte: von seiner Wirkung seine Denkweise und Ausgestaltung. Es bewirkte Rechtserwerb, zum Ausdruck brachte es dagegen Rechtsausübung: im Ritual übte der Gläubiger mit der manus iniectio das (ihm in Wirklichkeit noch nicht zustehende) ,Recht‘ aus, den Schuldner zu ergreifen. Nicht etwa, daß er den Schuldner nur ergriff; er ergriff ihn (immer in der Darstellung des Rituals, symbolisch) in Ausübung der ihm zustehenden Vollstreckungsgewalt; denn in der Spruchformel begründete er sein Vorgehen, berief er sich mithin auf seine ,Berechtigung‘. Es ist gut denkbar und würde diese Ausgestaltung erklären, daß die legis actio p. m. i. mit diesem Ritual einen vorausgegangenen Rechtszustand konservierte: daß vor der Einführung der legis actio p. m. i. der Gläubiger, wenn nur der Schuldner verurteilt worden (oder seine Haftung auf andere Weise außer Streit gestellt) war und die Lösungssumme nicht gezahlt hatte, alsbald oder nach Ablauf einer Frist gegen ihn vollstrecken durfte (so wie noch nach XII T. 8.12 der Betroffene den fur nocturnus ohne addictio töten durfte); vielleicht unter Verwendung der dann in die legis actio übernommenen Spruchformel. Nach ihrer Einführung war es (neben den anderen implizierten Voraussetzungen wie Urteil oder confessio in iure) jedenfalls erst der Vollzug ihres Rituals, der den Schuldner in die Vollstreckungsgewalt des Gläubigers gab. – Eine grundsätzlich andere Auffassung äußert Kaser, RZ 94, mit der Definition, daß die legis actio p. m. i. „dem Verfolger den eigenmächtigen, aber staatlich kontrollierten Zugriff auf die Person des Haftenden“ eröffnete. Nach unserer Ansicht war die manus iniectio im Ritual der legis actio p. m. i. dagegen eine ,repräsentative‘ und ,symbolische‘ Handlung (in der Terminologie Jherings II 2, 506): sie repräsentierte das Ergreifen des Schuldners und symbolisierte die Ausübung der Vollstreckungsgewalt (die, um es zu wiederholen, der Gläubiger durch eben den Vollzug des Rituals erst erwarb). Ich komme an anderer Stelle auf die legis actio p. m. i. zurück. 54 Gai 4.21. 55 Et simul aliquam partem corporis eius prendebat. Bei der legis actio sacramento in rem schreibt Gaius (4.16): rem adprehendebat, velut hominem, und bei der in iure cessio (2.24) und mancipatio (1.119): rem tenens.
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rechtigt, ihn wirklich zu ergreifen und abzuführen, und die Personalvollstreckung nahm ihren Lauf. Die Handanlegung war der Kern des Verfahrens. Ihre Bedeutung wurde nicht ausgesprochen; im Kontext des Verfahrens war sie aber evident. (b) Philipp Lotmar hat der Hand des Vindikanten nur deiktische Bedeutung zugeschrieben56. Diese real-praktische Funktion hatte sie wirklich bei der Testamentserrichtung57. Der Erblasser manzipierte bekanntlich sein Vermögen nummo uno dem familiae emptor und erklärte in der nuncupatio, wem was nach seinem Tode zufallen sollte. Später wurde üblich, daß er seine ,letztwilligen Verfügungen‘ schriftlich niederlegte und in der nuncupatio auf die Urkunde verwies58. Diese Testamentserrichtung schildert Gaius59. Er beschreibt zunächst die mancipatio nummo uno und fährt dann fort: deinde testator tabulas testamenti tenens ita dicit: HAEC ITA UT IN HIS TABULIS CERISQUE SCRIPTA SUNT, ITA DO ITA LEGO ITA TESTOR ITAQUE VOS, QUIRITES TESTIMONIUM MIHI PERHIBITOTE. Wir sahen schon, daß Gaius in seiner Schilderung der mancipatio (1.119) und in iure cessio (2.24) die Handanlegung jedesmal mit rem tenens ita dicit beschreibt60. Hier verwendet er denselben Ausdruck. Von Zugriff und Bemächtigung kann in diesem Kontext jedoch nicht die Rede sein. Der Handakt hatte hier gar keinen Symbolgehalt. Der Testator ergriff die Testamentsurkunde und hielt sie, während er die nuncupatio sprach, in der Hand, „um dadurch aufs unzweideutigste darzuthun“, daß sie es war, von der er sprach61. Wer die Sache, von der er spricht, anfaßt oder ergreift, demonstriert damit immer, daß sie es ist, die er meint. Die Hand kann darum diese allgemeine realpraktische Leistung auch da erbringen, wo ein Ritual sie als Symbol einsetzt. Die Hand des Vindikanten machte augenfällig, daß es dieser Sklave war, von dem er behauptete, daß er ihm gehöre. Schon die individuelle Benennung der Geste mit manum conserere schließt jedoch aus, daß diese Demonstrationsleistung ihre eigentliche Funktion war; und das Sonderverfahren bei Grundstücken mit seinem ex iure manum consertum vocare läßt nur den Schluß zu, daß die Handanlegung substantielle Bedeutung hatte. (c) Jhering hat erwogen, daß die Handanlegung die „symbolische Darstellung des in Anspruch genommenen Rechts“ sein könnte, „die Kundgebung, daß es sich hier um eine in der Herrschaft (manus) der Partei befindliche Sache handle“ 62. Der Erfolg seiner ,Selbsthilfetheorie‘ hat diesen Gedanken zu Unrecht
56 57 58 59 60 61 62
Seite 28 f.: „Realdemonstration“; ebenso Huschke 176. Lotmar 29; Jhering II 2, 570. Kaser, RP 107 f. , 678 ff. Inst. 2.104. Vgl. o. nach Anm. 30. Vgl. Jhering II 2, 570. Geist II 2, 576, 570.
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in Vergessenheit geraten lassen. Denn der Fortgang der Untersuchung wird zeigen, daß Jhering mit dieser Deutung intuitiv das Richtige getroffen hatte. Die Handanlegung ist von der Spruchformel, die sie begleitet, nicht zu trennen. Spruchformel und Handanlegung bilden eine Einheit. Sie gehören derart zusammen, daß das Ganze nach einem seiner Teile benannt werden konnte63. Denn mit manum conserere bezeichnen die XII Tafeln und bezeichnen die ex iureVokationen nicht nur den Gestus, das Handanlegen selbst, sondern die Handanlegung samt der Spruchformel, der sie attachiert ist: diesen ,Baustein‘ des Vindikationsrituals, der aus Spruchformel und Handanlegung besteht. Im römischen Formalismus war das Wort absolut unentbehrlich; eine schweigend vollzogene Ritualhandlung kennen wir nicht64. Aufschluß über die Bedeutung der Handanlegung versprechen wir uns darum von der Untersuchung der Spruchformel, die jetzt ansteht. Der erste Teil der Spruchformel: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO ist eine Eigentumsbehauptung. Soweit ich sehe, ist dieses Verständnis noch nicht bestritten worden. Dagegen hat es nicht an Versuchen gefehlt, der Rechtsbehauptung den Sinn der Aneignung und Bemächtigung beizulegen65. Mit den Formelworten HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO stellt der Vindikant eine Behauptung auf und trifft mit ihr die Feststellung, daß der Sklave, der vor ihm steht und den er anfaßt, ihm gehört. Die Äußerung kennzeichnet sich durch AIO als Behauptung. Ohne diese Explikation wäre ihre Rolle nicht eindeutig. Mit der einfachen Äußerung ,Dieser Sklave gehört mir‘ könnte der Vindikant zwar auch behaupten – ebensogut aber einräumen oder zu Bedenken geben oder vermuten, daß der Sklave ihm gehört. Im Kontext 63 Wir kennen diese Art der Benennung von vielen altzivilen Rechtsakten. Eine unmittelbare Parallele ist die legis actio per manus iniectionem; vgl. o. nach Anm. 51. Bei unserer legis actio bezeichnet Gaius 4.16 den (von jedem der beiden Prozeßgegner vollzogenen) ganzen Akt des Vorspiels nach dessen zweitem Teil als vindicare; vgl. u. nach Anm. 80. 64 Vgl. Jherings „Analyse des römischen Formenwesens“: Geist II 2, 560 ff. 65 Huschke 176 spricht von „einem aneignenden dicere“. Nachdrücklicher Kaser, AJ 324 ff.: K. rechnet die vindicatio einer Gruppe von Formalakten zu, „die eine Gewaltergreifung symbolisieren“. Ihnen sei „das Merkmal gemeinsam, daß sie außer dem gesprochenen Wort noch äußere Handlungen erfordern, die den Ausdruck des Gewalterwerbs verkörpern und verstärken sollen“. Zum Vindikationsritual: „Lassen wir zunächst die dunkle festuca beiseite, so ist der Sinn der Wort-und Berührungsform klar: Sie drückt eine Bemächtigung aus, wobei sich Worterklärung und Handgriff gegenseitig verstärken“. Wenig später „Die Bemächtigungsgeste ist Symbol: Würden die Handanlegung und der Ausspruch der Formelworte nicht so verstanden, daß sie für eine vollständige Bemächtigung des Gegenstands stehen . . .“. Schließlich: „Auch die Spruchformel bedeutet zwar in erster Linie nur formale Rechtsbehauptung. Aber sie führt, wenn sie unwidersprochen bleibt, zum Rechtserwerb . . .“. Diese Vorstellungen bestimmen auch die Darstellung RZ 69 ff.
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des Prozeßgeschehens läge allerdings nahe, die einfache Äußerung ,Dieser Sklave gehört mir‘ als Behauptung aufzufassen. Das Ritual begnügt sich aber nicht damit; es läßt den Vindikanten mit unbedingter Eindeutigkeit sprechen und eben durch AIO explizieren, daß er eine Behauptung aufstellt. So eindeutig seine Äußerung eine Behauptung ist, so klar ist auch die Aussage, die er macht, die Proposition, die er äußert: daß der Sklave ihm gehört. Mit der Spruchformel sagt also der Vindikant, was er sagt; sie ist Eigentumsbehauptung und nichts als das66. Es wäre Willkür, ihr einen Nebensinn beizulegen67. (d) Mit diesem Resultat ist auch die Bedeutung der Handanlegung endgültig gewonnen. Die Hand sekundierte dem Wort: Sie brachte die gesprochene Behauptung zur sinnlichen Anschauung; sie war die symbolische Darstellung des behaupteten Rechts. Indem der Vindikant den Sklaven anfaßte, bekundete er mit der Hand, was er zugleich aussprach: daß dieser Sklave in seiner Hand, in seiner manus, in seiner Herrschaft war. Die vertraute Vorstellung, daß die Handanlegung des Vindikationsrituals Zugriff und Bemächtigung sei, ist also aufzugeben. Sie legt dem Gestus eine Bedeutung bei, die das Wort, das er begleitet, nicht zum Ausdruck bringt 68. Diese Bedeutung des Zugriffs und der Bemächtigung ist auch nicht aus dem Ritual abgeleitet; sie ist ihm vielmehr aufgesetzt und findet in der gesamten Prozeßeinleitung keine Stütze69.
IV. Der zweite Teil des Vorspiels: die Vindikation Der zweite Teil der Spruchformel des Vindikationsrituals lautete: SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI, ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI; während der Vindikant diesen Satz sprach, legte er dem Sklaven die vindicta auf, 66 Vgl. John Langshaw Austin, How to do things with words (1962), und dessen deutsche Bearbeitung ,Zur Theorie der Sprache‘ (1972) von Eike v. Savigny; außerdem E. v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache (Taschenbuchausgabe 1974) 127 ff. Die Unterscheidung von Behauptung und Proposition verfolgt eingehend John R. Searle, Speech acts (1969), deutsch: Sprechakte (Taschenbuchausgabe 1983) 38 ff. 67 Vgl. Diósdi 98. 68 Darum die Versuche (s. oben Anm. 65), der Eigentumsbehauptung den Sinn der Aneignung und Bemächtigung beizulegen. 69 Die Erklärung der Handanlegung des Vindikanten als Zugriff und Bemächtigung war ein naheliegendes Mißverständnis der ,Selbsthilfetheorie‘. Nach der Anschauung ihres Begründers war ,die physische Gewalt der Ursprung‘, ,die persönliche Tatkraft die Quelle des Rechts‘, war es die ,Selbsthilfe‘, die, vom Rechtsgefühl geleitet, das Recht verwirklichte und die Rechtsordnung schuf. Der erste Ansatz des Rechtsgefühls sei das Gefühl der eigenen Berechtigung gewesen. Darum zeige sich der römische Eigentumsbegriff zuerst am ,Recht der Beute‘, sei für den Römer Eigentum gewesen, was er mit der Hand genommen hatte (Jhering I 107 ff., 118 ff., 150 ff.). Auf der Suche nach historischen Spuren dieses ursprünglichen Rechtszustands war für Jhering darum die Hand ein Leitfossil, und wo sie in den altzivilen Rechtsakten verwendet wurde, in erster Linie ein Symbol der Bemächtigung. Vgl. zur ,Selbsthilfetheorie‘: Kaser, RZ 19 f.; Pugliese 27 ff.; Broggini, SZ 76 (1959) 113 ff.; M. Staszków, SZ 80 (1963) 83 ff. – alle mit weit. Lit.
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die Gaius festuca nennt70. Die Bedeutung dieser Ritualhandlung ist die Crux der Interpretation der ganzen Prozeßeinleitung. Wir stellen ihre Erörterung jedoch vorerst zurück71 und gehen zunächst nur auf die Spruchformel ein. 1. Das Perfekt INPOSUI Bei der legis actio per manus iniectionem sagte der Vollstreckungskläger MANUM INICIO, und Gaius (4.21) berichtet: et simul aliquam partem corporis eius prendebat. Der Vindikant sagte dagegen ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI, während Gaius auch hier berichtet: et simul homini festucam inponebat. In den verschiedenen Zeitformen INICIO und INPOSUI kommt ein sachlicher Unterschied zum Ausdruck und auch Gaius’ Bericht über die Stabauflegung ist völlig in Ordnung72. Das simul inponebat ist mit dem Perfekt INPOSUI durchaus vereinbar: Der Bericht bezieht sich auf den ganzen Satz SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI, ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI, und das Perfekt besagt nur, daß die Handlung, das vindictam inponere, in dem Augenblick vollendet ist, in dem INPOSUI ausgesprochen wird73. Bei der manus iniectio sagt der Vollstreckungskläger MANUM INICIO und tut im selben Augenblick, was er sagt; das Wort gilt der Handlung: der Akt, das manum inicere selbst ist gemeint. Das Perfekt VINDICTAM INPOSUI läßt dagegen die Handlung hinter ihrem Ergebnis zurücktreten; das inponere wird weniger ins Auge gefaßt als der herbeigeführte Zustand: die jetzt aufgelegte festuca. Die von Valerius Probus (4.6) zitierte jüngere74 Fassung der Spruchformel75 hat noch unmittelbarer diese Bedeutung. Nach dieser Überlieferung konnte der Vindikant auch einfach sagen: ECCE TIBI VINDICTA: ,Schau her, du, die vindicta‘76. Damit lenkte er die Aufmerksamkeit gewiß nicht auf die vindicta, wie er 70 Die Identität von vindicta und festuca bestreiten Noailles 65 ff.; Pugliese 65 Anm. 70; unentschieden Kaser, EB 57, 33 Anm. 3, RZ 70 Anm. 25. 71 S. u. nach Anm. 180. 72 Das Perfekt INPOSUI hat weitreichende Hypothesen ausgelöst. Lotmar 29 erwog, daß es richtig inpono hieß; Kaser, EB 57 f., bezieht es auf „den außergerichtlichen Vorgang“ (vgl. u. Anm. 97); für Pugliese 65 Anm. 70 ist es ein Grund, die Identität von vindicta und festuca zu bestreiten. Santoro 267 läßt den Vindikanten den Stabgestus schon gleichzeitig mit der Handanlegung vornehmen. 73 Zutreffend schon Beseler, Hermes 77 (1942) 79: „Imposui ist perfectum praesens: ich habe die Binderute der Sache angelegt und die Berührung ist jetzt, wie du siehst, hergestellt“. 74 S. sofort Anm. 76. 75 S. o. nach Anm. 18. 76 Die Erscheinung, auf die der Ausruf ecce die Aufmerksamkeit lenkt, kann in einem ganzen Satz ausgedrückt sein (dafür ist ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI ein Beispiel) oder durch ein Nomen bezeichnet werden. Bei Plautus und Terenz steht das Nomen immer im Akkusativ, bei Cicero stets im Nominativ: s. A. Köhler, Arch. f. lat. Lexikographie u. Grammatik 5 (1888) 16 ff., 23. Dieser klare Befund läßt vermuten,
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sie seit dem Beginn des Zeremoniells in der Hand hielt, sondern auf den Gebrauch, den er jetzt von ihr gemacht hatte; da wir wissen, daß er sie dem Sklaven auflegte: mithin auf die vindicta, die er dem Sklaven jetzt aufgelegt hatte. Wir halten fest: Der Gebrauch des Perfekts VINDICTAM INPOSUI bedeutet, daß nach der Absicht des Rituals nicht im Vordergrund stand, daß der Vindikant die vindicta dem Sklaven auflegte, sondern daß er sie ihm aufgelegt hatte – nicht daß er diese Handlung vornahm, sondern daß er sie vorgenommen hatte. 2. Die Klausel ECCE TIBI Die Parteien sprachen und handelten vor dem Magistrat; ihre Rede war aber nicht an ihn gerichtet, sondern an den Prozeßgegner. ECCE TIBI 77 beweist, daß die ganze Spruchformel einen bestimmten Adressaten hatte78, und der Dialog der Streitbegründung stellt klar, daß dieser Adressat der Prozeßgegner war79. Mit ECCE TIBI forderte der Vindikant die besondere Aufmerksamkeit des Gegners für die dem Sklaven jetzt aufgelegte vindicta. Er forderte von ihm diese Aufmerksamkeit, obwohl er vor seinen Augen dem Sklaven die vindicta aufgelegt hatte. Dadurch erscheint die Stabauflegung im Verhältnis zur vorausgegangenen Eigentumsbehauptung als der bedeutendere Vorgang80. Wirklich ging dann der Dialog der Streitbegründung auch nicht über die Eigentumsbehauptung, sondern das vindictam inponere. Und Gaius bezeichnet den ganzen Part, den jede Partei im Vorspiel absolvieren mußte, also einschließlich der Eigentumsbehauptung, allein nach der Stabauflegung81: nämlich mit dem Wort vindicare, das im Dialog der Streitbegründung synonym mit vindictam inponere verwendet wird82. daß Valerius Probus eine jüngere, kaum vor dem Ende des 2. Jhs. v. Chr. entstandene Version der Spruchformel wiedergibt. Sie ist ein direkter, noch nichtverfolgter Hinweis auf die Teilhabe der Spruchformeln an der Sprachentwicklung. – Wird die Erscheinung, auf die ecce hinweist, in einem Satz ausgedrückt, so wird dieser Satz durchweg nicht durch ein Komma abgetrennt; s. die Beispiele bei Köhler 26. Diese Konvention sollte auch bei der Spruchformel eingehalten werden. 77 Köhler (o. Anm. 76) 25 ff. 78 Die Situation, aber auch die Technizität der Spruchformel, insbesondere die Genauigkeit und Ökonomie ihres Wortgebrauchs schließen aus, daß TIBI keine bestimmte Person bezeichnet, sondern ein ,ethischer Dativ‘ ist, der eine bei dem Ausruf ECCE nur vorgestellte Person meint. – ECCE TIBI kann sodann nur an die Person gerichtet sein, zu der der Vindikant schon spricht. 79 ECCE TIBI beziehen auf den M a g i s t r a t : H. Krüger, Gesch. der Capitis deminutio (1887) 169, und, mit Vorbehalt, Kaser, EB 58; auf den P r o z e ß g e g n e r : seit Göttling, Röm. Staatsverfassung (1840) 137, etwa Karlowa, Civilprozess 71; BethmannH. 131 Anm. 5; Beseler, Hermes 77 (1942) 79 f.; Kaser AJ 327 Anm. 13: „wahrscheinlicher“; Santoro 266 Anm. 1. Daß der Vindikant auch schon die Eigentumsbehauptung an den Gegner richtet, bemerkt ausdrücklich Karlowa, Civilprozess 70. 80 Zu dieser Wirkung von ecce vgl. Köhler (o. Anm. 76) 27 f. 81 Vgl. Huschke 176, 179; Lotmar 30. Gegen sie ist allerdings zu erinnern, daß der Dialog mit vindicare ersichtlich nur die Stabauflegung und nicht auch die sie begleiten-
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3. Das Objekt der Stabauflegung Gaius berichtet: et simul homini festucam inponebat. Die Spruchformel läßt den Vindikanten dagegen nicht sagen: ,Schau her, du, ich habe dem S k l a v e n die vindicta aufgelegt‘; sie läßt das Dativobjekt vielmehr unausgesprochen83. Sie verzichtet auf seine Wiedergabe, weil das Verständnis sie nicht erforderte84. Denn seine Ergänzung ergibt sich ohne weiteres aus dem Zusammenhang: sie ergibt sich aus dem die Rede begleitenden Umstand, der Geste; sie ergibt sich aber auch aus dem gesprochenen Kontext, aus der Spruchformel selbst85. VINDICTAM INP0SUI erfordert einen Gegenstand, dem die Handlung gilt, und da der Prozeßgegner, dessen Aufmerksamkeit gerade auf die Stabanlegung gelenkt wird, nicht gemeint sein kann86, kommt nur der Sklave in Betracht, dessen Eigentümer zu sein der Vindikant soeben behauptet hat. 4. SECUNDUM SUAM CAUSAM Nach dieser Überlegung ist der Satz auch im übrigen leicht aufzulösen und sein Zusammenhang mit der Eigentumsbehauptung ohne weiteres einzusehen. Wir vergegenwärtigen uns erneut die ganze Spruchformel: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO. SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI, ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI.
(a) Die Klausel SECUNDUM SUAM CAUSAM gilt vielen als rätselhaft87. Solange sie der Eigentumsbehauptung angehängt wurde, war sie auch nicht befriedigend zu erklären88. Ihre Erklärung ist aber auch unter den Autoren kontroden Worte meint. Die Veränderung des Sprachgebrauchs behandelt ausführlich Lotmar 32 ff. 82 Gai 4.16: Si in rem agebatur, mobilia . . . in iure vindicabantur ad hunc modum: qui vindicabat . . . cum uterque vindicasset. Vgl. Karlowa, Civilprozess 71: „vindicare im engsten Sinne“; vgl. Lotmar 39 f. 83 Anders Noailles, der TIBI zum Dativobjekt von VINDICTAM INPOSUI macht und auf den Prozeßgegner bezieht (s. u. Anm. 89). 84 Von einer Ellipse kann man allerdings nicht sprechen; vgl. Kühner-Stegmann II 549 f.; Hofmann-Szantyr, 822 ff. 85 S. auch u. bei Anm. 94. 86 Anders freilich Noailles (s. o. Anm. 83 sowie u. Anm. 89). Nicht erwogen worden ist bisher, TIBI zum Dativobjekt von VINDICTAM INPOSUI zu machen und auf den Magistrat zu beziehen. Auf den Magistrat ist es bisher nur in seiner Verbindung mit ECCE bezogen worden (s. o. Anm. 79). 87 Nachweise bei Santoro 260 f. 88 Für die lange Zeit vorherrschende, vor allem durch Jherings Autorität gefestigte Meinung war die causa in SECUNDUM SUAM CAUSAM der „Erwerbsgrund“ (Jhering), oder, allgemeiner, „der Titel, worauf die Parteien ihre Eigentumsbehauptungen gründeten“ (Karlowa): Jhering III 89 f., 101 f.; Huschke 175 ff.; H. H. Pflüger 26 ff.; J. Juncker, Gedächtnisschr. Seckel (1927) 210; Kaser, EB 53 f.; weitere Nachweise bei Karlowa, Beiträge 14 und Noailles 67 Anm. 1. – Andere Ansichten: Karlowa, Beiträge
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vers geblieben, die mit ihr den zweiten Satz der Spruchformel beginnen lassen89. Nach wie vor sieht man „die Unklarheit . . . in dem nicht deutlich beziehbaren suam“ 90. Dieses Urteil ist jedoch unbegründet. Ich sehe keine Schwierigkeit, das Reflexionspronomen SUAM eindeutig zu beziehen. In seinem Satz kann es verständigerweise nur auf das unausgesprochene Dativobjekt, also den Sklaven, bezogen werden91. Der Prozeßgegner, zu dem der Vindikant sprach92, wird SUAM aber auf das nächstliegende, passende und schon genannte Substantiv bezogen haben. Grammatisch paßt SUAM zu 17 f. u. Civilprozess 72: Causa bezeichne „das Rechtsobject in seinem ganzen Umfange, mit allen seinen ihm zukommenden juristischen Bestimmtheiten“; der Kläger vindiziere „die Sache in Gemässheit der ihr zukommenden Beschaffenheit“. Nach Bechmann, Studie im Gebiete der Legis actio sacramento in rem (1889) 16 f., spielte die Klausel nur bei der Vindikation von Personen eine Rolle; causa habe dann den Personenstand bezeichnet. Lévy-Bruhl 44 legt der Klausel, ähnlich wie Bechmann, aber ohne dessen Beschränkung auf Personen, die Bedeutung bei: „Je revendique cet esclave tel qu’il se trouve, avec ses qualités, ses conditions de capacité, . . . en un mot selon sa condition“. Für den Fall, daß die Klausel zur Eigentumsbehauptung gehöre, sind nach Pugliese 278 f., die Interpretationen Bechmanns und Lévy-Bruhls „le uniche interpretazioni possibili“, bestand demnach die Rechtfertigung der Eigentumsbehauptung in der „condizione giuridica“ der Streitsache, verstehe ich recht: behauptete der Vindikant Eigentümer zu sein, weil er Eigentümer war (280). 89 Die merkwürdigsten Vorstellungen hat Noailles entwickelt. Die causa sei die der vindicta (74), die vindicta allerdings nicht identisch mit der festuca (47 ff.). Die vindicta sei vielmehr „la vis dicta, la force manifestée, c’est-à-dire la force rituelle“ (65, 74). Mit ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI erkläre der Vindikant dem Prozeßgegner, daß er ihm (TIBI), also nicht dem Sklaven, diese ,rituelle Gewalt‘ ,aufgelegt‘ habe. Nach Noailles hat er sie ihm ,aufgelegt‘, indem er das Ritual vollzog, nämlich die Eigentumsbehauptung sprach und die festuca auf den Sklaven legte; mit dem Vollzug des Rituals „l’objet est sous le pouvoir du déclarant e ce pouvoir est imposé à l’adversaire“ (65). Schließlich: Die causa der vindicta sei nichts anderes als die vindicatio: der Vollzug des Rituals, der dem Prozeßgegner die ,rituelle Gewalt‘ ,auflege‘ (74). – Nach Pugliese 279 f. kann causa entweder „condizione giuridica“ der Streitsache (vgl. o. Anm. 88) oder „fondamento giuridico“ der Vindikation bedeuten, was indessen letzten Endes keinen Unterschied mache; denn „la giustificazione della vindicatio si trovava nella ragione per cui la cosa apparteneva realmente al vindicante (e quindi indirettamente nel titolo d’acquisto)“. – Nach Santoro 273 ff., schließlich, ist causa in SECUNDUM SUAM CAUSAM auf ius in der Eigentumsbehauptung bezogen. Darum enthalte die Klausel „il riferimento ad un elemento legittimante“. Weil Santoro annimmt, im Ritual unserer legis actio sei die Stabauflegung die causa des ius Quiritium, bestimmt er dann diese causa als „un momento del rito e, perciò, il modo di essere di quella forza rituale, che, al tempo stesso, ne legittima l’esercizio“. – Diese Vorschläge werben für Kasers resignative Bemerkung, RZ 69 Anm. 21: „Vielleicht sollte man den Worten . . . überhaupt keine tiefere Bedeutung beimessen, sondern sie als bloßes Bindemittel im Sinn von secundum hoc = ,aus diesem Grund, demgemäß‘ verstehen“. 90 Kaser, RP 69 Anm. 21. 91 Anders freilich Noailles (s. soeben Anm. 89). – Die Verwendung des Reflexivpronomen suus war ziemlich frei; es konnte durchaus auf einen casus obliquus desselben Satzes bezogen und auch dem Bezugswort voran gestellt werden; vgl. Kühner-Stegmann (o. Anm. 84) 600 ff. 92 S. o. bei Anm. 79.
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QUIRITIUM, IURE und HOMINEM, der Bedeutung nach aber nur zu HOMINEM 93; auf HOMINEM mußte er es darum beziehen. Das Dativobjekt konnte dann umso eher unausgesprochen bleiben94, als der Sklave schon zweimal (mit HOMINEM und SUAM) genannt worden war. Das Ergebnis ist auch plausibel; der Vindikant erklärte: ,in Übereinstimmung mit seiner causa habe ich ihm die vindicta aufgelegt‘. (b) Und wir brauchen auch nicht zu rätseln, was die Spruchformel mit sua causa meint. Denn SECUNDUM SUAM CAUSAM steht nicht allein: der Vindikant erklärte vielmehr SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI 95 und verwies mit SICUT DIXI auf seine Eigentumsbehauptung96. Auch dieser Zusammenhang ist zwingend: Mit SICUT DIXI konnte der Vindikant nur in Bezug nehmen, was er im Ritual gesprochen hatte97, und vorausgegangen war nur die Eigentumsbehauptung. Sua causa erhält seinen Inhalt aus der Eigentumsbehauptung, auf die SICUT DIXI verweist. Mit sua causa meint darum die Spruchformel die konkrete rechtliche Lage des Sklaven, die der Vindikant mit der Eigentumsbehauptung ausspricht. Die Übersetzung könnte danach lauten: ,Ich sage und behaupte, daß dieser Sklave ex iure Quiritium mein ist. Gemäß seinem Meinsein habe ich ihm, schau her, du, die vindicta aufgelegt‘. 93 Anders freilich Santoro (s. soeben Anm. 89). Lotmars Klarstellung, 107, ist von Pflüger 30 abgetan und von den Späteren nicht mehr aufgegriffen worden. 94 S. o. bei Anm. 83. 95 Huschkes unglückliche Interpunktion, die SICUT DIXI von SECUNDUM SUAM CAUSAM abtrennte (vgl. o. bei Anm. 10), ist wieder von Lotmar 114, 120, 127 ff. erfolglos bekämpft worden. Huschke 175 ff. hatte zu recht an der üblichen Konstruktion eines „Vorverfahrens“ Anstoß genommen. Viele nämlich, vor allem wer die causa als Erwerbsgrund deutete (s. o. Anm. 88), glaubten, daß der Vindikant mit SICUT DIXI auf ein ,Vorverfahren‘ verweise, weil er in der Spruchformel über die causa, wie man sie verstand, dem SECUNDUM SUAM CAUSAM nichts vorausschickte. Mit der neuen Interpunktion war jedoch nichts gewonnen. Huschke selbst hatte Schwierigkeiten, SECUNDUM SUAM CAUSAM zu erklären (178); vor allem aber hat sie ihren eigentlichen Zweck nicht erreicht: nach wie vor wurden (formlose und förmliche, außergerichtliche und gerichtliche) ,Vorverfahren‘ sozusagen aus dem Nichts konstruiert; vgl. alsbald Anm. 97. 96 Vgl. Lotmar 129. 97 Das liegt in der Natur des Rituals; es ist eine Konsequenz seiner Autarkie. Wie alle älteren Autoren (vgl. Karlowa, Beiträge 14) hat auch Jhering III 89 zunächst eine „formlose Verhandlung“ vor der „formellen Konstituierung der Streitsache in der Legis Actio“ angenommen. Hier hätten die Parteien die Gründe ihrer Eigentumsbehauptungen ausgetauscht, und hierauf hätte die Spruchformel mit SICUT DIXI verwiesen. Wie Karlowa, Beiträge 16, hat er später, in der 4. Auflage von 1888 (Vorrede X; Anmerkung S. 102), ein förmliches außergerichtliches Verfahren angesetzt. Die Hypothese hatte keinen Anhalt in den Quellen, aber große Wirkung. Noch Kaser, EB 50 ff., folgte Ihering in den wesentlichen Zügen, und der Ausgangspunkt der Spekulation, die Berücksichtigung des Erwerbsgrunds in der Prozeßeinleitung, ist nach wie vor aktuell: RP 129; vgl. u. bei Anm. 116.
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5. Eigentum und Vindikation Das Verhältnis von Eigentumsbehauptung und Stabauflegung ist nicht das von Grund und Folge. Nicht weil, wie er behauptete, der Sklave ihm gehörte, hat der Vindikant die vindicta auf ihn gelegt, sondern vielmehr ,in Gemäßheit‘, ,in Übereinstimmung‘ mit der behaupteten Rechtslage98. Was ,in Übereinstimmung‘ mit der Rechtslage geschieht, geschieht nicht zu ihrer Demonstration99; die Stabauflegung war darum auch kein Zeichen des behaupteten Eigentums100. ,In Übereinstimmung mit seinem Meinsein habe ich die vindicta auf ihn gelegt‘ besagt soviel wie: ich habe die vindicta auf den Sklaven gelegt und durfte das, weil er mir gehört. Daraus folgt; daß der Eigentümer zur Stabauflegung berechtigt war. Adversarius eadem similiter dicebat et faciebat101. Wie der Kläger tat auch der Beklagte: auch er behauptete mit Wort und Hand, der Sklave gehöre ihm, und auch er legte ihm die vindicta auf 102. Die beiden Eigentumsbehauptungen schlossen einander aus: gehörte der Sklave dem Kläger, konnte er nicht dem Beklagten gehören, gehörte er aber dem Beklagten, dann konnte er nicht dem Kläger gehören. Da beide erklärten, den Stab ,in Gemäßheit‘ ihres Eigentums aufgelegt zu haben, liegt nahe, daß die Berechtigung zur Stabauflegung an das Eigentum gebunden und darum allenfalls einer von ihnen zur Stabauflegung berechtigt war. Unsere Folgerung, daß der Eigentümer zur Stabauflegung berechtigt war, können wir demnach um die Vermutung ergänzen, daß nur der Eigentümer dazu berechtigt war. 6. Die Gleichzeitigkeit der gegnerischen Aktionen Die Prozeßgegner nahmen Hand und Stab erst auf Befehl des Magistrats zurück. Der Magistrat befahl, den Sklaven loszulassen, ,nachdem beide vindiziert hatten‘. In diesem Augenblick war das Vorspiel sozusagen komplett; das gesamte Geschehen stellte sich wie im Bilde dar: beide Prozeßgegner faßten den Sklaven an und beide Prozeßgegner hatten die vindicta, die sie in der anderen Hand hielten, auf den Sklaven gelegt. Wir sagten schon103, daß die Ritualordnung auf diese 98
Vgl. Hofmann-Szantyr 249; Oxf. Lat. Dict. s. v. secundum 5a. Man denke an Wendungen wie secundum naturam, legem, vota. 100 Gaius’ Erklärung der festuca als signum iusti dominii (4.16 i. f.) ist demnach mit Recht bezweifelt worden von Lotmar 42; Beseler, Hermes 77 (1942) 81; Kaser, AJ 327 f., RZ 70 Anm. 26. Vgl. u. bei Anm. 181. 101 Zu eadem similiter Lotmar 64 f. 102 Lotmars Abhandlung gilt dem Nachweis, daß der Beklagte die Eigentumsbehauptung nicht zu wiederholen brauchte, sondern nur den zweiten Teil der Spruchformel und die Stabauflegung. Diese verfehlte These hat die scharfsinnige Untersuchung um die ihr gebührende Beachtung gebracht. 103 Oben nach Anm. 28. 99
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Weise die Gleichzeitigkeit der Eigentumsbehauptungen und Stabauflegungen zum Ausdruck brachte. Was tatsächlich nacheinander geschehen war, definierte das Ritual durch die Anweisung, Hand und Stab erst auf Befehl des Magistrats zurückzunehmen, als gleichzeitig. In der Denkweise des Rituals war im Vorspiel mithin folgendes geschehen: der Kläger hatte behauptet, der Sklave gehöre ihm, und dasselbe im selben Augenblick der Beklagte, und während beide, indem sie den Sklaven weiterhin anfaßten, ihre Eigentumsbehauptungen gleichsam perpetuierten, hatten beide den Stab auf ihn gelegt. Diese Gleichzeitigkeit hatte für die Streitbegründung elementare Bedeutung. Die Eigentumsbehauptungen der Prozeßgegener mußten sich notwendig ausschließen. Das taten sie nicht, wenn sie unverbunden aufeinander folgten. Denn daß sich das meum esse aio des Klägers und das meum esse aio des Beklagten auf dieselbe Zeit beziehen, bringen die Spruchformeln nicht zum Ausdruck und versteht sich in einem Ritual nicht von selbst. Nur bei Gleichzeitigkeit war die Konsequenz zwingend, daß nicht beide Eigentumsbehauptungen zutreffen konnten, war evident, daß nur einer der beiden Prozeßgegner, wie er behauptete, Eigentümer des Sklaven sein konnte104. Und nur wenn beide dem Sklaven den Stab auflegten, während der jeweils andere gerade behauptete, der Eigentümer des Sklaven zu sein, war auch zwingend, daß einer der Prozeßgegner den Stab aufgelegt hatte, ohne dazu berechtigt gewesen zu sein. 7. Die Intervention des Magistrats Mit der Anweisung MITTITE AMBO HOMINEM soll der Magistrat „den scheinbar drohenden Thätlichkeiten“ der Prozeßgegner vorgebeugt105, ein „wirkliches Handgemeinwerden“ unterbunden106 oder gar die „Kampfhandlungen“ unterbrochen107, jedenfalls aber ,Frieden geboten‘ haben108. Wir haben für diese Interpretation bisher keinen Anhalt gefunden. Soweit sie auf die technische und schon dezemvirale Bezeichnung der Handanlegung mit manum conserere verweist, liegt, wie wir sahen109, ein Mißverständnis vor. Und wir werden sehen110, daß auch die Stabauflegung für diese Deutung der magistratischen Anweisung
104 Genauer: allenfalls einer. Denn der Sklave konnte auch einem Dritten gehören; vgl. dazu insb. u. Anm. 162. 105 Pflüger 7. 106 Kaser, RZ 70. 107 G. Broggini, Iudex arbiterve (1957) 76. 108 Statt vieler: Keller 67; Pugliese 39 f., 283; Diósdi 99. Für Lévy-Bruhl 51 ff., 172 ff. war die Intervention des Magistrats ein so schwerwiegender Hinweis auf die von ihm bekämpfte ,Selbsthilfetheorie‘, daß er nur den Ausweg sah, den Befehl einer späteren (!) Entwicklungsstufe der legis acio zuzuschreiben. 109 Oben n. Anm. 43. 110 Unten n. Anm. 180.
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nichts hergibt. Sie ist ein Requisit der ,Selbsthilfetheorie‘ und wie die Zugriffs-, Bemächtigungs- und Kampfvorstellungen ungeeignet, zur Erklärung der Prozeßeinleitung des Sakramentsverfahrens beizutragen. MITTITE AMBO HOMINEM heißt ,laßt den Sklaven los‘, ,laßt ihn gehen‘, ,laßt von ihm ab‘. AMBO bringt zum Ausdruck, daß die beiden Prozeßgegner ,zusammen‘, daß sie ,gleichzeitig‘ den Sklaven loslassen sollen. Nach wie vor haben sie ihre Hand an ihm, und nach wie vor halten sie die vindicta auf ihn gelegt; jetzt sollen sie von ihm ablassen: mehr sagt MITTITE nicht111. Plautus verwendet den Ausdruck in vielen Szenen: In Casina (II.3) will Lysidamus seine Ehefrau Cleostrata bei der Begrüßung mit der Hand berühren; sie wehrt ab: abi atque apstine manum (229) und strebt fort; Lysidamus fragt: quo nunc abis und will sie offenbar wieder anfassen, denn erneut wehrt sie ab: mitte me (231). – Der Sklave Sceledrus des Miles gloriosus (II.5) hält die ertappte Geliebte seines Herrn fest: abire non sinam te; darauf die Geliebte: mitte (444). – Im Truculentus (V) begehrt Stratophanes von der Hetäre Phronesium einen Kuß: da nunc savium – und erhält eine Abfuhr: mitte me (912). – Curculio (V.3) hat den Kuppler Capadox beim Kragen gepackt (693), um ihn zum Galgen zu schleppen, und wird jetzt von Phaedorums angewiesen, ihn loszulassen: mitte istunc (702). – Wieder im Milus gloriosus (V) fragt der Sklave seinen Herrn Periplectomenus, ob er dem gefesselten Offizier noch weitere Prügel verabreichen soll, bevor Periplectomenus ihn laufen läßt: verberon etiam an iam mittis (1424). – In Asinaria (II.4) verprügelt Leonida, wie verabredet, seinen Mitsklaven Libanus, um vor einem Dritten, der ihrem Herrn Geld bringen will, als der Hausaufseher Saurea zu erscheinen; der Dritte bittet schließlich Leonida, von Libanos abzulassen: Saurea, oro me caussa ut mittas (432). Die Beispiele zeigen112, daß mittere in der Bedeutung ,loslassen, gehen lassen‘, immer gebraucht werden konnte, wenn eine Person angefaßt oder festgehalten wurde; zu welchem Zweck sie angefaßt oder festgehalten wurde, spielte keine Rolle.
Das Ritual schrieb den Vindikanten vor, Hand und Stab erst auf Geheiß des Magistrats zurückzunehmen. Die Szene, die sich daraus ergab, brachte die Gleichzeitigkeit der Eigentumsbehauptungen und Stabauflegungen zum Ausdruck. Um sie zu beenden, hätte es jedoch nicht einer magistratischen Anweisung bedurft. Das Ritual mußte zwar ihren Endtermin bestimmen. Es hätte aber vorsehen können, daß die Vindikanten schon mit dem Ende der Rede des Beklagten von dem Sklaven abließen; um die Gleichzeitigkeit ihrer Aktionen zum Ausdruck zu bringen, war es nicht erforderlich, die Gesten über diesen Augenblick hinaus zu erstrecken. Wenn das Ritual den Magistrat das Vorspiel beenden ließ, muß seine Intervention einen besonderen Grund gehabt haben113. Indem er das Vorspiel beendete, bekundete er zugleich, daß er von ihm Kenntnis genommen hatte. Wenn der Magistrat die Prozeßgegner anwies, den Sklaven 111
Vgl. Lotmar 101 f.; Beseler, Hermes 77 (1942) 85: „Loslassungsbefehl“. Vgl. außerdem Asin. 596; Curc. 633; Men. 1000 ff.; Poen. 336, 1268; Pseud. 239. 113 Nach Beseler, Hermes 77 (1942) 85 Anm. 1, verhütete der Befehl, „daß unbefohlenes Loslassen Preisgabe scheint“. 112
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loszulassen, war, was sie vorgespielt hatten, ,gerichtskundig‘; war unbestreitbar, daß jeder dem Sklaven die vindicta aufgelegt und mit der Behauptung, der Sklave gehöre ihm, auch das Recht dazu in Anspruch genommen hatte; und daß er damit zugleich der Eigentumsbehauptung der Gegenpartei widersprochen und ihre Stabauflegung als Unrecht dargestellt hatte. Auf dieser Grundlage wurde jetzt der Streit begründet.
Der zweite Abschnitt der Prozeßeinleitung: die Streitbegründung Der Streit wurde durch den folgenden Dialog und die sich anschließenden Eidesleistungen begründet: Kläger: POSTULO, ANNE DICAS, QUA EX CAUSA VINDICAVERIS? Beklagter: IUS FECI SICUT VINDICTAM INPOSUI. Kläger: QUANDO TU INIURIA VINDICAVISTI D AERIS SACRAMENTO TE PROVOCO. Beklagter: ET EGO TE. Im Vorspiel bezeichnen Kläger und Beklagter die Stabauflegung mit vindictam inponere; beide sprechen dabei von dem, was sie selbst tun. Im Dialog hält der Beklagte an diesem Ausdruck fest; wieder sagt er von sich VINDICTAM INPOSUI. Der Kläger wechselt dagegen den Ausdruck; er spricht allerdings nicht mehr von seinem vindictam inponere, sondern von der Stabauflegung des Beklagten und nennt sie vindicare114. I. Der Dialog An den Legisaktionen per iudicis arbitrive postulationem und per condictionem115 beobachten wir, daß der Dialog den Prozeßgegenstand definiert: das Thema des Dialogs ist das Streitthema. So auch bei unserer Sakramentsklage. Der Kläger eröffnete den Dialog. Er forderte den Beklagten auf zu sagen, qua ex causa er vindiziert habe. Der Beklagte antwortete, er habe getan, was recht war, als er die vindicta auflegte. Daraufhin nahm wieder der Kläger das Wort. Er behauptete, der Beklagte habe zu Unrecht vindiziert, und forderte ihn deshalb durch Eid zum Streit heraus. Die Entgegnung des Beklagten beschloß den Dialog. Mit den Worten ET EGO TE richtete er dieselbe Herausforderung an den Kläger. 114 Gaius 4.16 verwendet vindicare, wie wir sahen (o. nach Anm. 80), für die Aktionen beider Parteien, und auch nicht nur für die Stabauflegung, sondern für Eigentumsbehauptung und Stabauflegung. 115 Gai 4.17a und 17b.
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1. QUA EX CAUSA VINDICAVERIS: zu Recht oder zu Unrecht? Die Frage des Klägers QUA EX CAUSA VINDICAVERIS wird seit Jhering von den meisten „ganz einfach auf den Erwerbsgrund“ (Pflüger) bezogen116. Dabei wird nicht verkannt, daß die Entgegnung des Beklagten „alles andere als eine Angabe des Erwerbsgrundes“ ist (Pflüger); denn der Beklagte erwidert, seine Stabauflegung sei rechtmäßig gewesen. In immer neuen Anstrengungen hat die Literatur versucht, diese Diskrepanz zu erklären117. Schon ihr Ausgangspunkt scheint mir indessen falsch zu sein. Die legis actio ist ein Kunstgebilde. Darum müssen wir davon ausgehen, daß sie widerspruchsfrei und sinnvoll konstruiert ist. Zwischen der rituellen Frage und der rituellen Antwort kann keine Diskrepanz bestehen; beide müssen zueinander passen. Darum ist es nicht möglich, das QUA EX CAUSA der Frage mit ,warum‘ oder ,aus welchem Grunde‘ zu übersetzen. Die Klausel muß vielmehr eine andere, zu der Antwort passende Bedeutung haben. Diese Bedeutung muß aus der Antwort erschlossen werden können. 116 Jhering III, 89 f., 101 f.; Pflüger 26 ff.; E. Rabel, Die Haftung des Verkäufers wegen Mangels im Rechte (1902) 12: „was ungezwungen nicht anders zu deuten ist, als: Ich frage dich, auf Grund welchen Titels (Erwerbsgrundes) du die Contravindikation vollzogen hast“; Pugliese 283 Anm. 116: „Non sembra dubbio che qui causa abbia il significato di fondamento giuridico della vindicatio“; Kaser, EB 53 f., 84: „Die Frage lautet nach der causa vindicandi, und dabei kann bei unvoreingenommener Auslegung nichts anderes verstanden werden als die Berufung auf die Rechtsumstände, mit denen der Besitzer sein meum esse begründen will“; ebenso AJ 326 und RZ 71 f.; RP 129 wird diese Auslegung nur noch für das ,entwickelte Recht‘ in Anspruch genommen und gegen eine ,urtümliche‘ Bedeutung abgesetzt. 117 Von besonderer Wirkung war der Erklärungsversuch Pflügers von 1898. Für ihn sind die Worte des Beklagten auf die Frage des Klägers „nichtssagend und ausweichend . . . und folglich einer Verweigerung der Antwort gleich“ (28, 46) und „spätes Flickwerk“ (50). Zur Erklärung unterscheidet er die überlieferte legis actio sacramento von einem imaginären „ältesten Prozeß“ und glaubt, daß die Frage des Klägers zwar in jenem „ältesten Prozeß“, in der überlieferten legis actio sacramento aber „gar nicht mehr, wenigstens in der Regel nicht, auf eine ernstliche Antwort“ abzielte (29; seine Gründe insb. 46 ff.). Das Grundkonzept dieser Erklärung ist von Kaser übernommen worden. In EB 84 f. sieht er in den Worten IUS FECI „geradezu eine Verweigerung der Auskunft“ (ebenso AJ 326) und glaubt, daß es „einmal eine Zeit“ gab, in der der Beklagte „. . . die causa seines Vindizierens wirklich nennen mußte“. Später, als „nicht mehr der Gewährenzug, sondern die selbständige Verteidigung die Regel“ gewesen sei und vor dem iudex stattgefunden habe – damals sei die Frage des Klägers QUA EX CAUSA VINDICAVERIS „aus Pietät vor dem altertümlichen Formular“ nicht gestrichen, sondern durch die Einfügung von IUS FECI „unschädlich“ gemacht worden (im ganzen ebenso AJ 326 f.). RZ 71 f. bleibt Kaser dabei, daß „die geforderte Auskunft mehr verweigert als gewährt“ wird, findet die Diskrepanz jetzt aber erträglich; von einer späteren Einfügung der Antwort ist nicht mehr die Rede. Sie sei sogar „sinnvoll, wenn ihr der Beklagte eine Aussage folgen lassen konnte, worauf er sein behauptetes ius fecisse stützt“. RP 126 wird diese Hypothese auf das ,entwickelte Recht‘ beschränkt. Die Frage und Antwort sollen dagegen „nichts weiter als eine erneute Berufung auf das ius“ enthalten, wenn man sie als „urtümlich“ ansehe.
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Der Beklagte sagt, er habe recht getan, als er die vindicta auflegte. Das setzt als Frage voraus, ob er ,zu Recht‘ oder ,zu Unrecht‘ vindiziert habe. Eine mögliche Antwort des Beklagten auf diese Frage wäre daher auch gewesen, daß er iniuria vindiziert habe. Diese Überlegung wird durch die Replik des Klägers bestätigt. Denn der Kläger begründet die Provokation mit der Behauptung, der Beklagte habe iniuria vindiziert. Damit bringt er zum Ausdruck, daß aus seiner Sicht der Beklagte hätte antworten müssen: iniuria vindictam inposui. Die Alternative der Antwort auf die Frage des Klägers war also: IUS FECI SICUT VINDICTAM INPOSUI oder iniuria vindicavi. Iniuria ist ein sogenannter Ablativus modi, der die Art und Weise bezeichnet, in der etwas geschieht118. Iniuria entspricht iure119. Statt IUS FECI SICUT VINDICTAM INPOSUI hätte der Beklagte also auch sagen können iure vindictam inposui. Seine Antwort sollte aber besonders hervorheben, daß er den Stab zu Recht aufgelegt hat. Darum sagt er, daß er rechtmäßig gehandelt hat, als er den Stab auflegte. Und um wiederum die Rechtmäßigkeit gegenüber der Handlung hervorzuheben, sagt er nicht iure feci, sondern IUS FECI120. Iure oder iniuria vindicavi waren mithin die möglichen Antworten des Beklagten auf die Frage des Klägers QUA EX CAUSA VINDICAVISTI. Konnte denn aber überhaupt mit iure oder iniuria geantwortet werden, wenn mit QUA EX CAUSA gefragt worden war; erforderte diese Frage nicht in der Antwort einen 118 Oder auch die „eine Handlung begleitenden inneren oder äußeren Umstände“: Kühner-Stegmann I 408 f.; Hofmann-Szantyr 116 f. 119 Belegt seit XII T. 8.12 (Macr. sat. 1.4.19): Si nox furtum faxsit, si im occisit, iure caesus esto. 120 In der Verbindung IUS FECI ist IUS Akkusativ des Inhalts und drückt „ein Attribut des im Verb liegenden Substanzbegriffs“ (Kühner-Stegmann) aus. Dieser Gebrauch des Akkusativs ist durchaus „echtlateinisch“: Plaut. Poen. 268: alicarias, . . . quae tibi olant stabulum (olere stabulum: nach ,Stallgeruch‘ riechen); Most. 42: olere unguenta exotica; Bacch. 433: cum legeres, si unam pecavisses syllabam (peccare syllabam: eine ,Silbensünde sündigen‘ = eine Silbe falsch sprechen); Aul. 152: lapides loqueris (loqui lapides: eine ,Steinsprache‘ sprechen); Enn. ann. 398: occumbunt multi letum (occumbere letum: einen ,Todesfall‘ fallen); Caes. Gall. 5.37: suo more victoriam clamant (clamore victoriam: einen ,Siegesruf‘ rufen); Cic. off. 3.42: qui stadium currit (currere stadium: einen ,Stadiumslauf‘ laufen); Phil. 5.20: sanguinem nostrum sitiebat (sitire sanguinem: einen ,Blutdurst‘ dürsten); ad Q. fr. 3.5.3: nec honores sitio; Suet. Claud. 33.2: aleam studiosissime lusit (ludere aleam: ein ,Würfelspiel‘ spielen); Iuv. 2.3: de moribus audent, qui . . . Bacchanalia vivunt (vivere Bacchanalia: ein ,Bacchanalienleben‘ leben); Plin. ep. 6.15.3: ius civile publice respondet (respondere ius: eine ,Rechtsantwort‘ antworten = antworten, was recht ist); und so denn auch facere ius: eine ,Rechtstat‘ tun = tun, was recht ist. Statt dieses Akkusativs konnte auch der Ablativ gebraucht werden, durch den der Grund, das Mittel oder die Art und Weise angegeben wurde: mortem oder morse occumbere; aleam oder alea ludere; sanguinem oder sanguine sudare. Der Dialog der Prozeßeinleitung macht mit IUS FECI und INIURIA VINDICAVISTI von beiden Möglichkeiten Gebrauch. Zu allem vgl. Kühner-Stegmann I 277 f.; Hofmann-Szantyr 39 f. Viele weitere Beispiele bei C. F. W. Müller, Syntax des Nominativs und Akkusativs im Lateinischen (1908) 4–55.
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Ablativ mit ex? Wir sehen jedoch, daß an Stelle des Ablativs mit ex in vielen Fällen der präpositionslose Ablativus modi gebraucht wurde: in den Fällen nämlich, in denen die Präposition ex modale Bedeutung hatte121. Aus den möglichen Antworten iure und iniuria können und müssen wir also schließen, daß die Präposition in QUA EX CAUSA diese modale Bedeutung hatte. Die Frage QUA EX CAUSA VINDICAVERIS kann nicht ohne weiteres ins Deutsche übersetzt werden. Mit QUA EX CAUSA fragt der Kläger nach der rechtlichen Modalität der Vindikation. Die Möglichkeit, so zu fragen, hatte er, weil causa offenbar als Oberbegriff von ius und iniuria fungieren konnte122. Ein solches Wort fehlt in unserer Sprache. Um die Bedeutung der Frage zu treffen, müssen wir darum übersetzen: hast du zu Recht oder zu Unrecht vindiziert123? 2. Die gegenseitigen Herausforderungen (a) Soweit wir dem Dialog bisher gefolgt sind, hat er als Streitthema die Frage definiert, ob der Beklagte zu Recht oder zu Unrecht vindiziert hat. Jetzt forderte der Kläger den Beklagten durch Eid zum Streit heraus mit der Begründung, er habe, entgegen seiner Behauptung, zu Unrecht vindiziert124. Das sacramentum ist bei Gaius (4.13, 16) eine Geldsumme, die nach Abschluß des Verfahrens die unterlegene Partei an die Staatskasse entrichten mußte. Sie kam damit der Verpflichtung nach, die bei der Streitbegründung von jeder Partei für den Fall ihres Unterliegen übernommen wurde. Die ältere Regelung, die Varro überliefert125, sah vor, daß bei der Streitbegründung jede Partei die Sakramentssumme ad pontem deponierte126; der obsiegenden Partei wurde sie zurückgezahlt, die Unterlegene verlor sie an das Aerar. Die XII Tafeln hatten die Sakramentssumme, je nach dem Wert des Streitgegenstands, auf 500 oder 50 As fest121 Folgende modale Ablative werden häufig auch mit der Präposition ex verbunden: ratione, lege, ordine, more, consuetudine, consilio, sententia, auctoritate. 122 Auch in der Spruchformel des Vorspiels ist causa ein ,Oberbegriff‘: denn seinen konkreten Inhalt erhält sua causa aus der vorausgegangenen Eigentümerbehauptung, auf die der Vindikant mit SICUT DIXI verweist (s. o. bei Anm. 95). Im Vorspiel ist causa die rechtliche Lage des Sklaven, hier die rechtliche Qualität einer Handlung, des vindicare. Mit causa konnte mithin die rechtliche Befindlichkeit einer Sache oder einer Handlung bezeichnet werden. – Im Vorspiel erfolgt die Vindikation SECUNDUM SUAM CAUSAM, ,in Gemäßheit‘ der behaupteten rechtlichen Lage des Sklaven; die rechtliche Modalität der Vindikation, nach der mit QUA EX CAUSA gefragt wird, kann auch aufgefaßt werden als eine ,Gemäßheit‘: hast du dem Recht gemäß oder nicht dem Recht gemäß vindiziert? Zur Äquivalenz von ex und secundum vgl. Hofmann-Szantyr 266. 123 Später wird sich erweisen, daß diese Bestimmung nicht ausreichend ist und präzisiert werden muß, s. u. nach Anm. 155. 124 Zum Folgenden vgl. vor allem Pugliese 51 ff. und Kaser, RZ 61 f. 125 L. 1. 5. 180. 126 Offenbar bei den pontifices: Pugliese 53.
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geschrieben127; diese Beträge waren wenige Jahre vorher an die Stelle von Vieh getreten128. Für Gaius war das sacramentum eine Buße für ungerechtfertigtes Prozessieren. Das war aber nicht immer die Funktion der Abgabe gewesen, und sacramentum auch nicht immer ihre Bezeichnung. Ursprünglich war das sacramentum vielmehr ein Eid129, mit dem jede Partei die Wahrheit ihrer Prozeßbehauptung beschwor. Der Falscheid, den eine der beiden Parteien zwangsläufig schwor, mußte durch ein Opfer gesühnt werden130. Für dieses Reinigungsopfer war das Vieh und später die Geldsumme bestimmt; und um das piaculum sicher zu stellen, mußte die Abgabe von jeder Partei bei der Streitbegründung ad pontem deponiert werden131. In der Aufforderung SACRAMENTO TE PROVOCO ist SACRAMENTO nicht Dativ132, sondern Ablativ133. Provocare mit dem Dativ kommt nicht vor; der Ablativ ist dagegen ganz gewöhnlich und bezeichnet das Mittel der Aufforderung; eine andere Erklärung kommt auch hier nicht in Betracht134. PROVOCO ist Praesens pro futuro135. Mit SACRAMENTO TE PROVOCO erklärte demnach der Kläger, daß er den Beklagten durch einen Eid, den er jetzt schwören werde, herausfordere. Das, wozu jemand auf- oder herausgefordert wird, wird in der Regel im Akkusativ ausgedrückt, überwiegend mit einer Präposition: in aleam, ad pugnam, ad hilaritatem, oder einfach officia provocare136. Diese Ergänzung ist jedoch entbehrlich, wenn zu einem certamen herausgefordert wird, zu einem Kampf, einem Disput oder einem Wettspiel137. Hierher gehört sponsione provocare, das Gaius mehrfach verwendet, das aber auch bei nichtjuristischen Schriftstellern vorkommt138. Sponsione provocare war ein verfahrenstechnischer Ausdruck139. 127
Gai 4.14 (T. XII 2.1). Cic. rep. 2.35.60. 129 Fest. 344, 345. 130 Der Eid schloß eine bedingte Selbstverfluchung ein, die mit dem Prozeßverlust verfiel. 131 Das Sühnopfer stand danach in öffentlicher Verantwortung. 132 So Keller 58 Anm. 195. 133 Pugliese 288; Kaser, RZ 61 Anm. 3. 134 Insbesondere hängt der Dativ nicht mit der Präposition zusammen, die im Verbum steckt. 135 Vgl. Hofmann-Szantyr 307 f. Das Präsens unterstreicht, daß die Ausführung der Handlung, hier also die Provokation durch den Eid, unmittelbar bevorsteht. 136 Plaut. Curc. 354 f.: provocat me in aleam, ut ego ludam; Cic. Tusc. 4.22.49: provocasse ad pugnam poeniteret; Suet. Calig. 27.4: alium . . . omni comitate ad hilaritatem et iocos provocavit; Tac. hist. 5.1: comitate et alloquiis officia provocans. Mit dem 1. Supinum: Ter. Eu. 442/3: Pamphilam, cantatum provocemus. 137 Cic. Phil. 2.46: maledictis me provocare ausus esses; Vell. 2.118.1: provocantes alter alterum iniuria; Macr. 1.10.12: otiantem deurn tesseris provocasse. 138 S. insb. J. Crook, Sponsione provocare, JRS 66 (1976) 132 ff., wo auch die folgenden Beispiele behandelt werden: Val. Max. 2.8.2: Valerius sponsione Lutatium 128
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Gaius benutzt ihn nur bei präjudiziellen Sponsionsverfahren: für den Vindikationsprozeß per sponsionem140 und die Sponsionsprozesse der Interdikte141. Die Einleitung des Vindikationsverfahrens beschreibt er folgendermaßen (4.93): Provocamus adversarium tali sponsione: si homo, quo de agitur, ex iure Quiritium meus est, sestertios XXV nummos dare spondes? deinde formulam edimus, qua intendimus sponsionis summam nobis dari oportere; qua formula ita demum vincimus, si probaverimus rem nostram esse. Der Kläger forderte den Beklagten durch die Stipulation, die er mit ihm abschloß, zum Prozeß über das Eigentum an dem Sklaven heraus; durch die Stipulation wurde die Streitfrage der Entscheidung zugeführt, wurde der Prozeß möglich142. Entsprechend war es bei den Sponsionsverfahren aus Interdikten143. Kehren wir zu unserer legis actio zurück, so liegt jetzt die Erklärung nahe, daß der Kläger mit seinem Eid den Beklagten zum Streit herausforderte144. Er forderte ihn zum Streit heraus, weil er iniuria vindiziert habe. Diese Begründung der Provokation bezeichnet das Streitthema. Der Kläger provozierte den Beklagten demnach zum Streit über die Unrechtmäßigkeit seiner Vindikation. Durch den Eid, mit dem er den Beklagten zum Streit herausforderte, machte er zugleich dieses Thema zum Streitgegenstand. QUANDO TU INIURIA VINDICAVISTI SACRAMENTO TE PROVOCO bedeutet mithin, daß der Kläger die Behauptung beschwor, der Beklagte habe iniuria vindiziert, und ihn dadurch zum Streit über die Unrechtmäßigkeit seiner Vindikation herausforderte145. In anderem Zusam-
provocavit, ni suo ductu Punica classis esset oppressa, nec dubitavit restipulari Lutatius. itaque iudex inter eos convenit Atilius Calatinus. Petron. 70.13: Coepit dominum suum sponsione provocare ,si prasinus proximis circensibus primam palmam‘. Macrob. 3.17.15,16: Cleopatra uxor . . . (Antonium) sponsione provocavit, insumere lt se posse in unam coenam sestertium centies. (16) id mirum Antonio visum, nec moratus sponsione contendit, . . . certaminis arbiter electus est. 139 Was durch die nichtjuristischen Zeugnisse unterstrichen wird. Vgl. Crook (Anm. 138) 135 f. 140 Inst. 4.93. Kaser, RP 435. 141 Inst. 4.165,166. Hier war die sponsio zugleich pönal. Kaser, RZ 325 ff. 142 Anders Pugliese 289 f.; wieder anders Kaser, RZ 326, 61 Anm. 3. Daß der Beklagte an der Sponsion mitwirken mußte, schloß die Vorstellung nicht aus, daß er durch eben sie zum Prozeß herausgefordert wurde: denn er war ja gezwungen, sie abzuschließen; vgl. Crook (Anm. 138) 136. 143 Gai 4.165: nam actor provocat adversarium sponsione, [quod] contra edictum praetoris non exhibuerit aut non restituerit; ille autem adversus sponsionem adversarii restipulatur. Bei den interdicta duplicia provozierte jede Partei die andere und jede leistete auch die resripulatio: Gai 4.166. Die restipulatio hatte keine Provokationsfunktion; sie schützte den Beklagten vor leichtfertiger Verfolgung. Bei Verweigerung der jeweils erforderlichen Mitwirkung konnte der andere Teil das interdictum secundarium erwirken: Gai 4.170; Kaser, RZ 328. 144 Diese Erklärung kann später noch genauer gefaßt werden, s. u. Anm. 177. 145 Lotmar 55 f.
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menhang wird sich ergeben, warum der Eid eine Herausforderung zum Streit war146. (b) Die Replik des Beklagten war ET EGO TE. Mit diesen Worten äußerte der Beklagte ersichtlich nicht nur die Bereitschaft, die Herausforderung anzunehmen und sich auf den Streit einzulassen; er ging vielmehr selbst zum Angriff über: mit ET EGO TE provozierte er seinerseits den Kläger durch Eid. Gaius schildert das Vorspiel, indem er den Part des Klägers darstellt und hinzufügt: adversarius eadem similiter dicebat et faciebat. Hier, im Dialog, schreibt er nach der Wiedergabe der Provokationsformel, die der Kläger spricht: adversarius quoque dicebat similiter ET EGO TE. Die drei Worte vertreten mithin nicht nur die Provokation, sondern den ganzen Satz; sie bedeuteten demnach: ,weil du (Kläger) zu Unrecht vindiziert hast, fordere ich dich durch Eid zum Streit heraus‘. Der Beklagte nahm also nicht die Verneinung der Provokationsbehauptung des Klägers auf seinen Eid147; er beschwor auch nicht seine Gegenbehauptung, er habe iure vindiziert; in seinem Eid behauptete er vielmehr, der Kläger habe iniuria vindiziert. In den Eiden wiederholt sich die Symmetrie des Vorspiels. (c) Damit kommen wir zu dem Ergebnis, daß nicht nur der Kläger den Beklagten, sondern auch der Beklagte den Kläger durch Eid zum Streit herausforderte: der Kläger den Beklagten über die Unrechtmäßigkeit der Vindikation des Beklagten, der Beklagte den Kläger über die Unrechtmäßigkeit der Vindikation des Klägers. Beide Prozeßgegner behaupteten, der andere habe zu Unrecht vindiziert, und beide nahmen diese Behauptung auf ihren Eid. Diese Eide legten den Streitgegenstand fest und waren die eigentliche Streitbegründung. Dieses Ergebnis bedeutet, daß die legis actio sacramento in rem zwei verschiedene (durch die Eigentumsfrage allerdings miteinander verbundene) Streitgegenstände hatte und insofern ein Doppelverfahren war. Damit wird auch verständlich, warum Gaius die Prozeßparteien nicht nach Kläger und Beklagtem unterscheidet. Bei dem einen Streitgegenstand (der Unrechtmäßigkeit der Vindikation des Beklagten) war die Prozeßpartei, die wir ,Kläger‘ nennen, der Kläger; bei dem anderen (der Unrechtmäßigkeit der Vindikation des Klägers) war Kläger die Partei, die wir ,Beklagter‘ nennen. Beide Prozeßparteien hatten mithin die Rolle des Klägers und des Beklagten148. (d) Die Asymmetrie des Dialogs ist kaum ursprünglich. ET EGO TE ist offenbar das Ergebnis einer Neuredaktion, die das Ritual spürbar entlastet hat149. Ur146
Unten nach Anm. 170. So Lotmar 57 f. 148 S. aber auch u. bei Anm. 161. 149 Die Spruchformeln müssen im Laufe der Jahrhunderte mehrmals der veränderten Sprache angepaßt worden sein (vgl. über die Anpassung der XII Tafeln: Radke, Archaisches Latein [Darmstadt 1981] 123 ff.). Das könnte die Gelegenheit gewesen sein, sie auch ,sachlich‘ zu überarbeiten. Ein Hinweis auf verschiedene Versionen o. Anm. 76. 147
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sprünglich wird der Beklagte nicht nur die volle Provokationsformel gesprochen haben; seiner Provokation werden, mit vertauschten Rollen, dieselbe Frage und dieselbe Antwort vorausgegangen sein, die in der überlieferten Fassung der Provokation des Klägers vorausgehen. So umfangreich die Verkürzung des Dialogs aber auch war: die Struktur der Prozeßeinleitung hat sie ersichtlich nicht berührt150. II. Eigentum und Unrecht in der legis actio sacramento in rem 1. Der Eigentumsprozeß: zwei nachgeformte Deliktsverfahren (a) Im Vorspiel treten Kläger und Beklagter als Eigentumsprätendenten auf: jeder behauptet, der Sklave gehöre ihm; und durch den Prozeß will jeder festgestellt haben, daß er der Eigentümer des Sklaven ist. Der Prozeß wird aber nicht über ihre Eigentumsbehauptungen begründet. Das Thema des Dialogs ist nicht die Eigentumsfrage. Der Dialog knüpft vielmehr an die Vindikationen der Streitparteien an. Er macht beide Vindikationen, genauer: die Unrechtmäßigkeit der einen wie der anderen, zum Prozeßthema. Der Eid des Klägers stellt zur Entscheidung, ob der Beklagte, der Eid des Beklagten, ob der Kläger iniuria vindiziert hat. Die beiden Verfahren, die damit begründet werden, sind ihrer Struktur nach Deliktsverfahren: die beiden Streitparteien verfolgen sich gegenseitig wegen der Stabauflegung. Da die Stabauflegung als solche keine unerlaubte Handlung ist, sind auch die Streitverfahren, mit denen sich die Parteien gegenseitig überziehen, keine wirklichen Deliktsverfahren: sie sind vielmehr dem wirklichen Deliktsverfahren ,nachgeformt‘. Daraus wiederum ergibt sich, daß die Stabauflegung das Delikt repräsentiert, das sich die Parteien gegenseitig vorwerfen. (b) Aus Delikt wurde mit der legis actio sacramento in personam geklagt. Das Verfahren der legis actio sacramento in rem besteht mithin aus zwei nachgeformten persönlichen Sakramentsklagen150a.
150 Das bei Gaius (4.16) nach ET EGO TE alsbald folgende sacramentum nominabant läßt kaum den Schluß zu, daß der Beklagte nach Wahl auch die Provokationsformel sprechen konnte. 150a Auf eine wesentliche Abweichung der ,Nachformung‘ von ihrer ,Vorlage‘ ist sofort hinzuweisen: Die Gegenbehauptung des Beklagten (Klägers) ,ich habe iure vindiziert‘ verneint hier nicht die Provokationsbehauptung des Klägers (Beklagten) ,du hast iniuria vindiziert‘; die Streitbehauptungen der Parteien in den beiden nachgeformten Deliktsverfahren sind also nicht kontradiktorisch (vgl. u. Anm. 171). Nur mit dieser Abweichung war es möglich, die Formen der kontradiktorischen Sakramentsklage in personam für den Prätendentenstreit (u. nach Anm. 159) zu verwenden. Die Zusammenhänge werden untersucht u. nach Anm. 163.
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Damit ist erwiesen, daß die legis actio sacramento in personam das ältere der beiden Sakramentsverfahren und folglich Roms ältestes Entscheidungsverfahren überhaupt ist151. Das besonders altertümlich anmutende Ritual der legis actio sacramento in rem ist in Wahrheit das komplizierte Kunstgebilde einer versierten Formelkunde. Es ist ein Derivat der persönlichen Sakramentsklage. Wir beobachten an ihm die Eigentümlichkeit aller ,nachgeformten Rechtsgeschäfte‘: die Konstruktion aus vorhandenen Einrichtungen. Diese Verfahrensweise der alten Jurisprudenz bei der Herstellung neuer Rechtsakte erklärt die Einkleidung der Eigentumsfrage in eine Unrechtsfrage: die Eigentumsfrage wurde in eine Unrechtsfrage eingekleidet, um den etablierten persönlichen Prozeß für die Konstruktion des neuen ,dinglichen‘ nutzen zu können. (c) Mit der Verwendung des persönlichen Deliktsverfahrens für die Konstruktion der Eigentumsklage hängt ihre eigentümliche Prozeßeinleitung zusammen: das Vorspiel, das der eigentlichen Streitbegründung vorausgeht. Die Deliktsverfahren erforderten ein Delikt, und für den Zweck, für den sie eingesetzt wurden, ein Delikt von bestimmtem Zuschnitt. In den Prozeß mußte eine unerlaubte Handlung eingeführt werden, die an dem Sklaven verübt wurde und darum für den Eigentümer keine unerlaubte Handlung war. Ihre Darstellung ist die Stabauflegung. Sie wird auf der Gerichtsstätte, vor dem Magistrat, in der Prozeßeinleitung selbst als Vorspiel der Streitbegründung vorgenommen. Mit seiner Anweisung, den Sklaven loszulassen, bestätigt der Magistrat, daß beide Vindikationen ,gerichtskundig‘ sind152. So steht von vornherein außer Streit, daß beide Parteien die unerlaubte Handlung begangen haben. Streitig kann dagegen werden, was streitig werden soll: ob sie iure oder iniuria gehandelt haben. Das Vorspiel schafft mithin die Voraussetzungen dafür, daß über die Eigentumsfrage in der Einkleidung einer Unrechtsfrage judiziert, daß der Eigentumsprozeß in den Formen des persönlichen Deliktsverfahrens geführt werden kann. 2. Die Bedeutung von INIURIA Die legis actio sacramento in rem ist ein Prätendentenprozeß. Die Prozeßbeteiligten behaupten beide, Eigentümer des Sklaven zu sein, und jeder von ihnen will durch das Urteil bestätigt haben, daß seine Behauptung richtig ist. Das Urteil ergeht über die Eide und stellt inzidenter fest, daß der Sklave dem Kläger oder dem Beklagten oder keinem von beiden152a gehört. Wie wir jetzt sehen, wird 151 Kaser, RZ 63, 67 f., erwägt, daß der Eigentumsprozeß „als reines Sachverfahren erst allmählich von der Personenverfolgung wegen Diebstahls abgespalten worden“ ist. Vgl. dazu auch u. nach Anm. 194. 152 S. o. nach Anm. 113. 152a Vgl. u. Anm. 162.
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über diese Eigentumsfrage in der Einkleidung einer Unrechtsfrage entschieden. Wie dieses Verfahren im einzelnen funktioniert, ist noch zu untersuchen. Einen wichtigen Punkt können wir aber schon hier klären. Die Prozeßgegner verfolgen sich gegenseitig wegen der Stabauflegung. Der Kläger behauptet, der Beklagte habe iniuria vindiziert; der Beklagte behauptet, der Kläger habe iniuria vindiziert. Beide beschwören ihre Behauptung, und über diese Eide ergeht das Urteil. Der Eigentümer durfte den Stab auflegen, der Nichteigentümer dagegen nicht; er beging, wie wir jetzt sagen können, mit der Stabauflegung eine unerlaubte Handlung. Daher gewinnt der Kläger sein Deliktsverfahren, wenn der Sklave ihm gehört; dann nämlich hat der Beklagte iniuria vindiziert. Der Beklagte unterliegt aber nicht nur im Deliktsverfahren des Klägers: er verliert auch sein eigenes Deliktsverfahren; seine Behauptung, der Kläger habe iniuria vindiziert, ist unwahr. Gehört also der Sklave dem Kläger, so ist sein sacramentum iustum, das des Beklagten iniustum. Gehört der Sklave dagegen dem Beklagten, so verkehren sich die Dinge mit dem Ergebnis, daß jetzt sein sacramentum iustum ist und das des Klägers iniustum153. Das Problem, das wir verfolgen, stellt sich bei der dritten Möglichkeit, wenn der Sklave weder dem Kläger noch dem Beklagten gehört154. Beide haben beschworen, daß der andere iniuria vindiziert habe. Wir wissen, daß der Eigentümer iure handelte, wenn er dem Sklaven den Stab auflegte. Wir wissen außerdem, daß die Behauptung des Klägers (Beklagten), der Beklagte (Kläger) habe iniuria vindiziert, wahr ist, wenn er, der Kläger (Beklagte), der Eigentümer des Sklaven ist. Ist sie aber auch dann wahr, wenn der Sklave einem Dritten gehört? Die Antwort hängt davon ab, was INIURIA bedeutet. Wir erinnern, daß INIURIA ein Ablativus modi ist und die rechtliche Modalität der Vindikation bezeichnet155. Wir übersetzten daher INIURIA mit ,zu Unrecht‘156. Hier nun erweist sich, daß, diese Bestimmung nicht ausreichend ist. Die beschriebene Prozeßlage erfordert zu unterscheiden, ob der Vindikant iniuria handelt, weil er gegen die Rechtsordnung verstößt, weil er ,das Recht‘ verletzt; oder ob er iniuria handelt, weil er ohne Berechtigung vindiziert, weil er tut, was nur der Eigentümer tun darf, weil er in dessen Recht eingreift. Nehmen wir an, INIURIA bedeutet, daß der Vindikant gegen die Rechtsordnung verstoßen hat. Wenn der Sklave einem Dritten gehört, ist unter dieser Vor-
153 Mit diesem Tenor wurde über die Eide entschieden: Cic. Caec. 33.97; domo 29.78. Kaser, RZ 89; Pugliese 74 Anm. 115. 154 Diese dritte Möglichkeit ist eine Eigentümlichkeit des Prätendentenstreits, vgl. u. bei Anm. 162. 155 S. o. Anm. 118. 156 S. o. bei Anm. 123.
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aussetzung sowohl die Behauptung des Klägers wie die des Beklagten wahr: beide Eide sind ,gerecht‘. Dieses Ergebnis paßt nicht in das Konzept der Eigentumsklage. Die Parteien streiten um den Eigentumstitel; jede will durch das Urteil festgestellt haben, daß der Sklave ihr gehört; kein Zweifel: die obsiegende Partei, die, deren sacramentum für iustum erkannt wird, muß der Eigentümer sein. Mit seinem Eid behauptet der Kläger (Beklagte) demnach nicht, der Beklagte (Kläger) habe mit der Stabauflegung ,das Recht‘ verletzt; sein Eid hat vielmehr die Bedeutung: der Beklagte (Kläger) hat meinem Sklaven den Stab aufgelegt und damit in mein Recht eingegriffen. Nur diese Bedeutung paßt auch zum Vorspiel. Im Vorspiel legt jede Partei dem Sklaven die vindicta auf, und mit der Behauptung, der Sklave gehöre ihr, nimmt sie das Recht dazu in Anspruch157. Damit widerspricht sie der Eigentumsbehauptung der Gegenpartei und stellt deren Stabauflegung als Unrecht dar. Ein weiteres Argument ist die Verfahrensform. Die Parteien verfolgen sich gegenseitig in nachgeformten Deliktsverfahren wegen der Stabauflegung. Im wirklichen Deliktsverfahren stellt das Urteil die Haftung des Beklagten gegenüber dem Kläger außer Streit. Das Delikt, das durch die Stabauflegung dargestellt wird, wird an dem Sklaven begangen158; aus der Haftung, die es begründet, kann nur der Eigentümer berechtigt sein. Wer im nachgeformten Deliktsverfahren mit der Behauptung obsiegt, der Gegner habe iniuria vindiziert, muß mithin der Eigentümer des Sklaven sein. QUANDO TU INIURIA VINDICAVISTI haben wir bisher übersetzt: ,weil du zu Unrecht vindiziert hast‘. Jetzt können wir die Bedeutung von INIURIA genauer fassen. Mit INIURIA VINDICAVISTI sagt der Eigentumsprätendent nicht: ,du hast unter Verstoß gegen die Rechtsordnung vindiziert‘. INIURIA hat nicht, wie unser ,rechtswidrig‘, die allgemeine Bedeutung ,unter Verletzung des Rechts‘. Der Eigentumsprätendent behauptet vielmehr: ,du hast unter Verletzung meines Rechts vindiziert‘. Entsprechend müssen wir IUS FECI verstehen. Bisher haben wir übersetzt: ,ich habe recht getan‘; richtiger übersetzen wir jetzt: ,ich habe getan, wozu ich berechtigt bin, als ich die vindicta auflegte‘. Der Eigentümer vindiziert iure, weil ihn sein Eigentum zur Stabauflegung berechtigt159. 3. Der Eigentumsprozeß: ein Prätendentenstreit Das Verfahren der legis actio sacramento in rem besteht aus zwei nachgeformten Deliktsverfahren. Die Eigentumsfrage wurde in eine Unrechtsfrage eingekleidet, um die Verfahrensform der persönlichen Sakramentsklage für die Konstruktion der Eigentumsklage nutzen zu können. Die Verdoppelung der Unrechtsfrage ist durch diese Einkleidung allerdings nicht veranlaßt. 157
S. o. nach Anm. 95. Vgl. u. nach Anm. 182. 159 Dieses Ergebnis entspricht im wesentlichen dem der Untersuchung D. V. Simons, Begriff und Tatbestand der ,Iniuria‘, SZ 82 (1965) 160 ff. 158
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Auch durch ein einfaches Deliktsverfahren hätte festgestellt werden können, ob der Sklave dem Kläger oder dem Beklagten gehörte. Für ein einfaches Deliktsverfahren wäre nur eine Vindikation erforderlich gewesen, die der eine oder der andere hätte vornehmen können. Nehmen wir an, der Beklagte hätte vindiziert. Der Kläger hätte dann behaupten und beschwören müssen: ,du, Beklagter, hast iniuria vindiziert‘; der Beklagte: ,ich habe iure vindiziert‘159a. Das sacramentum des Klägers wäre iustum, das des Beklagten iniustum gewesen, wenn der Kläger, und umgekehrt, wenn der Beklagte der Eigentümer des Sklaven war; beide Eide dagegen iniusti, wenn der Sklave einem Dritten gehörte. Die Verdoppelung des Deliktsverfahrens beruht nicht auf der Verwendung der vorhandenen Prozeßform für die Konstruktion des neuen Verfahrens, sondern auf der Konzeption des Eigentumsverfahrens als Prätendentenstreit. Wir haben mehrfach wiederholt, daß jede Partei durch den Prozeß festgestellt haben will, daß sie der Eigentümer des Sklaven ist. Dieses Klagziel der Beteiligten kennzeichnet die legis actio sacramento in rem als Prätendentenstreit. Die Prätendenten wollen nichts voneinander. Sie streiten insbesondere nicht um den Besitz des Sklaven. In diesem ältesten Eigentumsprozeß verfolgt nicht ein nicht-besitzender Kläger einen besitzenden Beklagten. Der Besitz des Sklaven ist zwar durchweg der Anlaß des Verfahrens, und die Herausgabe des Sklaven an den bisher nicht-besitzenden Eigentümer kann eine Folge des Prozesses sein. Im Prozeß selbst geht es aber nicht um den Besitz160. Der Besitz spielt für den Rechtsgang überhaupt keine Rolle. Der Besitzer muß zwar den Sklaven her-
159a
Vgl. o. Anm. 150a. Weder führt er zu einer ,Verurteilung‘ des Besitzers, dem Eigentümer den Sklaven herauszugeben, noch verschafft das Urteil dem Eigentümer den Besitz des Sklaven: es stellt lediglich fest, daß der Sklave dem Kläger oder dem Beklagten oder auch keinem von ihnen gehört. Daß der Besitz dem Eigentümer zusteht und daß er den Sklaven ,haben‘ will, ist eine andere Frage, der das Verfahren allerdings auch Rechnung trägt. Wenn jeder Prätendent behauptet hat, der Sklave gehöre ihm, und beschworen, der andere habe seinem Sklaven die vindicta aufgelegt (s. o. vor Anm. 159), dann ist offen, wer den anwesenden Sklaven ,haben‘ darf. Darum ,macht‘ der Gerichtsherr einen der Prätendenten für die Dauer des Prozesses zum Besitzer, bestimmt er einen Besitzer für den streitbefangenen Sklaven (Gai 4.16; Fest. 376. Vgl. Kaser, EB 76 f., RP 73 f.; Pugliese 259 ff.). Diese Regelung entspricht der Eigentümlichkeit des Prätendentenstreits, daß die Beteiligten nichts voneinander wollen und in derselben Rolle sind (u. bei Anm. 161). Die Regelung galt aber nur für den streitbefangenen Sklaven, nur für die Dauer des Verfahrens (vgl. Karlowa, Civilprozess 87). Der ,Zwischenbesitzer‘, besser: ,Prozeßbesitzer‘, mußte daher den Sklaven dem anderen Prätendenten herausgeben, wenn dessen sacramentum für iustum befunden wurde oder wenn beide sacramenta iniusta waren (u. Anm. 162), der andere den Sklaven aber vorher in Besitz hatte. Nichts steht der Annahme im Wege, daß die Haftung der praedes litis et vindiciarum diese beiden Möglichkeiten deckte. – Ob das vindicias dicere von vornherein zum Verfahren gehörte, ist mir zweifelhaft. Die Regelung war nur erforderlich, wenn der Prozeß nicht in einem Termin erledigt wurde, was für das ungeteilte Verfahren (vgl. etwa J. G. Wolf, Litis contestatio [1968] 42 f.) der frühesten Zeit aber anzunehmen ist. 160
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beischaffen; ob dann aber er oder der andere als erster vindiziert, ist belanglos; Gaius verliert auch kein Wort darüber. Im Prozeß geht es vielmehr nur um den Eigentumstitel: jeder Prätendent will nichts anderes als bestätigt haben, daß er der Eigentümer des Sklaven ist. Deshalb ist ein Prätendentenstreit auch mit drei und mehr Beteiligten denkbar, und aus demselben Grund kann es im Prätendentenstreit keinen Kläger und keinen Beklagten geben; die Beteiligten sind vielmehr unterschiedslos in derselben Rolle161. Und schließlich: im Prätendentenstreit können alle Beteiligten ,verlieren‘, denn der Eigentümer des Sklaven muß nicht unter den Prätendenten sein162. Wie wir sahen, hätte der Prätendentenstreit auch als ein einfaches Deliktsverfahren eingerichtet werden können; seine Struktur legte jedoch das Doppelverfahren nahe. Die charakteristische Rollengleichheit konnte in den Formen des kontradiktorischen Prozesses nur in der Weise dargestellt werden, daß beide Prätendenten dasselbe tun: daß jeder von ihnen behauptet, der Sklave gehöre ihm; daß jeder vindiziert und jeder als Kläger und Beklagter auftritt. Wie die beiden Deliktsverfahren durch die Eide zusammengebunden waren, wird im letzten Kapitel untersucht.
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Vgl. o. bei Anm. 148. Jhering III 94; Karlowa, Civilprozeß 85 f.; O. Behrends, Sympotica Wieacker (1970) 47 Anm. 205. Dagegen: Lotmar 60 ff.; Pugliese 56, 295; und vor allem, mit weit. Lit., Kaser, EB 6 ff., RZ 71, RP 124: Das Verfahren habe den Fall nicht zugelassen, daß der Richter „beide Behauptungen für unwahr befand“ (EB 8). Auf diese Annahme stützt Kaser seine Lehre, das altrömische Eigentum sei relatives Recht gewesen. Seine Überlegungen sind aber nicht überzeugend. Sie kreisen um die Behauptung, der Richter müsse die Sache einem Prätendenten zusprechen. Die Prämisse, daß der Richter nicht beide sacramenta für iniusta erklären konnte, wird EB 7 begründet: „doch widerstreitet dies dem klaren Bericht des Gaius, auch bleibt dabei die Frage nach dem Schicksal der Sache offen“. Der zweite Punkt macht keine Schwierigkeiten, vgl. o. Anm. 160; und der Bericht des Gaius schließt nicht aus, daß beide Eide iniusti waren. In 4.13 spricht Gaius zwar von der Sakramentsklage überhaupt; nam qui victus erat, summam sacramenti praestabat poenae nomine ist aber, wie aus dem Kontext hervorgeht, auf das kontradiktorische Verfahren in personam gemünzt; mit der actio certae creditae pecuniae konnte Gaius nur die persönliche Sakramentsklage vergleichen; reus und actor, wie bei der actio certae creditae pecuniae, gab es nur bei ihr. Im übrigen wäre nam qui victus erat auch mit der Sakramentsklage in rem vereinbar: Die legis actio besteht aus zwei Deliktsverfahren (o. nach Anm. 150); jeder Prätendent verfolgt den anderen wegen dessen Vindikation; jeder beschwört, der andere habe iniuria vindiziert und verliert seinen Deliktsprozeß, wenn sein Eid iniustus ist (o. vor Anm. 153). Anderes kommt hinzu: Es ist nicht glaubwürdig, daß meum esse nicht meum esse sein soll. Und es ist nicht richtig, daß sich meum esse zu meum esse wie aio zu nego verhält (RZ 89): aio und nego sind kontradiktorisch, die Eigentumsbehauptungen sind es nicht – und die Eide, die den Streit begründen und über deren Wahrheit entschieden wird, sind es auch nicht (vgl. u. nach Anm. 163). In einem Verfahren, das nicht kontradiktorisch ist, gibt es aber unausweichlich die dritte Möglichkeit. 162
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III. Die Eide Die Analyse des Dialogs hat ergeben, daß am Ende der Prozeßeinleitung jede Streitpartei beschwor, der Prozeßgegner habe iniuria vindiziert163, und daß diese Eide zwei (natürlich unselbständige, nach ihren Streitgegenständen jedoch verschiedene) Verfahren begründeten. Wir haben in diesen Verfahren nachgeformte Deliktsverfahren erkannt, persönliche Sakramentsklagen164. 1. Die Eide der legis actio sacramento in personam Das Ritual der legis actio sacramento in personam war klar und einfach165 . Nach dem Muster der überlieferten166 Klagbehauptung ,aio te mihi dare oportere‘ stellen wir uns vor, daß die Spruchformel des Klägers, der den Beklagten wegen ossis fractio167 vor Gericht gebracht hatte, lauten konnte: ,te servo meo manu fustive os fregisse aio‘. Mit dieser Behauptung war die Aufforderung verbunden, die Tat zuzugeben oder zu bestreiten: ,id postulo aias an neges‘ 168. Wie das Ritual vorsah, bestritt der Beklagte. Daraufhin nahm wieder der Kläger das Wort, um ihn jetzt zum Streit herauszufordern: ,quando negas, te sacramento quingenario provoco‘169. Er beschwor seine Behauptung und nach ihm, ohne besondere Ankündigung, der Beklagte seine Gegenbehauptung170. Durch den Eid des Klägers wurde der Beklagte darum zum Streit ,herausgefordert‘, weil die beeidete Behauptung für wahr galt: wollte der Beklagte nicht von vornherein unterliegen, mußte er ihr entgegentreten. Wirksam entgegentreten konnte er ihr aber nur dadurch, daß er auch seine Behauptung beeidete. Mit seinem Eid provozierte er nicht, sondern reagierte vielmehr auf den Provokationseid: indem er seine Gegenbehauptung beeidete, nahm er die Herausforderung des Klägers an171. Damit war der Streit begründet, jetzt konnte das Urteilsverfahren beginnen. Das Ritual führte mithin am Ende der Prozeßeinleitung eine Lage herbei, in der Eid gegen Eid stand. Wenn Eid gegen Eid stand, war eine Entscheidung offenbar unausweichlich. Das Urteil lautete denn auch nicht auf Wahrheit oder Un163
Nach Anm. 147. Nach Anm. 150. 165 Pugliese 298 ff.; Kaser, RZ 64 ff. 166 Val. Prob. 4.1. 167 XII T. 8.3 (Gai 3.223; Paul. coll. 2.5.5). 168 Vgl. Gai 4. 17a und b. 169 Val. Prob. 4.2. 170 Ein et ego te des Beklagten gab es bei der kontradiktorischen Sakramentsklage in personam naturgemäß nicht; anders Kaser, RZ 65. 171 Hier war die Gegenbehauptung selbstverständlich kontradiktorisch. Sie konnte etwa lauten: ,me servo tuo manu fustive os fregisse nego‘. 164
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wahrheit der beeideten Behauptungen, sondern erging über die Eide: der Richter stellte fest, wessen sacramentum iustum, wessen iniustum war, das des Klägers oder das des Beklagten. 2. Die Eide der legis actio sacramento in rem Wenn diesem Rechtsgang die beiden Deliktsverfahren der legis actio sacramento in rem nachgeformt sind172, dann bedarf der Erklärung, daß am Ende ihrer Prozeßeinleitung nur zwei und nicht vier Eide geschworen werden, nämlich jede Partei nur ihren Provokationseid schwört und nicht auch ihre Gegenbehauptung beeidet. (a) Um die Darstellung zu erleichtern, unterscheiden wir im folgenden die bei den nachgeformten Deliktsverfahren unserer legis actio nach erstem und zweiten Verfahren. Im ersten behauptet der Kläger, der Beklagte habe iniuria vindiziert während der Beklagte erklärt, er habe iure gehandelt; im zweiten, von uns erschlossenen Verfahren behauptet der Beklagte, der Kläger habe iniuria vindiziert, während der Kläger erklärt, er habe iure gehandelt173. Im ersten Verfahren beschwört der Kläger seine Behauptung und fordert dadurch den Beklagten zum Streit über dessen Vindikation heraus; im zweiten ist es der Beklagte, der seine Behauptung beschwört und damit den Kläger zum Streit über dessen Vindikation herausfordert. Gaius (4.16) berichtet, daß nach den Spruchformeln eadem sequebantur, quae cum in personam ageretur. Für die persönliche Sakramentsklage erschließen wir mit Gewißheit, daß zum Abschluß der Einleitung des Verfahrens beide Streitparteien die Sakramentssumme je einmal versprachen, nach Varro ad pontem hinterlegten, die Prozeßeinleitung ursprünglich also mit je einem Eid der Streitparteien endete174. Darum müssen wir davon ausgehen, daß auch bei unserer legis actio jede Streitpartei die Sakramentssumme nur einmal versprach und mithin in älterer Zeit auch nur einen Eid leistete. (b) Bei der persönlichen Sakramentsklage dient der Eid des Klägers der Provokation des Beklagten, während der Beklagte mit der Beeidung seiner Gegenbehauptung die Herausforderung annimmt. Bei der legis actio sacramento in rem dienen dagegen beide Eide der Provokation des Gegners, der Eid des Klägers im ersten, der Eid des Beklagten im zweiten Verfahren, während die Gegenbehauptungen (,ich habe iure vindiziert‘) unbeeidet bleiben. Bei der persönlichen Sakramentsklage ist jedoch ersichtlich, daß die Beeidung der Gegenbehauptung zur 172
S. o. nach Anm. 150. Die Streitbehauptungen der nachgeformten Deliktsverfahren waren in Abweichung von ihrer Vorlage nicht kontradiktorisch (s. schon o. Anm. 150a). Darum sind auch die beeideten Behauptungen im Verhältnis zueinander nicht kontradiktorisch. 174 S. o. nach Anm. 124. 173
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Streitbegründung gehört: ohne Beeidung auch der Gegenbehauptung kommt es nicht zum Urteilsverfahren. Warum kann dann aber in den beiden nachgeformten Deliktsverfahren unserer legis actio die Beeidung der Gegenbehauptungen unterbleiben? Das Ritual der legis actio sacramento in rem verzichtet auf sie, weil der Provokationseid zugleich die Funktion des Gegeneides erfüllt und für das Prozeßziel eine Entscheidung über die Provokationseide ausreicht. Um diese Zusammenhänge leichter zu durchschauen, unterstellen wir zunächst, daß bei der Einrichtung der legis actio sacramento in rem die persönliche Sakramentsklage konsequent175 nachgeformt worden ist und in beiden Deliktsverfahren beide Streitbehauptungen beeidet wurden. Unter diesen Umständen ergibt sich: Gehört der Sklave dem Kläger, dann obsiegt der Kläger in beiden Verfahren; im ersten ist sein Provokationseid, im zweiten sein Gegeneid iustus, während die Eide des Beklagten in beiden Verfahren iniusti sind. Das Bild verkehrt sich, wenn der Sklave dem Beklagten gehört. Dann obsiegt er in beiden Verfahren; im ersten ist sein Gegeneid, im zweiten sein Provokationseid iustus, während die Eide des Klägers in beiden Verfahren iniusti sind. Gehört der Sklave weder dem Kläger noch dem Beklagten, dann sind alle Eide iniusti, beide Prätendenten ,verlieren‘ den Prozeß. Wir sehen, daß eine Streitpartei entweder in beiden Deliktsverfahren obsiegt oder in beiden unterliegt; daß sie im ersten obsiegt und im zweiten unterliegt (oder umgekehrt), ist ausgeschlossen. Gehört ihr der Sklave, wird demnach gleich zweimal festgestellt, daß sie der Eigentümer ist; gehört ihr der Sklave nicht, hat sie zweimal falsch geschworen. Für das Prozeßziel ist aber ausreichend, wenn einmal festgestellt wird, daß der Sklave dem Kläger und nicht dem Beklagten oder dem Beklagten und nicht dem Kläger oder weder dem einen noch dem anderen gehört – wenn also nicht über beide Behauptungen jeder Partei, sondern nur über eine ihrer beiden Behauptungen entschieden wird. Wir sehen außerdem, daß die beiden Eide einer Streitpartei, ihr Provokationseid im einen und ihr Gegeneid im anderen Deliktsverfahren, unter derselben Voraussetzung wahr und unwahr sind; wenn der Sklave ihr gehört: wahr, wenn nicht: unwahr. Daraus folgt, daß der Beklagte (Kläger) der Provokationsbehauptung des Klägers (Beklagten) nicht nur mit seiner Gegenbehauptung, sondern auch mit seiner eigenen Provokationsbehauptung widerspricht. Die Provokationseide sind demnach im Verhältnis zueinander Gegeneide176. Mit dem Provokationseid wird nicht nur der Gegner herausgefordert, sondern zugleich dessen Herausforderung angenommen. Für die Streitbegründung in beiden Deliktsverfahren ist darum die 175
Mit der in Anm. 150a und 173 hervorgehobenen Abweichung. Sie sind aber nicht kontradiktorisch – so wenig wie die Streitbehauptungen in den beiden Deliktsverfahren: IUS FECI – INIURIA VINDICAVISTI. S. o. Anm. 150a und 173. 176
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Beeidung der Gegenbehauptungen (,ich habe iure vindiziert‘) ein überflüssiger Aufwand. (c) Diese Zusammenhänge stellen auch die Provokationsklausel SACRAMENTO TE PROVOCO in ein schärferes Licht. Sacramento provocare haben wir übersetzt: durch Eid zum Streit herausfordern177. Wir haben die Übersetzung auf die Verwendung von sponsione provocare gestützt und damit vorausgesetzt, daß dieser jüngere verfahrenstechnische Ausdruck sacramento provocare nachgebildet ist. Sponsione provocare lehrt uns, wie sacramento provocare spätestens seit der mittleren Republik178 verstanden wurde. Seine ursprüngliche Bedeutung scheint aber spezifischer gewesen zu sein. Im persönlichen Sakramentsprozeß fordert nur der Kläger zum Streit heraus, während der Beklagte ohne weiteres seine Gegenbehauptung beschwört, sobald der Kläger den Provokationseid geschworen hat. Sacramento provocare bedeutet hier wahrscheinlich nicht einfach ,durch Eid zum Streit herausfordern‘, sondern vielmehr ,durch einen Eid zu einem Eid herausfordern‘ – was so viel heißt wie: ,zu einem Streit mit Eiden‘ oder ,zu einem Streit provozieren, der durch Eide ausgetragen wird‘. Die anschaulichsten Belege dieser Verwendung von provocare finden sich bei Plautus. Epidicus hat seinen Herrn Periphanes an der Nase herumgeführt und fürchtet jetzt (V.1) seinen Zorn. Er überlegt einen Augenblick, ob er sich aus dem Staube machen soll, entschließt sich dann aber, nach Hause zurückzukehren: Non fugio, domi adesse certumst. neque ille haud obiciet mihi pedibus sese provocatum. abeo intro, nimis longum loquor (664/5). Periphanes (ille) soll ihm nicht vorwerfen können, er habe ihm ,mit den Füßen‘, das heißt ,durch Laufen zum Laufen‘, also zu einem Wettlauf provoziert. Im ,Stichus‘ wird am Ende der Komödie mit Musik und Tanz gefeiert (V.7). Stichus macht einen extravaganten Sprung und sagt dabei zu seinem Mitsklaven Sangarinus: Si istoc me vorsu viceris, alio me provocato (770). Wenn Sangarinus ihm diesen Sprung nachmacht, dann soll er ihn durch einen (anderen) Sprung zu diesem (anderen) Sprung, also zu einem Wettspringen herausfordern179.
Im Eigentumsprozeß werden die Gegenbehauptungen nicht beschworen. Wie wir sahen, erfüllen aber die Provokationseide zugleich die Funktion der Gegeneide. Die interpretatio difficilior der Provokationsklausel des persönlichen Sakramentsverfahrens paßt darum auch auf die beiden Provokationsklauseln unserer legis actio180.
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O. nach Anm. 135. Vgl. J. Crook, JRS 66 (1976) 132 ff. 179 Quint. inst. 10.1.93: Elegia quoque Graecos provocamus. Vgl. J. G. Scheller, Lat.-deutsches Wörterbuch (3. Aufl., Leipzig 1804) Sp. 8725 s. v. provocare 3 c. 180 Vgl. Stintzing, Über das Verhältnis der legis actio sacramento zu dem Verfahren durch sponsio praeiudicialis (1853) 7; Danz, Der sacrale Schutz im röm. Privatrecht (1857) 165 f. 178
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Schlußbemerkungen I. Zur Stabauflegung 1. Die Reduktion der Streitbegründung auf zwei Eide ist eine raffinierte Lösung. Sie vermeidet nicht nur die Verdoppelung des Sakramentsaufwands. Ihre eigentliche Leistung besteht darin, daß sie die beiden nachgeformten Deliktsverfahren zu einem Verfahrensgang verbindet: Sie ist der ,Schlußstein‘ einer ingeniösen Konstruktion. Die Konzeption des Verfahrens als Streit zweier Prätendenten bestimmt den ,Grundriß‘: beide Prätendenten behaupten, Eigentümer des Sklaven zu sein. Um die kontradiktorische Prozeßform der persönlichen Sakramentsklage verwenden zu können, wird die Eigentumsfrage in eine Unrechtsfrage eingekleidet: beide Prätendenten müssen dem Sklaven den Stab auflegen. Die Stabauflegung ist die Darstellung einer Handlung gegen den Sklaven, die der Eigentümer als Unrechtstat verfolgen kann, die er selbst aber vornehmen darf; das eine ist die Kehrseite des anderen. Aus diesen beiden Aspekten der Stabauflegung ergibt sich alles weitere. Jeder Prätendent verfolgt den anderen wegen der Stabauflegung und, die Kehrseite, wird verfolgt wegen seiner Stabauflegung; jeder nimmt damit in Anspruch, der Eigentümer des Sklaven zu sein, und jedem wird dieser Anspruch bestritten. Und es ist diese Interdependenz, die sich aus den beiden Aspekten der Stabauflegung ergibt, die es dann erlaubt, die beiden nachgeformten Deliktsverfahren in der Streitbegründung, durch die beiden Provokationseide, zu einem Rechtsgang zusammenzufassen. 2. Gaius (4.16) nennt die vindicta des Rituals festuca und erzählt, sie sei anstelle einer Lanze als Zeichen ,gerechten Eigentums‘ verwendet worden. Dieser hausbackenen Erklärung181 ist immerhin zu entnehmen, daß die vindicta ein Stab oder ein Stock war, ein Gerät jedenfalls, das den Vergleich mit einer Lanze nicht ausschloß182. Im Laufe der Untersuchung hat sich ergeben, daß die Auflegung des Stabes eine unerlaubte Handlung ,repräsentiert‘, die an dem Sklaven begangen wird. Was durch die Berührung des Sklaven mit der vindicta dargestellt wird, sind vermutlich Schläge mit einem Stock. Die legis actio ist vor den XII Tafeln eingerichtet worden; die unerlaubte Handlung, die sie voraussetzt, müßte daher vom Deliktsrecht der XII Tafeln abgedeckt sein. Die Stockschläge paßten zum Tatbestand der ossis fractio183; das Ritual wird aber kaum vorgesehen haben, daß der Eigentümer, wenngleich nur im Spiel, unter Berufung auf sein Eigentum, seinem 181 182
Vgl. Beseler, Hermes 77 (1942) 81; Kaser, AJ 328. Nach Beseler, Hermes 77 (1942) 79 f. heißt sowohl vindicta wie festuca ,Binde-
rute‘. 183
XII T. 8.3 (Gai 3.223; Paul. coll. 2.5.5).
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Sklaven Knochenbrüche beibrachte. Näher liegt das Injuriendelikt184: die Stockschläge, die der Eigentümer zur Züchtigung austeilte, waren ihm gegenüber iniuria, wenn ein Dritter sie dem Sklaven zufügte. Der Tatbestand der alten iniuria ist freilich unsicher. Ich sehe aber keinen Grund, ihn auf ,Gewaltanwendung gegen den Körper eines freien Menschen‘ zu beschränken185. 3. Unsere Erklärung der Stabauflegung ist eine klare Bestätigung der traditionellen, zuerst von Karl Otfried Müller186 entwickelten etymologischen Deutung der Wortgruppe vindicta, vindex, vindicare. Nach dieser Deutung ist vindex nicht Grundwort, sondern Rückbildung aus *vindicere (3. Konj.), *vindicere eine sogenannte Zusammenrückung aus vim + dicere187. Die Verbalwurzel *deik bedeutet ,zeigen‘, *vindicere mithin ,Gewalt zeigen‘. Diese Bedeutung schließt die Verbindung mit einem Akkusativobjekt aus. *Vindicere ist nicht völlig verschollen. In einer Konstruktion, die seinem Wortsinn entspricht, kommt es in einem XIITafelsatz (3.3) vor, den Gellius (20.1.45) überliefert: Ni iudicatum facit aut quis endo eo in iure vindicit, secum ducito188. Von vindex (,einer, der Gewalt zeigt‘) ist vindicare abgeleitet189, das früh *vindicere verdrängt hat. Vindicta gehört aber zu *vindicere190; das Wort ist wahrscheinlich ein Abstraktum191, seine Bedeutung demnach ,die Gewaltzeigung (durch vindicere)‘. Der Stab wäre dann nach dem benannt, wozu er gebraucht wird – eine geläufige Metonymie192. 184 XII T. 8.4 (Gell. 20.1.12; Paul. coll. 2.5.5). Kaser, RP 156 mit Lit.; vgl. insb. D. V. Simon, SZ 82 (1965) 169 ff. 185 Simon 174. Kaser, AJ 23, vermutet, daß „die iniuria bei der Vindikation ursprünglich“ der Anwendungsfall eines „Urdelikts“ iniuria war. 186 Rheinisches Museum f. Iurisprudenz 5 (1833) 190–197. 187 Vindex kann nicht Nominalkompositum aus vis + dicere sein; dieses Kompositum müßte videx lauten; die Komposita haben das nominale Vorderglied immer in der Stammform: iudex, pontifex, weitere Beispiele Leumann 393. Nominale Rückbildungen aus Verben sind häufig. – Für Zusammenrückung von vim + dicere zu *vindicere zuletzt Leumann 267. 188 Die Konstruktion findet sich noch (mit vindicare) bei Gell. 20.10.7: in ea re solemnibus verbis vindicare, und eod. 9: in ea gleba tamquam in toto agro vindicare; im Kontext oben vor Anm. 31. 189 Wie iudicare von iudex. 190 Und nicht zu vindicare, wie Kaser, AJ 327, meint. 191 Nach O. Szemerényi (u. Anm. 192) 318 ein Abstraktum von vindex. 192 Ein anderes altlat. ,abstractum pro concreto‘ der Rechtssprache ist mancipium: Rechtsakt und ,Sklave‘ (für dessen Veräußerung der Rechtsakt geschaffen worden ist, vgl. u. nach Anm. 194). – Mit der durch unsere Erklärung der Stabauflegung bestätigten Etymologie konkurriert vor allem die Erklärung Schraders, die vor kurzem von O. Szemerényi (Studia linguistica in honorem E. Coseriu III [1981] 303 ff., mit der gesamten Lit.) mit neuen Überlegungen gestützt und weitergeführt worden ist. Nach dieser Lehre ist vindex ein Wurzelkompositum aus dem Nominalstamm vin- (entstanden aus *veni > *vini) und der Verbalwurzel *dik (Schwundstufe von *deik) mit der Bedeutung ,einer, der auf ein Familienmitglied hinweist‘. vindicit in XII T. 3.3 wird als Variante von vindicat erklärt und soll zu einem Verbum vindicire gehört haben, das eine Nebenform zu vindicare gewesen sei (wie verberire zu verberare u. a.) und sich von vindex ableite.
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Nach unserer Analyse des Rituals sind es vermutlich Schläge mit einem Stock, die durch die Berührung des Sklaven mit der vindicta dargestellt werden. Nach der Wortanalyse sagt das Ritual selbst, daß der Vindikant, wenn er dem Sklaven die vindicta auflegt, ,Gewalt zeigt‘. Eine größere Nähe von Bedeutung und Verwendung eines Fachworts kann nicht erwartet werden. Hier schließen sich eine Reihe von Fragen an, die über unser Thema hinausgehen. *Vindicere scheint eine bewußte Wortschöpfung gewesen und nicht allmählich aus vim und dicere zusammengewachsen zu sein. Der Anlaß der Wortbildung war vermutlich die Einrichtung unserer legis actio. Die Verwendung von vindicare, ursprünglich wohl *vindicere193, und vindicta in den Spruchformeln müßte darum über den Formalismus des Rituals Aufschluß geben können. Was meint das Ritual, wenn es selbst die Darstellung von Gewaltanwendung ,Gewalt zeigen‘ nennt? Die Verfolgung dieser Frage könnte das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem aufklären. II. Zur Einführung der legis actio sacramento in rem Im Verfahren der legis actio sacramento in rem konnte über das Eigentum an Sachen aller Art gestritten werden. Unsere Erklärung ihres Rituals paßt aber nur auf den Streit über das Eigentum an einem Sklaven. Die Vindikation kann nur dann eine unerlaubte Handlung sein, wenn der Stab einem Sklaven aufgelegt wird; ihre Deutung als unerlaubte Handlung ist aber der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Rituals. Wenn das Ritual auf den Streit über das Eigentum an einem Sklaven zugeschnitten ist, dann ist der Schluß unabweisbar, daß die legis actio sacramento in rem zu diesem Zweck eingeführt worden ist. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Formalismus, daß der ursprüngliche Sinn eines Rituals sozusagen vergessen werden kann, wenn es einmal eingeführt ist; wenn sein Vollzug möglich ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob er Sinn macht. Das Verfahren der legis actio sacramento in rem konnte darum ohne weiteres auch für den Streit über andere Gegenstände zugelassen werden. Der Eigentumsprozeß ist nicht ohne Anlaß eingeführt worden: nach seinem Ritual ist er die spezifische Antwort auf ein spezifisches Bedürfnis. Wir können direkt fragen: welche Rechtsänderung machte die Einführung eines Gerichtsverfahrens erforderlich, in dem über das Eigentum an einem Sklaven gestritten werden konnte? Unsere Antwort: die Einrichtung der mancipatio194. Diese Erklärung ist nicht genötigt, eine Zusammenrückung anzunehmen, was als eine Schwäche der älteren Deutung angesehen wird. Nach unserer Untersuchung ist dieser Einwand aber nicht mehr berechtigt. Es kann nämlich kaum zweifelhaft sein, daß das juristische Fachwort *vindicere eine bewußte Wortbildung ist. 193 S. o. Anm. 149.
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Die mancipatio ist für die Veräußerung der bis dahin unveräußerlichen und dann nach ihr benannten res mancipi geschaffen worden. Mit großer Wahrscheinlichkeit war sie aber nicht von vornherein für alle res mancipi offen; vermutlich ist sie für die Veräußerung von Sklaven oder von Zug- und Spannvieh eingerichtet und erst nach und nach auf andere res mancipi erstreckt worden. Da die alte Bezeichnung der Manzipation mancipium ist, mancipium seit alters aber auch ,Sklave‘ bedeutet, könnte der Sklave die erste und ursprünglich einzige res mancipi gewesen sein. Solange der Sklave unveräußerlich war, war der Besitzer eines Sklaven Eigentümer oder Dieb, die Sachverfolgung darum immer Diebstahlsverfolgung. Diese Alternative galt nicht mehr, sobald der Sklave veräußert werden konnte: der Besitzer, dem der Sklave nicht gehörte, mußte jetzt nicht mehr unbedingt ein Dieb sein; er konnte den Sklaven erworben haben. Mit der mancipatio mußte darum zugleich die legis actio sacramento in rem eingeführt werden. Eine Vorgeschichte hatte sie nicht.
194 Das Folgende ist das Ergebnis einer Untersuchung, die in den SBer. d. Heidelberger Ak. d. Wiss. erscheinen wird.
Normdurchsetzung im römischen Zivilprozeß I. Einführung 1. Das römische Recht war zu allen Zeiten seiner Geschichte das Recht des römischen Bürgers: nur er hatte es zu befolgen und nur auf ihn war es anwendbar. Dieser sozusagen persönliche Geltungsbereich des römischen Rechts deckte sich nur in Roms Frühzeit mit seinem Herrschaftsbereich: nur in den ersten Jahrhunderten der Stadt reichte Roms Herrschaft nicht über die Grenzen seines Staatsgebiets hinaus und waren die Bewohner von Stadt und Feldmark durchweg römische Bürger – während Italien, Rom zu seinem kulturellen Vorteil eingeschlossen, von der Poebene bis Kampanien von den Etruskern beherrscht wurde. Im Jahre 510 v. Chr. schüttelte Rom die etruskische Herrschaft ab und wurde Republik. In der 1. Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. begann Roms Expansion. Sie änderte schnell und markant die Grenzen des Stadtstaats. Die unterworfenen Gebiete schlug Rom nur zum Teil seinem Staatsgebiet zu, und allenfalls die Bewohner dieser eingegliederten Gebiete nahm es in den Bürgerverband auf. 268 v. Chr. hatte Rom Italien von den Nordabhängen des Apennin bis zur Stiefelspitze unterworfen – ein Gebiet von 125.000 qkm. Mit etwa einem Fünftel dieser Fläche war sein Staatsgebiet nicht viel größer als das heutige Bundesland Hessen. Um 200 v. Chr. umfaßte das römische Staatsgebiet etwa die Hälfte Italiens, und erst in den Jahren 91 bis 89 v. Chr. hat Rom, unter dem Konsulat Caesars, nach einem blutigen Aufstand der ihm hörigen italischen Bundesgenossen, alle Italiker in das Bürgerrecht aufgenommen und sein Staatsgebiet auf die gesamte Halbinsel ausgedehnt. Jetzt lebten etwa 4 bis 5 Millionen Bürger nach römischem Recht. Sieht man ab von der Verleihung des Bürgerrechts durch die Kaiser an Städte und Gemeinden in den Provinzen, so blieb es dabei, bis im Jahre 212 n. Chr. Caracalla allen Bewohnern des Reichs das römische Bürgerrecht zusprach1. – Es ist übrigens dieses Ereignis, an das seit mehr als 100 Jahren unter der Rubrik „Reichsrecht und Volksrecht“ eine singuläre Diskussion über die Effektivität des römischen Gesetzesrechts anknüpft, über die Frage nämlich, ob das römische Recht auf die Neubürger wirklich angewendet und von ihnen befolgt wurde. 2. Roms Rechtsordnung ist auch schon in der Frühzeit der Stadt, wie in den meisten entwickelten Gesellschaften, wesentlich eine Gebotsordnung, sein Recht wesentlich Gebotsrecht. Erscheinungs- und Lebensform des Gebotsrechts sind 1 Durch die constitutio Antoniniana: schlecht überliefert auf dem Papyrus 40 der Giessener Sammlung (Pap. Giss. 40).
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nicht Verhaltensgewohnheiten der Rechtsgenossen, sind nicht Übung und Brauch und Observanz: Gebotsrecht ist vielmehr geschaffenes, von den Machtträgern des Gemeinwesens gesetztes Recht, dessen Nachachtung durch die Rechtsgenossen erwartet wird und erzwingbar ist. Gebotsrecht ist typischerweise Gesetzesrecht und das herausragende Beispiel der römischen Frühzeit ist das Zwölftafelgesetz aus den Jahren 451 bis 449 v. Chr.2. Die Durchsetzung gebotenen Rechts erfordert eine Herrschaftsorganisation, namentlich eine staatliche Gerichtsbarkeit; und die Durchsetzungschance gebotenen Rechts ist abhängig von der Intensität dieser Herrschaftsorganisation. Sie hängt ab von den Machtmitteln, die das Gemeinwesen für die Durchsetzung des Rechts vorsieht, und von der allgemeinen Eignung der Gerichtsorganisation, unter den gegebenen Lebensbedingungen der Rechtsgemeinschaft das Recht durchzusetzen: sei es das gebotene Verhalten zu erzwingen, sei es abweichendes Verhalten zu sanktionieren. Mit der stufenweisen Ausdehnung des persönlichen und räumlichen Geltungsbereichs der römischen Rechtsordnung können sich darum auch ihre Effektivitätsgrenzen verschoben haben. Denn weder können wir unterstellen, daß die Gerichtsbarkeit, die sich der Stadtstaat der Frühzeit nach seinen Verhältnissen geschaffen hat, im Flächenstaat der späten Republik unverändert, mit derselben Effizienz, funktionierte; noch aber können wir davon ausgehen, daß die Gerichtsorganisation den veränderten Verhältnissen immer wirkungsvoll angepaßt wurde – auch wenn sie in den Stadtrechten konkret und genau geregelt war3. 3. Roms Geschichte wird gewöhnlich nach der Abfolge seiner Herrschaftsformen untergliedert. Nach einer Königsherrschaft von allenfalls 150 Jahren wurde Rom 510 v. Chr. Republik. Unter dieser Staatsform vollzog sich seine Entwicklung von einem unbedeutenden mittelitalischen Stadtstaat zur Beherrscherin des ganzen mediteranen Kulturkreises. Die Verwaltung dieses Riesenreichs war eine der Anforderungen, an denen die Republik mit ihrer unverändert stadtstaatlichen Machtorganisation schließlich zerbrach. Auf das Jahr 27 v. Chr. datieren wir die Begründung der Monarchie durch Augustus, die dem Reich eine lange Friedensperiode brachte. Diese ersten 250 Jahre der Monarchie, der sogenannte Prinzipat, ist auch das Zeitalter der klassischen Jurisprudenz. In ihre Spätzeit fällt die erwähnte Verleihung des Bürgerrechts an alle Bewohner des Reichs. Nach einer schweren Krise wird am Ende des 3. Jahrhunderts der Staat von Diokletian
2
Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte I (1988) 287–309. Beispiele sind etwa die Fragmente der Tabulae Bantinae aus den frühen achtziger Jahren v. Chr.; die Lex Ursonensis, das noch von Caesar veranlaßte Stadtrecht von Urso in der Baetica von 44 oder 43 v. Chr.; oder die erst in unseren sechziger Jahren gefundene flavische Lex Irnitana aus den frühen neunziger Jahren n. Chr., das Stadtrecht von Irni, einem kleineren Ort ebenfalls in der Baetica – um nur diese Beispiele zu nennen. 3
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gleichsam neu begründet, nunmehr aber als ein Zwangsstaat, in dem das ganze öffentliche Leben bürokratisiert ist, ein Zwangsstaat, den wir Dominat nennen4. Mit der Herrschaftsform änderte sich jeweils die Organisation der Macht, in erster Linie die zivile und militärische Verwaltung, immer aber auch das Gerichtswesen. Den verschiedenen Herrschaftsformen entsprachen mithin unterschiedliche Gerichtsorganisationen. Dabei nimmt der Prinzipat eine besondere Stellung ein: er ist eine Art Zwischen- und Übergangszeit. In seinem Gerichtswesen, insbesondere der Zivilrechtsjustiz, hielt er einerseits an den republikanischen Verfahrensformen weithin fest; andererseits entwickelte er gleichzeitig neue Formen der Gerichtsbarkeit, nach denen dann der Dominat sein Gerichtswesen ausschließlich modellierte. 4. Mit Zivilrechtsjustiz ist ein weiteres Stichwort zu unserem Thema gefallen. Seit frühesten Zeiten wird in Rom zwischen zivilem Rechtsstreit und Kriminalverfahren unterschieden. Während wir aber verläßliche Kenntnis haben von der zivilen Gerichtsbarkeit bis hinauf in das 5. Jahrhundert v. Chr., reicht unsere Kenntnis von der Strafverfolgung kaum über das letzte Jahrhundert v. Chr. hinaus. Wir wissen zwar, daß (von Hoch- und Landesverrat abgesehen) auch das schwere gemeine Verbrechen wie Mord und Brandstiftung Sache der privaten Rechtsverfolgung war. Über die Gerichtsbarkeit, das Verfahren und die Vollstrekkung können wir dagegen für die vorsullanische Zeit weithin nur Vermutungen anstellen. Erst Sulla schuf um 80 v. Chr. eine allgemeine staatliche Strafverfolgung mit der Einrichtung ständiger Schwurgerichtshöfe. Jeder Schwurgerichtshof hatte seinen eigenen Zuständigkeitsbereich. Das Verfahren wurde nicht von Amts wegen eingeleitet; vielmehr konnte jeder Bürger Anklage erheben, und war er siegreich, erhielt er eine Prämie. Der Strafvollzug lag in der Hand des Magistrats, der der Geschworenenbank vorsaß. Unter dem Prinzipat wurden die Schwurgerichtshöfe zunächst beibehalten. Augustus vermehrte sogar noch ihre Zahl, schuf aber zugleich eine allzuständige Polizeijustiz mit einem strafferen Verfahren, die noch im 1.Jh. die Schwurgerichtshöfe zu verdrängen begann. Außerdem fungierte jetzt auch der Senat als Strafgericht und bald nahm auch der Kaiser selbst uneingeschränkte Gerichtsbarkeit in Anspruch. Die zivile Gerichtsbarkeit war demgegenüber von außerordentlicher Stabilität: in ihrer Grundstruktur blieb sie über 700 Jahre hin, vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr., unverändert. II. Der römische Zivilprozeß 1. Nach dieser Einführung kann es nicht verwundern, daß über Normdurchsetzung im Geltungsbereich der römischen Rechtsordnung verbindliche Aussagen
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Vgl. Max Kaser, Römische Rechtsgeschichte (1967) 208 ff.
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zwar über allgemein geltende Regelungen, kaum aber über deren Beachtung und Befolgung zu gewinnen sind. So kommen wir nicht umhin, die Fragestellung sowohl zeitlich wie dem Gegenstande nach auf einen bestimmten Normbereich zu beschränken. Es liegt darum nahe, die weiteren Ausführungen auf die zivile Gerichtsbarkeit der Republik und des Prinzipats einzugrenzen. Dafür spricht, daß diese Gerichtsbarkeit über 700 Jahre hin in ihrer Grundstruktur unverändert geblieben ist. Sodann ist die Quellenlage gut: wir haben eine ziemlich genaue Anschauung von diese Gerichtsbarkeit. Außerdem ist sie durchaus eigentümlich und für den heutigen Betrachter eher fremdartig. Schließlich geht es bei dieser Gerichtsbarkeit um die Wirklichkeit des Teils der römischen Rechtsordnung, der mit seinen Grundsätzen auf die europäische Rechtskultur vor allem gewirkt hat. 2. In der siebenhundertjährigen Geschichte des römischen Zivilprozesses unterscheiden wir zwei Prozeßarten: den frührömischen Prozeß, den wir Legisaktionen- oder Spruchformelprozeß nennen, und das jüngere Formular- oder Schriftformelverfahren. Dieses jüngere Schriftformelverfahren hat sich im 3. Jahrhundert v. Chr. aus dem älteren Spruchformelverfahren entwickelt, dieses endgültig aber erst in augusteischer Zeit verdrängt. Beide Verfahren sind von derselben Grundstruktur, die für unsere Vorstellung von Justiz- und Gerichtswesen durchaus fremartig ist. (a) Denn den römischen Zivilprozeß, den älteren wie den jüngere, kennzeichnet die Teilung des Verfahrens: geteilt ist das Verfahren nach Ort und Zeit in zwei getrennte Abschnitte. Der erste Abschnitt findet vor dem Prätor statt, in iure; der zweite vor dem iudex, einem Geschworenen: apud iudicem. Im ersten Abschnitt, in iure, wird das Klagbegehren abgeklärt, im zweiten, apud iudicem, das Klagverfahren durchgeführt. Der erste Abschnitt endet mit der Ernennung und Ermächtigung des iudex, eines Privatmannes, und dessen Instruktion. Er wird ernannt und ermächtigt nach Maßgabe der Instruktion, je nach dem Ausgang der Beweisaufnahme, den Beklagten zu verurteilen oder ihn „loszusprechen“. Im zweiten Abschnitt verfährt der iudex nach seiner Instruktion, werden die Zeugen vernommen und die Dokumente ausgewertet und das Verfahren mit dem Urteil abgeschlossen, der condemnatio oder der absolutio. Die Teilung des Verfahrens war vermutlich nicht ursprünglich, ist aber früh eingeführt worden; schon nach den Zwölftafeln war sie üblich, dem Schriftformelverfahren war sie von Anfang an eigen. (b) Vielleicht noch fremdartiger als die Verfahrensteilung ist eine zweite Eigentümlichkeit des römischen Zivilprozesses: die Mitwirkung des Beklagten bei der Einleitung des Verfahrens vor dem Magistrat. Im älteren Spruchformelverfahren ist die Mitwirkung des Beklagten sinnfällig. Das Spruchformelverfahren kannte fünf Klagarten, drei dienten der Einleitung
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von Erkenntnisverfahren, zwei von Vollstreckungsverfahren. Die Klagen waren von Gesetzen geschaffen worden und hießen darum legis actiones. Sinnfällig war die Mitwirkung des Beklagten, weil die Streitbegründung den Austausch von Spruchformeln erforderte. Die vermutlich älteste legis actio war die legis actio sacramento; sie hatte den weitesten Anwendungsbereich und konnte in personam und in rem angestrengt werden. Über die actio in rem sind wir durch Gaius gut unterrichtet, deren Spruchformeln uns darum die gehörige Anschauung geben sollen5. Der Kläger fast den Streitgegenstand an, etwa einen Sklaven, berührt ihn mit einem Stab6, der festuca oder vindicta und spricht: „Hunc ego hominem ex iure Quiritium meum esse aio. Secundum suam causam, sicut dixi, vindictam inposui“ – „Ich sage und behaupte, daß dieser Sklave nach quiritischem Recht der meine ist. Gemäß diesem Status, wie ich gesagt habe, habe ich ihm die vindicta angelegt“. Daraufhin tut der Beklagte dasselbe und spricht dieselbe Formel: „Hunc ego hominem ex iure Quiritium meum esse aio. Secundum suam causam, sicut dixi, vindictam inposui“. Jetzt greift der Prätor ein und gebietet: „Mittite ambo hominem“ – „Laßt beide den Sklaven los“. Danach fragt der Kläger den Beklagten: „Postulo anne dicas qua ex causa vindicaveris“ – „Ich fordere dich auf zu sagen, aus welchem Grund du vindiziert hast“. Darauf der Beklagte: „Ius feci sicut vindictam inposui“ – „Ich habe Recht ausgeübt, als ich die vindicta angelegt habe“. Darauf wieder der Kläger: „Quando tu iniuria vindicavisti quingentis assibus sacranento te provoco“ – „Weil du zu Unrecht vindiziert hast, fordere ich dich mit einem Geldeinsatz von fünfhundert As heraus“. Was der Beklagte mit den Worten erwiedert: „Et ego te“ – „Und ich dich“. Damit war die lis kontestiert, hatte die litis contestatio stattgefunden. Es folgte die Einsetzung des Urteilsrichters, den ursprünglich der Magistrat auswählte, der allerdings später den Vorschlag oder die Vorschläge der Streitparteien berücksichtigte, jedenfalls aber ihre Ablehnung beachtete7. 3. Die Mitwirkung des Beklagten bei der Streitbegründung im jüngeren Formularprozeß war nicht so sinnfällig. Denn das Formularverfahren hatte den altertümlichen Formalismus des Spruchformelverfahrens nicht übernommen. Im Formularverfahren war die Streitbegründung das Ergebnis einer formlosen Verhandlung vor und mit dem Prätor, in der der Kläger sein Begehren vortrug und eine bestimmte Klage beantragte, der Beklagte erwiderte und bestritt und schließlich der Magistrat den iudex einsetzte und ermächtigte und ihm auftrug nach der von ihm schriftlich erteilten Klagformel zu verfahren und zu urteilen.
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Zum Folgenden Gaius IV 16. Die Berührung mit dem Stab symbolisierte die Behauptung des Eigentums, vgl. Gaius IV 16 a. E. 7 Max Kaser, Das Römische Zivilprozeßrecht (1966) 34–37, 82/3, 138–142. 6
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III. Die Normkenntnis Die erste ebenso triviale wie notwendige Voraussetzung der Normdurchsetzung ist Normkenntnis. Es versteht sich, daß eine Norm überhaupt nur dann eine Durchsetzungschance hatte, wenn sie dem Normadressaten bekannt war. Das Gesetzt, das befolgt werden soll, muß darum zur Kenntnis des betroffenen Bürgers oder auch Magistrats gebracht werden. Das erfordert tatsächliche Vorkehrungen. 1. In der Republik trat das Gesetz mit der Verkündung des Abstimmungsergebnisses in Kraft8. Ein öffentlicher Anschlag oder eine öffentliche Ausstellung zur Kenntnisnahme war nicht Bedingung seiner Geltung. Sie erfolgte indessen häufig aus Gründer der Zweckmäßigkeit, und zwar auf Anlaß der Magistrate oder auch des Senats, Bisweilen sah auch das Gesetz selbst, wie etwa die Stadtrechte, seine öffentliche Aufstellung vor9. (a) Ursprünglich wurden zur Publikation Holztafeln verwendet10. An Stelle der Holztafeln traten später bei allen dauernd aufgestellten öffentlichen Urkunden Bronzetafeln11. Das Zwölftafelgesetz von 450 v. Chr. ist nach den auf dem Forum aufgestellten 12 Tafeln benannt, durch die es veröffentlicht wurde; es ist ungewiß, ob sie aus Holz oder aus Bronze waren. Die Veröffentlichung der Edikte der Magistrate erfolgte, da sie nur für dessen Amtsdauer vorgesehen war, auf geweißten und schwarz beschriebenen Holztafeln. Strafvorschriften schützten die Tafeln gegen Beschädigung12. In Rom wurden die Edikte der Prätoren und Ädile auf dem Forum angeschlagen, und zwar so, daß sie bequem, wie die angeschlagenen Gesetze, gelesen werden konnten13. (b) Die kaiserliche Gesetzgebung des Prinzipats trat in vier Formen auf, deren gemeinsamer Name constitutiones war. Die Hauptform war auch hier das edic8 Paul Krüger, Geschichte der Quellen und Litteratur des Römischen Rechts (2. Aufl. 1912) 19/20; Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht (4. Aufl. 1952) 418/9. 9 Vgl. etwa Lex Irnitana Rubrik 95. 10 Cato, Konsul 195 v. Chr., spricht (bei Festus p. 241 M) von einem in atrio Libertatis angehefteten Gesetz, das mit vielen anderen bei einer Feuersbrunst zerstört wurde. – Horatius. Ars poetica 396 f.: sapientia . . . leges incidere ligno (die Weisheit . . . schnitt Gesetze in Holztafeln). – Dazu Pseudo-Acron: Primum leges ligno incidere, cum propter inopiam aenearum tabularum apud antiquos usus non erat. – Ähnlich Porphyrio. 11 Die ältesten in Bronze geschlagenen Gesetze: die Lex Pinaria Furia de mense intercalari, ein Kalendergesetz von 472 v. Chr. (Varro bei Macrob. sat. 1. 13. 21); die Lex Icilia de Aventino publicando von 456 v. Chr., die Land auf dem Aventin den ärmsten Bürgern zuwies (Dionys. 10. 32). 12 D 2. 1. 7. 9. 13 Lex Acilia repetundarum pecuniarum von 122 v. Chr. (eines der zahlreichen Gesetze, welche die Untertanen Roms, insbesondere die Provinzialbevölkerung vor den Erpressungen der römischen Magistrate schützen sollten: Wolfgang Kunkel, Römische Rechtsgeschichte (1967) 42; Näheres bei Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht (1899) 705 ff.) bestimmt Z. 65 f., daß der Prätor die Verteilung der vom Angeklagten zurückgegebenen Gelder ankündigt apud forum palam ubi de plano recte legi possitur.
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tum. Dessen Publikation erfolgte in derselben Weise wie die der übrigen Edikte schriftlich durch Aushang in albo, allerdings nur auf kürzere Zeit14. Außerdem wurden die kaiserlichen Edikte, wie in der nächsten Periode, abschriftlich allen Beamten mitgeteilt, welche sie anzuwenden hatten, mit der Anweisung, sie in ihrem Sprengel bekannt zu geben. (c) Die kaiserliche Gesetzgebung des Dominats waren in ihrer Hauptmasse Reskripte und hatten als Adressaten die höchsten Reichsbeamten, denen die weitere Bekanntmachung aufgegeben wurde. Die Publikation erfolgte wie vordem durch Aushang, und zwar bei den für das ganze Reich bestimmten Erlassen sowohl in den Hauptstädten als in den größeren Provinzialstädten. Regelmäßig wurden die Adressaten angewiesen, den Aushang zu veranlassen und den Unterbehörden die weitere Veröffentlichung aufzugeben. Gelegentlich werden ad perpetuam rei memoriam Bronzetafeln vorgeschrieben, ausnahmweise auch die Dauer des Aushangs verordnet. IV. Die Ladung des Beklagten 1. Wir kehren zum Zivilprozeß zurück. Die Mitwirkung des Beklagten bei der Strreitbegründung setzte dessen Anwesenheit voraus. Wie wurde sie erreicht? Man möchte sich vorstellen, daß der Beklagte auf Antrag des Klägers vom Prätor geladen wurde und der Magistrat, folgte der Beklagte nicht der Ladung, dessen Erscheinen mit den Machtmitteln des Staates erzwang. Tatsächlich war es anders. Es war eine Eigenart des republikanischen Staates, daß er über einen zivilen Machtapparat praktisch nicht verfügte. Die zivile Verwaltung war eine Honoratiorenverwaltung, das Behördensystem völlig unterentwickelt. Eine Gerichtsbehörde gab es nicht; der Prätor hate keine eigene Zwangsgewalt. 2. Das römische Prozeßrecht überließ vielmehr dem Kläger, den Beklagten vor Gericht zu bringen: es regulierte das Ladungsverfahren, lieh dem Kläger aber keine Macht. Schon die Zwölftafeln befahlen dem Beklagten auf Geheiß des Klägers unverzüglich vor dem Gerichtsmagistrat zu erscheinen. Sie bestimmten15: „Si in ius vocat, ito“ – „Wenn er vor Gericht lädt, soll er gehen“. Nicht der Staat setzte diesen Gesetzesbefehl durch. Vielmehr erlaubten die Zwölftafeln dem Kläger, den widerstrebenden Beklagten vor Gericht zu führen: sie erlaubten ihm, Gewalt einzusetzen, ließen ihn aber ohne obrigkeitlichen Beistand16. Die in ius vocatio war also ein Akt erlaubter Eigenmacht. Der erlaubten Gewalt durfte der
14 Claudius läßt das Edikt, mit dem er allen Juden dieselben Rechte einräumt, die er den Juden in Alexandria bestätigt hat, im ganzen Reich 30 Tage lang aushängen: Josephus ant. 19. 5. 3. 15 Tab. I 1. 16 Tab. I 1–3.
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geladene Beklagte sich nicht widersetzen. Er konnte es aber gefahrlos tun, wenn er dem ladenden Kläger an Macht überlegen war. 3. Konnte dieses System wirksam funktionieren? Begünstigte es nicht einseitig den sozial Mächtigeren? Wurde unter diesen Voraussetzungen von der Gerichtsbarkeit überhaupt Gebrauch gemacht? Über die Prozeßhäufigkeit in der älteren Zeit ist nichts bekannt. Bis 122 v. Chr. konnten nur Senatoren Urteilsrichter werden; nach 216 v. Chr. nur Konsuln und Prätoren, nach 100 v. Chr. auch Ädile. Die Gracchen erweiterten die Richterliste um die Equites, bis Sulla sie wieder auf die Senatoren beschränkte. Erst Caesar hat 46 v. Chr. 900 Namen zusammengestellt, aus denen jeweils zu Beginn eines Jahres getrennte Listen für die Zivilund Strafgerichtsbarkeit erstellt wurden. In der frühen Kaiserzeit war die stadtrömische Rechtspflege überfordert mit der Folge, daß seit Augustus die Richterlisten wiederholt erweiterte, die Gerichtsferien abgeschafft wurden und das Lebensalter für Listenrichter herabgesetzt wurde. 4. Kehren wir zu unseren Fragen zurück, so müssen wir schließen, daß das Ladungssystem regulierter Eigenmacht nur funktionieren konnte, wenn der geladene Beklagte freiwillig folgte oder dem ladenden Kläger an Macht überlegen war. Indessen wird der geladene Beklagte nur gefolgt sein, wenn ihm Nachteile drohten, gegen die seine Überlegenheit nichts ausrichtete: außerrechtliche Sanktionen wie ökonomische Nachteile, Ansehensverlust oder Verlust sozialer Kontakte. 5. Die in ius vocatio war auf übersichtliche stadtstaatliche Verhältnisse eingerichtet. Denn sie verlangte sofortige Folge, schloß eine Ladung auf einen zukünftigen Zeitpunkt aus und war praktisch nur anzuwenden, wenn die Gerichtsstätte nicht fern und der Magistrat zur Verfügung war. Als sich die räumlichen Verhältnisse änderten und das Staatsgebiet größer und größer wurde, richtete die Rechtsordnung das sogenannte Ladungsvadimonium ein17: ein privates Versprechen dessen, der verklagt werden sollte, sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit einzufinden, ein Versprechen, das von einer Strafstipulation begleitet wurde. Dieses Vadimonium sicherte die Verwendung der in ius vocatio unter allen Veränderungen bis an das Ende der Kaiserzeit. 6. Das Ladungssystem der Zwölftafeln war auch unter dem Prinzipat durchaus noch in Geltung, aber nicht mehr praktisch. Zwar war die Ladung nach wie vor ein privater Akt. Der ladende Kläger brauchte allerdings den widerspenstigen geladenen Beklagten nicht mehr mit Gewalt vor den Prätor zu bringen. Wer sich der Ladung entzog – qui fraudationis causa latitabat – oder vor Gericht geladen war, der Ladung aber nicht folgte – qui absens iudicio defensus non fuerit – mußte gewärtigen, daß sein Vermögen vom Prätor beschlagnahmt und dem Kläger zu 17 Joseph Georg Wolf, Das sogenannte Ladungsvadimonium, in Satura Roberto Feenstra (1985) 59–69.
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Liquidation und Befriedigung aller Gläubiger des Verfolgten überwiesen wurde. Um das zu erreichen, mußte der Kläger die missio in bona rei servandae causa beantragen. Das Vermögen des Beklagten wurde ihm dann überwiesen und er ermächtigt, die tatsächliche Gewalt über die beschlagnahmten Gegenstände zu ergreifen. Bis zur Liquidation mußte er 15 oder 30 Tage zuwarten. Wenn sich der verfolgte Kläger in dieser Zeit stellte, wurde die missio aufgehoben und der Prozeß begründet. Stellte er sich nicht, wurde er mit Ablauf der Frist infam. Die Infamie bedeutete, daß er weder Zeugnis geben noch sich etwas bezeugen lassen konnte; sie schloß ihn vom Geschäftsleben aus und nahm ihm das Recht, ein Testament zu errichten. Diese Maßnahmen werden ihn vermutlich angehalten haben, der Ladung zu folgen. V. Die Anwendung des geltenden Rechts Wir kommen zu einem anderen Aspekt der Normdurchsetzung. Nehmen wir an, unter dem Regime des jüngeren Formularverfahrens ist ein Prozeß zustande gekommen. Der Kläger ist ein Käufer, der den Verkäufer wegen Schlechtlieferung verklagt hat. Der Prätor hat nach der Verhandlung in iure den iudex ernannt und mit der schriftlich erteilten Klagformel instruiert. Schließlich verurteilt der iudex den Beklagten. 1. Welche Gewähr bestand, daß in diesem Prozeß das geltende Recht angewandt wurde? Wir kennen das römische Privatrecht im wesentlichen aus der gelehrten juristischen Literatur der ersten beiden Jahrhunderte und den ersten Jahrzehnten des dritten Jahrhunderts n. Chr. Die Literatur ist keine Entscheidungsliteratur: wir wissen von kaum einem Prozeß, wie er ausgegangen ist. Ausnahmen sind die kaiserlichen Reskripte18, besonders seit Diokletian, aus der Periode des Dominats. 2. Die Anwendung und Umsetzung der Rechtsnormen in die Rechtswirklichkeit hängt wesentlich von den Beteiligten Justizfunktionären ab, also dem Prätor und dem iudex. Hier scheint auf den ersten Blick die römische Zivilgerichtsbarkeit ihren schwächsten Punkt gehabt zu haben. Prätor und iudex hatten in aller Regel keine juristische Ausbildung, sie waren keine Rechtsexperten, das Zivilrecht war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Juristen waren sie allenfalls zufällig. Die Prätur war ein politisches Amt in einer langen Karriere, es war einjährig. Und der iudex war in der Republik ein Senator, seit 46 v. Chr. stets ein Privatmann, weder der Senator noch der Privatmann hatte in aller Regel eine juristische Ausbildung. Gewöhnlich wurde, was die Rechtsordnung vorsah, der iudex von den Parteien einverständlich vorgeschlagen, was die Akzeptanz des Urteils begünstigte. 18 Zum Reskriptenprozeß siehe Max Kaser, Das römische Zivilprozeßrecht (1966) 520 ff.
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Prätor und iudex waren folglich auf Beratung durch amtlose Rechtsexperten angewiesen.19 Diese Beratung sicherte die Kontinuität im Wechsel der Justizfunktionäre und war Gewähr für eine kunstgerechte und emotionsfreie Normdurchsetzung. Darum können wir auch sicher sein, daß uns die gelehrte Literatur ein zutreffendes Bild von der Rechtswirklichkeit gibt. 3. Diese Folgerung ist soeben von einem umfangreichen Urkundenfund in Pompeji bestätigt worden, ein Fund, dessen Urkunden (aus vielen Rechtsbereichen) in den Jahren 37 bis 61 n. Chr. errichtet worden sind20. Zur großen Überraschung nicht der Rechtshistoriker, aber der Universal- und besonders der Sozialhistoriker zeigen sie eine Rechtswirklichkeit, die vollkommen der Normenordnung entspricht, wie sie die gelehrte juristische Literatur darstellt.
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Max Kaser, Das römische Zivilprozeßrecht (1966) 44, 131, 142, 366. Neue Rechtsurkunden aus Pompeji, Tabulae Pompeianae Novae, Lateinisch und deutsch, Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Joseph Georg Wolf (2010). 20
Funktion und Struktur der Mancipatio* Die altzivilen Rechtsgeschäfte1, von denen wir Kenntnis haben, sind ausnahmslos Formalakte. Nicht „Sitte und Volksglaube“ haben sie hervorgebracht, sondern „die Willkühr“ zwar nicht eines Gesetzgebers, aber einer Expertenzunft von großer Autorität2 Denn die altzivilen Rechtsgeschäfte sind Expertenwerk: rationale Zweckschöpfungen einer versierten Ritual- und Formelkunde3. Drei Generationen lassen sich unterscheiden, die auch im Typus verschieden sind. Nach ihrem Verhältnis zueinander kann man sie beschreiben als ,zusammengesetzte Geschäfte‘, ,nachgeformte Geschäfte‘ und ,Grundgeschäfte‘. Die ,zusammengesetzten Geschäfte‘, zu denen emancipatio4 und adoptio5 gehören, sind die jüngsten; sie sind nach den XII Tafeln, im späteren 5. oder frühen 4. Jh. geschaffen worden. Sie sind bloße Kombinationen aus ,nachgeformten Rechtsgeschäften‘ und wirken schwerfällig, pedantisch und kunstlos.
* Außer den üblichen werden folgende Abkürzungen verwendet: Kaser, RP = M. Kaser, Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht (München 2. Aufl. 1971); Kunkel, RP = W. Kunkel, Römisches Privatrecht (Berlin 1935, Nachdr. 1949); Latte, RR = K. Latte, Römische Religionsgeschichte (München 1960); Wieacker, RG = F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt. Einleitung, Quellenkunde, Frühzeit und Republik (München 1988); Wissowa, RKR = G. Wissowa, Religion u. Kultus der Römer (München 2. Aufl. 1912); Leg. act. = J. G. Wolf, Zur legis actio sacramento in rem, in: O. Behrends/M. Diesselhorst/W. E. Voss. (Hrsg.), Römisches Recht in der europäischen Tradition (Ebelsbach 1985); Manum. vind. = J. G. Wolf, Die manumissio vindicta und der Freiheitsprozeß, in: O. Behrends/M. Diesselhorst (Hrsg.), Libertas (Ebelsbach 1991) 63 ff. 1 Kaser, RP 39 ff. 2 Nach einer späten und vereinzelten Überlieferung (Pomponius D 1.2.2.6) waren in Roms Frühzeit die Träger der zivilen Rechtskunde die Pontifices. Als unmittelbare Zeugnisse ihrer juristischen Arbeit gelten die altzivilen Rechtsgeschäfte, vgl., statt vieler, nur Wieacker, RG 310 ff., insb. 326 ff. Zur Amtsautorität der Pontifices J. G. Wolf in: K. Luig/D. Liebs (Hrsg.), Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition (Ebelsbach 1980) 1 ff. Im allgemeinen werden Ansehen und Einfluß der Pontifices „in beiden Bereichen“, in ihrer Zuständigkeit für das Sakralwesen wie für das ius civile, vor allem ihrer sozialen Stellung und ihrem Sonderwissen zugeschrieben: Wieacker, RG 312 ff. 3 Zu dieser Leistung der Pontifikaljurisprudenz und ihren allgemeinen Voraussetzungen Wieacker, RG 332 ff., 339 f. und 318 ff. 4 Gai 1.132. 5 Gai 1.134; Gell. 5.19.3.
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Sie sind vor den XII Tafeln geschaffen worden: die manumissio vindicta und die in iure cessio6 nach dem Muster der legis actio sacramento in rem7, die mancipatio nummo uno nach dem der Barkaufmanzipation. Die Wirkungsweise der ,zusammengesetzten Geschäfte‘ ist leicht zu durchschauen. Das Verständnis der ,nachgeformten Geschäfte‘ hängt dagegen von dem der ,Grundgeschäfte‘ ab. Die Erklärung von Sakramentsklage und Barkaufmanzipation ist indessen umstritten. Viele deuten die übereinstimmenden Elemente beider Formalakte, Eigentumsbehauptung und Handanlegung, als ritualisierte Eigenmacht. Für sie ist evident, daß die mancipatio ein Zugriffs- und Bemächtigungsakt ist8 und daß der Sakramentsprozeß durch Zugriffsakte der Prozeßgegner eingeleitet wird9. Aber diese Deutung ist verfehlt; es ist nicht richtig, daß Eigentumsbehauptung und Handanlegung Zugriff und Bemächtigung darstellen. Die Eigentumsbehauptung ist, was sie ist: ,Eigentumsbehauptung‘ und nichts als das; die Handanlegung, die sie begleitet: die augenfällige Darstellung des behaupteten Rechts. In der Folge dieser Interpretation habe ich eine neue Erklärung des Rituals der legis actio sacramento in rem vorgeschlagen10. Sie fordert aber auch eine neue Erklärung der mancipatio. Diese soll hier ausgeführt werden. I. Ausgangspunkte 1. Das Ritual Aus den Nachrichten über die mancipatio nummo uno11, die der alten Barkaufmanzipation nachgebildet ist, erschließen wir ohne weiteres deren Ritual12. Acht Personen sind beteiligt: der Veräußerer, der Erwerber, fünf Zeugen13 und ein libripens, der, wie sein Name sagt, eine Waage hält14. Vor den Zeugen, dem libri-
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Gai 2.24. Näheres Manum. vind. 61 ff., 63 ff., 82 ff. 8 Vgl. etwa Kunkel, RE 14 (1928) 1007 und RP 92; Leifer, SZ 56 (1936) 154 ff.; v. Lübtow, Fs. Koschaker (Weimar 1939) II 113 f.; Sargenti, St. Betti (Milano 1962) IV 52 f.; Kaser, RP 43; Magdelain, RIDA 28 (1981) 139 ff.; Wieacker, RG 333 f. 9 Nachweise Leg. act. 2 f. 10 Leg. act. 1 ff., manum. vind. 75 ff. Weithin zustimmend Kaser, SZ 104 (1986) 53 ff.; Willvonseder, ebd. 819 f. In wesentlichen Punkten übereinstimmend oder ähnlich Selb, Gedächtnisschrift Kunkel (Frankfurt a. M. 1984) insb. 406 ff. und Kunkel/Selb, Röm. Recht (Berlin 4. Aufl. 1987) 515. Ablehnend Zlinsky, SZ 106 (1989) 106 ff.; Hackl, ebd. 152 ff.; offenbar auch Albanese, Il processo privato romano delle legis actiones (Palermo 1987) 67 f. 11 Gai 1.113, 119–122; Boeth. 3 in Cic. top. 5.28, ed. Orell. V I,322; Ulp 19.3; Varro 1.1. 5.163; Fest. 256 M. 12 Kaser, RP 43 f. 13 Die die Publizität des Aktes sicherten. 14 Und vermutlich für Gerät und Gewichte einstand. 7
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pens und dem Veräußerer faßt der Erwerber den Sklaven mit der Hand an und spricht die Formel: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO ISQUE MIHI EMPTUS ESTO HOC AERE AENEAQUE LIBRA. Danach wiegt er mit der Waage, die der libripens handhabt, eine vorgesehene Menge Bronze dem Veräußerer zu. Die Bronze entgegenzunehmen ist das einzige, was der Veräußerer zu tun hat; im übrigen steht er schweigend und untätig dabei. 2. Die Zuständigkeit Die Barkaufmanzipation diente der Übertragung von Rechtsherrschaft, die im frührömischen Recht noch nicht begrifflich nach Personen und Sachgütern aufgeteilt war15. Von Hause aus war das Ritual für zwei Gütergruppen zuständig: zum einen für die Veräußerung der gewaltunterworfenen Personen, die zum Hausverband gehörten16, nämlich der eigenen Hauskinder17, der Sklaven und der Personen in mancipio (das waren die durch Manzipation erworbenen fremden Hauskinder: eine Kategorie von Gewaltunterworfenen, die sich erst aus der Einführung der mancipatio ergab)18; zum andern war das Ritual zuständig für die Veräußerung von Rindern, Pferden, Eseln und Mauleseln, also der Zug-, Spannund Lasttiere19. Die Zuständigkeit der mancipatio für Grund und Boden scheint dagegen erst nachträglich begründet worden zu sein; denn mit seinem Handgestus war das Ritual ersichtlich für bewegliche Sachen geschaffen worden20. Das angestammte Anwendungsfeld der Barkaufmanzipation war demnach völlig homogen: es war die familia, und es waren die Arbeitstiere der bäuerlichen Wirtschaft21. Die Bezeichnung familiares mancipi für die der Manzipation unterworfenen Personen und Sachgüter kommt aus einer jüngeren Periode; denn sie kann erst aufgekommen sein, als Hauskinder nicht mehr veräußert und Sklaven den Sachgütern zugerechnet wurden22.
15 Jhering, Geist des röm. Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung (Nachdruck Darmstadt 1953/54) I 162 f.; nach Kunkel, RE 14 (1928) 1004, 46 ein ,vorgeschichtliches‘ Rudiment. 16 Gai 1.120. In potestate manu mancipiove war später die Formel für diesen Personenkreis, deren frühester Beleg die Lex Cincia von 204 v. Chr. ist: Vat. 298, 300. 17 Gai 1.117. 18 Gai 1.116 f., 132 i. f., 138, 140; 2.160. Steinwenter, RE 14 (1928) 1010 ff. 19 Gai 1.120; 2.16; Ulp 19.1. 20 Vgl. Kunkel, RE 14 (1928) 1009, 35 mit ält. Lit. Anders offenbar, Kaser, RP 44 A. 20. 21 Noch bei Colum. 6 praef. 6 bilden sie darum eine Klasse für sich: cum sint duo genera quadripedum, guorum alterum paramus i n c o n s o r t i u m o p e r a r u m sicut bovem, mulam, equum, asinum, . . . de eo genere primum dicemus, cuius usus nostri laboris est particeps. 22 Diese Entwicklung war, wie die Lex Aquilia zeigt, zu Beginn des 3. Jhs. abgeschlossen.
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3. Das Alter Die Barkaufmanzipation war in Geltung und Übung, bis der Wägeakt mit dem Beginn der Münzprägung in Rom obsolet wurde23. Das war zu Beginn oder gegen Mitte des 3. Jhs.24. Wann die Barkaufmanzipation geschaffen worden ist, wissen wir dagegen nicht25. Die ihr schon nachgeformte mancipatio nummo uno setzen coemptio26, noxae deditio27 und testamentum per aes et libram28 voraus, die alle den XII Tafeln bekannt sind. Da demnach die mancipatio nummo uno spätestens in der 1. Hälfte des 5. Jhs. eingerichtet wurde, kann als terminus ante quem der Barkaufmanzipation die Wende zum 5. Jh. angesetzt werden. Für eine genauere Altersbestim23 Die Erfindung der mancipatio nummo uno hat mit diesem Datum nichts zu tun; sie ist weit älter als ihre Bezeichnung (s. sofort nach A. 25), die allerdings die Einführung gemünzten Geldes voraussetzt. Die älteste Bedeutung von nummus ist nicht überliefert. Sein Gebrauch bei Plautus und Spezifizierungen wie n. denarius und n. sestertius schließen aber aus, daß nummus einmal die technische Bezeichnung einer bestimmten Münze war. Im Ritual der mancipatio nummo uno hat der nummus das bronzene raudusculum verdrängt. Die Bezeichnung des Geschäfts setzt demnach eine Standardmünze in Bronze voraus. Wann diese Voraussetzung gegeben war, kann hier nicht verfolgt werden: vermutlich aber erst seit dem 2. punischen Krieg, mit dem eine enorme Produktion von Assen einsetzte: M. H. Crawford, Coinage and Money Under the Roman Republic (London 1985) 23, 59 f., 72 f. Vgl. auch Fest. 265 M.: asse tangitur libra; Varro 1.1. 9.83. Den Sesterz bezeichnet nummus erst in der Kaiserzeit. 24 Die Anfänge der röm. Münzprägung sind äußerst verwirrend. Sie beginnt nicht nur sehr s p ä t : nach isolierten Silber- und Bronzeausgaben im späten 4. Jh. entfaltet sie sich erst im Laufe des 3. Jhs., beschleunigt durch die Kriege gegen Pyrrhos und Karthago; sie ist auch denkbar k o m p l e x : neben Silber wird Bronze geschlagen, Bronze gleichzeitig aber auch in ,vollpfündigen‘ gegossenen Münzen und Barren ausgebracht. Sie steht in vielfachen Bezügen zu den Münzsystemen Süditaliens und beginnt auch nicht in Rom selbst, sondern in der Magna Graecia mit Ausgaben, die Rom gar nicht erreichen. Erst gegen die Mitte des 3. Jhs. ist in Rom mit einer eingespielten Produktion zu rechnen. Zu all dem eindrucksvoll Crawford (o. A. 23) 17 ff., bes. 25 ff. (,The Appearance of Roman Coinage‘) und Roman Republican Coinage (Cambridge 1974, 1983) 1 35 ff. mit 41 A. 5 und 44 f. (Table V), 131 ff. (Katalog). 25 Die Verwendung der Bronze als Tauschmittel und Wertmesser (daher aestimare; vielleicht Marpor (CIL I 1358; D. 7822; Degrassi 913) zu Marcus, Olipor (CIL I 1263; D 4405; Degrassi 159) zu Aulus oder Quintipor (Fest. 257 M.) zu Quintus. Als terminus ante quem dieser Namensbildung wird die Wende zum 5. Jh. angenommen (Wachter 235). Eine vermutlich spätere, aber seit der Ausbildung von Gentilicia im 6. Jh. mögliche Namensform ersetzt puer durch servus und stellt dieser Bezeichnung (Quinti servus) den Individualnamen des Sklaven (Apollonius) u n d , wie diesen im Nominativ (!), den Geschlechtsnamen des Herrn (Laelius) voran, so daß die vollständige Namensformel lautete: Apollonius Laelius Q. s. (vgl. CIL 12235). Sie entspricht der der uxor in manu, wie sie aus dem 3. oder 2. Jh. auf einer Bronzetafel aus Nemi erhalten ist: Poublilia Turpilia Cn. uxor (CIL I 42, XIV 4270; D. 3234; Degrassi 82). Die adjektivische Verwendung des Gentiliciums entspricht seiner Entstehung aus patronymischen Adjektiven und bezeichnet die Zugehörigkeit zum Hausverband – für den Sklaven nicht anders als für die uxor in manu. Für Sklavennamen ist sie eindeutig bis in das 2. Jh. v. Chr. belegt: Degrassi 1214, 1215, 1216, 1217 (CIL I 412b, 412a, 413, 416; D. 8566a, 8566b, 8566d, 8567); CIL I 1451 (Degrassi 107); CIL I 1758 (D. 7820); CIL I 2235, III 14203 (D. 9236; Degrassi 194). Zu all dem s. insb. E. Fraenkel, RE 16 (1935) 1657, 1665; R. Wachter, Altlateinische Inschriften (1987) 233 ff., 114 A. 380, 207 f., 383 f.; Rix, Das etruskische Cognomen (1963) 369 A. 162; aus der ält. Lit. Mommsen, Röm Staatsrecht III 1 (1888, Nachdr.1952) 201 A. 3, 207 A. 1, 428 A. 1; Oxé, Rhein. Mus. 59 (1904) 108 ff. 132 Diese Vermutung schon bei A. Watson, Rome of the XII Tables (1975) 82 f., für das Griechenland Homers bei Moses I. Finley, Die Welt des Odysseus (dtv München 1979) 59. 133 Daß der Sklave durch den privatautonomen Rechtsakt der Freilassung auch römischer Bürger wurde, hatte die erforderliche sozialpsychologische Voraussetzung offenbar in der sozialen Stellung und damit vor allem in der sprach- und stammverwandten Herkunft des Sklaven der Frühzeit.
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Diesen Rechtszustand erschließen wir aus dem Zwölftafelsatz, der die ,Freiheit des Sohnes vom Vater‘ nach dreimaligem Verkauf anordnete134, und dem Ritual der emancipatio135. Der Zwölftafelsatz setzt die freie, uneingeschränkte Veräußerlichkeit des Hauskindes und seine mögliche Rückkehr in die patria potestas nach jeder Veräußerung voraus; dem Ritual der emancipatio entnehmen wir, daß diese Rückkehr in die patria potestas an seine Freilassung geknüpft war136. Sie wird zugleich mit der manumissio vindicta, vielleicht zur Korrektur ihrer sozialen Folgen, eingeführt worden sein137. Die Veräußerlichkeit des Hauskindes, wiederholt korrigiert durch die Möglichkeit der Rückkehr in den Hausverband und die gegenläufige Privilegierung des Haussohns in den XII Tafeln138, ist vermutlich im Laufe des 4. Jhs. wieder abgekommen – nachdem allerdings zuvor die emancipatio in Geltung gekommen war und der pater familias das Hauskind ohne weiteres aus seiner Gewalt entlassen konnte, zu dessen Freistellung, zur Entlastung des Hausverbandes oder zum Nutzen aller. Sklaven und Arbeitstiere blieben dagegen veräußerlich, nachdem sie es einmal, mit der frühen Einführung der mancipatio, geworden waren.
134 XII T. 4.2: SI TER PATER FILIUM VENUM DUIT, FILIUS A PATRE LIBER ESTO. Zum viel umstrittenen Motiv dieser Vorschrift s. etwa Pugliese, Satura Feenstra (1985) 46 ff.; Wieacker, RG 331 f. 135 Gai 1.132. 136 Nach Wieacker, RG 332 A. 115 erfolgte die Rückkehr „ursprünglich wohl“ durch remancipatio, nach Kaser, RP 70 durch „Freilassung (oder Remanzipation)“. Eine Freilassung konnte aber nur eine ,Freilassung‘ bewirken; die automatische Rückkehr in potestatem patris demnach nur auf einer gesetzlichen Anordnung beruhen, die an die Freilassung anknüpfte. Eine privatautonome Gestaltung durch remancipatio als Ursprung oder Alternative scheint mir damit unvereinbar. Im übrigen kennen die Quellen die Remanzipation eines Sohnes, einer Tochter oder eines anderen Hauskindes nur an d e n Vater, aus dessen Gewalt sie definitiv ausgeschieden waren. So etwa k o n n t e bei der emancipatio der Sohn nach der 3. Manzipation statt freigelassen, dem Vater remanzipiert werden, um dann von ihm (bei dem er jetzt in mancipio war) freigelassen zu werden: arg. Gai 1.134, 172, 175. Er m u ß t e dem Vater remanzipiert werden, wenn dieser ihn ea lege mancipio dedit, ut sibi remanciparetur (1.172, 140). Remanzipiert wurde auch bei der Freilassung aus der manus und den coemptiones fiduciae causa: Gai 1.115 f., 166, 172, 195a. 137 Daß die Rückkehr erst durch XII T. 4.2, nur für die Veräußerung des filius und nur für den Fall der Freilassung nach der ersten und zweiten mancipatio eingeführt worden ist, kommt kaum in Betracht; die ohnehin erstaunliche, durchaus ,systemfremde‘ Regelung müßte implizit, nämlich durch den Tatbestand (SI TER PATER FILIUM VENUM DUIT), angeordnet sein, und das ist so gut wie ausgeschlossen. 138 Die ,Wohltat‘ der automatischen Rückkehr in den alten Hausverband nach Freilassung aus dem mancipium scheint um die Mitte des 5. Jhs. zur Fessel und ,Plage‘ geworden zu sein, wenngleich XII T. 4.2 die Züge eines zögerlichen Kompromisses zeigt und seine Hauptbedeutung wohl als anregende Vorlage des Emanzipationsformulars hatte.
Mancipatio und legis actio sacramento in rem I. Einführung Die altzivilen Rechtsgeschäfte, von denen wir Kenntnis haben, sind ausnahmslos Formalakte. Nicht „Sitte und Volksglaube“ haben sie hervorgebracht, sondern „die Willkür“ zwar nicht eines Gesetzgebers, aber einer Expertenzunft von großer Autorität. Denn die altzivilen Rechtsgeschäfte sind Expertenwerk: rationale Zweckschöpfungen einer versierten Formalkunde. Drei Generationen lassen sich unterscheiden, die auch im Typus verschieden sind. Nach ihrem Verhältnis zueinander kann man sie beschreiben als zusammengesetzte Geschäfte, nachgeformte Geschäfte und Grundgeschäfte. Die zusammengesetzten Geschäfte, zu denen die emancipatio und adoptio gehören, sind die jüngsten; sie sind nach den XII Tafeln, im späteren 5. oder frühen 4. Jh. geschaffen worden. Sie sind bloße Kombinationen aus nachgeformten Rechtsgeschäften und wirken schwerfällig, pedantisch und kunstlos. Die nachgeformten Geschäfte der Vorgeneration sind dagegen kompakte Gebilde, vielseitig und produktiv. Sie sind vor den XII Tafeln geschaffen worden: die manumissio vindicta und die in iure cessio nach dem Muster der legis actio sacramento in rem, die mancipatio nummo uno nach dem der Barkaufmanzipation. Die Wirkungsweise der zusammengesetzten Geschäfte ist leicht zu durchschauen. Das Verständnis der nachgeformten Geschäfte hängt dagegen von dem der Grundgeschäfte ab. Eine konsistente Erklärung der alten mancipatio und der dinglichen Sakramentsklage ist aber noch nicht gefunden. Viele deuten die übereinstimmenden Elemente beider Formalakte als ritualisierte Eigenmacht. Für sie ist evident, daß die mancipatio ein Zugriffs- und Bemächtigungsakt ist und der Sakramentsprozeß durch Zugriffsakte der Prozeßgegner eingeleitet wird. Wenn ich recht sehe, ist es gerade dieses Verständnis, das einer schlüssigen Erklärung der mancipatio und der dinglichen Sakramentsklage im Wege steht. Durch eine Analyse ihrer Rituale möchte ich den Nachweis führen. Ich untersuche zunächst die mancipatio, in einem zweiten, kürzeren Teil die legis actio und möchte mit Bemerkungen über den Formalismus der beiden Rechtsakte schließen. II. Die mancipatio 1. Aus den Nachrichten über die mancipatio nummo uno, die der alten Barkaufmanzipation, wie ich sie sofort nenne, nachgebildet ist, erschließen wir ohne weiteres deren Ritual. Acht Personen sind beteiligt: der Veräußerer, der Erwerber,
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fünf Zeugen und ein libripens, der, wie sein Name sagt, eine Waage hält. Vor den Zeugen, dem libripens und dem Veräußerer faßt der Erwerber den Sklaven mit der Hand an und spricht die Formel: ,HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO ISQUE MIHI EMPTUS ESTO HOC AERE AENEAQUE LIBRA‘. Danach wiegt er mit der Waage, die der libripens handhabt, eine vorgesehene Menge Bronze dem Veräußerer zu. Die Bronze entgegenzunehmen ist das einzige, was der Veräußerer zu tun hat; im übrigen steht er schweigend und untätig dabei. 2. Die Barkaufmanzipation diente der Übertragung von Rechtsherrschaft, die im frührömischen Recht noch nicht begrifflich nach Personen und Sachgütern aufgeteilt war. Von Hause aus war das Ritual für zwei Gütergruppen zuständig: zum einen für die Veräußerung der gewaltunterworfenen Personen, die zum Hausverband gehörten, nämlich der eigenen Hauskinder, sodann der durch Manzipation erworbenen fremden Hauskinder, die man in mancipio hatte, und der Sklaven; und zum andern war das Ritual zuständig für die Veräußerung von Rindern, Pferden, Eseln und Mauleseln, also der Zug-, Spann- und Lasttiere. Die Zuständigkeit des Rituals für Grund und Boden scheint dagegen erst nachträglich begründet worden zu sein; denn mit seinem Handgestus war es ersichtlich für bewegliche Sachen geschaffen worden. Das angestammte Anwendungsfeld der Barkaufmanzipation war demnach völlig homogen: es war die familia, und es waren die Arbeitstiere der bäuerlichen Wirtschaft. Die Bezeichnung res mancipi kommt aus einer jüngeren Periode; denn sie kann erst aufgekommen sein, als Hauskinder nicht mehr veräußert und Sklaven den Sachgütern zugerechnet wurden. Die Barkaufmanzipation war in Geltung und Übung, bis der Wägeakt mit dem Beginn der Münzprägung obsolet wurde. Das war zu Beginn des 3. Jhs. Wann die Barkaufmanzipation geschaffen worden ist, wissen wir dagegen nicht. Da die ihr nachgeformte mancipatio nummo uno den XII Tafeln bekannt ist, mithin spätestens in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts eingerichtet wurde, kann als terminus ante quem der Barkaufmanzipation die Wende zum 5. Jahrhundert angesetzt werden. Für einen terminus post quem kann allenfalls die Analyse des Rituals Anhaltspunkte liefern. Ihr wenden wir uns jetzt zu. 3. Die Barkaufmanzipation war ihrer Funktion nach Austausch einer Person oder Sache gegen Geld, war Kauf, und da Leistung und Gegenleistung in einem Akt erfolgten, Barkauf. Nach der Funktion des Geschäfts können wir die Kontrahenten Käufer und Verkäufer nennen. Am Kauf sind Käufer und Verkäufer gleichermaßen beteiligt: der Verkäufer verschafft dem Käufer die Kaufsache zu eigen, der Käufer dem Verkäufer das Geld. So bewirkt denn auch die Barkaufmanzipation, daß der Käufer vom Verkäufer den Sklaven oder das Rind und der Verkäufer vom Käufer die ihm zugewogene Bronze zu eigen erwirbt. 4. Die Barkaufmanzipation hat die Wirkungen eines Kaufs, die Gestalt eines Kaufs hat sie nicht: ihr Ritual entspricht nicht ihrer Funktion. Schon auf den
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ersten Blick sieht man, daß das Ritual durchaus einseitig konstruiert ist: die Rollen der beiden Protagonisten sind ganz ungleich; der Hauptpart ist dem Käufer zugewiesen, die Mitwirkung des Verkäufers zunächst auf Anwesenheit beschränkt. Nur die Zahlung, die Übereignung der Bronze, entspricht dem Austauschmodell: an ihr sind die Kontrahenten mit Geben und Nehmen funktionsgerecht beteiligt. Wir gehen ins Einzelne. Die Spruchformel besteht aus zwei Teilen, der Behauptung des Käufers ,HUNC HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO‘ und seiner Anordnung ,ISQUE MIHI EMPTUS ESTO HOC AERE AENEAQUE LIBRA‘. Wir untersuchen zunächst den ersten Teil. Während der Käufer die Eigentumsbehauptung spricht, faßt er den Sklaven an, von dem er behauptet, daß er der seine sei. Der Verkäufer sieht den gestus, hört die Behauptung und äußert sich nicht. 5. Die Manzipation bewirkt den Übergang der Rechtsherrschaft über den Sklaven vom Verkäufer auf den Käufer. Diese Wirkung hat ihre Grundlage offenbar in diesem ersten Teil des Rituals. Das Ritualgeschehen bringt aber den Übergang, der Rechtsherrschaft, den es bewirkt, nicht zum Ausdruck. Hier findet kein Geben und Nehmen statt, wie wenig später bei der Übereignung der Bronze. Nichts deutet auf Veräußerung oder Erwerb. Diese Sicht ist allerdings nicht die übliche. Die meisten Deutungen der mancipatio sehen natürlich, daß das Ritual den Rechtsübergang nicht zum Ausdruck bringt. Seit Jhering folgern darum viele, daß die Vorstellung des Übergangs und der Übertragung eines Rechts von einer Person auf eine andere der Frühzeit überhaupt fremd ist. Am Ritual der mancipatio sei vielmehr abzulesen, daß der Erwerber das Recht in seiner Person neu begründen muß. Er tut es, wie die meisten glauben, durch einen Akt ritualisierter Eigenmacht: mit förmlichem Zugriff bemächtige sich der Erwerber des Gegenstandes. Diese Jheringsche Vorstellung beherrscht heute mehr denn je das Feld. Die übliche Interpretation sieht darum in der mancipatio einen einseitigen Zugriffsakt des Erwerbers unter schweigender Duldung des Veräußerers; der Erwerber ergreift die Person als die Seine und begründet damit für sich neue Rechtsherrschaft über sie – während der Veräußerer, durch die schweigende Duldung des Zugriffs, sein Recht verliert. 6. Meine Gegenthese lautet: die mancipatio ist kein Zugriffsakt; das Ritual symbolisiert nicht Rechtserwerb, sein Thema ist vielmehr Rechtsbehauptung; mit dem was er spricht und tut, begründet der Erwerber keine Rechtsherrschaft, sondern bekundet, daß er sie hat. Das Kriterium der Zugriffstheorie ist der Handgestus. Seine Untersuchung steht jetzt an. Die Hand kann durchaus Symbol eigenmächtigen Rechtserwerbs sein. Bei der Personalvollstreckung, im Ritual der legis actio per manus iniectionem, bedeutet die Handanlegung denn auch Zugriff und Bemächtigung.
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Nicht so jedoch im Ritual der mancipatio. Das Formelstück ,HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUITITIUM MEUM ESSE AIO‘ ist ein Bauelement der ältesten Formeltechnik. Die Baumeister der altzivilen Rechtsgeschäfte haben es auch für die Spruchformeln der legis actio sacramento in rem verwendet, und ein drittes Mal in der dem Sakramentsprozeß nachgebildeten in iure cessio.. Stets ist die Eigentumsbehauptung von der Handanlegung begleitet. Gaius beschreibt sie mit rem adprehendere, und wenn die Hand angelegt ist, mit rem tenere. Gellius verwendet manu prendere und correptio manus. Diese Ausdrücke bezeichnen nur den äußeren Vorgang, das Ergreifen und Halten; über den Zweck der Handlung sagen sie nichts. Die XII Tafeln sprachen bei der Sakramentsklage von manum conserere. Zum manum conserere forderten sich auch die Parteien der Grundstücksvindikation förmlich auf. Manum conserere war offenbar der alte technische Ausdruck für den Handgestus. Während rem adprehendere, manu prendere und correptio manus immerhin nicht ausschließen, daß der Erwerber oder Vindikant den Kauf- oder Streitgegenstand ,ergreift‘, um ihn in Besitz zu nehmen, läßt manum conserere diese Absicht gar nicht zu. Manum conserere bedeutet ,anfassen‘, ,die Hand anlegen‘ – und nur das. Wir halten danach fest: Die Deutung des Handgestus als Zugriffs- oder Bemächtigungsakt kann sich nicht auf seine Beschreibung bei den Schriftstellern berufen; mit seiner alten technischen Bezeichnung manum conserere ist sie unvereinbar. Jhering hat für die Sakramentsklage erwogen, daß der Handgestus die „symbolische Darstellung des in Anspruch genommenen Rechts“, daß er die „plastische Behauptung des Eigentums“ sei. Er hat diese Deutung jedoch ohne weiteres beiseite geschoben. Denn sie paßte natürlich nicht zu seiner Idee von der Entstehung privater Rechtsherrschaft aus der erfolgreichen Eigenmacht des Stärkeren. Jhering suchte nach Spuren dieses „ursprünglichen Rechtszustandes“; darum war für ihn evident, daß der Handgestus in den Ritualen der Manzipation und Sakramentsklage nicht Bekundung, sondern Begründung bedeutete. Die methodische Erklärung führt dagegen zum umgekehrten Ergebnis. Die Handanlegung ist von der Spruchformel, die sie begleitet, nicht zu trennen: Spruchformel und Handanlegung bilden eine Einheit. Die Handanlegung kann nur bedeuten, was die Spruchformel besagt. ,HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO‘ ist eine Eigentumsbehauptung. Durch AIO expliziert der Käufer, daß er eine Behauptung aufstellt. Er behauptet, daß der Sklave ihm gehört. Mit der Spruchformel sagt er also, was er sagt; sie ist Eigentumsbehauptung und nichts als das, ohne jeden Nebensinn. Die Hand, die dem Wort sekundiert, hat dieselbe Bedeutung. Mit der Hand bringt der Käufer die gesprochene Behauptung zur sinnlichen Anschauung. Indem er den Sklaven anfaßt, bekundet er mit der Hand, was er zugleich aus-
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spricht: daß dieser Sklave in seiner Hand, in seiner manus, in seiner Herrschaft ist. Diesem Verständnis des Rituals steht auch die Bezeichnung des Geschäfts als mancipatio nicht entgegen. Mancipatio ist eine jüngere Bildung; die ältere Bezeichnung ist mancipium, die älteste mancupium. Für Mommsen war mancupium eines der „uralten römischen Rechtswörter von durchsichtiger Klarheit“; wie das analog gebildete aucupium den Vogelfang, so bezeichnen mancupium den Handgriff. Die antike Etymologie sah es ebenso; Varro definiert: mancipium quod manu capitur, und Gaius erklärt: mancipatio dicitur, quia manu res capitur. Diese Worterklärung ist möglich; sie ist aber nicht zwingend; und sie ist sogar eher unwahrscheinlich. Nach Mommsen ist aucupium analog gebildet. Gerade dieser Hinweis führt zu einer anderen Erklärung. Mancupium und aucupium sind abgeleitete Substantive, mancup-ium von manceps, aucup-ium von auceps. Manceps und auceps sind ihrerseits Komposita. Au-ceps, Vogelfänger, ist gebildet aus avis und capere; das Vorderglied au- ist eine Verkürzung der Stammform avi-, das zweite Glied -ceps aus -caps entspricht capiens, dem participium praesens. In der Verbindung au-ceps vertritt die Stammform au- den Akkusativ avem. Au-ceps entspricht mithin avem capiens; auceps ist also: ,einer, der einen Vogel fängt‘. Man-ceps ist gebildet aus manus und capere. Das Vorderglied man- ist eine Verkürzung der Stammform manu-. Nach der üblichen Erklärung soll die Stammform manu- hier aber nicht den Akkusativ manum vertreten, sondern den instrumentalen Ablitiv manu; manceps ist dann ,einer, der mit der Hand ergreift‘. Nichts steht aber der Annahme entgegen, daß die Stammform manu-, wie au- in auceps, den Akkusativ vertritt. Denn manus ist ja nicht nur die Hand, sondern bedeutet schon seit Vorzeiten auch ,Hausgewalt‘. Manceps ist aber dann: ,einer, der Hausgewalt erwirbt‘, mancipium der Akt, durch den diese Gewalt erworben wird. Wir werden bald sehen, daß die Bedeutung ,Manuserwerb‘ gerade die eigentliche Leistung der Manzipation trifft. Und was vor allem ins Gewicht fällt: soweit ich sehe, vertritt in allen Nominalkomposita von capere das Vorderglied den Objektskasus, nämlich auch in muni-ceps, parti-ceps, prin-ceps und for-ceps. Der neuen Erklärung der Spruchformel und Handanlegung im Manzipationsritual steht ihre Bewährungsprobe aber noch bevor. 7. Die Barkaufmanzipation bewirkt Herrschaftserwerb des Käufers – nach ihrem Ritual aber findet kein Herrschaftserwerb statt. Das Ritual läßt den Käufer vielmehr bekunden, der Sklave sei in seiner Gewalt; es tut so, als sei er immer schon in der Gewalt des Käufers gewesen.
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Wie ist diese Diskrepanz zwischen Wirkung und Gestaltung des Rituals zu erklären? Warum muß der Käufer rituell bekunden, er sei Eigentümer des Sklaven, während er erst durch eben den Vollzug des Rituals Eigentümer wird? Hier erinnern wir uns, daß die mancipatio kein allgemeines Veräußerungsgeschäft, daß sie vielmehr nur für wenige Gegenstände zuständig war, nämlich von Hause aus nur für die Veräußerung der zur familia gehörenden Personen und der Arbeitstiere der bäuerlichen Wirtschaft. War die mancipatio aber nur für die Veräußerung der gewaltunterworfenen Personen und der Zug-, Spann- und Lasttiere des Landmannes vorgesehen, und unterdrückt sie in ihrem Ritual gerade das, was sie bewirkt, indem sie den Erwerber als Gewalthaber auftreten läßt, dann drängt sich die Erklärung auf, daß Gesinde und Arbeitstiere bis zur Einführung der mancipatio unveräußerlich waren und das Ritual an diesem Rechtszustand festhält und darum den Erwerber als Gewalthaber auftreten läßt. Nach der Denkweise des Rituals sind das Gesinde und die Arbeitstiere nach wie vor unveräußerlich; darum kann es keinen Veräußerer und keinen Erwerber, sondern nur den Gewalthaber geben; und also ignoriert das Ritual die Rechtsherrschaft des Veräußerers und läßt den Erwerber als Gewalthaber auftreten. Die mancipatio bewirkt die Veräußerung des Unveräußerlichen. 8. Nach der Denkweise des Rituals gibt es nach wie vor keine Veräußerung und also auch keinen Veräußerer; dennoch verzichtet es nicht auf dessen Mitwirkung. Hier zeigt sich das Dilemma, in das eine „Veräußerung des Unveräußerlichen“ notwendig geraten muß. Ein Akt, der Veräußerung bewirkt, kann nicht, auch wenn seine Ausgestaltung diese Funktion leugnet, auf die Mitwirkung des Veräußerers verzichten. Fordert darum die Wirkung der mancipatio die Beteiligung des Veräußerers, so ist es wieder die Denkweise des Rituals, die die Art seiner Beteiligung bestimmt. Weil das Ritual keinen Veräußerer kennt, beteiligt es ihn als den Adressaten der Eigentumsbehauptung, der er nicht widerspricht. 9. Die Veräußerlichkeit des Hauskindes ist in Rom schon vor der Zwölftafelgesetzgebung, dann aber vor allem durch die XII Tafeln selbst eingeschränkt worden und vermutlich im Laufe des 4. Jhs. völlig abgekommen. Jetzt sehen wir, daß sie nicht aus unvordenklichen Zeiten überkommen war, sondern in einer noch erreichbaren Vergangenheit eingeführt worden ist. Sklaven und Arbeitstiere blieben dagegen veräußerlich, nachdem sie es einmal geworden waren. Für sie ist vielmehr bemerkenswert, daß sie bis zur Einführung der mancipatio unveräußerlich waren. Im frührömischen Hausverband war der Sklave dem Hauskind weithin gleichgestellt. Jetzt sehen wir, daß diese Gleichstellung auch die Unveräußerlichkeit einschloß. Die Unveräußerlichkeit der Zug-, Spann- und Lasttiere ist dagegen überraschend, aber nicht unerklärlich. Als Arbeits- und Hausgenossen des Menschen gehörten sie zur Lebensgemeinschaft des bäuerlichen Hauses. Man feierte mit ihnen das Erntefest, und anders als die Herdentiere der Frühzeit,
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Schwein, Schaf und Ziege, wurden sie nicht geopfert; erst im Staatskult ist das Schwein vom Rind verdrängt worden. 10. Wenn die mancipatio der ,Manuserwerbsakt‘ war, dann gibt uns ihr Anwendungsbereich eine genaue Vorstellung vom Bereich der alten manus-Gewalt. Die alte manus-Gewalt erstreckte sich auf die Hauskinder, die Sklaven und die Arbeitstiere. Und da sie erst mit der Einführung der mancipatio veräußerlich wurden, können wir außerdem feststellen, daß die alte manus-Gewalt nicht das Recht der Veräußerung einschloß. Dieses Ergebnis zwingt zu der komplementären Annahme, daß alle anderen Güter einer uneingeschränkten Rechtsherrschaft des pater familias unterlagen: daß mithin Klein- und Herdenvieh, daß Wolle und Häute, Keramik und Hausgerät, aber auch Waffen und Schmuck und natürlich auch Rohmetall, wie die Bronze, frei und formlos veräußert werden konnten. Diese Annahme wird auch durch den zweiten Teil des Manzipationsrituals bestätigt. Ihm wenden wir uns jetzt zu. 11. Wir erinnern uns: Vor den Zeugen, dem libripens und dem Veräußerer legt der Erwerber eine Hand an den Sklaven, spricht die Eigentumsbehauptung und fährt fort: ISQUE MIHI EMPTUS ESTO HOC AERE AENEAQUE LIBRA. Danach wiegt er mit der Waage des libripens eine vorgesehene Menge Bronze dem Veräußerer zu, der sie schweigend entgegennimmt. Die Bedeutung der Spruchformel ist hier die Crux der Interpretation. Manche glauben, daß sich der Erwerber mit dem zweiten Teil der Formel widerspreche: zunächst behaupte er, Eigentümer des Sklaven zu sein, jetzt, daß er ihn kaufe. Oft wird darum angenommen, daß ISQUE MIHI EMPTUS ESTO angestückelt und die zweite Hälfte des Rituals spätere Zutat sei. Andere lassen sich auf das zweite Formelstück nicht weiter ein; sie deuten die Libralzahlung nach anderen Kriterien entweder als Sühneleistung für das Unrecht des Zugriffs; oder als Abfindung für seine Duldung des Zugriffs; oder auch als Haftungsgeschäft, nämlich als den Akt, der die Eviktionshaftung des Veräußerers begründet. Ich habe die Spruchformel wiedergegeben, wie sie für die mancipatio nummo uno überliefert ist. Die mancipatio nummo uno unterschied sich von der Barkaufmanzipation, der sie nachgebildet war, im Wägeakt: in der Barkaufmanzipation wird er wirklich vollzogen, in der mancipatio nummo uno dagegen symbolisch dargestellt; der Erwerber schlug mit einem Stückchen Bronze, später mit einem nummus, gegen die Waagschale und übergab das raudusculum dem Veräußerer. Außer dem Wägeakt wurde aber auch die Spruchformel umgestaltet. Sie wurde in dem Teil verändert, der sich auf den Wägeakt bezieht. Die Spruchformel der Barkaufmanzipation verwies vermutlich nicht auf den Gebrauch der Waage, sondern benannte die zuzuwiegende Menge Bronze; sie könnte etwa gelautet haben: ISQUE MIHI EMPTUS ESTO his centum assibus aeris. Was sagt der Erwerber mit diesem Formelstück? Das Schlüsselwort ist ESTO. ESTO ist der Imperativ des Futurs und dieser Imperativ seit alters die Form der
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lex: der lex publica wie der privaten lex dicta in mancipio. Für die lex publica bringt sie jeder Satz der XII Tafeln zur Anschauung, für die lex privata die Erbeinsetzung oder die Legatsanordnung. Ich zitiere aus den XII Tafeln: SI PATER FILIUM TER VENUM DUIT, FILIUS A PATRE LIBER ESTO, und ein zweites Beispiel: SI NOX FURTUM FAXSIT, SI IM OCCISIT, IURE CAESUS ESTO. Die Erbeinsetzung geschah in der Form: Titius heres esto, die Legatsanordnung mit der Klausel: dare damnas esto. So kann nicht zweifelhaft sein, daß im zweiten Teil der mancipatio der Erwerber eine Anordnung trifft: ISQUE MIHI EMPTUS ESTO his centum assibus aeris ist ein einseitiges Gebot, eine imperative Festsetzung. Was aber ordnet der Erwerber an? Subjekt zu ESTO ist das Demonstrativpronom IS, das sich auf den Sklaven bezieht, der im ersten Satz genannt wird. Der Erwerber trifft also eine Anordnung über den Sklaven. Er ordnet für den Sklaven an: MIHI EMPTUS his centum assibus aeris. EMPTUS gehört zu emere, dessen ursprüngliche Bedeutung ,nehmen‘ ist; aber die Verbindung mit dem ablativus pretii ,his centum assibus aeris‘ zeigt, daß emere hier schon die Bedeutung ,kaufen‘ hat. Der Ablativ bringt zum Ausdruck, daß die Bronze das Mittel, das Instrument des Nehmens ist; ,mit Geld nehmen‘ aber ist ,kaufen‘. Mit MIHI EMPTUS schließlich sagt der Sprecher, daß er den Kauf getätigt hat. Eine Übersetzung des ganzen Formelstücks könnte demnach lauten: ,und der Sklave soll einer sein, der von mir gekauft worden ist mit diesen hundert Pfund Bronze‘. 12. Das heißt nicht, daß der Erwerber den Sklaven gekauft hat, und auch nicht, daß er ihn jetzt kauft. Wenn er imperativ anordnet, daß der Sklave ein von ihm mit diesen hundert Pfund Bronze gekaufter sein soll, dann legt er für den Sklaven eine rechtliche Beziehung fest; er ernennt ihn zu einem mit eben diesem Geld, und das schließt ein: von eben dem Empfänger dieses Geldes gekauften Sklaven. So verstanden widerspricht sich das Ritual keineswegs; und weder von Abfindung noch von Haftungsbegründung ist die Rede. Das Ritual bleibt bei seiner Denkweise, daß der Sklave unveräußerlich ist: er wird nicht gekauft, und es wird auch nicht gesagt, daß er gekauft worden ist. Vielmehr wird ihm durch Satzung die rechtliche Eigenschaft beigelegt, ein gekaufter zu sein und zwar konkret: mit ,diesem Geld‘ von dem Empfänger dieses Geldes. 13. Diese Erklärung bliebe unbefriedigend, wenn wir nicht beantworten könnten, warum das Ritual den Erwerber diese Anordnung treffen und ihn nicht ohne weiteres die Bronze dem Veräußerer zuwiegen und übergeben läßt. Die Antwort liegt indessen nahe. Das Ritual bewirkt, daß der Käufer den Sklaven und der Verkäufer die Bronze zu eigen erwirbt. In der Denkweise des Rituals ist der Sklave aber unveräußerlich. Darum wird er, immer in der Denkweise des Rituals, auch nicht erworben, war der Käufer vielmehr schon immer Eigentümer
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des Sklaven. Wird er aber nicht erworben, dann kann die Ernennung zum gekauften Sklaven nicht wegen seines Erwerbs geschehen. Sie geschieht wegen des Erwerbs der Bronze. Wenn der Käufer anordnet, daß der Sklave ein von ihm mit diesen hundert Pfund Bronze gekaufter sein soll, dann wird damit die Bronze zur Gegenleistung für den Sklaven, ihre Übergabe zur Kaufpreiszahlung. Ohne die Anordnung des Käufers wäre die Übergabe der Bronze grundlos. Offenbar bedurfte es also für ihren Erwerb eines Grundes: als Gegenleistung für den Sklaven, als Kaufpreis durfte der Verkäufer die Bronze nehmen und behalten. 14. Dieses Erfordernis eines Erwerbsgrundes für die Bronze war keine Spezialität der mancipatio. Mit der Anordnung des Käufers ISQUE MIHI EMPTUS ESTO his centum assibus aeris bringt das Ritual für den Erwerb der Gegenleistung vielmehr das allgemeine Kaufrecht zur Anwendung. Denn die Anordnung, daß der Sklave ein gekaufter sein soll, setzt voraus, daß es ein allgemeines Kaufrecht, daß es den Kauf als eine Einrichtung des Rechts gibt. Aus dem Anwendungsbereich der mancipatio haben wir schon geschlossen, daß alle anderen Güter einer uneingeschränkten Rechtsherrschaft des pater familias unterlagen und frei und formlos veräußert werden konnten. Jetzt können wir hinzufügen: als die mancipatio eingeführt wurde, regelte die Rechtsordnung den Austausch von Ware gegen Bronze, und zwar regelte sie ihn, wie wir an der mancipatio ablesen, jedenfalls insoweit, als sie den kaufweisen Erwerb anerkannte. 15. Unser letzter Punkt zur mancipatio ist die Auktoritätshaftung. Für das spätere Recht erschließen wir mit großer Wahrscheinlichkeit eine Eviktionshaftung des Manzipationsverkäufers: wird die verkaufte und manzipierte Sache dem Käufer abgestritten, dann haftet ihm der Verkäufer auf den doppelten Betrag des Kaufpreises, sofern er dem Käufer im Eviktionsprozeß beigestanden oder den Beistand verweigert hat. Diese Haftung geht offenbar in die Zeit der Barkaufmanzipation zurück. Über ihre Grundlage rätselt man jedoch. Nach unserer Analyse ist sie keine rechtsgeschäftliche Haftung: sie wird nicht durch die mancipatio begründet; das Ritual weiß von dieser Haftung nichts. Sie kann darum nur an den Manzipationsakt angeknüpft haben und muß Unrechtshaftung gewesen sein; auf den deliktischen Ursprung deutet auch das Kaufpreisduplum. Folgende Zusammenhänge sind darum denkbar: Wir sehen, daß durch die Anordnung ISQUE MIHI EMPTUS ESTO his centum assibus aeris die Bronze zur Gegenleistung für den Sklaven wird und darum vom Verkäufer angenommen und behalten werden darf. Die Anordnung steht aber im Zusammenhang mit der Eigentumsbehauptung; der Käufer trifft sie für den Sklaven, von dem er vorweg behauptet, daß er der seine sei. Dieser Zusammenhang ist auch ein Bedingungszusammenhang; er bedeutet zugleich: unter der Voraussetzung, daß der Sklave mir gehört, soll er ein von mir mit diesen hundert Pfund Bronze gekaufter sein.
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Die Anordnung ist darum gegenstandslos, wenn der Sklave nicht dem Käufer gehört. Gilt sie aber nicht, dann ist die Bronze nicht Gegenleistung, ihre Übergabe darum nicht gerechtfertigt, ihre Entgegennahme typischerweise Unrecht. Die Unwirksamkeit der Anordnung kann sich nur im Eviktionsprozeß herausstellen. Da sein Ergebnis Rechtskraft auch im Verhältnis der Manzipationspartner entfalten mußte, ergibt sich von hier aus, als prozessuale Notwendigkeit, daß der Käufer, wenn er mit einem Eviktionsprozeß überzogen wird, dem Verkäufer die Möglichkeit eröffnet, ihm als auctor beizustehen. 16. Wir haben gesehen: Die Barkaufmanzipation ist ein Kunstgebilde von großer Rafinesse. Sie ist aus einem Guß: sie kann schlüssig aus einer Grundvorstellung erklärt werden, die sie konsequent durchhält. Sie erschließt sich unserem Verständnis, sobald man durchschaut, daß sie bewirkt, was sie nach ihrer eigenen Denkweise nicht bewirken kann: die Veräußerung des Unveräußerlichen. Unveräußerlich waren die Hauskinder, die Sklaven und die Arbeitstiere der bäuerlichen Wirtschaft. Die mancipatio wurde geschaffen, um sie veräußerlich zu machen. Der überkommene Rechtszustand war offenbar so verfestigt, daß sie nicht den übrigen Gütern einfach gleichgestellt werden konnten. Das geltende Recht mußte gleichsam überlistet werden. Nicht anders verfuhren die Juristen, als sie später die mancipatio nummo uno schufen. Mit der Barkaufmanzipation waren die alten manus-Güter veräußerlich geworden, aber nur entgeltlich und nur in unmittelbarem Austausch. Jetzt war ein Geschäft zu konstruieren, das ihre Veräußerung auch zu anderen Zwecken erlaubte. Das Ritual der Barkaufmanzipation wurde umgestaltet – aber nicht einfach die zweite Hälfte mit dem Zahlungsakt amputiert, sondern die reale Zahlung durch eine symbolische ersetzt: Wie die alte mancipatio an der Unveräußerlichkeit, hielt die mancipatio nummo uno an der Entgeltlichkeit fest. 17. Für eine Datierung der Barkaufmanzipation wissen wir noch zu wenig über die Frühgeschichte Latiums. Die sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Daten, über wie wir verfügen, lassen nur eine grobe Eingrenzung zu. Die Bronze ist in Italien seit dem 10. Jh. das allgemeine Tauschmittel. Ebenfalls im 10. Jh. beginnt die Besiedelung des Palatin. Seit dem 9. Jh. besteht eine ungebrochene Kulttradition. Im 8. Jh. gewinnt Latium den Anschluß an die griechische Welt. Enorme Veränderungen treten nun ein. In der Landwirtschaft wechseln die Anbaumethoden; die Arbeitsteilung setzt sich durch; Handel und Produktion entfalten sich; am Ende des Jahrhunderts ist Latium in das internationale Verkehrsnetz völlig einbezogen. Die Bevölkerung wächst rapide; der Wohlstand steigt; soziale Schichten bilden sich. Aber auch in Rom, wie überall in Latium, sind erst für das ausgehende 7. und frühe 6. Jh. öffentliche Bauwerke bezeugt, nach denen wir die Stadtgründung datieren. Mit dem Beginn der Urbanisierung sind auch Grund und Boden veräußerlich geworden, und das bedeutet: daß sie der mancipatio unterstellt worden sind. Danach wäre die mancipatio um die Wende zum 6. Jh. in Ge-
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brauch gewesen. Ihre Einführung ist ohne äußeren Anstoß, ohne eine Veränderung der Lebensbedingungen und darum vor dem Aufstieg Latiums seit dem 8. Jh. kaum denkbar. Ich vermute, daß sie im 7. Jh. geschaffen worden ist. III. Die legis actio sacramento in rem Die Kreation der mancipatio hat die der legis actio sacramento in rem nach sich gezogen. Sie möchte ich im zweiten Teil dieses Aufsatzes untersuchen. Dabei beschränke ich mich auf die Absicht, das eigentümliche Konzept dieser Klagform darzustellen. 1. Das Verfahren diente der Feststellung streitiger Rechtsherrschaft. Der Einfachheit halber spreche ich ungenau von Eigentum. Der Prozeß war ein Prätendentenstreit. Der Besitz des umstrittenen Sklaven ist zwar der Anlaß des Verfahrens, und seine Herausgabe an den nicht-besitzenden Eigentümer kann eine Folge des Prozesses sein. Im Prozeß selbst geht es aber nicht um den Besitz. Die beiden Beteiligten wollen nichts voneinander. Jeder will vielmehr festgestellt haben, daß er der Eigentümer des Sklaven ist. Darum sind sie auch beide in derselben Rolle. Nach Gajus nenne ich sie Vindikanten, zur Erleichterung der Darstellung, und wieder ungenau, auch Kläger und Beklagter. 2. Gajus beschreibt die Prozeßeinleitung sehr genau! Vor dem Gerichtsherrn, in iure, sind beide Streitparteien anwesend. Ebenso ist das Hauskind, der Sklave oder die Sache präsent, um die gestritten wird. Die Vindikanten haben einen Stab in der Hand, den Gajus festuca, den das Ritual dagegen vindicta nennt. Das Geschehen zerfällt in zwei Abschnitte: der eigentlichen Streitbegründung in Rede und Gegenrede geht ein Vorspiel voraus. In diesem Vorspiel vollziehen die Prätendenten nacheinander folgendes Ritual: Der Vindikant legt eine Hand an den Sklaven und spricht: ,HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO. SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI, ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI.‘ Während er den zweiten Satz spricht, legt er dem Sklaven die vindicta auf. Erst auf den Befehl des Gerichtsherrn ,MITTETE AMBO HOMINEM‘ nehmen beide Vindikanten Hand und vindicta zurück. Damit endet das Vorspiel. 3. Seitdem Jhering 1852 diese Szene als ,Scheinkampf‘ beschrieben hat, beherrscht dieses Bild die Deutung des alten Rechtsgangs. Bis heute ist für die meisten, was hier geschieht, ,ritualisierte Eigenmacht‘; vollziehen Kläger und Beklagter mit Hand- und Stab Zugriffs- und Bemächtigungsakte. Diese vertraute Vorstellung ist jedoch ebenso verfehlt, wie die Zugriffsinterpretation der mancipatio. Die Spruchformel besteht aus zwei Sätzen; zum ersten Satz gehört der Handgestus, zum zweiten die Stabauflegung. Der erste Teil dieses Rituals ist identisch mit dem ersten Teil der mancipatio. Die Worte ,HUNC EGO HOMINEM EX
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IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO‘ und der Handgestus, der sie begleitet, sind auch hier Eigentumsbehauptung und nichts als das. Diese Einsicht erschließt auch die Bedeutung des zweiten Satzes. Hier wird der Prozeßgegner offen angesprochen: ,ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI‘: ,Schau her, du, ich habe die vindicta aufgelegt‘. Daß er sie dem Sklaven aufgelegt hat, sahen Gegner und Gerichtsherr. Der Vindikant hat dem Sklaven die vindicta aufgelegt SECUNDUM SUAM CAUSAM: ,in Übereinstimmung‘ oder ,in Gemäßheit‘ seiner causa. Was die Spruchformel mit sua causa meint, stellt sie durch SICUT DIXI klar. Mit SICUT DIXI kann der Vindikant nur in Bezug nehmen, was er im Ritual gesprochen hat, und vorausgegangen ist nur die Eigentumsbehauptung. Sua causa ist darum die rechtliche Lage des Sklaven, die der Vindikant im ersten Satz der Spruchformel behauptet. Die Übersetzung der ganzen Spruchformel könnte danach lauten: ,Ich sage und behaupte, daß dieser Sklave ex iure Quiritium mein ist. Gemäß seinem Meinsein habe ich ihm, schau her, du, die vindicta aufgelegt.‘ Was heißt das: ,Gemäß seinem Meinsein habe ich ihm die vindicta aufgelegt‘? Es besagt soviel wie: ich habe die vindicta dem Sklaven aufgelegt und darf das, weil er mir gehört. Daraus folgt, daß der Eigentümer zur Stabauflegung berechtigt war. Die Eigentumsbehauptungen der Vindikanten schließen einander aus; gehört der Sklave dem einen, kann er nicht dem anderen gehören, und umgekehrt. Folglich legt einer der beiden Prozeßgegner – oder mindestens einer – die vindicta zu Unrecht auf. Mit ECCE TIBI fordern die Vindikanten die besondere Aufmerksamkeit des Gegners für die Stabauflegung. Wir sehen sofort, warum: der Dialog der Streitbegründung geht über das vindictam inponere. Der erste Vindikant, den ich jetzt Kläger nenne, fordert den Beklagten auf zu sagen, qua ex causa er vindiziert habe: ,POSTULO, ANNE DICAS, QUA EX CAUSA VINDICAVERIS?‘ Der Beklagte antwortet, er habe, als er die vindicta auflegte, getan, was recht war: ,IUS FECI SICUT VINDICTAM INPOSUI.‘ Darauf behauptet der Kläger, der Beklagte habe zu Unrecht vindiziert, und fordert ihn deshalb durch Eid zum Streit heraus: ,QUANDO TU INIURIA VINDICAVISTI (QUINGENTIS AERIS) SACRAMENTO TE PROVOCO.‘ Der Beklagte entgegnet: ,ET EGO TE‘ und richtet damit dieselbe Herausforderung an den Kläger. 4. Wieder seit Jhering stimmen die meisten darin überein, daß mit der Eingangsfrage QUA EX CAUSA VINDICAVERIS der Kläger vom Beklagten Auskunft fordere über den Grund seines Eigentumserwerbs. Dabei wird nicht übersehen, daß er die gewünschte Auskunft nicht erhält; denn der Beklagte erwidert ja nicht, daß er den Sklaven gekauft oder geerbt habe; er antwortet vielmehr, daß seine Stabauflegung rechtmäßig war. Anders als die vielen erfolglosen Anstrengungen, diese Diskrepanz zu erklären, versuchen wir die Lösung aus dem Ritual selbst zu gewinnen. Die legis actio
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ist ein Kunstgebilde. Darum gehen wir davon aus, daß sie widerspruchsfrei und sinnvoll konstruiert ist. Die Antwort des Beklagten lautet, er habe recht getan, als er dem Sklaven die vindicta auflegte. Das setzt als Frage voraus, ob er ,zu Recht‘ oder ,zu Unrecht‘ vindiziert habe. Eine mögliche Antwort wäre demnach auch gewesen, daß er ,zu Unrecht‘, daß er iniuria die vindicta aufgelegt habe. Diese Folgerung wird durch den Fortgang des Dialogs bestätigt. Denn in seiner Replik behauptet der Kläger, der Beklagte habe iniuria vindiziert und fordert ihn deshalb durch Eid zum Streit heraus. Aus seiner Sicht hätte der Beklagte also nicht anworten dürfen ,IUS FECI SICUT VINDICTAM INPOSUI‘ – sondern vielmehr antworten müssen: iniuria vindictam inposui. Daraus folgt: mit QUA EX CAUSA VINDICAVERIS fragt der Kläger den Beklagten nach der rechtlichen Modalität seiner Vindikation. Im Vorspiel ist causa die rechtliche Qualifikation des Sklaven; hier ist causa die rechtliche Qualifikation des vindicare. Da unsere Sprache kein entsprechendes Wort hat, müssen wir die Frage QUA EX CAUSA VINDICAVERIS übersetzen: hast du zu Recht oder zu Unrecht dem Sklaven die vindicta aufgelegt? 5. Das sacramentum ist ursprünglich ein Eid, mit dem jede Partei die Wahrheit ihrer Prozeßbehauptung beschwört. Mit SACRAMENTO TE PROVOCO erklärt der Kläger, daß er den Beklagten durch einen Eid, den er jetzt schwören werde, zum Streit herausfordere. Er fordert ihn zum Streit heraus, weil er iniuria vindiziert, weil er dem Sklaven zu Unrecht den Stab aufgelegt habe. Diese Begründung bezeichnet das Schwur- und Streitthema. QUANDO TU INIURIA VINDICAVISTI SACRAMENTO TE PROVOCO besagt mithin: Der Kläger beschwört seine Behauptung, daß der Beklagte iniuria vindiziert hat, und fordert ihn dadurch zum Streit über die Unrechtmäßigkeit seiner Stabauflegung heraus. Der Beklagte antwortet ET EGO TE. Mit diesen Worten erklärt er ersichtlich nicht nur seine Bereitschaft, die Herausforderung des Klägers anzunehmen, sondern provoziert ihn seinerseits. Er beschwört, der Kläger habe iniuria vindiziert, und fordert ihn durch diesen Schwur zum Streit über die Unrechtmäßigkeit seiner Stabauflegung heraus. 6. In den Eiden wiederholt sich die Symmetrie des Vorspiels. Dort treten Kläger und Beklagter als Eigentumsprätendenten auf; jeder behauptet, der Sklave gehört ihm. Der Prozeß wird aber nicht über ihre Eigentumsbehauptungen begründet. Jeder beschwört vielmehr, daß der andere zu Unrecht vindiziert habe. Damit aber werden ihre Vindikationen, genauer: wird die Unrechtmäßigkeit ihrer Vindikationen Prozeßthema. 7. Ein überraschendes Bild! Jede Partei will durch den Prozeß festgestellt haben, daß sie der Eigentümer des Sklaven ist – provoziert aber den Gegner zum Streit über die Unrechtmäßigkeit seiner Stabauflegung. Wie funktionierte diese Konstruktion?
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Die Zusammenhänge sind ganz einfach. Das Urteil ergeht über die Eide; der Richter stellt fest, wessen sacramentum iustum, wessen iniustum ist. Dabei muß er inzidenter über die Eigentumsbehauptungen entscheiden. Denn von der Eigentumsfrage hängt ab, wer zu Unrecht vindiziert hat. Gehört der Sklave dem Kläger, dann hat der Beklagte zu Unrecht vindiziert, während er selbst den Stab zu Recht aufgelegt hat. Umgekehrt verhält es sich, wenn der Sklave dem Beklagten gehört. 8. Jetzt erkennen wir auch das Konzept unserer legis actio: die Eigentumsfrage ist in eine Unrechtsfrage eingekleidet, der Eigentumsprozeß wird als Unrechtsprozeß geführt. Genauer muß ich sagen: er wird in der Form von zwei Unrechtsprozessen geführt, denn jeder Prätendent verfolgt den anderen wegen seiner Stabauflegung. Natürlich sind diese Unrechtsprozesse keine wirklichen – sowenig wie die Stabauflegung ein wirkliches Delikt ist. Sie sind vielmehr dem wirklichen Unrechtsprozeß nachgeformt, und die Stabauflegung repräsentiert das Delikt, das in den beiden nachgeformten Deliktsverfahren verfolgt wird. Wirkliche Unrechtstaten wurden mit der legis actio sacramento in personam verfolgt. Unsere Sakramentsklage, der erste ,dingliche‘ Prozeß, besteht mithin aus zwei persönlichen Klagverfahren. Die legis actio sacramento in rem ist demnach ein ,nachgeformtes Rechtsgeschäft‘, konstruiert aus der, wie wir jetzt sehen, älteren Prozeßform des persönlichen Deliktsverfahrens. Die Verwendung dieser Prozeßform setzt allerdings ein Delikt voraus. Darum das eigentümliche Vorspiel. Im Vorspiel werden die Unrechtstaten vorgespielt, deretwegen die Prätendenten einander verfolgen: sie werden dargestellt durch die Stabauflegung. Ich vermute, daß die Berührung des Sklaven mit der vindicta für Stockschläge oder eine Verletzungshandlung steht. Der Eigentümer, der seinen Sklaven schlug oder verletzte, tat kein Unrecht; er konnte sagen: ius feci; wer dagegen einen fremden Sklaven schlug oder verletzte, handelte gegenüber seinem Eigentum iniuria, unrechtmäßig. Dasselbe galt für das Hauskind und gewiß auch für das Arbeitstier der bäuerlichen Wirtschaft. Darum scheint der alte Eigentumsprozeß für eben die Gegenstände eingeführt worden zu sein, die durch die mancipatio veräußerlich wurden. IV. Schlußbemerkung 1. In einer Schlußbemerkung möchte ich einige Beobachtungen zusammenfassen. Die mancipatio und die Sakramentsklage sind professionelle Rechtsschöpfungen. Sie sind nicht das Produkt langdauernder Entwicklungsprozesse, nicht das Ergebnis einer allmählichen Ritualisierung, und sie hatten auch keine Vorstufen. Sie waren Neuerungen und veränderten die Rechtsordnung. Mit der mancipatio wurden die Hauskinder und Sklaven und die Arbeitstiere veräußerlich, mit der Sakramentsklage die gerichtliche Feststellung streitiger Rechtsherrschaft möglich.
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2. Diese Interpretation der ältesten der altzivilen Rechtsgeschäfte eröffnet eine Reihe von Ausblicken. Einmal zeichnet sich mit ihr deutlicher ab der Eintritt des Juristen in die Geschichte. Der Jurist wäre auf den Plan getreten, um Mittel zu ersinnen und Wege zu weisen, das überkommene Recht, hier und dort, wie es neue Bedürfnisse erforderten, zu überwinden und zu ändern. Sodann bestätigen mancipatio und Sakramentsprozeß nicht die gängige Vorstellung, daß „alles Recht in seinen Anfängen formalistisch ist“ und in alter Zeit auch in Rom „nur rituelles Handeln rechtliche Bindung erzeugt“. Der Formalismus der altzivilen Rechtsgeschäfte ist nichts Urtümliches, sondern das Konstruktionsprinzip einer professionellen Rechts- und Formelkunde. Dabei dient die Form ersichtlich verschiedenen Zwecken. So in den beiden Abschnitten des Rituals der Sakramentsklage. Die Formalisierung der Streitbegründung, die den Gebrauch bestimmter Worte in Rede und Gegenrede vorschreibt, dient nur der eindeutigen Bestimmung des Streitthemas. Anders im Vorspiel. Die Unrechtstaten, über die der Prozeß geführt wird, müssen begangen sein. Da sie nicht wirklich begangen werden können, muß so getan werden, als würden sie begangen. Das aber ist nur rituell möglich. Die Stabauflegung ist keine Verletzung des Sklaven, sie steht für eine Verletzung; sie ist das simulacrum, das rituell pro vero gilt. Dieselbe Technik sehen wir bei der mancipatio. Hier wird so getan, als gehöre der Sklave immer schon dem Erwerber. Auch das ist nur rituell möglich. Die formlose Eigentumsbehauptung wäre falsch und belanglos. Darum muß der Erwerber in ritueller Rede sagen, daß ihm der Sklave gehört. 3. Und ein Letztes. In der Prozeßeinleitung der Sakramentsklage müssen die Prozeßgegner so tun, als verletzten sie den Sklaven, weil man für den Eigentumsprozeß an der älteren Prozeßform des Deliktsverfahrens festgehalten hat. Im Ritual der mancipatio muß der Erwerber so tun, als gehört ihm der Sklave schon immer, weil man bei ihrer Einrichtung an seiner Unveräußerlichkeit festgehalten hat.
In mancipio esse* I. Mancupium, mancipium, mancipatio 1. Mancipium ist neben oder nächst mancupium1 die älteste Bezeichnung der mancipatio.2 Das Wort ist von man-ceps abgeleitet, dessen Vorderglied man- eine Verkürzung der Stammform manu- ist und wahrscheinlich nicht den instrumentalen Ablativ manu, sondern den Akkusativ manum vertritt. Manceps ist danach ,einer, der Hausgewalt erwirbt‘, mancipium der Akt, durch den diese Gewalt erworben wird. Das Wort ist für die XII Tafeln belegt3, der Akt freilich viel älter: in frühester, vielleicht schon präurbaner Zeit offenbar für die Veräußerung von Hauskindern und Sklaven geschaffen, muß die mancipatio bald auch für die Veräußerung der Zug-, Spann- und Lasttiere der bäuerlichen Wirtschaft verwendet worden sein4. Ihrer Funktion nach war die mancipatio Barkauf und bis zum Beginn der Münzprägung in Rom im 3. Jh. v. Chr. in Gebrauch. Spätestens seit der 1. Hälfte des 5. Jhs. gab es neben ihr die ihr ,nachgeformte‘ mancipatio nummo uno, in deren Ritual die reale durch eine symbolische Kaufpreiszahlung ersetzt5 und die darum zur Veräußerung der Hauskinder, Sklaven und Arbeitstiere (und inzwischen auch von Grund und Boden6) zu jedwedem Zweck geeignet war. Die Bezeichnung res mancipi für die der Manzipation unterworfenen Personen und Sachgüter kann erst aufgekommen sein, als Hauskinder nicht mehr veräußert und
* Außer den üblichen werden folgende Abkürzungen verwendet: Kaser, RP I und II = M. Kaser, Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht (München 2. Aufl. 1971), Zweiter Abschnitt. Die nachklassischen Entwicklungen (2. Aufl. 1975). Mommsen = Th. Mommsen, Bürgerlicher und peregrinischer Freiheitsschutz im römischen Staat, in: Festgabe für Georg Beseler zum 6. Januar 1885 (Berlin 1885) 253– 272 = Gesammelte Schriften III 1–20. Pugliese = G. Pugliese, In mancipio esse, in: J. A. Ankum/J. E. Spruit/F. B. J. Wubbe (Hrsg.), Satura Roberto Feenstra (Freiburg Schweiz 1985) 43–69. Steinwenter = A. Steinwenter, Mancipium, RE 14 (1928) 1010–1014. J. G. Wolf = J. G. Wolf, Funktion und Struktur der mancipatio, in: Mélanges à la mémoire de André Magdelain (Rom 1997), 501–524. 1 M. Leumann, Lat. Laut- und Formenlehre (München 1977) 87. 2 Zum Folgenden vgl. J. G. Wolf insb. 508 (Etymologie), 519 f. (Datierung), 509 f. (Funktion), 504 (mancipatio nummo uno). 3 XII T. 6. 1. 4 J. G. Wolf 519 f. 5 J. G. Wolf 516. 6 J. G. Wolf 520.
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Sklaven den Sachgütern zugerechnet wurden7; das war zu Beginn des 3. Jahrhunderts. Im übrigen erschließen wir die Geschichte der Barkaufmanzipation im wesentlichen aus den Nachrichten über die mancipatio nummo uno. 2. Mancipium bezeichnete aber nicht nur den für die Veräußerung von Hauskindern und Sklaven eingeführten Rechtsakt, sondern wurde seit Alters metonymisch in noch zwei anderen Bedeutungen gebraucht8: Mancipium ist auch der Sklave9 – ursprünglich wohl nur der durch das Rechtsgeschäft mancipium erworbene Sklave10; und ist außerdem die durch Manzipation erworbene Herrschaftsgewalt11, in spezifischer Bedeutung die Herrschaftsgewalt über freie Personen: sie sind, nach einer stehenden Formel, in mancipio oder, wie Gaius auch sagt12, in causa mancipii ihres Erwerbers13. 3. Im klassischen Recht ist dieses Hörigkeitsverhältnis zu einem Schemen verblaßt. Seit langem wurden Hauskinder nur noch dicis gratia14, nämlich rituell bei emancipatio15 und adoptio16 durch Manzipation veräußert17. Und auch die noxae deditio des Sohnes oder der Tochter, die Gaius zwar ausdrücklich von den Man-
7 Die Veräußerlichkeit des Hauskindes ist vermutlich im Laufe des 4. Jahrhunderts abgekommen, nachdem die emancipatio in Geltung gekommen war und der pater familias das Hauskind ohne weiteres aus seiner Gewalt entlassen konnte. 8 Pugliese 44; J. G. Wolf 520 mit A. 117. 9 Oxford Latin Dictionary s. h. v. 3 a. Die Juristen gebrauchen mancipium vornehmlich für den Sklaven als Vermögensgegenstand und verwenden darum ganz überwiegend nur den Plural mancipia: M. Meinhart, Vocabularium Iurisprudentiae Romanae III/2 (Berlin 1983) 1738 ff.; vgl. W. L. Westermann, Sklaverei, RE 6 Suppl. (1935) 946, 66. 10 Vgl. Cic. parad. 5.1.35 (Orelli IV 1, 406): Non enim ita dicunt eos esse servos, ut mancipia, quae sunt dominorum facta nexu, aut aliquo iure civili. Andere Erklärungen werden erwogen: J. G. Wolf 520; Kaser, RP I 57. 11 Oxford Latin Dictionary s. h. v. 2 a. Der geläufigste Beleg sind mancipio accipere und mancipio dare; hier ist mancipio nicht instrumentaler Ablativ, sondern finaler Dativ: W. Kalb, Spezialgrammatik zur selbständigen Erlernung der röm. Sprache (Aalen 3.Aufl. 1971) 205; J. B. Hofmann/A. Szantyr, Lat. Syntax und Stilistik (München 1972) 99; Meinhart (A. 9) 1740, 39; vgl. auch Steinwenter 1010, 54. 12 Gai 1.132, 138; 2.160. Dazu vgl. Steinwenter 1011, 9; M. David/H. L. W. Nelson, Gai Institutionum commentarii IV, Kommentar, 1. Lieferung (Leiden 1954) zu 1. 132, p. 163 ff.; 3. Lieferung (Leiden 1968) zu 2. 160, p. 368 f.; H. L. W. Nelson/U. Manthe, Gai Institutiones III 128–225, Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Bd. 55 (Berlin 2007) 308 f. 13 Überliefert nur in den außerjustinianischen Quellen (Meinhart [A. 9] 1739, 7–11), in Digesten und Institutionen dagegen planmäßig getilgt: Kaser, RP II 142. – Pugliese 43 f. will in causa mancipii übersetzen ,in condizione di schiavo‘, was er allerdings in A. 4 modifiziert. 14 Gai 1.141. 15 Gai 1.132. Vgl. Gai 1.118a und s. außerdem Gai 1.166, 172, 175, 195a. 16 Gai 1.134. 17 Vgl. Mommsen 8. Zu PS 5.1.1 s. unten A. 52.
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zipationen dicis gratia ausnimmt18, mußte längst außer Brauch gekommen sein, wenn, wie Gaius auch berichtet19, die beiden Schulen seit ihren Anfängen stritten, ob der Sohn ex noxali causa einmal oder dreimal manzipiert werden mußte, um aus der patria potestas auszuscheiden. Gleichwohl wird in den gaianischen Institutionen neben potestas und manus auch das mancipium systematisch dargestellt20: Es ist die eigenartigste Ausprägung der monokratischen Hausgewalt des pater familias. II. Die Herrschaftsgewalt mancipium 1. Die Herrschaftsgewalt mancipium ist so alt wie das ursprünglich gleichnamige Rechtsgeschäft, nämlich die unmittelbare Folge seiner Einführung. Solange Hauskinder und Sklaven unveräußerlich waren, unterstanden der Hausgewalt des pater familias außer der Ehefrau die eigenen ehelichen Kinder und die der Söhne und Sohnessöhne sowie Knechte und Mägde, die in der Regel auch im Hause aufgewachsen, meistens auch schon im Hause von einer versklavten Magd geboren und oft natürliche Kinder oder Enkelkinder des pater familias waren; versklavte Kriegsgefangene waren in der Frühzeit die Ausnahme21. Als mit der Einführung der mancipatio Hauskinder und Sklaven veräußerlich wurden, erweiterte sich dieser Kreis um das erworbene Gesinde, die mancipia, und die erworbenen fremden Hauskinder, die beim Erwerber in mancipio waren. 2. Mit der Einführung der mancipatio konnten Sklaven und Hauskinder gleicherweise veräußert werden22, zunächst und lange Zeit nur gegen Entgelt, also kaufweise, seit der Einführung der mancipatio nummo uno auch aus anderem Grunde23; so regelten schon die XII Tafeln, daß sich der Gewalthaber von seiner Haftung für ein Delikt des Sklaven oder des Hauskindes durch dessen deditio an den Verletzten befreite24. Wie das Hauskind konnte der pater familias aber auch die durch coemptio erworbene uxor in manu veräußern; denn die uxor war in seinem Hause, wieder nach Gaius, filiae loco25. Der gewöhnliche Anlaß wird die 18 Gai 1.141: . . . Ac ne diu quidem in eo iure detinentur homines, sed plerumque hoc fit dicis gratia uno momento, nisi scilicet ex noxali causa manciparentur. Pugliese 43: „unica eccezione, senza dubbio piuttosto rara“. 19 Gai 4.79. 20 Gai 1.49: Rursus earum personarum, quae alieno iuri subiectae sunt, aliae in p o t e s t a t e , aliae in m a n u , aliae in m a n c i p i o sunt. (50) Videamus nunc de his, quae alieno iuri subiectae sint . . . (51) Ac prius dispiciamus de iis, qui in aliena p o t e s t a t e sunt. (109) Sed in potestate quidem et masculi et feminae esse solent; in m a n u m autem feminae tantum conveniunt. (116) Superest, ut exponamus, quae personae in m a n c i p i o sint. 21 Vgl. J. G. Wolf 522 f. mit A. 132. 22 Gai 1.117; vgl. Pugliese 53. 6. a). 23 Kaser, RP I 46, 133. 24 XII T. 12.2. Kaser, RP I 163. Vgl. o. nach A. 17. 25 Gai 1.114, 115b, 118.
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Scheidung der Ehe und die Veräußerung zunächst die remancipatio in die väterliche Gewalt gewesen sein, später auch durch mancipatio nummo uno an einen Dritten. Ihr wird dann in aller Regel die Freilassung durch den Erwerber gefolgt sein, durch die sie sui iuris wurde26. 3. An der Rechtslage des Gesindes änderte sich mit der Veräußerung nichts: sie waren Sklaven und blieben Sklaven. Die Rechtslage des Hauskindes änderte sich dagegen mit der Veräußerung fundamental. Sie berührte zwar nicht Zivität und Freiheit27: kraft seiner Ingenuität war und blieb das veräußerte Hauskind freier Bürger des Gemeinwesens28. Was sich mit der Veräußerung vielmehr änderte, war seine ,private‘ Rechtslage: Der filius familias des väterlichen Hauses hatte im Hause des Erwerbers die Stellung eines Sklaven: der Hörige in mancipio war loco servi 29. Das Hörigkeitsverhältnis war mithin in sich widersprüchlich30: die Person in mancipio war frei und unfrei zugleich: durch Geburt freier Bürger des Gemeinwesens, durch die Manzipation Sklave des Erwerbers; und als die XII Tafeln die Rückkehr des Hörigen in die patria potestas vorsahen, gehörte er gewissermaßen gleichzeitig zwei Familien an: seiner väterlichen und der seines Erwerbers, dieser als Sklave, der väterlichen in einem eigentümlichen, sozusagen potentiellen Verhältnis. Was im Laufe der Zeiten geschaffen und eingeführt und noch im klassischen Recht für den Sklaven galt, galt nach dem Lehrbuch des Gaius weithin auch für den Hörigen in mancipio: Jeder Erwerb des Hörigen fiel an den ,Dominus‘ 31; anders als der Haussohn war er unfähig, sich zu verpflichten32; das Hörigkeitsverhältnis erlosch nicht mit dem Tode des Gewalthabers, sondern ging auf dessen Erben über; er selbst konnte gültig zum Erben nur eingesetzt werden, wenn er zugleich, im selben Testament, auch ,freigelassen‘ wurde33; wie der Sklave war er heres necessarius, durfte sich aber, wie der suus, der Erbschaft enthalten34; und wie durch Testament konnte er vindicta und censu aus der Hörigkeit entlassen werden35. All das entsprach dem Sklavenstatus36. 26
Vgl. Gai 1.115 f., 195a; Kaser, RP I 83. Sie bewirkte nur eine sog. capitis deminutio minima: Gai 1.162. 28 Zu den politischen Rechten des ingenuus in mancipio s. Steinwenter 1011, 58 mit weit. Literatur. 29 Wie Gaius seine Rechtsstellung definiert: Gai. 1.123, 138; 3.114. Pugliese 44 f. mit weit. Literatur. 30 Mommsen 5 ff.; Steinwenter 1012, 21. 31 Gai 2.86, 90, 96; Ulp 19.18. Als adstipulator konnte er nicht fungieren: Gai 3.114. 32 Gai 3.104. Zu Gai 4.80 siehe Lenel, Das Edictum Perpetuum (Leipzig 3.Aufl. 1927) 422 f.; anders u. a. Mommsen 6 A. 2; Steinwenter 1011, 27. 33 Gai 1.123. 34 Gai 2.160. 35 Gai 1.138: Hi qui in causa mancipii sunt, quia servorum loco habentur, v i n d i c t a , censu testamento manumissi s u i i u r i s f i u n t . Der ingenuus in mancipio 27
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Aus seinem Bürgerstatus37 folgte dagegen das Verbot, ihn ehrenrührig zu behandeln: der ,Dominus‘ durfte ihn nicht, wie es sein Herrenrecht gegenüber dem Sklaven war38, schlagen und züchtigen39; und folgte insbesondere seine Fähigkeit zu Ehe und Vaterschaft40. Seine Kinder, freie Bürger wie er, teilten vermutlich in den Anfängen seinen Sklavenstatus; fielen aber nicht mehr in das mancipium seines ,Dominus‘, sondern in die patria potestas seines Vaters41, als der Hörige selbst, nach Zwölftafelrecht, im Falle seiner Freilassung ohne weiteres in den väterlichen Hausverband zurückkehrte. 4. Ursprünglich und bis zu den XII Tafeln tat er das nicht. Erst sie bestimmten, daß er nach dem ersten und auch noch nach dem zweiten Verkauf, wurde er von dem Erwerber freigelassen, ohne weiteres in die patria potestas seines Vaters zurückfiel und erst mit seinem dritten Verkauf aus dessen Hausgewalt endgültig ausschied42. Bis zu seinem dritten Verkauf war er mithin nach Zwölftafelrecht nicht ,unwiderruflich‘ aus seiner angestammten Familie ausgeschieden; nach seinem dritten Verkauf aber nur noch in mancipio seines Erwerbers43. Entließ ihn nun der (dritte) Erwerber aus der Hörigkeit, wurde er mit dieser Freilassung sui iuris. Über den Status des nach dem dritten Verkauf in mancipio gezeugten Kindes war man sich in klassischer Zeit uneins. Zwar stimmte man darin überein, daß es nicht in die Hausgewalt seines Großvaters geboren wurde. Doch während Labeo wurde in der Frühzeit sui iuris erst durch die dritte manumissio vindicta, nachdem er dreimal von seinem Vater verkauft worden war: Gai 1.132; s. alsbald im Text. Dieser Rechtszustand war indess längst überwunden; s. oben A. 7. – Die Freilassung des Hörigen, wenn sie denn noch vorkam, unterlag im übrigen nicht den Beschränkungen der augusteischen Leges Fufia Caninia und Aelia Sentia: Gai 1.139. 36 Vgl. Pugliese 45 A. 5. 37 Zu den politischen Rechten des ingenuus in mancipio s. Steinwenter 1011, 58 mit weit. Lit. 38 Nach Sen. apoc. 15.2 genügte im Verfahren der vindicatio in servitutem das Zeugnis der Züchtigung zum Nachweis der Knechtschaft: Apparuit subito C. Caesar et petere illum (sc. Claudium) in servitutem coepit; producit testes, qui „illum“ viderant ab illo flagris, ferulis, colaphis vapulantem. adiudicatur C. Caesari. Im Ritual der frührömischen legis actio sacramento in rem legten die Eigentumsprätendenten dem umstrittenen Sklaven einen Stab auf; dieser Gestus stellte Stockschläge dar, die dem Eigentümer erlaubt waren, ihm gegenüber aber iniuria, wenn ein Dritter sie dem Sklaven zufügte, vgl. J. G. Wolf, Zur legis actio sacramento in rem, in: Römisches Recht in der europäischen Tradition (Ebelsbach 1985) 5, 36 ff. 39 Gai 1.141. 40 Gai 1.135. Vgl. Pugliese 45 A. 6. 41 Bei ehelicher Abstammung bestimmte sich die Rechtsstellung des Kindes grundsätzlich nach der Vaterschaft und damit nach dem Status des Vaters im Zeitpunkt der Zeugung: Gai 1.89. 42 XII T. 4.2. 43 Gai 1.132: . . . eaque mancipatione desinit in potestate patris esse, etsi nondum manumissus sit, sed adhuc in causa mancipii.
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annahm, daß es seinem Vater in die Hörigkeit folgte44, setzte sich die Meinung durch, daß seine Rechtsstellung in der Schwebe blieb: wurde sein Vater aus der Hörigkeit entlassen, fiel es in seine Hausgewalt; verstarb er vorzeitig, wurde es mit dessen Tod sui iuris45. Vermutlich aber war die Frage längst ohne praktische Bedeutung. Immerhin bestätigt die Kontroverse, daß der Haussohn mit dem dritten Verkauf endgültig aus seiner angestammten Familie ausschied. Bei all diesen Nachrichten über den Hörigen in mancipio bleiben wir allerdings in einem wesentlichen Punkt ohne Auskunft: es ist nicht bezeugt, daß er, wie der ,unfreie‘ Sklave, veräußerlich war46. Für den fortgeschrittenen Rechtszustand ist durch das Adoptionsritual47 und die tutelae, quae fiduciariae vocantur48 allerdings bezeugt, daß Sohn und Tochter ihrem Vater remanzipiert werden konnten, wenn sie aus dem väterlichen Haus endgültig ausgeschieden waren; sie waren dann bei ihrem leiblichen Vater in causa mancipii49. III. Die mancipatio, emancipatio, remancipatio: Funktion und Wirkung 1. Für eine genauere zeitliche Einordnung der mancipatio wissen wir immer noch zu wenig über die Vor- und Frühgeschichte Latiums und Roms. Die sozialund wirtschaftsgeschichtlichen Daten, über die wir verfügen50, lassen darum nur eine grobe zeitliche Eingrenzung der mancipatio zu. Wie anderenorts dargestellt51, führen sie zu der Vermutung, daß die Einführung der mancipatio in den 44 Wie vermutlich vor den XII Tafeln, als der Haussohn mit seinem (ersten) Verkauf aus der patria potestas seines Vaters definitiv ausschied. Entließ dann der Erwerber den Hörigen aus der mancipium-Gewalt, folgte ihm wohl sein Sohn in die Freiheit. 45 Gai 1.135. 46 Vgl. Steinwenter 1013, 19. 47 Gai 1. 132. 48 Gai 1. 166. 49 Vgl. Gai 1.134, 172, 175, 140; außerdem Gai 1.115 f., 166, 195a. Vgl. J. G. Wolf 532 A. 136. 50 Aus der umfangreichen Literatur: Colonna, Preistoria e Protostoria di Roma e di Lazio, in Popoli e Civiltà dell’Italia Antica (Roma 1974) 283 ff., dazu Ridgway, JRS 66 (1976) 211 f.; Civiltà del Lazio primitivo (Roma 1976, Ausstellungskatalog), insb. die Beiträge von Quilici 9 ff., Peroni 19 ff., Colonna 25 ff., Pallotino 37 ff., eine Tabella cronologica 56; Ricerca su una comunità del Lazio protostorico. Il sepolcreto dell’Osteria dell’Osa sulla via Prenestina (Roma 1979, Ausstellungskatalog), insb. die Beiträge von Bartolino 160 ff., 183 ff., Bietti Sestieri 11 ff., 99 ff., 141 ff., 207 ff., Cataldi Dini 168 ff.; Peroni, Protostoria dell’Italia continentale (Roma 1989) insb. 441 ff., 512 ff., 544 f. Grundlegend Müller-Karpe, Vom Anfang Roms (1959), Zur Stadtwerdung Roms (1962); Riemann, GGA 213 (1961) 166 ff., 214 (1962) 16 ff., 222 (1970) 25 ff., 223 (1971) 33 ff. Gut orientiert Dohrn, Einl. in die Vorgeschichte Roms, in Helbig, Führer durch die öfftl. Sammlungen klass. Altertümer in Rom 2. Bd. (Tübingen 1966) 795 ff., 603 ff., Tabelle mit den Zeitansätzen von Gjerstad, Müller-Karpe und Riemann 800. Alle mit weit. Literatur. 51 J. G. Wolf 516–520.
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Zusammenhang der Vorgänge gehört, die seit der Mitte des 8. Jahrhunderts die Lebenswelt Altlatiums verändert haben. Sie müßte darum spätestens im Laufe des 7. Jahrhunderts geschaffen worden sein. Es liegt nahe, daß der rasche Anstieg der Bevölkerung und des Wohlstands in dieser Periode und die mit ihm verbundene Ausbildung sozialer Schichten unabweisbar auch das Bedürfnis hervorbrachte, Sklaven und Hauskinder, um den Hausstand zu entlasten52, veräußern zu können53. 2. Hauskind und Sklave waren bis zur Einführung der mancipatio unveräußerlich54. Die Unveräußerlichkeit sicherte Hauskindern und Gesinde ihre soziale und wirtschaftliche Existenz, den Söhnen und Töchtern außerdem die Beteiligung am Hausgut nach dem Tode des pater familias. Wurden sie jetzt veräußert, so schieden sie mit ihrer Manzipation definitiv aus dem Hausverband ihres pater familias oder ihres dominus aus55. Das verstand sich für den Sklaven; für den Haussohn liefert den Beweis, daß er, als er später nach der ersten und zweiten Manzipation in die Hausgewalt seines pater familias zurückkehrte, dessen zuvor errichtetes Testament umstieß56 – wie mit der remancipatio die Tochter, die aus der manus ihres Ehemanns in die väterliche Gewalt zurückkehrte, und wie mit der Adoption der Adoptivsohn57. Mit der Veräußerung verlor – wie die Tochter, so auch – der Sohn die Teilhabe am Hausgut, während sich seine soziale und wirtschaftliche Stellung in mancipio von der in potestate parentis sonst kaum unterschied; der Knecht in mancipio wurde wie der unfreie gehalten, der unfreie kaum anders als das Hauskind. 3. Wie der Sklave konnte der Haussohn auf Lebenszeit in der Hausgewalt des Erwerbers bleiben, der Sklave in potestate, der Haussohn in mancipio. Den Sklaven konnte der Erwerber vermutlich auch an Dritte veräußern, den Haussohn in mancipio dagegen wohl nur seinem Vater remanzipieren (bei dem er dann in 52 O. Karlowa, Römische Rechtsgeschichte II (1901) 83; B. Kübler, Geschichte des römischen Rechts (Leipzig 1925) 30; Pugliese 53 u. ö. – Paulus kennt (wieder) den Kindesverkauf contemplatione extremae necessitatis aut alimentorum gratia: PS 5. 1. 1, dazu Kaser, RP II 205. 53 Pugliese 48: „La miseria in cui versavano in certi momenti (p. es. nei decenni successivi alla cacciata dei re, a ridosso quindi delle XII tavole) vasti strati della plebe, la prolificità . . . tutto contribuiva a rendere queste vendite . . . tutt’altro che rare.“ – Zur Überwindung des alten genossenschaftlichen Hauserbrechts, das nur die Fortsetzung der Hausgemeinschaft zuließ oder die Aufteilung des consortium mit der Folge der Bodenzersplitterung und bäuerlichen Verarmung, durch die Einführung des Anerbentestaments siehe F. Wieacker, Hausgenossenschaft und Erbeinsetzung (Leipzig 1940) insb. 19 ff.; Die XII Tafeln in ihrem Jahrhundert, in: Les origines de la République Romaine (Vandœuvres-Genève 1967) 308 ff.; Römische Rechtsgeschichte I (München 1988) 337 ff.; Kaser, RP I 95 ff., 107 ff. 54 J. G. Wolf 505 ff., 509 f., 515 f. 55 Pugliese 53 unter 6. a). 56 Gai 2. 141. 57 Gai 2. 138.
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mancipio war). Wie den Sklaven konnte er ihn aber, da er servi loco stand, freilassen. Und mit der Freilassung wurde er sui iuris. Freigelassen, war er auf sich selbst gestellt. Sein Vater hatte ihn verkauft, um den Hausstand zu entlasten, und mit seinem Verkauf war der Haussohn aus seinem angestammten Familienverband ausgeschieden. Sein Erwerber hatte ihn gekauft, um seine Arbeitskraft zu nutzen, und freigelassen, als er sie nicht mehr brauchte und der Hörige jedenfalls seinen Preis abgearbeitet hatte; und mit der Freilassung war er auch aus dem Hausverband seines Erwerbers ausgeschieden. Jetzt war er zwar in jeder Hinsicht frei, aber auch ohne den Schutz und Beistand einer familia; war er autonom und keiner Fremdbestimmung ausgesetzt, aber auch in die Selbstverantwortung entlassen. 4. Diese prekäre soziale und wirtschaftliche Lage erleichterten die XII Tafeln mit der Bestimmung, daß der veräußerte Haussohn, wurde er vom Erwerber freigelassen, zweimal in die patria potestas zurückfiel und erst mit der dritten Manzipation aus seinem angestammten Hausverband ausschied und schließlich, wenn ihn auch der dritte Erwerber freiließ, sui iuris wurde. Diesen Rechtszustand erschließen wir aus dem Ritual der emancipatio und dem Zwölftafelsatz, den das Ritual voraussetzt: Si pater filium ter venum duit, filius a patre liber esto58. Den Griechen Dionysios von Halikarnassos (der allerdings über die frührömischen Verhältnisse durchweg schlecht unterrichtet war) befremdete, daß der römische pater familias seinen Sohn verkaufen durfte, und mehr noch, daß er ihn dreimal zu Geld machen konnte, bevor er aus seiner potestas endgültig ausschied – während der dominus seinen Sklaven nur einmal verkaufen konnte und schon mit diesem Verkauf seine Gewalt über ihn endgültig verlor59. In der modernen Literatur überwiegt die Vorstellung, daß der Zwölftafelsatz dem Mißbrauch der uneingeschränkten Veräußerungsmöglichkeit vorbeugte oder entgegen trat: der Satz schränke die Veräußerungsmöglichkeit ein, indem er die Verwirkung der Hausgewalt mit dem dritten Verkauf verordnete60. Diese Erklärung
58 XII Tafeln 4. 2; vgl. Ulp 10. 1; Gai 1. 132; Bruns, Fontes 22 A. IV. 2. – Pugliese 50 schließt diese ,Vermutung‘ nicht aus. 59 Dion. Hal. ant. 2. 27. 1–2. 60 Karlowa (A. 52) 83; H. Siber, Römisches Recht II Römisches Privatrecht (Berlin 1928) 32: „Auch dieser Verkauf gilt früh als M i ß b r a u c h , und zur S t r a f e bestimmt . . . jedenfalls Zwölftafelrecht, daß der Vater mit drittmaligem Verkauf die Gewalt über den Sohn verliert“; E. Sachers, Potestas patria, RE 22 (1953) 1097: „bei dreimaligem Verkauf wurde der Vater mit dem Verlust seiner Gewalt über den Sohn b e s t r a f t “. – J. M. Kelly, A Note on ,Threefold Mancipation‘, in: A. Watson (Hrsg.), Daube Noster (Edinburgh 1974) 183 f.: „the original point of the rule – the penalising of excessive exploitation of sons’ labour – is correct“, doch sei der Sohn nicht manzipiert, sondern verdungen worden (rented); dazu Pugliese 46 ff. – A. Watson, Rome of the XII Tables (Princeton 1975) 118 f. vermutet, daß der pater familias „gives his son in nexum in return for aes“. Ein Überblick über weitere Erklärungen bei Pugliese 46 ff.
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setzt voraus, daß bis dahin nach jeder Veräußerung und – wie dem Ritual der emancipatio zu entnehmen ist61 – jeder Freilassung durch den Erwerber der verkaufte Sohn in die patria potestas seines Vaters ohne weiteres zurückfiel. 5. Dieser Mechanismus ist ungewöhnlich und auch systemfremd. Die mancipatio ist für die entgeltliche Veräußerung von Haussohn, Haustochter und Sklave geschaffen worden. Und es gibt nicht den geringsten Hinweis, daß der Haussohn nicht definitiv, wie die Haustochter und der Sklave, mit seiner Veräußerung aus der Hausgewalt seines Vaters ausgeschieden wäre62. Diese Einsicht hat offenbar immer wieder vermuten lassen, daß die Rückkehr des veräußerten Haussohnes in die patria potestas ,ursprünglich‘ nicht ohne weiteres, sondern durch Rechtsgeschäft erfolgte: daß die Rückkehr ,ursprünglich wohl‘ die remancipatio an den Vater erforderte63. Wie Gaius vermerkt64, konnte der pater familias den Haussohn allerdings mit der Abrede manzipieren, daß er ihm zurückmanzipiert werde. Gaius erwähnt diese Möglichkeit, weil bei dieser Sachlage der Hörige in mancipio nicht gegen den Willen seines Erwerbers durch Eintragung in die Bürgerliste die Freiheit erlangen konnte. Indessen beschreibt Gaius hier den Rechtszustand seiner Zeit, und es steht völlig dahin, ob schon im 5. Jahrhundert die mancipatio mit verpflichtender Nebenabrede getätigt werden konnte. Überdies sagt Gaius, daß der Vater durch die remancipatio den Sohn m a n c i p i o r e c e p i t , also nicht in die patria potestas; der dem Vater remanzipierte Sohn war bei ihm in mancipio65. Für unsere Zwecke maßgebend bleibt allemal das Ritual der emancipatio, und dieses Ritual sieht vor, daß der Hörige f r e i g e l a s s e n wird, daß ihn der Erwerber mit dem Stab in die Freiheit entläßt: is eum vindicta manumittit. Und es ist die
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Gai 1. 132. Siehe o. III. 2. 63 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte I (A. 53) 332 A. 115; Kaser, RP I 70: durch „Freilassung (oder Remanzipation)“; Pugliese 51 ff.; Karlowa (A. 52) 83, 242 vermutet, daß die Manzipation fiduciae causa geschah, „nämlich mit der Auflage, daß der Käufer den mancipatus nach Ablauf einer bestimmten Zeit freilasssen solle“; Kelly (A. 60) 183; H. F. Jolowicz/B. Nicholas, Historical Introduction to the Study of Roman Law (Cambridge 1972) 89 f. 64 Gai 1. 140. 65 Überhaupt ist in Gai 1. 140 nur von in mancipio esse, mancipio dare und mancipio recipere die Rede: Quin etiam invito quoque eo, cuius i n m a n c i p i o s u n t , censu libertatem consequi possunt, excepto eo, quem pater ea lege m a n c i p i o d e d i t , ut sibi remancipetur; nam quodam modo tunc pater potestatem propriam reservare sibi videtur eo ipso, quo m a n c i p i o r e c i p i t . Ac ne is quidem dicitur invito eo, cuius i n m a n c i p i o e s t , censu libertatem consequi, quem pater ex noxali causa m a n c i p i o d e d i t ; nam hunc actor pro pecunia habet. – Wie patria potestas und manus ist mancipium eine Variante der Hausgewalt (pater potestatem propriam reservare). S. oben I. 2 mit A. 11 sowie A. 49. Im übrigen konnte der Erwerber mit der remancipatio auch nur übertragen, was er selbst hatte. Anders versteht Gai 1. 140 Pugliese 53 ff. 62
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F r e i l a s s u n g , an die das Ritual die Rückkehr in den väterlichen Hausverband knüpft: eo facto revertitur in potestatem patris66. Eine rechtsgeschäftliche Gestaltung der Rückkehr in den angestammten Hausverband durch remancipatio ist damit unvereinbar. Der automatische Rückfall in die patria potestas, wie das Ritual ihn spiegelt, konnte nur auf gesetzlicher Anordnung beruhen. Und so weit wir sehen, trifft diese Anordnung unser Zwölftafelsatz67. 6. Wie für den Sklaven war auch für den Hörigen die Entlassung in die Freiheit nicht unbedingt eine Wohltat. Der Vater hatte ihn verkauft, um den vielleicht kinderreichen und vermutlich notleidenden bäuerlichen Hausstand zu entlasten, und der Käufer entließ ihn aus der Hörigkeit, weil er ihm keinen Gewinn mehr brachte. Was ihn in dieser geschenkten Freiheit, ganz und gar auf sich selbst gestellt, erwartete, war nicht abzusehen. Er konnte sein Glück machen, aber er konnte auch in Armut verelenden – ein Geschick, das in den sozialen Verhältnissen des mittleren und kleinen Besitzes allerdings näher lag. Die Rückkehr in den angestammten Hausverband, in die potestas, aber auch die Verantwortung und Obhut seines Vaters milderte dieses Risiko: sie schob es jedenfalls hinaus, konnte es ihm aber auch ersparen. Denn daß der pater familias ihn ein zweites und ein drittes Mal verkaufte und daß jeder Käufer ihn frei ließ, war nicht abzusehen und sogar eher unwahrscheinlich. Soziale Befriedung auch in der alltäglichen Lebenswelt ist bekanntlich ein Hauptmotiv der Zwöltafelgesetzgebung68. Ihr dienen etwa die Regelung der Hausgewalt, des Erbgangs und der Vormundschaft, der Ersitzung, des Nachbarrechts und der Grenzstreitigkeiten. Und wenn unsere Erklärung zutrifft, auch der Satz: Si pater filium ter venum duit, filius a patre liber esto.
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Gai 1. 132. Anders J. G. Wolf 523. Für Pugliese ist die „sopravivenza della patria potestas alla mancipatio del filius“ (50) das Hauptproblem. 68 Wieacker, Die XII Tafeln in ihrem Jahrhundert (A. 53) 330 ff.; Römische Rechtsgeschichte I (A. 53) 295 ff. 67
Die manumissio vindicta und der Freiheitsprozeß. Ein Rekonstruktionsversuch* Der römische Sklave erwarb Freiheit und Bürgerrecht, wenn er censu, vindicta oder testamento freigelassen wurde1. Diese Freilassungsformen waren förmliche Rechtsakte2 und alle von hohem Alter3. Die Zulassung der manumissio durch letztwillige Verfügung lag in der Entwicklung des Libraltestaments4: in Form und Wirkung entsprach sie den Legaten5 * Außer den üblichen und den im allgemeinen Abkürzungsverzeichnis genannten werden hier zusätzlich folgende Abkürzungen verwendet: Behrends = O. Behrends, Der Zwölftafelprozeß (Göttingen 1974) Franciosi = G. Franciosi, Il processo di libertà in diritto romano (Neapel 1961) Nicosia = G. Nicosia, Il processo privato romano, II. La regolamentazione decemvirale 2 (Torino 1986) Pugliese = G. Pugliese, IL processo civile romano, I. Le legis actiones (Rom 1961–62) Selb = W. Selb, Vom geschichtlichen Wandel der Aufgabe des iudex in der legis actio, in: D. Nörr u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Kunkel (Frankfurt a. M. 1984) Wlassak (1904), (1907) = M. Wlassak, Der Gerichtsmagistrat im gesetzlichen Spruchverfahren, in: SZ RA 25 (1904) und 28 (1907) J. G. Wolf, legis actio = J. G. Wolf, Zur legis actio sacramento in rem, in: O. Behrends u. a. (Hrsg.), Röm. Recht in der europäischen Tradition (Ebelsbach 1985) Dr. Karen Bauer, seinerzeit Assistentin am Freiburger rechtsgeschichtlichen Institut, schulde ich wieder für vielfache fördernde Ansprache großen Dank. 1 Cicero topica 2.10; Gaius 1.17; Ulpian 1.6; fr. Dosith. 5. Kaser, RP I, S. 115 ff., S. 293 ff. 2 Zu den sog. prätorischen Freilassungen s. etwa Kaser, RP I, S. 295 f. Sie kamen in der späteren Republik auf; ihr Kriterium war der Freilassungswille des dominus; inter amicos oder per epistulam erklärt, stand er für den Prätor außer Zweifel. 3 Umstritten ist allerdings, ob der Sklave, der iusta ac legitima manumissione (Gaius 1.17), nämlich censu, vindicta oder testamento freigelassen wurde, mit der Freiheit immer auch schon das Bürgerrecht erlangte. Vor allem wird in Zweifel gezogen, daß er in der Frühzeit ohne Beteiligung der Gesamtgemeinde Bürger werden konnte. Viele glauben darum, daß von Hause aus nur die manumissio censu auch das Bürgerrecht verschaffte; manche, daß die manumissio censu gerade wegen dieser Wirkung eingeführt worden (und folglich auch die jüngste Freilassungsform gewesen) sei. Zu diesen Fragen s. etwa Daube, JRS 36 (1946), S. 60 ff., 72 ff.; Lemosse, RIDA 3 (1949), S. 52 ff.; De Martino, Labeo 20 (1974), S. 183 ff.; Kaser, RP I, S. 117 f. m. weit. Lit., Nachträge II, S. 573. 4 Zur manumissio testamento s. etwa Kaser, RP I, S. 107 f., 109 f.; Kunkel/MayerMaly, Röm. Recht4 (1987), S. 448 ff. 5 In der unmittelbaren Wirkung (Gaius 2.200; Ulpian 2.1 ff., 8) dem Vindikationslegat (Gaius 2.194); dem Damnationslegat (Gaius 2.201) in der imperativen Form ,Stichus servus meus liber esto‘ (Gaius 2.267).
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und teilte deren Entstehungsgeschichte. Sie war in den XII Tafeln vorgesehen6. Die manumissio censu war vermutlich schon vor den XII Tafeln in Übung7, die manumissio vindicta war es gewiß8. Die Frühgeschichte der Freilassung ist also die Geschichte der manumissio censu und der manumissio vindicta9. Beide sind jedoch schlecht bezeugt. Ihre Gestalt und Wirkungsweise ist darum im einzelnen ungeklärt10. Die manumissio vindicta ist ein nachgeformtes Rechtsgeschäft; ihre Vorlage war der Freiheitsprozeß. Der Freiheitsprozeß wiederum war eine besondere Form des Eigentumsprozesses, der legis actio sacramento in rem. Das Verständnis der manumissio vindicta hängt folglich über den Freiheitsprozeß vom Verständnis der dinglichen Sakramentsklage ab. Nachdem ich in unserem Sammelband von 1985 eine neue Erklärung der Sakramentsklage vorgeschlagen habe11, möchte ich
6 Ulpian 1.9, 2.4 (= XII T. 7.12); Gaius 2.224; Pomponius D 40.7.29.1 und 50.16.120; Modestin D. 40.7.25. Die Nachricht wird gelegentlich auf das Komitialtestament bezogen: von Daube, JRS 36 (1946), S. 59, 61, 73, offenbar darum, weil das Libraltestament nicht der öffentlichen Kontrolle unterlag; ebenso Susan Treggiari, Roman Freedman during the Late Republic (Oxford 1969), S. 20, 28. 7 Die manumissio vindicta ist dem Freiheitsprozeß nachgebildet (siehe u. nach Anm. 83), der wiederum ohne eine Möglichkeit der Freilassung kaum denkbar ist. Denn in den Fällen, daß ein Neugeborenes geraubt oder unterschoben worden ist (vgl. Kaser, SZ RA 79 [1962], S. 392), wird in aller Regel die legis actio sacramento in rem zuständig gewesen sein (vgl. unten Anm. 43); für die Einführung des Freiheitsprozesses waren diese Fälle kaum ein hinreichender Anlaß. Älter als die manumissio vindicta kann aber nur die manumissio censu sein. Dion.Hal.ant. 4.22.4 schreibt sie Servius Tullius zu. Anderer Ansicht etwa Daube, JRS 36 (1946), S. 74 f.; Kaser, RP I, S. 117. 8 XII T. 4.2: Si pater filium ter venum duit, filius a patre liber esto setzt sie voraus. Vor dem 2. und 3. Verkauf mußte der filius in die patria potestas ,zurückgekehrt‘ sein. Wie das Ritual der emancipatio (Gaius 1.132) belegt, wurde er vom Erwerber an den pater familias aber nicht wieder manzipiert (eine mancipatio an den pater kam offenbar erst in Betracht, nachdem der filius aus der patria potestas endgültig ausgeschieden war); vielmehr wurde er vom Erwerber vindicta freigelassen und kehrte eo facto in die patria potestas zurück. Nach Livius 2.5.9/10 ist 509 v. Chr. der erste Sklave vindicta freigelassen worden (vgl. Plutarch Poplicola 7.5 und Dionys v. Halikarnaß ant. 5.13.1). Zum Alter der manumissio vindicta s. etwa Wlassak (1907), S. 39; Last, JRS 35 (1945), S. 48; Daube, JRS 36 (1946), S. 72 ff.; Ogilvie, A Commentary on Livy Books 1–5 (1965), S. 241 f.; Treggiari (o. Anm. 6), S. 26; Kaser RP I, S. 116. 9 De Martino, Labeo 20 (1974), S. 163 ff., verlegt sie in das 4. Jh. v. Chr. Die Gründe der Unfreiheit seien (auch) in Rom anfänglich nicht Kriegsgefangenschaft, wie allgemein angenommen werde, sondern Verschuldung und Straftat gewesen, diese Fälle der Versklavung aber äußerst selten. Erst infolge der Hegemonialkriege des 4. Jhs. habe sich in Rom diese „concezione della schiavitù“ geändert; erst jetzt habe die Sklaverei den Stand erreicht, den die Rechtsstellung des Sklaven (einschließlich der komplizierten Freilassungsformen) voraussetze, die von der Überlieferung schon dem 5. Jh. zugeschrieben wird. Die Glaubwürdigkeit dieser Überlieferung ist mit den Argumenten De Martins aber nicht zu erschüttern. 10 Zur manumissio censu grundlegend H. Degenkolb, Die Befreiung durch Census, in: Festgabe Jhering (Tübingen 1892, Neudr. Aalen 1979), S. 123 ff. Neuere Literatur bei Kaser, RP I, S. 117 Anm. 17 und II, S. 573.
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darum hier eine neue Erklärung der manumissio vindicta und des Freiheitsprozesses zur Diskussion stellen12.
Das Ritual der manumissimo vindicta 1. Bei Gaius ist die manumissio vindicta noch geltendes Recht13. Offenbar hat sie auch ihre ursprüngliche Gestalt bis ins 2. Jh. n. Chr. bewahrt14. Über ihr Ritual sind wir gleichwohl nur unvollkommen unterrichtet. Gaius selbst läßt uns völlig im Stich15, und auch kein anderer Schriftsteller schildert uns, wie die Freilassung erfolgte. Das meiste erfahren wir noch bei Boethius, der in seinem Kommentar zu Ciceros Topica einen Ausschnitt des Rituals beschreibt16: Vindicta vero est virgula quaedam, quam lictor manumittendi servi capiti imponens eundem servum in libertatem vindicabat, dicens quaedam verba sollemnia, atque ideo illa virgula vindicta vocabatur.
Nehmen wir hinzu, was die antiken Autoren, von Plautus bis Theophilus17, bei Gelegenheit erwähnen, so ergibt sich folgendes stabile Bild.
11 J. G. Wolf, legis actio. Mit Ergänzungen weithin zustimmend Kaser, SZ RA 104 (1987), S. 53 ff. (= Estudios de derecho romano en honor de Alvaro d’Ors II [Pamplona 1987], S. 671 ff.); abweichend hält Kaser, S. 69 ff. (S. 689 ff.) daran fest, daß der Prätendentenstreit kontradiktorisch war und immer zugunsten einer der beiden Streitparteien ausgehen mußte. Zustimmend auch Willvonseder, SZ RA 104 (1987), S. 819 f. In wichtigen Punkten übereinstimmend oder ähnlich Selb, insb. S. 406 ff.; Kunkel/Selb, Röm. Recht4 (1987), S. 515. Weithin ablehnend soeben Zlinszky, SZ RA 106 (1989), S. 106 ff., und Hackl, SZ RA 106 (1989), S. 152 ff. Zu Hackl s. unten Anm. 77, 78, 103 und nach Anm. 105. 12 Zur manumissio vindicta grundlegend Wlassak (1907), S. 1 ff., 37 ff., 66 ff.; weit. Lit. bei Kaser, RP I, S. 116 Anm. 9. 13 Gaius 1.17 ff., 38 ff., 126, 138. 14 Trotz gewisser Auflösungserscheinungen: zur Freilassung apud se siehe unten Anm. 25, zur Freilassung außerhalb der Gerichtsstätte Anm. 18. Die Mitwirkung eines lictor (s. unten Anm. 21) darf nicht hierzu gezählt werden. – Nicht die manumissio vindicta, auch nicht in gewandelter Form, steht in Rede, sondern eine sog. prätorische Freilassung, wobei der Dominus dem Sklaven die vindicta auflegt (a. A. Wlassak [1907], S. 3 ff.; Kaser, RP I, S. 294) oder selbst den Sklaven ,freispricht‘ (Wlassak, S. 6 ff.; a. A. Kaser, S. 294). 15 Die Beschriftung der Seite 5 des Codex Veronensis ist (nach allen bisherigen Versuchen) nicht mehr lesbar. Der verlorene Text (nach 1.21) könnte die Beschreibung des Rituals der manumissio vindicta enthalten haben. Die Exposition in 1.17 und die Rückverweisung in 1.126 legen diese Vermutung nahe; vgl. Seckel/Kuebler, Gai inst. comm. Quattuor8 (1939), S. 6 Anm. 3; siehe jedoch auch die Bedenken bei Krueger/Studemund, Gai institutiones7 (1923), S. 6 Anm. zu Zeile 28. 16 Boethius, in Ciceronis topica 2.10 (Orellius V 1 288). 17 Plautus, Curculio 212; Varro, de lingua latina 6.30; Cicero, ad Atticum 7.2.8, ad Quintum fratrem 3.1.9; Horaz, sermones 2.7.75; Livius 41.9.11; Ovid, ars amatoria 3.615; Persius 5.88; Macrob, Saturnalia 1.16.28; Boethius, in Cic. top. 2.10 (Orellius V 1 288 f.); Theophilus Inst. 1.5.4; Julian D 40.2.5; Gaius Inst. 1.20; D 40.2.7; Paulus
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Ort der Handlung ist die Gerichtsstätte18. Beteiligt sind außer dem Sklaven, der freigelassen wird, der Prätor, der Herr der Sklaven und eine Hilfsperson, die wir Vindikant nennen19. Ihre Rolle konnte jeder Bürger übernehmen20; seit der Kaiserzeit wurde sie häufig von einem lictor des amtierenden Magistrats wahrgenommen21. Nur der Prätor und der Vindikantagieren. Der Vindikant berührt den Sklaven mit einem Stab, der vindicta22, und spricht, während er dem Sklaven den Stab auflegt, eine Spruchformel23. Die antiken Autoren nennen diesen Vorgang vindicare24. Der Herr des Sklaven steht schweigend und untätig dabei25. Schließlich addiziert der Prätor den Sklaven als Freien26. Damit ist das Ritual beendet.
D 40.2.15.2, 40.2.17, 40.2.22; Hermogenian D 40.2.23; Ulpian Epit. 1.7; Lex munic. Salpensana c. 28 (Bruns. Fontes 7 146). 18 ,Apud praetorem (magistratum, Ilvirum)‘: Ulpian 1.7; Paulus D 40.2.22; Livius 41.9.11; Lex Salpensana 2.19 ff. – In der Kaiserzeit war die Bindung an die Gerichtsstätte (längst?) aufgegeben, konnte die manumissio vindicta an beliebigem Orte vollzogen werden: Gaius D 40.2.7: Non est omnino necesse pro tribunali manumittere. Plinius, epist. 7.16, fragt bei dem Großvater seiner Frau, Calpurnius Fabatus, an, ob der Prokonsul Calestrius Tiro auf dem Wege nach Spanien, in seine Provinz Baetica, einen Abstecher nach Como machen soll, damit Fabatus einige Sklaven, die er schon inter amicos freigelassen hat, vindicta freilassen kann (vgl. dazu Marcian D 1.16.2 pr.; Gaius 1.35). Gaius 1.20 u. D 40.2.7: in transitu; Ulpian D 40.2.8: in villa. Zu apud consilium manumittere siehe Wlassak (1907), S. 46 ff. 19 Siehe u. bei Anm. 24. Adsertor (in libertatem), wie sie gewöhnlich genannt wird, ist der Freiheitsprätendent im Freiheitsprozeß (siehe u. bei Anm. 53) und für die Hilfsperson der manumissio vindicta n i c h t belegt. Die manumissio vindicta ist zwar dem Freiheitsprozeß nachgebildet und die Rolle der Hilfsperson bei der manumissio entspricht der des adsertor im Prozeß, die Terminologie unterscheidet jedoch eindeutig und strikt. Zu Festus 340 M. siehe u. Anm. 52. 20 Allerdings auch nur ein römischer Bürger. Da die manumissio vindicta, wie die in iure cessio, ein Derivat der legis actio sacramento in rem war (dazu ausführlich im Fortgang der Untersuchung), mußte auch der Vindikant der legis actio fähig, also römischer Bürger sein. 21 Persius 5.175 (frühester Beleg); Hermogenian D 40.2.23; Boethius (bei Anm. 16). Die Mitwirkung eines lictor als Vindikant bedeutete natürlich keine Änderung des Rituals; vgl. Wlassak (1907), S. 20. – Der lictor hatte eine vindicta immer zur Hand: wenn er den Magistrat begleitete, trug er auf der linken Schulter die fasces und in der rechten Hand einen Stab, die virga; siehe etwa die Abb. in dem Ausstellungskatalog ,Kaiser Augustus und die verlorene Republik‘ (1988), Kat. 236, 237, 239, 240. 22 Boethius (bei Anm. 16); Horaz, sermones 2.7.75 f. – Der Gebrauch der vindicta ist schon bei Plautus das Kennzeichen dieser Freilassung: Miles gloriosus 960: quid ea? ingenuan an festuca facta e serva liberast? Curculio 212: vindictam para (fordert die Sklavin ihren Geliebten auf; er soll sie vom Kuppler freikaufen). Bei Späteren ist sogar sie es, die befreit: Horaz aaO.; Ovid, ars amatoria 3.615; Persius 5.88. 23 Boethius (bei Anm. 16); Hermogenian D. 40.2.23. 24 Cic. Att. 7.2.8 (Anm. 26); Livius 41.9.11; Boethius (bei Anm. 16). Der Terminus vindicare stammt aus dem Ritual der legis actio sacramento in rem. Er wird dort synonym mit vindictam inponere gebraucht (Gaius 4.16). Anders Gaius (vgl. J. G. Wolf, legis actio, S. 2, Anm. 2, S. 15, 21). In seiner Darstellung des Rituals der legis actio sacramentum in rem gebraucht er vindicare für den ganzen Part, den jede Partei im Vorspiel der Streitbegründung vollzieht, nämlich für die Eigentumsbehauptung (mit ihrem
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2. Dieses Bild der manumissio vindicta können wir anhand der in iure cessio27ergänzen, denn in ihrer Struktur entspricht die manumissio vindicta der in iure cessio28. Das Ritual der in iure cessio wird von Gaius genau beschrieben29: In iure cessio autem hoc modo fit: apud magistratum populi Romani, veluti praetorem, is cui res in iure ceditur rem tenens ita dicit HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO; deinde postquam hic vindicaverit, praetor interrogat eum qui cedit, an contra vindicet; quo negante aut tacente tunc ei qui vindicaverit, eam rem addicit; idque legis actio vocatur.
Handgestus) u n d die Stabauflegung (mit der sie begleitenden Erklärung). Bei der in iure cessio gibt es keine Stabauflegung; gleichwohl wird der Terminus auch hier verwendet: hier ist vindicare die bloße Eigentumsbehauptung (Gaius 2.24). Für diesen unterschiedlichen Gebrauch von vindicare bietet sich folgende Erklärung an: Bei der legis actio sacramento in rem sah die Jurisprudenz den Part, den jede Partei im Vorspiel der Streitbegründung vollzog und der aus Eigentumsbehauptung und Stabauflegung bestand, als eine Einheit. Sie bezeichnete den gesamten Vorgang nach der Stabauflegung, weil es für die Stabauflegung (und nur für sie) im Ritual selbst ein Wort gab: vindicare. Die in iure cessio ist der legis actio sacramento in rem nachgebildet. In ihrem Ritual ist aber die Stabauflegung weggefallen und nur die Eigentumsbehauptung geblieben (dazu u. nach Anm. 120). Gleichwohl hielt die Jurisprudenz an dem für das Prozeßritual geprägten Ausdruck fest, so daß vindicare hier die allein übrig gebliebene Eigentumsbehauptung meint. Bei der manumissio vindictawird vindicare wie bei der Sakramentsklage gebraucht: keineswegs nur für die eigentliche vindicatio , das vindictam inponere, sondern für den ganzen Part, den der Vindikant zu vollziehen hat, für die Freiheitsbehauptung u n d die Stabauflegung. 25 Hermogenian D 40.2.23. – Darum wurde es möglich, daß der Magistrat einen eigenen Sklaven apud se freiließ – was offenbar schon Cicero tat: Att. 7.2.8 (Anm. 26), jedenfalls aber Javolen: Iulian D 40.2.5; s. auch Ulpian D 1.10.1.2 (= 40.2.20.4); vgl. Wlassak (1907), S. 41 ff., 44 ff., 51 ff. 26 26 Cic. Att. 7.2.8: Illud tamen de Chrysippo. . . . Mitto alia, quae audio multa, mitto furta; fugam non fero, qua mini nihil visum est sceleratius. Itaque usurpavi vetus illud Drusi, ut ferunt, praetoris ,in eo, qui eadem liber non iuraret‘, m e i s t o s l i b e r o s n o n a d d i x i s s e , praesertim cum adesset nemo, a quo recte vindicarentur. Dazu Wlassak (1907), S. 54 ff. 113. – Varro 1.1.6.30: per quos dies nefas fari praetorem ,do dito a d d i c o ‘; itaque non potest agi: necesse est aliquo uti verbo, cum lege quid peragitur, quod si tum imprudens i d v e r b u m emisit ac quem manumisit, ille nihilo minus est liber. Siehe auch Macr. Sat. 1.16.28: et quod Trebatius in libro primo Religionum ait nundinis magistratum posse manu mittere iudiciaque addicere. – Die addictio, mit der das Geschäft endet und der Sklave die Freiheit erlangt, macht verständlich, daß gelegentlich vom Magistrat als demjenigen gesprochen wird, der freiläßt: Varro aaO.; Macr. aaO.; Celsus D 1.18.17; Ulpian D 1.10.1.1. Vgl. Wlassak (1907), S. 103. 27 Zur in iure cessio Wlassak (1904), S. 102 ff.; Pflüger, SZ RA 63 (1943), S. 301 ff.; Kaser, RP I, S. 48 m. Lit.; Hackl, SZ RA 106 (1989), S. 171 ff. m. weit. Lit. 28 Viele sehen darum in der manumissio vindicta eine „Erscheinungsform“ oder eine „Sonderform“ oder einen „Anwendungsfall“ der in iure cessio: Unterholzner, ZGRW 2 (1816), S. 142 f.; Wlassak (1907), S 37 ff.; Rabel, Grundzüge (19151, 19552), § 17; Sohm, Institutionen 15 (1917), S. 195; Girard, Manuell (1924), S. 125; Arangio-Ruiz, Istituzioni 10 (1949), S. 484; Kaser, RP I, S. 116, RZ, S. 70 Anm. 24; Hackl, SZ RA 106 (1989), S. 177 Anm. 107. 29 Gaius 2.24 (Krüger/Studemund).
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Die Übereinstimmung in der Grundstruktur ist evident: Beide Geschäfte, die manumissio wie die in iure cessio, werden apud magistratum vorgenommen; die Sache, die übereignet wird, ist präsent, und ebenso der Sklave, der freigelassen wird; die Geschäftspartei, die ihr Recht aufgibt, hier der Veräußerer, dort der Freilassende, bleibt untätig, nur die andere Partei, hier der Erwerber, dort die Hilfsperson, agiert; und beide Rituale enden mit der addictio des Magistrats. Diese Übereinstimmung gestattet, unsere Rekonstruktion der manumissio in zwei Punkten zu ergänzen. Bei der ersten Ergänzung geht es um die Spruchformel des Vindikanten. Bei der in iure cessio addiziert der Prätor den Sklaven dem Erwerber, der erklärt hat, der Sklave gehöre ihm. Mit seiner addictio folgt also der Prätor der Rechtsbehauptung des Erwerbers HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO. Bei der manumissio kann es nicht anders gewesen sein. Hier muß die addictio des Prätors einer Rechtsbehauptung des Vindikanten entsprochen haben. Wir wissen, daß der Prätor den Sklaven ,als Freien‘ addizierte; denn Cicero verwendet für diesen Akt des Prätors den Ausdruck servum liberum addicere30. Danach müssen wir annehmen, daß die Rechtsbehauptung des Vindikanten lautete: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM LIBERUM ESSE AIO31. Bei der zweiten Ergänzung geht es um die Zwischenfrage des Magistrats. Im Ritual der in iure cessio folgt auf die Rechtsbehauptung des Erwerbers die Frage des Prätors an den Veräußerer, an contra vindicet32. Der Veräußerer schweigt auf dieser Frage und bekundet damit förmlich, daß er nicht behauptet, Eigentümer des Sklaven zu sein. Im Ritual der manumissio muß der Magistrat eine entspre30
Att. 7.2.8 (Anm. 26). – In seiner Beschreibung des Rituals der in iure cessio sagt Gaius (2.24), daß der Magistrat ei qui vindicaverit eam rem addicit, d. h. daß er dem Erwerber ,diese Sache zuspricht‘; ea res ist ,die Sache‘, auf die der Erwerber seine Hand gelegt und von der er behauptet hat, sie gehöre ihm. Diese Bedeutung von addicere paßt nicht für die Freilassung. Der Sklave wird dem Vindikanten nicht ,zugesprochen‘, er wird überhaupt nicht ,zugesprochen‘. Was addicere in dem Ausdruck servum liberum addicere bedeutet, sagt uns die bei Paul Fest. 13 M erhaltene Definition: Addicere est proprie idem dicere et adprobare dicendo; alias addicere damnare est. Der Magistrat, der den Sklaven ,als Freien‘ (Wlassak [1907], S. 113) addiziert, stimmt der Rechtsbehauptung des Vindikanten zu (Wlassak, RE 1 [1893], S. 349 f.); er sagt ,dasselbe‘, was der Vindikant gesagt hat: daß diese Person frei ist. Es liegt auf der Hand, daß der Magistrat bei der in iure cessio nicht anders verfuhr; daß er hier ,dasselbe‘ sagte, was der Erwerber gesagt hatte: daß diese Sache ihm gehört. Da diese addictio die Wirkung eines ,Zusprechens‘ der Sache selbst hatte, nahm addicere hier diese Bedeutung an; vgl. Wlassak (1904), S. 90 ff.; Nicosia, S. 108 ff. Zu litem addicere s. unten Anm. 78 u. nach Anm. 112. 31 So schon viele andere, vgl. etwa Unterholzner, ZGRW 2 (1816), S. 148; Wlassak (1907), S. 64, 71 ff.; Kaser, RP I, S. 116. Wir werden sehen (u. bei Anm. 95), daß sich die verba solemnia des Vindikanten in dieser Freiheitsbehauptung vermutlich nicht erschöpften. 32 Zum Gebrauch von vindicare s. oben Anm. 24.
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chende Frage an den Freilassenden gestellt haben: er muß ihn gefragt haben, ob er behaupte, Eigentümer des Sklaven zu sein33. Mit seinem Schweigen auf diese Frage bekundete dann der Freilassende förmlich, daß er das Eigentum an dem Sklaven nicht in Anspruch nehme. Nach diesen Ergänzungen stellt sich die manumissio folgendermaßen dar: Vor dem Prätor und in Anwesenheit des Eigentümers legt der Vindikant dem Sklaven die vindicta auf; zugleich spricht er die Spruchformel HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM LIBERUM ESSE AIO. Daraufhin fragt der Prätor den Eigentümer, ob er das Eigentum an dem Sklaven in Anspruch nehme. Der Eigentümer schweigt und der Prätor addiziert den Sklaven ,als Freien‘. 3. Diese Rekonstruktion der manumissio vindicta ist in einem Punkt nicht plausibel. Der Vindikant soll dem Sklaven die vindicta aufgelegt haben, während er die Freiheitsbehauptung sprach. Die Gleichzeitigkeit ordnet den Gestus der Erklärung zu. Eine solche Zuordnung sehen wir etwa bei der Eigentumsbehauptung in den Ritualen der mancipatio, der legis actio sacramento in rem und der in iure cessio. Sie wird in jedem Fall von einem Handgestus begleitet: der Erklärende legt dem Sklaven, während er die Eigentumsbehauptung spricht, die Hand auf 34. Diese Handanlegung hatte real-praktische und vielleicht, darüberhinaus, auch symbolische Bedeutung. Die Hand des Erklärenden machte augenfällig, daß es dieser Sklave war, von dem er behauptete, daß er ihm gehöre. Vielleicht sollte sie aber auch die Behauptung selbst zur sinnlichen Anschauung bringen; indem der Erklärende den Sklaven anfaßte, sollte er auch mit der Hand bekunden, daß dieser Sklave ihm gehörte35. 33
Wlassak (1907), S. 18. Gaius 1.119; 4.16; 2.24 (o. bei Anm. 29). Zum folgenden I. G. Wolf, legis actio, S. 6 ff. 35 Der symbolischen Bedeutung des Handgestus bin ich mir nicht mehr so sicher wie noch in legis actio, S. 10 ff. Ich schloß dort aus der individuellen Benennung der Geste mit manum conserere und dem Sonderverfahren bei Grundstücken mit seinem ex iure manum consertum vocare, daß die Handanlegung nicht bloß deiktische Funktion haben könne, sondern auch substantielle Bedeutung haben müsse (die sich dann aus der Eigentumsbehauptung ergibt, der sie attachiert ist). Dieses Argument wird durch denselben Handgestus des adsertor im Freiheitsprozeß (siehe u. nach Anm. 52) abgeschwächt. Während der adsertor die Freiheitsbehauptung spricht, legt auch er dem umstrittenen Sklaven die Hand auf. Diese Handanlegung kann nur deiktische Funktion haben. Mit manum adserere wird aber auch sie individuell bezeichnet. Der Freiheitsprozeß ist eine Spielart der legis actio sacramento in rem, die Handanlegung des adsertor eine Kopie der Handanlegung des Eigentumsprätendenten. Die Handanlegung des adsertor muß gleichwohl nicht dieselbe Bedeutung haben wie die des Eigentumsprätendenten; die Bedeutung des Gestus könnte sich je nach seiner Verwendung, je nach seinem Kontext bestimmen. Im Freiheitsprozeß hätte dann allerdings die Hand des adsertor andere Bedeutung als die seines Gegners, die Eigentumsprätendenten. Es ist also zu erwägen, daß auch die der Eigentumsbehauptung attachierte Handanlegung nur real-praktische Bedeutung hatte (oder daß sie ihre symbolische Bedeutung mit der Verwendung der Handanlegung in anderen Kontexten verloren hat). 34
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Die manumissio vindicta und der Freiheitsprozeß
Freiheitsbehauptung und Stabauflegung im Ritual der manumissio vindicta sind dagegen ohne innere Verbindung. An ihrem Ursprungsort, im Ritual der legis actio sacramento in rem, hat die Stabauflegung die Bedeutung einer nur dem Eigentümer des umstrittenen Sklaven erlaubten Handlung; vermutlich stellt sie eine Züchtigung oder Verletzung des Sklaven dar36. Eine Züchtigung des Sklaven hat aber mit der Behauptung, daß er frei sei, nichts zu tun. Somit bleibt die Frage, welche Bedeutung die vindicta im Freilassungsritual überhaupt hatte und ob die vindicatio wirklich (wie die Überlieferung will) von der Freiheitsbehauptung begleitet wurde. Die vindicta stammt aus dem Ritual der legis actio sacramento in rem und ist von dort über den Freiheitsprozeß in das Ritual der manumissio gelangt. Antwort auf unsere Fragen kann darum nur die Untersuchung des Freiheitsprozesses bringen, die jetzt ansteht.
Der Freiheitsprozeß In iure cessio und manumissio vindicta haben die Gestalt eines Prozesses. Aber sie sind natürlich keine Prozesse; sie sind Rechtsgeschäfte, die Prozesses nachgebildet sind: die in iure cessio dem Eigentumsprozeß der legis actio sacramento in rem37, die manumissio vindicta dem Freiheitsprozeß38. I. Die jüngere Form des Freiheitsprozesses 1. (a) Die Überlieferung ist für den Freiheitsprozeß nicht besser als für die Freilassung39. Aus Gaius wissen wir, daß der Freiheitsprozeß der Legisaktionen ein Sakramentsprozeß war. Er berichtet nämlich, daß die XII Tafeln für den Streit über die Freiheit eines Menschen die Sakramentssumme auf 50 As bestimmt haben40. Den verworrenen Berichten über den Virginia-Fall41 ist zu entnehmen, daß die XII Tafeln42 für den Freiheitsprozeß außerdem bestimmten, daß die vindiciae im36
J. G. Wolf, legis actio, S. 21 ff., 27 f., 37. Siehe etwa Kaser, RP I, S. 48, oder jetzt Hackl, SZ RA 106 (1989), S. 171 ff., beide m. Lit. Die Abhängigkeit ist evident, nicht dagegen das Konzept der Nachbildung. Näheres u. nach Anm. 92. 38 Siehe etwa Kaser, RP I, S. 116, oder Kunkel/Honsell, Röm. Recht4 (1987), S. 70 f., beide m. Lit. Näheres u. nach Anm. 92. 39 Zum Freiheitsprozeß des Legisaktionenverfahren Pugliese, S. 293 ff.; Kaser, RP I, S. 114 f., RZ, S. 75, jeweils m. Lit. Wie De Martino die Freilassungsformen (s. oben Anm. 9), so versucht, mit denselben Argumenten, Franciosi, S. 1 ff., die Einführung des Freiheitsprozesses in die 2. H. des 4. Jhs. v. Chr. zu verlegen. 40 Gaius 4.14 (XII T. 2.1). Für Gaius ist das sacramentum eine Buße für ungerechtfertigtes Prozessieren (4.13). Er erklärt den Ansatz von 50 As beim Freiheitsprozeß aus dem favor libertatis (4.16). Dazu Pugliese, S. 294 und, m. weit. Lit., Franciosi, S. 78 ff. 41 Livius 3.44–48; Dionys v. Halikarnaß 11.28 ff.; Pomponius D 1.2.2.24. Die Berichte vergleicht Ogilvie (o. Anm. 8), S. 476. Eine gründliche juristische Analyse des 37
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mer secundum libertatem erteilt werden43. Vindiciae kennen wir nur noch im Eigentumsprozeß der legis actio sacramento in rem. Vindicia ist dort der körperliche Streitgegenstand, die Person oder Sache, die vindiziert wird44. Für die Dauer des Prozesses wies der Magistrat den Streitgegenstand nach seinem Ermessen einem der beiden Eigentumsprätendenten zu45. Im Freiheitsprozeß hatte der Magistrat dagegen kein Ermessen: er mußte die umstrittene Person für die Dauer des Verfahrens immer für frei erklären46. Mit dieser Bestimmung trafen die XII Tafeln offensichtlich eine Sonderregelung. Das zeigt uns, daß der Freiheitsprozeß mit dem Eigentumsprozeß der legis actio sacramento in rem eng verwandt war. Darum haben wir uns für den Freiheitsprozeß folgendes Grundschema vorzustellen: Die Person, um deren Freiheit gestritten wurde, war am Prozeß nicht handelnd beteiligt, sondern der Gegenstand des Streits. Als Prozeßparteien standen sich ebenso wie im Eigentumsprozeß zwei Prätendenten gegenüber. Während aber im Eigentumsprozeß beide Prätendenten das Eigentum an der Streitsache für sich in Anspruch nahmen, behauptete im Freiheitsprozeß der eine Prätendent, daß die umstrittene Person ihm gehöre, und der andere Prätendent, daß die umstrittene Person frei sei. (b) Über das Ritual, das von den Prätendenten vollzogen werden mußte, erfahren wir aus den Quellen zweierlei. Zum einen bezeugen sie einen Handgestus des Freiheitsprätendenten. In Plautus’ Curculio sagt Lyco zu Capadox, dem Kuppler, der ihm eine Sklavin verkauft hat: memento promississe te, si quisquam h a n c l i b e r a l i c a u s s a m a n u Livius-Berichts bei Franciosi, S. 198 ff. und Labeo 7 (1961), S. 20 ff.; dazu Kaser, SZ RA (1962), S. 392 f. 42 XII T. 6.6. Nach Pomponius D 1.2.2.24 stammt die Bestimmung ex vetere iure. 43 Livius 3.44.11/12: Advocati puellae . . . postulant ut . . . lege ab ipso lata vindicias det (sc. Appius Claudius) secundum libertatem. Der juristische Kern der Virginia-Geschichte ist die Anwendung der vindiciae secundum libertatem-Vorschrift in einem Prozeß, der kein Freiheitsprozeß ist, sondern ein regelrechtes Sakramentsverfahren in rem; in dem nicht der eine Prätendent meum esse und der andere liberum esse behauptet (u. nach Anm. 64), sondern beide meum esse: in dem aber der eine mit meum esse die patria potestas, der andere dagegen das Eigentum beansprucht. Zutreffend Franciosi (Anm. 39), S. 205 ff. Auch wenn das Recht zwischen Sklaven und Hauskindern frühzeitig unterschied (Kaser, SZ RA 79 [1962], S. 392), dem Begriffe nach sind sie noch bei Gaius (1.52, 55) in ein und derselben potestas. Sklaven und Hauskinder wurden isdem verbis manzipiert (Gaius 1, 120, 123), und dem entsprach es, wenn sie auch isdem verbis vindiziert wurden. Die Virginia-Geschichte dichtet dem Claudier eine Rechtsanwendung als Machtmißbrauch an, die ursprünglich sicher die gebotene war. Wie die manumissio vindicta beweist, war der (ältere) Freiheitsprozeß der Legisaktionen nur für die Frage zuständig, ob eine Person Sklave oder frei, und zwar frei in jeder Hinsicht, also frei und eigenen Rechts war. Die Terminologie der Virginia-Geschichte ist pseudotechnisch, vgl. unten Anm. 49. 44 Festus 376 M. 45 Gaius 4.16. Kaser, RZ, S. 73 f.; Pugliese, S. 295 ff. 46 Kaser, RZ, S. 74; Franciosi, S. 197 ff.
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a d s e r e t , mihiomne argentum redditum eiri.47 An anderen Stellen gebraucht Plautus manu adserere, ohne liberali causa oder eine andere nähere Bestimmung hinzuzufügen48. Der Ausdruck manu adserere ist bei ihm ein selbständiger Begriff mit der Bedeutung ,vor Gericht die Freiheit behaupten‘49. Manu adserere hat sich aus manum adserere entwickelt50, das nur in den Erläuterungen der Antiquare überlebte. Bei Paulus Diaconus finden wir die Gleichung: Adserere manum, est admovere51, und Festus hat aus Verrius Flaccus die Erklärung übernommen: Sertorem quidam putant dictum a prendendo, quia cum cuipiam adserat manum, educendi eius gratia ex servitute in libertatem, vocetur adsertor52. Wir sehen jetzt, was der Freiheitsprätendent tat: er legte eine Hand auf die Person, deren Freiheit er behauptete. Das manum adserere war ein Bestandteil des Rituals, das er vollziehen mußte. Nach diesem Bestandteil wurde er adsertor genannt53 und das ganze Verfahren manum, später manu adserere54. 47 Curculio (4.2), S. 490 f.; ganz entsprechend (5.2), S. 667 ff.: quia illic ita repromisit mihi; si quisquam hanc l i b e r a l i a d s e r u i s s e t m a n u , sine controversia omne argentum reddere. – Terenz Adelphi (2.1), S. 193 f.: neque vendundam censeo, quae liberast; nam ego l i b e r a l i illam a d s e r o c a u s a m a n u . 48 Persa (1.3), S. 162 f. sagt der Sklave Toxilus zu dem Schmarotzer Saturio: nam ubi ego argentum accepero, continuo tu illam a leone a d s e r i t o m a n u . Er will die Tochter des Saturio an einen Kuppler verkaufen, und Saturio soll sie dann sofort von diesem ,in die Freiheit fordern‘. (4.7), S. 714 f. fragt sich der Kuppler Dordalus, nachdem er eine furtiva gekauft hat und der Verkäufer mit dem Geld davon ist: qui ego nunc scio an iam a d s e r a t u r haec m a n u ? quo illum sequar? – Rudens (4.3), S. 972 f.: quos (sc. pisces) quom capio, si quidem cepi, mei sunt; habeo pro mein, n e c m a n u a d s e r u n t u r neque illinc partem quisquam postulat. 49 Später verliert sich auch manu und hat adserere allein zunächst diese und dann die allgemeine Bedeutung ,vor Gericht in Anspruch nehmen‘ (etwa partem dimidiam hereditatis sibi: Ulpian D 5.4.1.2). – Adserere (adsertor) in servitutem kommt im eigentlichen Sinne überhaupt nur in der Virginia-Geschichte vor: Livius 3.44.5 und (adsertor) 44.8,45.3,46.7; Sueton Tib. 2.2. Außerdem noch einmal metonymisch bei Livius 34.18.2 (huic ex usurpata libertate in servitutem velut adserendi erant); es ist daher nicht zulässig, den Eigentumsprätendenten des Freiheitsprozesses als adsertor in servitutem zu bezeichnen. 50 Hofmann-Szantyr, Lat. Syntax und Stilistik (1965), S. 120, S. 74 u. 75 mit Hinweis auf lex Osca tab. Bant. (Bruns, Fontes7 S. 48 ff.) 2.24: pru medicatud manim aserum eizazunc egmazum (= pro iudicato manum asserere earum rerum). Die lateinische Rechtssprache verwendet hier manum inicere. Beide Ausdrucksweisen werden mit prendere (= anfassen) umschrieben, manum inicere von Gaius 4.21, manum adserere von Varro de lingua latina 6.64 f. und bei Festus 340 M. 51 Paulus Festus 25 M. 52 Festus 340 M. Der Text ist von Wlassak (1907), S. 18 Anm. 3 zu Unrecht auf die Freilassung bezogen worden. Die Klausel educendi eius gratia ex servitute in libertatem ist kein Kriterium. Die von Wlassak angeführten Digestenstellen haben ausschließlich ad libertatem perducere. Der Ausdruck ex servitute in libertatem wird sowohl mit manumittere (Lex Salpensana 2.22) wie mit adserere verbunden (CJ 7.16.5.2 [Alexander]; Seneca epist. 104.126). Außerdem vgl. Varro de lingua latina 6.64; Gellius 20.10.7–9 und dazu J. G. Wolf, legis actio, S. 6 ff. 53 Festus 340 M.; Gaius 4.14.
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Zum andern haben wir über die Sakramentsleistungen direkte Nachrichten. Cicero berichtet in pro Caecina von einem Sakramentsprozeß, in dem er für die Freiheit einer Frau aus Arretium gestritten hat55. Der Prozeß hat um das Jahr 80 v. Chr. stattgefunden56. Cicero war nicht selbst der adsertor, sondern dessen Sachwalter; für die Gegenpartei trat C. Aurelius Cotta57 auf. Cotta beeindruckte die Richter mit dem Argument, das sacramentum des adsertor könne nicht als iustum erkannt werden; denn den Arretinern sei das Bürgerrecht entzogen worden58, und wer nicht Quiris sei, könne nicht ex iure Quiritium frei sein. Sulla hatte den Arretinern das Bürgerrecht durch Gesetz aberkannt59, weil sie für Marius Partei ergriffen hatten60. Cicero bestritt die Wirksamkeit dieser Maßnahme61 und setzte sich durch. Der Text lautet62: Qui enim potest iure Quiritium liber esse is qui in numero Quiritium non est? (97) Atque ego hanc adulescentulus causam cum agerem contra hominem disertissimum nostrae civitatis, C. Cottam, probavi. Cum Arretinae mulieris libertatem defenderem et Cotta Xviris religionem iniecisset non posse nostrum sacramentum iustum iudicari, quod Arretinis adempta civitas esset, et ego vehementius contendissem civitatem adimi non posse, Xviri prima actione non iudicaverunt; postea re quaesita et deliberata sacramentum nostrum iustum iudicaverunt.
Die Richter63 haben das sacramentum des adsertor für iustum erkannt. Da Cotta argumentiert hat, das sacramentum könne nicht iustum sein, weil iure Quiritium liber nur ein Bürger sein könne, die Arretiner aber nicht in numero Quiri-
54 Ähnlich wie das Sakramentsverfahren in rem nach der Stabauflegung vindicare (s. oben Anm. 32). Die Handanlegung hieß in diesem Verfahren manum conserere (J. G. Wolf, legis actio, S. 6 ff.). Vermutlich wurde darum die Handanlegung des Freiheitsprätendenten manum adserere genannt. 55 Caec. 96 f. Desserteaux, Mél. Gérardin (Paris 1907), S. 184 ff. Siehe auch Selb, S. 404. 56 Noch zu Lebzeiten Sullas (Cic. Caec. 97), der 78 v. Chr. starb; nicht vor seiner Diktatur, die Anfang 81 begann, sehr wahrscheinlich nach seiner Abdankung im Frühjahr 79 (vgl. u. Anm. 61). 57 Klebs, RE 2 (1896), S. 2482 (Aurelius 96). 58 Vgl. Sallust oratio Lepidi 12. 59 Cic. Caec. 95 ff. Seine ,diktatorische‘ Gesetzgebung fällt überwiegend in das Jahr 81 v. Chr. 60 Appian civ. 1.91. 61 Was vor Sullas Abdankung nicht denkbar ist, alsbald nach seiner Abdankung aber gefahrlos möglich war. M. Aemilius Lepidus, einer der Konsuln des Jahres 78 v. Chr., verlangte nach Amtsantritt in einer aggressiven öffentlichen Rede die Beseitigung der sullanischen Ordnung (Sallust oratio Lepidi). 62 Caec. 96 f. Vgl. auch Cic. domo 77 f. (u. Anm. 64). 63 Die decemviri stlitibus iudicandis; als das Gericht, das in einem Sakramentsprozeß über die Freiheit entscheidet, werden sie von Cicero auch de domo sua 78 (u. Anm. 64) erwähnt. Viel mehr wissen wir über dieses Kollegialgericht nicht: Kübler, RE 4 (1901), S. 2260 ff. (Decemviri 3); Pugliese, S. 189 ff.; Kaser, RZ, S. 40; Franciosi, S. 14 ff.
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tium seien, muß das sacramentum des adsertor auf die Behauptung geleistet worden sein, die mulier sei ex iure Quiritium frei64. (c) Ziehen wir eine Zwischenbilanz, so ist das Bild deutlich angereichert: Vor dem Magistrat legte der Freiheitsprätendent seine Hand auf die Person, um deren Freiheit gestritten wurde. In förmlicher Rede behauptete er, daß diese Person frei sei: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM LIBERUM ESSE AIO. Auf diese Behauptung leistete er schließlich das sacramentum. Der Eigentumsprätendent behauptete dagegen, daß die Person, um deren Freiheit gestritten wurde, in seiner Herrschaftsgewalt sei, daß sie ihm gehöre. Demgemäß lautete seine Spruchformel: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO. Und auf diese Behauptung leistete er dann das sacramentum. Außerdem ist mit Gewißheit anzunehmen, daß auch der Eigentumsprätendent, während er die Eigentumsbehauptung sprach, der umstrittenen Person die Hand auflegte65. 2. Wir haben den Freiheitsprozeß in die Untersuchung einbezogen, weil die manumissio vindicta ihm nachgebildet ist. Vergleichen wir jetzt die Rituale, so sehen wir allerdings, daß sie in einem entscheidenden Punkt voneinander abweichen. Im Prozeß behauptet der adsertor von der Person, deren Freiheit umstritten ist, daß sie frei sei. Bei der manumissio behauptet mit denselben Worten der Vindikant, daß der Sklave, der freigelassen werden soll, frei sei. Während jedoch der adsertorder Person, deren Freiheit er behauptet, eine Hand auflegt, legt der Vindikant dem Sklaven eine vindicta auf. Der Freiheitsprozeß hatte also den Handgestus, nicht jedoch die Stabauflegung, die Freilassung dagegen hatte die Stabauflegung, aber nicht den Handgestus. Aus dieser Inkongruenz ergeben sich überraschende Folgerungen. Wir können uns zwar vorstellen, daß bei der Konstruktion der manumissio vindicta das Prozeßritual verkürzt, nämlich der Handgestus weggelassen worden ist. Dagegen ist es ganz unwahrscheinlich, daß die Hand durch den Stab ersetzt wurde. Der Stabgestus der manumissio zwingt vielmehr zu dem Schluß, daß auch der Freiheitsprozeß, dem die manumissio nachgebildet ist, diesen Stabgestus hatte: einem Freiheitsprozeß ohne vindicatio kann keine Freilassung mit vin64 In seiner Rede de domo sua nennt Cicero das sacramentum des adseror auch sacramentum in libertatem (77): quia ius a maioribus nostris . . . ita comparatum est ut civis Romanus libertatem nemo possit invitus amittere. (78) Quin etiam si decemviri sacramentum in libertatem iniustum iudicassent, tamen, quotienscumque vellet quis, hoc in genere solo rem iudicatam referri posse voluerunt; civitatem vero nemo umquam ullo populi iussu amittet invitus. Vgl. Selb, S. 404. 65 Wie im Eigentumsprozeß. Der Handgestus war der Eigentumsbehauptung fest attachiert; wo immer sie vorkommt, wird sie von der Handanlegung begleitet, siehe o. bei Anm. 34. Dort, bes. Anm. 35, auch schon zur Bedeutung der Handanlegung. – Dieselben Spruchformeln erschließt Franciosi, S. 146 f.; zustimmend Pugliese, S. 294 m. älterer Lit.
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dicatio nachgeformt worden sein. Die Konsequenz dieser Überlegung: das Modell für die manumissio vindicta war nicht jener Freiheitsprozeß ohne Stabauflegung, der in der Überlieferung noch greifbar ist, sondern eine ältere Form des Freiheitsprozesses mit vindicta . II. Die ältere Form des Freiheitsprozesses 1. Der ältere Freiheitsprozeß hatte sowohl den Handgestus wie die Stabauflegung. Der Freiheitsprätendent legte der umstrittenen Person Hand und Stab auf. Daß er ihr die Hand auflegte, ergibt sich aus der jüngeren, uns überlieferten Form des Freiheitsprozesses, die den Handgestus vorsieht66; daß er der umstrittenen Person auch den Stab auflegte, ergibt sich aus der manumissio vindicta67, die einen Freiheitsprozeß mit Stabauflegung voraussetzt. Dieselben beiden Elemente, Handgestus und Stabauflegung, hatte auch der Eigentumsprozeß: Die beiden Eigentumsprätendenten legten der Sache, um die sie stritten, Hand und Stab auf. Wenn aber diese beiden Elemente des Eigentumsprozesses im älteren Freiheitsprozeß wiederkehren, dann war der ältere Freiheitsprozeß offenbar eine Spielart der legis actio sacramento in rem68. Folglich müssen wir annehmen, daß der ältere Freiheitsprozeß nach demselben Prinzip organisiert war, wie der Eigentumsprozeß. Um näheren Aufschluß über den älteren Freiheitsprozeß zu gewinnen, müssen wir darum noch einmal weiter ausholen und auch den Eigentumsprozeß in die Untersuchung einbeziehen. 2. Die Prozeßeinleitung der legis actio sacramento in rem zerfällt in zwei Abschnitte69. Der eigentlichen Streitbegründung in Rede und Gegenrede, mit der Aufforderung zur Eidesleistung und der dann folgenden Eidesleistung, geht ein Vorspiel voraus. In diesem Vorspiel70 vollziehen Kläger und Beklagter dasselbe Ritual. Dieses Ritual sieht zweierlei vor: die Eigentumsbehauptung71 und die Stabauflegung72. Jeder Eigentumsprätendent legt eine Hand auf den Sklaven und 66
Siehe o. nach Anm. 52. Siehe o. bei Anm. 22. 68 Vgl. Franciosi, S. 260. 69 J. G. Wolf, legis actio, S. 2 f. 70 Legis actio, S. 5. 71 Legis actio, S. 6 ff. 72 Legis actio, S. 13 ff. Zur Konzeption des Verfahrens als Prätendentenstreit: legis actio, S. 30 ff. – Mißverstanden worden ist meine Ausführung S. 31: „Im Prozeß geht es vielmehr nur um den Eigentumstitel: jeder Prätendent will nichts anderes als bestätigt haben, daß er der Eigentümer des Sklaven ist. Deshalb ist ein Prätendentenstreit auch mit drei und mehr Beteiligten denkbar . . .“. Ich versuche hier, den Begriff des Prätendentenstreits zu erläutern – und behaupte damit nicht, daß der als Prätendentenstreit eingerichtete Eigentumsprozeß der legis actio sacramento in rem mit ,drei und mehr Beteiligten‘ hätte geführt werden können (Kaser, SZ RA 104 [1987], S. 72 f.; 67
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behauptet, er gehöre ihm: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO. Und er fährt fort: SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI, ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI. Dabei tut er, was er sagt: jetzt nämlich legt er dem Sklaven auch die vindicta auf. Jeder Eigentumsprätendent legt dem Sklaven die vindicta auf SECUNDUM SUAM CAUSAM: in Übereinstimmung mit der soeben behaupteten Rechtslage des Sklaven. Die Klausel SECUNDUM SUAM CAUSAM VINDICTAM INPOSUI bringt zum Ausdruck, daß nur der Eigentümer das Recht hat, dem Sklaven die vindicta aufzulegen73. Die Stabauflegung symbolisiert eine Züchtigung oder Verletzung des Sklaven74. Zur Verletzung des Sklaven war nur der Eigentümer befugt75. Verletzte ein Nichteigentümer den Sklaven, so handelte er unrechtmäßig gegen den Eigentümer. Die Eigentumsbehauptungen der beiden Prätendenten in der Prozeßeinleitung schließen einander aus; nur einer von ihnen kann Eigentümer des Sklaven sein. Folglich ist auch nur einer von ihnen befugt, dem Sklaven die vindicta aufzulegen; der andere begeht Unrecht gegen den Eigentümer. Dem Vorspiel folgt ein Dialog76, der das Streitthema definiert und zu den Sakramentsleistungen führt, mit denen dann der Streit begründet ist. Der Kläger beginnt. Er fordert den Beklagten auf zu sagen, ob er zu Recht oder zu Unrecht dem Sklaven die vindicta aufgelegt hat: POSTULO, ANNE DICAS, QUA EX CAUSA VINDICAVERIS. Der Beklagte antwortet, er habe getan, was Recht war, als er die vindicta auflegte: IUS FECI SICUT VINDICTAM INPOSUI. Daraufhin nimmt wieder der Kläger das Wort. Er behauptet, der Beklagte habe dem Sklaven die vindicta zu Unrecht aufgelegt, habe iniuria vindiziert, und fordert ihn deshalb durch Eid zum Streit heraus: QUANDO TU INIURIA VINDICAVISTI D AERIS SACRAMENTO TE PROVOCO. Der Beklagte beschließt dann den Dialog. Mit den Worten ET EGO TE richtet er dieselbe Herausforderung an den Kläger. Daraufhin beschwören Kläger und Beklagter, was sie behauptet haben, der Kläger, daß der Beklagte, und der Beklagte, daß der Kläger zu Unrecht vindiziert habe77. Das Urteil ergeht über diese Eide; es entscheidet Willvonseder, SZ RA 104 [1987], S. 821; Hackl, SZ RA 106 [1989], S. 157 ff.). Daß er ein „Zweiparteienverfahren“ (Kaser) war, wird nirgends in Frage gestellt, sondern in der gesamten Abhandlung als selbstverständlich vorausgesetzt. 73 Legis actio, S. 16 ff. 74 Legis actio, S. 28, 36 f. 75 Legis actio, S. 18. 76 Legis actio, S. 21 ff. 77 Legis actio, S. 26, 32 ff. In diesem entscheidenden Punkt treffe ich mich mit Selb, S. 407: „Es geht also im sacramentum und in dem durch das sacramentum eingeleiteten Verfahren gar nicht direkt um die bei der vorausgehenden vindicatio aufgestellten Eigentumsbehauptungen der Parteien, also nicht um MEUM ESSE oder TUUM ESSE, sondern um ein Handlungsunrecht der beiden Parteien“. Die Kritik Hackls, SZ RA 106
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über Recht oder Unrecht der Stabauflegungen und befindet nur inzidenter über die Eigentumsfrage. Das sacramentum des Klägers ist iustum, wenn der Sklave ihm gehört; dann nämlich ist seine Behauptung wahr, daß der Beklagte iniuria vindiziert habe. Umgekehrt ist das sacramentum des Beklagten iustum, wenn der Sklave dem Beklagten gehört; dann nämlich ist seine Behauptung wahr, der Kläger habe iniuria vindiziert78. Im Vorspiel treten Kläger und Beklagter als Eigentumsprätendenten auf: jeder behauptet, der Sklave gehöre ihm; und durch den Prozeß will jeder festgestellt haben, daß er der Eigentümer des Sklaven ist. Der Prozeß wird aber nicht über (1989), S. 160 f., scheint auf Mißverständnissen zu beruhen. Daß der Dialog an die Vindikationen der Eigentumsprätendenten anknüpft; daß beide die Unrechtmäßigkeit der Stabauflegung des Gegners behaupten; daß sie diese Behauptungen beeiden (und damit die Unrechtmäßigkeit der Vindikationen zum Prozeßthema machen) ist nicht meine Theorie, sondern ergibt sich unmittelbar aus dem Formular der legis actio sacramento in rem. Außerdem: In legis actio, S. 27 f. ist ein ,nachgeformtes Deliktsverfahren‘ kein Deliktsverfahren; sonst wäre das Sakramentsverfahren in rem kein Eigentumsprozeß. ,Nachformen‘ meint dort ersichtlich nicht kopieren (vgl. aber Hackls Vorstellungen zur in iure cessio aaO., S. 178; dazu u. nach Anm. 100), sondern die Konstruktion eines nach Gestalt und Zweck neuen, autonomen Rechtsakts unter Verwendung von Elementen, Mechanismen und Konzepten eines eingeführten Rechtsakts (vgl. u. nach Anm. 109 zur in iure cessio und manumissio vindicta). Ein ,nachgeformtes Deliktsverfahren‘ muß sich darum nicht auf „die addictio der gegnerischen Partei“ oder auf „eine Bußzahlung als Sühneleistung“ richten. 78 Selb, S. 407, 430 ff. erklärt plausibel, wie „diese indirekt klärende Entscheidung durchaus für die Zwecke der Sachverfolgung“ genügte (S. 407) und eine zusätzliche „Verurteilung zur Herausgabe“ (S. 431) nicht erforderlich war (in anderen Fällen soll der Sakramentsprozeß allerdings durch eine ,magistratische Maßnahme‘ [446] beendet worden sein, die sich je nach dem Gegenstand des Prozesses [furtum, Sachbeschädigung, dare oportere usw.] bestimmte und eine addictio oder die Zulassung der talio oder eine verberatio oder die Anordnung einer anderen Rechtsfolge gewesen sei; die Entscheidung des iudex über die sacramenta habe diesen Rechtsfolgenspruch des Magistrats lediglich – vorbereitet; denn der dezemvirale Sakramentsprozeß sei noch nicht in zwei Abschnitte geteilt, nur die Funktionen seien zwischen Magistrat und iudex aufgeteilt gewesen). Anders als Selb glaubt dagegen Hackl, SZ RA 106 (1989), S. 175, daß auch im Eigentumsprozeß die Entscheidung über die sacrameta „mit einer addictio – einem Zusprechen des Streitobjekts an den zum Besitz Berechtigten – verbunden“ gewesen sei. Sein Argument ist die addictio der in iure cessio; und die Versäumnis-addictio des Zwölftafelsatzes 1.8 bestätigt ihm diesen Schluß. Gegen beide Autoren sehe ich in der litis addictio des Sakramentsprozesses die Entscheidung über die Eide: Den Zwölftafelsätzen 1.8 und 9 (Post meridiem praesenti litem addicito. 9. Si ambo praesentes solis occasus suprema tempestas esto.) müssen wir entnehmen, daß auch der streitig durchgeführte Prozeß mit der litis addictio endete. Denn für was soll der Sonnenuntergang die suprema tempestas sein, wenn nicht für die litis addictio (die im Versäumnisfall post meridieni zugunsten der anwesenden Partei ergeht)? Im Versäumnisverfahren der legis actio sacramento in rem besteht die litis addictio in der Entscheidung über die Eide (siehe u. nach Anm. 113). Folglich war auch im streitig durchgeführten Sakramentsprozeß die Entscheidung über die Eide mit der litis addictio identisch. Im Versäumnisverfahren wurde ohne Prüfung der Rechtslage der anwesenden Partei ,der Streit addiziert‘, im streitig durchgeführten Prozeß wurde nach Maßgabe der richterlichen Erkenntnis einer der beiden anwesenden Streitparteien ,der Streit addiziert‘. Ausführlich erörtert litem addicere Nicosia, S. 91–116.
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diese Eigentumsbehauptungen begründet. Das Thema des Dialogs ist nicht die Eigentumsfrage. Der Dialog knüpft vielmehr an die Vindikationen der Streitparteien an. Er macht beide Stabauflegungen, genauer: ihre Unrechtmäßigkeit, zum Prozeßthema. Über die Eigentumsfrage wird in der Einkleidung einer Unrechtsfrage judiziert. 3. Mit der Darstellung und Erläuterung der Eigentumsklage sind wir endgültig für den Versuch gerüstet, die ältere Verfahrensform des Freiheitsprozesses zu rekonstruieren. (a) In förmlicher Rede behauptete der Freiheitsprätendent, die umstrittene Person sei frei, der Eigentumsprätendent, sie gehöre ihm; HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM LIBERUM ESSE AIO lautete die Behauptung des einen, HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO die des anderen. Während sie diese Worte sprachen, legten sie die Hand auf die Person, über deren Freiheit sie prozessieren wollten. Soviel hat die jüngere Verfahrensform von der älteren bewahrt79. Nicht in der jüngeren, sondern nur in der älteren Prozeßform legte der Freiheitsprätendent der umstrittenen Person auch die vindicta auf. Das bezeugt uns das Ritual der manumissio80. Die vindicta ist der Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen. Im Eigentumsprozeß wird, wie wir sahen, über die Eigentumsfrage nur inzidenter entschieden. Die Eigentumsfrage wird in eine Unrechtsfrage eingekleidet. Das Mittel dieser Einkleidung ist die Stabauflegung. Im Freiheitsprozeß kann die Stabauflegung keine andere Funktion gehabt haben. Auch der Freiheitsprozeß muß also ursprünglich ein (künstlicher) Unrechtsprozeß gewesen sein. Die Prätendenten leisteten das sacramentum nicht (wie in der jüngeren Prozeßform) auf LIBERUM ESSE und MEUM ESSE, sondern auf die Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit der Stabauflegung. Die Stabauflegung des Freiheitsprätendenten war Unrecht gegen den Eigentumsprätendenten, wenn die umstrittene Person dem Eigentumsprätendenten gehörte. Darum behauptete der Eigentumsprätendent in der eigentlichen Streitbegründung, daß der Freiheitsprätendent iniuria vindiziert, daß er mit seiner Stabauflegung Unrecht gegen ihn getan habe. Auf diese Behauptung leistete er dann das sacramentum. Der Freiheitsprätendent dagegen behauptete, daß er nicht iniuria vindiziert, daß er mit seiner Stabauflegung kein Unrecht gegen den Eigentumsprätendenten getan habe, und leistete auf diese Behauptung das sacramentum. Das sacramentum des Eigentumsprätendenten war iustum und das des Freiheitsprätendenten iniustum, wenn die umstrittene Person dem Eigentumsprätendenten gehörte; gehörte sie ihm nicht, verkehrte sich das Ergebnis.
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Siehe o. nach Anm. 64. Siehe o. bei Anm. 22.
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Mit der Stabauflegung des Freiheitsprätendenten schuf also das Prozeßritual die Voraussetzung, über die Eigentumsbehauptung des Eigentumsprätendenten in der Einkleidung einer Unrechtsfrage zu judizieren. Die vindicatio wird uns nur für den Freiheitsprätendenten bezeugt. Was müssen wir für den Eigentumsprätendenten annehmen? Im Eigentumsprozeß vindizierten beide Prätendenten81. War das im Freiheitsprozeß auch so? Legte auch der Eigentumsprätendent der umstrittenen Person die vindicta auf? Die Antwort ist ein klares Nein. Eine vindicatio des Eigentumsprätendenten machte nur dann Sinn, wenn der Freiheitsprätendent ein eigenes Recht an der umstrittenen Person in Anspruch nähme, das durch die Stabauflegung des Eigentumsprätendenten verletzt werden könnte. Das aber tut er gerade nicht. Vielmehr behauptet er gerade, daß die umstrittene Person frei sei. Eine Stabauflegung des Eigentumsprätendenten wäre auf keinen Fall Unrecht gegen den Freiheitsprätendenten und daher ohne Funktion. Damit gelangen wir zu dem Ergebnis, daß die ältere Form des Freiheitsprozesses, wie der Eigentumsprozeß, ein Vorspiel hatte. In diesem Vorspiel behauptete der Freiheitsprätendent, die umstrittene Person sei frei, während der Eigentumsprätendent behauptete, sie gehöre ihm. Beide Prätendenten legten ihr die Hand auf, aber nur der Freiheitsprätendent auch die vindicta. Im Eigentumsprozeß folgte die Stabauflegung der Eigentumsbehauptung und wurde von einer Erklärung begleitet82. Während die Prätendenten dem umstrittenen Sklaven die vindicta auflegten, sagten sie: SECUNDUM SUAM CAUSAM SICUT DIXI, ECCE TIBI VINDICTAM INPOSUI. Für den Freiheitsprozeß haben wir Entsprechendes anzunehmen. Die Stabauflegung folgte demnach der Freiheitsbehauptung und wurde auch hier von einer Erklärung begleitet. Der Freiheitsprätendent kann jedoch nicht gesagt haben, daß er der umstrittenen Person ,in Übereinstimmung mit ihrer soeben behaupteten Rechtslage die vindicta aufgelegt habe‘. Denn nur der Eigentümer war befugt, seinem Sklaven die vindicta aufzulegen, und der Freiheitsprätendent behauptete ja nicht, daß die umstrittene Person ihm gehöre, sondern daß sie frei sei. Seine Rede wird vielmehr gewesen sein, daß er nicht iniuria vindiziert, daß er mit der vindicatio kein Unrecht begangen habe – nämlich kein Unrecht gegen den Eigentumsprätendenten83, und zwar darum nicht, weil die Person frei und nicht in dessen Eigentum sei. (b) Dem Vorspiel folgte die eigentliche Streitbegründung. Wie im Eigentumsprozeß wurde in Rede und Gegenrede das Streitthema definiert. Im Eigentumsprozeß war das Streitthema die Unrechtmäßigkeit der beiden Vindikationen; im 81 82 83
Siehe o. nach Anm. 70. Siehe o. nach Anm. 72. Zu dieser Bedeutung von iniuria s. J. G. Wolf, legis actio, S. 29 f.
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Freiheitsprozeß, wo ja nur der Freiheitsprätendent vindizierte, ging es allein um die Unrechtmäßigkeit seiner Vindikation. Der Dialog der Streitparteien schloß mit der Erklärung des Eigentumsprätendenten, daß er den Freiheitsprätendenten durch Eid zum Streit herausfordere, weil er iniuria, unter Verletzung seines Eigentums, vindiziert habe. Die Erklärung kann (wie im Eigentumsprozeß) gelautet haben: QUANDO TU INIURIA VINDICAVISTI L AERIS SACRAMENTO TE PROVOCO. Darauf beschwor der Eigentumsprätendent seine Behauptung und provozierte durch diesen Eid den Gegeneid des Freiheitsprätendenten. Wenn Eid gegen Eid stand, war der Prozeß begründet84. (c) Das Urteil erging über die Eide; der Richter stellte fest, wessen sacramentum ustum und wessen iniustum war. Das sacramentum des Eigentumsprätendenten war iustum und das des Freiheitsprätendenten iniustum, wenn die umstrittene Person dem Eigentumsprätendenten gehörte. Gehörte sie ihm nicht, war sein sacramentum iniustum und das des Freiheitsprätendenten dagegen iustum. 4. Diese Rekonstruktion zeigt einen Freiheitsprozeß, in dem nicht über die Freiheit entschieden wird. Denn der Prozeß geht nur über den Bestand eines bestimmten Herrschaftsverhältnisses. In dem künstlichen Unrechtsprozeß wird inzidenter lediglich entschieden, ob eine Person der Prozeßpartei gehört, die sie als ihr Eigentum in Anspruch nimmt. Der Eigentumsprätendent behauptet im Vorspiel, die umstrittene Person gehöre ihm, der Freiheitsprätendent dagegen, sie sei frei. Das Urteil über ihre Sakramente stellt inzidenter aber nur fest, ob die umstrittene Person dem Eigentumsprätendenten gehört. Daß sie frei ist, wird in keinem Fall festgestellt. Gehört die umstrittene Person dem Eigentumsprätendenten, ist sie natürlich unfrei; gehört sie ihm nicht, so muß das keineswegs bedeuten, daß sie frei ist; denn sie kann ja einem Dritten gehören. Der Freiheitsprätendent obsiegt somit nicht nur dann, wenn die umstrittene Person frei ist; für seinen Prozeßsieg genügt, daß sie nicht dem Eigentumsprätendenten gehört. Diese Inkongruenz ist eine Folge der Prozeßform. Wie der Eigentumsprozeß ist der ältere Freiheitsprozeß ein Vindikationsprozeß, also ein künstlicher Unrechtsprozeß; und in einem Prozeß über Recht und Unrecht der Stabauflegung kann nicht inzidenter über die Freiheit entschieden werden. Wie wir sahen, war die Stabauflegung nur geeignet, die Eigentumsbehauptung in eine Unrechtsbehauptung einzukleiden, und nicht auch die Freiheitsbehauptung; denn die Stabauflegung konnte Unrecht nur gegenüber einer Prozeßpartei sein, die das Eigentum an der umstrittenen Person in Anspruch nahm.
84 Eine Gegenprovokation des Freiheitsprätendenten, wie sie im Eigentumsprozeß durch die Gegenpartei mit den Worten ET EGO TE erfolgte, fand hier, wo es nur e i n e Vindikation gab, nicht statt.
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Ein Freiheitsprozeß, in dem nicht nur über die Behauptung des Eigentumsprätendenten, sondern auch über die des Freiheitsprätendenten entschieden werden sollte, mußte sich aus dieser Tradition lösen. Er mußte abstreifen, was ihn zum Unrechtsprozeß machte. Das bedeutete konkret, daß auf die Vindikation verzichtet werden mußte und daß die Sakramente unmittelbar auf die Behauptungen LIBERUM ESSE und MEUM ESSE geleistet werden mußten. Nichts anderes ist in der jüngeren Form des Freiheitsprozesses geschehen. Er ist kein Unrechtsprozeß mehr; hier wird die vindicta nicht mehr aufgelegt; hier leistet, wie wir Cicero entnahmen, jeder Prätendent das sacramentum unmittelbar auf seine Behauptung85. Diese Änderung schuf eine neue Prozeßform. Der jüngere Freiheitsprozeß ist das erste Gerichtsverfahren, in dem über ein ,absolutes Recht‘, nämlich die Freiheit und das Eigentum, nicht in der Einkleidung einer Unrechtsfrage, sondern unmittelbar judiziert wird. Und erst diese neue Prozeßform machte es möglich, nun auch im Freiheitsprozeß, wie (immer schon) im Eigentumsprozeß, über beide Prätendentenbehauptungen zu entscheiden86.
Der Bauplan der manumissio vindicta 1. Wir kommen auf die manumissio vindicta zurück: Was ihr Ritual angeht, können wir jetzt mit Entschiedenheit die Vermutung87 bestätigen, daß der Stabgestus nicht zur Freiheitsbehauptung gehört. Im (älteren) Freiheitsprozeß behauptete der adsertor zunächst, daß die umstrittene Person frei sei, und legte ihr dann erst die vindicta auf; dabei erklärte er, mit der Stabauflegung kein Unrecht (gegen den Prozeßgegner) zu begehen. Da zwischen der Freiheitsbehauptung und dem Stabgestus kein innerer Zusammenhang besteht, ist es unwahrscheinlich, daß das Ritual der manumissio sie gleichzeitig vorsah. Die manumissio wird vielmehr die Reihenfolge des Prozeßrituals übernommen haben. Gegen Boethius’ Beschreibung88 müssen wir annehmen, daß der Vindikant zunächst die Freiheitsbehauptung sprach und erst danach dem Sklaven die vindicta auflegte. (a) Manches spricht jedoch dafür, daß der Vindikant bei der Freiheitsbehauptung dem Sklaven die Hand auflegte. Im Freiheitsprozeß nämlich legte der adsertor der umstrittenen Person die Hand auf, während er die Freiheitsbehauptung
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Siehe o. bei Anm. 64. Es ist bemerkenswert, daß der Eigentumsprozeß selbst keine Veränderung erfahren, nämlich die Vindikationen nicht abgelegt hat, sondern immer ,Unrechtsprozeß‘ geblieben ist. Auch das spricht dafür, daß der Freiheitsprozeß wirklich aus den genannten juristischen Gründen umgestaltet und nicht bloß vereinfacht worden ist. 87 Siehe o. nach Anm. 35. 88 Oben bei Anm. 16. 86
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sprach89. Dieser Handgestus hatte keine symbolische, sondern nur deiktische Bedeutung; mit der Hand demonstrierte der adsertor, daß es dieser Sklave war, von dem er behauptete, daß er frei sei90. Bei der manumissio hören wir allerdings nichts von einem Gebrauch der Hand. Die Nachrichten über das Ritual der manumissio vindicta sind indessen so spät und bruchstückhaft91, daß diese Überlieferung täuschen kann. Es ist zwar möglich, daß der Handgestus wirklich nicht in das Ritual der manumissio übernommen worden ist; aber es ist nicht wahrscheinlich. Im Freiheitsprozeß war die Handanlegung beiden Rechtsbehauptungen attachiert, der Freiheits- und der Eigentumsbehauptung. Mit der Freiheitsbehauptung wurde sie aber geradezu identifiziert, so daß nach ihr das ganze Verfahren manum adserere genannt wurde92. Bei der bloß deiktischen Bedeutung der Handanlegung kann es auch keinen besonderen Grund gegeben haben, im Ritual der manumissio vindicta den Handgestus wegzulassen. Schließlich fällt das Beispiel der in iure cessio93 ins Gewicht: warum sollte bei der Konstruktion der manumissio vindicta anders verfahren worden sein? Diese Überlegungen machen mir wahrscheinlich, daß auch das Ritual der manumissio vindicta den Handgestus vorsah: daß also der Vindikant, während er die Freiheitsbehauptung sprach, dem Sklaven die Hand auflegte. (b) Gehörte der Stabgestus nicht zur Freiheitsbehauptung, dann muß er von einer anderen Erklärung begleitet worden sein; bloße Gesten kennt das römische Formelwesen nicht94. Das Ritual der manumissio vindicta hat den Stabgestus aus dem Freiheitsprozeß übernommen; es liegt dann nahe, daß es ihn mit der Spruchformel übernommen hat, die ihn dort begleitet95. So gewinnen wir von der manumissio vindicta schließlich das folgende Bild96: Auf der Gerichtsstätte, vor dem Magistrat, und in Anwesenheit des Eigentümers legt der Vindikant dem Sklaven zunächst die Hand und dann die vindicta auf. Während er ihm die Hand auflegt, behauptet er, daß dieser Sklave frei sei; und 89
Siehe o. nach Anm. 64 und bei Anm. 79. Vgl. oben Anm. 35. 91 Siehe o. nach Anm. 14. 92 Siehe o. bei Anm. 54. 93 Gaius 2.24 (o. bei Anm. 29). 94 Vgl. J. G. Wolf, legis actio, S. 11 f. 95 Siehe o. bei Anm. 83. Wir erinnern, daß die Überlieferung lediglich berichtet, der Vindikant habe (quaedam) verba sollemnia gesprochen: Boeth. (o. bei Anm. 16); Hermogenian D 40.2.23. Schon nach Wlassak (1907), S. 64 Anm. 1: „ist ein Spruch, der das Auflegen des Stabes begleitet, auch bei der Freilassung nicht unwahrscheinlich“; und zwar, gegen den Vorschlag Früherer, ein anderer als der Spruch SECUNDUM SUAM CAUSAM etc., den in der legis actio sacramento in rem die Eigentumsprätendenten bei der Stabauflegung sprechen. 96 Für Einzelheiten siehe die Vorstufen (o. S. 5 und 8). 90
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nachdem er ihm die vindicta aufgelegt hat, erklärt er, daß er mit dieser vindicatio kein Unrecht begangen habe. Daraufhin fragt der Magistrat den Eigentümer, ob er das Eigentum an dem Sklaven in Anspruch nehme. Der Eigentümer schweigt und der Magistrat beschließt das Geschäft mit seiner addictio. 2. Es bleibt die Frage, nach welchem Bauplan die manumissio vindicta konstruiert worden ist. Was war das Konzept dieser ,Nachbildung‘, welche Vorstellung leitete ihre Urheber? (a) Viele sehen in der manumissio vindicta wie in der in iure cessio die Nachformung eines Anerkenntnisverfahrens; die manumissio vindicta sei die Nachformung des Anerkenntnisses im Freiheitsprozeß97, die in iure cessio die Nachformung des Anerkenntnisses im Eigentumsprozeß98. Richtig ist, daß die beiden Rechtsgeschäfte nach demselben Konzept konstruiert worden sind; darum kann auch das eine nicht ohne das andere erklärt werden. Aber dieses gemeinsame Konzept war sicher nicht das prozessuale Anerkenntnis99. Eine confessio in iure gab es bei den Klagen in personam: bei der legis actio per condictionem, der legis actio per iudicis postulationem und auch bei der persönlichen Sakramentsklage. Für sie bestimmte ein Zwölftafelsatz, daß aus dem Anerkenntnis einer Geldschuld, ebenso wie aus einem Urteil, nach 30 Tagen vollstreckt werden könne100. Im Freiheits- und im Eigentumsprozeß wissen wir dagegen nichts von einem Anerkenntnis; und für ein Anerkenntnis war hier auch kein Bedürfnis; denn der Besitzer mußte sich auf den Prozeß ja nicht einlassen, er konnte die umstrittene Person oder Sache ohne weiteres preisgeben101. Weitere Argumente kommen hinzu. Die confessio mußte ausdrücklich erklärt werden102, und zwar als Antwort auf eine Frage des Prozeßgegners. So sehen wir es bei den 97 Kaser, RP I, S. 116. Die ältere Literatur bei Wlassak (1907), S. 83 ff., der selbst aber „das Dasein und die Zulässigkeit eines gerichtlichen Anerkenntnisses im Streit um die Freiheit“ bestreitet; für ihn allerdings ist „die mit der Zession des Eigentümers verbundene Vindicatio in libertatem nie etwas Anderes“ gewesen „als eine Freilassung“ (S. 96). 98 Kaser, RP I, S. 48, RZ, S. 54 Anm. 17, Das altröm. Ius (1949), S. 107, immer m. Lit.; oder jetzt die Literaturübersicht bei Hackl, SZ RA 106 (1989), S. 171 ff. Das ältere Schrifttum bei Wlassak (1904), S. 102 f., der hier „einstweilen noch von der hergebrachten Lehre“ ausgeht, daß die in iure cessio „eine Abzweigung der Confessio in iure“ sei; in Wahrheit habe „die Legisaktionenzeit kein gerichtliches Anerkenntnis dinglicher Rechte“ gekannt, „das von der Injurecessio verschieden wäre“. 99 Vgl. Pugliese, S. 370 Anm. 258. 100 XII T. 3.1: Aeris confessi rebusque iure iudicatis triginta dies iusti sunto (Gellius 15.13.11; 20.1.45). 101 Vgl. Wlassak (1907), S. 83 ff. zum Freiheitsprozeß, (1904), S. 102 ff., 141 ff., 153 ff. zum Eigentumsprozeß. 102 Behrends, S. 85 Anm. 306, und schon Sympotica Wieacker (1907), S. 27 Anm. 88.
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Legisaktionen in personam103. Ganz anders bei der manumissio vindicta und der in iure cessio. Hier fehlt sowohl die Frage des Geschäftsgegners wie eine ausdrückliche Erklärung der Partei, die ihr Recht aufgibt. Und vor allem: Ein „Anerkenntnis, daß der Kläger Eigentümer sei“ 104, war nach der Struktur der legis actio sacramento in rem gar nicht möglich. Denn das Eigentum war nicht das Streitthema der dinglichen Sakramentsklage; ihr Streitthema war vielmehr die Rechtmäßigkeit der beiden Vindikationen105. Nach all dem ist so gut wie sicher, daß die Vorlage der manumissio und der in iure cessio nicht ein prozessuales Anerkenntnis war106. (b) Nach einer anderen, soeben von Karl Hackl neu begründeten Lehre war die in iure cessio „der nachgeformte Indefensionsprozeß des dinglichen Spruchformelverfahrens“ 107. Was „uns Gaius als Geschäft zur Eigentumsübertragung“ schildere, sei der „Fall der Verweigerung einer Partei, die Streitsache im Spruchformelverfahren zu verteidigen“ 108. Wann immer eine Partei nicht bereit war, sich auf das Streitverfahren einzulassen, habe der Magistrat „kurzen Prozeß“ gemacht: er ließ die Parteien in das Verfahren eintreten und den ersten Vindikanten 103 Mit der Klagbehauptung ist immer die Aufforderung an den Beklagten verbunden, die behauptete Verpflichtung anzuerkennen oder zu leugnen. Die Spruchformel etwa der legis actio per condictionem beginnt: AIO TE MIHI . . . DARE OPORTERE. ID POSTULO AIAS AN NEGES (Gaius 4.17 b; für die legis actio per iudicis postulationem siehe Gaius 4.17 a; für die legis actio sacramento in personam ist die Aufforderung sicher zu erschließen aus Valerius Probus 4.1–3). Die überlieferten Spruchformeln sind die ,Streitbegründungsformulare‘; sie sehen vor, daß der Beklagte die behauptete Verpflichtung leugnet. Das ,Anerkenntnisformular‘ muß an dieser Stelle das Anerkenntnis gehabt haben, etwa: AIO ME TIBI . . . DARE OPORTERE. Vgl. Pugliese, S. 368 f. Gegen den Beklagten, der die Klagbehauptung weder bestritt noch anerkannte, verhängte der Magistrat auf Antrag des Klägers (Valerius Probus 4.3: QUANDO NEQUE AIAS NEQUE NEGAS) eine Zwangsmaßnahme, die wir nicht kennen; vgl. Pugliese, S. 374 ff.; Kaser, RZ, S. 56 f.; Selb, S. 408; Kunkel/Selb, Röm. Recht4 (1987), S. 512. 104 Kaser, RZ, S. 54. 105 Beide Streitparteien waren Kläger (J. G. Wolf, legis actio, S. 18 f., 26 f.), und im ,Vorspiel‘ der Streitbegründung behaupteten beide gleichzeitig (S. 18 f.), Eigentümer des umstrittenen Sklaven zu sein. In der Streitbegründung selbst, im Dialog, behauptete dann jeder (S. 26 f.), daß der andere iniuria vindiziert, daß er dem Sklaven den Stab zu Unrecht aufgelegt habe, und das war das Streitthema; ausführlicher o. nach Anm. 69. 106 Außerdem wäre zu bedenken: Manumissio und in iure cessio enden mit der addictio des Magistrats. Wo die confessio in iure bezeugt ist, kommt eine addictio aber nicht vor. Wer eine Geldschuld anerkannt hat, haftet aus der confessio und nicht aus einer addictio. Wenn es denn auch im Eigentums- und Freiheitsprozeß ein Anerkenntnis gegeben hätte: warum sollte dann aber der Magistrat der Eigentums- oder Freiheitsbehauptung, die der Prozeßgegner als richtig anerkannt hat, auch noch ,zugestimmt‘ (vgl. oben Anm. 30) haben? 107 SZ RA 106 (1989), S. 171 ff., 179. Die Lehre ist mehr oder weniger vorgebildet schon bei Bethmann/Hollweg, Der röm. Civilprozeß, 2. Bd. Formulae (1865), S. 541 f., 555 ff., und Karlowa, Beiträge zur Gesch. des röm. Civilprozesses (1865), S. 54; neuere Lit. bei Hackl, S. 172 Anm. 87. 108 Hackl, S. 178. Das Folgende bei Hackl, S. 177, 167.
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den Besitz der Sache ergreifen109 und die Eigentumsbehauptung sprechen110; danach forderte er die zweite Partei auf, mit der Kontravindikation fortzufahren; schwieg sie oder lehnte sie die Kontravindikation ab, sprach der Magistrat die Sache dem ersten Vindikanten zu. Diesem „Indefensionsprozeß“ hätten die Pontifices „formal exakt“ und „ohne jede gedankliche Mühe“ die in iure cessio nachgebildet. Der „Indefensionsprozeß“ und die in iure cessio waren demnach identische Gebilde. Anders als die Prozeßparteien hätten die Kontrahenten der in iure cessio die addictio allerdings von vornherein gewollt und über die Eigentumsverhältnisse niemals gestritten111. Für Hackls „Indefensionsprozeß“ gibt es in der Überlieferung keinen Anhalt. Hackl hat ihn nach dem Muster der in iure cessio erfunden, um die Herkunft der in iure cessio zu erklären. Seine Erfindung beruht auf einem fundamentalen Mißverständnis der legis actio sacramento in rem. Der Eigentumsprozeß der legis actio sacramento in rem ist ein Prätendentenstreit112. Ziel des Prozesses ist die gerichtliche Klärung, welcher von zwei Eigentumsprätendenten der Eigentümer ist. Das aber bedeutet: nur wenn zwei einander widersprechende Eigentumsbehauptungen aufgestellt werden, ist eine richterliche Entscheidung zugunsten der einen geboten und möglich113. Wird keine widersprechende Eigentumsbehauptung aufgestellt, besteht kein Streit. Hackls „Indefensionsprozeß“ läuft auf einen Einlassungszwang zum Eigentumsprozeß hinaus114. Bei einem Prätendentenstreit 109 Mit der herkömmlichen Lehre sieht Hackl, S. 168 f. in der Handanlegung Zugriff und Bemächtigung; neue Gesichtspunkte bringt er nicht bei; darum auch gegen ihn J. G. Wolf, legis actio, S. 6 ff. (und o. Anm. 35). 110 Im Eigentumsprozeß der legis actio sacramento in rem waren die beiden Prätendenten unterschiedslos in derselben Rolle (J. G. Wolf, legis actio, S. 31 f., 26 f.). Ihre Eigentumsbehauptungen und Stabauflegungen waren rituell gleichzeitig (S. 18 f.). Darum kam es auf die tatsächliche Reihenfolge nicht an. Im „Indefensionsprozeß“ sollen die Rollen dagegen verteilt gewesen sein: Hackl, S. 176. 111 Hackl, S. 178. Ob sie den Magistrat darüber ins Bild setzen mußten, erörtert Hackl nicht. 112 Hackl, S. 159, 161, 162, 168 u. ö. Zum Folgenden J. G. Wolf, legis actio, S. 30 ff., auch o. Anm. 72. 113 Wlassaks Untersuchungen (1904), S. 117 ff. gegen die seinerzeit „fast einhellig gebilligte Addictio des Eigentums der res indefensa“ laufen eben darauf hinaus. 114 Zur „Freiheit der Einlassung in den dinglichen Prozeß“ grundlegend: Wlassak (1904), S. 141 ff. („ein Stück Unterbau des römischen Systems“) S. 153 ff., 123 f.; in den Freiheitsprozeß (1907), S. 83 ff.; außerdem: Kaser, RZ 56 und RP I, S. 127 f. m. Lit. Nach Hackl muß sich der Besitzer, der sich nicht auf den (streitigen) Eigentumsprozeß einlassen will, auf den „Indefensionsprozeß“ einlassen, damit, wie im (streitigen) Eigentumsprozeß, das Eigentum des Prozeßgegners festgestellt werden kann. Dieser Einlassungszwang nutzt nicht viel, wenn der Besitzer nicht auch gezwungen werden kann, auf der Gerichtsstätte zu erscheinen. Folgerichtig glaubt darum Hackl, S. 164 (mit Provera, Nicosia, Buti und jetzt auch Kaser, SZ RA 104 [1987],S. 81), daß die in ius vocatio auch für die Sakramentsklage in rem zur Verfügung stand; der Ladungsruf habe ohne Angabe eines Grundes die Zwangsvorführung des Geladenen gerechtfertigt. Inkonsequent macht Hackl, S. 165 Anm. 60 nur für den Falle eine Ausnahme, daß der
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ist aber ein Einlassungszwang geradezu widersinnig. Sollen wir uns wirklich vorstellen, daß ein Besitzer, der nicht behauptet, Eigentümer zu sein, zu dieser Behauptung gezwungen wird, nur damit das Gericht feststellen kann, daß nicht er, sondern der Prozeßgegner der Eigentümer ist? Das Eigentum des Prozeßgegners war zwischen den Parteien doch niemals streitig. Für den Fall, daß ein Besitzer, der nicht behauptet, Eigentümer zu sein, die Herausgabe der Sache verweigert, stellte die Rechtsordnung die actio furti zur Verfügung115. Ein Prätendentenstreit kam hier gar nicht in Betracht. 3. Die in iure cessio war nicht die einfache Kopie eines besonderen Verfahrens der legis actio sacramento in rem. Sie hatte vielmehr ihre eigene, unverwechselbare Gestalt. Der Bauplan, nach dem sie konstruiert worden ist, war ein selbständiger Entwurf – orientiert freilich an einem besonderen Prozeßverlauf der dinglichen Sakramentsklage. Die Vorlage war vermutlich das Versäumnisverfahren116, von dem wir durch einen Zwölftafelsatz Kenntnis haben. (a) Der Zwölftafelsatz (1.8) lautet: POST MERIDIEM PRAESENTI LITEM ADDICITO. Die Vorschrift galt für alle Streitfragen117 und richtete sich an den iudex118: er sollte, wenn eine Streitpartei ausgeblieben war, nach der MittagsBesitzer die Sache vor der in ius vocatio herausgibt. „Das Zwangsrecht gegen den Geladenen“ soll auch die „unter seiner Herrschaft stehenden Personen und Sachen (Streitobjekte)“ erfaßt haben, „so daß auch deren Vorlage auf der Gerichtsstätte gesichert war“ (S. 164 f.). Diese Hypothese ist nicht aufrecht zu erhalten. Da sie kaum vermeidbar ist, wenn man annimmt, daß die in ius vocatio auch für die Sakramentsklage in rem zur Verfügung stand, ist sie ein Einwand gegen diese Lehre. 115 Kaser, RP I, S. 128 und RZ, S. 69; Selb, S. 408; vgl. auch Kunkel/Selb, Röm. Recht4 (1987), S. 536. 116 Vgl. Behrends, S. 85 Anm. 306, S. 89 und schon Sympotica Wieacker (1970), S. 27. „Unklarheiten“, die Hackl, SZ RA 106 (1989), S. 179, kritisiert, sehe ich hier nicht. 117 Wlassak, RE 1 (1893), S. 350; Kaser, RZ, S. 92 Anm. 26 a. E.; Horak, SZ RA 93 (1976), S. 275. Anders Behrends, S. 88. Nach seiner Vorstellung gilt der Satz nur für ,seinen‘ Zwölftafelprozeß: das Verfahren der legis actio per iudicis postulationem aus sponsio-stipulatio. Auch vom Ablauf dieses Verfahrens hat er eigene Vorstellungen. Zu diesen gehört, daß die Versäumnis-addictio in einem 2. Termin in iure ergeht, dessen Ziel es sei, „den Streit einer Geschworenenverhandlung zu übertragen“ (S. 85). In diesem 2. Termin vor dem Magistrat sei der Geschworene präsent; wiederholten die Streitparteien in der causae coniectio die Spruchformeln (S. 82 f.); bestelle der Magistrat den iudex; addiziere er das iudicium; und beginne dann sogleich die Geschworenenverhandlung (vgl. Horak, 93 [1976], S. 276). In jeder Phase dieses Termins habe die Versäumnis-addictio ergehen können: wenn etwa die eine Prozeßpartei überhaupt nicht zum 2. Termin erschienen sei oder wenn sie den Termin nach begonnener Geschworenenverhandlung verlassen habe (S. 87). 118 Wlassak (1904), S. 94, auch schon RE 1 (1893), S. 121 und 349; Lévy-Bruhl, Recherches sur les actions de la loi (1960), S. 209 ff.; Pugliese, S. 159; J. G. Wolf, Die litis contestatio im röm. Zivilprozeß (1968), S. 39 Anm. 122; Nicosia, S. 101 ff., 115; Corbino, Estudios Iglesias (1988), S. 1183 f. Die heute noch überwiegende Interpretation schließt dagegen aus, daß der iudex ,addizieren‘ konnte, und behält die litis addictio dem Magistrat vor: Broggini, Iudex arbiterve (1957), S. 62; Kaser, RZ, S. 92
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stunde der anderen, anwesenden Streitpartei ,den Streit addizieren‘119, d. h. zu ihren Gunsten den Prozeß entscheiden, indem er ihrer Rechtsbehauptung beiAnm. 26 m. weit. Lit.; Behrends, S. 58 f.; Selb, S. 393 Anm. 7, S. 423; Albanese, Il processo privato romano delle legis actiones (Palermo 1987), S. 131 ff.; Wieacker, S. 242 Anm. 28, S. 433 Anm. 19; Hackl, SZ RA 106 (1989), S. 175 m. weit. Lit. ,Addico‘ gehört zwar zu den tria verba sollemnia, von denen der Magistrat in seinen Verfügungen und Entscheidungen eines gebrauchen mußte (Varro, de lingua latina 6.30,53; Ovid, fastes 1.47 f., 50; Macrobius, Saturnalia 1.16.14); und im Bereich der Legisaktionen ist addicere auch nur für den Magistrat belegt (vgl. etwa Kaser, RZ, S. 28 f., 31 f.). Diese Zeugnisse schließen aber nicht aus, daß auch der iudex ,addizierte‘. Mit der Teilung des Verfahrens gingen Beweiserhebung und Urteilsspruch auf den iudex über, wurde im einzelnen Fall die Zuständigkeit für die Entscheidung des Rechtsstreits auf ihn übertragen oder erstreckt. Warum aber sollte die litis addictio (s. oben Anm. 78), wenn sie dem iudex oblag, nicht mehr litis addictio genannt worden sein? Auch iudex und iudicare bezeichneten bis zur Verfahrensteilung nur den Magistrat und sein Urteilen (vgl. Wieacker, S. 433). Die Zwöftafelsätze 1.6–9 (Rem ubi pacunt orato. 7. Ni pacunt, in comitio auf in foro ante meridiem caussam coiciunto. Com peroranto ambo praesentes. 8. Post meridiem praesenti litem addicito. 9. Si ambo praesentes, solis occasus suprema tempestas esto.) passen nur auf den Urteilstermin vor dem iudex (anders jetzt auch Wieacker, S. 242 Anm. 28, S. 433 Anm. 19). Während der T a g der Verhandlung vor dem iudex durch die comperendinatio festgelegt wurde (Gaius 4.15; Pseudo-Asconius in Cic. in Verrem II 1.26 [B aiter 164]), regelten sie Ort und zeitlichen Ablauf der Verhandlung (so jetzt ausführlich auch Nicosia, S. 67–118; vorher schon Kaser, TR 32 [1964], S. 351, der aber, weil er die litis addictio dem Magistrat vorbehält, im Versäumnisfall T. 1.8 die Rückgabe des Verfahrens vom iudex an den Magistrat annimmt; ähnlich jetzt Selb, S. 393 Anm. 7). T. 1.6 erlaubt den Streitparteien, den Ort der Verhandlung zu vereinbaren. Diese Vorschrift kann sich nur auf den Urteilstermin vor dem iudex beziehen. Denn über den Gerichtsort des Magistrats konnten die Parteien nicht verfügen; sein Tribunal war seit den frühesten Zeiten auf dem comitium. Die Gegenmeinung, die T. 1.6–9 auf das (nach vielen: ungeteilte) Verfahren vor dem Magistrat bezieht, versteht pacisci in T. 1.6 und 7 als einverständliche Streitbeilegung. Gewöhnlich interpretiert sie T. 1.6, als lautete der Satz ,Si rem pacunt‘: ,Wenn sie sich über die Streitsache vergleichen‘. Der Satz hat aber gerade nicht die für die XII Tafeln typische Bedingungsform; außerdem ist die lokale Bedeutung von ubi nicht zu bestreiten; und ubi kann durchaus auch den Ort bezeichnen, auf den sich die Streitparteien verständigen (anders Behrends, S. 78; vgl. aber die Lexika); Quintilian inst. 1.6.11: ni i t a pagunt spricht sogar für diesen Bezug. T. 1.6 bedeutet demnach: ,Wo sie vereinbaren, soll er sprechen‘. Umstritten ist auch, w e r hier sprechen soll. Orare paßt weder auf den Magistrat (anders Kaser, RZ, S. 83 f.) noch auf den iudex (anders J. G. Wolf, Litis contestatio, S. 39 Anm. 122); in der Rechtssprache ist orare ,vor Gericht sprechen, verhandeln‘, also die Rede der vor Gericht auftretenden Partei (Nicosia 81; Ox. Lat. Dict. oro 2; Walde/Hofmann, Lat. etymolog. Wörterbuch II5 [1972], S. 224; Fest. 198 M.: Orare antiquos dixisse pro agere, testimonio sunt . . . et oratores). Für perorare in T. 1.7 und adorare in T. 8.16 ist das kaum jemals bezweifelt worden. Unsere Ausgaben der XII Tafeln haben durchweg den Singular orato. Darum wird gewöhnlich übersehen (vgl. aber Radke, Festg. v. Lübtow [1970], S. 224; Archaisches Latein [1981], S. 221 Anm. 70, mit freilich unbefriedigenden Vorschlägen), daß orato eine Konjektur ist: die Handschriften (Rhet. Her. 2.13.20; Priscianus de arte gramm. 10.5.32) haben orationi pagunt (codd. Prisc.) oder oratione pagunt (auch: oracioni und orationem codd. Rhet. Her.). Die Buchstabenfolge legt eine Verbesserung in orato. ni pagunt nahe; der Plural oranto ergibt aber den weitaus besseren Sinn: der Satz wird einfacher, klarer und paßt besser zum Kontext; darum ist oranto vorzuziehen. Siehe die alsbald folgende Übersetzung.
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stimmte. Die Vorschrift setzt voraus, daß der Streit begründet ist. Im Eigentumsprozeß mußten also die Prätendenten das Ritual vollständig vollzogen und die sacramenta geleistet haben. Die Versäumnis-addictio erging im Urteilstermin. Ohne daß die Rechtslage geprüft worden war, erteilte der iudex der Rechtsbehauptung der anwesenden Prozeßpartei seinen ,Zuspruch‘. Die Behauptung, die sie bei der Streitbegründung aufgestellt hatte, lautete dahin; daß der Gegner dem Sklaven die vindicta zu Unrecht aufgelegt habe120. Mit der addictio befand der iudex diese Behauptung für richtig und entschied damit inzidenter, daß die anwesende Prozeßpartei Eigentümer des umstrittenen Sklaven war121. War der nicht erschienene Prozeßgegner der Eigentümer des Sklaven, so erging die Versäumnis-addictio gegen die materielle Rechtslage. Nichts deutet darauf hin, daß man der addictio in diesem Fall, da sie gegen den Eigentümer erging, materielle Gestaltungswirkung beimaß und annahm, daß sie den Prozeßsieger auf Kosten seines Gegners zum Eigentümer machte122. Im Prätendentenstreit gibt es kein. Gestaltungsurteil; die Rechtslage kann nur festgestellt, nicht aber geändert werden. Die Versäumnis-addictio wirkte allerdings, wenn sie gegen den Eigentümer erging, nahezu wie eine Rechtsübertragung. Denn mit der addictio stand inter partes endgültig fest, daß die obsiegende Partei der Eigentümer war. Der unterlegene Gegner konnte darum in Zukunft nicht mehr geltend machen, daß er der EigenDer konventionellen Ordnung T. 1.6–9 scheint mir der Vorschlag Nicosias, S. 82 ff. überlegen zu sein: 6. Rem ubi pacunt ora(n)to. Ni pacunt, in comitio aut in foro. 7. Ante meridiem caussam coiciunto. Com peroranto ambo praesentes. 8. Post meridiem praesenti litem addicito. 9. Si ambo praesentes, solis occasus suprema tempestas esto: ,Sie sollen die Streitsache an dem Ort verhandeln, den sie vereinbaren. Treffen sie keine Vereinbarung, auf dem Komitium oder dem Forum. 7. Vor der Mittagsstunde sollen sie den Streitfall vortragen. Sie sollen miteinander streitig verhandeln bei Anwesenheit beider. 8. Nach der Mittagsstunde soll er dem Anwesenden den Rechtsstreit zusprechen. 9. Wenn beide anwesend sind, soll der Sonnenuntergang der äußerste Zeitpunkt sein‘. In dieser Anordnung ist vollends deutlich, daß sich diese Sätze auf das geteilte Verfahren und den Urteilstermin vor dem iudex beziehen. Auf dem comitium oder dem forum soll der Urteilstermin nur dann stattfinden, wenn die Parteien keinen anderen Ort vereinbaren. 119 Wlassak (1904), S. 94; Kaser, RZ, S. 57; Behrends, S. 86; Nicosia, S. 115 f.; Albanese (o. Anm. 112), S. 132; Hackl, SZ 106 (1989), S. 175 Anm. 105. Zu addicere o. Anm. 30, zu litem addicere o. Anm. 78. Auch wenn in XII T. 1.8 lis (altlat. stlis) ,der Streit‘ ist, bleibt wahrscheinlich, daß die ältere Bedeutung ,Streitgegenstand‘ ist. 120 Siehe o. nach Anm. 76. 121 Vgl. o. nach Anm. 77. 122 Die Urteilswirkung im alten Eigentumsprozeß ist lebhaft umstritten. Die Hauptquelle des Meinungsstreits ist das Verhältnis der in iure cessio zur legis actio sacramento in rem; siehe insb. Mitteis, Röm. Privatrecht (1908), S. 276 ff. Kennzeichnend für die wohl noch vorherrschende Position etwa Hackl, SZ RA 106 (1989), S. 175: „Was wir den Quellen zur in iure cessio entnehmen können, wird zur Erklärung der l.a.s.i.r. herangezogen und umgekehrt“. Vgl. einerseits Kaser, RZ, S. 92 f., andererseits Wieacker, RRG, S. 257 f. Anm. 99 (Exkurs 2), beide m. Lit.
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tümer sei123. Diese Urteilswirkung band auch die Rechtsnachfolger der Prozeßgegner. Und weil der Unterlegene der Eigentümer war, war der Prozeßsieger auch nicht in einem Eigentumsprozeß gefährdet, den ein Dritter gegen ihn anstrengte unter Berufung auf Erwerbsgründe, die vor der Versäumnis-addictio lagen124. Verlor er allerdings die Sache, dann konnte er sie bei Dritten nicht unter Berufung auf die addictio mit der Eigentumsklage verfolgen. Mit dieser Einschränkung war seine Lage im Ergebnis nicht anders, als hätte er das Eigentum tatsächlich erworben. (b) Die in iure cessio ist diesem Versäumnisverfahren nachgebildet. Ihrer Gestalt nach ist sie die einverständliche Herbeiführung der Versäumnis-addictio gegen den Eigentümer, ihrer Funktion nach aber ein materielles Übereignungsgeschäft. Weil die addictio die Wirkung hatte, das Eigentum der anwesenden Prozeßpartei auch gegen die materielle Rechtslage inter partes außer Streit zu stellen, nahmen die Erfinder der in iure cessio das Versäumnisverfahren als Vorlage für die Konstruktion eines materiellen Übereignungsgeschäfts. (aa) Für die Konstruktion dieses Übereignungsgeschäfts kam eine einfache, ,formal exakte‘ Nachbildung des Versäumnisverfahrens allerdings nicht in Betracht. Denn mit der Versäumnis-addictio verlor die säumige Prozeßpartei ja den Prozeß und damit auch ihre Sakramentssumme. Das aber wollte der Veräußerer, der die Rolle der säumigen Prozeßpartei übernehmen mußte, natürlich nicht. Außerdem hätte das „vereinbarte Versäumnisverfahren“ 125 (das die einfache Nachbildung gewesen wäre) einen vorsätzlichen Falscheid des Erwerbers erfordert, denn der Erwerber wußte ja, daß er (noch) nicht Eigentümer des Sklaven war. In ein nachgeformtes Übereignungsgeschäft konnten darum die Eide keinesfalls übernommen werden. Die in iure cessio hat sie denn auch nicht. Im Ritual der in iure cessio fehlen aber nicht nur die Eide. Wie der Zwölftafelsatz belegt, erging die Versäumnis-addictio gegen die Streitpartei, die den Urteilstermin versäumte, bei der Streitbegründung aber präsent gewesen war und dort ihren Part auch gespielt hatte126. Die rechtsgeschäftliche Nachbildung läßt dagegen den Veräußerer schon die Streitbegründung versäumen. Im Ritual der in iure cessio ist alles ausgespart, was er im Prozeß, im Vorspiel der Streitbegründung, zu tun hatte, nämlich seine Eigentumsbehauptung und seine Vindikation. Folgerichtig fehlt auch die eigentliche Streitbegründung, die voraussetzt, daß beide Prozeßparteien vindiziert haben: fehlen der Dialog über die Rechtmäßigkeit der
123 Die moderne Theorie nennt diese Urteilswirkung ,materielle Rechtskraft‘, vgl. etwa die knappe und klare Darstellung bei P. Arens, Zivilprozeßrecht2 (1982), S. 224 ff. 124 Diese Konsequenz wird in der Diskussion über das Verhältnis der in iure cessio zu ihrer prozessualen Vorlage durchweg vernachlässigt. 125 Behrends, S. 89. 126 Siehe soeben nach Anm. 118.
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beiden Vindikationen, die gegenseitige Aufforderung zur Eidesleistung und die Eidesleistungen selbst. Nur an der Präsenz der ,säumigen Partei‘ hält das Ritual der in iure cessio paradoxerweise fest. Aus doppeltem Grunde mußte es an ihr festhalten. Die Präsenz der ,säumigen Partei‘ war einmal geboten, weil die Streitbegründung, anders als das Urteilsverfahren, nicht anberaumt war. Gab es aber für die Streitbegründung keinen Termin, so konnte sie nur von einer Streitpartei ,versäumt‘ werden, die präsent war. Ihr Versäumnis war manifest, wenn sie auf die Frage des Magistrats, ob sie ,entgegengesetzt vindiziere‘, untätig blieb. Zum anderen erforderte die Funktion der in iure cessio als Übereignungsgeschäft die Mitwirkung des Veräußerers. Der Veräußerer mußte sein Einverständnis bekunden. Durch sein absichtliches Versäumnis brachte er es zum Ausdruck. Die Versäumnis-addictio erging im Urteilstermin; der iudex erteilte sie. In der rechtsgeschäftlichen Nachbildung kommt es dagegen gar nicht zu einer Richterbestellung, weil der Veräußerer schon die Streitbegründung versäumt. Darum muß hier der Magistrat selbst die addictio erteilen: die addictio, die er im Prozeß mit der Richterstellung an den iudex delegierte127, blieb in der in iure cessio seine Aufgabe. Ein letzter Punkt bleibt zu klären. Im Ritual der in iure cessio fehlen nicht nur die Eigentumsbehauptung und die Vindikation des ,säumigen‘ Veräußerers sowie (mit dem Dialog) die eigentliche Streitbegründung. Das Ritual der in iure cessio verzichtet darüber hinaus auch auf die Vindikation des Erwerbers, der die Rolle der anwesenden und zum Streit bereiten Prozeßpartei spielt: Er hat nur noch die Eigentumsbehauptung zu sprechen und den Handgestus vorzunehmen128. Unsere Hypothese, daß die in iure cessio dem Versäumnisverfahren der legis actio sacramento in rem nachgebildet ist, liefert auch für diese Reduktion die Erklärung. Im Eigentumsprozeß behauptet jede Partei, daß sie der Eigentümer des Sklaven sei129. Über beide Eigentumsbehauptungen wird aber nur inzidenter entschieden. Denn die Eigentumsbehauptungen werden in Unrechtsbehauptungen eingekleidet und über diese Unrechtsbehauptungen ergeht die Entscheidung. Das Mittel der Einkleidung sind die Vindikationen: beide Eigentumsprätendenten legen dem Sklaven die vindicta auf und jeder behauptet, die vindicatio des anderen sei ihm gegenüber Unrecht. Diese Behauptung des Prätendenten A ist richtig, 127
Vgl. oben Anm. 118. Die ältere Lehre (vgl. Kipp, RE 3[1899], S. 2001) nahm an, daß die Stabauflegung ursprünglich zum Ritual der in iure cessio gehört und sich zur Zeit des Gaius verloren habe (so etwa Huschke, ZRG 7 [1868], S. 180; Puntschart, Grundgesetzliches Civilrecht [1872], S. 241, 336), oder schloß diese Möglichkeit nicht aus (so etwa Lotmar, Zur legis actio sacramento in rem [1876], S. 37). Andere vermuten (so etwa Wlassak [1907], S. 5 Anm. 3), daß die Stabauflegung „bei der Eigentumszession niemals üblich“ war, oder konstatieren, daß sie fehlt (Kaser, RP I, S. 48 Anm. 2). 129 Zum folgenden ausführlicher schon o. nach Anm. 69. 128
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wenn er der Eigentümer des Sklaven ist. Die vindicatio des B schafft also die Voraussetzung, über die Eigentumsbehauptung des A inzidenter zu entscheiden, und entsprechend schafft die vindicatio des A die Voraussetzung, über die Eigentumsbehauptung des B inzidenter zu entscheiden. Die vindicatio des A gehört also funktionell zur Eigentumsbehauptung des B; sie ist keine Voraussetzung für die Entscheidung über die eigene Eigentumsbehauptung des A. Die Formelexperten verfuhren darum konsequent, wenn sie auch die vindicatio der präsenten, zum Streit bereiten Partei nicht in das Ritual der in iure cessio übernahmen. Da die vindicatio der präsenten Partei funktionell zur Eigentumsbehauptung des säumigen Gegners gehörte, wäre sie in einem Ritual, das den Gegner die Eigentumsbehauptung versäumen läßt, ohne Sinn. (bb) Die in iure cessio ist ein Übereignungsgeschäft, aber sie hat die Gestalt eines Prozesses. Sie ist dem Versäumnisverfahren der legis actio sacramento in rem nachgebildet, und wir konnten verfolgen, wie die Nachbildung durch die Funktion des neuen Geschäfts bestimmt worden ist. Das Kernstück der in iure cessio ist die addicio. Sie ist aus dem Versäumnisverfahren übernommen, aber sie ist nicht mit der Versäumnis-addictio identisch. Ein äußerer Unterschied ist evident. Die Versäumnis-addictio ergeht zu der Rechtsbehauptung der anwesenden Streitpartei, daß der (säumige) Gegner dem Sklaven die vindicta zu Unrecht aufgelegt habe130; der iudex entscheidet mit ihr nur inzidenter, daß die anwesende Prozeßpartei Eigentümer des umstrittenen Sklaven ist. Die addictio der in iure cessio ergeht dagegen zu der Rechtsbehauptung des Erwerbers, daß der Sklave ihm gehöre; hier entscheidet der Magistrat mithin unmittelbar, daß der Erwerber Eigentümer des Sklaven ist. Wesentlich ist ein anderer Unterschied. Wie die in iure cessio nur die Gestalt eines Prozesses hat, so ist auch ihre addictio nur ihrer Erscheinung nach der prozessuale Urteilsspruch. Die Versäumnis-addictio war für die Zwecke eines materiellen Übereignungsgeschäfts nicht geeignet. Sie wirkte zwar, wenn sie gegen den Eigentümer erging, nahezu wie eine Eigentumsübertragung131; die materielle Rechtslage änderte sie aber gerade nicht. Mit ihrer Verwendung in einem Übereignungsgeschäft veränderte darum die Pontifikaljurisprudenz ihre Rechtsnatur: die addictio des Versäumnisverfahrens ist ein Urteil mit den spezifischen Wirkungen eines Urteils; die addictio der in iure cessio dagegen ein wesentlicher Bestandteil eines privaten Rechtsgeschäfts mit materiellrechtlicher Gestaltungswirkung. Die in iure cessio ist dem Versäumnisverfahren der legis actio sacramento in rem nachgebildet worden, obwohl die Versäumnis-addictio gegen den Eigentümer nur nahezu wie eine Eigentumsübertragung wirkte. Mit dieser Nachbil130 131
Siehe o. bei Anm. 120 Siehe o. nach Anm. 121.
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dung folgte die Pontifikaljurisprudenz vermutlich jedoch schon einem Beispiel: nämlich dem Beispiel der manumissio vindicta. Die manumissio vindicta scheint nämlich älter zu sein als die in iure cessio132. 4. Wie die in iure cessio dem Versäumnisverfahren der Eigentumsklage nachgebildet ist, so ist die manumissio vindicta dem Versäumnisverfahren des Freiheitsprozesses nachgebildet. Ihre Nachbildung war jedoch ,einfacher‘; sie lag näher als die der in iure cessio. Denn die Wirkung der Versäumnis-addictio im Freiheitsprozeß war uneingeschränkt die einer Freilassung. (a) Versäumte im Freiheitsprozeß der Eigentumsprätendent den Urteilstermin, so entschied nach der Mittagsstunde der iudex den Prozeß zugunsten des anwesenden Freiheitsprätendenten, indem er seiner Rechtsbehauptung beistimmte. Anders als im Eigentumsprozeß beschränkte sich die Wirkung dieser addictio nicht auf die Prozeßparteien. War der nicht erschienene Eigentumsprätendent der Eigentümer der umstrittenen Person, so stand mit der addictio nicht nur inter partes fest, daß die umstrittene Person frei war: vielmehr konnte der säumige Eigentümer auch Dritten gegenüber in Zukunft nicht mehr geltend machen, daß die umstrittene Person unfrei sei und ihm gehöre. In einem späteren Prozeß konnte es wirklich nicht darauf ankommen, daß dem unterlegenen Eigentumsprätendenten wieder der Freiheitsprätendent des Vorprozesses gegenübertrat133. Diese Wirkung der addictio entsprach der Eigentümlichkeit des Freiheitsprozesses, daß die Person, über deren Freiheit der Prozeß geführt wurde, nicht selbst Prozeßpartei war. Als Prozeßpartei handelte für sie der Freiheitsprätendent; in der Rolle der Prozeßpartei fungierte er als Beistand der umstrittenen Person134. Da er ihre Rechtsposition geltend machte und seine Rolle jedermann übernehmen konnte135, wäre es willkürlich gewesen, die Urteilswirkung nach den Prozeßparteien zu bestimmen. Im Freiheitsprozeß stellte die addictio die umstrittene Rechtsfrage darum nicht zwischen den Prozeßparteien, den beiden Prätendenten, außer Streit, sondern zwischen dem Eigentumsprätendenten und der umstrittenen Person, für die der Freiheitsprätendent handelte. Für diese Überlegungen gibt es eine schlagende Bestätigung. Cicero überliefert, daß nach einer alten Ausnahmebestimmung der Freiheitsprozeß gegen den obsiegenden Eigentumsprätendenten beliebig oft wiederholt werden konnte136. Dieser Ausnahme hätte es nicht bedurft, wenn das Urteil, wie regelmäßig, (nur) die Prozeßparteien gebunden hätte. Während also die Versäumnis-addictio gegen den Eigentümer im Eigentumsprozeß nur nahezu wie eine Eigentumsübertragung wirkte, wirkte sie im Frei132
Siehe u. S. 96. Was durchaus möglich war: Franciosi, S. 270 ff. m. weit. Lit. 134 „Eine Rechtsfigur von eigener Art“: Kaser, RZ, S. 161; Franciosi, S. 158 f. 135 Franciosi, S. 169 f. 136 Cic. de domo sua, S. 78 (s. oben Anm. 64); Martial. 1.52; Franciosi, S. 270 ff.; Kaser, RZ, S. 294 f. 133
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heitsprozeß ohne jede Einschränkung wie eine Freilassung. Wegen dieser Wirkung der addictio benutzte die Pontifikaljurisprudenz das Versäumnisverfahren des Freiheitsprozesses als Vorlage für die Konstruktion eines Rechtsgeschäfts, dessen Funktion die Freilassung eines Sklaven war. Mit ihrer Verwendung in der manumissio vindicta veränderte sich allerdings die Rechtsnatur der addictio: die Versäumnis-addictio ist ein Urteil und wirkt nur im Ergebnis wie eine Freilassung; die addictio der manumissio vindicta ist dagegen ihrer Bestimmung nach Freilassungakt: nämlich das Kernstück eines privatautonomen Freilassungsgeschäfts. (b) Das Konzept der Nachbildung ist dasselbe wie bei der in iure cessio. Die Ergebnisse sind freilich nicht völlig kongruent. Im Ritual der in iure cessio hat der Erwerber nur noch die Eigentumsbehauptung zu sprechen und den Handgestus vorzunehmen; anders als im Eigentumsprozeß legt er nicht die vindicta an. Im Ritual der manumissio vindicta ist die vindicatio des Freiheitsprätendenten dagegen nicht entfallen. Wie der Freiheitsprätendent im Prozeß muß auch der Vindikant in der manumissio vindicta die Freiheitsbehauptung sprechen, den Handgestus vornehmen und dann die vindicatio vollziehen. Diese Inkongruenz erklärt sich aus der unterschiedlichen Funktion, die die vindicatio in beiden Prozeßritualen hat. Im Eigentumsprozeß ist die vindicatio des Eigentumsprätendenten keine Voraussetzung für die Entscheidung über seine Eigentumsbehauptung; wie wir sahen137, gehört seine vindicatio vielmehr funktionell zur Eigentumsbehauptung des Prozeßgegners. Nach dem Versäumniskonzept war sie darum nicht in das Ritual der in iure cessio zu übernehmen. Denn im Ritual der in iure cessio ist der Gegner ja gerade säumig und stellt keine Eigentumsbehauptung auf. Im Freiheitsprozeß lagen die Dinge anders. Hier legte nur der Freiheitsprätendent der umstrittenen Person die vindicta auf. Seine vindicatio gehörte funktionell zwar auch zur Eigentumsbehauptung des Prozeßgegners; sie schuf die Voraussetzung, über die Eigentumsbehauptung des Prozeßgegners inzidenter zu entscheiden. Die Entscheidung über Recht oder Unrecht der vindicatio war nach der Anlage des Freiheitsprozesses aber zugleich die Entscheidung über die Freiheitsbehauptung138. Die vindicatio des Freiheitsprätendenten gehörte funktionell also auch zu seiner Freiheitsbehauptung. Darum mußte sie in das Ritual der manumissio vindicta übernommen werden. Denn nur wenn der Freiheitsprätendent die vindicta anlegte, hatte er alles getan, was er ohne den säumigen Gegner tun konnte, um eine positive Entscheidung über seine Freiheitsbehauptung herbeizuführen.
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Oben nach Anm. 129. Siehe o. S. 80 f.
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5. Die addictio, die im Versäumnisverfahren der legis actio sacramento in rem gegen den Eigentümer erging, wirkte nahezu wie eine Übertragung des Eigentums vom säumigen Eigentümer auf den obsiegenden Nichteigentümer139. Die addictio, die im Versäumnisverfahren des Freiheitsprozesses gegen den Eigentümer erging, wirkte dagegen ohne jede Einschränkung wie eine Freilassung des Sklaven140. Es lag darum näher, dem Freiheitsprozeß ein Freilassungsgeschäft nachzubilden, als dem Eigentumsprozeß ein Übereignungsgeschäft. Mit der Verwendung der Versäumnis-addictio in der manumissio vindicta und der in iure cessio veränderte die Pontifikaljurisprudenz zwar im einen wie im anderen Fall die Rechtsnatur der addictio; doch nur mit ihrer Verwendung in der in iure cessio veränderte sie die Wirkung der addictio auch im Ergebnis. Dieser Schritt aber war sicherlich erleichtert, wenn schon einmal einem Versäumnisverfahren ein Rechtsgeschäft nachgebildet worden war. Diese Überlegungen lassen vermuten, daß die manumissio vindicta das ältere der beiden Geschäfte ist141. Sie konnte aus dem Versäumnisverfahren des Freiheitsprozesses sozusagen stufenlos gewonnen werden und war dann das Exempel für die Schaffung der in iure cessio.
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Siehe o. nach Anm. 121. Siehe o. nach Anm. 132. 141 Diese Vermutung schon bei Rabel (o. Anm. 28), Wlassak (1907), S. 39 Anm. 1, 72, 102 und Früheren (ebd. 39 Anm. 1). 140
In iure cessio und manumissio vindicta: Überlegungen zu zwei archaischen Rechtsgeschäften* I. Die legis actio sacramento in rem Die in iure cessio gilt vielen als typisches Beispiel eines ,nachgeformten Rechtsgeschäfts‘.1 Der Begriff ist von Ernst Rabel in zwei Abhandlungen der Jahre 1906 und 1907 in die Terminologie der deutschen Romanistik eingeführt worden.2 Die ,nachgeformten Rechtsgeschäfte‘ sind Expertenwerk, durchweg von der frühen römischen Jurisprudenz geschaffen, deren Träger die Pontifices waren. Sie sind formgebundene Rechtsakte, durchaus Kunstgebilde, die älteren formgebundenen Rechtsakten ,nachgeformt‘, genauer: aus Elementen älterer ritueller Rechtsakte zu neuen, bis anhin nicht bedienten Zwecken hergestellt worden sind. Die in iure cessio war nach einer in den Fragmenta Vaticana überlieferten Bemerkung des Juristen Julius Paulus schon den XII Tafeln bekannt3. Die Vorlage, der sie ,nachgeformt‘ worden ist, war nach verbreiteter, kaum bestrittener Meinung das Begründungsritual der legis actio sacramento in rem. Ich möchte versuchen, diesen Prozeß der Herstellung der in iure cessio nachzuvollziehen. Zu diesem Zweck beginne ich mit einer detaillierten Darstellung und Interpretation des Rituals, mit dem der dingliche Sakramentsprozeß eingeleitet und begründet wurde.4 1. Das Ritual wurde, wie sich versteht, in iure, auf der Gerichtsstätte, vor dem Magistrat und unter seiner Mitwirkung vollzogen. Der Prozeß war ein Prätenden* Nur mit dem Namen des Verfassers oder abgekürzt werden zitiert: F. L. von Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozeß, Erster Band, Legis Actiones (1864); O. Karlowa, Römische Rechtsgeschichte, 1. Band (1885), 2. Band (1901); M. Kaser, Das altrömische Ius (1949); M. Kaser, Das römische Privatrecht, 1. Abschnitt (2. Aufl. 1971); M. Kaser, Das römische Zivilprozessrecht (1966); F. L. v. Keller/A. Wach, Der römische Civilprocess und die Actionen (6. Ausgabe 1883); W. Kunkel, Römisches Privatrecht (1935); Giovanni Pugliese, Il processo civile romano, I Le legis actiones (1961); J. G. Wolf, Die legis actio sacramento in rem, in Römisches Recht in der europäischen Tradition, herausgegeben von O. Behrends/M. Diesselhorst/W. E. Voss (1985); J. G. Wolf, Die manumissio vindicta und der Freiheitsprozeß. Ein Rekonstruktionsversuch, in Libertas. Grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart, herausgegeben von O. Behrends und M. Diesselhorst (1991). 1 Kaser, Privatrecht 40. 2 E. Rabel, Nachgeformte Rechtsgeschäfte. Mit Beiträgen zu den Lehren von der Injurezession und vom Pfandrecht, in: SZ 27 (1906), 290–335; 28 (1907), 311–379. 3 Frag. Vat. 50. 4 Eine verkürzte Darstellung schon manumissio 75–78.
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tenstreit5: beide Prätendenten sagten und taten zur Einleitung des Verfahrens dasselbe. Wer zuerst sprach und handelte war der Herausforderer, den wir den Kläger nennen, der Herausgeforderte, der auf der Stelle mit derselben Spruchformel und denselben Gesten antwortete, der Beklagte. Kläger und Beklagter fanden sich mit dem Streitobjekt, sofern es keine Immobilie war, auf der Gerichtsstätte ein, sagen wir, wie Gaius, mit dem Sklaven, den beide für sich beanspruchten. Nach Verständigung mit dem Magistrat, wie wir uns vorstellen müssen, wurde das Ritual, das Gaius schildert6, vollzogen. Kläger und Beklagter hielten eine festuca, einen Stab, in der Hand, die sie aber zunächst nicht einsetzten. Das Ritual begann vielmehr damit, daß der Kläger – Gaius nennt ihn is qui prior vindicat – eine Hand auf den Sklaven legte7, ihn also anfasste, adprehendebat, und die Formelworrte sprach: ,Hunc ego hominem ex iure quiritium meum esse aio‘, und, ohne sich zu unterbrechen, fortfuhr: ,Secundum suam causam, sicut dixi, ecce tibi, vindictam inposui‘. Während er diesen zweiten Satz sprach, tat er, was er sagte: legte er die festuca, die das Ritual vindicta nennt8, an den Sklaven9. Der Beklagte antwortete, indem er dasselbe Ritual vollzog: adversarius eadem similiter dicebat et faciebat.10 2. Das Verständnis schon dieser einleitenden Spruchformeln ist kontrovers11. Ursache und Anlaß der unterschiedlichen Meinungen ist die überlieferte Schriftform des Gaiustextes im Codex Veronensis12. Der Gaiustext ist bekanntlich in Unzialen des 5. Jahrhunderts geschrieben, aber ohne Satzzeichen und ohne Abstand zwischen den Worten. Alle Herausgeber teilen die Spruchformel in zwei Sätze auf. Bethmann-Hollweg und Gneist lassen den ersten Satz mit sicut dixi enden, so daß der zweite lediglich lautet: ecce tibi vindictam inposui: ,Siehe da, ich habe die vindicta angelegt‘. Die meisten – Huschke, Krüger und Studemund, Seckel und Kübler, Baviera, de Zulueta, Pugliese13 und David – setzen den Punkt 5
J. G. Wolf, legis actio 30–32. Gai. inst. 4. 16. 7 Betrachtungen zur manus iniectio: Kaser, Ius 191–195. 8 Anders P. Noailles, Fas et jus (1948) 49, 65, dem Pugliese, Processo 282, folgt. 9 Boethius, In Cic. top. Cap. 2 § 10: Erat etiam pars altera adipiscendae libertatis, quae vindicta vocabantur. Vindicta vero est virgula quaedam, quam lictor manumittendi servi capiti imponens eundem servum in libertatem vindicabat, dicens quaedam verba sollemnia, atque ideo virgula vindicta vocabatur. Dagegen Gaius 4. 16: festuca autem utebantur quasi hastae loco, signo quodam iusti dominii . . . Nach Kaser, Zivilprozessrecht 69 (mit Lit.), legte der Prätendent die festuca sofort an. 10 Kaser, Zivilprozessrecht 70 A. 29: „Tut er das nicht, sondern erkennt er das Recht des Klägers an, dann ist dies confessio in iure, der Prätor addiziert die Sache dem Kläger.“ 11 J. G. Wolf, legis actio 3–5. 12 Pugliese, Processo I 276: „assenza (di punteggiatura) da adito alle piu svariate interpretazioni, senza che sia possibile un rigido criterio selettivo.“ Vgl. auch Kaser, Zivilprozessrecht 69 A. 21. 13 Pugliese, Processo 276. 6
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nach secundum suam causam, so daß für den zweiten Satz die Worte übrig bleiben: sicut dixi ecce tibi vindictam inposui: ,Wie ich gesagt habe, siehe da, habe ich die vindicta angelegt‘. Noailles14 Kaser15 und Manthe16 schließlich, denen ich mich anschließe17, trennen nach meum esse aio, so daß der zweite Satz lautet: ,Secundum suam causam sicut dixi ecce tibi vindictam inposui‘: ,Gemäß seiner Rechtlage, wie ich gesagt habe, siehe da, habe ich die vindicta angelegt‘. Die erste und zweite Lösung sehen in secundum suam causam eine unspezifische, eine generische Begründung der vorausgehenden Eigentumsbehauptung. Sie sollte etwa die Möglichkeiten abdecken, daß der Prätendent den Sklaven gekauft hat oder daß ihm der Sklave geschenkt worden ist. Diese Erklärung widerspricht der konkreten Klarheit des ganzen Rituals. Sicut dixi erinnert an das gerade ausgesprochene ex iure Quiritium meum esse, wodurch wiederum deutlich wird, daß die sua causa die behauptete Rechtslage des Streitobjekts, hier also die Eigentumslage des Sklaven war.18 Wie wir sehen werden, entspricht diesem Zusammenhang im zweiten Teil des Rituals die Aufforderung des Klägers, der Beklagte möge sagen, qua ex causa er vindiziert habe, und dessen Antwort, daß er ,Recht getan habe‘, ius feci, als er dem Sklaven die vindicta auflegte. Von überzeugender Stringenz ist indessen ein formales Argument, das Valerius Probus liefert. In seinem Katalog der Abkürzungen wird die Buchstabenfolge S. S. C. S. D. E. T. V. aufgelöst: Secundum suam causam sicut dixi ecce tibi vindicta – was nur den Schluß zuläßt, daß diese Buchstabenfolge eine Einheit bildete, daß sie zu ein und demselben Satz gehörte. Nach diesem Verständnis taten also Kläger und Beklagter, was sie sagten, als sie den zweiten Satz sprachen: sie legten dem Sklaven die festuca auf. Zuvor hatte jeder gesagt, daß der Sklave ihm gehöre, worauf sie mit sicut dixi hinweisen. Und gemäß dieser Rechtslage, secundum suam causam, legten sie dem Sklaven die festuca auf. Dieser gestus bedeutete hier Züchtigung, wozu allein der Eigentümer des Sklaven berechtigt war. 3. Zuvor hatten Kläger und Beklagter, als sie die Eigentumsbehauptung sprachen, den Sklaven ,angefaßt‘, hatten ihm die Hand aufgelegt.19 Schon in diesem gestus sieht man – wie schließlich in dem gesamten einleitenden Teil des Rituals
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P. Noailles, Fas et jus (1948) 66. Kaser, Zivilprozessrecht 69. 16 Gaius Institutiones (2004) 324. 17 So schon J. G. Wolf, manumissio 73, 75. 18 Bethmann-Hollweg, Civilprozeß I 139: secundum suam causam sicut dixi soll bestätigen, „daß er ein einfaches meum ex iure Quiritium an dem Menschen behaupte“; Pugliese, Processo 276: „vindictam imponere era atto rituale . . . riguardo alle parole secundum suam causam egli precisa che esse avrebbero richiamato il fondamento di tale forza.“ 19 J. G. Wolf, legis actio 6–13. 15
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einschließlich der festuca-Geste – Bemächtigungen, eigenmächtige Besitzergreifungen des Streitobjekts durch die Prozeßgegner.20 Diese Deutung des Handgestus geht über die Eigentumserklärung, die der gestus begleitet, hinaus und nimmt der Anlegung der festuca ihre symbolische Funktion. Näher liegt darum, in der Handauflegung eine sichtbare Bekräftigung des meum esse aio zu sehen, ihr mithin deiktische Bedeutung beizulegen21. 4. Die festuca22 heißt in der Spruchformel vindicta. Die Grundbedeutung von dicere ist bekanntlich ,zeigen‘, wie das griechische deiknumi oder die lateinischen Derivate indicere oder vindex lehren. Vindicere, das schon die XII Tafeln kennen, gebildet aus vim dicere, bedeutet ,Gewalt‘ oder ,Gewalttätigkeit zeigen‘. Vindicta ist danach die ,gezeigte Gewalt‘ oder die ,gezeigte Gewalttätigkeit‘. Die festuca wird mithin in der Spruchformel nach dem Zweck, zu dem sie gebraucht wird, vindicta genannt. Mit ihr wird im Ritual Gewalt nicht ausgeübt, sondern sinnbildlich dargestellt.23 Nach diesem zweiten Teil des Rituals, der Darstellung von Gewaltanwendung – im Fall des umstrittenen Sklaven von Züchtigung – ist die gesamte Einleitung des Rituals, die Eigentumsbehauptung eingeschlossen, vindicatio genannt worden. 5. Nach diesen Überlegungen kommen wir zu folgendem Zwischenergebnis24: Die einleitende Spruchformel, von beiden Prätendenten, dem Kläger und dem Beklagten, gesprochen, zerfällt in zwei Sätze. Der erste ist die Eigentumsbehauptung: ,Hunc ego hominem ex iure quiritium meum esse aio‘, begleitet von dem Handgestus, der keine Bemächtigung, sondern die sichtbare Bekräftigung der Eigentumsbehauptung ist. Der zweite Satz ist die eigentliche vindicatio: secundum suam causam, sicut dixi, ecce tibi, vindictam inposui, begleitet von der Berührung des Sklaven mit der vindicta, der sinnbildlichen Darstellung einer Gewalttätigkeit, in unserem Beispiel der Züchtigung des Sklaven, die ausschließlich dem Eigentümer erlaubt war. Nach diesem zweiten Abschnitt, der eigentlichen vindicatio, wurde die ganze rituelle Einleitung der Prozeßbegründung vindicatio genannt. 6. Beide Prätendenten behaupteten, Eigentümer des Sklaven zu sein und damit berechtigt, gegen ihn Gewalt zu üben, ihn zu züchtigen. Die beiden Behauptungen schlossen einander aus. Nur einer konnte der Eigentümer des Sklaven sein und berechtigt, ihn zu züchtigen. Mit den vindicationes der Prätendenten war der 20 Keller/Wach, Der römische Civilprocess und die Actionen, 66, sprechen von dem „das die beiderseitige Rechtsbehauptung begleitende Angreifen der Sache“. 21 J. G. Wolf, manumissio 68; auch Funktion und Struktur der Mancipatio, in Mélanges à la Mémoire de André Magdelain, herausgegeben von M. Humbert und Y. Thomas (1998) 506–508. 22 J. G. Wolf, legis actio 13–20. 23 Keller/Wach, Der römische Civilprocess und die Actionen, 66: „ festucam imponere – also die symbolische Gewalt mit Anrufung des Rechtes.“ 24 J. G. Wolf, manumissio 75/6.
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Prozeß noch nicht begründet, seine Begründung aber vorbereitet, die nun erfolgte.25 Nachdem die Streitparteien auf Geheiß des Prätors den Sklaven losgelassen, ihre Hände und die vindictae von ihm genommen hatten, forderte der Kläger – is qui prior vindicavit – den adversarius auf zu sagen, mit welcher Berechtigung er vindiziert habe: ,Postulo anne dicas qua ex causa vindicaveres‘. Der adversarius antwortet: Ius feci, sicut vindictam inposui: ,Ich habe Recht getan, als ich die vindicta angelegt habe‘. Damit macht er erneut geltend, Eigentümer des Sklaven zu sein, denn nur dann hat er Recht getan, als er den Sklaven mit der vindicta berührte. Darauf wieder der Kläger: ,Quando tu iniuria vindicavisti D (quingentis) aeris sacramento te provoco‘: ,Für den Fall, daß du iniuria, zu Unrecht, dem Sklaven die vindicta aufgelegt hast, fordere ich dich mit einer Wettsumme von 500 As heraus‘. Woraufhin der Beklagte seinerseits, wohl mit denselben Worten, den Kläger herausforderte: adversarius quoque dicebat similiter: Et ego te „D aeris sacramento provoco“.26 7. Damit war das Streitverfahren begründet. Nach Gaius folgte nun dasselbe, was auch in der legis actio sacramento in personam geschah.27 Der Magistrat, vermutlich vom Kläger förmlich aufgefordert28, ernannte nun einen iudex, der zu entscheiden hatte, wessen Wettsumme an die Staatskasse verfiel und wer seine Wettsumme zurück erhielt29. Die Entscheidung hing davon ab, wer die vindicta rechtmäßig, wer sie unrechtmäßig dem Sklaven angelegt hat. Rechtmäßig hat sie angelegt, wer Eigentümer des Sklaven war. Wer Eigentümer des Sklaven war, wurde mithin nur mittelbar entschieden. Streitthema war die Rechtmäßigkeit des vindictam inponere – der Eigentumsprozeß demnach eingekleidet in einen Unrechtsprozeß30. Der Sakramentsprozeß in rem konnte darum auch nicht mit einer addictio enden. Das Urteil konnte nur lauten, daß der eine Prätendent zu Recht, der andere zu Unrecht die festuca angelegt hat. Das Eigentum brauchte auch nicht addiziert
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J. G. Wolf, legis actio 21–27; manumissio 76. Gai 4. 16: Codex Veronensis und PSI 1182. Vgl. U. Manthe, Gaius Institutionen, Texte zur Forschung Bd. 81 (2004) 326. Zu provoco siehe John Crook, Sponsione provocare: its Place in Roman Litigation, Journal of Roman Studies 66 (1976) 132–138; J. G. Wolf, legis actio 35/6. 27 Gai 4. 16: deinde eadem sequebantur, quae cum in personam ageretur. 28 Vielleicht mit den von Valerius Probus 4. 8 überlieferten Worten: te praetor iudicem arbitrumve postulo uti. 29 Varro, de lingua Latina 5. 180: qui iudicio vicerat, suum sacramentum e sacro auferat, victi ad aerarium redibat. Paulus Festus P. 346 i.f.–347. 30 J. G. Wolf, legis actio 27–30; manumissio 77/8. Bethmann-Hollweg. Civilprozeß I 123: „Über das Sacramentum wurde fortan gestritten und im richterlichen Urteil die Wette für gewonnen oder verloren erklärt und damit zugleich über ihren Gegenstand, das Streitobjekt, entschieden.“ 26
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zu werden, denn der obsiegende Prätendent war ja, wie der iudex inzidenter feststellen mußte, Eigentümer des Sklaven. Es wäre folglich unrichtig von einer addictio des Eigentums durch den iudex zu sprechen.31 8. Am Rande möchte ich nur bemerken, daß der Sakramentsprozeß ursprünglich, gewiß in vordecemviralen Zeiten, wohl nicht geteilt war und der Magistrat auch das Urteil sprach; und daß die Prätendenten sich ursprünglich nicht mit der Bereitschaft zu Wetteinsetzen herausforderten, sondern, wie das Wort sacramentum bezeugt, durch Eide32. Wann der Prozeß geteilt worden ist und die Eide durch Wetteinsätze abgelöst worden sind, ist ein anderes Thema und für unsere Überlegungen kaum relevant. II. Die in iure cessio 1. Wir kommen zur in iure cesio. Sie war ein Formalakt und diente der Übertragung von Eigentum und anderen Herrschaftsrechten. Die Hauptquelle ist wieder Gaius. Nach seiner Darstellung liegt auf der Hand, warum sie von vielen zu den ,nachgeformten‘ Rechtsgeschäften gezählt wird, ,nachgeformt‘ in diesem Fall dem Begründungsritual der dinglichen Sakramentsklage.33 Sie wurde in iure, auf der Gerichtsstätte, vor dem Magistrat und unter seiner Mitwirkung vollzogen. Hier fanden sich Veräußerer, is qui cedit, und Erwerber, is cui ceditur, mit dem Objekt, das übertragen werden sollte, ein – sagen wir auch hier: mit einem Sklaven, den der Veräußerer dem Erwerber übereignen wollte. Nach Verständigung mit dem Magistrat, wie wir uns wieder vorstellen müssen, wurde der Formalakt vollzogen. Der Erwerber faßte den Sklaven an, legte eine Hand auf ihn, und sprach die Formelworte: ,Hunc hominem ex iure quiritium meum esse aio‘. Darauf fragte der Magistrat den Veräußerer, ob er auch seinerseits behaupte, daß der Sklave ihm gehöre. Wie das Ritual offenbar vorschrieb, verneinte der Veräußerer, daß ihm der Sklave gehöre, oder verschwieg sich. Daraufhin ,addizierte‘ der Magistrat den Sklaven, wie Gaius sagt, dem Erwerber34. Der Sakramentsklage ,nachgeformt‘ ist nicht viel. Wie dort der Kläger, so spricht hier der Erwerber die Formelworte: ,Hunc hominem ex iure quiritium meum esse aio‘, und wie der Kläger, so legt der Erwerber eine Hand auf den 31 Anderer Ansicht Kaser, Ius 110: an den Ausspruch, „daß das sacramentum der einen Partei iustum, das der anderen iniustum sei“, habe sich „noch ein addicere der Sache an den Sieger“ angeschlossen. 32 Siehe etwa Kaser, Ius 18–20; A. A. Schiller, Roman Law (1978) 193–195; J. G. Wolf, legis actio 32–36; manumissio 75–77. 33 Kaser, Ius 104 ff. Anderer Ansicht: L. Mitteis, Römisches Privatrecht (1908) 276– 279; H. Lévy-Bruhl, Quelques problèmes du très ancien droit romain (1934) 114 ff. 34 Zur addictio alsbald unter 3.
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Sklaven, um darzustellen, was er sagt. In diesen Elementen und nur in diesen Elemente decken sich die Rituale der in iure cessio und der legis actio sacramento in rem.35 Diese begrenzte Kongruenz von legis actio und der ihr ,nachgeformten‘ in iure cessio konnte natürlich nicht übersehen werden. Die Lösung sah man darin, daß die in iure cessio nicht dem streitigen, sondern einem Anerkenntnisprozeß nachgebildet sei. Wir kommen alsbald darauf zu sprechen, bleiben vorerst aber noch bei der in iure cessio. 2. Eine festuca ist nicht im Spiel und von einer vindicatio weiß die in iure cessio nichts. Wenn nach Gaius der Erwerber gleichwohl ,vindiziert‘, so wohl darum, weil im Sakramentsprozeß die vindicatio dem Einleitungsritual, die vorausgehende Eigentumsbehauptung eingeschlossen, den Namen gegeben hat. Darum konnte die Eigentumsbehauptung mit dem Handgestus auch dann noch vindicare genannt werden, wenn der den Namen gebende zweite Teil, eben die vindicatio fortfiel36. 3. Nach der Eigentumsbehauptung des Erwerbers fragte der Magistrat den Veräußerer an contra vindicet, ob er auch vindiziere. Die Frage mag zum Ritual der in iure cessio gehört haben: zum Ritual der Sakramentsklage gehörte sie nicht. Die Prozeßbegründung verlangte die Gegenvindikation. Die in iure cessio dagegen war Rechtsübertragung und darum in ihrem Ritual für die Gegenbehauptung kein Platz. Der Sakramentsprozeß war, wie wir sahen, ein Unrechtsprozeß: wer dem Sklaven die vindicta zu Unrecht angelegt hat, verlor die Wettsumme. Darum konnte der Sakramentsprozeß nicht mit einer addictio schließen. Anders die in iure cessio. Nach der Eigentumsbehauptung des Erwerbers und der Frage des Magistrats, ob der Veräußerer auch vindiziere, ,addizierte‘ der Magistrat – was durchweg dahin verstanden wird, daß er dem Erwerber das Eigentum an dem Sklaven zuerkannte. Dieses Verständnis entspricht der Funktion der in iure cessio als Rechtübertragung. Mit ihrem Ritual, der Spruchformel des Erwerbers, aber geht dieses Verständnis der addictio nicht überein. Denn der Erwerber behauptet unwidersprochen, daß der Sklave ihm gehört. Und danach möchte man – jedenfalls für die Zeit ihres Ursprungs – eine Bestätigung seines Eigentums und nicht dessen Zuerkennung durch den Magistrat erwarten. Diese Erwartung erfüllt die oft unbeachtete Grundbedeutung von addicere, die Paulus Diaconus aus Festus überliefert: Addicere est proprie idem dicere et adprobare dicendo.37 Der Magistrat, 35 Nach Kaser, Ius 105/6: „macht . . . die Gestalt der in iure cessio für ihre Prozeßnatur bereits vollen Beweis“. Allerdings soll sie „als Abtretungsgeschäft sich frühzeitig vom Prozeß verselbständigt“ haben. 36 J. G. Wolf, manumissio 65 A. 24. 37 P. 13 M. Ein Beispiel aus der Auguralsprache bei Livius 1. 36. 3: Id quia inaugurato Romunlus fecerat, negare Attus Navius, inclitus ea tempestate augur, neque mutari
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der ,addiziert‘, stimmt der Eigentumsbehauptung des Erwerbers zu: Er sagt dasselbe, proprie idem, was der Erwerber gesagt hat: daß der Sklave ihm gehört38. Da diese addictio die Wirkung einer ,Zuerkennung‘, eines ,Zusprechens‘ hat, muß addicere diese zweite Bedeutung – in der Gaius das Wort verwendet – mit der Zeit angenommen haben39. 4. Indessen belehrt uns auch die addictio – und vielleicht sie am deutlichsten – über das bestimmende Prinzip, nach dem die in iure cessio hergestellt worden ist. Sie ist ein Kunstgebilde, nicht gewachsen, nicht durch die Praxis hervorgebracht, sondern von Experten gemacht. Man sieht in ihr vornehmlich ein ,nachgeformtes Rechtsgeschäft‘, nachgeformt der legis actio sacramento in rem. Doch diese Akzentuierung trifft nicht den Kern der Sache. Gewiß, das Ritual ist geformt aus Elementen des Rituals der dinglichen Sakramentsklage. Aber nur aus wenigen, und deren Auswahl ist bestimmt durch die Funktion des neuen Rechtsgeschäfts, durch dessen Funktion der Rechtsübertragung. Sie beschränkt die Auswahl auf die Eigentumsbehauptung und den Handgestus und läßt alles beiseite, was die Begründung des Prozesses erforderte. Und auch damit nicht genug: sie läßt den Magistrat, wie es die Funktion des Geschäfts erfordert, das Recht, das der Erwerber zu haben behauptet, ,addizieren‘, ,bekräftigen‘ – und bleibt damit in klarer Übereinstimmung mit der Spruchformel des Erwerbers. Maßgebend für die Konstruktion der in iure cessio war nicht die Vorlage, der sie – was durchweg hervorgehoben wird – ,nachgeformt‘ wurde, sondern ihre gewollte Funktion eines Rechtsübertragungsgeschäfts; die legis actio sacramento in rem lieferte mit ihren Elementen nur die Bausteine. 5. Das Anerkenntnis einer Geldschuld im Vollzug des Begründungsrituals der legis actio sacramento in personam scheint schon durch die XII Tafeln belegt zu sein40. Von einem Anerkenntnis im dinglichen Sakramentsprozeß weiß die geneque novum constitui, nisi aves a d d i x i s s e n t, posse. Der Gegenbegriff war abdicere: Cic. de div. 1. 31: aves a b d i x i s s e n t. 38 J. G. Wolf, manumissio 66/7 A. 10; M. Wlassak, Addicere, RE 1 (1893) 349–351 (mit Lit.): „Addicere verwendet die alte Rechtssprache in der Grundbedeutung, die Fest. Ep. P. 13 an erster Stelle angiebt. . . . So ist . . . auch (aufzufassen) das addicere des Gerichtsmagistrats bei der streitigen und streitlosen Legisactio (nach Varro l. l. VI 30, 53 ist es eines der drei verba certa legitima). . . . Das addicere des Gerichtsmagistrats im Legisactionenverfahren ist ausdrücklich bezeugt für die rechtsgeschäftliche . . . in iure cessio und deren Abart, die manumissio vindicta.“ Nur die „ursprüngliche Wortbedeutung“ könne addicere gehabt haben, „wenn es sich an eine . . . vindicatio und confessio (in iure) anschloss“. Vgl. auch Bethmann-Hollweg, Civilprozeß I 117/8. 39 Wlassak (cit. A. 38) 350/1. 40 XII T. 3. 1 (Gellius 20. 1. 45): Aeris confessi rebusque iure iudicantis triginta dies iusti sunto. Das Verständnis dieses Satzes ist umstritten. Nach J. B. Hofmann/A. Szantyr, Lateinische Syntax und Stilistik (1965, 1972) 142, ist aeris confessi „keinesfalls“ ein Genitivus absolutus. Nach Gellius selbst (20. 1. 42) ersetzt die confessio nicht das Urteil, wird vielmehr der Beklagte, der seine Geldschuld anerkennt, noch verurteilt. Der XII Tafelsatz wird aber auch dahin verstanden, daß die Vollstreckung erfolgt 30 Tage
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samte literarische Überlieferung dagegen nichts.41 Gleichwohl sind viele überzeugt, daß auch im Begründungsritual der legis actio sacramento in rem ein Anerkenntnis möglich gewesen sein muß: daß nämlich der zweite Prätendent statt auch zu vindizieren, der Eigentumsbehauptung des ersten Prätendenten nicht widersprach oder gar förmlich zustimmte42. Nach diesem Anerkenntnis, daß der erste Prätendent Eigentümer – in unserem Beispiel – des Sklaven sei, habe der Magistrat diesem den Sklaven durch addictio zugesprochen. Als Argument wird durchweg die in iure cessio angeführt. Aus ihr wird gleichsam zurück geschlossen auf die Vorlage, der sie nachgeformt worden sein soll. Denn daran, daß sie „ein nachgeformter Anerkenntnisprozeß war“, sei, so etwa Kaser, entschieden festzuhalten43. Und daß nach dem Anerkenntnis durch den Beklagten dem Kläger durch addictio das Eigentum zugesprochen werde, sei „aus der Parallele zwischen in iure cessio und confessio“ zu folgern44. 6. Diese Begründung verkennt die Unabänderlichkeit des Rituals. Gaius selbst belehrt uns darüber45: Legis actiones habe man die Gerichtsverfahren deshalb benannt, weil sie durch Gesetze eingeführt oder weil sie den Worten der Gesetze angepaßt und deshalb unveränderbar ebenso wie die Gesetze befolgt wurden: actiones, quas in usu veteres habuerunt, legis actiones appellabantur vel ideo quod legibus proditae erant . . . vel ideo quia ipsarum legum verbis accommodatae erant et ideo i m m u t a b i l e s proinde atque leges observabantur. BethmannHollweg46 bringt den Satz auf den Wortlaut: legis actiones habe man die Formulare genannt, weil die Klagrechte durch die Gesetze begründet wurden und „weil ihre Form den Worten des Gesetzes genau nachgebildet und vor Gericht ebenso streng wie diese beachtet wurde“. Und Kaser47 folgert offenbar aus der Unabänderlichkeit des Rituals, daß der Beklagte bereit sein mußte, „sich auf die Klage einzulassen“. nach dem Anerkenntnis der Geldschuld oder der Verurteilung: siehe etwa Kaser, Zivilprozeßrecht 54/5: „Für die actio in personam bestimmt ein XII-Tafelsatz, daß aus dem Anerkenntnis, für eine bestimmte Geldsumme zu haften, ebenso wie aus dem Urteil binnen 30 Tagen die Vollstreckung offenstehe.“ 41 Kaser, Ius 107, indessen: der Hergang der in iure cessio sei „nicht mehr und nicht weniger . . . als der vollständige Ablauf eines Anerkenntnisprozesses“ gewesen. 42 Siehe etwa Kaser, Privatrecht 48: „Man verwendet dazu (zur Nachformung der in iure cessio) den Formalakt, mit dem der Kläger den dinglichen Prozeß , die vindicatio im Verfahren der legis actio sacramento in rem, einsetzt, und läßt diesem Akt ein Anerkenntnis des Beklagten folgen.“ Anm. 2: „Die weiteren Stücke der Streitformel . . . fallen hier fort, ebenso anscheinend die festuca.“ Bethmann-Hollweg I 116: „Nachdem der Kläger den Rechtsstreit also eröffnet hat, kann der Beklagte diesen noch abwenden durch Geständnis (confessio) oder Vergleich (pactum).“ 43 Kaser, Zivilprozessrecht 54 A. 17. 44 Kaser, Zivilprozessrecht 54 mit A. 17. So auch Pugliese, Processo 282 mit A. 111. 45 Gai 4. 11. 46 Bethmann-Hollweg, Civilprozeß I 49. 47 Kaser, Zivilprozessrecht 69.
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7. Wenn das Ritual – wie einem Ritual ohnehin eigentümlich – unabänderbar war, ist der Schluß unabweisbar, daß die in iure cessio nicht dem durch eine confessio des Beklagten abgekürzten Ritual der legis actio sacramento in rem nachgebildet ist. Zwar ist die Vermutung nicht auszuschließen, daß die in iure cessio einem Anerkenntnisprozeß nachgeformt wurde. Dieser Prozeß muß dann aber ein selbstständiges Verfahren neben dem streitigen dinglichen Sakramentsprozeß gewesen sein.48 Die Überlieferung, die von einem solchen Anerkenntnisprozeß schlechterdings nichts weiß, wäre dieser Vermutung allerdings nicht günstig. Was bleibt, ist die Hypothese, daß die Gestaltung der in iure cessio durch ihre Funktion bestimmt ist und für ihre Gestaltung Elemente der legis actio sacramento in rem wie Bausteine verwendet wurden. III. Die manumissio vindicta, die in iure cessio und die causa liberalis 1. Der römische Sklave wurde mit der Freilassung römischer Bürger, wenn er älter als dreißig Jahre, in quiritischem Eigentum gewesen und in gesetzmäßiger Form freigelassen worden war. Iusta et legitima manumissione konnte er vindicta oder censu oder testamento freigelassen werden49. Die manumissio vindicta gilt als ein Anwendungsfall der in iure cessio50 und wie sie als ein ,nachgeformtes Rechtsgeschäft‘. Wie die in iure cessio der legis actio sacramento in rem so soll die manumissio vindicta dem Freiheitsprozeß, der liberalis causa oder auch der vindicatio in libertatem, nachgebildet sein51. Die Quellenlage ist indessen miserabel. Eine Beschreibung weder des Rituals der manumissio vindicta noch des Rituals der liberalis causa ist überliefert. Überliefert sind von beiden Rechtsakten nur einzelne Elemente, Bruchteile, wenn man so will. Einige Grunddaten stehen allerdings fest. 2. Es versteht sich, daß der Freiheitsprozeß, die liberalis causa, auf dem Tribunal vor dem Prätor und unter seiner Mitwirkung stattfand. Beteiligt war der wirkliche oder vermeintliche Eigentümer, der die umstrittene Person als seinen Sklaven beanspruchte, und ein Dritter, der adsertor in libertatem52, der für des48 Daß die Vorlage der in iure cessio das Versäumnisverfahren war, was ich manumissio 87 ff. vertreten habe, überzeugt mich heute nicht mehr. 49 Gai 1. 17. 50 M. Wlassak, Addicere, in RE 1 (1893) 350 Z. 17; O. Karlowa, Römische Rechtsgeschichte, Zweiter Band (1901) 133; R. Sohm, Institutionen (15. Aufl. 1917) 195; Kaser, Privatrecht I 116; Kaser, Zivilprozessrecht 134. 51 W. Kunke, Römisches Privatrecht 69; Kaser, Privatrecht I 116: „Nachformung eines Anerkennungsprozesses über die vindicatio in libertatem“; H. Hausmaninger/ W. Selb, Römisches Privatrecht (8. Aufl. 1997) 133; M. Talamanca, ,Istituzioni di diritto romano (1990) 93; anderer Ansicht Fritz Schulz, Classical Roman Law (1951, 1954) 83. 52 Gai 4. 14, 175; PS 5. 1. 5; Festus p. 340 M. s. v. sertorem; Livius 3. 45. 3.; Martialis 1. 52. 5.
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sen Freiheit eintrat; er mußte ein Bürger sein53. Wie das Ritual der legis actio sacramento in rem so sah auch die Begründung des Freiheitsprozesses die Vereinbarung einer Wette vor. Das ist der Nachricht bei Gaius zu entnehmen, daß bei einem Streit über die Freiheit eines Menschen die poena sacramenti, die Wettsumme, unabhängig vom Wert der umstrittenen Person, stets 50 As betrug54. Wurde aber eine Wettsumme vereinbart, so ist weiter zu folgern, daß über Freiheit oder Unfreiheit nur inzidenter entschieden wurde, der Prätor mithin in seiner addictio nur darüber befand, wer die Wette gewonnen, wer sie verloren hat. Der favor libertatis, schließlich, bestimmte, daß die vindiciae stets secundum libertatem erteilt wurden mit der Folge, daß die umstrittene Person jedenfalls bis zum Ende des Verfahrens in Freiheit war55. 3. Auch die manumissio vindicta wurde auf dem Tribunal vor dem Prätor56 und unter seiner Mitwirkung vollzogen – später auch wo immer man den Prätor antraf 57. Vor ihm fanden sich der Eigentümer ein mit dem Sklaven, den er freilassen wollte, und ein Dritter, ein beliebiger Bürger, später offenbar ein lictor58, der die Rolle des adsertor in libertatem übernahm. Hermogenian und Boethius wissen, daß der adsertor eine Formel sprach, verba sollemnia59, bevor der Prätor mit seiner addictio der Behauptung des adsertor zustimmte und damit das Verfahren abschloß60. 4. Was die Einleitung der liberalis causa und das Verfahren der manumissio vindicta im einzelnen vorsah, wird verschieden gesehen. Es ist nicht zu bestreiten, daß im Freiheitsprozeß die einleitenden Spruchformeln der Prätendenten nicht wie im Ritual der legis actio sacramento in rem identisch waren, sondern einander widersprachen. Man darf vermuten, daß der Spruch des wirklichen oder vermeintlichen Eigentümers Hunc ego hominem ex iure Quiritium meum esse aio oder ähnlich lautete, der des adsertor dagegen Hunc hominem ex iure Quiritium liberum esse aio oder auch ähnlich.61 Wie aller-
53 Später soll diese Aufgabe auch ein lictor übernommen haben: D 40. 2. 23 Hermog 1 iur epit; Boethius, Comm. in Cic. topica 1. 288/9. 54 Gai 4. 14: Ac si de libertate hominis controversia erat, etiam si pretiosissimus homo esset, tamen ut L assibus sacramento contenderetur, eadem lege cautum est favore scilicet libertatis, ne onerarentur adsertores; Keller/Wach, Der römische Civilprocess und die Actiones, 59/60; Pugliese, Processo I 294; Kaser, Privatrecht 115. 55 D 1. 2. 2. 24 Pomp l. s. enchiridii; Liv. 3. 44. 5 und 12, auch 3. 47. 5. 56 Oder einem anderen hauptstädtischen Magistrat: Liv. 41. 9. 57 D 40. 2. 7 Gai 1 rerum cottidianarum; D 1. 16. 2 pr. Marcianus 1 inst. 58 Hermogenian und Boethius cit. A. 5. Karlowa II 131; Kaser, Privatrecht 116 A. 11. 59 Hermogenian und Boethius cit. A. 5. 60 Cicero, epistulae ad Atticum 7. 2. 8: itaque usurpavi vetus illud Drusi, ut ferunt, praetoris in eo, qui eadem liber non iuraret, me istos liberos non a d d i x i s s e . . . 61 Bethmann-Hollweg I 138 A. 15; Pugliese I 293/4; Kaser, Zivilprozessrecht 75. – Festus-Paulus p. 159 M.: Manu mitti servus dicebatur, cum dominus eius, aut caput
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dings die Spruchformeln der eigentlichen Prozeßbegründung, der Wettvereinbarung, lauteten, steht dahin; in ihrer Struktur werden sie wahrscheinlich der Prozeßbegründung der legis actio sacramento in rem entsprochen haben62. 5. Die Parteibehauptungen werden in unserer Literatur auch vindicationes genannt, die Behauptung des Freiheitsprätendenten: vindicatio in libertatem, die des Eigentumsprätendenten, der die umstrittene Person als seinen Sklaven beansprucht: vindicatio in servitutem63. Belege dieser Benennungen gibt es nicht, wohl aber lesen wir bei Paulus und Ulpian gelegentlich den Ausdruck in libertatem vindicare64. Diese Ausdrucksweise könnte auf eine Verwendung der vindicta im Einleitungsritual des Freiheitsprozesses deuten. Indessen gibt es dafür auch nicht die Spur eines Belegs. Belegt ist für den Freiheitsprozeß nur der Handgestus. Plautus, Terenz, Varro, Festus und Livius lassen uns wissen65, daß der adsertor in libertatem, der für den vermeintlichen Sklaven mit den Formelworten Hunc hominem ex iure Quiritium liberum esse aio die Freiheit behauptet und fordert und dem vermeintlichen Sklaven die Hand auflegt. Manu adserere wird ausschließlich von dem gesagt, der vor Gericht die umstrittene Person in libertatem fordert, der für sie die Freiheit beansprucht66. Anders als im Einleitungsritual der legis actio sacramento in rem und anders als im Ritual der in iure cessio ist der Handgestus hier, im Ritual der causa liberalis, keine sichtbare Bekräftigung einer Eigentumserklärung, hat aber wie dort auch deiktische Bedeutung: er ist hier die sichtbare Bekräftigung der Behauptung, daß diese umstrittene Person frei ist.
eiusdem servi, aut aliud membrum tenens dicebat: Hunc hominem liberum esse volo, et emittebat eum e manu. 62 Siehe oben I. 5. 63 Karlowa, Römische Rechtsgeschichte, II 131; Pugliese, Processo, I 294; Kaser, Privatrecht 115, Zivilprozessrecht 75. 64 D 10. 4. 12 pr. Paul 26 ad ed; D 40. 12. 3 pr. Ulp 54 ad ed. Häufiger begegnet libertatem sibi vindicare, etwa in D 40. 12. 32 Paul 6 reg, D 40. 4. 59. 2 Scaev 28 dig oder D 36. 1. 23. 1 Ulp 5 disp. 65 Platus, Curculio 490: memento promisisse te, si quisquam hanc l i b e r a l i c a u s s a m a n u a d s e r e r e t , mihi omne argentum redditum eiri; 668: quia illic ita repromisit migi: si quisquam hanc l i b e r a l i a d s e r u i s s e t m a n u sine controversia omne argentum reddere; (quisquam ist hier und dort der Kläger in libertatem); Terentius, Adelphoe 196/7: neque vendundam censeo, quae liberast; nam ego l i b e r a l i i l l a m a d s e r o c a u s a m a n u ; Varro, De lingua latina 6. 64: sic conserere manu dicimur cum hoste; sic ,ex iure manum consertum‘ vocare; hinc a d s e r e r e m a n u m i n libertatem cum prendimus; Festus p. 460 M.: S e r t o r e m quidam putant dictum a prendendo, quia cum cuipiam a d s e r a t m a n u m , educendi eius gratia e x s e r v i t u t e i n l i b e r t a t e m , vocetor a d s e r t o r ; Livius 3. 45. 2: in iis enim, q u i a d s e r e n t u t i n l i b e r t a t e m , quia quivis lege agere possit, id iuris esse. – Gai 4. 14: At si d e l i b e r t a t e h o m i n i s c o n t r o v e r s i a erat, etiamsi pretiosissimus homo esst, tamen ut L assibus sacramento contenderetut, eadem lege cautum est f a v o r e scilicet l i b e r t a t i s , ne onerarentur a d s e r t o r e s . 66 Manu adserere hat darum im Laufe der Zeit die Bedeutung angenommen: vor Gericht die Freiheit behaupten und beanspruchen.
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6. Bei der manumissio vindicta ist nach einem Exzerpt des Paulus Diaconus ex libri Pompei Festi nur die Hand im Spiel67: Der dominus soll seinen Sklaven am Kopf oder an einem anderen Körperteil gehalten und mit den Worten Hunc hominem liberum esse volo aus seiner manus entlassen haben. Diese Überlieferung steht allein gegen alle anderen Nachrichten, die im Ritual der manumissio vindicta ausschließlich die vindicta angewandt sehen. Allerdings ist auch dieser Überlieferungsbestand differenziert und nicht ohne Widerspruch. Persius, der Dichter der nachaugusteischen Zeit68, sieht die vindicta in der Hand des lictor69: des adsertor in libertatem. Ebenso Boethius in seinem Kommentar in topica Ciceronis – ohne daß der Cicero-Text Anlaß zu dieser Unterstellung böte70. Plautus und Horaz lassen offen, wer die vindicta führt71, während Gaius und Marcellus mit vindicta das Verfahren der manumissio vindicta benennen72. Keinen Zweifel lassen indessen die Juristen Tryphonin, Ulpian und Paulus, daß der manumissor, mithin der Eigentümer, im Ritual der manumissio vindicta seinem Sklaven die vindicta auflegt73. 7. Diese Quellenlage hat zu unterschiedlichen Darstellungen der manumissio vindicta geführt. Rudolph Sohm74 war der Ansicht, daß beide Prätendenten, der Freiheitsprätendent zuerst und nach ihm der manumissor, den Sklaven mit der
67 Festus-Paulus p. 159 M.: Manu mitti servus dicebatur, cum dominus eius, aut caput eiusdem servi, aut aliud membrum tenens dicebat hunc hominem liberum esse volo, et emittebat eum e manu. 68 Geboren in Volterra 34 n. Chr., gestorben in Rom 62 n. Chr. 69 Persius 174/5: hic quod quaerimus hic est non in festuca lictor quam iactat ineptus . . . 70 Cicero, topica II 10: Si neque censu nec vindicta nec testamento liber factus est, non est liber. – Boethius, Comm. in Cic. topica cap. 2. 10:: Erat etiam pars altera adipiscendae libertatis, quae vindicta vocabatur. Vindicta vero est virgula quaedam, quam lictor manumittendi servi capiti imponens eundem servum in libertatem vindicabat, dicens quaedam verba sollemnia . . . 71 Plautus, Miles gloriosus 4. 1. 15: quid ea? Ingenuan an festuca facta e serva liberast?; Horatius serm. 2. 7. Zeilen 75/77: tunc mihi dominus . . . quem ter vindicta quaterque inposita haud umquam misera formidine privet? 72 Gai 1. 18: . . . nam ea lex (Aelia Sentia) minores XXX annorum servos non aliter voluit manumissos cives Romanos fieri quam si vindicta apud consilium iusta causa manumissionis adprobata liberati fuerint; Marcellus D 40. 2. 23: sed quem si vindicta eum liberaret absolute, scilicet quia moriturum se putet, mors eius exspectabitur. Außerdem siehe Iul D 40. 2. 5; Scaev D 4. 3. 32; Pomp D 40. 4. 4. 2; Paul D 40. 2. 15. 2 und 17; Paul D 41. 7. 8. 73 Tryph D 49. 17. 19. 4: ut heres vivo filio vindictam servo imposuit; Ulp D 40. 12. 12. 2: ut puta . . . vel vindicta ei imposita est ab eo, quem dominum esse putavit, cum non esset . . .; Paul D 40. 1. 14: Imperator eum servum manumittit, non vindictam imposuit, sed cum voluit, fit liber is qui manumittitur ex lege Augusti. 74 Institutionen. Geschichte und System des römischen Privatrechts (15. Aufl. 1917) 195.
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vindicta berührten75, wobei jener den Sklaven als frei in Anspruch nahm und dieser seinen Freilassungswillen erklärte, den darauf der Magistrat in seiner addictio bekräftigte. Nach Schulz76 war es dagegen der Prätor, der förmlich behauptete der Sklave sei frei und römischer Bürger, und ihn – in der Regel by the hand of his lictor – mit der vindicta berührte, während der Eigentümer des Sklaven der Erklärung des Prätors zustimmte oder sich verschwieg. Ein Freiheitsprätendent ist bei ihm offenbar nicht beteiligt. Talamanca77 sieht für die ursprüngliche manumissio vindicta lediglich die Erklärung des adsertor in libertatem vor; der Eigentümer verschweige sich und die addictio des Prätors habe konstitutive Wirkung. Gegen Ende der Republik allerdings habe sich das Ritual total verändert: der adsertor in libertatem sei abgeschafft worden, während nun der Eigentümer eine „formula liberatoria“ gesprochen und zugleich eine „unilaterale impositio vindictae“ vorgenommen habe. Guarino78 dagegen läßt den adsertor in libertatem nicht nur die Formelworte Hunc ego hominem liberum esse aio sprechen, sondern auch den Sklaven mit der vindicta berühren, während der dominus sich verschweige. Im klassischen Recht habe allerdings ausgereicht, daß der dominus seinen Sklaven mit der vindicta berührte und erklärte, daß er ihn freilassen wolle. Nach Juan Iglesias79 habe der adsertor libertatis die Formelworte Hunc ego hominem liberum esse aio gesprochen und den Sklaven mit der vindicta berührt, während der dominus nicht widersprochen und daraufhin der Magistrat die Erklärung des adsertor bestätigt habe. Mit Iglesias stimmen Kunkel80 und Kaser81 überein: Kunkel mit dem Zusatz, daß in der Kaiserzeit die Förmlichkeit dieses Verfahrens nachgelassen habe; Kaser, daß die Form sich gewandelt und solche Elemente hervorgetreten seien, die der in iure cessio fremd sind, wie die Anlegung der vindicta durch den Eigentümer82, der vielleicht auch die Formelworte Hunc hominem liberum esse volo gesprochen habe. 8. Dieses bunte Tableau überrascht vor allem dadurch, daß in den meisten Darstellungen der adsertor in libertatem dem Sklaven die vindicta auflegt, und daß einige außerdem eine Änderung des Rituals der manumissio vindicta gegen Ende der Republik oder in der Kaiserzeit dahin annehmen, daß nunmehr der dominus die vindicta führte und mit ihr den Sklaven berührte. Wie wir sahen,
75 Ebenso Barry Nicholas, An Introduction to Roman Law (1962) 73: „The adsertor, when making his claim, touched the slave with a wand – vindicta – and so did the manumitting master.“ 76 Classical Roman Law (1951, 1954) 83. 77 Istituzioni di diritto romano (1990) 93. 78 Diritto privato romano (1992) 683. 79 Derecho romano (4. ed. 1958) 112. 80 Kaser, Römisches Privatrecht (1935) 69. 81 Kaser, Privatrecht 116 und 294. 82 Von der in der Darstellung (116) des ursprünglichen Rituals allerdings keine Rede ist.
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sind es nur Perseus und Boethius, die die vindicta in der Hand des adsertor sehen. Perseus’ überlieferte Satiren erörtern, von der ersten abgesehen, Sätze der stoischen Philosophie: sie werben für die stoische Philosophie als Lebensform83. Die 5. Satire ist in ihrer zweiten Hälfte der Freiheit gewidmet, die uns lehre, das Rechte zu tun. In diesem Kontext ist in der Rolle des adsertor in libertatem ein närrischer oder pedantischer lictor, der die vindicta führt und schwingt84. Doch komme auf die vindicta, die Freilassung, nichts an: ius habet ille sui – nach eigenem Recht möge jener leben. Kontext und Ausdrucksweise schließen diesen Text als Zeugnis aus. Nicht anders ist Boethius’ Kommentar in Ciceronis topica zum Stichwort vindicta einzuschätzen. Bei Cicero ist lediglich zu lesen85: Si neque sensu nec vindicta nec testamento liber factus est, non est liber. Boethius holt weiter aus und knüpft an vindicta eine Darstellung des Rituals der manumissio, soweit die vindicta im Spiel ist86: Vindicta vero est virgula quaedam, quam lictor manumittendi servi capiti imponens eundem servum in libertatem vindicabat, dicens quaedam verba sollemnia, atque illa virgula vindicta vocabatur. Boethius wurde Ende des Jahres 524 hingerichtet, deutlich bevor die Arbeit an den Digesten aufgenommen und die ursprüngliche manumissio vindicta wieder belebt wurde87. Bis dahin war die manumissio vindicta in verkümmertem Zustand in Geltung: Es reichte aus, daß der dominus vor dem kaiserlichen Konsilium oder einem Magistrat erklärte, daß der Sklave frei sei, und ihm, während er die Freierklärung sprach, die vindicta auflegte88. Boethius muß mithin seine Kenntnis aus älteren Quellen gewonnen haben, die offenbar den Schluß zuließen, daß der lictor, in der Rolle des adsertor in libertatem, den Sklaven mit der vindicta berührte. 9. Verstehen wir die Quellenlage richtig, so läßt sie keine Wahl: Zu folgen ist den Juristen Tryphonin, Ulpian und Paulus, die ohne wenn und aber erkennen lassen, daß im Ritual der manumissio vindicta der manumissor dem Sklaven die vindicta auflegte89. Was auch sollte die vindicta in der Hand des adsertor in libertatem: er erklärt in gesetzter Rede, daß der Sklave frei ist. Die vindicta aber ist ein Symbol der Herrschaft, ein Instrument der Züchtigung, die allein dem 83 Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Römische Literatur (1974) 274/6; Martin Schanz/Carl Hosius, Geschichte der römischen Literatur, 2. Teil (4. Aufl. 1980) 479; W. S. Teufels Geschichte der römischen Literatur, neu bearbeitet von W. Kroll und F. Skutsch (7. Aufl. 1920) 259: „Deklamationen über Sätze der stoischen Lehre, voll dramatischer, oft ans Possenhafte streifender Szenen.“ 84 Perseus 5. 174–176: . . . hic quod quaerimus hic est non in festuca lictor quam i a c t a t ineptus ius habet ille sui. 85 Topica II 10. 86 Boethii commentarii in Ciceronis topica, in Casp. Orellius et Io. Georgius Baiterus (editores), M. Tullii Ciceronis scholiastae I (1833) p. 288/9. 87 Siehe D 40. 2. De manumissis vindicta. 88 Kaser, Privatrecht II 134, 89 Siehe oben A. 73.
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Herrn des Sklaven zusteht90. Herrschaft aber hat bis zum Augenblick der addictio von den Beteiligten nur der manumissor, der Herr des freizulassenden Sklaven. Und diese Herrschaft bekundet er zu seiner Legitimation, indem er dem Sklaven, vermutlich wortlos, die vindicta auflegt. 10. So kommen wir zu folgendem Ergebnis: Vor dem Prätor treten der Eigentümer mit seinem freizulassenden Sklaven und eine dritte Person auf, ein Bürger, der die Aufgabe des adsertor in libertatem übernehmen wird. Nach Absprache mit dem Prätor vollziehen die Beteiligten das Ritual der manumissio vindicta. Zum Zeichen seiner Herrschaft und Zuständigkeit legt der Eigentümer seinem Sklaven die vindicta auf. Der adsertor spricht die Formelworte Hunc ego hominem ex iure Quiritium liberum esse aio. Der Eigentümer widerspricht nicht, vielleicht stimmt er förmlich zu, vielleicht aber verschweigt er sich auch. Darauf spricht der Prätor die addictio, mit der er die Behauptung des adsertor in libertatem bekräftigt. Damit ist der Sklave nunmehr ein freier Mann. 11. Die manumissio vindicta gilt als Anwendungsfall der in iure cessio91. In ihren Strukturen decken sich die beiden Rechtsakte auch. Wie bei der in iure cessio Veräußerer und Erwerber, so stehen bei der manumissio vindicta manumissor und adsertor in libertatem einander gegenüber. Wie der Veräußerer Eigentümer der Sache ist, die übereignet werden soll, ist der manumissor Eigentümer des Sklaven, der freigelassen werden soll. Und wie der Erwerber förmlich behauptet Hunc ego hominem ex iure Quiritium meum esse aio, so behauptet der adsertor, ebenfalls förmlich, Hunc ego hominem ex iure Quiritium liberum esse aio. Wie dort der Veräußerer der Behauptung des Erwerbers zustimmt, in förmlicher Rede oder durch Schweigen, so stimmt hier der manumissor der Behauptung des adsertor zu, in förmlicher Rede oder auch durch bloßes Schweigen. Beide Rechtsakte beschließt der Magistrat mit einer addictio, die im einen Fall die Behauptung des Erwerbers, im anderen Fall die des adsertor in libertatem bekräftigt und dort die Übereignung der Sache, hier die Freiheit des Sklaven endgültig bewirkt. Die Teile, in denen, soweit wir bisher sehen, die in iure cessio und die manumissio vindicta von einander abweichen, sind, wie ohne weiteres einzusehen, durch ihre verschiedenen Funktionen bestimmt. 12. Inkongruent sind die beiden Rechtsgeschäfte allerdings in den Gesten, die ihre Rituale vorsehen. Bei der in iure cessio legt der Erwerber seine Hand auf die Sache, die ihm übereignet wird92; bei der manumissio vindicta dagegen legt der manumissor die vindicta auf den Sklaven, den er freilassen will93. Die manumissio vindicta kann darum kaum als Anwendungsfall der in iure cessio gelten. Im 90 91 92 93
Siehe oben nach A. 69 und 72. Siehe oben A. 50. Siehe oben I. 9. Siehe oben A 73 und unter II. 9.
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Ritual der in iure cessio gibt es keine vindicta, im Ritual der manumissio vindicta nicht den Handgestus, und dort ist es der Erwerber, der die Hand, hier der manumissor, der die vindicta auflegt. Die Einsicht kann darum nur lauten: das Ritual der manumissio vindicta folgt zwar in seiner Struktur weithin dem der in iure cessio, ein Anwendungsfall der in iure cessio ist sie nicht. 13. Wie die in iure cessio der legis actio sacramento in rem, so soll die manumissio vindicta dem Freiheitsprozeß, der vindicatio in libertatem nachgebildet sein. Wie in der Einleitung der vindicatio in libertatem spricht auch im Ritual der manumissio vindicta der adsertor in libertatem die Spruchformel Hunc ego hominem ex iure Quiritium liberum esse aio. Während aber im Freiheitsprozeß der wirkliche oder vermeintliche Eigentümer des umstrittenen Sklaven dem adsertor widerspricht, nämlich förmlich behauptet Hunc ego hominem ex iure Quiritium meum esse aio, stimmt der Eigentümer im Ritual der manumissio vindicta der Behauptung des adsertor förmlich zu oder gibt sein Einverständnis, indem er sich verschweigt. Schon damit ist ausgemacht, daß auch die manumissio vindicta, wie die in iure cessio, nicht dem streitigen Verfahren, sondern allenfalls dem Anerkenntnisprozeß nachgebildet ist, dem Prozeß, in dem der wirkliche oder vermeintliche Eigentümer die Freiheitsbehauptung des adsertor anerkennt94. Und dieser Prozeß muß neben der streitigen vindicatio in libertatem sein eigenes Ritual gehabt haben. 14. Wie der in iure cessio, so war auch dem streitigen Freiheitsprozeß die vindicta fremd, und wenn sie dem streitigen Prozeß fremd war, wird auch der Anerkenntnisprozeß sie nicht gekannt haben. Zum Ritual der causa liberalis gehörte vielmehr der Handgestus, und es war auch nicht der wirkliche oder vermeintliche Eigentümer, der dem Sklaven die Hand auflegte, sondern der adsertor in libertatem95. Diese Differenzen schließen aus, in der manumissio vindicta ein Derivat, eine Nachbildung der vindicatio in libertatem zu sehen. Das Konstruktionsprinzip der manumissio vindicta war, wie das der in iure cessio96, ihre Funktion. Für ihre Gestaltung wurden, in ökonomischer Absicht, Elemente schon vorhandener benachbarter Institute verwendet, die dem durch ihre Funktion verfügten Bauplan der neuen Einrichtung genügten. Im Freiheitsprozeß hatte der Handgestus des adsertor in libertatem, wie schon gesagt, deiktische Bedeutung: er begleitet und bekundet sichtbar die Behauptung des adsertor, daß die Person, deren Status umstritten ist, daß diese Person frei ist97. Im Ritual der manumissio vindicta da-
94 95 96 97
Siehe oben I. 15. Siehe oben II. 5. Siehe oben I. 12 und 15. Siehe oben II. 5 i. f.
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gegen legt, vermutlich wortlos, der dominus dem Sklaven, den er freilassen will, die vindicta auf, um zu bekunden, daß er der Eigentümer des Sklaven ist und darum befugt, ihn freizulassen98.
98
Siehe oben II. 10.
,Comitia, quae pro conlegio pontificum habentur‘ Zur Amtsautorität der Pontifices* Die römischen Pontifices1 waren Staatspriester, sacerdotes publici, die unter dem Vorsitz des Pontifex Maximus ein Kollegium bildeten2, das mit eigentlich priesterlichen Funktionen die einer obersten Sakralbehörde verband. Während nämlich eine Vielzahl von Opferhandlungen ihnen selbst oblag oder ihre Mitwirkung erforderte, war zugleich das gesamte Sakralwesen ihrer Aufsicht und Kontrolle unterworfen. Diese Zuständigkeit bedeutete eine außerordentliche Machtstellung. Denn die Rücksicht gegenüber den alles bedrohenden und alles bestimmenden Mächten beherrschte alle Lebensbereiche des Gemeinwesens, und die Regeln und Formen, in denen sie sich vollzog, waren ein Teil der öffentlichen und privaten Lebensordnungen. Nach einer späten und vereinzelten Überlieferung3 waren in Roms Frühzeit die Pontifices auch die Träger der zivilen Rechtskunde4. Diese Überlieferung wird
* Nur mit dem Namen des Verfassers werden zitiert: J. Bleicken, Oberpontifex und Pontifikalkollegium, Hermes 85 (1957) 345 ff. – P. Catalano, Contributi allo studio del diritto augurale I (1960) – O. Karlowa, Römische Rechtsgeschichte I, Staatsrecht und Rechtsquellen (1885) – L. Lange, Römische Alterthümer I (3. Aufl. 1876) – K. Latte, Röm. Religionsgeschichte (1960) – F. Luterbadier, Der Prodigienglaube und Prodigienstil der Römer (2. Aufl. 1904) Neudruck 1967 – J. Marquardt, Röm. Staatsverwaltung III (2. Aufl. 1885), Neudruck 1957 – Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht I und II (3. Aufl. 1887), III (1. Aufl. 1888), Neudruck 1952 – R. M. Ogilvie, A Commentary on Livy, Books 1–5 (1965) – J. Rubino, Untersuchungen über römische Verfassung und Geschichte I, Über den Entwicklungsgang der römischen Verfassung bis zum Höhepunkt der Republik (1839) – W. Weissenborn/H. J. Müller, Titi Livi ab urbe condita libri, Band I–X (Nachdruck 1962–65) – G. Wissowa, Religion und Kultus der Römer (2. Aufl. 1912) – L. Wülker, Die geschichtliche Entwicklung des Prodigienwesens bei den Römern (Diss. Leipzig 1903). 1 Wissowa 501 ff.; Latte 195 ff., 400 ff.; G. J. Szemler, RE 15 Supp. (1978) 331 ff. 2 Allem Anschein nach gab es ursprünglich nur einen Pontifex. Sein Status und seine Machtfülle blieb dem Pontifex Maximus vorbehalten, als das Ein-Mann-Amt den wachsenden Anforderungen des aufsteigenden Gemeinwesens nicht mehr genügen konnte und zu einer Kollegialbehörde erweitert wurde. Am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. hatte das Kollegium 5 Mitglieder, und als im Jahre 300 die lex Ogulnia den Plebejern den Zugang zum Pontifikat eröffnete, wurde ihre Zahl auf 9 erhöht. Diese Geschichte erklärt die Struktur des Kollegiums, das sozusagen eine Sakralperson war, die in ihrer Unteilbarkeit durch den Pontifex Maximus dargestellt wurde: Wissowa 509. 3 Pomponius D 1.2.2.6. 4 P. Jörs, Röm. Rechtswissenschaft zur Zeit der Republik (1888), 15 ff.; P. Krüger, Geschichte der Quellen und Literatur des Röm. Rechts (2. Aufl. 1912) 30 ff.; F. Schulz,
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beglaubigt durch das, was als Produkt ihrer Tätigkeit überlebt hat: die altzivilen Rechtsgeschäfte5. Diese Rechtsgeschäfte, von der Barkaufmanzipation bis zu den Legisaktionen, sind bewußte, rationale Zweckschöpfungen von hoher Künstlichkeit und Technizität; sie können sich nicht gewohnheitsmäßig gebildet haben, sondern zeugen vom Sonderwissen einer Juristenzunft. Keine Anschauung haben wir dagegen von der Tätigkeit der Pontifices als Juristen des Zivilrechts. Wir behelfen uns gerne mit einer Analogie zur Wirkungsweise der späteren Juristen. Der iurisconsultus war Privatmann, sein Wirken der Ratschlag und das Gutachten6. Ratschlag und Gutachten waren auch die Instrumente der Pontifices in den Angelegenheiten des Sakralwesens7. So dürfen wir vermuten, daß sie als Ziviljuristen nicht anders verfuhren8. Im Gegensatz zu ihren Nachfahren in der Zivilrechtsjurisprudenz waren sie aber Amtsträger: wie die Verwaltung des Sakralwesens oblag ihnen auch die des ius civile von Amts wegen9. Der Vorgang, in dem sich die Jurisprudenz seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. aus der Bindung an das Sakralamt löste und zu einer freien ars wurde10, ist darum eher als Privatisierung denn als Profanisierung der Rechtskunde zu betrachten. Die Amtsträgerschaft der Pontifices führt sofort zu der Frage nach der Verbindlichkeit ihrer Ratschläge und Gutachten. Das responsum des freien iurisconsultus war der Ratschlag eines Fachmanns und nur gedeckt durch die Autorität seines Sachwissens. Die Äußerung des Pontifex war dagegen gedeckt durch seine Fach- und seine Amtsautorität. E ist nicht ausgeschlossen, daß sie darum für den Jurisdiktionsmagistrat verbindlich war. Im Bereich des ius civile geben die Quellen für diese Überlegung nichts her. Das Zusammenwirken der Pontifices und der politischen Staatsorgane, der Magistrate und des Senats, läßt sich aber auf anderem Felde beobachten. In diesen Bereich führt der folgende Versuch.
Geschichte der röm. Rechtswissenschaft (1961) 7 ff.; F. Wieacker, Vom röm. Recht (2. Aufl. 1961) 134 ff. 5 M. Kaser, Das röm. Privatrecht (2. Aufl. 1971) 39 ff. 6 F. Wieacker (o. Anm. 4) 128 ff. 7 Latte 197 f. 8 Schulz (o. Anm. 4) 23 f. 9 Dies wird durchweg verkannt und kann doch nicht anders gewesen sein. Vgl. Krüger (o. Anm. 4) 30: „an sich“ habe das Kollegium der Pontifices mit dem weltlichen Recht nichts zu tun gehabt; oder Schulz (o. Anm. 4) 10: das Priesterkollegium habe „über das Sakralrecht hinaus auf das Profanrecht hinübergegriffen“. Richtig ist vielmehr: daß die Zuständigkeit der Pontifices für das ,weltliche Recht‘ ebenso u r s p r ü n g l i c h war, wie ihre Kompetenz in den Angelegenheiten des Sakralwesens. 10 Vgl. zuletzt F. Wieacker, Festgabe v. Lübtow (1970) 187 ff.; J. G. Wolf, Nadir. Akad. Wiss. Göttingen, Philologisch-hist. Kl. (1980) 9 ff.
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I. Comitia pro collegio pontificum habere Ausgangspunkt und Leitfaden der Untersuchung ist Gellius, Noctes Atticae 15.27.1–4 In libro Laelii Felicis ad Q. Mucium primo scriptum est: Labeonem scribere: ,calata‘ comitia esse, quae pro conlegio pontificum habentur aut regis aut flaminum inaugurandorum causa. (2) Eorum autem alia esse ,curiata‘, alia ,centuriata‘; ,curiata‘ per lictorem curiatum ,calari‘, id est ,convocari‘, ,centuriata‘ per cornicinem. (3) Isdem comitiis, quae ,calata‘ appellari diximus, et sacrorum detestatio et testamenta fiert solebant. Tria enim genera testamentorum fuisse accepimus: unum, quod calatis comitiis in populi contione fieret, alterum in procinctu, cum viri ad proelium faciendum in aciem vocabantur, tertium per familiae emancipationem, cui aes et libra adhiberetur. (4) In eodem Laeli Felicis libro haec scripta sunt: Is qui non universum populum, sed partem aliquam adesse iubet . . .
1. Das Kapitel, dessen erste Hälfte wir wiedergeben, ist der Erklärung der verschiedenen Erscheinungsformen der römischen Bürgerversammlung gewidmet. Gellius zitiert hier ausschließlich aus Laelius Felix, einem sonst kaum bekannten Juristen, der unter Hadrian gewirkt hat11. Er zitiert aus dessen Werk ad Q. Mucium und übernimmt, aus dem 1. Buch, zunächst eine Passage, in der Laelius seinerseits, mit einer Definition der Kalatkomitien, Labeo zitiert: comitia calata seien solche, die pro collegio pontificum habentur; sie fänden statt zur Inauguration des rex und der flamines und seien entweder curiata oder centuriata (§ 1); die curiata würden durch einen lictor curiatus ,kaliert‘, das bedeute: zusammengerufen, die centuriata durch einen Hornisten (§ 2). Der folgende Text (§ 3) steht nicht in abhängiger Rede, stammt aber gewiß auch aus Laelius12; denn Gellius konnte nicht sagen: isdem comitiis, quae ,calata‘ appellari diximus; und auch im Fortgang der Stelle (§ 4) wird Laelius, nach erneuter Quellenangabe, in wörtlicher Rede wiedergegeben. Der Wechsel aus der abhängigen in die direkte Rede markiert vielmehr das Ende des Labeozitats bei Laelius13, durch das wir im übrigen versichert sind, daß der so gut wie unbekannte Schriftsteller sich durchaus solider Gewährsleute bedient hat. Während Labeo mit der Inauguration des rex und der flamines die noch zu seiner Zeit aktuellen Kompetenzen der – freilich längst zu einer rein formalen Existenz verkümmerten – Kalatkomitien zu bezeichnen scheint, berichtet Laelius selbst (§ 3) nur für die Vergangenheit, daß in den Kalatkomitien auch die sacrorum detestatio stattfand und außerdem Testamente errichtet wurden. Testamenta ist das Stichwort für einen kurzen Exkurs. Denn Laelius fährt fort: aus der Über11 Berger RE 12 (1924) 416 s. v. Laelius Nr. 17; F. Schulz, Geschichte der röm. Rechtswissenschaft (1961) 253; W. Kunkel, Herkunft und soziale Stellung der röm. Juristen (1952) 170. 12 Lenel, Palingenesia iuris civilis I, 557. 13 Bremer, Iurisprudentiae antehadrianae II, 1, 260 Nr. 187.
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lieferung wisse man nämlich, daß es drei Arten von Testamenten gab, das calatis comitiis, das in procinctu und das Manzipationstestament. 2. Die Stelle gilt als Schlüsseltext für eine Reihe weitreichender Fragen. Vielen belegt sie, daß die Kalatkomitien vom Pontifex Maximus einberufen und geleitet wurden14. Diese Ansicht überschreibt dem Pontifex Maximus eine Zuständigkeit, die ausdrücklich und zweifelsfrei nur für die obersten Magistrate bezeugt ist15. Da die Einberufung der Kalatkomitien nicht geschehen konnte, ohne daß zuvor durch Auspikation die Zustimmung der Götter erbeten worden, und diese Auspikation durchaus Sache des Amtsträgers war, der die Komitien einberief, bedeutet diese Ansicht zugleich, daß dem Pontifex Maximus die auspicia zustanden, das Recht nämlich, die Zeichen der Götter für die Gemeinde zu erbitten. Sie ist darum auch ein tragendes Konstruktionselement der von Mommsen entwickelten und trotz mancher Kritik16 nach wie vor fest etablierten Lehre von der ,magistratischen Befugnis des Oberpontifex‘17. Die Gellius-Stelle spielt außerdem eine wichtige Rolle in der Erörterung der Kompetenzen der Kalatkomitien. Hier ist vor allem umstritten, ob ihre Angaben den Aufgabenkatalog der alten Kalatkomitien erschöpfen. Ein besonderes Problem ist in diesem Zusammenhang das Verhältnis der sacrorum detestatio zu der nicht genannten arrogatio. Schließlich wird anhand der Gellius-Stelle die Funktion der Kalatkomitien diskutiert. Während die meisten den Kalatkomitien nur Zeugnisleistung zuschreiben18, nehmen andere, gewöhnlich mit dem Hinweis auf die arrogatio, auch Beschlußfassung für sie in Anspruch19. Die Absicht dieser Untersuchung geht allein dahin, die Beteiligung der Pontifices an den Kalatkomitien zu klären. 3. Comitia habere ist ein geläufiger Ausdruck für ,Komitien abhalten‘20. Labeos Definition verwendet ihn passivisch; sie sagt nicht in eindeutiger Aus-
14 Rubino 249; Lange 399 f.; Mommsen, Röm. Forschungen I (1864) 270; Staatsr. I 390, II 34 f., 37 f., III 318, 386; Marquardt 306 f.; Kübler, RE 3 (1900) 1330; Wissowa 490, 511 f.; zuletzt Szemler, RE 15 Suppl. (1978) 363. 15 Mommsen I 192 Anm. 5. 16 Bleicken aaO., ebenso entschieden Latte 401. Ohne innere Konsequenz etwa Lange 345 f. (kein Magistrat, ohne imperium, „doch in gewissem Sinne den Magistraten gleich“); Rosenberg, RE 9 (1916) 1207 (ohne imperium, aber Magistrat); Catalano 361 ff. (kein Magistrat, ohne imperium, aber mit auspicia). 17 Mommsen II 18 ff.; Marquardt III 240 f., 246 f. 18 Zuerst J. H. Dernburg, Beiträge zur Gesch. der röm. Testamente (1821) 53 ff.; Rubino 242; Mommsen, Röm. Forschungen I (1864) 239, 270; Lange 398; Karlowa 381 f.; Kübler, RE 3 (1897) 1333 und Gesch. des röm. Rechts (1925) 32, 58; Liebenam, RE 4 (1900) 680. 19 Mommsen II 37 f., III 39 Anm. 1, 318, 386; Wissowa 512.
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drucksweise, wer die Kalatkomitien abhält, sondern bezeichnet als eine ihrer Eigentümlichkeiten, daß sie abgehalten werden pro collegio pontificum. Dieser Ausdruck ist mehrdeutig21: pro collegio pontificum kann heißen ,in Anwesenheit des Pontifikalkollegiums‘, ,auf Veranlassung‘ oder ,nach Maßgabe des Kollegiums‘, ,durch das Kollegium‘ oder auch ,anstelle‘ oder ,im Namen des Kollegiums‘, etwa durch den Pontifex Maximus. Mommsen und Marquardt, Lange und Wissowa22, und wie sie viele andere23, finden in pro collegio pontificum umschrieben, daß die Kalatkomitien vom Pontifex Maximus oder doch einem Pontifex einberufen und geleitet wurden24. Diese Auffassung ist von Bleicken, in einem Aufsatz aus dem Jahre 1957, bekämpft25 und von Latte, in seiner Religionsgeschichte von 1960, immerhin in Zweifel gezogen worden26. Bleicken und Latte sind mit ihren Einwänden und Bedenken vorerst jedoch allein geblieben27. Kunkel vertritt in seiner ,Rechtsgeschichte‘ nach wie vor die herkömmliche Lehre28. Hausmaninger ist ihr im ,Kleinen Pauly‘ gefolgt29 und G. J. Szemler hat sie soeben in der ,Realencyclopädie‘ bekräftigt30. Einer methodischen Untersuchung der Gellius-Stelle hält sie aber nicht stand.
20 Vgl. etwa Cic. Brut. 55, ad Q. fr. 2.1.2; Liv. 25.5.2, 34.53.2, 41.18.15; Plin. nat. 18.13. Karlowa 381 und Liebenam, RE 4 (1911) 679, behaupten, Messala Augur (cos. 53 v. Chr.) bei Gell. 13.16.1 setze comitia habere und cum populo agere gleich; cum populo agere sei nämlich nicht, wie Gellius 13.16.3 meine: rogare quid populum, quod suffragiis suis aut iubeat aut vetet; vielmehr sei populum rogare nur eine Anwendung des agere cum populo, eine andere, nach Messala, das vocare ad comitiatum. Unter agere cum populo falle auch die Abhaltung von comitia calata, die keine Beschlüsse faßten, sondern lediglich Zeugnis leisteten. Ich glaube nicht, daß das Messala-Zitat diese Konstruktion trägt. 21 Kühner/Stegmann, Ausführliche Grammatik der lat. Sprache, Satzlehre (4. Aufl. 1962) I 513 ff., und Leumann/Hofmann/Szantyr, Lat. Grammatik, 2. Bd. Syntax und Stilistik (1965) 269 f. Siehe auch Gell. 11.3.2 f. 22 Wie oben Anm. 14. 23 Etwa Weissenborn/Müller V 125 zu 25.5.2; P. De Francisci, Primordia civitatis (1959) 489, 494 Anm. 392, 577 Anm. 87; Dulckeit/Schwarz/Waldstein, Röm. Rechtsgeschichte (6. Aufl. 1975) 35 f. 24 Nach J. v. Gruber, dem ersten modernen Interpret der Gellius-Stelle, (Zimmermann’s) Zeitschr. f. d. Alterthumswissenschaft 4 (1837) 171, besagt der Ausdruck, daß die Kalatkomitien von dem Kollegium berufen und gehalten wurden, und „nicht bloss vom Pontifex Maximus allein“. 25 Bleicken 351 ff. 26 Latte 400. 27 Catalano 368 glaubt, daß die Komitien zwar tatsächlich von den Pontifices, nominell aber vom Rex Sacrorum geleitet worden seien, und daß dieses Arrangement auch aus unserer Gellius-Stelle herausgelesen werden könne. 28 W. Kunkel, Röm. Rechtsgeschichte (6. Aufl. 1972). 29 I (1964) 1254 s. v. Comitia. 30 RE 15 Suppl. (1978) 363 s. v. Pontifex.
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Wir versuchen die Bedeutung von pro collegio pontificum einzugrenzen, indem wir dem Gebrauch dieses Ausdrucks und paralleler Ausdrucksweisen nachgehen. Das Material ist nicht sehr umfangreich, aber durchaus ergiebig. II. Pro collegio pontificum respondere 1. Cicero verwendet den Ausdruck zweimal und beide Male in der Verbindung pro collegio respondere. In der Rede über das eigene Haus erinnert er das Pontifikalkollegium, vor dem er spricht, an ein früheres Gutachten zum Dedikationsrecht (dom. 136): Habetis in commentariis vestris, C. Cassium censorem de signo Concordiae dedicando ad pontificum collegium rettulisse eique M. Aemilium pontificem maximum pro collegio respondisse, nisi eum populus Romanus nominatim praefecisset atque eins iussu faceret, non videri eam posse recte dedicari.
Die Bedeutung von pro collegio ist hier nicht zweifelhaft: der Pontifex Maximus hat ,im Namen des Kollegiums‘ dem Zensor geantwortet31; Gegenstand seiner Antwort war das vom Kollegium beratene und beschlossene Gutachten. Das zweite Mal, in der Rede über das Responsum der Haruspices vor dem Senat, hat respondere nicht diesen technischen Sinn (har. 21): Quos ludos? te appelo, Lentule . . . vosque, pontifices, ad quos epulones . . ., si quid est praetermissum aut commissum, adferunt . . . qui sunt ludi minus diligenter acti, quando aut quo scelere polluti? rspondebis et pro te et pro collegis, tuis, etiam pro pontificum collegio, nihil cuiusquam aut neglegentia contemptum aut scelere esse pollutum.
Die Haruspices hatten in ihrem Gutachten gerügt, daß Spiele nicht mit der gehörigen Sorgfalt durchgeführt wurden. Cicero, der das Gutachten Satz für Satz durchgeht, wendet sich an Lentulus, den amtierenden Konsul, und die im Senat anwesenden Pontifices; er fragt sie, welche Spiele entweiht worden seien, um selbst zu sagen, was Lentulus antworten würde – und zwar antworten würde im eigenen Namen; im Namen seiner Kollegen, der septemviri epulones, deren er nämlich einer war; und auch ,im Namen des Pontifikalkollegiums‘. 2. In der Gellius-Stelle hat pro collegio pontificum nicht diese Bedeutung. Wir lernen aus Cicero, daß der Ausdruck, wo er Stellvertretung meint, nicht auf die technische Bedeutung der Vertretung durch den Pontifex Maximus oder ein anderes Mitglied des Kollegiums eingeengt ist, sondern vielmehr offen läßt, wer ,im Namen des Pontifikalkollegiums‘ handelt. Der Definition Labeos kann darum nicht entnommen werden, daß der Pontifex Maximus es war, der die Kalatkomi-
31 In derselben Bedeutung verwendet Cicero den Ausdruck alsbald noch einmal: Cum P. Scaevola pontifex maximus pro collegio respondit. – Anders versteht ihn Marquardt 273 Anm. 2: „vor oder in Gegenwart des Collegiums“.
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tien einberief und leitete. Sie gibt vielmehr über die Versammlungsleitung keine Auskunft. Aber auch dieser Befund ist aufschlußreich. Aus ihm ergibt sich nämlich, daß die Versammlungsleitung für die Definition, genauer: für die Abgrenzung der Kalatkomitien gegenüber den gewöhnlichen Komitien ungeeignet und also kein Kriterium der Kalatkomitien war. In ihrer Leitung werden sich mithin die Kalatkomitien von den gewöhnlichen nicht unterschieden haben und von einem Obermagistrat einberufen und geleitet worden sein. Unter dieser Voraussetzung kann pro collegio pontificum nicht Stellvertretung meinen. Denn daß die Kalatkomitien von einem Obermagistrat ,im Namen des Pontifikalkollegiums‘ abgehalten wurden, ist so gut wie ausgeschlossen. Der Konsul oder Prätor war zur Einberufung der Komitien aus eigenem Recht befugt. Daß er bei der Einberufungder Kalatkomitien nicht von seiner Kompetenz Gebrauch gemacht, sondern die des Pontifikalkollegiums wahrgenommen hätte, ist denkbar, aber nicht plausibel und umso unwahrscheinlicher, als die Überlieferung eine Vertretung des Pontifikalkollegiums durch einen Magistrat nicht kennt. Nach diesen Überlegungen ist vorläufig anzunehmen, daß die Kalatkomitien nicht vom Pontifex Maximus, sondern von einem Magistrat abgehalten wurden, und daß in Labeos Definition pro collegio pontificium nicht bedeutet ,im Namen des Pontifikalkollegiums‘. III. Per pontificem dedicare Außer bei Cicero ist pro collegio pontificum nur noch bei Paulus Diaconus in der Epitome der Festus-Glosse zu caviares überliefert (p. 57 M.). Wir stellen diesen Text zunächst jedoch zurück32; für unsere Zwecke aufschlußreicher ist nämlich Liv. 2.27.5 Certamen consulibus inciderat, uter dedicaret Mercuri aedem. senatus a se rem ad populum reiecit: utri eorum dedicatio iussu populi data esset, eum praesse annonae, mercatorum collegium instituere, solemnia pro pontifice iusset suscipere.
Es geht um die dedicatio eines Tempels. Livius erzählt für das Jahr 495 v. Chr., daß die Konsuln in Streit darüber geraten waren, wer von ihnen den Tempel des Mercurius weihen sollte33; der Senat habe die Sache an den populus verwiesen mit der Maßgabe, daß der, dem durch den Volksbeschluß die dedicatio übertragen würde, der Getreideversorgung vorstehen, eine Kaufmannsgilde gründen und die Zeremonien der Dedikation pro pontifice vornehmen sollte34.
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Er wird behandelt unten nach Anm. 90. Die Dedikation selbst wird schon 2.21.7 berichtet. 34 Zur Bewertung dieses Berichts vgl. Ogilvie 303; G. Radke, Die Götter Altitaliens (2. Aufl. 1979) 213. 33
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Aus der Erzählung ergibt sich ohne weiteres, daß die Dedikation des Tempels nicht dem Pontifex Maximus oblag, sondern in die Zuständigkeit der Konsuln fiel. Livius selbst bestätigt bei anderer Gelegenheit, daß more maiorum nur ein Konsul oder imperator, d. h. nur ein Magistrat cum imperio befugt war, ein templum zu dedizieren35. Der vom Volk bestimmte Konsul sollte die Weihe allerdings pro pontifice vornehmen. Mit pro pontifice wird offenbar eine Mitwirkung des Pontifex Maximus36 zum Ausdruck gebracht. Livius stellt diese Mitwirkung als eine vom Senat verfügte Einschränkung oder Auflage dar. In Wahrheit verstand sie sich von selbst. über die Beteiligung der Pontifices an der Dedikation eines Tempels sind wir nämlich genau unterrichtet37. Zum einen befanden sie über die Zulässigkeit der Dedikation. So etwa verhinderten sie im Jahre 208 die Weihe, als M. Claudius Marcellus, um ein wiederholtes Gelöbnis einzulösen, Honos und Virtus einen gemeinsamen Tempel dedizieren wollte38; negabant unam cellam duobus diis recte dedicari 39. Zum anderen redigierten sie die Dedikationsformel, mit der die Weihe vollzogen wurde. Die Formel bezeichnete nämlich nicht nur nach einem feststehenden Muster den Dedikanten, die Gottheit und den Gegenstand der Dedikation; sie nahm auch das gesamte Tempelstatut auf mit seinen vielfältigen Vorschriften über den Opferdienst, den sakralrechtlichen Schutz des Heiligtums, dessen Privilegien und vieles mehr40. Schließlich assistierten die Pontifices bei der Weihe selbst – und diese Assistenz ist es, die Livius mit pro pontifice umschreibt. Der Magistrat vollzog die Weihe, indem er den Türpfosten des Tempels mit beiden Händen anfaßte und dabei laut und deutlich die sollemnia verba der Dedikation hersagte. Die Beteiligung des Pontifex bestand darin, daß er, vielleicht nach förmlicher Aufforderung41, dem Magistrat vormachte, was dieser zu tun, und Wort für Wort vorsprach, was er zu sagen hatte. Auch der Pontifex faßte also den Türpfosten an, auch er sprach also die sollemnia verba der Weihformel, aber nicht sein Gestus und seine Spruchworte, sonder ihr Vollzug durch den Magistrat bewirkten die Dedikation. 35 Liv. 9.46.6. Durch Volksbeschluß konnten allerdings auch Dritte zu einer Dedikation ermächtigt werden, vgl. Wissowa, RE 4 (1901) 2356 f. Der Fortgang der Erzählung (2.27.6), daß der populus keinen der beiden Konsuln erwählt, sondern dem Plebejer und centurio primi pili M. Laetorius die Dedikation übertragen habe, ist gleichwohl, wie die ganze Streitgeschichte, erfunden. 36 Weissenborn/Müller I 73 zu 2.27.5 i. f. 37 Zum Folgenden vgl. Wissowa, RE 4 (1900/01) 896 ff. s. v. Consecratio, 2356 ff. s. v. Dedicatio, auch Religion und Kultus 472 f.; Marquardt 269 ff. 38 Münzer, RE 3 (1899) 2753. 39 Liv. 27. 25.8. Weitere Beispiele bei Marquardt 271. 40 Wissowa, RE 4 (1901) 2358 f., Religion und Kultus 473 f.; Marquardt 271 f. 41 Diese Annahme wird gestützt auf Cic. dom. 133: ades, Luculle, Servili, dum dedico domum Ciceronis, ut mihi praeeatis postemque teneatis. Ich glaube nicht, daß sie berechtigt ist.
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Daraus müssen wir entnehmen, daß die Mitwirkung des Pontifex für die Wirksamkeit des Sakralakts von Rechts wegen nicht erforderlich war42. Sie war jedoch völlig selbstverständlich. Praktisch war es nämlich nicht möglich, auf sie zu verzichten. Da das Pontifikalkollegium in allen Angelegenheiten des Sakralwesens das letzte Wort hatte, stand die Wirksamkeit eines Sakralakts, den der Magistrat nicht nach Maßgabe des Kollegiums vorgenommen hatte, unter dem unausgesprochenen Vorbehalt seiner Billigung. Allein die Mitwirkung eines Pontifex, der genaue Nachvollzug dessen, was er vormachte und vorsprach, verbürgten darum, daß der Sakralakt in der richtigen Form und das heißt: wirksam vollzogen wurde. Aus diesem Grunde43 wird die Mitwirkung eines Pontifex, meist des Pontifex Maximus, stets auch erwähnt, und wird gelegentlich sogar von ihm selbst gesagt, daß er dediziere oder konsekriere44. In korrekter Ausdrucksweise aber sagte man: aedis sacra a magistratu pontifice praeeunte dedicatur (Varro ling. lat. 6.61) oder magistratus per pontificem dedicat (Cic. dom. 120, 122) oder, wie Livius in unserer Stelle, sollemnia pro pontifice suscipere. Für unsere Untersuchung halten wir als Ergebnis dieser Überlegungen fest: daß bei der dedicatio die Wendung pro pontifice den Vollzug des Sakralakts ,nach Maßgabe eines Pontifex‘ zum Ausdruck bringt45. IV. Supplicatio pro collegio decemvirorum imperata 1. Diese Interpretation wird bestätigt durch Liv. 38.36.4 priusquam in provincias novi magistratus proficiscerentur, supplicatio triduum pro collegio decemvirorum imperata fuit in omnibus compitis, quod luce inter horam tertiam ferme et quartam tenebrae obortae fuerant.
a) Eine Finsternis unter Tags zeigte nach römischer Religionslehre eine Störung des Verhältnisses zwischen der Gemeinde und ihren Gottheiten an; sie war ein prodigium, das Unheil ankündete46. Um den Zorn der Gottheit zu besänftigen und sie wieder zu versöhnen und damit das drohende Unheil abzuwenden, mußte das prodigium durch sakrale Maßnahmen prokuriert werden47. Prokurationsmittel waren Lustrationen, Opfer und Gottesdienste aller Art48. 42
So Wissowa, RE 4 (1900) 898 f., gegen Marquardt 272. Wissowa, RE 4 (1900) 899: weil „beide an demselben Acte in gleicher Richtung beteiligt“ seien. 44 Cic. dom. 119; Varro 1. 1. 6.54; Paul. Fest. p. 88 M.; Plin. nat. 11.174. 45 Marquardt 273 Anm. 2: „vor oder in Gegenwart“; ebenso Weissenborn/Müller V 73 zu 2.27.5. Radke (o. Anm. 34): „den Weiheakt für den pontifex übernehmen“. 46 Begriffsbestimmung bei Wülker 1; Händel, RE 23 (1959) 2283. Sonnenfinsternisse gehörten zu den wichtigsten Prodigien: Wülker 7 f.; Luterbacher 18 f. 47 Mommsen III 1059 ff.; Wissowa 390 f. 48 Ein detailliertes Verzeichnis der Sühnmittel bei Wülker 39 ff.; ein Überblick bei Luterbacher 36 ff. 43
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Die Prodigien und die Art ihrer Erledigung waren in der Stadtchronik, den annales maximi49, verzeichnet50. Ihre Überlieferung verdanken wir in erster Linie Livius51. Unser Text ist der Prodigienbericht zum Jahre 188 v. Chr. Um die beteiligten Götter zu versöhnen, war eine dreitägige supplicatio angeordnet worden. Diese war ein Bittfest, an dem das ganze Volk teilnahm. Gewöhnlich waren Männer und Frauen aufgefordert, ad omnia pulvinaria: an allen nach griechischer Art ausgestatteten Kultstätten zu opfern52; das waren die Tempel der in Rom aufgenommenen griechischen Gottheiten. Im Jahre 188 v. Chr. sollte die Fürbitte ausnahmsweise bei den Altären an den Wegkreuzungen erfolgen. Die supplicatio war angeordnet worden pro collegio decemvirorum53. Dieses Kollegium54, neben dem Pontifikat und dem Augurat das dritte große Priestertum, hatte ursprünglich zwei, aber schon seit den sextisch-licinischen Gesetzen zehn Mitglieder; von Sulla ist diese Zahl auf fünfzehn, von Caesar schließlich auf sechzehn gestellt worden; seine offizielle Bezeichnung war decemviri, zuletzt quindecimviri sacris faciundis. Das Kollegium verwaltete die sibyllinischen Bücher55; ihm oblag die Befragung der Orakelsammlung und die Ausdeutung der Sibyllensprüche. Die Befragung der Bücher stand indessen nicht in seinem Ermessen: sie mußte durch einen Senatsbeschluß angeordnet werden. Der Senat traf regelmäßig diese Anordnung, wenn nach schwerwiegenden Prodigien die gehörigen Prokurationsmaßnahmen ermittelt werden mußten. Damit kommen wir wieder auf die Auslegung unserer Stelle zurück. Die Vielzahl der livianischen, nämlich in den Büchern 21–45 fast jährlichen Prodigienberichte56 erlaubt uns, die genaue Bedeutung des Satzes supplicatio pro collegio decemvirorum imperata fuit zu bestimmen. Aus den Berichten läßt sich nämlich das zur Prokuration führende Verfahren exakt rekonstruieren57.
49 Die am Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. von P. Mucius Scaevola besorgten annales maximi waren sehr wahrscheinlich eine Abschrift der seit frühester Zeit vom Pontifex Maximus geführten Jahrestafeln, in die per singulos dies alle Ereignisse im Staat eingetragen wurden. So überzeugend J. E. A. Crake, Classical Philology 35 (1940) 375 ff., auch in Röm. Geschichtsschreibung (1969) 256 ff.; in der älteren Literatur: Cichorius, RE 1 (1894) 2248 ff. 50 Cato bei Gell. 2.28.6. 51 Wülker 64 ff.; Luterbacher 13 f., 60 ff.; Händel, RE 23 (1959) 2285. 52 Wissowa 423 f., RE 4 A (1931) 942 ff.; außerdem Hug, RE 23 (1959) 1977 s. v. Pulvinar. 53 Zur Erledigung von Prodigien wurde die supplicatio fast immer von den Decemviri angeordnet; sie war das Hauptsühnmittel des graecus ritus: Wülker 42 ff.; Wissowa 424 Anm. 5. 54 Wissowa 534 ff.; Latte 397 f. 55 Latte 160 f. 56 Sie fehlen auch nicht in der 1. Dekade, sind hier aber, also bis auf das Jahr 293 v. Chr., eher selten. Vgl. das Verzeichnis bei Wülker 86 ff.
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b) Wurde ein prodigium, ein Stein- oder ein Blutregen oder eine Mißgeburt angezeigt58, was durch jedermann geschehen konnte, dann entschied der Senat, wenn ihn die Konsuln mit der Anzeige befaßten, ob sie zuverlässig sei und das gemeldete Geschehen den Staat angehe. Nahm der Senat das prodigium an, dann war es auch seine Sache, die Prokuration festzusetzen. Das konnte unverzüglich geschehen; in diesem Fall folgte er stets bewährten Präjudizien. In aller Regel befragte er aber zunächst die Pontifices oder die Decemviri oder auch Haruspices, gelegentlich sogar beide Kollegien oder das der Decemviri und außerdem Haruspices. Zu dieser Befragung entschied er sich wieder durch Beschluß. In ihrem Gutachten bezeichneten die Befragten die Prokurationsmittel: Opfer, wobei sie die Gottheiten und die Zahl und Qualität der Opfertiere bestimmten; oder eine supplicatio, wobei sie Dauer und Umstände spezifizierten; oder, nach dem Muster der alljährlichen, eine außerordentliche Lustratio der Stadt. Auf den Bescheid der befragten Instanz hin bestimmte der Senat dann – in einem dritten Beschluß – die Prokuration. Die Durchführung dieses Beschlusses oblag den Magistraten: Opfer wurden von ihnen selbst vollzogen, eine supplicatio etwa von ihnen angeordnet. Die Verifizierung dieses Überblicks anhand einer Reihe livianischer Prodigienberichte wird erweisen, daß pro collegio decemvirorum imperata die Bedeutung hat: ,angeordnet nach Maßgabe des Gutachtens der Decemviri‘, darüber hinaus wird sie zu dem Schluß führen, daß der Bescheid der Decemviri für den Senat bindungsgleiche Wirkung hatte. Besonders ausführlich ist der Bericht für das Jahr 181 v. Chr.; ihm entnehmen wir Liv. 40.19.4–5 His prodigiis cladibusque anxii patres decreverunt, ut et consules, quibus diis videretur, hostiis maioribus sacrificarent, et decemviri libros adirent. (5) eorum decreto supplicatio circa omnia pulvinaria Romae in diem unum indicta est. iisdem auctoribus et senatus centrjsiut et consules edixerunt, ut per totam Italiam triduum supplicatio et feriae essent.
Das Vokabular dieses Berichts ist durchaus technisch59: hostiis maioribus sacrificare60, quibus diis videretur61, libros adire62, decretum63, circa omnia pulvi-
57 Wülker 26 ff.; Luterbacher 33 ff.; Wissowa 390 f., 538 f.; Händel, RE 23 (1959) 2290 ff. 58 Verzeichnis der Staatsprogidien bei Wülker 6 ff. 59 Über den ,Prodigienstil‘ Luterbacher 43 ff. 60 Luterbacher 55. 61 Gell. 4.6.2. 62 Luterbadier 57. 63 Wissowa 395.
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naria64, supplicatio indicta65 sind Fachausdrücke des Kultwesens, senatus censuit, consules edixerunt des Staatsrechts. In aller Deutlichkeit sagt der Bericht, daß die eintägigen Fürbitten an allen pulvinaria Roms angeordnet worden sind aufgrund des Bescheids der Decemviri; und der Schlußsatz, daß die dreitägigen Fürbitten in ganz Italien vom Senat beschlossen und von den Konsuln verfügt sind auf Veranlassung oder Geheiß der Decemviri. Wir halten außerdem fest, daß indicta est sowohl den die supplicatio anordnenden Senatsbeschluß wie die Durchführungsverfügung der Konsuln abdeckt. Die meisten Prodigienberichte verkürzen das Prokurationsverfahren. Im Jahre 191 v. Chr. waren viele Schreckenszeichen beobachtet worden; nach ihrer Aufzählung fährt der Bericht fort Liv. 36.37.4–6 Eorum prodigiorum causa libros Sibyllinos ex senatus consulto decemviri cum adissent, renuntiaverunt, ieiunium instituendum Cereri esse, et id quinto quoque anno servandum; (5) et ut novemdiale sacrum fieret et unum diem supplicatio esset; coronati supplicarent; et consul P. Cornelius, quibus diis quisbusque hostiis edidissent decemviri, sacrificaret. (6) placatis diis . . . provinciam proficiscitur consul.
Wir hören von dem Senatsbeschluß, der die Decemviri anwies, die sibyllinischen Bücher zu befragen66; wir erfahren, was die Decemviri ,zurückmeldeten‘ 67, und danach sofort: daß der Konsul in die Provinz aufgebrochen ist, nachdem die Götter versöhnt waren – mit anderen Worten: daß die Prokurationen stattgefunden haben68. Der Senatsbeschluß, der sie festsetzte, bleibt unerwähnt, ebenso die Durchführungsanordnung des Konsuls. Es verstand sich offenbar, daß der Senat beschloß und demgemäß der Konsul durchführte, was die Decemviri für erforderlich hielten. Livius selbst bestätigt uns diesen Schluß; was er nämlich als Bescheid der Decemviri darstellt69, ist dem Senatsbeschluß entnommen; nur der Senat konnte nämlich den Konsul namentlich anweisen und nur im Senatsbeschluß konnte zur Spezifizierung der Götter und Opfertiere auf das Gutachten verwiesen werden. 64
Wissowa 399, RE 4 A (1931) 944. Liv. 27.4.15, 32.1.14, 39.46.5. 66 Prodigiorum causa ist eine bei Livius besonders häufige Klausel: Luterbacher 56. 67 Renuntiare, der übliche Ausdruck für ,amtlich Bericht abstatten‘, kommt in den Prodigienberichten des Livius – ebenso wie referre (22.9.9) – nur gelegentlich vor; der stehende Ausdruck für die Erteilung des Bescheids ist edere (etwa Liv. 21.62.7, 22.10.10, 42.2.6). 68 In der Epoche, in der die Konsuln alsbald nach Amtsantritt regelmäßig zum Heer, in provincias, gingen, verließen sie doch erst dann die Stadt, wenn alle Prodigien erledigt waren. Mommsen III 1059 f.; Händel, RE 23 (1959) 2294. 69 Von renuntiaverunt hängt alles Folgende bis sacrificaret ab; der Wechsel in der Konstruktion (5: et ut) ist bei Livius nicht auffällig. Etwas anders Wissowa 538 Anm. 6. 65
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Der Prodigienbericht für 169 v. Chr. läßt die politischen Staatsorgane völlig aus dem Spiel. Liv. 43.13.7,8 Publicorum prodigiorum causa libri a decemviris aditi: quadraginta maioribus hostiis quibus diis consules sacrificarent ediderunt, (8) et uti fieret cunctique magistratus circa omnia pulvinaria victumis – maioribus sacrificarent . . . omnia, uti decemviri praeierunt, facta.
Hier ist weder von dem Senatsbeschluß, der die Decemviri anwies, die sibyllinischen Bücher zu befragen, noch von dem späteren die Rede, der die Prokurationen anordnete. Vielmehr wird nur berichtet, daß die Bücher der Sibylle von den Decemviri befragt worden sind; sodann der Inhalt ihres Dekrets mitgeteilt und abschließend, daß alles geschehen ist, uti decemviri praeierunt. Schon bei der Erörterung der dedicatio ist erwähnt worden70, daß praeire der – auch von Livius ständig verwendete – technische Ausdruck für die Mitwirkung der Pontifices bei der Vornahme eines Sakralakts durch den Magistrat war; er bezeichnete das Vormachen des rituellen Gestus und das Vorsprechen der verba sollemnia71. Seine Verwendung für die Anweisung der Decemviri kann nur bedeuten, daß Livius ihren Bescheid für schlechterdings maßgebend hielt, daß der Senat von ihm ebensowenig abweichen konnte, wie bei einem Sakralakt der Magistrat von den ihm vorgesprochenen Worten des Pontifex. Unter dieser Voraussetzung erklärt sich auch der Prodigienbericht zum Jahre 174 v. Chr. Auf die Schilderung einer verheerenden Epidemie folgt Liv. 41.21.10,11 Cum pestilentiae finis non fieret, senatus decrevit, uti decemviri libros Sibyllinos adirent. (11) ex decreto eorum diem unum supplicatio fiut . . .
Wären wir nicht über das Prokurationsverfahren genau im Bilde, so läge nach diesem Text die Ansicht nahe, daß die supplicatio unmittelbar auf Geheiß der Decemviri stattgefunden habe. In Kenntnis des Verfahrens müssen wir dagegen dieser Darstellung entnehmen, daß ihr Bescheid für den Senat unter allen Umständen maßgebend war. Einer anderen verkürzenden Ausdrucksweise bedient sich der Bericht zum Jahre 183 v. Chr. Liv. 39.46.5 Hac religione levatis altera iniecta, quod sanguine per biduum pluvisset in area Vulcani; et per decemviros supplicatio indicta erat eius prodigii expiandi causa.
Man hat angenommen, die Fürbitten seien hier ausnahmsweise von den Decemviri selbst angesagt worden72. Wie die Parallelberichte lehren, besagt aber 70 71 72
Oben nach Anm. 44. Wissowa 394 mit Anm. 7. Weissenborn/Müller IX 101 zu 39.46.5.
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indicta erat, daß die supplicatio vom Senat beschlossen und von den Konsuln anberaumt worden ist73; per decemviros ist danach gleichbedeutend mit ex decreto decemvirorum. Beide Ausdrücke verwendet Livius auch für die Befolgung pontifikaler Gutachten74. In der Terminologie seiner Prodigienberichte sind aber auch im übrigen keine Abweichungen zu beobachten, wenn der Senat einmal die Pontifices und nicht, wie in der Regel, die Decemviri zu Rate gezogen hat75. c) Wir fassen das Ergebnis dieser Teiluntersuchung zusammen. Es geht um die Bedeutung von supplicatio pro collegio decemvirorum imperata fuit; der Satz steht bei Livius (38.36.4) im Prodigienbericht zum Jahre 188 v. Chr. Livius beschreibt denselben Vorgang in anderen Prodigienberichten mit: eorum decreto supplicatio indicta est (40.19.5); ex decreto eorum supplicatio fuit (41.21.11); per decemviros supplicatio indicta erat (39.46.5). Die supplicatio wurde vom Senat beschlossen und von den Konsuln anberaumt. In aller Regel ging dem Senatsbeschluß eine Anfrage bei den Decemviri oder Pontifices voraus. Die Ausdrücke pro collegio decemvirorum, eorum decreto, ex decreto eorum und per decemviros besagen, daß der Senat die Prokuration nach Maßgabe des Bescheids der Decemviri beschlossen hat76. Bemühte der Senat die Decemviri oder die Pontifices um ein Gutachten, so wird in den Prodigienberichten des Livius deren Beteiligung am Prokurationsverfahren stets ausdrücklich erwähnt; die Beteiligung des Senats dagegen in aller Regel gar nicht oder nur mit dem Beschluß, die Decemviri oder Pontifices zu Rate zu ziehen. Aus dieser Darstellungsweise dürfen wir folgern, daß der Senat ohne weiteres beschloß, was die Decemviri oder Pontifices in ihrem Gutachten zur Erledigung der Prodigien für erforderlich erklärten. 2. Das Verhältnis zwischen dem Bescheid des Priesterkollegiums und dem Beschluß des Senats war offenbar von derselben Art wie bei der dedicatio (und anderen Sakralakten) das Verhältnis zwischen der Anweisung des Pontifex und dem Vollzug des Geschäfts durch den Magistrat. Bei der dedicatio konnten wir dieselben Klauseln beobachten: Wie der Senat die Betfeste und andere Prokurationsmaßnahmen pro collegio decemvirorum oder per decemviros oder per pontifices beschloß, so dedizierte der Magistrat pro pontifice oder per pontificem. Der eigentliche Fachausdruck für die Anweisungen des Pontifex bei der dedicatio war
73
Oben zu Liv. 40.19.4–5. Vgl. etwa auch Liv. 27.4.15, 32.1.14. Liv. 37.3.1 (190 v. Chr.): Priusquam consules in provincias proficiscerentur, prodigia per pontifices procurari placuit. Durch placuit ist klargestellt, daß die Prokuration durch Beschluß des Senats angeordnet worden ist. – Liv. 27.37.4 (207 v. Chr.): Haec procurata hostiis maioribus prodigia et supplicatio diem unum fuit ex decreto pontificum. 75 Wülker 30 f. 76 Granius Licinianus p. 15 Flem. berichtet den Fall, daß der Senat pro collegio (decemvirorum) die öffentliche Rezitation des Orakelspruchs beschlossen hat. 74
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praeire und mit eben demselben Wort bezeichnet Livius die der Decemviri bei der Prokuration. a) Bei der dedicatio verbürgte allein der genaue Nachvollzug der Gesten und Verba, die der Pontifex dem Magistrat vormachte und vorsprach, ihre Wirksamkeit. Unter demselben Zwang handelte bei der Prokuration der Senat: Folgte er nicht dem Gutachten der Decemviri oder Pontifices, wich er von dem ab, was sie an Prokurationsmaßnahmen zur Erledigung der Schreckenszeichen für notwendig hielten, riskierte er, daß die prodigia unerledigt und damit die Gottheiten unversöhnt blieben. Diese Verbindlichkeit ihrer Dekrete beruhte bei den Decemviri auf den ihnen überantworteten staatseigenen sibyllinischen Büchern und der Erfahrung, diese Orakelsammlung zu gebrauchen; bei den Pontifices auf ihrem Archiv- und Erfahrungswissen in allen Angelegenheiten des Sakralwesens. Decemviri und Pontifices hatten aber nicht nur dieses Sonderwissen: sie hatten es auch zu haben und hatten es von Staats wegen zu haben; denn sie waren dazu bestellt: die Decemviri, die Orakelbücher zu handhaben, die Pontifices zur Aufsicht über alle sacra. Ihr Fachwissen war darum zugleich Amtswissen, ihre Fachautorität durch ihre Amtsautorität beglaubigt. b) Die Amtsautorität der beiden Priesterschaften führt zu der Frage, ob die politischen Staatsorgane nicht auch von Rechts wegen gehalten waren, den Dekreten der Staatspriester zu folgen. Die Frage erledigt sich nicht mit dem Hinweis, daß es das Ermessen des Senats war, ein Gutachten einzuholen, und er tatsächlich immer wieder Prokurationen beschlossen hat, ohne vorher die Decemviri oder Pontifices zu konsultieren77. Denn das Ermessen, sie mit einem prodigium zu befassen, bedeutet nicht notwendig auch die Freiheit, dem Spruch des befaßten Kollegiums zu folgen oder nicht zu folgen. Eine klare Beantwortung der Frage halten die Quellen nicht bereit. Immerhin ist zunächst folgende Beobachtung bemerkenswert. Der Senat befragte, wie die Decemviri und Pontifices, so auch gelegentlich Haruspices78; bei bestimmten Schreckenszeichen – Blitzprodigien in der Stadt selbst gehörten dazu79 – scheint er regelmäßig Haruspices hinzugezogen, auch aus Etrurien eigens herbeigerufen80 und in mündlicher Verhandlung angehört zu haben81. Ihr eigentliches Handwerk war Zukunftserkundung82. Vermöge einer ausgeklügelten Divinations-
77 Wülker 29 f., der hier mißverständlich den Senatsbeschluß auch ,Senatsgutachten‘ nennt. 78 Wülker 34 ff. mit einem Verzeichnis aller Berichte. 79 C. O. Thulin, Die Etruskische Disziplin 1 (1905, Neudruck 1968) 115 f. 80 Etwa Liv. 27.37.6; Cic. Catil. 3.19. Nach Wülker 34 und Wissowa 544 mit Anm. 4 sollen sie jedesmal aus Etrurien herbeigerufen worden sein. 81 Etwa Liv. 32.1.14; Appian. b. c. 4.4. 82 Marquardt 410 ff.; Wissowa 543 ff.
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kunst83 ermittelten sie die zukünftigen Geschehnisse, die das Zorneszeichen einer Gottheit androhte. Als Sachverständige im Prokurationsverfahren hatten sie darum die Frage zu beantworten: quid portendat prodigium. Sie konkurrierten aber insofern mit den Decemviri und Pontifices, als sie durchaus auch Prokurationsmittel benannten84. Gleichwohl war für sie eine andere Terminologie gebräuchlich. Ihr Gutachten wurde nicht wie das der Decemviri und Pontifices decretum genannt, sondern responsum oder iussum85, seine Erteilung dementsprechend respondere oder iubere86. Traf der Senat einen Prokurationsbeschluß nach Maßgabe ihres Gutachtens, so gebraucht Livius zwar die Wendung ex responso eorum supplicatio indicta est (32.1.14); weder bei ihm noch an anderem Orte finden wir aber den Ausdruck per haruspices oder pro haruspicibus supplicatio indicta87. Diese Unterschiede in der Terminologie, je nachdem der Senat dem Gutachten eines Priesterkollegiums oder dem von Haruspices folgte, sind sicher nicht zufällig. Sie werden ihren Grund in der unterschiedlichen Stellung der Priester und Haruspices haben. Die Pontifices und Decemviri waren sacerdotes publici, römische Staatspriester und also Amtsträger, die Haruspices dagegen Privatleute und außerdem Fremde88. An ihre Gutachten war der Senat auf keinen Fall gebunden89. Darum waren sie wirklich nichts als responsa oder iussa. Und es ist denkbar, daß gerade ihre sakralrechtliche Unverbindlichkeit die Ausdrucksweise per haruspices oder pro haruspicibus ausschloß. 3. Bevor wir zu unserer Gellius-Stelle und damit zur Erklärung der comitia, quae pro conlegio pontificurn habentur, zurückkehren, ist noch einzugehen auf Paul. Fest. p. 57 M. Caviares hostiae dicebantur, quod caviar pars hostiae90 cauda tenus dicitur, et ponebatur in sacrificio pro collegio pontificum quinto quoque anno.
Die Bedeutung des Opfers der caviares hostiae ist ungeklärt91. Unsere Überlegungen werden dadurch jedoch nicht behindert. Wissowa entnimmt der Glosse, das Opfer sei alle vier Jahre von den Pontifices dargebracht worden92. Es steht 83
Thulin, RE 7 (1912) 2441 ff. Liv. 24.10.12, 32.1.14, 41.13.3; Obseq. 44 b, 46. 85 Ex haruspicum responso oder haruspicum responso: Liv. 24.10.13, 32.1.14; Obseq. 29, 43, 61; Tac. ann. 13.24.2. Haruspicum iussu: Obseq. 3, 25, 44, 56, 57, 70. 86 Respondere: Liv. 42.20.4; Obseq. 18, 28. Iubere: Liv. 35.21.5, 36.37.2, 40.2.3. 87 Das ist besonders bei Obsequens auffällig, der durchweg haruspicum iussu oder responso u. ä., aber per decemviros (22, 44) gebraucht. 88 Cic. nat. deor. 2.11: Tusci ac barbari. Wissowa 543; Thulin, RE 7 (1912) 2440. 89 Vgl. Luterbacher 35. 90 Wissowa, RE 3 (1899) 1805; caviae id est pars hostiae Hs. 91 Wissowa 516 Anm. 5. 92 RE 3 (1899) 1805 und Religion und Kultus 516 Anm. 5. 84
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außer Frage, daß die Pontifices Opferhandlungen vornahmen; und es ist auch anzunehmen, daß ihnen mehr Opferdienste oblagen, als wir wissen. Daß aber die Festus-Stelle einen Opferdienst der Pontifices bezeugt, ist unwahrscheinlich. Die Wendung pro collegio pontificum bedeutet nämlich nicht, wie Wissowa will, daß die Pontifices die caviares hostiae opferten. Die livianischen Prodigienberichte führen vielmehr zu einer anderen Erklärung der Glosse. Livius berichtet zum Jahre 191 v. Chr., die Decemviri hätten zur Erledigung der prodigia vorgeschrieben, zu Ehren der Geres einen Fastentag einzurichten, der alle vier Jahre beachtet werden sollte93; und in einer ganzen Reihe von Prodigienberichten beobachten wir, daß die Dekrete der Decemviri und Pontifices, wo sie Opfer vorsahen, auch die Art und Qualität der Opfertiere angaben94. Es kann danach kaum zweifelhaft sein, daß Festus von einem Sakraldienst sprach, der alle vier Jahre das Opfer von caviares hostiae verlangte und der vielleicht zur Prokuration eines prodigium, sicher aber gemäß einem Dekret der Pontifices eingerichtet worden ist. V. Das Pontifikaldekret und der Magistrat 1. Kehren wir jetzt zur Gellius-Stelle zurück, so liegen die Folgerungen auf der Hand. Es geht um Labeos Definition der Kalatkomitien, um die Erklärung des Relativsatzes quae pro conlegio pontificum habentur. Den Ausdruck pro collegio pontificum haben wir nur noch bei Cicero und in einer Festus-Glosse. Bei Cicero bedeutet er ,im Namen des Pontifikalkollegiums‘. Diese Bedeutung konnten wir für die Gellius-Stelle ausschließen. Bei Festus meint pro collegio pontificum: ,nach Maßgabe des Pontifikalkollegiums‘. Diese Auslegung wird durch ein breites Quellenmaterial gesichert. Sie macht guten Sinn auch in Labeos Definition der Kalatkomitien. Schon nach unseren vorläufigen Überlegungen wurden die Kalatkomitien von einem Magistrat einberufen und geleitet: jetzt sehen wir, daß sie abgehalten wurden ,nach Maßgabe des Pontifikalkollegiums‘, das heißt in Ausführung eines Dekrets der Pontifices. Gegen diese Interpretation ist die Bezeichnung der comitia, quae pro conlegio pontificum habentur als calata kein Einwand. Calare ist zwar ein Wort der Sakralsprache95. Aber nur in einem Fall wird überhaupt von den Pontifices gesagt, 93 94
Liv. 36.37. 4, oben vor Anm. 66. Liv. 22.1.17, 27.4.15, 36.37.5, 40.45.5, 42.2.6, 42.20.3, 43.13.7. S. auch Wülker
44 f. 95 J. v. Gruber (o. Anm. 24) 172 f. Bei Plautus ist calator der Sklave, der dem Herrn stets zur Hand ist, um herbeizurufen, wen dieser befiehlt: Merc. 852, Pseud. 1009, Rud. 335. Dem entspricht Paul. Fest. p. 38 M. Die späteren, durch zahlreiche Inschriften bezeugten calatores sind freie Diener aller möglichen Priesterschaften und priesterlichen Sodalitäten: Marquardt 226 f. Zu allem Samter, RE 3 (1897) 1335 f. Es kann hier dahinstehen, ob die begrenzte Verwendung von calare ursprünglich oder die Beschränkung auf die Sakralsprache eine Entwicklung ist.
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daß sie ,kalierten‘: nach Varro wurden ursprünglich die Nonae von einem Pontifex an den Kalendae ,kaliert‘ 96. Diese Überlieferung kann nicht die Annahme begründen, daß die Kalatkomitien von den Pontifices einberufen und geleitet worden seien97. Zwar ist zu vermuten, daß die Bezeichnung der Komitien als calata und ihre Beschreibung als quae pro conlegio pontificum habentur in Zusammenhang stehen; ausreichend erklärt wird die Verwendung von calare aber schon durch eine Mitwirkung der Pontifices bei der Einberufung der Komitien, wie sie unsere Untersuchung ergeben hat. 2. Erneut stellt sich hier die Frage, ob die Obermagistrate von Rechts wegen gehalten waren, dem Dekret der Pontifices zu folgen. Für ihre Beantwortung könnte die Untersuchung der einzelnen Komitialakte aufschlußreich sein. Wir müssen uns auf die Erörterung der Inauguration des rex und der flamines beschränken. Wie unsere Gellius-Stelle lehrt, wurden in den Kalatkomitien der 1. Rex Sacrorum und die drei obersten Flamines, Dialis, Martialis und Quirinalis, inauguriert. Der Inauguration ging ihre Ernennung voraus; sie geschah durch den Pontifex Maximus, der ursprünglich in seiner Wahl vollkommen frei war98. Diese Entscheidungsgewalt ist im Laufe der Zeit erheblich eingeschränkt worden; das Recht der Ernennung ist ihm aber immer geblieben99. Die Inauguration machte den Ernannten zum Priester100. Die Quellen schreiben sie bald dem Pontifex Maximus, bald einem Augur zu101. Indessen ist ausge96 Varro 1. 1. 6.27. Nach Macr. Sat. 1.15.9 ff. war der Kalator ein pontifex minor, ein Hilfsbeamter des Kollegiums, was mit Varro nicht unvereinbar ist. Über die pontifices minores etwa Marquardt 244; G. J. Szemler, RE 15 Suppl. (1978) 338. 97 So allerdings J. v. Gruber (o. Anm. 24) 173; Mommsen, Röm. Forschungen I (1864) 270 Anm. 3, Staatsrecht III 39 Anm. 1; Kühler, RE 3 (1897) 1330. 98 Die Flamines wurden rituell ,ergriffen‘. Diese Art der Ernennung, die technisch capere hieß, ist (außer für die Vestalinnen) nur für den Flamen Dialis belegt (Gell. 1.12.15 f.; Liv. 27.8.5), danach für die beiden anderen großen Flamines aber auch anzunehmen. Wissowa 510 und RE 3 (1899) 1509 dehnt die Analogie auch auf den Rex aus, was nicht ohne weiteres einleuchtet. Rosenberg, RE 1 A (1914) 722, hält sich dagegen an Liv. 40.42.8 ff., wo allerdings ein Verfahren geschildert wird, das den Pontifex Maximus schon an eine Vorschlagsliste – wahrscheinlich des Kollegiums – bindet. 99 Liv. 40.42.8 ff.; Tac. ann. 4.16. Wissowa 510. 100 Mommsen II 33 ff., Wissowa 490 und andere sehen dagegen in der Inauguration des Rex und der Flamines nur eine feierliche Form ihres Amtsantritts: die Zeremonie bedeute die Zustimmungserklärung der Gottheit zu der vollzogenen Ernennung. Zutreffend Latte 141, 403: nach der allgemeinen Bedeutung des Wortstammes war die inauguratio ursprünglich ,Machtmehrung‘. Das von Livius 1.18.7 ff. beschriebene Ritual (Wissowa 524 f.; Richter, RE 9 [1916] 1221 f.) wird authentisch, die Spruchformel dagegen seine Erfindung sein. – Von alters her wurden außer den drei großen Flamines und dem Rex nur noch die Augurn inauguriert. Da sie den Rex und die Flamines inaugurierten, spricht auch dieser Befund für unsere Annahme: sie waren die Träger der Kräfte, die den Rex und die Flamines zu Priestern machten. Schließlich: In den ,Personalnachrichten‘ gedenkt Livius nur ausnahmsweise der Ernennung und dann stets neben
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macht, daß sie von einem Augur vorgenommen wurde, der jedoch auf Geheiß des Pontifex Maximus handelte102 Der Pontifex Maximus war danach, wie nicht anders zu erwarten, auch für die Inauguration der von ihm designierten Priester verantwortlich. Diese Verantwortung wird in einem Konfliktsfall anschaulich, den Livius erzählt: Liv. 40.42.8–11 De rege sacrificulo sufficiendo in locum Cn. Cornelii Dolabellae contentio inter C. Servilium pontificem maximum fuit et L. Cornelium Dolabellam duumvirum navalem, quem ut inauguraret pontifex magistratu sese abdicare iubebat. (9) recusantique id facere ob eam rem multa duumviro dicta a pontifice, deque ea, cum provocasset, certatum ad populum. (10) cum plures iam tribus intro vocatae dicto esse audientem pontifici duumvirum iuberent, multamque remitti, si magistratu se abdicasset, vitium de caelo, quod comitia turbaret, intervenit. religio finde fuit pontificibus inaugurandi Dolabellae. (11) P. Cloelium Siculum inaugurarunt, quo secundo loco nominatus erat.
Dieser Erzählung wird entnommen, daß nicht erst die Inauguration den Übergang der Priesterwürde herbeigeführt habe; der Befehl, das Amt niederzulegen, und die Verhängung der multa setzten nämlich voraus, daß Dolabella der Disziplinargewalt des Pontifex Maximus unterstanden habe und also schon durch die Ernennung zum Priester geworden sei103. Wenn diese Auslegung richtig wäre, hätte Rom damals zwei Opferpriester gehabt. Die Erzählung belegt vielmehr, daß wirklich erst die Inauguration den Ernannten mit der Priesterwürde ausstattete, und bekräftigt damit auch, daß ihre Vornahme in die Verantwortung des Pontifex Maximus fiel; denn die Priesterstelle, die er besetzen mußte, war unbesetzt, solange der designierte Rex nicht inauguriert war. Da die Inauguration in den Kalatkomitien zu geschehen hatte, die Kalatkomitien aber von einem Magistrat einberufen wurden, leidet es kaum Zweifel, daß
der Inauguration (creatus inauguratusque: 27.36.5, 29.38.36; lectus inauguratusque: 33.44.3), gewöhnlich aber nur der Inauguration (27.8.4, 27.36.5, 30.26.10; 37.47.8; 40.42.8 ff., 41.28.7, 45.15.10). 101 Dem Pontifex Maximus: Liv. 40.42.8–11; einem Augur: Macr. Sat. 3.13.11. 102 Vgl. etwa Lange 299; Wissowa 490 Anm. 5. Anders noch Mommsen II 35. Der Pontifex Maximus konnte den Augur, wenn er sich weigerte, auch mit einer multa belegen: Festus p. 343 M. s. v. Saturno Sacrificium; vgl. Wissowa 511 Anm. 5, 523 Anm. 5. 103 Mommsen II 33 Anm. 3; Wissowa 490 Anm. 4; Bleicken, Hermes 85 (1957) 452, mit der Variante, daß der Rex vom Oberpontifex nur nominiert, sodann in den Kuriatkomitien gewählt und schließlich in den Kalatkomitien inauguriert worden sei. Aus der Multierungsgewalt des Pontifex Maximus kann nicht auf ein besonderes Disziplinarverhältnis geschlossen werden. Auch in Liv. Per. 47 steht der vom Pontifex Maximus M. Aemilius Lepidus wegen einer Beleidigung mit einer Mult belegte Prätor Cn. Tremellius nicht in dessen pontifikaler Disziplinargewalt. Vgl. Lange 346 bei Anm. 12. Anders Bleicken 453 f.
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der Oberbeamte dem veranlassenden Dekret des Pontifikalkollegiums104 folgen mußte. Wir wissen nicht, ob diese Folgepflicht mit Sanktionen bewehrt war, und wir können nicht einmal sagen, ob sie überhaupt als eine rechtliche angesehen wurde105. Vielleicht war sie nur der Reflex der Amtsautorität des Pontifikalkollegiums. Ein Konfliktfall ist nicht überliefert106.
104 Über das Verhältnis des Pontifex Maximus zu seinem Kollegium siehe oben Anm. 2. 105 Von den gutachtlichen Äußerungen der Pontifices sagt Wissowa 514: daß „die gebotene Ehrfurcht vor dem in seinem Detail nur den Pontifices bekannten und zugänglichen Sakralrechte . . . eine Abweichung von der in den Gutachten gegebenen Weisung tatsächlich“ ausschloß; und Latte 198: daß „deren bindende Kraft nicht in irgendwelcher magistratischer Kompetenz, sondern in der Verfügung über uralte Erfahrung“ ruhte. Beide ziehen die Amtsträgerschaft der Pontifices nicht in Betracht. 106 Die von Bleicken, Hermes 85 (1957) 446, behandelten ,Kollisionen zwischen Sacrum und Publicum‘ sind anderer Art.
Die literarische Überlieferung der Publikation der Fasten und Legisaktionen durch Gnaeus Flavius Viele glauben heute, daß in Rom die Rechtskunde bis gegen Ende des 4. Jahrhunderts ein Monopol der Pontifices gewesen sei und sich erst im Laufe des 3. Jahrhunderts aus der Bindung an das Sakralamt gelöst habe1. Geht man dieser Vorstellung nach, so stößt man alsbald auf die Nachrichten von der Veröffentlichung des Tageskalenders und der Legisaktionen durch Gnaeus Flavius2. Eine Analyse des Überlieferungsgehalts dieser Nachrichten ist die beschränkte Absicht dieser Untersuchung.
1 Statt aller vgl. W. Kunkel, Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen (1967) 45 ff., der auch noch für das 3. Jh. v. Chr. annimmt, daß nur der Priester habe Jurist sein können; erst seit dem Ende des 3. Jh.s v. Chr. habe sich dieses Verhältnis allmählich dahin gewandelt, daß die Rechtskunde zu einer wichtigen Qualifikation für das Priesteramt geworden sei. Wenn dieses Verhältnis überhaupt je ein anderes gewesen ist, so kaum noch im 3. Jh. v. Chr. Alle Versuche, Appius Claudius Caecus als pontifex in Anspruch zu nehmen (Kunkel 46), sind vergeblich; und, wie er, haben von den Juristen des 3. und 2. Jh.s die wenigsten dem Pontifikalkollegium angehört: Kunkels Liste verzeichnet bis zur Mitte des 2. Jh.s v. Chr. 12, bis auf Q. Mucius Scaevola und L. Licinius Crassus (cos. 95) 29 Juristen; von diesen waren insgesamt nicht mehr als 8, von den ersten 12 dagegen nur 4 pontifex. Augurat und Dezemvirat sacris faciundis müssen außer Betracht bleiben; denn fachspezifisch war von allen Sakralämtern nur der Pontifikat mit der Zivilrechtsjurisprudenz verbunden. Darum könnte vielmehr bezeichnend sein, daß den 8 pontifices unter den 29 Juristen des 3. und 2. Jh.s nur 4 Auguren gegenüberstehen. Kunkel wollte mit seinen „Forschungen . . . über das Verhältnis von Jurisprudenz und Priesterschaft“ seine allgemeine These unterstützen, daß die Jurisprudenz des 3. und 2. Jh.s „im wesentlichen eine Angelegenheit der Senatsaristokratie und in erster Linie der principes civitatis“ gewesen sei (44; 50). Demgegenüber sucht F. Wieacker, Festgabe v. Lübtow (1971) 183 ff., zu zeigen, daß die Fachjuristen des 3. und 2. Jh.s meist gerade den beiden unteren Rängen der Nobilität angehörten. 2 Sie wird bekanntlich außerdem verknüpft mit dem Namen des ersten plebeischen pontifex maximus, Ti. Coruncanius. Von ihm berichtet Pomponius (D 1.2.2.35), daß er als erster iuris scientiam publice professus est: die Rechtswissenschaft öffentlich betrieben, und das heißt natürlich: öffentlich respondiert hat. Pomponius interpretiert diese Neuerung als den Beginn der Rechtsunterweisung. Der Autor der Vorlage hatte offenbar den iuris consultus vor Augen, der wie Ciceros juristischer Lehrer Q. Mucius Augur consulentibus respondendo studiosos audiendi docebat (Cic. Brut. 89. 306), die ,herkömmliche‘ Lehrweise mithin, ut ii qui docerent nullum sibi ad eam rem tempus ipsi seponerent, sed eodem tempore et discentibus satis facerent et consulentibus (Cic. or. 42. 143). Zu Coruncanius zuletzt F. Wieacker, Festgabe v. Lübtow 187 ff., 191, 202 mit Lit.
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I. Die Quellen Die Gewährsmänner sind Cicero, Livius, Valerius Maximus, Plinius Secundus, der Jurist Pomponius und Macrobius. Bei Cicero, Livius und Valerius Maximus ist die Rede sowohl von den Fasten wie von den Legisaktionen; bei Plinius und Macrobius dagegen nur von den Fasten, und bei Pomponius nur von den Legisaktionen. Aus Cicero haben wir drei Belege3. In der Rede für Murena4 aus dem Jahre 63 erzählt er in dem bekannten Kapriccio über die Rechtsgelehrsamkeit folgende Geschichte5: „Ob Gerichtstag sei oder nicht, wußten ehemals nur wenige; denn der Tageskalender war insgemein nicht bekannt. So waren diejenigen mächtig, die man in Rechtsfragen um Rat anging; von ihnen erfragte man auch wie von Chaldäern den richtigen Tag. Da fand sich ein Schreiber, Gnaeus Flavius nämlich; der hackte den Krähen die Augen aus und machte dem Volk die Fasten bekannt.“ In den Büchern de oratore aus dem Jahre 55 sagt Cicero nur beiläufig, daß die actiones zuerst von Gnaeus Flavius allgemein bekannt gemacht worden sind6. Einem Brief an Atticus7 schließlich ist zu entnehmen, daß Cicero in der Schrift de re publica, die 52 erschienen ist, Scipio Africanus von der Veröffentlichung sowohl der Fasten wie der Aktionen erzählen ließ8. Die Stelle veranlaßte
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Mur. 25; de or. 1. 186; Att. 6.1.8. Instruktive Einleitung bei M. Fuhrmann, Marcus Tullius Cicero, Sämtliche Reden II (1970) 291 ff. 5 Mur. 25: Posset agi lege necne pauci quondam sciebant; fastos enim volgo non habebant. Erant in magna potentia qui consulebantur; a quibus etiam dies tamquam a Chaldaeis petebatur. Inventus est scriba quidam, Cn. Flavius, qui cornicum oculos confixerit et singulis diebus ediscendis fastos populo proposuerit . . . 6 In der Erörterung über die Notwendigkeit der Rechtskenntnis für den Redner, de or. 1. 166 ff., fordert Cicero bekanntlich die dialektische Behandlung des ius civile. Der künftige Redner, der das Rechtsstudium verabsäumt, wird der Trägheit bezichtigt, und von Q. Mucius Augur die Äußerung berichtet, daß ihm kein anderes Studium leichter erscheine. Darauf fährt der Text fort, 1. 186: Quod quidem certis de causis a plerisque aliter existimatur; primum, quia veteres illi, qui huic scientiae praefuerunt, obtinendae atque augendae potentiae suae causa pervulgari artem suam noluerunt; deinde, posteaquam est editum, expositis a Cn. Flavio primum actionibus, nulli fuerunt, qui illa artificiose digesta generatim componerent. 7 Att. 6.1.8: E quibus (sc. libris sex de re publica) unum storikün requir is de C. Flavio, Anni filio. ille vero ante decemviros non fuit, quippe qui aedilis curulis fuerit, qui magistratus multis annis post decemviros institutus est. ,Quid ergo profecit, quod protulit fastos?‘ occultatam putant quodam tempore istam tabulam, ut dies agendi peterentur a paucis; nec vero pauci sunt auctores Cn. Flavium scribam fastos protulisse actionesque composuisse, ne me hoc vel potius Africanum (is enim loquitur) commentum putes. 8 Zuletzt E. Heck, Die Bezeugung von Ciceros Schrift De re publica (1966) 22 f. 4
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nämlich Atticus zu dem Einwand, die Kalendertafel 9 sei doch schon von den Dezemvirn aufgestellt worden10; und mit spürbarer Ironie ließ er Cicero die Wahl, ob er Gnaeus Flavius vor die Dezemvirn setzen oder die Veröffentlichung der längst veröffentlichten Fasten behaupten wolle11. Cicero nahm den Einwurf ernst, aber seine Erwiderung ist enttäuschend. Unter dem 20. Februar 50 verwahrt er sich gegen die erste Alternative mit dem trokkenen Hinweis, daß Flavius Ädil gewesen, die Ädilität aber erst später eingerichtet worden sei. Der zweiten Alternative hält er entgegen: man nehme an, die Kalendertafel der Dezemvirn sei irgendwann einmal unterdrückt worden12, ut dies agendi peterentur a paucis; nec vero pauci sunt auctores Cn. Flavium scribam fastos protulisse actionesque composuisse. In der Rede für Murena erzählt Cicero im Anschluß an die Geschichte der Publikation der Fasten, daß die Juristen, um ihre Hand im Spiele zu behalten, die prozessualen Spruchformeln erfunden hätten13; und nachdem er in einer anspruchslosen, aber witzigen Persiflage des alten Eigentumsstreits um ein Grund9 Nur an der Veröffentlichung der Fasten durch Cn. Flavius hat Atticus Anstoß genommen. Das ergibt sich auch aus § 18 desselben Briefes: O nistorhsßan turpem! nam illud de Flavio et fastis, si secus est, commune erratum est; et tu belle pürhsaò et nos publicam prope opinionem secuti sumus, ut multa apud Graecos. Cicero hatte sich (§ 17) dermaßen über Q. Caecilius Metellus (cos. 52) aufgehalten, der unter den Ämtern seines Urgroßvaters P. Cornelius Scipio Nasica Serapio zu Unrecht auch die Zensur aufgeführt hatte, daß er von dessen Unbildung schleunigst Atticus’ vermeintliche Unkenntnis absetzen mußte. 10 Mommsen hat aus diesem Einwand geschlossen, daß „der Kalender ein integrierender Bestandteil der zwölf Tafeln“ gewesen sei: Die Römische Chronologie2 (1859) 31 Anm. 35a; Die patricischen Claudier, Röm. Forsch. I2 (1864) 304; CIL I. 12 (1893) 283, 284. Viele sind ihm darin gefolgt, etwa O. Seeck, Die Kalendertafel der Pontifices (1885) 49, auch noch Wissowa, RE 6 (1909) 2016, trotz O. E. Hartmann, Der römische Kalender (1882) 112 ff. Unklar L. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts (1953) 337 zu Anm. 22. Atticus’ Einwand bekundet nicht mehr, als daß eine andere Überlieferung die öffentliche Ausstellung der Fasten (auch?) schon den Dezemvirn zuschrieb. Diese Überlieferung ist nicht von vornherein unglaubwürdig, um so weniger als Macr. Sat. 1.13.21 berichtet: Tuditanus refert libro tertio magistratuum decemviros, qui decem tabulis duas addiderunt, de intercalando populum rogasse. Cassius eosdem scribit auctores. Sie ist zwar mit Liv. 4.3.9 unvereinbar, aber dieser Text ist ohne Beweiswert; er zeigt nur, daß Livius jene Überlieferung nicht kannte oder ihr nicht gefolgt ist. Er weiß ja auch nichts mehr von einem Interkalationsgesetz der Dezemvirn, das offenbar die jüngere Annalistik (vgl. Licinius Macer und Valerius Antias bei Macr. Sat. 1.13.20) unterdrückt hat. 11 Mommsen, Chronologie 31 Anm. 35a. 12 Eine durchsichtige Hilfskonstruktion, nämlich ersichtlich erfunden, um die Überlieferung, daß schon die Dezemvirn die Fasten öffentlich ausgestellt haben, mit der anderen, daß Cn. Flavius sie veröffentlicht hat, in Einklang zu bringen. Zu Unrecht ist sie mit Liv. 6.1.10 in Verbindung gebracht worden etwa von R. Schoell, Legis duodecim tabularum reliquae (1866) 1 f.; Seeck, Kalendertafel 49 f. 13 Mur. 25 i.f.: Itaque irati illi, quod sunt veriti ne dierum ratione pervolgata et cognita sine sua opera lege agi posset, verba quaedam composuerunt ut omnibus in rebus ipsi interessent.
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stück seinen Spott über diese Silbenstecherei ausgegossen hat, läßt er dieses neue Geheimnis nunmehr von einem namenlosen Helden veröffentlichen: quae dum erant occulta, necessario ab eis, qui ea tenebant, petebantur; postea vero promulgata atque in manibus iactata et excussa . . . sunt 14. Otto Seeck hat angenommen, daß Cicero damals, im Jahre 63, von einer Formelsammlung des Flavius noch gar nichts wußte15. Das Gegenteil scheint mir evident zu sein. Cicero ist in dieser Tirade auf die Juristen, die den Ankläger Servius Sulpicius Rufus ins rechte Licht rücken sollte, in seinen Mitteln nicht wählerisch16: hier macht er ganz einfach aus der einen Geschichte des Gnaeus Flavius und seiner beiden Veröffentlichungen zwei Geschichten17. Außerdem ist deutlich, daß Cicero die Flavius-Geschichte auch später noch nach derselben Quelle kolportierte, die er für die Rede benutzt hat: In dem Brief an Atticus gibt es die Wendung: ut dies agendi peterentus a paucis; aber schon in der Rede von 63 hören wir von den pauci, . . . a quibus . . . dies . . . petebatur. Wenn Cicero aber hier wie dort dieselbe Quelle benutzt hat, dann ist weiterhin offensichtlich, daß er in dem Brief an Atticus und in der Schrift de oratore mit actiones nur die prozessualen Spruchformeln und nicht auch, wie häufig angenommen, Geschäftsformulare meint. Livius18 vermeldet zum Jahre 304, daß der Schreiber Gnaeus Flavius, der Sohn eines Freigelassenen, zum kurulischen Ädilen gewählt worden ist. An diese 14
Mur. 26 i.f. Kalendertafel 52 f. Im ganzen zutreffend dagegen E. Pais, Ricerche sulla storia e sul diritto pubblico di Roma I (1915) 231, unbegründet kritisiert von H. Kreller, SZ 45 (1925) 602. 16 Entsprechend verfährt er gegen den zweiten Ankläger, M. Porcius Cato, indem er sich die stoische Ethik vornimmt (61–66). Daß er sich die Sache leicht gemacht hat, gibt er in fin. 4. 74 zu verstehen, wo Cato diesmal sein Gesprächspartner ist: damals habe er vor (philosophisch) ungebildeten Richtern gesprochen und auch dem Publikum etwas bieten müssen. 17 Verkannt von F. Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft (1961) 12 Anm. 5. 18 9.46. 1–14: Eodem anno Cn. Flavius Cn. filius scriba, patre libertino humili fortuna ortus, ceterum callidus vir et facundus, aedilis curulis fuit. (2) Invenio in quibusdam annalibus, cum appareret aedilibus fierique se pro tribu aedilena videret neque accipi nomen quia scriptum faceret, tabulam posuisse et iurasse se scripturn non facturum; (3) quem aliquanto ante desisse scriptum facere arguit Macer Licinius tribunatu ante gesto triumviratibusque, nocturno altero, altero coloniae deducendae. (4) Ceterum, id quod haud discrepat, contumacia adversus contemnentes humilitatem suam nobiles certavit; (5) civile ius, repositum in penetralibus pontificum, evulgavit fastosque circa forum in albo proposuit, ut quando lege agi posset sciretur; (6) aedem Concordiae in area Vulcani summa invidia, nobilium dedicavit; coactusque consensu populi Cornelius Barbatus pontifex maximus verba praeire, cum more maiorum negaret nisi consulem aut imperatorem posse templum dedicare. (7) Itaque ex auctoritate senatus latum ad populum est ne quis templum aramve iniussu senatus aut tribunorum plebei partis maioris dedicaret. (8) – Haud memorabilem rem per se, nisi documentum sit adversus superbiam nobilium plebeiae libertatis, referam. (9) Ad collegam aegrum visendi causa 15
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Nachricht knüpft er eine Schilderung seiner Karriere und Taten und berichtet unter anderem: ius civile, repositum in penetralibus pontificum, evulgavit fastosque circa forum in albo proposuit, ut, quando lege agi posset, sciretur19. Ich weise schon hier darauf hin, daß Livius nicht, wie Cicero, von den Spruchformeln, die Gnaeus Flavius veröffentlicht habe, sondern vom ius civile spricht. Valerius Maximus20, der dritte Autor, der von beiden Publikationen spricht, hat nur Livius ausgeschrieben und kann darum beiseite bleiben. Plinius21 dagegen berichtet die Publikation der Fasten wieder in einer anderen, detailreichen Version. Anders als bei Cicero und Livius ist bei Plinius Gnaeus Flavius cum venisset consensuque nobilium adulescentium, qui ibi adsidebant, adsurrectum ei non esset, curulem adferri sellam eo iussit ac sede honoris sui anxios invidia inimicos spectavit. – (10) Ceterum Flavium dixerat aedilem forensis factio, Ap. Claudi censura vires nacta, qui senatum primus libertinorum filiis lectis inquinaverat et (11) posteaquam eam lectionem nemo ratam habuit nec in curia adeptus erat quas petierat opes urbanas, humilibus per omnes tribus divisis forum et campum corrupit; (12) tantumque Flavi comitia indignitatis habuerunt ut plerique nobilium anulos aureos et phaleras deponerent. (13) Ex eo tempore in duas partes discessit civitas; aliud integer populus, fautor et cultor bonorum, aliud forensis factio tenebat, (14) donec Q. Fabius et P. Decius censores facti et Fabius simul concordiae causa, simul ne humillimorum in manu comitia essent, omnem forensem turbam excretam in quattuor tribus coniecit urbanasque eas appellavit. – Die Nachrichten über die Stiftung der aedicula bei Livius und Plinius (unten Anm. 21) werden in einer besonderen Untersuchung behandelt und bleiben darum hier unberücksichtigt. 19 9.46.5. 20 Val. Max. 2.5.2: Ius civile per multa saecula inter sacra caerimoniasque deorum immortalium abditum solisque pontificibus notum Cn. Flavius libertino patre genitus ex scriba cum ingenti nobilitatis indignatione factus aedilis curulis, vulgavit ac fastos paene toto foro exposuit. Qui, cum ad visendum aegrum collegam suum veniret neque a nobilibus, quorum frequentia cubiculum erat completum, sedendi loco reciperetur, sellam curulem afferri iussit et in ea honoris pariter atque contemptus sui vindex consedit. 9.3.3. Itaque ne illi quidem probandi, quamvis factum eorum nobilitatis splendore protectum sit, qui, quod Cn. Flavius humilliae quondam sortis praeturam adeptus erat, offensi anulos aureos sibimet ipsis et phaleras equis suis detractas abiecerunt, doloris inpotentiarn tantum non luctu professo testati. 21 N. h. 33.1.17–19: Frequentior autem usus anulorum non ante Cn. Flavium Anni filiura deprehenditur. hic namque publicatis diebus fastis, quos populus a paucis principum cotidie petebat, tantam gratiam plebei adeptus est libertino patre alioqui genitus et ipse scriba Appi Caeci, cuius hortatu exceperat eos dies consultando adsidue sagaci ingenio promulgaratque ut aedilis curulis crearetur cum Q. Anicio Praenestino, qui paucis ante annis hostis fuisset, praeteritis C. Poetilio et Domitio, quorum patres consules fuerant. (18) additum Flavio, ut simul et tribunus plebei esset, quo facto tanta senatus indignatio exarsit, ut anulos ab eo abiectos fuisse in antiquissimis reperiatur annalibus. fallit plerosque quod tum et equestrem ordinem id fecisse arbitrantur; etenim adiectuna hoc quoque sed et phaleras positas propterque nomen equitum adiectum est, anulosque depositos a nobilitate in annales relatum est, non a senatu universo. hoc actum P. Sempronio L. Sulpicio cos. (19) Flavius vovit aedem Concordiae, si populo reconciliasset ordines, et cum ad id pecunia publice non decerneretur, ex multaticia faeneratoribus condemnatis aediculam aeream fecit in Graecostasi, quae tune supra comitium erat, inciditque in tabella aerea factam eam aedem CCIIII annis post Capitolinam dedicatam. § 19 bleibt in dieser Untersuchung unberücksichtigt, vgl. oben Anm. 18 i. f.
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Flavius der Sekretär des Appius Claudius Caecus, ist Appius an der Publikation beteiligt und die Veröffentlichung der Grund für Flavius’ Wahl zum Ädilen. Plinius erzählt nämlich, Gnaeus Flavius, der Sekretär des Appius Claudius Caecus, habe auf dessen Zureden die Gerichtstage, die das Volk von wenigen principes täglich erfragen mußte, durch fleißiges Konsultieren zusammengestellt und veröffentlicht. Dadurch habe er bei den Plebejern so großes Ansehen erworben, daß er zum kurulischen Ädilen gewählt worden sei. Macrobius22 erwähnt dagegen nur beiläufig, daß der Schreiber Gnaeus Flavius die Fasten invitis patribus allgemein bekanntgemacht hat. Bei Pomponius23 schließlich, der umgekehrt nichts von den Fasten weiß, ist Flavius wie bei Plinius der Sekretär des Appius Claudius. Wie bei Plinius an der Veröffentlichung der Fasten, so ist Appius hier an der Veröffentlichung der Legisaktionen beteiligt. Während er aber dort Flavius unterstützt, geschieht hier die Veröffentlichung gegen seinen Willen: er hat die Spruchformeln redigiert und in einem liber zusammengestellt, den Flavius entwendet und dem Volk übergibt. Das Ende der Geschichte entspricht wieder der Darstellung bei Plinius: das Volk ist für diesen ihm erwiesenen Dienst so dankbar, daß es Flavius zum Volkstribunen, Senator und kurulischen Ädilen bestellt. Pomponis schließt: hic liber, qui actiones continet, appellatur ius civile Flavianum, sicut ille ius civile Papirianum: nam nec Gnaeus Flavius de suo quicquam, adiecit libro. Während Flavius bei Cicero die actiones und bei Livius das ius civile veröffentlicht, ist es hier ein liber, der die actiones enthält und ius civile genannt wird24. 22 Sat. 1.15.9: Priscis ergo temporibus, antequam fasti a Cn. Flavio scriba invitis patribus in omnium notitiam proderentur, pontifici minori haec provincia delegabatur, ut novae lunae primum observaret aspectum visamque regi sacrificulo nuntiaret. 23 Liber singularis enchiridii D 1.2.2.7: Postea cum Appius Claudius proposuisset et ad formam redegisset has actiones, Gnaeus Flavius scriba eius libertini filius subreptum librum populo tradidit, et adeo gratum fuit id munus populo, ut tribunus plebis fieret et senator et aedilis curulis. hic liber, qui actiones continet, appellatur ius civile Flavianum, sicut ille ius civile Papirianum: nam nec Gnaeus Flavius de suo quicquam adiecit libro. augescente civitate quia deerant quaedam genera agendi, non post multum temporis spatium Sextus Aelius alias actiones composuit et librum populo dedit, qui appellatur ius Aelianum. 24 Der Zusatz Flavianum findet sich nur bei Pomponius. Er stammt auch von Pomponius oder seinem Gewährsmann, jedenfalls von dem Autor, der den ersten, originem iuris atque processum behandelnden Abschnitt (D 1.2.2 pr. –12) der rechtsgeschichtlichen Einleitung des Enchiridium konzipiert hat – oder doch zumindest dessen vor- und frührepublikanischen Teil (D 1.2.2 pr. –7). Der pedantische und rigorose Schematismus dieser Darstellung (F. D. Sanio, Varroniana in den Schriften der römischen Juristen [1867] 167 ff., 190; neuerlich M. Bretone, Labeo 11 [1965] 10 ff., und besonders M. Fuhrmann, Sympotica Wieacker [1970] 103 ff.) hat auch die gleichförmigen Bezeichnungen ius civile Papirianum (§ 2), ius civile Flavianum und ius Aelianum (§ 7) gezeitigt. Die Sammlung des Papirius trug die Aufschrift ius Papirianum (Paulus D 50.16.144; Macr. Sat. 3.11.5) – Papirianum, wie unser Autor es sich zurechtlegt, non quia Papirius de suo quicquam ibi adiecit, sed quod leges sine ordine latas in unum composuit. Analog bezeichnet er darum die Formelsammlung (Cicero), das ius civile
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II. Die Bewertung der Überlieferung Bei Pomponius setzt diese Tat des Flavius einer nahezu hundertjährigen Alleinherrschaft der Pontifices über alles Rechtswissen ein Ende25. Unter diesem Gesichtspunkt werden die Veröffentlichungen des Tageskalenders und der Aktionen durch Gnaeus Flavius bis heute behandelt. Sieht man von Otto Seeck und Fritz Schulz ab26, so wird die Überlieferung im wesentlichen nicht in Zweifel gezogen27. Die Veröffentlichungen werden als Schlag gegen das Rechtsmonopol der Pontifices gedeutet28. Sie hätten den Übergang von einer ausschließlich den Pontifices vorbehaltenen Rechtskunde zu den uns allein greifbaren Zuständen einer offenen, prinzipiell jedermann zugänglichen Jurisprudenz eingeleitet, diese Entwicklung habe eine Generation später, durch Tiberius Coruncanius29, zur Praxis des öffentlichen Respondierens geführt. Außerdem werden die Taten des Flavius im Zusammenhang mit der lex Ogulnia gesehen, die im Jahre 300 der plebeischen Nobilität den Zugang zum Pontifikat eröffnet hat30. Gegenstand des von Flavius veröffentlichten ius civile seien die prozessualen Spruchformeln gewesen; Jörs und Wenger nehmen an, Flavius habe auch die Ge(Livius), das Flavius veröffentlicht hat, als ius civile Flavianum – nicht ohne rechtfertigend hinzuzufügen: sicut ille ius Papirianum: nam nec Gnaeus Flavius de suo quicquam adiecit libro. Umgekehrt hat er das überlieferte ius Papirianum durch den Zusatz civile angeglichen. Ius Aelianum ist offenbar ganz seine Erfindung. – über das ius Papirianum könnte die Auswertung Macr. Sat. 3.11.6 vielleicht weiteren Aufschluß bringen. 25 D 1.2.2.6 i. f. 26 Vgl. unten nach Anm. 38. 27 Vgl. statt aller Kunkel, Herkunft 45. Im einzelnen werden allerdings manche Vorbehalte gemacht. 28 Vgl. etwa P. Krüger, Geschichte der Quellen und Literatur des romischen Rechts2 (1912) 32; P. de Francisci, Storia del diritto romano I (1931) 342; V. Arangio-Ruiz, Storia del diritto romano7 (1957) 122 f.; G. Grosso, Lezioni di storia del diritto remano5 (1965) 121 f.; differenzierend Wieacker, Festgabe v. Lübtow 189 f. 29 Zu Coruncanius oben Anm. 2. 30 Vgl. etwa B. Kübler, Geschichte des römischen Rechts (1925) 130; de Francisci, Storia I 342; H. F. Jolowicz, Historical Introduction to the Study of Roman Law (1932) 88; Wieacker, Festgabe v. Lübtow 188. C. G. Bruns/O. Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts, in: Holtzendorff/Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft I7 (1915) 330, schreiben die „Durchbrechung des pontifizischen Monopols“ vor allem der Zulassung der Plebejer zum Pontifikat zu. Demgegenüber ist vorerst festzuhalten, daß die Veröffentlichungen des Flavius in keinem spezifischen Zusammenhang mit der lex Ogulnia stehen, und daß die Öffnung des Pontifikalkollegiums für die plebeische Nobilität nicht ohne weiteres die Profanierung der Pontifikaljurisprudenz zur Folge haben mußte. Die Frontstellung der Ständekämpfe war um 300 längst überwunden, die relative Öffnung der Adelsgesellschaft schon vollzogen, jede weitere Demokratisierung ohne Chance: die neue Nobilität hatte sich etabliert. Die lex Ogulnia war alles andere als ein progressives Gesetz, sie war eine anstehende Flurbereinigung und darum auch gar nicht grundsätzlich umkämpft. Die übliche Vorstellung von einer exklusiven Pontifakaljurisprudenz paßt zu dieser neuen Adelsgesellschaft so gut und so schlecht wie zu der alten.
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schäftsformulare veröffentlicht31. Fast durchweg wird mit Pomponius die Zusammenstellung und Redaktion der Legisaktionen Appius Claudius Caecus zugeschrieben. Dagegen sind die Meinungen geteilt, ob Pomponius auch darin zu folgen sei, daß Flavius die redigierte Sammlung Appius entwendet und eigenmächtig verbreitet habe. Jörs32 stellte sich vor, Appius habe wohl mit der Veröffentlichung gezögert und Flavius sei ihm dann zuvorgekommen. Wenger33 hielt für möglich, daß Appius den letzten entscheidenden Schritt selbst nicht wagte und Flavius vorschob. Die meisten sind immerhin überzeugt, daß Appius die Veröffentlichung jedenfalls veranlaßt hat34. Für alle war Flavius sein Sekretär, obwohl Cicero und Livius davon nichts wissen. Verfügten allein die Pontifices über die Legisaktionen, so mußte sich die Frage stellen, wie Appius und Flavius in ihren Besitz gekommen sind. Costa machte Appius einfach zum pontifex35. Andere übertrugen auf die Aktionen, was Plinius36 für die Ermittlung des Tageskalenders erzählt; daß nämlich Flavius seine Kenntnis durch ständiges Konsultieren der Eingeweihten erworben habe37. Fritz Schulz hat all dies zurückgewiesen38. Er hält zwar für denkbar, daß Gnaeus Flavius eine Ausgabe des Kalenders und eine Formelsammlung veranstaltet hat; unglaubwürdig sei aber jedenfalls die Bewertung dieser Publikationen in der Überlieferung39. Der Kalender sei kein Geheimnis und die Klagformeln seien längst bekannt gewesen40. Auch wenn die Nachrichten von den Publikationen zuträfen, könnten diese darum keineswegs den Beginn einer neuen Ära bedeutet haben. Die radikalste Kritik der Überlieferung zu Gnaeus Flavius ist aber bereits 1885 vorgetragen worden. Sie stammt von Otto Seeck41, der durch eine ausführliche 31 P. Jörs, Römische Rechtswissenschaft zur Zeit der Republik (1888) 70 f.: weil sie zum ius civile gehörten; ihm folgt Wenger, Quellen 479. Ohne Begründung Grosso, Lezioni 121; Wieacker, Festgabe v. Lübtow 189. 32 Rechtswissenschaft 72 f. 33 Quellen 479. 34 Vgl. etwa Mommsen, Röm. Forsch. I2 (1864) 304; Krüger, Geschichte 32; Kübler, Geschichte 130; de Francisci, Storia 342; Jolowicz, Introduction 88; Grosso, Lezioni 121; G. Dulckeit/F. Schwarz/W. Waldstein, Römische Rechtsgeschichte6 (1975) 145. 35 E. Costa, Storia delle fonti del diritto romano (1909) 46. Dagegen schon A. Zocco-Rosa SZ 33 (1912) 491 ff. Auch Kunkel, Herkunft 46, möchte ihn als pontifex in Anspruch nehmen; vgl. oben Anm. 1. 36 N. h. 33.1.17. 37 Vgl. etwa Arangio-Ruiz, Storia 123. 38 Geschichte 11 ff. 39 Für ,übersteigert‘ halten sie etwa Dulckeit/Schwarz/Waldstein, Rechtsgeschichte 145, wie man denn überhaupt einen allgemeinen Vorbehalt selten versäumt. 40 Für diese so billige wie offenbar nötige Feststellung vgl. schon Bechmann, SBer. Bayer. Ak. 1890 II (1891) 153 ff.; heute: Grosso, Lezioni 122; Wieacker, Festgabe v. Lübtow 189. 41 Kalendertafel 1–56.
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Untersuchung der Quellen zu dem Schluß kam, die Kalenderpublikation sei von Ennius, die der Aktionen von Licinius Macer erfunden worden. Die geringe Wirkung42 dieser eindrucksvollen Untersuchung beruht vielleicht auf der Fülle der Hilfshypothesen, ohne die Seeck allerdings nicht auskommt, und die in der Tat die Überzeugungskraft seiner Thesen erheblich mindern. Eine Analyse der Überlieferung ist seit Seeck aber nicht mehr unternommen worden. Darum soll sie hier erneut versucht werden. III. Die Analyse der Überlieferung 1. Der älteste Schriftsteller, von dem wir wissen, daß er über Gnaeus Flavius geschrieben hat, ist Lucius Calpurnius Piso, Konsul im Jahre 133, Censor im letzten Jahrzehnt des zweiten Jahrhunderts43. Protagonist der optimatischen Opposition gegen Gaius Gracchus44, hat er seine politischen Anschauungen auch durch die Tendenz seiner Geschichtsdarstellung zur Geltung gebracht45. Dafür sind gerade die bei Gellius46 im Wortlaut erhaltenen Fragmente über Gnaeus Flavius ein anschauliches Zeugnis. Piso erzählt die Geschichte des patre libertino natus, der als ädilizischer Schreiber selber zum kurulischen Ädilen gewählt wird47. Die Geschichte ist bis auf die Wahl selbst frei erfunden. Um den Vorgang ins Groteske zu ziehen, ist ihm keine Entstellung zu billig48: ein Ädil wird zum 42 Zustimmung jedoch bei: J. Binder, Die Plebs (1909) 520 f.; Bruns/Lenel, Geschichte 330; H. Kreller, SZ 45 (1925) 600 ff. 43 Die weiteren Daten bei F. Münzer, RE 3 (1897) 1392; W. Drumann/P. Groebe, Geschichte Roms2 II (1902) 66 f. 44 Vgl. etwa Münzer, RE 3 (1897) 1392. 45 Die erhaltenen Fragmente bei H. Peter, Historicorum Romanorum Reliquiae [HRR] I (1914) 120–138, ihre Würdigung CLXXX ff. – C. Cichorius’ günstiges Urteil über Pisos Annalen, RE 3 (1897) 1393, ist überholt, und Mommsens ätzender Spott, Römische Geschichte7 (1881) II 454, zu einseitig; vgl. vielmehr F. Klingner, Römische Geisteswelt4 (1961) 77 f. = Wege zu Livius (Wiss. Buchgesellschaft, 1967) 26 f., und vor allem K. Latte, SBer. Ak. Berlin 1960, Nr. 7. Immerhin enthielten sie „some selection from the contents of the Annales“: R. M. Ogilvie, A. Commentary on Livy, Books 1–5 (1965) 14; Peter, HRR I, CLXXXV. Der Rückgriff auf die Annalen des pontifex maximus könnte durch die Redaktion und Veröffentlichung dieser annales maximi unter dem Oberpontifikat des Q Mucius Scaevola angeregt oder begünstigt worden sein; sie fällt in die Jahre zwischen 130 und 115, und vorher wird Piso seine Annalen kaum geschrieben haben. Vgl. Latte 4. 46 N. A. 7 (6).9. 47 Gell., N. A. 7(6).9.1–4: Quod res videbatur memoratu digna, quam fecisse Cn. Flavium Anni filium aedilem curulem L. Piso in tertio annali scripsit, eaque res perquam pure et venuste narrata a Pisone, locum istum totum huc ex Pisonis annali transposuimus. (2) Cn. inquit Flavius patre libertino natus scriptum faciebat, isque in eo tempore aedili curuli apparebat, quo tempore aediles subrogantur, eumque pro tribu aedilem curulem renuntiaverunt. (3) Aedilem, qui comitia habebat, negat accipere, neque sibi placere, qui scriptum faceret, eum aedilem fieri. (4) Cn. Flavius Anni filius dicitur tabulas posuisse, scriptu sese abdicasse, isque aedilis curulis factus est. 48 Seeck, Kalendertafel 39; Latte, SBer. Ak. Berlin 1960 Nr. 7 S. 9 ff.
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Wahlleiter49, Gnaeus Flavius zu seinem Gehilfen gemacht. Als der Beamte sich weigert, die renuntiatio vorzunehmen50, weil der Gewählte Schreiberdienste verrichte51, zögert der Emporkömmling nicht, die Schreibtafel aus der Hand zu legen und öffentlich vor den Komitien auf seinen Posten zu verzichten52. Welchen Gebrauch der Gewählte von seiner Würde machte, schildert die gleichfalls erfundene zweite Geschichte53. Flavius besucht seinen kranken Kollegen; dort trifft er auf einen Kreis junger Adliger, die ihn schneiden. Darauf läßt er die sella curulis holen und nimmt so über der Türschwelle Platz, daß die jungen Leute nicht hinauskönnen und ihn auf der sella curulis sitzen sehen müssen. Latte54 hat feinsinnig beschrieben, wie hier die subalterne Eitelkeit des Parvenus charakterisiert wird. Dreimal nennt Piso den Schreiber beim Namen, und jedesmal fügt er den Vatersnamen Annius hinzu55. Auch das geschieht, um Flavius herabzusetzen. Die Nennung des Vatersnamens, in der historischen Erzählung ganz unüblich56, ist hier tendenziös, wenn sie aufdeckt, daß der Genannte gar
49 Die Wahlleitung stand entschieden den Oberbeamten zu: Mommsen, Römisches Staatsrecht3 (1887/88) II 125 f., 483; I 192 ff. Darum hat Mommsen zuerst, Röm. Forsch. 1. 159 Anm. 49, unsere Stelle umdeuten, später, Staatsrecht I 194 Anm. 2, ihren Text ändern wollen. 50 Piso gebraucht, wie Cic. de or. 2.200, renuntiare von den Rogatoren, die dem wahlleitenden Magistrat die Abstimmungsergebnisse der einzelnen tribus meldeten: eumque pro tribuaedilem, curulemrenuntiaverunt. Gewöhnlich meint renuntiare entweder die sukzessive Verkündung der gemeldeten und vom Wahlleiter anerkannten Einzelergebnisse oder die des Gesamtresultats. In Pisos Geschichte wird die renuntiatio des Gesamtresultats verweigert. 51 Mommsen, Staatsrecht I 497, hat daraus abgeleitet, „daß ein altes und festes Herkommen von der Bewerbung ausschließt, wer zur Zeit ein Gewerbe betreibt oder für seine Dienstleistungen Lohn empfängt“. 52 Die Geschichte setzt übrigens noch voraus, daß nicht nur vorgeschlagene Kandidaten gewählt werden konnten. An dieser Prämisse kommt man auch dann nicht vorbei, wenn man wie Mommsen, Staatsrecht I 470 ff., glaubt, das Recht der Initiative sei schon „sehr früh“ auf die Stimmberechtigten übertragen worden. Anders etwa E. Meyer, Römischer Staat und Staatsgedanke2 (1961) 193; H. Hausmaninger, Der Kleine Pauly I 1(964) 1256. 53 Gell., N. A. 7.9.5–6: Idem Cn. Flavius Anni filius dicitur ad collegam venisse visere aegrotum. Eo in conclave postquam introivit, adulescentes ibi complures nobiles sedebant. Hi contemnentes eum, assurgere ei nemo voluit. Cn. Flavius Anni filius aedilis id arrisit, sellam curulem iussit sibi afferri, eam in limine apposuit, ne quis illorum exire posset utique hi omnes inviti viderent sese in sella curuli sedentem. 54 SBer. Ak. Berlin 1960 Nr. 7 S. 11. 55 C. Cichorius, RE 3 (1897) 1394, sieht darin ein Stilmittel seiner „altmodischen wuchtigen Darstellungsweise“. 56 Darum würde der Einwand nichts verschlagen, daß Piso, wie schon H. Peter, HRR I, CLXXXV, beobachtet hat, offenbar unter jedem Jahr nicht nur die Konsuln, sondern auch die Ädile (Peter Nr. 28 = Liv. 10.9.2) und Tribune (Nr. 23 = Liv. 2.58.1) aufgeführt und, wie es scheint, ihren Namen den Vatersnamen hinzugefügt hat (Nr. 28; Nr. 36 = Censorinus 17.13).
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keinen römischen Vater hat. Annius ist nämlich kein römisches Praenomen, sondern kommt nur in den italischen Dialekten vor57. Wie Piso führt auch Livius58 den Gnaeus Flavius als scriba und patre libertino ortus ein. Darauf gibt er zunächst aus quibusdam annalibus Pisos Geschichte des Wahlvorgangs wieder. Gegen sie führt er aber sofort Licinius Macer an und übernimmt dessen Version. Macer bestreitet nicht, daß Flavius in Schreiberdiensten war; er will aber nicht gelten lassen, daß Flavius aus solchen Diensten unmittelbar zum Ädilen aufgestiegen ist und behauptet darum, daß er, schon bevor er Ädil wurde, Volkstribun und sowohl triumvir nocturnus wie coloniae deducendae gewesen war59. Diese Nachricht ist nicht unglaubwürdiger als die bei Plinius er57 Latte, SBer. Ak. Berlin 1960 Nr. 7 S. 10, trifft diese Feststellung aufgrund des epigraphischen Materials, das W. Schulze, Zur Geschichte lateinischer Eigennamen (1904) 519 Anm. 1, benennt, und der oskischen Inschrift E. Vetter, Handbuch der italischen Dialekte I (1953) Nr. 83. Jenes habe ich nur z. T. nachprüfen können, diese führt Latte zu Unrecht an: hier ist Annius, wie in unzähligen anderen Inschriften, das auch in Rom verbreitete Gentile. Dagegen kommt es als Praenomen noch vor A. Degrassi, Inscriptiones Latinae Liberae Rei Publicae II (1963) Nr. 906: ein neuerer, wieder italischer Fund. 58 9.46.1–3: Eodern anno Cn. Flavius scriba, patre libertino humili fortuna ortus, ceterum callidus vir et facundus, aedilis curulis fuit. (2) invenio in quibusdam annalibus, cum appareret aedilibus fierique se pro tribu aedilem videret neque accipi nomen, quia scriptura faceret, tabulam posuisse et iurasse se scriptum non facturum; (3) quemaliquanto ante desisse scriptum facere arguit Macer Licinius tribunatu ante gesto triumviratibus, nocturno altero, altero coloniae deducendae. 59 Diese ganze Angabe ist von Mommsen, Staatsrecht II 594 Anm. 4, verworfen worden, weil triumviri capitales erstmals um 290 v. Chr. bestellt und erst noch später auch vom Volke gewählt worden seien, Macer dagegen diese triumviri doch offenbar als Magistrate auffasse. Mit dem allenfalls überzeugenden ersten Argument sind der Kritik Mommsens gefolgt: Münzer, RE 6 (1909) 2527, und R. Werner, Der Beginn der römischen Republik (1963) 18. Dieses Argument ist jedoch von H. Strasburger, RE II 7 (1939) 518, entkräftet worden: gerade unser Text läßt vermuten, daß das Amt der tresviri nocturni älter war und in dem der tresviri capitales aufgegangen ist. – Andererseits wird die Angabe, daß Flavius triumvir coloniae deducendae war, durch die Berichte über die Koloniegründungen durchaus gestützt. 303 ist die Gründung der latinischen Kolonien Sora (vgl. H. Nissen, Italische Landeskunde II [1902] 672) und Alba Fucens (Nissen II 457 f.) beschlossen worden (Liv. 10.1.1,2). Ebensogut könnte Flavius aber auch schon bei den 313 beschlossenen Gründungen (u. a. Liv. 9.28.7,8) von Interamna (Nissen II 678 f.), Suessa (Nissen II 666 f.) oder Pontiae (Nissen II 667) triumvir gewesen sein. Über die triumviri c. d. und den Hergang der Koloniegründung vgl. Mommsen, Staatsrecht II, 624 ff.; E. De Ruggiero, Dizionario epigrafico di antichità romane II (1900) insb. 428 ff., 432 ff.; Kornemann, RE 4 (1900) 568 ff.; H. Strasburger, RE 7A (1939) 511 ff. – Einen festen Platz in der Rangfolge der Magistraturen (Mommsen 631; Strasburger 515) hatten die triumviri c. d. naturgemäß nicht; die Bedeutung des Amtes war indessen nicht gering. Die Beamten wurden nach Maßgabe des Gründungsgesetzes offenbar seit alters in den Tributkomitien gewählt und waren für ihren komplexen Aufgabenbereich mit allen Befugnissen ausgestattet. Neben dem Amt des triumvir konnte gleichzeitig eine ordentliche Magistratur, der Volkstribunat oder ein anderes außerordentliches Amt, etwa das eines triumvir nocturnus, bekleidet werden (Mommsen 630; Strasburger 512). Für den Fall des Cn. Flavius ist es außerdem interessant zu sehen, daß die Übernahme des Triumvirats c. d. offenbar für den Konsular so angemessen war, wie für den politischen Anfänger lohnend (Mommsen 630; De Ruggiero 432; für die Früh-
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haltene Überlieferung, daß Gnaeus Flavius die Ädilität und das Tribunat zugleich bekleidet habe60. Wie Piso ein erbitterter Gegner des Gaius Gracchus, so war eine Generation später Gaius Licinius Macer ein entschiedener Gegner Sullas61. Und wie Piso vom Standpunkt des Optimaten der Gracchenzeit hat der Marianer Licinius Macer die römische Frühgeschichte nach den Vorstellungen des Popularen der sullanischen Epoche verformt62. Livius hat auch die zweite Pisonische Geschichte übernommen, bringt sie aber kurzerhand als Zeugnis plebeischen Freiheitssinns vor Adelsstolz63. Auch aus dieser Umdeutung spricht Macer64. Im weiteren Verlauf der Erzählung folgt Livius dann aber fast uneingeschränkt Piso65. Nun berichtet er nämlich, daß Flavius seine Wahl der forensis factio, dem Markthaufen, verdanke, der durch die Censur des Appius Claudius mächtig geworden sei. Die Wahl habe die meisten Adligen so bestürzt, daß sie Trauer trugen66. Die civitas sei in zwei Lager zerfallen, in das der Besonnenen und in das der forensis factio, bis Quintus Fabius Maximus die turba forensis auf die vier tribus urbanae beschränkt und so die concordia wiederhergestellt habe. zeit vgl. die Kommissionen, die 334 für die Gründung von Cales [Nissen II 694 f.] und 313 für die von Saticula [Nissen II 809 f.] bestellt worden sind: T. R. S. Broughton, The Magistrates of the Roman Republic I [1951] 141 und 159). Es ist übrigens anzunehmen, daß die Koloniegründungen und Gründungskommissionen in den Pontifikalannalen verzeichnet wurden. 60 N. h. 33. 17, 18; abgedruckt oben Anm. 21. – Nach Mommsen, Staatsrecht I 516, war diese Kumulierung vermutlich untersagt, nach Münzer dagegen, RE 6 (1909) 2527, „in einer älteren Tradition gegeben“. Seeck, Kalendertafel 24, nimmt Gleichzeitigkeit aller vier Ämter an. 61 Münzer, RE 13 (1926) 419 ff. Nr. 112. 62 Vgl. etwa R. M. Ogilvie, A Commentary on Livy, Books 1–5 (1965) 7 ff. 63 9.46.8,9: haud memorabilem rem per se, nisi documentum sit adversus superbiam nobilium plebeiae libertatis, referam. (9) ad collegam agrum visendi causa Flavius cum venisset consensuque nobilium adulescentium, qui ibi adsidebant, adsurrectum ei non esset, curulem adferri sellam eo iussit ac de rede honoris sui anxios invidia inimicos spectavit. – Die Abhängigkeit von Piso auch im Wortmaterial, vgl. dessen Text oben Anm. 53, geht hier besonders weit; sie spricht für eine unmittelbare Übernahme aus Piso und gegen eine Vermittlung etwa durch Macer, wie sie Seeck, Kalendertafel 6 f., für wahrscheinlich hält; vgl. unten Anm. 65 und 66. 64 Vgl. Seeck, Kalendertafel 7. 65 9.46.10–14: abgedruckt oben Anm. 18. Nach Seeck, Kalendertafel 5 ff., 16 f., soll Livius diesen Textteil aus Ennius geschöpft haben. Daß er mit ceterum noch einmal auf die Wahl zurückkommt, halte ich nicht für einen Kompositionsfehler, denn es wechselt ja der Aspekt. Entscheidend ist die polemische Tendenz der Erzählung; sie paßt zu niemandem besser als zu Piso, und es ist erwiesen, daß Livius ihn für seine Erzählung über Gnaeus Flavius benutzt hat; vgl. unten Anm. 66. 66 Bei Piso war der Anlaß der Trauer nicht die Wahl, sondern die Verbindung der Ädilität mit dem Volkstribunat; vgl. unten nach Anm. 81. Da Gnaeus Flavius nach der Version Macers das Volkstribunat schon vor der Ädilität bekleidet hatte (vgl. oben nach Anm. 58), mußte Macer oder Livius der Trauer einen anderen Anlaß unterlegen.
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Nach all dem hat Livius in seiner Erzählung über Gnaeus Flavius Macer und Piso verbunden67. Die Möglichkeit, daß er nicht Piso selbst, sondern den von Piso abhängenden Valerius Antias benutzt hat68, ist unwahrscheinlich69 und kann darum hier vernachlässigt werden. Dieses Ergebnis liefert zugleich die Auflösung einer weiteren Bemerkung bei Livius. Nach der Wiedergabe von Pisos und Macers einander widersprechenden Erzählungen des Wahlvorgangs berichtet Livius nämlich (§ 4), daß seine Gewährsmänner im übrigen jedoch darin übereingingen – id quoll haud discrepat –, daß Flavius die ihn verachtende Nobilität unbeugsam bekämpft hat. Wir dürfen jetzt annehmen, daß es Macer und Piso waren, die darin übereinstimmten. Und da Livius unmittelbar darauf (§ 5) als Flavius’ Taten die Publikation des ius civile und der Fasten nennt, dürfen wir weiter annehmen, daß diese Taten sowohl von Macer wie von Piso berichtet wurden. Die weitere Untersuchung wird allerdings zeigen, daß Livius sich auch hier mit seinem Text an Piso angelehnt hat. Es empfiehlt sich, diesen Text jetzt noch einmal anzusehen: ius civile, repositum in penetralibus pontificum, evulgavit fastosque circa forum in albo proposuit, ut, quando lege agi posset, sciretur (§ 5). 2. Die Vorlage dieses Textes war auch Ciceros Quelle70. Ich habe schon darauf hingewiesen71, daß Cicero nicht wie Livius vom ius civile spricht, das Flavius veröffentlicht habe, sondern von den Spruchformeln. Andererseits sind die Übereinstimmungen signifikant. In pro Murena72 haben wir: posset agi lege necne pauci quondam sciebant; . . . Cn. Flavius . . . fastos . . . proposuerit; und bei Livius haben wir fastos . . . proposuit, it, quando lege agi posset, sciretur. Nach dem Ergebnis der Livius-Untersuchung muß Cicero entweder Macer oder Piso benutzt haben. Daß er Piso benutzt hat, ergibt sich aus Plinius, dem wir uns jetzt zuwenden. 3. Seine Übereinstimmungen mit Cicero sind leicht greifbar. Bei Cicero heißt es in pro Murena: pauci, . . . a quibus . . . dies . . . petebatur72, und später in dem 67 In der ersten Dekade ist, neben Valerius Antias, Macer häufig die Quelle der Erzählung, während Piso stets nur zur Nachprüfung herangezogen worden sein soll: A. Klotz, RE 13 (1926) 844; Livius und seine Vorgänger (1940/1, Neudruck 1964) 207. In der Erzählung über Gnaeus Flavius scheint aber dieses Verhältnis ausnahmsweise umgekehrt zu sein; Livius folgt Piso schon mit seinem ersten Satz, vgl. die Texte oben Anm. 47 und 58: verkannt bei Klotz, RE 13 (1926) 844 Z. 67; zutreffend dagegen schon Peter, HRR I, CLXXXIX und 132 Nr. 27. Auch nach W. Soltau, Livius’ Geschichtswerk (1897) 139, war für 9.46.1 ff. die Hauptquelle Piso und ist Macer nur für die §§ 3–7 benutzt worden. 68 Vgl. Ogilvie 12 ff. 69 Vgl. oben Anm. 63, 65 und 66. 70 Oben nach Anm. 3. 71 Oben nach Anm. 19. 72 Mur. 25, der Kontext oben Anm. 5.
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Brief an Atticus: ut dies agendi peterentur a paucis73. Bei Plinius haben wir dieselbe Wendung: publicatis diebus fastis, quos populus a paucis . . . petebat 74. Weniger offenkundig ist eine zweite Übereinstimmung. Bei Plinius hat Flavius die Gerichtstage durch ständiges Konsultieren der Eingeweihten sagaci ingenio herausgebracht74. Sagax heißt scharfsinnig, eigentlich scharfsichtig. Dieselbe Vorstellung bringt Cicero in pro Murena eleganter, nämlich sprichwörtlich zum Ausdruck: Cn. Flavius, qui cornicum oculos confixerit – der den Krähen die Augen aushackte72. Die Krähe galt als besonders scharf blickender Vogel; der Ausdruck bedeutet also: selbst die Scharfsinnigsten überlisten. Diese Übereinstimmungen zeigen schlagend, daß Cicero den Autor benutzt hat, von dem auch Plinius abhängt75. Friedrich Münzer hat in seinen „Beiträgen zur Quellenkritik der Naturgeschichte“ angenommen, daß Plinius die Annalen des Piso ausgeschrieben hat, allerdings erst von Varro auf den alten Annalisten hingewiesen worden sei76. Richard Maschke glaubte dagegen an eine direkte Übernahme aus Valerius Antias77. Ich möchte zeigen, daß die Tradition von Piso über Antias und Varro gelaufen ist. (a) Folgende Zusammenhänge zeigen die Abhängigkeit von Piso78. Wir erinnern uns, daß Flavius nach Pisos Darstellung bis zur Wahl zum Ädilen Schreiberdienste verrichtet, während er nach Macer schon vor der Ädilität das Volkstribunat bekleidet hat79. Nach Plinius wird er zunächst Ädil und übernimmt zu diesem Amt noch das Volkstribunat80. Diese Version des Plinius paßt allein zu Piso. Ein zweites Argument kommt hinzu. Livius meldet für die Wahl des Flavius zum Ädilen, daß die Nobilität Trauer trug81; bei Plinius ist es dagegen die Verbindung der Magistratur mit dem Volkstribunat, die die Nobilität so bestürzte, daß sie zum Zeichen der Staatstrauer die Standesinsignien ablegte82. Die Staats73
Att. 6.1.8, der Kontext oben Anm. 7. N. h. 33.17, der Kontext oben Anm. 21. 75 Plinius’ Verwandtschaft mit der Erzählung Ciceros stellt auch Seeck fest, Kalendertafel 11 f. 76 (1897) 225 ff. 77 Philologus 54 (1895) 150 ff. 78 Sie nimmt auch Peter an, HRR I, 132 ff. Nr. 27. 79 Oben nach Anm. 58. 80 N. h. 33.18, abgedruckt unten Anm. 82. 81 9.46.12: tantumque Flavi comitia indignitatis habuerunt, ut plerique nobilium anulos aureos et phaleras deponerent. Der Kontext oben Anm. 18. 82 N. h. 33.18: additura Flavio, ut simul et tribunus plebei esset, quo facto tanta indignatio exarsit, ut anulos abiectos in antiquissimis reperiatur annalibus. fallit plerosque quod tum et equestrem ordinem id fecisse arbitrantur; etenim adiectum hoc quoque sed et phaleras positas propterque nomen equitum adiectum est, anulosque depositos a nobilitate in annales relatum est, non a senatu universo. Der Kontext oben Anm. 21: – Für Maschke, Philologus 54 (1895) 154 ff., ergibt sich „die Ableitung der Plinianischen 74
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trauer, zuerst überliefert für die caudinische Niederlage von 32183, ist in der Flavius-Geschichte jedenfalls eine Erfindung. Glaubhafter als für die Wahl eines Emporkömmlings zum Ädilen ist sie für die Verbindung der ordentlichen Magistratur mit dem Volkstribunat. Tatsächlich läßt sich ihre Einfügung nur erklären als eine Anspielung des Optimaten der Gracchenzeit auf die Gefahr, der der Staat soeben entronnen war: bekanntlich wurde Gaius Gracchus der Absicht beschuldigt, Konsulat und Volkstribunat in seiner Hand vereinigen zu wollen84. Wenn danach gewiß ist, daß Plinius von Piso abhängt, dann können nunmehr folgende Feststellungen getroffen werden. Einmal: Cicero hat für die Rede pro Murena im Jahre 63 Pisos Annalen benutzt. Zum anderen: auch der livianische Bericht über die Publikationen fließt unmittelbar aus Piso. Da Cicero von der Veröffentlichung der actiones, Livius von der des ius civile spricht, ist es wahrscheinlich, daß Piso beide Termini hatte. Dem entspricht, daß später Pomponius berichtet, der von Flavius verbreitete liber habe die actiones enthalten und sei ius civile Flavianum genannt worden. Schließlich sind wir jetzt soweit, daß wir sagen können, was Cicero und Livius bei Piso lesen konnten: Gnaeus Flavius war der Sohn eines Freigelassenen namens Annius. Von Beruf scriba, war er Sekretär der Ädilen, bis er selber zum kurulischen Ädilen gewählt wurde. Erst in den Wahlkomitien verzichtete er auf seinen Posten und wurde daraufhin vom wahlleitenden Beamten bestätigt. Seine Wahl verdankte er der durch die Censur des Appius Claudius mächtig gewordenen forensis factio. Zur Ädilität übernahm Flavius noch das Volkstribunat. Darüber war die Nobilität so bestürzt, daß sie zum Zeichen der Trauer den Goldring ablegte. Die civitas entzweite sich, bis Quintus Fabius Maximus die turba forensis auf die vier städtischen Tribus beschränkte und so die concordia wiederherstellte. Der Adel blickte mit Geringschätzung auf den eitlen Parvenu Gnaeus Flavius herab, der ihm aber Paroli bot. Als kluger Kopf listete er den wenigen, die den Gerichtskalender kannten, dessen Kenntnis ab und veröffentlichte ihn. Ebenso machte er die actiones allgemein bekannt, die in penetralibus pontificum, im Haus der pontifices, aufbewahrt wurden. Stelle von Valerius Antias“ auch „aus der theatralisch erfundenen Fälschung der angeblichen Landestrauer“; gleichwohl soll „Valerius’ Erwähnung der Landestrauer aus der Stadtchronik geflossen“ und sollen darum die von Plinius erwähnten annales die annales maximi sein. Münzer, Beiträge zur Quellenkritik der Naturgeschichte des Plinius (1897) 226, zeigt dagegen, daß mit den annales antiquissimi sehr wahrscheinlich Piso gemeint ist. – Die Erklärung der phalerae ist anachronistisch. Erst Gaius Gracchus hat, in Verfolgung seiner Politik der Abgrenzung des Ritterstandes, den Senatoren das Staatspferd genommen. Da sie bei der Trauer, auch später noch, das Rittergewand trugen (vgl. Mommsen, Staatsrecht III, 505), vermute ich, daß sie bei diesem Anlaß wie den Ring, so auch den Schmuck des ritterlichen Kriegsgewands, die phalerae, ablegten. Über die Bedeutung des Ringes vgl. Mommsen 515 f. 83 Liv. 9.7.9: lati clavi, anuli aurei positi. 84 Vgl. etwa Münzer, RE 2A (1923) 1388.
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(b) Bei Plinius, zu dem wir zurückkehren, sieht die Geschichte erheblich anders aus85. Sie ist um die Namen der Amtskollegen in der Ädilität und der abgewiesenen Mitbewerber erweitert. Andererseits weiß Plinius nichts von den Spruchformeln und nichts von der factio forensis, die durch die Tribusreform des Appius Claudius aufgekommen ist und der Flavius seine Wahl verdankt. Bei Plinius ist es vielmehr die Publikation der Fasten, die Flavius so großes Ansehen bei der Plebs einträgt, daß er zum Ädilen gewählt wird. Und während Flavius bei Piso ädilizischer Schreiber ist, erscheint er bei Plinius als Sekretär des Appius. Auf wen gehen die Erweiterung der Geschichte um die Namen und diese Umstellungen zurück? Mit Flavius soll ein Q. Anicius Praenestinus zum Ädilen gewählt worden sein86; als abgeschlagene Mitbewerber werden ein C. Poetelius87 und ein Domitius88 genannt. Man hat längst gesehen, daß diese Namen eingefälscht sind, und Otto Seeck hat ihre Einfügung in die Zeit nach dem Bundesgenossenkrieg datiert89. Wirklich stammen sie von Valerius Antias90. Für ihn, einen Anhänger der sullanischen Politik, war das maßgebliche Vorbild Calpurnius Piso, und es ist weiter bekannt, daß er durch seine Namensinterpolationen nicht nur die gens Valeria allenthalben herausstrich, sondern ebenso den unbekannten italischen Neubürger zur Geltung brachte, der durch den Bundesgenossenkrieg und die sullanische Gesetzgebung das Bürgerrecht erlangt hatte91. Praeneste aber ist damals eingemeindet und außerdem im Jahre 82, nach der blutigen Vernichtung seiner Bürgerschaft, sullanische Kolonie geworden92. (c) Für die Umstellungen der pisonischen Geschichte kommt der Annalist Antias aber nicht in Frage. Sie sind vielmehr von Varro vorgenommen worden93.
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Text oben Anm. 21. Münzer, RE 1 (1894) 2196 s. v. Anicias Nr. 5: „höchst verdächtig“. Die Anicier waren ein bekanntes, altes praenestinisches Geschlecht, das Gentile Anicius darum wohlfeil. Entsprechendes gilt für die Namen der angeblichen Mitbewerber aus den plebeischen (!) Gentes der Poetelier und Domitier. 87 Münzer, RE 21 (1951) 1164 s. v. Poetelius Nr. 2, und Röm. Adelsparteien (1920) 181, schenkt dieser Nachricht Glauben, die „jedenfalls aus Piso“ stamme. 88 Münzer, RE 5 (1903) 1424 s. v. Domitius Nr. 45, bringt diesen Domitius mit dem Konsul von 283 zusammen, bezweifelt aber die Nachricht seiner vergeblichen Bewerbung um die Ädilität im Jahre 304. 89 Kalendertafel 40. 90 Über dessen Annalen und ihre Glaubwürdigkeit vgl. insbesondere Peter, HRR I, CCCV ff.; Volkmann, RE 7A (1948) 2313 ff. s. v. Valerius Nr. 98; Ogilvie 12 ff. 91 Ogilvie 14 ff. 92 Vgl. etwa Nissen, Italische Landeskunde II, 620 ff. 93 Zutreffend hat schon Seeck, Kalendertafel 8 f., beobachtet, daß „Form und Inhalt“ der Pliniusstelle „deutlich antiquarischen, nicht annalistischen Ursprung“ verraten. Sie belegt auch die Bemerkung Ogilvies, S. 13, daß „the relevant passager of Pliny make it clear it is Varro who is using Valerius and not vice versa“. 86
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Denn die signifikanten Umstellungen finden sich auch bei Pomponius94. Und als Autor, der sowohl Plinius wie Pomponius als Vorlage gedient haben kann, ist eigentlich nur Varro denkbar95. Wie bei Plinius ist Flavius auch bei Pomponius der Sekretär des Appius. Wie bei Plinius Appius an der Veröffentlichung der Fasten, so ist er bei Pomponius an der Veröffentlichung der Legisaktionen beteiligt. Und wie bei Plinius die Publikation der Fasten, so trägt bei Pomponius die der Legisaktionen Flavius so großes Ansehen ein, daß er zum Ädilen gewählt wird. Diesen Übereinstimmungen stehen allerdings augenfällige Divergenzen gegenüber: Plinius berichtet nur von den Fasten, Pomponius nur von den Legisaktionen; bei Plinius unterstützt Appius die Publikation, bei Pomponius geschieht sie gegen seinen Willen. Diese Abweichungen machen aber nur deutlich, daß Plinius eine andere varronische Schrift benutzt hat als Pomponius96. Bekanntlich ist die Palingenesie der Schriften Varros so besonders schwierig, weil Varro dieselben Gegenstände unter verschiedenen Gesichtspunkten immer wieder behandelt hat97. Plinius fand die Flavius-Geschichte zu dem Stichwort usus anulorum vielleicht in den antiquitates, Pomponius vielleicht in dem gänzlich verschollenen Werk de iure civili 98. Daß in der einen Darstellung Appius die Publikation der Fasten unterstützt, in der andern dagegen die Veröffentlichung der actiones gegen seinen Willen erfolgt, hat Varro ziemlich einfältig aus der Tradition herausgesponnen. Wenn er Flavius zum Sekretär des Appius machte, lag es nahe, Appius auch mit den Publikationen in Verbindung zu bringen. Im einen Fall stand der Annahme nichts im Wege, daß Appius seinen Sekretär ermuntert hat. Anders bei den Legisaktionen. Über sie las Varro in seiner Vorlage, daß sie in penetralibus pontificum aufbewahrt wurden. Wie konnte der Sekretär des Appius ihrer habhaft geworden sein? Varro konnte sich gerade noch vorstellen, daß Appius zur regia
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D 1.2.2.7, abgedruckt oben Anm. 23. Unter Plinius’ Gewährsmännern für das 33. Buch nimmt Varro den ersten Platz ein, und als Quelle der §§ 17–19 kommt auch am ehesten Varro in Betracht: Seeck, Kalendertafel 9,54; Kroll, RE 21 (1951) 394. Pomponius hat für den Rechtsquellenabschnitt des Enchiridium möglicherweise Varros verschollene Schrift de iure civili benutzt: Wesenberg, RE 21 (1952) 2418 f., mit der älteren Literatur; außerdem Seeck, Kalendertafel 54; Fuhrmann, Sympotika Wieacker (1970) 107. 96 Nach Seeck, Kalendertafel 55, sollen sich die Differenzen leicht mit der Annahme erklären, Pomponius habe auch den Livius gelesen. 97 Münzer, Beiträge zur Quellenkritik der Naturgeschichte des Plinius (1897) 137; Teufel(-Kroll), Geschichte der röm. Literatur I6 (1916) 325; Dahlmann, RE 6 Suppl. (1935) 1183. 98 Über diese juristische Schrift vgl. Dahlmann, RE 6 Suppl. (1935) 1254. 95
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Zutritt hatte; mithin mußte er der Vermittler sein; ihn aber am Verrat der Formeln zu beteiligen, ging Varro wieder zu weit. (d) Zu dem, was sich aus Piso und Antias bei Pomponius erhalten hat, gehört auch, daß die actiones unter der Bezeichnung ius civile veröffentlicht worden sind. Denn wie sich gezeigt hat, standen beide Termini schon bei Piso. Unentschieden muß freilich bleiben, ob auch schon bei Piso ius civile der Titel der Spruchformelsammlung war. Andererseits wird erst Pomponius oder vielmehr seine varronische Vorlage das ius civile des Cn. Flavius in Parallele zum ius civile Papirianum und ius Aelianum oder zur Unterscheidung von diesen ius civile Flavianum genannt haben99. 4. Ich fasse die Ergebnisse meiner Beobachtungen und Überlegungen zusammen: Die Überlieferung zu Gnaeus Flavius kann bis auf Calpurnius Piso zurückverfolgt werden. Livius hat aus ihm und aus Licinius Macer seine Erzählung zusammengestellt. Ebenso hat Cicero im Jahre 63 für die Rede pro Murena Piso benutzt. Schließlich hängen über Varro und Antias, die beide in die Überlieferung eingegriffen haben, auch Plinius und Pomponius von Piso ab100. Wir sahen weiter: Das Grundthema der annalistischen Erzählungen war der Aufstieg eines scriba und patre libertino genitus zur Magistratur; die Durchführung dieses Themas je von der Parteinahme des Annalisten in den politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit bestimmt: Für den Optimaten der Gracchenzeit Calpurnius Piso war Gnaeus Flavius der freche Emporkömmling, für den Marianer Licinius Macer der befähigte Plebejer, dessen Aufstieg das Patriziat zu verhindern versuchte. Aber auch Varro hat die Geschichte des Gnaeus Flavius verändert, als er sie für seine antiquarischen Zwecke aus ihren historischen Zusammenhängen herauslöste.
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Vgl. oben Anm. 24.
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Von den Geschichten um Gnaeus Flavius ist also nicht viel übriggeblieben. Daß er ädilizischer Schreiber war, hat Piso, daß er der Sekretär des Appius war, hat Varro erfunden. Die Erzählungen über den Wahlvorgang und den Krankenbesuch sind tendenziöse Ausschmückungen Pisos, die Beteiligung des Appius an den Publikationen und deren Zusammenhang mit Flavius’ Aufstieg zur Ädilität Hypothesen Varros. Die Geringschätzung der Nobilität für Flavius, ihre Bestürzung über seine Wahl zum Ädilen oder über die Verbindung von Magistratur und Volkstribunat in seiner Person sind ebenso wie die Darstellung der Publikationen als Mittel des politischen Kampfes annalistisches Rankenwerk. Als positives Resultat ergab die Untersuchung folgenden Grundbestand an glaubwürdigen Daten: Gnaeus Flavius war der Sohn eines Freigelassenen mit dem unrömischen Pränomen Annius. Er war scriba und ist unter den Konsuln des Jahres 304 zum kurulischen Ädilen gewählt worden. Außerdem war er Volkstribun, vielleicht auch triumvir nocturnus und coloniae deducendae. Er hat den Tageskalender und die Legisaktionen veröffentlicht.
Nachweis der Erstveröffentlichungen Die XII Tafeln und die Magna Graecia (unveröffentlicht) Lanx und licium. Das Ritual der Haussuchung im altrömischen Recht, in: Sympotica Franz Wieacker: Sexagenario Sasbachwaldeni a suis libata, hrsg. v. Detlef Liebs, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1970, S. 59–79 Der Legisaktionenprozeß (unveröffentlicht) Zur legis actio sacramento in rem, in: Römisches Recht in der europäischen Tradition. Symposion aus Anlaß des 75. Geburtstages von Franz Wieacker, hrsg. v. Okko Behrends/Malte Diesselhorst/Wulf Eckart Voß, Verlag Rolf Gremer, Ebelsbach 1985, S. 1–39 Normdurchsetzung im römischen Zivilprozeß (unveröffentlicht) Funktion und Struktur der Mancipatio (unveröffentlicht) Mancipatio und legis actio sacramento in rem (unveröffentlicht) In mancipio esse, in: Ars Iuris. Festschrift für Okko Behrends zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Martin Avenarius/Rudolf Meyer-Pritzl/Cosima Möller, Wallstein Verlag, Göttingen 2009, S. 611–620 Die manumissio vindicta und der Freiheitsprozeß, in: Libertas. Grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart, hrsg. v. Okko Behrends/ Malte Diesselhorst, Verlag Rolf Gremer, Ebelsbach 1991, S. 61–96 In iure cessio und manumissio vindicta, in: Liber amicorum, Christoph Krampe zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Matthias Armgardt/Fabian Klinck/Ingo Reichard, Duncker & Humblot, Berlin 2013, S. 375–391 ,Comitia, quae pro conlegio pontificum habentur‘. Zur Amtsautorität der Pontifices, in: Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition, hrsg. v. Klaus Luig/Detlef Liebs, Verlag Rolf Gremer, Ebelsbach 1980, S. 1–24 Die literarische Überlieferung der Publikation der Fasten und Legisaktionen durch Gnaeus Flavius, in: Nachrichten der Göttinger Akademie der Wissenschaften (1980, Nr. 2), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 11–29