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German Pages 738 [740] Year 2007
Festschrift für Reinhard Böttcher zum 70. Geburtstag
Recht gestalten - dem Recht dienen Festschrift für
REINHARD BÖTTCHER zum 70. Geburtstag am 29. Juli 2007 herausgegeben von
Heinz Schöch
Roland Helgerth
Dieter Dölling
Peter König
w DE
G_ RECHT
De Gruyter Recht · Berlin
@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.
I S B N 978-3-89949-259-0
Bibliografische
Information
der Deutseben
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. © C o p y r i g h t 2007 b y De G r u y t e r Rechtswissenschaften V e r l a g s - G m b H , D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig u n d strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, M i k r o v e r f i l m u n g e n und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y D r u c k und Bindung: H u b e r t & Co., Göttingen
Reinhard Böttcher zum 29. Juli 2007 HANS-JÖRG ALBRECHT
LUTZ MEYER-GOSSNER
FRANK ARLOTH
ROLAND MIKLAU
SUSANNE AULINGER
WALTER ODERSKY
WERNER BEULKE
CHRISTIAN PFEIFFER
HANS DAHS
PETER RIESS
GERHARD DANNECKER
DIETER RÖSSNER
DIETER DÖLLING
CLAUS ROXIN
GUNNAR DUTTGE
HELMUT SATZGER
WALTER GOLLWITZER
HEINO SCHÖBEL
GÖSSEL KARL HEINZ
HEINZ SCHÖCH
KARL-HEINZ GROSS
ULRICH SCHROTH
ROLAND HELGERTH
HORST SCHÜLER-SPRINGORUM
KARL HUBER
HANS-DIETER SCHWIND
JÖRG-MARTIN JEHLE
HELMUT SEITZ
GÜNTHER KAISER
HEINZ STÖCKEL
HANS-JÜRGEN KERNER
FRANZ STRENG
PETER KÖNIG
MONIKA TRAULSEN
ARTHUR KREUZER
GERSON TRÜG
KRISTIAN KÜHL
KLAUS VOLK
KLAUS LAUBENTHAL
KLAUS WEBER
ANNA MAIER-PFEIFFER
GUNTER WIDMAIER
MANFRED MARKWARDT
Inhalt BONA VOLUNTATE SERVIRE Reinhard Böttcher zum 70. Geburtstag
XIII
I. Strafprozessrecht und Gerichtsverfassungsrecht FRANK ARLOTH
Zur Ausschließung und Ablehnung von Staatsanwälten
3
WERNER BEULKE
Berücksichtigungsfahigkeit von Protokollberichtigungen nach Eingang der Revisionsbegründung
17
HANS DAHS
„Die Verantwortlichen"
33
DIETER DÖLLING
Zur Beteiligung von Laienrichtern an der Strafrechtspflege
41
GUNNAR DUTTGE
Von Flutwellen, Sümpfen und Wetterzeichen - zu den aktuellen Bestrebungen, Urteilsabsprachen per Gesetz zu „zähmen" -
53
KARL HEINZ GÖSSEL
Zur Zulässigkeit von Absprachen im Strafverfahren in der Rechtsprechung
79
MANFRED MARKWARDT
Brauchen wir eine „unabhängige" Staatsanwaltschaft? - Zur Stellung der Staatsanwaltschaft im demokratischen Rechtsstaat -
93
VIII
Inhalt
LUTZ MEYER-GOSSNER
Absprachen im Strafprozess Nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des BGH
105
ROLAND MIKLAU
„Ermittlungserzwingung" und Einstellungserzwingung nach dem österreichischen Strafprozessreformgesetz
125
WALTER ODERSKY
Von Eigenheiten der Richtertätigkeit
135
PETER RIESS
Über Zuständigkeitskonzentrationen - eine Skizze:
145
CLAUS ROXIN
Großer Lauschangriff und Kernbereich privater Lebensgestaltung
159
HELMUT SATZGER
Überlegungen zur Anwendbarkeit des § 357 StPO auf nach Jugendstrafrecht Verurteilte - gibt es einen abweichenden Maßstab für Gerechtigkeit gegenüber Jugendlichen?
175
GERSON TRÜG / HANS-JÜRGEN KERNER
Formalisierung der Wahrheitsfindung im (reformiert-) inquisitorischen Strafverfahren? Betrachtungen unter rechtsvergleichender Perspektive
191
KLAUS VOLK
Die Anwesenheitspflicht des Angeklagten - ein Anachronismus
213
GUNTER WIDMAIER
Die Anhörungsrüge nach § 33a StPO und § 356a StPO Bemerkungen zu einem Fremdkörper im System des Rechtsmittelrechts
223
II. Kriminologie, Jugendrecht, Strafvollzug HANS-JÖRG ALBRECHT
Straffälligenhilfe, Kosten-Nutzen-Analyse und strafrechtliche Kriminalitätsprävention
235
Inhalt
IX
JÖRG-MARTIN JEHLE
Wie gefährlich sind die Langzeitgefangenen? Basisdaten aus der Rückfallstatistik
263
GÜNTHER KAISER
Erziehung und Strafe in der Postmoderne
283
ARTHUR KREUZER
Gewalt in Familien
303
KLAUS LAUBENTHAL
30 Jahre Vollzugszuständigkeit der Strafvollstreckungskammern
325
ANNA MAIER-PFEIFFER / CHRISTIAN PFEIFFER
Kriminalprävention durch frühe Förderung
337
DIETER RÖSSNER
Wirklichkeit und Wirkung des Täter-Opfer-Ausgleichs in Deutschland
357
HEINZ SCHÖCH / MONIKA TRAULSEN
Kriminalpädagogische Schülerprojekte in Bayern
379
HORST SCHÜLER-SPRINGORUM
Strafvollzug und Föderalismus
403
HANS-DIETER SCHWIND
Gewalt und andere soziale Auffälligkeiten an („no-future-kids"-)Schulen
411
FRANZ STRENG
Sanktionswahl und Strafzumessung im Jugendstrafrecht Ergebnisse einer empirischen Studie
431
III. Strafrecht und Nebengebiete GERHARD DANNECKER
Die Ahndbarkeit von juristischen Personen im Wandel
465
χ
Inhalt
ROLAND HELGERTH / KLAUS WEBER
Das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) - Entstehung und Auswirkungen
489
PETER KÖNIG
Vom Ausnahmevorrang der Ordnungswidrigkeit gegenüber der Straftat
525
ULRICH SCHROTH
Die Cross-over-Spende - Die Notwendigkeit einer gesetzesüberschreitenden Rechtsfortbildung -
535
IV. Kriminalpolitik und Sanktionen SUSANNE AULINGER
Zwischen justizieller Nachsorge und strafrechtlicher Sozialkontrolle - ambulante Handlungsstrategien bei gefährlichen Sexualstraftätern und ihre rechtlichen Rahmenbedingungen
555
KARL-HEINZ GROSS
Kriminalgesetzgebung und Zeitgeist - am Beispiel des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht
579
KRISTIAN KÜHL
Theoretische und praktische Kriminalpolitik
597
HEINZ STÖCKEL
Gedanken zur Reform des Sanktionenrechts
617
V. Verfassungsrecht und internationales Strafrecht WALTER GOLLWITZER
Recht auf Gleichbehandlung, Diskriminierungsverbote, Fördergebote; Vervollkommnung oder Übersteigerung des Gleichheitssatzes? Eine verspätete Diskussion
637
Inhalt
XI
KARL HUBER
Die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs in Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen strafgerichtliche Entscheidungen
659
HELMUT SEITZ
Mildeste versus punitivste Strafrechtsordnung - Einige Anmerkungen zum Entwurf einer Regelung transnationaler Strafverfahren in der Europäischen Union -
675
VI. Juristenausbildung Heino Schöbel Die „Kunst des Prüfens" - Prüfer in juristischen Prüfungen
687
VII. Verzeichnis der Schriften von Reinhard Böttcher
711
VIII. Autorenverzeichnis
717
B O N A V O L U N T A T E SERVIRE Reinhard Böttcher zum 70. Geburtstag
Reinhard Böttcher hat sich hohes Ansehen nicht nur innerhalb seiner „Justizheimat" erworben, sondern weit darüber hinaus. Deutliches Zeugnis dafür liefert der Kreis der Autoren, die ihm durch ihre Beiträge ihre Referenz und Zuneigung erweisen wollen. Er reicht von Weggefahrten aus der Justiz über Vertreter der Strafrechtsdogmatik und Kriminologie bis hin zur Anwaltschaft. Überdies mussten die Herausgeber den Autorenkreis wegen der mit einer Festschrift verbundenen räumlichen Zwänge beschränken. Der Jubilar wird deshalb unter den Autoren wahrscheinlich den einen oder anderen vermissen. Die Herausgeber bitten für etwaige Nachlässigkeiten in der Auswahl beim Jubilar ebenso um Nachsicht wie bei jenen, die gerne einen Beitrag geleistet hätten. Der Jubilar zählt zu den Juristenpersönlichkeiten, die Reputation auch bei Fachdisziplinen außerhalb der Juristenzunft genießen. Das ist keineswegs selbstverständlich, zumal bei einem langjährigen Spitzenbeamten des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz, vertritt er doch qua Amt Positionen, die sich beispielsweise mit jenen von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern nicht immer decken. Wesentlich zurückzuführen ist der Umstand auf ein prägendes Kennzeichen des Jubilars: Er vermochte und vermag es oftmals, tatsächlich oder vermeintlich Unversöhnliches in einen tragbaren Ausgleich zu bringen. Reinhard Böttcher wurde am 29. Juli 1937 in Stuttgart geboren. Sein Vater war Oberstudiendirektor. Das Abitur legte er im Keplergymnasium in Ulm ab. Nach einjährigem Studium am Leibniz-Kolleg der Universität Tübingen studierte er als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes Rechtswissenschaft in Hamburg und München. Mit jeweils glänzenden Ergebnissen bestand er 1961 die Erste, 1966 die Zweite Juristische Staatsprüfung. Während des Vorbereitungsdienstes schloss er seine Dissertation über die „politische Treuepflicht der Beamten und Soldaten und die Grundrechte der Kommunikation" ab. Vorrangig zu Studienzwecken hatte er einen Teil seines Vorbereitungsdienstes in Berlin absolviert, wo sein Doktorvater Peter Lerche seinerzeit lehrte. 1966 erfolgte der Eintritt in die bayerische Justiz. Ganz leicht scheint dem Jubilar die Berufswahl nicht gefallen zu sein. In den Personalakten, die
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einer der Herausgeber im vermuteten Einverständnis des Betroffenen eingesehen hat, finden sich nämlich ein Schreiben, wonach er seine Entscheidung erst innerhalb einer vereinbarten Bedenkzeit von vier Wochen treffen werde, und ein darauf angebrachter Aktenvermerk des Personalreferenten, dass der Assessor Böttcher „nunmehr doch" ein Gesuch um Übernahme gestellt habe. Welch herausragende Persönlichkeit wäre der bayerischen Justiz verloren gegangen, wären die Würfel anders gefallen! Schwerpunkt seiner justitiellen Tätigkeit war bis 1994 das Bayerische Staatsministerium der Justiz. Verwendungen als (Jugend-) Staatsanwalt und Richter kamen hinzu. Im Justizministerium war Reinhard Böttcher zunächst Mitarbeiter im Landesjustizprüfungsamt und bekleidete später (ab 1969) die rechtspolitisch so wichtige Funktion des „Bonner Beauftragten". Diesem fallt es im Wesentlichen zu, die Entwicklungen auf Bundesebene zu beobachten sowie - wo nötig - die Belange der bayerischen Justiz und der bayerischen Rechtspolitik bei den Beratungen des Bundestags und Bundesrats einzubringen und zu vertreten. In einer Zeit grundlegender Weichenstellungen (Stichworte: Große Strafrechtsreform, Reform des Ehescheidungsrechts) füllte er seine Aufgaben so vorzüglich aus, dass er 1973 zum Leiter des Büros der Staatsminister Philipp Held und dann (1974) seines Nachfolgers, Staatsminister Karl Hillermeier, berufen wurde. Er spricht mit Hochachtung über diese beiden Politikerpersönlichkeiten. 1978 wurde ihm die Leitung des Referats für Angelegenheiten des Strafverfahrensrechts, der Strafgerichtsverfassung und des Jugendstrafrechts übertragen, 1988 die Leitung der Strafrechtsabteilung. In beiden Tätigkeiten kamen ihm die in der Führungsebene des Justizministeriums gewonnenen politischen Erfahrungen ebenso zugute wie seine exzellenten juristischen Kenntnisse und Fähigkeiten. Große Gesetzgebungsverfahren hat er maßgebend mitgeprägt. Beispielhaft seien genannt das Opferschutzgesetz (1986), die Reform des Ordnungswidrigkeitenrechts (1988), das l.JGG-Änderungsgesetz (1990) und das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und der Organisierten Kriminalität (1992, dazu Helgerth/Weber in diesem Band). Über den Bereich der Gesetzgebung hinaus hat der Jubilar auch die Justizpraxis maßgebend beeinflusst und für neue Bewegungen geöffnet. Früher als viele andere erkannte er namentlich die Bedeutung der Restitutionsbewegung und unterstützte sie an maßgebender Stelle. Unter seiner Verantwortung wurden die Modellprojekte zum Täter-OpferAusgleich im Jugendstrafverfahren in München und Landshut (1985 bis 1987) ins Werk gesetzt. Ab 1990 wurde der Täter-Opfer-Ausgleich im allgemeinen Strafrecht in Nürnberg, ab 1992 in Aschaffenburg erprobt. Was heute manchem als selbstverständlich erscheinen mag, war seinerzeit alles andere als leicht. Nicht unbeträchtliche Widerstände mussten überwunden werden. Dies gilt auch für die von ihm teils noch im Justizministerium, teils
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als Oberlandesgerichtspräsident in Bamberg initiierten und geforderten ersten Zeugenbetreuungsstellen in Bayern (Modellprojekte in Aschaffenburg, Traunstein und Ingolstadt seit August 1994) und die Kriminalpädagogischen Schülerprojekte (zuerst 1999 in Aschaffenburg, inzwischen auch in Ansbach, Ingolstadt und Memmingen, dazu Schöch/Traulsen in diesem Band). Reinhard Böttcher hat sich als Mitglied und Leiter der Strafrechtsabteilung weit über die Grenzen Bayerns hinaus einen Ruf als ausgezeichneter Fachmann in allen Belangen des Straf- und Strafverfahrensrechts und des Jugendstrafrechts erworben. Im Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz nahm er eine bedeutende Rolle ein. Gerade wenn es um die Erarbeitung von Beschlüssen der Justizministerkonferenz ging, war seine Fähigkeit zur Vorbereitung richtungweisender Entscheidungen und zur Findung von Kompromissen selbst in nahezu ausweglosen Problemlagen besonders gefragt, wobei gerade hier seine überragende Formulierungsgabe zum Einsatz kam. Eines seiner „Meisterstücke" war gewiss der Beschluss der Justizministerkonferenz zur Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter im Mai 1990. Die Situation war außerordentlich schwierig, die Stimmung gereizt. Seit 1987 hatten sich die SPD-gefiihrten Länder aus politischen Gründen aus der Finanzierung der Erfassungsstelle zurückgezogen. Nunmehr wurden die gesammelten Erkenntnisse u. a. für Rehabilitierungs- und Kassationsverfahren sowie für die Überprüfung von Angehörigen und Bewerbern für den öffentlichen Dienst aber gebraucht. Gewollt war ein einvernehmliches Ergebnis. Entsprechend einem Vorschlag Böttchers wurde die Aufgabenstellung neu definiert (Erfassungstätigkeit beendet, Fortführung zu Beweis- und Dokumentationszwecken). Aus der Konferenz wird berichtet, dass die Ministerinnen und Minister rund eine halbe Stunde lang die Formulierungen diskutierten, bis dann die damalige bayerische Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner die Diskussion mit den Worten beendete „Wir können es nicht besser als unsere Beamten". Der Beschlussvorschlag Böttchers wurde einstimmig verabschiedet. Der Weg für eine Finanzierung der Stelle durch alle Länder war geebnet. Mit dem Stichwort Salzgitter ist eine der beiden neuen Herausforderungen angesprochen, die sich ab Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre fur die Ministerialbürokratie stellten. Wegen der Wiedervereinigung Deutschlands waren sowohl auf der Ebene der Gesetzgebung als auch in der Justizpraxis vielfaltige Aufgaben zu bewältigen. Reinhard Böttcher hat sie mit Weitblick und Souveränität erfüllt. Daneben schritt die Europäisierung des Strafrechts immer rascheren Schritts voran. Dem Jubilar wurde die Stelle als Vertreter der deutschen Länder im Lenkungsausschuss III - justitielle Zusammenarbeit - der Europäischen Union angetragen. Er nahm sie trotz seiner vielfaltigen anderweitigen Belastungen an. Als dann noch, be-
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ginnend im Jahr 1992, ausländerfeindliche Ausschreitungen Deutschland und die Welt erschütterten und ein Minister- bzw. Staatssekretärstreffen das andere jagte, waren selbst die weit gesteckten Leistungsgrenzen des Jubilars erreicht, wohl schon überschritten. Man musste seinerzeit um seine Gesundheit fürchten. Die Leistungsbereitschaft, die ihn selbst prägt, erwartete Reinhard Böttcher auch von seinen Mitarbeitern. Er hat sie uneingeschränkt erhalten. Dabei hat seine Gabe eine Rolle gespielt, Menschen zu führen und zu begeistern. Die Erfolge sind dann nicht ausgeblieben. Man wusste, dass man in einem guten Team arbeitete. Kollegen und vor allem junge Mitarbeiter ließ Reinhard Böttcher seine Überlegenheit dabei nie spüren. Wenn ein Entwurf seinen Vorstellungen nicht in vollem Umfang entsprach, merkte man ihm dies nur dann an, wenn man ihn längere Zeit kannte. Er setzte den Stift an und nach ein paar Federstrichen hatte die Arbeit ein anderes Gesicht. Sie enthielt Facetten, an die der Entwurfsverfasser nicht im Traum gedacht hatte. Gleichwohl konnte er sich im „Endprodukt" wiederfinden und die causa als Ansporn nehmen, es beim nächsten Mal noch besser zu machen. Gern sah es der Jubilar, wenn seine Mitarbeiter den Schulterschluss mit der Wissenschaft suchten. Das Publizieren hat er gefordert. Mindestens drei Dissertationen wären ohne seinen Zuspruch wohl nicht geschrieben worden. Eine Begebenheit mag dies illustrieren. Einer seiner Mitarbeiter hatte sich entschlossen, eine „späte" Doktorarbeit zu wagen. Kurz darauf wurde dem Mitarbeiter eine größere Kommentierung angetragen. Er teilte dem Jubilar mit, dass er das Promotionsvorhaben aus Kapazitätsgründen nun doch nicht angehen könne. Der Jubilar reagierte mit der Frage, ob man die Arbeiten nicht „hintereinander schachteln" könne. Der Mitarbeiter war ziemlich verblüfft, meinte er doch, dem Jubilar seine ohnehin bestehende Überlastung mit dienstlichen Aufgaben und die völlige Unmöglichkeit der Übernahme beider Arbeiten eindrucksvoll verdeutlicht zu haben. Er ging nach dem Gespräch in sich - und siehe, es ging doch. Mitte des Jahres 1994 wurde Reinhard Böttcher das Amt des Präsidenten des Oberlandesgerichts Bamberg übertragen, das er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2002 innehatte. Der Abschied aus dem Justizministerium ist ihm nicht leicht gefallen. Zumindest das Gleiche gilt für den Umstand, dass die Übernahme eines Praxisamtes mit einem teilweisen Rückzug aus der von ihm so geliebten Rechtspolitik verbunden war. Statt kriminalpolitische Entwicklungen und die Gesetzgebung an den Nahtstellen zu beeinflussen, nahmen jetzt beispielsweise Fragen der Ausstattung des Gerichtsbezirks mit Computern und Baumaßnahmen einen wesentlichen Teil seiner Arbeitskraft ein. Auch diesen neuen Aufgaben widmete er sich mit Elan und gewann Freude daran. In seiner Rede zur Verabschiedung Reinhard Böttchers aus
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dem Amt des Chefpräsidenten hebt der Bayerische Staatsminister der Justiz die organisatorischen Fähigkeiten und ausgeprägten Führangseigenschaften des Jubilars hervor. Bei der Umsetzung einschneidender Reformmaßnahmen, den Anstrengungen um ein modernes Personalmanagement in der bayerischen Justiz und seiner führenden Mitwirkung bei der Schaffung der Anforderungsprofile für Richter, Staatsanwälte sowie für Dienst- und Geschäftsleiter habe Reinhard Böttcher sein administratives Geschick auf beeindruckende Weise erwiesen. Hinzu komme sein Engagement beim Ausbau der Öffentlichkeitsarbeit im Oberlandesgerichtsbezirk Bamberg. Dabei war es dem Jubilar stets ein besonderes Anliegen, die Erinnerung auch an die dunklen Zeiten der Justiz im Nationalsozialismus und das, wozu Juristen unter bestimmten politischen Voraussetzungen fähig sind, wach zu halten. Die Übernahme der Präsidentschaft bedeutete zugleich den Wiedergewinn des Richteramtes, das Reinhard Böttcher mit Ehrfurcht und Demut betrachtet. Er wurde Vorsitzender des 6. Zivilsenats. Seit 1996 war er außerdem berufsrichterliches Mitglied beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof und wurde im Juli 2000 vom Bayerischen Landtag zum Vizepräsidenten des Gerichtshofs gewählt. Es war Reinhard Böttcher eine besondere Erfüllung, am Ende seiner Laufbahn nochmals das Amt zu übernehmen, bei dessen Antritt man zu schwören hat, nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen. Die richterliche Tätigkeit beim Verfassungsgerichtshof bezeichnet er als einen Höhepunkt seines beruflichen Lebens. Wer das Richterbild des Jubilars kennen lernen möchte, dem sei die Lektüre seines in der Festschrift für Hanack veröffentlichten Beitrags zu Paul Johann Anselm von Feuerbach am Appellationsgericht Bamberg empfohlen. Die dort angesprochenen richterlichen Tugenden vereinigt Reinhard Böttcher in hervorragender Weise in sich. In der schon zitierten Abschiedsrede würdigt der Staatsminister der Justiz den Jubilar zusammenfassend dahingehend, dass er sich bleibende Verdienste um die Rechtspflege, den Freistaat Bayern und seine Bevölkerung erworben habe. Verdientermaßen seien ihm deshalb der Bayerische Verdienstorden und das Bundesverdienstkreuz am Bande und 1. Ordnung der Bundesrepublik Deutschland verliehen worden. Angesichts einer so imposanten Karriere konnten Berufungen in Gremien außerhalb der Justiz sowie Ehrenämter nicht ausbleiben. Seit 1985 war Reinhard Böttcher sog. ständiger Gast und gefragter Ratgeber im Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer. Er war Vorstandsmitglied der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft und in dieser Eigenschaft beteiligt am Zusammenschluss dieser Gesellschaft mit der Gesellschaft für die gesamte Kriminologie zur Neuen Kriminologischen Gesellschaft. 1987 wurde er vom Bundesminister des Innern als Mitglied
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der Unterkommission Strafrechtspraxis in die „Anti-Gewalt-Kommission" der Bundesregierung berufen, an der er führend und prägend mitwirkte (dazu Schwind in diesem Band). Entsprechendes gilt für sein außerordentliches Engagement beim Deutschen Juristentag. 1990 war er Referent (Absprachenproblematik). Nach seiner Wahl in die Ständige Deputation des Deutschen Juristentags (1990) leitete er 1992 (strafrechtliches Sanktionensystem) und 1996 (Korruption) die Strafrechtliche Abteilung; 1994 (Beschleunigung des Strafverfahrens) und 2004 (Reform des Ermittlungsverfahrens) war er deren stellvertretender Leiter. 1998 hatte er den Vorsitz in der Abteilung Juristenausbildung. Die Beschlüsse der von ihm geleiteten Abteilungen haben großen Einfluss auf die Gesetzgebung gewonnen. So ging die breite Verankerung des TäterOpfer-Ausgleichs und der Schadenswiedergutmachung im allgemeinen Strafrecht durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 wesentlich auf den Deutschen Juristentag 1992 in Hannover zurück. Die Empfehlungen des Juristentags 1996 in Karlsruhe sind mit dem Korruptionsbekämpfungsgesetz 1997 gleichsam unmittelbar umgesetzt worden. Im Verein „Deutscher Juristentag" übernahm der Jubilar weitere wichtige Funktionen. 1993 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden, 1998 zum Vorsitzenden der Ständigen Deputation gewählt. Für den 62. Deutschen Juristentag (Leipzig 2000) und den 63. Deutschen Juristentag (Berlin 2002) wurde ihm mit der Präsidentschaft das höchste Amt übertragen, das der Juristentag zu vergeben hat. Den Ersten Europäischen Juristentag vom 13. bis 15. September 2001 in Nürnberg hat er mitinitiiert und wesentlich gestaltet. Als Vortragsredner hat Reinhard Böttcher schwierige Foren nicht gescheut. Beim 20. bis 22. Jugendgerichtstag (1986, 1989 und 1992) hielt er jeweils Referate. Es war, auch noch nach In-Kraft-Treten des l.JGGÄnderungsgesetzes (1990), eine Zeit des Aufbruchs. Die Forderungen der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen zielten auf einen weitestgehenden Rückzug des Strafrechts und wurden mit Empathie sowie einiger Hitze erhoben. Der Jubilar hat es als reizvoll empfunden, diesen Positionen die eigenen entgegenzusetzen, auch wenn die Wogen danach noch so hoch schlugen. Mit feiner Ironie erzählt er von einem Geschehnis auf einem dieser Jugendgerichtstage, als ein erregter Teilnehmer den Diskussionsleiter aufforderte, dem Jubilar wegen gänzlicher Unerträglichkeit seines Vortrags unverzüglich das Wort zu entziehen. Mit dem Übertritt in den Ruhestand ist für viele die Befürchtung verbunden, in ein „tiefes Loch" zu fallen. Ob diese Sorge auch den Jubilar bewegt hat, wissen die Herausgeber nicht. Sollte es so gewesen sein, so war sie jedenfalls unbegründet. Reinhard Böttcher ist weiterhin gefragter Referent bei Symposien und anderen Veranstaltungen. Rasch wurde er um die Über-
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nähme weiterer Ehrenämter gebeten und hat sich ihnen nicht entzogen. Seit 2003 ist er Vorsitzender der Disziplinarkammer der Evang.-Luth. Kirche in Bayern. 2004 wurde er als Nachfolger des ehemaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofs Walter Odersky, den er verehrt und als sein Vorbild bezeichnet, in die Bioethik-Kommission der Bayerischen Staatsregierung berufen. Am 26. November 2005 ist er mit überwältigender Mehrheit zum Bundesvorsitzenden des „Weißen Rings" gewählt worden, der größten Opferschutz- und Opferhilfeeinrichtung in Deutschland. Eine bessere Wahl hätte der Verein nicht treffen können. Reinhard Böttcher engagiert sich auch in dieser Aufgabe mit seiner ganzen Tatkraft. Die glanzvolle Festveranstaltung zum 30-jährigen Jubiläum des Weißen Ringes, die am 10. Oktober 2006 im Abgeordnetenhaus des Deutschen Bundestages in Berlin stattfand, war hauptsächlich sein Verdienst. Hierbei und bei anderen Anlässen konnte er auch die Idee der Opferhilfe vor einem Millionenpublikum im Fernsehen vertreten. Er erledigte dies mit der ihm eigenen Eleganz. Reinhard Böttcher hat Freude am Umgang mit jungen Menschen und an der Heranbildung des juristischen Nachwuchses. Dem entspricht es, dass er sich seit 1966 an der Universität München in der Lehre engagiert, zunächst in Arbeitsgemeinschaften für das Bürgerliche Recht, später in Vorlesungen, Seminaren und Examinatorien im Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Jugendstrafrecht. 1989 wurde er zum Honorarprofessor für das Fachgebiet Strafrecht und Strafverfahrensrecht bestellt. Bei den Studierenden ist der Jubilar beliebt. Das verwundert nicht, vereinigt er doch in seinem Vortrag in geradezu idealtypischer Weise Wissenschaft und Praxis, zum Ausdruck gebracht in brillanter Rhetorik. Er kann dabei auf einen überreichen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Im Jahr 1997 ist Reinhard Böttcher durch den Beirat für Wissenschafts- und Hochschulfragen des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus, Wissenschaft und Kunst in den Unterausschuss Rechtswissenschaft berufen worden. Hinzu kam sein langjähriger Einsatz als Prüfer in der Ersten und Zweiten Juristischen Staatsprüfung (dazu Schöbel in diesem Band) sowie zuletzt als örtlicher Prüfungsleiter für die Zweite Juristische Staatsprüfung am Prüfungsort Bamberg. Das wissenschaftliche Werk des Jubilars ist breit gefächert. Schwerpunkte sind gewiss die Kriminalpolitik, das formelle Strafrecht und das Jugendstrafrecht, wobei die grundlegende Kommentierung der §§ 1 bis 21 des Gerichtsverfassungsgesetzes und des EGGVG im Großkommentar LöweRosenberg eine herausragende Stellung einnimmt. Die literarischen Interessen des Jubilars sind jedoch nicht auf den strafrechtlichen Fachbereich beschränkt, sondern betreffen u. a. allgemeine Belange der Justiz, namentlich deren Stellung in der Gesellschaft, die Juristenausbildung und das Verfassungsrecht. Gerade in den späteren Abhandlungen tritt auch das stets gegebene Interesse Reinhard Böttchers an den geschichtlichen sowie philosophi-
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sehen Zusammenhängen und an historischen Persönlichkeiten hervor. Dafür steht unter anderem der schon erwähnte Beitrag zu Paul Johann Anselm von Feuerbach, den der Jubilar in besonderem Maße hochschätzt. Die Herausgeber haben für diese Laudatio einen Titel gewählt, der am besten mit den Worten des Jubilars zu erläutern ist: ,JLs ist lange, lange her, da habe ich in der Klosterkirche Birnau über dem Bodensee einen Diebstahl begangen, einen geistigen Diebstahl. Ich habe, ohne jemand um Erlaubnis zu fragen, den Wahlspruch für mich übernommen, der dort auf die Rückenlehne eines Sessels gestickt war: bona voluntate servire, Dienen mit gutem Willen, mit anständiger Gesinnung, in wohlwollender Absicht." Diesem Zitat aus der bei seiner Verabschiedung aus dem Amt des Oberlandesgerichtspräsidenten gehaltenen Rede Reinhard Böttchers ist nur noch hinzuzufügen, dass die Herausgeber und Autoren dem Jubilar weiterhin volle Tatkraft und die Gesundheit wünschen, die er für die Erfüllung seiner vielfaltigen Verpflichtungen braucht, - und darüber hinaus auch Zeit für die schönen Dinge des Lebens, etwa das Klavierspiel, die bildende Kunst und die Literatur, denen er im „Ruhestand" doch eigentlich etwas mehr Raum widmen wollte. Die Herausgeber
I. Strafprozessrecht und Gerichtsverfassungsrecht
Zur Ausschließung und Ablehnung von Staatsanwälten1 FRANK ARLOTH
I. Einleitung In der Literatur füllen die Beiträge zur Frage der Ausschließung und Ablehnung von Staatsanwälten inzwischen Bände.2 In der Bedeutung umgekehrt proportional dazu scheint das Problem in der Praxis zu stehen, hatte die obergerichtliche Rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten mit dieser Problematik doch eher sporadisch zu tun 3 . Handelt es sich also um ein juristisches Glasperlenspiel, das nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft statt findet? Die Frage zu stellen, heißt aber auch, sie unverzüglich zu verneinen. Dies aus zweierlei Gründen: Zum einen zeigen die Entscheidungen, dass es sich um ein in der Praxis durchaus relevantes, wenn auch wohl nicht alltägliches Problem handelt. Zum anderen hat gerade der Jubilar, der in der Praxis herausragende Funktionen inne hatte, als Autor4 und Kommentator5 wichtige Beiträge zu dieser Problematik geliefert. Ausgangspunkt jeglicher Überlegungen ist die Feststellung, dass die StPO keine Regelungen zur Ausschließung und Ablehnung von Staatsanwälten enthält. Der Wortlaut der § § 2 2 ff. StPO ist insoweit eindeutig. Auf der anderen Seite ist heute allgemein anerkannt, dass ein Staatsanwalt unter bestimmten Voraussetzungen von einer weiteren Mitwirkung im Strafverfahren ausgeschlossen sein kann.6 Die zentralen Streitfragen beschränken sich derzeit auf folgende Punkte: Wann ist ein Staatsanwalt von der weiteren Mitwirkung ausgeschlossen bzw. kann er auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden (dazu unter II.)? Woraus resultiert ein entsprechendes Recht des Beschuldigten (dazu unter III.)? Vorausgesetzt es 1
Fortentwicklung der Überlegungen in NJW 1983, 207. Umfassende Nachweise bei Böttcher FS Roxin (2001), S. 1333, in Fn. 3, 5 und 6; SK/StPO- Wohlers 46. Lfg. (Januar 2006) § 145 GVG Vor Rn. 1; zuletzt ders. GA 2006, 403. 3 Vgl. Nachweise Böttcher aaO Fn. 7; zuletzt BGH NStZ-RR 2001, 107. 4 FS Roxin, S. 1333 ff. 5 In: Löwe/Rosenberg, 25. Aufl. EGGVG (1998) § 23 Rn. 125. 6 SIC -Wohlers § 145 GVG Rn. 25 mwN. 2
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besteht ein solcher Anspruch, ließe er sich gegebenenfalls gerichtlich durchsetzen, und wenn ja, auf welchem Wege (dazu unter IV.)?
II. Zu den Ausschließungs- und Ablehnungsgründen Die Staatsanwaltschaft hat belastende wie entlastende Umstände gleichermaßen zu ermitteln (§ 160 II StPO). Damit leistet sie einen unverzichtbaren Beitrag für ein rechtstaatliches Strafverfahren. Denn aufgrund der herausragenden Stellung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, in dem ihr auch tief greifende Zwangsbefugnisse originär (z.B. §§ 81b l.Alt., 131, 163b StPO) oder zumindest bei Gefahr im Verzug (z.B. §§ 81a, 81c, 100, 100b, 105 StPO) zukommen, kann nur eine der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete Staatsanwaltschaft ein rechtsstaatliches und damit auch faires Strafverfahren garantieren. Indes bedeutet dies nicht, dass der Staatsanwalt in allen Stadien des Strafverfahrens absolute Neutralität bewahren muss. Denn die § § 2 2 ff. StPO gelten - in ihrer Gesamtheit - aus gutem Grunde nicht für den Staatsanwalt. Zwar sah der historische Gesetzgeber das fehlende Bedürfnis fur eine gesetzliche Regelung noch in dem Umstand, dass ein voreingenommener Staatsanwalt problemlos im Wege der Dienstaufsicht ersetzt werden könne. 7 Der wahre Grund dürfte jedoch darin liegen, dass die gesamte Konzeption des Strafprozesses darauf ausgerichtet ist, der Staatsanwaltschaft eine gewisse Einseitigkeit in der Wertung zuzugestehen. Dies beruht auf der Erwägung, dass Anknüpfungspunkt des Ermittlungsverfahrens der jeweilige Tatverdacht ist. Bereits ein Anfangsverdacht (§ 152 II StPO) genügt für erste Ermittlungen, bei denen auch die kriminalistische Erfahrung einfließen kann. Hier darf der Staatsanwalt durchaus für den Beschuldigten ungünstige Sachverhaltskonstellationen zugrunde legen. Er ist - wie es Böttcher formuliert hat - zur Initiative gezwungen und muss Verdachtshypothesen entwickeln, wenn Staatsanwaltschaft und Polizei Ermittlungsansätze finden wollen; richtergleiche Zurückhaltung und Distanziertheit kann der Staatsanwalt nur mit erheblichen Einschränkungen praktizieren. 8 Der Grundsatz in dubio pro reo gilt nicht im Ermittlungsverfahren. 9 Und die Staatsanwaltschaft verstößt nicht gegen die Unschuldsvermutung (Art. 6 II MRK), wenn sie davon ausgeht, dass der Beschuldigte überführt werden wird. Dies zeigt schon ein Blick auf § 160 III StPO, wonach die Staatsanwaltschaft auch Umstände zu ermitteln hat, die für die Bestimmung der Rechtsfolgen der 7 8 9
Hahn Materialien zur StPO , Bd. 1, 1879, S. 93. FS Roxin, S. 1338. Meyer-Goßner StPO, 49. Aufl. (2006) § 170 Rn. 1.
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Tat von Bedeutung sind (z.B. hinsichtlich §§ 46, 47, 56 StGB) 10 . Dies macht nur Sinn, wenn die Staatsanwaltschaft nach dem jeweiligen Stand der Ermittlungen davon überzeugt ist, dass der Beschuldigte die rechtwidrige Tat auch begangen hat. Für die Anklage reicht ein hinreichender Tatverdacht (§ 170 I StPO), keinesfalls ist Gewissheit erforderlich. Und im Hauptverfahren schließlich verliest der Staatsanwalt den Anklagesatz und bringt damit zum Ausdruck, dass er dem Angeklagten ein bestimmtes Verhalten vorwirft, während das Gesetz ihn nicht verpflichtet, auch etwaige entlastende Umstände darzulegen. 11 Aus alledem folgt, dass sich eine umfassende Analogie zu den Ausschließungs- und Befangenheitsvorschriften der §§22 ff. StPO zunächst verbietet. Zum einen fehlt es bereits insoweit an der planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes; zum anderen ist die Situation des Staatsanwalts mit der des Richters nicht von vorneherein vergleichbar. Vielmehr ist jeweils im Einzelfall zu prüfen, welche Ausschließungs- bzw. Befangenheitsgründe auf den Staatsanwalt übertragbar sind. Der Maßstab dafür dürfte mit Beulke sein, ob der Staatsanwalt - aus Sicht eines objektiven Beobachters - ausschließlich zu Lasten oder zu Gunsten des Beschuldigten agiert und zu einer objektiven Würdigung der Ermittlungsergebnisse nicht mehr fähig bzw. bereit ist.12 Dies liegt etwa dann auf der Hand, wenn der Staatsanwalt durch die Straftat selbst verletzt ist (§ 22 Nr. 1 StPO) oder mit dem/der Beschuldigten verheiratet bzw. verwandt ist (§ 22 Nrn. 2 und 3 StPO). Entsprechendes gilt auch für die weiteren in § 22 Nr. 2 StPO aufgeführten Näheverhältnisse. 13 Dass der Richter an der Sache nicht mitwirken darf, in der er selbst Beschuldigter oder Täter ist, ist in § 22 StPO nur deshalb nicht geregelt, weil es sich von selbst versteht; 14 dies gilt entsprechend für den Staatsanwalt. Auf der anderen Seite kann die frühere Tätigkeit als Staatsanwalt oder Polizeibeamter (§§ 22 Nr. 4 1. und 2. Alt, 23 StPO) in der Sache einen Aus-
10
Meyer-Goßner StPO § 160 Rn. 17. Ähnlich Beulke Strafprozessrecht, 8. Aufl. (2005), Rn. 93; Hilgendorf StV 1996, 50/51 f.; für strikte Neutralität aber offenbar SK-Wohlers § 145 GVG Rn. 23. 12 Beulke Strafprozessrecht, Rn. 93; ähnlich, auf den Verdacht einer eklatanten bzw. planmäßigen Rechtsverletzung abstellend Pawlik NStZ 1995, 309/311; vgl. femer LG Mönchengladbach JR 1987, 303/305; Bruns JR 1980, 397/398; Frisch FS Bruns (1978), S. 385/405 f.; Kuhlmann DRiZ 1976, 11/16; Wendisch FS Schäfer (1980), S. 243/259; Hackner Der befangene Staatsanwalt im deutschen Strafverfahrensrecht (1995), S. 99; Schairer Der befangene Staatsanwalt (1983), S. 130 ff.; Tolksdorf Mitwirkungsverbot für den befangenen Staatsanwalt (1989), S. 87. 13 Insoweit unstr; vgl. Meyer-Goßner StPO Vor § 22 Rn. 3; K K - P f e i f f e r StPO, 5. Aufl. (2003) § 22 Rn. 16; Frisch FS Bruns, S. 399; Wendisch FS Schäfer, S. 252; Pawlik NStZ 1995, 309/311; Schairer (o. Fn. 12) S. 61 ff.; Tolksdorf (o. Fn. 12) S. 87. 14 Meyer-Goßner StPO § 22 Rn. 3. 11
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schluss nicht rechtfertigen.15 Die Ermittlungsarbeit ist ureigene Aufgabe von Staatsanwaltschaft und Polizei; die Vertretung der eigenen Anklage in der Hauptverhandlung (wie wohl nur in Fällen schwerer Kriminalität üblich) deren konsequente Fortsetzung; dies trägt - anders als beim Richter gerade keine Gefahr mangelnder Objektivität in sich. Anders als bei § 23 StPO fuhrt die vorherige Mitwirkung als Staatsanwalt nicht zu einem Ausschluss des Staatsanwalts in der nächsten Instanz oder bei einer Wiederaufnahme 16 . Denn der Ausschließungsgrund des § 23 StPO liegt darin begründet, dass der Richter in der nächsten Instanz nicht mehr unbefangen über seine eigene Entscheidung urteilen kann. Für den Staatsanwalt stellt sich dieser Konflikt schon deshalb nicht in dieser Schärfe, weil er - anders als der Richter - gerade keine die Instanz abschließende Entscheidung trifft. Umgekehrt allerdings ist der Staatsanwalt im Rechtsmittelverfahren dann ausgeschlossen, wenn sich das Rechtsmittel gegen eine Entscheidung richtet, an der er als erkennender Richter mitgewirkt hat.17 Soweit die Staatsanwaltschaft das Rechtsmittel eingelegt hat, liegt auf der Hand, dass der frühere Richter nunmehr als Staatsanwalt sich gegen seine eigene Entscheidung wenden müsste; aber auch im Falle der Einlegung des Rechtsmittels nur durch den Angeklagten oder Nebenkläger kann der Staatsanwalt seine eigene frühere Entscheidung nicht unbefangen würdigen. Ebenso ist die Frage zu beurteilen, ob ein Ausschlussgrund dann vorliegt, wenn der Staatsanwalt in der Sache als Anwalt des Verletzten tätig gewesen ist (§ 22 Nr. 4 3. Alt. StPO). Da es sich dabei - trotz der Zuordnung des Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege - um eine einseitige Interessenvertretung zu Gunsten des Opfers handelt, dürfte eine analoge Anwendung nahe liegen.18 Denn auch insoweit kann der Staatsanwalt der Sache nicht mehr unvoreingenommen gegenüber stehen. Schwer vereinbar wäre es mit der Rolle des Anklägers auch, wenn der Staatsanwalt früher in der Sache Verteidiger des Beschuldigten war (§ 22 Nr. 4 4. Alt. StPO).19 Denn dann hätte der Staatsanwalt Kenntnis vom Verteidigungskonzept; ein solcher
15
SKJStPO-Rudolphi Vor § 22 Rn. 26; SK-Wohlers § 145 GVG Rn. 16; Dose NJW 1978, 349 f.; Frisch FS Bruns, S. 401; Pawlik NStZ 1995, 309/313; Pfeiffer FS Rebmann (1989), S. 359/372; Schneider NStZ 1994, 457/459; Wendisch FS Schäfer, S. 253, 257. 16 Wie Fn. vorher; aA allerdings für die Wiederaufnahme Schairer (o. Fn. 12) S. 73 ff.; Frisch FS Bruns, S. 400. 17 OLG Stuttgart NJW 1974, 1394/1395 f.; SKJStPO-Rudolphi Vor § 22 Rn 27; SK-Wohlers § 145 GVG Rn. 17; Frisch FS Bruns, S. 400; Pfeiffer FS Rebmann, S. 372; Wendisch FS Schäfer, S. 256; offen gelassen von BayObLG GA 1983, 327/328; aA für die erneute Hauptverhandlung bei Zurückverweisung durch das Revisionsgericht BGH NStZ 1991, 595; zust. K K - P f e i f f e r StPO § 22 Rn. 16b. 18 SK-Wohlers § 145 GVG Rn. 15 mwN. 19 SK -Wohlers § 145 GVG Rn. 15 mwN.
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bewusster Rollentausch wäre ein Verstoß gegen die Waffengleichheit und das faire Verfahren. Bisher am ausführlichsten wird in der Rechtsprechung20 die Frage behandelt, ob der Staatsanwalt entsprechend § 22 Nr. 5 StPO ausgeschlossen ist, wenn er als Zeuge oder Sachverständiger vernommen ist. Besonders die Behandlung des Problems des sog. Zeugenstaatsanwalts hat nach anfänglichen Schwankungen nunmehr zu einer klareren Linie in der Rechtsprechung geführt. Entscheidend ist, ob der Staatsanwalt im Schlussplädoyer seine eigene Zeugenaussage zu würdigen hat. So liegt es nahe, etwa die Würdigung seiner Aussage z.B. über den Inhalt von Angaben, welche ein Mitangeklagter in einer früheren Hauptverhandlung über einen anderen gemacht hatte, einem anderen Staatsanwalt zu überlassen,21 während der über lediglich technische Vorgänge oder sonstige unbedeutende Nebenfragen vernommene Staatsanwalt hierzu in seinem Schlussplädoyer durchaus selbst Stellung beziehen kann bzw sich auch einer Äußerung gänzlich enthalten kann 22 . Hintergrund dieser Rechtsprechung dürfte die Überlegung sein, der Verteidigung die theoretische Möglichkeit zu nehmen, mit Hilfe geeigneter Beweisanträge gerade den mit der Sache befassten und somit besonders gut eingearbeiteten Anklagevertreter aus dem Verfahren „herauszuschießen".23 Dieser Rechtsprechung ist zuzustimmen.24 Sie entspricht den unterschiedlichen Aufgaben und Verfahrensrollen von Richter und Staatsanwalt.25 Im Unterschied zu den in §§ 22, 23 StPO genannten Ausschließungsgründen setzt eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit zwingend einen entsprechenden Antrag voraus. Allerdings lässt § 24 I StPO auch beim „ausgeschlossenen" Richter einen Ablehnungsantrag zu. Dies lässt den Schluss zu, dass die Ausschließungsgründe lediglich konkrete Befangenheitsgründe normieren, bei denen aufgrund der Wertung des Gesetzgebers eine Einzelfallprüfung nicht erforderlich ist und der Richter somit kraft Gesetzes ausgeschlossen ist. Daraus folgt aber wiederum für den „befangenen" Staatsanwalt, dass auch dieser Ablehnungsgrund grundsätzlich heran20 BGHSt 14, 265; 21, 85; NStZ 1983, 135; 1989, 583; 1994, 194; StV 1989, 240; NStZ-RR 2001, 107. 21 So bei BGH NStZ 1983, 135. 22 BGH NStZ-RR 2001, 107. 23 BGH NStZ 1989, 583; Beulke Strafprozessrecht, Rn. 95; Pawlik NStZ 1995, 309/312; Schneider NStZ 1994, 457/458. 24 Meyer-Goßner StPO Vor § 48 Rn 17; SKJStPO-Rogall § 48 Rn. 46 ff insb. 51; Beulke Strafprozessrecht, Rn. 95; Pawlik NStZ 1995, 309/313; eingehend Schneider NStZ 1994, 457 ff; aA AK-StPO-Kühne (1988), vor § 48 Rn. 15; Müller-Gabriel StV 1991, 235; Hanack JZ 1971, 89/91; Schlächter Das Strafverfahren, 2. Aufl. (1983), Rn. 66.1: Staatsanwalt ist grundsätzlich ausgeschlossen. 25 Überzeugend Pawlik NStZ 1995, 309/312.
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gezogen werden kann. Berücksichtigt man weiter, dass die in § 160 II StPO angesprochene Objektivität erst ein rechtsstaatliches und fairen Strafverfahren garantiert, erscheint dies sogar zwingend. Auf der anderen Seite wird das bereits erwähnte Zugeständnis, keine absolute Neutralität wahren zu müssen, dazu führen müssen, dass eine Besorgnis der Befangenheit nur in besonders gelagerten Einzelfällen schwerer Verletzungen der Neutralitätspflicht in Betracht kommen wird.26 Soweit dagegen eingewandt wird, dass es hierfür keine hinreichenden Beurteilungsmaßstäbe gäbe,27 blieb es dem Jubilar vorbehalten, hier weitere entscheidende Kriterien aufzuzeigen. Danach liegt ein Befangenheitsgrund vor, wenn der Staatsanwalt sich an der Aufklärung nahe liegender Entlastungsmomente nachhaltig desinteressiert zeigt oder diese gar vereitelt, wenn er ungerührt eine publizistische Vorverurteilung fordert oder wenn er die Ermittlungen bewusst verschleppt. 28 Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen.
III. Zum subjektiv-öffentliches Recht des Beschuldigten Weitgehende Einigkeit besteht heute darin, aus welchen Vorschriften sich ein subjektiv-öffentliches Recht auf Ablösung eines „disqualifizierten" Staatsanwalts jedenfalls nicht ableiten lässt. Ausscheiden müssen hierfür etwaige landesgesetzliche Regelungen. Diese sind - soweit sie Strafprozessrecht regeln - schon im Hinblick auf § 6 EGStPO und die damit verbundene Gesetzgebungskompetenz des Bundes verfassungswidrig und können jedenfalls außerhalb der betroffenen Länder keine Wirkung entfalten;29 soweit ihnen „Richtlinienqualität" zugeschrieben wird, ist dies zur dogmatischen Begründung eines gesetzlichen Anspruchs untauglich. Auch § 145 GVG kommt nicht in Betracht. Seiner Stellung im Gesetz und seinem Sinn und Zweck gemäß regelt diese Norm nur die innere Organisation der Staatsanwaltschaft, d. h. die Pflichten und Rechte der Staatsanwälte untereinander. Damit hat der Beschuldigte daraus keinen Rechtsanspruch auf Substitution oder Devolution.30
26 Wie hier Böttcher FS Roxin, S. 1337 f.; Bruns JR 1979, 32; Hilgendorf StV 1996, 50/52; Wendisch FS Schäfer, S. 259; aA SKJStPO-Rudolphi Vor § 22 Rn 28; Beispiel für Befangenheit: LG Bad Kreuznach StV 1993, 629/636. 27 Meyer-Goßner StPO Vor § 22 Rn. 7. 28 FS Roxin, S. 1338; vgl. femer Schairer (o. Fn. 12) S. 107 ff; Schedel Ausschließung und Ablehnung des befangenen oder befangen erscheinenden Staatsanwalts (1984), S. 175 ff. 29 Böttcher FS Roxin, S. 1334 mwN in Fn. 10. 30 OLG Hamm NJW 1969, 808; OLG Karlsruhe MDR 1974, 423; OLG Schleswig SchlHA 1983, 106; LG Köln NStZ 1985, 230/231 m.Anm. Wendisch-, LR-Wendisch StPO Vor § 22 Rn
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Der Anspruch auf Ablösung des Staatsanwalts kann auch nicht aus § 160 II StPO abgeleitet werden. Denn diese Norm ist nur dann verletzt, wenn die mangelnde Objektivität tatsächlich vorliegt, nicht aber - und das sind die zahlreicheren Fälle - wenn die Gefahr mangelnder Objektivität gegeben ist.31 Die Ausführungen zu den Ausschließungs- und Ablehnungsgründen haben aber auch gezeigt, dass das subjektiv-öffentliche Recht auf Ablehnung nicht im Wege der lückenfüllenden Rechtsfortbildung aus einer Analogie zu §§22 ff. StPO abgeleitet kann.32 Dafür sind die Unterschiede zu erheblich. Der zugrunde liegende Rechtsgedanke, die Mitwirkung eines parteiischen Richters stelle eine Gefahr für die wahre und gerechte Urteilsfindung dar, gilt nicht im gleichen Maße für die Mitwirkung eines parteiischen Staatsanwalts. Hier steht eben in der Regel gerade die richterliche Entscheidung als Korrektiv davor. Schon mehr spricht dafür, die dogmatische Begründung des subjektivöffentlichen Rechts in einer Analogie zu den §§ bzw. Art. 20 ff. VwVfG zu sehen, die die Ausschließung und Ablehnung von Verwaltungsbeamten regeln (wie es etwa unser Jubilar letztlich vertritt).33 Denn Verwaltungsbeamte sind nicht mit Richtern vergleichbar, schon eher mit Staatsanwälten. Dennoch findet diese Vergleichbarkeit ihre Grenze darin, dass die Stellung der Staatsanwaltschaft im Gefüge der Gewaltenteilung zwischen Rechtspflege und Exekutive anzusiedeln ist. Gerade die einer Richterstellung angenäherten weit reichenden Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153 ff., 374 StPO legen eine deutliche Zuordnung zur Rechtspflege nahe. Aufgrund dieser Sonderstellung möchte ich daran festhalten, die dogmatische Begründung im Anspruch auf ein rechtstaatliches (Art. 2 I iVm 20 III GG) und faires (Art. 6 I MRK) Strafverfahren zu sehen,34 da - wie unter II. anfangs dargelegt - nur eine der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete Staatsanwaltschaft ein solches Strafverfahren garantieren kann.35
10; Meyer-Goßner StPO § 145 Rn. 6; Arloth NJW 1983, 207; Bruns JR 1980, 397/400; Wendisch FS Schäfer, S. 264; a.A. Bücken NJW 1970, 847 f. 31 Frisch FS Bruns, S. 390; Wendisch FS Schäfer, S. 249. 32 So aber Frisch FS Bruns S. 391 f. 33 FS Roxin, S. 1335 ff.; im Anschluss an Reinhardt Der Ausschluß und die Ablehnung des befangen erscheinenden Staatsanwalts (1997), S. 151 ff. 34 NJW 1983, 207/208 f.; ebenso SK-Wohlers § 145 GVG Rn 12; Joos NJW 1981, 100/101; Hilgendorf StV 1996, 50/51 f.; E.Müller JuS 1989, 311; Hackner (o. Fn. 12) S. 68 ff., 113 ff.; dogmatisch grundlegend Pawlik NStZ 1995, 309/310; offen gelassen von BVerfG JR 1979, 29 m. Anm. Bruns; BGH NJW 1980, 845; krit. Frisch FS Bruns, S. 391. 35 Letztlich sind auch die Stellungen von Staatsanwalt und Verteidiger nicht vergleichbar, so dass eine (zusätzliche) Analogie zu §§ 138a ff. StPO - wie sie Krey Strafverfahrensrecht (Bd. I, 1988), Rn. 419; ders. JA 1985, 511/513, befürwortet - eher fern liegt.
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Gegen diese Betrachtungsweise wird eingewandt, das faire Verfahren sei zu unbestimmt, um daraus konkrete Rechte - hier auf Ablösung des Staatsanwalts - abzuleiten.36 Richtig daran ist, dass in der Tat die Konturierung dieses Rechtsbegriffs noch nicht abschließend gelungen ist. Gerade die Rechtsprechung hat hierzu aber schon Beachtliches geleistet und insoweit Fallgruppen herausgearbeitet.37 Und schließlich ist nicht einzusehen, warum die Mitwirkung eines „disqualifizierten" Staatsanwalts z.B. nach seiner Zeugenvernehmung im Einzelfall die Revision zu begründen vermag, nicht aber sonst eine Rechtsverletzung darstellen soll.38
IV. Zum gerichtlichen Verfahren Wer also ein subjektiv-öffentliches Recht annimmt und den Grund hierfür in einer Grundrechtsverletzung sieht, für den stellt sich im Hinblick auf Art. 19 IV GG nur noch die Frage, welche Rechtsbehelfe zur Durchsetzung des Anspruchs auf Ablösung eines „disqualifizierten" Staatsanwalts in Betracht kommen. 39 Dabei ist der jeweilige Stand des Verfahrens maßgebend, weil die Rechtsschutzmöglichkeiten in den verschiedenen Verfahrenstadien unterschiedlich ausgestaltet sind. 1. Im Ermittlungsverfahren besteht gegen Anordnungen und Maßnahmen der Staatsanwaltschaft grundsätzlich kein Rechtsschutz. So kann die Einleitung und Durchführung eines Ermittlungsverfahrens nicht angefochten werden, auch nicht nach §§ 23 ff. EGGVG, da kein Justizverwaltungsakt gegeben ist, sondern in der Regel Prozesshandlungen vorliegen.40 Bei Grundrechtseingriffen fordert aber Art. 19 IV GG effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Für bestimmte Eingriffe sieht die StPO eine gerichtliche Überprüfung vor: §§ 98 II 2, lOOd VI, 1 l i e II 3, 128, 161a III, 163 III. Dabei ist heute nahezu unstreitig, dass § 98 II 2 StPO auch in denjenigen Fällen analog anzuwenden ist, in denen Staatsanwaltschaft und Polizei bei Gefahr im Verzug anstelle des Gerichts handeln (z.B. §§ 81a, 81c, 100, 100b, 105 StPO). Handelt die Staatsanwaltschaft aufgrund eigener Kompetenz (z.B. §§ 81b l.Alt., 131, 163b StPO), gewährt die hM Rechtsschutz 36
So OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 81. Vgl. dazu Beulke Strafprozessrecht, Rn. 28 mwN; krit, inzwischen aber wohl überholt Heubel Der fair trial - ein Grundsatz des Strafverfahrens?, 1981. 38 So Roxin Strafverfahrensrecht 25. Aufl. (1998), § 10 Rn. 13. 39 Wohlers GA 2006, 403/404; insoweit Aufgabe der Bedenken in NJW 1983, 207/210 unter IV.; allein das Belegen mit Beweisverwertungsverboten stellt keinen ausreichenden Rechtsschutz im Hinblick auf Art. 19 IV GG dar. 37
40 Vgl. BVerfG NStZ 1984, 228; Meyer-Goßner recht, Rn. 321.
EGGVG § 23 Rn. 9; Beulke Strafprozess-
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ebenfalls über die - doppelte - analoge Anwendung des § 98 II 2 StPO und nicht über §§ 23 ff EGGVG.41 Im Falle eines ausgeschlossen oder abgelehnten Staatsanwalts liegt es daher nahe, in Anlehnung an diesen Rechtsgedanken ebenfalls § 98 II 2 StPO und nicht § § 2 3 ff. EGGVG 42 anzuwenden. Zusätzlich lässt sich auch eine Analogie zu § 27 III StPO bilden, der auch für den Ermittlungsrichter beim Amtsgericht gilt.43 Vor allem zwei Argumentationslinien werden gegen eine solche Analogie ins Feld gefuhrt: Erstens lasse sich die mit einer Fremdkontrolle verbundenen Analogie zu §§ 22 ff. StPO nur schwer mit dem auf Selbstkontrolle angelegten Verfahren der §§ 26 ff. StPO vereinbaren.44 Dieser Einwand scheint mir leicht widerlegbar: Das Hauptanwendungsgebiet der § § 2 2 ff. StPO liegt zwar in der Ablehnung von Richtern, erfasst aber darüber hinaus weitere Gerichtspersonen (§ 31 StPO) und vor allem Sachverständige (§ 74 StPO) sowie Dolmetscher (§ 191 GVG). Zweitens trage die Überprüfung durch einen mit der Sache bisher nicht befassten Strafsenat dem in § 150 GVG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft besser Rechnung als eine Überprüfung durch den Ermittlungsrichter im Vorverfahren bzw. dem erkennenden Gericht in der Hauptverhandlung. Indes zieht auch dieser Einwand nicht: Wenn der Ermittlungsrichter entsprechend § 98 II 2 StPO die Überprüfungskompetenz bei zum Teil schwer wiegenden Grundrechtseingriffen hat, dann ist es nur konsequent, ihm auch die Entscheidung über die Ablösung des Staatsanwalts zuzubilligen. Im Übrigen stellt doch die Sachnähe des Ermittlungsrichter zum laufenden Ermittlungsverfahren eher ein Argument für als gegen dessen Entscheidungskompetenz dar.45 Eine Einschränkung ist indes angebracht: Soweit im Vordergrund die Entscheidung über eine konkrete grundrechtsrelevante Ermittlungsmaß-
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BGH NJW 1998, 3653 für § 127 II StPO; Roxin Strafverfahrensrecht § 29 Rn. 8; vgl. auch Meyer-Goßner StPO § 81b Rn. 21; Beulke Strafprozessrecht, Rn. 323. 42 So aber SIC -Wohlers § 145 GVG Rn. 31; ders. GA 2006, 403 ff.; Roxin StrafVerfahrensrecht § 10 Rn. 13; Bottke JA 1980, 718/720; ders. StV 1986, 120/123; Buckert NJW 1970, 847; Hilgendorf SN 1996, 50/53 ff.; für den Fall der Willkür, der bei Befangenheit nahe liege, auch Böttcher FS Roxin, S. 1344. 43 Meyer-Goßner StPO § 27 Rn. 7. 44 Pawlik NStZ 1995, 309/314; Wohlers GA 2006, 403/405. 45 Bedenken daher auch gegen den Vorschlag von Frisch (FS Bruns, S. 413), eine Kammer am Sitz der Staatsanwaltschaft mit der Nachprüfung zu betrauen; diese wäre erst Beschwerdeinstanz. Ebenso gegen den Vorschlag von Kuhlmann (DRiZ 1976, 11/14), der wohl das erkennende Gericht als zuständig ansieht. Für ein rein staatsanwaltschaftliches Verfahren ohne richterliche Kontrolle Schairer (o. Fn. 12) S. 165 ff.
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nähme steht, hat natürlich dieses Rechtsmittel Vorrang. 46 Denn oftmals wird hinter dem Antrag auf Ablösung eines befangenen Staatsanwalts die Beschwerde über eine konkrete Ermittlungsmaßnahme stehen, die für dessen Parteilichkeit angeführt wird. Und dies führt zu einem letzten Gesichtspunkt: Problematisch werden zumeist nur die Fälle der Besorgnis der Befangenheit nach § 24 StPO sein, nicht die der Ausschließungsgründe nach § 22 StPO, soweit diese anzuerkennen sind (vgl. oben II.). Dabei gilt hier besonders, dass der Staatsanwalt nicht zu absoluter Neutralität verpflichtet ist (dazu oben I.). 2. In der Hauptverhandlung stellt sich die Situation zunächst anders dar. Ausgangspunkt ist auch hier die Frage, welche Rechtsbehelfe bei einer Grundrechtsverletzung zur Verfügung stehen. Grundsätzlich ist das die Revision. In Rechtsprechung und Literatur ist demzufolge anerkannt, dass in der Mitwirkung eines zu Recht abgelehnten Staatsanwalts in der Regel ein Revisionsgrund im Sinne von § 337 StPO liegt. 47 Konsequenter- und richtigerweise ist dabei nicht mehr zwischen Ausschließungs- und Ablehnungsgründen zu differenzieren, 48 weil Maßstab insoweit nur das Vorliegen einer (Grund-)Rechtsverletzung sein kann, die in beiden Fällen gegeben ist. Gegen eine richterliche Kontrolle nach § § 2 3 ff. EGGVG 4 9 spricht, dass während des laufenden Hauptverfahren eine weitere, bisher mit dem Verfahren nicht befasste gerichtliche Instanz, das OLG, zusätzlich involviert wird. Dass dies zu Verzögerungen führen muss, liegt auf der Hand, selbst wenn zumindest insoweit wieder § § 2 5 und 29 StPO entsprechend herangezogen werden. Nicht nur deshalb liegt es daher näher (und entspricht auch dem in § 23 III EGGVG enthaltenen Subsidiaritätsprinzip), insoweit insgesamt das Ver-
46 In diesem Sinne im Grundsatz zutreffend OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 81: Soweit der Staatsanwalt trotz der erdrückenden Beweislage keine Anklage erhebt und der Verletzte darin die Befangenheit sieht, steht hierfür als einschlägiger Rechtsbehelf das Klageerzwingungsverfahren nach §§ 172 ff. StPO zur Verfugung; für den Antrag auf Ablösung des Staatsanwalts fehlt das Rechtsschutzbedürfnis. 47 Nachweise aus der Rspr. Fn. 20. Aus der Lit: SK-Wohlers § 145 GVG Rn. 25. 48 Beulke Strafprozessrecht, Rn. 97; aA Meyer-Goßner StPO Vor § 22 Rn 7; Kissel/Mayer GVG 4. Aufl. (2005) § 145 Rn. 8; Pfeiffer FS Rebmann, S. 375; Krey Strafverfahrensrecht, Rn. 448; ders. JA 1985, 511/517; dagegen überzeugend Pawlik NStZ 1995, 309/315. 49 Hierfür aber die in Fn. 42 Genannten. Insoweit besteht dann kein Unterschied zwischen dem Ermittlungs- und dem Hauptverfahren. Die Revision genügt jedenfalls in beiden Fällen nicht dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes. Für das Ermittlungsverfahren folgt dies bereits daraus, dass ein Verstoß gegen das faire Verfahren, der sich in der Hauptverhandlung nicht fortsetzt (z.B. durch ein Beweisverwertungsverbot), mangels Kausalität nicht mit der Revision gerügt werden kann; vgl. Frisch FS Bruns S. 411; Wohlers GA 2006, 403/405.
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fahren nach § § 2 6 ff. StPO entsprechend anzuwenden.50 Dagegen wird zunächst vorgebracht, dass eine Analogie angesichts der vom Gesetzgeber ja erkannten Regelungslücke nicht in Betracht komme.51 Allerdings war der historische Gesetzgeber aus heutiger Sicht unter Geltung des Art. 19 IV GG eben der irrigen52 Auffassung, die Regelungen der §§ 143 ff GVG würden ausreichen. Damit geht aber auch der historische Gesetzgeber davon aus, dass ein Staatsanwalt in materieller Hinsicht disqualifiziert sein kann.53 Insoweit muss aber diese Lücke heute bis zu einer gesetzlichen Regelung54 verfassungskonform geschlossen werden. Ein weiterer Einwand besteht darin, dass die Anwendung auf eine unerwünschte Kontrollbefugnis des erkennenden Gerichts über den Staatsanwalt hinaus laufe, die mit § 150 GVG schwer zu vereinbaren sei.55 Dem ist entgegen zu halten, dass auch sonst dem Gericht hinsichtlich etwaiger Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eine solche Befugnis zukommt. So kann das Gericht Verfahrensverstöße im Ermittlungsverfahren mit Verwertungsverboten belegen. Schwerer wiegt der Einwand, wenn die „Disqualifikation" des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung zu Tage tritt (z.B. in Folge einer Zeugenvernehmung). Aber der Angeklagte hat einen Rechtsanspruch auf Einhaltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens. Das Gericht darf kein Urteil erlassen, das wegen Verletzung dieses Prinzips auf eine Verfassungsbeschwerde oder Revision aufgehoben wird. Insoweit hat das Gericht in der Hauptverhandlung über die Einhaltung der Verfahrensordnung und der verfassungsrechtlichen Prinzipien zu wachen. Dies gilt gegenüber allen Verfahrensbeteiligten, nicht zuletzt auch gegenüber sich selbst. So entscheidet das Gericht u. 50 Im Grundsatz Rüping Das Strafverfahren, 3. Aufl. (1997) Rn. 388; Ar loth NJW 1983, 207/209 f; Hilgendorf SN 1996, 50/53; Joos NJW 1981, 100/101; Kuhlmann DRiZ 1976, 11/13 f.; Hackner (o. Fn. 12) S. 175 ff.; Schairer (o. Fn. 12) S. 171 ff.; a.A. OLG Stuttgart NStZ 1992, 98/99; LG Köln NStZ 1985, 230; LG Mönchengladbach JR 1987, 303 m. Anm. Bruns-, LR-Wendisch vor § 22 Rn. 10; SKJStPO-Rudolphi Vor § 22 Rn. 38; Meyer-Goßner StPO Vor § 22 Rn. 3 und 5; K K - P f e i f f e r StPO, § 24 Rn. 13; Tolksdorf (o. Fn. 12) S. 123; insoweit abl. auch Frisch FS Bruns S. 409 und de lege ferenda S. 413 f. 51 So LG Mönchengladbach JR 1987, 303/304; SKJSWO-Rudolphi Vor § 22 Rn. 38; Krey JA 1985,511/515. 52 SK- Wohlers, § 145 GVG Rn. 12; ders. GA 2006,403/404. 53 So Pawlik NStZ 1995, 309/311; bereits Frisch FS Bruns S. 396 f. 54 Insoweit hätte aber auch die vom BMJ in einem nicht weiterverfolgten Referentenentwurf aus dem Jahre 1976 beabsichtigte Einfügung eines neuen § 145a GVG nicht weiter geholfen, da auch insoweit entsprechend den Ausführungen zu § 145 GVG damit kein subjektivöffentliches Recht begründet worden wäre; vgl. Arloth NJW 1983, 207/208. Für eine gesetzliche Regelung auch des Ablehnungsverfahrens LR -Wendisch StPO Vor § 22 Rn. 22; Schairer (o. Fn. 12) S. 159; Hilgendorf StV 1995, 50/55; zu Reformfragen ferner SK -Wohlers § 145 GVG Rn. 33 f. 55 Beulke Strafprozessrecht, Rn. 96; Pawlik NStZ 1995, 309/314; Schedel (o. Fn. 28) S. 101 ff.; Pfeiffer FS Rebmann, S. 366.
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U. auch über ein eigenes Mitglied (vgl. § 27 II StPO). Daher muss das Gericht nicht die Verletzung dieses Prinzips durch die Staatsanwaltschaft hinnehmen und „sehenden Auges" ein von Grund auf revisibles Urteil erlassen 56 . Vielmehr kann es durch Beschluss feststellen, dass die Staatsanwaltschaft nicht mehr ordnungsgemäß vertreten ist. Dagegen wird vorgebracht, dass dem Gericht die Befugnis fehle, den Staatsanwalt zu entfernen; sie wäre auch zwecklos, da dem Gericht die Möglichkeit fehle, einen neuen Staatsanwalt einzusetzen. 57 Daran ist zwar richtig, dass ein Gerichtsbeschluss, der den Ausschluss oder die Ablehnung des Staatsanwalts für begründet erklären würde, nicht die unmittelbare Wirkung eines tatsächlichen Ausschlusses aus dem Verfahren haben würde. Gleichwohl wäre die Staatsanwaltschaft in der Sitzung nicht mehr ordnungsgemäß vertreten. Die Hauptverhandlung müsste bis zur Einsetzung eines neuen Staatsanwalts durch den Dienstvorgesetzten unterbrochen werden. Bei einer Weigerung desselben kann die Hauptverhandlung nicht fortgesetzt werden. Sonst würde ein Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO geschaffen. 58 Wenn der Leiter der Staatsanwaltschaft mit dem entsprechenden Beschluss des Gerichts, wonach die Staatsanwaltschaft im Verfahren nicht mehr ordnungsgemäß vertreten ist, nicht einverstanden ist und den Staatsanwalt nicht ablöst bzw. einen weiteren Staatsanwalt nicht zuordnet, muss allerdings gegen diesen Beschluss eine Beschwerde zulässig sein. 59 Dies würde zwar zu einer durchaus hinnehmbaren gewissen Verfahrensverzögerung fuhren, jedoch den Einwand der unerwünschten und im Hinblick auf § 150 GVG bedenklichen Kontrollbefugnis des erkennenden Gerichts zumindest entkräften. Im Übrigen - und damit schließt sich der Kreis der Ausführungen - dürften solche Fälle in der Praxis eher selten sein. Lediglich in einer gerichtlichen Entscheidung wurde Voreingenommenheit der ermittelnden Staatsanwälte bejaht. 60 Um es mit Böttcher zu formulieren: „Entsprechend skandalöse Fälle lassen sich ausdenken. Praktisch kommen sie nicht vor." 61
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Arloth NJW 1983, 207/210; insoweit auch krit. Beulke Strafprozessrecht, Rn. 97, der die Situation zumindest fur unbefriedigend hält. 57 LR- Wendisch StPO Vor § 22 Rn. 14; ders. FS Schäfer, S. 266. 58 So bereits Verf. NJW 1983, 207/210; im Ergebnis auch Hackner (o. Fn. 12) S. 182: Verfahren kommt zum Stillstand. 59 Insoweit Weiterentwicklung von NJW 1983, 207/210. 60 LG Bad Kreuznach StV 1993, 629/636. 61 FS Roxin, S. 1344.
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V. Fazit Damit lassen sich die vorstehenden Überlegungen wie folgt zusammenfassen: Der Beschuldigte hat ein Recht auf Ablösung eines ausgeschlossenen oder sonst befangenen Staatsanwalts. Dabei sind die Ausschließungsund Ablehnungsgründe restriktiv auszulegen. Im Ermittlungsverfahren wird der Rechtsschutz zunächst durch die verfahrensrechtlichen Rechtsbehelfe gegenüber einzelnen Ermittlungsmaßnahmen insbesondere bei Grundrechtseingriffen hinreichend gewahrt. Für einen darüber hinaus gehenden Rechtsschutz besteht nur in extremen Ausnahmefallen der Besorgnis der Befangenheit ein Bedürfnis. Im Hauptverfahren dagegen reicht die Möglichkeit des Angeklagten, die Beteiligung eines „disqualifizierten" Staatsanwalts lediglich mit der Revision zu rügen, nicht aus. Vielmehr besteht bereits in der Hauptverhandlung die Möglichkeit, das erkennende Gericht anzurufen, das über den Antrag mit Beschluss entscheidet. Für den Fall, dass diesem Antrag statt gegeben wird, hat die Staatsanwaltschaft das Recht zur Beschwerde, über die die nächste Instanz entscheidet. Im Falle der Ablehnung des Antrags durch das erkennende Gericht verbleibt es bei der Rügemöglichkeit über die Revision.
Berücksichtigungsfähigkeit von Protokollberichtigungen nach Eingang der Revisionsbegründung* W E R N E R BEULKE
I. Einzelheiten zum Diskussionsstand 1. Die frühere Rechtslage In Strafsachen ist nach § 271 Abs. 1 StPO ein Protokoll aufzunehmen, in dem der äußere Gang der Hauptverhandlung und die wesentlichen Förmlichkeiten zu beurkunden sind, vgl. § 273 Abs. 1 StPO und die Einhaltung der für die Hauptverhandlung vorgesehenen wesentlichen Förmlichkeiten kann gemäß § 274 S. 1 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden. Die Sitzungsniederschrift entfaltet dabei sowohl eine positive wie auch eine negative Beweiskraft. Diese Beweiskraft wirkt absolut, d. h. sie wirkt so ausschließlich, dass der Inhalt des Protokolls grundsätzlich1 durch andere Beweise weder widerlegt noch ergänzt werden kann 2 . Revisionsrechtlich gelten deshalb Vorgänge, die im Protokoll beurkundet sind als tatsächlich erfolgt. Andererseits gelten auch tatsächlich nicht erfolgte, im Protokoll jedoch irrtümlich dokumentierte Verfahrensfehler als geschehen. Aufgrund der Formstrenge des Revisionsrechts kann dies bekanntlich zur Folge haben, dass ein Urteil wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben ist, der sich tatsächlich gar nicht ereignet hat. Dementsprechend führte auch der Bundesgerichtshof3 schon vor über 50 Jahren aus: „Der in der Niederschrift beurkundete Sachverhalt bildet nach dem Gesetz ohne Rücksicht auf die wirklichen Vorkommnisse in der Hauptverhandlung die Grundlage des Verfahrens."
* Ich danke meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Felix Ruhmannseder für die Durchsicht des Manuskripts. 1 Eine Ausnahme regelt lediglich § 274 S. 2 StPO, wonach gegen den Inhalt des Protokolls der Nachweis der Fälschung zulässig ist; vgl. zu diesen in der Praxis kaum zu führenden Nachweis Gollwitzer Gössel-FS, 2002, 543, 555. 2 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 48. Auflage 2005, § 274 Rn. 3. 3 BGHSt2, 125, 126.
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Werner Beulke
Diese formelle Beweiskraft bezweckt, die Verfahrensbeteiligten in der Revisionsinstanz vor Beweisschwierigkeiten zu bewahren und dem Revisionsgericht die Prüfung von Verfahrensrügen zu erleichtern. Der Verfahrensablauf der Vorinstanzen soll nicht rekonstruiert (sog. Rekonstruktionsverbot) und eine Beweiserhebung im Freibeweis über die tatsächlichen Voraussetzungen von Verfahrensrügen vermieden werden. Die Vorschrift dient damit insbesondere der Vereinfachung und der Entlastung des Revisionsverfahrens.4 Die Beweiskraft des Protokolls entfällt hingegen, soweit sich Meinungsverschiedenheiten zwischen den Urkundspersonen über tatsächliche Vorgänge in der Hauptverhandlung nicht ausräumen lassen und dies im Protokoll vermerkt wurde. Das Gleiche gilt, wenn in der Urkunde inhaltliche Widersprüche oder offensichtliche Lücken vorhanden sind.5 In diesen Fällen ist der tatsächliche Vorgang in der Hauptverhandlung im Wege des Freibeweises zu klären, wofür überwiegend dienstliche Stellungnahmen der Richter, die an der fraglichen Hauptverhandlung teilgenommen haben sowie Stellungnahmen der übrigen Verfahrensbeteiligten herangezogen werden. Textliche Änderungen sind bis zur Fertigstellung des Protokolls (Unterzeichnung der ganzen Niederschrift durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle und des Vorsitzenden, vgl. § 271 Abs. 1 S. 1 StPO) möglich. Sollen aufgenommene Ereignisse nachträglich geändert oder ergänzt werden, muss das Protokoll berichtigt werden. Die Berichtigung eines Protokolls ist auch nach dessen Fertigstellung auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten oder von Amts wegen zulässig, wenn beide Urkundspersonen, also der Vorsitzende und der Urkundsbeamte, in Bezug auf die Unrichtigkeit und der zu berichtigenden Angaben übereinstimmen.6 Bei Einigkeit zwischen beiden Urkundspersonen, dass ein protokollierungsbedürftiger Vorgang sachlich unzutreffend festgehalten worden ist, besteht sogar eine Verpflichtung zur Berichtigung.7 Die Berichtigung des Protokolls ist dabei unbefristet 8 und auch noch nach Rechtskraft des Urteils9 zulässig. Auch einem ordnungsgemäß berichtigten Protokoll kommt (selbstverständlich) die volle Beweiskraft des § 274 StPO zu, die grundsätzlich für und gegen sämtliche Verfahrensbeteiligte eintritt. 4
Vgl. nur Meyer-Goßner StPO, 48. Auflage 2005, § 274 Rn. 2; Tepperwien Meyer-GoßnerFS, 2001,S. 595, 596. 5 Ebenso darf das Protokoll keine äußerlichen Fehler (ζ. B. Rasuren) aufweisen; ausführlich zu der gesamten Problematik Ranft JuS 1994, 785, 787. 6 Vgl. LR -Gollwitzer § 271 Rn. 55, Detter StraFo 2004, 329, 332. 7 Vgl. BGH JZ 1952,281. 8 Vgl. nur BGHSt 1, 259; BGHSt 10, 145, 146 f.; zuvor bereits RGSt 19, 367, 379; RGSt 57, 394, 396. 9 Vgl. LR -Gollwitzer StPO, 25. Auflage 2001, § 271 Rn. 44 m. w. N.
Protokollberichtigungen nach Eingang der Revisionsbegründung
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In einer besonderen Konstellation hat die Rechtsprechung bislang von diesem Grundsatz eine bedeutende Ausnahme gemacht: Demnach darf das Revisionsgericht eine Berichtigung des Protokolls nicht berücksichtigen, wenn durch sie einer bereits erhobenen, zulässigen Verfahrensrüge der Boden entzogen würde 10 . Diese Einschränkung, die auch als „Rügeverkümmerung" bezeichnet wird", hatte das Reichsgericht bereits im 19. Jahrhundert in ständiger Rechtsprechung vertreten12 und wurde durch eine Grundsatzentscheidung der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts vom 13.10.190913 nochmals untermauert; erst mit einem Beschluss des Großen Senats aus dem Jahr 193614 wurde dann die Protokollberichtigung uneingeschränkt zugelassen. Die Rechtsprechung nach 1945 ist schließlich mit einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone 15 zur ursprünglichen Auffassung des Reichsgerichts von 1880 zurückgekehrt. Sie wurde vom Bundesgerichtshof16 später fortgeführt 17 und fand auch im Schrifttum ganz überwiegend Zustimmung.18 Als maßgeblicher Zeitpunkt, von dem ab eine Berichtigung für das Revisionsgericht nicht mehr zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden darf, wird der Eingang der Revisionsbegründung bei Gericht angesehen19, wobei es unbeachtlich ist, ob die Urkundspersonen bei Vornahme der Berichtigung vom Inhalt der Revisionsbegründung Kenntnis hatten 20 . Ebenso
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Dagegen wurde nie in Zweifel gezogen, dass eine Berichtigung im Revisionsverfahren zu Gunsten des Angeklagten ohne jede Einschränkung zu berücksichtigen ist, vgl. Meyer-Goßner StPO, 48. Auflage 2005, § 271 Rn. 26 m. w. N. 11 Vgl. Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Auflage 1998, § 49 Rn. 10; Fahl Rechtsmißbrauch im Strafprozeß, S. 670 m. w. N.; kritisch hinsichtlich der Verwendung dieses Begriffs Jahn/Widmaier JR 2006, 166 Fn. 3. 12 Seit RGSt 2, 76. 13 RGSt 43, 1,3 ff. 14 RGSt 70, 241. 15 OGHSt 1,277, 278 ff. 16 BGHSt 2, 125, 128 f.; 10, 342 (343); 34, 11(12). 17 Vgl. zur Rechtsentwicklung im Einzelnen Tepperwien Meyer-Goßner-FS, 2001, S. 595, 603; LR-Gollwitzer 25. Auflage 2001, § 271, Rn. 55; Ott Die Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls in Strafsachen und das Verbot der Rügeverkümmerung, 1970, S. 45 ff. 18 Vgl. nur Beulke Strafprozessrecht, 9. Auflage 2006, Rn. 564; Dahs Handbuch des Strafverteidigers, 7. Auflage 2005, Rn. 916; Dahs/Dahs Die Revision im Strafprozeß, 6. Auflage 2001, Rn. 489; Fahl Rechtsmißbrauch im Strafprozeß, S. 669; Meyer-Goßner StPO, 48. Auflage 2005, § 271 Rn. 26; Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Auflage 1998, § 49 Rn. 10; Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, 6. Auflage 1998, Rn. 241 -Park StV 2005, 257; ders. StraFo 2004, 335; Fezer NStZ 2002, 272; Ranft JuS 1994, 785, 787;Werner DRiZ 1955, 180, 183; Engelhardt in: KK-StPO, § 271 Rn. 26; Schlüchter/Frister in: SK-StPO, § 271 Rn. 26, § 274 Rn. 16; Tepperwien Meyer-Goßner-FS, 2001, S. 595. 19 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 48. Auflage 2005, § 271 Rn. 26 m. w. N. 20 Vgl. Detter StraFo 2004, 329, 332.
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wenig kommt es darauf an, ob das berichtigte Protokoll in diesem Augenblick schon unterschrieben war oder nicht.21 Gegen die Zulässigkeit einer nachträglichen Protokollberichtigung wird überwiegend angeführt, dass vom Fall vorsätzlicher Protokollfalschung einmal abgesehen, ein Beschwerde führender Angeklagter so gut wie keine rechtliche Möglichkeit habe, eine Berichtigung des Protokolls zu erzwingen. Zum Ausgleich dafür müsse er dann aus Gründen prozessualen Vertrauensschutzes jedenfalls gegen eine nachträgliche Beseitigung einer inzwischen erfolgreich eingelegten Verfahrensrüge gesichert werden. Darüber hinaus wird befürchtet, dass die Sorgfalt bei Fertigung des Protokolls nachlasse, da man dieses notfalls unschwer nachträglich berichtigen könne. Zudem seien angesichts des nachlassenden Erinnerungsvermögens der Urkundspersonen auch Zweifel an der inhaltlichen Zuverlässigkeit nachträglicher Protokollberichtigungen angebracht. Neben diesen Risiken wird schließlich darauf hingewiesen, dass Äußerungen im Freibeweisverfahren der Gefahr von Manipulationen unterliegen.22 2. Der
Kurswechsel
All diese Grundpositionen, die sehr eng mit dem verbunden sind, was wir über Generationen mit dem Revisionsrecht als einem eher formal gehandhabten Rechtsinstitut verbunden haben, das die Einhaltung technisch wirkender Regelungen der materiellen Gerechtigkeit durchaus gleichwertig erachtete - viele Angeklagte können davon zu ihren Lasten ein Lied singen - sollen nun nur noch bedingt gelten. In jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen, dass der BGH dem Angeklagten die scharfe Waffe des Revisionsrechts - so sie denn ausnahmsweise einmal zu seinen Gunsten einsetzbar wäre - vorenthalten möchte, wenn Gerechtigkeitserwägungen gegen sein Obsiegen sprechen. Diese allgemeine Tendenz hat nunmehr auch den Anwendungsbereich des § 274 StPO erreicht. Zunächst äußerte der 2. Senat in einem Beschluss vom 12.1.200523 Zweifel daran, ob die restriktive Handhabung der Möglichkeit einer späteren Protokollberichtigung eigentlich wirklich überzeuge. Es sei eine bedenkliche Konsequenz, des § 274 StPO, dass Tatsachen aufgrund des Protokolls zu vermuten sind, die der wahren Sachlage nicht zu entsprechen brauchen, so dass dadurch unter Umständen ein Widerspruch zu dem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit und dem Revisionsverfahren zugrunde liegende Gedanken der Einzelfallgerech-
21
Vgl. BGHSt 10, 145. Vgl. Park StV 2005, 257, 259, ders. StraFo 2004, 335, 340; siehe hierzu auch Detter StraFo 2004, 329, 333. 23 BGH NStZ 2005, 281. 22
Protokollberichtigungen nach Eingang der Revisionsbegründung
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tigkeit entsteht.24 In einem obiter dictum vertrat der Senat die Auffassung, dass es allein darauf ankomme, ob ein Protokoll den tatsächlichen Verfahrensablauf zutreffend wiedergibt. Sei dies nicht der Fall, solle einer darauf gestützten Verfahrensrüge grundsätzlich der Erfolg versagt sein, wenn das Protokoll (der materiellen Wahrheit) entsprechend geändert werde. Diese Rechtsauffassung wurde vom 1. Strafsenat in einer Entscheidung vom 13.10.200525 zunächst ebenfalls in einem obiter dictum geteilt. In jüngster Zeit fand dann in der Rechtsprechung des BGH der endgültige (?) Durchbruch statt: Weil der 1. Strafsenat des BGH die bisherige Rechtsprechung nunmehr ausdrücklich aufgeben möchte, fragte er bei den anderen Strafsenaten an, ob diese an ihrer Rechtsprechung festhalten. In dem Anfragebeschluss 26 führt er zur Begründung für den Kurswechsel insbesondere an, die inhaltliche Wahrheit gehe der prozessualen Zweckmäßigkeit vor. Offensichtliche Justizfehler müssten korrigiert werden und dürften keineswegs zu unvertretbaren Verfahrensverzögerungen fuhren. Im Übrigen sei kein Anlass gegeben, an der Gewissenhaftigkeit der jeweiligen Urkundspersonen zu zweifeln; diese würden eine nachträgliche Protokollberichtigung gewiss nur dann unterschreiben, wenn sie der Richtigkeit der Korrektur sicher wären, zumal durch die in jüngerer Zeit verschärften Urteilsabsetzungsfristen des § 275 Abs. 1 StPO eben auch gegen die nachlassende Erinnerungskraft der Urkundspersonen vorgesorgt sei.
II. Wertung der Argumente Dass es sich bei der vom BGH angestrebten Kursänderung um keine Regresse handelt, dürfte auf der Hand liegen. Wer im Interesse der Gerechtigkeit gegen eine über hundert Jahre alte Tradition der „inhaltlichen Wahrheit" den Vorrang vor „prozessualer Zweckmäßigkeit" gibt schafft ein neues Revisionsrecht, das auch in vielen anderen, heute noch gar nicht angedachten Detailfragen, neue Antworten bedingen wird. Formale Positionen werden nachhaltig entwertet, angebliche Einzelfallgerechtigkeit zum überragenden Messkriterium hochstilisiert. Es erscheint kaum vorstellbar, wie die von Verteidigerseite immer wieder gerügte formale Handhabung des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO durch die Revisionsgerichte im Lichte dieser Betrachtungsweise noch standhalten kann. Wie oft haben wir gelesen, es könne dahingestellt bleiben, ob ... jedenfalls habe der Revisionsfuhrer den Verfahrensfehler nicht so dargelegt, wie es das Gesetz von ihm verlange. 24 25 26
So bereits BGHSt 36, 358 f. BGH NStZ 2006, 181. BGH NStZ-RR 2006, 112; zuvor bereits BGH NStZ 2006, 181.
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Ganze Bibliotheken von Revisionsliteratur würden zu Makulatur, wenn wir dem Revisionsgericht die umfassende Suche nach inhaltlicher Wahrheit als maßgebliches Kriterium einer erfolgreichen Revision an die Hand gäben. Angesichts derart fundamentaler Konsequenz erscheint es möglich, dass das letzte Wort nicht gesprochen ist. Noch ist die Zeit zum Nachdenken nicht verstrichen. Wir sollten uns deshalb die einzelnen Argumente aus der Nähe betrachten. 1. Erinnerungsfähigkeit
von
Urkundspersonen
Der 1. Strafsenat hebt hervor, dass ein Misstrauen in die Redlichkeit der Urkundspersonen nicht gerechtfertigt sei. Natürlich verdienen die Urkundenbeamten der Geschäftsstelle keinen pauschalen Fälschungsverdacht. Es erscheint jedoch fraglich, ob sich ein Urkundsbeamter dem Berichtigungswunsch des Vorsitzenden auch dann widersetzen wird, wenn er sich selbst nicht mehr genau an den tatsächlichen Geschehensablauf erinnern kann und sich damit automatisch die Frage aufdrängen würde, wie zuverlässig er seiner Protokollierungspflicht nachkomme.27 Diese Situation birgt - ohne dem Urkundsbeamten eine böse Absicht unterstellen zu wollen - die Gefahr, dass sich dieser einer „Scheinerinnerung"28 besinnt, wonach auch im konkreten Fall, sich alles richtig zugetragen haben muss.29 Dem hält der 1. Senat entgegen, dass der Hinweis der nachlassenden Erinnerungskraft aus einer Zeit stamme, als es die Vorschrift über die Urteilsabsetzungsfristen (§ 275 Abs. 1 StPO) noch nicht gegeben habe. Gerade bei Hauptverhandlungen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, sieht die fragliche Vorschrift jedoch eine u. U. deutliche Verlängerung der Urteilsabsetzungsfrist vor, vgl. § 275 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StPO. Auch während dieser Zeit kann folglich die Erinnerung der Urkundspersonen durch anderweitig verhandelte Verfahren überlagert sein. Die Problematik der im Protokoll unzutreffend festgehaltenen Verfahrensabläufe hat sich mit der Regelung des § 226 Abs. 2 StPO sogar noch verschärft. Heute kann der Strafrichter (§ 25 GVG) in der Hauptverhandlung von der Hinzuziehung eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle absehen. Von dieser Möglichkeit wird er - durch eine entsprechende (unanfechtbare!) Entscheidung - zwar wohl nur bei einfachen und nicht umfangreichen Strafsachen Gebrauch machen, weil ihm hiermit eine zusätz-
27 28 29
Vgl. auch Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 168; Park StV 2005, 257, 259. Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 168. Vgl. BGHSt 2, 125, 128 f.
Protokollberichtigungen nach Eingang der Revisionsbegründung
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liehe Aufgabe aufgebürdet wird.30 Da in diesen Fällen für die Erstellung des Protokolls nur eine Person zuständig ist, besteht aber von vornherein die Gefahr, dass hierbei Fehler gemacht werden. Wird ein etwaiger Fehler nun nach Eingang der Revisionsbegründungsschrift vom Vorsitzenden bemerkt, ist allein dessen Erinnerungsvermögen dafür maßgebend, ob der Revisionsangriff gegen „sein" Urteil Erfolg hat oder nicht. Dass dieser Umstand auch unbewusst und ungewollt - seine Erinnerung an den konkreten Verfahrensablauf objektiv unzutreffend beeinflussen und damit zu einer „Erinnerungstäuschung" führen kann, liegt jedenfalls im Bereich des Möglichen.31 Unabhängig davon, ob an der Erstellung des Protokolls eine oder zwei Personen beteiligt sind, entsteht nach außen hin zumindest der Anschein, als habe das Gericht dem Angeklagten die Revisionsmöglichkeit nehmen wollen.32 In einem rechtsstaatlichen Strafverfahren sollte jedoch in jedem Fall bereits der Anschein einer nur zur Ausmanövrierung einer Revisionsbehauptung vorgenommenen Protokollkorrektur vermieden werden.33 Im Übrigen birgt jede Protokollberichtigung die Gefahr in sich, dass sie dem wahren Verfahrenshergang nicht entspricht.34 2. Schaffung einer „Rückversicherung"
nicht förderlich
Als weiteres Argument für die Notwendigkeit eines Kurswechsels wird angeführt, es sei nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, den Tatrichter zu maßregeln. Die Qualität der Sitzungsniederschriften schwanke von Gericht zu Gericht, mit der Rechtsprechung zum Umfang der Beweiskraft nach § 274 StPO habe dies nichts zu tun. Richtigerweise ist mit der Frage nach der Zulässigkeit einer nachträglichen Protokollberichtigung, insbesondere zum Nachteil des Revisionsführers, auch das Problem verbunden, wie stark die Qualität und damit auch die Verlässlichkeit der Hauptverhandlungsprotokolle durch das Revisionsrecht gesteuert werden kann.35 Bei großzügiger Korrekturmöglichkeit können 30 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 48. Auflage 2005, § 226 Rn. 7a; kritisch zu dieser Regelung Sommer StraFo 2004, 295, 297: „Die Protokollierung eines gegen ihn selbst gerichteten Befangenheitsgesuchs wird der Strafrichter nicht in aller bester Erinnerung behalten." 31 Vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 3.5.2006 - Az.: 4 ARs 3/06, unter III. 2. b) der Urteilsgründe - Quelle: juris; Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 168. 32 Vgl. auch Bohne JZ 1957, 588. 33 So völlig zu Recht BGH, Beschluss vom 3.5.2006 - Az.: 4 ARs 3/06, unter III. 1. c) der Urteilsgründe - Quelle: juris; vgl. auch Fahl Rechtsmißbrauch im Strafprozeß, 675; Gollwitzer JR 1980,518,519. 34 Vgl. BGHSt 12, 270,272. 35 Vgl. nur Tepperwien Meyer-Goßner-FS, 2001, 595, 609; ebenso bereits OGHSt 1, 277, 281.
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Werner Beulke
sich die Urkundspersonen darauf verlassen, allfällige Protokollfehler später zu berichtigen. 36 Hinzu kommt, dass die Verantwortlichen unter Umständen erst aufgrund der Revisionsbegründungsschrift (die gemäß § 341 Abs. 1 StPO beim iudex a quo einzureichen ist) auf entsprechende Fehler aufmerksam gemacht werden. Dies könnte im Einzelfall die Sicherheit vermitteln, stets die eigene Nachlässigkeit bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Revisionsgerichts noch ausbessern zu können. 37 Eine derartige „Rückversicherung" (letztlich) zu Ungunsten des Angeklagten kann insbesondere vor dem Hintergrund des strengen Formalismus des Revisionsrechts kaum überzeugen und lässt sich im Übrigen auch nicht mit dem Grundsatz der Waffengleichheit vereinbaren. Bekanntlich steht dem Beschwerdeführer nur eine verhältnismäßig kurze Frist für die Revisionsbegründung zur Verfügung, die im Falle der Verfahrensrüge aufgrund der strengen Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO ohnehin eine große Hürde zu nehmen hat. 38 Für die Frage, ob und in welcher Form er Verfahrensrügen zu erheben hat, muss er sich daher auf die bei den Akten befindliche Niederschrift verlassen können. Müsste der Revisionsführer auf eine (ggf. von ihm selbst angeregte) Berichtigung des Protokolls warten, würde er de lege lata Gefahr laufen, die Revisionsbegründungsfrist zu versäumen und sich damit jeder Anfechtungsmöglichkeit eines (auch im Übrigen) unzutreffenden Urteils zu berauben. 39 Dieses Ergebnis kann nicht überzeugen. Gemäß § 273 Abs. 1 S. 1 StPO muss das Protokoll „den Gang und die Ergebnisse der Hauptverhandlung im Wesentlichen wiedergeben und die Beobachtung aller wesentlichen Förmlichkeiten ersichtlich machen." Diesem gesetzlichen Anspruch haben die Urkundspersonen mit besonderer Sorgfalt zu entsprechen 40 , und zwar unabhängig davon, ob, wann, von wem und mit welcher Begründung ein Urteil angefochten wird. 41 Wird nun eine wesentliche Förmlichkeit nicht protokolliert, obwohl sie tatsächlich stattgefunden hat, so sollte dieser Umstand nicht zu Lasten des Revisionsführers gehen. Den Urkundspersonen steht ausreichend Zeit 42 zur Verfügung, für 36
Ebenso Jahn/Widmaier JR 2006, 166 f.; Park StV 2005, 257, 259; Tepperwien MeyerGoßner-FS, 2001, 595,609. 37 Moßbacher JuS 2006, 39, 42, weist daher völlig zu Recht daraufhin, dass es bei der Möglichkeit der Protokollberichtigung bis zum Abschluss des Revisionsverfahrens insbesondere zu einem merkwürdigen Wettlauf zwischen Berichtigungsverfahren und Entscheidung des Revisionsgerichts käme. 38 Zu den Erfolgsaussichten einer Verfahrensrüge, Nack NStZ 1997, 153. 39 Vgl. auch BGHSt 2, 125, 127; RGSt43, 1, 9. 40 Vgl. hierzu auch Nr. 144 Abs. 1 RiStBV. 41 Vgl. Gollwitzer JR 1980, 518. 42 Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Änderung im Revisionsverfahren bis zum Eingang der Revisionsbegründungsschrift in jedem Fall zu berücksichtigen ist; a. A.
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den zutreffenden Protokollinhalt Sorge zu tragen. Bei der Umsetzung des gesetzlichen Auftrags haben sie auch die geeigneten Mittel fur eine ordnungsgemäße und zutreffende Protokollierung heranzuziehen. Im Zeitalter des Computers mit der Möglichkeit des Einsatzes bestimmter „Bausteine", kann die Schaffung eines „wahren" und „revisionssicheren" Protokolls eigentlich nicht allzu schwierig sein.
3. Vergleich zu § 164 Abs. 1 StPO Im Schrifttum haben schließlich Schäfer und Gollwitzer eine Parallele zur zivilprozessualen Regelung gezogen. Man könne erwägen, ob für das Strafverfahren künftig dasselbe gelten solle wie im Zivilverfahren.43 Dort ist es gemäß § 164 Abs. 1 ZPO zulässig, Fehler des Protokolls jederzeit zu berichtigen, und zwar auch dann, wenn dadurch einer auf die ursprüngliche Falschprotokollierung gestützten Verfahrensrüge im Nachhinein der Boden entzogen wird.44 Im Vergleich zur Regelung in der ZPO, die eine jederzeitige Berichtigung zulässt, spricht jedoch der insoweit indifferente Wortlaut des § 274 Abs. 1 StPO weder für die eine oder die andere Lösung.45 Mit Hilfe des angeführten Vergleichs der Verfahrensnormen lässt sich demzufolge die nachträgliche Protokollberichtigung zu Lasten des Angeklagten nicht rechtfertigen. Allenfalls handelt es sich um einen Vorschlag de lege ferenda, auf den noch zurückzukommen sein wird.
4. Die Wahrheitspflicht des Revisionsgerichts Entscheidend46 soll nach Ansicht des 1. Strafsenats sein, dass auch die Revisionsgerichte der Wahrheit verpflichtet sind und es auch aufgrund des Beschleunigungsgrundsatzes nicht mehr akzeptabel sei, Urteile aufgrund eines fiktiven Sachverhalts wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben, der sich nach dem Inhalt des berichtigten Protokolls tatsächliche nicht zugetragen hat.
insoweit Kühne Strafprozessrecht, 6. Auflage 2003, Rn. 976, der Änderungen nur bis zur Zustellung des Urteils nach § 274 IV StPO zulassen will, da „dem Betroffenen nicht zugemutet werden kann, sich und seine - zum Teil recht kostspieligen - Rechtsanwälte mit Berufungsund Revisionsfragen zu beschäftigen, ohne zu wissen, ob nicht wesentliche Berufungs- und Revisionsgründe durch spätere Protokollierungen abgeschnitten werden." 43
Vgl. Gollwitzer Gössel-FS, 2002, 543, 558; Schäfer BGH-FS, 2000, 707, 718. BGHR ZPO § 164 Abs. 1 Protokollberichtigung 1: Nichtannahmebeschluss 3 0 . 1 1 . 1 9 9 5 - I I I ZR227/94. 45 Vgl. auch Jahrt/Widmaier JR 2006, 166, 169. 46 Zur Übergewichtung dieses Arguments Fezer StV 2006, 290 f. 44
vom
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Wie bereits hervorgehoben sind die Regelungen der Strafprozessordnung über den Ablauf eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens streng formal. Die Vorschrift des § 274 StPO sieht vor, dass die Beachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten ausschließlich durch das Protokoll bewiesen werden kann. Sie ist Teil des strafprozessualen Revisionsrechts, dem weitgehend der Grundsatz der formellen und gerade nicht der materiellen Wahrheit zu Grunde liegt. Das hat der Gesetzgeber bewusst so gewollt.47 Keinerlei Andeutung finden wir in der jüngsten Rechtsprechung des BGH für ein Abweichen von der Regel, dass auch ein offensichtlicher Verfahrensverstoß vom Revisionsgericht unberücksichtigt bleiben muss, wenn er nicht rechtzeitig oder nicht in der vorgeschriebenen Form gerügt wird. Warum soll gerade beim Umgang mit § 274 StPO alles anders sein? Dem stehen auch keine gleichwertigen Nachteile einer Verfahrensverzögerung gegenüber, handelt es sich doch nur um eine verfassungsrechtlich unbedenkliche unvermeidliche Verfahrensverzögerung.48 Der Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung findet dort seine Grenze, wo das Rechtsmittelrecht der Rechtskraft der Entscheidung entgegensteht.49 In der Gesamtschau geht also von der neuen Rechtsprechung zur Möglichkeit einer nachträglichen Protokollberichtigung trotz einschlägiger Revisionsrüge keine Leuchtkraft aus. Zwar könnte sie zur Eindämmung der in der Literatur so umstrittenen Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls beitragen und sie löste auch das vor allem delikate Problem der „unwahren Verfahrensrüge" 50 , der Preis hierfür erscheint aber extrem hoch. Vor einer endgültigen Festlegung sei allerdings noch der Frage nachgegangen werden, ob sich Kompromissmöglichkeiten eröffnen, so wie sie im neueren Schrifttum teilweise propagiert werden.
47 Vgl. BGHSt 2, 125, 128; die „Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozeßrechts", § 266 Abs. 5 des Entwurfs 1908 sowie § 266 Abs. 5 des Berichts der Reichstagskommission wollten diesen Rechtsgrundsatz im Gesetz ausdrücklich verankern (ausführlich hierzu Werner DRiZ 1955, 180, 181). 48 Ebenso Jahn/Widmaier JR 2006, 166 ,170. 49 BGH, Beschluss vom 3.5.2006 - Az.: 4 ARs 3/06, unter III. 2. a) der Urteilsgründe m.w.N. - Quelle: juris. 50 Vgl. auch Gollwitzer Gössel-FS, 2002, S. 543, 558.
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III. Änderungsvorschläge in der Literatur 1. Abschaffung des Grundsatzes der absoluten Beweiskraft von Protokollen de lege ferenda Schäfer51 schlägt vor, den in § 274 StPO festgeschriebenen Grundsatz der absoluten Beweiskraft des Protokolls de lege ferenda gänzlich aufzugeben und stattdessen den Freibeweis stärker in das Revisionsverfahren einzubeziehen. Dem stehen jedoch erhebliche Bedenken entgegen. Oft wäre dann nämlich der Nachweis eines Verfahrenverstoßes unmöglich, nämlich dann, wenn sich die Urkundspersonen und die anderen Verfahrensbeteiligten aus der Strafjustiz nicht mehr an den Gang des konkreten Verfahrensablaufs erinnern können. 52 Ein Verfahrensverstoß ist im Freibeweisverfahren nur bewiesen, wenn er sich eindeutig bestätigen lässt. 53 In streitigen Fällen gäbe es keine angemessene Lösung. Der häufig „schwächere" Angeklagte bliebe die Beweislast schuldig und könnte auch stattgefundene Verfahrensfehler nicht mehr effektiv rügen. Der § 274 StPO entfaltet insoweit eine gewollte und noch immer hoch aktuelle rechtsgestaltende Kraft, die im Interesse des Interessenausgleichs aller Verfahrensbeteiligten sachgerecht erscheint.
2. Generelle Relativierung der Beweiskraft Nach der Ansicht von Gollwitzer54 sollte die Beweiskraft des § 274 StPO de lege ferenda generell relativiert werden. Demnach sei die Richtigkeit und Vollständigkeit des Protokolls nur bis zum Nachweis des Gegenteils zu vermuten. „Dies würde berücksichtigen, dass Protokollfehler unter dem Druck der Geschäfte nicht selten sind, obwohl § 274 StPO an sich eine erhöhte Sorgfalt gebieten würde."5S Gerade dieses von Gollwitzer selbst angeführte Argument verdeutlicht abermals die oben näher beschriebene Gefahr des Qualitätsverlusts der Sitzungsniederschriften. Das Erfordernis einer sorgfaltigen Erstellung der Sitzungsniederschrift ist aufgrund deren besonderen Bedeutung fur das 51
Vgl. Schäfer BGH-FS, 2000, 707, 728 f. Völlig zu Recht kritisch daher auch Ventzke StV 2004, 300, 301. 53 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 48. Auflage 2005, § 274 Rn. 18 m. w. N.; die geschilderten Bedenken werden insbesondere durch die Entscheidung des OLG Hamburg vom 15.7.2003, StV 2004, 298 eindrucksvoll bestätigt: aufgrund bestimmter Mängel konnte das Protokoll keine Beweiskraft entfalten. Zur Aufklärung des Verfahrensablaufs wurde in der Revisionsinstanz das Freibeweisverfahren durchgeführt. Außer dem Verteidiger, der in seiner Stellungnahme den Rügevortrag bestätigte, gaben alle übrigen Verfahrensbeteiligten an, keine Erinnerung an die Einzelheiten der Hauptverhandlung zu haben. Das Revisionsgericht sah daraufhin den gerügten Verfahrensverstoß als nicht bewiesen an. 54 Gollwitzer Gössel-FS, 2002, 543,558 f. 55 Gollwitzer, a. a. O.; Hervorhebungen durch den Verfasser. 52
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weitere Strafverfahren richtigerweise keiner Einschränkung zugänglich.56 Gegen den Lösungsvorschlag spricht darüber hinaus, dass ein Gegenbeweis wiederum im Wege des Freibeweisverfahrens erbracht werden müsste. Die diesbezüglichen Bedenken wurden bereits dargelegt. 3. Aufweichen der bisherigen Einschränkung in engbegrenzten Ausnahmefällen Kürzlich haben Jahn/Widmaier vorgeschlagen, ausschließlich für den Bereich „festumrissener, zwingend vorgeschriebener Prozesshandlungen" (als Beispiel werden die Verlesung der Anklage oder die Gewährung des letzten Wortes genannt) eine Eingrenzung der bisherigen Rechtsprechung zum absoluten Verbot der nachträglichren Protokollberichtigung zuzulassen.57 In diesen Fällen solle die Aufklärung im Freibeweisverfahren die Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO ersetzen dürfen. Keinesfalls könne dagegen eine nachträgliche Protokollberichtigung dort zugelassen werden, wo die Rekonstruktion des Sachinhalts der Hauptverhandlung erforderlich wäre. Auch dieser Vorschlag ist abzulehnen, weil es selbst bei dem erfahrensten Strafrichter bzw. der sorgfältigsten Strafkammer keinen Fehler gibt, der niemals gemacht würde. So spricht beispielsweise der Umstand, dass das Verlesen des Anklagesatzes zwingend vorgeschrieben und so selbstverständlich zu Beginn einer Hauptverhandlung erfolgt, nicht dafür, dass dies im Einzelfall sehr wohl auch einmal vergessen werden kann. Ebenso selbstverständlich sollte man z.B. annehmen dürfen, dass ein Gericht keinen Hauptverhandlungstermin anberaumt, ohne vorher einen Eröffnungsbeschluss erlassen zu haben. Auch dies geschieht jedoch - wie die Rechtsprechung zur Nachholung fehlender Eröffnungsbeschlüsse zeigt - immer wieder. Natürlich wird in der deutlichen Mehrzahl dem Angeklagten auch das letzte Wort erteilt. Gerade in Situationen, in denen aufgrund von Nachträgen (Hauptanwendungsfall dürfte hier die Erteilung eines zunächst außer Acht gelassenen gerichtlichen Hinweises nach § 265 Abs. 1, 2 StPO sein) abermals in die Hauptverhandlung eingetreten wird, besteht jedoch die nicht von der Hand zu weisende Gefahr, dass die abermalige Erteilung des letzten Wortes schlicht vergessen worden ist. Es ließen sich noch zahlreiche andere Beispiele ins Feld führen, die belegen, dass es keine (noch so zwingend vorgeschriebenen) Prozesshandlungen gibt, die im Eifer des Gefechts einer Hauptverhandlung nicht auch einmal übersehen werden können. Es dürfte 56 Daher ist auch der Anregung von Gollwitzer, unabhängig von dessen gewählter Lösung die Protokollberichtigung de lege ferenda ausdrücklich als Einschränkung von § 274 StPO zu regeln, entgegenzutreten. 57 Vgl. Jahn/Widmaier JR 2006, 166 ,169 f.
Protokollberichtigungen nach Eingang der Revisionsbegründung
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sich als unmöglich erweisen, die „festumrissenen, zwingend vorgeschriebenen Prozesshandlungen" von den anderen, weniger „fundamentalen" sachgerecht abzugrenzen.58 Auch die zuvor geschilderten Unwägbarkeiten des Freibeweisverfahrens sprechen gegen die Umsetzung dieses Änderungsvorschlags. Eine partielle Aufweichung der bisherigen Handhabung des § 274 StPO trägt also nicht zur Entschärfung der Problematik bei.59 4. Einführung eines sog.
Protokoll-Berichtigungsverfahrens
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Schließlich hat sich Fezer de lege ferenda für die Einführung eines formalen „Berichtigungsverfahrens" ausgesprochen. Im Falle der Revisionseinlegung soll den Verfahrensbeteiligten das Protokoll umgehend mit der Aufforderung zugestellt werden, innerhalb einer knapp bemessenen Frist etwaige Berichtigungen anzuregen bzw. zu beantragen. Anschließend könnten die Urkundspersonen ebenfalls innerhalb einer kurzen Frist bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen das Protokoll berichtigen. Erst nach diesem Zwischenverfahren soll das Urteil zugestellt werden und die Revisionsbegründungsfrist zu laufen beginnen. Sofern nunmehr eine Verfahrensrüge Anlass zur Protokollberichtigung gibt, sei diese zwar durchzuführen, sie könne der Revision des Angeklagten jedoch nicht mehr den Boden entziehen. Für diesen Vorschlag spricht, dass die absolute Beweiskraft des § 274 StPO nicht in Frage gestellt wird. Im Ergebnis führt allerdings auch dieser Lösungsansatz zum hier nicht sachgerechten Freibeweisverfahren, denn die Überprüfung der von den Verfahrensbeteiligten vorgetragenen Berichtigungsanregungen bzw. -anträge wird von den verantwortlichen Urkundspersonen der letzten Instanz vorgenommen. Damit hängt der Erfolg der entsprechenden Anträge abermals von deren Erinnerungsvermögen ab.61 Scheitert letztlich hieran eine Berichtigung zu Gunsten des Angeklagten, bietet auch das Berichtigungsverfahren keine weiter gehenden Möglichkeiten, die entsprechenden Tatsachen in das Protokoll aufzunehmen, als dies bisher im Rahmen der Beschwerde nach § 304 StPO ohnehin schon der Fall
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So soll etwa nach Ansicht von Jahn/Widmaier insbesondere im Falle der Belehrung des Angeklagten über sein Aussageverweigerungsrecht (§ 243 Abs. 4 S. 1 StPO) oder bei der Frage, ob bei einer im Protokoll vermerkten Belehrung nach § 55 StPO auch eine gemäß § 52 StPO erforderliche Belehrung erfolgt ist, eine nachträgliche Protokollberichtigung unstatthaft sein. 59 Es steht vielmehr zu befürchten, dass (zeitraubende) Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der zutreffenden Einordnung der jeweiligen Prozesshandlungen entflammen würden. 60 StV 2006,290,292. 61 Insoweit zu Recht kritisch Gollwitzer Gössel-FS, 2002, 543, 559.
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war.62 Andererseits wird ein Verteidiger kaum einen Hinweis auf einen Protokollierungsfehler geben, der seinem Mandanten im weiteren Verfahrensverlauf zum Vorteil gereichen könnte. 5. Ergebnis Bei Abwägung aller Argumente besteht gegenwärtig kein Anlass und im Übrigen auch keine verfahrensrechtlich unbedenkliche Möglichkeit, von der bisherigen und zutreffenden Rechtsprechung abzuweichen, nach der das Revisionsgericht eine Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls dann nicht mehr berücksichtigen darf, wenn sie erst nach erhobener Verfahrensrüge vorgenommen wird und dieser die Grundlage entzieht. Zwar ist es durchaus nachvollziehbar, dass es für ein Revisionsgericht unbefriedigend sein kann, ein Urteil wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben, der sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht zugetragen hat.63 Es darf dabei gleichwohl nicht übersehen werden, dass das Revisionsrecht weitgehend nicht nur Aspekte der materiellen Wahrheit, sondern der prozessualen Zweckmäßigkeit berücksichtigt, die ihrerseits auch Bausteine für ein gerechtes, Rechtsfrieden schaffende Urteil sind. Es ist mehr als eine Randnotiz, dass die über 100-jährige Tradition, dem Angeklagten keine Revisionschance zu nehmen, die der Staat ihm selbst durch u. U. fehlerhafte Protokollführung gewährleistet hat, schon in der sich nicht übertrieben beschuldigtenfreundlichen Kaiserzeit entwickelt wurde. Wenn dieser Gedanke bis heute - lediglich unterbrochen durch die NS-Zeit - offensichtlichen vielen Generationen eingeleuchtet hat, spricht nahezu alles dafür, ihn nicht vorschnell über Bord zu werfen. Wir sollten dabei bleiben, dass ein Sachverhalt, der nicht im Protokoll vermerkt ist, zu Gunsten wie zu Lasten des Angeklagten, als nicht ereignet behandelt werden muss. Der unerwünschten Aufhebung eines Strafurteils aufgrund eines derartigen Verfahrensfehlers durch das Revisionsgericht ist in der Tatsacheninstanz durch eine sorgfaltige Protokollierung entgegenzuwirken. Wer in das Revisionsrecht der inhaltlichen Wahrheit ein größeres Gewicht beimessen will, dem eröffnet sich ein weites Feld. Er sollte aber bitte bei der Auslegung des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO beginnen und nicht bei § 274 Abs. 1 StPO. Ob unser Jubilar, dem ich mich seit langer Zeit verbunden weiß, ebenso denkt wie ich, vermag ich nicht zu ermessen.
62 Vgl. zum Beschwerderecht als Schutz gegen die „Rügeverkümmerung" Lampe NStZ 2006, 366, 368. 63 So schon BGHSt 36, 354, 358; Beling ZStW 38, 612, 632 ff.
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Ich kenne aber seine Liebe zu schwierigen Rechtsproblemen - viele Jahre waren wir gemeinsame Gäste im Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer und auch in seiner Funktion als Leiter der Strafrechtsabteilung des Bayerischen Ministeriums der Justiz habe ich ihn als großartigen Mitstreiter bei der Bewältigung aller Schwierigkeiten erlebt - und hoffe deshalb auf sein Interesse. Ich wünsche ihm noch ein langes, gesundes und erfülltes Leben.
,Die Verantwortlichen" HANS DAHS
Ι.
Seit längerer Zeit ist bei der Einleitung von Ermittlungsverfahren eine Staatsanwaltschaft iche Praxis zu beobachten, die einer näheren Betrachtung bedarf und kritische Fragen auslöst.* Besonders im Bereich der Prüfung des Tatverdachts Von Wirtschaftsstraftaten werden Ermittlungsverfahren häufig gegen „die Verantwortlichen der X AG" oder „Mitarbeiter der Firma Y GmbH" oder ähnlich unbestimmte Personenmehrheiten eingeleitet. Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um Verfahren, die ein „UJs"-Aktenzeichen tragen, sondern um ganz „normale" „Js"-Sachen, die indes nicht gegen eine oder mehrere bestimmte Personen geführt werden, sondern in denen aus einer unter Umständen großen, unbestimmten Personenmehrheit ein möglicher Täter oder Teilnehmer erst herausgefunden werden soll - bevor dann falls eine Konkretisierung überhaupt möglich ist - eine bestimmte Person oder mehrere konkret benannte Personen später einmal als Beschuldigte geführt werden. Häufig verläuft das Verfahren aber auch so, daß nach unter Umständen monate- oder gar jahrelangen Ermittlungen sich herausstellt, daß entweder gar keine Straftat vorliegt oder eine konkret zu beschuldigende Person nicht festgestellt werden kann. Dann erfolgte die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO entweder weiterhin unter dem geheimnisvollen Rubrum „In dem Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche der X AG" (oder „Mitarbeiter der Y GmbH"); alternativ findet sich aber auch die Praxis, im Einstellungsrubrum dann plötzlich entweder alle etwa von einem Anzeigeerstatter genannten Namen 1 aufzuführen oder die Namen aller Vorstandsmitglieder einer AG oder aller Geschäftsführer einer GmbH zu nennen, die damit sozusagen „posthum", d. h. nach Feststellung der Einstellungsreife
* Möge dieser mit der „spitzen Feder des Strafverteidigers" geschriebene Beitrag, der dem Jubilar in herzlicher Verehrung gewidmet ist, in Erinnerung an seine stets von hohem rechtsstaatlichem Ethos getragene Dienstzeit in Justiz und Justizverwaltung Interesse finden. 1 Ca. 95 % aller Sachen sollen auf private Anzeigen zurückgehen - Eisenberg/Conen NJW 1998, 2241,2243.
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der strafrechtlichen Untersuchung noch in den Status konkret beschuldigter Personen versetzt werden. 1. Über die Motive der Staatsanwaltschaft, in dieser Weise zu verfahren, d. h. statt das Verfahren zunächst als UJs-Sache gegen noch unbekannte (und vielleicht unbekannt bleibende) Beschuldigte zu führen und nach Abschluß der Ermittlungen entweder unter diesem Titel einzustellen oder nach zwischenzeitlicher Feststellung konkreter Beschuldigter als Js-Sache einzutragen und fortzuführen, kann man nur spekulieren. Dabei kommt der Gedanke auf, ob das in der Praxis wohl verbreitete System einer Punktebewertung der von einem Dezernenten bearbeiteten Verfahren eine Rolle spielen könnte. So gibt es Erkenntnisse, daß UJs-Sachen mit der geringsten Punktzahl bewertet werden (noch geringer als AR-Sachen), während Js-Sachen gerade im Bereich der Wirtschaftskriminalität die Höchstzahl von Punkten erreichen. Dieses Punktesystem soll zur Abschätzung bzw. Feststellung der anzunehmenden Belastung des jeweiligen staatsanwaltschaftlichen Dezernats dienen. Daß die Behörde ein berechtigtes Interesse daran hat, durch geeignete Kriterien Erkenntnisse über die mutmaßliche Belastung der verschiedenen Dezernate zu gewinnen, soll als Notwendigkeit nicht in Frage gestellt werden. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß durch ein solches Punktesystem eine gewisse Abwendung von UJs-Sachen und eine verstärkte Hinwendung zu Js-Sachen ausgelöst oder zumindest verstärkt werden könnte. Die Konsequenzen dieser nur scheinbar ausschließlich innerdienstlich relevanten Praxis sind indes gravierend - wie noch zu zeigen sein wird. 2. Das Gesetz bietet in diesem Zusammenhang keine besondere Hilfe. Nach § 152 Abs. 2 hat die Staatsanwaltschaft generell einzuschreiten, „sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen". Nach § 160 Abs. 1 hat die Staatsanwaltschaft, die durch Anzeige oder auf anderem Wege (häufig ζ. B. durch Medienberichte) von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, den Sachverhalt zu erforschen. In der Kommentarliteratur wird es als eine aus der Logik des Gesetzes folgende Selbstverständlichkeit angesehen, daß dann, wenn sich der Anfangsverdacht noch nicht gegen eine konkrete Person richtet, das Verfahren „gegen Unbekannt", d. h. als UJs-Sache zu führen ist, wobei sich die Erforschungspflicht auch auf die Ermittlung zunächst unbekannter Täter bezieht. So hebt Meyer-Goßner hervor, das Ermittlungsverfahren sei so lange gegen Unbekannt zu führen, als der (Anfangs-) Tatverdacht sich noch nicht gegen eine bestimmte Person richte. Erst durch einen bewußten personenbezogenen Willensakt der zuständigen Strafverfolgungsbehörde werde ein Verdächtiger zum Beschuldigten gemacht und sei dann im Js-Register zu fuhren. Auch im Übrigen ist es einhellige Meinung, daß sich das Verfahren so lange gegen „Unbekannt" (d. h. als
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UJs-Sache) zu richten hat, bis ein von der Person her individualisierter Beschuldigter ermittelt ist.2 Der Bundesgerichtshof ist mit der hier erörterten Frage - soweit ersichtlich - bisher konkret noch nicht befaßt gewesen, jedoch kann man aus seiner Rechtsprechung herauslesen, daß er die Strafverfolgungsbehörde während des Ermittlungsverfahrens in der permanenten Pflicht sieht, zu prüfen, ob der Stand der Ermittlungen es rechtfertigt und damit gebietet, eine konkrete Person (oder weitere Personen) materiellprozeßrechtlich (§ 152 II) formell zu Beschuldigten zu „machen", damit die gesetzlichen Verteidigungsrechte des Beschuldigten gewährleistet werden. So hat der BGH schon vor 50 Jahren kritisiert, daß die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren „gegen Unbekannt" fortgeführt habe, obwohl eine konkrete Person verdächtig war, Täter oder Teilnehmer zu sein. In diesem Zusammenhang wurde ausdrücklich herausgestellt, es sei ein Element der „pflichtgemäßen Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde", ob sie gegen jemanden einen solchen Grad des (Anfangs-) Verdachts auf eine strafbare Handlung für gegeben halte, um ihn als Beschuldigten zu verfolgen. Diese Entscheidung liege nicht im Belieben der Staatsanwaltschaft, sondern sie habe durchaus „Ermessensgrenzen" bei der Entscheidung über die Gestaltung eines Verfahrens als UJs-Sache oder Js-Sache einzuhalten. 3 Diese Auffassung überzeugt schon angesichts der durch ein Ermittlungsverfahren ausgelösten, für die Betroffenen u. U. folgenschweren Mitteilungspflichten der Staatsanwaltschaft. 4 Dabei ist nicht nur an § 6 Abs. 2 Mistra (Mitteilungspflicht schon bei Einleitung eines Ermittlungsverfahrens), sondern insbesondere an § 483 (Strafverfahrensdatei) zu denken. Man fragt sich, wie die Staatsanwaltschaft damit in den dargestellten Beispielsfällen umgeht. Probleme gibt es - gerade in Anzeigesachen - auch mit dem Akteneinsichtsrecht der angeblichen „Opfer" nach § 406 e StPO, wenn ein konkreter Beschuldigter noch gar nicht fest steht. 5 Die Rechtsprechung hat wiederholt die im Vergleich zur hier untersuchten Praxis eher umgekehrte Konstellation zu entscheiden gehabt, daß ein Verfahren „zu lange" als UJs-Sache geführt worden war und damit Beschuldigtenrechte, ζ. B. das Anwesenheitsrecht nach § 168 c Abs. 2, 56 oder Zeugenrechte, ζ. B. Zeugnisverweigerungsrechte 7 vorenthalten wurden. Die Bedeutung dieses Entscheidungsaktes war in dem entschiedenen Fall besonders gravierend, weil in Rede stand, daß der eigentlich Beschuldigte in 2 § 152 Rn. 5; Einl. Rn. 76, § 160 Rn 6; ebenso ausdrücklich SK-Wohlers § 160 Rn. 28; KKWache § 160 Rn. 14; LK-Beulke § 152 Rn. 23. 3 BGHSt 10, 8, 12; vgl. auch Eisenberg/Conen NJW 1998, 2241. 4 Vgl. dazu i. e. die Hinweise bei Meyer/Goßner § 160 Rn. 5, 7 (Steuerstrafsachen). 5 Vgl. dazu nur LG Stade StV 2001, 159; LG Köln StraFo 2006, 78. 6 BGH StV 1985,397, 398. 7 BGHSt 34, 138, 140.
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einem weiterhin „gegen Unbekannt" geführten Ermittlungsverfahren unter Eid (!) als Zeuge vernommen worden war. 8 Die aus Rechtsprechung und Schrifttum danach zu gewinnenden Erkenntnisse können dahin zusammengefaßt werden, daß es von Rechts wegen nicht im Belieben des Staatsanwalts steht, ob er ein Verfahren „gegen Unbekannt", d. h. als UJs-Sache oder „gegen Bekannt", d. h. eine konkret nach den Kriterien des Anfangsverdachts individualisierte (nicht: individualisierbare) Person, als Js-Verfahren fuhrt. Maßgebend für die permanent von der Strafverfolgungsbehörde geforderte Wertungsentscheidung sind nicht irgendwelche wie auch immer motivierten Zweckmäßigkeitserwägungen, sondern allein das Ergebnis der Prüfung des Tatverdachts im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO.
II. Die dargestellte systemwidrige Praxis der Staatsanwaltschaft hat faktische und rechtliche Konsequenzen, die rechtsstaatlich höchst bedenklich sind. 1. Die hier exemplarisch behandelten Bezeichnungen des Kreises von „Verdächtigen" sind in hohem Maße unklar. So kann man unter „den Verantwortlichen" einer AG die gesellschaftsrechtlich Verantwortlichen, d. h. die Mitglieder des Vorstandes verstehen. Dabei würde es sich um eine „Auslegung" des staatsanwaltschaftlich gewählten Rubrums handeln, die jedenfalls manchem Anzeigeerstatter bestens „in den Kram paßt". Hat der Anzeigeerstatter - was bei Vertretung durch einen Rechtsanwalt ausnahmslos der Fall ist - um Mitteilung des Aktenzeichens des Verfahrens gebeten, so erhält er gem. Nr. 9 RiStBV eine Bestätigung des Eingangs der Anzeige, die nach den Erfahrungen der Praxis nicht selten wie folgt formuliert ist: „Aufgrund Ihrer Strafanzeige vom ... habe ich ein Ermittlungsverfahren gegen die Verantwortlichen der X AG unter dem Aktenzeichen ... Js ... eingeleitet. Über das Ergebnis des Verfahrens werden Sie zu gegebener Zeit unterrichtet." Damit wird dem Anzeigeerstatter genau die Information geliefert, die er sich häufig wünscht, um die Nachricht - wenn es der Verfolgung seiner wie auch immer gearteten Ziele dient - an die Medien weiterzugeben. Handelt es sich ζ. B. um sehr bekannte Aktiengesellschaften, gar noch mit prominenten Vorstandsmitgliedern, so wird die Nachricht gerne verbreitet und von einem sensationslüsternden Publikum begierig aufgenommen. Bei 8
BGH aaO.
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geschickter Formulierung der Veröffentlichung können die Betroffenen mit den rechtlichen Möglichkeiten des Medienrechts nur schwer etwas unternehmen. 9 So ist es eigentlich ganz leicht, leitende Mitarbeiter von Handelsgesellschaften, Vereinen, Organisationen, Kommunen - evtl. sogar Behörden - durch eine medienrechtlich nicht angreifbare einwandfreie Verdachtsberichterstattung fur einen u. U. langen Zeitraum einen „Ruch" anzuhängen, der ihnen im beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld schadet, sie zumindest ins Zwielicht bringt. Mit dem Schutz der Persönlichkeit auch des Verfahrensbetroffenen, der auch Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist 10 , hat dies schlechterdings nichts zu tun - im Gegenteil! 2. Man kann die Beschuldigtenbezeichnung „die Verantwortlichen" auch so verstehen, daß damit die Personen gemeint sind, die sich im Laufe des Ermittlungsverfahrens irgendwann als die konkret strafrechtlich Tatverdächtigen herausstellen werden - oder auch nicht! Bei diesem Verständnis des staatsanwaltschaftlichen Rubrums würde dann auch klar sein, daß die Ermittlungsbehörde zwar von einem Anfangsverdacht gegen eine oder mehrere natürliche Personen ausgeht, solche aber noch nicht bekannt oder konkretisierbar sind. Damit läge dann geradezu der „Paradefall" einer UJsSache vor! Das wäre auch dann so, wenn die Staatsanwaltschaft der Meinung sein sollte, „auf den ersten Blick" müßten der oder die Beschuldigten in dem Kreis der allgemein umschriebenen Personen, ζ. B. leitender Mitarbeiter einer Organisation zu finden sein. Auch dieser Rechtfertigungsversuch würde nichts daran ändern, daß noch kein konkret Tatverdächtiger im Sinne des § 152 Abs. 2 auszumachen ist, sondern ein solcher erst durch Ermittlungen aus einem quasi als „Arbeitshypothese" angenommenen Kreis von Personen herausgefunden werden müßte. Derartige Sachen anders als UJs-Verfahren zu bezeichnen ist nach alledem nicht nur ein Ermessensfehler, sondern eigentlich Ermessens-Willkür, die der Staatsanwaltschaft schon aufgrund ihrer strukturellen Stellung als Hüterin des Rechts 11 und im Hinblick auf den von Rechtsprechung und Schrifttum definierten Sinngehalt des § 152 Abs. 2 untersagt ist. 3. Die faktisch Verfahrensbetroffenen werden in eine Situation gedrängt, in der sie sich unter Umständen gegenüber einer kritisch-fragenden Öffentlichkeit verteidigen müssen, ohne zugleich oder vorrangig zu einer Rechtsverteidigung im Verfahren in der Lage zu sein. So wird man als intern beratender Rechtsanwalt nicht empfehlen können, für einen, mehrere oder alle Mitglieder der angesprochenen Geschäftsführung oder des Vorstandes Ver9
Vgl. dazu Dahs Handbuch des Strafverteidigers, 7. Auflage, Rn. 103 ff. Vgl. n u r N r . 4 a R i S t B V . 11 Vgl. nur Meyer-Goßner Vor § 141 GVG Rn. 1, 3. 10
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teidiger zu bestellen, die versuchen könnten, mit Hilfe der Akteneinsicht (§ 147) eine sachliche und rechtliche Abwehr der im Räume stehenden Vorwürfe aufzubauen. Die Verteidigerbestellung, etwa für den Vorsitzenden des Vorstandes, würde jedenfalls nicht ausschließbar das Interesse der Staatsanwaltschaft gerade auf dessen Person lenken - was an die fatale Prozeß-Weisheit „Wer sich verteidigt, klagt sich an" erinnert. Befindet sich die für die untersuchten Handlungen tatsächlich verantwortliche Person in dem umschriebenen Kreis, so wird man auch dieser nicht empfehlen können, nach außen gegenüber den Strafverfolgungsbehörden hervorzutreten, solange der Vorwurf nicht im einzelnen bekannt und auf seine strafrechtliche Relevanz oder Irrelevanz abschließend intern vom Verteidiger geprüft ist. Um ihre gesetzlichen Verteidigungsrechte, ζ. B. die Akteneinsicht, Anwesenheitsrechte, Antragsrechte wahrnehmen zu können, müßten der oder die in der untersuchten Angelegenheit handelnden Personen sich also zunächst gegenüber der Staatsanwaltschaft „outen", ihren formellen Beschuldigtenstatus durch eine Entscheidung nach § 152 Abs. 2 herbeiführen, um dann die im Räume stehenden Vorwürfe zu bekämpfen. Natürlich sollte keiner Staatsanwaltschaft unterstellt werden, daß sie auf diese Weise sinngemäß den Rechtsgrundsatz nemo tenetur se ipsum accusare aushebeln will - oder dies jedenfalls in Kauf nimmt. Betroffene werden ihre Situation leicht so empfinden. Bedenken bestehen auch dann, wenn man das erwogene procedere - reichlich euphemistisch - quasi als „Initialzündung für eine wirksame Verteidigung" verstehen wollte! 4. Die Praxis der Verteidigung behilft sich in dieser Situation zuweilen damit, daß ein „anwaltlicher Vertreter" der in Rede stehenden juristischen Person, ζ. B. der AG oder GmbH nach § 475 StPO Akteneinsicht begehrt. Das erforderliche berechtigte Interesse wird oftmals dahin formuliert werden können, daß man gegen etwa fehlsame leitende Mitarbeiter des Unternehmens gesellschaftsrechtliche oder arbeitsrechtliche Maßnahmen ergreifen müßte und dafür die Kenntnis des Vorwurfs und seiner Begründung erforderlich ist. Freilich „paßt" dieser „Notweg" über § 475 StPO eigentlich nicht, weil auch diese Vorschrift wohl impliziert, daß bereits ein konkreter Beschuldigter vorhanden ist („... Auskünfte sind zu versagen, wenn der hiervon Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an der Versagung hat."). Die Frage, ob deshalb nach Lage des Gesetzes eine Versagung der Akteneinsicht geboten ist, kann schwerlich beantwortet werden, solange noch kein bestimmter „Betroffener", d. h. Beschuldigter feststeht. Alternativ könnte die Bestellung eines anwaltlichen Vertreters der juristischen Person unter Hinweis auf diese als mögliche Nebenbetroffene nach §§ 130, 30 OWiG erfolgen. Dem Vertreter der Nebenbetroffenen stehen Akteneinsichtsrechte u. a. ähnlich dem Verteidiger zu, was aus § 444 StPO
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abgeleitet werden kann. Es ist eine oft außerordentlich schwierig zu entscheidende Abwägungsfrage, ob auf diese Weise ggf. das besondere Augenmerk der Staatsanwaltschaft auf die Möglichkeit der Verhängung einer Geldbuße gegen das Unternehmen gelenkt werden soll, die sich nach §§130 Abs. 3, 30 Abs. 2 i. V. m. § 17 Abs. 4 OWiG je nach Lage des Falles auf weit mehr als 1 Mio. € belaufen kann. In der Regel sind nur die Unternehmen zu einer so gestalteten „proaktiven Verteidigung" bereit, die sich völlig sicher sind, daß kein Vorwurf der Art, wie er in die Medien „durchgesickert" ist, zutreffen kann. Ist außer der Tatsache, daß gegen „die Verantwortlichen" des Unternehmens ermittelt wird, nichts publik geworden, erscheint der aufgezeigte Verteidigungsansatz indes - von Ausnahmefällen abgesehen - kaum empfehlenswert oder auch nur vertretbar. Oft bleibt nur die resignierende Empfehlung zu Passivität und Abwarten des weiteren Vorgehens der Staatsanwaltschaft. Dann geschieht es nicht selten, daß man Aufschluß über Vorwurf und Verdachtsgründe erst im Zusammenhang mit einer (nicht selten medienwirksamen) Durchsuchungsund Beschlagnahmeaktion - natürlich nach § 103 StPO - erhält, womit genau das geschieht, was jedes vernünftige Unternehmen im eigenen Interesse vermeiden will. Werden Mitarbeiter als Zeugen vorgeladen, so wird jedes verantwortungsbewußte Unternehmen ihnen einen anwaltlichen Rechtsbeistand12 (unter dem Aspekt der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers) beistellen. Über diesen kann man - wenn die Staatsanwaltschaft kein Schweigegebot für den Zeugen ausgesprochen hat und dieser seinen Anwalt von der Schweigepflicht entbindet - vielleicht erfahren, worum es in diesem „unklärbaren" Js-Verfahren eigentlich geht.
III. Die aufgezeigten Rechtsbedenken (I. 2.), die Konsequenzen für die Betroffenen (II.) und ihre Verteidigung sowie Einblicke in VerteidigerDenkmodelle und Erwägungen informeller Verteidigungsstrategien sollten die Erkenntnis gefördert haben, daß die geschilderten staatsanwaltschaftlichen Praktiken revisionsbedürftig sind. Dieser Forderung kann man nicht entgegenhalten, daß die Probleme in der Sache kaum andere seien, wenn solche Verfahren unter dem Aktenzeichen UJs geführt würden. Dieser Einwand greift schon deshalb nicht, weil Verfahren mit UJs-Bezeichnung hinsichtlich der als juristische oder natürliche Person Betroffenen völlig offen sind und bei Wahrung der gebotenen NichtÖffentlichkeit des Ermittlungs12
Dazu im einzelnen Dahs Handbuch des Strafverteidigers, 7. Auflage, Rn. 1150 ff.
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Hans Dahs
Verfahrens niemand in den „Ruch" des Beschuldigten gerät und sich ζ. B. in der Öffentlichkeit (mit rechtlich gebundenen Händen) dagegen verteidigen muß. Es ist zu hoffen, daß die „zuständigen Stellen", d. h. wohl die Justizministerien alsbald dafür Sorge tragen werden, den rechtsstaatlichen Grundsätzen und Schutzrechten auch in diesem Segment des strafrechtlichen Vorverfahrens wieder uneingeschränkte Wirkungskraft zu verschaffen.
Zur Beteiligung von Laienrichtern* an der Strafrechtspflege DIETER DÖLLING
Zu den Gebieten, mit denen sich der verehrte Jubilar praktisch und wissenschaftlich befasst hat, gehört auch die Gerichtsverfassung.1 Deshalb hat der vorliegende Beitrag ein Thema aus dem Bereich des Gerichtsverfassungsrechts, nämlich die Beteiligung von Laienrichtern an der Strafrechtspflege, zum Gegenstand. Laienrichter sind gegenwärtig fester Bestandteil der deutschen Strafrechtspflege. Nach § 29 Abs. 1 GVG gehören dem Schöffengericht neben dem Richter am Amtsgericht als Vorsitzenden zwei Schöffen an und gemäß § 76 GVG sind die Strafkammern mit einem bis drei Berufsrichtern und mit zwei Schöffen besetzt. Laienrichter wirken daher zwar nicht an der Aburteilung der großen Menge der leichteren Delikte mit, die durch den Strafrichter erfolgt, sind aber an der Rechtsprechung über den ganz überwiegenden Teil der schwereren Kriminalität beteiligt. Ihre rechtliche Stellung in der Hauptverhandlung ist stark. Nach den §§30 Abs.l und 77 Abs. 1 GVG üben sie während der Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Berufsrichter aus. Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 DRiG sind sie in gleichem Maße wie ein Berufsrichter unabhängig. Die Laienbeteiligung an der Strafrechtspflege ist allerdings umstritten. Einerseits findet sie zahlreiche Befürworter. So bezeichnet Roxin die Laienmitwirkung in der Strafrechtspflege als „auch heute noch wertvoll".2 Ihre Bedeutung für den modernen Rechtstaat liege zwar nicht mehr im Schutz gegen obrigkeitliche Übergriffe. Sie trage aber „auch jetzt noch dazu bei, das Verständnis der Bevölkerung für die Strafrechtspflege und das Vertrauen in ihre Gerechtigkeit zu stärken".3 Rüping sieht den Sinn der Laienbetei* Die Bezeichnung „Laienrichter" umfasst hier und im Folgenden sowohl Laienrichter als auch Laienrichterinnen. Sie wird der Kürze halber verwendet. 1 Vgl. Böttcher Kommentierung der §§ 1 bis 21 GVG, des EGGVG und der GVGVO, in: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Großkommentar, 25. Aufl., hrsg. v. Rieß, Siebenter Band, 2003 (Stand 1.7.2002 bzw. 1.8.1998). 2 Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 7 Rn. 16. 3 Roxin a.a.O.
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ligung in dem Zwang, „fachjuristisches Denken einer Plausibilitätskontrolle zu unterwerfen". 4 Nach Karl Peters hat das System der aus Berufsrichtern und Laienrichtern zusammengesetzten Gerichte in der Tatsacheninstanz „trotz nicht zu verkennender Mängel seine Vorzüge". 5 Diese sieht er u.a. darin, dass der Laienrichter vor einer einseitigen, nur juristischen Betrachtungsweise sichert, in ihm die Volksanschauung über das Recht zur Geltung kommt, die Zusammenarbeit von Berufs- und Laienrichtern eine erhöhte Gewähr für eine richtige Tatsachenfeststellung gibt und die Mitwirkung der Laien den Berufsrichter zu einer klaren und gründlichen Durchführung des Verfahrens verpflichtet. 6 Dem stehen Autoren gegenüber, von denen die Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege entschieden abgelehnt wird. So verwirft Volk die zugunsten der Laienbeteiligung vorgebrachten Argumente, nimmt an, dass Laienrichter emotionalen Einflüssen ausgesetzt und zunehmend überfordert seien 7 und kommt zu folgender zusammenfassender Bestandsaufnahme: „Das einzige Argument, das dagegen spricht, die Laienbeteiligung abzuschaffen, liegt in der Ungewissheit über die Folgen, die eine solche Entscheidung auslösen würde; das einzige Argument, das für die Laienbeteiligung spricht, ist die Tatsache, dass es sie gibt". 8 Im Grunde handelt es sich nach Volk bei der Laienbeteiligung „in einer modernen, professionalisierten Gesellschaft nur noch um Sozialromantik des 19. Jahrhunderts". 9 Es sei „nicht beweisbar, dass die Teilnahme von Laienrichtern einen Wert hat. Allerdings: sie schaden auch nicht". 10 Kühne führt aus: „Rationale Gründe, die die Notwendigkeit einer Teilnahme von Laienrichtern in unserem Strafverfahren belegen, sind nicht ersichtlicht. Der Schöffe hat für das Strafverfahren allenfalls noch Symbolwert, wobei jedoch grundsätzlich zu beachten ist, dass Symbole, die ihre Funktionalität verloren haben, Gefahr laufen, zur Verdeckung von Etikettenschwindel missbraucht zu werden". 11 Er sieht in der Laienbeteiligung im Strafverfahren „nur noch eine überlebte Reminiszenz mit Spuren basisdemokratischer Verklärung". 12 Nach Lilie wird den Schöffen Unmögliches zugemutet, „da sie ein Recht sprechen sollen, das sie nicht 4
Rüping Das Strafverfahren, 3. Aufl. 1997, Rn. 52. Peters Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 118. 6 Peters (Fn. 5) S. 118 f. Siehe auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der FDP, BT-Drs. 15/3191, S. 3; danach gewährleistet die Laienbeteiligung eine Plausibilitätskontrolle der berufsrichterlichen Wertung und trägt sie zur Verständlichkeit berufsrichterlicher Entscheidungen bei. 5
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Volk in: Hanack u.a. (Hrsg.), Festschrift für Dünnebier, 1982, S. 373 ff. Volk (Fn. 7) S. 389. 9 Volk Grundkurs StPO, 5. Aufl. 2006, § 5 Rn. 15. 10 Volk a.a.O. 11 Kühne ZRP 1985, 237, 239. 12 Kühne Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2003, Rn. 117. 8
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kennen". 13 In der gegenwärtigen Situation seien die Schöffen „eine blinde Kontrollinstanz ohne Zukunft". 14 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Laienrichter eine sinnvolle Funktion bei der Verwirklichung der Aufgaben der Strafrechtspflege wahrnehmen, deshalb an der Laienbeteiligung festgehalten werden sollte und die Bemühungen darauf gerichtet sein sollten, dass die Schöffen ihre Funktion sachgerecht ausüben können. Die Gründe, die im 19. Jahrhundert beim Übergang vom Inquisitionsverfahren zum „reformierten Strafprozess" zur Übertragung von Richterämtern auf Laien führten, tragen die Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege allerdings heute nicht mehr.15 Die Einführung der Laienbeteiligung war von Misstrauen gegen die vom Staat abhängigen Berufsrichter getragen und sollte die Unabhängigkeit der Justiz sichern und vor Willkür schützen.16 Heute sind die Berufsrichter nach Art. 97 GG sachlich und persönlich unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Auch mit dem Demokratieprinzip lässt sich die Laienbeteiligung nicht ausreichend begründen, denn auch bei den Berufsrichtern besteht eine bis zum Staatsvolk zurückreichende ununterbrochene Legitimationskette.17 Für die Laienbeteiligung spricht jedoch, dass sich mit ihr die Aufgaben der Strafrechtspflege besser erfüllen lassen als mit ausschließlich von Berufsrichtern besetzten Gerichten.18 Zur Verdeutlichung dieser Überlegung muss der Blick zunächst auf die Aufgaben der Strafrechtspflege gerichtet werden. Die Strafrechtspflege konstituiert sich durch das materielle Strafrecht sowie durch das StrafVerfahrensrecht und das Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrecht. Das materielle Strafrecht legt fest, welche Verhaltensweisen als Straftat definiert werden und mit welchen Rechtsfolgen auf die Straftaten reagiert werden soll. Strafverfahrens-, Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrecht dienen der Durchsetzung des materiellen Strafrechts. Sie regeln die Ermittlung eines möglicherweise strafrechtlich relevanten Sachverhalts und seine Ab-
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Lilie in: Hanack u.a. (Hrsg.), Festschrift für Rieß, 2002, S. 303, 314. Nach Beling Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 1928, S. 53, zerbricht das Volk „durch Auslieferung der Justiz an Laienrichter seine eigenen Gesetzestafeln". 14 Lilie (Fn. 13) S. 315; gegen die Laienbeteiligung auch Duttge JR 2006, 358 ff.; ebenfalls kritisch Spona Laienbeteiligung im Strafverfahren, 2000, S. 129 ff. ^Kühne (Fn. 11) 237; Rüping JR 1976, 269, 272; Manfred Wolf Gerichtsverfassungsrecht aller Verfahrenszweige, 6. Aufl. 1987, S. 228. 16 Benz Zur Rolle der Laienrichter im Strafprozeß, 1982, S. 44 ff; Wolf (Fn. 15). 17 Zur Erfordernis einer vom Volk ausgehenden ununterbrochenen Legitimationskette siehe BVerfGE 77, 1,40; 83,60, 72 f. 18 Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Beteiligung von ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern besteht nicht. Das GG überlässt ihre Zuziehung dem Ermessen des Gesetzgebers, vgl. BVerfGE 14, 56, 73; 26, 186, 200; 27, 312, 319 f.; 42, 206, 208 f.
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urteilung sowie die Verwirklichung der rechtskräftig verhängten Sanktion.19 Aufgabe des materiellen Strafrechts ist nach der heute überwiegenden Meinung Rechtsgüterschutz durch Spezialprävention und Generalprävention.20 Spezialprävention ist die Einwirkung auf den individuellen Täter mit dem Ziel der Rückfallverhinderung.21 Sie kann als positive Spezialprävention durch erzieherische und bessernde Maßnahmen und als negative Spezialprävention durch Individualabschreckung oder Sicherung erfolgen. Mit Generalprävention ist die Einwirkung des Strafrechts auf die Allgemeinheit gemeint.22 Generalprävention kann zum einen in Abschreckung bestehen: Die Strafdrohungen sollen potentielle Täter von der Tatbegehung abhalten. Insoweit wird von negativer Generalprävention gesprochen. Generalprävention kann außerdem durch Festigung des Rechtsbewusstseins der Bevölkerung geübt werden. Durch die Bestrafung wird die Geltung der verletzten Norm bekräftigt, der Wert des beeinträchtigten Rechtsguts unterstrichen und der durch die Straftat entstandene Konflikt einer gerechten Lösung zugeführt, über die sich die Allgemeinheit beruhigen kann. Es wird dokumentiert, dass sich das Recht gegenüber dem Unrecht durchsetzt und an die Bürgerinnen und Bürger appelliert, sich um Normeinhaltung zu bemühen. Diese Wirkungen des Strafrechts werden als positive Generalprävention bezeichnet, ihnen wird in der gegenwärtigen Diskussion der Strafrechtswissenschaft besondere Bedeutung eingeräumt.23 Es lassen sich gute Gründe dafür anführen, dass es sich bei Spezial- und Generalprävention nicht um Theorien ohne Realitätsgehalt oder gar Ideologien handelt, sondern dass das Strafrecht seiner spezial- und generalpräventiven Zwecksetzung in nicht unerheblichem Maß gerecht wird. So spricht für die spezialpräventive Wirkung des Strafrechts, dass von den in Deutschland strafrechtlich sanktionierten Personen innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren nach der 1994 erfolgten Verurteilung bzw. Haftentlassung ledig-
19 Zum Begriff des Strafrechts und zu seinem Verhältnis zum Strafverfahrens-, Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrecht siehe Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 10, 16 ff.; Maurach/Zipf Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 1, 8. Aufl. 1992, § 1 Rn. 1 ff.; § 2 Rn. 3 ff.; Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil Band I, 4. Aufl. 2006, § 1 Rn. 1 ff., 8 ff. 20 Zu den Aufgaben des Strafrechts vgl. Jescheck/Weigend (Fn. 19) S. 1 ff.; 60 ff.; Lampe Strafphilosophie, 1999; Maurach/Zipf{Fn. 19) §§ 5 bis 7; Roxin (Fn. 19) § 3 Rn. 1 ff. 21 Siehe näher Roxin (Fn. 19) § 3 Rn. 11 ff.; Dölling in: ders. (Hrsg.), Jus humanum. Festschrift für Lampe, 2003, S. 597 ff. 22 Vgl. hierzu und zum Folgenden Roxin (Fn. 19) § 3 Rn. 21 ff.; Dölling ZStW 102 (1990), 1 ff. 23 Siehe Stratenwerth/Kuhlen Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl. 2004, § 1 Rn. 26, und das auf der Theorie der positiven Generalprävention aufbauende Strafrechtssystem von Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991.
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lieh 36% rückfällig wurden,24 und liegen Belege dafür vor, dass insbesondere ein ernsthaftes Entdeckungsrisiko eine generalpräventive Wirkung entfaltet.25 Der danach sinnvolle Rechtsgüterschutz durch Spezial- und Generalprävention darf nur nach Maßgabe des verfassungsrechtlich verankerten Schuldprinzips betrieben werden: Die Bestrafung setzt eine schuldhafte Tat voraus und die Strafe muss schuldangemessen sein.26 Das Strafverfahrensrecht dient der Verwirklichung des materiellen Strafrechts. Aufgabe des Strafverfahrens ist es festzustellen, ob eine Straftat begangen worden ist, wenn dies der Fall ist, den Täter zu ermitteln und ihn der gesetzlich vorgesehenen Sanktionierung zuzuführen. Das hat auf rechtsstaatliche Weise zu erfolgen. Insbesondere müssen die Verteidigungsrechte des Beschuldigten gewahrt werden und dürfen strafprozessuale Zwangseingriffe nur nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips vorgenommen werden. Außerdem muss durch eine verbindliche Entscheidung in angemessener Frist für Rechtsicherheit gesorgt werden. Dies wird durch das Institut der Rechtskraft des Urteils erreicht. Ziel des Strafverfahrens ist danach die materiell richtige, justizformig zustande gekommene und Rechtsicherheit schaffende Entscheidung eines Strafrechtsfalls.27 Häufig wird das Ziel des Strafverfahrens mit dem Begriff des Rechtsfriedens umschrieben.28 Die Beteiligung von Laienrichtern an der Strafrechtspflege kann nun einen wichtigen Beitrag zur Erreichung dieser Aufgaben des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts leisten. Zunächst können die Laienrichter die erste Aufgabe des Strafgerichts, die Feststellung des Sachverhalts, dadurch fordern, dass sie ihre Lebenserfahrung in die Verhandlung und Beratung einbringen. Dies kann es z.B. erleichtern zu ermitteln, welchen Bedeutungsgehalt die am Tatgeschehen beteiligten Personen ihren eigenen Handlungen und den Handlungen der anderen Beteiligten beigemessen haben, und die Vorstellungen und Handlungsmotive der Beteiligten zu erschließen. Der Sinngehalt sozialer Handlungen ist häufig nicht eindeutig, sondern hängt von den Vorverständnissen der Beteiligten ab. Ein solches Vorverständnis mag Laienrichtern eher bekannt oder erschließbar sein
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Jehle/Heinz/Sutterer Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen, 2003, S. 36. Vgl. dazu die Beiträge von Dölling/Hermann und Antony/Entorf m: H.-J. Albrecht/Entorf (Hrsg.), Kriminalität, Ökonomie und Europäischer Sozialstaat, 2003, S. 133 ff., 167 ff. 26 BVerfGE 20, 323, 331; 25, 269, 285; 54, 100, 108; 86, 288, 313. Dahinstehen kann hier, ob bei schweren Taten das Prinzip des gerechten Schuldausgleichs unabhängig von präventiven Gesichtspunkten eine Strafe legitimieren kann. 27 Roxin (Fn. 2) § 1 Rn. 3. 28 Meyer-Goßner StPO, 49 Aufl. 2006, Einl-Rn. 4; Rieß in: Löwe-Rosenberg (Fn. 1), Erster Band, 1999 (Stand 1.8.1998), Einl. Abschn. Β Rn. 4 25
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als Berufsrichtern.29 Weiterhin kann z.B. der Eindruck, den Laienrichter von einer Zeugenaussage gewinnen, zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage beitragen. Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage haben die von der Aussagepsychologie entwickelten Kriterien große Bedeutung.30 Daneben ist es ist auch wichtig zu wissen, wie die Aussage auf verschiedene Personen wirkt. Nehmen diese jeweils aus ihrer Einstellung heraus zu der Aussage Stellung, so wird hierdurch Einseitigkeit vorgebeugt.31 Außerdem können die Ansichten der Laienrichter für die Strafzumessung hilfreich sein. Die Strafzumessung hat sich im Erwachsenenstrafrecht gemäß § 46 Abs.l Satz 1 StGB in erster Linie an der Tatschwere und dem Grad des Verschuldens des Täters zu orientieren.32 Wie schwer eine Tat ist und wie hoch das Verschulden des Täters einzustufen ist, lässt sich nicht durch bloße Rechtsanwendung ermitteln. Es handelt sich hierbei auch um persönliche Wertungen.33 Die Chance gerechter und für die Allgemeinheit verständlicher Wertungen wird erhöht, wenn in die Beratung nicht nur die Meinungen von Berufsjuristen, sondern auch von Laienrichtern eingebracht werden. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB sind für die Bestimmung von Art und Höhe der Strafe auch kriminalprognostische Überlegungen von Bedeutung, also die Einschätzung des künftigen Legalverhaltens des Täters und der Möglichkeiten, ihn durch Sanktionen im Sinne der Rückfallverhinderung zu beeinflussen.34 Auch bei der Beantwortung der Frage, wie es mit dem Angeklagten weitergehen wird und welche Möglichkeiten bestehen, im Sinne der Rückfallverhinderung auf die künftige Lebensführung des Angeklagten einzuwirken, sind Einschätzungen von Nichtjuristen hilfreich. Dieser Gesichtspunkt ist im Jugendstrafrecht, in dem der spezialpräventiven Einwir-
29 Siehe Jung in: Der Präsident des Landgerichts in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität des Saarlandes (Hrsg.), 150 Jahre Landgericht Saarbrücken. Festschrift, 1985, S. 317, 331, der daraufhinweist, dass „die Beobachtungen eines sensibilisierten 'Außenseiters' speziell bei der Beweiswürdigung Perspektiven zu eröffnen" vermögen, „die sich dem in der Routine erstarrten Berufsrichter nicht sofort erschließen". 30 Vgl. dazu Volbert in: Kröber/Steller (Hrsg.), Psychologische Begutachtung im Strafverfahren, 2. Aufl. 2005, S. 171 ff. 31 Siehe Peters (Fn. 5) S. 118 f., nach dem die Zusammenarbeit von Berufs- und Laienrichtern eine erhöhte Gewähr für eine richtige Tatsachenfeststellung gibt, „indem jeder aus seiner Haltung und Einstellung Stellung zu den Vorgängen nehmen kann". Zur Funktion der Schöffen bei der Beweiswürdigung vgl. auch Eser in: Kroeschell/Cordes (Hrsg.), Vom nationalen zum transnationalen Recht, 1995, S. 161, 174 f. 32 Lackner/Kühl StGB, 25. Aufl. 2004, § 46 Rn. 23; Tröndle/Fischer StGB, 53. Aufl. 2006, § 46 Rn. 5. 33 Vgl. Jescheck/Weigend (Fn. 19) S. 871. 34 Zip/in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 2, 7. Aufl. 1989, § 63 Rn. 103 ff.
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kung auf den jungen Täter zentrale Bedeutung zukommt,35 besonders relevant. Sitzen Nichtjuristen auf der Richterbank, muss die Verhandlung so geführt werden, dass sie für die Nichtjuristen verständlich ist.36 Mit Recht verlangt daher Nr. 126 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren, dass die Verhandlung so zu fuhren ist, dass die Schöffen ihr folgen können. Hierdurch wird die Verhandlung auch für Nichtjuristen transparent und wird erreicht, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz des § 169 S.l GVG seine Funktion der Kontrolle der richterlichen Tätigkeit durch die Allgemeinheit erfüllen kann.37 Weiterhin hält die Laienbeteiligung die Berufsrichter dazu an, ihre Ansicht von der Entscheidung des Falles klar und überzeugend in der Beratung darzulegen. Das dient der Selbstkontrolle der Berufsrichter.38 Gelingt es, eine Rechtsansicht gut verständlich und nachvollziehbar vorzutragen, ist dies ein Indikator dafür, dass sie in der Sache gut begründet ist. Zudem fordert die Laienbeteiligung den Zwang zur Auseinandersetzung mit neuen Gesichtspunkten und Gegenargumenten und kann Betriebsblindheit und unreflektierter Routine entgegenwirken.39 Das erhöht die Richtigkeitsgewähr für die Entscheidung. Im Jugendstrafverfahren können die Schöffen, die nach § 35 Abs. 2 S. 2 JGG erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein sollen, außerdem pädagogischen Sachverstand in die Hauptverhandlung einbringen. Schließlich können die Laienrichter ihre in den Verhandlungen gesammelten Erfahrungen über Ziele und Arbeitsweise der Strafjustiz durch Gespräche in die Bevölkerung tragen und damit das Verständnis für die Strafjustiz in der Bevölkerung fördern.40 Insgesamt dient die Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege dazu, Ansichten in der Bevölkerung über eine angemessene Entscheidung des Falles in das Strafverfahren einzubringen. Das bedeutet nicht, dass diese Ansichten einfach in ein Urteil umzusetzen sind. Vielmehr werden sie in der Verhandlung und Beratung mit den Überlegungen der Fachjuristen konfrontiert, so dass die Verhandlung durchaus zu einem Ergebnis führen kann, das von den ursprünglichen Vorstellungen der Laien abweicht. Indem die Berufsju35 Dazu Böttcher in: ders. u.a. (Hrsg.), Verfassungsrecht - Menschenrechte - Strafrecht. Kolloquium für Gollwitzer, 2004, S. 21 ff; Brunner/Dölling JGG, 11. Aufl. 2002, Einf. II Rn. 4. 36 Siehe Peters (Fn. 5) S. 119: „Die Mitwirkung der Laien zwingt den Berufsrichter zu einer klaren und gründlichen Durchführung des Verfahrens." 37 Zu den Funktionen des Öffentlichkeitsgrundsatzes siehe Roxin (Fn. 2) § 45 Rn. 2. 38 Schreiber in: Stratenwerth u.a. (Hrsg.), Festschrift für Welzel, 1974, S. 941, 951; Wolf (Fn. 15) S. 231. 39 Eser (Fn. 31) S. Mi, Jung (ΐη. 29) S. 330. 40 Jung (Fn. 29) S. 331; Schreiber (Fn. 38) S. 952.
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risten aber gezwungen werden, sich mit den Vorstellungen der Laien auseinander zu setzen,41 steigt die Aussicht, dass das Urteil von der Bevölkerung verstanden und akzeptiert wird und daher in der Lage ist, den Rechtsfrieden wiederherzustellen. Weicht das Urteil von den Vorstellungen der Laienrichter ab, wird der Berufsrichter die Gründe hierfür in der Urteilsbegründung darzulegen haben. Da er die Sichtweise der Laien kennt, kann er sich damit in der Begründung auseinandersetzen und damit die Chance für die Akzeptanz des Urteils erhöhen. Die Beteiligung von Laien an der Strafrechtspflege ist daher geeignet, eine fur die Allgemeinheit unverständliche Rechtsprechung der Strafgerichte zu verhindern und damit dem Vorwurf der Kälte und Volksfremdheit der Strafjustiz entgegenzuwirken. Die Laienrichter sind somit Vermittler zwischen professioneller Strafjustiz und Bevölkerung. Sie tragen die Ansichten der Bevölkerung in die Rechtsprechung hinein und sie tragen dazu bei, dass die Justiz mit Urteilen auf die Bevölkerung einzuwirken versucht, in deren Entstehungsprozess die Sichtweise der Bevölkerung eingeflossen ist und die daher eine Chance haben, von der Bevölkerung als angemessene Konfliktlösung akzeptiert zu werden.42 Dies ist insbesondere für die Erfüllung der Funktion der positiven Generalprävention wichtig. Auch die Verständlichkeit des Verfahrens und der Entscheidung für den Angeklagten und damit die spezialpräventive Wirkung des Strafrechts kann durch die Laienbeteiligung gefordert werden. Spezialprävention wird wesentlich erleichtert, wenn der Angeklagte das Verfahren und das Urteil verstehen und die Entscheidung als gerecht empfinden kann. Strafjustiz ist Zwangsausübung, erschöpft sich aber nicht darin. Strafjustiz ist auch Kommunikation - Kommunikation mit dem Angeklagten, dem Verletzten und mit der Bevölkerung.43 Ihnen sollen die strafrechtlich geschützten Werte vermittelt werden. Erfolgreiche Kommunikation setzt Verständlichkeit für den Kommunikationspartner voraus. Es ist daher eine kluge Entscheidung des Gesetzgebers, dass er die Strafurteile durch das Zusammenwirken von Fachjuristen und Laien erarbeiten lässt. Dies fordert Rationalität und fachliche Fundiertheit der Entscheidungen einerseits und Vermittelbarkeit und allgemeine Überzeugungskraft der Urteile andererseits. Das deutsche Modell des Schöffengerichts, in dem Berufsrichter und Laienrichter in einem Spruchkörper zusammenwirken, erscheint dem anglo-amerikanischen Modell, in dem Berufsrichter und
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' Die Notwendigkeit dieser Auseinandersetzung betont Jung (Fn. 29) S. 331. Vgl. Eser (Fn. 31) S. 180; Rieß in: Hassenpflug (Hrsg.), Festschrift für Karl Schäfer, 1980, S. 155, 217 f. 43 Zum Strafrecht als Kommunikationsmedium siehe Bussmann Verbot familialer Gewalt gegen Kinder, 2000, S. 253 ff. 42
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Laienrichter mit getrennten Entscheidungskompetenzen nebeneinander stehen, überlegen, denn es ermöglicht es, in alle Entscheidungen professionellen Sachverstand und allgemeine Lebenserfahrung einzubinden.44 Die Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege ist somit theoretisch gut begründet. Dies sichert freilich noch nicht ihren Erfolg. Vielmehr müssen die gesetzlichen Vorschriften in der Praxis der Strafrechtspflege auch angemessen umgesetzt werden. Zur Rechtswirklichkeit der Laienbeteiligung im deutschen Strafverfahren liegen anders als zur anglo-amerikanischen Jury45 nur wenige empirische Untersuchungen vor, die auf einzelne Bundesländer begrenzt sind.46 Die empirische Erfassung des tatsächlichen Einflusses der Laienrichter auf die Urteile ist wegen des Beratungsgeheimnisses schwierig. Den Untersuchungen lassen sich jedoch einige Hinweise auf die Realität der Laienbeteiligung entnehmen. Danach kann die überwiegende Mehrheit der Schöffen einer durchschnittlichen Hauptverhandlung gut folgen. 47 In Einzelfallen können jedoch Verständnisprobleme auftreten.48 Die Befunde indizieren, dass die Entscheidungsprozesse von Laienrichtern und Berufsrichtern im Wesentlichen gleich strukturiert sind und gleichermaßen rationalen Kriterien folgen. 49 Schöffen scheinen keine stärkere Vorliebe fur extrem harte oder extrem milde Strafen zu haben als Berufsrichter.50 Eine nennenswerte Beeinflussung der Laienrichter durch die Medien51 konnte 44
Gegen eine Übernahme der Jury-Verfassung auch Jung (Fn. 29) S. 332; für Vorzugswürdigkeit eines aus Berufs- und Laienrichtern zusammengesetzten Gerichts gegenüber der Jury auch Grube Richter ohne Robe. Laienrichter in Strafsachen im deutschen und angloamerikanischen Rechtskreis, 2005, S. 262 f. 45 Siehe dazu Frederick The Psychology of the American Jury, 1987; Hans in: Kagehiro/Laufer (Hrsg.), Handbook of Psychology and Law, 1992, S. 56 ff.; Kassin/ Wrightsman The American Jury on Trial. Psychological Perspectives, 1988. 46 Vgl. Casper/Zeisel in: dies. (Hrsg.), Der Laienrichter im Strafprozeß, 1979, S. 21 ff.; Gerken in: Gerken/Schumann (Hrsg.), Ein trojanisches Pferd im Rechtsstaat. Der Erziehungsgedanke in der Jugendgerichtspraxis, 1988, S. 101 ff.; Klausa Ehrenamtliche Richter, 1972, S. 23 ff.; Kronenberger in: Jung (Hrsg.), Alternativen zur Strafjustiz und die Garantie individueller Rechte der Betroffenen, 1989, S. 185 ff.; Kühne in. Jung, a.a.O., S. 175, 177, 180 ff.; Lieber/Burchardt Laienrichter - Dekoration oder Demokratie am Richtertisch?, 1989, S. 7 ff.; Machura Fairneß und Legitimität, 2001, S. 161 ff.; Rennig Die Entscheidungsfindung durch Schöffen und Berufsrichter in rechtlicher und psychologischer Sicht, 1993. Auf den Mangel an empirischen Befunden weisen auch Jung (Fn. 29) S. 322 f., und Volk (Fn. 7) S. 378, hin. Zu Laienrichtern in der Verwaltungsgerichtsbarkeit siehe Schiffmann Die Bedeutung der ehrenamtlichen Richter bei Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1974, S. 95 ff. 47 Rennig (Fn. 46) S. 532 ff., 571. 48 Rennig (Fn. 46) S. 571. 49 Rennig (Fn. 46) S. 543 ff., 550 ff., 570. 50 Rennig (Fn. 46) S. 570. 51 Eine stärkere Beeinflussbarkeit der Laienrichter als der Berufsrichter durch die Medien wird häufig gegen die Laienbeteiligung angeführt, vgl. etwa Baur in: Rechtswissenschaftliche Abteilung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen
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bisher nicht belegt werden.52 Die Aktivitäten der Schöffen in der Verhandlung und in der Beratung werden als eher gering geschildert.53 Es wird berichtet, dass ein erheblicher Teil der Laienrichter selbst durch Aufforderungen seitens der Vorsitzenden nicht zu einer aktiven Beteiligung an der Beratung zu bewegen ist.54 Fragen von Laienrichtern in der Verhandlung scheinen nicht selten zu sein.55 Nach den erhobenen Befunden bestehen in nicht wenigen Fällen Meinungsverschiedenheiten zwischen Laienrichtern und Berufsrichtern über den Inhalt der Entscheidung.56 In diesen Fällen setzen sich in der Regel die Berufsrichter durch.57 Es wird angenommen, dass viele Laienrichter zwar ihre Ansichten in das Verfahren einbringen möchten, aber danach streben, Meinungsverschiedenheiten mit dem Vorsitzenden zu vermeiden.58 Der Anteil der Fälle, in denen die Laienrichter einen deutlich wahrnehmbaren Einfluss auf das Verfahrensergebnis ausüben, wird als gering angesehen.59 Die Mehrheit der befragten Laien- und Berufsrichter befürwortete die Laienbeteiligung an der Strafrechtspflege.60 Es bestehen also sowohl Anlass als auch Ansatzpunkte fur Verbesserungen. Erforderlich ist eine sorgfältige Auswahl der Laienrichter.61 Diese müssen sich dem Allgemeinwohl verpflichtet fühlen und offen sein für die Anliegen der Justiz. Zutreffend hat Karl Peters ausgeführt, dass die Auswahl der Schöffen so erfolgen muss, „daß einwandfreie, kluge, rechtlich denkende, unvoreingenommene Personen mit dem Amte betraut werden".62 Es bedarf einer gründlichen Schulung der Schöffen. 63 Hierbei geht es nicht
(Hrsg.), Tübinger Festschrift für Kern, 1968, S. 49, 53 f.; Windel ZZP 112 (1999), S. 293, 296 f. 52 Rennig (Fn. 46) S. 506 f., 574. 53 Rennig (Fn. 46) S. 567. 54 Rennig (Fn. 46) S. 531, 569; vgl. aber zur Beteiligung an der Beratung auch Machura (Fn. 46) S. 228. 55 Casper/Zeisel (Fn. 46) S. 37; Rennig (Fn. 46) S. 529 f. 56 Casper/Zeisel (Fn. 46) S. 41 ff.; Lieber/Burchardt (Fn. 46), S. 15; Machura (Fn. 46) S. 232; Rennig (Fn. 46) S. 554 ff.; 575. 57 Casper/Zeisel (Fn. 46) S. 80 ff.; Machura (Fn. 46) S. 236 ff.; Rennig (Fn. 46) S. 558. 58 Rennig (Fn. 46) S. 568, 572 f., 577. 59 Casper/Zeisel (Fn. 46) S. 84 f.; Gerken (Fn. 46) S. 119; Kühne (Fn. 46) S. 180; Rennig (Fn. 46) S. 567, 573, 575; vgl. auch Klausa (Fn. 46) S. 78, der von einem „gewissen Einfluß" der Laienrichter spricht. 60 Klausa (Fn. 46) S. 53 ff.; Kühne (Fn. 46) S. 180; Rennig (Fn. 46) S. 487 ff. 61 Ältere Daten zur Auswahl der Schöffen bei Klausa (Fn. 46), S. 23 ff.; zu soziodemographischen Merkmalen von Schöffen siehe auch Kronenberger (Fn. 46) S. 186 f.; Machura (Fn. 46), S. 176 ff. 62 Peters (Fn. 5) S. 119. 63 Jung (Fn. 29) S. 332.
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um die Vermittlung von Juristischer Halbbildung"64 und die Verwischung der Unterschiede zwischen Berufs- und Laienrichtern. Vielmehr müssen den Schöffen die Grundlagen des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts vermittelt werden, so dass sie imstande sind, ihr Amt sachgerecht auszuüben.65 Wichtig ist der Umgang der Berufsrichter mit den Schöffen. Die Qualität des Beitrags der Laienrichter hängt nicht nur von ihnen, sondern auch von den Berufsrichtern ab. „In gewisser Hinsicht" - so hat Klausa es formuliert - „formt sich jeder Richter seine Schöffen selber".66 Die Berufsrichter dürfen die Schöffen nicht als unnötigen Ballast empfinden, sondern müssen sie als Mit-Richter ernst nehmen, ihnen insbesondere die Rechtslage und die in Betracht kommenden Entscheidungsmöglichkeiten verständlich darlegen und sich mit den Ansichten der Schöffen im Dialog auseinandersetzen. Werden die Laienrichter von den Berufsrichtern anerkannt und gefördert, werden die Chancen dafür wesentlich erhöht, dass die Laienrichter ihren gesetzlich intendierten Beitrag zur Entscheidungsfindung leisten können. Die Schöffen müssen ihr Amt selbstbewusst wahrnehmen, auf Verständlichkeit der Verhandlung bestehen und ihre Ansichten unter Anerkennung des Sachverstandes der Berufsrichter in das Verfahren einbringen.67 Gegenwärtig besteht die Gefahr, dass die Strafjustiz zunehmend als bürokratischer Apparat erscheint, dem es vor allem darauf ankommt, mit möglichst wenig Kosten möglichst schnell möglichst viele Entscheidungen zu treffen. Manchmal scheint es, als ginge es mehr um günstige betriebswirtschaftliche Kennzahlen als darum, Tätern, Opfern und dem Gerechtigkeitsbedürfhis der Allgemeinheit gerecht zu werden. Dem muss durch die in der Strafjustiz tätigen Juristen entgegengewirkt werden, aber auch die Laienbeteiligung kann dazu dienen, einer unangemessenen Ökonomisierung der Strafjustiz, etwa durch voreilige Absprachen der Verfahrensbeteiligten,68 vorzubeugen. Die Einwirkungsmöglichkeiten der Laienrichter auf die Strafrechtspflege sind allerdings begrenzt. Das liegt nicht nur am fachlichen Vorsprung der Berufsrichter, sondern auch daran, dass zahlreiche Straf64
Siehe aber Kühne (Fn. 11) 238, nach dem die Fortbildung der Schöffen „sowieso nur zu juristischer Halbbildung fuhren" könnte. 65 Vgl. aber auch Eser (Fn. 31) S. 179, der sich dagegen ausspricht, den Schöffen Grundkenntnisse des materiellen Rechts zu vermitteln. 66 Klausa (Fn. 46) S. 67. 67 Vgl. Hillenkamp in: H.-J. Albrecht u.a. (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht. Festschrift für Kaiser, 1998, S. 1437, 1559. Zur umstrittenen Frage der Akteneinsicht durch die Laienrichter siehe RGSt 69, 120; BGHSt 13, 73; 43, 36; Hillenkamp a. a. O., S. 1437 ff.; Schreiber (Fn. 38) S. 941 ff. 68 Zu den Absprachen im Strafverfahren siehe Böttcher Referat beim 58. Deutschen Juristentag, Verhandlungen des 58. DJT, Band II, 1990, L 9 ff.; Böttcher/Widmaier JR 1991, 353 ff.; Böttcher in: Eser u.a. (Hrsg.), Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis. Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 49 ff.
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rechtsfälle heute ohne Hauptverhandlung erledigt werden und ehrenamtliche Richter nur an einem kleinen Teil aller Hauptverhandlungen beteiligt sind.69 Umso wichtiger ist es, dass die Laienrichter in den verbleibenden Fällen, die vor allem die gravierende Kriminalität betreffen, ihr Amt wirksam wahrnehmen.70 Hierdurch leisten sie einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration und können daran mitwirken, dass es in der Strafrechtspflege nicht zu einer Entfremdung von Staat und Gesellschaft kommt71 und die Strafrechtspflege sich weiterhin den Werten der Gerechtigkeit und Humanität verpflichtet fühlt und damit einem Anliegen gerecht wird, dass dem verehrten Jubilar besonders am Herzen liegt.
69 Zu den Erledigungsstrukturen der Strafjustiz vgl. Heinz in: Grafl/Medijovic (Hrsg.), Festschrift für Burgstaller, 2004, S. 507 ff. 70 Siehe auch Jung Richterbilder. Ein interkultureller Vergleich, 2006, S. 78: „Angesichts der zunehmenden Zurückdrängung der öffentlichen Hauptverhandlung werden Schöffengerichtssysteme mehr denn je unverzichtbar". 71 Vgl. Jung (Fn. 70) S. 77, der von einer „Brückenfunktion" der Laienrichter spricht.
Von Flutwellen, Sümpfen und Wetterzeichen - zu den aktuellen Bestrebungen, Urteilsabsprachen per Gesetz zu „zähmen" GUNNAR DUTTGE
L „Absprachen zum Verfahrensergebnis sind aus der Verfahrenswirklichkeit nicht mehr zu verdrängen" 1 . Mit dieser Einschätzung, formuliert bereits im Jahre 1991 im Anschluß an die erste2 von mehreren zentralen Weichenstellungen, resultierend aus den Beschlüssen des 58. Deutschen Juristentages,3 prägte sein langjähriger Repräsentant und Vordenker eine Sichtweise, die nicht danach strebte, das Feld für jene etwa von Schünemann erhofften „drei klaren Worte von Bundesgerichtshof oder Bundesverfassungsgericht"4 zu bereiten, sondern die sich im Sinne einer mittleren Linie5 dafür entschied, der bereits um sich greifenden „Macht der Fakten"6 innerhalb noch auszuleuchtender rechtlicher Grenzen um der „Verantwortung für die knappe Ressource Recht" sowie der Opferinteressen willen dem allgemeinen „Trend zu mehr Kooperation" zwischen Staat und „mündigem Bürger" entsprechend Raum zu belassen.7 Wer sich die seinerzeitige Debatte heute noch einmal vergegenwärtigt, wird deutlich verspüren, daß dieser seither mehrheitlich für richtig gehaltene Weg des Kompromisses von einem schier unerschütterlichen Grundvertrauen in eine fortwährend um strikte Sachori1
Böttcher/Widmaier JR 1991, 353, 354. Sofern man nicht schon in BVerfG NStZ 1987, 419 eine erste - vertane - Chance der Intervention sehen will. 3 In: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 58. Deutschen Juristentages, Bd. II (Sitzungsberichte), 1990, L 190 ff. 4 Vgl. Schünemann Rieß-FS 2002, S. 525, 532. 5 Hierfür dezidiert auch Meyer-Goßner Gollwitzer-Kolloquium 2004, S. 161 ff. 6 Der freilich nur unter Inkaufnahme eines „naturalistischen Fehlschlusses" normative Kraft zugebilligt werden kann; wer dagegen normativ die Absprachenpraxis für illegal bzw. illegitim hält, muß auf dieses Werturteil auch kontrafaktisch beharren (vgl. dazu den Tagungsbericht von Kreß ZStW 116 [2004], 172, 174 und 187). 7 Vgl. Böttcher Referat zum 58. Deutschen Juristentag, in: Ständige Deputation (o. Fn. 3), L 9, 12 ff., insbes. L 16 f. 2
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entierang, Gesetzestreue und hohe Professionalität besorgte Strafjustiz getragen war. Es herrschte - sei es zu Recht oder zu Unrecht - überwiegend die Auffassung vor, daß in der Praxis „aufgetretene Problemfalle" nur Ausnahmen darstellten, möglicherweise auf „anfängliche Unsicherheit und mangelnde Vertrautheit mit den Schwierigkeiten" der neuen Verfahrensweise zurückführen, hingegen im Regelfall die hehren Grundsätze und Vorgaben des Strafprozeßrechts Beachtung fänden. 8 Dennoch erschien es dem 58. Deutschen Juristentag offenbar von einiger Wichtigkeit, der Strafjustiz zu empfehlen, sich mit Blick auf das schon seinerzeit „gefährdete Vertrauen ... der Verantwortung für die Glaubwürdigkeit der Strafrechtspflege bewußt zu sein und Grenzüberschreitungen zu vermeiden" 9 . Was seither geschehen ist, hat der frühere Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Meyer-Goßner sichtlich ernüchtert auf die prägnante Formel gebracht: „Die Praxis dealt mehr denn je" 1 0 . Heute ist längst nicht mehr von bloßen Ausreißern, sondern von alltäglichem, nahezu flächendeckendem Konsum der „Absprachendroge" und schwerster Abhängigkeit" die Rede, gar von einem schleunigst trocken zu legenden „Sumpf' 1 2 , ehe die Flutwellen der (illegalen) Urteilsabsprachen auch noch die Revisionsgerichte überrollen, seit das 1. Justizmodernisierungsgesetz 13 die Kompetenz zur „angemessenen Herabsetzung" der Rechtsfolgen „auf Antrag der Staatsanwaltschaft" (§ 354 Abs. la StPO) begründet hat. 14 Während das überlieferte Selbstverständnis einer an Gesetz und bundesgerichtlicher Normkonkretisierung gebundenen Strafjustiz spätestens seit BGHSt 43, 195 die Prognose keineswegs unrealistisch erscheinen ließ, daß die Rechtspraxis nunmehr „über das notwendige Problembewußtsein [verfüge] und ... um Zurückhaltung und rechtsstaatliche Sorgfalt bemüht" sein werde, es somit nur noch gelte, „den erreichten Konsens ... in rechtsstaatlicher Praxis zu bestätigen", 15 verstärkt sich schon bei einem kursorischen Blick auf die den Bundesgerichtshof zuletzt beschäftigenden Fälle - gewiß nur ein äußerst 8
Siehe Böttcher (o. Fn. 7), L 17; die gleichwohl nicht einhellig geteilte Sicht auf die Praxis hat Böttcher explizit in einem Diskussionsbeitrag thematisiert, vgl. ebd., L 126. 9 Beschluß 15. des 58. DJT, in: Ständige Deputation (o. Fn. 3), L 200. 10 Meyer-Goßner Schünemann-Symposium 2005, S. 235. 11 Vgl. Weigend NStZ 1999, 57, 63; siehe auch Duttge ZStW 115 (2003), 539, 540. 12 Meyer-Goßner (o. Fn. 10), S. 243 zu den heimlichen, d.h. rechtswidrigen „Absprachen" (= „Deal"). 13 Vom 24.8.2004, BGBl. I, 2198. 14 Eindrucksvolle Fallschilderung bei Hamm Dahs-FS 2005, S. 267, 273 ff. 15 Böttcher/Dahs/Widmaier NStZ 1993, 375 und 377; siehe auch Böttcher Meyer-GoßnerFS 2001, S. 49, 58: „Seit BGHSt 43, 195 kann von einer solchen Unsicherheit wohl überhaupt nicht mehr gesprochen werden"; weiterhin Meyer-Goßner Gollwitzer-Kolloquium 2004, S. 161, 162: „Man konnte erwarten, daß die Rechtspraxis sich an diese Regeln halten würde..."
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kleiner, nur zufallsbedingt ins helle Licht der Aufmerksamkeit getretener Ausschnitt des eigentlichen Geschehens - der Eindruck, daß die Entwicklung mittlerweile die „Grundfesten des Strafverfahrens" erschüttert und mit absehbar fatalen Folgen für das Ansehen der Strafjustiz in der Öffentlichkeit „in Beliebigkeit auflöst" 16 : Da wird etwa, um nur wenige der in jüngster Vergangenheit bekanntgewordenen Fallgestaltungen in Erinnerung zu rufen, ungeniert die Fortdauer der Haft als Mittel zum Verzicht auf einen in Aussicht genommenen Beweisantrag17 oder zur Herbeiführung der Absprache und insbesondere auch des Rechtsmittelverzichts eingesetzt,18 der Angeklagte im Sinne einer von ihm zu erbringenden „Vorleistung" zur Abgabe „sämtlicher aus Sicht der Kammer zur beschleunigten Beendigung der Hauptverhandlung erforderlichen prozessualen Erklärungen", m.a.W. zu einem umfassenden Verzicht auf seine Verteidigungsrechte genötigt19 oder die „Offerte" einer bei Nichtgestehen erfolgenden Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren anstelle einer solchen von zwei Jahren auf Bewährung mit bemerkenswerter Chuzpe - und zwar fur beide Alternativen (!) - für vereinbar mit dem Gebot schuldangemessenen Strafens gehalten.20 Dabei ist bei einer „Sanktionenschere" solchen Ausmaßes bisher allein unklar geblieben, ob die „Grenzüberschreitung" am unteren oder am oberen Rand erfolgt, ob also eher die Absprachensanktion von übermäßiger Milde geprägt (d.h. „Lockmittel") ist oder aber die erhöhte Sanktion nach streitiger Hauptverhandlung als „Bestrafung für die Verweigerung einer Absprache"21 verstanden werden muß. Die jüngsten Erkenntnisse des Erlangener Kriminologen Streng legen die letztgenannte Annahme nahe, daß also die Praxis „die für die Kooperation des Angeklagten angebotene Strafe ... ganz normal bestimmt und zugleich ... eine weit überhöhte Strafe in den Raum ... stellt [die im Falle erwartungswidriger Ablehnung des „Angebots" zur Vermeidung eines Gesichtsverlusts auch annäherungsweise verhängt wer-
16 So die frühere Vorsitzende des 5. Strafsenats und heutige Generalbundesanwältin Harms Nehm-FS 2006, S. 289, 294 f.; weitere Fallbeispiele bei Erb Blomeyer-GS 2004, S. 743, 750 ff. 17 BGH StV 2004,636 ff. 18 Indem das Gericht die Verkündung des (aufhebenden) Haftbeschlusses (§ 268b StPO) von der Urteilsverkündung trennt und noch vor Ergehen des Beschlusses die Rechtsmittelverzichtserklärung von Angeklagtem und Verteidiger entgegennimmt, vgl. BGH Beschl. v. 1.7.2005 - 5 StR 583/03 (noch unveröffentlicht); s.a. BGH StV 2004, 360 ff. 19 BGH Beschl. v. 18.5.2006 - 4 StR 153/06 (noch unveröffentlicht). 20 BGH StV 2000, 556, 557; 2002, 637, 639; siehe auch BGH StV 2004, 470, 471: 2 Jahre mit Bewährung gegenüber 6 Jahre Freiheitsentzug; BGH StV 2005, 201: 3 Jahre 6 Monate gegenüber „6 bis 7 Jahre" (vgl. aber auch BGH, Beschl. v. 21.3.2006 - 3 StR 411/04: Vorbringen des Revisionsfuhrers „frei erfunden"). 21 Nestler Schünemann-Symposium 2005, S. 15, 19 f.
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den muß!] 22 , um den Angeklagten zu dem gewünschten Verhalten zu veranlassen"23. Ein vielfach verbürgtes Vorgehen eines Strafkammervorsitzenden beinhaltete die Mitteilung an den „einbestellten" Verteidiger, daß die Kammer zur Vermeidung des „Langstreckentarifs" (bei „streitiger" Verhandlung) auch über einen „Mittelstrecken-" (Verhandlung bis zur Vernehmung des Angeklagten zur Sache) und einen „Kurzstreckentarif' verfuge, letzterer allerdings nur für den Fall, daß allein „die Anklageschrift, nicht aber die Akten gelesen werden müßten" 24 . Der Versuch, die Begleichung einer mit der angeklagten Tat in keinerlei „innerem Zusammenhang"25 stehenden Steuerschuld im Wege der Absprache durchzusetzen, zeigt schlagend, daß der tatgerichtlichen Kreativität keine Grenzen gesetzt sind, sofern nur die revisionsgerichtliche Kontrolle mittels des „vereinbarten Rechtsmittelsverzichts" ausgeschaltet wird, auf den die Praxis verständlicherweise nicht verzichten mag.26 Daß diese letztlich radikale Negierung der gesamten gesetzlich vorgegebenen, auf eine wechselseitige Kontrolle und Balance der vorhandenen Machtpotentiale ausgerichteten Verfahrensstruktur samt ihrer „schützenden Formen" und Ersetzung durch eine moderne Weise des „mittelalterlichen Ablaßhandels"27 nur als „Wetterzeichen" eines drohenden „Untergangs der Rechtskultur" und beginnender „Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit an der schlechthin empfindlichsten Stelle, die das Staat-Bürger-Verhältnis kennt" 28 , begriffen werden kann, sollte seit Eberhard Schmidts Warnung vor einer mit weitreichenden Entformalisierungen einhergehenden „Auslieferung der forensischen Wahrheitsfindung an ... Willkür" 29 nicht mehr als bloße Polemik abgetan werden. Selbst der Bundesgerichtshof spricht in seiner jüngsten Grundsatzentscheidung von „Fehlentwicklungen" und einer
22
Zusatz von Verf. Streng Schwind-FS 2006, S. 447,465. 24 Dazu insbesondere Weider NStZ 2002, 177 ff.; StraFo 2003, 408 ff. 25 Zu diesem Erfordernis: BGH NStZ 2004, 338 f. m. Anm. Weider·, siehe auch Beulke/Swoboda JZ 2005, 71 ff. 26 Rieß hat erst kürzlich nochmals das Vorliegen „empirisch hinreichend gesicherter Anhaltspunkte" bekräftigt, „daß in der tatrichterlichen Praxis die Vereinbarung oder stillschweigende Erwartung eines späteren Rechtsmittelverzichts nach wie vor verbreiteter Bestandteil einer Urteilsabsprache ist" (JR 2005, 435, 437); siehe auch Dahs NStZ 2005, 580: „Die definitive Verfahrensbeendigung in einem verkürzten Verfahren ist stets die ausdrückliche oder stillschweigende conditio jeder Absprache, weil das Interesse an der Verfahrenserledigung beherrschendes Motiv fur das Handeln aller Beteiligten ist". 23
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Sinner Der Vertragsgedanke im Strafprozeßrecht, 1999, S. 147 Fn. 50. Schünemann Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur, 2005, S. 37; siehe auch Erb Blomeyer-GS 2004, S. 743, 750 ff: „rechtsstaatswidrige Exzesse". 29 Eb. Schmidt Der Strafprozeß - Aktuelles und Zeitloses, 1969, in: Strafprozeß und Rechtsstaat. Strafprozeßrechtliche Aufsätze und Vorträge, 1970, S. 284,291. 28
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Abkehr der „quasi-vertraglichen" Absprachen vom „Leitbild der materiellen Wahrheit", das ihm rechtsgrundsätzlich durchaus noch als „notwendige Grundlage eines gerechten Urteils" und daher als „zentrales Ziel eines rechtsstaatlich geordneten Strafverfahrens" gilt.30 Sein eindringlicher „Appell" an den Gesetzgeber, die Frage der „Zulässigkeit und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen ... zu regeln" 31 , enthält das Eingeständnis der Aussichtslosigkeit aller Hoffnungen, den anhaltenden „Widerstand der Praxis"32 gegen richterrechtlich bereits gezogene Grenzlinien doch noch qua höchstrichterlicher Rechtsprechung überwinden zu können.33 Der Blick richtet sich somit neuerdings vermehrt auf den Gesetzgeber, der sich seiner Verantwortung und Gestaltungsaufgabe inzwischen stärker bewußt geworden zu sein scheint, nachdem er sich in einem ersten Anlauf noch ganz auf einen „legislativen Nachvollzug"34 jener in ihrer begrenzenden Wirkung fraglichen und ohnehin für „Umgehungsstrategien" anfalligen35 Leitsätze aus BGHSt 43, 195 beschränken wollte.36 Im Anschluß an erste Regelungsvorschläge („Eckpunkte") der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte,37 einen ausformulierten Entwurf der Bundesrechtsanwaltskammer3S sowie einen Gesetzesvorschlag des Landes Niedersachsen39 liegt seit Mai 2006 inzwischen ergänzt durch eine kritische Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins40 - auch ein Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums4] vor, der für sich in Anspruch nimmt, die aus Gründen der „Rechtssicherheit und gleichmäßigen Rechtsanwendung" dringliche Regelung der „umstrittenen" Urteilsabsprachen in einer Weise 30
BGH (GS) NJW 2005, 1440, 1442 und 1446 f. BGH, ebd. 32 Meyer-Goßner Gollwitzer-Kolloquium 2004, S. 161, 181. 33 Vgl. BGH (o. Fn. 31): „Versuche der obergerichtlichen Rechtsprechung, Urteilsabsprachen ... im Wege systemimmanenter Korrektur von Fehlentwicklungen zu strukturieren ..., können daher nur unvollkommen gelingen und führen stets von neuem an die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung"; siehe auch Rieß JR 2005, 435,437: nur „zeitlich befristete Notlösung"; Schünemann (o. Fn. 28, S. 38) richtet seine Hoffnungen auf das Bundesverfassungsgericht; skeptisch dagegen Weigend in: Goldbach (Hrsg.), Der Deal mit dem Recht, 2004, S. 37,48. 34 Landau ZRP 2004, 146, 150. 35 Dazu näher Weigend NStZ 1999, 57, 59 ff. 36 Vgl. Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens (Februar 2004), S. 24, 42 ff.; zu Recht krit. Satzger in: Bockemühl (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 3. Aufl. 2006, Teil H, Kap. 3, Rn. 76a: „unzureichende minimalistische Lösung"; Schünemann StraFo 2004, 293, 295 Fn. 21: „kümmerliche Maus". 37 Abgedruckt in: NJW 2006, Heft 1-2, S. XVI f. 38 Abrufbar unter: www.brak/de/seiten/pdf/Stellungnahmen/2005/Stn25_05.pdf. 39 BR-Drucks. 235/06. 40 Abrufbar unter: www.anwaltverein.de/03/05/2006/46-06.pdf. 41 Abrufbar unter: www.bmj.bund.de/media/archive/1234.pdf. 31
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ausgestalten zu können, die „mit den tradierten Grundsätzen des deutschen Strafverfahrens übereinstimmt" 42 . Eben dies war stets auch das Anliegen nicht nur des Bundesgerichtshofs,43 sondern ebenso des verehrten Jubilars44, der sich frühzeitig fur eine (freilich „kleine") „gesetzgeberische Lösung" (im Sinne der Beschlüsse des 58. Deutschen Juristentages) eingesetzt und es auch zuletzt ungeachtet der Bemühungen der Rechtsprechung als „merkwürdigen Zustand" bezeichnet hat, „daß eine so tiefteichende Neuorientierung des Strafprozesses, wie sie sich in den Urteilsabsprachen zeigt, vom Gesetzgeber nicht aufgegriffen wird" 45 . Die nachfolgenden Überlegungen sind daher von der Hoffnung getragen, daß sie sein besonderes Interesse finden und ihm als angemessene Gabe zu seinem Ehrentag erscheinen, mit dem sich die herzlichsten Glückwünsche verbinden.
II. Jede gesetzesförmliche Öffnung des Strafprozesses für „abgesprochene" Verfahrenserledigungen kann nur das Ziel verfolgen, „Normprogramm und Rechtswirklichkeit wieder einander anzunähern"46. Soll sich das Anliegen der Reform aber nicht darin erschöpfen, die empirisch zu konstatierende „Aufweichung der Verfahrensgrundsätze" nur mehr legalisierend nachzuzeichnen,47 muß sich eine den geltenden Verfahrensprinzipien weiterhin verpflichtete Intervention des Gesetzgebers an drei Grundfragen messen lassen: Es bedarf erstens vor allem der näheren Prüfung, ob das absprachebedingt beschleunigte Verfahren den Grundsatz der Wahrheitsermittlung nicht unvermeidlich nur noch als leere Fassade mit sich führt, oder ob sich eine solchermaßen abgekürzte Verfahrenserledigung „so organisieren läßt, daß es nicht zu einem bloß abgesprochenen, sondern zu einem [zugleich] der materiellen Wahrheit jedenfalls angenäherten Urteil fuhrt" 48 . Bliebe das alte Leitbild dagegen nur noch Gegenstand historischer Reminiszenz,49 so 42
Referententwurf (o. Fn. 41), S. 1. Vgl. Meyer-Goßner Gollwitzer-Kolloquium 2004, S. 161, 162: „Der Bundesgerichtshof hat ... versucht, Regeln aufzustellen, die er für mit der geltenden StPO (noch) vereinbar gehalten hat". 44 Siehe Böttcher Referat (o. Fn. 7), L 18: „Es darf kein Sonderrecht, keine Privilegien für Absprachen geben", sowie L 17: „Verfassungsrecht und einfaches Gesetz ... setzen Grenzen, die ... nicht verschoben werden dürfen". 45 Böttcher Meyer-Goßner-FS 2001, S. 49, 58. 46 Jahn ZStW 118 (2006), 427, 461. 47 Dazu strikt ablehnend Hamm Dahs-FS 2005, S. 267, 272. 48 Kreß ZStW 116 (2004), 172, 182 (Zusatz durch Verf.). 49 Siehe Volk Dahs-FS 2005, S. 495, 496: „Die gute alte StPO glaubt ... an die Wahrheit, die es »gibt« wie ein vergrabenes Goldstück...". 43
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könnte der Ausweg allein in dem Bemühen gesucht werden, die „Legitimität des Tauschhandels" 50 zum neuen Fundament gerechtfertigten Strafens zu erheben. Hier dürften allerdings die verfassungsrechtlichen und straftheoretischen Hürden kaum zu überwinden sein, solange der Sinn strafrechtlicher Verfolgung und Ahndung nicht auf die „Lösung" eines interpersonalen „Konflikts" (ausgetragen im Verhältnis von Anklage/Nebenklage und Beschuldigtem/Verteidigung) reduziert, sondern unter Einbeziehung des Gemeinwohlinteresses (Generalprävention!) in der „Herstellung eines recht verstandenen Rechtsfriedens" 51 gesehen wird. Einfachgesetzlich mögen sich durchaus bereits Erscheinungsformen eines „Konsensprinzips" aufweisen lassen (vgl. § 153a; §§ 407 ff. StPO) 52 : Diese taugen jedoch nicht als Beleg und Anknüpfungspunkt für Weiterungen 53 jenseits eines „ernsthaften und angestrengten Strebens nach Wahrheit und Gerechtigkeit", wenn und soweit sich hiermit untrennbar die „soziale Funktion eines Strafprozesses" verbindet. 54 Eben eine solche verfassungsrechtliche Befestigung des Gebots „bestmöglicher Wahrheitserforschung" zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Rechtsstaatsprinzip ist jedoch durch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gleichsam „in Stein gemeißelt", was erst kürzlich auch Jahn einräumen mußte: 55 Er selbst meint zwar, auf dem Boden einer „konsensustheoretischen Auslegung ... des § 244 Abs. 2 StPO" 56 in idealistischer Fruchtbarmachung des zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung bestehenden „Rollenantagonismus" 57 der daraus resultierenden „prozeduralen Wahrheit" eine ebenso große „Richtigkeitsgewähr" zu-
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Weßlau ZStW 116 (2004), 150, 171: „ungelöstes Gerechtigkeitsproblem, das kein Gesetzgeber ignorieren kann". 51 Treffend Kreß ZStW 116 (2004), 172, 186; verkürzend BRAK (o. Fn. 38), S. 4: „Konsens schafft Frieden". 52 Eingehende Problemanalyse bei SK/StP(We/?/au vor §§ 407 Rn. 12 ff. (Stand: 42. Aufbau-Lfg., Januar 2005). 53 Die auch Meyer-Goßner unter den Vorbehalt der „verfassungsrechtlichen Schranken" stellt, vgl. in: StV 2006,485, 486 m. Fn. 8. 54 Überzeugend Weigend ZStW 113 (2001), 271, 304. 55 Vgl. Jahn ZStW 118 (2006), 427,437 f. 56 Jahn ZStW 118 (2006), 427, 454 sowie bereits in: GA 2004, 272, 280 ff. 57 Merkwürdig ambivalent aber ebd., 457: „Konsens kann (!) auch im Rahmen des § 244 Abs. 2 StPO Garant (?) für die Richtigkeit der Entscheidung sein". - Entweder negiert der Wahrheitsbegriff von vornherein das Vorhandensein „objektiver" Entitäten jenseits der „Diskursteilnehmer"; dann ist das „Richtige" per definitionem Resultat solchen „Konsenses"; ist die Wahrheitsvorstellung jedoch nicht in solcher Weise beschränkt, dann fehlt es an einem zentralen Argumentationsstück, das erklärt, wie bereits ein realer Konsens Gewähr fur die Erkenntnis des „Richtigen" bieten könnte: Selbst bei größtmöglichem Streben steht jeder Konsens der Meinungen stets unter Irrtumsvorbehalt!
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schreiben zu können;58 zu guter Letzt muß er jedoch selbst auf (allerdings viel zu schwache) Verfahrensregeln zurückgreifen, die nachprüfbar (!) sicherstellen sollen, daß „die Konsensualentscheidung von Staatsanwaltschaft und Verteidigung von einer richtigen Tatsachengrundlage (!) ausgegangen ist" 59 . Ellen Schlächter60 hat die Zusammenhänge einmal treffend mit dem „Bild eines Malers" beschrieben, der dem Beobachter niemals das reine „Abbild der Wirklichkeit" zu präsentieren vermag, sondern nur eine „neue Wirklichkeit", entstanden nach seinen „Wahrnehmungs- und Schaffensstrukturen"; Akzeptanz findet er mit seinem Werk allerdings nur so weit, wie es sich in den Grenzen des „Auftrags" hält: „Ist ... eine naturgetreue Zeichnung erwünscht, so hat der Künstler ... Widersprüche mit der Wirklichkeit zu vermeiden", ja mehr noch: alles dafür zu tun, daß das Resultat seiner Bemühungen der unmöglich hinwegzudenkenden „objektiven Wirklichkeit" so weit wie möglich nahekommt. Und erst in dieser, nicht etwa nur in der Vorstellung des Betrachters oder als bloße „Konstruktion einer verfahrensspezifischen Wirklichkeit"61, findet sich Anlaß und Bezugspunkt eines jeden Strafverfahrens, das den nachweislich Schuldigen in einem geordneten, fairen Verfahren für ein reales Tatgeschehen zur Verantwortung zu ziehen sucht: Hier spannt sich somit die Brücke zum Schuldprinzip, das ohne die „Ermittlung des wahren Sachverhalts ... nicht verwirklicht werden kann" 62 . Oder prozeßrechtlich gewendet: „Der Ausspruch einer bloßen Verdachtsstrafe darf in einem Rechtsstaat nicht geduldet werden".63 In diesem Lichte bleibt daher mit Blick auf den Entwurf der Bundesrechtsanwaltkammer unerfindlich, wie sich unter Verweis auf ein „Konsensprinzip" die bewußte Inkaufnahme einer mit hoher Wahrscheinlichkeit (erheb-
58 Vgl. Jahn ZStW 118 (2006), 427, 455 ff. (m. Fn. 125: unter Einschluß eines „Lügerechts des Angeklagten"!); dagegen zu Recht krit. Lien GA 2006, 129, 143 ff.; siehe auch Gössel, Meyer-Goßner-FS 2001, S. 187, 200; Radtke Schreiber-FS 2003, S. 375, 385; Weigend (o. Fn. 33), S. 39: „selbsttäuschende Ideologie"; Weßlau Das Konsensprinzip im Strafverfahren, 2002, S. 31 ff. 59 Jahn ZStW 118 (2006), 427, 459 f.: Wenn die in Analogie zu BGHSt 43, 195 vorgeschlagenen „Dokumentationspflichten" insbesondere Auskunft auch über den „Zeitpunkt der Einigung" geben sollen, so muß denknotwendig der Zeitpunkt selbst von einiger Bedeutung für die „Richtigkeit der Tatsachengrundlage" sein! 60
In: Spendel-FS 1992, S. 737, 738. Weichbrodt Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, 2006, S. 113. 62 BVerfG NStZ 1987,419. 63 Schlächter Spendel-FS 1992, S. 737, 749; bemerkenswert kritischer Blick auf das angloamerikanische System bei Vogler ZStW 116 (2004), 129 ff.; erhellend dazu Kreß ZStW 116 (2004), 172, 186. 61
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lieh) verkürzten Aufklärung rechtfertigen lassen könnte,64 noch dazu, wenn jenes dann - so die Entwurfsbegründung - seine „inhaltliche Grenze" doch wieder „in der Gewährleistung der allgemeinen Strafgerechtigkeit" finden, d.h. „einen unter Berücksichtigung der Sach-, Rechts- und Verfahrenslage gerechten Schuld- und Rechtsfolgenausspruch sicherstellen" soll.65 Damit ist schon zweite Gesichtspunkt berührt, der die Subjektstellung des Beschuldigten zum Gegenstand hat: Gebietet doch auch das Prinzip des „fair trial" (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK), die tatrichterlichen Erkenntnismöglichkeiten so weit wie möglich auszuschöpfen und mit dem Verdächtigen (!) keinen „kurzen Prozeß" zu machen.66 Diesem muß außerdem, damit von ihm das Akzeptieren einer am Ende ggf. erfolgenden Verurteilung (normativ) erwartet werden kann,67 die tatsächliche Möglichkeit der chancengleichen Einflußnahme auf Fort- und Ausgang des Verfahrens eröffnet worden sein, wozu es formalisierter Mitwirkungsrechte und (jedenfalls in komplexeren Fällen) eines professionellen Beistands bedarf. Darauf kann schlechterdings nicht verzichtet werden, weil das zum Beschuldigten hin bestehende „Machtgefälle" bei bloß informellem Aushandeln die Hoffnung auf einen „fairen Interessenausgleich" utopisch erscheinen läßt.68 Mehr noch wird man allein schon den Umstand, daß ,jedes Strafverfahren ... faktisch Unterwerfungsdruck auf den Beschuldigten" ausübt, mit Walther69 als hinreichenden Grund ansehen müssen, den Gedanken einer „vernünftigen Selbstbestimmung des Angeklagten" 70 , soweit nicht zugleich ein differenziertes System wechselseitiger „Machtkontrolle" implementiert wird, nicht als verläßliche Gewähr für ein faires Verfahren zu akzeptieren. Die in der Praxis der Urteilsabsprachen inzwischen offenbar ganz übliche Erzeugung
64 Und zwar dem eigenen Anspruch zuwider ohne revisionsgerichtliche Kontrolle, vgl. BRAK (o. Fn. 38), S. 4: „Der Vorteil der Anerkennung des Konsensprinzips besteht ... darin, daß der Bereich der Aufklärungsrüge ... eingeengt wird, wofür im Interesse der Beschleunigung der Verfahren ebenfalls (?) ein praktisches Interesse (!) besteht. Wer einer begrenzten Aufklärung (!) freiwillig zustimmt, kann nicht beanspruchen, eine solche später zu rügen". 65 Vgl. BRAK (o. Fn. 38), S. 5 (Ziff. 9); berechtigte Kritik durch den DA V in: StraFo 2006, 89 ff.; siehe auch Harms Nehm-FS 2006, 289, 294: „Schuldangemessene, den Grundsätzen der Spezial- und Generalprävention verpflichtete Strafen, die von der Bevölkerung erwartet werden, sind in der Regel im Konsens nicht zu erzielen." 66 Treffend DA V StraFo 2006, 89,91. 67 Vgl. Luhmann Rechtssoziologie, 1972, Bd. 2, S. 264. 68 Siehe etwa Schünemann (o. Fn. 28), S. 24 ff.: Problem der Verhandlungsgerechtigkeit. 69 In: Eser/Rabenstein (Hrsg.), Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairneß. Konvergente und divergente Entwicklungen im Strafprozeßrecht, 2004, S. 367, 378. 70 Weigend NStZ 1999, 57, 63, freilich mit dem Zusatz der regelmäßigen Fiktionalität solcher „Selbstbestimmung".
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von Geständnisdruck durch „overcharging"71 bildet ein treffliches Beispiel zur Verdeutlichung der „Machtverhältnisse" im entformalisierten Raum, der hartnäckige (und wohl meist auch erfolgreiche) Einsatz der Gerichte zwecks rascher und (trotz Verbots)72 faktisch sicherer Herbeiführung von Rechtskraft 73 ein anderes. Weil zur Fairneß gegenüber dem Beschuldigten aber nicht nur das Ausbleiben von Täuschung und Nötigung, sondern auch eine zur Wahrung der eigenen Interessen unerläßliche Erwartungssicherheit zählt, erwächst aus dem „Prototyp" konsensualer Verfahrenserledigung „Geständnis gegen Strafmilderung"74 - noch ein weiteres, spezifisch mit der „Vorleistung" des Angeklagten verknüpftes Problem der Verfahrensgerechtigkeit: Kommt es zu einer quasi-vertraglichen „Vereinbarung", so ist dieser denknotwendig das Vertmuendürfen in den Bestand des gegenseitig Versprochenen immanent. In Abwandlung einer von Meyer-Goßner hieraus gezogenen Schlußfolgerung darf daher, wenn das Gerichts nicht (mehr) gebunden ist, auch der Angeklagte nicht (mehr) an seiner Erklärung (Geständnis) festgehalten werden.75 Angesprochen ist damit also die Frage eines Verwertungsverbots bei normativ (wegen Verletzung der Verfahrensregeln)76 oder faktisch (aufgrund Dissenses)77 bedingtem „Scheitern" der Absprache wie auch im Falle der - zulässigen oder unzulässigen - „Nichterfüllung" des gerichtlicherseits Zugesagten (Fälle des „Abweichens"). Zu letzterem liegt überdies auf den Hand, daß die einer „Vereinbarung" mit dem Beschuldigten strukturell (faktisch hingegen nur bei entsprechender Vorsorge gegen übergroßes Machtgefälle) immanente Anerkennung als normativ ebenbürtiges Rechtssubjekt zwar nicht schon bei Bestehen eines äußersten „Allgemeinwohlvorbehalts" (in Parallele zu §§ 134, 138 BGB, im
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Vogler ZStW 116(2004), 129, 143. Vgl. BGHSt 43, 195: „Die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts ... vor der Urteilsverkündung ist unzulässig" (Leitsatz 5); bestätigt durch BGH (GS) NJW 2005, 1440, 1444 f. 73 Unter dem Einscheidungsdruck der Situation unmittelbar nach Urteilsverkündigung wie auch durch die Aussicht des Verteidigers, bei „Versagen" künftig nicht mehr als „Verhandlungspartner" akzeptiert zu werden. 74 Schünemann/Hauer AnwBl 2006, 439,440. 72
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Die Umkehrung des Gedankens bei Meyer-Goßner (Gollwitzer-Kolloquium 2004, S. 161, 177 f.) ist allerdings fragwürdig, weil der Annahme, es werde der Vertrauensschutz bei „Verschweigen erheblicher schwerwiegender Umstände ... verspielt", notwendig der Gedanke einer Offenbarungspflicht des Angeklagten zugrunde liegt. 76 Bei mangelnder Einbeziehung der Staatsanwaltschaft hat der BGH bekanntlich zum Nachteil des Angeklagten das Bestehen eines Vertrauenstatbestands verneint, vgl. BGH StV 2003, 481; zu Recht krit. Schlothauer StV 2003, 481 ff.; Weßlau ZStW 116 (2004), 150, 167 f.; ebenso BGH NStZ 2004, 342 zur mangelnden Protokollierung. 77 Dazu BGHSt 42, 191 ff.
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hiesigen Kontext also z.B. mit Blick auf den Schuldspruch 78 oder § 136a StPO), wohl aber - wie überhaupt der mit einer „vertragsähnlichen Absprache" verknüpfte Sinn - mit zunehmender Lockerung der Bindungswirkung unter Verweis auf zwingende „objektive" Gründe (wie insbesondere das Gebot, das Urteil aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen, § 261 StPO) 79 immer stärker untergraben wird. Umgekehrt entspricht es aber der Logik einer vom Gebot der Amtsermittlung absehenden und anstelle dessen auf „Kommunikation und Offenheit" sowie auf einen „Konsens" zwischen (vorgeblich) normativ Gleichrangigen abzielenden Verfahrensweise, daß die bisher allein dem Gericht zugeschriebene Kompetenz zur Entscheidungsfindung nunmehr als „Oktroi" gegenüber den anderen Prozeßsubjekten erscheint und Forderungen nach einer „Stärkung" von Staatsanwaltschaft und Verteidigung weckt. 80 Der Gedanke einer solcherart „Waffengleichheit", wie sie bemerkenswerterweise selbst dem Deutschen Richterbund offenbar nicht völlig fremd ist,81 gerät jedoch unvermeidlich in Konflikt mit der verfassungsrechtlich fundierten Stellung des Gerichts als derjenigen Instanz, der „die Verurteilung zu Kriminalstrafe ... ausschließlich ... vorbehalten" (vgl. Art. 92 GG) und die Pflicht zur Wahrung „aller verfassungsrechtlichen Garantien eines gerichtlichen Verfahrens" auferlegt ist. 82 In seinem Verdikt über das frühere Unterwerfungsverfahren in Steuerstrafsachen hat das Bundesverfassungsgericht unmißverständlich erklärt: „Die Kompetenz, Kriminalstrafen zu verhängen, gehört ... in allen Fällen zu dem Bereich der rechtsprechenden Gewalt, der nicht der Disposition des Gesetzgebers unterliegt" 83 . Vor diesem Hintergrund erklärt sich geradezu von selbst die insbesondere von Meyer-Goßner formulierte Sorge, daß das Gericht bei „Einbindung" der Staatsanwaltschaft „an die Seite gedrückt" werden und letztlich „seine Stellung im Verfahren ver-
78 Vgl. BGHSt 43, 195, 203 f.: Das „Recht des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren ... schließt eine Absprache über den Schuldspruch von vornherein aus"; praktisches Beispiel: BGH NJW 2005,445,446 f. 79 Zur Frage, ob nicht bereits die Zusage einer Strafobergrenze hiergegen verstößt, siehe u. III. 80 So BRAK (o. Fn. 38), S. 5. 81 Stellungnahme zum Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens 2004 (Stand: September 2004), S. 7 (abrufbar unter: www..drb.de): „Eine gesetzliche Regelung ... müßte im übrigen vorsehen, daß das Gericht ... zur Wahrung der Interessen der Staatsanwaltschaft eine Untergrenze der in Aussicht genommenen ... Strafe angeben können sollte". 82 Vgl. BVerfGE 22,49,73 ff., 78. 83 BVerfGE 22, 49, 81; weiter etwa LYURieß Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Großkommentar, 25. Aufl. 1999, Einl. Abschn. I Rn. 7: „unentziehbarer Kernbereich der rechtsprechenden Gewalt".
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fehlen" könnte.84 Dies gilt aber nicht nur, soweit das Gericht auf eine Rolle beschränkt wird, in der es nur noch dasjenige protokolliert und vollzieht, „was Staatsanwaltschaft und Vereidigung zuvor aushandeln"85; schon der Umstand, daß der Richter „aus seiner am Streit der Parteien unbeteiligten und unparteiischen Rolle heraustritt" und - unvermeidlich jedenfalls hinsichtlich der Schuldfrage - „im Schulterschluß mit der Staatsanwaltschaft selbst als Partei agiert" 86 , ist nur noch schwer mit einer auf Zurückhaltung und uneigennützige Neutralität87 bis zur abschließenden Beweiswürdigung bedachten und am Ende über die Sache „im Namen des Volkes" urteilenden Instanz88 zu vereinbaren. „Machtspiele" nach Art der eingangs beschriebenen Fälle und unverhohlenes „Feilschen"89 des Gerichts mit Verteidigung und Staatsanwaltschaft um die Höhe der Strafe bei Ablegung eines Geständnisses lassen nur auf besonders drastische Weise den Verlust jedweder fur das Richteramt unverzichtbaren Unparteilichkeit erkennen.90 Diese Neutralität ist aber „Voraussetzung der Objektivität der Rechtsprechung und damit ein wesentliches Merkmal jeder richterlichen Tätigkeit überhaupt" 91 . Hiermit ist die dritte Sachdimension bezeichnet, die es bei einer gesetzlichen Zulassung von Urteilsabsprachen zu beachten gilt.
III. Der im Mai 2006 vorgelegte Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums „zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren" nimmt für sich in Anspruch, einen Weg gefunden zu haben, der - ungeachtet der durchaus eingeräumten Schwierigkeit92 - „mit den tradierten Grundsätzen des deut-
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Meyer-Goßner, Gollwitzer-Kolloquium 2004, S. 161, 171 sowie StV 2006, 485, 488. Meyer-Goßner StV 2006, 485, 488. 86 Vgl. Nestler Schünemann-Symposium 2005, S. 15, 23: „Sündenfall"; Weigend (o. Fn. 33), S. 45: „seltsame Rollenverquickung". 85
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Siehe Heyde in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § 33 Rn. 77: Neutral ist, „wer am Ausgang des Verfahrens kein eigenes - unmittelbares oder auch nur mittelbares - Interesse hat, wer unparteilich 88 ist und zu den Parteien und der zu entscheidenden Sache innere Distanz besitzt". Insoweit ist die Rede vom Gericht als „das zentrale Organ des Strafprozesses" (LR/Rieß [o. Fn. 83]) zutreffend. 89 Meyer-Goßner, Göll witzer-Kolloquium 2004, S. 161, 183. 90 Wie hier bereits Weßlau ZStW 116 (2004), 150, 167. 91 92 Heyde (o. Fn. 87). Vgl. Entwurfsbegründung (o. Fn. 41), S. 1: „...Diese Suche nach einem einvernehmlichen Abschluß des Strafverfahrens ... läßt sich nicht ohne weiteres mit den überkommenen Grundsätzen des Strafverfahrens, wie der Ermittlung der Wahrheit durch das Gericht, der Schuldangemessenheit der Strafe und der Fairneß des Verfahrens, in Übereinklang bringen".
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sehen Strafverfahrens übereinstimmt" und den bestehenden „Rahmen ... nicht verändert"93. Im einzelnen schlägt der Entwurf eine „Stärkung" der „kommunikativen Elemente"94 nicht nur innerhalb der Hauptverhandlung (§ 257b StPO-E), sondern bereits für das Zwischen- (§ 202a StPO-E) und sogar Ermittlungsverfahren (§ 160a StPO-E) vor, jeweils mit der (je nach Verfahrensstadium an das Gericht oder an die Staatsanwaltschaft adressierten) Ermunterung, „den Stand des Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten [zu] erörtern, soweit dies geeignet erscheint, das Verfahren 95 zu fordern". Über die Brücke des § 243 Abs. 4 StPO-E, der dem Vorsitzenden mit Blick auf den Öffentlichkeitsgrundsatz die Mitteilung des „wesentlichen Inhalts" von „Erörterungen nach den §§ 202a, 212" aufgibt, „wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c) gewesen ist", finden sich in letztgenannter Vorschrift - der „zentralen Norm fur die Verständigung im Strafverfahren" 96 - wesentliche „Abspracheregeln" in unverkennbarer (zum Teil jedoch modifizierender) Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs97 festgeschrieben. Konkret wird vorgeschlagen: •
eine inhaltliche Begrenzung der ergebnisbezogenen Verständigung auf „Rechtsfolgen ..., die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können", Maßregeln der Besserung und Sicherung jedoch ausgenommen, sowie auf „sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrunde liegenden Erkenntnisverfahren"98 (§ 257c Abs. 2 StPO-E)99,
•
ein expliziter Ausschluß der „Ankündigung, auf Rechtsmittel zu verzichten oder ein Rechtsmittel nicht einzulegen", als zulässiger Gegenstand einer Verständigung (§ 257c Abs. 2 S. 3 StPO-E),
93
Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 1 f. Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 2. 95 Sprachlich korrekter, „den Verfahrensfortgang zu fordern" bzw. „das Verfahren zu beschleunigen" o.ä. 96 Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 22. 97 Ausgehend von BGHSt 43, 195 ff., allerdings unter Einbeziehung von BGH NJW 2005, 1440 ff. 98 Die Entwurfsbegründung nennt beispielhaft „Einstellungsentscheidungen und Beweiserhebungen ..., (der Verzicht auf) weitere Beweisanträge, ein Geständnis oder die Zusage von Schadenswiedergutmachung ..., aber auch Handlungen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage wie z.B. (der Verzicht auf) weitere Anträge im Prozeßverlauf, unter Einbeziehung von Einstellungszusagen der Staatsanwaltschaft selbst „in anderen, bei ihr anhängigen Ermittlungsverfahren" (Referentenentwurf [o. Fn. 41], S. 23). 99 Die darüber hinaus benannte Möglichkeit der Verständigung über „das Prozeßverhalten der Verfahrensbeteiligten" (§ 257c Abs. 2 S. 1 a.E. StPO-E) ist angesichts der in § 257b und § 257c Abs. 1 StPO-E vorgesehenen Möglichkeiten einer verfahrensbezogenen Erörterung und Verständigung wohl eine überflüssige Wiederholung. 94
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•
die „mit Zustimmung des Angeklagten" erlaubte Angabe einer „Oberund Untergrenze der Strafe ... unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen" (§ 257c Abs. 2 S. 2 StPO-E),
•
ein Zustandekommen der Verständigung, „wenn Angeklagter und Staatsanwaltschaft nicht widersprechen" (§ 257c Abs. 3 StPO-E),
•
die Erlaubnis, vom Vereinbarten abzuweichen, wenn sich die gerichtliche „Bewertung der Sach- oder Rechtslage im Verlauf der Hauptverhandlung ändert oder das Prozeßverhalten des Angeklagten nicht dem entspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist" (§ 257c Abs. 4 S. 1 StPO-E),
•
eine dahingehende Belehrungspflicht (§ 257c Abs. 5 StPO-E)100 und im Abweichensfall die Pflicht zum „unverzüglichen" Hinweis (§ 257c Abs. 4 S. 3 StPO-E), des weiteren aber auch die „grundsätzliche"101 Ablehnung eines Verwertungsverbots hinsichtlich der Einlassungen des Angeklagten (§ 257c Abs. 4 S. 2 StPO-E),
•
die Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts bei Fehlen einer „qualifizierten Belehrung", d.h. darüber, daß „der Betroffene ... in jedem Fall frei in seiner Entscheidung ist, ein Rechtsmittel einzulegen" (§§ 35a S. 4, 302 Abs. 1 S. 2 StPO-E),
•
die Anordnung, daß die gesetzliche Vermutung mangelnden Verschuldens nach § 44 S. 2 StPO für die Fälle der versäumten „qualifizierten Belehrung" nicht zur Anwendung kommen soll,
•
jeweils die Pflicht zur Dokumentation des „Erörterten" in Form des Aktenvermerks, der Mitteilung in den Urteilsgründen bzw. im Hauptverhandlungsprotokoll zur Herstellung von „Transparenz ... nicht zuletzt zum Zweck einer Nachprüfung in der Revision" (§§ 160a S. 2, 202a S. 2, 212, 267 Abs. 3 S. 5, Abs. 4 S. 2, 273 Abs. 1 S. 2 [über den
100 Abgesichert durch ein spezielles Verwertungsverbot: „Ist diese Belehrung unterblieben, darf die Aussage des Angeklagten nur mit dessen Einverständnis verwertet werden" (§ 257c Abs. 5 S. 2 StPO-E). 101 Der vorgeschlagene Gesetzestext ist merkwürdig unklar: „Diese Abweichung steht der Verwertung einer Aussage des Angeklagten nicht grundsätzlich entgegen". Nach Auskunft der Entwurfsbegründung sollen diesbezüglich ,je nach Gestaltung des Einzelfalles die von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Kriterien für Verwertungsverbote" maßgeblich sein (Referentenentwurf [o. Fn. 41], S. 25).
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„wesentlichen Ablauf und Inhalt einer Erörterung nach § 257b], § 273 Abs. la StPO-E [über „den wesentlichen Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung nach § 257c", über die vorgeschriebenen Mitteilungen und Belehrung nach §§ 243 Abs. 4, 257c Abs. 4 S. 3, Abs. 5 S. 1 StPO-E, aber auch für den Fall, daß „eine Verständigung nicht stattgefunden" hat]) sowie •
eine Beschränkung der Verfahrensrüge im Revisionsverfahren auf „eine Verletzung der bei der Verständigung zu beachtenden Vorschriften (§ 243 Abs. 4, § 257c), der Grundsätze des fairen Verfahrens sowie auf die in § 338 genannten Aufhebungsgründe" (§ 337 Abs. 3 StPO-E).
Es ist unschwer zu erkennen, daß der neue Vorschlag ungeachtet des ersichtlichen Bemühens seiner Verfasser, im Unterschied zum Diskussionsentwurf 2004 nunmehr eine „stärker ausdifferenzierte gesetzliche Regelung" vorzulegen, 102 konzeptionell weiterhin in den Bahnen der bisherigen Rechtsprechung kreist und nicht als Resultat jenes „kreativen legislativen Gestaltungsakts" 103 gelten kann, den der Große Strafsenat ausdrücklich nahelegte. 104 Obgleich sich die Ausgangssituation des Gesetzgebers grundlegend von jener unterscheidet, vor der sich der Bundesgerichtshof gestellt sah, dem gar nichts anderes übrig blieb, als „im Rahmen des von der StPO vorgegebenen Verfahrens ... die noch erlaubte Absprache zu bestimmen" 105 (soweit sich ein solcher Bereich überhaupt aufweisen läßt), übt die Idee einer „Integration" der Absprachenpraxis in die bestehende Verfahrensordnung offenbar eine solche Faszination aus, daß auch der Gesetzgeber trotz offensichtlicher Ungereimtheiten 106 nicht davon lassen will. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Wer sich die Abkehr von elementaren rechtsstaatlichen Anforderungen wie etwa der Amtsaufklärungspflicht unverhüllt an die eigene Fahne heftet, geht hohe verfassungsrechtliche Risiken ein. Diese lassen sich jedoch nicht dadurch reduzieren, daß ungeachtet der substantiellen Veränderung verbaliter ein Festhalten an den hehren Prinzipien vorgegeben wird. 102
Vgl. Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 11. DAV(o. Fn. 40), S. 7. 104 BGH NJW 2005, 1440, 1447: „beachtlicher" Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. 105 Eindrucksvoll betont von Meyer-Goßner, etwa in: Gollwitzer-Kolloquium 2004, S. 161, 173; unmißverständlich auch ders. NStZ 2004,216 f. 106 Dem strukturell ähnlichen Gesetzentwurf Niedersachsens (o. Fn. 39) wird ebenfalls die Eignung zugeschrieben, daß er „die Achtung und Wahrung elementarer Verfahrensgrundsätze der Strafprozeßordnung" garantiere; im gleichen Atemzug folgt freilich das Zugeständnis, daß die „Regelung von Absprachen im Strafprozeß ... eine tiefgreifende Änderung der Strafprozeßordnung'•' zur Folge hat, so die niedersächsische Justizministerin Heister-Neumann, in: Sitzung des Bundesrates v. 7.4.2006, Stenographischer Bericht, S. 111 f. 103
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Klaus Volk hat die fundamentale Divergenz im Umgang mit der Aufklärungspflicht einprägsam auf den Punkt gebracht: Der „Geist der alten StPO" geht davon aus, daß methodisch immer „von unten nach oben" gearbeitet werde, d.h. erst die tatsächliche Basis der Subsumtion nachvollziehbar zusammengetragen wird, ehe die Subsumtion selbst erfolgt. Ein Urteil nach (verbindlicher) Absprache ist dagegen gleichsam „top down zustande gekommen, nämlich so, daß zu den angewandten Rechtsvorschriften die passenden Tatsachen gesucht werden" 107 . Dies geschieht natürlich nicht ohne Schlüssigkeitsprüfung auf der Basis der (Ermittlungs-)Akten (!); das vom Angeklagten erwartete Geständnis soll vorhandene Zweifel so weit wie möglich abmildern. Doch selbst eine noch so feste „Überzeugung des Gerichts vom festgestellten Sachverhalt und der Glaubwürdigkeit eines Geständnisses", wie sie der Referentenentwurf (allerdings nur in seiner Begründung) zu Recht fordert,108 kann nichts an der weitreichend vorverlagerten Beweiswürdigung und daher verkürzten Sachaufklärung ändern. So will der Referentenentwurf ermöglichen, daß „in geeigneten Fällen" (?) „Sachstandserörterungen" zu verfahrenserledigenden Verständigungen verdichtet werden (vgl. § 257c Abs. 1 StPO-E), die nicht erst im Verlauf der Hauptverhandlung unternommen, sondern ihren Ausgang bereits im Ermittlungsverfahren nehmen können (vgl. § 160a StPO-E). Daß es sich dabei keineswegs nur um harmlose „Vorgespräche" handelt, sondern in der Sache die „Verfahrenserledigung" schon mehr oder minder deutlich in Aussicht genommen werden darf (oder gar soll), verrät die Entwurfsbegründung selbst, wenn sie die (das Geschehen im Ermittlungsverfahren nicht einbeziehende109 und im Gegensatz zum Hauptverhandlungsprotokoll auf die „wesentlichen Inhalte" beschränkte110) Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 StPO-E mit dem Hinweis begründet, daß „verfahrensbestimmendes Geschehen" (!) sich nicht außerhalb der Hauptverhandlung vollziehen dürfe.111 Schon der Gesetzestext nimmt dabei explizit Bezug auf die Möglichkeit einer solchermaßen antizipierten „Verständigung" im Sinne des § 257c StPO-E.112 Das bedeutet im Klartext, daß bereits im weiten
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Volk Dahs-FS 2005, S. 495, 501. Referentenentwurf {o. Fn. 41), S. 13. 109 Wohl in der Annahme, daß dort stattfindende „Erörterungen" entweder zur Verfahrenseinstellung führen oder im Zwischenverfahren bzw. nach Eröffnungsbeschluß durch sich anschließende Verhandlungen mit dem Gericht (vgl. §§ 202a, 212 StPO-E) ihre eigenständige Bedeutung verlieren. 110 Dagegen erstrecken sich §§ 273 Abs. 1, Abs. la StPO-E auch auf den „wesentlichen Ablauf der Erörterungen. 111 Vgl. Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 21. 112 § 243 Abs. 4 StPO-E: „Der Vorsitzende teilt mit, ob und wenn ja mit welchem wesentlichen Inhalt Erörterungen nach den §§ 202a, 212 stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand 108
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Vorfeld, ja selbst vor Anklageerhebung, „verfahrensfordernde Erörterungen" stattfinden können, womit in der Tat - wie Meyer-Goßner zu Recht hervorgehoben hat - die Gefahr eines später unrichtigen, unzureichenden, den Angeklagten zu Unrecht belastenden Urteils nicht mehr zu bannen ist" 113 . An diesem Befund ändert sich freilich nichts dadurch, daß der Verständigung erst im Zwischenverfahren oder nach Ergehen des Eröffnungsbeschlusses der Weg bereitet wird: Wegen der schon normativ begrenzten (vgl. § 202 StPO: „einzelne Beweiserhebungen") 114 , vor allem aber auch rechtstatsächlich regelmäßig ausbleibenden weiteren Aufklärung bis zum Beginn der Hauptverhandlung 115 bringt der bloße Ausschluß der „Verständigung" im Ermittlungsverfahren für die Wahrheitsfindung „keine zusätzliche Sicherung, die den radikal geschmälerten Beweiswert eines Absprachegeständnisses kompensieren könnte" 116 . Der hehre Appell des Referentenentwurfs, „nicht vorschnell" auf eine Urteilsabsprache auszuweichen, 117 hängt gleichsam in der Luft und wird in seiner Ernsthaftigkeit durch die vorgeschlagene neue Verfahrensstruktur nachhaltig widerlegt. Der Ausschluß der Aufklärungsrüge im vorgeschlagenen § 337 Abs. 3 StPOE 118 unterstreicht diese Einschätzung; die hierfür vorgebrachte Begründung (Unterbindung „widersprüchlichen Verhaltens") 119 ruht auf der stillschweigenden Annahme, daß der Umfang der Sachaufklärung (ohne ersichtliche Begrenzung) disponibel 120 und im jeweiligen Fall mit Abschluß der Vereinbarung unwiderruflich fixiert sei. Der Gesetzentwurf des Landes Niedersachsen ist in dieser Grundhaltung zumindest konsequent: Weil mit der Urteilsabsprache „die Notwendigkeit einer umfassenden Überprüfung, ins-
die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c) gewesen ist". Zur Erörterung im Zwischenverfahren ausdrücklich auch S. 20 der Entwurfsbegründung (o. Fn. 41). 113 Meyer-Goßner StV 2006, 485,486. 114 Dazu auch LR/Rieß § 202 Rn 2: Beweiserhebungen dürfen nicht der Hauptverhandlung vorgreifen. 115 Zur arg begrenzten Filterwirkung des Zwischenverfahrens vgl. etwa Rieß Jura 2002, 735, 736 m. Fn. 7: Insgesamt liegt der Anteil der nicht zugelassenen Anklagen nur bei etwa 0,6 %! 116 Treffend Schünemann/Hauer AnwBl 2006, 439,441; ähnlich Rieß JR 2005, 435, 436. 117 Vgl. Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 22 unter Verweis auf BGH NJW 2005, 1440, 1442, freilich explizit auf eine Prüfungspflicht „anhand der Akten" beschränkt! 118 Die Anregung hierfür hat wohl der Große Strafsenat gegeben, vgl. NJW 2005, 1440, 1443: „.. .zu beantworten ist auch, ob und in welchem Maße im Revisionsverfahren - mit Blick auf die Besonderheiten des Abspracheverfahrens, etwa unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhaltens - bestimmte Verfahrensrügen, namentlich Aufklärungsrügen, ausgeschlossen sein können"; zu Recht dezidiert abl. Meyer-Goßner Strafprozeßordnung, 49. Aufl. 2006, Vor § 213 Rn. 23. 119 Vgl. Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 27. 120 Wie hier auch schon DA V (o. Fn. 40), S. 7.
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besondere in tatsächlicher Hinsicht", entfalle,121 wird zugleich das Berufungsverfahren ausgeschlossen. Darin läge allerdings ein weiterer Schritt zur endgültigen Abkehr vom tradierten Straf(-prozeß-)rechtsverständnis! Die Wahrung eines „fairen Verfahrens" soll jedoch - jedenfalls im Kern verfassungsrechtlich unvermeidbar - auch bei „einverständlicher Verfahrenserledigung" revisionsrechtlich überprüfbar bleiben (§ 337 StPO-E); sein „generalklauselartiger" Charakter122 dürfte die Kontrollfunktion des „fairtrial"-Grundsatzes ohne nähere Spezifizierung jedoch auf „Evidenzfälle"123 beschränken und absehbar erhebliche Anwendungsunsicherheiten mit sich bringen. Damit dem Angeklagten unter den besonderen Verhältnissen des „kooperativen Prozesses" die Inanspruchnahme effektiven Rechtsschutzes gegen eine erstinstanzliche Verurteilung nicht de facto verwehrt wird, hat der Große Strafsenat bekanntlich das Instrument der „qualifizierten Belehrung" ersonnen und im übrigen - BGHSt 43, 195 bestätigend und erweiternd - das Verbot der Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts, des weiteren aber bereits des „Hinwirkens" auf einen solchen und selbst der bloßen Mitwirkung des Gerichts an Gesprächen hierüber betont.124 Diese richterrechtliche „Erfindung" 125 ist jedoch erheblichen Bedenken ausgesetzt, die sowohl ihre dogmatische Stimmigkeit als auch rechtspraktische Wirksamkeit im Sinne einer auch tatsächlich sichergestellten Öffnung des Instanzenzuges betreffen: In letztgenannter Hinsicht bestehen inzwischen wohl kaum mehr Zweifel, daß jener für den Angeklagten zu besorgende „faktische Motivationsdruck", infolge der vorausgegangenen „Verständigung" wie auch des „Gleichklangs der Interessen" aller beteiligten Berufsjuristen, durch eine allein kognitiv wirkende Belehrung nur unwesentlich gemildert werden dürfte. 126 Prozeßrechtsdogmatisch läuft das Verbot der Vereinbarung127 eines Rechtsmittelverzichts leer, wenn seine Mißachtung anschließend durch die „qualifizierte Belehrung" wieder geheilt werden kann; dann ist im übrigen auch nicht mehr die rechtswidrige Absprache, sondern allein 121
Siehe Gesetzesantrag des Landes Niedersachsens (o. Fn. 39), S. 5; ebenso der Entwurf der BRAK (o. Fn. 38). 122 Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1999, § 11 Rn. 9; siehe auch LR/Rieß Einl. Abschn. H R n : 101. 123 Vgl. etwa Schneider Jura 1997, 131, 137. 124 Vgl. BGH NJW 2005, 1440 (Leitsatz 1) sowie 1445 f. 125 Meyer-Goßner StV 2006, 485, 489: „unglückliche Erfindung". 126 Die qualifizierte Belehrung ablehnend: BGH (3. Senat) NJW 2003, 2536, 2539; BGH (2. Senat) StV 2004, 196, 198; Altenhain/Haimerl GA 2005, 281, 298 f.; Duttge/Schoop StV 2006, 421, 422; Meyer-Goßner (o. Fn. 118), Vor § 213 Rji. 21; Moldenhauer Eine Verfahrensordnung für Absprachen im Strafverfahren durch den Bundesgerichtshof?, 2004, S. 233; Schoop Der vereinbarte Rechtsmittelverzicht, Diss. Göttingen, 2006 (im Erscheinen); vgl. auch Rieß Gollwitzer-Kolloquium 2004, S. 191, 205: „Notkonstruktion". 127 Bzw. des Hin- oder Mitwirkens, s.o. bei Fn. 124.
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das Unterlassen der (ordnungsgemäßen) Belehrung Anknüpfungspunkt und Anlaß für die Unwirksamkeit der Verzichtserklärung. 128 Rieß hat darüber hinaus zu Recht die Ungereimtheit dieser Rechtsfolge im Vergleich zur allgemeinen Rechtsmittelbelehrung nach § 35a StPO moniert, deren Säumnis lediglich zur Anwendung des § 44 S. 2 StPO führt. 129 Eben diese Folge will der Referentenentwurf aber, dem Großen Strafsenat wiederum blind gehorchend, bzgl. der „qualifizierten Belehrung" gerade ausschließen, weil „die Frage der Rechtskraft wegen der mit ihr verbundenen weitreichenden Folgen durch eine klare Fristenregelung eindeutig geklärt sein" müsse. 130 Dem ersten Anschein zuwider überzeugt das freilich ebensowenig wie der fernerhin angeführte Gedanke der sachwidrigen Besserstellung gegenüber demjenigen, der keinen Rechtsmittelverzicht erklärt hat: Denn wer die Option, Rechtsmittel einzulegen, nicht aus den Händen gegeben hat, kann sich zur Abgabe eines Rechtsmittelverzichts schwerlich verpflichtet gesehen haben. Eben dieser Gefahr in Erweiterung des § 35a S. 1 StPO 131 entgegenwirken, ist jedoch erklärter Zweck der „qualifizierten Belehrung"; erfolgt sie nicht oder nicht ordnungsgemäß, so bildet dies einen Umstand, der in die alleinige Verantwortung des Gerichts fallt. Im übrigen zählt § 257c Abs. 2 S. 3 StPO-E zu den Inhalten, die einer „Verständigung" normativ unzugänglich sind, nicht nur den Rechtsmittelverzicht, sondern ebenfalls die „Ankündigung, ... ein Rechtsmittel nicht einzulegen", mithin die Rechtsmittelfrist verstreichen zu lassen. Auch insoweit kann sich der Angeklagte am Beschreiten des Instanzenzuges gehindert sehen, und zwar mit derselben Wirkung wie bei Unkenntnis der bestehenden Rechtsbehelfsmöglichkeit i.S.d. §§ 35a S. 1, 44 StPO. Die mit der „qualifizierten Belehrung" (angeblich) gestärkte „Freiheit" zur Einlegung eines Rechtsmittels „in jedem Falle" (§ 35a S. 4 StPO-E) erfaßt auch diese Konstellation; fehlt es hieran (möglicherweise), vermittelt durch das Fehlen der Belehrung, so muß das nach deren Logik in gleicher Weise ein Umstand sein, der eine dem Angeklagten günstige Folge nach sich zieht: In Betracht kommt dabei nur die Erweiterung der gesetzlichen Vermutung, daß er an der Wahrung der Rechtsmittelfrist ebenfalls „ohne Verschulden verhindert" war (§ 44 S. 1,2 StPO). 132 Letzten Endes erweist sich somit die Konstruktion des Großen
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Überzeugend Meyer-Goßner (o. Fn. 118), Vor § 213 Rn. 21; Rieß JR 2005, 435, 438. Rieß ebd. 130 Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 18. 131 So daß eine Erweiterung auch des § 44 S. 2 StPO denklogisch stimmig ist, zutr. Rieß JR 2005, 435, 438. 132 Dazu vertiefend Rieß Meyer-Goßner-FS 2001, S. 645, 658 ff.; fiir eine Anwendbarkeit des § 44 S. 2 StPO auch der Gesetzesantrag des Landes Niedersachsen (o. Fn. 39), S. 7, der es allerdings versäumt, die durchaus gewollte (S. 3) Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts bei fehlender „qualifizierter Belehrung" eigens anzuordnen. 129
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Strafsenats als wenig durchdacht; sie sollte daher keinesfalls zum Vorbild für eine gesetzliche Regelung genommen werden. Dagegen sucht sich der Entwurf der Bundesrechtsanwaltskammerm elegant aus dem Dilemma zu befreien mit dem - freilich recht „scharfen" 134 - Vorschlag, künftig die Erklärung eines Rechtsmittelverzichts vor Ablauf der Rechtsmittelfrist grundsätzlich 135 zu untersagen. Klärungsbedürftig bleibt hier jedoch, ob die „Unfreiheit" des Angeklagten nicht eine Woche überdauern und ein Verbot des „vorzeitigen" Rechtsmittelverzichts nicht durch eine „Verpflichtung" des Angeklagten zum Verstreichenlassen der Frist umgangen werden kann. Soweit in der Revisionsinstanz somit eine mögliche Verletzung der „Grundsätze fairen Verfahrens" noch geprüft werden kann (§ 337 StPO-E), wäre angesichts der zuletzt verstärkt ins Blickfeld getretenen Problematik der „Sanktionenschere" 136 von einer Neuregelung in jedem Fall das Bereitstellen spezifischer Sicherungen gegen nötigende Einflußnahmen auf den Angeklagten jenseits der allgemeinen Vorgabe aus § 136a Abs. 1 StPO zu erwarten gewesen. Der Referentenentwurf meint jedoch, daß bereits das Zustimmungserfordernis beim - nicht notwendig verteidigten 137 - Angeklagten vor Preisgabe der gerichtlichen Strafzumessungsüberlegungen (vgl. § 257c Abs. 2 S. 2 StPO-E) hinreichende Gewähr gegen eine unzulässige „Drohkulisse" biete. 138 Das wird man aber als reichlich lebensferne Sichtweise betrachten müssen, die den Geschehnissen in der Praxis nicht gerecht wird. 139 Schließlich dürfte dem Angeklagten doch regelmäßig erst die Kenntnis der (verbindlichen) 140 gerichtlichen Vorstellungen zur Rechtsfolge Anlaß geben, sich auf eine Urteilsabsprache einzulassen. 141 In weitergehendem Maße als die bisherige Rechtsprechung will es der Referentenentwurf 142 deshalb um der nötigen Orientierungssicherheit willen nicht bei der
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Oben Fn. 38, S. 9,28. Bedenken bei Meyer-Goßner StV 2006, 485, 489: mögliche Interessen des Angeklagten auf raschen Eintritt der Rechtskraft und möglicher „Urteilsabsetzungsstau", abl. Landau/Bürger ZRP 2005, 268, 272: „zuviel des Guten"; siehe aber auch Erb GA 2000, 511,518: frühestens am Tage nach Urteilsverkündung verantwortbar. 135 Für Verfahren vor dem Strafrichter soll das allerdings nur gelten, wenn das Urteil auf einer Urteilsabsprache beruht (§ 302 Abs. 1 S. 2 StPO-E). 136 Siehe o. bei Fn. 20. 137 Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 2: „unterscheidet bewußt nicht zwischen verteidigtem und unverteidigtem...". 138 Vgl. Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 24. 139 Wie hier bereits Schünemann ZRP 2004, 63, 64; Weßlau StV 2006, 357, 359. 140 Zur Problematik der Verbindlichkeit sogleich im Text. 141 Dezidiert Meyer-Goßner Gollwitzer-Kolloquium 2004, S. 161, 176: „Ohne verbindliche Absprache ist jede Verständigung für den Angeklagten uninteressant". 142 Ebenso aber der Gesetzesantrag des Landes Niedersachsen (o. Fn. 39), S. 2 (§ 243a Abs. 3 S. 1 StPO-E) und die Eckpunkte der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwäl134
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Zusage einer Strafobergrenze belassen, sondern auch die Angabe der Untergrenze und damit eine Spezifizierung des gesetzlichen Strafrahmens für den jeweiligen Fall ermöglichen (§ 257c Abs. 2 S. 2 StPO-E). Blickt man allein auf das Informationsinteresse des Angeklagten, so müßte man weitergehend sogar an die Mitteilung von Vergleichszahlen zur Berechnung des „Geständnisrabatts"143 oder gleich an die Zusage einer „Punktstrafe" denken, zumal sich die Bewertung von Tat und Täter nach Erbringen der absprachebedingt „geschuldeten Leistung" (qualifiziertes Geständnis)144 wohl meist nicht mehr ändern wird.145 Meyer-Goßner hat dieser Betrachtungsweise allerdings entgegengehalten, daß eine verfahrensbeendende Absprache nicht „die Verhandlung und das Urteil zur Farce machen" dürfe, indem sie „sich über die §§ 261, 268 StPO hinwegsetz(e)"146. Die Gegenfrage lautet jedoch, ob dies - selbst bei Ausklammern der vorherrschenden Praxis147 - nicht schon mit der verbindlichen Angabe einer Strafobergrenze der Fall ist: Denn auch diese resultiert nicht aus dem „Inbegriff der Verhandlung",148 sondern bildet das Resultat einer weit vorweggenommenen Beweiswürdigung „nach Lage der Akten".149 Mit Blick auf das Interesse der Allgemeinheit an einer adäquaten Bestrafung der (nachweislich) Schuldigen ist auch gar nicht einzusehen, warum sich das Gericht schon vorab zur einen Seite hin festlegen sollte.150 Mit anderen Worten: Die „Verbindlichkeit" der Strafmaßzusage ist der entscheidende Schritt über den Rahmen der bisherigen Verfahrensgrundsätze hinweg in das Denken eines „Konsensualprozesses", dem es nur noch um das „Prozeßrechtsverhältnis zwischen den Beteiligten"151 gehen kann, nicht mehr - allen Beteuerungen zuwider152 - um die
te (o. Fn. 37); anders hingegen überraschend der Entwurf der BRAK (o. Fn. 38), S. 8 (§ 243a Abs. 1 S. 1 StPO-E). 143 Vgl. dazu auch Altenhain/Haimerl GA 2005, 281, 289. 144 Näher Schlüchter Spendel-FS 1992, S. 737, 748 ff. (auch zur Frage des Teilgeständnisses). - Der Referentenentwurf äußert sich zu den Anforderungen an ein strafmilderungsgeeignetes Geständnis nicht, im Ansatz dageg. § 243a Abs. 3 S. 2 des niedersächsischen Entwurfs (Fn. 39): „Der mitgeteilte Strafrahmen steht unter dem Vorbehalt eines der Nachprüfung zugänglichen und zur Überzeugung des Gerichts der Wahrheit entsprechenden Geständnisses". 145 Vgl. Weigend BGH-Festg. 2000, Bd. IV, S. 1011, 1035: Für die Hauptverhandlung bleibt „... so wenig an notwendiger Substanz, daß sie in ein paar Minuten über die Bühne gebracht werden kann". 146 Meyer-Goßner Gollwitzer-Kolloquium 2004, S. 161, 169. 147 In der die Strafobergrenze regelmäßig identisch ist mit der tatsächlich auferlegten Strafe. 148 So ausdrücklich auch Streng Schwind-FS 2006, S. 447, 448; zuvor bereits Weigend NStZ 1999, 57, 60. 149 Dazu bereits o. bei Fn. 107 ff. 150 Vgl. Rönnau wistra 1998,49, 52: „Einbahnstraße". 151 Entwurf der BRAK (o. Fn. 38), S. 3 f.; berechtigte Kritik durch den DA V StV 2006, 89, 91 f.
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Erlangung einer „objektiv" tragfähigen Entscheidungsgrundlage auf vorgegebenen Bahnen („Inbegriff der Hauptverhandlung") „von Amts wegen" (d.h. in gerichtlicher Verantwortung) jenseits des Vorbringens und der verfahrensrechtlichen Dispositionen der „Parteien" (wie v.a. den Abschluß eines „Vergleichs"). Diese beiden Grundhaltungen sind ersichtlich nicht nur konträr, sondern kontradiktorisch; 153 ein jeder Versuch, zwischen beiden pragmatisch zu vermitteln (z.B. die bindende Zusage einer Obergrenze zu erlauben, eine weitergehende Zusage aber zu verbieten), muß mangels eines übergeordneten Maßstabes notwendig willkürlich erscheinen. 154 Die unsicheren und zum Teil gegensätzlichen Antworten auf Fragen nach der Reichweite der gerichtlichen Bindung und den evtl. Folgen eines zulässigen Abweichens für die Verwertbarkeit des Geständnisses veranschaulichen das Dilemma eindrucksvoll: Während der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs aus Gründen der Faimeß gegenüber dem Angeklagten (d.h. binnenperspektivisch argumentierend) die einseitige (gerichtliche) „Widerrufsmöglichkeit" auf das nachträgliche Bekanntwerden „schwerwiegender neuer Umstände" beschränkt hat, 155 betont der Große Strafsenat (außenperspektivisch) - und ihm folgend auch der Referentenentwurf (vgl. § 257c Abs. 4 S. 1 Alt. 1 StPO-E) 156 - die „Richtigkeit" der (justiziellen) Urteilsfindung (§ 261 StPO) und läßt ein Abweichen vom Vereinbarten bereits dann zu, „wenn schon bei der Urteilsabsprache vorhandene relevante tatsächliche oder rechtliche Aspekte übersehen wurden" 157 . Dem Gedanken einer „quasi-vertraglichen" Vereinbarung kraß zuwiderlaufend dürfte sich das Gericht dann jedoch aufgrund bloßen „Kalkulationsirrtums" nach Belieben wieder vom Versprochenen lösen, während der Angeklagte - so die Sichtweise des Referentenentwurfs (vgl. § 257c Abs. 4 S. 2 StPO-E) - an 152
BRAK (o. Fn. 38), S. 4: „... bei grundsätzlicher Beibehaltung der bewährten Prinzipien des deutschen Strafverfahrens...". 153 Zum unterschiedlichen Bedeutungsgehalt im Kontext der Kontradiktion „rechtmäßig"/„rechtswidrig" in Auseinandersetzung mit der Lehre vom „rechtsfreien Raum" näher Duttge Philipps-FS 2005, S. 369 ff. m.w.N. 154 So überzeugend bereits Weigend NStZ 1999, 57, 60; siehe auch ders. BGH-Festg. 2000, Bd. IV, S. 1011, 1024 Fn. 56: „... Tatsache ..., daß ein durch Konsens herbeigeführtes Verfahrensergebnis gegenüber einem durch prozeßordnungsgemäße Wahrheitsermittlung gefundenen prozessual ein aliud ist". 155 Vgl. BGHSt 43, 195, 210: z.B. die Tat stellt sich aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel als Verbrechen statt wie bisher angenommen als Vergehen dar. Ähnlich die Eckpunkte der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte (o. Fn. 37) sowie der niedersächsische Gesetzentwurf (o. Fn. 39): „wenn im weiteren Verfahren neue wesentliche strafmildernde oder strafschärfende Umstände auftreten, die dem Gericht im Zeitpunkt der Mitteilung des Strafrahmens unbekannt waren" (§ 243a Abs. 5 S. 2 StPO-E). 156 Was sich aber nicht dem verklausulierten Gesetzestext (s.o. bei Fn. 100), sondern erst der Entwurfsbegründung (S. 24 f.) klar entnehmen läßt. 157 BGH NJW 2005, 1440, 1442.
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seiner Zusage gebunden bliebe. Man braucht nicht in die tieferen Geheimnisse der zivilrechtlichen Dogmatik einzudringen, um zu erkennen, was von einer solchen „Risikoverteilung" zu halten ist - woran auch die gerichtliche Hinweispflicht über den Umstand der abweichenden Beurteilung (§ 257c Abs. 4 S. 3 StPO-E) nichts zu ändern vermag.158 Nimmt man den Sinn einer „konsensualen Verständigung" ernst, so erzwingt die nötige Fairneß gegenüber dem Angeklagten gleichwertige Gestaltungsrechte im Verhältnis zu seinem Gegenüber: Soweit seine Bindung an das Vereinbarte reicht, darf sich grundsätzlich auch das Gericht nicht hiervon lösen können; läßt man für dieses jedoch aus übergeordneten Gründen den Dispens zu, so muß dies denknotwendig das Entfallen des „Leistungspflicht" auf Seiten des Angeklagten bzw. eine rückwirkende Kompensation bei schon erfolgter „Leistungserbringung" nach sich ziehen, wofür strafprozeßrechtsdogmatisch das Verwertungsverbot steht.159 Dem Gericht ungeachtet der vorausgegangenen Vereinbarung die Wahrung der Strafverfolgungsinteressen (bei Bekanntwerden „schwerwiegender neuer Umstände"!) sowie seiner Entscheidungshoheit zu ermöglichen, dem Angeklagten jedoch zu verwehren, sich gegen den Tatvorwurf (in vollem Umfang) zu verteidigen, wäre grob ungerecht. Fairneßorientiert müßte vielmehr gelten: Läßt sich das Gericht auf der Basis der Ermittlungsakten vorzeitig auf eine ergebnisbezogene Absprache ein, so handelt es hinsichtlich der nötigen Sachaufklärung bewußt riskant und muß deshalb auch das Risiko tragen, daß ihm im Nachhinein Umstände bekannt werden, die unter „vertragsfremden" Aspekten das Vereinbarte als sachwidrig erscheinen lassen. Die dahingehenden Ungewißheiten im Tatsächlichen normativ zu beseitigen, ist doch gerade der Sinn einer (quasi-)vertraglichen Vereinbarung; diese muß daher eine nachträgliche Berufung auf „Fehlkalkulationen" selbst dann ausschließen, wenn eine Seite relevante Informationen zurückgehalten hat. Zwar sind Informationspflichten vor Vertragsschluß in zivilrechtlichen Zusammenhängen nicht völlig unbekannt;160
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Zum Vergleich: Wie wäre die Situation eines Käufers zu beurteilen, wenn ihm der Verkäufer aus Gründen des „fairen" Umgangs (vgl. Referentenentwurf [o. Fn. 41], S. 25: „um einem fairen Verfahren zu genügen") „unverzüglich" den neuen (höheren) Preis mitteilt? Und dies unter der zusätzlichen Annahme, daß es im vorliegenden Kontext dem „Käufer" verwehrt ist, sich der Geschäftsbeziehung mit diesem „Verkäufer" zu entledigen! 159 Wie hier bereits Duttge/Schoop StV 2006, 421, 422; Heller Die gescheiterte Urteilsabsprache, Diss. München, 2005; Meyer-Goßner (o. Fn. 118), Vor § 213 Rn. 13 f. (zur Einschränkung für den Fall des „Verschweigens erheblicher schwerwiegender Umstände" bereits o. Fn. 75 sowie sogleich im Text); tendenziell Weigend BGH-Festg. 2000, Bd. IV, S. 1011, 1038; Bedenken gegen die Verwertbarkeit schon bei Kuckein Meyer-Goßner-FS 2001, S. 63, 67 f. 160 Vgl. etwa Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch/Äo/A 4. Aufl. 2001, Bd. II, § 242 Rn. 150 ff.
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solche (mittelbar)161 dem Angeklagten aufzuerlegen, hieße jedoch, sich von den Fundamentalrechten der Unschuldsvermutung und des Grundsatzes nemo tenetur seipsum accusare zu verabschieden.
IV. Damit sind bisher nicht mehr als nur die Grundprobleme angesprochen, die sich aus den aktuell vorliegenden Regelungsvorschlägen, insbesondere dem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums ergeben. Ergänzend verdienten sowohl Regelungsdefizite (wie z.B. das Prozedere bei Vorliegen eines verdeckten Dissenses oder eines nur informellen „Konsenses"162, die Beteiligung von Nebenklägern,163 das „Hinwirken" auf einen Rechtsmittelverzicht164 oder die Frage einer Bindungswirkung auch für das Rechtsmittel- bzw. nach Zurückverweisung in derselben Sache neu befindende Tatgericht165) als auch eine Reihe von Ungereimtheiten (wie z.B. das scheinbare Zustandekommen der „Verständigung" ohne Beteiligung selbst des nichtverteidigten Angeklagten, 166 der eklektische Blick auf den erlaubten Gegenstand einer „Verständigung"167 oder die erwünschte Einbeziehung von staatsanwaltschaftlichen Einstellungsentscheidungen in anderen Ermitt-
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Da möglicher Anknüpfungspunkt für ein zulässiges Abweichen vom Vereinbarten seitens des Gerichts. 162 Dazu BGH NStZ 2006,464: Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts sei trotz informeller Ausgestaltung der Vorgespräche bei Beeinflussung des Prozeßverhaltens „ähnlich" zu bewerten wie bei einer Urteilsabsprache. 163 Im Gesetzesvorschlag des Referentenentwurfs treten Nebenkläger nicht in Erscheinung, in seiner Begründung dagegen nicht nur als mögliche „Leistungserbringer" (siehe o. Fn. 98), sondern auch als „Verfahrensbeteiligte" i.S.d. § 257c Abs. 1 StPO-E (o. Fn. 41, S. 22). Demgegenüber gesteht ihnen der Gesetzentwurf des Landes Niedersachsen (nur?) ein Beanstandungsrecht (vgl. § 243a Abs. 4 S. 4 StPO-E), der Entwurf der BRAK hingegen ein Vetorecht zu (vgl. § 243a Abs. 3 S. 2, 3 StPO-E). 164 Siehe o. bei Fn. 124. 165 Die Begründung des Referentenentwurfs lehnt eine solche Bindung pauschaliter ab (o. Fn. 41, S. 25), ebenso der Entwurf der BRAK (o. Fn. 38), S. 9 (§ 243 Abs. 4 Nr. 5 StPO-E); a.A. Meyer-Goßner StV 2006, 485, 489. 166 Ihm wird in § 257c Abs. 3 S. 2 StPO-E lediglich ein Widerspruchsrecht zugestanden; der Referentenentwurf betont zugleich an hervorgehobener Stelle, daß er „bewußt nicht zwischen verteidigtem und unverteidigtem Angeklagten" unterscheide (o. Fn. 41, S. 2). 167 Maßregeln der Besserung und Sicherung werden in Anlehnung an die jüngste Rechtsprechung zu § 66 StGB ausgenommen (vgl. § 257c Abs. 2 S. 3 letzter Hs. StPO-E), weil diese „bei Vorliegen ihrer gesetzlichen Voraussetzungen grundsätzlich keinen Entscheidungsspielraum des Gerichts wie bei der Strafzumessung" eröffnen (S. 24). In den Fällen der §§ 44, 45, §§ 73 ff. StGB, aber auch des § 56 StGB (zutr. Meyer-Goßner Schünemann-Symposium 2005, S. 235, 241) liegt es jedoch nicht anders!
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lungsverfahren,m obgleich der Gesetzesvorschlag von „verfahrensbezogenen Maßnahmen im zugrunde liegenden Erkenntnisverfahren" spricht, § 257c Abs. 2 S. 1 StPO-E) eine vertiefte Betrachtung und Diskussion. Sie befördern jedoch schon als solche den allgemeinen Eindruck eines überstürzt auf den Weg gebrachten, in den Grundlagen nicht durchdachten und den Strafprozeß in seinen Grundstrukturen hochgradig gefährdenden Gesetzgebungsprojekts. Es ist bemerkenswert, daß die Verfasser des Referentenentwurfs einer Anwendung der neuen Regeln auf Verfahren gegen Jugendliche sehr skeptisch gegenüberstehen, weil es „problematisch" sei, „die Sanktionsentscheidung zum Gegenstand eines Handels zu machen" 169 . Man muß sie freilich daran erinnern, daß es Gericht und Staatsanwaltschaft auch in Verfahren gegen Erwachsene untersagt ist, sich „auf einen Handel mit der Gerechtigkeit einzulassen"170. Solchem „do-et-des" ist eine wechselseitige Verbindlichkeit immanent, die der verehrte Jubilar in weiser Voraussicht stets abgelehnt hat: Es liege, so hat er schon frühzeitig betont, geradezu „in der Natur entsprechender Prognosen des Gerichts, daß sie hypothetisch und vorläufig sind"171; auch nach einer Urteilsabsprache bleiben Gericht und Staatsanwaltschaft „der Gerechtigkeit verpflichtet" 172 . Bei allem Verständnis für die Nöte einer überlasteten Strafjustiz dürfte er daher die Sichtweise des 3. Strafsenats teilen, der - die heutige „Tristess des Absprachen(-un-)wesens"173 vor Augen - „das gesamte System der Strafrechtspflege in eine zunehmende Schieflage geraten"174 sieht. Es ist somit höchste Zeit, darüber nachzudenken, wie das systembedingt bestehende Einfallstor für jene unselige Verknüpfung von Geständnis und Strafmilderung versperrt werden kann. Der kürzlich vom Deutschen Anwaltsverein erneuerte Vorschlag auf Einführung eines Schuldinterlokuts175 zeigt sich vor diesem Hintergrund in einem neuen Licht und verdient es, aufgegriffen und näher in Erwägung gezogen zu werden. Für das Anliegen der Justizentlastung und Ressourcenschonung ist damit freilich nichts gewonnen. Hier kann jedoch keine hektische Ausweitung von „Sonderverfahren" wie insbesondere des Straf- und des beschleunigten Verfahrens helfen, 176 sondern 168
Vgl. Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 23. Referentenentwurf (o. Fn. 41), S. 16. 170 BVerfG NJW 1987,419. 171 Böttcher/Widmaier JR 1991, 353, 355. 172 Böttcher Referat zum 58. Deutschen Juristentag (o. Fn. 7), L 19. l73 Ä>ey«ZStW 116(2004), 172, 179. 174 Urteil v. 7.2.2006 - 3 StR 460/98. 175 Siehe o. Fn. 40. - Aus der älteren Diskussion vor allem Dötting Die Zweiteilung der Hauptverhandlung, 1978; Schöch/Schreiber ZRP 1978, 63 ff.; Wassermann ZRP 1987, 168 ff. 176 So aber die jüngste Gesetzesinitiative der Länder Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bayern „zur Effektivierung des Strafverfahrens", vgl. Pressemitteilung des Bayerischen Justizministeriums v. 30.8.2006 (Nr. 67/06). 169
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ohnehin nur eine durchgreifende Reform des „NormalVerfahrens". Denn eines darf auf keinen Fall verlorengehen: Das Streben nach einer „um prozessuale Vernunft, Redlichkeit und Fairneß bemühte Praxis"177.
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Böttcher/Widmaier JR 1991, 353, 356 f.
Zur Zulässigkeit von Absprachen im Strafverfahren in der Rechtsprechung KARL HEINZ GÖSSEL
Bei meinen ersten Berufserfahrungen im Landesjustizprüfungsamt im Bayerischen Staatsministerium der Justiz bin ich Reinhard Böttcher vor fast 40 Jahren begegnet. Unser dort erstmals aufgenommenes Gespräch über das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis, über die Juristenausbildung und die Probleme des Strafrechts wie des Strafverfahrensrechts ist auch nach meinem Wechsel vom Justizministerium an die Universität niemals abgerissen. Unser beidseitiges Bemühen um eine gegenseitige Befruchtung von Wissenschaft und Praxis hat uns immer wieder zusammengeführt und schließlich in den Kreis der Autoren des „Löwe/Rosenberg". So darf ich denn auf das Interesse des verehrten Jubilars hoffen, wenn ich ihm einen Beitrag zu einem Problem der verfahrensrechtlichen Praxis widme, einem Problem, zu dem er sich selber mehrfach geäußert hat.
I. Die Krise des Amtsermittlungsgrundsatzes Die durchgehende Beachtung des Amtsermittlungsgrundsatzes ist in eine Krise geraten. Für diese Entwicklung sind aus meiner Sicht mehrere Ursachen verantwortlich. a) Zunächst ist hier die staatliche Finanznot erwähnen, die dazu geführt hat, die Zahl der fur Richter und Staatsanwälte zur Verfügung stehenden Stellen zu kürzen, frei werdende Stellen ausscheidender oder verstorbener Richter und Staatsanwälte nicht mehr neu zu besetzen und so die Arbeitslast beträchtlich zu erhöhen - so erstaunt es nicht, daß Gerichte wie Staatsanwaltschaften versuchen, diese Arbeitslast durch vereinfachende Verfahrensformen zu vermindern. 1. Es verwundert indes, daß staatliche Finanznot über den Haushalt der Justizministerien zu derart schwerwiegenden Folgen führt: erwirtschaftet doch die Justiz über 90% ihrer Kosten bekanntlich selbst. Daß die Justiz trotz ihres hohen Kostendeckungsgrades dennoch unter den staatlichen Sparzwängen in der gleichen oder in einer noch stärkeren Weise als die
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Exekutive leidet, dürfte seinen Grund in einer bisher kaum thematisierten Erscheinung haben, die erst kürzlich in der nicht nachvollziehbaren politischen Entscheidung zur Abschaffung des Bayerischen Obersten Landesgerichts deutlich wurde: in der faktischen Fremdbestimmung der Dritten Gewalt durch die Exekutive. Es dürfte endlich an der Zeit sein, mit der verfassungsrechtlich gebotenen Selbständigkeit der Dritten Gewalt gegenüber den anderen Staatsgewalten Ernst zu machen und die Justiz aus den Fesseln der Exekutive zu lösen: Sie sollte sich außerhalb der Justizministerien umfassend selbst verwalten, insbesondere über einen eigenen, ihr ohne Einfluß der Exekutive direkt vom Parlament bewilligten Haushalt verfugen, den sie eigenverantwortlich verwaltet - dann wäre es z.B. möglich, den hohen Kostendeckungsgrad der Justiz zu berücksichtigen und so die die Dritte Gewalt besonders hart treffende Finanznot abzumildern: So könnte der Justiz die durchgehende Befolgung des Amtsermittlungsgrundsatzes wieder ermöglicht werden. 2. Als weiterer Grund für die Krise der Inquisitionsmaxime kann die Rechtsprechung der Revisionsgerichte nicht unerwähnt bleiben, die den Tatrichter durch exzessive Anforderungen an die schriftlichen Urteilsgründe mit erheblicher und wenig einsehbarer Mehrarbeit belasten und ihn dazu bringen, auf die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe fast schon mehr Sorgfalt zu verwenden, als auf die Wahrheitsfindung selbst1. Darüber hinaus haben die Revisionsgerichte zu Unsicherheiten in der Anwendung vor allem des Prozeßrechts durch die Tatgerichte beigetragen. Als Beispiel ist zunächst die Rechtsprechung zu den sog. Beweisverwertungsverboten zu erwähnen, die wegen unklarer und auch widersprüchlicher Entscheidungen einer überzeugenden Systematik entbehrt2 und den Tatrichter vielfach im Unklaren darüber läßt, ob er den erhobenen Beweis erheben und verwerten durfte oder aber, umgekehrt, den nicht erhobenen Beweis unbedingt erheben mußte. Hinzu kommt, daß die zur Ablehnung von Beweisanträgen berechtigenden Gründe von den Revisionsgerichten nicht selten derart eng interpretiert werden, daß sie praktisch nahezu wirkungslos sind, wie etwa der zur Ablehnung von Beweisanträgen wegen Prozeßverschleppung berechtigende Grund3 - all dies läßt den Tatrichter ebenfalls nach Möglichkeiten und Wegen suchen, in vereinfachenden Verfahrensformen derartige Beweisschwierigkeiten zu vermeiden.
1 Vgl. dazu fur das schweizerische Strafverfahren Küng Die Beschleunigung des Strafverfahrens unter Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, 198, 20: „Urteilsbegründungen ... hindern den Richter, sich seiner eigentlichen richterlichen Tätigkeit zu widmen". 2 Eingehend dazu LR-Gössel 25. Aufl., Einl. K, 17 ff., 78 ff., 88 ff. (ebenso in der 26. Aufl., Einl. L, 18 ff., 81 ff., 90 ff. 3 S. dazu Gössel JR 2005, 128 f. (Anm. zu BGH 4 StR 453/04, JR 2005, 125).
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3. Endlich ist auch die mißbräuchliche Nutzung von Verfahrensrechten durch die Verteidigung zu erwähnen wie etwa mißbräuchliche Antragsbegründungs-, Frage- und Erklärungsrechte, aber auch allein zur Verfahrensverzögerung gestellte Ablehnungs- und Beweisanträge 4 . So sind Verfahren bekannt geworden, in denen 400 Zeugen benannt wurden (in einem Wirtschaftsstrafverfahren), von denen jedoch nach einer Verhandlungsdauer von 16 Monaten erst 37 Zeugen vernommen werden konnten 5 , ferner solche, in denen die Verteidigung an jedem einzelnen Verhandlungstag immer neue Beweisanträge auf die Vernehmung nur schwer erreichbarer Zeugen 6 gestellt hatte und so ein Abschluß der Verfahren kaum erreichbar erschien 7 .
II. Absprachen als Ausweg aus der Krise Die wohl wichtigste Lösung der soeben aufgezeigten Probleme 8 ist bekannt: In der Praxis hat sich bereits seit längerer Zeit extra legem die neue und zusätzliche besondere Verfahrensart 9 der Verständigung oder Absprachen entwickelt, welche zu einer schnellen Verfahrensbeendigung durch eine Einigung fuhren. Nur der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß die Verständigung im Regelfall zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Angeklagtem getroffen wird und daß ihr Gegenstand Schuldspruch und Rechtsfolgenfestsetzung ohne weitere Beweisaufnahme durch das Gericht sind und eine alsbaldige Urteilsfällung, der ein zur sofortigen Rechtskraft führender Rechtsmittelverzicht nachfolgt. a) Zum Verständnis der späteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei daran erinnert, daß diese Verfahrensweise schon im Jahre 1987 vom Bundesverfassungsgericht überprüft wurde: Eine „Verständigung zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung über den Rechtsfolgenausspruch, ein" vom Angeklagten „in Aussicht gestelltes Geständnis und ein Absehen von der Strafverfolgung hinsichtlich des Verdachts weiterer Taten" wurde verfassungsrechtlich für zulässig gehalten. Das Rechtsstaatsprinzip einschließlich seines wesentlichen Bestandteils der Idee der Gerechtigkeit und dem Gebot zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege umfasse die Pflicht, die Durchführung eingeleiteter Strafverfahren sicherzustellen und daß „Straftäter im Rahmen der geltenden 4
Gössel Gutachten C zum 60. Deutschen Juristentag 1994, S. C 19 mit weit. Nachw. So nach einer Zeitungsnotiz der „Süddeutschen Zeitung" aus dem Jahre 1993 im sog. co-op -Prozeß. 6 Vgl. dazu die Beispiele bei Wassermann NJW 1994, 1106. 7 Instruktiv zu diesen Verzögerungsmechanismen BGH JR 2006, 128 mit Anm. Gössel. 8 Näheres dazu bei Gössel Gutachten C zum 60. Deutschen Juristentag 1994, S. C 15 ff. 9 Vgl. dazu Schmidt-Hieber Absprachen im Strafprozeß - Privileg der Wohlstandskriminellen? NJW 1990, 1884. 5
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Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden". Diese Grundsätze verböten es aber „nicht, außerhalb der Hauptverhandlung eine Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten über Stand und Aussicht der Verhandlung herbeizufuhren", wohl aber, „die Handhabung der richterlichen Aufklärungspflicht, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafbemessung in einer Hauptverhandlung, die letztlich mit einem Urteil zur Schuldfrage abschließen soll, ins Belieben oder zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen"10. b) Nicht unerwähnt bleiben kann, daß die Absprachepraxis trotz der soeben erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Folgezeit zu unerträglichen Ergebnissen führte. Einverständliche Verfahrensweisen entwickelten sich als ein ungeregeltes Verfahren neben der Strafprozeßordnung, wobei „die Wahl zwischen der Verfahrenserledigung durch Absprachen und dem herkömmlichen Ritual ausschließlich nach Zweckmäßigkeitsüberlegungen" getroffen wird, die vornehmlich vom Eigeninteresse des Richters an einer arbeitssparenden Verfahrensbeendigung11 bestimmt werden, insbesondere daran, durch einen Rechtsmittelverzicht sein Urteil nicht dem prüfenden Blick des Revisionsrichters zu unterwerfen. So bestimmten „tagtägliche Willkür die Wahl der jeweiligen Verfahrensordnung" 12 , die einen zunächst engagierten Befürworter der Verständigung im Strafverfahren vom Saulus zum Paulus sich hat wandeln lassen: „Willkür, Opportunismus, Ungleichheit beim Einsatz der Verständigung sind beschämend - bis hin zur Trostlosigkeit, jedenfalls für jemand, der als erster Verständigung öffentlich propagiert und dabei von hohen und hehren Zielen dieser Art der Verfahrenserledigung geschwärmt hat" 13 . 1. Dafür seien einzelne Beispiele benannt. So hat das Landgericht Bonn ein weithin aufsehenerregendes Verfahren gegen Altbundeskanzler Helmut Kohl nach § 153 a StPO unter der Auflage einer beachtlichen Geldzahlung mit Zustimmung des Angeklagten im Zusammenhang mit illegalen Spenden an seine Partei (CDU) deshalb eingestellt, weil unklar sei, ob der erhobene Vorwurf eines Vergehens nach § 266 StGB berechtigt sei: Hier hat sich das Gericht in nicht mehr überprüfbarer Weise darüber hinweggesetzt, daß eine einverständliche Einstellung nach § 153 a StPO stets die Überzeugung des Gerichts vom Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts gegen den Ange-
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BVerfG NStZ 1987,419. Schmidt-Hieber NJW 1990, 1884 f. 12 Terhorst GA 2002, 600, 608. 13 Schmidt-Hieber Absprachen im Strafprozeß - Rechtsbeugung und Klassenjustiz? DRiZ 1990,321,325. 11
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klagten voraussetzt14. Das Gericht hätte sich selbst vom Bestehen dieses Verdachts überzeugen müssen; hätte es dieses Überzeugung nicht gewinnen können, wäre allein ein Freispruch die von der Strafprozeßordnung verlangte gerechte Entscheidung gewesen - andernfalls hätte es den Angeklagten schuldig sprechen und zu einer angemessenen Strafe verurteilen müssen. Mit Recht hat dazu Paulus festgestellt: „Ist materielles Strafrecht schwer ,prozessierbar', findet in der Strafrechtspraxis zu häufig, fern sachgerechter Strafrechtspflege und das allgemeine Rechtsbewußtsein verletzend, resignative Flucht statt in Einstellungen gem. §§ 153, 153 a, 154 StPO und in verfahrensbeendigende ,Absprache'-Praktiken" 15 . Ähnliches gilt in den Fällen, in denen verantwortungslose Trainer die ihnen anvertrauten Sportler durch Verabreichung von Doping-Substanzen körperlich erheblich schädigten: Auch hier wurden Strafverfahren einverständlich nach § 153 a StPO gegen mäßige Auflagen zur Zahlung von Geldbeträgen eingestellt - das körperlich lebenslang ruinierte Opfer kann dafür kein Verständnis aufbringen 16 und das Gericht riskiert dabei, das Vertrauen der Betroffenen in die Geltung der Rechts zu erschüttern und damit zugleich die Rechtstreue der Bevölkerung insgesamt - eine den begangenen Taten entsprechende und die Belange der Opfer berücksichtigende gerechte Ahndung kann in einer solchen Einstellung nicht gefunden werden. Darüber hinaus führt die genannte Praxis zu unerträglichen, einer Nötigung nahekommenden Zwängen: Das Gericht wird mit der Androhung prozeßverschleppenden Verhaltens durch eine Vielzahl von Beweisanträgen zu einem „deal" mit unangemessen niedrigen Strafen geneigt gemacht, und umgekehrt die Verteidigung vom Gericht mit der Androhung einer sonst höheren Strafe 17 . In einem Verfahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge bot der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer dem Verteidiger an, den Angeklagten, falls er ein Geständnis ablege, zu einer zur Bewährung auszusetzenden Freiheitsstrafe von zwei Jahren zu verurteilen - der Angeklagte wollte dem nicht zustimmen, weil er sich für unschuldig hielt und 14
LG Bonn NJW 2001, 1736, 1737; vgl. dazu Hamm NJW 2001, 1694 f u n d Wehnert StV 2002,219. 15 Paulus Materielles Strafrecht im „prozessualen Raum", in: Dreier/Forkel/Laubenthal (Hrsg.), Raum und Recht, FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, 683, 686. 16 Vgl. dazu den Bericht „Der Professor klagt an" in der „Süddeutschen Zeitung" vom 1. April 2003, S. 39. 17 Amelung StraFo 2001, 185; vgl. ferner den Prozeßbericht: Der verweigerte Deal - oder: die Rache des Schwurgerichts? StV 2002, 397; dagegen aber Bertram Schmitt GA 2001, 411,414, 421 f. Allerdings erscheint dieser vom Gericht ausgehende Druck doch deshalb geringer als der umgekehrt von der Verteidigung ausgeübte, weil in Fällen dieser Art der „deal" scheitert und die dann ausgesprochene höhere Strafe vom Revisionsgericht kassiert wird, hier also umgekehrt zur „normalen" Absprache eine gerichtliche Überprüfung möglich bleibt.
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wurde daraufhin zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt, weil der Angeklagte mangels eines Geständnisses keine Reue gezeigt habe. Glücklicherweise wurde das Urteil vom Bundesgerichtshof aufgehoben: In der erneuten Verhandlung vor einem anderen Landgericht wurde die Voraussehbarkeit der tödlichen Folge der vom Angeklagten begangenen Verletzung verneint und wegen einfacher Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde 18 . 2. Wie die soeben aufgezeigten Beispiele deutlich machen, beeinträchtigt der durch den „deal" ermöglichte „kurze Prozeß", worauf Dencker hingewiesen hat, „die Legitimität deijenigen Prozeßergebnisse, bei denen herkömmlich gründliche inquisitorische Tätigkeit unter Berufung auf Zustimmung oder Duldung des Beschuldigten unterblieben ist" 19 . Mindestens verschlimmert, wenn nicht gar erst ermöglicht, wird all dies durch die praktisch fehlende rechtliche Kontrolle. „In dem Bestreben, Verfahren kurz und vermeintlich prozeßökonomisch zu erledigen, werfen die Berufsjuristen - in einer merkwürdig anmutenden Allianz aus Staatsanwälten, Richtern und Verteidigern - alle Hemmungen über Bord" 20 . Und mangels fehlender Rechtskontrolle bleibt dies alles auch künftig möglich. Ein zweiter Nachteil ist zu beklagen: Die Absprachenpraxis fuhrt faktisch zu einem Zweiklassenstrafverfahren, weil sie in nicht wenigen Fällen eine Bevorzugung deijenigen Beschuldigten ermöglicht, die sich die besten und teuersten Verteidiger leisten können: Gerade diese Verteidiger können für ihre Mandanten die günstigsten Ergebnisse bis hin zur Straflosigkeit erreichen. Bedenkt man, daß Abreden vor allem im Bereich der Wirtschaftskriminalität üblich geworden sind 21 , so entsteht der Eindruck, man lasse die „großen" Verbrecher, wenn schon nicht „laufen", so aber doch weitgehend ungeschoren davonkommen, während man die „kleinen" Diebe und Betrüger mit erbarmungsloser Härte verfolge, die sich die Dienste der besten Verteidiger nicht leisten können oder aus finanziellen Gründen, in den Fällen einer nicht notwendigen Verteidigung (§ 140 StPO), gar ohne jeglichen Verteidigerbeistand auskommen müssen - die negativen Auswirkungen auf das Rechtsbewußtsein der Rechtsgenossen können gar nicht unterschätzt werden 22 .
18 So das von Erb (Absprachen im Strafverfahren, Gedächtnisschrift fur Wolfgang Blomeyer 2004,S. 743, 752 f.) mitgeteilte Verfahren. 19 Dencker StV 1994, 503. 20 Weider StV 2000, 540. 21 Wehnert StV 2002, 219. 22 Vgl. dazu schon Schmidt-Hieber NJW 1990, 1886 und DRiZ 1990, 323 ff; Terhorst, GA 2002, 600, 608.
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3. Insgesamt: Die aufgezeigte Praxis ist mit den Grundprinzipien des deutschen Strafverfahrens unvereinbar und verstößt gegen das Prinzip einer gerechten Urteilsfindung.
III. Die Versuche zur Zähmung der Absprachepraxis a) In einer ersten Entscheidung zur Problematik hat der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs im Jahre 1997 die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze übernommen und weiter konkretisiert. 1. Die wesentlichen Aussagen dieser Entscheidung seien hier kurz rekapituliert: Eine Absprache über den Schuldspruch sei deshalb von vornherein ausgeschlossen, weil dessen „Grundlage ... immer nur der nach der Überzeugung des Gerichts tatsächlich gegebene Sachverhalt sein" dürfe, „dessen strafrechtliche Bewertung und Einordnung ... einer Vereinbarung nicht zugänglich" sei, wie aber auch „ein aufgrund der Vereinbarung abgelegtes Geständnis" nicht „ohne weiteres dem Schuldspruch zugrunde gelegt" werden dürfe, weil „das Gericht... dem Gebot der Wahrheitsfindung verpflichtet" bleibe 23 . Deshalb auch müsse bei einer verfahrensbeendenden Absprache aufgrund eines Geständnisses des Angeklagten dessen Glaubwürdigkeit „in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise gewürdigt werden" - und eine revisible Überschreitung der der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) gezogenen Grenzen liege jedenfalls dann vor, wenn der Angeklagte, „ohne den Sachverhalt einzuräumen", sich auf eine Stellungnahme beschränke, „die gleichsam ein bloß prozessuales Anerkenntnis oder nur eine formale Unterwerfung enthält"24. Auch dürfe der Angeklagte „insbesondere nicht durch Drohung mit einer höheren Strafe oder durch Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils zu einem Geständnis gedrängt werden", weil „die freie Willensentschließung des Angeklagten gewahrt bleiben" müsse; ebensowenig dürfe sich „das Gericht für das Inaussichtstellen einer milderen Strafe" einen Rechtsmittelverzicht versprechen lassen25. „Eine Verständigung zwischen dem Gericht und den anderen Verfahrensbeteiligten, welche die Einlassung des Angeklagten und die Höhe der Strafe zum Gegenstand hat", könne überdies nur „in öffentlicher Hauptverhandlung - nach Beratung des gesamten Spruchkörpers erfolgen", unter „Einbeziehung aller Verfahrensbeteiligter" und unter Aufnahme in das Protokoll der Hauptverhandlung26. Auch dürfe das Gericht keine „verbindliche Zusage zur Höhe der zu verhängenden Strafe" deshalb 23 24 25 26
BGHSt 43, 195,204. BGH wistra 2003,185, 187; NStZ 1999, 92. BGHSt 43, 195,204. BGHSt 43, 195, 205 f.
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machen, weil es nach §§ 260 Abs. 1; 261 StPO „aus dem Inbegriff der Verhandlung in der Urteilsberatung über die Strafe zu entscheiden" habe, wohl aber „für den Fall... eines glaubhaften Geständnisses im Wege der Verständigung eine Strafobergrenze" angeben, die das Gericht „nicht überschreiten werde" 27 . Allerdings dürfe der aufgrund der Verständigung ergehende Strafausspruch „,den Boden schuldangemessenen Strafens' nicht verlassen" und nicht etwa „zwecks Erlangung eines Geständnisses eine Strafhöhe bestimmen, die dem Unrechtsgehalt der Tat nicht gerecht" werde 28 . Keinesfalls dürfe sich das Gericht „mit der Zusage einer bestimmten Strafe" bereits „vor der Urteilsberatung" binden 29 . 2. So verdienstlich auch einerseits das Bemühen des Bundesgerichtshofs zu bewerten ist, verwilderter Abredepraxis Grenzen zu setzen, so wenig überzeugend erscheint dieses Bemühen andererseits. Einmal bleiben berechtigte Opferinteressen ausgeblendet, und zum anderen sind schon die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze deshalb wenig überzeugend, weil in allen wesentlichen Fragen der Feststellung und Beurteilung des verfahrensgegenständlichen Sachverhalts und auch der Rechtsfolgenfestsetzung allein die richterliche Überzeugung maßgebend ist; zudem ist die Verfahrenswirklichkeit eine andere als diejenige, von der die Strafprozeßordnung und die soeben erwähnte Rechtsprechung ausgehen. aa) Zunächst sei auf die Notwendigkeit eingegangen, die Opferinteressen zu berücksichtigen. Wenn auch der 4. Strafsenat eine Absprache nur unter Einbeziehung aller Beteiligter für zulässig hält, so hat doch im Widerspruch dazu das Opfer grundsätzlich keine Möglichkeit, am Zustandekommen einer Vereinbarung mitzuwirken - soweit sich dessen Verfahrensbeteiligung in der Zeugenrolle erschöpft, fehlt es vollständig an einer derartigen Möglichkeit, und selbst als etwaige Privat- oder Nebenklageberechtigte ist der Einfluß der Opfer beschränkt; selbst beim Täter-Opfer-Ausgleich verlangt § 46 a StGB lediglich entweder die tatsächliche Schadenswiedergutmachung oder aber das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, nicht aber eine tatsächliche Einigung zwischen Täter und Opfer. Damit aber verleugnet die Praxis Herkunft und Grund der Verstaatlichung der strafverfolgenden Tätigkeit: Wird die ursprünglich private Strafverfolgung dem Opfer aus der Hand genommen, darf der Staat die Opferinteressen nicht unberücksichtigt lassen - und genau dies geschieht durch die gegenwärtige Verständigungspraxis 30 . Dazu sei als weiteres Bei-
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BGHSt 43, 195, 206 f. BGHSt 43, 195, 208 f. BGHSt 43, 195, 211; 45, 312. Vgl. dazu Terhorst aaO (Fn. 1) 607.
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spiel der sog. „ E s c h e d e - P r o z e ß " erwähnt. Hier wurde den Angeklagten vorgeworfen, eines der größten Zugunglücke in der Geschichte der deutschen Eisenbahnen und den Tod von mehr als 100 Menschen fahrlässig herbeigeführt zu haben. Die einverständliche Einstellung dieses Verfahrens unter der Auflage einer als mäßig angesehenen Geldzahlung nach § 153 a Abs. 2 StPO wurde in einer Notiz der „Süddeutschen Zeitung" als „lebenslang für die Hinterbliebenen" beurteilt. Freilich: Verfahrensökonomisch war die Einstellung schon, hätten doch die Opfer einer Einstellung wohl überwiegend nicht zugestimmt. bb) Überdies erscheinen die vom 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs aufgestellten Grundsätze als unschlüssig und mit der Verfahrenswirklichkeit kaum vereinbar. Der Senat hält Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung für unzulässig, ohne auf die dazu gegensätzliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einzugehen, die auch solche Absprachen grundsätzlich für zulässig hält31 - schon die daraus resultierende Rechtsunklarheit führt zur weitgehenden Wirkungslosigkeit dieses Grundsatzes32, der zudem wegen des mit der Absprache regelmäßig verbundenen Rechtsmittelverzichts ebenso wenig durchgesetzt werden kann wie das Verbot, einen Rechtsmittelverzicht gegen eine ungerechtfertigt milde Strafe zu vereinbaren33. Und dieser regelmäßige Rechtsmittelverzicht führt auch im übrigen dazu, daß die Einhaltung der für eine zulässige Verständigung aufgestellten Grundsätze ebenso regelmäßig unüberprüft bleibt, womit einer regellosen, ja willkürlichen Abredepraxis Tür und Tor geöffnet wird und deshalb schon den Ruf nach einer Öffnung des Wiederaufnahmeverfahrens für eine „Gegenkontrolle nach abgesprochenen Urteilen" ausgelöst hat34 - ein zwar verständlicher Ruf, dem aber doch nicht nachgegeben werden sollte, weil eine fehlerhafte Abredepraxis nicht auch noch zu weiteren Störungen des Rechtsbehelfsund des gesamten Verfahrenssystems fuhren sollte. Die richtige Erkenntnis des Senats, eine Absprache über den Schuldspruch sei ausgeschlossen, weil dessen Grundlage der nach der Überzeugung des Gerichts tatsächlich gegebene Sachverhalt sei35, entzieht nahezu jeglicher relevanter Abredepraxis die Grundlage: kann doch diese Überzeugung des Gerichts erst nach lückenloser Erforschung des Sachverhalts in der 31
Vgl. einerseits BVerfG NStZ 1987,419, andererseits BGHSt 43,195,205 f. Vgl. dazu Bertram Schmitt GA 2001, 411,412 f. 33 Weitere beachtliche Argumente gegen das Verbot, einen Rechtsmittelverzicht zu vereinbaren bei Bertram Schmitt GA 2001, 411, 424 f. 34 Wasserburg/Eschelbach Die Wiederaufnahme des Verfahrens propter nova als Rechtsschutzmittel, GA 2003, 334, 339. 35 BGHSt 43, 195,204. 32
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abschließenden Urteilsberatung gebildet werden. Sinn und Wesen jeglicher Absprachen bestehen aber gerade umgekehrt darin, dem Gericht diese Feststellungsarbeit, möglicherweise noch erschwert durch eine Unzahl von Beweisanträgen, zu ersparen und von der Schuld des Angeklagten gerade ohne die nach § 244 Abs. 2 StPO notwendige umfassende Untersuchung auszugehen36, in der Regel durch ein Geständnis des Angeklagten, dessen Glaubwürdigkeit das Gericht, anders als vom 4. Strafsenat verlangt, auch entgegen § 261 StPO de facto einfach unterstellt und gerade nicht nachprüft 37 - wäre tatsächlich ein inhaltlich über ein bloß formales Anerkenntnis oder eine bloße Unterwerfungserklärung hinausgehendes „Geständnis" notwendig und müßte dieses wirklich einer Glaubwürdigkeitsprüfung unterzogen werden, so würde dies der doch erstrebten Verfahrenserleichterung in sehr vielen Fällen entgegenstehen. In den meisten Fällen dürfte das Verlangen des Senats zudem deshalb „leerlaufen", weil sich Geständnisse aufgrund einer Abrede erfahrungsgemäß ohnehin nur auf sicher nachweisbare Taten beziehen 38 . Im übrigen gilt auch hier: Inhaltlich unzureichende Geständnisse und unterlassene Glaubwürdigkeitsprüftingen bleiben wegen des regelmäßigen Rechtsmittelverzichts folgenlos, und deshalb bleibt überdies unüberprüft, ob die vom Gericht vorgenommene rechtliche Subsumtion samt der damit verbundenen Strafrahmenfestlegung zutreffend war oder nur zur Herstellung eines Konsenses über eine möglichst geringe Strafe dienen sollte. Weil erst in der Urteilsberatung die Entscheidung über den Schuldspruch und damit auch über den Umfang der Schuld getroffen werden kann, ist folglich eine vorherige Absprache über den Rechtsfolgenausspruch unzulässig39. So richtig diese Erkenntnis ist, so sehr dürfte doch in nicht wenigen Fällen die Wirklichkeit der Absprachepraxis verkannt werden, wenn es für zulässig gehalten wird, dem Angeklagten eine Strafobergrenze zu nennen: Den Angeklagten dürfte weniger eine mögliche Strafobergrenze interessieren, sondern vor allem die genau zu erwartende Rechtsfolge. Kennt er diese nicht, wird er nur selten zu einem „deal" bereit sein40 - und deshalb wird die angebliche „Strafobergrenze" regelmäßig nichts anderes sein als die doch für unzulässig erklärte verbindliche Zusage über das endgültige Strafmaß 41 . Im übrigen folgt aus der erwähnten Erkenntnis des Senats notwen36
So zutr. Theile StraFo 2005, 410. Bertram Schmitt GA 2001, 411, 413. 38 Bertram Schmitt GA 2001, 411, 419 ff. 39 BGHSt 43, 195,207. 40 Bertram Schmitt GA 2001, 411, 422 f. 41 Ebenso Lie Lien GA 2006, 129, 131, der wohl gerade deshalb meint, daß der Angeklagte entgegen der hier vertretenen Meinung doch ein erhebliches Interesse an der Benennung einer Strafobergrenze habe. 37
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dig, daß gerade entgegen seiner Auffassung auch die Einhaltung einer Strafobergrenze vor der endgültigen Urteilsberatung nicht zugesagt werden kann - auch diese Obergrenze kann erst aufgrund der gerichtlichen Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und des Umfangs seiner Schuld beurteilt werden. Die dazu gegensätzliche Auffassung des Senats ist widersprüchlich und läßt sich auch nicht dadurch rechtfertigen, daß der Strafprozeßordnung ein Vorurteil über das mögliche Verfahrensergebnis nicht fremd sei und bereits dem Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens zugrunde liege 42 : Mögen auch Prozeßhandlungen des Gerichts auf solche Vorurteile gegründet werden dürfen - Entscheidungen über Schuld und Strafe dürfen es aber gerade nicht, setzen vielmehr die richterliche Überzeugung von der Schuld des Angeklagten voraus und begnügen sich nicht mit dem zur Eröffnung des Hauptverfahrens ausreichenden hinreichenden Tatverdacht. Und wiederum ist entscheidend: Der regelmäßige Rechtsmittelverzicht verhindert eine wirksame Rechtskontrolle. Schließlich wird das Verlangen nach der Zulässigkeit einer Abrede nur in der Hauptverhandlung mit entsprechender Protokollierung43 dadurch bedeutungslos, daß „Vorgespräche" über Abreden für zulässig erklärt werden: Damit besteht die von Bertram Schmitt zutreffend aufgezeigte Gefahr, „daß die Hauptverhandlung in vielen Fällen lediglich ein Verkündungstermin'" hinsichtlich bereits endgültig getroffener Abreden bleibt44 - mit der unerträglichen Konsequenz, daß der Richter selbst eine Abrede gleichsam „beurkundet", an deren Zustandekommen er selbst das massive Interesse einer erheblichen Arbeitserleichterung hat. cc) Als weitere, mit den Grundsätzen der Rechtsprechung zur Abredepraxis schwerlich zu vereinbarende Praktiken seien hier nur noch genannt: Abreden zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft oder Gericht über die Beschränkung der Strafverfolgung nach den §§ 154, 154 a StPO zur Vermeidung von mit Arbeitsaufwand verbundenen, aber behebbaren Problemen bei der Beweisaufnahme 45 , über die Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153 ff. StPO, obwohl deren Voraussetzungen nicht vorliegen, über den Erlaß eines Strafbefehls mit den insoweit vorgesehenen Sanktionsbeschränkungen zur Vermeidung einer Hauptverhandlung, um dem Beschuldigten sowohl den niedrigen Strafbann des Strafbefehls zu sichern als auch die Bloßstellung in der Öffentlichkeit zu ersparen, ferner über die Be-
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BGHSt 43, 195,208. BGHSt 43, 195,205 f. Bertram Schmitt GA 2001, 423 f. Bertram Schmitt GA 2001, 411, 414 ff
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schränkung der Beweisaufnahme entgegen § 244 Abs. 2 StPO46 und über konkret abgesprochene Strafen. b) So konnte es kaum verwundern, daß die Entscheidung des 4. Strafsenats noch keine allgemein überzeugende Klärung der Zulässigkeit der Abreden brachte und schließlich der 3. Strafsenat diese Problematik dem Großen Strafsenat vorlegte, der in seiner Entscheidung vom 3. Mai 2005 der Abredepraxis zwar deutlichere Grenzen als bisher setzte, inhaltlich mit seiner Entscheidung für die Zulässigkeit der Absprachen aber ebenfalls nicht überzeugen konnte. 1. In Weiterführung der Entscheidung des 4. Strafsenats hat der Große Senat zunächst resignierend festgestellt, den dem Rechtstaatsprinzip entfließenden Anforderungen „könnten die Organe der Strafrechtsjustiz" ohne die Zulassung eines besonderen Abspracheverfahrens „unter den gegebenen rechtlichen wie tatsächlichen - Bedingungen ... durch richterliche Rechtsfortbildung nicht mehr gerecht werden. Vor allem mit Blick auf die knappen Ressourcen der Justiz" arbeite „die Strafjustiz am Rande ihrer Belastbarkeit" 47 ; ohne die Zulässigkeit derartiger Absprachen sei insbesondere nicht sichergestellt, daß der Staat seiner Verpflichtung nachkomme, „die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen" ausreichend zu schützen48. Verdiensvollerweise hat er auch deutlich ausgesprochen, daß „ein zentrales Ziel des rechtsstaatlich geordneten Strafverfahrens ... die Ermittlung des wahren Sachverhalts als der notwendigen Grundlage eines gerechten Urteils" sei und die Strafe „schuldangemessen" sein müsse. Deshalb dürfe sich die Strafe „nicht auch nicht nach unten - von ihrer Bestimmung als gerechter Schuldausgleich lösen. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben verlangten als „Mindestbedingungen" für eine wirksame Urteilsabsprache, daß das Gericht „nicht vorschnell auf eine Urteilsabsprache ausweichen" dürfe, „ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage tatsächlich anhand der Akten und insbesondere auch rechtlich überprüft zu haben" 49 . Zudem müsse das absprachegemäß abgelegte Geständnis „auf seine Zuverlässigkeit überprüft werden. Das Gericht muß von seiner Richtigkeit überzeugt sein. Dazu muß das selbstbelastende, keinen besonderen Zweifeln im Einzelfall unterliegende Geständnis wenigstens so konkret sein, daß geprüft werden kann, ob es derart im Einklang mit der Aktenlage steht, daß sich hiernach keine weitere Sachverhaltsaufklärung 46 47 48 49
Bertram Schmitt GA 2001, 411,413. BGH NJW 2005, 1440, 1443 f. BGH NJW 2005, 1440, 1443. BGH NJW 2005, 1440, 1442.
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aufdrängt. Ein bloßes inhaltsleeres Formalgeständnis reicht hingegen nicht aus" 50 . Auch dürfe die Differenz zwischen der absprachegemäßen und der bei einem „streitigen Verfahren" zu erwartenden Sanktion nicht so groß sein (,Sanktionsschere'), daß sie strafzumessungsrechtlich unvertretbar und mit einer angemessenen Strafmilderung wegen eines Geständnisses nicht mehr erklärbar ist" 51 . Endlich wird auch in dieser Entscheidung ein vor der Urteilsverkündung vereinbarter Rechtsmittelverzicht für unwirksam erklärt. Der Große Strafsenat geht aber noch weiter: ,jedwedes Mitwirken des Gerichts an einem Rechtsmittelverzicht" sei „unzulässig". Der „Extremfall einer Verknüpfung von Strafhöhe mit versprochenem Rechtsmittelverzicht" stelle ohnehin „einen grundlegenden Verstoß gegen das Prinzip schuldangemessenen Strafens" dar; jedoch dürfe darüber hinaus „die Urteilsabsprache ... nicht gleichsam als eigenständiges, informelles Verfahren neben der eigentlichen Hauptverhandlung geführt werden" und dürfe „nicht unter dem Deckmantel der Unkontrollierbarkeit stattfinden"52. Im Ergebnis erstrecke sich „die Folge der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts auf alle Fälle, in denen überhaupt eine Urteilsabsprache erfolgt ist", ausnahmsweise dann aber nicht, wenn „der Betroffene vom Gericht ausdrücklich dahin" belehrt worden ist, „daß er ungeachtet der Urteilsabsprache und ungeachtet der Empfehlungen der übrigen Verfahrensbeteiligten, auch seines Verteidigers, in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen" 53 . 2. Bringt auch die Entscheidung des Großen Strafsenats gewiß deutliche Verbesserungen gegenüber der Entscheidung des 4. Strafsenats, wird doch erst die Zukunft lehren können, ob damit den bereits aufgezeigten erheblichen Nachteilen der Abredepraxis entgegen gesteuert werden kann. In einigen Fällen wird dies gewiß möglich sein; in der Mehrzahl der Fälle indes steht zu befürchten, daß die verfassungsmäßigen Vorgaben für eine an der wahren Sachverhaltsermittlung orientierten gerechten Entscheidung nach wie vor gröblich mißachtet werden 54 . Jedoch ist anzuerkennen, daß der Bereich der Absprachen dadurch eingeschränkt wurde, daß einmal die Zulässigkeit eines Rechtsmittelverzichts in Verbindung mit einer Absprache erheblich erschwert und die Bindung des Gerichts an einmal getroffene Absprachen gelockert wurde: Konnten dem 4. Strafsenat zufolge erst „schwerwiegende neue Umstände" eine solche Bindung durchbrechen55, so 50
BGH wie Fußnote 49. BGH wie Fußnote 49. 52 BGH NJW 2005, 1440, 1444. 53 BGH NJW 2005, 1440, 1446. 54 So auch die Bedenken von Theile StraFo 2005,409,410 f. 55 BGHSt 43, 195,210. 51
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Karl Heinz Gössel
verneint der Große Senat eine solche Bindung zudem auch in den Fällen, in denen „schon bei der Urteilsabsprache vorhandene relevante tatsächliche oder rechtliche Aspekte übersehen wurden" 56 . Im übrigen aber dürfte sich der Große Strafsenat die Sache zu einfach gemacht haben, wenn er wegen beschränkter Ressourcen der Justiz Urteilsabsprachen für unvermeidbar notwendig hält. Auf gerechte Entscheidungen aufgrund einer an der Wahrheitsfindung orientierten Sachverhaltsermittlung nur wegen knapper Geldmittel zu verzichten, erscheint eines Rechtsstaats unwürdig und fuhrt genau zu jenem Vertrauensverlust, den der Bundesgerichtshof durch die Zulassung von Absprachen gerade verhindern will. Auch erscheint es unvertretbar, durch richterliche Rechtsfortbildung eine in der Strafprozeßordnung nicht vorgesehene Verfahrensform zu etablieren, die gegen tragende Grundsätze des in der StPO normierten Verfahrens verstößt57: Dies läßt sich auch nicht mit der dem Großen Senat durch § 132 Abs. 4 GVG zugewiesenen Aufgabe zur Rechtsfortbildung in Einzelföllen rechtfertigen. Auch wenn der Große Senat insoweit für eine gesetzgeberische Lösung plädiert58, so kann dennoch nicht übersehen werden, daß er sich hier Befugnisse angemaßt hat, die sich anzumaßen weder mit den unabweisbaren Bedürfnissen einer ordnungsgemäßen Strafrechtspflege noch sonst aus rechtsstaatlichen Gründen59 gerechtfertigt werden kann: Eine neue Verfahrensart zu schaffen, steht allein dem Gesetzgeber zu. Überdies hat der Große Strafsenat leider nicht bedacht, ob er nicht z.B. durch eine Änderung seiner Rechtsprechung insbesondere zu den Anforderungen an die Abfassung der Urteilsgründe und zum Umfang der zur Ablehnung von Beweisanträgen berechtigenden Gründe zur Beseitigung der derzeitigen Schwächen der Amtsermittlungsmaxime beitragen könnte: Ebenso wenig wurde bedacht, daß es insbesondere zu einer erheblichen Erleichterung der Arbeit der Tatgerichte führen würde, könnte sich der Bundesgerichtshof dazu entschließen, seine Rechtsprechung zu den Beweisverwertungsverboten von Widersprüchen zu befreien und dabei auch im übrigen zu klären. Ebenso wenig wurden mögliche gesetzgeberische Maßnahmen zur Berücksichtigung nur solcher Beweismittel bedacht, die innerhalb einer vertretbaren Verfahrensdauer auch wirklich zur Verfügung stehen und vom Gericht berücksichtigt werden können.
56 NJW 2005, 1440, 1442 unter Hinweis auf frühere Rechtsprechung; krit. dazu Theile StraFo 2005, 409 f. 57 Vom Großen Senat selbst erkannt: NJW 2005, 1440, 1443 aaO. Vgl. dazu auch Theile StraFo 2005, 409. 58 NJW 2005, 1440, 1447. 59 So die - inakzeptable - Begründung des Großen Senats NJW 2005, 1443.
Brauchen wir eine „unabhängige" Staatsanwaltschaft? - Zur Stellung der Staatsanwaltschaft im demokratischen Rechtsstaat MANFRED MARKWARDT
I. Vom 1. August 1988 bis 31. Juli 1994 war Reinhard Böttcher Leiter der Strafrechtsabteilung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz. Eine seiner Hauptaufgaben jener Jahre war die Führung der Dienstaufsicht über die bayerischen Staatsanwaltschaften im Auftrag des Justizministers. Auch in späteren Jahren, als ihm bereits das Amt des Präsidenten des Oberlandesgerichts Bamberg übertragen war, hat ihn - das weiß ich unter anderem aus persönlichen Gesprächen - die Frage der Stellung der Staatsanwaltschaft in unserem Rechtsstaat nicht losgelassen. Ich hoffe daher, dass einige Gedanken zu dieser Thematik aus Sicht seines Amtsnachfolgers im Bayerischen Justizministerium sein Interesse finden könnten. Die Problematik der Dienstaufsicht über die Staatsanwaltschaften hat mich bereits in den ersten Tagen meines Amtes als Strafrechtsabteilungsleiter voll ergriffen - nur habe ich es damals nicht geahnt. Mir wurde in den ersten Augusttagen 1994 berichtet, dass möglicherweise ein Zugriff der Staatsanwaltschaft München I auf Plutoniumschmuggler am Flughafen München bevorsteht. Das hatte ein parlamentarisches Nachspiel: In den letzten Jahren gab es zwei, speziell die bayerische Strafjustiz betreffende Untersuchungsausschüsse im Bayerischen Landtag: Den sogenannten Plutonium-Ausschuss - zurückgehend auf meine soeben erwähnten ersten Amtstage - und den so genannten Schreiber-Ausschuss. Letzterer behandelte den Vorwurf an die Justizverwaltung, Einfluss auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft genommen zu haben (und damit die Ermittlungen gebremst und behindert zu haben), ersterer behandelte den Vorwurf, keinen Einfluss auf die Staatsanwaltschaft genommen zu haben (in Richtung einer Vermeidung der Verbringung von Plutonium nach Deutschland). Beide Ausschüsse befassten sich damit im Kern mit Fragen der ministeriel-
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Manfred Markwardt
len Dienstaufsicht über die Staatsanwaltschaft, und zwar mit gegenläufigen Zielrichtungen der Opposition. Dies zeigt eindrücklich die tagespolitische Bedeutung der Problematik.
II. Die §§ 144-147 GVG sehen in Bezug auf die Staatsanwaltschaften hierarchische Struktur, Weisungsgebundenheit sowie interne und externe Dienstaufsicht vor. § 146 GVG bestimmt unzweideutig, dass die Beamten der Staatsanwaltschaft den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen haben. § 147 GVG weist dem Justizminister die oberste Dienstaufsicht über die Staatsanwälte zu. Wer da lege lata die Staatsanwaltschaft der rechtsprechenden Gewalt (Art. 92 GG) und die Staatsanwälte der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 GG) zuordnen wollte, müsste somit die §§144 ff. GVG fur verfassungswidrig erachten. Dies wird - soweit ersichtlich - heute nicht mehr vertreten.1 Dennoch wird die im GVG festgeschriebene hierarchische Struktur der Staatsanwaltschaft in letzter Zeit (wieder einmal) verstärkt diskutiert. Hierbei geht es ganz überwiegend nicht um Radikallösungen, sondern um Modifikationen, Einschränkungen etwa der Berichtspflichten und des Weisungsrechts: Ich nenne hier beispielhaft nur die zehn Leitlinien zum Weisungsrecht des nordrhein-westfalischen Justizministers aus dem Jahre 2001 2 , den Abschlussbericht der hessischen Arbeitsgruppe „Saatsanwaltschaft" vom November 2002 3 , den Gesetzentwurf der Richterbund-Kommission vom August 2003 4 , die Beschlüsse der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte vom Mai 20045 und die Verhandlungen des Deutschen Juristentags 2004 6 . Wenn es um das Thema „Unabhängigkeit der Staatsanwälte" geht, lassen sich im Wesentlichen vier Diskussionsbereiche erkennen:
1 Vgl. hingegen frühere Stimmen in der Literatur, etwa Görcke ZStW 73 (1961), 561, 589 f.; Wagner NJW 1963, 8, 9; Kohlhaas Die Stellung der Staatsanwaltschaft als Teil der rechtsprechenden Gewalt (1963); Fuhrmann JR 1964, 418. 2 Abgedruckt in DRiZ 2002, 43. 3 In Broschüreform erstellt von der Arbeitsgruppe „Staatsanwaltschaft" in Wiesbaden im November 2002. 4 Vorgestellt in DRiZ 2003, 249 ff. 5 Gefasst auf der Sitzung der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte am 18./19. Mai 2004 in Lübeck. 6 Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages Bonn 2004 Band II/l, Teil O, Beschlüsse S. Ο 93.
Brauchen wir eine „unabhängige" Staatsanwaltschaft?
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(1) Status der Generalstaatsanwälte als politische Beamte, (2) Internes Weisungsrecht (also innerhalb der staatsanwaltschaftlichen Hierarchie), (3) Externes Weisungsrecht (also ministerielle Weisungsbefugnis), (4) Formelle Anforderungen an das Verfahren bei Weisungen. Zu den ersten beiden Bereichen besteht wenig Streit: 1. Status der
Generalstaatsanwälte
Den Status des politischen Beamten mit der Folge der jederzeitigen Versetzbarkeit in den einstweiligen Ruhestand haben - abgesehen vom Generalbundesanwalt - nur noch die Generalstaatsanwälte in Brandenburg, Schleswig-Holstein und Thüringen. Die anderen Länder hatten diese Stellung nie eingeführt (wie etwa Bayern) oder haben sie inzwischen abgeschafft. Generalstaatsanwälte als Organe der Rechtspflege sind dem Gesetz und der Gerechtigkeit verpflichtet. Für die ordnungsgemäße Ausübung ihres Amtes ist es nicht erforderlich, dass sie - über die allgemeine beamtenrechtliche Loyalität hinaus - in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen (§ 31 Beamtenrechtsrahmengesetz).7 - Beim Generalbundesanwalt mag eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein, gerade auch mit Blick auf mögliche außenpolitische Implikationen. - Die genannten drei Länder sollten den anderen folgen: Gerade mit Blick auf das externe Weisungsrecht - ich komme hierauf noch zu sprechen - bewirkt die Nichtablösbarkeit des Generalstaatsanwalts eine gewisse Kräftebalance im Verhältnis zum Justizminister, der - wie ein früherer bayerischer Justizminister zu sagen pflegte - „auf tägliche Kündigungsfrist arbeitet".
7 Die Abschaffung des Status des politischen Beamten im Bereich der Staatsanwaltschaft ist eine alte Forderung im Schrifttum, vgl. ζ. B. Odersky FS Bengl 1984, S. 57, 81; ders. FS Rebmann 1989, S. 343, 357; Kintzi DRiZ 1987, 457, 460; Roxin DRiZ 1997, 109, 116 f.; Günter DRiZ 2002, 55, 64 f. Sie wird auch im Entwurf der Kommission für die Angelegenheiten der Staatsanwälte im Deutschen Richterbund zur Änderung des GVG vom August 2003 (DRiZ 2005, 74 f.) umgesetzt (§ 149 S. 2 GVG-E).
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Manfred Markwardt 2. Internes
Weisungsrecht
Am internen Weisungsrecht ist festzuhalten. Es gibt keinen „unabhängigen Staatsanwalt", das Grundgesetz hat diese Position in Art. 97 Abs. 1 dem Richter vorbehalten und in Art. 92 die rechtsprechende Gewalt ausschließlich den Richtern anvertraut. Der Staatsanwalt ist Beamter, die Staatsanwaltschaft gehört trotz ihrer Eingliederung in die Justiz nicht zur rechtsprechenden Gewalt, wenn sie dieser auch als notwendiges Organ der Strafrechtspflege zugeordnet ist.8 Ihr innerer Aufbau kann sinnvollerweise nur hierarchisch sein. Wäre jeder Staatsanwalt in seiner Sachentscheidung unabhängig, wäre die Einheitlichkeit der staatsanwaltschaftlichen Praxis und letztlich der Strafverfolgung nicht mehr gewährleistet. Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz wäre gefährdet. Wer möchte als Beschuldigter oder als Anzeigeerstatter einem „unabhängigen" Staatsanwalt ausgeliefert sein, dessen Zuständigkeit sich nach dem Anfangsbuchstaben des Familiennamens richtet und der völlig unkontrolliert seine eigene Strafverfolgungspraxis anwendet!9 Akzeptabel wäre dies allenfalls dann, wenn für jede staatsanwaltschaftliche Entscheidung die gerichtliche Überprüfbarkeit eröffnet würde. Das kann aber ernsthaft niemand fordern. Zwar unterliegt die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft als ein der dritten Gewalt zugeordnetes Organ der Rechtspflege in weiten Bereichen einer Rechtskontrolle durch Gerichte. Doch müsste die Zahl der Strafrichter, insbesondere der Ermittlungsrichter, vervielfacht werden, wenn jede Entscheidung eines Staatsanwalts, noch dazu ohne den Filter staatsanwaltschaftsinterner Beschwerde- und Korrekturmöglichkeiten, der richterlichen Überprüfung zugeführt werden könnte. Die Abschaffung - oder zumindest weitgehende Abschaffung -des internen Weisungsrechts wird denn auch - soweit ersichtlich - nur ganz vereinzelt gefordert.10 Auch der Gesetzentwurf der Richterbundskommission tut dies nicht." Abgesehen von verfahrensmäßigen Vorschlägen (siehe dazu unter 4.) sieht er aber Einschränkungen für Weisungen in der Hauptverhandlung vor. Hier soll der Sitzungsstaatsanwalt mit Ausnahme der Fragen einer Klagerücknahme nach §§ 153c Abs. 3 und 4 und nach § 153d Abs. 2 8 BVerfGE 9, 223, 228; 32, 199, 216; BGHSt 24, 170, 171; KK-Schoreit 4. Aufl. § 141 GVG Rn. 3; Odersky FS Rebmann a.a.O. S. 343; ders. FS Bengl a.a.O. S. 57; Gerichtsverfassungsgesetz, 3. Aufl., § 141 Rn. 8. 9 Sehr plastisch angesichts solcher Vorstellungen der Ausspruch von Sarstedt NJW 1752, 1755: „Eine solche Machtfulle hat ja sonst im ganzen Staat niemand"; vgl. auch DRiZ 1987, 457, 462.
1999, Kissel 1964, Kintzi
10 Vgl. Eb. Schmidt DRiZ 1957, 273 ff.; ders. MDR 1964, 629 ff.; Schoreit DRiZ 1970, 226, 228; Roxin, der in DRiZ 1969, 385 ff. eine nur sehr eingeschränkte interne Weisungsgebundenheit anerkennt, rückt davon in DRiZ 1997, 109, 118 deutlich ab. 11 S. Fn. 4.
Brauchen wir eine „unabhängige" Staatsanwaltschaft?
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StPO sowie eines Rechtsmittelverzichts weisungsfrei agieren können. Auch der Abschlussbericht der hessischen Arbeitsgruppe „Staatsanwaltschaft" geht in diese Richtung.12 Weisungsfreiheit in der Hauptverhandlung wird im Übrigen in unterschiedlichen Abstufungen in der Literatur proklamiert.13 Zu Recht wird bei dieser Spezialfrage der in § 261 StPO zum Ausdruck kommende Gedanke ins Spiel gebracht, dass der Akt der Rechtsfindung unvertretbar ist. Dieser Grundsatz der freien Beweiswürdigung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gilt zwar unmittelbar nur für das erkennende Gericht, muss aber Wirkung auch für den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft haben, der mit seinem Schlussvortrag nachhaltig Einfluss auf die Rechtsfindung nimmt. Es geht jedoch m.E. zu weit, hieraus die nahezu vollständige Weisungsfreiheit des Sitzungsstaatsanwalts abzuleiten. Auch im Rahmen der Hauptverhandlung ist der Staatsanwalt grundsätzlich Weisungen unterworfen.14 Nur solche Weisungen, die die Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme betreffen - sei es in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht - haben seitens nicht anwesender Vorgesetzter zu unterbleiben. Das schließt auch die Weisungsfreiheit hinsichtlich eines bestimmten Schlussantrags ein, soweit dieser Antrag Ergebnis der Beweiswürdigung ist.15 Die besondere Situation des Sitzungsstaatsanwalts in der Hauptverhandlung verbietet aber nicht etwa die Weisung, in der Hauptverhandlung eine bestimmte, von der Behörde in Vergleichsfallen zugrunde gelegte Rechtsauffassung zu vertreten. Ich meine, dass es u. U. auch erlaubt sein muss, die Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu einer Verfahrenseinstellung in der Hauptverhandlung zu unterbinden oder von bestimmten Voraussetzungen abhängig zu machen. Zwar ist für diese Entscheidung die Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme in der Regel von Bedeutung. Aber auch andere Erwägungen, etwa die Sicherstellung einheitlicher Sachbehandlung vergleichbarer Fälle oder andere rechtspolitische Zielsetzungen, können eine Rolle spielen. Ihre Durchsetzung kann unbeschadet des weisungsfreien Beweiswürdigungsbereichs des Sitzungsstaatsanwalts legitim sein. Allerdings: In der Praxis sind Weisungen in der Hauptverhandlung sehr selten und das zu Recht. Die Sitzungsvertretung sollte im besonderen Maß ein Bereich eigenverantwortlichen Wirkens des Staatsanwalts sein. Das stärkt nicht zuletzt auch seine Position im Verfahren und seine Überzeugungskraft gegenüber dem erkennenden Gericht. 12
S. Fn. 3. S. den Oberblick bei Löwe/Rosenberg/Bo// 25. Aufl., § 146 GVG Rn. 26 ff. m.w.N. 14 L/RIBoll a.a.O. Rn. 28 ff.; Bölter Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, S. 296. 15 Noch enger begrenzt sieht die Weisungsfreiheit in der Hauptverhandlung L/RIBoll a.a.O. Rn. 29 ff. 13
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Manfred Markwardt
3. Externes
Weisungsrecht
Im Zentrum der rechtspolitischen Überlegungen zu einer „unabhängigen Staatsanwaltschaft" steht die Frage des sogenannten externen Weisungsrechts, also des in § 147 GVG festgelegten Aufsichts- und Leitungsrechts des Justizministers.16 Zum Teil wird - oft mit Blick auf andere Staaten, u.a. Osteuropas (Polen, Ungarn, Bulgarien) -, eine völlige Regierungsunabhängigkeit der Staatsanwaltschaft gefordert;17 insoweit wird bisweilen auch das Grünbuch der EG-Kommission vom 11.12.2001 bemüht, das einen von externen Weisungen anderer EU-Organe unabhängigen Europäischen Staatsanwalt proklamiert (m.E. eine gewagte Gleichsetzung sehr unterschiedlicher Sachverhalte).18 Teilweise wird nur die Abschaffung des ministeriellen Weisungsrechts im Einzelfall gefordert (so etwa der Kommissionsentwurf des DRB).19 Begründet werden diese Forderungen mit der Gefahr politischer Einflussnahme auf die der Rechtspflege zuzuordnende Tätigkeit der Staatsanwaltschaften. Auffallend häufig findet sich in diesem Kontext die Formel vom „bösen Anschein" politischer Instrumentalisierung der Staatsanwaltschaft, der das Vertrauen der Bevölkerung in die Unvoreingenommenheit der Strafrechtspflege untergraben könne. Schon dieser bloße Verdacht beschädige das Ansehen der Staatsanwaltschaft; dem müsse die Grundlage entzogen werden. Die Gefahr einer parteipolitischen oder sonst sachfremden Einflussnahme politischer Verantwortungsträger (nur so kann der Vorwurf „politischer" Einflussnahme hier gemeint sein) soll also dadurch gebannt werden, dass die politische Verantwortung als solche beseitigt wird. Wer keinen Einfluss mehr hat, kann diesen auch nicht mehr missbrauchen. Eine umfassende Abschaffung des externen Weisungsrechts wäre vor dem Hintergrund unseres Staats- und Behördenaufbaus verfassungsrechtlich bedenklich. Das Demokratieprinzip verbietet grundsätzlich ministerialfreie Räume innerhalb der Exekutive.20 Staatliches Handeln ohne Verantwortung gegenüber der Volksvertretung darf es nicht geben. Nur die Gerichte sind nach dem Grundgesetz hiervon ausgenommen. Ein Justizminister, der auf die Amtsführung der Staatsanwaltschaften keinen Einfluss hat, kann hierfür 16 Vgl. den Überblick bei Schoreit Karlsruher Kommentar, 4. Aufl. § 146 GVG Rn. 1 ff.; Paeffgen, Gedächtnisschrift fiir Ellen Schlüchter, S. 563. 17 Wagner JZ 1974, 212, 216 ff.; Rautenberg NJ 2003, 169, 174 f.; grundlegend: M. Kohlhaas Die Stellung der Staatsanwaltschaft als Teil der rechtsprechenden Gewalt, 1963, S. 36 ff. 18 Rautenberg a.a.O. S. 170; vgl. auch Kintzi DRiZ 2003, 250. 19 Rudolph NJW 1998, 1205; 1206; Günter DRiZ 2002, 55 f., 67 f.; Peschel-Gutzeit DRiZ 2002, 345, 355; Maier ZRP 2003, 387 ff. 20 Ausnahmen bedürfen neben eines formellen Gesetzes auch einer besonderen Sachlegitimation aus der Verfassung selbst oder aus der Natur der Sache; vgl. hierzu ausführlich Paeffgen a.a.O. Fn. 1.
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auch nicht die parlamentarische Verantwortung übernehmen. Fehlverhalten der von ihm ernannten Staatsanwälte könnte ihm politisch nicht zugerechnet werden. Landtagspetitionen wären sinnlos, weil der Justizminister - wie es heute schon bei Angriffen auf richterliche Entscheidungen der Fall ist - sich auf die „Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften" berufen würde - eine großartige Arbeitserleichterung für die Strafrechtsabteilungen der Justizministerien, aber wohl kaum im Sinne der die Volksvertretung anrufenden rechtsuchenden Bevölkerung. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass - wie etwa in ehemaligen Ostblockstaaten wie Ungarn, Polen oder Bulgarien - ein System ohne Verantwortlichkeit der Justizminister für die Staatsanwaltschaften denkbar ist. Aber: Das gem. Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 GG unabänderliche Demokratiegebot würde zwingend Ersatzverantwortlichkeiten gegenüber dem Parlament bedingen. Anstelle des Justizministers müsste die oberste Leitungsebene der Staatsanwaltschaft, etwa der Generalstaatsanwalt, die parlamentarische Verantwortung übernehmen, um die Legitimationskette zu erhalten. Denn die strafverfolgende Tätigkeit der Staatsanwaltschaften ist im System der Gewaltenteilung der Exekutive und nicht der rechtsprechenden Gewalt zuzurechnen, wenn die Staatsanwaltschaft auch als Organ der Strafrechtspflege organisatorisch aus der Verwaltung herausgelöst und den Gerichten zugeordnet ist und wenn sie auch mit ihrer Aufgabe der Rechtsverwirklichung „normalen" Verwaltungsbehörden nicht gleichgesetzt werden kann. Strafverfolgung ist nicht Rechtsprechung! Was wäre also gewonnen durch eine vom Justizminister unabhängige Staatsanwaltschaft? An die Stelle des Ministers würde ein vom Parlament gewählter, dem Parlament verantwortlicher, in der Praxis von den vorherrschenden politischen Kräften abhängiger oberster Staatsanwalt rücken. Wäre der „böse Anschein" sachfremder politischer Einflussnahme damit schwächer? Ich glaube es nicht. Aber auch eine Beschränkung der externen Weisungsbefugnis auf generelle Weisungen, etwa durch allgemeine Verwaltungsvorschriften, wie es der mehrfach zitierte Entwurf der Richterbundkommission vorsieht, wäre verfehlt. Die zu gewährleistende parlamentarische Kontrolle des Justizministers erfordert ebenso wie das Gebot der Einheitlichkeit staatsanwaltschaftlicher Funktionsausübung die Befugnis des Ressortministers, in engen Grenzen auch einzelfallbezogene Weisungen zu erteilen. Die Abgrenzung nach generellen Weisungen und Einzelfallweisungen lässt sich insoweit nicht durchhalten. Wie soll der Justizminister reagieren, wenn etwa im Bereich einer Generalstaatsanwaltschaft immer wieder von einer Verwaltungsvorschrift abgewichen wird, etwa der Vorschrift, in Fällen von Gewalt im sozialen Nahraum grundsätzlich das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu bejahen? Sollen ihm im richtlinienwidrigen Einzelfall die
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Manfred Markwardt
Hände gebunden sein? Das Dilemma eines solchen Abgrenzungsversuchs zeigen auch die oftmals als vorbildlich bezeichneten zehn Leitlinien des Justizministers des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2001 zum externen Weisungsrecht.21 Nach den Leitlinien Nrn. 8 und 9 erschöpft sich die Ausübung des ministeriellen Weisungsrechts in Nordrhein-Westfalen in allgemeinen Weisungen, vom Leitungsrecht in anhängigen Ermittlungsverfahren mache der Justizminister in ständiger Selbstbindung keinen Gebrauch; allerdings - und nun kommt das Entscheidende - komme eine Einzelweisung in Betracht, wenn der zuständige Generalstaatsanwalt gegen eine rechtsfehlerhafte staatsanwaltschaftliche Sachbehandlung zu Unrecht nicht einschreitet. Mit der Maßgabe des - ohnehin unstreitigen - Vorrangs des internen Weisungsstrangs wird mit dieser Formulierung die vorgebliche Selbstbeschränkung auf allgemeine Weisungen doch wieder weit zurückgenommen. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn der Minister die Sachbehandlung der Staatsanwaltschaft für rechtsfehlerhaft hält und der Generalstaatsanwalt nicht von sich aus in seinem Sinne einschreitet, sieht sich der Minister „ausnahmsweise" zu einer Einzelfallweisung veranlasst. Wo ist der Neuigkeitswert? Die Beschränkung auf Fälle rechtsfehlerhafter Sachbehandlung scheint mir wenig selektiv; sie lässt letztlich weite Spielräume zu. Die proklamierte (aber dann noch nicht konsequent durchgehaltene) Enthaltsamkeit bei Weisungen im Einzelfall wirft auch die Frage auf, inwieweit das Weisungsrecht des Ministers überhaupt disponibel ist. Das in § 147 GVG statuierte ministerielle WeisungsrecA/ dürfte jedenfalls in Fällen erkannter Rechtswidrigkeit des staatsanwaltschaftlichen Vorgehens schon wegen der Bindung an Recht und Gesetz zu einer Weisungspflicht erstarken.22 Ein Weiteres: Eine Abschaffung des externen Weisungsrechts im Einzelfall würde dem Berichtswesen weitgehend die Berechtigung entziehen. Jedenfalls würde die Berichtspflicht - nur zur Information - wohl nicht mehr richtig ernst genommen werden. Ohne Einzelberichte würde dem Minister aber auch die erforderliche Erfahrungsgrundlage für generelle Weisungen entzogen. So wird beispielsweise eine Verwaltungsanordnung zum Informationsaustausch zwischen Staatsanwaltschaften und Lebensmittelbehörden (nur) dann ins Auge gefasst werden, wenn aus einer Vielzahl von Einzelberichten erkennbar ist, dass in der Praxis Kommunikationsdefizite bestehen. Der Deutsche Juristentag 2004, dessen Abteilung Strafrecht unter dem stellvertretenden Vorsitz von Reinhard Böttcher tagte, hat sich mit deutlicher Mehrheit gegen die Beschränkung externer Weisungen auf solche 21 22
S. Fn. 2. Ähnlich Böller a.a.O. S. 301 f.
Brauchen wir eine „unabhängige" Staatsanwaltschaft?
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genereller Art ausgesprochen.23 Bemerkenswert war hierbei die nahezu geschlossene Ablehnung einer solchen Einschränkung durch die anwaltlichen Teilnehmer. Von deren Seite wurde u.a. darauf hingewiesen, dass die Bedeutung des Justizministers gegenüber dem Innenminister im Kabinett durch eine solche Beschneidung seiner Kompetenzen noch weiter geschwächt würde - m.E. eine berechtigte Befürchtung. Die externe Einzelfallweisung ist in der Praxis - auch das ist weitgehend unbestritten - sehr selten. Das ist nicht verwunderlich. Der Justizminister steht - gerade wenn es um bekannte Persönlichkeiten geht - unter der kritischen Beobachtung zumindest der parlamentarischen Opposition und der Medienöffentlichkeit. Jeder Eingriff in die Entscheidungsabläufe der Staatsanwaltschaft ist mit einem politischen Risiko für den Minister verbunden. Bei sachwidrigen Einflussnahmen setzt er sich selbst der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aus, sei es etwa - zumindest als Teilnehmer - wegen (versuchter) StrafVereitelung, sei es wegen Verfolgung Unschuldiger. Eine besonders einladende Option ist der Missbrauch des Weisungsrechts also nicht! Diese Situation führt erfahrungsgemäß nicht selten dazu, dass die Beamten dem Minister auch dann von einer Einflussnahme abraten, wenn sie die staatsanwaltschaftliche Sachbehandlung nicht für optimal halten. Das gilt umso mehr dann, wenn prominente Persönlichkeiten, Parteifreunde oder auch politische Gegner des Ministers betroffen sind. Ein auf wackligen Beinen stehender Entwurf einer Untreue-Anklage wird tendenziell eher kritische Rückfragen des Ministeriums nach sich ziehen, wenn Herr Meier oder Herr Müller betroffen sind, als wenn sich die Vorwürfe etwa gegen einen Parteifreund des Ministers wenden. Bisweilen kann sich dies gewissermaßen als „Prominenten-Malus" auswirken. In den zwölf Jahren meiner Tätigkeit als Leiter der Strafrechtsabteilung im bayerischen Justizministerium habe ich eine förmliche Weisung des Justizministers erlebt. Es ging um die Behandlung eines jugendlichen Intensivtäters türkischer Staatsangehörigkeit. Während der Justizminister, gestützt durch entsprechende Kabinettsberatungen, die sofortige Ausweisung des Betreffenden und die nach § 154b Abs. 3, 4 StPO damit verbundene Verfahrenseinstellung erreichen wollte, bestand die Staatsanwaltschaft auf der Durchführung des Strafverfahrens. Durch schriftliche Weisung an den Generalstaatsanwalt setzte der Minister seine Auffassung durch. Ich meine, dass dieser eine Fall die Legitimität einer externen ministeriellen Weisung im Ausnahmefall illustriert. Die Opportunitätsvorschrift des § 154b StPO eröffnet die Möglichkeit, Interessen der Prävention (keine weiter zu befürchtenden Straftaten im Inland) und der Repression (Durch23
DJT 2004 a.a.O. (Fn. 6) Beschluss VI 2 a.
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Manfred Markwardt
führung des Strafverfahrens) gegeneinander abzuwägen. Dem politisch verantwortlichen Minister hier im Streitfall das letzte Wort einzuräumen, halte ich für gerechtfertigt. Wenn ich von einer Weisung in zwölf Jahren spreche, ist damit natürlich nur die echte förmliche Weisung gemeint. Selbstverständlich gab und gibt es darüber hinaus immer wieder „Einflussnahmen" i. S. von Rückfragen, Anfordern von Ergänzungsberichten, Besprechungen. Man findet zu Lösungen, die letztlich von allen Beteiligten akzeptiert werden können. Dabei setzt sich durchaus nicht immer die (ursprüngliche) Meinung des Ministeriums durch. Wer hier sogleich an „vorauseilenden Gehorsam" der Staatsanwaltschaft denkt, liegt daneben und verkennt das Selbstbewusstsein und die Standfestigkeit unserer Staatsanwältinnen und Staatsanwälte.24 Einzuräumen ist allerdings, dass die Gefahr verwischter Verantwortlichkeiten bei der dargestellten Praxis nicht von der Hand zu weisen ist. Ob dieser Gefahr durch bestimmte verfahrensmäßige Kautelen begegnet werden kann und soll, wird unter dem folgenden Punkt noch kurz erörtert werden. 4. Verfahren bei Weisungen Die verschiedentlich geäußerte Forderung nach mehr Transparenz, nach Offenlegung der Entscheidungsverantwortlichkeiten halte ich für teilweise berechtigt. Dem sollte - in weitgehender Übereinstimmung mit dem Beschluss der Generalstaatsanwälte, dem Abschlussbericht der hessischen Arbeitsgruppe sowie dem Juristentagsbeschluss 2004 - wie folgt Rechnung getragen werden: Externe Weisungen sollten grundsätzlich an den Generalstaatsanwalt zu richten sein. Externe Weisungen sollten schriftlich zu erteilen und in den Akten (Berichtsakten, Handakten) zu dokumentieren sein. -
Auch unterhalb der Schwelle formlicher Weisungen sollten Entscheidungsprozesse mit ministerieller Beteiligung (Besprechungen, Telefona-
24
So widerspricht die Sichtweite von Maier a.a.O. (Fn. 19), der die „faktischen Einflussnahmen durch vorauseilenden Gehorsam" (S. 388) als „wichtiges Einfallstor fur Einflussnahmen" bezeichnet, deutlich den langjährigen Erfahrungen des Verfassers. Mit der Argumentation von Maier, die bei einer förmlichen Weisung drohenden Karrierenachteile führten zu einem „Einknicken vor der Macht" (S. 388), trifft man das hierarchische Prinzip des Behördenaufbaus in unserem Staat grundsätzlich. Mit Besonderheiten des staatsanwaltschaftlichen Weisungsrechts hat das nichts zu tun.
Brauchen wir eine „unabhängige" Staatsanwaltschaft?
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te mit Einfluss auf die Sachbehandlung) nachvollziehbar dokumentiert werden. Darüber hinaus auch interne Weisungen dem Schriftformerfordernis und der Dokumentationspflicht zu unterziehen, wie dies etwa der Entwurf der Richterbundskommission vorsieht, hielte ich allerdings für überzogen. Angesichts der Alltäglichkeit interner Handlungsanweisungen innerhalb der staatsanwaltschaftlichen Hierarchie und der oft fließenden Übergänge von Weisung und Empfehlung im staatsanwaltschaftlichen Alltagsgeschäft erschiene mir dies als unnötige Förmelei und überflüssige Bürokratie. Natürlich muss der Staatsanwalt ein Remonstrationsrecht haben. Dies ergibt sich aber schon aus den allgemeinen beamtenrechtlichen Vorschriften und muss nicht im Gerichtsverfassungsgesetz geregelt werden. In diesen Fällen ist eine Dokumentation gesichert, in anderen Fällen ist sie überflüssig. Bei allem Verständnis fur das Bestreben, vermeintliche Idealzustände zu kodifizieren: Gerade bei der derzeitigen Belastungssituation muss alles vermieden werden, was ohne Not die Arbeit der Staatsanwälte erschwert.
III. Die im Titel dieses Beitrages gestellte Frage möchte ich zusammenfassend wie folgt beantworten: Wir brauchen keine „unabhängige", sondern eine leistungsfähige, selbstbewusste und von kleinlicher Gängelei freie Staatsanwaltschaft. Die verantwortungsvolle Erledigung ihrer Aufgaben setzt nicht voraus, dass der einzelne Staatsanwalt in quasi-richterlicher Unabhängigkeit agieren kann; sie ist vielmehr davon abhängig, dass die - interne und externe - Dienstaufsicht mit der dem besonderen Status des Staatsanwalts angemessenen Zurückhaltung ausgeübt wird. Die Bindung an Recht und Gesetz muss Maßstab der Dienstaufsicht sein, in Ermessensfragen muss die Gleichmäßigkeit und Einheitlichkeit der Rechtsanwendung ihr Leitbild sein. Ein kooperativer Führungsstil wird förmliche ministerielle Weisungen zur Ausnahme machen. Soweit sie dennoch erforderlich werden, sollten die Entscheidungsverantwortlichkeiten offengelegt werden (Schriftform, Dokumentation, Einhaltung des „umgekehrten Dienstweges"). Auch unterhalb des Bereiches der formlichen Weisungen sollten Entscheidungsprozesse mit ministerieller Beteiligung nachvollziehbar dokumentiert werden. Eine Abschaffung des ministeriellen Weisungsrechts bei Beibehaltung des gegenwärtigen Behördenaufbaus würde gegen den Grundsatz der parlamentarischen Verantwortung verstoßen. Eine Beschränkung der externen Weisungsbefugnis auf generelle Weisungen ist - abgesehen von auch inso-
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Manfred Markwardt
weit gegebenen verfassungsrechtlichen Bedenken - schon praktisch nicht sinnvoll durchführbar. Theoretisch denkbar wäre eine Systemänderung dahin, dass der Justizminister als oberster Dienstherr der Staatsanwaltschaften und parlamentarisch Verantwortlicher durch eine andere Institution ersetzt wird, etwa einen vom Parlament gewählten und diesem verantwortlichen obersten Generalstaatsanwalt. Gewonnen wäre damit im Hinblick auf den vielbeschworenen Anschein politischer Einflussnahme nichts.
Absprachen im Strafprozess Nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des BGH LUTZ M E Y E R - G O S S N E R
I.
Der verehrte Jubilar, dem ich mich nicht nur als früherer Kollege in der bayerischen Justiz, als Teilnehmer bzw. Mitwirkender beim Deutschen Juristentag1 und als früherer „Fast-Nachbar" in Münchens Süden verbunden fühle, hat in der mir gewidmeten Festschrift2 einen Beitrag zu dem Thema „Der Deutsche Juristentag und die Absprachen im Strafprozess" verfasst 3 . Er hat darin die „Geschichte" der Absprachen im Strafprozess in prägnanter Kürze zusammengestellt, indem er die Entwicklung ab Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts bis zum Jahre 2001 erläutert und hierbei insbesondere auf die drei wohl wesentlichsten Einschnitte bei diesem - mit den Worten von Eser4 aus dem Jahre 1990 - „Phänomen, das es vor einigen Jahren noch gar nicht gab bzw. das eher schamhaft verschwiegen wurde" hingewiesen: Erstens die Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27.1.19875, „die die Absprachen, korrekt gehandhabt, vor einem verfassungsrechtlichen Totalverdikt in Schutz nahm" 6 , zweitens die Verhandlungen des 58. Deutschen Juristentages 1990, die in den Abstimmungsergebnissen zu vielfach mit großer, teilweise überwältigender Mehrheit gefassten Beschlüssen führten 7 , und drittens das allseits als Grundsatzentscheidung
1 So beim 58. Deutschen Juristentag (1990) in München und beim 63. Deutschen Juristentag (2000) in Leipzig. 2 Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis, Festschrift fur Lutz Meyer-Goßner zum 65. Geburtstag, 2001. 3 S. 49 ff. 4 Verhandlungen des 58. Deutschen Juristentages, Fn. 16 L 6. 5 NJW 1987, 2662 = NStZ 1987, 419 mit Anm. Gallandi. 6 Fn. 2, S. 53. 7 Wiedergabe der Ergebnisse Fn. 2, S. 54 ff.
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bezeichnete Urteil des 4. Strafsenats des BGH vom 28.8.19978. Nach Böttchers Ansicht besteht für eine gesetzliche Regelung „nur noch geringer Bedarf, wenn die in BGHSt 43, 195 aufgestellten Grundsätze (die - wie Böttcher darlegt9 - weithin10 den Beschlüssen des 58. Deutschen Juristentages entsprechen) in der weiteren Entwicklung der obergerichtlichen Rechtsprechung standhalten"11. Die „weitere Entwicklung" ist nun durch die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des BGH vom 3.3.200512 zu einem gewissen Abschluss gebracht worden. Jedenfalls ist damit ein weiterer Einschnitt erfolgt, so dass das Absprachen-Phänomen dadurch in eine neue Phase eingetreten ist. Es liegt daher nahe, den durch den Festschrift-Beitrag von 2001 begonnenen Dialog mit Böttcher fortzusetzen und zu analysieren, wie sich die Situation jetzt - im Jahre 2006 - darstellt. Dabei ist vorab zu konstatieren, dass sich die übrigen Strafsenate des BGH der Rechtsprechung des 4. Strafsenates angeschlossen hatten; alle Strafsenate haben seit 1997 - wie der Große Senat formuliert13 - „die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen anhand der Mindestbedingungen von BGHSt 43, 195 beurteilt" (es folgen Nachweise). So konnte der BGH auch schon 2004 feststellen14, dass insoweit eine „gefestigte Rechtsprechung" entstanden sei. Auch der Große Senat hat grundsätzlich an der Entscheidung BGHSt 43, 195 festgehalten; die dort entwickelten Grundsätze haben also - mit den Worten Böttchers15 - der weiteren Entwicklung der obergerichtlichen Rechtsprechung standgehalten. Der Große Senat sah jedoch „Anlass, die der Absprachepraxis durch Verfassung und Strafprozessordnung gesetzten, bereits in der Entscheidung BGHSt 43, 195 zusammengestellten Grenzen hervorzuheben und zu präzisieren"16. Er hat die verfassungsrechtliche Zulässigkeit (wenn auch mit Bedenken) im Ergebnis bejaht, die von BGHSt 43, 195 dargelegten Grundsätze bestätigt und ist lediglich in einem Punkt darüber hinausgegangen: Nach seiner Ansicht darf das Gericht „nicht nur wegen neuer Erkenntnisse von seiner Zusage abweichen, sondern - nach
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BGHSt 43, 195. Fn. 2, S. 56 f. 10 Böttcher meint sogar (S. 56) „völlig" - das ist aber nicht ganz zutreffend, denn Unterschiede bestehen wohl doch hinsichtlich der Verbindlichkeit der Zusage einer Strafobergrenze und hinsichtlich der Beteiligung der Staatsanwaltschaft an dieser Zusage. 11 Fn. 2, S.59. 12 BGHSt 50,40 = NJW 2005, 1440 = NStZ 2005, 389. 13 S. 12 des Beschlusses. 14 BGHSt 49, 84, 88 = NJW 2004, 1396. 15 Fn. 2, S. 59. 16 Fn. 13. 9
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entsprechendem Hinweis - auch dann, wenn schon bei der Urteilsabsprache vorhandene relevante tatsächliche oder rechtliche Aspekte übersehen wurden" 17 . Der Große Senat verweist dann auf zwei BGH-Entscheidungen, wobei sich die erste mit einem übersehenen „tatsächlichen", die zweite mit einem übersehenen „rechtlichen" Aspekt befasst: In der in NStZ 2004, 493 abgedruckten Entscheidung hatte das Landgericht bei seiner Strafobergrenzenzusage übersehen - obwohl sich dies aus der Anklageschrift ergab - , dass der Angeklagte eine erhebliche Vorstrafe hatte; es hatte sich trotzdem an seine Zusage gebunden gefühlt, was der 3. Strafsenat des BGH beanstandete. In der zweiten vom Großen Senat herangezogenen in NStZ 2005, 115 veröffentlichten Entscheidung hatte das Landgericht bei der Zusage übersehen, dass eine einzubeziehende Einzelstrafe nicht gesamtstrafenfähig war; der 5. Strafsenat des BGH entschied dazu, dass wegen des „Gebots fairer Verfahrensgestaltung" das Gericht sich „nicht in Widerspruch zu seinen eigenen im Rahmen der Verständigung gefundenen und bekannt gegebenen Rechtsfolgeerwartungen setzen darf'. Nicht nur diese vom Großen Senat des BGH vorgenommene Verschärfung, die sich demnach nur in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des 3., nicht aber mit der des 5. Strafsenats befindet, bedarf einer kritischen Würdigung. Auch zwei weitere (Grund-)Überlegungen des Großen Senats müssen kritisch beleuchtet werden: Zum einen die Frage, ob hier wirklich die angestellten verfassungsrechtlichen Überlegungen erforderlich waren, zum andern, ob der geradezu flehentliche18 - gleich zweimal in der Entscheidung enthaltene - Appell an den Gesetzgeber tätig zu werden 19 , veranlasst war. Schon hier lässt sich aber konstatieren, dass der Beschluss des Großen Senats den Eindruck einer wenig konsistenten Entscheidung erweckt und damit offenbar alle Merkmale einer Kompromissentscheidung aufweist 20 , was nicht weiter verwundert, wenn man die höchst unterschiedlichen Antworten der einzelnen Strafsenate auf die Anfrage des 3. Strafsenats 21 , die zur Entscheidung des Großen Senats geführt hat, betrachtet22. So 17
S. 15 des Beschlusses. Dahs NStZ 2005, 580, 582 bezeichnet den Appell als „fast verzweifelt anmutend"; Duttge/Schoop StV 2005,421,423 nennen ihn einen „Schrei der Verzweiflung"! 19 S. 22 des Beschlusses: „Indes ist trotz drängenden Regelungsbedarfs ein Tätigwerden des Gesetzgebers konkret nicht abzusehen"; S. 32: „Der Große Senat appelliert an den Gesetzgeber, die Zulässigkeit und bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln". 20 Duttge/Schoop , Fn. 18, S. 421 formulieren in Ihrer Anmerkung zur Entscheidung des Großen Senats das sogleich als scharfe Kritik: „Kompromisslösungen sind der Todfeind jedweder konsequenten Wahrheitssuche". 21 Beschluss vom 24.7.2003 = NJW 2003, 3426. 22 1. Strafsenat NStZ 2004, 164 gegen den 3. Strafsenat; 2. Strafsenat NJW 2004, 1336 ebenfalls gegen den 3. Strafsenat, aber mit dem Hinweis, dass „im Gesamtsenat unterschiedli18
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konstatiert denn auch Seher in seiner Anmerkung zum Beschluss des Großen Senats23, die Entscheidung lasse einen „dogmatisch stringenten Gedankengang vermissen und bleibt damit letztlich Stückwerk".
II. 1. Zuerst sei erörtert, ob die verfassungsrechtlichen Ausführungen im Beschluss des Großen Senats erforderlich waren. Der Große Senat hat hierzu schon herbe Kritik erfahren. So meinen Duttge/Schoop24, der Beschluss des großen Senats könne „schlechterdings nicht mehr als ein Akt noch zulässiger Rechtsfortbildung, sondern nurmehr als gesetzesvertretender Erlass einer neuen 'Strafprozessordnung light' verstanden werden". Die Argumente des Großen Senats zur Zulässigkeit dieser richterlichen Rechtsfortbildung seien „auffallig schwach". Seher25 siedelt die Entscheidung demgegenüber noch „am äußersten Rand möglicher richterlicher Rechtsfortbildung" an. Aber ist diese Kritik berechtigt? Mir scheint, hier wird nicht scharf zwischen Absprachen im Strafprozess schlechthin und zwischen dem von BGHSt 43, 195 umschriebenen Verständigungsverfahren unterschieden. Der Große Senat (und seine Kritiker) hätte doch zunächst klären müssen, ob gegen die von ihm aufrechterhaltene und nur in einem Punkt veränderte Entscheidung BGHSt 43, 195 verfassungsrechtliche Bedenken bestehen, die der 4. Strafsenat bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht hatte. Zunächst hatte BGHSt 43, 195 die aufrechtzuerhaltenden Rechtsgrundsätze betont, nämlich keine Vereinbarungen über den Schuldspruch, Prüfung der Glaubhaftigkeit des Geständnisses, Darlegung der Strafmaßobergrenzenzusage in öffentlicher Verhandlung, Protokollierung der Zusage, keine Zusage einer bestimmten Strafe, sondern nur Hinweis auf eine Strafobergrenze, keine Rechtsmittelverzichtsvereinbarungen; als neu hat er allein die mit der StPO (noch) zu vereinbare Regelung aufgestellt, eine (vorbehaltlich schwerwiegender, nicht bekannter Umstände) verbindliche Strafobergrenze zuzusagen. Das sollte verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen?
che Grundauffassungen über die Zulässigkeit von verfahrensbeendenden Absprachen im Strafprozess bestehen"; 4. Strafsenat Beschluss vom 25.11.2003 - 4 ARs 32/03 (unveröffentlicht) stimmt dem 3. Strafsenat zu, ebenso der 5. Strafsenat NJW 2004, 1335. 23 JZ 2005, 634. 24 Fn. 18, S. 423. 25 Fn. 23.
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Doch wohl kaum; denn es ist seit jeher unbeanstandet, dass ein Gericht für den Fall eines (glaubhaften) Geständnisses eine Strafmilderung in Aussicht stellt 26 . Das Neue an der Entscheidung BGHSt 43, 195 war doch nur, dass eine Zusage des Gerichts, eine bestimmte Strafobergrenze im Falle eines Geständnisses nicht zu überschreiten, verbindlich erklärt wird. Insofern hatte es etwa BGHSt 14, 188, 191 noch als „bedenklich" bezeichnet, für den Fall eines Geständnisses „ein Versprechen abzugeben, d.h. eine Erklärung zu machen, die als bindende Zusage aufgefasst werden könnte". Diese Bedenken hat der 4. Strafsenat in BGHSt 43, 195 nicht geteilt und sie scheinen auch nicht gerechtfertigt, wenn man betrachtet, wie sich die Stellung des Beschuldigten im Verfahren - eben als Subjekt und nicht als Objekt des Strafverfahrens - verändert hat. So erfasst einen ein leichter Schauder, wenn man liest, wie in einer alten BGH-Entscheidung ausgeführt wird 27 , es bestünden keine rechtlichen Bedenken dagegen, dass die Strafkammer das „freche Leugnen" (!) des Angeklagten strafschärfend berücksichtigt habe und dass sich „in dem Verhalten, das der Verbrecher (!) während des Verfahrens, vor allem auch während der Hauptverhandlung an den Tag legt", offenbaren könne, wie er innerlich zur Tat stehe. Von solchen Erwägungen sind wir heute weit entfernt: Es ist selbstverständlich, dass der Angeklagte die Tat - vorsichtig, entschieden oder höchst entschieden bestreiten kann, ohne dass ihm daraus ein Nachteil bei der Strafzumessung erwachsen darf. Der Angeklagte weiß heutzutage aber auch längst, dass er Staatsanwaltschaft und Gericht die Arbeit - oftmals sehr erheblich - erleichtert, wenn er ein Geständnis ablegt. BGHSt 43, 195 hat aber vor allem daraufhingewiesen, dass der Angeklagte mit Ablegung eines Geständnisses seine Verteidigungsmöglichkeiten auf einen schmalen Bereich einschränkt; es sei deswegen „nicht unbillig", wenn er vor Ablegung eines Geständnisses erfahren möchte (und wie zu ergänzen ist: verbindlich erfahren möchte), wie das Gericht das Geständnis bei der Strafzumessung bewerten würde 28 . BGHSt 43, 195 hat die verbindliche Zusage aus dem Gedanken des Vertrauensschutzes hergeleitet. Wenn das Gericht eine solche Zusage macht, der Angeklagte darauf vertraut, dann ergibt sich für das Gericht eine Bindungswirkung. Die Situation ist dem Fall vergleichbar, dass das Gericht einen Teil des Verfahrensstoffes nach §§ 154, 154a StPO ausscheidet; dann darf der Angeklagte darauf vertrauen, dass sowohl bei der Beweiswürdigung als insbesondere auch bei der Strafzumessung im Urteil der ausge-
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BGHSt 1, 387, 388; 14, 89; 20,268. BGHSt 1, 105, 106. S. 207.
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schiedene Verfahrensstoff nicht zu seinen Lasten berücksichtigt wird 29 . Ob man dieser Argumentation von BGHSt 43, 195 folgen will30 oder nicht 31 , kann dahingestellt bleiben: Verfassungsrechtliche Bedenken können sich daraus doch wohl nicht ergeben, wenn die Entscheidung BGHSt 43, 195 eine solche von ihr für zulässig gehaltenen Auslegung strafprozessualer Vorschriften vornimmt. Dass nur der Gesetzgeber in einem solchen Fall eine verbindliche Zusage erlauben können soll, vermag nicht einzuleuchten. Die langatmigen verfassungsrechtlichen Ausführungen, durch die der Große Senat seine Entscheidung selbst heftiger Kritik aussetzt, hätte er sich daher, weil er über BGHSt 43, 195 nicht hinausgeht, sparen können, zumal er das Abgehen von der verbindlichen Zusage - gegenüber BGHSt 43, 195 - noch erleichtert hat. Letzteres muss allerdings seinerseits beanstandet werden, gerade weil - und nur weil - der Angeklagte im Vertrauen auf die Zusage des Gerichts sein Geständnis abgelegt hat. Wenn er befürchten muss, dass das Gericht von der Zusage leicht wieder „herunterkommt", wird er sich die Ablegung des Geständnisses sehr genau überlegen müssen; es ist zu befürchten, dass dies zur Folge hat, dass die verbindliche Zusage wieder „per Ehrenwort" heimlich außerhalb des Gerichtssaals gegen Rechtsmittelverzichtszusage erklärt wird - ein Ergebnis, das BGHSt 43, 195 und der Große Senat doch gerade verhindern wollten. Davon abgesehen ist die vom Großen Senat gemachte weitergehende Einschränkung auch dogmatisch fragwürdig: Duttge/Schoop32 weisen zurecht darauf hin, dass sich der Große Senat damit von der Konsensidee wieder einen Schritt zurück bewegt hat und dass dies wenigstens zur Unwirksamkeit des abgegebenen Geständnisses fuhren müsse 33 . Dies kann hier aus Platzgründen nicht näher erörtert werden. Festzuhalten ist aber, dass unter Zugrundelegung der - modifizierten - Lösung BGHSt 43, 195 für verfassungsrechtliche Bedenken kein Raum war. Die Kritik von Duttge/Schoop geht also hinsichtlich des Vorwurfs, der Große Senat habe sich ihm nicht zustehende legislatorische Befugnisse angemahnt, ins Leere. Diese Kritik wäre nur dann berechtigt, wenn der Große Senat ein konsensuales Verfahren erlaubt hätte, d.h. ein Verfahren, in dem Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung eine Strafe aushandeln 29
Vgl. Meyer-Goßner StPO 49. Aufl. § 154a Rn. 2. Vgl. Bottke Gedächtnisschrift für Heinz Zipf, 1999, S. 451. 31 So Schünemann Festschrift fur Peter Rieß, 2002, S. 538, der dem BGH hier - wenig einsichtig (dazu Meyer-Goßner Kolloquium für Dr. Walter Gollwitzer, 2004, S. 176) - einen Kreisschluss vorwirft. 32 StV 2005, 421. Ähnlich auch Saliger JuS 2006, 8, 10: Überzeugt nicht und „gerät mit dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren insofern in Konflikt, als dessen im Vertrauen auf die Absprache vorgeleistetes Geständnis nachteilig fortwirkt". 33 S. 16 des Beschlusses. 30
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und diese Strafe dann verhängt wird, also das, was gemeinhin als mit der derzeitigen StPO unvereinbarer, unzulässiger deal bezeichnet wird. Aber genau das hat BGHSt 43, 195 doch nicht gestattet. Ebenso wie in manchen BGH-Entscheidungen34 spukt aber offenbar auch beim Großen Senat der Gedanke im Kopf herum, die Staatsanwaltschaft müsse der Strafobergrenzenzusage des Gerichts zustimmen (der Große Senat hat die Frage allerdings offen gelassen35). Selbstverständlich ist es, dass die Staatsanwaltschaft angehört werden muss; in BGHSt 43, 195 findet sich aber kein Wort, dass die Zusage des Gerichts der Zustimmung der Staatsanwaltschaft bedürfe. Wie denn auch? Eine gerichtliche Entscheidung über die zu verhängende Strafe kann doch nicht von der Zustimmung der Staatsanwaltschaft abhängen. Dem Gericht - und niemand sonst - ist die Entscheidung über die zu verhängende Strafe zugewiesen. Die Höhe der im Urteil auszusprechenden Strafe vom Einverständnis der Staatsanwaltschaft abhängig zu machen, wäre in der Tat revolutionär und könnte nicht mehr als zulässige Auslegung der StPO-Vorschriften gerechtfertigt werden. Es ist daher verfehlt, wenn der BGH in NStZ 2005, 493 von einem „Dissens" zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht spricht oder in BGH StV 2003, 481 die fehlende Zustimmung der Staatsanwaltschaft beanstandet36. Man muss sich entscheiden: Will man es bei der Fortentwicklung der Rechtsprechung von unverbindlicher (seit jeher als zulässig erachteter) Inaussichtstellung einer Strafmilderung bei Ablegung eines Geständnisses zur verbindlichen Zusage einer Strafobergrenze belassen, gegen die verfassungsrechtliche Bedenken nicht zu erheben sind, oder will man ein konsensuales Verfahren einführen, in dem Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Gericht gemeinsam über die Strafe (oder auch nur die Strafobergrenze) befinden? Das wird unter III noch näher erörtert werden. 2. Ebenso wenig wie unter Anwendung der aufrechterhaltenen und sogar noch verschärften Grundsätze BGHSt 43, 195 durch den Großen Senat die zweifelhaften verfassungsrechtlichen Ausführungen geboten waren, erscheint der dringende Appell an den Gesetzgeber zum Tätigwerden nun noch veranlasst37. Zwar gab es schon eine „gefestigte Rechtsprechung"38; aber in Anbetracht der im Einzelnen unter den Senaten des BGH noch vorhandenen Differenzen 39 war die Entscheidung des Großen Senats von Bedeutung. Die vom Großen Senat aufgeworfenen, als noch klärungsbedürftig 34 35 36 37 38 39
BGH StV 2003,481; NStZ 2005,493. S. 17. Vgl. dazu auch schon Meyer-Goßner, Fn. 31, S. 182. Vgl. dazu auch Meyer-Goßner ZRP 2004, 187, 190. Oben Fn. 14. Oben Fn. 22.
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angesehenen Einzelfragen40 könnte aber ohne große Schwierigkeiten auch die Rechtsprechung beantworten: Der Große Senat wirft die Frage nach der Bindungswirkung der Strafrahmenobergrenze und der Folgen, wenn die Bindungswirkung entfallt, auf. Im Einzelnen hält er Regelungen dafür erforderlich, - wen die Zusage bindet, nämlich nur das Tat- oder etwa auch das Rechtsmittelgericht, - unter welchen Voraussetzungen die Bindungswirkung entfallt, - ob das „vorgeleistete" Geständnis bei Fortfall der Bindung noch zu Beweiszwecken verwertet werden darf, - ob die Zusage auch verbindlich ist, wenn die gebotene Beteiligung, Anhörung oder Zustimmung fehlte oder -wenn das Ergebnis der Vorgespräche nicht in die Hauptverhandlung eingeführt und protokolliert worden ist, - schließlich, ob und in welchem Maße im Revisionsverfahren bestimmte Verfahrensrügen ausgeschlossen sein können. Dieser zunächst beeindruckende Fragenkatalog ist aber größtenteils durch die Rechtsprechung schon beantwortet worden; im Übrigen erscheint es sehr zweifelhaft, ob eine so ins Detail gehende Regelung per Gesetz vorgenommen werden könnte und sollte. Im Einzelnen ist dazu festzustellen: Dass durch die Zusage etwa nur das Tatgericht, aber nicht das Rechtsmittelgericht gebunden sein könnte, ist eine merkwürdige Vorstellung41: Wenn der Angeklagte im Vertrauen auf die Zusage des Tatgerichts sein Geständnis ablegt und der Zusage des Tatgerichts - wie in BGHSt 43, 195 und in der Entscheidung des Großen Senats geschehen - eine Bindungswirkung zuerkannt wird, kann das, was in der Tatsacheninstanz als zulässig angesehen wurde, in der Revisionsinstanz doch nicht wieder in Frage gestellt werden. Es muss insoweit bei der allgemeinen Regel bleiben, dass in der Rechtsanwendung zwischen Tat- und Revisionsgericht selbstverständlich kein Unterschied gemacht werden kann. Dass dies gleichwohl nicht immer klar erkannt wird (und deswegen vom Großen Senat auch hier als Frage aufgeworfen wird), zeigte sich bereits vor einiger Zeit in einer Entscheidung des 2. Strafsenats des BGH 42 , in der dieser offen ließ, ob sich das Landgericht als Berufungsgericht in einer Rechtsfrage zu § 329 StPO richtig verhalten habe, dies aber für das Oberlandesgericht als Revisionsgericht ver-
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S. 16/17 des Beschlusses. Die allerdings auch im Gesetzentwurf der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) [dazu näher unter III] auftaucht und dort bejaht wird; ablehnend dazu Meyer-Goßner StV 2006, 485, 489. 42 BGHSt 46, 230. 41
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neinte43. Was aber beim Tatgericht richtig war, kann beim Revisionsgericht nicht unrichtig sein, und umgekehrt. Dass das Revisionsgericht die vom Tatgericht rechtsfehlerfrei zugesagte Strafrahmenobergrenze nicht wieder in Frage stellen darf, dürfte danach eindeutig zu bejahen sein (dazu aber auch unter III); etwas anderes ist es natürlich, wenn die Zusage rechtsfehlerhaft erfolgte und dies in der Revision ordnungsgemäß gerügt wird. Damit ist gleich der Bogen zur letzten vom Großen Senat aufgeworfenen Frage geschlagen: In der Revisionsinstanz ist von dem Geständnis und der bindenden Wirkung der Zusage auszugehen. Darüber hinaus die Revisionsrügen - insbesondere die Aufklärungsrüge - einzuschränken, besteht keine Veranlassung44 , im Gegenteil! Es muss gerade wegen der - auch vom Großen Senat thematisierten - Gefahr der Ablegung reiner „Formalgeständnisse" eine uneingeschränkte revisionsrechtliche Kontrolle erhalten bleiben. Der Gedanke einer einschränkenden gesetzlichen Regelung, der vom 5. Strafsenat des BGH ins Spiel gebracht worden ist45, sollte daher nicht weiter verfolgt werden (auch dazu näher unter III). Dass das Geständnis bei Abgehen des Gerichts von seiner Zusage hinfallig wird und nicht mehr zu Beweiszwecken verwertet werden darf, sollte eigentlich selbstverständlich sein, wenn man den Grundsatz „Vertrauen gegen Vertrauen" ernst nimmt. Zieht das Gericht seine Zusage zurück, so ist es unfair, den Angeklagten an seiner Erklärung festzuhalten46. Der BGH scheint vor dieser Konsequenz bisher allerdings zurückzuschrecken47. Da die Beantwortung der Frage, ob ein Verfahrensverstoß ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht, vom Gesetzgeber bisher aber fast ausnahmslos (sieht man von § 136a Abs. 3 StPO ab) der Rechtsprechung überlassen worden ist, würde es aus dem Rahmen fallen, gerade hier eine gesetzliche Regelung vorzuschreiben, zumal für den Einzelfall hierbei durchaus unterschiedliche Konstellationen vorstellbar sind48 (auch hierzu weiter unter III.). Unter welchen Voraussetzungen die Bindungswirkung entfallen soll eingeschränkt nach BGHSt 43, 195 oder erweitert nach der Entscheidung des Großen Senats - ist von der Rechtsprechung behandelt. Es würde sich 43
Vgl. dazu Meyer-Goßner Fn. 29, § 329 Rn. 49. Anders auch hier der Gesetzesentwurf der BRAK, der insoweit allerdings in sich konsequent verfährt. 45 BGH StV 2004, 5; dagegen zutreffend KG NStZ-RR 2004, 175. 46 Zutreffend Duttge/Schoop Fn. 32, S. 422; Schünemann/Hauer AnwBl 2006, 439, 443; a.M. Landau/Bünger ZRP 2005, 272. 47 Vgl. auch Meyer-Goßner Fn. 29, vor § 213 Rn.13. 48 So will auch der Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz (dazu unter III.) das Geständnis nur „grundsätzlich" verwertbar machen; gerade dazu, wann von diesem Grundsatz abzugehen ist, würden sich aber in der Praxis die Probleme ergeben. 44
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empfehlen, hier die weitere Entwicklung abzuwarten, nämlich zu beobachten, ob es auf Grund der weiteren Einschränkung durch den Großen Senat vermehrt dazu kommt, dass Gerichte von ihrer Zusage wieder abgehen. Bisher hat es solche Zusagenwiderrufe offenbar nur höchst vereinzelt gegeben. Im Übrigen hängt diese Frage aber eng mit der vorhergehenden zusammen: Je leichter es für das Gericht ist, die Zusage zurückzunehmen, desto eher muss auch die Verwertbarkeit des Geständnisses entfallen. Diesen Fragenkomplex in eine verbindliche gesetzliche Regelung zu gießen, dürfte schwierig sein und wäre wegen der nötigen Feinabstufung wohl kaum zu empfehlen. Dass nur in die Hauptverhandlung eingeführte und dort protokollierte Absprachen verbindlich sein können, entspricht der „gefestigten Rechtsprechung" 49 ; eine gesetzliche Regelung würde diese Rechtsprechung nur festschreiben. Dasselbe gilt für die Anhörung der Beteiligten: Es entspricht seit jeher der Rechtsprechung des BGH, dass allen Verfahrensbeteiligten Kenntnis von Verständigungsgesprächen gegeben werden und ihre Anhörung gewährleistet sein muss 50 . Da sich dies schon aus § 33 StPO ergibt, bedarf es insoweit einer zusätzlichen gesetzlichen Regelung nicht. Der einzige Punkt des gesamten Fragenkatalogs, der ersichtlich nur schwer von der Rechtsprechung gelöst werden kann, ist, ob die Staatsanwaltschaft (und ebenso vielleicht auch der Nebenkläger oder gar der Angeklagte) der Zusage einer Strafobergrenze zustimmen muss. Hier bestehen wie oben dargelegt - zwischen den Strafsenaten des BGH ersichtlich verschiedene Auffassungen. Die Beantwortung der Frage rührt an das Grundverständnis der zulässigen Absprache: Ist es eine Zusage des Gerichts gegenüber dem Angeklagten, falls dieser bereit ist, ein Geständnis abzulegen, oder ist es eine Vereinbarung der Verfahrensbeteiligten über die bei Ablegung des Geständnisses einzuhaltende Strafobergrenze? Dies muss direkt in die Grundüberlegung hineinfuhren, ob und wie eine gesetzliche Regelung der Absprache im Strafverfahren gestaltet werden sollte.
III. Nachdem der Große Senat so dringlich eine gesetzliche Regelung angemahnt hat, sind sogleich drei Gesetzesentwürfe vorgelegt worden; davon abgesehen haben die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte auf ihrer Arbeitstagung am 24.11.2005 „14 Kernpunkte" beschlossen, die 49 50
BGHSt 43, 195; BGH bei Tepperwien DAR 2005, 253. Vgl. nur BGHSt 37, 99, 103; 298, 304; 38, 102.
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„aus ihrer Sicht zur Gewährleistung einer funktionsfähigen und nachhaltigen Strafverfolgung unabdingbar sind" 51 . Es fällt auf, dass diese Punkte teilweise mit dem von der BRAK im September 2005 vorgelegten Entwurf 52 übereinstimmen, nämlich insbesondere darin, dass das Verfahren einen übereinstimmenden Antrag von Staatsanwaltschaft und Angeklagtem voraussetzen soll, dass das Berufungsverfahren nach einer erfolgten Absprache entfallen und die Revisionsrügen eingeschränkt werden sollen. Der am 7.4.2006 in den Bundesrat eingebrachte Entwurf des Landes Niedersachsen53 ähnelt sehr stark dem Entwurf der BRAK, während der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums54 eher die bisherige Rechtsprechung - ähnlich wie ein früherer Gesetzesentwurf 55 - festschreibt und einige vom Großen Senat aufgeworfene Fragen beantwortet. 1. Es kann hier nur sehr kursorisch auf diese Entwürfe eingegangen werden, nämlich auf einige zentrale Punkte: a) Fraglich ist schon, wo in der StPO eine solche gesetzliche Regelung eingestellt werden sollte. Die Entwürfe der BRAK und des Landes Niedersachsen wollen einen neuen § 243a schaffen; das BMJ will einen § 257c einfügen. Der ersteren Ansicht ist der Vorzug zu geben: Die Abspracheregelung muss am Anfang und nicht am Ende der Hauptverhandlung stehen. Ist die Hauptverhandlung im Wesentlichen durchgeführt worden, besteht für die Verfahrensbeteiligten, vor allem aber für das Gericht, kein großes Interesse mehr daran, zu einer Verständigung zu gelangen; denn ein Geständnis des Angeklagten soll die Beweisaufnahme doch gerade - zumindest weithin - überflüssig machen. b) Die Entwürfe unterscheiden sich darin, wer die Initiative zu einer Absprache ergreifen können soll: Der Entwurf der BRAK verlangt einen übereinstimmenden Antrag der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten (§ 243a Abs. 1), der Entwurf des Landes Niedersachsen schiebt die Initiative der Staatsanwaltschaft zu, die schon bei Anklageerhebung „in geeigneten Fällen 51
Abgedruckt in NJW Heft 1-2/2006 S. XVI. Abrufbar im Internet unter www.brak.de/Brak-Intern/Ausschüsse; teilweise abgedruckt in ZRP 2005, 235. Zu diesem Entwurf vgl. die Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins StraFo 2006, 89 sowie Landau/Bürger Fn. 46; Meyer-Goßner StV 2006, 485; Schünemann ZRP 2006, 63.. 53 Bundestag-Drucksache 235/06. 54 Abrufbar unter http://www.bmj.bund.de/media/archive/1234.pdf. 55 Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen des Deutschen Bundestages und des Bundesministeriums der Justiz, abgedruckt in StV 2004, 228. 52
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... Antrag auf Erörterung einer Urteilsabsprache" stellen soll (§ 199 Abs. 2 S. 1), während der Entwurf des BMJ dem Gericht auferlegt, sich in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten um eine Verständigung zu bemühen (§ 257c Abs. 1). Dieser Punkt erscheint aber praktisch bedeutungslos: Wenn eine gesetzliche Regelung der „Absprache" oder „Verständigung" in die StPO aufgenommen wird, so wird es wohl kaum noch ein Verfahren geben, in dem diese Möglichkeit von den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht nicht ausgelotet werden wird. Wer die Initiative ergreift, wird gleichgültig sein. c) Ein wichtiger Punkt ist, was Verhandlungsgegenstand sein soll. Während es bisher - jedenfalls in der Rechtsprechung - nur um die Frage der Ablegung eines Geständnisses geht, sollen nach dem Entwurf der BRAK auch Wiedergutmachung (bzw. Wiedergutmachungsbemühungen) und „ein sonstiges Verhalten, das der Verfahrensbeschleunigung dient" zur Strafmilderung fuhren können (§ 243a Abs. 1). Der Entwurf des Landes Niedersachsen will nur eine „Verständigung über die Rechtsfolgen" zulassen, macht insoweit aber keine Einschränkungen, so dass etwa auch die Frage einer Strafaussetzung zur Bewährung oder der Sicherungsverwahrung verhandelbar wären. Der Referentenentwurf des BMJ will hingegen die Maßregeln der Besserung und Sicherung aus der Verständigung herausnehmen, andererseits aber auch „sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zu Grunde liegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten" zum Gegenstand einer Verständigung machen (§ 257c Abs. 2). Damit gehen die Entwürfe weit über das hinaus, was bisher erlaubter Gegenstand einer Absprache sein durfte. Insbesondere dass die Strafzumessung - wie nach den Entwürfen der BRAK und des BMJ - auch vom prozessualen Verhalten abhängig gemacht werden kann, ist revolutionär und würde das bisherige Verständnis eines Urteils, das auf der Würdigung der materiellen Rechtslage beruht, aus den Angeln heben. d) Während es der Entwurf der BRAK bei der Zusage einer Strafobergrenze belässt, wollen die beiden anderen Entwürfe eine Strafober- und eine Strafuntergrenzenzusage erlauben (§ 243a Abs. 3 bzw. § 257c Abs. 2); nach dem Entwurf des BMJ soll beides nur mit Zustimmung des Angeklagten erfolgen. Das bedeutet, dass letztlich der Angeklagte die Strafzumessung übernimmt! Auch dies wäre eine Umdrehung dessen, was die Rechtsprechung bisher gestattet hat, nämlich dass das Gericht seine Strafzumessungsvorstellungen für den Fall eines Geständnisses des Angeklagten äußert, aber diese Vorstellungen nicht davon abhängig sind, ob der Angeklagte ihnen zustimmt. Die Brisanz und Bedeutung der Frage einer Strafober- und einer Strafuntergrenze, die in Fällen sehr geringer Differenz
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dahin führt, dass man sich der Zusage einer bestimmten Strafe stark annähern würde, haben die Entwürfe Niedersachsens und des BMJ offensichtlich überhaupt nicht erfasst, da sie sich hierzu nicht näher äußern. Nach den Entwürfen der BRAK und des BMJ wird die Rechtsfolgenzusage des Gerichts wirksam, wenn Staatsanwaltschaft und Angeklagter ihr nicht widersprochen haben (BRAK: § 243a Abs. 3 und 4 Satz 2 Nr. 1; BMJ: § 257c Abs. 3); nach dem Entwurf des Landes Niedersachsen müssen Staatsanwaltschaft, Angeklagter und Verteidiger ihre Zustimmung erklären (§ 243a Abs. 4 Satz 3). Damit kommen alle Entwürfe zu einer „Verständigungslösung", womit offenbar wird, dass sie auch insoweit über BGHSt 43, 195 hinausgehen. In keinem der Entwürfe wird aber die sich doch damit aufdrängende Frage gestellt, warum es bei einer so weitgehenden notwendigen Übereinstimmung der Verfahrensbeteiligten nicht zur Festsetzung einer bestimmten Strafe durch das Gericht kommen, sondern bei der Zusage einer Strafobergrenze verbleiben soll. Die grundsätzliche Diskussion Konsensualoder streitiges Verfahren wird nur ansatzweise im Entwurf der BRAK, aber gar nicht in den beiden anderen Entwürfen geführt, obwohl dies doch die Schlüsselftage schlechthin ist! Bei einer solchen Regelung würde sich im Übrigen wieder die - durch die Entscheidung des Großen Senats zur Zeit erledigte - Frage nach der Zulässigkeit einer Rechtsmittelverzichtvereinbarung stellen: Wenn das Ergebnis der Verhandlung auf einem Konsens aller Verfahrensbeteiligten und des Gerichts beruht, kann der vereinbarte Rechtsmittelverzicht durchaus „als Ausdruck des erzielten Konsenses" und nicht „als Verdeckung rechtsstaatswidriger Praktiken unter Ausschaltung der Revisionsinstanz" betrachtet werden 56 ! e) Die für den Angeklagten außerordentlich wichtige, für das Zustandekommen einer Absprache mitentscheidende Frage, inwieweit das Gericht an seine Zusage gebunden ist und was aus seinem Geständnis wird, wenn das Gericht seine Zusage wieder zurücknimmt, beantworten die Entwürfe unterschiedlich: Der Entwurf der BRAK bleibt bei der Ansicht von BGHSt 43, 195, dass die Bindungswirkung nur dann entfallt, „wenn sich im weiteren Verfahren wesentliche straferschwerende Umstände ergeben, die dem Gericht im Zeitpunkt seiner Zusage unbekannt waren"; nur in diesem Fall soll das Geständnis wirksam bleiben, im Übrigen wird bei Abgehen von der Zusage ein abgegebenes Geständnis unverwertbar (§ 243a Abs. 4 und 5). Das ist die konsequente Umsetzung des der Absprache zugrunde liegenden Prinzips „Vertrauen gegen Vertrauen". 56
So Mosbacher NStZ 2004, 54.
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Demgegenüber will der Entwurf des Landes Niedersachsen ein Abgehen von der bisherigen Bewertung gestatten, „wenn im weiteren Verfahren neue wesentliche strafmildernde oder strafschärfende Umstände auftreten, die dem Gericht im Zeitpunkt der Mitteilung des Strafrahmens unbekannt waren" (§ 243a Abs. 5 Satz 2). Damit könnte sich in der gesamten Hauptverhandlung ein munteres Spielchen ergeben, indem einmal nach oben und das andere Mal nach unten abgewichen wird! Ein abgelegtes Geständnis soll auch nach weggefallener Bindung (uneingeschränkt) verwertbar bleiben (§ 243a Abs.6 Satz 3). Die Frage, warum sich der Angeklagte bei derart unsicherer Zusage und derart weitgehenden Folgen überhaupt noch auf eine Absprache einlassen soll, kommt den Entwurfsverfasser nicht in den Sinn. Ähnliches gilt für den Entwurf des BMJ. Dieser will schon dann - im Sinne des Großen Senats - ein Abweichen von der Verständigung gestatten, „wenn sich seine Bewertung der Sach- oder Rechtslage im Verlauf der Hauptverhandlung ändert oder das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem entspricht, das der Prognose des Gerichts zugrunde gelegt worden ist" (§ 243a Abs. 4 Satz 1). Ein Angeklagter, der sich unter diesen weit gefassten Voraussetzungen noch auf eine Verständigung einlässt, müsste wenigstens durch ein ebenso weit reichendes Verwertungsverbot geschützt werden. Aber dazu vermag sich der Entwurf nicht zu verstehen; er erklärt vielmehr, „diese Abweichung steht der Verwertung einer Aussage des Angeklagten nicht grundsätzlich entgegen" (§ 243a Abs. 4 Satz 2). Das heißt, dass es in aller Regel bei der Verwertbarkeit bleiben würde. In der Entwurfsbegründung wird dazu nur ganz unbestimmt gesagt, dass insoweit , j e nach Gestaltung des Einzelfalles die von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Kriterien" maßgeblich sein sollen57. Glaubt der Entwurfsverfasser wirklich, darauf werde sich ein Angeklagter einlassen? f) Schließlich fällt auf, dass alle Entwürfe - offenbar ohne große Skrup e l - die Rechtsmittelmöglichkeiten einschränken wollen. Alle sind sich darin einig, dass die zulässigen Verfahrensrügen in der Revision nur noch auf eine Verletzung der bei der Absprache bzw. Verständigung zu beachtenden Vorschriften (also im Wesentlichen Verletzung des § 243a bzw. des § 257c) sowie auf die in § 338 genannten Aufhebungsgründe sollen gestützt werden können, indem an § 337 StPO ein entsprechender Absatz 3 angefugt wird. Die Entwürfe der BRAK und des BMJ gestatten allerdings darüber hinaus auch noch die Rüge der Verletzung der Grundsätze des fairen Verfahrens.
57
Entwurfsbegründung S. 25.
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Wenn es hierzu in der Entwurfsbegründung des BMJ heißt 58 , es wäre nicht sachgerecht, „den Verfahrensbeteiligten, die an einer Verständigung mitgewirkt haben, im Revisionsverfahren in vollem Umfang eine Rüge bzgl. der Verfahrensvorschriften einzuräumen, auf die sie im Rahmen ihrer Beteiligung an der Verständigung gegebenenfalls verzichtet haben", so vermag dies die Einschränkung des § 337 StPO nicht zu rechtfertigen: In einem solchen Falle würde der in der Hauptverhandlung erklärte Verzicht natürlich auch für die Revisionsinstanz verbindlich sein59; unterlag die Wirksamkeit der Verzichtserklärung aber ihrerseits rechtlichen Bedenken, so muss eine Überprüfung in der Revisionsinstanz möglich sein. Die Entwürfe der BRAK und des Landes Niedersachsen wollen darüber hinausgehend auch die Berufung gegen Urteile des Amtsgerichts, die auf einer Absprache beruhen, ausschließen (Änderung des § 312 StPO). Der Entwurf der BRAK will in einem neuen § 334 aber insoweit wenigstens die Revision zulassen, während das Land Niedersachsen dies nur bei Urteilen des Schöffengerichts gestatten will (§ 333 Satz 2), so dass für denjenigen, der beim Strafrichter (§ 25 GVG) eine Absprache trifft, gar keine Rechtsmittelmöglichkeit mehr bestehen würde! Der Entwurf des BMJ tastet demgegenüber erfreulicherweise das Berufungsverfahren nicht an. Zu diesen Rechtsmitteleinschränkungen erhebt sich die Frage, ob bei einer Verfahrensart, in der eine (weithin) konsensuale Erledigung an die Stelle vieler schützender Bestimmungen der StPO tritt, nicht gerade im Gegensatz zu den vorliegenden Entwürfen die Kontrolle durch Rechtsmittel voll erhalten, wenn nicht gar verstärkt werden müsste. Wenn hier wiederum nur auf einen noch unbestimmten und erst im Einzelfall auszufüllenden Begriff, nämlich den des fairen Verfahrens, zurückgegriffen wird (der im Entwurf des Landes Niedersachsen zudem auch noch fehlt), so ist die notwendige Kontrolle erheblich verkürzt. Der Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins, der eine dem Strafrechtsausschuss der BRAK gänzlich entgegengesetzte Position vertritt60, hat dazu zutreffend ausgeführt 61 , dann müssten es die Gerichte bei Abspracheverfahren mit den anderen Förmlichkeiten, zB unterlassene Verlesung des Anklagesatzes (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO), Beschneidung des Fragerechts an Zeugen und Sachverständige, Beschlussfassung nach Beanstandung der Sachleitung gemäß § 238 Abs. 2 StPO, Gewährung des letzten Wortes (§ 258 Abs. 3 StPO) usw. nicht mehr allzu genau nehmen 62 . 58
S. 27. Vgl. Meyer-Goßner Fn. 29, § 337 Rn. 43 ff. 60 Vgl. die Stellungnahme in StraFo 2006, 89 ff. 61 Fn. 60 S. 98. 62 Dass dies nicht nur rein theoretische Überlegungen sind, zeigt auch der Fall des KG StraFo 2006, 169 mit Anm. König. 59
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2. Es ist zu hoffen, dass nicht vorschnell eine gesetzliche Lösung verabschiedet wird, ohne dass eine Grundsatzdiskussion über die gesamte Problematik eines konsensualen Strafverfahrens - unter Einbeziehung der Strafrechtswissenschaft - geführt worden ist; sollte es zu einer solchen vorschnellen Gesetzesänderung kommen, ohne dass die umfassende Grundsatzdiskussion stattgefunden hätte, würde sich in der Folgezeit mit Sicherheit weiterer Streit über die erfolgte gesetzgeberische Lösung anschließen, den es zu vermeiden gilt. Es sollte somit deutlich geworden sein, dass es einiger Grundentscheidungen bedarf, bevor man an die Ausarbeitung einer ins Einzelne gehenden gesetzlichen Regelung geht: a) Die erste Entscheidung ist, ob die Absprachen in die StPO systemkonform eingefügt oder als neues, selbständiges Verfahren neben die bisherigen StPO-Vorschriften gestellt werden sollen. Alle jetzt vorliegenden Entwürfe gehen den ersten Weg. Bevor solche gesetzlichen Regelungen in die StPO eingestellt werden, sollte eine Abstimmung dazu erfolgen, ob die Absprache weiterhin ein „Verhandeln" des Gerichts mit den übrigen Verfahrensbeteiligten voraussetzen soll oder ob das „Verhandeln" nicht durch eine rein gesetzliche Regelung ersetzt werden sollte, womit alle unschönen Begleiterscheinungen der Verständigungsregelungen (wer ist der Stärkere? Ist eine „Sanktionsschere" einsetzbar? „Schachern" um die [noch] angemessene Strafe) hinfallig würden. Unsere StPO setzt zu Recht zwischen Anklageerhebung und Hauptverhandlung das Zwischenverfahren mit dem Eröffnungsbeschluss; durch Erlass des Eröffnungsbeschlusses erklärt das Gericht, dass der Angeschuldigte seiner Ansicht nach der ihm vorgeworfenen Straftat(en) hinreichend verdächtig ist. Der Angeklagte muss sich nun überlegen, ob er Chancen sieht, in der Hauptverhandlung den hinreichenden Tatverdacht zu zerstreuen oder ob er den Anklagevorwurf einräumen will. Nach einem von mir schon vor Jahren gemachten Vorschlag63, zu dem sich beispielsweise Bogner64 und Küpper65 zustimmend geäußert haben und den ich kürzlich noch einmal aufgegriffen habe 66 , könnte mit einer solchen - unwiderruflichen - Einräumung des Schuldvorwurfs eine Beweisaufnahme entfallen und gleichzeitig eine gesetzlich vorgeschriebene Strafmilderung (entweder durch gesetzliche Änderung des Strafrahmens oder eine Minderung der „an sich" zu verhän63 64 65 66
NStZ 1992, 167. Absprachen im Deutschen und Italienischen Strafprozessrecht, 2000, S. 127. Jura 1999,400. Fn. 37.
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genden Strafe um einen bestimmten Prozentsatz) treten, die ein „Verhandeln zur Strafe" erübrigt. Viele Bedenken gegen die Absprache wären damit beseitigt und eine - wie auch immer - komplizierte gesetzliche Abspracheregelung, wie sie alle derzeit vorliegenden Gesetzesentwürfe vorsehen, wäre dadurch erspart. Ob eine derartige - wie auch immer im Einzelnen modifizierte - Konsensregelung den derzeitig ausgeübten und in der Diskussion befindlichen Abspracheregelungen, die diese überflüssig und unzulässig machen würde, vorzuziehen ist, sollte vor der - wie auch immer gearteten gesetzlichen Kodifizierung der Absprachen derzeitiger Form zunächst einmal diskutiert werden. 3. Will man sich zu einer solchen - ganz anders gearteten als die bisher erwogenen - gesetzgeberischen Lösung nicht entschließen, sondern an der Absprachepraxis festhalten, so ist eine zweite Grundentscheidung zu treffen: Soll es dabei bleiben, dass das Gericht die Strafe festsetzt oder soll an dessen Stelle eine Übereinkunft zwischen Angeklagtem (Verteidiger) und Staatsanwaltschaft mit oder ohne Einschluss des Gerichts treten? a) Das erstere wäre die von der Rechtsprechung bisher vertretene Linie, bei der sich noch drei Varianten ergeben können, nämlich ob das Gericht eine bestimmte Strafe oder nur eine Strafobergrenze oder eine Strafoberund Strafuntergrenze festsetzen kann: Die Festsetzung einer bestimmten Strafe bei Ablegung eines Geständnisses würde jedes weitere Verhandeln in der Hauptverhandlung überflüssig machen. Das wäre der extremste Typ eines konsensualen Verfahrens; wollte man so etwas einführen, bedürfte es gar keiner Hauptverhandlung mehr. Das wäre dann aber auch meilenweit von unserer heutigen Überzeugung entfernt, dass das Gericht Tat und Täter in der Hauptverhandlung prüfen und dann zu einem gerechten Urteil kommen muss (wobei die Prüfung bei Ablegung eines Geständnisses natürlich erheblich erleichtert wird). Eine solche Regelung widerspricht unserer Rechtskultur und dürfte ausscheiden. Gegen die Festlegung einer Strafobergrenze wird von den Kritikern 67 immer wieder vorgebracht, die Strafobergrenze wäre in der Praxis mit der verabredeten Strafe identisch. Dagegen ist zu sagen, dass es von einem Gericht töricht ist, sich jedes Spielraums zu begeben, indem es die Strafobergrenze so niedrig ansetzt, dass es gerechterweise nicht mehr darunter bleiben kann. Aber gegen eine solche Verhaltensweise ist kein Kraut gewachsen; im Übrigen ist dies aber auch nicht entscheidend: Wie soeben dargestellt, ist es mit unserem Rechtsverständnis schlechthin unvereinbar, 67
Allen voran
Schünemann Fn. 31
S. 545 und passim.
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dass das Gericht vor dem Urteil bereits die Verhängung einer bestimmten Strafe zusagt. Weil es aber andererseits das verständliche Interesse des Angeklagten, der sich mit Ablegung des Geständnisses weithin seiner Verteidigungsmöglichkeiten begibt, ist, vom Gericht verbindlich zu erfahren, welche Strafe er bei Ablegung eines Geständnisses maximal zu erwarten hat, führt an der Zusage einer Strafobergrenze kein Weg vorbei. Die - insbesondere von staatsanwaltlicher Seite - geforderte Zusage auch einer Straf««tergrenze passt in diesen Zusammenhang nicht. Nach der Rechtsprechung geht es nur darum, den Angeklagten bei Ablegung eines Geständnisses vor einer von ihm dabei nicht erwarteten hohen Strafe zu schützen. Es ist in diesem Zusammenhang ohne jede Bedeutung, wie weit sich das Gericht im Urteil von dieser Strafobergrenze nach unten entfernt. Es mag j a für die Staatsanwaltschaft ganz interessant sein zu erfahren, welche Strafe das Gericht mindestens für angemessen hält; das auszusprechen besteht aber keine Veranlassung, wenn die anzugebende Strafobergrenze von der Zustimmung der Staatsanwaltschaft nicht abhängt. Bei der Festsetzung der Strafobergrenze sagt das Gericht dem Angeklagten etwas zu, nicht der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft kann die verhängte Strafe mit Rechtsmitteln als zu milde beanstanden; einen Anspruch darauf, die Strafvorstellungen des Gerichts im Einzelnen zu erfahren, hat sie aber nicht. b) Ganz anders ist die Situation, wenn an die Stelle der Zusage des Gerichts eine Übereinkunft der Prozessbeteiligten tritt, so wie es in den „Kernpunkten" der General staatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte und in den Gesetzesentwürfen der BRAK und des Landes Niedersachsen anklingt. Den entscheidenden Anstoß zu einer Verständigung sollen hier Staatsanwaltschaft und Angeklagter (Verteidigung) durch einen einseitig oder übereinstimmend gestellten Antrag geben. Zwar soll auch hier noch die endgültige Entscheidung beim Gericht bleiben, aber dieses erhält doch mehr die Funktion eines Dritten, der das zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem (Verteidiger) ausgehandelte Ergebnis „absegnet". Hier wird es verständlich, dass neben einer Strafobergrenze auch eine Strafuntergrenze verlangt wird, wobei aber sich dann das Ganze, wenn die Grenzen sehr dicht beieinander liegen, doch auf eine bestimmte Strafe hinbewegt. Hier müsste deutlich gemacht werden, ob an sich nur eine durch das Gericht zu bestätigende Vereinbarung getroffen oder ob dem Gericht noch eine echte Überprüfungsmöglichkeit mit Ablehnung der von den Verfahrensbeteiligten gefundenen Straflösung getroffen werden soll. 4. Es zeigt sich damit, dass es nicht damit getan sein kann, möglichst schnell eine gesetzliche Regelung der Absprachen in die StPO einzufügen. Es müssen vielmehr zuvor gründliche Diskussionen geführt werden, wie die
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Weichen zukünftig gestellt werden sollen. Soll es bei dem bisherigen „Minimalkonsens" der Rechtsprechung verbleiben? Soll das Gericht bei den Absprachen die zentrale oder mehr eine Randfunktion erhalten? Soll eine gesetzliche Regel des weiteren Verfahrens nach Einräumung des Vorwurfs der zugelassenen Anklage durch den Angeklagten erfolgen? Soll die Absprache über die Konstellation Geständnis gegen Strafmilderung auf weitere Absprachegegenstände (z.B. „prozessuales Wohlverhalten") erstreckt werden? So wie jetzt übereilt Gesetzesentwürfe vorgelegt werden, scheint die Befürchtung nicht unbegründet, dass Einzelheiten geregelt werden, bevor die grundsätzlichen Fragen diskutiert und vernünftig beantwortet worden sind. Und über all dem darf nicht in Vergessenheit geraten, dass die gesetzliche Regelung doch dazu dienen soll, heimliche unkontrollierte Absprachen mit Rechtsmittelverzichtsversprechen unmöglich zu machen 68 . Werden aber gesetzliche Regelungen verabschiedet, die dem Angeklagten das Risiko aufbürden, dass sich das Gericht zu seinen Lasten von der getroffenen Zusage wieder verabschieden kann und er gleichwohl an seinem Geständnis festgehalten werden soll, wenn er zudem die Zusage mit Einschränkungen im Rechtsmittelrecht erkaufen muss, dann bedarf es keiner großen Prophetie, um vorherzusagen, dass die Absprache wieder in das heimliche „Ehrenwortverfahren" absinken wird.
68
Vgl. dazu schon Meyer-Goßner Fn. 52.
„Ermittlungserzwingung" und Einstellungserzwingung nach dem österreichischen Strafprozessreformgesetz ROLAND MIKLAU
Reinhard Böttcher hat Fragen der Reform des Strafverfahrens unter Einbeziehung der Rechtsvergleichung besonderes Interesse entgegengebracht. Er hat nicht nur als Präsident des Deutschen Juristentages an Österreichischen Juristentagen aktiv teilgenommen, sondern sich gerade in letzter Zeit mit einigen wichtigen Fragen einer Reform des Ermittlungsverfahrens unter vergleichender Analyse des österreichischen Strafprozessreformgesetzes1 gründlich auseinandergesetzt2. Als bescheidener persönlicher Beitrag zu seinem Geburtstag sei ihm die folgende Darstellung zu zwei meines Erachtens zentralen, aber oft unterbewerteten Rechtsschutzaspekten im Ermittlungsverfahren gewidmet.
1. Akzentverlagerung im Strafverfahren und Rechtsschutz In der Entwicklung des Strafverfahrens in Europa lässt sich allgemein ein anhaltender Bedeutungszuwachs des Vorverfahrens 3 gegenüber dem Hauptverfahren diagnostizieren. Dieser Verlagerungsprozess4 hat vielfaltige Ursachen, zu denen die Intensivierung, Vernetzung und Professionalisierung 1 BGBl. I 2004/19; Paragraphenbezeichnungen ohne Zusatz betreffen in diesem Beitrag die StPO in der Fassung des Strafprozessreformgesetzes, solche mit dem Zusatz „öStPO" Bestimmungen des geltenden Gesetzes. 2 Reinhard Böttcher Reform des Ermittlungsverfahrens - Vorbild Österreich? FS Dahs, Köln 2005, 229. 3 Der Begriff des „Vorverfahrens" entspricht traditionellem Sprachgebrauch in Österreich. Er scheint allerdings zu implizieren, dass das Strafverfahren „eigentlich" erst mit der Anklage und der Hauptverhandlung beginnt. Nach § 1 Abs. 2 des Strafprozessreformgesetzes beginnt das Strafverfahren jedoch, „sobald Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat... ermitteln oder Zwang gegen eine verdächtige Person ausüben". Das Reformgesetz verwendet demnach den Begriff „Ermittlungsverfahren". 4 Vgl. auch Satzger Chancen und Risken einer Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, Gutachten C zum 65. Deutschen Juristentag, 2004, 18.
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Roland Miklau
der kriminalpolizeilichen Arbeit (nicht selten auch als „Verpolizeilichung des Strafverfahrens" problematisiert), die Komplexität wichtiger Kriminalitätsbereiche, besonders der organisierten und der Wirtschaftskriminalität, die generelle Überlastung der meisten Strafverfolgungsbehörden, ein höheres Maß an anwaltlicher Mitwirkung als früher, die Zunahme konsensualer Verfahrenserledigungsformen und wahrscheinlich auch die rechtsstaatliche Verfeinerung des Prozessrechts selbst gehören. Es führt jedenfalls kein Weg daran vorbei, diesen Vorverlagerungsprozess, der sich ja in allen vergleichbaren Prozesssystemen beobachten lässt, als Faktum zur Kenntnis zu nehmen. Wächst nun die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens fur Verlauf und Ergebnis des Strafprozesses, so gewinnen nicht zuletzt Fragen des Rechtsschutzes in diesem Verfahrensabschnitt an rechtsstaatlichem Gewicht. Dieser Umstand ist in Verbindung mit einem heute besonders durch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg geschärften rechtsstaatlich-grundrechtlichen Bewusstseins wohl für Effektuierung und Ausbau von Rechtsbehelfen im Ermittlungsverfahren verantwortlich.
2. Der Einspruch nach dem Strafprozessreformgesetz Der österreichische Gesetzgeber hat diesem Rechtsschutzbedürfnis vor allem durch die Einführung eines allgemeinen Rechtsbehelfs mit der Bezeichnung Einspruch im Rahmen der durchgreifenden Neugestaltung des Ermittlungsverfahrens5 Rechnung getragen. Die Reform wird am 1.1.2008 wirksam werden. Der Einspruch nach dem neuen § 106 stellt einen Rechtsbehelf gegen Akte der Kriminalpolizei und der Staatsanwaltschaft dar, über den das Gericht (der Richter des Ermittlungsverfahrens am Landesgericht) entscheidet. Mit diesem Rechtsbehelf kann einerseits die Verweigerung der Ausübung eines Rechtes (etwa die Verweigerung der Akteneinsicht, die Verweigerung der Einschränkung oder Beiziehung eines Rechtsanwaltes usw.) bekämpft werden. Des weiteren kann die Anordnung oder Durchführung einer Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme unter Verletzung von Bestimmungen der StPO Anlass für einen Einspruch sein, gleichgültig ob die Maßnahme von der Kriminalpolizei oder von der Staatsanwaltschaft ausgeht oder durchgeführt wird. Im Sinne eines einheitlichen Rechtschutzsystems in einem einheitlich geregelten Ermittlungsverfahren sind die Rechtspositionen unabhängig davon, wer die Befugnis ausübt. Mit dem Begriff der Zwangsmaßnahme wird sowohl deren Anordnung und unmittelbare Aus5
Siehe Fn. 1.
Ermittlungserzwingung und Einstellungserzwingung in Österreich
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Übung als auch die Art und Weise ihrer Durchführung erfasst. Voraussetzung für einen Einspruch ist in beiden Fällen die Verletzung eines subjektiven Rechtes. Eine solche Rechtsverletzung kann auch in einer insgesamt unverhältnismäßigen Verzögerung des Ermittlungsverfahrens liegen. Der Einspruch an das Gericht ist nicht befristet. Es besteht auch kein Neuerungsverbot. Der Rechtsbehelf ist immer bei der Staatsanwaltschaft einzubringen, unabhängig davon, ob er sich gegen die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft selbst richtet. Die Staatsanwaltschaft kann und muss, wenn sie eine Rechtsverletzung erkennt, dieser abhelfen und der Kriminalpolizei zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Der Betroffene hat jedenfalls das Recht, auf einer Entscheidung des Gerichtes zu bestehen, auch dann, wenn die Staatsanwaltschaft meint, seine Rechtsposition sei ohnehin zur Gänze gewahrt (Zweistufigkeit des Rechtsschutzes). Inhalt und Zweck des Einspruches können entweder auf die Beseitigung oder bloß auf die Feststellung einer Rechtsverletzung gerichtet sein.
3. Rechtsschutzbedarf zur Prüfung der Fortsetzung oder Beendigung des Ermittlungsverfahrens Neben einem Rechtsbehelf zur Geltendmachung punktueller Rechtsverletzungen ist aber auch ein Bedarf nach Prüfung der Frage, ob - und wie lange - ein Ermittlungsverfahren überhaupt gefuhrt werden soll und darf, nicht zu leugnen. Die durch eine Straftat physisch, psychisch oder in ihren Rechten verletzte Person (das Tatopfer 6 ) findet in den letzten Jahren mit ihren Rechten und Interessen im Strafprozess immer mehr Beachtung. Reinhard Böttcher ist nicht zuletzt durch die Übernahme der Präsidentschaft des Weißen Ringes in Deutschland selbst eine persönliche Manifestation dieser Akzentverlagerung. Das Interesse des Opfers, gegebenenfalls die Ablehnung der (weiteren) Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft gerichtlich überprüfen zu lassen, ist dem Grundsatz nach seit langem anerkannt: in Deutschland durch das Klageerzwingungsverfahren, in Österreich durch die Möglichkeit des Subsidiarantrags bzw. der Subsidiaranklage. Weit strittiger ist dagegen die Frage, ob dem Beschuldigten eine Möglichkeit an die Hand gegeben werden soll, den Staatsanwalt zur Beendigung seiner Ermittlungen zu zwingen. 6 Der Opferbegriff ist insofern nicht ganz glücklich, als das Strafverfahren j a grundsätzlich erst der Klarstellung dient, ob und wer als (Täter und) Opfer anzusehen ist. Der Begriff ist auch emotional, vielleicht sogar religiös, aufgeladen. Allerdings gibt es kein sprachlich befriedigendes Pendant zum Begriff des Beschuldigten. Der Begriff des Verletzten erweckt den Anschein, das Gemeinte nicht voll abzudecken. So setzt sich der Begriff des Opfers (victim) immer mehr durch; auch der österreichische Reformgesetzgeber ist dem sprachlichen Trend gefolgt (vgl. §§ 10, 65 ff.).
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Der Jubilar hat sich - in Übereinstimmung mit Rieß7 und Satzger8 - fur eine solche Möglichkeit des Rechtsschutzes ausgesprochen und dies mit dem Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 GG (Rechtsweggarantie) sowie damit begründet, dass der Beschuldigte vor allem im Fall eines medienöffentlich bekannt werdenden Ermittlungsverfahrens ein vitales, berechtigtes Interesse an der Beendigung eines einstellungsreifen Ermittlungsverfahrens habe. In Österreich hat sich Moos9 in Abkehr von seiner früher ablehnenden Haltung gegenüber der Einstellungserzwingung ebenfalls für eine solche Durchbrechung der Anklageautonomie ausgesprochen. Die Argumente dafür überzeugen. Stellt doch die Tatsache der Führung strafrechtlicher Ermittlungen gegen eine Person - ungeachtet der Unschuldsvermutung - in vielen Fällen eine gravierende Beeinträchtigung ihrer gesellschaftlichen, beruflichen und wirtschaftlichen Stellung dar, die mit vielfältigen Nachteilen verbunden ist und auch durch Einstellung des Verfahrens oder Freispruch kaum vollständig beseitigt werden kann. Solche Nachteile implizieren aus heutiger Sicht einen Eingriff in allgemeine Persönlichkeitsrechte, sind aber dennoch weithin rechtlich nicht als Schaden fassbar oder entschädigungsfähig. In Österreich haben wir es bis heute nicht einmal zu einem angemessenen Verteidigungskostenersatz bei Freispruch oder Einstellung gebracht10. Vor allem stellt ein Ermittlungsverfahren auch eine psychische (Dauer-)Belastung dar. Als im Strafjustizsystem Tätiger neigt man dazu, diese Belastungen und Nachteile zu verdrängen, sind sie doch permanent präsent und unvermeidbar. Der Umstand, dass es zu den Duldungspflichten auch des unschuldigen Bürgers gehört, Ermittlungen zur Klärung eines wie immer entstandenen Tatverdachtes über sich ergehen zu lassen, entbindet den Staat nicht von der Pflicht, die damit verbundenen Belastungen so gering und ihre Dauer so kurz wie möglich zu halten. Bejaht man diese Prämisse, so ist auch das Vorhandensein eines Rechtsschutzbedürfnisses gegenüber den Handlungen und Unterlassungen verfahrensführender Amtsträger evident. Aus dem Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft und deren Leitungsbefugnis im Ermittlungsverfahren kann kein Recht auf völlig unbeschränkte und zeitlich uniimitierte Untersuchung abgeleitet werden. Der für Grundrechtseingriffe jeder Art geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit lässt sich auch auf die Beeinträchtigung der Rechtsposition und der grundrechtsrelevanten Interessen Beschuldigter durch die Ermittlungen selbst übertragen - freilich nur in einem der Funktionsfahigkeit der Strafrechtspflege nicht abträglichen Maß. 7
Rieß Plädoyer für ein Einstellungserzwingungsverfahren, FS Roxin, 2001, 1319 ff. Fn. 4 , 8 1 ff. 9 Moos Die Stellung der Staatsanwaltschaft im strafprozessualen Vorverfahren, in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft im 21. Jahrhundert (Wien 2001), 59, 93 ff. 10 Immerhin hat das Strafrechtliche Entschädigungsgesetz 2005, BGBl. I 2004/125, den Ersatzanspruch für ungerechtfertigte Untersuchungshaft deutlich verbessert. 8
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Was für Rechtsmittel und Rechtsbehelfe generell gilt, dass ihre Zweckbestimmung nämlich in erster Linie präventiv zu verstehen ist, um jeweils rechtskonformem Vorgehen der staatlichen Organe Nachdruck zu verleihen, gilt auch hier. Erst in zweiter Linie sollen Rechtsschutzeinrichtungen der Behebung eingetretener Fehler und Rechtsverletzungen dienen. Demnach kann nicht ein häufiges „dem Staatsanwalt in den Arm fallen" Ziel einer Einstellungserzwingung sein, sondern vielmehr eine nachhaltige Erinnerung an das Gebot angemessen schleuniger Verfahrensfiihrung und die Möglichkeit eines „Winks mit dem Zaunpfahl". Wie sieht es nun mit den geltenden Rechtsschutzmöglichkeiten einerseits zur Erzwingung der Weiterfuhrung und andererseits zur Erzwingung der Beendigung des Ermittlungsverfahrens konkret aus? Welche Neuerungen bringt das am 1.1.2008 in Österreich in Kraft tretende Strafprozessreformgesetz?
4. Klageerzwingung bzw. „Ermittlungserzwingung" In Deutschland sieht § 172 dStPO die Möglichkeit der Klageerzwingung vor. Der Verletzte kann - nach Ablehnung einer Einstellungsbeschwerde an die Generalstaatsanwaltschaft - Antrag auf Entscheidung durch das Oberlandesgericht stellen. Dieses kann, wenn es den Antrag für begründet hält, die Klageerhebung anordnen (§ 175 dStPO). Eine Anordnung, die Ermittlungen wieder aufzunehmen, ist hingegen grundsätzlich nicht möglich. In Ausführung eines Beschlusses des Oberlandesgerichtes, an den sie in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gebunden ist, muss die Staatsanwaltschaft anklagen. Zu einer erfolgreichen Klageerzwingung durch Gerichtsbeschluss kommt es dem Vernehmen nach allerdings in der Praxis nur höchst selten. Nach der geltenden österreichischen StPO kann der Privatbeteiligte11 die Weiterführung des Strafverfahrens durch die Anklagebehörde nicht erzwingen. Vielfach wird eine solche Erzwingung als Verstoß gegen den in der Bundesverfassung verankerten Anklagegrundsatz bzw. das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft gewertet. Der Verletzte, der sich dem Strafverfahren als Privatbeteiligter anschließt, hat aber das Recht, bei Gericht (Ratskammer des Landesgerichtes) die Einleitung der Voruntersuchung zu beantragen (sog. Subsidiarantrag) sowie in späteren Verfahrensstadien nach Rücktritt des Anklägers von der Verfolgung (ein solcher Rücktritt ist in Österreich auch noch in der Hauptverhandlung möglich, was einen Formalfreispruch zur Folge hat) diese selbst aufrecht zu erhalten. Er wird dann 11
Das ist der Verletzte, der sich mit seinen privatrechtlichen Ansprüchen dem Strafverfahren anschließt (§ 47 öStPO).
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im Ermittlungsverfahren mit Bewilligung des Gerichtes - selbst zum Subsidiaranklagen Dringt er allerdings mit der Anklage nicht durch, dann hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 390 Abs. 1 öStPO). Dieses Risiko und die sehr restriktive Praxis der Gerichte bei der Entscheidung über Subsidiaranträge haben die Subsidiaranklage in der Realität zu einer Ausnahmeerscheinung gemacht. An der grundsätzlichen Anerkennung des Rechtsschutzbedürftiisses ändert das aber nur wenig. Da mit dem Strafprozessreformgesetz die richterliche Voruntersuchung auch in Österreich abgeschafft wird, führt dies zu einem auf das Verfahrensstadium nach Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft beschränkten Anwendungsbereich der Subsidiaranklage. Mit anderen Worten: Das Verbrechensopfer kann nur eine vom öffentlichen Ankläger erhobene und später fallen gelassene Anklage aufrecht erhalten (§ 67 Abs. 6 Ζ 2, § 72). Im Ermittlungsverfahren sah der Reformentwurf ursprünglich - in Ermangelung eines gerichtlichen Vorverfahrens - keinen Rechtsbehelf des Opfers zur Erzwingung der (weiteren) Verfahrensführung vor. Die Diskussion über diese Rechtsschutzlücke war durch den Umstand mitgeprägt, dass die Möglichkeit eines Subsidiarantrags bzw. eines Ersatzes dafür auch als Korrektiv für eine allenfalls sachlich nicht begründete Verfolgungsunwilligkeit der Staatsanwaltschaft bzw. unangebrachte Beendigung der Ermittlungen, also als Sicherung des Legalitätsprinzips, angesehen wird - dies auch im Lichte der seit langem geführten Debatte über das „externe" Weisungsrecht des Justizministers gegenüber den Staatsanwaltschaften. Die Diskussion führte schließlich dazu, dass ein Antrag auf Fortführung des Ermittlungsverfahrens in das Gesetz aufgenommen wurde (§ 195). Antragsberechtigt sind das Opfer und andere Personen, „die an der Strafverfolgung sonst ein rechtliches Interesse haben könnten". Zu Letzteren zählen auch mittelbar Geschädigte und Personen, deren ideelle Interessen in rechtlich fassbarer Weise durch die Tat beeinträchtigt worden sein könnten. Ein solcher Antrag kann darauf gestützt werden, dass keiner der gesetzlichen Gründe für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens (mangelnde Strafbarkeit, Geringfügigkeit der Tat, rechtliche oder tatsächliche Verfolgungshindernisse) vorlag oder dass neue Tatsachen oder Beweismittel - im Sinne eines Wiederaufnahmegrundes - die Verfahrensfortsetzung rechtfertigen. Die Staatsanwaltschaft kann (auch) im Fall eines solchen Fortführungsantrags das Verfahren selbst fortsetzen, wenn der Beschuldigte noch nicht förmlich vernommen wurde oder wenn neue Tatsachen oder Beweismittel vorliegen. Andernfalls legt sie den Antrag dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vor. Dieses Gericht kann der Staatsanwaltschaft die Fortfuhrung des Verfahrens (weitere Ermittlungen zur Klärung von Sachverhalt und Tatverdacht) auftragen, nicht aber die Anklage erzwingen. Die Staatsanwaltschaft kann nach Durchführung der ergänzenden Ermittlungen das
Ermittlungserzwingung und Einstellungserzwingung in Österreich
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Verfahren neuerlich einstellen, das Opfer allenfalls auch erneut einen Fortfuhrungsantrag stellen. Ein solcher Antrag bleibt also im Ergebnis hinter einer Klageerzwingung durch das Gericht wie nach den §§ 172 ff. dStPO zurück. Er stellt aber doch ein Korrektiv mit nicht unähnlicher Wirkung dar, weil sich die Staatsanwaltschaft einer wohl begründeten Entscheidung des Oberlandesgerichtes nicht leicht wird entziehen können, will sie sich nicht dem Vorwurf sachlich nicht begründbaren Verfolgungsunwillens aussetzen. Die Bewertung der komplettierten Ermittlungsergebnisse im Hinblick auf Anklage oder Einstellung verbleibt aber letztlich bei der Staatsanwaltschaft.
5. Einstellungserzwingung Wendet man sich der Frage der Einstellungserzwingung zu, so fällt zunächst auf, dass der Einfuhrung eines Rechtsbehelfs dieser Art dogmatische Argumente entgegengehalten werden, die aber nicht zu überzeugen vermögen: Mit dem verfassungsrechtlich verankerten Anklagegrundsatz sei es unvereinbar, wird behauptet12, dem Staatsanwalt die Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten durch Gerichtsbeschluss einzuschränken oder zu entziehen. (Gerade österreichische Autoren betonen oft mit einem gewissen Stolz die im Rechtsvergleich konsequenteste Verwirklichung des Anklageprinzips in der österreichischen StPO: Durch das Verfiigungsrecht über die Anklage bis zum Schluss der Hauptverhandlung kann der Staatsanwalt dem Gericht die Sachentscheidung noch bis unmittelbar vor der Urteilsberatung entziehen. Bei der Enderledigung des Strafverfahrens durch Geldbuße, gemeinnützige Arbeit, Probezeit mit und ohne Übernahme bestimmter Pflichten oder im Wege des außergerichtlichen Tatausgleichs13 bedarf er der - ausdrücklichen oder konkludenten - Einwilligung des Beschuldigten, anders als nach deutschem Prozessrecht aber in keinem Fall der Zustimmung des Gerichtes. In einem Prozesssystem mit derart „starkem" Anklagerecht des öffentlichen Anklägers mutet jeder Eingriff des Gerichtes in dieses Recht etwas revolutionär an.) Doch kennt die österreichische StPO schon seit jeher sowohl die gerichtliche Anklageprüfung in Form des Einspruchs gegen die Anklage14 oder einer vom Einzelrichter veranlassten Entscheidung der Ratskammer des Landesgerichtes15 als auch die Möglichkeit der
12 Lambauer Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Willen des Staatsanwaltes, in: FS Steininger (Wien 2003), 343; Lambauer lehnt aber letztlich eine Einstellung durch das Gericht bei überlanger Verfahrensdauer nicht ab. 13 Diversion nach den §§ 90a ff. der geltenden bzw. den §§198 ff. der neuen StPO. 14 §§ 208 ff. öStPO, Entscheidung durch das Oberlandesgericht. 15 §§ 485 f. ÖStPO.
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Einstellung der Voruntersuchung durch Gerichtsbeschluss auch gegen den Willen des Staatsanwalts (§ 109 Abs. 2 öStPO). Die Einführung einer Einstellungserzwingung ist vor diesem Hintergrund nur konsequent im Zuge einer Reform, die die Voruntersuchung durch ein vom Staatsanwalt geleitetes Ermittlungsverfahren ersetzt. (Eine endgültige Entscheidung etwa der Oberstaatsanwaltschaft über ein Einstellungsbegehren des Beschuldigten wäre mit dem System der österreichischen Bundesverfassung nicht vereinbar.) Den Beschuldigten aber dem Ermittlungsrecht des Staatsanwaltes unbegrenzt auszusetzen, wäre - wie oben zu 3. ausgeführt - rechtspolitisch nicht vertretbar und im Lichte der Schaffung eines elaborierten Rechtsschutzes im Ermittlungsverfahren durch das Strafprozessreformgesetz inkonsequent. Es entstünde insoweit ein rechtsschutzfreier Raum. Der österreichische Reformgesetzgeber hat sich demnach entschlossen, dem Beschuldigten die Möglichkeit eines Antrags auf Einstellung des Ermittlungsverfahrens (§ 108) einzuräumen. Der Beschuldigte kann mit diesem Rechtsbehelf geltend machen, - dass das ihm zur Last gelegte Verhalten keine Straftat darstelle oder dass die Verfolgung sonst aus rechtlichen Gründen unzulässig sei oder dass der bestehende Tatverdacht nach Dringlichkeit und Gewicht sowie im Hinblick auf die bisherige Dauer und den Umfang des Ermittlungsverfahrens dessen Fortsetzung nicht rechtfertige und von einer weiteren Klärung des Sachverhalts eine Intensivierung des Tatverdachts nicht zu erwarten sei. Im Zuge des Gesetzwerdungsprozesses wurden zwei einschränkende Änderungen vorgenommen: Zum einen wurde das zuletzt erwähnte Erfordernis der Unwahrscheinlichkeit einer Verstärkung des Tatverdachts durch weitere Ermittlungen hinzugefügt, zum anderen wurden - ebenfalls in Bezug auf den Fall des für eine Fortsetzung der Ermittlungen nicht ausreichenden Tatverdachts - Sperrfristen für den Antrag vorgesehen (drei Monate ab Beginn des Strafverfahrens bei Vergehen, sechs Monate bei Verbrechen). Damit wollte der Gesetzgeber den Gegnern der Einstellungserzwingung entgegenkommen. Die Sperrfristen entsprechen dem Grundsatz nach jenen Vorschlägen in Deutschland, die bei Einführung eines Einstellungserzwingungsverfahrens ebenfalls eine Mindestdauer des Ermittlungsverfahrens (zumeist ein Jahr) ins Auge fassen 16 , sind aber deutlich kürzer. Große praktische Bedeutung dürfte diesen relativ kurzen Sperrfristen kaum zukommen, weil die Gerichte vor deren Ablauf ohnehin wenig geneigt sein würden, der Staatsanwaltschaft eine Fortsetzung der Ermittlungen zu versagen. Eine gewichtige Einschränkung dürfte aber die zusätzlich 16
Siehe Fn. 7 und 8.
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verlangte Unwahrscheinlichkeit einer Verstärkung des Tatverdachts durch weitere Ermittlungen bedeuten. Eben das scheint auch der Jubilar zu vermuten, der meint, dass damit über die bloße UnVerhältnismäßigkeit weiterer Ermittlungen hinaus auch die „Einstellungsreife" (im Sinne einer negativen Prognose im Bezug auf das Erreichen der Anklagereife) verlangt werde 17 . Trotz unverhältnismäßig langer Ermittlungen wäre der Einstellungsantrag des Beschuldigten demnach abzuweisen, so lange Aussicht auf weitere Ermittlungsergebnisse besteht, die zur Anklage führen könnten. Dass solches zumindest nicht auszuschließen sei, werden aber Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei häufig glaubhaft machen können. Es könnte daher sein, dass Einstellungsanträge wegen UnVerhältnismäßigkeit der Ermittlungen nicht selten erst „im zweiten Anlauf' ernsthafte Aussicht auf Erfolg haben werden und dass erstmalige Anträge nach der neuen Bestimmung eher den Charakter einer „förmlichen Mahnung" des Betroffenen oder des Gerichtes an die Staatsanwaltschaft annehmen werden, die Ermittlungen zu beschleunigen oder die Sinnhaftigkeit ihrer Fortsetzung näher zu prüfen. Der Antrag auf Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 108 ist bei der Staatsanwaltschaft einzubringen, die ihm entweder selbst zu entsprechen oder ihn dem Gericht (dem Richter des Ermittlungsverfahrens) mit ihrer Stellungnahme (und einer Gegenäußerung des Antragstellers hiezu) vorzulegen hat (Zweistufigkeit des Rechtsschutzes). Gegen einen Einstellungsbeschluss des Gerichtes steht der Staatsanwaltschaft und dem Privatbeteiligten Beschwerde an das Oberlandesgericht zu, gegen die Abweisung des Antrags dem Beschuldigten.
6. Zur Bedeutung in der Praxis Wie häufig es in der Praxis des Strafverfahrens zu Anträgen einerseits auf Fortführung, andererseits auf Einstellung des Ermittlungsverfahrens kommen wird, lässt sich nur schwer prognostizieren. Bei der Einstellungserzwingung könnte der Umstand, dass ein Antrag mit dem Risiko verbunden ist, vom Gericht eine konkretisierte Begründung des Tatverdachts bzw. dessen Gewichts zu erhalten - was die Optik einer begründeten Strafverfolgung verstärkt und in den Augen von Beobachtern mitunter einer Vorverurteilung nahe kommt -, die Antragsbereitschaft in ähnlicher Weise bremsen, wie das bei der Bekämpfung der Anklage derzeit der Fall ist. Vor allem das zusätzliche Erfordernis der Aussichtslosigkeit weiterer Ermittlungen könnte sich in dieser Hinsicht als wirksam erweisen, kann doch die Staatsanwaltschaft im Fall der Abweisung des Antrags und Verneinung dieses Erforder-
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Böttcher (Fn. 2), 245.
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nisses durch das Gericht die Strafverfolgung mit gestärkter Legitimität fortsetzen. Anträge der Opfer und anderer rechtlich Interessierter auf Fortfuhrung eines von der Staatsanwaltschaft beendeten Ermittlungsverfahrens könnten hingegen eher häufiger gestellt werden als bisher Subsidiaranträge und Subsidiaranklagen von Verletzten bzw. Privatbeteiligten, weil solche Anträge künftig nicht mehr mit dem Risiko verbunden sind, bei Verfahrensbeendigung ohne Verurteilung die Verfahrenskosten tragen zu müssen. Dieses Kostenrisiko, das der Staat bei „Erfolglosigkeit" der Strafverfolgung durch den Staatsanwalt bis heute nicht in angemessenem Umfang zu übernehmen gewillt ist, dem als subsidiärer Ankläger auftretenden Opfer aufzuerlegen, war aber ohnehin problematisch. Allerdings hat die Staatsanwaltschaft in der Praxis bei erfolgreichem Subsidiarantrag in der Regel die Strafverfolgung wieder selbst übernommen und dadurch den Subsidiarankläger vom Kostenrisiko befreit.
7. Schlussbemerkung Beide im österreichischen Strafverfahren neuen Rechtsinstitute - die „Ermittlungserzwingung" durch Fortführungsantrag und die Einstellungserzwingung - stellen Korrektive zur Sicherung objektiver Handhabung des Legalitätsprinzips sowie verhältnismäßiger Strafverfolgung unter Wahrung des Beschleunigungsgebots (§ 9) dar. Sie vervollständigen den Rechtsschutz, den der Gesetzgeber gegen Beeinträchtigungen durch Zwangsmaßnahmen und Verletzungen subjektiver Rechte gewährt, indem sie die Führung des Ermittlungsverfahrens selbst oder dessen Beendigung ausdrücklich zum Gegenstand des Rechtsschutzes erklären. Angesichts der spezifischen Rechtsnatur des Strafverfahrens, das sich vom Charakter eines Zivil- oder Verwaltungsverfahrens unterscheidet, und der durch strafrechtliche Ermittlungen und deren Dauer wie durch deren Unterbleiben oder Abbruch ausgelösten Eingriffe in rechtlich geschützte oder sonst allgemein anerkannte Interessen der Bürger erscheint eine solche Komplettierung des Rechtsschutzes rechtspolitisch angezeigt. Die vielfaltige Gewichtsverlagerung in die Ermittlungsphase des Strafverfahrens - nicht nur in Deutschland und Österreich - und der Ausbau der Leitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft im neuen österreichischen Ermittlungsverfahren machen daraus meines Erachtens ein rechtsstaatliches Gebot. Ich glaube in der Annahme nicht fehlzugehen, in dieser Grundeinstellung mit Reinhard Böttcher übereinzustimmen.
Von Eigenheiten der Richtertätigkeit WALTER ODERSKY
Jeder Beruf hat Eigenheiten, das heißt, er hat Merkmale, er wird unter Bedingungen und Umständen ausgeübt, die anderen Berufen so nicht oder nicht so stark eigen sind. Die Eigenheiten können Stärken, aber auch Schwächen sein. Der Beruf prägt denjenigen, der ihn ausübt, und zwar umso stärker, je länger ein Mensch in einem Beruf ohne Wechsel in andere Tätigkeiten steht. Die folgenden Betrachtungen sollen Eigenheiten gelten, die mit dem Richterberuf einhergehen. Dabei sei gleich anfangs eingeräumt, dass es sich zum Teil um subjektive Ansichten und Erfahrungen des Verfassers handelt, die aus anderer Sichtweise vielleicht nicht oder nicht ohne Einschränkungen geteilt werden. Als Erstes ist natürlich die richterliche Unabhängigkeit zu nennen, die in Artikel 97 GG garantiert ist. Die Richter sind unabhängig und bei der Verhandlung und Entscheidung nur an Gesetz und Recht gebunden; sie sind grundsätzlich unabsetzbar. Das ist in unserem Gemeinwesen, wir dürfen es dankbar feststellen, absolute Realität. Weisungen oder Einflussnahmen auf die Behandlung des jeweils vorliegenden Falles von Stellen der Politik oder Verwaltung gibt es nicht; sie würden auch mit großer Schärfe zurückgewiesen werden. Das von äußeren Einflüssen freie Arbeiten erzeugt beim Richter auch eine korrespondierende innere Haltung. Der Verfasser war jedes Mal, wenn er neu in einen Spruchkörper eintrat, beeindruckt davon, wie völlig außerhalb der Erwägungen und Erörterungen im Kollegium der Gedanke lag, welches Ergebnis etwa die eine oder andere Stelle der Politik oder der Verwaltung erwarten oder wünschen würde. Ob und inwieweit Rücksicht darauf zu nehmen ist, wie eine Entscheidung ankommen wird, hat eine zweite, problematischere Seite. Sie betrifft nicht die Freiheit von Weisungen, sondern die Unabhängigkeit der Richter gegenüber Erwartungen und Strömungen der jeweiligen öffentlichen Meinung und gegenüber Stimmen, die dort Einfluss haben. Der Richter muss sich selbstverständlich bemühen, dem in den Gesetzen zum Ausdruck gekommenen Willen der Gemeinschaft, nicht seinen persönlichen, möglicherweise von Herkunft und Umgebung geformten Wertungen Raum zu geben. Aber das heißt nicht, dass er jeder Strömung der Zeit folgen muss. Er ist nicht an
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sie, sondern an Gesetz und Recht gebunden. Gewiss, er soll lebensnah entscheiden. Die Justiz darf nicht im elfenbeinernen Turm sitzen. Der Richter wird also die Erwartungen und Wertungen der Rechtsgemeinschaft aufnehmen und die Rechtsbegriffe damit auslullen. Aber das gilt nur bis zu einem bestimmten Punkt. Von ihm ab muss der Richter eine Entscheidung gegebenenfalls auch gegen starke öffentliche Strömungen aussprechen, weil sie eben so und nicht anders Recht sind. Und den Punkt zu finden, von dem ab das eine oder das andere richtig ist, kann zu den schwierigsten und schwersten Richteraufgaben gehören. In dem breiten Strom der Alltagsfälle wird dies nur selten aktuell - obwohl auch dort Wachsamkeit geboten ist, dass sich nicht allgemeine Übungen einstellen, die vor dem Recht nicht gebilligt werden können. In das Blickfeld rückt die Aufgabe aber immer dann, wenn das politische Interesse sich einem Verfahren zuwendet. Das gilt besonders in totalitären Verhältnissen, während Pluralismus, Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt auch und gerade hier ihre Lebensnotwendigkeit entfalten. Einige Eigenheiten kommen deutlich in den Blick, wenn man die richterliche Tätigkeit mit derjenigen in der Verwaltung vergleicht. In der Verwaltung geht es häufig darum, Lebensverhältnisse zu gestalten. Der Amtsträger setzt sich Ziele. Er muss Initiativen ergreifen. Der Richter muss antworten. Er wartet ab, bis er angerufen wird, und hat keinen Einfluss darauf, was an ihn herangetragen wird. Übrigens hängt mit dieser Rollenverteilung auch zusammen, wie weit der Handelnde das Maß seiner Arbeit bestimmen kann. Es liegt auf der Hand, dass deijenige, der selbst Initiativen ergreifen, Projekte einleiten oder es eben auch lassen kann, über seine zeitlichen Belastungen zu einem erheblichen Teil selbst disponiert. Der Richter kann Zahl und Ausmaß der auf ihn zukommenden Arbeit nicht selbst bestimmen und er kann auch den Arbeitsaufwand, den er der einzelnen Sache widmet, soll er nicht unvertretbare Abstriche machen, nicht regulieren. In der Verwaltung wie übrigens auch im Wirtschaftsleben ist der Handelnde darauf angewiesen, mit anderen Menschen in ein möglichst gutes Verhältnis zu kommen. Auf diese Weise schafft er wichtige Vorbedingungen dafür, dass er seine eigenen Aufgaben gut erfüllen, seinen Zielen näher kommen kann. Er wird möglichst Rücksicht nehmen auf die Wünsche seiner Partner. Er wird nicht selten gewisse „Vorleistungen" erbringen, um dadurch Bereitschaft zu erreichen, dass man auch ihm entgegenkommt, wenn er einmal darauf angewiesen ist. Auch der Richter hat natürlich Menschen in seiner Umgebung; er wird anstreben, mit seinen Kollegen und Mitarbeitern gut auszukommen. Auch gegenüber den Angehörigen der Rechtsanwaltschaft soll er Aufgeschlossenheit zeigen. Aber das ist nicht der Kern seiner Tätigkeit. Sie besteht in der gerichtlichen Verhandlung und in der Erarbeitung und Begründung seiner Entscheidungen. Und in diesen Bereichen haben die genannten Eigenheiten der Rücksichtnahme, der An-
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passung an die Interessen anderer, das Miteinander im Geben und Nehmen kein oder kaum ein Betätigungsfeld. Es wird gesagt, dem Richter begegnen in seiner Tätigkeit die vielfältigsten Menschen und Lebenssituationen. Das aber geschieht innerhalb der vorgefertigten Bahnen des Verfahrensrechts Antrag, Beweisaufnahme, Urteil, in ständigem Rhythmus. Und die Lebensverhältnisse erscheinen dort unter besonderen rechtlichen und verfahrensrechtlichen Blickwinkeln. („Worauf kommt es an?") Vor allem, der Richter steht nicht in diesen Lebensverhältnissen, sondern er steht ihnen gegenüber und hat sie zu beurteilen. Die vielgestaltige, oft gar nicht voraus zu planende, spontane, Umgangsgewandtheit erfordernde Begegnung mit den Menschen tritt demgegenüber zurück. Ein typisches Merkmal der Verwaltungstätigkeit ist die Notwendigkeit des Delegierens von Aufgaben und das Arbeiten in hierarchischer Arbeitsund Verantwortungsteilung. Der nachgeordnete Mitarbeiter muss danach trachten, dem Übergeordneten so viel wie möglich an Arbeit und Belastungen abzunehmen und ihn zugleich aber in den Stand zu setzen, dass er seinen Aufgaben und seiner Verantwortung gerecht werden kann. Dafür muss er ein feines Gespür entwickeln, welche Informationen er an seinen Vorgesetzten weiterleiten muss - er darf ihn andererseits auch nicht damit überschütten - und welche Entscheidungen er ihm überlassen muss. (Nicht von ungefähr mündet in der Verwaltung, zumal im Ministerialdienst, wenn es einmal zu einem Tadel des Mitarbeiters kommt, der Vorwurf schnell in den Satz: „Das hätten Sie mir aber eher sagen müssen!") In der Verwaltung fertigt der Mitarbeiter häufig den Entwurf für ein Schreiben des unmittelbaren oder eines höheren Vorgesetzten; er muss den Entwurf so schreiben, wie jener wohl sich ausdrücken will und was er, möglichst ohne Änderung und zusätzliche Arbeit, zu unterschreiben bereit ist. Wie anders ist die Situation des Richters! Er schreibt, was er denkt und wie er dem Ausdruck geben will. Freilich gibt es im Kollegium nicht selten Verbesserungswünsche. Meist betreffen sie aber nur einzelne Formulierungen und so gut wie immer geht die Tendenz dahin, sich zu einigen. Der Fall, dass der Verfasser überstimmt wird und den Entwurf anders konzipieren muss, ist die verschwindende Ausnahme. Bei Meinungsverschiedenheiten einigt man sich meist sogleich in der Beratung auf die Korrektur; sie besteht häufig auch einfach im Weglassen bestimmter Textstellen. Der Richter erarbeitet die schriftlichen Begründungen seiner Entscheidungen in aller Regel selbst; es kommt in unserem Gerichtssystem nicht vor - außer an manchen obersten Gerichten, und auch dort nur teilweise,- dass eine Hilfskraft für ihn den Text ausarbeitet. Und der Richter verantwortet seine Entscheidung ganz und unmittelbar; das gilt für ihren Inhalt wie auch für jedes Wort der Formulierungen. Es gibt keine nach Ebenen oder Bereichen abgestufte Verantwortung wie in der Verwaltung. Bei Entscheidungen eines Richterkollegiums - bei uns also
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bei allen Gerichten außer der Eingangsstufe - wird zufolge des Beratungsgeheimnisses nach außen freilich nicht erkennbar, wie der einzelne Richter abgestimmt hat; aber die Verantwortung für seine Stimme trägt er, von Rechts wegen und vor seinem inneren Forum, dennoch voll. Die richterliche Tätigkeit hat etwas in die Vergangenheit Gewandtes. Der Richter hat Lebenssachverhalte zu klären, festzustellen und zu beurteilen, die in der Vergangenheit liegen oder von Vergangenem in die Gegenwart bis zu dem Zeitpunkt reichen, auf den sich seine Entscheidung und ihre Rechtskraft beziehen. Die Prognose, das Abschätzen der weiteren Entwicklungen, erst recht etwa Aktivitäten zur Beeinflussung der künftigen Entwicklung treten demgegenüber in den Hintergrund, ja sie kommen bei einem großen Teil der Entscheidungen überhaupt nicht unmittelbar vor. Es gibt freilich Bereiche, in denen auch zukunftsgerichtete Erwägungen anzustellen sind. Bei strafgerichtlichen Entscheidungen ist dies der Fall, wo sie dem Resozialisierungszweck dienen sollen, so insbesondere bei der Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), bei Auflagen und Weisungen (§§ 56 b, 56 c StGB) wie allgemein bei der Verhängung von Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§61 ff. StGB); entsprechendes gilt im Jugendstrafrecht. Auch in Zivilstreitigkeiten kommen Abschätzungen der künftigen Entwicklung vor, etwa bei der Anpassung von Verträgen bei Störung der Geschäftsgrundlage (§313 BGB) oder bei der Frage der Zumutbarkeit der Fortsetzung von Dauerschuldverhältnissen oder einer Gesellschaft (§§ 314, 723 BGB). Ein nach Umfang und Bedeutung wichtiges Feld für Erörterungen über die künftige Entwicklung hat die Förderung der Vergleichsverhandlungen der Parteien. Aber in zentralen Bereichen der richterlichen Entscheidungen bleibt es bei der Beurteilung von Vergangenem. Das gilt im Strafrecht für die Feststellung der Tat und der Schuld und zum größten Teil für die zivilgerichtlichen Entscheidungen. Die grundsätzliche Verschiedenheit hat ein Praktiker des öffentlichen Rechts - es war in der Staatprüfung und er wollte von den Kandidaten den Unterschied zwischen Verwaltung und Rechtsprechung erfahren - einmal in das einprägsame Bild gekleidet: „Die Rechtsprechung bezieht sich auf eine Momentaufnahme, die Verwaltung ist ein Film, in dem sich die Akteure ständig weiterbewegen." Der Richterberuf ist auch gekennzeichnet vom Hören. Ein großer Teil der Arbeit des Richters ist dem Aufnehmen von Sachverhalten und von Rechtsausführungen gewidmet, seien es der Vortrag der Parteien, die Bekundungen der Zeugen, die Ausführungen eines Sachverständigen, die Plädoyers der Parteivertreter. Unsere hochentwickelten, komplexen Lebensverhältnisse bringen es mit sich, dass Vieles auch schriftlich vorgetragen und vorbereitet werden muss. Vom Richter wird erwartet, dass er die Akten gründlich durchgearbeitet hat und den Stoff beherrscht. Aber großes Gewicht liegt auf der mündlichen Verhandlung. Sie ist durch die Jahrtau-
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sende hindurch sozusagen das Erscheinungsbild der Rechtsprechung. Und in der Verhandlung kommt es dem Richter zu, vor allem zu hören. Auch hier gibt es freilich Verfahrensvorschriften, die ihm ein aktives Tun auferlegen. Der Vorsitzende hat die Verhandlung zu leiten (§ 136 Abs. 1 ZPO). Das Gericht hat das Sach- und Streitverhältnis, soweit erforderlich, mit den Parteien zu erörtern, Fragen zu stellen und die nötigen Hinweise zu geben; es hat bei den Vernehmungen durch Fragen und Vorhalte auf die nötige Klärung hinzuwirken (§ 139 Abs. 1, 2 ZPO). Im Strafverfahren hat es auch auf Möglichkeiten des Täter-Opfer-Ausgleichs hinzuwirken (§ 155 a StPO). Unbeschadet aller dieser Aufgaben liegt ein Schwergewicht der richterlichen Aufgaben aber beim Hören. Wie wichtig ist es, dass der Richter die Beteiligten, die Zeugen zumal, dazu bringt, von sich aus und im Zusammenhang - das heißt auch: zunächst einmal ohne unnötige Unterbrechungen durch den Richter! - zu berichten und vorzutragen (§ 396 Abs. 1 ZPO, § 69 Abs. 1 StPO). Er kann als Hörer umso mehr Aufmerksamkeit den Menschen und den Einzelheiten ihrer Schilderung widmen. Mit großer Sensibilität wird er auf die Zwischentöne achten, die in den Äußerungen der Beteiligten anklingen; manchmal bieten sie auch Ansatzpunkte, scheinbar einander völlig widersprechende Schilderungen ganz oder zumindest teilweise zur Deckung zu bringen. Der Richter wird sich auch die psychologische Erfahrung vergegenwärtigen, dass man beim Zuhören das, was man erwartet, deutlicher und stärker wahrnimmt als das Nicht-Erwartete. Die These ist etwas gewagt, nach Meinung des Verfassers aber zutreffend: einen guten Richter erkennt man (ebenso wie einen guten Juristischen Prüfer), auch wenn man den Inhalt des Gesprochenen gar nicht vernehmen kann, allein schon an dem Anteil, wieviel er in der Verhandlung redet und wieviel die anderen Beteiligten. Im Regelfall tut der Richter gut, wenn er, Ruhe ausstrahlend, veranlasst, dass die anderen Verfahrensbeteiligten reden. Dabei ist es wichtig, dass der Richter den Beteiligten auch den Eindruck vermittelt, dass er ihnen konzentriert, möglichst auch gelassen, zuhört. Dazu trägt bei, dass er sich dem Sprechenden zuwendet, Blickkontakt hält. Auch die äußere Haltung sollte, mögen lange Verhandlungen auch anstrengend sein, straffe Konzentration signalisieren. Zum Hören gehört auch, dass den Beteiligten das Gefühl vermittelt wird, dass sie das, was ihnen wesentlich erscheint, vorbringen können. Nicht selten entsteht bei einem Prozessbeteiligten, zumal wenn er den Gerichtsbetrieb nicht kennt, eine innere Spannung, wenn er der Darstellung eines anderen Beteiligten, noch während dieser spricht, auf der Stelle widersprechen oder etwas richtig stellen will. Hier kann ein kurzes Zeichen des Kopfnickens oder einer Handbewegung beruhigen, das signalisiert, dass der Betreffende (natürlich) gleich anschließend das Wort erhalten werde.
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Die Tätigkeit, die einem wohl als erste in den Sinn kommt, wenn man an den Richter denkt, ist, dass er entscheidet. Das stellt sich für ihn oft als ein Entscheiden-Müssen dar. Dies kann eine erheblich seelische Belastung sein. In vielen Lebensbereichen und Berufen kommt es gar nicht so selten vor, dass man in einer bestimmten Lebenssituation einen Konflikt nicht bis zur letzten Konsequenz treiben, sondern es vorziehen will, die Dinge, zumindest vorerst einmal, noch in der Schwebe zu lassen und die weitere Entwicklung abzuwarten. Das haben, zumal bei Zivilstreitigkeiten, auch die Verfahrensbeteiligten bis zu einem gewissen Grad in der Hand. Der Richter dagegen ist vor die Entscheidung gestellt, er kann ihr nicht ausweichen. Und er kann in der Entscheidung in der Regel nur Ja oder Nein sagen, was zwangsläufig eine gewisse Härte enthält. Unsere Rechtsordnung hält die rechtlichen Begriffe mit ihren Abgrenzungen und Unterscheidungen bereit. In der Subsumtion muss entschieden werden, ob der jeweilige Sachverhalt (noch) unter den in Frage kommenden Begriff fällt oder ob er (schon) außerhalb des Begriffs liegt. In der Lebenswirklichkeit liegen die Sachverhalte oft auf der Grenzlinie oder beiderseits von ihr. Mit der Entscheidung muss der Richter, nachdem er alle Umstände abgewogen hat, sich gewissermaßen einen Ruck geben und die Zuordnung eben zu der einen oder anderen Gruppe, innerhalb oder außerhalb der Grenzlinie vornehmen. Die Begründung der Entscheidung wird dann, so ist es vielfach üblich, recht apodiktisch abgefasst - etwa in dem Sinn, dass die Zuordnung nur so, wie geschehen, ernstlich in Betracht käme. Nach Auffassung des Verfassers dient es besser der Würde des Entscheidens, wenn die Begründung gegebenenfalls durchblicken lässt, dass es sich um einen Grenzfall handelt; das muss der Autorität der Entscheidung keinen Abbruch tun. Vor der Entscheidung steht das Suchen und Abwägen. Es verdient auch, sich bewusst zu machen, dass das der wichtigere Teil des Entscheidens ist, mehr als die nachträgliche Ausarbeitung der schriftlichen Begründung. Das erfordert den Einsatz aller Kräfte des rationalen Ableitens, aber auch der wertenden Intuition, wobei auch willensmäßige Elemente nicht fehlen. Daraus ergibt sich ohne weiteres, dass derjenige im Richterberuf besser Erfüllung finden wird, der Entscheidungsfreude besitzt und sie auch pflegt. Das darf freilich nicht zur Überheblichkeit führen. Im Gegenteil: bei allem Zwang entscheiden zu müssen, Ja oder Nein zu sagen, und bei allem Einsatz seiner Kräfte wird der Richter sich in Demut der eigenen Begrenztheit bewusst bleiben müssen. Er muss nach der richtigen Entscheidung suchen, das heißt nach der Entscheidung, die Gesetz und Recht entspricht und die - in der Regel gerade dadurch - gerecht ist. Das Streben nach Gerechtigkeit ist die innerste Triebfeder des richterlichen Suchens nach der Entscheidung. Sie wird gefunden durch die Einordnung in Gesetz und Recht. Dabei sollte sie aber, wie der Richter sie empfindet, begleitet sein
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von dem Gesamteindruck, dass das Ergebnis so auch gerecht ist. Es werden, verständlicherweise, immer wieder Mahnungen geäußert, dass der Gesamteindruck als solcher keine genügende Grundlage und Legitimation habe und deshalb nur die Ableitung nach Gesetz und Recht maßgebend sein dürfe. Sicher, diese Ableitung ist maßgebend. Dennoch bleibt nach richterlicher Erfahrung die Bestätigung des nach Gesetz und Recht gefundenen Ergebnisses durch den Gesamteindruck ein wichtiger Kontrollmechanismus - und übrigens auch eine Beruhigung des eigenen Suchens und Abwägens. Wo der Gesamteindruck und das nach Gesetz und Recht gefundene Ergebnis ausnahmsweise auseinander fallen, besteht dringender Anlass, den Weg, der zum bisher gefundenen Ergebnis geführt hat, noch einmal sorgfältig zu überprüfen. Der Richter entscheidet grundsätzlich Fälle, nicht davon losgelöste, abstrakte Rechtsfragen. Das heißt, er entscheidet im Blick auf den ihm vorliegenden Fall, auf den Lebenssachverhalt und die Rechtsfolgen, die mit der Entscheidung ausgesprochen werden. Er soll freilich die rechtliche Begründung so suchen, dass sie sich, bei im Wesentlichen gleicher Sachlage, auf andere Fälle übertragen und dass sie sich möglichst in übergeordnete Zusammenhänge der Rechtsordnung einfügen lässt. Er muss auch bedenken, welche Folgerungen die Fachwelt oder andere, am Ergebnis interessierte Kreise möglicherweise aus der Begründung - zu Recht oder Unrecht ableiten könnten. Aber es bleibt dabei: ihre Stärke erfährt die Entscheidung durch den Blick auf den vorliegenden, hier entschiedenen Fall. Nicht selten kann dieser Blick auch zur näheren Erklärung der Entscheidung, wenn deren Begründung unvollkommen ist und vielleicht nicht so recht einleuchten will, beitragen. In unserer hochkomplexen Rechtswelt, die mehr als früher auch mehrere, einander hierarchisch überlagernde Nonnebenen hervorgebracht hat („einfaches" Recht, Verfassungsrecht, Europarecht u. dgl.) schreiben manche Verfahrensregelungen vor, dass nicht mehr der Fall als solcher entschieden wird, sondern einzelne, daraus abgehobene Rechtsfragen. Das hat schon mit der Einführung der Revision begonnen, bei der das Gericht an die „Feststellungen" der Tatsacheninstanz gebunden ist. Für die Nachprüfung durch das Verfassungsgericht kommt es darauf an, ob „spezifisches Verfassungsrecht" verletzt ist. Und für die Auslegung von Recht der Europäischen Union haben die Gerichte dem Europäischen Gerichtshof isolierte (scheinbar isolierte?) Rechtsfragen vorzulegen. Solche Entwicklungen müssen wohl in Kauf genommen werden, weil die Arbeitskraft der zentralen Obergerichte sonst die unermessliche Zahl der Fälle nicht bewältigen könnte. Unter dem Blickwinkel der richterlichen Entscheidungspraxis, so wie sie übrigens Jahrtausende geübt wurde, bleibt jedoch die Fallentscheidung die lebensvollere Option.
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Bei der Entscheidungsfindung wie der schriftlichen Begründung steht der Richter oft - man kann sagen: meist - unter großem Zeitdruck angesichts der Vielzahl weiterer Fälle, die schon auf ihre Bearbeitung warten und deren Anzahl er nicht steuern kann. Das erzeugt für ihn oft eine innere Spannung bei der Abwägung, wieviel an Zeit und Kraft er dem ihm jeweils vorliegenden Fall widmen muss und kann. Es gibt Richter, die darunter leiden. Über ein bestimmtes, vertretbares Maß hinaus lässt sich der Arbeitsaufwand nicht abkürzen. Ohnehin schreiben die Verfahrensgrundsätze vor, dass jeweils der kürzeste Weg zur Entscheidung zu begehen ist - freilich immer nur, sofern dies eben rechtlich und tatsächlich möglich ist. Es sei nicht verschwiegen, dass der Zeitdruck zu der Versuchung führen kann, solch einen kurzen Weg auch etwas über Gebühr zu beschreiten. Andererseits muss vom Richter auch erwartet werden, dass er Zeit und Kräfte je nach der Bedeutung und Schwierigkeit der Sache einteilt und ein praktisch angemessenes Maß an Arbeitsanfall bewältigt. Schließlich sei auch erwähnt, dass Entwicklungen, die über Vorgaben der Justizverwaltung für das Arbeitsmaß zu einer Einflussnahme auf den Inhalt der richterlichen Arbeit führen könnten, entschieden entgegenzutreten ist. Der Richter steht in einem Arbeitsrhythmus des laufenden Entscheidens. Der Entscheidung im gerade vorliegenden Fall folgen dicht die nächste und viele weitere. Mit der Entscheidung gibt der Richter seine Befassung mit dem Fall ab. Das kann seelisch auch als Entlastung wirken. Auch hierin zeigt sich der Unterschied zur Tätigkeit in der Verwaltung oder in vielen Bereichen der Wirtschaft. Dort ist es in der Regel so, dass, wer heute eine nicht gute oder angreifbare Maßnahme trifft, spätestens morgen den Ärger auf seinem Tisch hat und versuchen muss, wie er damit weiterkommt. Anders ist es beim Richter: für ihn ist die Befassung abgeschlossen. Die Parteien mögen gegebenenfalls Rechtsmittel einlegen - zu ihm kommt der Fall in aller Regel nicht mehr. Das soll aber nicht heißen, dass es dem Richter gleichgültig sein kann, was aus seiner Entscheidung und den Menschen, denen sie gegolten hat, wird; er wird in der gebührenden Demut auch daran immer wieder denken. Eine prägende Eigenheit der Richtertätigkeit ist der intensive Umgang mit der Sprache. Sie ist das Mittel, mit dem er Sachverhaltsmitteilungen und Rechtsüberlegungen aufnimmt, und sie ist - das ist zumal für die schriftlichen Begründungen von besonderer Bedeutung - das Mittel, mit dem er seine Erwägungen zur Entscheidung mitteilt. Viele Richter werden wohl die Aussage bestätigen, dass ein erheblicher Teil - um eine Größenordnung anzugeben: durchschnittlich etwa ein Drittel - ihrer Energie und Zeit auf das Ringen um treffende sprachliche Formulierungen verwendet wird. Sehr häufig ist dieses Ringen auch ein Zeichen dafür, dass die gedankliche Klärung noch tiefer erarbeitet werden muss. Die Sprache ist das wesentliche
Von Eigenheiten der Richtertätigkeit
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Medium im Umgang der Menschen miteinander. Da das Recht sehr differenziert ist, wird sich auch die Sprache um möglichst präzise Differenzierungen bemühen müssen. Sie kann gerade auch dadurch das Streben nach Gerechtigkeit durchscheinen lassen. Das Angewiesensein auf die Sprache ist auch anderen geisteswissenschaftlich geprägten Berufen eigen, so unter anderen, aber besonders auch den juristischen Berufen. Man denke etwa an den Wissenschaftler oder an den Rechtsanwalt, der geradezu ein klassischer Vertreter des Einsatzes von Sprache ist. Beim Advokaten liegt dabei wohl mehr noch ein Schwerpunkt bei der Rede, und dementsprechend wird hier die Sprache auch etwas anders eingesetzt; sie kann pointierter, vielleicht auch etwas einseitig und farbig sein. In der Sprache des Richters soll vor allem bedächtiges Abwägen in einer eher leicht zurückhaltenden Form zum Ausdruck kommen. Beim Niederschreiben der Entscheidungsbegründungen muss sich der Verfasser vor Augen halten, an wen er sich mit seinen Ausführungen wendet. Das bestimmt mit die Wahl der Sprachebene. In unseren hochentwickelten, komplexen Lebensverhältnissen kann kaum ein Lebensbereich darauf verzichten, eine eigene professionelle Fachsprache zu entwickeln. So ist es notwendigerweise auch mit dem Recht und der Rechtsprechung. Und doch soll ihre Sprache den Menschen möglichst verständlich sein. Der Richter wird in den Entscheidungsbegründungen auf fachliche Begriffe nicht ganz verzichten und sie nicht immer neu in ihren Voraussetzungen und Verzweigungen darlegen können. Bei Obergerichten ist der Adressat der Entscheidungsgründe, gewissermaßen als Dialogpartner, in erster Linie die interessierte Fachwelt und gegebenenfalls die übergeordnete Gerichtsinstanz. Aber es darf dennoch nicht vergessen werden, dass die Entscheidung unmittelbar die betroffenen Menschen angeht. Das gilt zumal für die vielen Fälle vor den Instanzgerichten, sollte aber auch bei den Obergerichten nicht außer Betracht bleiben. Der Richter sollte in seinen Begründungen vor allem der Partei, die im Rechtsstreit unterliegt, zu zeigen versuchen, dass er ihre Argumente und ihre Sichtweise aufgenommen hat und warum er ihnen nicht beipflichten kann. Sprachliche Potenz, so unter anderem und insbesondere auch die Besetzung von Worten und Formulierungen für einen Gegenstand oder eine Situation, kann einen erheblichen Einfluss auf weitere geistige Ableitungen und Einschätzungen haben. Politik und Medien liefern dafür nahezu täglich drastische Beispiele. Richter werden sensible Aufmerksamkeit darauf verwenden, dass nicht auf diesem Wege sich falsche Einflüsse auf ihre Entscheidung einstellen. In unseren amtlichen Verlautbarungen hat sich die Sprache in den letzten Jahrzehnten eher hin zu größerer Nüchternheit entwickelt - was zu begrüßen ist - , aber auch zur Wahl farbloser Wörter. (Auf andere, geschmacklo-
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se Entwicklungen, etwa zum überflüssigen Gebrauch von Anglizismen, soll hier gar nicht eingegangen werden.)· Juristische oder forensische Texte aus Österreich oder der Schweiz könnten uns ermutigen, manchmal auch etwas farbigere Vokabeln zu wählen, wenn dies dem Zweck der Aussage und dem Anspruch an die sprachliche Einkleidung nicht widerspricht. Keinesfalls sollte die Sprache aber der Eitelkeit des Verfassers dienen und grundsätzlich sind richterliche Äußerungen auch nicht geeignet, der Darstellung einen etwas ins Humoristische gehenden oder gar einen zynischen Charakter zu geben. Weil es sich um den Umgang mit Menschen handelt, sollte die Sprache schonend sein. Auch hierin zeigt sich Achtung vor der Würde des Menschen. Die hier angeführten Beschreibungen wollen die Eigenheiten der richterlichen Tätigkeit nicht verabsolutieren. Es lässt sich gut vertreten, dass sie, in mehr oder minder starker Ausprägung, auch anderwärts zu finden sind. Und ebenso kann einer ganzen Reihe von Erscheinungen, die hier als Eigenheiten der Richtertätigkeit geschildert wurden, entgegengesetzt werden, dass es auch gegenläufige, komplementäre Umstände im Richterleben gibt. So etwa ist die wichtige richterliche Aufgabe, im Zivilprozess einen einvernehmlichen Ausgleich zwischen den Parteien zu suchen und zu fordern, etwas anderes als der geschilderte Zwang, entscheiden zu müssen. Wenn hier von Eigenheiten die Rede war, so ist damit gemeint, dass es sich um Umstände oder Merkmale handelt, die sich aus der Sicht und Erfahrung des Verfassers, wenn nicht ausschließlich, so doch besonders ausgeprägt bei der richterlichen Tätigkeit einstellen. Es mag sein, dass demjenigen, der die Tätigkeit über lange Zeit, in der Regel Jahrzehnte hindurch, ausübt, die Eigenheiten oft nicht so bewusst werden. Besonders lebhaft treten sie aber vor Augen, wenn jemand von der einen zur anderen Tätigkeit wechselt. Reinhard Böttcher hat in den 40 Jahren seiner beruflichen und fachlichen Tätigkeit sehr viele verschiedene Funktionen ausgeübt. Er war lange Jahre in der Justizverwaltung und in der Mitarbeit an rechtspolitischen Vorhaben beschäftigt; er hat sich in der Wissenschaft betätigt und hat Aufgaben als Lehrender und Prüfer wahrgenommen; er war und ist erfolgreicher Vorsitzender großer Organisationen; er war auch Staatsanwalt und hoch geachteter Richter. Der Verfasser denkt dankbar an jahrzehntelangen nahen Gedankenaustausch.
Über Zuständigkeitskonzentrationen - eine Skizze PETER RIESS
I. Einleitung Gesetzliche Regelungen, die es gestatten oder vorschreiben, bestimmte Aufgaben bei einem von mehreren an sich zuständigen Gerichten zusammenzufassen, enthält das geltende Recht in unterschiedlicher Form in zahlreichen Einzelvorschriften. Sie werden meist nur im jeweiligen Sachzusammenhang näher erläutert; eine zusammenfassende Darstellung der damit verbundenen Fragen und der dabei zutage tretenden Strukturen findet sich kaum. Die nachfolgende skizzenhafte Darstellung legt ihr Schwergewicht hierauf. Sie hat insoweit exemplarischen Charakter, als sie viele Einzelfragen unbehandelt lassen muss und eine vollständige Erfassung aller gesetzlichen Regelungen nicht beabsichtigt ist.1
II. Zur Bedeutung von Zuständigkeitskonzentrationen im Allgemeinen Die rechtliche Ordnung der Gerichtsorganisation in Deutschland ist seit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze 1879 durch ein Zusammenspiel von bundesrechtlicher (früher reichsrechtlicher) Gesetzgebungskompetenz für das Verfahren und die Grundzüge der Gerichtsverfassung und der in die Zuständigkeit der Länder fallenden Organisationsgewalt für die konkrete Einrichtung der sich hieraus ergebenden Gerichtsbarkeiten geprägt.2 Bundesrechtlich vorgegeben ist im GVG sowie in den Verfahrensordnungen der besonderen Gerichtsbarkeiten3, welche Arten von Gerichten einzurichten 1 Bei den Regelungen, die sich in den zahlreichen zersplitterten Sondervorschriften der sog. freiwilligen Gerichtsbarkeit oder in speziellen Verfahrensvorschriften finden, sind nur Einzelbeispiele möglich. Um eine umfassendere Erfassung bemüht sich die Arbeit bei den vor allem im GVG geregelten Verfahren der allgemeinen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit und denen der besonderen Gerichtsbarkeiten. 2 S. dazu etwa auch mit weit. Nachw. LR -Böttcher 25. Aufl., 2002, Vor § 12 GVG Rn. 1 ff., § 12 Rn. 1; Kissel/Mayer Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Aufl., 2005, Einl. Rn. 1 ff. 3 ArbGG, FGO, SGG und VwGO.
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und welche Aufgaben ihnen zuzuweisen sind. Dabei ergibt sich aus dem Bundesrecht das grundsätzliche Gebot, diese Gerichte mit einer umfassenden Zuständigkeit auszustatten. Aus der Justizhoheit der Länder folgt, dass diese zu bestimmen haben, wie viele der ihnen bundesrechtlich vorgegebenen Gerichte sie einrichten, wo sie dies tun und wie sie die Größe der Gerichtsbezirke bestimmen. Maßgebend hierfür sind unter anderem die territoriale Struktur des Landes 4 , Fragen der Erreichbarkeit und vieles andere mehr. Namentlich aus justizpraktischen Gründen werden sich die Länder hierbei bei der Bestimmung der Größe der Gerichtsbezirke an den Geschäftsaufgaben orientieren, die von ihrer Häufigkeit her die Zuständigkeit prägen. Für solche, die seltener anfallen und für deren Bewältigung spezielle Vorkehrungen erforderlich oder Spezialkenntnisse wünschenswert sind, kann sich daraus das Bedürfnis ergeben, sie nicht allen in Betracht kommenden Gerichten zuzuweisen, sondern einigen von ihnen vorzubehalten. Nach dem bundesrechtlichen Gebot der umfassenden Zuständigkeit benötigen die Länder hierzu eine bundesgesetzliche Erlaubnis für derartige Abweichungen, also eine Konzentrationsermächtigung, die ihnen dies gestattet. Solche Ermächtigungen sind in sehr unterschiedlicher Form im geltenden Recht vielfach vorhanden.5 Der Bundesgesetzgeber hat an der Ausnutzung solcher Konzentrationsermächtigungen in der Regel kein Eigeninteresse6; sie dienen den Ländern, soweit sie von ihnen Gebrauch machen. Aus der Sicht des Bundesgesetzgebers kann aber auch das darüber hinausgehende Bedürfnis bestehen, sicherzustellen, dass einzelne bundesrechtlich geregelte Geschäftsaufgaben dort, wo eine Mehrzahl gleichartiger Gerichte von den Ländern eingerichtet ist, im Interesse der Erledigungsqualität nicht auf alle Gerichte verteilt, sondern nur von einigen von ihnen wahrgenommen werden; dieses Bedürfnis kann darüber hinaus dahin gehen, sicherzustellen, dass derartige Geschäftsaufgaben innerhalb eines Gerichtes nicht von allen Spruchkörpern, sondern nur von einer begrenzten Zahl wahrgenommen werden. Dazu bedient sich der Gesetzgeber des Mittels der Konzentrationsverpflichtung, die die Justizhoheit und Organisationsgewalt der Länder7 beschränkt. Insoweit zeigt das geltende Recht eine reiche Vielfalt von Gestaltungen und funktionell vergleichbaren Regelungen.8
4 Vielfach im Einzelnen auch - was manche auf den ersten Blick wenig einleuchtende Besonderheiten der „Justizgeographie" erklärt - die Territorialgeschichte vergangener Zeiten. 5 Dazu näher unten, unter III und IV. 6 Vorbehaltlich der Einhaltung bestimmter Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die in der Ermächtigung zum Ausdruck gebracht werden können. 7 Oder die Gestaltungsfreiheit der Gerichtspräsidien bei der Verteilung der Geschäfte. 8 Dazu näher unten, unter V.
Über Zuständigkeitskonzentrationen
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Für solche Zuständigkeitskonzentrationen gibt es verschiedene Sachgründe; ihre Notwendigkeit wird von niemandem bezweifelt. 9 Sie dienen in der Regel - und lassen sich hiermit rechtfertigen - der sachdienlichen Förderung oder schnelleren Erledigung der Verfahren, wie es einer namentlich bei den Konzentrationsermächtigungen des GVG verbreiteten gesetzlichen Formulierung entspricht, aber auch so etwas wie ein allgemeines Leitprinzip zum Ausdruck bringen dürfte. Dabei geht es im Einzelnen um verschiedene Aspekte.10 Manche Geschäftsaufgaben, vor allem im Strafrecht, erfordern organisatorische und bauliche Vorkehrungen, deren generelle Einrichtung bei geringem Geschäftsanfall unökonomisch wäre. Bedeutsamer ist wohl der Gesichtspunkt der Spezialisierung und der besseren Gewährleistung einer dementsprechend qualitätvolleren und einheitlicheren Rechtsprechung. Insgesamt lassen sich Zuständigkeitskonzentrationen - ihre Sachgerechtigkeit vorausgesetzt - als ein bedeutsames Gestaltungsmittel zur Gewährleistung einer effektiven Rechtspflege interpretieren. Diese kann allerdings auch zu Regelungen Veranlassung geben, die eine Verteilung der grundsätzlich und idealtypisch an einen einheitlichen Gerichtsstandort geknüpften Zuständigkeiten eines Gerichts auf verschiedene Standorte gestatten, und sich damit als Dekonzentrationsvorschriften interpretieren lassen.11
III. Konzentrationsermächtigungen innerhalb eines Landes Für den Bereich der streitigen ordentlichen Gerichtsbarkeit bestanden für die amts- und landgerichtliche Ebene bis vor kurzem lediglich eher beschränkte und differenzierte Konzentrationsermächtigungen. Seit April 2006 hat sich dies tief greifend geändert. Durch den an etwas versteckter Stelle neu eingefügten § 13a GVG,12 dem eine rechtspolitische Diskussion nicht vorangegangen war, der in den amtlichen Gesetzesmaterialien nur oberflächlich begründet13 und in den parlamentarischen Beratungen nicht 9
S. aber auch zu den Grenzen und Bedenken etwa Kissel/Mayer (Fn. 1) § 23c Rn. 1. S. dazu näher etwa Kissel/Mayer (Fn. 1) § 23c Rn. 1 f., § 58 Rn. 1. 11 Dazu näher unten unter VI. 12 Art. 17 Nr. 1 des 1. Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums der Justiz v. 19.4.2006 (BGBl. I S. 866). 13 S. dazu den Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drucks. 16/47, S. 51). Danach handelt es sich um die Aufrechterhaltung der in der Anlage I zum Einigungsvertrag in Kapitel III, Sachgeb. A, Abschn. III Maßg. η Abs. 1 Nr. 1 enthaltenen Regelung für die neuen Länder, die sich als partielles Bundesrecht bewährt habe. Sie war freilich bei ihrer Schaffung lediglich dazu bestimmt, übergangsweise den Aufbau der Gerichtsbarkeit der Bundesrepublik zu erleichtern und in ihrer Gesamtkonzeption, die der neue § 13a GVG nicht vollständig übernimmt, hierauf ausgerichtet. 10
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thematisiert worden ist14 und bisher kaum Beachtung gefunden hat, ist eine umfassende Konzentrationsermächtigung für den Landesgesetzgeber geschaffen worden. Danach können die Länder ohne weitere Einschränkungen einem Gericht für die Bezirke mehrerer Gerichte Sachen aller Art ganz oder teilweise zuweisen und auswärtige Spruchkörper von Gerichten einrichten. Reichweite und (mögliche) Grenze dieser neuen Vorschrift kann hier nicht vertieft untersucht werden. Ihrem Wortlaut nach gestattet sie beliebige, auch weitreichende, ganze Zuständigkeitssparten betreffende Konzentrationen (und damit umgekehrt eine Zuständigkeitsreduktion bei den verbleibenden Gerichten) bei Amts-, Land- und Oberlandesgerichten und tritt damit in Konkurrenz zu den bereits vorhandenen Regelungen, von deren Fortdauer der Gesetzgeber ausgegangen ist.15 Diese behalten für die Amtsund Landgerichte16 nur noch insoweit Bedeutung, als es für sie keiner landesgesetzlichen Regelung bedarf, sondern eine landesrechtliche Rechtsverordnung ausreicht. Insoweit besteht für die zivilgerichtlichen Verfahren allein eine Konzentrationsermächtigung für Familiengerichte, in die einige verwandte Aufgaben mit einbezogen sind.17 Ferner gestattet § 157 Abs. 2 GVG, die den Amtsgerichten generell zugewiesenen (innerstaatlichen) Rechtshilfeaufgaben zu konzentrieren. Hiervon abgesehen kann eine Zuständigkeitskonzentration für streitige zivilgerichtliche Verfahren bei allen Amtsgerichten und Landgerichten nicht durch Rechtsverordnung vorgenommen werden. In strafgerichtlichen Zuständigkeiten des Amtsgerichts gestattet die Rechtsverordnungsermächtigung in § 58 GVG in sehr weitgehendem Umfang eine Konzentration bei einem Amtsgericht für mehrere Amtsgerichte.18 Möglich ist sowohl die Zuweisung aller Strafsachen - also umgekehrt die Errichtung von Amtsgerichten, die für Strafverfahren insgesamt nicht zuständig sind - als auch die Errichtung gemeinsamer Schöffengerichte für mehrere Amtsgerichtsbezirke als auch schließlich die Konzentration einzelner strafrechtlicher Aufgaben, sowie von solchen des internationalen
14 Ausweislich des Berichts des Rechtsausschusses (BT-Drucks. 16/678) hat der Vorschlag in diesem keine Änderung und keine nähere Erörterung erfahren; das gesamte Gesetz ist im Plenum in allen Beratungen ohne Aussprache behandelt worden. 15 So ausdrücklich die amtliche Begründung (Fn. 13), die sich allerdings nicht darüber verhält, in welchem Verhältnis die Vorschriften zueinander stehen, was teilweise zu Unklarheiten und Zweifelsfragen führt. 16 Wegen der Oberlandesgerichte s. unten bei Fn. 29. 17 § 23c GVG; dazu näher Kissel/Mayer (Fn. 1) § 23c. Konzentriert werden können auf diesem Wege die Familiensachen i. S. v. § 23b GVG (nur gemeinsam) sowie ganz oder teilweise Vormundschafts-, Betreuungs- und Unterbringungssachen. 18 Nachw. der landesrechtlichen Regelungen bei Katholnigg Strafgerichtsverfassungsrecht, 3. Aufl., 1998, § 58 Fn. 2, 3.
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Rechtshilfeverkehrs.19 Eine Parallelvorschrift enthält das JugendstrafVerfahren.20 Beim Landgericht gibt es Konzentrationsermächtigungen für die Schwurgerichtskammer nach § 74 Abs. 2 21 sowie für die Wirtschaftstrafkammer nach § 74c Abs. 3 GVG 22 und für die Strafvollsteckungskammer nach § 78a Abs. 2 Satz 2 GVG. 23 Regelungstechnisch enthalten all diese speziellen Ermächtigungen eine an den Landesverordnungsgeber gerichtete Rechtsverordnungsermächtigung24 verbunden mit einer Delegationsmöglichkeit an die Landesjustizverwaltungen. 25 Den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG wird dadurch Rechnung getragen, dass in teilweise sprachlich - und auch in der Sache - etwas unterschiedlicher Form, im Ergebnis aber weitgehend übereinstimmend, als sachliche Konzentrationsvoraussetzung in einer recht allgemeinen Form etwas verlangt wird, was man generalisierend als „Zweckmäßigkeit" bezeichnen könnte. Verbreitet ist die Wendung „sachliche Förderung oder schnellere Erledigung",26 daneben oder stattdessen wird auch auf die Sicherung einheitlicherer Rechtsprechung abgehoben27 oder es wird auf die bessere Erledigung der jeweiligen Aufgabe abgestellt.28 Weitaus größere Möglichkeiten der Zuständigkeitskonzentration überlässt seit jeher 29 der Reichs- bzw. Bundesgesetzgeber den Ländern bei den Oberlandesgerichten, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass hinsichtlich 19 S. zu den Einzelheiten LR-Siolek 25. Aufl., 1999, § 58 GVG Rn. 5 ff. (auch zu weiteren Konzentrationsvorschriften vergleichbarer Art in Spezialgesetzen); Kissel/Mayer (Fn. 1) § 58 Rn. 4. 20 § 33 Abs. 4 JGG; dazu näher Brunner/Dölling JGG, 11. Aufl., 2002, §§ 33 - 33b Rn. 10 f; Nachw. weiterer Konzentrationsermächtigungen für Strafsachen in Spezialregelungen etwa bei Katholnigg (Fn. 18) § 58 Rn. 6. 21 § 74d GVG, ebenso bereits nach § 92 GVG a. F. für das „selbständige" Schwurgericht. 22 Mit der Möglichkeit, die Aufgaben der Wirtschaftsstrafkammer nur teilweise zu konzentrieren. 23 Zu den hier etwas verwickelten Einzelheiten s. etwa LR-Siolek (Fn. 19) § 78a GVG Rn. 7; Kissel/Mayer (Fn. 1) § 78a Rn. 21 ff. 24 Abweichend die an den Gesetzgeber gerichteten Ermächtigungen in den besonderen Gerichtsbarkeiten; s. unten bei Fn. 39 ff.; sowie im neuen § 13a GVG, s. oben Fn. 12. 25 Das Rechtsbereinigungsgesetz (Fn. 12) hat diese Möglichkeit der dort bisher fehlenden „Subdelegation" auch in den §§ 93 und 116 GVG eingeführt. 26 So § 58 Abs. 1, § 74c Abs. 3, § 78d Abs. 2 S. 2 GVG, § 2 Abs. 3 SchRVertO (Fn. 35); allein auf die „sachliche Förderung" abstellend § 74d GVG; neben dieser die „Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung" erwähnend § 23c GVG. 27 So etwa § 89 Abs. 1, 92 Abs. 1 GWB, wenn dies „der Rechtspflege in Kartellsachen, insbesondere einer einheitlichen Rechtsprechung dienlich ist". 28 So § 157 Abs. 2 GVG („sofern dadurch der Rechtshilfeverkehr erleichtert oder beschleunigt wird"). 29 Die Regelungen bestehen im Kern unverändert seit der Entstehung der Reichsjustizgesetze; sie sind lediglich kontinuierlich erweitert worden.
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der Größe der Gerichtsbezirke und der Zahl der Oberlandesgerichte landesspezifische Unterschiede traditionell eine nicht unerhebliche Rolle spielen.30 Anders als auf der amts- und landgerichtlichen Ebene ist hierfür eine Regelung durch den Landesgesetzgeber notwendig; einschränkende Voraussetzungen enthält das Bundesrecht nicht. Lediglich bei den streitigen Zivilsachen ist eine solche Konzentration erst durch den neuen § 13a GVG zugelassen worden. Seit jeher bestand sie uneingeschränkt in Strafsachen einschließlich des Rechts der internationalen Rechtshilfe.31 Für die freiwillige Gerichtsbarkeit gilt der neue § 13a GVG nicht,32 so dass es bei den bisherigen speziellen Regelungen verbleibt. Konzentrationsmöglichkeiten durch Rechtsverordnung für die amtsgerichtlichen Aufgaben bestehen (nur beispielhaft) etwa beim Handelsregister33, beim Vereinsregister34 oder bei der schifffahrtsrechtsrechtlichen Verteilungsordnung.35 Für kartellrechtliche Angelegenheiten enthält das GWB fur bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten eine Konzentrationsermächtigung für das Landgericht und für Verwaltungs- und Bußgeldsachen für das Oberlandesgericht.36 Eine Ermächtigung für den Landesgesetzgeber besteht bei den Oberlandesgerichten für Beschwerden in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit37 sowie für die Anfechtung von Justizverwaltungsakten nach den §§23 ff EGGVG 38 . In den besonderen Gerichtsbarkeiten finden sich weitgehend übereinstimmende generelle Konzentrationsermächtigungen innerhalb der Gerichtsbarkeit der einzelnen Länder.39 § 3 Abs. 1 Nr. 4 VwGO ermöglicht die Zuweisung einzelner Sachgebiete an ein Verwaltungsgericht für die Bezirke 30
Die daneben seit 1879 bestehende Möglichkeit (§§ 8, 9 EGVGV), stattdessen Zuständigkeitskonzentrationen bei einem Obersten Landesgericht vorzunehmen, ist derzeit gegenstandslos, nachdem Bayern, wo ein solches Gericht seit jeher bestand, dieses unter bemerkenswertem Verzicht auf seine eigene gerichtsverfassungsrechtliche Tradition aus fragwürdigen Einsparungserwägungen heraus mit Gesetz vom 25.10.2005 (BayGVBl. S. 400) beseitigt hat; s. dazu etwa die Kritik von Kruis NJW 2004, 640 und von Hirsch NJW 2006, 3255. 31 § 9 EGGVG. Dazu gehören auch Ordnungswidrigkeitsverfahren sowie Jugendstrafverfahren; zulässig ist auch eine Konzentration nur einzelner Aufgaben s. näher LR-Böttcher (Fn. 1), § 9 EGGVG, Rn. 3 f.; Kissel/Mayer (Fn. 1) § 9 EGGVG Rn. 2 ff. 32
So der ausdrückliche Hinweis in der Begründung (Fn. 13); anders dagegen die umfassende Regelung im Einigungsvertrag. Eine Erläuterung für diese Reduktion enthält die Begründung nicht. 33 § 125 Abs. 2 Nr. 1 FGG. 34 § 55 Abs. 2 BGB. 35 § 2 Abs. 3 und § 37 Abs. 3 der Schifffahrtsrechtlichen Verteilungsordnung i. d. F. v. 23.3.1999 (BGBl. I S. 530). 36 § 89 Abs. 1, § 92 Abs. 1 GWB. 37 § 199 Abs. 1 FGG. 38 § 25 Abs. 2 EGGVG. 39 Zu den länderübergreifenden Konzentrationsermächtigungen s. unten, unter IV.
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mehrerer Gerichte.40 Weitgehend wortgleiche Regelungen bestehen für die Finanzgerichtsbarkeit41 und die Arbeitsgerichtsbarkeit.42 Die Konzentration kann nur durch den (Landes)gesetzgeber vorgenommen werden; sie ist weil deshalb den Anforderungen des Art. 80 GG nicht entsprochen werden muss - von weiteren sachlichen Voraussetzungen nicht abhängig.
IV. Länderübergreifende Zuständigkeitskonzentrationen Wegen der Justizhoheit der Länder kann der Bundesgesetzgeber dem Gericht eines Landes eine Zuständigkeit für Aufgaben des Gerichtes eines anderen Landes nicht verbindlich zuweisen, also keine länderübergreifende Zuständigkeitskonzentration anordnen.43 Ebenso wenig kann die Landesgesetzgebung einseitig die Zuständigkeit eines ihrer Gerichte auf das Gebiet eines anderen Landes erstrecken. Zulässig ist aber, dass die Länder untereinander durch eine staatsvertragliche Regelung solche Konzentrationen vereinbaren; dies mindestens dann, wenn eine bundesgesetzliche Regelung ihnen dies ermöglicht. Solche Regelungen finden sich vielfach, namentlich bei den besonderen Gerichtsbarkeiten und für Spezialverfahren. Nach den Bestimmungen des GVG gestattet ausdrücklich lediglich § 120 Abs. 5 S. 2 GVG für die den Oberlandesgerichten im ersten Rechtszug zugewiesenen sog. Staatsschutzstrafsachen die Übertragung der Aufgaben auf das zuständige Oberlandesgericht eines anderen Landes.44 Weitgespannte Ermächtigungen dieser Art finden sich bundesrechtlich für die besonderen Gerichtsbarkeiten. Sie gestatten Ländervereinbarungen für die
40 Eine Zuständigkeitskonzentration auf der Ebene der Oberverwaltungsgerichte innerhalb eines Landes kommt nicht in Betracht, da die Errichtung mehrerer Oberverwaltungsgerichte nach der VwGO nicht möglich ist. 41 § 3 Abs. 1 Nr. 4 FGO. 42 § 14 Abs. 2 Nr. 4 ArbGG für die Arbeitsgerichte, § 33 Abs. 1 ArbGG für die Landesarbeitsgerichte. Für die Sozialgerichte enthält § 7 Abs. 2 SGG eigenartiger Weise keine landesinterne Konzentrationsmöglichkeit. 43 Eine vorübergehende, wiedervereinigungsbedingte Ausnahme fand sich in der Anlage I zum Einigungsvertrag in Kapitel III, Sachgeb. A, Abschn. III Maßg. 1 Abs. 1 Nr. 2, nach der das KG zunächst auch für die Verfahren nach § 120 GVG für alle neuen Länder zuständig war. S. dazu etwa Rieß/Hilger Das Rechtspflegerecht des Einigungsvertrages, 1991, Teil Β Rn. 122 sowie zu den Konzentrationsvorschriften des Einigungsvertrages insgesamt ebd. Rn. 132 ff. 44 Die Regelung steht im Zusammenhang mit der bei der Einführung des 2. Rechtszugs in Staatsschutzstrafsachen 1969 verwirklichten Übertragung der Zuständigkeit auf die Oberlandesgerichte und war mit der Erwartung des Gesetzgebers verbunden, dass hiervon in nicht unerheblichem Umfang Gebrauch gemacht werden würde. Tatsächlich sind solche Staatsverträge lediglich zwischen Hamburg und Bremen sowie zwischen Rheinland-Pfalz und dem Saarland getroffen worden.
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Bildung gemeinsamer Gerichte45 oder die Ausdehnung von Gerichtsbezirken über die Landesgrenzen, auch für einzelne Sachgebiete.46 Ähnliche Regelungen sind vielfach in Spezialgesetzen enthalten, namentlich in solchen, die Verfahren betreffen, in denen der Geschäftsanfall gering ist oder die besondere Spezialkenntnisse erfordern.47 Ob und wieweit die Länder unabhängig von solchen bundesrechtlichen Ermächtigungen gemeinsame und länderübergreifende Zuständigkeiten vereinbaren können, wird wenig erörtert und kann auch an dieser Stelle nicht näher untersucht werden. Hinzuweisen ist zunächst darauf, dass in der Rechtspraxis von 1879 bis zur Abschaffung der Länder 1935 die damaligen Länder Hamburg, Bremen und Lübeck durch eine staatsvertragliche Vereinbarung ohne eine spezielle reichsrechtliche Rechtsgrundlage48 mit dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg ein gemeinsames Oberlandesgericht gebildet hatten.49 Man wird aus den vielfachen Einzelermächtigungen auch heute keinen Umkehrschluss herleiten können, sondern in ihnen den Ausdruck eines allgemeinen, mit ihrer Justizhoheit verbundenen Rechtsgedankens sehen müssen, der den Ländern staatsvertragliche Regelungen zur Bildung gemeinsamer Gerichte (und Gerichtsbezirke) ermöglicht.50 Die Praxis dürfte in Grenzgebieten zwischen den Ländern bei der Erstreckung von Gerichtsbezirken teilweise so verfahren, und wo die Grenzen solcher Gemeinschaftlichkeiten liegen, bedarf schon deshalb keiner näheren Erörterung, weil angesichts der unverändert geringen Neigung, von den vorhandenen Ermächtigungen hierzu Gebrauch zu machen, die Bereit45 Ein gemeinsames Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und SchleswigHolstein existierte (in Lüneburg) bis 1991. In neuerer Zeit haben (2001) Niedersachen und Bremen ein gemeinsames Landesozialgericht (in Celle mit Zweigstelle in Bremen) errichtet und Berlin und Brandenburg in allen besonderen Gerichtsbarkeiten gemeinsame Obergerichte gebildet, nämlich seit 2005 das gemeinsame Oberverwaltungsgericht in Berlin und das gemeinsame Finanzgericht in Cottbus, ab 2007 das gemeinsame Landessozialgericht in Potsdam und das gemeinsame Landearbeitsgericht in Berlin. 46 § 3 Abs. 2 VwGO, § 3 Abs. 2 FGO, § 14 Abs. 2 ArbGG sowie § 7 Abs. 2, § 28 SGG. 47 S. etwa (nur beispielhaft) § 89 Abs. 2, 92 Abs. 2 GWB (für Kartellsachen), § 2 Abs. 4 SchRVO (Fn. 14); § 4 Abs. 3 BSchVerfG. 48 Immerhin ließe sich bei einer rein historischen Betrachtung und ohne damit eine reichsrechtliche Rechtsgrundlage zu beanspruchen, Art. 12 Abs. 3 der Deutschen Bundesakte von 1815 anführen, nach dem den „vier freien Städten" (damals noch mit Frankfurt) das Recht zustand, „sich untereinander über die Errichtung eines gemeinsamen obersten Gerichts zu vereinigen.", was zur bis 1879 wirksamen Errichtung des gemeinsamen Oberappellationsgerichts in Lübeck führte. 49 S. dazu mwN Albers Das Hanseatische Oberlandesgericht, in: Recht und Juristen in Hamburg, Bd. 1, 1994, S. 103, 105 f. 50 Ebenso (jeweils nur knapp) LR-Siolek (Fn. 19) § 58 GVG Rn. 5; Katholnigg (Fn. 18) § 58 Rn. 3; KK-Hannich, StPO, 5. Aufl., 2003, § 58 GVG Rn. 1 a. E; abweichend Kissel/Mayer (Fn. 1) Einl. Rn. 23; § 12 Rn. 5 (nur, soweit bundesrechtlich vorgesehen).
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schaft der Länder(parlamente), auf nennenswerte Teile ihrer Justizhoheit zu verzichten, wenig ausgeprägt sein dürfte.
V. Bundesrechtliche Konzentrationen Der Bundesgesetzgeber nutzt unterschiedliche Möglichkeiten, um sicherzustellen, dass Aufgaben, bei denen eine Konzentration notwendig oder wünschenswert ist, nicht von allen an sich zuständigen Gerichten erledigt, sondern bei bestimmten zusammengefasst werden, oder mit denen erreicht werden kann, dass solche Geschäftsaufgaben innerhalb eines Gerichtes nicht auf eine Vielzahl von Spruchkörpern verteilt wird. Eine solche Konzentration findet sich im Bereich der Strafgerichtsbarkeit fur die sog. Staatsschutzstrafsachen nach den §§ 74a, 120 GVG. Für die in § 74a GVG aufgeführten und dem Landgericht im ersten Rechtszug zugewiesenen Sachen51 ist für den Bezirk des gesamten Oberlandesgerichts allein das Landgericht zuständig, in dessen Bezirk das Oberlandesgericht seinen Sitz hat; im Ergebnis reduziert sich damit die Zahl der 116 Landgerichte auf 24.52 Für die nach § 120 GVG als erstinstanzliche Strafsachen den Oberlandesgerichten zugewiesenen Verfahren ist auch in Ländern, in denen mehrere Oberlandesgerichte bestehen,53 nur das Oberlandesgericht zuständig, in dessen Bezirk die Landesregierung ihren Sitz hat, dies wird durch die ausdrückliche Ermächtigung ergänzt, eine länderübergreifende staatsvertragliche Konzentration vorzunehmen.54 Eine entsprechende Regelung besteht für die gerichtliche Entscheidung über Maßnahmen bei der in den §§ 31 ff. EGGVG geregelten Kontaktsperre.55 Durch Regelungen in den jeweiligen Verfahrensgesetzen kann die Zuständigkeit für die Wahrnehmung amtsgerichtlicher Aufgaben auf bestimmte Amtsgerichte konzentriert werden. Dies geschieht etwa durch § 162 Abs. 1 Satz 2 StPO, nach dessen derzeit noch geltender Fassung die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters auf das Amtsgericht konzentriert ist, in dessen 51
Einschließlich der Beschwerdezuständigkeit (§ 74a Abs. 3 GVG).
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Verstärkt wird dieser Konzentrationseffekt dadurch, dass diese Zuständigkeit auch die der Amtsgerichte verdrängt, wie sich aus § 24 Abs. 1 Nr. 1 GVG ergibt, und dass diese Zuständigkeit der der Jugendgerichte (§ 103 Abs. 2 S. 2 JGG) vorgeht. 53 Also in Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. 54 S. oben bei Fn. 43. Insgesamt reduziert sich damit gegenwärtig die Zahl der zuständigen Oberlandesgerichte von 24 auf 14. 55 § 35 S. 2, § 37 Abs. 1 EGGVG. Die Verweisung auf § 25 Abs. 2 EGGVG in beiden Vorschriften dürfte sich allein auf die derzeit obsolet gewordene (s. Fn. 30) Möglichkeit beziehen, ein Oberstes Landesgericht für zuständig zu erklären, nicht aber auf die Möglichkeit, ein anderes Oberlandesgericht zu bezeichnen; vgl. auch LR-Böttcher (Fn. 1) § 35 EGGVG Rn. 4.
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Bezirk die Staatsanwaltschaft ihren Sitz hat, wenn diese mehrere richterliche Anordnungen für erforderlich hält.56 Für das Insolvenzverfahren ist grundsätzlich allein das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk das Landgericht seinen Sitz hat,57 ähnliche Regelungen gibt es etwa für Straf- und Bußgeldverfahren im Steuerstrafrecht, im Außenwirtschaftsrecht und Marktordnungsrecht.58 Eine mittelbare Konzentrationswirkung auf der Ebene des jeweiligen Gerichts entfalten diejenigen Regelungen, die die Bildung von Spezialspruchkörpern gesetzlich vorschreiben, denn sie hindern die Präsidien bei der Geschäftsverteilung daran, diese Aufgaben gemeinsam mit anderen Aufgaben auf eine Mehrzahl von Spruchkörpern zu verteilen.59 Das gilt in Zivilsachen für die Familiensachen i. S. des § 23b GVG, bei denen die Rechtsmittelzuweisung an die Oberlandesgerichte anstelle der nach der allgemeinen Systematik zuständigen Landgerichte eine weitere Konzentration auch in der Rechtsmittelinstanz bewirkt; sowie in Strafsachen für die Schwurgerichtskammer (§ 74 Abs. 2 GVG), die - ohnehin nur bei wenigen Landgerichten zu bildende - Staatsschutz-Strafkammer und die Wirtschaftsstrafkammer. Eher Appellcharakter haben in diesem Zusammenhang Regelungen, die eine solche Konzentration lediglich als „Sollvorschrift" empfehlen. 60
VI. Dekonzentrationsmöglichkeiten Im Grundsatz dürften die gerichtsverfassungsrechtlichen Vorschriften davon ausgehen, dass der durch das Landesrecht gebildete Gerichtsbezirk ein einheitlicher ist und dass die Gerichtsaufgaben von einem einheitlichen Gerichtssitz aus wahrgenommen werden.61 Doch gilt dies nicht uneingeschränkt, und es besteht die Möglichkeit, einzelne Teile eines Gerichtsbe56
Aktuelle Änderungspläne, die von einer breiten Zustimmung getragen werden, haben zum Ziel, diese Konzentration zu generalisieren; s. etwa die in Art. 1 Nr. 2 des Gesetzentwurfs des Bundesrates für ein Gesetz zur Effektivierung des Strafverfahrens (BR-Drucks. 660/06) vorgeschlagene Neufassung. 57 § 3 Abs. 1 InsO mit einer Ermächtigung zur Dekonzentration in Abs. 2 58 S. § 391 Abs. 1 Satz 1 AO; § 38 AWG; § 38 Abs. 1 MOG. 59 Dazu mwN, auch zur Rspr., etwa LR-Siolek (Fn. 19) § 74 GVG Rn. 10; Kissel/Mayer (Fn. 1) § 74 Rn. 12 ff. 60 So etwa § 391 Abs. 3 AO, wonach Strafsachen wegen Steuerstraftaten beim Amtsgericht einer bestimmten Abteilung zugewiesen werden sollen. Das ist lediglich eine Empfehlung an die für die Geschäftsverteilung zuständigen Präsidien, von denen diese aus Sachgründen abweichen können. 61 Was selbstverständlich nicht ausschließt, dass dies von mehreren Gerichtsgebäuden aus geschieht, die keine Zweigstellen im technischen Sinne sind.
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zirks in gewisser Weise zu „verselbständigen". Das ist bundesrechtlich nur teilweise geregelt und im übrigen Ausfluss der Justizhoheit und Organisationsgewalt der Länder.62 Dabei sind verschiedene Fallgruppen zu unterscheiden. Bei den Amtsgerichten obliegt die Bildung von Zweigstellen, denen für einen räumlich abgegrenzten Bereich alle Gerichtsaufgaben oder ein Teil davon übertragen werden, der Gesetzgebung der Länder; das GVG enthielt hierüber bisher keine Aussagen.63 Solche Zweigstellen spielen in der Praxis der Flächenstaaten eine nicht unbedeutende Rolle.64 Die gerichtsverfassungsrechtlichen Vorschriften für die besonderen Gerichtsbarkeiten enthalten dagegen spezielle Ermächtigungen fur die Bildung von Zweigstellen; VwGO, FGO und ArbGG stellen die Errichtung „einzelner Kammern oder Senate an anderen Orten" unter (landesrechtlichen) Gesetzgebungsvorbehalt,65 während das SGG für die Errichtung von Zweigstellen eine Rechtsverordnungsermächtigung an die Landesregierung enthält.66 In der ordentlichen Gerichtsbarkeit enthält der neue § 13a GVG die generelle Ermächtigung, auswärtige Spruchkörper zu bilden, was eine landesgesetzliche Regelung erfordert. Dies gilt nunmehr für die Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte und für alle Zuständigkeiten67. Weiterhin im Verordnungswege gestattet beim Landgericht in Strafsachen § 78 Abs. 1 die Bildung von auswärtigen Strafkammern für die Bezirke eines oder mehrerer Amtsgerichte „wegen großer Entfernung zu dem Sitz des Landgerichts". Ausgenommen sind die Zuständigkeiten als Spezialstrafkammer nach § 74 Abs. 2 (Schwurgerichtskammer)68, nach § 74a (Staats-
62
Für die ordentliche Gerichtsbarkeit dürften beim gegenwärtigen viergliedrigen Aufbau diese Fragen von eher geringer Bedeutung sein. Bei einem Übergang zu einem dreigliedrigen Aufbau könnten sie zu einem wichtigen Gestaltungsmittel zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen und effektiven Rechtspflege werden. 63 Dazu und zu den Grenzen und Zweifelsfragen ausführlich Kissel/Mayer (Fn, 1) § 22 Rn. 2; ferner LR-Siolek (Fn. 19) § 22 GVG Rn. 2. Nachweis der landesrechtlichen Vorschriften über die Einrichtung von Zweigstellen bei Katholnigg (Fn. 18) § 22 Fn. 3. Wieweit der neue § 13a GVG (bei Fn. 12) sich auch hierauf bezieht, ist nicht ganz unzweifelhaft. 64 Namentlich dort, wo die Zahl der Amtsgerichte in den letzten Jahrzehnten reduziert worden ist, sind vielfach - teilweise zeitlich begrenzt - die aufgelösten Amtsgerichte als Zweigstellen aufrechterhalten worden. 65 § 3 Abs. 1 Nr. 5 VwGO und FGO, § 14 Abs. 1 Nr. 5 ArbGG. 66 § 7 Abs. 2 S. 4 SGG, und zwar ohne Konkretisierung weiterer Voraussetzungen, was unter dem Aspekt des Art. 80 GG nicht ganz unproblematisch erscheint. 67 Man wird allerdings annehmen müssen, dass dies dort eine Grenze findet, wo die bundesrechtliche Regelung die Dekonzentration durch Rechtsverordnung ausschließt (s. unten bei Fn. 68, 69) und weiter, dass § 98 Abs. 2, 3 auch für den Fall gilt, dass der Landesgesetzgeber auswärtige Strafkammern auf der Grundlage des § 13a GVG bildet. 68 So ausdrücklich 78 Abs. 1 Satz 2 GVG.
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schutzstrafkammer) sowie nach § 74c (Wirtschaftsstrafkammer) 69 . Die Bildung auswärtiger Zivilkammern ist auf diese Weise nicht möglich.70 Beim Oberlandesgericht gestattet § 116 Abs. 2 GVG den Ländern die Bildung auswärtiger, für einzelne Landgerichtsbezirke zuständiger Zivil- und Strafsenate, sog. detachierter Senate, ohne konkretere Voraussetzungen.71 Die für den Bundesgerichtshof nach § 130 Abs. 2 GVG bestehende Möglichkeit, für einzelne Senate den Dienstsitz außerhalb des Sitzes des Bundsgerichtshofs zu bestimmen, dürfte sich nicht als Dekonzentrationsregelung im engeren Sinne interpretieren lassen.72 Soweit schließlich das Bundesrecht eine Konzentration amtsgerichtlicher Aufgaben bei einem Amtsgericht vorschreibt, enthält es teilweise an die Länder gerichtete Rechtsverordnungsermächtigungen zur Dekonzentrati-
VII. Zusammenfassung •
Der vorstehende, knappe und unvollständige Überblick macht deutlich: Die auf den ersten Blick scheinbar klare Zuständigkeitsverteilung, wie sie sich in den Regelungen des GVG und den Vorschriften für die besonderen Gerichtsbarkeiten darstellt, ist durch ein kompliziertes und schwer durchschaubares System von Zuständigkeitskonzentrationen und -dekorizentrationen überlagert. Dieses ist durch das Zusammenspiel zwischen der bundesrechtlichen Gesetzgebungskompetenz für das Gerichtsverfassungsrecht und der sich aus der Justizhoheit der Länder ergebenden Organisationsgewalt für die konkrete Einrichtung der Gerichtsbarkeiten gekennzeichnet.
69 So die ganz h. M. aus systematischen Gründen, s. Kissel/Mayer (Fn. 1) § 78 Rn. 5; LRSiolek (Fn. 19) § 78 GVG Rn. 4; Kalholnigg (Fn. 18) § 78 Rn. 2; aA für § 74c GVG MeyerGoßner StPO, 49. Aufl., 2006, § 78 GVG Rn. 3. 70 Anders lediglich § 93 GVG fur die Kammern für Handelssachen. Anwendbar allerdings jetzt der neue § 13a GVG. 71 Nach der Neufassung durch das Rechtsbereinigungsgesetz (Fn. 12) ist hierfür eine Rechtsverordnung erforderlich, was bereits bisher allgemein angenommen wurde; Bedenken wegen Art. 80 GG bei Katholnigg (Fn. 18) § 116 Rn. 2, der als Voraussetzung das Merkmal der „sachdienlichen Förderung" oder der großen Entfernung postuliert. 72 Von ihr ist bisher lediglich in Bezug auf einen Strafsenat aus eher politischen Gründen Gebrauch gemacht worden; Bedenken insgesamt etwa bei LR-Franke 25. Aufl., 2001, § 130 GVG Rn. 3. 73 So beispielsweise § 3 Abs. 2 InsO (Bestimmung zusätzlicher Amtsgerichte, wenn zur sachdienlichen Förderung und schnelleren Erledigung erforderlich); s. auch § 38 Abs. 1 Satz 2 AWG; § 391 Abs. 2 Satz 1 AO.
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Seine Entstehung ist uneinheitlich; für die Ausgestaltung im Einzelnen sind nicht selten besondere Bedürfhisse spezieller Verfahrenstypen Anlass gewesen. Eine einheitliche Konzeption ist nur ansatzweise erkennbar; die soeben realisierte Einfügung des neuen § 13a GVG hat hieran nichts geändert. Die dogmatische Durchdringung des Phänomens in seiner Gesamtheit erscheint defizitär. Bundesrechtliche Konzentrationsermächtigungen und Ermächtigungen zu einer Dekonzentration bezwecken und ermöglichen den Ländern innerhalb des grundsätzlich vorgegebenen Gerichtsaufbaus und seiner Zuständigkeitsverteilung, eine sachgerechte Anpassung an die konkreten gerichtsorganisatorischen Bedürfnisse vorzunehmen. Dem können auch länderübergreifende Zuständigkeitskonzentrationen dienen, zu denen das Bundesrecht teilweise mindestens „ermuntert". Dem Bundesgesetzgeber steht ein breites Spektrum von Möglichkeiten zur Verfügung, die Konzentration von Aufgaben bei bestimmten Gerichten oder mindestens ihre Zuweisung zu speziellen Spruchkörpern zu erreichen. Das kann auch auf Kosten der Organisationshoheit der Länder geschehen. Zuständigkeitskonzentrationen tragen dem unterschiedlichen Charakter, der unterschiedlichen Häufigkeit und den Bedürfnissen der verschiedenen Geschäftsaufgaben Rechnung, die mit einem erheblichen Maß an Abstraktheit auf die verschiedenen Gerichte verteilt werden müssen. Sie sind damit ein wichtiges und unverzichtbares Instrument zu Gewährleistung einer effektiven Rechtspflege.
Großer Lauschangriff und Kernbereich privater Lebensgestaltung CLAUS ROXIN
I.
Der „große Lauschangriff' (die akustische Wohnraumüberwachung)1 gehört zu den rechtspolitisch umstrittensten Themen des letzten Jahrzehnts. Bekanntlich hatte der Gesetzgeber, um diesen Eingriff in die „Unverletzlichkeit der Wohnung" (Art. 13 GG) zu ermöglichen, nach langwierigen politischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Auseinandersetzungen durch ein Gesetz vom 26. März 1998 das Grundgesetz entsprechend geändert (Art. 13 III GG) und bald darauf durch ein Gesetz vom 4. Mai 1998 den großen Lauschangriff in die Strafprozessordnung eingeführt (§ 100 c I Nr. 3).2 Das BVerfG hat jedoch durch ein Urteil vom 3. März 2004 3 zwar nicht die Grundgesetzänderung, wohl aber die Neuregelung der StPO für teilweise verfassungswidrig erklärt. Es hat außer einer wesentlichen Reduzierung der den Lauschangriff zulassenden Verdachtstatbestände vor allem verlangt, dass die gesetzliche Regelung „die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung"4 enthalten müsse. Dieser „Kernbereich" sei einer Abwägung mit dem Strafverfolgungsinteresse nicht zugänglich.5
1
Der Terminus „großer Lauschangriff' stammt aus dem Sprachgebrauch der Nachrichtendienste. Der von Gesetzgebung und Rechtsprechung lieber verwendete Begriff der „akustischen Wohnraumüberwachung" klingt sachlicher, ist aber gleichwohl ungenauer. Denn, wie Welp richtig sagt (in: Zwiehoff,}{rsg., Großer Lauschangriff, 2000, im Aufsatz „Vertrauen und Kontrolle", 281, Fn. 1): „Überwacht werden nicht Wohnungen, sondern Menschen in Wohnungen mit dem Ziel, ihre Äußerungen zu belauschen und aufzuzeichnen." Im Folgenden werden beide Ausdrücke gleichbedeutend gebraucht. 2 In dem in Fn. 1 genannten, von Zw/eAo^f herausgegebenen Buch ist die Presseberichterstattung der Jahre 1997/98 zur Entstehung beider Gesetze umfassend dokumentiert. 3 BVerfGE 109, 279-391. 4 Leitsatz 2 des Urteils. 5 Das Verfahren vor dem BVerfG wird umfassend dargestellt in dem von Vormbaum (unter Mitarbeit von Asholt) herausgegebenen Buch „Der große Lauschangriff vor dem Bundesverfassungsgericht. Verfahren, Nachspiel und Presse-Echo", 2005.
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Claus Roxin
Nach einer wiederum lebhaften wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion6 hat der Gesetzgeber dann in einem zweiten Anlauf in einem „Gesetz über die akustische Wohnraumüberwachung" vom 24. Mai 2005 in den heutigen §§ 100 c - 100 e StPO eine umfassende Regelung des großen Lauschangriffs geschaffen, die den Vorgaben des Verfassungsgerichts gerecht zu werden versucht.7 In einem Urteil vom 10. August 2005 hat der BGH (BGHSt 50, 206 ff., 1. Senat) auf der Basis der neuen Gesetzeslage und unter Verarbeitung von BVerfGE 109, 279 ff. ein in einem Krankenzimmer durch akustische Überwachung aufgezeichnetes Selbstgespräch des Angeklagten, das Indizien für seine Täterschaft an einem Mord hätte liefern können, für unverwertbar erklärt. Die Aufzeichnung habe in den „durch Art. 13 I GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Kernbereich" privater Lebensgestaltung eingegriffen.
II. Soweit Entwicklung und Sachstand in Gesetzgebung und Rechtsprechung, die hier in größtmöglicher Verknappung wiedergegeben sind. Ich will mich im Folgenden - bilanzierend und Stellung nehmend - nicht allen Aspekten des Lauschangriffs, sondern der Kernbereichsproblematik zuwenden, die durch die jüngste Rechtsprechung und Gesetzgebung ganz neue Dimensionen gewonnen hat. Dabei sollen das verfassungsgerichtliche Urteil und seine legislatorische Umsetzung (§ 100 c IV - VI StPO) wegen ihrer Untrennbarkeit gemeinsam behandelt werden. Ich beziehe das Selbstgesprächsurteil des BGH ein, weil es auf den geschaffenen Fundamenten eigenständig weiterbaut. Das Urteil BVerfGE 109, 279 f f , wird von Wissenschaftlern8 und Politikern9 allgemein den „großen", richtungweisenden Entscheidungen des 6 Es gibt zwei Bände mit Tagungsbeiträgen: Roggan (Hrsg.) Lauschen im Rechtsstaat. Zu den Konsequenzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff, 2004; Schaar (Hrsg.) Folgerungen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung, 2005. Dazu kommen zahlreiche Aufsätze, von denen viele in den Fußnoten der nachfolgenden Darstellung erwähnt werden. 7 Das Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts soll ebenfalls in Buchform dokumentiert werden, wie dem Vorwort (S. VI) des in Fn. 5 genannten Buches zu entnehmen ist. 8 Denninger Der „große Lauschangriff' auf dem Prüfstand der Verfassung, ZRP 2004, 101; Lepsius Der große Lauschangriff vor dem Bundesverfassungsgericht, Teil II, Jura 2005, 590. 9 Wiefelspütz (SPD) bei Schaar (Hrsg.), wie Fn. 6, 62 („überragend wichtiges Urteil"); St. Mayer (CDU) bei Schaar (Hrsg.), wie Fn. 6, 64 („von großer, herausragender Bedeutung"); Funke (FDP) bei Schaar (Hrsg.), wie Fn. 6, 68 („in diesem wirklich grundlegenden Urteil").
Großer Lauschangriff und Kernbereich privater Lebensgestaltung
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Gerichts zugerechnet. Dem ist unbeschadet der noch zu erörternden kritischen Einwände zuzustimmen, und zwar aus mehreren Gründen. 1. Zwar hat der Gedanke eines aus der Menschenwürde abzuleitenden absoluten Schutzes des Kernbereichs persönlicher Entfaltung in der Geschichte unserer verfassungsrechtlichen Rechtsprechung eine lange Tradition. 10 Aber es ist das erste Mal, dass das Gericht einen unzulässigen Eingriff in den Kernbereich privater Lebensgestaltung tatsächlich festgestellt hat." Zum ersten Mal auch hat im Gefolge des Urteils dieser Gedanke in die deutsche Gesetzgebung unmittelbar Eingang gefunden. Nach § 100 c IV, 1 StPO darf eine akustische Wohnraumüberwachung nur angeordnet werden, wenn „anzunehmen ist, dass durch die Überwachung Äußerungen, die dem Kern privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, nicht erfasst werden". Die ausdrückliche Statuierung einer solchen „negativen Kernbereichsprognose" 12 als Voraussetzung für die Zulässigkeit staatlicher Eingriffe ist ein kühner Schritt von der Theorie in die Praxis, der weitreichende Folgen haben kann. 2. Das Gericht geht außerdem bei der Konkretisierung des Begriffs der Menschenwürde einen wichtigen Schritt über die bisherige Rechtsprechung hinaus, indem es die Menschenwürde nicht nur dort verletzt sieht, wo jemand durch Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung oder Ächtung zum „Objekt" gemacht wird. Es sieht, dass „der Leistungskraft der Objektformel auch Grenzen gesetzt" sind. Der Mensch sei nicht selten „Objekt ... auch des Rechts, dem er sich zu fugen hat". Darin liege noch kein Verstoß gegen die Menschenwürde, so lange die Subjektqualität des Betroffenen nicht grundsätzlich in Frage gestellt werde. 13 Es gelangt dann in geradezu klassischen Formulierungen zu einer „positiven" Bestimmung der Menschenwürde, 14 wie sie in Art. 13 I GG konkretisiert sei. 15 Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung gehöre „die Möglichkeit, innere Vorgänge sowie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse
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Vgl. dazu nur mwN Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 24, Rn. 41 ff. Denninger wie Fn. 8, 101; Lindemann Der Schutz des „Kernbereichs privater Lebensgestaltung" im Strafverfahrensrecht, JR 2006, 192. 12 Löffelmann Die Neuregelung der akustischen Wohnraumüberwachung, NJTW 2005, 2033. 13 BVerfGE 109, 312 f. Zum Beschuldigten als „Objekt staatlichen Zwanges" vgl. schon Roxin wie Fn. 10, § 18, Rn. 10/11. 14 Gusy Lauschangriff und Grundgesetz, JuS 2004, 458, spricht von einer „positiven Schutzbereichsbestimmung", die von einem „rollen- bzw. kommunikationstheoretischen Ansatz" ausgehe. 15 BVerfGE 109, 313 f. 11
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höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen ... ohne Angst, dass staatliche Stellen dies überwachen". Dazu brauche er die „Privatwohnung, die für andere verschlossen werden kann". Sie sei als „letztes Refugium" ein „Mittel zur Wahrung der Menschenwürde. Dies verlangt zwar nicht einen absoluten Schutz der Räume der Privatwohnung, wohl aber absoluten Schutz des Verhaltens in diesen Räumen, soweit es sich als individuelle Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung darstellt." Mit Recht sieht die Literatur darin eine „neue Linie, welche den Normgehalt des Art. I, 1 GG sachbereichsspezifisch konkretisiert" 16 . Nicht nur wird der „Kernbereich" weitaus präziser bestimmt als in früheren Entscheidungen. 17 Man kann das Urteil auch lesen „als definitive Absage an aktuelle Versuche der Aufweichung des absoluten Schutzes der Menschenwürde". In diesem Lichte geht die Bedeutung des Urteils weit über den Bereich des Lauschangriffs hinaus. 18 3. Eine besonders weittragende Wirkung des Urteils ergibt sich auch daraus, dass der Kernbereichsschutz nicht auf die Strafverfolgung beschränkt werden kann. 19 Denn wenn dieser Schutz aus der Menschenwürde abgeleitet wird, muss er natürlich für alle Bereiche staatlichen Handelns gelten. Das Urteil zwingt dazu, „das gesamte Recht heimlicher staatlicher Überwachungsmaßnahmen zu evaluieren" 20 . Es sind also zunächst einmal alle polizeilichen Präventivmaßnahmen dem Kernbereichsschutz zu unterwerfen. 21 Ebenso muss aber die Überwachung der Telekommunikation im Hinblick auf den Kernbereichsschutz neu durchdacht werden; 22 es „ist auch für Eingriffe in Art. 10 GG die Schaffung entsprechender kernbereichsschützender Bestimmungen vor dem Hintergrund der neuen Rechtsprechung des BVerfG unabweisbar". Das Thema kann in diesem strafprozessrechtlichen
16
Lepsius wie Fn. 8, Teil I, 437. Hier und im Folgenden Kutscha Verfassungsrechtlicher Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung - nichts Neues aus Karlsruhe?, NJW 2005, 20/21. 18 Und hat z.B. Bedeutung auch fur die Diskussion über die „Rettungsfolter", wie Kutscha ebenfalls betont (aaO, 21, Fn. 16). Zur Rettungsfolter mit umfassenden Nachweisen Roxin Kann staatliche Folter in Ausnahmefallen zulässig oder wenigstens straflos sein?, in: Eser-FS, 2005,461 fT.; ders. Rettungsfolter?, in: Nehm-FS, 2006, 205 ff. 19 Abw. nur Haas Der „Große Lauschangriff' - klein geschrieben, NJW 2004, 3084: Den Ausführungen des Gerichts sei zu entnehmen, dass sie „nur Geltung für repressive Strafverfolgungsmaßnahmen beanspruchen". Dagegen Kutscha wie Fn. 17, 20 ff. 20 Baldus Überwachungsrecht unter Novellierungsdruck, bei Schaar wie Fn. 6, 27; auch Kutscha wie Fn. 17, 22. 21 Hufen Der Menschenwürdegehalt der Wohnungsfreiheit, bei Schaar wie Fn. 6, 29. 22 Die bisher gründlichste Untersuchung der „Auswirkungen des Lauschangriffsurteils außerhalb der strafprozessualen Wohnungsüberwachung" liefert Gusy bei Schaar wie Fn. 6, 35 ff. 17
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Beitrag nicht weiter verfolgt werden. Es sei nur gesagt, dass eine unmittelbare Übertragung der für den Strafprozess geltenden Regeln auf andere Rechtsgebiete und die dort geltenden Eingriffsrechte nicht in Betracht kommt, sondern dass eine jeweils unterschiedliche, bereichsspezifische Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben erarbeitet werden muss.23 Aus dem Bereich des Strafprozessrechts verdient aber immerhin noch der Umstand Erwähnung, dass der nunmehr so verhältnismäßig präzise ausgestaltete Kernbereichsschutz auch außerhalb von Überwachungsmaßnahmen Bedeutung gewinnt. Das gilt besonders für die berühmte „Tagebuchentscheidung" (BGHSt 34, 397; BVerfGE 80, 36724). Wenn es im Lauschangriffs-Urteil heißt:25 „Aufzeichnungen oder Äußerungen im Zwiegespräch, die ... ausschließlich innere Eindrücke und Gefühle wiedergeben und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten, gewinnen nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug, dass sie Ursachen oder Beweggründe eines strafbaren Verhaltens freizulegen vermögen", so lässt das den Schluss zu, dass das Gericht im Lichte seiner neuen Erkenntnisse heute wohl die innere Auseinandersetzung des Beschuldigten mit seiner Neigung zur Begehung einer (im Tagebuch nicht konkretisierten) Gewalttat dem Kernbereich der privaten Lebensgestaltung zugeordnet und die Verwertbarkeit des Tagebuchs verneint hätte.26 Das Lauschangriffsurteil geht also auch in diesem Punkt beim Schutz der Menschenwürde über die bisherige Rechtsprechung hinaus. 4. Neue Wege beschreitet das verfassungsrechtliche Urteil auch darin, dass es das bei Kembereichsverstößen eintretende Beweisverwertungsverbot mit „Fernwirkung" ausstattet. Das geschieht zwar ohne Benutzung dieses Begriffs und in etwas verklausulierter Form, aber doch deutlich genug. Es sei - bei Kernbereichsverstößen - „zu sichern, dass die durch den Eingriff erlangten Erkenntnisse keinerlei Verwendung im weiteren Ermittlungsverfahren oder auch in anderen Zusammenhängen finden ... Das gilt nicht nur im Hinblick auf ihre Verwendung als Beweismittel im Hauptsacheverfahren, sondern auch soweit sie als Spurenansätze für Ermittlungen in weiteren Zusammenhängen in Betracht kommen."27 Und bald darauf:28 „Daten aus Handlungen, die den unantastbaren Bereich privater Lebensges23
Auch dazu Gusy wie Fn. 22. Näher dazu Roxin wie Fn. 10, § 24, Rn. 41 f. 25 BVerfGE 109,319. 26 Ebenso Leutheusser-Schnarrenberger Rechtsstaat und großer Lauschangriff, bei Roggan wie Fn. 6, 108; Lindemann wie Fn. 11, 194. 27 BVerfGE 109, 331. 28 BVErfGE 109, 332. 24
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taltung betreffen, unterliegen von Verfassungs wegen einem absoluten Verwertungsverbot und dürfen weder im Hauptsacheverfahren verwertet werden noch Anknüpfungspunkt weiterer Ermittlungen sein." Da bisher eine Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten von der Rechtsprechung grundsätzlich nicht und nur einmal vom BGH bei Verstößen gegen das G 10 anerkannt worden ist,29 kann man hier mit Bergemann30 einen „wesentlichen Einschnitt im deutschen Strafprozessrecht" sehen. Denn da zahlreiche Verfahrensverstöße, die zu Beweisverwertungsverboten führen, letztlich bereichsspezifische Auswirkungen der Menschenwürde betreffen - man denke nur an § 136 a StPO! - , könnte die Entscheidung des BVerfG den Anstoß zu einer viel weitergehenden Anerkennung der Fernwirkung von Verwertungsverboten geben, wie sie in der Wissenschaft immer schon von zahlreichen Autoren gefordert worden war. 5. Schließlich wird man dem Urteil auch deshalb besondere Bedeutung zusprechen müssen, weil es dem politischen Trend der Gegenwart, der durch immer mehr Überwachung, Freiheitseinschränkung und Strafe Sicherheit auf Kosten von Freiheit gewährleisten will, durch eine Verstärkung des Grundrechtsschutzes mutig entgegentritt. Das wird auch auf die künftige Gesetzgebung hoffentlich nicht ohne Einfluss bleiben. „In der Rechtspolitik wird man den Grundrechten eine höhere Beachtung schenken müssen, als es in den letzten Jahren unter dem Eindruck allgemeiner Sicherheitsinteressen geschehen ist."31
III. Das verfassungsgerichtliche Urteil hat aber auch eine Kehrseite, und so viel Lob es einerseits verdient, so viel - zum guten Teil berechtigte - Kritik hat es auch erfahren. Der neuralgische Punkt der Urteilsbegründung, der durchgehend ablehnende Stellungnahmen provoziert hat, besteht darin, dass Äußerungen über konkret begangene Katalogstraftaten wegen „hinreichenden Sozialbezuges" kategorisch aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung ausgeschlossen werden, auch wenn sie in der eigenen Wohnung unter engsten Angehörigen (etwa gegenüber der Ehefrau oder den Eltern) 29
Näher dazu Roxin wie Fn. 10, § 24, Rn. 47. Bergemann Die Telekommunikationsüberwachung nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „großen Lauschangriff', bei Roggan wie Fn. 6, 81. 31 Lepsius wie Fn. 8, Teil 2, 590. 30
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gemacht werden. „Ein hinreichender Sozialbezug besteht ... bei Äußerungen, die sich unmittelbar auf eine konkrete Straftat beziehen." 32 Der Gesetzgeber ist dem gefolgt, indem er „Gespräche über begangene Straftaten" ausdrücklich nicht dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zurechnet (§ 100 c IV, 2, 3). Die dagegen erhobenen Einwände setzen verschieden an, aber sie treffen sich in demselben Punkt. Die größte Resonanz - und durchgehende Zustimmung - hat das Sondervotum der beiden Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt33 gefunden, die daran Anstoß nehmen, dass bei negativer Kernbereichsprognose sogar in Privatwohnungen erst einmal abgehört werden darf und dass, wie jetzt auch der Gesetzgeber sagt (§ 100 c V, 1), das Abhören und Aufzeichnen erst dann zu unterbrechen ist, wenn sich „während der Überwachung Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Äußerungen, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, erfasst werden". Daraus folgt, sagen die beiden Richterinnen mit Recht, dass „ein Eingriff in diesen Kernbereich zunächst hingenommen wird, was Art. 79 Abs. 3 GG gerade verhindern soll. Um des Schutzes der Möglichkeit freier persönlicher Entfaltung willen zur Wahrung der Menschenwürde ist deshalb" - nach Meinung der dissentierenden Senatsmitglieder - Jedenfalls für Privatwohnungen, in denen sich der Beschuldigte allein mit Familienmitgliedern oder mit ... engen Vertrauten aufhält, zu unterstellen, dass sie Raum bieten und genutzt werden für höchstpersönliche Kommunikation" 34 . Trotz der in vieler Hinsicht grundrechtsfreundlichen Tendenz des Urteils scheuen die beiden Richterinnen in diesem Punkt selbst vor herber Kritik am Verfassungsverständnis der Senatsmehrheit nicht zurück: 35 „Wenn aber selbst die persönliche Intimsphäre, manifestiert in den eigenen vier Wänden, kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicherheitsbedürfnis Halt zu machen hat, stellt sich auch verfassungsrechtlich die Frage, ob das Menschenbild, das eine solche Vorgehensweise erzeugt, noch einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie entspricht." Leutheusser-Schnarrenberger, die wegen der Einführung des großen Lauschangriffs im Jahre 1998 von ihrem Amt als Justizministerin zurückgetreten war, bezweifelt 36 - soweit ich sehe, als Einzige - , dass das verfassungsgerichtliche Urteil als „großes Urteil" gelten könne und beruft sich dafür auf das bekannte „Raumgesprächs-Urteil" des BGH aus dem Jahre
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BVerfGE 109,319. BVerfGE 109, 382-391. BVerfGE 109, 383/84. BVerfGE 109,391. Leutheusser-Schnarrenberger wie Fn. 26, 99.
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1983 (BGHSt 31, 296 ff.). Hier war ein Gespräch, das zwischen Eheleuten über Drogengeschäfte des Mannes in ihrem Hause geführt worden war, abgehört worden, weil vergessen worden war, den Hörer des zulässigerweise überwachten Telefons aufzulegen. Der BGH hatte einen Kernbereichsverstoß bejaht und eine Verwertung abgelehnt:37 „Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in den geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen ... Die Unterhaltung zwischen Ehegatten in der ehelichen Wohnung ist diesem unantastbaren Bereich zuzurechnen." Der BGH hatte damals sogar schon daran gedacht, dass, wenn man hier eine Verwertung zulassen wollte, dann auch der „Einsatz von typischen Abhörgeräten statthaft sein" müsste. „Damit würde aber kein Raum innerhalb des privatesten Lebensbereiches übrig bleiben, wo Ehepartner sicher sein könnten, dass ihre Gespräche nicht überwacht werden.... Dies würde eine schwere Beeinträchtigung der menschlichen Würde bedeuten." Der BGH hat damals also keineswegs „Gespräche über begangene Straftaten" aus dem Kernbereich schlechthin ausgeschlossen, und man kann nur bedauern, dass das Lauschangriffs-Urteil sich mit dieser Entscheidung nicht auseinandergesetzt hat. Das BGH-Urteil ist auch ein instruktiver Beleg dafür, dass Eingriffe in den privatesten Lebensraum, deren Zulässigkeit unsere höchstrichterliche Rechtsprechung noch 1983 für undenkbar hielt, von der Mehrheit unseres Verfassungsgerichts heute, wenn es um die Aufklärung schwerer Straftaten geht, ohne weiteres akzeptiert werden. Schließlich steht auch das neue „Selbstgesprächs-Urteil" des BGH (BGHSt 50, 206 ff.) im Hinblick auf die Frage, ob auch Äußerungen über eine begangene Straftat eventuell dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zugerechnet werden können, im Widerspruch zur LauschangriffsEntscheidung, obwohl der BGH dies bestreitet. In dem Fall, der seinem Urteil zugrunde liegt (vgl. schon oben I am Ende), hatte der Beschuldigte in dem elektronisch überwachten Zimmer einer Klinik, in der er sich aufhielt, die Äußerung getan:38 „In Kopf hätt i eam schießen sollen ..." Das Landgericht hatte dies bei seiner Verurteilung wegen Mordes zu Lasten des Angeklagten verwertet, weil sich daraus ergebe, dass dieser sich „mit einer alternativen Tötungsart... gedanklich befasst" habe. Nach Meinung des BGH 39 sprechen „Art und Inhalt der Äußerung des Angeklagten für den absolut geschützten Kernbereich". Und dies, obwohl die Äußerung einen Straftatbezug aufwies, nach der Entscheidung des BVerfG also nicht dem Kernbereich hätte zugerechnet werden dürfen! Der 37 38 39
BGHSt 31, 299 f. BGHSt 50,209, das nächste Zitat 208. BGHSt 50,212.
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BGH sieht das Problem,40 beruft sich aber auf die „Besonderheit", dass der Angeklagte ein Selbstgespräch geführt habe. Das Bundesverfassungsgericht stelle in seinem Urteil „bei der Frage eines ... Sozialbezuges primär auf Kommunikation mit anderen Personen ... ab". Nun ist es gewiss richtig, dass die akustische Wohnraumüberwachung „primär" Zwiegespräche betrifft. Doch bejaht das verfassungsgerichtliche Urteil seinem Wortlaut nach einen die Zuordnung zum Kernbereich ausschließenden „Sozialbezug" auch bei Selbstgesprächen über begangene Straftaten:41 „Ein Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in Wohnungen hat zur Vermeidung von Eingriffen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu unterbleiben, wenn sich jemand allein ... in der Wohnung aufhält... und es keine konkreten Anhaltspunkte gibt, dass die zu erwartenden Gespräche nach ihrem Inhalt einen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufweisen." Darauf hat schon Kok42 hingewiesen und gefolgert: „Dann aber gilt § 104 c IV, 3 StPO auch für das Selbstgespräch." Demgegenüber will der BGH 43 aus dem Wortlaut des § 100 c IV, 3, der zwischen „Gesprächen über begangene Straftaten und Äußerungen, mit denen Straftaten begangen werden", unterscheidet, im „Gegenschluss" ableiten, dass mit Gesprächen nur Zwiegespräche gemeint seien. Dieser Schluss ist aber wenig überzeugend, weil der Ausdruck „Äußerung" sich ausschließlich auf dadurch begangene Straftaten bezieht und nicht ohne weiteres auf Selbstgespräche über längst verübte Taten übertragen werden kann. Auch die vom BGH herangezogene Gesetzesbegründung44 beweist nicht, dass straftatbezogene Selbstgespräche nach der neuen Gesetzeslage allemal dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zugeschlagen werden sollen. Es heißt dort etwas dunkel: „Sofern man ... den Gedanken des Sozialbezugs entsprechender Äußerungen zugrunde legt..., werden in der Regel auch Äußerungen eines Beschuldigten, die dieser tätigt, wenn er sich alleine in der überwachten Wohnung aufhält ..., dem absolut geschützten Kernbereich unterfallen." Ob von dieser „Regel" aber nicht gerade dann eine Ausnahme gilt, wenn das Selbstgespräch begangene Straftaten offenlegt, bleibt ungeklärt. Zusammenfassend lässt sich jedenfalls sagen, dass sowohl das Sondervotum zum Lauschangriffs-Urteil als auch das wesentlich ältere Raumgesprächs-Urteil und das jüngere Selbstgesprächs-Urteil straftatbezogene
40
BGHSt 50,212. BVerfGE 109, 319 f. 42 Kolz Das Selbstgespräch im Krankenzimmer und der „Große Lauschangriff', NJW 2005, 3249. 43 BGHSt 50,214. 44 Bundestags-Drucksache 15,4533, 14. 41
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Äußerungen unter engen Vertrauten in der eigenen Wohnung keineswegs generell aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung ausschließen.
IV. Die diesen abweichenden Ansichten zugrunde liegenden Erwägungen sind zum guten Teil berechtigt. Das Lauschangriffs-Urteil will den vielberufenen „Kernbereich" absolut schützen, relativiert ihn aber durch die Art, wie es das tut, von vornherein in erheblichem Maße. Denn wenn, wie es jetzt auch § 100 c V, 1 ausspricht, die angeordnete Wohnraumüberwachung unverzüglich zu unterbrechen ist, wenn Äußerungen aus dem Kernbereich erfasst werden, ist in diesem Augenblick der „Kernbereich" bereits beeinträchtigt und die Menschenwürde des Betroffenen verletzt. Dieser zuerst in der schon zitierten „abweichenden Meinung" von Jaeger/HohmannDennhardt betonte Gesichtspunkt ist von zahlreichen späteren Beurteilern bekräftigt worden.45 Man könnte diesem nicht zu widerlegenden Befund entgegenhalten, dass dadurch der Kernbereichsschutz nur etwas eingeschränkt werde, aber doch großenteils erhalten bleibe. Denn das nach dem Abbruch der Überwachung Gesprochene bleibe unerfasst, und das Erfasste werde immerhin gelöscht und vergessen. Aber der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung wird nicht nur in dem schmalen Zeitraum bis zum Abbruch der Überwachung, sondern insofern vollständig betroffen, als der Bürger nun in keinem Augenblick mehr wissen kann, ob seine in der Privatwohnung in vertrautem Kreise getane Äußerungen nicht staatlicherseits abgehört werden. „Subjektiv ist die Freiheitsbedrohung größer, als sie sich objektiv darstellt."46 Das erzeugt ein Klima der Überwachungsfurcht, das die private Lebensgestaltung erheblich beeinträchtigen kann. Hinzu kommt, dass die vom BVerfG empfohlene und vom Gesetzgeber übernommene Regelung die Gefahr weiterer Persönlichkeitsbeeinträchtigungen nicht ausschließt. Schon die zur Anordnung der Wohnraumüberwachung nötige negative Kernbereichsprognose verlangt nach Meinung des BVerfG 47 „gegebenenfalls ... geeignete Vorermittlungen", die zwar „den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung unberührt lassen" sollen, die aber doch jedenfalls ein Ausspionieren dessen verlangen, was sich
45 Gusy wie Fn. 14, 459; Denninger wie Fn. 8, 102; Hufen bei Schaar wie Fn. 6, 32; Kutscha wie Fn. 17, 21; Lepsius wie Fn. 8, Teil I, 439; Lindemann wie Fn. 11, 198. 46 Lepsius wie Fn. 8, Teil I, 439, der darin einen besonders bedenklichen Effekt des großen Lauschangriffs sieht. 47 BVerfGE 109, 323.
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in der Privatwohnung vermutlich abspielen wird. Ob das ohne Kernbereichsverletzung möglich ist, wird sich vielfach bezweifeln lassen.48 Fraglich ist auch, ob man allen abhörenden Polizeibeamten wirklich zutrauen kann, dass sie „Anhaltspunkte" für möglicherweise kernbereichsrelevante Äußerungen richtig erkennen und dass sie das Abhören sofort unterbrechen, auch wenn die „Anhaltspunkte" nahelegen, dass dem in den Kernbereich fallenden „Vorspiel" bald straftatbezogene Äußerungen folgen werden. Nehmen wir an, der Mann beginnt im häuslichen Schlafzimmer zu weinen und sagt schluchzend zu seiner Frau, er müsse ihr etwas sehr Vertrauliches gestehen! Das gehört sicher zum Kernbereich und muss zum sofortigen Abbruch des Abhörvorganges fuhren. Was der Mann allerdings gestehen will, kann aus der Sicht des Lauschenden ebenso gut ein Ehebruch wie die Straftat sein, die zu der Abhöraktion Anlass gegeben hatte. Kann man wirklich erwarten, dass der Ermittler in einer solchen Situation die Überwachung einstellt? Denrtinger49 spricht etwas ironisch von „viel Vertrauen in die rechtsstaatlich geläuterte Diskretion der Ermittler" und Lepsius50 fragt mit einigem Recht, ob durch die - jetzt in das Gesetz übergegangenen - verfassungsrechtlichen Vorgaben „der Kernbereich nicht der individuellen Bestimmung des Belauschers ausgeliefert wird". Jedenfalls scheint mir klar zu sein, dass die Abbruchsregelung große Unsicherheiten und Missbrauchsmöglichkeiten schafft. Diese Einschätzung wird bestätigt, wenn man bei Löffelmanns\ dem Referenten des Gesetzgebungsverfahrens im Justizministerium, liest, „dass der Gesetzgeber der Strafverfolgungspraxis einen weiten Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Kernbereichsrelevanz eingeräumt hat. In diesem Licht ist auch der bewusste Verzicht des Gesetzgebers auf eine Definition des Kernbereichs zu sehen."
V. Welche Konsequenzen lassen sich nun aus diesen Bedenken für die Auslegung des geltenden Rechts ziehen? Die Privatwohnung überhaupt zu tabuisieren, wie dies - außerhalb zulässiger Telekommunikationsüberwachung noch das Raumgesprächs-Urteil des BGH tat und wie dies vor und nach dem Lauschangriffs-Urteil von zahlreichen Kritikern gefordert worden ist, lässt sich mit dem heutigen Gesetzeswortlaut nicht vereinbaren. Es wird 48 49 50 51
Vgl. dazu auch Haas wie Fn. 19, 3083. Denninger wie Fn. 8, 102. Lepsius wie Fn. 8, Teil I, 439. Löffelmann wie Fn. 12, 2033.
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auch schwerlich weiterhelfen, dass man mit Lindemann52 die Regelung des § 100 c IV, 3, erste Alternative, die „Gespräche über begangene Straftaten" aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung ausschließt, für verfassungswidrig erklärt. Denn es ist kaum anzunehmen, dass das BVerfG und der Gesetzgeber sich binnen absehbarer Zeit eines Besseren besinnen und das Gesetz ein drittes Mal ändern werden. Einen Ansatz für eine auch nach dem geltenden Gesetzeswortlaut noch mögliche, sachgerecht restriktive Auslegung bietet aber nach wie vor der schon zitierte Vorschlag im Sondervotum von Jaeger/HohmannDennhardt,5i wonach „zur Wahrung der Menschenwürde" jedenfalls „für Privatwohnungen, in denen sich der Beschuldigte allein, mit Familienmitgliedern oder mit ersichtlich engen Vertrauten aufhält, zu unterstellen" ist, „dass sie Raum bieten und genutzt werden für höchstpersönliche Kommunikation". Eine Einschränkung, die in § 100 c VI, 3 eine Stütze findet, wäre nur für den Fall zu machen, dass die Vertrauenspersonen einer Beteiligung an der Straftat (im weiteren, auch Begünstigung, Strafvereitelung und Hehlerei umfassenden Sinne) verdächtig sind. Eine solche Auslegung lässt sich damit begründen, dass § 100 c I V StPO eine „negative Kernbereichsprognose" voraussetzt. Es müssen also tatsächliche „Anhaltspunkte" dafür vorliegen, dass nichts Kernbereichsrelevantes besprochen werden wird. Solche Anhaltspunkte sind gegeben, wenn der Beschuldigte sich mit fremden, der Komplizenschaft verdächtigen Personen (z.B. aus der Rauschgiftszene oder aus terroristischen Kreisen) in seiner Wohnung trifft. Sie liegen aber auch vor, wenn die vertrauten Personen ihrerseits der deliktischen Zusammenarbeit verdächtig sind, so dass zu vermuten ist, sie würden ihre gemeinsamen Taten in der Wohnung besprechen. Dagegen wird man, wenn in einer Privatwohnung Personen anwesend sind, die in nahen Vertrauensbeziehungen zum Beschuldigten stehen, in die zu erforschende Straftat aber nicht verwickelt sind, keine negativen Kernbereichsprognosen stellen dürfen, so dass die Anordnung einer akustischen Wohnraumüberwachung dann unterbleiben muss. Dies bedeutet, dass der engste Bereich vertraulicher Kommunikation von einer akustischen Wohnraumüberwachung auch nach geltendem Recht von vornherein ausgeschlossen werden muss. Das BVerfG sieht das prinzipiell ebenso:54 „Zwar gehören nicht sämtliche Gespräche, die ein Einzelner mit seinen engsten Vertrauten in der Wohnung führt, zum Kernbereich privater Lebensgestaltung. Im Interesse der Effektivität des Schutzes der Menschenwürde spricht aber eine Vermutung dafür." Dass dann doch einmal im Einzelfall Äuße-
52
Lindemann wie Fn. 11, 198.
53
BVerfGE 109, 383 f.
54
BVerfGE 109, 320.
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rangen über begangene Straftaten nicht abgehört werden können, hat der Gesetzgeber durch das Erfordernis einer negativen Kernbereichsprognose in Kauf genommen. Man mag eine solche Auslegung für so naheliegend halten, dass sie kaum besonderer Betonung bedarf. Die Realität sieht oder sah zumindest in den Jahren 1998-2001 aber anders aus. Meyer-Wieck55 hat im Auftrag des Bundesjustizministeriums als Mitarbeiter des Freiburger Max-Planck-Instituts eine empirische Untersuchung der im genannten Zeitraum durchgeführten großen Lauschangriffe vorgenommen - es waren im Durchschnitt ca. 30 pro Jahr - und ist zu dem Ergebnis gekommen,56 dass die Maßnahme in den von ihm untersuchten Fällen „vor allem in zwei phänomenologisch und strukturell völlig unterschiedlichen Deliktsbereichen" eingesetzt worden sei: bei Drogenstraftaten und in noch höherem Maße bei Tötungsdelikten. Während der erste Fall typischerweise in den Bereich der organisierten Kriminalität gehört, geht es im zweiten um „soziale Nahfeldermittlungen, oftmals im familiären Umfeld des Opfers." Diese zweite Gruppe dürfte, wenn man meinem Auslegungsvorschlag folgt, künftig nicht mehr zur Anordnung akustischer Wohnraumüberwachungen führen, denn hier „zielt die Überwachung bei den regelmäßig im sozialen Nahbereich situierten Tötungsdelikten auf quasi .geständnisgleiche' Äußerungen in der Kommunikation des Beschuldigten gerade zu Personen seines Vertrauens"57. In Fällen dieser Art kann nach dem oben Dargelegten keine negative Kernbereichsprognose gestellt werden. Anders sieht das freilich auch für das jetzt geltende Recht Löffelmann, der Gesetzgebungsreferent. Nach seiner Ansicht58 wird „auch künftig die Wohnraumüberwachung in Konstellationen wie dem bekannten Leipziger Fall"59 angeordnet werden können, wo der Verdächtige sich nach intensiver polizeilicher Befragung gegenüber seiner Lebensgefährtin zur Tat geäußert hatte. Aber wo liegen die Anhaltspunkte für die Annahme, dass beim Zusammensein mit der Lebensgefahrtin in der eigenen Wohnung keine Kernbereichsäußerungen erfasst werden? Für ein grundsätzliches „Lauschverbot" bei Gesprächen mit engen, nicht in die Tat verstrickten Vertrauenspersonen in der Privatwohnung spricht auch der Umstand, dass der Gesetzgeber bei Einführung des großen Lausch55
Rechtswirklichkeit und Effizienz der akustischen Wohnraumüberwachung („großer Lauschangriff') nach § 100 c Abs. 1 Nr. 3 StPO, 2005 (im Verlag des Freiburger Max-PlanckInstituts). 56 Meyer-Wieck Der große LauschangrifF- Anmerkungen aus empirischer Sicht, NJW 2005, 2037. 57 Meyer-Wieck wie Fn. 56, 2038. 58 Löffelmann wie Fn. 12, 2034. 59 Der Fall ist ausführlich geschildert in Bundestags-Drucksache 14/8155, 40 ff.
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angriffs nur die organisierte Kriminalität im Auge hatte. Er sprach von einem „Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der organisierten Kriminalität" 60 , hat also keine Notwendigkeit gesehen, „Individualstraftaten" mit Hilfe „großer Lauschangriff' aufzuklären. Mit Recht hat Dencker gesagt61: Es gibt... keinen einzigen guten Grund dafür, Ermittlungsgrenzen in einem Mordverfahren nicht mehr zu akzeptieren, die man ein Jahrhundert lang für selbstverständlich gehalten hat." Auch Meyer-Wieck62 spricht davon, dass anders als bei der missbräuchlichen Verwendung von Wohnräumen für Zwecke der organisierten Kriminalität bei der Anwendung auf andere Straftaten „althergebrachte Grundsätze des Strafprozesses durch heimliche Informationserhebung umgangen" werden könnten. Pragmatische Gesichtspunkte kommen hinzu. Zunächst verursacht die akustische Überwachung von Wohnräumen einen ungewöhnlichen technischen, finanziellen und personellen Aufwand. Die unbemerkte Anbringung von Abhörvorrichtungen ist in einer Privatwohnung sehr schwierig; die vielfach anzustellenden Vorermittlungen können langwierig und personalintensiv sein; und die Gespräche werden nicht automatisch aufgezeichnet werden dürfen, sondern „in Echtzeit" abgehört werden müssen, damit ggf. das Lauschen unverzüglich abgebrochen werden kann. Sodann ist zu bedenken, dass der ganze Aufwand außer Verhältnis zu den zu erwartenden Ergebnissen steht. Denn eine akustische Überwachung von Wohnräumen verspricht nur bei konspirativer Kriminalität63 nennenswerte Erfolge. Wo verschiedene Personen verbrecherisch zusammenarbeiten, liegt es nahe, dass sie über ihre Taten miteinander sprechen. Dagegen hat ein Einzeltäter in der Regel keine Veranlassung, über vergangene Straftaten Äußerungen zu machen, die ihm nichts nützen, bei mangelnder Diskretion des Gesprächspartners aber sehr schaden können. Es wundert daher nicht, dass es nach den empirischen Untersuchungen von Meyer-Wieck64 bei Tötungsdelikten „kaum" gelungen ist, mit Hilfe akustischer Wohnraumüberwachung „tatnachweisliche Erkenntnisse zu erbringen". Er folgert ganz richtig: „Bei den Betäubungsmitteldelikten liegt die Situation insoweit anders, als nicht lediglich eine singuläre in der Vergangenheit liegende Straftat in Rede steht, sondern mit der Notwendigkeit von Transaktionen ein
60 Vgl. Bundestags-Drucksache 13/8651. Näher dazu Leutheusser-Schnarrenberger Der „große Lauschangriff' - Sicherheit statt Freiheit, ZRP 1998, 88. 61 Dencker Organisierte Kriminalität und Strafprozess, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, Organisierte Kriminalität und Verfassungsstaat, 1998, 54. 62 Meyer-Wieck wie Fn. 56, 2038. 63 Der Begriff der Konspiration erscheint mir für die Abgrenzung zulässiger und unzulässiger Lauschangriffe geeigneter als der recht diffuse Terminus der organisierten Kriminalität. 64 Meyer-Wieck wie Fn. 56, 2038.
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stetig wiederholtes marktförmiges und Kommunikation erforderndes kriminelles Verhalten zu ,begleiten' ist." In dem schon erwähnten „Leipziger Fall", in dem es einmal gelungen war, mit Hilfe einer akustischen Wohnraumüberwachung beim Verdacht eines Tötungsdeliktes eine geständnisgleiche Äußerung des Beschuldigten gegenüber seiner Lebensgefährtin zu erlangen, hatte die Leipziger Staatsanwaltschaft65 dies auch nur schaffen können, indem sie durch eine „plausible List" - anscheinend stundenlange Verhöre des Beschuldigten - für einen Gesprächsanlass gesorgt hatte. Ein solches Verfahren, einem Beschuldigten das Geständnis, zu dem er nicht bereit ist, durch eine List heimlich dennoch zu entlocken - es erinnert an die sehr umstrittene Konstellation der Hörfalle 66 - , kann die rechtsstaatlichen Bedenken gegen ein solches Eindringen in den innersten Privatbereich nur verstärken. Mein Fazit ist also: Der große Lauschangriff sollte nach geltendem Recht nur bei mutmaßlich konspirativen Zusammenkünften in Privatwohnungen zugelassen werden. Privatgespräche mit Personen besonderen Vertrauens (insbesondere nahen Familienangehörigen und „Lebensgefährten") sollten dagegen weiterhin tabu bleiben, auch wenn dabei, was selten genug der Fall ist, eventuell selbstbelastende Äußerungen über eine begangene Straftat fallen könnten. Damit wäre eine vergleichsweise klare und handhabbare Abgrenzung von Zulässigkeit und Unzulässigkeit einer Abhöranordnung in Privatwohnungen gegeben. Aus diesem Ergebnis folgt auch, dass das Selbstgesprächs-Urteil des BGH (BGHSt 50, 206) in der Sache zutreffend ist. Wenn jemand sich allein in einem Wohnraum befindet, gehört sein Verhalten in diesen vier Wänden von vornherein in den Kernbereich privater Lebensgestaltung und darf nicht abgehört werden. Geschieht dies dennoch, so unterliegt das Abgehörte einem Verwertungsverbot. „Die in dem Zeitraum des Bestehens des Erhebungsverbotes gewonnenen Informationen dürfen insgesamt und ungeachtet ihres Inhalts im Strafverfahren nicht verwertet werden." 67 Mit einer solchen Eingrenzung der Lauschangriffe würde manche Kritik an dem in vieler Hinsicht so vorzüglichen verfassungsgerichtlichen Urteil zur akustischen Wohnraumüberwachung (BVerfGE 109, 279) zum Verstummen gebracht werden können.
65 66 67
Vgl. deren Schilderung in: Bundestags-Drucksache 14, 8155,46 f. Dazu mwN Roxin wie Fn. 10, § 24, Rn. 30. BVerfGE 109, 331.
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VI. Damit schließe ich diesen Beitrag, der Reinhard Böttcher mit den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag gewidmet ist! Der verehrte Jubilar hat sich um das Straf- und Strafprozessrecht als Wissenschaftler und als hochrangiger „Praktiker" gleichermaßen bedeutende Verdienste erworben. Darauf gründet sich meine Hoffnung, er möge einem Thema, das von komplizierten Fragen des verfassungs- und Beweisgewinnungsrechts bis zu den verzwickten Details der praktischen Umsetzung legislatorischer Regelungen reicht, ein freundliches Interesse entgegenbringen.
Überlegungen zur Anwendbarkeit des § 357 StPO auf nach Jugendstrafrecht Verurteilte - gibt es einen abweichenden Maßstab für Gerechtigkeit gegenüber Jugendlichen? HELMUT SATZGER
I. Einleitung Anlässlich des 65. Deutschen Juristentages 2004 in Bonn hatte ich die erfreuliche Aufgabe, als Gutachter zu den Chancen und Risiken einer Reform des Ermittlungsverfahrens Stellung beziehen zu dürfen. Zahlreiche Diskussionen mit dem Jubilar, der zu diesem Zeitpunkt - in seinem nahezu unerschöpflichen Engagement für den Juristentag1 - als stellvertretender Vorsitzender der strafrechtlichen Abteilung fungierte, bereicherten damals meinen Blick und sind von bleibendem Eindruck für meine wissenschaftliche Tätigkeit. Von daher geht mein Wunsch dahin, Reinhard Böttcher einen im wesentlichen strafprozessualen Beitrag zu widmen, zumal er sich wie kaum ein anderer umfassend - in der Praxis ebenso wie wissenschaftlich und rechtspolitisch - um das Strafprozessrecht und seine Reform verdient gemacht hat. Eine simple wie wesentliche Grundlage dieses unseres Strafverfahrens geht dahin, dass ein Urteil, das nicht (mehr) mit einem Rechtsmittel angefochten werden kann, in Rechtskraft erwächst. Dies hat seinen guten Sinn: Der Strafprozess soll nicht nur eine im Ergebnis gerechte Entscheidung hervorbringen, er soll vielmehr auch Rechtsfrieden schaffen. 2 Einwände gegen ein Urteil sollen verstummen, eine abermalige Befassung der Gerichte mit der Sache soll ausgeschlossen sein und schließlich soll eine Vollstreckung des Urteils ermöglicht werden, ohne dass sich der Verurteilte dagegen zur Wehr setzen kann. Im Idealfall ist diejenige Entscheidung, die 1
Reinhard Böttcher gehörte von 1990 bis 2004 der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags an; von 1998 bis 2002 war er deren Vorsitzender und fungierte als Präsident des 63. und 64. Juristentags. 2 Beulke StPO, 8. Aufl., 2005, Rn. 6; Krey Dt. Strafverfahrensrecht, Bd. 1, 2006, Rn. 21; Volk Grundkurs StPO, 5. Aufl., 2006, § 3 Rn. 1.
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rechtskräftig wird, auch eine materiell gerechte, so dass der derart erzwungene Rechtsfriede in jeder Hinsicht und gegenüber jedermann - der Allgemeinheit wie dem Verurteilten gegenüber - gerechtfertigt erscheint. Interessant - und als Ausdruck der inneren Balance jeder Rechtsordnung zwischen Rechtsfrieden einerseits und Gerechtigkeitserwägungen anderseits aufschlussreich - ist jedoch der Umgang mit Urteilen, die sich im Nachhinein als fehlerhaft erweisen. In welchem Umfang nimmt eine Rechtsordnung Fehlurteile hin, um den Rechtsfrieden zu wahren? Welche als höherrangig bewerteten Interessen veranlassen eine Prozessordnung dazu, von der Rechtsfriedensfunktion im Einzelfall Abstand zu nehmen? Ein Fall der Rechtskraftdurchbrechung ist in § 357 StPO vorgesehen: Ein Angeklagter, der selbst keine Revision gegen seine Verurteilung eingelegt hat, soll von der Aufhebung des Urteils in derselben Sache profitieren, die ein revidierender Mitangeklagter erstritten hat. Ihm soll also nicht zum Nachteil gereichen, dass er selbst keine Revision eingelegt hat. Was gilt aber für nach dem Jugendstrafrecht zu beurteilende Mitangeklagte? Diesen steht die Revision nicht uneingeschränkt zur Verfügung, sondern ihnen gegenüber gewährt das JGG nach § 55 II nur ein Wahlrechtsmittel - entweder Berufung oder Revision. Ob diese Rechtsmittelbeschränkung Auswirkungen auch für die Anwendbarkeit des § 357 StPO hat, soll im Folgenden näher untersucht werden.
II. Durchbrechung der Rechtskraft durch Wiederaufnahme Um die Hintergründe einer von der StPO zugelassenen Rechtskraftdurchbrechung zu beleuchten, rentiert sich ein Blick auf das prominenteste Verfahren, welches die StPO zu diesem Zweck bereithält: das Wiederaufnahmeverfahren (§§ 359 ff. StPO). Ein solches Verfahren ist für diejenigen Fälle vorgesehen, in denen die Rechtsfriedensfunktion ausnahmsweise vom Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit in den Hintergrund gedrängt wird, wenn also das rechtskräftige Urteil unerträgliche Fehler enthält, so dass es niemand verstünde, wenn der einmal gefällte Richterspruch aufrecht erhalten würde.3 Von Amts wegen kommt es allerdings nicht zur Wiederaufnahme. Es bedarf stets eines expliziten Antrags. Zur Antragstellung berechtigt ist sowohl der Verurteilte als auch die Staatsanwaltschaft.4 Für das Verständnis der Rechtskraftdurchbrechung von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft - unabhängig von einer Beschwer - stets zur Antragstellung befugt ist, unabhängig davon, ob die Wiederauf3 4
Beulke StPO, Rn. 585. § 365 i.V.m. § 296 Abs. 1 StPO.
Revisionserstreckung im Jugendstrafrecht
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nähme zugunsten oder zuungunsten des Verurteilten wirken soll, ja selbst unabhängig davon, ob dieser einer Wiederaufnahme zustimmt (§ 365 i.V.m. § 296 StPO).5 Damit erlaubt die StPO sogar, dass dem Verurteilten eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu seinen Gunsten aufgezwungen wird.6 Diesen Aspekt gilt es im Hinterkopf zu behalten, wenn sogleich die Vorschrift des § 357 StPO näher betrachtet werden soll.
III. Erstreckung der Revisionsentscheidung auf Mitangeklagte Auch durch § 357 StPO wird eine Rechtskraftdurchbrechung bewirkt, die neben der Wiederaufnahme steht: Die Erstreckung der Revisionsentscheidung unter bestimmten Voraussetzungen auf Mitangeklagte. Diese Norm bestimmt: „Erfolgt zugunsten eines Angeklagten die Aufhebung des Urteils wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes und erstreckt sich das Urteil, soweit es aufgehoben wird, noch auf andere Angeklagte, die nicht Revision eingelegt haben, so ist zu erkennen, als ob sie gleichfalls Revision eingelegt hätten." Was hat nun diese Erstreckungsvorschrift mit den Wiederaufnahmeregeln zu tun? Blickt man auf die Begründung, die die hM für die Existenz des § 357 StPO bereithält - sehr viel. Denn danach diene die Vorschrift der Schaffung „wirklicher" oder „materieller Gerechtigkeit".7 Eine unerträgliche Ungerechtigkeit als Ergebnis eines Revisionsverfahrens solle ebenso verhindert werden wie eine Ungleichbehandlung der Mitangeklagten. Oder, wie es der Diktion des historischen Gesetzgebers entspricht, durch die Rechtskrafterstreckung solle der „peinliche Eindruck" vermieden werden, der entstehe, wenn das Urteil gegen den Revidenten aufgehoben werde, der wegen derselben Tat Mitangeklagte aber an seinem rechtskräftigen Urteil festgehalten würde.8 Es geht also hier wie bei der Wiederaufnahme um
5 Eine besondere Beschwer wird bei einem Antrag durch die Staatsanwaltschaft nicht verlangt, sie gilt - wie bei der Einlegung von Rechtsmitteln - durch eine unrichtige Entscheidung stets als beschwert; s. nur Marxen/Tiemann Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 1. Kap., Rn. 43, 52. Ebenso Meyer-Goßner StPO, § 365, Rn. 2; KK- Schmidt StPO, § 356, Rn. 3. 6 Aus unerfindlichen Gründen offensichtlich a.A. Meyer-Goßner Roxin-FS, S. 1357, der davon ausgeht, bei Ersetzung des § 357 StPO durch einen entsprechenden Wiederaufnahmegrund könne „der Angeklagte nicht gegen seinen Willen mit einem neuen Verfahren überzogen" werden. 7 S. dazu LR-Hanack StPO, § 357 Rn. 1; weitere Zitate bei Zopfs GA 1999, 482 (Fn. 5,6). 8 Vgl. bei Hahn Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Bd. 3 (StPO), 2. Aufl. 1885, S. 1048, 1606. S. auch RGSt 6, 259 und KMR-Paulus, StPO, § 357, Rdn. 4.
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überragende Gründe der Gerechtigkeit, die den Gesetzgeber dazu veranlasst haben, eine Durchbrechung der Rechtskraft zu akzeptieren. Und mehr noch: Ebenso wie bei der Wiederaufnahme ist der entgegenstehende Wille des Verurteilten für die Zwecke des § 357 StPO letztlich unbeachtlich. Auch wenn also der Mitangeklagte durchaus zufrieden mit seinem Urteil ist oder sich aus einer Fortsetzung des Verfahrens keine großen Vorteile verspricht, so trifft ihn gleichwohl die Folge des § 357 StPO. Akzeptiert man dies zunächst als positives Recht, dann lässt sich hieraus - in Zusammenschau mit den Vorschriften über die Wiederaufnahme - ableiten, dass es der Grundkonzeption der StPO offensichtlich entspricht, dass eine Durchbrechung der Rechtskraft nicht - zumindest nicht vorrangig - den Individualinteressen eines Einzelnen zu dienen bestimmt ist. Vielmehr sind es Gerechtigkeitsinteressen, genauer gesagt: das Interesse der Allgemeinheit daran, in einem Strafprozess zumindest keine manifest falschen Ergebnisse zu erzielen, welche die Rechtskraftdurchbrechungen rechtfertigen.9 Vor diesem Hintergrund sollte die zuweilen scharf vorgetragene Kritik an § 357 StPO etwas relativiert werden. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass die Revisionserstreckung auf den Mitangeklagten für diesen nur selten eine Wohltat sei. Bedacht werden müssten die psychischen und finanziellen Belastungen einer abermaligen Hauptverhandlung nach Zurückverweisung.10 Häufig stehe an deren Ende die gleiche oder nur eine geringfügig mildere Bestrafung.11 Ebenso ergäben sich Unzuträglichkeiten bei der bereits begonnenen Strafvollstreckung auf Grund des zunächst rechtskräftigen Urteils, wenn plötzlich die Rechtskraft beseitigt werde. Der Mitangeklagte habe sich überdies regelmäßig mit dem ursprünglichen Urteil abgefunden, so dass ein Wiederaufrollen des Verfahrens, selbst wenn seine Begünstigung angestrebt wird, nicht notwendig im Interesse des Verurteilten liege. Es ist sicherlich nicht zu leugnen, dass die Fortführung eines Verfahrens mit Belastungen verbunden ist. Ein entscheidendes Argument gegen § 357 StPO, das dessen Abschaffung oder eine extrem restriktive Handhabung12 bedingen würde, kann ich hierin - im Gegensatz zu vielen Kritikern der Vorschrift - aber nicht erkennen: Jedes Strafverfahren ist mit Belastungen Q
Diese Schutzrichtung sieht Oberrath kritisch, da es ebenso einen „peinlichen Eindruck" machen könne, wenn sich die Revision auch auf den Mitangeklagten erstrecke, obwohl dieser es gar nicht wünsche. Er fordert daher eine größere Berücksichtigung das Einzelschicksals neben dem Interesse der Rechtspflege; s. Oberrath Die Probleme des § 357 StPO, 1992, S. 12 ff. 10 Vgl. dazu 5os I g f 3.« -C fei C -ς «σ» -3 - ε® °>8. Ή € ϊ= •® -ο
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V. Verfassungsrecht und internationales Strafrecht
Recht auf Gleichbehandlung, Diskriminierungsverbote, Fördergebote; Vervollkommnung oder Übersteigerung des Gleichheitssatzes? Eine verspätete Diskussion? W A L T E R GOLLWITZER
I.
Das am 14.8.2006 verabschiedete „Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung"1 enthält als Art. 1 das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)", das in früheren Entwürfen Antidiskriminierungsgesetz genannt worden war. Es ist am 18.8.2006 in Kraft getreten. Sein Inhalt war umstritten, vor allem, weil es über die gebotene Umsetzung der Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft 2 hinaus die Gleichbehandlungspflichten auf weitere Bereiche, so den Zivilrechtsverkehr, ausdehnt und um einer „imaginären Gleichheit willen"3
1
BGBl I S. 1897. Der Entwurf eines Antidiskriminierungsesetzes war von den Fraktionen der SPD und der Grünen am 19.12.2005 neu eingebracht worden (BT-Drucksache 16/297); dazu etwa Armbrüster ZRP 2005 41 ff. 2 Auf Grund des Art. 13 EGV ergingen: - RL 2000/43/EG vom 29.6.2000 (ABl. L 180 S.22: Rassendiskriminierung) - abgedruckt auch NJW 2001 Beilage zu Heft 37 S.5*; - RL 2004/113/EG vom 13.12.2004 (ABl. L 373 S.37: Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Dienstleistungen) - abgedruckt auch Sartorius II Nr. 187 e.; - RL 2000/78/EG vom 27.11.2000 (ABl. L 303 S.16; Festlegung eines allgemeinen Rahmens über die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf - gegen Diskriminierung wegen Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Ausrichtung) - abgedruckt auch NJW 2001 Beilage zu Heft 37 S.8*. - Die RL 76/207 EG (ABl. L 269 S.15), später geändert durch RL 2002/73/EG vom 23.9.2002 (ABl. L 269 S.15) „Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen" (abgedruckt auch Sartorius II Nr.187 a). Sie erging auf Grund des Art.141 Abs.3 EGV, nicht auf Grund des erst später eingefügten Art. 13 EGV; dazu Wernsmann JZ 2005 224. 3 Vgl. Adomeit NJW 2006 2169.
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bürokratische Durchsetzungsmechanismen vorsieht, die den freien Gestaltungsraum der Bürger einschränken, sie mit drohenden Entschädigungspflichten belasten und Unfrieden und Rechtsstreitigkeiten vorprogrammieren. Unerwähnt blieb bei den sehr emotional geführten Auseinandersetzungen meist die seit Jahren in der Bundesrepublik bestehende Rechtslage, nicht zuletzt auch die von ihr ratifizierten internationalen Übereinkommen, in denen sie sich verpflichtet hat, die Gleichbehandlung und die Beachtung gleichartiger Diskriminierungverbote zu gewährleisten. Unerörtert bleibt die politische Verantwortung für den Inhalt dieser von Regierung und Parlament stets gebilligten Verträge, so auch für den erst 1997 durch den Amsterdamer Vertrag eingefügten jetzigen Art. 13 EGV, der die wichtigste Rechtsgrundlage für die jetzt umgesetzten, aber auch fur künftige weitere Diskriminierungsrichtlinien ist, und ferner für den Inhalt der Richtlinien selbst, die ja ebenfalls mit Zustimmung der Vertreter der Bundesrepublik ergangen sind.
II. Ausgangspunkt ist das Recht der Europäischen Union, das - beschränkt auf den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, aber mit Vorrang vor dem nationalen Recht - über das zur Sicherung des gemeinsamen Binnenmarktes Notwendige hinaus spezielle Gleichbehandlungsgebote aufgestellt hat, die als Ausdruck des auch im Europarecht geltenden allgemeinen Gleichheitssatzes4 verstanden werden. Schon im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft 3 wird unter deren Aufgaben in Art. 3 EGV aufgeführt, daß sie bei ihren in Art. 3 Abs. 1 EUV umrissenen Tätigkeiten darauf hinwirkt, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fordern. In Art. 6 Abs. 2 EUV bekennt sich die Europäische Union zur Achtung der Grundrechte, wie sie in der EMRK festgelegt sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.6 Dies schließt das allgemeine Gleichbehandlungsgebot7 mit ein, das nicht zuletzt für die ungestörte Ausübung der jedermann unionsweit verbürgten Freiheiten unerläßlich ist,8 wie etwa die Freizügigkeit der Ar4
Kokott AöR 121 (1966) 599,630; Schilling EuGRZ 2000 3, 14. Vom 27.3.1957 mit späteren Änderungen; Umnummerierung gemäß Art. 12 des Amsterdamer Vertrags. 6 Die Anerkennung der Grundrechte erweitert den Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft nicht, vgl. EuGH EuGRZ 1998 143; Schilling EuGRZ 2000 3, 15. 7 Vgl. EuGH NJW 2005 3695, 3698. 8 Gubelt in: v. Münch/Kunig, GG Art. 3 Rn. 4a; vgl. Fn. 4. 5
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beitnehmer (Art. 39 EGV), die Niederlassungsfreiheit (Art. 41 EGV) oder den freien Dienstleistungsverkehr (Art. 49). Art. 141 EGV verpflichtet die Staaten, den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicherzustellen und Maßnahmen zur Gewährleistung der Chancengleichheit zu treffen; dies soll aber nicht ausschließen, daß sie zur Herstellung der vollen Gleichstellung im Arbeitsleben spezifische Vergünstigungen für die berufliche Laufbahn beibehalten oder beschließen, wenn dies die Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder die Verhinderung oder den Ausgleich von Benachteiligungen bezweckt (Art. 141 Abs. 3 EGV). Nach Art. 17 Abs.l EGV haben Staatsangehörige der Mitgliedstaaten als Unionsbürger in der ganzen Union die in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten; der unmittelbar geltende Art. 12 EGV verbietet jede Diskriminierung nach Staatsangehörigkeit. Dagegen enthält der 1997 durch den Amsterdamer Vertrag nachträglich in das Vertragswerk eingefügte jetzige Art. 13 EGV (zunächst Art. 6a EGV) keine unmittelbar verbindlichen Verbote. Er ermächtigt aber dazu, „im Rahmen der Zuständigkeit der Gemeinschaft", also begrenzt auf deren Sachregelungskompetenz, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. 9 Die eingangs angeführten Richtlinien sind auf Grund Art. 13 EGV ergangen - mit Ausnahme der auf Art. 141 gestützten RL 76/207/EG (geändert durch RL 2002/73/EG). Da Art. 13 EGV nur „unbeschadet der sonstigen Bestimmungen des Vertrags" gilt, bleiben die älteren Spezialvorschriften bestehen, so vor allem Art. 141 EGV 10 , der die Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei Arbeits- und Beschäftigungsfragen und gleiches Entgelt für gleiche und gleichwertige Arbeit bei Männern und Frauen fordert (Art. 141 Abs. 1 EGV). Eine einheitliche Rechtsgrundlage, die das Regelungsgefüge des EGV vereinfacht hätte, wurde nicht geschaffen. Daraus erklärt sich, daß die Richtlinie 2004/13/EG vom 13.12.2004 von der Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen spricht; sie gilt, wie Nr. 15 ihrer Erwägungsgründe hervorhebt, nicht fur die bereits anderweitig geregelte Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Berufsleben und bei selbständigen Tätigkeiten, „soweit sie von den bestehenden anderen Rechtsvorschriften (der Gemeinschaften)
9 10
Waldhof JZ 2003 978, 982; Wernsmann JZ 2005 224, 230. Streinz EUV/EGV (2003) Art. 13 EGV Rn. 5,7; Art. 141 EGV Rn. 7.
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erfaßt werden".11 Nr. 2 dieser Erwägungsgründe bezeichnet den Schutz vor Diskriminierungen als allgemeines Menschenrecht und führt dafür die von den Mitgliedstaaten der EU unterzeichneten internationalen Erklärungen und Übereinkommen auf, in denen diese Grundsätze bereits festgelegt sind. Die Grenzen, die auch Diskriminierungsverbote in anderen Grundrechten, vor allen den Freiheitsrechten, finden, spricht Nr. 3 der Erwägungsgründe kurz an, wobei der Schutz des Privat- und Familienlebens12 und die Religionsfreiheit besonders erwähnt werden. Alle aufgeführten Übereinkommen sind in der Bundesrepublik seit Jahren auch innerstaatlich geltendes Recht. Sie wurden in Gesetzesform ratifiziert und bekräftigen mitunter das mit gleicher Zielsetzung bereits bestehende innerstaatliche Recht, vom einfachen Gesetzesrecht bis zum Verfassungsrecht des Bundes und der Länder.
III. Die Struktur des janusköpfigen Gleichheitssatzes als unverändert gültiges formales Gerechtigkeitsprinzip und andererseits als zeitbezogenes, gesellschaftsveränderndes Postulat wird deutlich, wenn man seine geschichtliche Entwicklung im nationalen und internationalen Recht betrachtet 1. Der Grundgedanke der Gleichheit aller Bürger, der sich auch in der Antike findet, erhielt in der Zeit der Aufklärung neues Gewicht13. Die gleiche Anwendung des Rechts auf gleichartige Sachverhalte ist wohl immer als ein Prinzip der Gerechtigkeit angesehen worden. Zeitbezogen war die Wertung, unter welchem Gesichtspunkt Personen oder Sachverhalte gleich zu achten sind. Sie wurde durch die jeweilige Gesellschaftsstruktur und die jeweils vorherrschenden, mitunter sehr unterschiedlichen Anschauungen bestimmt. Als Forderung der Gleichheit aller Bürger bei Ausübung der politischen Rechte und aller Menschen beim Genuß ihrer Freiheitsrechte hat sich in Europa14 der Gedanke der Gleichheit in den letzten zweieinhalb " Fraglich ist, ob Art. 13 EGV subsidiär gegenüber den anderen Vorschriften des EGV ist, die Maßnahmen gegen Diskriminierung erlauben, oder ob er kumulativ neben diese tritt. 12 Dies trägt dem Art. 8 Abs. 1 EMRK Rechnung, der, ebenso wie Art. 17 IPBPR, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert und Eingriffe des Staates nur zu den in Absatz 2 angeführten Zwecken zuläßt. 13
Dazu etwa Heun in: Dreier, GG 2. Aufl., Art. 3 Rn. 2 ff. In der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika standen die Freiheitsrechte der Bürger im Vordergrund, nicht deren nur in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 angesprochene Gleichheit. Erst im Bürgerkrieg wurde neben dem Verbot der Sklaverei auch das an die Mitgliedstaaten gerichtetes Verbot angefügt, irgend einer Person innerhalb ihrer Jurisdiktion den gleichmäßigen Schutz der Gesetze zu versagen (XIV: Amendment); vgl. Loewenstein Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten (1959) 496 ff. 14
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Jahrhunderten in Verbindung mit dem Demokratieprinzip schrittweise durchgesetzt. Bahnbrechend war die französische Revolution. Nach Art. 1 der Erklärung der Menschenrechte vom 26.8.1789 werden „die Menschen frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein". Art. 2 Satz 2 dieser Erklärung betont, daß die Republik die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion gewährleistet und jeden Glauben achtet. Zu den in dieser Erklärung niedergelegten Menschenrechte bekennt sich auch heute noch die Verfassung der Republik Frankreich vom 4.10.1958 in ihrer Präambel. 2. Die noch den Resten des Ständeprinzips verhafteten deutschen Staaten erkannten im 19. Jahrhundert die rechtliche und politische Gleichheit aller Menschen nur zögerlich 15 an. Selbst Art. 119 der Weimarer Verfassung von 1919 formulierte noch einschränkend, daß „alle Deutschen vor dem Gesetz gleich" 16 sind und Männer und Frauen „grundsätzlich" dieselben staatsbürgerlichen" Rechte und Pflichten haben. Die Bayerische Verfassung vom 2.12.1946 übernahm diese Einschränkung in Art. 118 Abs. 1 BV, der die Gleichheit aller vor dem Gesetz festlegt und Männer und Frauen „grundsätzlich" dieselben „staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten" zuerkennt sowie in Art. 124 BV, der im Zusammenhang mit dem besonderen Schutz der Familie die „grundsätzliche Gleichheit der bürgerlichen Rechte und Pflichten in der Ehe" fordert. Die Hessische Verfassung vom 1.12.1946 ging weiter. Nach ihrem Art.l sind „alle Menschen" vor dem Gesetz gleich, „ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, der Herkunft, der religiösen und politischen Überzeugung". 1949 legte der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes in Art. 3 GG fest, daß alle Menschen, also nicht nur alle Deutschen, vor dem Gesetz gleich (Absatz 1) und Männer und Frauen gleichberechtigt sind (Absatz 2). Absatz 3 ergänzte diese Aussagen durch das Verbot der Ungleichbehandlung von Personen wegen bestimmter Merkmale. Danach darf niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. 1994 wurde bei Art. 3 Abs. 2 GG der als Staatszielbestim-
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So begnügen sich die Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26.5.1818 in ihrer die Motive des Königs hervorhebenden Präambel ebenso wie die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31.1.1850 in Art. 4 damit, die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und beim Zugang zu den öffentlichen Ämtern anzusprechen. 16 Strittig war, ob Art. 119 WV über den Wortlaut hinaus auch den Gesetzgeber zur sachlichen Rechtsgleichheit verpflichtet oder nur Rechtsanwendungsgleichheit und persönliche Rechtsgleichheit garantiert (so etwa Naviasky gegen Erich Kaufmann, beide VVDStRL 3 (1926) 1 ff.; 25 ff.).
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mung verstandene Satz 2 angefugt, wonach der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männer fördert und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt.17 Wieweit daraus die Befugnis folgt, in Verwirklichung dieses umsetzungsbedürftigen Fördergebotes die allgemeine Gleichbehandlungspflicht des Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 GG bis zur Erreichung der Parität der Geschlechter aufzulockern, ist strittig.18 Ein gleichzeitig bei Art. 3 Abs. 3 GG angefugter Satz 2 verbietet die Benachteiligung Behinderter; unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip19 wurde bewußt einseitig nur der Ausgleich von Benachteiligungen gefordert, um begünstigende Sonderregelungen wegen der Behinderung nicht auszuschließen. Spezielle Gleichstellungsgebote enthalten Art. 6 Abs. 5 GG (ehelichen und nichtehelichen Kinder), Art. 12 Abs. 2 GG (Gleichheit bei Heranziehung zu öffentlichen Dienstleistungspflichten). Der 1968 eingefügte Art. 12a GG begründete die Wehr- bzw. Ersatzdienstpflicht allein für Männer und ließ die freiwillige Verpflichtung von Frauen nur eng begrenzt zu; das Verbot des Dienstes an der Waffe (Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 GG a.F.) fiel erst im Jahre 2000. Eine Gleichstellungspflicht begründet auch Art. 33 Abs. 2 GG, der jedem den gleichen Zugang zu den öffentlichen Ämtern garantiert. Die Gleichheit bei den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten einschließlich der Wahlen bekräftigen Art. 28 Abs.l Satz 2 und Art. 38 Abs. 1 bis 3 GG. Die fortschreitende Ausdifferenzierung des Gleichheitssatzes verdeutlichen die Länderverfassungen. Während nach Erlaß des Grundgesetzes einige Länderverfassungen überhaupt auf eigene Grundrechtskataloge verzichteten oder die Grundrechte des Grundgesetzes auch als Landesverfassungsrecht übernahmen,20 finden sich in den zeitlich viel später entstandenen Verfassungen der neuen Bundesländer ausführliche Regelungen. So etwa sind nach Art. 12 Abs. 1 der Brandenburgischen Verfassung vom 20.8.1992 alle Menschen vor dem Gesetz gleich; der öffentlichen Gewalt ist jede Willkür und sachwidrige Ungleichbehandlung untersagt. Die Merkmale, wegen denen niemand bevorzugt oder benachteiligt werden darf, werden ausdrücklich aufgezählt. Absatz 3 legt die Gleichberechtigung vom Männern und Frauen fest und verpflichtet das Land zur Gleichstellung in einzeln aufgezählten Bereichen. Nach Absatz 4 haben Land und Gemeinden für die 17
Gesetz vom 27.9.1994 (BGBl. I S. 3146). Etwa Scholz in: Maunz/Düng/Scholz, GG Art. 3 Abs. 2 Rn. 60, 62 ff.; Heu in: Dreier, GG Art. 3 Rn. 99 ff. vgl. auch BVerfGE 92, 91, 109; 109 64,89 (Klarstellung, daß sich Gleichheitsgebot auf gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt). Zur Entstehungsgeschichte H.J. Vogel FS Benda 395 ff. 19 Gubelt in: v. Münch/Kunig, GG Art.3 Rn. 104a ff. 20 So etwa Art. 2 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11.11.1953 oder Art. 4 Abs. 1 der Verfassung von Nordrhein-Westfalen vom 28.6.1950. 18
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Gleichwertigkeit der Lebensbedingtingen von Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen. Die Verfassung von Sachsen vom 27.5.1992 erkennt als Staatsziel die Förderung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung von Männern und Frauen an, sowie die Verpflichtung der Gemeinschaft, alte und behinderte Menschen zu unterstützen und auf Gleichwertigkeit ihrer Lebensbedingungen hinzuwirken (Art. 7; 8). Die Rechte nationaler und ethnischer Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit auf Bewahrung ihrer Identität, Sprache, Religion und Kultur werden geschützt, die Rechte ausländischer Minderheiten, die sich rechtmäßig im Lande aufhalten, geachtet (Art. 5 Abs. 2, 3); die Gleichberechtigung der Staatsbürger sorbischer Volkszugehörigkeit und ihr Recht auf Wahrung ihrer Identität werden gewährleistet (Art. 6). Nach Art. 18 sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich und Männer und Frauen gleichberechtigt; niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. 3. Im Völkerrecht hat erst der zweite Weltkrieg die Bedeutung internationaler Garantien der Menschenrechte in das allgemeine Bewußtsein gerückt. Die in der Folgezeit zu ihrem Schutz geschlossenen multilateralen Verträge legten auch Pflichten zur Gleichbehandlung aller Menschen allgemein oder für spezielle Personengruppen fest. Sie wurden vom Bundestag jeweils nach Art. 59 Abs. 2 GG ratifiziert und gelten - anders als das vorrangige Europarecht - innerstaatlich mit dem Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Sie begründen, soweit ihr Inhalt dies erlaubt, unmittelbar Rechte und Pflichten, auf die sich auch der betroffene Einzelne innerstaatlich und, sofern die jeweiligen Voraussetzungen gegeben sind, auch vor internationalen Instanzen (meist besondere Ausschüsse 2 'oder der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte22) berufen kann. Im Einzelnen: a) Die Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1946 erwähnt Grundrechte nur am Rande. Neben der in der Präambel angesprochenen Gleichberechtigung von Mann und Frau führt Art. 1 Abs. 3 bei den Zielen der Vereinten Nationen auch die Förderung und Festigung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten an, „ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion". Zu den Aufgaben des Wirtschafts- und Sozialrats gehört es, Empfehlungen abzugeben, um die Ach21
So etwa der IPBPR, der jedem Bürgern eines Staates, der dem (1.) Fakulativprotokoll beigetreten ist, unter bestimmten Voraussetzungen die Anrufung des auf Grund dieses Übereinkommens geschaffenen Ausschusses (unlängst in neuer Form als „Menschenrechtsrat" konstituiert) ermöglicht. Andere Übereinkommen sehen vergleichbare Ausschüsse vor, so das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979. 22 Seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls am 1.11.1998.
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tung und Verwirklichung der Menschenrechte für alle zu fordern (Art. 62 Abs. 2 der Charta). Konkrete Ausformulierungen einzelner Menschenrechte bringt erst die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 hat jeder Mensch Anspruch auf die in der Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeine Unterscheidung wie nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler und sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstiger Herkunft. Art. 2 Abs. 2 verbietet jede Unterscheidung auf Grund des Herkunftslandes. Nach Art. 7 sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich, sie haben Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz vor jeder unterschiedlichen Behandlung, die die Rechte aus dieser Erklärung verletzt. Das Aufreizen zu einer solchen Diskriminierung ist durch Gesetz zu verbieten. Die in der Präambel angesprochene Gleichberechtigung von Mann und Frau wird in weiteren Artikeln verdeutlicht: Nach Art. 16 haben Männer und Frauen ohne Beschränkung durch Rasse, Staatsbürgerschaft oder Religion das Recht auf Eheschließung und die gleichen Rechte während der Ehe und bei deren Auflösung. Nach Art. 21 Nr. 2 muß jeder unter gleichen Bedingungen zu den öffentlichen Ämtern seines Landes zugelassen werden. Jeder hat unterschiedslos das Recht auf gleichen Lohn für die gleiche Arbeit (23 Nr. 2). Als Resolution der Generalversammlung ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte kein bindender völkerrechtlicher Vertrag. Die in ihr anerkannten Rechte werden aber als Ausdruck allgemein anerkannter internationaler Grundsätze argumentativ herangezogen.23 Konkrete Vertragspflichten erwachsen den beigetretenen Staaten aus den auf ihrer Grundlage erarbeiteten völkerrechtlichen Konventionen, so vor allem dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR-„Sozialpakt"), die nach jahrelangen Beratungen am 19.12.1966 geschlossen wurden. Dazu kommen weitere multilaterale Übereinkommen, die sich gezielt gegen die Diskriminierung bestimmter Gruppen wenden. b) Im Internationalen Pakt über politische und bürgerliche Rechte24 verpflichten sich die Vertragsstaaten in Art. 2, die Rechte aus diesem Pakt allen ihrer Herrschaftsgewalt unterliegenden Personen zu gewährleisten „ohne Unterschied wie insbesondere der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Ge-
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Einige sehen in ihr Völkergewohnheitsrecht. BGBl. 1973 II S. 1534.
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burt oder eines sonstigen Status". Nach Art. 3 ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Ausübung aller im Pakt festgelegten bürgerlichen und politischen Rechte sicherzustellen. Alle Menschen sind vor Gericht gleich (Art. 14 Abs. 1 Satz 1), jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden (Art. 16). Die Vertragsstaaten sind nach Art. 20 Abs. 2 verpflichtet, durch Gesetz jedes Eintreten für nationalen, rassistischen oder religiösen Haß, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, zu verbieten. Nach Art. 23 Abs. 4 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, daß die Ehegatten gleiche Rechte und Pflichten bei der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe haben. Ohne Diskriminierung wegen eines der oben aufgeführten Merkmale hat jeder Staatsbürger das Recht an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten mitzuwirken, zu wählen oder gewählt zu werden und auf gleichen Zugang zu den öffentlichen Ämtern seines Landes (Art. 25) und jedes Kind ein Recht auf Schutzmaßnahmen durch Familie, Gesellschaft und Staat (Art. 24). Nach Art. 26 sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich; sie haben Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Jede Diskriminierung wegen eines der bei Art. 2 bereits aufgezählten Merkmale ist gesetzlich zu verbieten; gegen sie ist allen Menschen der gleiche und wirksame Schutz zu gewähren. Art. 27 sichert den Angehörigen ethnischer, religiöser oder sprachlicher Minderheiten das Recht zu, gemeinsam mit Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Erbe zu pflegen, ihre Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Dem gleichen Schutz ethnischer, religiöser und sprachlicher Minderheiten oder Ureinwohner dient auch Art. 30 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes 25 , das den Kindern von Minderheiten die gemeinsame Pflege der eigenen Kultur, Religion oder Sprache garantiert. c) Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte26 führt die Präambel aus, daß u.a. die Anerkennung der Gleichheit der Rechte aller Mitglieder der menschlichen Gesellschaft die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet. Nach Art. 2 haben die Staaten die Ausübung der in diesem Pakt verkündeten Rechte zu gewährleisten; es werden die gleichen Diskriminierungsverbote aufgeführt wie bei Art. 2 und Art. 26 IPBPR. Mann und Frau sind bei der Ausübung aller im Pakt festgelegten Rechte gleichberechtigt (Art. 3). Die Ehe darf nur im freien Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden (Art. 7 Nr. 1). Alle Arbeitnehmer, auch die Frauen, haben Recht auf gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit. Frauen dürfen keine ungünstigeren Ar-
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Vom 20.11.1989 (BGBl. 1992 II S. 121). BGBl. 1973 I I S . 1570.
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beitsbedingungen als Männer haben, sowie die gleichen Möglichkeiten beim beruflichen Aufstieg, für den keine anderen Gesichtspunkte als Beschäftigungsdauer und Befähigung ausschlaggebend sein dürfen. d) Ein Verbot der Diskriminierung in Geschäft und Beruf findet sich bereits im ILO Übereinkommen 111 vom 25.6.1958,27 das die Mitgliedstaaten u.a. zu einer durch Gesetze abzusichernden (Art. 3 Buchst, b, c) Politik verpflichtet, die mit Methoden, die „den innerstaatlichen Verhältnissen und Gepflogenheiten angepaßt" sind, die Gleichheit der Gelegenheiten und der Behandlung in bezug auf Beschäftigung und Beruf fordert und jegliche Diskriminierung auf diesem Gebiet ausschaltet (Art. 2). Diskriminierung ist jede diese Gleichheit beeinträchtigende Unterscheidung, Ausschließung oder Bevorzugung wegen Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Glauben, politischer Meinung, nationaler Abstammung oder sozialer Herkunft (Art. 1 Abs. 1 Buchst, a). Diesen Begriff erweitert Art. 1 Abs. 1 Buchst, b dahin, daß er auch jede andere Unterscheidung, Begünstigung oder Bevorzugung umfaßt, die dazu führt, die Gleichheit in Beschäftigung oder Beruf aufzuheben oder zu beeinträchtigen. e) Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7.3.196628 verpflichtet die Vertragsstaaten zu ihrer Beseitigung. Nach seiner Präambel sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich und haben ein Recht auf gleichen gesetzlichen Schutz gegen jede Diskriminierung und gegen jede Aufreizung zur Diskriminierung. Als Rassendiskriminierung wird jede auf Rasse, Hautfarbe, Abstammung, nationalem Ursprung oder Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung angesehen, die zum Ziel oder zur Folge hat, daß das gleichberechtigte Anerkennen, Genießen oder Ausübung von Menschenrechten und Grundfreiheiten in politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Bereichen oder auf jedem sonstigen Gebiet des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird (Art. 1 Abs. 1). Sondermaßnahmen, die einzig zu dem Zweck getroffen werden, eine angemessene Entwicklung schutzbedürftiger Rassengruppen, Volksgruppen oder Personen zu gewährleisten, damit diese die Menschenrechte und Grundfreiheiten gleichberechtigt ausüben können, gelten nicht als Rassendiskriminierung. Sie sind zulässig, sofern sie nicht die Beibehaltung getrennter Rechte für verschiedene Rassegruppen zur Folge haben und nicht nach Erreichung ihres Zieles fortgeführt werden (Art. 1 Abs. 4).
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Ratifiziert mit Gesetz vom 8.3.1961 (BGBl. II S.97). BGBl. 1969 II S. 962.
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f) Das Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau vom 31.3.1953 29 legte bereits vor dem IPBPR die Gleichheit der Rechte von Frauen und Männern bei allen Wahlen fest (Art. II), sowie das Recht der Frauen, ohne jede Zurücksetzung unter den gleichen Bedingungen wie Männer öffentliche Ämter zu bekleiden. Das spätere Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979 30 entstand, wie die Präambel hervorhebt, aus der Besorgnis, daß die Frauen trotz der verschiedenen internationalen Urkunden weiterhin diskriminiert werden und vor allem dort, wo Armut herrscht, in jeder Hinsicht zu kurz kommen. Nach Art. 1 dieses Abkommens gilt als Diskriminierung jede in dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die eine Beeinträchtigung der Gleichberechtigung der Geschlechter in irgend einem Lebensbereich zur Folge hat. Die Art. 2 bis 16 verpflichten die Vertragsstaaten durch eine Reihe detaillierter Regelungen zur Herstellung der Gleichberechtigung der Frauen in allen Lebensbereichen, von der politischen Betätigung und der Teilnahme am Berufsleben bis zu der Betätigung auf wirtschaftlichem, kulturellem und bildungspolitischem Gebiet, dem Schutz der Mutterschaft, dem Ausbau der Kinderbetreuung (Art. 11 Abs. 2) und dem Schutz vor automatischem Verlust der Staatsangehörigkeit durch die Ehe mit einem Ausländer (Art. 9). Nach Art. 4 werden zeitliche Sondermaßnahmen zur beschleunigten Herbeiführung der De-facto-Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht als Diskriminierung angesehen, wenn sie nicht die Beibehaltung ungleicher und gesonderter Maßnahmen zur Folge haben; sie sind aufzuheben, sobald die Ziele der Gleichbehandlung und Chancengleichheit erreicht sind. 4. Neben diesen weltweit allen Staaten zum Beitritt offenen Übereinkommen verpflichten auch regionale Übereinkommen ihre Mitgliedstaaten zur Gleichbehandlung und zur Beseitigung aller Diskriminierungen. a) Die am 4.11.1950 in Rom geschlossene Europäische Menschenrechtskonvention mit ihren späteren Änderungen durch Zusatzprotokolle 31 hat durch den Beitritt fast aller europäischer Staaten herausragende Bedeutung erlangt 32 . Ihr Grundrechtsteil blieb unverändert, er wurde später durch weitere Rechtsgarantien ergänzt. Anders als etwa in Art. 26 IPBPR erstreckte sich die Gleichbehandlungspflicht in Art. 14 EMRK nur auf die in der EMRK und ihren Zusatzprotokollen verbürgten Schutz- und Freiheitsrechte.
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BGBl. 1969 II S. 1930. BGBl. 1985 II S.648; vgl. dazu etwa Körner ZRP 2005 223. 31 Neubekanntmachung der überarbeiteten deutschsprachigen Übersetzung der am 1.11.1998 geltenden Fassung vom 17.2.2002 (BGBl. II S. 1054). 32 Sie gilt jetzt in 46 europäischen Staaten einschließlich Türkei und Rußland. 30
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Diese werden jedermann gewährleistet ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politische und sonstige Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status; die Aufzählung hat keinen abschließenden Charakter („insbesondere"). Art. 1 Abs. 1 des 12. Protokolls vom 4.11.200033 ergänzt die EMRK durch ein umfassendes, nicht auf die Konventionsverbürgungen beschränktes Verbot der Diskriminierung wegen der bereits in Art. 14 EMRK herausgestellten Gesichtspunkte. Nach seiner Präambel hindert der Grundsatz der Nichtdiskriminierung die Vertragsstaaten nicht, Maßnahmen zur Förderung der vollständigen und wirksamen Gleichbehandlung zu treffen, wenn es eine objektive und vernünftige Rechtfertigung dafür gibt. b) Die Europäische Sozialcharta vom 18.10.196134 fuhrt in ihrer Präambel auf, daß die Ausübung sozialer Rechte sichergestellt sein muß ohne Diskriminierung aus Gründen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Religion, der politischen Meinung, der nationalen Abstammung oder der sozialen Herkunft. Bei dem Recht männlicher und weiblicher Arbeitnehmer auf gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit wird dies nochmals ausgesprochen (Art. 4 Nr. 3). Sonderregelungen läßt die Sozialcharta zu in Art.7 und 8 zum Schutze Jugendlicher und weiblicher Arbeitnehmerinnen (Mutterschutz, und Verbot der Untertagearbeit in Bergwerken und gefahrlichen und gesundheitsschädlichen Arbeiten). c) Weitere Übereinkommen der Mitgliedstaaten des Europarats runden dieses Vertragsnetz ab. Dazu gehört auch das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1.2.199535, das Minderheiten innerhalb eines Staates vor den Folgen einer allgemeinen Gleichbehandlung dadurch schützen soll, daß ihr Recht auf eigenes kulturelles Leben, eigene Religion und eigene Sprache anerkannt wird. Der Gleichwertigkeit der Verwirklichung unterschiedlicher Lebensformen wird ein höherer Wert eingeräumt als einer rein formal verstandenen Gleichmacherei.
IV. 1. Dieser Überblick zeigt die Vielzahl der in der Bundesrepublik bereits nebeneinander geltenden, sich deckenden oder überschneidenden nationalen und internationalen Normen, die unabhängig von den jetzt im AGG umge33
A m 1.4.2005 in Kraft getreten, vgl. EuGRZ 2005 281.
34
BGBl. 1964 II S. 1262.
35
BGBl. 1997 II S. 1408, in Kraft seit 1.2.1998 (BGBl. II S. 57).
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setzten Richtlinien zur Gewährleistung der Gleichbehandlung verpflichten und den sachlichen Gehalt dieser Pflichten bereits durch weitgehend identische Diskriminierungsverbote festlegen. Da die fraglichen Richtlinien sich in deren Grenzen halten, können ihre gelegentlich zu weit gefaßten Verbote nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Regelungsfreiheit hat der nationale Gesetzgeber nur dort, wo diese Richtlinien Raum für eigene innerstaatliche Regelungen lassen. Insoweit müssen dann aber etwaige Regelungspflichten beachtet werden, die sich aus den völkerrechtlichen Übereinkommen ergeben. Allerdings ist bei einzelnen Konventionen die Tragweite der Vertragspflichten strittig, vor allem, ob dem Staat aus seiner Verpflichtung, Schutz vor bestimmten Diskriminierungen zu gewährleisten, auch die Pflicht erwächst, Diskriminierungen im Rechtsverkehr zwischen Privaten zu verbieten.36 Des Weiteren machte der Streit um das rechtliche Instrumentarium, mit dem die Beachtung der Diskriminierungsverbote innerstaatlich erzwungen werden soll, praktisch nur noch insoweit Sinn, als die bestehenden europäischen Richtlinien nicht die Umsetzungsmodalitäten bereits selbst festgelegt haben. Unabhängig von diesen Bindungen bleibt die grundsätzliche Problematik. Zu ihrer Verdeutlichung sollen einige Grundüberlegung in Erinnerung gerufen werden: Die gleichberechtigte Teilnahme aller Bürger am öffentlichen Leben und an der politischen Willensbildung ist als Strukturprinzip jedes demokratisch verfaßten Staatswesens heute allgemein anerkannt.37 Die Achtung der Menschenwürde und die in der Verfassung und den Konventionen jedermann gewährleisteten Freiheitsrechte setzen die Rechtsgleichheit aller Menschen als Grundrechtsträger voraus. Als allgemeiner Verfassungsgrundsatz, der in der Menschenwürde und im Rechtsstaatsgrundsatz wurzelt, verpflichtet er alle Träger öffentlicher Gewalt, auch den Gesetzgeber.38 In der Bundesrepublik gewährt Art. 3 Abs. 1 GG jedem ein nach Art. 19 Art. 1 GG gerichtlich durchsetzbares, subjektiv-öffentliches Recht auf Gleichbehandlung39, mit dem er sich gegen jede Ungleichbehandlung durch Organe der öffentlichen Gewalt wehren kann. Die internationalen Menschenrechtsübereinkommen verpflichten die Vertragsstaaten, dafür zu sorgen, daß ihre Organe
36 Bejahend für das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau Körner ZRP 2005 223 unter Hinweis auf BVerfC NJW 2004 164; veraeinend für Art. 14 EMRK, Art. 1 des 12. ZP EMRK Meyer-Ladewig HK.-EMRK Art. 14 EMRK Rn. 4; zur sog. Horizontalwirkung beim IPBPR Nowak CCPR-Kommentar Art. 2 IPBPR Rn. 20 ff; Art. 26 IPBPR Rn. 16 ff. 37 So schon BVerfGE 5 85; 205. 38 Etwa BVerfGE 1 14, 52; 13 331, 355; Heun in: Dreier, GG 2. Aufl. Art. 3 Rn. 46. Di Fabio AöR 122 (1997) 404, 406, 409. 39 Etwa BVerfGE 40 296, 318. Zum Vergleich mit der anderen Rechtslage im Frankreich (nur Klagerecht wegen objektiver Rechtsverletzung) Schilling EuGRZ 2000 3, 24 ff.
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die in der jeweiligen Konvention festgelegten Gleichheitsrechte jedermann gewährleisten (vgl. etwa Art. 1, Art. 14 EMRK; Art.l des 12. Zusatzprotokolls; Art. 2 IPBPR). Ob dies auch die Pflicht einschließt, außerhalb des staatlichen Bereiches Diskriminierungen zwischen Privatpersonen zu verhindern, hängt von der Auslegung der einzelnen Verträge ab. Das Gleichbehandlungsgebot der Verfassung und die daraus abgeleiteten Pflichten sind vielfach mit Freiheitsrechten verschränkt, deren Schutz die Verfassung ebenfalls gebietet. Rechtsgleichheit ist einerseits eine Voraussetzung dafür, daß die Freiheitsrechte von jedermann gleichermaßen ausgeübt werden können, sie sichert selbst aber keine Freiheitsrechte. Der dem Einzelnen von der Verfassung verbürgte private Freiheitsraum setzt umgekehrt jeder Pflicht zur Gleichbehandlung Dritter Schranken. Das primär den Staat verpflichtende Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG begründet für sich allein keine wechselseitigen Gleichbehandlungspflichten zwischen Privaten. Eingriffe in die verfassungsrechtlich gewährleistete Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) muß der Staat rechtlich festlegen,40 sei es durch ein Spezialgesetz, sei es durch eine dies inhaltlich mitumfassende Generalklausel41. Dafür bedarf der Gesetzgeber eines zureichenden sachlichen Grundes. Als Ausdruck allgemeiner Wertvorstellungen werden solche Einschränkungen der Handlungs- und Vertragsfreiheit für begrenzte Bereiche als zulässig angesehen, so etwa beim Wettbewerbs- und Arbeitsrecht42 und begrenzt auch beim Mietrecht43. Bei Massengeschäften oder Kollektivverträgen, bei denen die individuellen Verhältnisse meist keine Rolle spielen, fällt der Eingriff in den Privatbereich als solcher kaum ins Gewicht, allenfalls seine Sanktionierung. Fragen der Abgrenzung stellen sich vor allem dort, wo der Staat in die grundsätzlich von ihm zu respektierende Individualsphäre fühlbar eingreift. Gleichbehandlungspflicht und Freiheitsrechte beschränken sich wechselseitig, Die widerstreitenden Prinzipien müssen durch Auslegung zur Konkordanz gebracht werden.44 Wo dagegen die verfassungsrechtlich und in den Menschenrechtspakten geschützte Privatautonomie des Einzelnen eindeutig vorgeht, darf ihm der Staat, aus welchen Gründen auch immer, keine Rechtspflicht zur Gleichbehandlung Dritter auferlegen; er darf das Recht auf freie Gestaltung der privaten Lebensführung (vgl. Art. 8 EMRK, Art. 17 IPBPR) nicht für einen wesent40
Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit etwa Gubelt in: v. Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, 4. Aufl., Rn. 2. 41 Etwa §§ 138, 242 BGB. Zu den Fragen des Kontrahierungszwangs vgl. Bor Staudinger BGB (2004) Vorbem. zu §§ 145-156 BGB Rn. 24 ff., Krämer Münchner Kommentar (4. Aufl.) Vor § 145 BGB. Rn. 9 ff. 42 43 44
Vgl. §§ 61 la, 611b BGB; jetzt § 7 AGG. Vgl. § 554a BGB und jetzt § 19 Abs. 3, 5 AGG. Vgl. etwa Jarass/Pierroth GG 8. Aufl. Rn. 3, 21 mwN.
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liehen Teil dieses Lebensbereiches aufheben oder substantiell entwerten. Diese Grenze erkennt auch das Europarecht an. Seine Diskriminierungsverbote dürfen „andere Grundrechte und Freiheiten nicht beeinträchtigen". Zu diesen zählen „der Schutz des Privat- und Familienlebens und die in diesem Kontext stattfindenden Transaktionen sowie die Religionsfreiheit".45 Umgekehrt vermag eine wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG unwirksame Regelung des Staates, die einen Bürger ohne zureichenden Grund zur Ungleichbehandlung eines Dritten verpflichtet, diesen Eingriff in seine allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) nicht rechtfertigen.46 2. Jede Anwendung des Gleichheitssatzes erfordert den wertenden Vergleich zweier Sachverhalte. Es kommt stets darauf an, unter welchem Blickwinkel und für welche Zwecke die Gleichheit oder Ungleichheit von Personen oder Lebensverhältnissen zu beurteilen ist.47 Wo der Gesetzgeber dies zu entscheiden hat, ist er an das Wertsystem der Verfassung gebunden und im übrigen zu einer vernünftigen, sich aus der Sache ergebenden und den Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechenden Regelung verpflichtet.48 Für welchen Zweck Sachverhalte gleich zu achten und welche tatsächlichen Unterschiede dabei außer acht zu lassen sind, hängt von den jeweils vorherrschenden Anschauungen und Leitvorstellungen in der Gesellschaft ab. Diese sind zeitbezogenen. Als Ausdruck einer bestimmten Weltsicht wollen sie oftmals nicht nur überkommene Auffassungen bestätigen, sondern zukunftsbezogen eine nicht durchgehend anerkannte Gleichbehandlungspflicht allgemein erzwingen. So gehören zu den Merkmalen, deren Berücksichtigung nach heutiger Auffassung das Grundgebot der Gleichbehandlung verletzt, auch solche, die noch vor einigen Jahrzehnten als so ungleich angesehen wurden, daß niemand in ihrer unterschiedlichen Behandlung in Gesetzgebung, Rechtsprechung und im Rechtsverkehr ein Problem des Gleichheitsgebotes gesehen hat, wie etwa bei dem erst spät in den Katalog aufgenommenen Verbot der Diskriminierung nach der sexuellen Ausrichtung. 3. Anders als der wertneutrale Begriff Differenzierung wird der Begriff Diskriminierung heute meist im negativen Sinn verstanden, als ein Verhalten, durch das jemand wegen einer Eigenschaft oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ohne sachlich vernünftigen, gesellschaftlich anerkannten Grund gegenüber anderen benachteiligt wird.49 Ungleichbehand-
45 46 47 48 49
So die Vorbemerkung der RL 2004/113/EG vom 13.12.2004. BVerfGE 85 191,206, dazu Di Fabio AöR 122 (1997) 404,409. Etwa BVerfGE 71 155, 271; 81 108, 117. Etwa BVerfGE 9 338, 349; 55 114, 128; 71 255,271. Etwa EGMR 6.7.2005 Nachova u.a./Bulgarien EuGRZ 2005 693.
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lung aus einem anerkannten sachlichen Grund ist nicht diskriminierend. Vor allem wo das Verbotsmerkmal zu weit gefaßt ist, wie etwa bei der Diskriminierung wegen des Alters, ist die sinngemäße Reduzierung des Anwendungsbereichs unumgänglich. Die Richtlinie 2000/78/EG hebt deshalb in Nrn. 14 und 25 ihrer Erwägungsgründe hervor, daß Ungleichbehandlungen wegen des Alters auch sachlich gerechtfertigt sein können.50 Die Richtlinien der EU sehen eine unmittelbare Diskriminierung bereits darin, daß eine Person „in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere erfahren hat oder erfahren würde".51 Sie stellen auf das objektive Ergebnis ab, wobei eine Ungleichbehandlung nur durch schwerwiegende sachliche Gründe52 gerechtfertigt werden kann. Die Grenzen für solche Ausnahmen werden eng gezogen. So wurde sogar in einem Übermaß von Schutzvorschriften, die Frauen von schweren Arbeiten ausschlossen, eine unzulässige Frauendiskriminierung gesehen, etwa im Verbot der Beschäftigung von Frauen im untertägigem Bergbau oder bei Taucharbeiten,53 aber auch im Nachtarbeitsverbot.54 Abgesehen vom Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) gelten die Differenzierungsverbote, so wie es dem allgemeinen Gleichheitssatz entspricht, in beiden Richtungen (Benachteiligung oder Bevorzugung). Die Aufzählung in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG nennt neben dem Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben und religiöse oder politische Anschauungen. Dies schließt nicht aus, daß die Diskriminierung auch wegen anderer Gesichtspunkte, wie etwa Alter und sexuelle Identität55, unzulässig ist. Die Menschenrechtskonventionen zählen die einzelnen Diskriminierungsverbote ohnehin nur als Beispiele („insbesondere") auf, so der auf Konventionsrechte beschränkte Art. 14 EMRK und der jetzt die Gleichbehandlung umfassend garantierende Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls, ebenso Art. 2 Abs. 2 und Art. 26 IPBPR. Dort wird die Liste der Differenzierungverbote des Art. 3 Abs. 3 GG noch um die Hautfarbe, die Sprache, das Vermögen, die Geburt oder ein sonstiger Status erweitert; wobei bei der Herkunft verdeutlicht wird, daß damit sowohl die nationale als auch die soziale Herkunft gemeint ist. Die gleichen Diskriminierungsverbote finden sich in Art. 2 Abs. 2 des Paktes über wirtschaftliche soziale und kulturelle Rechte. Dort werden sie allerdings nicht 50
Art.6 RL 2000/78 EG, jetzt auch § 10 AGG; vgl. Kopke NJW 2006 1040, 1041. Vgl. RL 76/207 EG, RL 2000/78 EG, RL 2000/43 EG, jeweils Art. 2 Abs. 2 Buchst, a; RL 2004/113 EG Art. 2 Buchst, a.; ebenso § 3 Abs. 1 AGG. 52 BVerfGE 85 191 ff. (nur wenn zur Lösung von allein bei Männern oder Frauen auftretenden Problemen zwingend erforderlich). 53 EuGH EuGRZ 2005 124. 54 BVerfGE 85 191,207. 55 Vgl. Art. 13 EGV; § 1 AGG. 51
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als Beispiele aufgeführt und durch die Einschränkung ergänzt, daß die Entwicklungsländer entscheiden können, wieweit sie Personen, die nicht ihre Staatsangehörigen sind, die im Pakt anerkannten wirtschaftlichen Rechte gewährleisten wollen (Art. 2 Abs. 3). Im Übereinkommen zur Beseitigung der Rassendiskriminierung wird der im Grunde wenig spezifische Begriff Rasse durch weitere Begriffe wie Hautfarbe, Abstammung, nationaler Ursprung und Volkstum ergänzt.56 Neuere Texte führen daneben noch die ethnische Herkunft 57 an. Da sich diese Begriffe überschneiden, wirken sich die Unterschiede der Auflistung - abgesehen von der Plakatwirkung kaum auf den Anwendungsbereich aus58. Im übrigen verdeutlichen Diskriminierungsverbote immer nur einen Teilaspekt des allgemeinen Gleichbehandlungsgebots, das den Organen der öffentlichen Hand jede sachlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung auch verbietet, wenn ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot fehlt. An die Stelle der bereits verbindlich verordneten Gleichheit tritt dann die Prüfung im Einzelfall, deren verbindliche Maßstäbe sich meist aus den anderweitig im nationalen und internationalen Recht festgelegten Wertungen ergeben. Um Diskriminierungsverbote in der Gesellschaft wirksamer durchsetzen zu können, wird nicht nur die offensichtliche direkte sondern auch die verdeckte, mittelbare Diskriminierung untersagt. Eine solche soll schon vorliegen, wenn sich eine nachteilige Entscheidung nur dem Anschein nach auf neutrale Kriterien stützt, ihr Ergebnis aber auch durch einen dem Diskriminierungsverbot unterliegenden Gesichtspunkt mitbestimmt wurde, ohne daß dies sachlich gerechtfertigt und zur Erreichung eines rechtmäßigen Ziels angemessen und erforderlich59 war. 4. Die Diskriminierungsverbote sind nach den Richtlinien durch Sanktionen zu sichern, wobei vor allem Strafen und Schadensersatzansprüche angeführt werden. Die Sanktionen sollen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend" sein60, eine manchmal schwer miteinander in Einklang zu 56
Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens. Zum unklaren Begriff Rasse Nickel NJW 2001 2668, 2670. 57 Etwa Art. 13 EGV, § 1 AGG; Art. II 81 Abs. 1 des Entwurfs einer Europäischen Verfassung. 58 Anders bei den nur im Europarecht zu findenden Differenzierungsverboten wegen des Alters und der sexuellen Identität. 59 RL 76/207 EG Art. 2 Abs. 2; RL 2000/78 EG, RL 2000/43 EG jeweils Art. 2 Abs. 2 Buchst, b; RL 2004/113 EG Art.2 Buchst, b sowie Kischel EuGRZ 1997 1, 8. Art. 3 Abs. 2 AGG stellt auf die besondere Benachteiligung durch nur den Anschein nach neutrale Vorschriften ab, die durch kein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, angemessen und erforderlich sind. 60 Vorbem. Nr. 26 RL 2000/43 EG; Art. 15 RL 2000/43 EG, Art. 17 RL 2000/78 EG; Art. 14 RL 2004/113 EG.
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bringende Vorgabe. Da beim Streit um Ersatz- oder Entschädigungsansprüche wegen einer Diskriminierung im privaten Rechtsverkehr deren Vorliegen nur schwer feststellbar ist, sehen die Richtlinien verfahrensrechtliche Erleichterungen vor, so die Verschiebung der Beweislast bei glaubhaft behaupteter Diskriminierung61 oder eine statistische Beweisführung. 62 Die Verteidigung gegen unberechtigte Ansprüche kann deshalb in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Die deshalb nötige vorsorgliche Sicherung der Beweise aber erfordert einen erheblichen Aufwand. Von der Umkehr der Beweislast nehmen die Richtlinien das Strafverfahren, bei dem dies problematisch wäre, ausdrücklich aus; sie sehen darüber hinaus vor, daß von der Beweislastumkehr auch bei Verfahren abgesehen werden kann, bei denen der Sachverhalt vom Amts wegen ermittelt wird.63 Die jetzt in den §§26 ff. AGG geregelte Überwachung der Diskriminierungsverbote durch eine unabhängige behördliche Stelle, an die sich jeder wenden kann, der sich diskriminiert fühlt, entspricht Forderungen der EG-Richtlinien64. Gleiches gilt fur die Beteiligung außenstehender gesellschaftlicher Gruppierungen („Antidiskriminierungsverbände") an Verfahren wegen einer Diskriminierung.65 Nach § 23 AGG können diese sich als Beistände bei gerichtlichen Verfahren beteiligen, bei denen die anwaltschaftliche Vertretung nicht zwingend vorgesehen ist. Die früher erörterte eigene Klagebefugnis dieser Verbände, die sogar gegen den Willen der Betroffenen zulässig sein sollte, ist nicht Gesetz geworden. 5. Die Tendenz, den Umbau der Gesellschaft zu mehr Gleichheit durch einseitig begünstigende Pflichten zur Förderung bisher unterrepräsentierter Gruppen schneller voranzutreiben und so zukunftsbezogen eine in Beruf und Gesellschaft faktisch noch nicht voll erreichte völlige (numerische?) Gleichheit beschleunigt herbeizuführen, hat im nationalen Recht ebenso wie im Europarecht und in den internationalen Verträgen dazu geführt, die Maßnahmen zuzulassen, die die konkrete Gleichbehandlungspflicht auflockern, so das auf Verbesserung der Gleichheit der Ausgangschancen66 der
61 Vgl. Art. 10 RL 2000/78 EG; Art. 9 RL 2004/113 EG. § 22 AGG fordert fiir die Beweislastumkehr den Nachweis von Indizien, die eine Benachteiligung vermuten lassen. 62 Vgl. jeweils Vorbem. 15 der RL 2000/43 EG und 2000/78 EG. 63 Art. 8 Abs. 3, 5 RL 2000/43 EG; Art. 10 Abs. 3, 5 RL 2000/78 EG; Art. 9 Abs. 3, 5 RL 2004/113 EG. 64 Vgl. Art. 13 RL 2000/43 EG, Art. 12 RL 2004/113 EG. 65 Vgl. Art. 6 Abs.3 RL 76/207 EG; Art. 9 Abs.2 RL 2000/78 EG: 66 Etwa Kannengießer in Schmidt-Bleibtreu/Klein GG Art. 3 Rn. 56: Die weitergehende Forderung nach „Ergebnisgleichheit" hat sich nicht durchsetzen können, vgl. Vogel FS Benda 395, 405.
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Frauen abzielende Gebot des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG,67 oder Art. 3 und 4 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau. Die Präambel des die Gleichbehandlung jetzt allgemein garantierenden 12. Protokolls zur EMRK führt ebenfalls aus, daß der Grundsatz der Nichtdiskriminierung die Vertragsstaaten nicht hindert, Maßnahmen zur „Förderung der vollständigen und wirksamen Gleichstellung zu treffen, wenn es eine objektive und vernünftige Rechtfertigung dafür gibt".68 Zeitweilige Fördermaßnahmen zum Ausgleich noch fortwirkender früherer Benachteiligungen und zur beschleunigten Herbeiführung der De-FactoGleichheit läßt auch Art. 1 Abs. 3 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung zu. Eine Pflicht der Vertragsstaaten zu solchen Maßnahmen begründen diese internationalen Übereinkommen aber nicht. Da bei ihnen Gleichbehandlungspflicht und die Zulassung einer gruppenbezogenen Förderung auf der gleichen rechtlichen Ebene stehen, wäre durch Auslegung ohnehin eine Konkordanz erreichbar. Im Geltungsraum des Art. 3 Abs. 2 GG ist dies problematischer. Wegen der Tragweite des individuellen Grundrechts auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) ist strittig, ob gruppenspezifische Fördermaßnahmen (Quotenregelungen u.a.) verfassungsrechtlich zulässig sind, wenn die gesellschaftlich noch nicht voll erreichte (statistische?) Gleichheit für die Zukunft dadurch hergestellt werden soll, daß bei gegenwärtigen Entscheidungen ein Angehöriger der bisher unterrepräsentierten Gruppe gleichheitswidrig bevorzugt wird. Das an den Staat gerichtete und als Staatsziel verstandene Fördergebot des Art. 3 Abs. 2 GG begründet keinen Individualanspruch69. Es ist daher strittig, ob aus Absatz 2 Satz 2 oder auch schon aus dessen Satz 1 hergeleitet werden kann, daß das Verbot des Art. 3 Abs. 3 GG und das individuelle Grundrecht auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) eingeschränkt werden dürfen, um im Einzelfall einen Angehörigen der unterrepräsentierten Gruppe zu Lasten eines gleich- oder besser qualifizierten Mitbewerbers aus der anderen Gruppe zu bevorzugen. Grundsätzlich ermächtigt die Umsetzung einer Staatszielbestimmung nicht dazu, das persönliche Grundrecht des Einzelnen auf Gleichbehandlung zu verletzen.70 Bei Angehörigen des öffentlichen Dienstes steht auch Art. 33 Abs. 2 GG entgegen, der allen Staatsbürgern den
67 Vgl. BVerfGE 74 163, 180; 85 191, 297; 92 91, 109, wo das Gleichberechtigungsgebot bereits dem Art. 3 Abs. 2 Satz 1 entnommen wird; dazu Di Fabio AöR 112 (1997) 404,410 ff. 68 Vgl. auch Art. II 83 des Entwurfs einer Europäischen Verfassung, wonach der Grundsatz der Gleichheit von Männern und Frauen der Beibehaltung oder der Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegensteht. 69 Weitgehend h.M, etwa Kannengießer in: Schmidt/Bleibtreu/Klein, Art. 3 GG Rn. 5. 70 Vgl. Scholz in: Maunz/Dürig/Scholz, Art. 3 Abs. 2 Rn. 62; Gubelt in: v. Münch/Kunig, GG 4. Aufl. Art. 3 Rn. 93d.
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gleichen Zugang zum öffentlichen Dienst garantiert71. Auf diese bereits bei der Beratung des späteren Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG strittigen und durch dessen Erlaß nicht geklärten Fragen kann hier nicht näher eingegangen werden.72 Der Europäische Gerichtshof hat sich im Zusammenhang mit der Umsetzung der Richtlinie 72/207 EWG 73 mehrmals damit befaßt. Er hat es als eine unzulässige Diskriminierung der Männer angesehen, wenn eine nationale Regelung den weiblichen Bewerbern um eine Beförderungsstelle in Bereichen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, automatisch den Vorrang vor den männlichen Bewerbern einräumt.74 Dies hat er in einer späteren Entscheidung bestätigt,75 dort aber dahin modifiziert, daß bei Bewerbern mit gleicher Qualifikation weiblichen Bewerbern um Beförderungsstellen der Vorrang eingeräumt werden darf, wenn die Frauen bisher unterrepräsentiert sind und bei objektiver Beurteilung des Einzelfalls die für den männlichen Bewerber sprechenden Gründe nicht überwiegen.76 Das Grundgesetz begründet Förderpflichten nur in Art. 3 Abs.2 (Gleichberechtigung von Frauen und Männern) und in Abs.3 Satz 2 (Behinderte). Bei anderen Personengruppen verbieten Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG jede Benachteiligung oder Begünstigung, so daß aus dem Grundgesetz eine Auflockerung seines strikten Gleichbehandlungsgebots zu Gunsten anderer als unterprivilegiert angesehener Gruppen nicht hergeleitet werden kann. Die völkerrechtlichen Verträge, die temporär auch bei diesen eine einseitige Förderung vorübergehend zulassen, stellen dies den Vertragsstaaten nur anheim; sie verpflichten sie nicht dazu. Da sie innerstaatlich als einfaches Bundesrecht gelten, könnten sie das Grundrecht des Einzelnen auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) und das in beiden Richtungen zielende Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG auch bei der gebotenen völkerrechtsfreundlichen Auslegung nicht einschränken. Die bisherigen Richtlinien auf Grund des Art. 13 EGV verpflichten die Staaten nicht dazu, durch einseitig begünstigende Maßnahmen frühere Benachteiligungen unterrepräsentierter Gruppen abzugleichen, so daß sich die in der „Solange"-
71 Di Fabio AÖR 122 (1997) 404, 419 ff. Den bereits in Art. 21 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geforderten gleichen Zugang zu den öffentlichen Ämtern legt auch Art. 25 Buchst, c IPBPR fest. 72 Vgl. HJ. Vogel FS Benda, 395, 405 ff. Zum Streitstand etwa Scholz in: Maunz/Dürig/ Scholz, Art. 3 Abs. 2 Rn. 59 ff. Kannengießer (aaO Fn. 70) GG Art. 3 Rn. 10; Jarrass/Pieroth GG 8. Aufl.Art. 3 Rn. 106. 73 Jetzt geändert durch die RL 2002/73 vom 23.9.2002. 74 EuGH NJW 1995 3110 (Kaianke), dazu Kokott NJW 1995 1040; Di Fabio AöR 122 (1997)404,431 ff. 75 EuGH NJW 1997 3429 (Marschall). 76 Unter Hinweis auf EuGH NJW 1989 3086 (Kommission/Frankreich).
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Rechtsprechung des BVerfG 77 angesprochenen Fragen nach den Grenzen des Vorrangs des Europarechts nicht stellen.
VI. Die fortschreitende Ausdifferenzierung und Ausweitung, die der Gleichbehandlungsgrundsatz durch immer neue Differenzierungsverbote erfahren hat, spiegelt nicht nur den Verständniswandel in Teilen unserer Gesellschaft wider. Sie ist auch von der Tendenz bestimmt, den noch nicht allgemein akzeptierten Wandel bestimmter gesellschaftlicher Anschauungen europaweit allgemeinverbindlich zu machen und seine nicht gesichert erscheinende Beachtung im Alltag zu Lasten des Freiheitsraums der Bürger von Staats wegen zu erzwingen.78 Diese auch im internationalen Recht angelegte Hinwendung zu Gedankengängen des Wohlfahrtsstaats, die Erzwingung des korrekten gesellschaftlichen Verhaltens durch Sanktionen und die damit einhergehende Überwachung durch eine ausufernde Bürokratie und durch interessierte Gruppen ist schwer vereinbar mit den ebenfalls erhobenen Forderungen nach Rückzug des Staates auf seine eigentlichen Aufgaben und nach mehr Eigenverantwortung der Bürger. Abgesehen von diesen Widersprüchen darf bezweifelt werden, ob Diskriminierungsverbote mit überzogenen Durchsetzungsmöglichkeiten der geeignete Weg sind, in der Gesellschaft eventuell noch fortwirkende Vorurteile abzubauen. Die Belastungen, die dadurch den Bürgern im täglichen Leben abverlangt werden und das Tätigwerden amtlich bestellter oder auch selbsternannter Diskriminierungswächter ist eher geeignet, Ablehnung zu provozieren. Der Versuch, freien Bürgern die korrekte Einstellung zu ihren Mitbürgern vom Amts wegen vorzuschreiben und jede Abweichung vom gesellschaftlich erwünschten Verhalten zu sanktionieren, ist nicht nur wegen der Einschränkung der Handlungsfreiheit problematisch. Gerade im sensiblen Bereich tradierter, gefühlsmäßig und nicht rational begründeter Vorurteile könnte weniger mehr bewirken. Die anzustrebende Kultur eines vorurteilsfreien Zusammenlebens erwächst letztlich immer nur aus innerer Überzeugung und nicht aus staatlichem Zwang. Das Gefühl für den hohen Wert der echten Gleichheit in einer freien Gesellschaft entsteht nicht dadurch, daß der Staat - und sei es nur für begrenzte Zeit - im wohlmeinenden Übereifer zur Förderung früher benachteiligter Gruppen die Gewichte vertauscht und früher unterrepräsentierte Gruppen jetzt umgekehrt gleichheitswidrig be-
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Vgl. BVerfGE 58 1; 74 358; 89 155; 192 147. In ironischer Übertreibung wird gelegentlich vom „Tugendterror" gesprochen, so Jahn FAZ 3.12.2005 bei einem die Gleichbehandlungspflicht bejahenden Urteil des EuGH. 78
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günstigt. Die feine Waage des Gleichbehandlungsgebots verträgt keine einseitige Verschiebung der Gewichte, ganz gleich aus welcher Absicht dies geschieht. George Orwell erzählte in der satirischen Parabel „Animal Farm" schon vor Jahren, wie die Tiere der Farm nach Vertreibung der Menschen sieben Regeln für ihr Zusammenleben an das Scheunentor schrieben, deren eine lautete „All animals are equal". Später blieb nur dieser Satz mit der Ergänzung „but some animals are more equal than others". Die stets nur in der Gegenwart zu verwirklichende Gleichheit jedes Einzelnen war damit am Ende.
Die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs in Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen strafgerichtliche Entscheidungen KARL HUBER
Verfassungsrecht und Strafrecht sind eng miteinander verknüpft. Wichtige Grundsätze des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrens, wie etwa das Gebot der Bestimmtheit der Strafrechtsnormen oder das Verbot der Doppelbestrafung wegen derselben Tat, sind unmittelbar in der Verfassung verankert. Im Strafverfahren ist wegen der schwerwiegenden Folgen der Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion für den Betroffenen in besonderer Weise auf die Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte zu achten. Verfassungsrecht und Strafrecht bilden Schwerpunkte des Werks von Prof. Dr. Reinhard Böttcher. Seinen 70. Geburtstag möchte ich zum Anlass nehmen, einen Überblick über die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs in Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen strafgerichtliche Entscheidungen zu geben. Prof. Dr. Böttcher gehörte dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof in den Jahren 1996 bis 2002 als berufsrichterliches Mitglied, ab Juli 2000 als Stellvertreter der Präsidentin an.
I. Die Zuständigkeiten des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Der Bayerische Verfassungsgerichtshof ist das oberste Gericht des Freistaates Bayern für staatsrechtliche Fragen.1 Die Formulierung "staatsrechtliche Fragen" meint nicht nur Streitigkeiten staatsorganisatorischer Natur, sondern umfasst allgemein verfassungsrechtliche Fragen. Die Absicht des Verfassungsgebers, einen Gerichtshof mit umfassenden Zuständigkeiten auf den Gebieten des Staatsrechts und des Verfassungsrechts zu schaffen, hat schon in der Bezeichnung des Gerichts als Verfassungsgerichtshof einen klaren Ausdruck gefunden, so dass aus der Formulierung in Art. 60 BV 1
Siehe Art. 60 BV.
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nicht auf einen eingeschränkten Aufgabenkreis geschlossen werden kann. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof entscheidet also nicht nur über die „klassischen" Streitigkeiten staatsrechtlicher Art, wie etwa die Verfassungsstreitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen des Freistaates Bayern oder die Anfechtung der Gültigkeit der Landtagswahlen. Er ist vielmehr auch zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden gegen Maßnahmen und Entscheidungen bayerischer Behörden und Gerichte2 sowie über Popularklagen gegen Rechtsvorschriften des bayerischen Landesrechts3 berufen. Hinsichtlich der Zahl der Verfahrenseingänge sind Verfassungsbeschwerden und Popularklagen Schwerpunkte der Arbeit des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. Von den knapp 8.000 Verfahren, die seit dem 1. Juli 1947 beim Verfassungsgerichtshof anhängig wurden, waren mehr als 80 % Verfassungsbeschwerden und etwa 15 % Popularklagen.4
II. Verfassungsbeschwerden zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof in den Jahren 1980 bis 2005 Mit der Verfassungsbeschwerde kann jeder Bewohner Bayerns, der sich durch eine bayerische Behörde oder ein bayerisches Gericht in seinen durch die Bayerische Verfassung gewährleisteten verfassungsmäßigen Rechten verletzt fühlt, den Verfassungsgerichtshof anrufen. Die meisten Verfassungsbeschwerden richten sich gegen Gerichtsentscheidungen. Eine Auswertung der in den Jahren 1980 bis einschließlich 2005 beim Verfassungsgerichtshof eingegangenen Verfassungsbeschwerden ergibt hierzu folgendes Bild: Von 1980 bis 2005 wurden beim Verfassungsgerichtshof 3.163 Verfassungsbeschwerden erhoben. Hiervon endeten 2.420 Verfahren ohne abschließende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, ζ. B. durch Rücknahme oder wegen Nichteinzahlung des Gebührenvorschusses. Über die restlichen 743 Verfassungsbeschwerden wurde vom Verfassungsgerichtshof in der Besetzung mit dem Präsidenten, drei berufsrichterlichen sowie fünf weiteren Mitgliedern entschieden. Somit erging in knapp einem Viertel der erhobenen Verfassungsbeschwerden eine abschließende Sachentscheidung des Verfassungsgerichtshofs.
2
Siehe Art. 120 BV. Siehe Art. 98 Satz 4 BV. 4 Ähnlich hoch ist der Anteil der Verfassungsbeschwerden an der Gesamtzahl der Verfahren beim Bundesverfassungsgericht. Mehr als 96% der zwischen 1951 und 2001 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Verfahren waren Verfassungsbeschwerden (Quelle: Website des Bundesverfassungsgerichts, www.bverfg.de). 3
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Von den durch Sachentscheidung abgeschlossenen 743 Verfassungsbeschwerden richteten sich mehr als die Hälfte, nämlich 402 Verfassungsbeschwerden (54 %), gegen Entscheidungen der Zivilgerichte. 162 Verfassungsbeschwerden (22 %) betrafen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen. In 123 Fällen (16,5 %) waren Entscheidungen der Gerichte und Staatsanwaltschaften in Strafsachen und Ordnungswidrigkeitenverfahren Gegenstand der Verfassungsbeschwerde.5 Der Anteil der Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts liegt damit beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof im Vergleich etwas niedriger als beim Bundesverfassungsgericht. 22,3 % der in den Jahren 1991 bis 1999 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Verfassungsbeschwerden richteten sich gegen Entscheidungen der Strafgerichte.6
III. Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs über Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts in den Jahren 1980 bis 2005
1. Gegenstand der Verfassungsbeschwerden des Strafrechts
aus dem Bereich
Die in den Jahren 1980 bis 2005 ergangenen 123 Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs über Verfassungsbeschwerden mit strafrechtlichem Hintergrund betreffen nicht nur die Verfassungsmäßigkeit der Verhängung strafrechtlicher Sanktionen gegen den jeweiligen Beschwerdeführer. Gegenstand der Verfassungsbeschwerden waren vielmehr alle Arten strafgerichtlicher Entscheidungen. a) Verurteilung zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe 38 der 123 Entscheidungen (etwa 30 %) haben die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe zum Gegenstand. Dabei ging es - wie die folgende Übersicht belegt - deutlich häufiger um niedrige bis mittlere Geldstrafen als um Haftstrafen.
5
Die restlichen 56 entschiedenen Verfassungsbeschwerden (7,5 %) betrafen sonstige gerichtliche und behördliche Verfahren, etwa Entscheidungen der Arbeits- und Sozialgerichte, Maßnahmen im Strafvollzug oder Petitionsentscheidungen des Bayerischen Landtags. 6 Quelle: Website des Bundesverfassungsgerichts, www.bverfg.de.
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In der angegriffenen Entscheidung verhängte Strafe Geldstrafe bis 30 Tagessätze
Freiheitsstrafe
Zahl der entschiedenen Verfassungsbeschwerden 14
31 bis 90 Tagessätze
10
91 bis 120 Tagessätze
6
3 Monate bis 1 Jahr
3
über 1 Jahr bis 2 Jahre
4
über 2 Jahre bis 4 Jahre
1
Gegenstand dieser Verfassungsbeschwerden waren somit tendenziell eher Verurteilungen wegen Straftaten aus dem Bereich der leichten Kriminalität. Dass Verurteilungen zu hohen Haftstrafen nicht mit der Verfassungsbeschwerde zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof angefochten werden, ist nicht überraschend. Straftaten mit hoher Straferwartung werden in erster Instanz bei den Strafkammern der Landgerichte angeklagt, gegen deren Urteile das Rechtsmittel der Revision zum Bundesgerichtshof eröffnet ist. Gegen die das fachgerichtliche Verfahren abschließende Entscheidung des Bundesgerichtshofs kommt eine Verfassungsbeschwerde zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof nicht in Betracht. Die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch ein Gericht des Bundes unterliegt nicht der Kontrolle des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs.7 b) Ablehnung von Anträgen auf Wiederaufnahme des Verfahrens In 10 Entscheidungen (etwa 8 % der entschiedenen 123 Verfassungsbeschwerden) überprüfte der Verfassungsgerichtshof die Verfassungsmäßigkeit der Ablehnung von Anträgen verurteilter Straftäter auf Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 359 ff. StPO). Anders als in den oben genannten Fällen ging es hier in aller Regel um Verurteilungen zu mittleren bis hohen Haftstrafen. Über die Ablehnung von Anträgen auf Wiederaufnahme entscheiden in der Beschwerdeinstanz die Landgerichte oder die Oberlandesgerichte. Eine weitere Beschwerde zum Bundesgerichtshof gibt es nicht.8 Unabhängig von der Höhe der verhängten Strafe sind somit für Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren auch in letzter Instanz die Gerichte der Länder zuständig. Der Weg zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof steht daher - bei letztinstanzlicher Ablehnung eines Wiederaufhahmeantrags durch ein bayerisches Gericht - grundsätzlich offen.
7 8
Vgl. BayVerfGH 22, 124 (125). Vgl. BGH in NStZ 1981, 489 - Fall van der Lübbe.
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c) Zwischenentscheidungen im Ermittlungsverfahren oder im strafgerichtlichen Verfahren Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs sind Zwischenentscheidungen selbständig mit der Verfassungsbeschwerde anfechtbar, wenn ein dringendes schutzwürdiges Interesse daran besteht, dass über die Verfassungsmäßigkeit sofort und nicht erst in Verbindung mit der Endentscheidung erkannt wird. Das erforderliche schutzwürdige Interesse liegt vor, wenn die Zwischenentscheidung bereits mittelbar in ein verfassungsmäßiges Recht eingreift und die Gefahr besteht, dass dadurch ein rechtlicher Nachteil entsteht, der später nicht mehr oder nicht vollständig behoben werden kann. 9 Im Bereich des Strafrechts werden relativ häufig bereits Zwischenentscheidungen bei den Verfassungsgerichten angefochten. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hatte zwischen 1980 und 2005 in 13 Fällen über die Verfassungsmäßigkeit strafgerichtlicher Zwischenentscheidungen zu befinden (etwa 10% der entschiedenen 123 Verfassungsbeschwerden). Die Verfahren betrafen die Anordnung von Untersuchungshaft (5 Fälle), die Anordnung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen (4 Fälle), die Anordnung von Untersuchungen von Personen (2 Fälle) und Entscheidungen über die Ablehnung eines Richters (2 Fälle). d) Verfassungsbeschwerden von Anzeigeerstattern 23 der 123 Entscheidungen (etwa 17 %) ergingen auf Verfassungsbeschwerden von Anzeigeerstattern. Gegenstand dieser Entscheidungen sind vor allem die Zurückweisung von Anträgen nach § 172 Abs. 2 StPO (Klageerzwingungsverfahren; 14 Fälle) und von Privatklagen (2 Fälle) sowie Entscheidungen über die Einstellung eines Strafverfahrens (5 Fälle).
9
Vgl. BayVerfGH 48, 50 (52); Meder Die Verfassung des Freistaates Bayern, 4. Aufl., 1994, Art. 120 Rn. 8.
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e) Entscheidungen der Gerichte in OWi-Sachen Entscheidungen der Gerichte in Ordnungswidrigkeitenverfahren waren in 25 der 123 Entscheidungen (etwa 20%) Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Schwerpunkt sind hier die Verkehrsordnungswidrigkeiten (17 Fälle). f) Sonstige Entscheidungen der Strafgerichte Die verbleibenden 14 der 123 Entscheidungen (etwa 11 %) betreffen sonstige Beschlüsse der Strafgerichte, etwa den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, die Versagung von Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen oder die Auferlegung der Kosten eines Strafverfahrens.
2. Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts Die Erfolgsquote der in den Jahren 1980 bis 2005 entschiedenen 123 Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts und des Rechts der Ordnungswidrigkeiten liegt bei 3,25 %, mit anderen Worten, nur 4 der 123 Verfassungsbeschwerden waren begründet. 34 der 123 Verfassungsbeschwerden (etwa 28 %) waren unzulässig. Die restlichen 85 Verfassungsbeschwerden (etwa 69 %) wurden als unbegründet zurückgewiesen. Den Beschwerdeführern der als unbegründet zurückgewiesenen Verfassungsbeschwerden wurde in 69 Fällen eine Gebühr nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 VfGHG 10 auferlegt. Das heißt, der Großteil der als unbegründet zurückgewiesenen Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts wurde von den Verfassungsrichtern als „offensichtlich unbegründet" angesehen. Die Erfolgsquote der in diesem Zeitraum entschiedenen 620 Verfassungsbeschwerden aus dem nicht strafrechtlichen Bereich ist deutlich höher. 112 der 620 „nicht strafrechtlichen" Verfassungsbeschwerden waren begründet. Dies entspricht einer Erfolgsquote von etwa 18 % . "
10
Gesetz über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof. " Die Erfolgsquoten von 3,25 % bei den strafrechtlichen Verfassungsbeschwerden und von 18 % bei den nicht-strafrechtlichen Verfassungsbeschwerden beziehen sich jeweils nur auf die Verfassungsbeschwerdeverfahren, die mit einer abschließenden Sachentscheidung des Verfassungsgerichtshofs endeten. Bezogen auf die Zahl der beim Verfassungsgerichtshof erhobenen Verfassungsbeschwerden sind die Erfolgsquoten wesentlich niedriger. Von der Gesamtzahl der Verfassungsbeschwerden, die beim Verfassungsgerichtshof bis zum 31. Dezember 2005 erhoben wurden, waren 2,16 % erfolgreich.
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IV. Ursachen der geringen Erfolgsquote von Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts in den Jahren 1980 bis 2005
1. Häufige Gründe für die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts In den Jahren 1980 bis 2005 war der Anteil der unzulässigen Verfassungsbeschwerden im strafrechtlichen Bereich mit etwa 28 % deutlich höher als bei den Verfassungsbeschwerden aus den anderen Rechtsgebieten (etwa 15 %). Besonders häufig scheiterte die Zulässigkeit der „strafrechtlichen" Verfassungsbeschwerden an der fehlenden Rechtswegerschöpfung (13 Fälle) sowie daran, dass die Verletzung eines verfassungsmäßigen Rechts nur unzureichend dargelegt wurde (10 Fälle). a) Fehlende Rechtswegerschöpfung Gemäß Art. 51 Abs. 2 Satz 1 VfGHG kann eine Verfassungsbeschwerde erst dann erhoben werden, wenn zuvor der durch die ordentlichen Rechtsmittel vorgegebene Rechtsweg erschöpft worden ist. Die Verfassungsbeschwerde ist ein letzter außerordentlicher Rechtsbehelf, der nur dann zulässig ist, wenn alle prozessualen und faktischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, um dem als verfassungswidrig beanstandeten Verhalten des Gerichts entgegenzutreten. Die Verfassungsbeschwerde muss erforderlich sein, um die Verletzung des verfassungsmäßigen Rechts auszuräumen; sie ist unzulässig, wenn eine andere Möglichkeit besteht oder bestand, die Rechtsverletzung zu beseitigen oder im praktischen Ergebnis dasselbe zu erreichen.12 Zu den fachgerichtlichen Rechtsbehelfen, die vor der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde ausgeschöpft werden müssen, gehört der Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs nach § 33 a StPO.13 Der Gesetzgeber hat diese Anhörungsrüge für strafgerichtliche Beschlussverfahren bereits mit dem Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19. Dezember 1964 eingeführt und damit den seinerzeit in der Strafrechtswissenschaft geführten Streit beendet, ob die Strafgerichte gesetzlich nicht vorgesehene Rechtsmittel zur Heilung von Grundrechtsverstößen zulassen können.14 Dennoch scheitern Verfassungsbeschwerden gegen strafgerichtliche Beschlüsse auch heute noch häufig
12
Ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BayVerfGH 49, 67 (69); Meder (Fn. 9), Art. 120 Rn.
24. 13 14
BayVerfGH 30, 44. Vgl. hierzu Karlheinz Meyer in: Festschrift für Kleinknecht, 1985, S. 277 f.
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daran, dass Beschwerdeführer den Rechtsbehelf nach § 33 a StPO nicht ergriffen haben.15 Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs erfasst § 33 a StPO jeden Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör in den einschlägigen strafgerichtlichen Beschlussverfahren.16 Die Nichtausschöpfung dieses Rechtsbehelfs führt jedenfalls dann zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, wenn der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren ausschließlich eine Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör (Art. 91 Abs. 1 BV) rügt. Ob die Verfassungsbeschwerde auch dann mangels Rechtswegerschöpfung insgesamt unzulässig ist, wenn der Beschwerdeführer im verfassungsgerichtlichen Verfahren neben dem Gehörsverstoß die Verletzung weiterer verfassungsmäßiger Rechte (etwa des Willkürverbots) geltend macht, hat der Verfassungsgerichtshof bisher offen gelassen.17 Für die Unzulässigkeit der gesamten Verfassungsbeschwerde könnte der Grundsatz der Subsidiarität sprechen. Dem Beschwerdeführer, der eine Gehörsverletzung als gegeben ansieht, dürfte es im Hinblick auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zuzumuten sein, vor der Anrufung des Verfassungsgerichtshofs alle Rechtsbehelfe auszuschöpfen, um die beanstandete Gerichtsentscheidung zu Fall zu bringen.18 Für die Rechtswegerschöpfung reicht es nicht aus, dass der Beschwerdeführer überhaupt von den in den Prozessordnungen vorgesehenen Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht hat. Darüber hinaus ist vielmehr erforderlich, dass er die Beanstandungen, auf die er die Verfassungsbeschwerde stützen will, im Rechtsbehelfsverfahren vor den Fachgerichten formgerecht und substantiiert vorgetragen hat.19 Bei Verfassungsbeschwerden gegen strafgerichtliche Entscheidungen fehlt es - wie im folgenden Beispielsfall - häufig an einer den Formerfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Rüge des behaupteten Verfahrensverstoßes im Revisionsverfahren. So hatte der Verteidiger eines Beschwerdeführers im Revisionsverfahren zwar gel15
Durch das Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhöningsrügengesetz) vom 9. Dezember 2004 (BGBl I S. 3220 ff.) wurde der Rechtsbehelf der Anhörungsrüge auch für die Verfahren der Zivil-, Arbeits-, Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit eingeführt. Im Bereich des Strafrechts wurde eine Anhörungsrüge bei Verletzung des rechtlichen Gehörs bei einer Revisionsentscheidung neu geschaffen. Diese Ausweitung des Anhörungsrügeverfahrens bei den Fachgerichten wird voraussichtlich zu einem Ansteigen der wegen fehlender Rechtswegerschöpfung unzulässigen Verfassungsbeschwerden führen. 16
BayVerfGH 36,44 (45). So hinsichtlich der Anhörungsrüge nach § 321 a ZPO BayVerfGH vom 19.12.2005 Vf. 26-VI-05. 18 Vgl. hierzu auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 25.4.2005 in NJW 2005, 3059. 19 BayVerfGH 35, 123 (125); Nawiasky/Leusser/Schweiger/Zacher Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 120 Rn. 47. 17
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tend gemacht, das Landgericht habe es unterlassen, einen von ihm benannten Entlastungszeugen zu vernehmen. Diese Verfahrensrüge entsprach jedoch nicht den Formerfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, weil das genaue Beweisthema, zu dem der Zeuge hätte gehört werden sollen, in der Revisionsbegründung nicht angegeben war. Mangels Erschöpfung des Rechtswegs war es dem Beschwerdeführer daher verwehrt, den behaupteten Verfahrensverstoß unter dem Gesichtspunkt der Verletzung verfassungsmäßiger Rechte mit einer Verfassungsbeschwerde anzugreifen.20 Eine Besonderheit für die Rechtswegerschöpfung bei Verfassungsbeschwerden gegen strafgerichtliche Entscheidungen ergibt sich als Folge der Möglichkeit einer Sprungrevision (§ 335 StPO). Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ist es für die Rechtswegerschöpfung in diesen Fällen nicht erforderlich, dass der Beschwerdeführer gegen seine Verurteilung sowohl das Berufungs- als auch das Revisionsverfahren durchlaufen hat. Die Anfechtung eines erstinstanzlichen Strafurteils mit der Sprungrevision und der damit verbundene Verzicht auf die Berufungsinstanz führen allerdings dazu, dass im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nur solche Rügen vorgebracht werden können, die zulässigerweise im Revisionsverfahren erhoben werden durften und auch erhoben worden sind.21 Ähnlich verhält es sich, wenn der Beschwerdeführer seine Berufung gegen eine strafgerichtliche Verurteilung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat. Im Verfahren der Verfassungsbeschwerde kann dann nur noch gerügt werden, die Rechtsfolgenentscheidung verletze den Beschwerdeführer in seinen verfassungsmäßigen Rechten. Für eine Anfechtung des Schuldspruchs mit der Verfassungsbeschwerde fehlt es in einem solchen Fall an der erforderlichen Erschöpfung des Rechtswegs.22 b) Unzureichende Darlegung der Verletzung eines verfassungsmäßigen Rechts Nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 VfGHG gehört zur Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, dass das verfassungsmäßige Recht, dessen Verletzung geltend gemacht werden soll, genau bezeichnet und dass die behauptete Verletzung verfassungsmäßiger Rechte im Einzelnen dargelegt wird. Der Beschwerdeführer darf sich nicht damit begnügen, irgendeine ein verfassungsmäßiges Recht verbürgende Norm der Bayerischen Verfassung anzuführen und als verletzt zu bezeichnen. Es muss vielmehr - mindestens in
20 21 22
BayVerfGH vom 5.3.1982 Vf. 41-VI-80. BayVerfGH 36, 197. BayVerfGH vom 6.5.1993 Vf. 71-VI-92.
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groben Umrissen - zu erkennen sein, inwiefern durch eine Maßnahme oder Entscheidung ein solches Recht verletzt sein soll.23 Ein beachtlicher Teil der Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts genügt den Mindestanforderungen an die Substantiierung des Beschwerdevorbringens nicht. Dabei sind allerdings die Fälle eher die Ausnahme, in denen der Beschwerdeführer schon kein verfassungsmäßiges Recht nennt, das aus seiner Sicht verletzt sein soll.24 Häufiger scheitert die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde daran, dass dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht entnommen werden kann, worin der behauptete Verstoß gegen die als verletzt bezeichnete Verfassungsnorm konkret liegen soll. Die bloße Behauptung, eine gerichtliche oder behördliche Entscheidung sei unrichtig oder fehlerhaft und verletze deshalb ein verfassungsmäßiges Recht, genügt nicht zur Begründung einer Verfassungsbeschwerde.25 Ebenso wenig kann die für die konkrete Darlegung des Verfassungsverstoßes erforderliche Sachverhaltsschilderung dadurch ersetzt werden, dass der Beschwerdeführer um die Beiziehung der Akten des Ausgangsverfahrens bittet.26 Will der Beschwerdeführer geltend machen, eine strafgerichtliche Entscheidung verletze sein Grundrecht auf rechtliches Gehör, weil das Gericht Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet habe, zu denen er nicht gehört worden sei, so reicht es für die Substantiierung der Grundrechtsrüge nicht aus, die unterbliebene Anhörung darzulegen. Vielmehr muss der Beschwerdeführer, um der Substantiierungspflicht zu genügen, innerhalb der Verfassungsbeschwerdefrist auch darlegen, was er bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs im Ausgangsverfahren vorgetragen hätte, um eine für ihn günstigere Entscheidung zu erreichen. Nur dann kann nämlich geprüft werden, ob die angegriffene Entscheidung auf dem behaupteten Verfassungsverstoß beruht.27 Fehlende oder unzureichende Angaben hierzu haben in mehreren Fällen zur Unzulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen strafgerichtliche Entscheidungen geführt. 28 An der substantiierten Darlegung der Verletzung eines verfassungsmäßigen Rechts fehlt es auch dann, wenn sich die Verfassungsbeschwerde gegen Maßnahmen richtet, die schon ihrem Wesen nach keinen Eingriff in ein verfassungsmäßiges Recht des Beschwerdeführers bewirken können.29 Verfassungsbeschwerden von Anzeigeerstattern gegen die Einstellung 23 24 25 26 27 28 29
BayVerfGH 43, 86 (89). Vgl. etwa BayVerfGH vom 17.9.1998 Vf. 94-VI-97. Ständige Rechtsprechung; vgl. BayVerfGH in BayVBl 1999, 93 f. BayVerfGH 19, 14 (15); BayVerfGH vom 3.4.1991 Vf. 50-VI-90. BayVerfGH 46, 80 (83); Meder (Fn. 9) Art. 91 Rn. 19. Vgl. z.B. BayVerfGH vom 21.3.1997 Vf. 2-VI-94. BayVerfGH 35, 7 (8); Meder (Fn. 9) Art. 120 Rn. 15.
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staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren sind häufig aus diesem Grund unzulässig. Dem Beschwerdeführer steht ein Rechtsanspruch auf ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft zum Zweck der Strafverfolgung wegen eines Vergehens, dessen Verletzter er nicht ist, nicht zu. Er kann die Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht mit der Rüge anfechten, er sei in einem eigenen verfassungsmäßigen Recht auf willkürfreie Sachbehandlung verletzt.30
2. Häufige Gründe für die Unbegründetheit der Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts Von den 89 zulässigen Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts, über die der Verfassungsgerichtshof in den Jahren 1980 bis 2005 zu entscheiden hatte, waren lediglich 4 begründet.31 Diese sehr niedrige Erfolgsquote ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass gerichtliche Entscheidungen im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nur in engen Grenzen überprüft werden können. Der Verfassungsgerichtshof ist kein Rechtsmittelgericht. Es ist nicht seine Aufgabe, Entscheidungen der Fachgerichte allgemein auf ihre Richtigkeit zu kontrollieren. Die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind Sache der zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch den Verfassungsgerichtshof entzogen. Andernfalls würde der Verfassungsgerichtshof zu einer - von der Verfassung nicht gewollten - Superrevisionsinstanz.32 Im Verfassungsbeschwerdeverfahren ist nur zu prüfen, ob die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts gegen subjektive verfassungsmäßige Rechte verstoßen haben. In den vier erfolgreichen Verfassungsbeschwerdeverfahren aus dem strafrechtlichen Bereich wurden die angegriffenen Entscheidungen wegen Verletzung eines Verfahrensgrundrechts aufgehoben. 33 Die Rüge, die angegriffenen Entscheidungen verstießen in materieller Hinsicht gegen verfassungsmäßige Rechte des Beschwerdeführers, war in keinem Fall erfolgreich.
30
Bay VerfGH vom 26.9.1980 Vf. 86-VI-79. BayVerfGH vom 22.2.1980 Vf. 25-VI-78; BayVerfGH vom 29.2.1980 Vf. 43-VI-79; BayVerfGH vom 27.4.1984 Vf. 90-VI-83; BayVerfGH vom 20.11.1998 Vf. 20-VI-98. 32 BayVerfGH 51, 67 (69 f.); vgl. hierzu auch Rentiert NJW 1991, 12. 33 Nämlich in drei Fällen wegen Verstoßes gegen Art. 91 Abs. 1 ΒV (rechtliches Gehör) und in einem Fall wegen Verstoßes gegen Art. 92 Abs. 2 BV (Recht auf einen Strafverteidiger). 31
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a) Die Rüge der Verletzung von Verfahrensgrundrechten Die Entscheidungen der Strafgerichte ergehen in einem bundesrechtlich geregelten Verfahren. Dementsprechend überprüft der Verfassungsgerichtshof in verfahrensrechtlicher Hinsicht, ob durch die angegriffene strafgerichtliche Entscheidung ein Verfahrensgrundrecht der Bayerischen Verfassung verletzt wurde, das mit gleichem Inhalt im Grundgesetz gewährleistet ist.34 Das am häufigsten als verletzt gerügte Verfahrensgrundrecht ist das Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 91 Abs. 1 BV).35 Die Mehrzahl der Beschwerdeführer beruft sich zur Begründung der geltend gemachten Gehörsverletzung darauf, das Vorbringen der Verteidigung sei im Strafverfahren nicht zur Kenntnis genommen oder nicht hinreichend gewürdigt worden. Dabei wird der Schutzbereich des Art. 91 Abs. 1 BV oft überspannt. Das Grundrecht auf rechtliches Gehör verbietet es den Gerichten, ihren Entscheidungen Tatsachen oder Beweisergebnisse zugrunde zu legen, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Außerdem ergibt sich aus Art. 91 Abs. 1 BV ein Anspruch der Beteiligten darauf, dass das Gericht ein rechtzeitiges und möglicherweise entscheidungserhebliches Vorbringen zur Kenntnis nimmt und bei der Entscheidung in Erwägung zieht, soweit es nicht nach den Vorschriften der jeweiligen Prozessordnung unberücksichtigt bleiben muss oder kann.36 Das Gericht wird durch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs jedoch nicht verpflichtet, auf alle Ausführungen oder Anliegen eines Beteiligten im Einzelnen einzugehen. Vor allem ergibt sich aus Art. 91 Abs. 1 BV kein Anspruch darauf, dass sich das Gericht der Rechtsauffassung des Beschwerdeführers anschließt.37 Die in einigen Verfassungsbeschwerden erhobene Rüge, das Strafgericht habe gegen Verfahrensbestimmungen der Strafprozessordnung verstoßen und damit die Verteidigung des Beschwerdeführers beeinträchtigt, reicht allein zur Begründung eines Verstoßes gegen Art. 91 Abs. 1 BV nicht aus. Der Verfassungsgerichtshof kontrolliert nicht, ob das Verfahrensrecht von den Fachgerichten im Einzelnen zutreffend angewendet wurde. Er hat vielmehr nur zu prüfen, ob die Auslegung und Anwendung des Verfahrensrechts durch die Fachgerichte auf einer nicht vertretbaren Anschauung von 34
Ständige Rechtsprechung; vgl. BayVerfGH 51,49 (53). In 36 der 89 zulässigen Verfassungsbeschwerdenverfahren aus dem Bereich des Strafrechts hatte der Verfassungsgerichtshof (auch) über die behauptete Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör zu entscheiden. An zweiter Stelle folgt die Rüge, durch die strafgerichtliche Entscheidung werde das Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 86 Abs. 1 Satz 2 BV) verletzt (11 Fälle). 36 Ständige Rechtsprechung; vgl. BayVerfGH 50, 9 (12); 50, 151 (153). 37 Vgl. z.B. BayVerfGH vom 10.7.1980 Vf. 41-VI-79; BayVerfGH vom 26.11.1993 Vf. 110-VI-92. 35
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Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör beruhen.38 So ist beispielsweise nicht jede Verletzung von Hinweispflichten nach § 265 StPO zugleich ein Verstoß gegen Art. 91 Abs. 1 BV. Insbesondere gewährleistet Art. 91 Abs. 1 BV nicht die Erörterung von Rechtfragen. 39 Eine Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör kommt jedoch dann in Betracht, wenn das Gericht den Angeklagten nicht darauf hingewiesen hat, dass die beabsichtigte Entscheidung auf wesentliche neue Tatsachen gestützt werden soll.40 Ein Verstoß gegen § 265 StPO kann insoweit auf einer Verkennung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des § 91 Abs. 1 BV beruhen. Das Grundrecht auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn der Zugang zum Gericht oder zu den gesetzlich vorgesehenen Instanzen versperrt oder in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird.41 Eine derartige Erschwerung des Zugangs zu Gericht kommt in Betracht, wenn die Formerfordernisse an einen Klageerzwingungsantrag weitergehen, als es durch ihren Zweck geboten ist,42 oder wenn das Gericht überspannte Anforderungen hinsichtlich der Voraussetzungen für die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellt.43 Eine Überspannung der Anforderungen an Inhalt und Form eines Klageerzwingungsantrags hat der Verfassungsgerichtshof in den Verfassungsbeschwerdeverfahren aus den Jahren 1980 bis 2005 in keiner Entscheidung festgestellt. Demgegenüber war die Verkennung der Voraussetzungen für die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in zwei Fällen Ursache für die Aufhebung der angegriffenen strafgerichtlichen Entscheidungen durch den Verfassungsgerichtshof.44 b) Die Rüge der Verletzung von sonstigen Grundrechten der Bayerischen Verfassung Der Verfassungsgerichtshof kann nur in sehr eingeschränkter Weise nachprüfen, ob das Strafgericht bei der Anwendung des seiner Entscheidung zugrunde liegenden materiellen Rechts gegen Grundrechte der Bayerischen Verfassung verstoßen hat. In aller Regel kommt bei strafgerichtlichen Entscheidungen das Strafgesetzbuch - und somit Bundesrecht - zur Anwen-
38 39 40 41 42 43 44
83.
Vgl. z.B. BayVerfGH 49,74 (75 f.); BayVerfGH vom 3.5.2005 Vf. 53-VI-03. BayVerfGH vom 18.7.1980 Vf. 61-VI-79; BayVerfGH vom 27.10.2004 Vf. 1 l-VI-02. BayVerfGH vom 27.10.2004 Vf. 1 l-VI-02. Vgl. BayVerfGH 51, 144 (147). Vgl. BayVerfGH vom 30.3.2004 Vf. 60-VI-02; BVerfG in NJW 2000, 1027. Vgl. BayVerfGH vom 3.5.2005 Vf. 53-VI-03. Vgl. BayVerfGH vom 22.2.1980 Vf. 25-VI-78; BayVerfGH vom 27.4.1984 Vf. 90-VI-
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dung.45 Gegenüber der Anwendung von materiellem Bundesrecht, das wegen seines höheren Rangs nicht am Maßstab der Bayerischen Verfassung gemessen werden kann, beschränkt sich die Prüfung darauf, ob die angegriffene Entscheidung gegen das Willkürverbot (Art. 118 Abs. 1 BV) verstößt. Es geht also darum, ob sich das Gericht außerhalb jeder Rechtsanwendung gestellt und seiner Entscheidung in Wahrheit kein Bundesrecht zugrunde gelegt hat.46 Willkür im Sinn des Art. 118 Abs. 1 BV ist bei einer gerichtlichen Entscheidung nur dann festzustellen, wenn diese bei Würdigung der die Verfassung beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich der Schluss aufdrängt, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen. Die angegriffene Entscheidung dürfte unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar, sie müsste schlechthin unhaltbar, offensichtlich sachwidrig, eindeutig unangemessen sein.47 Soweit in den Verfassungsbeschwerden gerügt wird, das Strafgericht habe bei der Rechtsanwendung das Willkürverbot verletzt, beschränkt sich das Vorbringen zumeist auf die Behauptung eines Verstoßes gegen das einfache Recht. Die Mehrzahl dieser Rügen betrifft letztlich nur die aus Sicht des Betroffenen unrichtige Auslegung einer Strafvorschrift oder eine Abweichung von der Rechtsprechung anderer Gerichte. Von den Beschwerdeführern wird dabei verkannt, dass selbst eine fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts allein noch keinen Verstoß gegen das Willkürverbot begründet. Soweit mit der Verfassungsbeschwerde Fehler bei der Feststellung von Tatsachen geltend gemacht werden, erschöpft sich das Vorbringen häufig in dem Vorwurf, das Gericht habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bestimmte Tatsachen nicht als erwiesen ansehen dürfen. Dies reicht für die Darlegung eines Verstoßes gegen Art. 118 Abs. 1 BV nicht aus. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs sind die Feststellung des Sachverhalts und die Würdigung der festgestellten Tatsachen Sache der hierfür zuständigen Fachgerichte und daher der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung grundsätzlich entzogen.48 Diese weitgehende Selbstbeschränkung bei der Überprüfung der im fachgerichtlichen Verfahren festgestellten Tatsachen bedeutet jedoch keine strikte Bindung des Verfassungs-
45 Nur in 4 der 89 zulässigen Verfassungsbeschwerdenverfahren aus dem Bereich des Strafrechts sind die angegriffenen Entscheidungen auf der Grundlage landesrechtlicher Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestände ergangen; vgl. BayVerfGH vom 25.7.1980 Vf. 45-VI-78; BayVerfGH vom 23.9.1983 Vf. 140-VI-82; BayVerfGH vom 22.11.1990 Vf. 34-VI-88; BayVerfGH vom 13.8.1999 Vf. 69-VI-98. 46 Ständige Rechtsprechung; vgl. BayVerfGH 57, 16 (20); siehe auch Meder (Fn. 9), Art. 120 Rn. 35; BVerfGE 96, 345 ff. 47 Ständige Rechtsprechung; vgl. BayVerfGH 50, 60 (64); BayVerfGH 51, 67. 48 Vgl. BayVerfGH 50, 9 (12).
D i e Rechtsprechung des B a y e r i s c h e n V e r f G H in Strafsachen
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gerichtshofs an die Tatsachenfeststellungen der Strafgerichte.49 Vielmehr kontrolliert der Verfassungsgerichtshof, ob der Feststellung des Sachverhalts oder der Würdigung der festgestellten Tatsachen willkürliche Erwägungen zugrunde liegen. Das ist jedoch nur dann der Fall, wenn für die getroffenen Feststellungen jeder sachlich einleuchtende Grund, jeder sachbezogene Anhalt fehlt.50 Der Verfassungsgerichthof hat in keiner der in den Jahren 1980 bis 2005 ergangenen 123 Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Strafrechts einen Verstoß gegen das Willkürverbot festgestellt.
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Vgl. Huther in: Verfassungsrecht - Menschenrechte - Strafrecht, Kolloquium für Dr. Walter Gollwitzer, 2004, S. 96 ff. 50 Vgl. BayVerfGH vom 13.3.1981 Vf. 93-VI-78; BayVerfGH 54, 59 (60); BayVerfGH vom 15.2.2002 Vf. 11-VI-00.
Mildeste versus punitivste Strafrechtsordnung - Einige Anmerkungen zum Entwurf einer Regelung transnationaler Strafverfahren in der Europäischen Union - 1 '2 HELMUT SEITZ
1. Einleitung Am 26. und 27. Mai 2006 hat in Thessaloniki eine internationale Konferenz zu dem Projekt „Ein Gesamtkonzept für die Europäische Strafrechtspflege" stattgefunden 3 . Bei dieser Konferenz ist ein vorläufiger Vorschlag für einen europäischen Vertrag zur Regelung transnationaler Strafverfahren diskutiert worden, der zwischenzeitlich weitgehend unverändert in den "Entwurf einer Regelung transnationaler Strafverfahren in der Europäischen Union" (im Folgenden Entwurf) eingemündet ist 4 . Dieser Entwurf befasst sich in drei Abschnitten mit dem transnationalen Strafverfahren 5 , der zentralen Einrichtung Eurodefensor, die die Verteidigung stärken soll, und sehr grundsätzlichen Thesen zum materiellen Strafrecht in Europa. Ich will mich auf den ersten Abschnitt beschränken. Im Rahmen dieses Beitrags müssen sich auch Überlegungen zum ersten Abschnitt des Entwurfs auf Schlaglichter beschränken. Unter dem Blickwinkel meines Beitrags liegt die Erörterung von zwei Regelungsbereichen nahe. Herausgreifen will ich zum Einen die Bestimmung des Ermitt-
1
Die Anmerkungen geben die persönliche Meinung des Verfassers wider. Reinhard Böttcher hat als Leiter der Strafrechtsabteilung im Bayer. Staatsministerium der Justiz die Bedeutung der europäischen Dimension frühzeitig erkannt. Er war erster Ländervertreter in der Lenkungsgruppe III, einem hochrangigen Beratungsgremium der Europäischen Union für den Justizbereich. Die Ständige Deputation des Deutschen Juristentages veranstaltete in der Amtszeit von Reinhard Böttcher als Vorsitzender dieses Gremiums im September 2001 in Nürnberg den 1. Europäischen Juristentag. 3 Projektleiter ist Schiinemann, finanziert wird das Projekt von der Europäischen Union über das AGIS-Programm. 4 Zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung noch nicht zitierfahig veröffentlicht. 5 Wobei die Regelungen lückenhaft sind und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. 2
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lungsstaates6. Mit dieser Regelung sollen die Weichen für den zuständigen Ermittlungsstaat - und das anwendbare, milde oder strenge Recht - gestellt werden. Zum Anderen will ich Grundzüge des Europäischen Haftbefehls und der Europäischen Vollstreckungsübernahme im Sinn des Entwurfs ansprechen7. Sowohl der Europäische Haftbefehl, wie er im Rahmenbeschluss8 konzipiert ist, als auch die Vollstreckungsübernahme nach traditionellem Verständnis9 sind mehr oder weniger Ausprägungen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung. Danach sollen Entscheidungen nationaler Behörden grundsätzlich im transnationalen Rechtsraum der EU gelten. Prinzip und Schranken sind zunehmend Gegenstand intensiver und kontroverser Diskussion in Wissenschaft 10 und Politik. Der Entwurf lehnt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung grundsätzlich ab11 und setzt damit bewusst einen Kontrapunkt zu den Schlussfolgerungen von Tampere aus dem Jahr 1999, die das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen als Eckstein der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen werten 12 . Der Maßgeblichkeit der punitivsten Strafrechtsordnung 13 will der Entwurf entgegenwirken. Ob er in diesem Bemühen letztlich zur Maßgeblichkeit der mildesten Strafrechtsordnung führt, soll hier erörtert werden.
2. Der zuständige Ermittlungsstaat Im Hinblick auf die Zuständigkeitsbestimmung geht der Entwurf in Art. 1 Abs. 1 zunächst von einem sehr weiten Verständnis transnationaler Verfahren aus. Unter diesen Begriff soll jedes Verfahren fallen, bei dem sich ein 6
Art. 1-3; dazu unter 2. Dazu unter 3. und 4. 8 Vom 13. Juni 2002, ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1. 9 Gieß ZStW 116 (2004), 353, 357 f. 10 Vgl. etwa die Beiträge von der Außerordentlichen Tagung der deutschsprachigen Strafrechtslehrer am 7./8.11.2003 in Dresden, ZStW 116 (2004), 275 ff. 11 Präambel zu A.I.; zugleich wird freilich ein mehr oder minder schrankenloses ne bis in idem formuliert, Art. 31, dies wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich, kann hier jedoch nicht vertieft werden. 12 Dazu Jour-Schröder/Wasmeier in: Von der Groeben/Schwarze, Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2003, Vorbem. zu Art. 29 bis 42 EU, Rn. 45 ff. 13 So die Charakterisierung von Schünemann ZStW 116 (2004), 376, 384. Zur Problematik informativ Ambos Internationales Strafrecht, München 2006, § 12 Rn. 66 m. w. Nachw. Ob das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wirklich zur Maßgeblichkeit der punitivsten Strafrechtsordnung fuhrt, scheint mir in dieser Allgemeinheit fraglich. Ist ein Verhalten nur in einem Staat strafbar und in allen anderen nicht, kann man einen solchen Effekt im Ergebnis freilich kaum bestreiten. 7
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Beschuldigter nicht im Ermittlungsstaat aufhält oder bei dem Ermittlungsmaßnahmen beliebiger Art im Ausland erforderlich sind oder bei dem der Handlungs- oder Erfolgsort im Ausland liegt. Bei Vorliegen einer der alternativen Voraussetzungen ist EUROJUST zu unterrichten. Es schließt sich ein im Einzelnen geregeltes Zuständigkeitsbestimmungsverfahren an, in dessen Rahmen letztlich EUROJUST entscheidet, vorbehaltlich einer gerichtlichen Entscheidung nach Anfechtung. Zu den Dimensionen: 2005 sind allein in Bayern ca. 600.000 Ermittlungsverfahren geführt worden. Unterstellt man - wobei es an einer verlässlichen empirischen Basis fehlt -, dass nur 2 % dieser Verfahren im obigen weiten Sinn transnational sind, sind das allein für Bayern ca. 12.000 Verfahren. Aufgrund der fehlenden empirischen Grundlagen macht die Hochrechnung auf die Ebene der EU zwar keinen Sinn, die Relevanz ist aber bei einem so weiten Verständnis transnationaler Verfahren in jedem Fall erheblich. Unstreitig kann es für jeden Beteiligten von erheblicher Bedeutung sein, welcher Staat für die Verfolgung einer Straftat zuständig ist. Dies liegt auf der Hand bei zunehmend internationalen Sachverhalten - ein Stichwort Internet -, bei zunehmend umfassenderen nationalen Strafanwendungsrechten - in Deutschland insbesondere §§ 3 ff StGB -, bei einem immer weiteren Verständnis des Grundsatzes ne bis in idem, zumindest in der EU Stichwort EuGH14 -, und bei zugleich nach wie vor unterschiedlichen nationalen Strafrechtsordnungen. Es verwundert nicht, dass sich die Kommission der Europäischen Gemeinschaften der Thematik angenommen hat 15 . Gleiches gilt für das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht16 und EUROJUST 17 . Die Aufzählung ist nicht vollständig, die Thematik im Übrigen nicht auf die EU beschränkt18. Gemeinsam ist den zitierten Vorschlägen, dass sie mit tendenziell eher weichen Prioritäten für den Staat, der zuständig sein soll, arbeiten. Dies gilt auch, zumindest im Ansatz für den Entwurf. Dieser gibt zwar zunächst in Art. 2 Abs. 2 einen eher strikten Kriterienkatalog vor, der in Art. 2 Abs. 3 dann aber mehr oder minder umfassend geöffnet wird. Die Öffnung zielt auch auf den Beschuldigten ab - „ Von der sich nach Abs. 2 ergebenden Bestimmung des zuständigen Ermittlungsstaats kann abgewichen werden, 14
Insbesondere vom 11. Februar 2003, NJW 2003, 1173. Grünbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/ de/com/2005/com2005_0696 deOl .pdf 16 Freiburg Proposal on Concurrent Jurisdictions and the Prohibition of Multiple Prosecutions in the European Union, Freiburg im Breisgau, 2003. 17 Entscheidungsleitlinien "Die Lösung von Kompetenzkonflikten", Anhang zum Jahresbericht 2003, www.eurojust.europa.eu. 18 Etwa Ambos, a. a. O. (Fn. 13), § 4 Rn. 8 ff. 15
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wenn ... oder wenn es die berechtigten Interessen des oder der Beschuldigten erfordern ". Letzteres ist ein eindeutiger Akzent, während EUROJUST bewusst einen (zu?) weiten Katalog möglicher Kriterien formuliert, der im Einzelfall flexibel angewandt werden soll. Es bleibt nach dem Entwurf die Bestimmung der berechtigten Interessen des Beschuldigten näher zu betrachten. Ist ein Verhalten in einem Staat strafbar und in anderen Staaten nicht, ist das Interesse des Beschuldigten klar. Ob dieses Interesse berechtigt ist, bleibt zu entscheiden. Aus Sicht des Beschuldigten wird es auf den ersten Blick berechtigt sein, aus Sicht des Opfers nicht, wobei hinzukommt, dass in der genannten Konstellation nur in einem Staat von einem Opfer im strafrechtlichen Sinn gesprochen werden kann. Von anderen Fragen abgesehen19 kommt man damit zu einem zentralen Punkt. Ein grundsätzliches Problem der Zuständigkeitsbestimmung bei Staaten mit unterschiedlichem materiellen Strafrecht und/oder Strafverfahrensrecht scheint mir darin zu liegen, dass es letztlich am gemeinsamen Maßstab fehlt. Dies ist ein substantieller Unterschied zu korrespondierenden innerstaatlichen Gestaltungen. Hat ein Verhalten in gleichem Maße Bezug zu mehreren Staaten, die dieses Verhalten unterschiedlich bewerten, gibt es zunächst keinen logischen Vorrang. Gerade bei der Internetkriminalität scheint die Konstellation nicht selten zu sein. Opfer sind etwa an einer effizienten Strafverfolgung mit möglichst gleichzeitigem zivilrechtlichen Ausgleich interessiert, Beschuldigten wird es am liebsten sein, wenn das Verfahren in einem Staat gefuhrt wird, in dem ihr Verhalten nicht strafbar ist, oder nach Opportunitätsgrundsätzen eingestellt wird. Je nach Auslegung kann der Entwurf zur Maßgeblichkeit der mildesten Strafrechtsordnung führen. In der Praxis der Strafverfolgung, so der Bundesrat20, kommt es selten zu positiven Kompetenzkonflikten zwischen Staaten. Auch zu negativen Kompetenzkonflikten scheint es in Deutschland nach Praxisberichten aus jüngster Zeit eher selten zu kommen. Davon ausgehend besteht aus der Sicht der Strafverfolgungsbehörden an sich kein Regelungsbedürfnis im Sinn von Entwurf oder Grünbuch. Die Entwurfsverfasser werden dies nicht so sehen. Zuzugeben ist ihnen, dass sich allein aus der Praktikabilität kein eindeutiges rechtliches Kriterium ergibt. Es wird unter 5. darauf zurückzukommen sein, ob die Bestimmung des berechtigten Interesses des Beschuldigten - oder ein anderes Kriterium - das Problem lösen kann. 19 Kritisch zum Ansatz des Grünbuchs, Fn. 15, etwa Bundesrat BR-Drs. 53/06 (Beschluss), ferner die Mehrzahl der Staaten, die Stellung genommen haben, etwa das Bundesministerium für Justiz der Republik Österreich. 20 A.a.O., Fn. 19.
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3. Der Europäische Haftbefehl Beschränkt man sich auf die Strafverfolgung, ist der Europäische Haftbefehl nach dem Entwurf die justitielle Entscheidung des Vollstreckungsstaates, die der Umsetzung eines Europäischen Gestellungsersuchens des Ermittlungsstaates dient21. Die Terminologie weicht damit bewusst vom Europäischen Haftbefehl im Sinn des Rahmenbeschlusses22 ab. Dort erlässt bereits der Ermittlungsstaat den Europäischen Haftbefehl, der in der Logik der gegenseitigen Anerkennung für den Vollstreckungsstaat (weitgehend) verbindlich ist. Die ausländische Haftentscheidung wird grundsätzlich anerkannt. Betrachtet man die Regelungen, erscheint zunächst weiterer Überlegung wert, dass der Entwurf eine vereinfachte Überstellung nicht unmissverständlich vorsieht. Art. 11 Abs. 3 ist unklar: „Die Prüfung gemäß Abs. 2 entfällt, wenn die festgenommene Person nach anwaltlicher Beratung den Verzicht erklärt. " Absatz 2 bezieht sich nur auf Fluchtgefahr und Haftvermeidung. Im herkömmlichen vereinfachten Auslieferungsverfahren wird auf Prüfungen weitgehend verzichtet, wenn der Verfolgte nach Belehrung seiner Auslieferung zustimmt. In der Praxis ist dies von erheblicher Bedeutung. Nach der deutschen Auslieferungsstatistik sind 2004 ca. 1.000 Ersuchen ausländischer Staaten um Auslieferung aus Deutschland zum Abschluss gebracht worden, davon ca. 50 % mit Einverständnis des Verfolgten23. Bei Ersuchen aus EU-Staaten liegt der Prozentsatz noch höher. Nicht zuletzt im Interesse des Verfolgten kann ein schnelles vereinfachtes Auslieferungsverfahren sinnvoll sein, etwa wenn ein geständiger Täter die Hauptverhandlung mit realistischer Bewährungschance rasch hinter sich bringen will. Von sehr viel größerer Bedeutung ist im Entwurf allerdings die Beibehaltung, letztlich die Verschärfung der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit. Vorausgesetzt wird der dringende Tatverdacht einer nach dem Recht von Ermittlungs- und Vollstreckungsstaat strafbaren Handlung (Art. 9 Abs. 1). Der Richter im Ermittlungsstaat muss den dringenden Tatverdacht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht belegen bzw. darlegen, der Richter im Vollstreckungsstaat muss zum einen die Schlüssigkeit der Darlegung, zum anderen die Strafbarkeit nach dem Recht des Vollstreckungsstaats prüfen (Art. 11 Abs. 1). Der Entwurf versteht sich gerade insoweit als Gegenentwurf zum Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl mit seinem weitgehenden Wegfall der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit.
21 22 23
Art. 7 Abs. 1. A.a.O., Fn. 8, dem entspricht das Konzept im deutschen Umsetzungsgesetz. www.bmj.bund.de, Service, Statistiken, Auslieferungsstatistik.
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Zur theoretischen Bedeutung der beiderseitigen Strafbarkeit bei der Auslieferung gilt zunächst zweifellos, dass sich die nationalen Strafrechtsordnungen nicht immer decken. Es mangelt auch nicht an theoretisch spektakulären Beispielen für das Fehlen der beiderseitigen Strafbarkeit. Sicher ist es problematisch, wenn sich ein Tötungsdelikt nach dem Recht des ermittelnden Staates aus Sicht des Vollstreckungsstaates als nicht strafbare Beihilfe zum Selbstmord, nicht strafbare Abtreibung oder nicht strafbare Euthanasie darstellt24. Was die Praxis angeht, hat die Ablehnung der beiderseitigen Strafbarkeit nach meiner Kenntnis in der Vergangenheit in Deutschland gleichwohl kaum einmal zur Ablehnung der Auslieferung gefuhrt. Ein Grund dafür mag sein, dass Abweichungen von Tatbeständen im frühen Ermittlungsstadium von begrenzter Bedeutung sind, ein anderer Grand eine gewisse Zurückhaltung ermittelnder Staaten in gegebenenfalls einschlägigen Sachverhaltskonstellationen. Praktisch besteht deshalb eher kein Bedürfnis für die Betonung der beiderseitigen Strafbarkeit. Unbeschadet dessen hat dieses Erfordernis Symbolcharakter, den man ernst nehmen muss. Lässt man sich auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit prinzipiell ein, scheint besonders fraglich, ob sich jemand auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit berufen können sollte, der im ermittelnden Staat gegen dessen Rechtsordnung verstoßen hat und anschließend im Vollstreckungsstaat angetroffen wird, in praktisch nicht seltenen Fällen dorthin geflüchtet ist. Darauf wird zurückzukommen sein. Zunächst zur Darlegung des dringenden Tatverdachts und zur Prüfung der Schlüssigkeit. Bislang wird der Tatverdacht im Bereich der vertraglichen Auslieferung grundsätzlich nicht überprüft. Der Entwurf definiert zunächst - wie dargelegt - die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit als Prüfung, ob die vorgeworfenen Handlungen auch nach dem Recht des Vollstreckungsstaats mit Strafe bedroht sind (Art. 11 Abs. 1). Dies ist ein zumindest plausibel begründbares Anliegen. Der Richter prüft den Sachverhalt am Maßstab seines eigenen Rechts 25 . Ob der dringende Tatverdacht nach dem Recht des ermittelnden Staates tatsächlich und rechtlich schlüssig dargelegt ist, führt demgegenüber zu einer mehr oder minder vollständigen Überprüfung fremder Rechtsanwendung durch einen Außenstehenden. Dies geht weit über eine etwaige Missbrauchskontrolle hinaus. Eine überzeugende theoretische Begründung für eine solche Schlüssigkeitsprüfung sehe ich nicht. Und aus praktischer Sicht ist zu fragen, ob ζ. B. ein englischer, französi24 Seitz NStZ 2004, 546, 547; Grützner/Pötz/Böse Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Stand August 2006, § 81 IRG Rn. 25 lehnt die Gleichstellung mit der Tötung im Sinn des Rahmenbeschlusses in diesen Fällen ab. 25 Inwieweit dies auch beim Europäischen Haftbefehl nach Rahmenbeschluss so ist, kann hier nicht vertieft werden, „blinder" Vollstrecker ist der Vollstreckungsstaat auch dort nicht, dazu Ambos, a.a.O., § 12 Rn. 61.
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scher oder schwedischer Richter überprüfen sollte, ob etwa ein deutsches Gericht nach deutschem Recht den dringenden Tatverdacht einer Untreue schlüssig bejaht hat. Es liegt auf der Hand, dass zum Zweck der Schlüssigkeitsprüfung nicht selten Rechtsgutachten zum ausländischen Recht zu erstellen wären. Mir ist kein Institut bekannt, dass die Kapazitäten hätte, solche Gutachten in einschlägigen Verfahren kurzfristig zu erstellen. Prinzipiell dient der Europäische Haftbefehl der Unterstützung ausländischer Strafverfolgung. Die europäischen Haftgründe im Entwurf sind ein weiteres europäisches Novum. Sie lehnen sich an die deutsche Strafprozessordnung an. Andere Staaten sind zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung berufener. Im Grundsatz fuhren europäische Haftgründe allerdings zu einer prinzipiellen Abkoppelung von nationalem Haftrecht einerseits und eigenem Haftrecht der EU im Zusammenhang mit Gestellungsersuchen und Europäischem Haftbefehl andererseits. Strebt man einen hohen rechtsstaatlichen Standard bei den Haftgründen an, läge ein Entwurf für einen Rahmenbeschluss mit Mindestanforderungen näher. Dieser würde für alle Ermittlungsverfahren in der EU gelten. Wenn ein Haftgrund bei Europäischen Haftbefehlen unter schärferen oder milderen Voraussetzungen anzunehmen wäre als bei innerstaatlichen Verfahren, würde nach geltendem Recht die Entscheidung für die Unterstützung fremder Strafverfolgung oder für die eigene Strafverfolgung bzw. nach dem Entwurf die Entscheidung für den zur Strafverfolgung berufenen Staat unter Umständen zugleich die jeweils relevanten Haftgründe bestimmen. Ein befürchteter Automatismus bei der Verhaftung aufgrund von Gestellungsersuchen dürfte weniger aufwändig zu vermeiden sein. Eine weitere Regelung im Entwurf 26 „Bei der Prüfung, ob Fluchtgefahr besteht, ist das Gebiet der Europäischen Union dem Inland gleichzustellen. " trägt dem Konzept eines einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in geradezu vorbildlicher Weise Rechnung. Sie geht allerdings schon weit über das postulierte Ziel hinaus, Untersuchungshaft bei Ausländern aufgrund ihrer Ausländereigenschaft zurückzuführen. Je relevanter die nach wie vor unterschiedlichen nationalen Strafrechtsordnungen durch die Prüfung von beiderseitiger Strafbarkeit und dringendem Tatverdacht bleiben, desto widersprüchlicher ist die Gleichstellung. Ob die immer wieder geäußerten Befürchtungen sicherer Häfen für Straftäter in der EU heute immer oder auch nur überwiegend zutreffend sind, soll dahinstehen. Gewiss hätten wir strukturell sichere Häfen, wenn wir mit dem Entwurf bei der Fluchtgefahr schematisch auf das Gebiet der EU abstellten. Ein Beispiel: Ein Deutscher hat in Griechenland Straftaten begangen, bei denen nach seiner Rückkunft die Übergabe aus Deutschland an sich zulässig wäre. 26
Art. 10 Abs. 3 Seite 2.
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Ein Gestellungsersuchen existiert. Wenn das Verhalten in einem anderen EU-Staat nicht strafbar ist, wird zu erwarten sein, dass sich der Verfolgte offen dorthin begibt. Ein rational denkender Täter wird berücksichtigen, dass das Übergabeverfahren dort an der beiderseitigen Strafbarkeit scheitert. Gleichwohl soll die Fluchtgefahr nach dem Entwurf fehlen. Hier kommt die Maßgeblichkeit der mildesten Strafrechtsordnung in besonderem Maß zum Ausdruck, mit einem absurden Ergebnis. Der Entwurf legt schließlich fest, dass der Vollzug des Europäischen Haftbefehls im Regelfall im Vollstreckungsstaat erfolgt. Auf Antrag des Verfolgten muss der Vollzug allerdings in seinem Heimatstaat erfolgen 27 . In dieser Allgemeinheit wird das nicht umsetzbar sein. Das Verfahren wird im Regelfall zu aufwändig und häufig unpraktikabel sein, vor allem mit Blick auf die Beschleunigung von Haftsachen, die Vorrang hat. Hinzukommt, dass die Anwesenheit des Verfolgten bei in der Praxis häufig kurzfristig nötigen Ermittlungsmaßnahmen im Ermittlungsstaat erforderlich sein kann. Gerade bei komplexen Verfahren droht letztlich ein Gefangenenkarussell. Man muss sehen, dass man rein praktisch nicht jeden Gefangenen jederzeit mit entsprechender Begleitung im Einzeltransport über Ländergrenzen transportieren kann; ein Sammeltransport wird demgegenüber aus Zeitgründen häufig ausscheiden.
4. Die Europäische Vollstreckungsübernahme Bei der Europäischen Vollstreckungsübernahme beschränke ich mich auf den Aspekt, dass der Verurteilte eine Vollstreckungsübernahme erzwingen kann. Nach Art. 22 erlässt der Urteilstaat das Vollstreckungsübernahmegesuch dann, wenn die Voraussetzungen des Art. 19 erfüllt sind und kein Hindernis im Sinn von Art. 21 entgegensteht. Nach Art. 21 Abs. 3 kann ein Vollstreckungsübernahmegesuch unterbleiben, wenn dessen Erlass allein vom Vollstreckungsstaat beantragt worden ist. Im Gegenschluss kann es nicht unterbleiben, wenn der Verurteilte den Erlass beantragt. Damit kann der Urteilsstaat gezwungen werden, ein Vollstreckungsübernahmegesuch zu erlassen, wenn er dies nicht will. Die Strafvollstreckung wird ihm gegen seinen Willen aus der Hand genommen. Mit Blick auf die unterschiedlichen Haftbedingungen in der EU ist einem kalkulierenden Straftäter zu raten, seinen ständigen Aufenthalt im Sinn von Art. 19 in einen Staat zu verlegen, in dem der Vollzug mild ist. Nur in einem Punkt ist Vorsicht geboten: Ist das Verhalten im Vollstreckungsstaat nach dessen Rechtsordnung überhaupt nicht mehr strafbar, bleibt es bei der Vollstreckung im Urteilstaat, weil es an 27
Art. 14.
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der beiderseitigen Strafbarkeit fehlt 28 . Das Konzept ist auch in diesem Punkt trotz der unbestreitbaren Bemühungen um Ausgewogenheit einseitig. Unstreitig ist das Interesse des Verurteilten an Resozialisierung berechtigt. Ebenso hat der Urteilsstaat ein berechtigtes Interesse an effektiver Sanktionierung.
5. Zusammenfassung, Lösungsansätze Lässt man den Entwurf Revue passieren, setzt er sowohl bei der Zuständigkeitsbestimmung als auch bei Europäischem Haftbefehl und Vollstreckungsübernahme deutliche, zum Teil überdeutliche Akzente bei den Beschuldigtenbelangen. Ausgehend von seinem Selbstverständnis als Gegenentwurf zum Konzept der gegenseitigen Anerkennung und zur (tatsächlichen oder behaupteten) Maßgeblichkeit der punitivsten Strafrechtsordnung verwundert dies nicht. In der Konsequenz liegt ein gewisses Maß an Einseitigkeit, das Einzelregelungen angreifbar macht. Dies ist freilich nur ein Zwischenergebnis. Dem Entwurf ist zuzugeben, dass auch ein schrankenloses Konzept der gegenseitigen Anerkennung nicht unproblematisch ist. Es beruht im Kern auf einer formalen Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen, die Entscheidungen nach Maßgabe des "wer zuerst kommt mahlt zuerst" nicht ausschließt. Es liegt auf der Hand, dass dies zu kontroversen Ergebnissen führen kann. Damit komme ich zum Beginn der Ausführungen zurück, zur Bestimmung des zuständigen Ermittlungsstaates. Sieht man von den konkreten Überlegungen im Entwurf ab, sind jedenfalls zwei Lösungsansätze denkbar. Zunächst mag man daran denken, das Problem durch Rechtsvereinheitlichung zu lösen. Gilt überall in der Europäischen Union ein einheitliches Strafrecht (und wird dieses überall gleichmäßig angewandt), löst sich die Kritik am Konzept der gegenseitigen Anerkennung auf. Mancher, vor allem in den europäischen Institutionen wird dies anstreben und mancher wird die Schwierigkeiten, die mit dem Konzept der gegenseitigen Anerkennung verbunden sind, vor dem Hintergrund dieser Zielvorstellung nicht einmal negativ sehen. Realistisch ist ein solches Ziel kurz- und mittelfristig, wohl auch langfristig nicht29. Strafrecht hat viel mit nationalen Traditionen und Wertvorstellungen zu tun. Vor diesem Hin28 Vgl. Begründung zu Art. 23. Dies ist ein prinzipiell schwieriger Punkt. Der Gesetzgeber in Deutschland hat in Zusammenhang mit der Rücküberstellung aufgrund Europäischem Haftbefehl auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit verzichtet, § 80 Abs. 4 IRG i.d.F. des EuHbG vom 20. Juli 2006. Dies geht freilich erst auf den Bundesrat zurück (BR-Drs. 70/06 unter Nr. 8). 29 Grundsätzlich zur Problematik König Europäisches Sanktionenrecht?, NJW-Sonderheft BayObLG, 2005, 57.
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tergrund kann ein Lösungsansatz, der sich im Wirtschaftsrecht als tragfahig erwiesen hat, nur beschränkt übertragen werden. Unrealistisch ist letztlich auch ein zweiter Lösungsansatz. Würden die Staaten ihr nationales Strafanwendungsrecht beschränken, wäre ein nicht unerheblicher Teil transnationaler Verfahren nicht mehr transnational. Dies sind Verfahren, deren transnationaler Charakter nur darauf beruht, dass mehrere Staaten aufgrund unterschiedlicher Anknüpfungspunkte die Strafverfolgung betreiben (können). Auch dies wird kurz- und mittelfristig, wohl auch langfristig so bleiben. In nicht wenigen internationalen Übereinkommen wird zur möglichst umfassenden Verfolgung von Straftaten ein möglichst umfassendes Strafanwendungsrecht der nationalen Staaten gefordert. Einer theoretischen Beliebigkeit der anwendbaren nationalen Strafrechtsnormen versucht ein Konzept der Hierarchisierung von Anknüpfungspunkten entgegen zu wirken, etwa indem dem Territorialitätsprinzip Vorrang vor dem Personalitätsgrundsatz und dem Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege eingeräumt wird 30 . Auch dies dürfte im Ergebnis eher flexibel bleiben. Offen scheint mir freilich auch - und damit will ich schließen -, ob die Zuständigkeitsbestimmung nach dem Entwurf zu anderen Ergebnissen führt. Sind sich die Staaten einig, wird der Entwurf vorbehaltlich der Einschätzung von Eurodefensor zu den gleichen Ergebnissen wie bisher führen. Sind sich die Staaten nicht einig, ist Eurodefensor anderer Meinung oder wird die Entscheidung angefochten, werden EUROJUST und - sofern angerufen - das Rechtsmittelgericht vor einer Entscheidung im Licht unterschiedlicher nationaler Strafrechtsordnungen stehen. Es bleibt unverändert das Problem der Maßgeblichkeit der Strafrechtsordnung und die Bestimmung des berechtigten Interesses des Beschuldigten, wenn ein Verhalten in verschiedenen Staaten unterschiedlich gewertet wird oder das Verfahren unterschiedlich ausgestaltet ist und ein gemeinsamer Maßstab fehlt 31 . Ob der Entwurf zur Zuständigkeitsbestimmung einen Mehrwert bringt, scheint mir vor diesem Hintergrund sehr fraglich. Negativ schlägt demgegenüber zu Buch, dass der Entwurf auch für Bagatellen ein aufwändiges und zeitraubendes Verfahren vorsieht. Zu belegen wäre, dass eine Entscheidung durch EUROJUST, also Praktiker aus allen EU-Staaten, zu anderen Entscheidungen als bisher fuhren würde. Und wenn EUROJUST oder das Rechtsmittelgericht anders entscheiden würden, wäre die weitere Frage ob die Entscheidung besser wäre und an welchem Maßstab dies gemessen würde.
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Dazu Ambos, a.a.O., § 4 Rn. 10 ff. m. w. N. Der Entwurf deutet dieses Problem im Übrigen in der Begründung zu Art. 2 selbst an, wenn davon gesprochen wird, dass die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen „weitgehend frei" sind, „auf welchen ES sie sich einigen". 31
VI. Juristenausbildung
Die „Kunst des Prüfens" Prüfer in juristischen Prüfungen HEINO SCHÖBEL
Reinhard Böttcher hat sich in besonderem Maße für Ausbildung und Prüfung der jungen Juristen eingesetzt. Schon 1969 ist er als junger Staatsanwalt zum Prüfer für die Erste Juristische Staatsprüfung in Bayern berufen worden; dieses Amt hat er 36 Jahre ausgeübt, zudem war er mehr als zehn Jahre als Prüfer in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung tätig. In diesen langen Jahren mag er an die 7.000 fünfstündige Klausuren bewertet und weit über tausend Kandidatinnen und Kandidaten mündlich geprüft haben. Der folgende Beitrag ist angeregt durch diese jahrzehntelange Prüfertätigkeit von Reinhard Böttcher; aus einem besonderen Sichtwinkel, dem literarischer Zeugnisse über Prüfungen und Prüfer, soll versucht werden festzustellen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten die Persönlichkeit des Prüfers prägen oder prägen sollten; ergänzt werden sollen die gewonnenen Erkenntnisse durch einen vergleichenden Blick auf Rechtsprechung und Fachliteratur. Prüfungsentscheidungen können das persönliche Schicksal und den beruflichen Werdegang der Kandidaten maßgeblich beeinflussen 1 . Prüfer stellen Weichen, sie entscheiden über Lebenschancen junger Menschen und tragen damit große Verantwortung 2 . Trotz dieser Bedeutung bleibt die Person des Prüfers in juristischen Staatsprüfungen, zumal bei der Korrektur der schriftlichen Aufgaben, im Hintergrund. Der Prüfer wirkt im schriftlichen Examen anonym, gesichtslos; er ist für die Kandidaten nur eine - mehr oder weniger leserliche - Unterschrift. In der mündlichen Prüfung hingegen tritt der Prüfer für kurze Zeit als Persönlichkeit in das Bewusstsein von Prüfungsteilnehmern, Zuhörern und Prüferkollegen. Viele Schriftsteller waren Juristen oder haben zumindest - mehr oder weniger erfolgreich - Rechtswissenschaft studiert. Bekannte „Dichterjuris1 Ihering Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 1884, S. 41, dort Fußnote 1: „Wäre Bismarck seiner Zeit durch das Examen gefallen, so existierte das Deutsche Reich nicht! Die Stimme eines einzelnen Examinators kann das Schicksal Europas bestimmen". 2 Werner JZ 1969, 479; Hermann Also ward ich ein Juriste..., 1959, S. 96.
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ten"3 sind Johann Wolfgang von Goethe, Joseph von Eichendorff, Theodor Storm und E.T.A. Hoffmann, Franz Grillparzer und Friedrich Hebbel, Viktor von Scheffel, Matthias Claudius, Ludwig Uhland, Christian Morgenstern, Ludwig Thoma, Heinrich Heine und Franz Kafka; zu den „Dichteijuristen" zählen aber auch Martin Opitz und Andreas Gryphius, Gottfried Keller und Christoph Martin Wieland, Novalis, Fritz Reuter, Sebastian Brant, Honore de Balzac und Gustave Flaubert, Adalbert Stifter und Nestroy, Paul Mühsam und Walter Serner, Frank Wedekind, Georg Heym, Peter Handke, Alexander Kluge und, in neuester Zeit, vor allem Rosendorfer, aber auch Bernhard Schlink und Benno Hurt. 4 Literarische Zeugnisse über juristische Staats-, Lizentiats- oder Doktorprüfungen, die sie als Kandidat oder nur als Beobachter erlebt haben, finden sich in Tagebüchern, Briefen, Erinnerungen und Autobiographien zahlreicher dieser „Dichteljuristen" 5 , aber auch von "dichtenden Juristen"6. Regelmäßig geht es um die Schilderung der Prüfungsatmosphäre und um die Verarbeitung der Prüfungssituation vor allem aus Sicht des betroffenen Kandidaten oder des Beobachters. Die Person des Prüfers findet vielfach nur beiläufig Beachtung; sie wird dann spöttisch und kritisch, nicht selten aber durchaus positiv erwähnt. Diese literarischen Mosaiksteinchen - mehr sind es nicht - sollen hier möglichst im Wortlaut wiedergegeben werden. Betrachtet man sie, ergeben sie auch zusammengefügt kein vollständiges Bild vom Prüfer des 18./19. und frühen 20. Jahrhunderts, aber es zeichnen sich Konturen ab; vergleicht man sie mit dem, was heute die juristische Fachliteratur, vor allem aber die Rechtsprechung, zum Prüferbild beitragen, so zeigen sich vielfaltige Übereinstimmungen.
3 Zu Recht meint Wambach Die Dichteljuristen des Expressionismus, 2002, S. 15, dass „Dichteljurist" mittlerweile ein eigener Terminus sei. 4 Wohlhaupter Dichteljuristen, herausgegeben von H.G. Seifert in 3 Büchern, Buch III (1957), S. 403 ff., nennt ca. 120, teilweise heute weitgehend unbekannte und literarisch weniger bedeutsame „Dichteljuristen"; Rosendorfer NJW 1983, 1158; ders. „Über Gerechtigkeit und Literatur", in: Die Erfindung des Sommer/Winters, 3. Aufl. 1997, S. 197 ff., ehemaliger Richter, Professor fur Literatur und selbst begnadeter Schriftsteller, hat über 100 „DichterJuristen" gezählt; bei Wambach (Fn. 3), S. 15-23, findet sich eine Aufzählung insbesondere von „Dichteljuristen des Expressionismus". 5 Beispielsweise: Friedrich Hebbel, Heinrich Heine, Wolfgang von Goethe, Gustave Flaubert, Christian Grabbe, Novalis, Kurt Tucholsky, Felix Dahn, Victor von Scheffel, Franz Grillparzer, Hugo von Hofmannsthal, Georg Heym, Albrecht Drach, Paul Mühsam, Börnes von Münchhausen, Max Brod, Franz Kafka. 6
„Persönlichkeit, die sich als Jurist einen Namen gemacht hat, die daneben auf dem Felde der Dichtung Nennenswertes zu leisten vermochte". Der Begriff findet sich bei Wohlhaupter (Fn. 4), Buch I, S. 406. Dort (S. 429 ff.) auch Aufzählung von „Juristendichtem", u.a. Eike von Repgow, Anselm Feuerbach, Otto von Gierke, Marschall von Bieberstein, Jhering und Zitelmann.
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I. Visionen, Gerüchte, Vorurteile Wegen der ihm eigenen Wortgewalt soll das folgende Sonett des expressionistischen „Dichteljuristen" Georg Heym an den Beginn des Beitrages gestellt werden, obwohl es letztlich keinen Beitrag zum Prüferbild leistet7: „Zu vieren sitzen sie am grünen Tische, Verschanzt in seines Daches hohe Kanten. Kahlköpfig hocken sie in den Folianten, Wie auf dem Aas die alten Tintenfische. Manchmal erscheinen Hände, die bedreckten Mit Tintenschwärze. Ihre Lippen fliegen Oft lautlos auf. Und ihre Zungen wiegen Wie rote Rüssel über den Pandekten. Sie scheinen manchmal ferne zu verschwimmen, Wie Schatten in der weißgetünchten Wand. Dann klingen wie von weitem ihre Stimmen. Doch plötzlich wächst ihr Maul. Ein weißer Sturm Von Geifer. Stille dann. Und auf dem Rand Wiegt sich der Paragraph, ein grüner Wurm." 8 Heym verarbeitet hier nicht die eigene mündliche Prüfung, die er wohl nur dank des Wohlwollens seiner Examinatoren bestanden hatte, sondern präsentiert eine dämonisch-apokalyptische Vision, in der die Prüfer als Zerrbilder erscheinen9 - wie auch in manchen Gerüchten und Vorurteilen, in denen, damals wie heute, Prüfer übermäßig streng und willkürlich, Furcht und Schrecken verbreitend, gezeichnet werden. Die Realität ist anders 10 ; Beispiele fur widerlegte Gerüchte über Prüfer in juristischen Prüfungen finden sich auch in literarischen Zeugnissen: So schildert Martin Walser in 7
Georg Heym: 30.10.1887-16.1.1912; Jura-Studium in Würzburg, Jena, Berlin. „Die Professoren" entstand bereits 1910; Heym legte die Erste Juristische Staatsprüfung (erst) im Jahr 1911 in Berlin ab; damals bestand die Prüfungskommission in Berlin aus zwei Professoren und zwei Praktikern. 8 Georg Heym Dichtungen, herausgegeben von Walter Schmähling, Reclam 1964, S. 43. 9 Aus dem Tagebuch seines Freundes, des Dichters Ernst Balcke, ergibt sich, dass Heym nicht nur seine „große Arbeit", sondern auch seine Klausuren mit Hilfe befreundeter Juristen geschrieben hatte. Balcke berichtet, dass Heyms schriftlichen Arbeiten gut beurteilt worden seien, „so daß seine wenigen und meist fehlerhaften Antworten bei der mündlichen Prüfung seiner Erregung zugeschrieben wurden." - Wambach (Fn. 3), S. 303. 10 Siehe auch Hermann (Fn. 2) und Seebass NVwZ 1985, 521.
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seinem Roman „Die Verteidigung der Kindheit" die Vorbereitung seines Helden Alfred Dorn auf den mündlichen Teil seines Jura-Examens in einem Repetitorium, dem sogenannten „Ziege-Kurs", die dort umlaufenden Gerüchte und die ihnen nicht entsprechende Wirklichkeit: Das Gerücht: „...Im Ziege-Kurs schwirrten wieder die Namen; mal war von Lübtow dabei, dann wieder nicht. Schließlich stand es fest: Becker für BGB, Brandt für StGB, Bundesrichter Bettermann für Öffentliches Recht, den Vorsitz würde Senatspräsident Rothe haben... Von Bettermann, den er und der ihn nicht kannte, sagten die neuesten Meldungen, er habe bei der letzten Prüfung ALLE Kandidaten mit ungenügend abgefertigt. Danach habe er der Uni erklärt, er wolle nächstens noch schärfer prüfen..." Die Realität: „... Dann die dritte Stunde: Bettermann, Öffentliches Recht... Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 5 (Prüflinge) sollten Begriffe explizieren. Auf Alfred fiel Mischverwaltung. Diese Wort hatte er noch nie gehört. Der Prüfer merkte das sofort, ließ sich aber ohne alle Strenge in ein Gespräch ein, mit dem Alfred sich dem unbekannten Wort zu nähern suchte. Alfred hatte das Gefühl, er rutsche, aber, auch das spürte er, der Prüfer ließ ihn nicht fallen" 11 . Heinrich Heine12 fürchtete sich besonders vor einem bestimmten Prüfer Professor Gustav Hugo, ein Rechtswissenschaftler von europäischem Ruf 1 3 . Ihn bezeichnete er vor der Prüfung als den „Ledernen, Schweinsledernen ja doppelt Schweinsledernen Hugo, den Freund meiner besten Feinde" 14 . Wenn Hugo prüfe, so meinte Heine, „sei er verloren" 15 . Nach bestandenem Examen 16 , bei dem Hugo ihm schmeichelte, Heine sei nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein großer Jurist, hieß es plötzlich bei Heine, dass Hugo „einer der größten Männer unseres Jahrhunderts" sei 17 .
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Martin Walser Die Verteidigung der Kindheit, S. 170. Auf den Beitrag von Lüderssen „Juristsein im Nichts" - Zu Martin Walsers „Die Verteidigung der Kindheit", in: Lüderssen, Produktive Spiegelungen, 2. Aufl., S. 325 ff. wird hingewiesen. 12
Heinrich Heine, geboren 1797 in Düsseldorf, verstorben 17. Februar 1856 in Paris. Heine studierte zwischen 1819 und 1825 Jura in Bonn, Göttingen und Berlin. 13 Wohlhaupter (Fn. 4), Buch II, 1955, S. 461. 14 Brief an Moser vom 25. 10. 1824, HSA (HSA=Heine-Säkularausgabe), Bd. 20, S. 176, Brief Nr. 118 15 Brief an Moser vom 25.10.1824, HSA Bd. 20, S. 176, Brief Nr. 118. 16 Seine Doktorprüfung, die damals das rechtswissenschaftliche Studium abschloss, wurde in Göttingen nur mündlich abgenommen, eine Dissertation war nicht zu fertigen. 17 Brief an Moser vom 22.7.1825, HSA Bd. 20, S. 206, Brief Nr. 139.
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II. Prüfer Zur Auswahl und Bestellung von Examinatoren für juristische Prüfungen finden sich wenig Hinweise in literarischen Zeugnissen. Dass Prüfer juristische Kompetenz besitzen müssen, ist selbstverständlich. Sie wird selten in Frage gestellt. Allerdings bezweifelt Heinrich von Kleist, kein Jurist18, aber Besucher juristischer Vorlesungen, in seiner Schrift „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" 19 nicht nur das Vermögen der Prüfer, die wahren Fähigkeiten der Kandidaten zu ergründen, sondern auch ihre fachliche Eignung: Das Prüfungsverfahren sei „unanständig", auch weil die Prüfer die Fragen selbst nicht beantworten könnten, die sie den Kandidaten stellen würden 20 . Ein kurzer Ausschnitt: „... Was übrigens den jungen Leuten, auch selbst den unwissendsten noch, in den meisten Fällen ein gutes Zeugnis verschafft, ist der Umstand, dass die Gemüter der Examinatoren, wenn die Prüfung öffentlich geschieht, selbst zu sehr befangen sind, um ein freies Urteil fallen zu können ... ihr eigener Verstand muss hier eine gefährliche Musterung passieren, und sie mögen ihrem Gott danken, wenn sie selbst aus dem Examen gehen, ohne sich Blößen, schmachvoller vielleicht, als der, eben von der Universität kommende Jüngling gegeben zu haben, den sie examinierten ..." Auch die Prüfenden befinden sich, wenn sie ihre Aufgabe ernst nehmen und das ist zum Glück bei den meisten der Fall -, „ihrerseits immer wieder in der Prüfung" 21 .
18 Er wird trotzdem von Wohlhaupter (Fn. 4), Buch I, 1953, S. 467 unter die „Dichteijuristen" eingeordnet. 19 In einem Brief an Rühle von Lilienstern - Heinrich von Kleist Sämtliche Werke und Briefe, Carl Hanser Verlag München, Band II, S. 319. Welche juristische Prüfung Kleist meint (1805 gab es in Preußen drei Prüfungen: das Auskultatorexamen, das Referendarexamen und die Große Staatsprüfung), ergibt sich aus dem Brief nicht. Es könnte sich jedoch um die rein theoretische, von Mitgliedern der Oberappellationsgerichte abgehaltene Auskultatorprüfung gehandelt haben. 20 Ähnlich Behmer, mitgeteilt von Boehmer in JZ 1964, 763, zur Zeit Friedrichs des Großen Präsident der „Immediat-Justizexaminationskommission": „... Denn im Grunde, unpartheyisch von der Sache zu sprechen, so ist es eben nicht schwer, dass ein Examinant sich auf die von ihm vorzulegenden Fragen, so lange es ihm beliebt, vorbereitet, die verwickeisten Fälle zuvor aussucht und durchstudiret, gleichwohl verlangt, dass der ohne alle Vorbereitung dazu seyende examinandus ebenso pünktlich richtich alle und jede specialissima beantworten und resolvieren solle, als der Examinant vorhero bei sich beschlossen und festgesetzt..." 21 Liermann (Fn. 2), S. 103.
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Für Jhering22 ist die juristische Fachkompetenz der Prüfer kein Problem er billigt sie jedem Juristen zu, wenn er in seiner berühmten Schrift „Ernst und Scherz in der Jurisprudenz" ironisch vorschlägt, das Prinzip des lebenslangen Lernens durch den Grundsatz des lebenslangen Examens zu ergänzen: „... In dem einen Jahre examiniert die eine Hälfte der Juristen die andere, im folgenden Jahre geschieht dies umgekehrt" 23 . Jherings Argumentation ist bestechend: „Der Zweck des Examens besteht bekanntlich darin, dem Staate die Überzeugung zu verschaffen, daß der Anzustellende das erforderliche Maß von Kenntnissen besitzt, und mittelbar letzteren anzuhalten, sich dasselbe anzueignen. Wären nun Kenntnisse ein dauerndes Besitztum, so würde die einmalige Aneignung und folglich ein einmaliges Examen ausreichen. Allein als geistiger Besitz haben dieselben leider dieselbe Eigenschaft, wie der Spiritus, daß sie mit der Zeit verdunsten ...Was folgt aber daraus? Es folgt daraus, daß das Examen lebenslänglich von Zeit zu Zeit wiederholt werden muß" 24 . Der überzeugende Jhering 'sehe Vorschlag eines „lebenslanges Examens" ist in den zahlreichen Diskussionen um eine Reform der Juristenausbildung nicht weiter verfolgt worden. An der Prüferfrage müsste er jedenfalls nicht scheitern: Bundesrechtlich kann jeder Jurist jeden Juristen oder jeden künftigen Juristen examinieren. Aus dem Wesen einer Prüfung und aus dem Gebot der Chancengleichheit ergibt sich lediglich, dass die Beurteilung von Prüfungsleistungen nur Personen übertragen werden darf, die nach ihrer fachlichen Qualifikation in der Lage sind, den Wert der erbrachten Leistung eigenverantwortlich zu beurteilen und zu ermitteln, ob der Prüfling die geforderten Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, deren Feststellung die Prüfung dient. Maßstab dafür ist die durch die Prüfung festzustellende Qualifikation, die in aller Regel dadurch belegt wird, dass der Prüfer selbst diese Prüfung erfolgreich abgelegt hat25. 22 Jhering, 22.8.1818 Aurich - 17.9.1882 Göttingen; Studium in Heidelberg, Göttingen, München, Berlin; Professuren in Basel, Rostock, Kiel, Gießen, Wien und Göttingen. 1868 berühmter Vortrag „Kampf ums Recht" in Wien. Jhering kann als „Juristendichter" oder als „dichtender Jurist" bezeichnet werden (siehe Wohlhaupter, Fn. 4, Buch I, 1953, S. 430). 23 Dies alles geschieht öffentlich, denn, so Jhering (Fn. 1), S. 95: „... Welch erhabener Gedanke, den Justizminister dem Examen unterworfen und möglicherweise wegen fehlerhafter staatsrechtlicher Anschauungen oder wegen grober Verstöße gegen die Theorie der Auslegungskunst seinen Platz räumen zu sehen." 24
Jhering (Fn. 1), S. 380 f. Niehues Prüfungsrecht, 4. Aufl., 2004, Rn. 158 ff. Es gibt aber keinen ungeschriebenen bundesrechtlichen Prüfungsgrundsatz, dass jeder, der eine Prüfung ablegen muss, nur von Prüfern geprüft werden darf, die die gleiche Prüfung selbst erfolgreich abgelegt haben. Ein ausländischer Hochschullehrer, der einem deutschen Hochschullehrer beamten- und hochschul25
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Nun war Jhering, wenn er ernsthaft argumentierte, beileibe nicht der Ansicht, ein bestandenes juristisches Examen befähige tatsächlich per se, selbst juristische Examina abzunehmen. Er hat im Gegenteil besonders qualifizierte Prüfer gefordert26 und in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass der ganze Wert des Examens an der Tauglichkeit der Prüfer hänge 27 . Jhering geht es zunächst um „Umfang und Gediegenheit des Wissens", also um die rein juristische Kompetenz 28 . Um diese fachliche Kompetenz über die Mindestvoraussetzung „gleiche Qualifikation" hinaus sicherzustellen, werden die Prüfer für die juristischen Staatsprüfungen sorgfältig ausgewählt 29 . In allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland müssen sie die Befähigung zum Richteramt besitzen 30 . Die ca. 290 Prüfer für die Zweite und die ca. 590 Prüfer für die Erste Juristische Staatsprüfung in Bayern Hochschullehrer und sog. „Praktiker"31 - werden durch den jeweiligen Prüfungsausschuss für fünf Jahre bestell t; Wiederbestellung ist möglich. Nach ständiger Praxis der Ausschüsse sind für die Ernennung zum Prüfer die Dauer der Berufserfahrung sowie das Lebensalter, die Ausbildungserfahrung, soweit möglich die Persönlichkeit32, und die Ergebnisse der Ersten und Zweiten Juristischen Staatsprüfung maßgebend. Nach Ansicht der Ausrechtlich gleichgestellt ist, aber die Richteramtsbefähigung nicht besitzt, kann deshalb auch in der Ersten Juristischen Staatsprüfung prüfen (BVerwG, BayVBl 1992, 598 = DÖV 1992, 884 = NVwZ 1992, 1199). 26
Jhering (Fn. 1), S. 380 f. Dort auch die Forderung nach „dauernder Anstellung der Examinatoren", also nach dem „Berufsprüfer". 21 Jhering {Fn. 1), S. 380 f. 28 BVerfGE 84, 34 = BayVBl, 1991, 590; siehe auch v. Golitschek BayVBl. 1994, 257/259. 29 VGH Hessen, JZ 1964, 763 m. Anm. Menger/Erichsen. 30 Schmidt/Räntsch DRiG, 5. Aufl. 1995, Anh. zu § 5d Rn. 5; Niehues (Fn. 25), Rn. 167; in Bayern siehe § 21 Abs. 4 (Befähigung zum Richteramt nicht erforderlich bei Professoren der Rechtswissenschaft), § 60 JAPO 2003. 31 Ca. 2.100 Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit und 650 Staatsanwälte, 790 Richter anderer Gerichtsbarkeiten (90 Finanzrichter, 300 Verwaltungsrichter, 120 Arbeitsrichter und 180 Richter der Sozialgerichtsbarkeit), ca. 17.000 Rechtsanwälte und 500 Notare, ca. 1.500 Wirtschaftsjuristen (Zahl ungesichert), ca. 2.700 höhere Verwaltungsbeamte (1.100 Innere Verwaltung, 600 Finanzverwaltung, 500 Arbeits- und Sozialverwaltung, 500 Kommunen). 32 Der Forderung von Schulze Die Juristenprüfüng zwischen Anspruch und Wissenschaftlichkeit, Dissertation Saarbrücken 1999, S. 320 f., bei der Prüferauswahl müsse die „pädagogische Qualifikation" (so auch Werner, Fn. 2) und die „menschliche Eignung" berücksichtigt werden und der von Schmidt-Räntsch (Fn. 30), Rn. 7, der künftige Prüfer müsse „ein Gespür fiir die Bewertung von Prüfungsleistungen" haben und fähig sei, „im Prüfungsgespräch auf einen Kandidaten einzugehen und seinen Kenntnisstand auszuloten", kann, soweit sich diese Fähigkeiten nicht aus längerer Berufs- und insbesondere Ausbildungserfahrung schließen lassen, nur eingeschränkt Rechung getragen werden. Ob man Fähigkeiten im Bereich von Fragetechnik, Gesprächsführung und Kommunikation unter den Begriff „pädagogische Qualifikation" subsumieren sollte, kann offen bleiben.
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schüsse sind die Examensergebnisse neben den beruflichen Leistungen das konkreteste und objektivierbarste Kriterium für die Beurteilung juristischer Fähigkeiten und Kenntnisse. Sie haben zudem unmittelbaren Bezug zum Gegenstand der Prüfertätigkeit, nämlich den Anforderungen der Juristischen Staatsprüfungen. Regelmäßig wird die Note „voll befriedigend"33 in beiden Staatsexamina vorausgesetzt34.
III. Prüfen als Kunst Bereits bei Kleist klingt an, dass zum Prüfen mehr als gute Fachkenntnisse notwendig sind: „... es ist so schwer, auf ein menschliches Gemüt zu spielen und ihm seinen eigentümlichen Laut abzulocken, es verstimmt sich so leicht unter ungeschickten Händen, daß selbst der geübteste Menschenkenner, der in der Hebammenkunst der Gedanken auf das Meisterhafteste bewandert wäre, hier noch, wegen der Unbekanntschaft mit seinem Sechswöchner, Mißgriffe tun könnte...." Jhering konstatiert: „Das Prüfen ist eine schwere Kunst: Der ganze Wert des Examens hängt an der Tauglichkeit der Prüfer. Diese Tauglichkeit der Prüfer bestimmt sich nicht nur nach dem Umfang und der Gediegenheit ihres Wissens, sondern in ganz erheblichem Maße nach ihrer Geschicklichkeit im Prüfen"35.
33 Im langjährigen Durchschnitt werden die Noten „voll befriedigend", „gut" und „sehr gut" von allenfalls 15 % der Teilnehmer erreicht. Die Prüfer für die juristischen Staatsprüfungen rekrutieren sich damit aus den fachlich Besten des bayerischen Juristenstandes. 34 Zur Abnahme der juristischen Universitätsprüfung (universitären Schwerpunktbereichsprüfung) nach dem Gesetz zur Reform der Juristenausbildung vom 11. Juli 2002 (BGBl I S. 2592) sind in Bayern neben Hochschullehrern und Hochschullehrerinnen nach Art. 2 Abs. 3 Satz 1 BayHSchPG (GVB1 2006, S. 230) gem. §§ 3, 3a, 2 HSchPrüferV (GVB1 2000, S. 67) auch befugt Professoren im Ruhestand, Lehrbeauftragte, Lehrkräfte für besondere Aufgaben und in der beruflichen Praxis und Ausbildung erfahrene Personen, wenn diese ein abgeschlossenes Hochschulstudium an einer Universität oder in einem wissenschaftlichen, mindestens vierjährigen Studiengang an einer gleichstehenden Hochschule aufweisen und über eine mindestens vieijährige Berufserfahrung verfügen, wenn sie in dem Prüfungsfach eine selbstständige Untenichtstätigkeit von mindestens einem Jahr an einer Universität ausgeübt haben - die Prüfereignung wird hier offensichtlich aus der Dauer der Lehrtätigkeit geschlossen. 35
Jhering (Fn. 1), S. 380/381.
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Und der ehemalige Präsident des BVerwG Werner behauptet: „Es ist schwerer zu prüfen als geprüft zu werden" 36 ; als Prüfer „sieht man erst, wie schwer nicht nur das Geprüftwerden, sondern auch das Prüfen ist" 37 . Die Folgerung zieht Hermann: „Auch das Prüfen will gelernt sein" 38 . Was macht nun diese „Geschicklichkeit im Prüfen" aus, worin besteht diese „schwere Kunst", die „Hebammenkunst der Gedanken"? Zunächst: Gemeint ist, wie auch die literarischen Zeugnisse ausweisen, die Geschicklichkeit in der mündlichen Prüfung 39 . Zwar sind Fachwissen und Objektivität ebenso wie das Gebot, sich am Prüfungszweck zu orientieren, Entscheidungsgrundlage der Prüfer in der mündlichen wie in der schriftlichen Prüfung. Die Bewerter schriftlicher Arbeiten haben allerdings eine vorgegebene Klausur zu korrigieren; der Prüfungsgegenstand ist damit festgelegt, unverbindliche Lösungshinweise geben Anhaltspunkte. Bei der mündlichen Prüfung hingegen besteht, was Prüfungsstoff, Fragestellung und Schwierigkeitsgrad betrifft, weitgehendes Auswahlermessen 40 . Vor allem: Die Prüfungsleistung wird „interaktiv" erbracht; Eigenart und Persönlichkeit des Prüfers können Ablauf und Atmosphäre einer mündlichen Prüfung in viel höherem Maße beeinflussen wie die anonyme Korrekturentscheidung41. Welchen Beitrag leisten nun die literarischen Zeugnisse der „Dichteijuristen" und „dichtenden Juristen" zur Bestimmung dessen, was unter der „Kunst des Prüfens" zu verstehen ist? Die zitierten Beiträge von Kleist und Ihering enthalten wenig konkrete Forderungen oder Hinweise. Aber in einigen anderen literarischen Zeugnissen finden sich Andeutungen und Anhaltspunkte, was diese Kunst ausmachen könnte - auch dort, wo Prüfern Fehlverhalten und Missgriffe vorgeworfen und ihnen der Spiegel vorgehalten wird, wie sie nicht agieren sollten. Kleist und Dahn lenken den Blick zunächst auf den Gegenstand der Prüfung, der von maßgeblicher Bedeutung für die „Prüferkunst" ist: Kleist hält das Prüfungsverfahren fur „unanständig", weil den Kandidaten nicht die Möglichkeit gegeben werde, Gedanken zu entwickeln, sondern die Abfrage auswendig gelernten Wissens in den Vordergrund trete.
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Werner (Fn. 2). Ludwig Ebermayer, 1883 Nördlingen - 1933 Berlin, Studium in Würzburg und München, Oberreichsanwalt, als Honorarprofessor auch Prüfer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht, Erinnerungen eines Juristen, S. 210. 38 Hermann (Fn. 2), S. 96/102. 39 Nahezu alle literarischen Zeugnisse berichten lediglich über die Prüferverhalten in der mündlichen Prüfung; einige wenige Ausnahmen bei Schöbet BayVBl 2004, 1. 40 Schmidt-Räntsch (Fn. 30), Rn. 103, 104. 41 Vgl. BVerwGE 70, 143 = NVwZ 1985, 187/189 = BayVBl 1985, 501 = NVwZ 1985, 187 = DVB1 1985,61. 37
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Jhering beschreibt dies Wissensabfrage, obwohl er sich ansonsten für eine Verständnis-prüfung stark macht 42 , mit allenfalls sanfter Ironie: „Da ich bei sämtlichen Examinatoren sämtliche Vorlesungen gehört und meine sorgfaltig nachgeschriebenen Hefte vermöge meines guten Gedächtnisses fast wörtlich auswendig gelernt hatte, so konnte ich, gleich einem nach Art einer Spieluhr aufgezogenen Kollegienheft, alles mit den verbis ipsissimis herunterleiern, und ich sehe noch das freundliche Schmunzeln meiner Examinatoren, mit dem sie diese echoartige Wiedergabe ihrer Vorträge belohnten" 43 . Dahn44, nicht nur bekannter Schriftsteller, sondern auch Professor der Rechtswissenschaft, teilt allerdings die kritische Ansicht von Kleist, wenn er ausruft: „Mein Sohn! Der Suff ist ein Laster, aber süß. Die Liebe ist eine Torheit, aber die Jugend entschuldigt sie. Aber das Examen ist immer eine Gemeinheit". Dahn, der übrigens als geschickter und gerechter Prüfer galt 45 und sich großen Ansehens bei den Studenten erfreute, fahrt dann fort: „Nicht nur für die Prüflinge, auch, wie ich später als vielgeprüfter Prüfer lernte, für die Prüfer. Das Lästige liegt darin, dass auch der Hochstrebende zu dem niedrigen Mittel des Auswendiglernens herabgedrückt wird; ...Deßhalb hat man aber doch nicht nöthig, es d.h. das Auswendiglernen so maßlos in's Äußerste zu treiben wie ich es that..." 46 Diese Klage ist heute im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, als vielfach die reine Wissensabfrage und die Reproduktion auswendig gelernter Begriffe im Vordergrund stand47, sicher weniger berechtigt. Schon Dahn räumt ein, 42
Jhering (Fn. 1), S.371 ff. Jhering (Fn. 1), S. 44. 44 9.2.1834 Hamburg - 3.1.1912 Breslau; Studium in München und Berlin, Prüfung 1854 in München; 1863-1872 Professor in Würzburg, später in Königsberg und Breslau. Volkstümlichhistorische Romane (z.B. „Ein Kampf um Rom), Schauspiele und Balladen. Siehe auch Schroeder NJW 1986, 1235. 45 Wohlhaupter (Fn. 4), Buch III, S. 307. 46 Felix Dahn Erinnerungen, Zweites Buch, Die Universitätszeit, 3. Aufl., Leipzig 1892, S. 552 f. Dahn fährt S. 579 fort: „... thörigerweise meinte ich, ich müsse auf jede denkbare Frage sofort die Antwort auswendig gelernt herunter schnurren können..." In einer Fußnote S. 591 f. berichtet Dahn von einem Schwank in der mündlichen Prüfung, der zeigt, dass Prüfer (und Prüfungsteilnehmer) auch Humor haben können. 47 Siehe beispielsweise Schubert Ein juristisches Staatsexamen vor 150 Jahren, Jura 1984, 446; ähnliche Fragen aus einer bayerischen „Konkursprüfung" des Jahres 1816 finden sich bei Wendt Die bayerische Konkursprüfung der Montgelas-Zeit, hrsg. von Karl Bosl und Richard 43
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dass ihm sein Prüfung kinderleicht vorkam und sie mit einem „Hundertheil davon noch glänzend bestanden hätte" 48 . Um dennoch der Gefahr zu entgehen, das Wissenselement in der mündlichen Prüfung zu stark zu berücksichtigen, sollte immer wieder in das Bewusstsein gerufen werden, dass vor allem der „kunstgerecht prüft", der festzustellen vermag, ob die Kandidaten juristisches Verständnis und Überblick über das Recht, die Fähigkeit zu methodischem Arbeiten sowie Aufgeschlossenheit und Kritikfähigkeit besitzen49. Zum „kunstgerechten" Prüfen gehört weiter das (ständige) Bewusstsein von der Besonderheit der Prüfungssituation: Die den Prüfern zustehenden Rechte auf Verfahrensführung und Verfahrensgestaltung sowie auf Bestimmung des Verfahrensgegenstandes (Prüfungsstoff) und des Verfahrensergebnisses (Prüfungsbewertung) verschaffen ihnen eine deutliche Position der Überlegenheit gegenüber den Prüfungsteilnehmern; dieses Übergewicht wird begrenzt durch den Anspruch des Prüfungsteilnehmers auf ein faires Verfahren - ein wichtiger Grundsatz des Prüfungsrechts 50 . Im literarischen Zeugnis wird diese überlegene Position des Prüfers eher beiläufig und anekdotisch von Friedrich Hebbel51 und Richard von Kühlmann52 erwähnt. Hebbel notierte 1836 in sein Tagebuch: „Heute nachmittag hab ich zum erstenmal einer privilegierten Hetzjagd, wo in der Regel alles, nur der Verstand nicht, aufgejagd wird, beigewohnt, nämlich einem juristischen Examen. ... Examinationszimmer: ein großer, runder Tisch, belegt mit grüner Decke; auf dem Ehrenplatz der Direktor des Ober-Appellationsgerichts in Uniform, mit seiner neben ihm liegenden goldenen Uhr spielend; um ihn herum die vier Examinatoren, darunter zwei Männer, ein Knabe mit einem Gesicht, wie aus spanischem Wind, leer und flegelhaft, aber süß angelaufen, und ein junger Mensch, der sein neues Zeug an hat, und sich über seinen eigenen Glanz verwun-
Bauer, Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München, 1984, S. 358 ff., sowie bei Krückmann DJZ 1931, 110 zu einer Referendarprüfung aus dem Jahr 1840. 48 Dahn (Fn. 46), S. 580 und 591. 49 Siehe § 4 und § 32 Abs. 1 JAPO vom 13.10.2003, GVB1 S. 758, für die Erste Juristische Staatsprüfung („Die [mündliche] Prüfung ist vorwiegend Verständnisprüfüng"). Selbstverständlich kann die mündliche Prüfung auch Kenntnisse abfragen, denn ohne Wissen gibt es kein Verständnis, so auch Kröpil JuS 1988, 164/165. 50 Kröpil JuS 1989, 243/245; Niehues (Fn. 31), Rn. 186. 51 18.3.1813 Wesselburen - 13.12.1863 Wien. 1836-1839 Jura-Studium in Heidelberg und München. 52 3.5.1873 (Konstantinopel) - 16.2.1948 (Ohlstadt). Kühlmann kann als Dichteljurist angesehen werden; er studierte Rechtswissenschaften in Leipzig, Berlin und München und trat nach der Promotion in den diplomatischen Dienst ein. Sein Werkeverzeichnis enthält neben fachlichen Schriften auch zwei Romane; Busch BayVBl 2004, 584.
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dert. Rings im Kreis saßen Zuschauer, die sich nach Belieben einfinden konnten, lauter Studenten, auf deren Gesichtern es zu lesen stand, ob sie noch 1/2 oder 3/4 oder gar ein ganzes Jahr bis zum eignen Examen vor sich hatten. Candidatus Quäst: ... Durch das Pfandrecht steuerte er glücklich hindurch, kaum einmal, als er die Sachen gar zu oft natürlich fand, zurechtgewiesen; im Hypotheken-Recht mußte er (dem jungen Menschen in braunem Rock) schon Rechenschaft darüber geben, in wie viele Rubriken man Schuld- und Pfand-Protokolle einzuteilen pflege (,lassen Sie mich erst ausreden', dabei ein gravitätischer Blick), im Kirchen-Recht aber sollte er sogar sagen, wie der Kardinal geheißen, der mit Baiern im Auftrag des Papsts das letzte Konkordat abgeschlossen ,.."53 Richard v. Kühlmann legte das Referendarexamen, damals noch ohne schriftlichen Teil 54 , Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts an der Universität München ab. Er gerät an einen Professor, der geäußert hatte: „ .Heute will ja der Herr von Kühlmann sein Examen machen. Er bildet sich ein er wisse alles, ich werde ihm aber beweisen, dass er nichts weiß'. Der betreffende Dozent stellte auch verteufelt knifflige Fragen, die ich nur zum Teil richtig beantworten konnte. Wäre ich zur Nervosität geneigt gewesen, hätte mich dieser unerfreuliche Anfang verwirren und aus der Ruhe bringen können." Es folgt der Pandektist, Professor Seuffert, „dessen langer Bart einen gewaltigen Kröpf nur unzureichend verhüllte." Nach der befriedigenden Beantwortung einiger Fragen kommt „eine sehr verzwickte Darlegung aus einem gänzlich abgelegenen Winkel des Pandektenrechts", um die Kühlmann herumredet. „Nun, ich sehe", sagte Seuffert, „Sie haben sich mit diesem Fall nicht befasst. Ich habe dieselbe Frage seinerzeit schon ihrem Herrn Vater gestellt. Er hat sie auch nicht beantworten können." 55
53 Hebbel Werke, hrsg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, Hanser Verlag München 1994, 4. Band, S. 71. Hebbel schildert die 1830 durch VO vom 6.3.1830 (Regierungsblatt Nr. 12 vom 27.3.1830) eingeführte „theoretische Prüfung", die zunächst lediglich mündlich abgenommen wurde. Die Prüfungskommission bestand aus Professoren, die von den Staatsministerien der Justiz, des Inneren und der Finanzen gemeinschaftlich bestimmt wurden; den Vorsitz hatte ein vom König „aus der Classe der höheren Staatsbeamten" zu ernennender „Commissär" inne (§ 3 der VO). Der , junge Mensch im braunen Rock" und der „Knabe mit dem leeren und flegelhaften Gesicht" müssen, wie auch die anderen „Examinatoren", Professoren gewesen sein, denn Praktiker waren erst ab 1893 als Kommissionsmitglieder zugelassen (§ 3 VO vom 6.3.1830, § 3 VO vom 12.7.1893, GVB1 S. 47). 54 55
Siehe Schöbel (Fn. 39), S. 7, Fn. 79. Richard von Kühlmann Erinnerungen, Heidelberg 1948, S. 84.
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Während die Hebbel 'sehe Schilderung ihren Reiz aus der Gegensätzlichkeit von Prüferstellung einerseits und Physiognomie, Habit und Auftreten zweier Prüfer andererseits gewinnt, ergibt sich der Witz bei Kühlmann aus der Tatsache, dass der Prüfer zwei Generationen angehender Juristen mit der selben Prüfungsfrage befasst. Als Beispiele für einen rechtserheblichen Verstoß gegen die Pflicht der Prüfer, das Prüfungsverfahren auch hinsichtlich des Stils der Prüfung und der Umgangsformen der Beteiligten einwandfrei zu gestalten56, sind diese literarischen Zeugnisse selbstverständlich nicht geeignet57. Die Besonderheit der Prüfungssituation kann zu jenem lähmenden und verhängnisvollen Schweigen fuhren, das sich gelegentlich in einem mündlichen Examen breit macht. Die falscheste Methode, dies zu verhindern oder zu überwinden, schildert der ehemalige Oberreichsanwalt und Honorarprofessor für Strafrecht Ludwig Ebermayer5% in seinen Erinnerungen; es handelt sich allerdings wohl auch fur die damalige Zeit - 1928 - um einen absoluten Ausnahmefall: „Ein Professor stellt eine Frage, die der Kandidat nicht beantworten kann; er schweigt, der Prüfende, der die Uhr vor sich liegen hat, desgleichen. Nach fünf Minuten lässt sich der Professor vernehmen: ,Herr Kandidat, Sie haben noch zehn Minuten.' Dasselbe geschieht nach Ablauf von weiteren fünf Minuten und als auch diese vergangen sind, erhebt sich der Professor: ,Ich danke, Herr Kandidat'." Er hat die Kleist'sehe Forderung, den Kandidaten Zeit zur Entwicklung ihrer Gedanken zu gewähren, offensichtlich nicht richtig verstanden. Wenn niemand mehr in einer Prüfung spricht, so haben die Kandidaten, vor allem aber die Prüfer versagt. Sie können eine derartige Situation vermeiden oder bewältigen, aber auch verschärfen: Wenn sie beispielsweise die lähmende Stille nicht beenden, sondern durch rhythmisches Bleistiftklopfen auf den Tisch noch betonen - aus Gedankenlosigkeit, mangelnder Sensibilität und Ungeschicklichkeit, nicht, wie von Münch59 meint, aus „diabolischer Lust, die Prüflinge zu grillen". Prüfer sollten zunächst daran denken, dass es fur eine ausbleibende Antwort zwei Gründe geben kann: Fehlendes Wissen des Prüflings; dann kommen Hilfestellungen in Betracht, 56
BVerwGE 70, 143 (Fn. 41); Niehues (Fn. 25), Rn. 186 f. Beispiele für Verletzung des Faimessgebotes: BVerwGE 78, 55 = NVwZ 1987; OVG Münster, NVwZ 1988, 458; Schmidt-Räntsch (Fn. 30), Rn. 105; Kröpil JuS 1989, 243/246; Niehues (Fn. 25), Rn. 186, dort auch Fn. 159; von Golitschek BayVBl. 1994, 300. 58 Ebermayer Fünfzig Jahre Dienst am Recht, Erinnerungen eines Juristen, S. 213 f. In seiner eigenen Referendarprüfung 1879 lautete die erste Frage: „Wie alt ist die Königin von England"! (Erinnerungen S. 19). 59 Von Münch NJW 1995, 2016/2017. 57
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die Frage kann weiter- oder freigegeben werden, man kann eine andere Frage zum gleichen Themenkomplex stellen oder das Thema wechseln 60 und dem Kandidaten so die Chance einräumen, Wissen in anderen Bereichen zu zeigen. Möglicherweise war jedoch die Frage unverständlich; ein derartiger, nicht seltener Fall wird von Paul Mühsam61 geschildert: „Totenkommisssion" - so hieß das prüfende Gremium, wenn ihr Kammergerichtsrat Ebbeke angehörte ... Nach eineinhalb Stunden begann Ebbeke mit Handelsrecht, ging zum Wechselrecht über und wandte sich schließlich dem deutschen Privatrecht und der deutschen Rechtsgeschichte zu. Seine Art zu prüfen war geradezu qualvoll. Es war mir oft ganz unmöglich zu verstehen, was er mit seinen Fragen überhaupt meinte Für jeden Prüfungsteilnehmer, damals wie heute, eine entsetzliche, aber vermeidbare Situation: Prüfer sollten Fragen knapp und präzise stellen, nur übersichtliche Fallgestaltungen nutzen und sich durch Rückfragen vergewissern, ob die Frage verstanden worden ist, gegebenenfalls können sie Zusatzinformation geben oder Nachfragen des Prüflings ermöglichen. Auch dies ist Teil der „Hebammenkunst des Prüfens", die nicht darin besteht, dass man etwas weiß und fragt, ob es das Gegenüber auch weiß, sondern darin, dass man dem Kandidaten nachgeht, ihn fuhrt, ihm manchmal auch dahin folgt, wo man selbst eigentlich gar nicht hin will 62 , und aus ihm herausholt, was er wirklich leisten kann 63 . Dazu gehört auch, dass Prüfer sich zurücknehmen, den Fall nicht selbst entwickeln, sondern die Kandidaten reden lassen und nur vor Irrwegen bewahren. Dies ist schwieriger, als sich viele, auch manche Prüfer, vorstellen. In literarischen Zeugnissen finden sich auch Beispiele fur „kunstgerechte" und damit geglückte Prüfungsgespräche: So lobt Kühlmann, dass in seiner mündlichen Doktorprüfung in Heidelberg „die Dozenten ihres Amtes mit vorbildlichem Geschick und Takt walteten und das Gelände mit ihren Fragen vorsichtig abtasteten ... Hatten sie den Eindruck, auf dürre Heide zu stoßen, wichen sie geschickt aus. Schien aber der Doktorand in einer Sparte gut beschlagen, verweilten sie mög60
So heißt es in einem Vorläufer der JAPO aus dem Jahr 1893: „Die Fragestellung soll leicht und klar sein. Ergibt sich, daß ein Kandidat auf einem durch die Fragestellung berührten Gebiete offensichtliche Unkenntnis zeigt, so ist das Thema zu verlassen und ein anderer Gegenstand zu wählen" (§ 29 Bek. vom 14. Juli 1893). 61 Mühsam Ich bin ein Mensch gewesen, Lebenserinnerungen, 1989, S. 89. Mühsam, 17.7.1876 Brandenburg - 11.3.1960 Jerusalem. Anwalt von 1900 bis 1933 in Görlitz, 1933 Auswanderung nach Palästina. Verfasser von Gedichten, Erzählungen, dramatischen Einaktern, Schwänken und Grotesken, siehe Wambach (Fn. 3), S. 264. 62 So auch zu Recht Kröpil JuS 1988, 164/165. 63 Hermann (Fn. 2), S. 96.
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liehst lange beim Gegenstand und gaben dem Kandidaten Gelegenheit zu glänzen In den Prüfungspausen machte man allgemeine Konversation. Zur Stärkung wurde in Römern Wein herumgereicht." 64 Der Prüfer Bettermann in Martin Walsers Roman „Die Verteidigung der Kindheit" ist, wie es ein Prüfer sein sollte, einfühlsam; im lenkenden Gespräch führt er den Kandidaten Alfred Dorn zum richtigen Ergebnis 65 . Und Radbruch schadete nicht, dass er die ersten vier Fragen in seiner mündlichen Prüfung nicht beantworten konnte; er erlangte trotzdem das Prädikat „gut" 66 . Nicht nur einmal teilen uns Dichtejjuristen mit, dass die Prüfer auf sie eingegangen, ihnen „gefolgt" sind, absichtlich oder unabsichtlich. Dem „Dichterjuristen" Albert Drach61, der von sich nur in der dritten Person als dem „Sohn" spricht, verhalf dies zum Erfolg in der Anwaltsprüfung: „Damals wurde dem Sohn der Bestand der Rechtsanwaltsprüfung an einem bestimmten Tage vorausgesagt ... Erst als der Sohn in der Garderobe vor dem Prüfungssaal dem diensthabenden Mantelverwahrer sein Überkleid unter Hingabe der damals letzten fünf Schillinge anvertraut hatte, erfuhr er von dem Überzahlten, daß gerade an jenem Tag, an dem er nach des Wahrsagers Vormeinung die Prüfung erfolgreich bestehen sollte, die Herren im Konferenzzimmer sich im gleichen Sinne geäußert hätten. Obwohl der Sohn schlecht vorbereitet war und auch das schriftliche Examen nicht aus Opposition, sondern aus Unkenntnis der Meinung seines Prüfers in diesem widersprechendem Sinne gelöst hatte, war er gern geneigt, der Versicherung des Unbefugten zu glauben, ungeachtet dessen, daß man Steuerrecht prüfen würde, welches sein Mitkandidat unter Verweigerung der Weitergabe der Skripten an ihn noch eifrigst vor dem Einlaß präparierte. Der Sohn verstand es damals, den Examinator auf das Gebührenrecht abzulenken, von dem der andere versicherte, nichts zu wissen, wo-
64
Kühlmann (Fn. 55), S. 85/86. Siehe den auf S. 3 zitierten Auszug aus dem Roman von Walser. 66 Radbruch Der innere Weg, 1951, S. 64. Radbruch wird zwar bei Wohlhaupter nicht als „dichtender Jurist" geführt, hat diese Bezeichnung jedoch meines Erachtens verdient (Feuerbach-Biographie, Gedichtband). Zum Leben und zur Bedeutung Radbruchs siehe auch Laufs NJW 1978, 657. 67 Albert Drach (geb. 1902), Hauptwerke: „Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum" und „Untersuchung an Mädeln"), studierte in Wien Jura (Promotion 1926) und praktizierte v o r und nach seiner Emigration 1938 bis 1947 als Rechtsanwalt. In seinem autobiographischen Roman: „Z. Z." das ist die Zwischenzeit. Ein Protokoll, schreibt Drach von sich nur in der dritten Person als d e m „ S o h n " ; Zu Person und Werk von Albert Drach siehe auch Oswald NJW 2002, 551; Müller-Dietz NJW 1998, 1344. 65
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mit er recht hatte, und verhalf so der an ihn ergangenen Weissagung zu einer teilweisen Erfüllung ,.." 68 Walter Serner69, Dadaist, später Verfasser von Kriminalgeschichten und Erzählungen, hatte, wenn man seinen Lebenserinnerungen glauben darf, außer Ovid rein gar nichts gelesen. In der rechtshistorischen Staatsprüfung habe er daher das Gespräch irgendwie auf diesen Autor gelenkt. Und, so fahrt er fort, „... da meine Examinatoren Menschenkenner waren und echte Humanisten, wurde ich doctor utriusque juris" 70 . Dass zur „Hebammenkunst" nicht nur Fragetechnik und Verständnis gehören, sondern auch nichtverbale Kommunikation zeigen Beiträge von Mühsam, von Naso und Max Brod71. Nochmals Paul Mühsam und die „Totenkommission" in seinem mündlichen Examen: „... Drei Stunden waren vorübergegangen. Nach einer halbstündigen Stärkungspause begann Sperling Staatsrecht zu prüfen. Darin war ich am besten vorbereitet, und ich hätte jeder seiner Fragen beantworten können. Aber ich hatte das Unglück, dass er nur die anderen Kandidaten, die wenig wußten, heranzog und mich dauernd überging, so bittflehend ich ihn auch angesehen haben mag .. ," 72 . Der Schriftsteller und Dramaturg Eckart von Naso73, der, nachdem er 1910 im ersten Anlauf gescheitert war, in Breslau im zweiten und letzten Versuch das Referendarexamen bestanden hatte 74 , schildert ausfuhrlich
68
„Z. Z." das ist die Zwischenzeit. Ein Protokoll, S. 214, zitiert nach Pieroth Jura, 1992,
351. 69 Geboren 15.1.1889 in Karlsbad, 1942 verschollen, zuletzt KZ Theresienstadt; JuraStudium in Wien, Berlin und Greifswald. Würdigung zum 100. Geburtstag durch SchmitzScholemann NJW 1989, 356. 70 Walter Serner Das gesamte Werk, hrsg. von Thomas Milch, 1984, S. 87 f., zitiert nach Pieroth Jura 1991, 164. 71 Zur Notwendigkeit der Rückmeldung zutreffend Kröpil JuS 1988, 164/166. 72 Mühsam (Fn. 61), S. 89. 73 Eckart von Naso, geboren 2.6.1888 in Darmstadt, gestorben 13.11.1976 in Frankfurt/M., Chefdramaturg am Berliner Staatlichen Schauspielhaus und an den Theatern in Frankfurt/M. und Stuttgart, danach freier Schriftsteller. Sein umfangreiches literarisches Oeuvre handelt besonders von Gestalten und Begebenheiten aus dem alten Preußen. Von Naso studierte Jura in Göttingen, Kiel, Halle und Breslau, bestand am OLG Breslau im zweiten Anlauf das Referendar-Examen. Nach Promotion und kurzer Referendarzeit verließ er den Justizdienst. 74
Eckart von Naso Ich liebe das Leben, 1953, S. 211 ff.
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seine mündliche Prüfung 75 ; er beschreibt auch das Schweigen auf eine unbeantwortete Frage: „... Mein Nebenmann ... schwieg. Er schwieg wie das Grab. Auch der Amtsgerichtsrat schwieg, offensichtlich maßlos erstaunt. Das Schweigen war so tief, daß man die Fliegen summen hörte, und peinlich genug ...". und die Angst der Kandidaten während und nach der Prüfung vor der „Urteilsverkündung", die durch eine „Rückmeldung" von der Prüferbank gemildert werden könnte: „... Und nun lernte ich ein Viertes und Letztes; daß auch in einem Examinator ein menschliches Herz schlagen sollte. Es braucht kaum ein Nicken zu sein, nur ein kleines, kaum bemerkbares Senken der Lider, eines das beruhigt und bejaht. Denn es gibt nichts Erbarmungswürdigeres in der Welt, als die Angst...". Misslungen ist allerdings die nonverbale Hilfestellung, die Max Brod76 als Anekdote schildert: „... Ich erinnere mich an eine unsagbar komische Szene (die Prüfungen waren öffentlich - und im letzten Stadium, ehe man selbst zum Schafott schritt, besuchte man sie als schlichter Zuhörer, um sich an das Ganze zu gewöhnen). [Professor] Singer [ein konvertierter Jude] also inquirierte eines seiner Opfer. ,Welche Eigenschaften schließen es aus, daß einer zum Papst gewählt wird?' Der Kandidat wußte einigermaßen Bescheid, ....nannte auch die Ausschlußgründe. Einer aber fiel ihm nicht ein. Verheiratet durfte der Papst nicht sein. Er riet und riet. Vergebens. Der wackere Professor will den Geängstigten darauf bringen: ,Nun, Herr Kandidat, warum kann, beispielsweise ich nicht Papst werden?' Und dabei zeigte er deutlich auf den Ehering an seinem Finger. Der Prüfling scheint zu begreifen, ein verlegenes Lächeln spiegelt sich auf seinem Gesicht, und mit echt böhmelndem Akzent bringt er so höflich wie möglich hervor: ,Herr Professor, weil Sie ein Jud sind ,..'." 77
75
Eckart von Naso (Fn. 74), S. 248-255. 27.5.1884 Prag - 20.12.1968 Tel Aviv; Freund Werfeis und Kafkas, den er förderte; Hauptwerk „Tycho Brahes Weg zu Gott"; Juristisches Studium und Promotion (1907) in Prag. 77 Wambach (Fn. 3), S. 288. 76
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IV. „Prüferkunst" in Rechtsprechung und juristischer Fachliteratur Die juristische Fachliteratur enthält einige konkrete Forderungen zum Inhalt der „Kunst des Prüfens": „Hilfestellung geben", „keine missverständlichen Formulierungen wählen", „ruhig fragen und Zeit für Antworten einräumen", „Rückmeldung geben", „nicht ins offene Messer rennen lassen" 78 , „beweglich sein und dem Kandidaten gegebenenfalls auch folgen", „sich zurücknehmen und ihn reden lassen", „leicht überschaubare Sachverhalte bilden", „Feedback geben" 79 . Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hingegen zeigt vor allem, wie der Prüfer nicht sein soll. Das liegt in der Natur der Sache. Die Verwaltungsgerichte werden nur dann angerufen, wenn Prüfungsteilnehmer zu Recht oder zu Unrecht Prüferverhalten in einer konkreten Prüfungssituation rügen; dabei kann es sich um einmalige „Ausrutscher" oder, im schlimmsten, aber seltenen Falle, im Persönlichkeitsbild des Prüfers angelegte unsachgemäße Verhaltensmuster handeln. Wer die Zahl der jährlich in der Bundesrepublik Deutschland abgenommenen mündlichen Prüfungen (ca. 10.000) und die Zahl der verwaltungsgerichtlich festgestellten „Missgriffe" von Prüfern vergleicht, wird feststellen, dass es sich um seltene Ausnahmefalle handelt; dabei wird nicht verkannt, dass es auch eine „Dunkelziffer" gibt, weil nicht jedes kritikwürdige Verhalten zum Gegenstand eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens wird. In einer einzigen Entscheidung zeigt das Bundesverwaltungsgericht auf, wie es sich einen „kunstgerecht" agierenden Prüfer vorstellt: „Vorteile und Nachteile, die sich aus Eigenart und Persönlichkeit des Prüfers ergeben, sind unvermeidlich und weder messbar noch rechtlich erheblich. So kann etwa ein Prüfer, der sich im Prüfungsgespräch verschlossen, kühl, distanziert und unpersönlich gibt, damit einem nervenschwachen Kandidaten leicht die Sicherheit nehmen, die dieser zur vollen Entfaltung seines Leistungsvermögens benötigt. Ein Prüfer hingegen, der freundlich und aufgeschlossen examiniert, den Prüfling im Gespräch geschickt zu führen versteht, auf Antworten wohlwollend eingeht, kann durch diesen Prüfungsstil optimale Bedingungen für die volle Ausschöpfung der Leistungsfähigkeit der Prüflinge schaffen. Ungleiche Prüfungsbedingungen dieser Art sind in der unterschiedlichen Wesensart der Prüfer und im unmittelbaren gegenseitigen Aufeinandereinwirken von Prüfer und Prüfling angelegt; sie sind ,prüfungsimmanent' und lassen sich
78 79
Schmidt-Räntsch (Fn. 30), Rn. 104. Kröpil JuS 1988, 164.
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nicht ausschalten, auch wenn ein Prüfer nach besten Kräften fair und gerecht prüft." 80
V. Die Mitprüfer Die Kunst des Prüfens beweist sich vornehmlich im unmittelbaren Prüfungsvorgang, dem Prüfungsgespräch. Nicht aus dem Auge verloren werden darf aber die Rolle der anderen Kommissionsmitglieder, wie die ironischsarkastische Schilderung einer mündlichen Prüfung durch Tucholsky zeigtsl. Hier ein kurzer Auszug: „Schmale Türen öffnen sich, und die Studenten brechen rempelnd herein, auf die krachenden Bänke. Vorne sagt eine leise Stimme etwas, Bücher klappern, Räuspern, die schwarzen Examensvögel sitzen wie auf einer langen Stange, mit eingezogenem Hals, gebückt ...Worauf der Professor anhub, über den zweiten Prüfling mit einem Gestöber von Fragen herzufallen ... - Antworten kamen, zögernd, eingelernt, aber sie kamen und wurden vorne nur von dem Fragenden vernommen, die anderen (Prüfer) stierten längst, trüb und starr, in die Hefte oder auf die gegenüberliegende Wand. Einer hielt die Augen geschlossen. Es war nicht ihr Fach ~.".82 Tucholsky schildert eine mündliche Prüfung zu Beginn des 20. Jahrhundert, der er als Zuhörer beigewohnt hat; die Szene könnte sich allerdings heute in ähnlicher Form abspielen. „Einer hielt die Augen geschlossen" ein Verfahrensmangel: Alle Prüfer müssen bei der Abnahme der Prüfungsleistungen und deren Bewertung nicht nur körperlich zugegen sein 83 , sondern der Prüfung auch mit der gebotenen ungeteilten Aufmerksamkeit folgen. Auch eine nur beiläufige Beschäftigung mit prüfungsfremder Literatur ist damit grundsätzlich nicht zu vereinbaren. Noch weniger das Einschla-
80
BVerwGE 55, 355 = NJW 1978,2408. 9.1.1890 Berlin - 21.12.1935 Selbstmord in Schweden. Tucholsky studierte Jura in Berlin und Genf. Vom Referendarexamen wird er befreit, 1914 legt er die mündliche Doktorprüfung ab und wird 1915 in Jena promoviert, siehe Weck Wider den Dreimännerskat der Justiz, in: Kilian (Hrsg.), Dichter, Denker und der Staat, Essays zu einer Beziehung ganz eigener Art, 1993, S.163; zur Bedeutung Tucholsky's siehe auch Wrobel ZRP 1985, 313. 82 Wambach Grenzgänger zwischen Jurisprudenz und Literatur, Werner Krauss, Kurt Tucholsky, Friedrich Georg Jünger und Martin Beradt, S. 56 f. 83 Die Prüfungsordnung kann vorsehen, dass sich ein Prüfer während der Prüfung eines anderen Kommissionsmitglieds entfernen kann; er ist bei Vergabe der Note für diesen Prüfungsteil nicht stimmberechtigt (vgl. § 25 Abs. 1, § 26 Abs. 2 S. 3 und 4 BayJAPO a.F. für Hochschullehrer; diese Möglichkeit ist in der BayJAPO 2003 nicht mehr vorgesehen). 81
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fen 84 . Zumindest ungehörig gegenüber Mitprüfern, vor allem aber gegenüber Kandidaten ist, wie von Münch85 zutreffend kritisiert, „die nicht selten zu beobachtende Praxis, dass sich während der laufenden Prüfung in dem einen Fach ein Mitprüfer auf die von ihm zu absolvierende (spätere) Prüfung in seinem Fach vorbereitet. Diese Vorbereitung sollte tunlichst vor Beginn des Prüfungstermines stattfinden ..." Das von Tucholsky geschilderte Desinteresse von Prüfern an Prüfungsteilen, an denen sie nicht aktiv beteiligt sind, kann auch heute gelegentlich festgestellt werden. Leider - denn eigentlich sollten sich alle Prüfer stets bewusst sein, wie wichtig ihre „ungeteilte Aufmerksamkeit" für die gemeinsame Notengebung ist; sie können auch die prüfenden Kollegen, die nicht nur durch die Kommunikation mit allen Kandidaten, die fachliche Bewertung der Antworten, sondern auch durch Notizen beansprucht sind, beispielsweise durch Mitschriften unterstützen. Schließlich verbieten die Achtung vor den Kandidaten und das Bewusstsein von der Bedeutung des Examens Desinteresse in der Prüfung.
VI. Fazit Die literarischen Zeugnisse und die Vergleiche mit Rechtsprechung und Beiträgen juristisch Fachliteratur heutiger Zeit zeigen, wie wichtig damals wie heute Gesprächsführung, Fragetechnik und Kommunikation in der mündlichen Prüfung sind. Es gibt zahlreiche sprachliche und nonverbale Kommunikationsmittel, mit der Prüfer die Kandidaten leiten und ihnen die Möglichkeit geben können, vorhandenes Wissen zu präsentieren. Das geht über die Frageformulierung und die Variation der Frageperspektive bis zur Leitung durch zweifelnde, weiterfuhrende oder nur umformulierte Fragen, 84
OVG Münster, NJW 1987, 972; OVG Nordrhein-Westfalen, NVwZ 1992, 397-398; OVG Lüneburg, Beschluss vom 13. Juli 1983 - 10 OVG A 28/82, zitiert bei Kröpil JuS 1989, 243/245; Schmidt-Räntsch (Fn. 30), Rn. 106. Der Nachweis ist, wie die im Urteil des OVG Schleswig-Holstein vom 24.11.1995, 3 L 640/94, mitgeteilte Beweiswürdigung zeigt, schwierig - er würde auch in dem von Tucholsky geschilderten Fall nicht gelingen: Hochschrecken nach Fallenlassen des Bleistifts, Abrutschen mit dem Arm über die Tischkante oder wenn der Prüfer seine Kopf auf den Arm stützt und der Arm vom Tisch abrutscht, gestatten keinen zwingenden Rückschluss darauf, dass der betreffende Prüfer „eingenickt" oder eingeschlafen sei ... „Das Zurücklehnen bei geschlossenen Augen muss nicht mit einem Einschlafen verbunden sein ... Auch der subjektive Eindruck von Teilnahmslosigkeit und Desinteresse' reicht nicht aus ... Bei über viele Stunden abzuwickelnden Prüfungsgesprächen können sich gleichsam unmerklich ,Schlafphasen' ergeben (ähnlich denen des Autofahrers beim .Sekundenschlaf), die sich nach außen mitunter durch dezente Anzeichen mitteilen ...". 85
von Münch NJW 1995, 2016/2017.
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von aufmunternden Hinweisen bis zu Zusatzinformationen, vom Blickkontakt über Körperhaltung, Mimik und Gestik bis zur Rückmeldung zu Antworten und der Einräumung von Bedenkzeit. Erfahrene Prüfer wissen auch, dass es unterschiedliche Typen von Prüfungsteilnehmern gibt, denen sie gerecht werden müssen. Jeder Kandidat ist eine Individualität, keiner nimmt das Examen völlig gleich dem anderen 86 ; die Kunst des Prüfens besteht auch darin, dieser Individualität gerecht zu werden. Selbstverständlich gibt es unter den Prüfern verschiedene Typen: Geduldige und Ungeduldige, Milde und Strenge, Humorvolle und Humorlose. „Der Mensch ist auch als Prüfer einzigartig"87. Die Bedeutung der Prüferindividualität relativiert sich aber, wenn man bedenkt, dass beispielsweise in Bayern in der Ersten insgesamt 16, in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung insgesamt 22 Bewerter die acht bzw. elf schriftlichen und vier Prüfer die vier mündlichen Leistung der Kandidaten beurteilen; da gleichen sich die unterschiedlichen Prüfertypen aus 88 . Prüfer sind jedenfalls keine Scharfrichter - sie haben weder Interesse an hohen Durchfallquoten noch an schlechten Noten. Der selbstherrliche, nur seine eigene Meinung gelten lassende Prüfer, der seine Gnade nach Stimmung, Laune und Belieben verteilt, ist die absolute Ausnahme. Prüfer sind Menschen, die irren und fehlen können und keine gefühllosen Automaten. Statt vieler zwei kleine Beispiele, die sich mit wenig gewichtigen, eher amüsanten Einflussnahmen auf die Prüferpsyche befassen. In dem nachfolgenden Auszug aus einer Erzählung von Rosendorfer wird nicht nur der Kandidat Stegweibel vergnüglich beschrieben, sondern auch die - menschliche - Reaktion der Prüfungskommission auf einen „Beeinflussungsversuch": „Wie Stegweibel ... das Referendarexamen geschafft hatte, war allen unverständlich ... Stegweibel ... trat zum Examen sicher mit mangelhafter Vorbereitung, dafür jedoch mit, sage und schreibe, einer Kiste Bier an, die er unter seinen Schreibtisch im großen Examenssaal des Oberlandesgerichts stellte und während der fünfstündigen Klausur austrank. Und das an jedem der sechs Examenstage. Keiner der Kommilitonen hätte auch nur einen Pfifferling auf Stegweibels Examensergebnis gewettet, doch das 86 Schilderung unterschiedlicher Kandidatentypen bei Hermann (Fn. 2), S. 96/103, in der Glosse „Bayerisch examiniert" (Noricus JZ 1987, 762) sowie bei Sigismund von Radecki Im Vorübergehen, 1964, der launig den „geborenen Examensmacher" und den „Büffler" gegenüberstellt sowie bei Rosendorfer Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts, München, 2004, S. 32 ff., der den Referendar Stegweibel - Typ „gescheiter Faulpelz" - schildert. Walsers (Fn. 11) Held Alfred Dorn ist der juristisch nicht besonders begabte Fleißige, dessen Fähigkeiten auf anderem Gebiet liegen. 87 Brehm NJW 2003, 2808. 88 Siehe auch Hermann (Fn. 2), S. 103.
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Wunder geschah: Er bestand, wenngleich knapp. Im mündlichen Termin soll ihm dann, wie zu erfahren war, die Tatsache geholfen haben, daß dort das Mitbringen von Bier selbstredend nicht möglich war und daß unter seinen vier Mitgeprüften an dem langen Tisch gegenüber der gestrengen Prüfungskommission einer war, der stotterte, einer, der zwar an sich sehr gut war, allerdings, was bei Strebern nicht selten ist, vor Aufregung und Leistungsdruck kaum in der Lage war, auch nur einen vernünftigen Satz herauszubringen, dann ein Mädchen, das durch offenherziges Dekollete die Prüfer zu bestechen versuchte, was diese erboste, und als vierter dann der ausgemacht Dümmste des Examenstermins, so daß der - alles andere als blöde, vielmehr in seiner Art intelligente - Stegweibel fast so etwas wie glänzen konnte, wobei ihm wohl etwas das Glück lachte, denn man fragte ihn Dinge, die er offenbar zufällig wußte. Und seine Lücken verstand er zu verschleiern. So bestand also Stegweibel." Was bei Rosendorfer dichterische Freiheit ist, ist in einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung Prüfungsrealität: „Der vom Kläger behauptete Charme seiner Mitkandidatin gehört zu den Einflussfaktoren, die sich rationaler Erfassung entziehen und welche bei der Notenvergabe deshalb als unvermeidlich in Kauf zu nehmen sind." 89 Der Normalfall aber ist der Prüfer, der sich redlich und regelmäßig erfolgreich bemüht, der Person und den Leistungen der Kandidaten im Bewusstsein seiner Verantwortung gerecht zu werden. Viele Prüfer sind in der Kunst, aus dem Prüfling das Beste herauszuholen, bewandert, einige beherrschen sie, manche sollten sie noch mehr einüben. In der Glosse „Bayerisch examiniert" wird mit liebevollem Spott die Umsetzung der Hebammenkunst der Gedanken in der Prüfungspraxis durch den Prüfer Dr. Stenglein, dem Dialekt nach ein Franke, geschildert90: „... Eine lange Richtertätigkeit liegt hinter dem Vorsitzenden. Der Umgang mit Gerechten und Ungerechten hat ihn gelehrt, Milde und Nachsicht walten zu lassen und doch der Sache auf den Grund zu gehen. So weiß er souverän die Ausforschung der Kandidaten zu betreiben und versteht es, sanft zu korrigieren, nachzuhaken und weiterzuhelfen. Kurz: er beherrscht die sokratische Maieutik, die Kunst, aus dem Prüfling das Beste herauszuholen, vortrefflich. Doch soll er selbst zu Wort kommen. Soeben hat er einen praktischen Fall vorgetragen. ... und den Prüfling Wiesner aufgefordert, sich zur Lösung Gedanken zu machen. Der blättert mit feuchten Händen in seinem ,Schönfelder' und äußert 89
VGH Mannheim, VB1BW 1991, 310 = DVB1 1991, 777 (LS).
90
Noricus iZ 1987, 762.
Die „Kunst des Prüfens" - Prüfer in juristischen Prüfungen
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sich, seiner Sache nicht ganz sicher: ,... und ich neige eigentlich dazu ... ist natürlich problematisch ...' Fieberhaft blättert er weiter ... Der Vorsitzende Stenglein mit leichter Ungeduld: ,Da brauchens jetzt gar nicht blättern, da müssen Sie nur mitdenken!' Der Prüfling Wiesner behauptet jetzt einfach etwas und will dann rasch das Schifflein in vertrautere Gewässer seines Wissens steuern. Aber der Doktor Stenglein gebietet Einhalt: .Langsam, warum nicht?' Dann kommts ihm, daß er auch die anderen Kandidaten prüfen muß: ,Das ist eine Frage für Sie, Herr Zöttl.' Dieser Zöttl saß bis jetzt stumm und regungslos da, wie ein Uhu auf der Stange. Ihm gelingt es, die erwünschte Auskunft zu liefern. Denn Doktor Stenglein stellt befriedigt fest; ,Das möcht' aber, bitte ich, so sein. Der Gesetzgeber ist manchmal gar nicht so dumm, wie die Leute meinen' In dieser Manier geht die Prüfung weiter und dann fährt er fort: ,Sehr schön, ja also, Herr Wiesner, zurück zu Ihnen, wollen Sie Ihre Ansicht revidieren?' Der aber schweigt verstockt. Der Vorsitzende versucht ihn zu locken: Jetzt überlegen Sie doch Schrittchen fur Schrittchen.' Kandidat Wiesner blättert wieder. ,Da brauchen's mer jetzt gar nicht suchen.' Endlich bringt dieser Wiesner etwas heraus, was den Vorsitzenden Stenglein milder stimmt: ,Jetzt tun's des noch ein bissel' ventilieren. Wir könnten schon hinkommen.' Wiesner setzt alles auf eine Karte - und gewinnt. Denn Meister Stenglein hält fest: ,Jawoll, jetzt ham Sie das Entscheidende gesagt...'." Abschließend: Prüfen ist eine schwere Kunst, die gelernt sein will - nicht nur durch Lebens- und Beruferfahrung, sondern auch durch Seminare und durch Übung. Denn, so Jhering: „Nur geübte Prüfer sind taugliche Prüfer. Nur sie können den Schein des Wissens von wirklichem Wissen unterscheiden. Darum muß den Prüfern die Möglichkeit geboten werden, sich in dieser Kunst auszubilden." 91 Noch zu wenig ist in das Bewusstsein mancher Prüfer gedrungen, dass kommunikative Fähigkeiten notwendig und erlernbar sind; die Seminare, Workshops und Prüfertreffen, die die Landesjustizprüfungsämter unter Mitwirkung von Psychologen, Pädagogen und erfahrenen Prüfern anbieten, sind leider nicht immer im wünschenswerten Umfang nachgefragt.
91
Jhering (Fn. 1), S. 380 f.
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Heino Schöbel
VII. Der Prüfer Böttcher im „nicht-literarischen Zeugnis" Über den Prüfer Reinhard Böttcher gibt es keine „literarischen Zeugnisse"; auch sind mir keine Äußerungen von ihm über seine Prüfertätigkeit bekannt. Der heutige Prüfungsalltag produziert jedoch sogenannte „Prüferprotokolle", in denen die Kandidaten in schlichter Prosa ihr überstandenes mündliches Examen und ihre Prüfer beschreiben. Lassen wir Prüfungsteilnehmer in Auszügen aus „Prüferprotokollen", den „nicht-literarischen Zeugnissen geprüfter Kandidaten", zu Wort kommen: „Herr Prof. Dr. Böttcher ist ein Glücksfall für die mündliche Prüfung. Er hat eine sehr freundliche Art und verbreitet eine angenehme Atmosphäre....er bestätigt richtige Antworten mit einer bestätigenden Gestik und beißt sich, wenn eine Antwort durch den befragten Kandidaten nicht erfolgt, nicht an ihm fest, sondern geht zunächst weiter, kommt aber auf den nicht antwortenden Kandidaten zurück und gibt ihm somit die Möglichkeit, seine vorherige Schwäche auszubessern ... Schon im Vorgespräch gelang es ihm durch seine sympathische und beruhigende Art, dem Prüfling die Nervosität zu nehmen und auf die Prüfung vorzubereiten ... Herr Böttcher verfolgt den gesamten Prüfungsverlauf sehr genau und fertigte ausfuhrliche Notizen über die Antworten der Prüfungsteilnehmer ... Er formulierte seine Frage sehr präzise und verstand es, durch seine Fragestellung den Kandidaten Hilfestellungen zu vermitteln ... Auf richtige Antworten oder vertretbare Argumentationen reagierte Prof. Böttcher mit einem anerkennenden und aufmunternden Nicken ... Wusste ein Kandidat einmal nicht weiter, so versuchte Prof. Böttcher durch gezieltes Nachfragen, den Prüfling auf den richtigen Weg zu bringen ... Alles in einem ist er ein idealer Prüfer. "
Verzeichnis der Schriften von Reinhard Böttcher Kommentare und Handbücher Löwe-Rosenberg, Großkommentar zur StPO und zum GVG, 25. Auflage: §§ 1 bis 21 GVG (22. Lieferung, 2002) und EGGVG mit GVGVO (10. Lieferung, 1999). Widmaier (Hrsg.), Münchner Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2006, § 51 JugendstrafVerfahren (gemeinsam mit Eckhart Müller).
Beiträge in Festschriften Der Schutz der Persönlichkeit des Zeugen im Strafverfahren. In: Gössel/Kauffmann (Hrsg.), Strafverfahren im Rechtsstaat, Festschrift für Theodor Kleinknecht, 1985, 25 ff. Die Hauptverhandlung als pädagogische Veranstaltung. In: Ebert (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, Symposion zu Ehren von Walter Hanack, 1991,21 ff. Der gefährdete Zeuge im Strafverfahren. In: P.-A. Albrecht/Ehlers/Lamott/ Pfeiffer/Schwind/Walter (Hrsg.), Festschrift für Horst SchülerSpringorum, 1993, 541 ff. Der Strafbefehl auf dem Vormarsch? In: Böttcher/Hueck/Jähnke (Hrsg.), Festschrift für Walter Odersky, 1996, 299 ff. Härterer Kurs im Jugendstrafrecht? In: Herbst u. a. (Hrsg.), Einheit und Vielfalt der Rechtsordnung, Festschrift zum 30jährigen Bestehen der Münchner Juristischen Gesellschaft, 1996, 79 ff. Die Kriminologische Zentralstelle in Wiesbaden. Wie es dazu kam. In: H.-J. Albrecht/Dünkel/Kemer/Kürzinger/Schöch/Sessar/Villmow (Hrsg.), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Festschrift für Günther Kaiser, 1998,47 ff. Feuerbach am Appellationsgericht Bamberg. In: Ebert/Rieß/Roxin/Wahle (Hrsg.), Festschrift für Walter Hanack, 1999, 441 ff. Rechtsschutz gegen befangene Ermittler. In: Schünemann/Achenbach/Bottke/Haffke/Rudolphi (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, 1333 ff.
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Schriften von Reinhard Böttcher
Der Deutsche Juristentag und die Absprachen im Strafprozess. In: Eser/ Goydke/Maatz/Meurer (Hrsg.), Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis, Festschrift für Lutz Meyer-Goßner, 2001, 49 ff. Die Rechtsmittelreform in Strafsachen als Thema Deutscher Juristentage. In: Hanack/Hilger/Mehle/Widmaier (Hrsg.), Festschrift für Peter Rieß, 2002,31 ff. Ein Forum für Europas Juristen: Europäische Juristentage. In: Schweizer/ Burkert/Gasser (Hrsg.), Festschrift fur Jean Nicolas Druey, 2002,49 ff. Zur Instrumentalisierung des Ermittlungsverfahrens im politischen Meinungskampf. In: Duttge/Geilen/Meyer-Goßner/Warda (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, 2002,435 ff. Reform der Juristenausbildung: Fortschritt mit Augenmaß. In: Dölling/Erb (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Gössel, 2002, 711 ff. Die Bedeutung des Erziehungsgedankens für das Jugendstrafverfahren. In: Böttcher/Huther/Rieß (Hrsg.), Verfassungsrecht - Menschenrechte Strafrecht, Kolloqium für Walter Gollwitzer, 2004, 21 ff. Reform des Ermittlungsverfahrens - Vorbild Österreich? In: Widmaier/ Lesch/Müssig/Wallau (Hrsg.), Festschrift für Hans Dahs, 2005, 229 ff. Große Justizreform - warum und zu welchem Ziel? In: Henssler/Mattik/ Nadler (Hrsg.), Rechtspolitik und Berufspolitik, Felix Busse zum 65. Geburtstag, 2005, 13 ff. Der Blick der Gewaltkommission auf das Strafverfahrensrecht. In: Feltes/ Pfeiffer/Steinhilper (Hrsg.), Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen, Festschrift für Hans-Dieter Schwind. 2006, 235 ff. Das Recht des Opfers auf Erhalt von Informationen im deutschen Strafprozess. In: Moos/Jesionek/Müller (Hrsg.), Strafprozess im Wandel, Festschrift für Roland Miklau, 2006, 67 ff.
Sonstige Aufsätze Knappe Ressourcen im Strafrecht - Sicherung der Rechtsgewährung durch den Strafrichter, DRiZ 1983, 127 ff. Zum Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 172 Nr. 2 GVG, DRiZ 1984, 17 ff. Das neue Beweisrecht im Verfahren nach dem OWiG, NStZ 1986, 393 ff.
Schriften von Reinhard Böttcher
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Das neue Opferschutzgesetz, JR 1987, 133. Erstes Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes, NStZ 1990, 561 ff. und NStZ 1991, 7 ff. (gemeinsam mit Klaus Weber). Absprachen im Strafprozess?, JR 1991, 353 ff. (gemeinsam mit Gunter Widmaier). Änderungen des Strafverfahrensrechts durch das Entlastungsgesetz, NStZ 1993, 153 ff. (gemeinsam mit Elmar Mayer). Verständigung im Strafverfahren - eine Zwischenbilanz, BRAK-Mitt. 1993, 75 ff. (gemeinsam mit Hans Dahs und Gunter Widmaier). Täter-Opfer-Ausgleich. Eine kritische Zwischenbilanz bisheriger Praxiserfahrungen und Forschungsergebnisse, Bewährungshilfe 1994,45 ff. Empfiehlt es sich, die Juristenausbildung nach Abschluss des Studiums neu zu regeln?, Beilage zu NJW 23/1998, 24 ff. Die Präambel der Bayerischen Verfassung und ihr geistiger Vater, BayVBl. 1998, 385 ff. Lorenz Krapp (1882-1947), Jurist und Politiker, Fränkische Lebensbilder Band 17, 1998, 299 ff. (gemeinsam mit Wolfgang Köster). Die Reform der Juristenausbildung und der Deutsche Juristentag, BayVBl. 1999, 97 ff. Der europäische Jurist, JöR 2001, 174 ff. Was bedeutet uns Rechts- und Justizkultur?, BayVBl. 2002, 362 ff. Aufbruch in den Rechtsstaat. Die späte Ahndung des Pogroms vom 9./10.11.1938 in Bamberg, Bericht Nr. 139 des Historischen Vereins Bamberg, 2003, 387 ff. Die strafrechtliche Behandlung der Heranwachsenden - soll alles so bleiben wie es ist?, DVJJ-Regionalgruppe Nordbayern (Hrsg.), Praxis und Reform des Jugendstrafrechts, 2004, 85 ff.
Veröffentlichte Referate .Richter und Staatsanwälte in Konkurrenz um ihre Klientel", Referat beim 20. Deutschen Jugendgerichtstag, Schriften der DVJJ NF Band 17, 1987, 75 ff.
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Schriften von Reinhard Böttcher
„Innere Reform" oder brauchen wir ein neues Jugendstrafrecht?, Referat beim 21. Deutschen Jugendgerichtstag, Schriften der DVJJ NF Band 18, 1990, 639 ff. Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen. Referat beim 58. Deutschen Juristentag, Verhandlungen des 58. DJT, 1990, Band II, L 9 ff. Wieviel Strafe braucht die Jugend?, Referat beim 22. Deutschen Jugendgerichtstag, Schriften der DVJJ NF Band 23, 1996, 543 ff. Die Produkte der Justiz. Referat im Rahmen eines Symposions zum Thema „Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit" an der Universität Würzburg, Die Verwaltung, Beiheft 5, 2002, 28 ff.
Urteilsanmerkungen JR 1986, 215 (BGH v. 9.7.1985 - Ausschluss der Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Sittlichkeit). JR 1988, 36 (BGH v. 27.8.1986 - Unterbrechung nach Ablauf der 10-Tages-Frist). JR 1989, 203 (BGH v. 11.2.1988 - Verschlechterungsverbot und Gesamtstrafenbildung). JR 1991, 118 (BGH v. 4.7.1990 - Richterablehnung nach Verständigung). NStZ 2002, 146 (BGH v. 2.9.2001 - Rechtsbeugung im Fall Schill).
Rezensionen Rosenkötter, Das Recht der Ordnungswidrigkeiten, BayVBl. 1983, 191. Cuntz, Verfassungstreue der Soldaten, AöR 1986, 624. Jehle, Untersuchungshaft zwischen Unschuldsvermutung und Wiedereingliederung, GA 1986, 569. Erdl, Das Vera Institute of Justice, New York, GA 1990, 39. Evangelische Kirche in Deutschland, Strafe: Tor zur Versöhnung?, Denkschrift, GA 1991,561.
Schriften von Reinhard Böttcher
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Schreckling, Täter-Opfer-Ausgleich nach Jugendstraftaten in Köln, GA 1991,563. Katholnigg, Strafgerichtsverfassung, GA 1991, 329 und (Nachtrag) GA 1992, 188. Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 10. Auflage, GA 1992, 535. Schüler-Springorum, Kriminalpolitik für Menschen, GA 1992, 377. Schreckling u. a., Bestandsaufnahme zur Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs in der Bundesrepublik Deutschland, GA 1992,437. Gerlach, Absprachen im Strafverfahren, GA 1993, 515. Dreher-Tröndle, StGB, 46. Auflage, JR 1993, 306. König, Die Entwicklung der strafprozessualen Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren seit 1877, GA 1994, 334. Schlüchter, Plädoyer für den Erziehungsgedanken, GA 1994,439. Laubenthal, Jugendgerichtshilfe im Strafverfahren, GA 1995, 84. Drewniak, Strafrichterinnen als Hoffhungsträgerinnen, GA 1995, 194. Kurze, Strafrechtspraxis und Drogentherapie, GA 1996, 288. Dessecker/Egg, Die strafrechtliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, GA 1997, 39. Dessecker, Suchtbehandlung als strafrechtliche Sanktion, GA 1997, 596. Abteilung Rechtspflege des BMJ (Hrsg.), Festgabe für Peter Rieß, GA 1997, 182. Jehle (Hrsg.), Kriminalprävention und Strafjustiz, GA 1999, 238. Pott, Die Außerkraftsetzung der Legalität durch das Opportunitätsdenken in den Vorschriften der §§ 154, 154 a StPO. Zugleich ein Beitrag zu einer kritischen Strafverfahrenstheorie, GA 1999, 287. Aulinger, Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von Drogenkonsumenten, GA 1999, 607. Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafrecht, GA 2000, 240. Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozess?, GA 2000, 389. Braun, Die Absprache im deutschen Strafprozess, JR 2000, 351. Erb, Legalität und Opportunität, JR 2001, 174. Hassemer, Strafen im Rechtsstaat, GA 2001, 298.
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Schriften von Reinhard Böttcher
Lüderssen (Hrsg.), „Die wahre Liberalität ist Anerkennung", GA 2001, 450. Hoffmann-Riem, Kriminalpolitik ist Gesellschaftspolitik, GA 2001, 398. Nobis, Die Strafprozessgesetzgebung der späten Weimarer Republik, GA 2002, 719. Schwind/Fetchenhauer/Ahlhorn/Weiß, Kriminalitätsphänomene im Langzeitvergleich am Beispiel einer deutschen Großstadt, GA 2003, 638. Albrecht/Kilchling, Jugendstrafrecht in Europa, GA 2003, 788. Schlinck, Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, GA 2004, 122. Degenhardt, Europol und Strafprozess, GA 2004, 733. v. Danwitz, Die justizielle Verarbeitung von Verstößen gegen § 323 c StGB, GA 2005, 121. Kaspar, Wiedergutmachung und Mediation im Strafrecht, GA 2006, 756.
Dissertation Die politische Treupflicht der Beamten und Soldaten und die Grundrechte der Kommunikation, 1967.
Autorenverzeichnis HANS-JÖRG ALBRECHT, Dr., Dr. h.c., Professor, Direktor des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg FRANK ARLOTH, Dr., Präsident des Landgerichts Augsburg, Honorarprofessor an der Universität Augsburg SUSANNE AULINGER, Dr., Oberstaatsanwältin,
Generalstaatsanwaltschaft
Bamberg WERNER BEULKE, Dr., Professor an der Universität Passau HANS DAHS, Dr., Rechtsanwalt in Bonn, Honorarprofessor an der Universität Bonn GERNHARD DANNECKER, Dr., Professor an der Universität Bayreuth DIETER DÖLLING, Dr., Professor an der Universität Heidelberg GUNNAR DUTTGE, Dr., Professor an der Universität Göttingen WALTER GOLLWITZER, Dr., Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsministerium der Justiz a.D., ehem. Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, München KARL HEINZ GÖSSEL, Dr., em. Professor an der Universität Erlangen, Rich-
ter am Bayerischen Obersten Landesgericht a.D., München KARL-HEINZ GROSS, Dr., Ministerialdirigent a.D., Wiesbaden ROLAND HELGERTH, Dr., Generalstaatsanwalt in Nürnberg
KARL HUBER, Dr., Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und des Oberlandesgerichts München JÖRG-MARTIN JEHLE, Dr., Professor an der Universität Göttingen GÜNTHER KAISER, Dr., Dr. h.c. mult., em. Professor an der Universität Zürich, em. Professor und Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg HANS-JÜRGEN KERNER, Dr., Professor an der Universität Tübingen PETER KÖNIG, Dr., Ministerialrat im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, Lehrbeauftragter an der Universität München ARTHUR KREUZER, Dr., Professor an der Universität Gießen, KRISTIAN KÜHL, Dr. iur. Dr. phil., Professor an der Universität Tübingen KLAUS LAUBENTHAL, Dr., Professor an der Universität Würzburg, Richter am Oberlandesgericht Bamberg MANFRED MARKWARDT, Dr., Ministerialdirigent, Leiter der Abteilung Strafrecht und Gnadenwesen im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, Honorarprofessor an der Technischen Universität München
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Autorenverzeichnis
ANNA MAIER-PFEIFFER, Leiterin des Pro Kind-Projekts, Hannover LUTZ MEYER-GOSSNER, Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D. Landau, Honorarprofessor an der Universität Marburg ROLAND MIKLAU, Dr., Sektionschef, Bundesministerium der Justiz, Wien, Honorarprofessor an der Universität Wien WALTER ODERSKY, Dr., Präsident des Bundesgerichtshofs a.D., Honorarprofessor an der Universität München CHRISTIAN PREIFFER, Dr., Professor an der Universität Hannover, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Vorstand der Stiftung Pro Kind PETER RIESS, Dr., Ministerialdirektor a.D., Honorarprofessor an der Universität Göttingen DIETER RÖSSNER, Dr., Professor an der Universität Marburg CLAUS ROXIN, Dr., Dr. h.c. mult., em. Professor an der Universität München HELMUT SATZGER, Dr., Professor an der Universität München HEINO SCHÖBEL, Dr. h.c., Ministerialdirigent, Leiter des Landesjustizprüfungsamtes, Bayerisches Staatsministerium der Justiz, München HEINZ SCHÖCH, Dr., Professor an der Universität München ULRICH SCHROTH, Dr., Professor an der Universität München HORST SCHÜLER-SPRINGORUM, Dr., em. Professor an der Universität Mün-
chen, HANS-DIETER SCHWIND, Dr., em. Professor an der Universität Bochum, Honorarprofessor an der Universität Osnabrück HELMUT SEITZ, Dr., Leitender Ministerialrat im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, München HEINZ STOCKEL, Dr., Generalstaatsanwalt a.D. beim OLG Nürnberg, Honorarprofessor an der Universität Erlangen FRANZ STRENG, Dr., Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg MONIKA TRAULSEN, Dr. iur., selbständige Projektbegleiterin, Stuttgart GERSON TRÜG, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen KLAUS VOLK, Dr., Dr. iur. h.c., Professor an der Universität München KLAUS WEBER, Präsident des Landgerichts a.D., Traunstein GUNTER WIDMAIER, Dr., Rechtsanwalt in Karlsruhe, Honorarprofessor an der Universität München