Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte: Band 2 Jambus - Quatrain [Reprint 2019 ed.] 9783111438443, 9783111072241


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Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte: Band 2 Jambus - Quatrain [Reprint 2019 ed.]
 9783111438443, 9783111072241

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REALLEXIKON DER D E U T S C H E N LITERATURGESCHICHTE Z W E I T E R BAND

REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURGESCHICHTE UNTER MITWIRKUNG ZAHLREICHER FACHGELEHRTER

HERAUSGEGEBEN VON

PAUL MERKER UND WOLFGANG STAMMLER ORD. PROFESSOREN AN DER UNIVERSITÄT

GREIFSWALD

ZWEITER BAND JAMBUS — QUATRAIN

BERLIN 1926/1928 VERLAG WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.

Printed in Germany Copyright 1928 by Walter de Gruyter & Co., Berlin

I Iambus. In der antiken quantitierenden Metrik ist der I. ein dreizeitiger steigender Versfuß der Form Iambisches Metrum zeigen in der antiken Dichtung meist die volkstümliche Spottpoesie und das Streitgedicht. Auch die Tragödie und die Komödie verwenden iambische Verse, besonders den iambischen Trimeter und Tetrameter. Im Dt. meint man mit iambischem Metrum, wenn man diesen Ausdruck überhaupt in der dt. Verslehre anwenden will, die Gliedbildung x ~ (statt Man braucht den Fuß in der Lyrik und im Epos in allen möglichen Formen in Zeilen von 2—8 Hebungen, mit stumpfem und klingendem Schluß, auch mit gelegentlichen zweisilbigen Senkungen viel. Im Drama herrschen der fünffüßige I. (s. d. Art. Blankvers) und der sechsfüßige I. in der Form des Alexandriners (s. d. Art. Alexandriner) und des iambischen Trimeters oder Senars Bei gleichem Metrum zeigen dieseVersformen rhythmisch und sprechmelodisch doch starke Verschiedenheiten. Während der Blankvers und der Trimeter im rhythmischen Sinne Reihen sind, ist der Alexandriner eine Kette (Langzeile). Blankvers und Trimeter zeigen daher auch die sprechmelodischen Formen der Reihe, während der Alexandriner die Sprechmelodie der Kette hat. Die ersten Versuche mit dem iambischen Trimeter in der Tragödie machte im Dt. zuerst J. E. Schlegel. Dann hat ihn Ramler verwendet. Lessing war im Zweifel, ob er für 'Nathan' den iambischen Trimeter oder den Blankvers wählen sollte, entschied sich aber für den Blankvers. Dann haben ihn Wieland ('Pandora'), Goethe ('Faust II', 'Pandora* und a. a. 0.), Schiller ('Jungfrau von Orleans') und die Romantiker hier und da gebraucht. Seit Platen wird der iambische Trimeter auch besonders für die Übersetzung antiker M e r k e r - S t a m m l e r Reallexikon II.

Tragödien verwendet. Da sich der Alexandriner vom iambischen Trimeter äußerlich nur durch den starken Einschnitt nach der 6. Silbe unterscheidet, so gehen die beiden Formen oft ineinander über und nebeneinander her. Die in Bd. I S. 18 als Alexandriner in sehr freier Form bezeichneten Verse von Spittelers 'Olympischem Frühling' sind der Absicht des Dichters entsprechend, der bestrebt war, den Einschnitt nach der 6. Silbe zu meiden, besser als iambische Trimeter anzusprechen. Der iambische Trimeter ist somit auch im Epos als Vers verwendet worden. Der iambische Septenar wurde schon im l j . Jh. in Ph. von Zesens 'Rosemund', dann von Logau, Günther, Herder, Platen u. a. verwendet. In iambischen Oktonaren sind abgefaßt Sonette von A. Gryphius, Stücke aus Brockes' 'Irdischem Vergnügen in Gott', Platens 'Harmosan'. Kürzere iambische Verse finden sich häufig besonders bei Gleim, auch bei Günther und Bürger. Der C h o l i a m b u s (xwX6? „lahm"), auch Skazon, H i n k i a m b u s genannt, ist ein iambischer Trimeter, in dem an Stelle des letzten I. ein Trochäus oder Spondeus steht Der starke Wechsel des Metrums kurz vor dem Versschluß macht einen derben, scherzhaften, stolpernden Eindruck. Der Vers wurde von dem griech. Dichter Hipponax (um 540 v. Chr.) in Spottgedichten, von den Alexandrinern besonders in Fabeln gebraucht. Durch Übersetzungen ist der Vers auch ins Dt. gekommen, wo er von A. W. Schlegel, Rückert u. a. gelegentlich auch in Originaldichtungen verwendet worden ist. Der C h o r i a m b u s ist in der antiken Metrik ein Fuß von 6 Zeiteinheiten ( i u u i ) , dem Ionicus verwandt. Auf choriambische Dimeter werden neuerdings in der antiken Metrik die vielgebrauchten Formen des

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ICH-ROMAN

hinter wirkliche Erlebnisse witterte. Der Unterschied zwischen Autobiographie und I. liegt darin, daß dort der Verfasser im eigenen Namen spricht, während hier ein Namenloser Träger des Schicksals wird. Das Interesse haftet dort an der einen, im Mittelpunkt stehenden, geschichtlichen Persönlichkeit, deren Gewicht auch die Gewichtigkeit der Biographie bestimmt. Hier liegt die Bedeutung in der Symbolkraft der dargestellten Ereignisse und Persönlichkeiten, woraus sich die verschiedene Behandlung des zugrunde liegenden LebensM i n o r Metrik S. 230—278; 524—526. stoffes ohne weiteres ergibt. Jene AutoF. K a u f f m a n n Deutsche Metrik S. 176—189. H. P a u l u s s e n Rhythmik und Technik des sechs- biographie wird die beste sein, die den füßigen lambus im Devischen und im EngKern und das Wesen der einmaligen, wirktischen (Bonner Studien zur engl. Philologie I X ) lichen Persönlichkeit am schärfsten her1913. H. H e i s s Die Entstehung des romantischen ausarbeitet. Die Tragweite des I. bestimmt Trimeters (bes. im Franz.), ArchfnSpr. C X X X ( i 9 i 3 ) S . 3 5 6 - 3 7 7 ; C X X X I (1913) S. 1 2 5 - 1 4 3 ; dagegen der Umstand, inwieweit es dem 384—411. p . Habermann. Dichter gelungen ist, sein Schicksal zu einem Symbol und Spiegel der Zeit zu erIch-Rotnan. § i. Im I. erzählt der Held seine Schicksale selbst; es ist ein Roman in heben. Da aber anderseits wieder die der Form autobiographischer Bekenntnisse. Allgemeinbedeutung der Ich-Erzählung abVon anderen Gattungen, dem historischen hängig ist von der Realität der verarbeiteten Erlebnismasse und sofort vernichtet wird, Roman (s. d.), dem Zeitroman u. a. unterwenn man bloßes romantisches Geflunker scheidet er sich dadurch, daß Held und Erwahrnimmt, stellt derjenige I. offenbar zähler ein und dieselbe Person sind. Das ausdie Krone der Gattung dar, der mit der schlaggebende Merkmal ist also der durchgängige Vortrag in erster Person. Nicht größten Fülle ausgebreiteten Lebensreichtums die tiefste Sinnbildlichkeit reiner unter den Begriff des I. fallen Erzählungen, wo der Berichtende zwar in die dargestellten Typik verbindet. Es erhellt unter solchen Schicksale verflochten ist, dort aber nur Umständen ohne weiteres, welche Stellung eine Nebenrolle als zufälliger Zuschauer Kellers 'Grünem Heinrich' innerhalb der Gattung zukommt. spielt, wie in C.F.Meyers 'Heiligem', oder wo dessen Erzählung Episode bleibt, wie in § 3. Schon die Homerischen Gedichte Storms 'Bekenntnis'. Beide Male besitzt und Vergil wenden die Ich-Erzählung als der Ich-Vortrag lediglich die Bedeutung bewußtes Stilmittel an. Eine noch ältere eines Darstellungsmittels. Man kann somit Entwicklungsstufe repräsentiert das orient. zwischen echtem und unechtem I. unter- Lügenmärchen. Dort liegt das Bedürfnis scheiden. Bei jenem ist das eigene Schick- der Variation und Verlebendigung des sal das tatsächliche Motiv der Dichtung, Vortrags zugrunde. Hier bietet der Selbstbei diesem ist bloß seine Form nachgeahmt. bericht des Erlebnisses gleichsam der Un§ 2. Hervorgegangen ist der I. aus der glaublichkeit des Inhalts die Spitze. Die Autobiographie. Auch diese besitzt künst- Form ist also ebenfalls durchdachtes Kunstlerische und somit dichterische Züge, wie prinzip. Der moderne I. setzt die große Wendung vom objektiven TatsachenGoethe durch den Titel seiner Lebensbeschreibung freimütig zugestanden hat, bericht zur Darstellung individueller Weltund es ist eine Ironie der Geschichte, daß erfassung, wie sie die Epik im Übergang ausgerechnet dieses Buch, dessen künst- von der alten zur neueren Zeit ausführte, lerische Darstellungsmittel von der ersten voraus. Seine Ahnen liegen in jenen rigobis zur letzten Seite auf der Hand liegen, rosen Lebensbeichten und Bekenntnissen einer Betrachtungsweise dichterischer einer peinlichen Selbstschau vor, deren Werke Vorschub leistete, die überall da- berühmteste die des heiligen Augustinus

Glykoneus, Pherekrateus, Asklepiadeus, des sapphischen Elfsilbers (s. d. Art. Antike Versmaße) zurückgeführt. Übersetzungen aus der Antike, besonders solche der Horazischen Oden, im Versmaße des Originals verwenden häufig den Choriambus, wobei die choriambischen Dimeter allerdings infolge der Fugenbildung und auch wegen der Lage der Wortgrenzen oft wie daktylische katalektische Dimeter wirken. Choriambische Dimeter hat Goethe in der 'Pandora' gebraucht.

IDYLLE und die Rousseaus sind. Der Schwerpunkt ist damit vom äußeren Geschehen in die Welt des Geistes und Gemütes zurückverlegt und ein lyrisches und betrachtendes Element nicht nur zugelassen, sondern sogar gefordert. Für den Autor ergibt sich somit als Hauptproblem der Darstellung, sowohl der gestaltend-objektiven als auch der lyrisch-bekenntnishaften Aufgabe gerecht zu werden, ein Ziel, dessen Schwierigkeit der Monologcharakter von Fr. Th. Vischers 'Auch Einer' ohne weiteres vor Augen führt. Für diese Aufgabe nun standen seit alters die Briefform und die Tagebuchform zur Verfügung. Goethe wendet sie in 'Werthers Leiden* an. Im 'Wilhelm Meister* dagegen kehrt er zur traditionellen Er-Erzählung zurück, die bei der Darstellung eines Lebensschicksals üblich war. Von Hause aus waren nämlich der im Leben stehende Schicksalsmensch und der Schriftkundige zwei verschiedene Personen, so daß die Er-Form der Erzählung dem objektiven Geiste der Epik allein zu entsprechen schien, und selbst der Autobiograph, der aus der Form eine Gewissensfrage machte, griff zu ihr. Erst das 19. Jh. führte nach der Ernüchterung der Zustände und der allgemeinen Erhellung des Kulturbewußtseins den Erlebenden selbst als. den natürlichen Berichterstatter seiner Erfahrungen ein, nachdem die Fiktion jenes allwissenden Erzählers erkannt war. Von der Bekenntnislust der Rousseauschen 'Konfessionen' ausgehend, nimmt daher Kellers 'Grüner Heinrich' zugleich Fäden auf, die vom lyrischen Überschwang des 'Werther* und der nüchternen Objektivität des 'Wilhelm Meister' zu ihm hinüberleiten, indem er gleichzeitig mit der Beseitigung des fiktiven Erzählers endlich der Buchgestalt der modernen Epik den realen Hintergrund der Erinnerungsaufzeichnung gibt. § 4. Der tiefere Sinn, der sich in dieser neuen Form autobiographischer Epik manifestierte, ist kein anderer als die Realitätssucht der Zeit. Sie kommt nicht nur in der Darsteüungsweise zum Ausdruck. Im Gegensatz zur Autobiographie, die ein Denkmal errichtet, ist hinter dem I. als psychologisches Motiv ein Zug der Selbst-

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kasteiung sichtbar, der nach Rechtfertigung und dem Gericht des Helden verlangt. So sehr ist ihm der unerbittliche Wahrheitsdrang auf die Stirne geschrieben, daß nun bald seine Einkleidung zum sichersten Mittel wird, den Schein der Realität zu erzeugen. Es ist ein Kunstgriff, wenn Emil Sinclair (Hermann Hesse) seinen 'Demian' mit den Worten beginnt: „Meine Geschichte ist mir wichtiger als irgendeinem Dichter die seinige; denn sie ist meine eigene, und sie ist die Geschichte eines Menschen — nicht eines erfundenen, eines möglichen, eines idealen oder sonstwie nicht vorhandenen, sondern eines wirklichen, einmaligen, lebendigen Menschen"; oder wenn Ricarda Huch im 'Ludolf Ursleu' die Lebensbeichte des Dichters zur theatralischen Hosenrolle der Autorin umstülpt. Strindberg greift daher, schon der Sohn einer neuen Zeit, in seinen aus tiefem Lebensdrang geholten, das Innere qualvoll entblößenden Lebensromanen wieder zum Mittel der primitiven Zeitalter, indem er von sich wie ein unbeteiligter Dritter erzählt. Fr. S p i e l h a g e n Beiträge zur Theorie und Technik des Romans 1883. D e r s . Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik 1898. K e i t e r und K e l l e n Der Roman4 1912. K . P o r s t r e u t e r Die dt. Ich-Erzählung. Eine Studie su ihrer Gesch. u. Technik 1934. M. Nußberger.

Idylle. Griech. ciöuXXiov, Deminutivum von eiöo?, also eigentlich das Idyll; doch hat der Sprachgebrauch für die Idylle entschieden. § 1. Das Wort, das zum ersten Male 30 Gedichte bezeichnete, die unter dem Namen Theokrits mit verwandten Poesien seiner nächsten Nachahmer Bion und Moschos durch den Grammatiker Artemidor in der ersten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. zu einer Gesamtausgabe vereinigt wurden, wird verschieden erklärt. Einmal (und zwar überwiegt diese Deutung in neuerer Zeit) ganz allgemein als „kleines Gedicht" überhaupt, da das Altertum mit dieser Bezeichnung nicht nur ländlichidyllische, sondern yielfach auch Gedichte ganz anderen Inhalts versah. In diesem Sinne ist I. ungefähr auf gleiche Stufe zu stellen mit E k l o g e (griech. ¿tcX^yeiv = auswählen), in der Bedeutung „ausgewähltes Gedicht", eine Bezeichnung, die trotz i»

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ihrer ursprünglich ganz allgemeinen Bedeutung ebenfalls vorwiegend auf Gedichte ländlich-idyllischer Art angewandt wurde, so daß in Theorie und Praxis I. und Ekloge zumeist unterschiedslos nebeneinander gebraucht werden. (Doch überwiegt seit Geßner in Deutschland die Bezeichnung I., während vorher im Anschluß an den frz. Sprachgebrauch Ekloge vorherrschend war.) Ein anderer Erklärungsversuch geht dahin, I. als „Bildchen", nämlich aus dem Volksleben, aufzufassen, womit der rein formale Begriff „kleines Gedicht" ein bestimmtes Inhaltsmoment zugebilligt bekommt, das die so bezeichneten poetischen Erzeugnisse auch deutlicher als Sonderart der bukolischen Dichtung (von griech. ßoi/KÖXog = Rinderhirt) erkennen läßt. Daher haben die Ästhetiker, die den Begriff der I. zu bestimmen suchten, sich meist dieser Deutung angeschlossen. Doch gibt auch diese Etymologie so wenig scharf Bestimmbares an die Hand, daß eine genauere Definition nur aus der Gesamtheit des literarischen Materials zu gewinnen ist. Daraus ergibt sich: die I. ist ein kleines, in sich abgeschlossenes, literarisches Genrebild, welches einfache menschliche Verhältnisse fern vom öffentlichen, bewegten Leben im engen Zusammenhange mit der Natur schildert und dabei einfache, gutartige Charaktere in behaglich glücklichen Lebensverhältnissen heiter und nicht selten humorvoll zur Darstellung bringt. In teils epischer, teils dramatischer Form, oft in eigentümlicher Verschmelzung beider, indem Monologe oder Dialoge mit epischem Eingang oder Ausklang oder beidem versehen werden und eingelegte Lieder auch das rein lyrische Moment zu Worte kommen lassen, verwendet die I. sowohl Prosa wie verschiedene Versformen, bevorzugt aber unter den letzteren den Hexameter. Gegenüber dem idyllischen Epos (s. Epos) sind die Grenzen fließend; größerer Umfang, lebhaftere Handlungsführung, weiterer Hintergrund werden bei der Trennung die entscheidenden Faktoren bedeuten und so etwa Goethes 'Hermann und Dorothea' von den drei Luisen-I. Vossens scheiden. Für die dt. Literatur kommt eine eigentliche Idyllendichtung erst im 18. Jh. in Frage. Doch steht diese so stark in Beziehung

zu der allgemeinen Entwicklung dieser poetischen Gattung, daß nur ein Überblick über den internationalen Ablauf die Sonderart der Einzelerscheinungen verständlich zu machen vermag. § 2. Die Idyllendichtung als literarische Gesamterscheinung umfaßt drei Entwicklungsperioden: die antike, die im 3. und 2. vorchristl. Jh. die griech. I. Theokrits und seiner Nachfolger Bion und Moschus und im 1. Jh. v. Chr. die lat. Eklogen Virgils und seiner Nachahmer hervorbrachte; die schäferliche Dichtung der ital. Renaissance, die im 17. Jh. auch nach Deutschland hinüberwirkt; die dt. Idyllendichtung des 18. Jhs. § 3. Die antike I d y l l e n d i c h t u n g : Ausgangs- und nie völlig wieder erreichter Höhepunkt der idyllischen Dichtung ist Theokrit. Seine I. sind immer wieder das Vorbild gewesen, an das alle Späteren anzuknüpfen hatten, und die Art, in der sie dies taten, wieweit sie wirkliches Verständnis für seine dichterische Eigenart entwickelten oder in verwässerte, allegorisierende, preziöse Nachahmung verfielen, bestimmt die Entwicklung besonders auch der dt. Idyllik. Theokrit schildert das einfache Leben seiner Heimat: sizilische Hirten, Fischer, Landleute bei der Arbeit, bei Spiel und Gesang, in ihren Leidenschaften und Derbheiten mit feinster Beobachtungsgabe und virtuoser Charakteristik. Geschickt sind die jeweiligen Grundstimmungen der Natur angedeutet, treffend werden die Einzelheiten der Pflanzen und Tierwelt gekennzeichnet, aber stets im Zusammenhang mit den Menschen, ohne retardierende Beschreibung und Detailmalerei. Dazu kommt ein tiefes Verständnis für die Liebe in ihren leidenschaftlichen, sehnsüchtigen oder schalkhaften Äußerungen, vorgetragen in einer kräftigen, klaren, charakteristischen Sprache, durch lyrische Bewegung, lebendige Charakteristik, monologische und dialogische Behandlungsweise aus dem rein Epischen ins Dramatische erhoben. Was dabei trotz aller Freiheit der Weltanschauung, trotz des heiteren, manchmal leise satirischen Tones an kulturpessimistischer Sehnsucht nach der Gesundheit ländlichen Lebens hindurchklingt, ist Erbe einer Zeit, die unter überfeinerter, überbildeter Kultur litt und davon träumte,

IDYLLE aus der Übersättigung großstädtischen Lebens in einfachen natürlichen Verhältnissen Ruhe und Genesung zu finden. Daraus erklärt sich aber auch, daß jedesmal Zeiten, die ähnliche Verhältnisse hervorbrachten, sich der I. zuwandten. So auch das voraugusteische Zeitalter Roms, das in vieler Beziehung dem Alexandrien der Ptolemäer verglichen werden kann, und das in V e r g i l den zweiten großen Idylliker der Antike hervorbrachte. Freilich ist dieser durchaus Nachahmer, völlig abhängig von seinem Vorbilde Theokrit sowie von der schon viel kunstmäßiger aufgeputzten, stark sentimentalen und reflexiven Idyllik der Bion und Moschus. Trotzdem aber ist es gerade seine Dichtung mit ihrer gefährlich glatten Technik, ihrer leidenschaftslosen , maßvollen Empfindsam keit, ihrer allegorisierenden Manier, persönliche Meinungen und Empfindungen und zeitgenössisch-gesellschaftliche Verhältnisse in der Maske von Schäfern und Hirten vorzuführen, die die weitere Entwicklung der Idyllendichtung bestimmt. Als allegorisierende Hirtendichtung beherrscht sie die gesamte Barockliteratur Europas und erreicht in Marinismus, Gongorismus, Euphuismus und Schwulst ihre größtmögliche Naturferne. § 4. D i e s c h ä f e r l i c h e D i c h t u n g d e r R e n a i s s a n c e : siehe d. Art. Hirtendichtung. §5. D i e d e u t s c h e I d y l l e n d i c h t u n g . Von der allegorisierenden Schäferdichtung des 17. Jhs. aus war eine Rückkehr zur eigentlichen I. im Sinne Theokrits nicht mehr möglich. Erst die allgemeine geistige Umstellung gegen die Mitte des 18. Jhs. brachte auch für diese literarische Gattung Ansatzpunkte, die eine neue fruchtbare Weiterentwicklung anzubahnen vermochten, diesmal vorwiegend auf dt. Boden. Hier lagen die Verhältnisse bis zu diesem Zeitpunkte so: das MA. hatte einige Versuche lat. Idyllendichtung am Hofe Karls des Großen gebracht (vgl. R. D ü m m l e r Poetae Latini Aevi Carolini 11881), darunter das früheste idyllenartige Gedicht 'Conflictus veris et hiemis'. Weitere Ansätze zu idyllischer Schilderung, wie sie im Ruodliebroman, im Gudrun- und Parzivalepos und bei Neidhard von Reuental nachweisbar sind, gehen im mangelnden

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Natursinn der Folgezeit, in der steigenden Verachtung ländlichen Lebens und dem immer unflätiger werdenden Bauernspott der Fastnachtsspiele völlig verloren. Daran ändern auch vereinzelte humanistische Bestrebungen nichts, und weder das Bucolicon des Eobanus Hessus (1509) mit seinen Virgilnachahmungen noch seine lat. Übersetzung des Theokrit fanden irgendwelche weitere Wirkung. Ja, einige Jahrzehnte später mußte Nikodemus Frisch lin seine Einleitungsrede zu den Vorlesungen über Virgils Eklogen 'De vita rustica' wegen ihrer antihöfischen Tendenz mit Stellung, Freiheit und Leben bezahlen. Das Deutschland des 17. Jhs. nimmt die Überlieferung der antiken Idyllendichtung nur in jener schon oben gekennzeichneten, arkadisch-unwirklichen, schäferlich-allegorisierenden Art auf, ital., span., frz. und engl. Barock nachahmend. Doch bahnt sich leise ein Umschwung an, und zwar bezeichnenderweise für den rationalistischen, denkfrohen und rubrizierenden Geist des beginnenden Aufklärungszeitalters zunächst auf theoretischem Gebiete. Schon O p i t z versucht im Anschluß an Scaliger eine kurze Definition der I. zu geben und wiederholt Propaganda für die ganze Dichtungsart zu machen, wobei freilich die schäferlichen Renaissancepoeten noch der lat. Idyllik als wesensgleich empfunden werden, jegliches Verständnis für Theokrit fehlt und der Versuch einer heimatlichen Naturschilderung des Riesengebirges völlig im Konventionellen steckenbleibt. Bei H a r s d ö r f f e r in der 12. Stunde des 'Poetischen Trichters' wird dann der Schauplatz der I. im „goldenen Zeitalter" fixiert und eine moralische Tendenz gefordert, während S. von B i r k e n s 'Teutsche Redebind- und Dichtkunst' das patriarchalische Zeitalter als besonders wichtig für Entstehung und Pflege der Hirtendichtung hervorhebt. Hier knüpft einige Jahrzehnte später G o t t s c h e d s Theorie wieder an, der in seinem 'Versuch einer kritischen Dichtkunst' (1730) unter dem Titel 'Von Idyllen, Eklogen oder Schäfer - Gedichten' definiert: „Nachahmung des unschuldigen, ruhigen und ungekünstelten Schäferlebens, welches v o r z e i t e n in der Welt geführt worden . . . ein herrliches Feld zu schönen Beschrei-

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bungen eines t u g e n d h a f t e n und glück» liehen Lebens." Das goldene Zeitalter und die moralische Tendenz werden damit die beiden maßgebenden Faktoren. Dagegen steht alles, was er über Milieu, Charaktere und Lebensweise der Personen anführt, vollständig unter dem Einflüsse des 'Discours sur la nature de Viglogue' (1688) von Fontenelle, wo das, was die höfische Gesellschaft seiner Zeit von dem I. verlangte: den geistreichen Schäfer, die Liebe als ausschließlichen Gegenstand und völlige Ablehnung der rusticité und grossièreté Theokrits, in nachhaltigster Weise fixiert worden war. Mit ihm lehnt Gottsched das Fischerleben als „viel zu beschwerlich" ab, und wenn er auch das Urteil über Theokrit unter dem Einflüsse Boileaus etwas milderte und selbst eine leise Kritik zugunsten größerer Naturwahrheit an den in Seide gekleideten Schäfern des Franzosen übte, so hat der griech. Idylliker für seinen moralisierenden Aufklärungsverstand seine Schäfer doch „zuweilen sehr grob und plump abgeschildert; das ist, wie sie etwa zu seiner Zeit waren, nicht wie sie hätten sein sollen". Dagegen spricht J. A. S c h l e g e l 1751 in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung von des Batteux 'Les beaux arts réduits à un même principe' der I. jede Beziehung zum realen Landleben ab, ignoriert Theokrit völlig, nimmt Fontenelles höfische Hirten gegen alle Angriffe in Schutz und lobt Gressets Virgilübertragung, weil sie durch seine Bearbeitung den antiken Schriftsteller dem frz. Zeitgeschmack angepaßt habe. Demgegenüber bedeutet R a m l e r s Ausgabe desselben frz. Werkes 'Einleitung in die Schönen Wissenschaften' (1756) einen bedeutenden Fortschritt, da er nicht nur den ersten allgemeinen theoretischen Teil des Werkes bringt, sondern auch die speziellen Theorien über die einzelnen Gattungen vermittelt, wodurch für lange Zeit diese Übertragung als Hauptlehrbuch für das Wesen und die Behandlung der einzelnen poetischen Gattungen auf die dt. Dichtung und die poetische Theorie einen großen Einfluß ausübte. Während die allgemeinen theoretischen Erörterungen von Batteux wenig Uber Fontenelle hinausführen, liegt der Wert der Abhandlung für die Weiterentwicklung in der

Stellungnahme zu Theokrit. Zum ersten Male wird hier das Überragende seiner Leistung betont, feinsinnig wird seine „einfältig schöne" der „aufgeputzten" Natur seiner Nachahmer Bion und Moschus entgegengestellt und selbst der Dichtung Vergils übergeordnet. Bezeichnenderweise findet sich hier auch die überhaupt erste Übersetzung ins Deutsche von einigen ausgewählten I. Theokrits, der ein Jahr später die erste vollständige Übertragung Lieberkühns folgte. Ähnlich hatten sich inzwischen auch die S c h w e i z e r allmählich von Fontenelle (unter dessen Einfluß die auf die I. bezüglichen Bemerkungen in den 'Discoursen der Maler* 1721 noch stehen) abgewandt, und — unter dem Einfluß von Dubos' scharfen Angriffen auf die Unnatur der damaligen Idyllendichtung — seit den 'Neuen Kritischen Briefen' (1749) ihren Standpunkt dem englischen Popes in seinem 'Discourse on pastoral poetry' (1704) und Steeles entsprechenden Ausführungen im 'Guardian' angenähert. Sie rühmen Leidenschaftlichkeit, K r a f t der Sprache, Schönheit des Dialektes der I. Tlieokrits gegenüber dem Latein Vergils, wobei zum ersten Male Theokrit nach dem Original zitiert wird. Daneben stehen freilich, ebenso wie bei Ramler-Batteux, noch zahlreiche Äußerungen, die sich wenig über Fontenelle oder Gottsched erheben und die Unsicherheit in kritischen Fragen an diesem Wendepunkt zweier Epochen erkennen lassen. So ist es denn auch kein Wunder, wenn der erste dt. Idyllendichter, der Züricher Salomon Geßner (1730—1788), sich theoretisch unter dem Einfluß Ramlers und der Schweizer zu Theokrit bekennt, in seiner Dichtung aber noch durchaus andere Wege geht. G e ß n e r s erste 20 I. erschienen im J. 1756 (1772 'Neue Idyllen"). Es ist eine Zeitlang üblich gewesen, sich von seinen „unausstehlich süßen Schäfern und Schäferinnen" mit „dem größten Widerwillen" abzuwenden (Vilmar), seine Dichtung als „dunkelvollste Lüge und Unnatur" (Hetner) zu bezeichnen oder sie wenigstens mit den Urteilen Herders und Goethes abzulehnen. Aber diese hauchzarte, feinziselierte Kleinkunst einer Überganpzeit kann weder an dem klassizistischen Maß-

IDYLLE stabe einer neuhumanistischen Aufklärungsepoche noch an dem leidenschaftlichmaßlosen, formsprengenden Wollen ganz großen Formats des jungen Sturmes und Dranges gemessen werden, sondern will aus ihrer eigenen Zeit und der Sonderindividualität ihres Schöpfers begriffen sein. Geßner war eben kein enthusiastisches „Originalgenie", sondern eine heiter-liebenswürdige, idyllische Natur, dessen empfindsame Jünglingsschwärmerei schon alle Keime späteren patriarchalischen Familienglückes und angesehenen Bürgertums umschloß. Er wollte eben ein goldenes Zeitalter schildern, in dem Mitleid, Tugend und Glückseligkeit herrschen; er wollte eine vollkommene, schöne Natur gestalten, gleich dem Paradiese der Bibel, und er wollte damit die Sehnsucht erwecken, selbst ein so tugendhaftes und zufriedenes Leben zu führen. Und so entstanden jene Genrebilder des „malenden Dichters", dem die Dichtkunst selbst die „wahre Schwester der Malerkunst" war, dem alles zur Anschauung wurde, und dessen Werk Goethe zum ersten Male historisch wertend mit den Worten charakterisiert: „Mit dem empfindlichsten Auge für die Schönheiten der Natur hat Geßner reizende Gegenden durchwandelt, in seiner Einbildungskraft zusammengesetzt, verschönert — und so standen paradiesische Landschaften vor seiner Seele. Ohne Figuren ist eine Landschaft tot; er schuf sich also Gestalten aus seiner schmachtenden Empfindung und erhöhten Phantasie, staffierte seine Gemälde damit, und so wurden seine I. Und in diesem Geiste lese man siel und man wird über seine Meisterschaft erstaunen" (Frankf. Gel. Anz. 1772). Geßner gehört zu den Dichtern, in denen der empfindsam-sensualistische, von der engl. Aufklärung beeinflußte Zug die rein rationale frz. Aufklärungsrichtung überwindet. Das kommt besonders in der Art seiner Naturerfassung zum Ausdruck. Über Brockes' Einzelschilderung, über Hallers 'Alpen', E. v. Kleists 'Frühling' und Thomsons ländliche Gruppenbilder hinaus steht schon ein Miterleben, stehen schon Stimmungsbilder des Hellen, Lieblichen, voll „sanften Entzückens", im sinkenden Abendrot oder beim sanften Schimmer des aufgehenden

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Mondes. Deshalb geht es nicht an, ihn als Vertreter einer „Rokokoidylle" aufzufassen. Denn wie der Weg des Malers und Kupferstechers Geßner von der kapriziösen Formenwelt des Rokoko zu einem gradlinigen antikisierenden Stil im Sinne Winkkelmannscher Antikenauffassung führt und der Vorkämpfer für den freien, engl. Gartenstil sich von den künstlich-zurechtgeschnittenen Hecken und Labyrinthen zu charakteristischer Einzelzeichnung und zu einfachen Motiven heimatlicher Landschaft wendet, so überwiegen auch in seiner Dichtung die empfindsamen Züge die noch vorhandenen Nachklänge anakreontischrokokohafter Töne. Wieweit Geßner in Einzelheiten von der vorhergehenden, naturbeschreibenden Dichtung beeinflußt ist, wieweit die Zeitmode des Schäferkostüms in Wernickes Gelegenheitsgedichten, in den Werken der Rost und Gärtner, der Gleim und Geliert und der pastoralen Anakreontik Anregungen ergaben, wie stark das Züricher Milieu, besonders Bodmers Bestreben, durch die idyllischen Szenen seiner Patriarchaden zur Natur und Tugend zurückzuführen, einwirkten und allgemein stammestümliche Begabung für naturwissenschaftliche, scharfe Beobachtung und minutiöse Darstellungsweise Stil- und Motivwahl beeinflußten, kann hier nicht im einzelnen angeführt werden. Nur auf den Hauptausgangspunkt der Geßnerschen Idyllendichtung, den spätgriech. idyllischen Roman des Longos 'Daphnis und Chloe' sei noch besonders hingewiesen, wo die feinsinnig mit dem Wechsel der Jahreszeiten verbundenen Schicksale eines Schäferpaares unter dem lachenden Himmel einer paradiesischen Landschaft stimmungsmäßig und stilistisch (vor allem durch die Art der frz. Übersetzung) Geßnerscher Art wesensverwandt erscheinen. Der beispiellos große Erfolg dieser ersten dt. I., die dem 25jährigen europ. Ruhm einbrachten und besonders die frz. Hirtendichtung entscheidend nach der idealisierend - sittlich - sentimentalen Seite beeinflußten (vgl. H. B r o g l l Die frz. Hirtendichtg. i. d. 2. Hälfte d. 18. Jhs., dargestellt in ihrem bes. Verhältn. z. S. Geßner. Diss. Lpz. 1903; A. R a u c h f u ß Der frz. Hirtenroman am Ende d. 18. Jhs. 11. s. Verhältn.

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zu S. Geßner. Diss. Lpz. 1912), brachte natürlich bald zahlreiche Nachahmungen auf den Plan, die ohne die Anmut und Wärme, ohne die rhythmisch-stilistische Meisterschaft des großen Schweizer Prosakünstlers zumeist unerträglicher Sentimentalität und verschwommener Beschreiberei oder nüchternem Moralisieren verfielen. Nur E w a l d v o n K l e i s t s einen neuen Stoffkreis erobernde und von religiöser Innigkeit erfüllte Gärtner- und Fischeridyllen 'Milon und Iris' und 'Irin' (1758) verdienen besondere Erwähnung, sowie F r a n z X a v e r B r o n n e r s 'Fischeridyllen' (1784), die ihre Entstehung der Begeisterung für Geßners Werke, den Stoff eigener Beobachtung eines Fischerdörfchens aus den Fenstern einer Benediktinerabtei verdanken, in der Ausführung aber Geßnersche Empfindsamkeit und Kleistsches Tugendideal im goldenen Zeitalter aller Wirklichkeit entkleiden. Verkörpern Geßners I. die empfindsamaufklärerische Form dieser Gattung, so gibt die nächste Generation des Sturmes und Dranges ihr ein neues, eigenes Gepräge. Wieder geht die Theorie voran mit H e r d e r s entscheidender, den 'Fragmenten' (1767) eingefügter Abhandlung 'Theokrit und Geßner'. Zum ersten Male wird hier eine klare Grenzscheidung dessen vollzogen, was bisher kritiklos in einem Atem genannt worden war. Ohne Geßners Verdienste und eigenkünstlerische Fähigkeiten schmälern zu wollen, wird doch der fundamentale Unterschied zwischen seiner Dichtung und derjenigen Theokrits prägnant hervorgehoben: „Das Ideal des Schäfergedichts ist: wenn man Empfindungen und Leidenschaften der Menschen in kleinen Gesellschaften so sinnlich zeigt, daß wir auf den Augenblick mit ihnen Schäfer werden, und so weit verschönert zeigt, daß wir es den Augenblick werden wollen; kurz bis zur Illusion und zum höchsten Wohlgefallen erhebt sich der Zweck der I., nicht aber bis zum Ausdruck der Vollkommenheit oder zur moralischen Besserung", also Ablehnung alles Arkadischen, Idealisierenden zugunsten realistischer Darstellungsweise; und wenn es an anderer Stelle heißt: „Nicht nachahmen, sondern im Sinne des eigenen Geistes nach-

schaffen" und dies von den Genies der eigenen Zeit erwartet wird, so sind die Hauptforderungen des Sturmes und Dranges auch für die Idyllendichtung erhoben, denen wenige Jahre später (1775 ff.) der Pfälzer Dichter-Maler F r i e d r i c h M ü l l e r (gen. Maler Müller) gerecht zu werden suchte. Von Geßner ausgehend, von dessen rhythmischer Prosa, seinem Gefühlsüberschwang, seiner Stoffwahl und Formengebung unstreitig beeinflußt, zeigen doch diese I. ganz das Gesicht der neuen Zeit. Wie in seinen Malereien und Zeichnungen das Hirtenidyll des Rokoko zum Tierstück realistisch-holländ. Manier wird, so macht sich hier überall die scharfe Beobachtungsgabe eines naturnahen Realismus bemerkbar: pfälz. Humor, pfälz, Derbheit und Weinseligkeit, Übermut des eigenen stürmenden Temperaments bricht überall hervor und gibt auch den I. antiken Inhalts ('Der Satyr Mopsus') ihre eigene Note. 'Die Schafschur* und 'Das Nußkernen" aber bieten Heimatleben der Gegenwart ohne jedes antikschäferliche Kolorit mit prächtiger Charakterisierungskunst, mit allen Realismen ländlicher Beschäftigung, voll dramatischer Spannung, erfüllt von den Tendenzen der eigenen Zeit: Kampf gegen höfische Vorrechte und konventionelle Moral, Verteidigung der Streiche der jungen Genies, literarische Polemik gegen die Unnatur empfindsamer Schäferdichtung und begeistertes. Eintreten für Volkslied und Ballade. Herders Forderung der „Illusion" ist damit erreicht, allerdings zuweilen schon nahe bis zu der Grenze, wo die I. in die realistische Dorfgeschichte — wie sie dann das 19. Jh. ausbauen sollte — einmündet. „Verschönert" ist hier nichts mehr, und vor allem ist die Naturschilderung vor der charakterisierenden Menschendarstellung fast ganz zurückgetreten, so daß ein Weiterbauen in dieser Richtung völlig von der eigentlichen Gattung fortführen mußte. Daher ist denn Maler Müllers Idyllendichtung auch ohne Nachfolge geblieben. Mit demselben geistigen Untergrund des Sturmes und Dranges sind auch die I. von J o h a n n H e i n r i c h V o ß fest verankert; nur führt hier, durch ein anderes, rationaler eingestelltes, individuelles Tempe-

IDYLLE rament gefördert, die Entwicklung weiter zu klassizistischer Prägung. Angeregt durch die schwachen rationalistisch-sentimentalen Geßnernachahmungen seines Freundes Brückner, stehen seine ersten I. (1774) völlig unter Klopstockschem Einfluß und ergeben mit ihrer Mischung von seraphischer Empfindsamkeit und der in Einzelzügen sich bereits andeutenden realistischen Beobachtungsfähigkeit des mecklenburg. Bauernsprößlings ein seltsam zwiespältiges Gebilde. Ein Jahr später bricht schon in den beiden starken Tendenzidyllen gegen die Leibeigenschaft der ganze Tyrannenhaß und Freiheitsdrang der jungen Generation in jugendlichem Draufgängertum hervor, genährt durch Erinnerungen an die Erbuntertänigkeit der eigenen Vorfahren, geschürt durch tatsächliche und eingebildete Verletzungen des eigenen bürgerlichen Autodidaktenselbstbewußtseins. Mit ihrer einheitlich realistischen Art der Schilderung, ihrer ausgesprochenen Lokalfärbung und der anschaulich-volkstümlichen Ausdrucks- und Empfindungsweise tragen sie bereits durchaus eigenes Gepräge. War ihm vorher Geßner noch ,,ein Dichter, ein großer Dichter", so wird jetzt Theokrit das Ideal, demgegenüber Vergils Dichtung „ein Ungeheuer, das nirgend zu Hause gehört", ist. Und so geben die folgenden I. von Voß dialogisierte, von Liedern durchbrochene, ländliche Genrebilder ganz in Theokrits Art. Wenn dann 'Der siebzigste Geburtstag' (1781) diese Dialogform verläßt und ruhig erzählend dahinfließt, so beginnt hiermit die unter Homers Einfluß stehende Epoche seiner Idyllendichtung, die in der in ihrer Art klassischen Luisendichtung einen Höhepunkt erreicht und an die Stelle des bäuerlichen das erste bürgerliche Idyll setzt, ohne dessen Vorbild auch Goethes bürgerliches Epos 'Hermann und Dorothea* kaum möglich gewesen wäre. Leider hat Voß in den zahlreichen späteren Umarbeitungen die Geschlossenheit des Aufbaues und die glückliche Übereinstimmung von Form und Inhalt durch Zerdehnungen (die erste Fassung der 'Luise* zählt 1354, die letzte 2804 Hexameter) und Wortkünsteleien vielfach zerstört, vielleicht durch die intensive philologische Beschäf-

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tigung mit dem früher abgelehnten Vergil ungünstig beeinflußt. Der Theorie des Klassizismus aber gilt VoQ als „nicht unwürdiger Nachfolger" des Theokrit, und Schiller fällt ihm in seinem Aufsatz 'Über naive und sentimentalische Dichtung* das Urteil: „ E r ringt durch individuelle Wahrheit und gediegene Natur den besten griech. Mustern mit seltenem Erfolge nach" und: „Sie [seine I.] sind groß, weil sie ihren Gegenstand mit allen seinen Grenzen darstellen." Das ist in diesem Ausmaße nicht wieder innerhalb der Gattung erreicht worden. Am ehesten noch bei J o h a n n P e t e r H e b e l (1750—1826), der das, was Voß mit seiner nd. Dialektdichtung begonnen hatte, in seinen 'Alemannischen Gedichten' fortzuführen suchte, dem Älteren vielfach verpflichtet, aber dabei deutlich die so gegensätzliche süddt. und liebenswürdig heitere, persönliche Sonderart wahrend. Frisch, natürlich, volkstümlich-naiv ist seine Darstellungsweise, in anthropomorphischer Belebung und kecker Personifikation wird die ganze Welt „verbauert", unauffällig in heimatlicher Spruch- und Witzform das Lehrhafte eingefügt, nie die bescheiden gezogene Grenze überschritten, die allerdings oft nicht ganz für die Bezeichnung „Idylle" ausreicht. Gleichfalls ganz in heimischem Milieu und heimischer Mundart bleibt der Schweizer J o h . M a r t i n U s t e r i (1763—1827) mit seinen Schilderungen kleinstädtischen Pfahlbürgertums in den beiden Idyllen 'De Vikari' und 'De Heini', die durch naturgetreue Zeichnung der Charaktere, genaueste Wiedergabe aller Eigentümlichkeiten des Idioms, durch die Neigung zu ergötzlicher Karikatur und von scharfer Beobachtung zeugende Zeitsatire ihre eigene Note erhalten, freilich zuweilen fast den Rahmen der I. in der Richtung auf die komische Epopöe hin sprengen. Demgegenüber tragen die antikisierenden Hexameteridyllen der Voßnachahmer F. L. von Stolberg, Amalie von Imhof, Baggesen, Kosegarten u. a. (vgl. Goedeke IV 8 § 2 1 1 Nr. 1—36) ein klassizistisch-epigonenhaftes Gepräge. Nur P l a t e n s Formvollendung, H ö l d e r l i n s stets idyllisch ausmalende Landschaftsschilderungen zeigen eine eigene Note. Das weitere 19. Jh. aber bringt weder eine Wei-

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ILLUSIONSBÜHNE-INSZENIERUNG

terentwicklung der Gattung noch irgendwie besondere Einzelleistungen in den alten Bahnen hervor. M ö r i k e s 'Idylle vom Bodensee' (1846), in der persönliche Neigung zu ländlich-beschaulichem Leben, die Begeisterung für Hölderlin, die Liebe zu Homer und Theokrit noch einmal ein Stück dt. Volksleben im Geiste der Antike episch gestalten, und sein 'Alter Turmhahn' stehen vereinzelt da. Der zunehmende Wirklichkeitssinn des 19. Jhs. drängt zur ländlichen Kleinmalerei der Bauerngeschichte und sozialtendenziöser Darstellung landwirtschaftlicher Entwicklungskrisen (besonders der Konflikt zwischen Groß- und Kleinbetrieb spielt dabei eine Rolle), führt aber mit alledem mehr und mehr von dem idealistischen Geiste alter Idyllendichtung ab. G. S c h n e i d e r Über das Wesen und den Entwicklungsgang der Idylle. Progr. Hamburg 1893. G. A. A n d r e e n Studies in the Idyll in German Literature (Augustana Library Publications Nr. 3) 1902 (instruktiv besonders durch die Übersieh tstabellen). A. K o b e r s t e i n Gesch. d. dt. Nationallit. V 63ff. R. G o s c h e Idyll und Dorfgeschichten im Altertum und Mittelalter, ArchfLg. 1(1870) S. 169—227. O. N e t o l i c z k a Schäferdichtung und Poetikiml8.Jh., VjschrLg II (1889). N. Müller Die deutschen Theorien der Idylle von Gottsched bis Geßner und ihre Quellen. Diss. Straßburg 1911. A. H u e b n e r Das erste dt. Schäferidyll und seine Quellen. Diss. Königsberg 1910. H . W ö l f f l i n Solomon Geßner. 1889. F. B e r g m a n n SalomonGeßner 1913. B. S e u f f e r t Maler Müller 1881. A . L u n t o w s k i Maler Müller 1908. W. H e r b s t J. H. Voß 1872-76. E r n a Merlcer Zu den ersten Idyllen von J. H. Voß, GRM. VIII (1920) S. 58H. W. K n ö g e l Voß' Luise u. die Entw. der dl. Idylle bis auf Heinr. Seidel. Progr. Frankfurt a. M. 1904. A. N ä g e Ii J. M. Usteri 1907. E. L e h m a n n Hölderlins Idylle 'Emilie vor ihrem Brauitag' (Prager dt. Stud. 35) 1925. Veraltet sind: W. N a g e l Die dt. Idylle im l8.Jh. Diss. Zürich 1889 u. G. E s k u c h e Zur Geschichte d. dt. Idyllendichtung. Progr. Siegen 1894; nur popul. Zwecken dient E. W e b e r Gesch. der epischen und idyllischen Dichtung (Deutschkundl. Bücherei) 1924. Ema Merker.

Illuslonsbühne. Die mal. Marktbühne arbeitete in ihren „Häusern" mit angedeuteten realen örtlichkeiten; erst das Renaissance-Theater mußte bei den Aufführungen im Saale etwas „vortäuschen" und die so entstandene Illusionsbühne am Ende des Bühnenraumes durch einen Prospekt, ein Gemälde also, abgrenzen, das gleichsam Uber die abschließende Wand hinaus einen weiten Blick auf eine Straße oder offene

Landschaft vortäuschte. Die weitere Entwicklung der I. erstrebt eine immer gesteigerte Vortäuschung der Wirklichkeit, die durch Telari und andere Kulissen formen, durch Ausbildung der perspektivischen Dekorationsmalerei, durch die geschlossene Zimmerdekoration, durch Aufstellung der Möbel und Praktikabein in gut 200 Jahren vorwärtsgekommen, aber doch erst am Ziele war, als die Bühnentechnik einerseits die Beleuchtung, unter Ausschaltung des Rampenlichtes, dem diffusen Tageslicht näherte, anderseits durch den Rund- und später den Kuppel-Horizont den Leinwandprospekt überflüssig machte und rasche Verwandlungsmöglichkeiten schuf, so daß der Aufbau auch der festesten Wände, Türen u. dgl. ohne wesentliche Pausen im Abspielen des Stückes vor sich gehen konnte. Auch die I., deren Blütezeit mit der naturalistischen Theaterkunst überhaupt zusammenfällt, und die durch Max Reinhardt wohl ihre letzten künstlerischen Steigerungen erreicht hat, kann zu Übertreibungen führen. Was bei den Meiningern etwa eine geschichtliche Notwendigkeit war, artete leicht in „Meiningerei" aus, und wenn man in einem Stück 'Meißner Porzellan* eine Gesellschaft wirklich aus echten Tassen trinken läßt, so erkennt man die Berechtigung jener Reaktion gegen diese Erfüllungen der Illusion, wie sie in der „Stilbühne" (s. d.) zum Ausdruck kommt. Wo der Stil eines Dramas die Loslösung von der I. ermöglicht, wird sie heute meistens vollzogen, ohne daß man die Vorteile moderner Bühnentechnik gegen primitive Frühverhältnisse eintauschen müßte. M. M a r t e r s t e i g Stilbühne und Illusionsbühne, Kongreß f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft 1914. S. 405-4ISH. Knudsen.

Inszenierung. Die Inszenierung ist die Arbeit an dem Theater-Kunstwerk, durch die das Drama als Buch umgewandelt wird in ein lebendiges Bühnenwerk. Sie wird geleitet vom Regisseur, der die Arbeit mit den Schauspielern auf sich nimmt. Für alles Szenische und Dekorative zieht er meistens einen Bühnenmaler heran; ihm selbst fällt die Durcharbeitung des Textlichen in der schauspielerischen Wiedergabe zu, die man als Wortregie bezeichnet. H. Knudsen.

INTENDANT—INTERLINEARVERSION Intendant Eigentlich ein Verwalter. Im engeren Sinne der Verwalter oder Leiter eines Hoftheaters. In den frühen Zeiten der Hofbühnen wurde vom Fürsten ein gebildeter, literarisch interessierter Kavalier für diesen Posten ausersehen. Sowohl W. H. v . Dalberg für Mannheim wie auch Goethe für Weimar erfüllten neben der Voraussetzung künstlerischer Interessen und Befähigung die Forderung der Adligkeit. Beide führten übrigens die Intendanz ohne Entschädigung. In neueren Zeiten wurden oft Offiziere zu Intendanten ernannt, die durch Theaterinteressen aufgefallen waren. Obschon dieses System nicht ausschließt, daß tüchtige Theaterleistungen von solchen Nicht-Fachleuten geschaffen wurden — Putlitz, vielleicht auch noch Hülsen u. a. beweisen das — , so mußte dieses unsachgemäße Verfahren doch sehr oft hemmend wirken. Mit der Beseitigung der Hoftheater verschwanden auch deren Kavaliersintendanten, denen oft, wie z. B. in Wien 1814—1832 Jos. Schreyvogel, der eigentlich künstlerisch arbeitende Dramaturg untergeordnet war. Schon lange Zeit vorher haben auch die Stadttheater Intendantenposten geschaffen. Da die künstlerischen Leistungen der städtischen Bühnen fast immer minderwertig waren, solange der Theaterdirektor als Pächter rein geschäftlich eingestellt sein mußte, haben die größeren Städte den Bühnenleiter als ihren besoldeten Beamten eingesetzt und ihn von dem persönlichen Interesse an den Kasseneinnahmen befreit. Auch als titelmäßige Ehrung erfolgt eine Ernennung des Theaterdirektors zum Intendanten. H. Knudsen. Interlinearversion: eine zwischenzeilige Verdeutschung Wort über Wort. § 1. Zunächst fehlt die Absicht auf einen zusammenhängenden T e x t : es werden nicht alle Worte übersetzt (St. Pauler 'Lukasglossierung', Steinmeyer Gl. I 728 ff.) oder oft nur die auf das syntaktische Verständnis hinleitenden Endungen angegeben (ebd. 'Murbacher Hymnen', 'Benediktinerregel', Steinmeyer X X X V I ) , oder es werden mehrere Übersetzungen zur Auswahl vorgelegt (St. Pauler 'Lukasglossierung', 'Murbacher Hymnen', 'Carmen ad Deum', Steinmeyer X X X V I I ) . In alledem kann

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sich eine lehrhafte Absicht verraten, wie sie in einer Reichenauer Katalognotiz carmina diversa ad docendam theodiscam linguam (G. B e c k e r Catalogi bibliothecar. antiqui S. 22) ausgesprochen ist und sich auch aus Anwendung der Geheimschrift ergibt. Auch das 'Carmen ad Deum' vermittelt wohl eher Vokabel- als Textkenntnis und steht in einem Schulbuch, freilich ist in dieser Abschrift die Übersetzung schon nicht mehr zwischenzeilig. (Über das Aufgeben der Zwischenzeiligkeit s. Glossen, Althochdeutsche. § 2 a.) Wenn nun aber die Hand des Lukasglossators auch Vulgatalesarten in dem alten Unzialkodex übergeschrieben hat, so läßt das vielleicht auf Gelehrtenbetrieb schließen. Soweit diese Texte außerhalb der Schule wirklich gelesen wurden, etwa die 'Benediktinerregel', las man wohl das Latein, indem man den übergeschriebenen Kommentar gegebenenfalls benutzte. Es führt aber doch auch von hier wohl der Weg zur wirklichen Übersetzung: 'Die alemannische I. der Psalmen' (Steinmeyer X X X V I I I ) unterläßt nicht nur Abkürzungen und Doppelglossierungen, sondern gibt das Deutsche rot über schwarz, d. h. in eigenem Zusammenhang, der nun auch syntaktisch vernünftig ist, wiewohl Irrtümer noch nicht fehlen. Alle diese Arbeiten, durch ihre Eigenart, wie angedeutet, zusammengehalten, wird man nach Reichenau, etwa zwischen 790 und 820 zu setzen und begleitet zu denken haben von der mannigfachen Glossierungstätigkeit, aus der sie hervorgewachsen sind. Sie greifen, soweit wir erkennen können, in Abschriften über auf St. Blasien ('Lukasglossen'), St. Gallen ('Benediktinerregel'), Murbach ('Hymnen'), Tegernsee ('Carmen'). Vgl. Althochdeutsche Literatur 2 B. § 2. Was später auf dem Gebiete der I. geleistet ist, hat mit diesen Anfängen keinen Zusammenhang, geht vielmehr mit mangelhaften Kräften auf Übersetzen aus. So nähern sich gewisse Mitarbeiter am deutschen 'Tatian' der I., und als schlechte Übersetzungen sind auch das 'Trierer Kapitular' (Steinmeyer X L ) und die 'Rhfr. Cantica' (Steinmeyer X X X I X ) , beide wohl erst dem 10. Jh. angehörig, zu bewerten. Die 'Predigt der St. Galler Beichte' II (Stein-

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INVERSION-IONISCHE VERSMASZE

meyer LV), erst nachträglich dem lat. Texte übergeschrieben, konnte schon Notker als Vorbild haben. Literatur unter Althochdeutsch« Literatur. G. Baesecke.

Inversion, hum.-lat., „Umkehrung, Umstellung" eines Wortes oder Satzteils aus der üblichen Satzgrundstellung: „Groß ist J e h o v a h der Herr"; die durch I. bewirkte Umkehrung geht mit einer Tonverstärkung Hand in Hand. Bekämpft wird die im kaufmännischen Stil beliebte I. nach „und", zumal sie irrtümliche Auffassung zuläßt: „Der Schwerverletzte wurde nach Hause gebracht und schwebte sein Leben lang in Gefahr." Sie hat nur äußerliche Ähnlichkeit mit der älteren, besonders durch das Lutherdeutsch bekannten Umstellung, die, den Satzgegenstand ans Satzende stellend, stark akzentuiert: „Und die Gräber taten sich auf und stunden auf viele Leib er der Hei Ii gen"; Schiller: „Elf Uhr vorüber, von Waffen und Menschen dröhnt fürchterlich der Palast, und

kommt kein Fiesko" (vgl. E. Engel Dt. Stilkunst S. 59—60P. Beyer. Ionische Versmaße. Der Ionicus ist in der antiken, quantitierenden Metrik ein viersilbiger Versfuß, der aus zwei Längen und zwei Kürzen besteht. Gehen die Längen voraus, so nennt man den Versfuß Ionicus a maiore ( Z i u u ) ; stehen die Kürzen am Anfang, so bezeichnet man ihn als Ionicus a minore ( u u 2 4 Mit Zusammenziehung ist der Ionicus besonders in orchestischen und im Deutschen auch in musikmetrischen Formen ein häufig vorkommendes rhythmisches Glied auch in der Form Sprechmetrisch ionisch sind Goethes „Ufm Bergli bin i gsässe" (Ionici a minore), „Freudvoll und leidvoll" (Ionici a maiore) und der Monolog der Epimeleia in der 'Pandora': „Meinen Angstruf" (Ionici a minore). Über die Bedeutung des ionischen Gliedes bei der Entwicklung des Daktylus s. d. Art. Daktylus. Minor Metrik S. 278. S a r a n Vertl. S. 151, 170, 174. i86, 215. p. Habennann.

J Jagdliche Dichtung. § i. Als literarische Sondergattung ist die Jagddichtung in die Erscheinung getreten in den Jagdallegorien des 13.—16. Jhs. und als künstlerisch gesteigerte Jagdschilderung seit dem ausgehenden 19. Jh. Stofflich hat die Jagd, um dies n u r anzudeuten, vom frühesten MA. an bis auf unsere Tage eine viel größere Rolle gespielt. In Volksgesang und Sage, im Nibelungenlied wie bei den höfischen Epikern, im Karl- und Rolandkreise und in der Artussage, in den Romanen und im Minnesang nimmt das Jagdmotiv breiten Raum ein. Jagdliche Episoden als wichtige Träger der Handlung sehen wir in den 'Nibelungen', in 'Tristan' und 'Eneit'; die Jagd bewirkt Siegfrieds Tod, bringt Tristan an den Hof König Markes, wird zum Anlaß von Didos Keuschheitsopfer. Selbstzweck der Darstellung wird das Technische der Jagd in Tristan V 'Die Jagd*. § 2. Die J a g d a l l e g o r i e n sahen sich also stofflich keinem Neuland gegenüber. In den Jagdallegorien sucht der Dichter als Weidmann und mit jägerischen Mitteln die Geliebte zu erjagen, die zumeist in der Gestalt eines Wildes flüchtig geworden ist. Die älteste Jagdallegorie in dt. Sprache ist die Königsberger (13. Jh., hsg. v. Stejskal Z f d A . X X l V [1880] S. 254 ff.), die bedeutendste die des Hadamar (14. Jh., hsg. v. Stejskal, 1880), aus dem berühmten oberpfälzischen Geschlechte der Herren v. Laber, deren Stammburg an der Schwarzen Laber bei Regensburg stand. Hadamars Gedicht, in (nahezu 600) Titurelstrophen geschrieben, steht unter dem Einflüsse Wolframs v. Eschenbach und Albrechts v. Scharfenberg. Der Labrer, vielleicht veranlaßt durch Schionatulanders Jagd nach dem geheimnisvollen Brackenseil in Wolframs 'Titurel', läßt sein Herz als Leithund an der Leine gehen, die Liebste, das edle

Wild, aufzuspüren. In der Meute jagen, von Knechten gehalten, Fronde, Wille, Wunne, Trost, Staete, Triuwe, Gelücke, Lust, Liebe, Leit, Gendde, Harre. Wölfe sind die Merker. Hin und wieder ein aufleuchtendes Gleichnis, zuweilen lieblich schlichte, volksliedhafte Töne, anschauliche Jagdbilder, das weidgerechte Wort, die Gelenkigkeit von Vers und Sprache sind die Lichter auf dem Dunkel und der Eintönigkeit des allegorischen Flusses. Vielleicht war es das neue Verhältnis zur Frau, der Gegensatz zu dem Nervenkitzel höfischer Abenteuer, das Glück des Jagens und Wagens — so sieht Nadler den Labrer —, war es die Freude, die ein neues Geschlecht in der Hingabe an die Natur fand, die Hadamar durch zwei J h h . die Herzen, Dichterlob und viele Nacheiferer gewann. — Eine Nachahmung Hadamars, 'Der Minne Falkner' (in Schindlers Ausg. Hadamars [StLV. 20] 1850 S. 171 ff.), in dem die Geliebte in der Gestalt des Falken das Weite gesucht hat, verdient Erwähnung, weil sie uns die erstorbene Gattung der Falkenjagd lebendig vorführt. — Andere Nachzügler der Labrerschen Jagd sind 'Das Geiad' unter den Gedichten Peter Suchenwirts (Nr. XXVI), 'Der Minne Jagd' in des Frh. v. Laßberg Liedersaal (Nr. CXXV1), 'Die geistliche Hirschjagd' eines Tegernseer Benediktiners (1545) und eine ähnliche Allegorie, in der sogar die hl. Dreifaltigkeit als Edelwild erscheint, aus dem 15. J h . (bei Schmeller a. a. 0 . S. XX). — Der letzte Ausläufer dieser Allegorien ist wohl das in Form eines Wechselgesanges verfaßte 'Hochzeitslied auf Kaiser Leopoldus und Claudia Felix', in dem u. a. Claudia als „liebstes Hirschelein" und der Kaiser als der Jäger auftreten, in Abeles 'Künstlicher Unordnung' 1675. Im 'Teuerdank', der als

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JAHRMARKTSSPIEL-JESUITENDICHTUNG

Gleichnis der sittlichen Erneuerung Maximilians mit den Jagdallegorien in etwas verwandt ist, spielen Jagden gleichfalls eine Rolle. § 3. Unter dem Bilde der Jagd sieht die Liebe bereits Burkart v . Hohenfels (um 1220), ein verwegener Jäger und Schwimmer, in seiner L y r i k naturnah wie niemand vor ihm. Wie diesem, so ist auch den Jagdallegorien der allegorische Kern vermittelt worden vermutlich durch das Volkslied, das gleich seinen Nachahmern (vgl. H. L ö n s 'Der kleine Rosengarten' 1911) nicht müde geworden ist, die Liebste als Edelbeute des in der Frühe pürschenden Jägers darzustellen. § 4. V o r H. Löns pflegte das Jägerlied F r a n z v . K o b e l l (1803—1882), unter dessen Gedichten in oberbayrischer und pfälzischer Mundart seine frohgelaunten oder innigen Jagdlieder die besten sind. Das Aufblühen der Heimatdichtung im 19. Jh.'förderte die jagdliche Dichtung vornehmlich da, wo die Jagdleidenschaft ein wichtiges Stück des Volkscharakters ist. Achleitner, Ganghofer und Anton v . Perfall, Richard und Fritz Skowronnek nutzen in der Hauptsache die Jagd als Hintergrund und Handlungsträger ihrer Volksschilderungen und Heimaterzählungen. Von den Süddeutschen bringt es Ganghofer, was man auch gegen ihn einwenden mag, mindestens im 'Damian Zagg* (1906) zu künstlerischer Verdichtung. Die selbständiges Dasein führende Jagdschilderung ist seltener bei ihnen. Diese war, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen (Gerstäcker, A . v . Winterfeld), über unkünstlerische, formlose Plaudereien bis dahin nicht hinausgekommen, deren Ziel nur im stofflich Jagdlichen lag. — H e r m a n n L ö n s (1866 bis 1914) brachte die reine Jagdschilderung auf einen künstlerischen Gipfel. Sein W e g ging in diesem Falle nicht über das Volkstum, sondern kam aus der Naturschilderung, der er mit dem jagdlichen Thema leichter Handlung und Leben, Rahmen und Gliederung gab. Die Lönssche K u n s t h a t sich mit den Süddeutschen innerlich nicht berührt, eher mit Liliencron und mit Turgeniews 'Jägertagebuch'. In der Form ist Löns trotz seiner impressionistischen Einstellung geschlossen, straff, klar im

Gegensatz zu dem Lockeren, Umrißflüchtigen der Liliencronschen Jagdbilder. — Nach und z. T . schon neben Löns vertreten die künstlerisch gehobene Jagdschilderung Fritz Bley, J . R . Haarhaus, H. K a b o t h , Arthur Schubart, E. Frh. v. Kapherr, F. Frh. v . Gagern. Der Jagdroman hat sich sein Ziel kaum irgendwo über den Unterhaltungsroman hinausgesteckt. Starken jagdlichen Einschlag trägt vielfach die Reise- und Kolonialliteratur (Gerstäkker, Schillings, v . Wißmann, Niedieck, A . Berger). U. Wendt Kultur u.Jagd I (1907) S. 180-182. E. Bor mann Die Jagd in den alt/ranadsischen Artus- und Abenteuerromanen 1887. E. Matthias Die Jagd im Nibelungenliede 1883. A. Schultz Das höfische Leben zur Zeit der Minnesänger 1889. H. Benzmann Die Jagd im deutsehen Liede, Der Sammler 1921 S. 3f. \y. Deimann. Jahrmarktsspiel. Die theatralische Betätigung auf den Jahrmärkten ist niemals Hochkunst gewesen. Was dort geboten wurde, war Puppenspiel, Schattentheater, Kasperletheater (s. diese Artikel); der „schöne Raritätenkasten" ist allenfalls noch mitzurechnen. Wie die Jahrmarktsvorführungen von Goethe im 'Jahrmarktsfest von Plundersweilern' in einem dichterisch-symbolischen Sinne eingefangen worden sind, und wie diese Verwertung auf eine längere Tradition zurückgeht, hat M. Herrmann in seinem den Titel der Goethischen Dichtung tragenden Buche (1900) gezeigt. Im Laufe der Zeit ist lediglich das Puppenund Kasperle-Theater als Jahrmarktsspiel übriggeblieben. H. Knudsen. Jesultendlchtung. § 1 . Da die Societas Jesu alle K r ä f t e ihrer Mitglieder einstellt in die aktive missionarische Tätigkeit, hat der Orden wohl eine reiche Schriftstellerei hervorgebracht, jedoch keine eigentliche J. Abgesehen von der positiven Theologie und Dogmatik, wendet man sich eifrig der Moral und Askese zu, jedoch auch die Mathematik und Naturwissenschaft wie die territoriale Geschichtsschreibung und Staatslehre werden fleißig bearbeitet, mitunter von denselben, die nebenbei auch der Poesie huldigten. Aus dem Leben des Ordens wächst als eigenartige Dichtform allein das Theaterstück. Bei ihm war die lat. Sprache eher eine Stütze.

JESUITENDICHTUNG Die Helden des Ordens zu feiern, war weit geeigneter als das Epos die öffentliche Aufführung, ebenso zur Besserung der Sitten. Daher fehlen bemerkenswerte Leistungen auf dem Gebiet der heroischen wie satirischen Epik. An Gedichten ist kein Mangel. Besonders als Aufschrift, als Festgesang und Preis der Mäzene wird von dem Lehrer der Rhetorik des Gymnasiums stets allerlei verlangt. So gibt es eine große „Literatur" des Ordens als Ergebnis nutzhafter Tätigkeit, die auch für den Orden bezeichnend ist. Jedoch spezifische „Jesuitendichtung" als autonomer Ausdruck einer typischen Seelenlage fehlt. Nur ein paar Einsame verlangen als lyrische Dichter für ihre individuellen Erlebnisse Beachtung und Anerkennung. § 2. Einsam durch sein Erleben und abseits durch die dt. Sprache steht die geistliche Lyrik des Niederfranken F r i e d rich Spe v. L a n g e n f e l d (1591 — 1635). Wie der unerschrockene Bekämpfer des grausam ungerechten Verfahrens bei den Hexenprozessen ('Cautio criminalis' 1631) nicht den Hexenglauben an sich bekämpft, überschreitet der Mystiker nie die dogmatischen Bindungen seines Ordens. Angefeindet und zeitweilig amtsentsetzt von den eigenen Ordensgenossen, schwer verwundet durch einen Mordanfall wegen seiner missionarischen Erfolge in Peine (1629), bewahrt er adlige Treue seinem Gott. Stärker gibt er sich seinem Erleben hin, dem Gott überall begegnet. In den 51 Liedern seiner 'Trutznachtigall' (gedruckt posthum 1649), die er seit 1634 (Straßburger Hs.) eifrig glättet (Trierer Hs.), kristallisiert sich das erlösende persönlichste Erlebnis. Nur in einem didaktischen und zwei moralischen Gedichten spürt man den Professor der Moraltheologie. Seine Menschenliebe wirkte sich in seiner Tätigkeit als Lehrer und Seelsorger aus und schuf im 'Güldenen Tugendbuch' (posthum 1649) ein herrliches Erbauungsbuch mi; eingestreuten Liedern (z. T. in früherer Fassung als in der 'Trutznachtigall'). Etem unmittelbaren Gemütserlebnis entquillt die Unmittelbarkeit der lyrischen Gestaltung. Idyllisch umfaßt der Dichter jedes Giäslein als Bruder und hört die Vögel einstimmen in seinen Lobgesang.

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Hingegeben ruht sich in solchen Gedichten der Dichter aus an der Brust seines Gottes, während er in anderen die Passion unmittelbar schauend mit erlebt. Trotzdem verführt ihn seine brennende Himmelssehnsucht nicht zum Schelten auf die verderbte Welt. Seinen Rang als Dichter verdankt Spe seiner Formgebung. Sind es zwar noch die typischen Situationen des Volksliedes, so ist doch die Natur ungemein plastisch und nicht selten eigenartig geschaut. Innig und sinnig umfaßt sein Blick die einzelnen Gegenstände; die Natur lebt und fühlt mit ihrem Dichter. Die Plastik der Personifikation geht mitunter zu weit, wird barock. Seine zarten, hellen Farben wirken manchmal süßlich und weichlich wie die Schäferdichtung derZeit; da stellt sich auch der gezierte Stil ein. Der mystische Minneton zerfließt in empfindsamer Schwärmerei. Die vereinsamte Seele krampft sich unter dem Leid des Lebens zusammen und preßt ekstatisch den Erlöser ans Herz. Zu dem im ganzen erstaunlich echten Ton trug wohl die Verwendung der dt. Sprache und der kirchlichen Hymnenformen bei. Diese ließen ihn auch das akzentuierende Versprinzip neben Opitz selbständig durchführen. Der Wohlklang, der seiner Prosa schon eigensten Stempel aufprägt, läßt ihm den Bau seiner Verse weit melodischer als seinen dt. Zeitgenossen gelingen. Feinstem Sprachempfinden entspringt die Verwendung einsilbiger Worte. Im übrigen betont er, den Schlesiern zum Trotz, nachdrücklich sein Recht auf dialektische Eigentümlichkeiten in der Wortwahl wie in der Elision des stummen -e. Volkstümlich bleibt auch seine Sorglosigkeit in den Reimwörtern. Durch diese Besonderheiten eignet seinen Gedichten ein Hauch des Unverkünstelten sowohl gegenüber der eigentlichen dt. Kunstlyrik wie der zeitgenössischen lat. Poesie. § 3. Nur in dieser dagegen vermochte sich die Seele eines J a k o b B a l d e (1604 bis 1668) Ausdruck zu schaffen. Dem in sich Verschlossenen steht die fremde Sprache gut an, seiner gefaßten Männlichkeit entspricht die Gemessenheit Horazischer Metren. Sein Leben lang mußte der lungenschwache, übermagere Elsässer sein

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allzu reizbares und verstimmbares Gemüt niederkämpfen, und diesem Erlebnis entspringt die große Zahl seiner moralisierenden Gedichte. Diese moralische Reflexion enthält innerstes Pathos. Der Prediger, als der er die letzten 18 Jahre seines Lebens ausschließlich in Baiern wirkte, lehrt aus eigenster Überzeugung die Tugenden der Selbsterkenntnis und Beherrschung, der Genügsamkeit, des Maßhaltens und des Gleichmuts. Der bairische Hofhistoriograph, der gegenüber der zugemuteten byzantinischen Geschichtsklitterung die Wahrheit als seine Aufgabe verkündete, hat Grund, vor den moralischen Gefahren des Hoflebens zu warnen. Der Unverstandene und Mißdeutete durfte in Verachtung des Geredes und der Welt das reine Gewissen als echten Trost preisen. Ausruhen in verständnisvoller, fördernder Freundschaft war ihm versagt, und so besitzen die nicht zahlreichen Gelegenheitsgedichte meist offiziellen Charakter, sei es, daß er Sprachrohr seines Ordens oder des'Landesherrn wird. Sie hängen dann öfter mit Politik zusammen und bekommen ihren Schwung aus heißer Vaterlandsliebe. Diese nämlich ist die zweite Erlebnisquelle des Dichters. Seine aktive Natur sucht mit den Mitteln der Kunst auf die Mächtigen der Erde zu Deutschlands Heil einzuwirken. Bezeichnenderweise fühlt er sich nicht als Sprachrohr des Volkes, trotzdem sein Heimatsinn ständig durchleuchtet. Als einzelner Betrachter leidet er tief unter dem allgemeinen Jammer; sein Blick bleibt nicht an der Einzelheit hängen, sondern ruht auf dem Gesamtzustand der Zerstörung und Entwürdigung. Dabei verleihen viele individuelle Züge diesen Gedichten den besonderen Reiz des Lebendigen und Selbsterlebten. Energisch ergreift er Partei, besonders heftig gegen Schweden und Türken, doch nicht vom einseitig kirchlichen, sondern vom vaterländischen Standpunkt des alten Kaisertums aus; allerdings war die Vereinigung beider nur der katholischen Partei möglich. So gehören die politischen Gedichte zu seinen persönlichsten und wertvollsten Werken, denen nur noch seine Marienoden zur Seite treten können. In ihnen findet die ringende Seele Baldes nicht nur Beruhigung, sondern

ekstatisch feiert er die Heilige Jungfrau als mächtige Königin der Natur und preist sie als besondere Schutzherrin Baierns. Auch die Natur vermag ihm keine Entspannung zu schenken, so liebevoll, aber unsentimental objektiv sein Natursinn sie zu sehen vermag. Er behandelt sie mit leichtem Humor idyllisch oder schildert pathetisch ihre Erhabenheit. Jedoch bleibt sie stets Begleiterscheinung, Szenerie. Bei den Jagdgedichten interessiert die lebhafte Bewegung der Menschen und Tiere. Neben der beherrschten Reflexion steht leidenschaftliche Uberhitztheit. Der Prediger wird zum Propheten, der Betrachter zum Visionär, der Anbetende zum Hymniker. Entsprechend seiner willenhaft-intellektuellen Art ist es vor allem seine Phantasie, die ihm dann die Ausdrucksmittel liefert. Die um ihre Würde kämpfende Seele vermag sich nur im Pathos zu äußern, und die rhetorische Behandlung der festgeprägten Ordens- und Gelehrtensprache gibt ihr die gewollte distanzierende Geformtheit. Wie die Zeit der Verehrung der Antike als Inhalt und Ziel damals vorüber war, betrachtete er ganz unhumanistisch die alten Dichter nur als stilistische Rüstkammer für die eigenen Erlebnisse, die er echt barock nach dem Vorbilde eines Seneca, Statius und Claudian eigenwillig ausdrückt. Wucht verleihen markante Anfänge und sentenzenhaft gedrungene Schlüsse. Das Ringen um kraftvolle Ausdrücke schrickt vor veralteten Worten nicht zurück und verleitet nicht selten zur Hyperbolie. Eine Vorliebe für das Krasse als extremste Formulierung gefällt sich manchmal in der Ausmalung selbst des Widerlichen. In gehäuften Fragen, abgerissen kurzen Sätzen entlädt sich die innere Ruhe und Erhitztheit wie auch in emphatischen Anreden, Beteuerungen und Imperativen. Lebendige Phantasie und scharfe Naturbeobachtung geben Farbe und Lebhaftigkeit und machen lange Ausmalungen und Allegorien dadurch erträglich. Humor vermag nur als Kontrastwirkung die drohende Eintönigkeit des Pathos zu unterbrechen. Zum Epos mangeln innere Ruhe und Behaglichkeit ('S*. Katharina', 'St. Nicolaus'). In den Satiren als den Früchten des Herbstes ist er in seinem Elemente, neben

JESUITENDRAMA der Betrachtung der pseudohomerischen ' Batrachomyomachia' stehen das launige 'Solarium

podagricorum',

d a s L o b d e r eige-

nen Magerkeit ('Agathyrsus') wie der Fetten ('Antagathyrsus'). Derber wettert er gegen die eigene Leidenschaft des Tabaks, lustig verspottet er in 22 kleinen Satiren die Quacksalberei der damaligen Medizin. Schnörkelig berührt die witzige Causerie des parabolischen Epistelkranzes 'Urania victrix\ geschmacklos die bänkelsängerischen, rhythmischen lat. und die hölzernen d t . K o n t r a f a k t u r e n v o n 'De vanitate

mundi'.

Selbst sein Drama beweist die reflektierende Lyrik als die ihm gemäßeste Ausdrucksform. Seine beiden Sammlungen {'Lyricorum libri quatluor, Epodon Uber 1643, sowie die 'Stlvae', Uber i—j

unus' 1643,

Uber 8—g 1646) sichern ihm einen Ehrenplatz in der neulat. Dichtung und rücken ihn als den „deutschen Horaz" (so zuerst 1658 von Sigmund von Birken bezeichnet) neben seinen poln. Ordensbruder Matthias Casimir Sarbiewski (1596—1640), den poln. Horaz. § 4. A m meisten nähert sich dem typischen Betriebe die Lyrik des Wiener Hofpoeten N i c o l a u s v o n A v a n c i n i (1611 bis 1686). Den Tiroler Edelmann knüpft innige Treue an das Herrscherhaus, in dem er das Vaterland verkörpert sieht. Auch er feiert Maria nicht nur als seine himmlische Mutter, sondern als Schützerin Österreichs und Helferin in Kriegs- und Türkennot. Die Leiden der Zeit liefern ihm viele seiner Inhalte. Aber wieder sprechen die lat. Oden, welche Verrohung und Verwilderung, Trunksucht und Fremdländerei geißeln, nur zum Adel, nicht zum Volk. Aus innerer Überzeugung kaisertreu, entwirft er in 50 Oden einen Fürstenspiegel. Unwahrer Schmeichelei fern, fließen die Lobeserhebungen stets aus der Erfüllung des Ideals eines christlichen Herrschers. Im Auftrage der Wiener Universität verfaßte er 1658, als mit Leopold der 50. dt. König gewählt war, die F e s t s c h r i f t ' E f f i g i e s ac elogiae 50 Germanico-Romanorum

Caesa-

rum\ deren freigebaute rhetorisch aufgeschmückte Lobreden stets in einer kunstvollen Ode gipfeln. Eine rege kombinatorische Phantasie liefert ihm immer neue Ausdeutungen, die Irdisches und HimmMerker-Stammlcr, Rctltadkon II.

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lisches in Beziehung setzen, immer neue Bilder und Vergleiche. Geschickt zerlegt der Verstand die Gesamtvorstellungen in ihre Teile und schwelgt in der enumeratio partium. Breite Schilderungen halten die Fülle einer üppigen Zeit fest. So schwellen nicht gerade große Erlebnisse, Gedanken und Bilder auf zu wogenden, vollsaftigen Leibern, zu zwar nicht dichterischen, so doch rhetorischen Verkörperungen des Hochbarocks. Reiches Lob zollte die Zeit der jlorentis stili mascula vivacitas. C. S o m m e r v o g e l u. de B a c k e r Bibliothique de la Compagnie de Jisus 1890 ff. B . D u h r Gesch. der Jesuiten in den Ländern dt. Zunge 1907ff. F. v. Spe Trutznachtigall hsg. von B a l k e 1879. J. D i e l F. Spe, neubearbeitet von B. D u h r 1901. 0. H ö l s c h e r F. Spe. Progr. Düsseldorf 1871. J. G e b h a r d F. Spe. Progr. Hildesheim 1893. J. G ö t z e n F.Spe, Festschr. des Marzellen-Gymn. Cöln 1911 S. 113—122. T h . E b ner Speu. d. Hexenprozesse 1898. H. S c h a c h n e r Naturbilder u. Naturbetrachtung in den Dichtungen F.v.Spes. Progr. Kremsmünster 1906. I l s e M ä r t e n s Darstellung der Natur in der Dichtung v. Spe, Euph. X X V I . A. J u n g b l u t h Beiträge tu einer Beschreibung der Dichtersprache F. v. Spes. Diss Bonn 1906. J. S c h ö n e n b e r g Die Metrik F. v. Spes. Diss. Marbg. 1911. V. Moser F.v.Spes Lautlehre, ZfdPh.XLVI(l9l5) S.17—80. P. v. C h a s t o n a v Spes 'Gülden Tugendbuch', Pastor Bonus X X V I I I (1916) S. 241—250. — Neuausgabe der Oden J. B a l d e s 1844 von B. M a l l e r , 1856 von F. H i p p l e r ; Übersetzungen: H e r d e r 1793—1796 (Terpsichore III. Bd., Suphan XXXII), I. B. N e u b i g 1828-1843, I. A i g n e r 1831. G. W e s t e r m a y e r J. Balde 1868. J. B a c h J. Balde (Straßburger Theol. Stud. VI 3/4) 1904. A. H e n r i c h Die lyrischen Dichtungen J. Baldes (QF. 122) 1915. I. S t i g l m a y e r J. Balde, Stimmen aus Maria Laach XCV (1918) S. 467-488. N. Scheid Balde als Liederdichter, Pastor Bonus X X X (1918) S. 5i8ff. R. B o s c h a n J. Balde, ein patriot. Dichter d. 17. Jhs., DGeschBU. X V I I I (1917) S. 1—6. N. Scheid Nie. Avancini, ein Osterr. Dichter des 17. Jhs. Progr. Feldkirch 1899. W. Flemming.

Jesuitendrama. § 1. W e s e n . Gemäß der missionarischen Tendenz konnte der Orden nur das die Massen aufrüttelnde Drama brauchen, das seine Lehren anschaulich einhämmerte. Es gehörte daher mit zur Lehrbefähigung für das Gymnasium, ein Theaterstück als propaganda jidei zwar nicht zu dichten, aber aus bewährten Mustern zusammenstellen zu können. Die streng festgehaltene moralischdidaktische Tendenz drückt sich seit dem 17. Jh. in dem Doppeltitel aus, der das 2

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Schlagwort des Gehaltes der Angabe des Stoffes voranstellt (z. B. 'Ambitio sive Sosa naufragus'). Das Publikum anzuziehen und zu fesseln, werden alle theatralischen Möglichkeiten wirkungsvoll ausgenutzt. Da sich in der Zeit von 1550—1772 aber gerade die bühnlichen Zustände sehr wandeln, ändert sich dementsprechend die Gestalt der Stücke. Die bis nahe gegen das Ende aufrechterhaltene lat. Sprache hielt Distanz und bewahrte Darsteller, Verfasser wie Publikum vor einem Herabsinken auf das Niveau des Bandenstückes. Zugleich war dem gebildeten, höfischen Kreis der Zuschauer die Freude an der gewandten Diktion der exklusiven Bildungssprache gegeben, ohne daß das große Publikum wegen der Sinnfälligkeit des Ganzen leer ausging. Mit der Berechnung auf die regierenden Kreise wurde zugleich Bau wie Darstellung literatur- und hoftheatermäßig gehalten. § 2. A r t e n d e r S t ü c k e . Gemäß seiner restaurierenden Artung knüpft der Orden an das Bestehende an. Einerseits übernimmt man für den gebildeten Teil des Publikums die rein auf Dialektik gestellten D i a l o g e . S e i t i 5 6 l f ü r den Westen (Köln), 1565 für den Osten (Wien) belegt, schlössen sie sich gern an Feste an und wurden in der Kirche gehalten. Mit dem raschen Siege des Ordens verlieren sie sich gegen das Ende des 16. Jhs. Gelegentliche Aufführungen von Theaterstücken in Kirchen begegnen noch länger, sind jedoch nicht typisch. Dazu gehören als individueller Einzelfall auch Andreas Brunners 'Bauernspiele', die nach der Predigt zu deren Verdeutlichung 1644—1648 in der Innsbrucker Kirche aufgeführt wurden. Der eigentlichen Massenwirkung diente die andere Art von Vorstellungen, die im Freien aufgeführten g e i s t l i c h e n S p i e l e . Anknüpfend an das mal. Passions- und Heiligenspiel, bilden sie rasch einen ganz eigenen Typus aus. Stets stellen nur Angehörige des Ordens und seiner Schule ein immer lat. prunk- und figurenreiches, streng tendenzgerechtes Stück dar. Dadurch werden die Reste des volkstümlichen Passionsspieles (wie in Luzern) verdrängt. Auf Wien (1565) folgen die bairischen und rheinischen Collegien schnell. Die Glanz-

zeit bedeuteten die letzten 30 Jahre des 16. Jhs. in München. Seit dem 30 jährigen Kriege schwinden die Nachrichten und sinkt der Brauch zu bloß lokaler SonderÜberlieferung, der sich mitunter noch lange hält (Aachen bis 1727). Die Unbequemlichkeiten der Freilichtaufführung veimied das A u l a d r a m a , das sich seit dem Ende des 16. Jhs. wohl mit der Zunahme weiträumiger Gymnasialbauten herausbildete. Bis zur Aufhebung des Ordens (1772) hielt sich der Brauch der öffentlichen Prunkvorstellungen am Ende des Studienjahres (September). Die Zusammendrängung der weitgestreckten FreiIuftbühne zum Aulatheater, dazu die rasche Aufnahme der ital. Verwandlungsbühne mit ihrem Maschinen- und Dekorationsreichtum bewirken eine neue Gestalt des Dramas, die sich durch das Eindringen der Oper nicht wesentlich mehr ändert. Von der geistlichen Oper (Oratorium) des Ordens (zuerst München 1643 'Philothea'), die seit dem späten 17. Jh. blüht, zweigt sich um die Mitte des 18. Jhs. das ebenfalls geistliche Singspiel ab. Beide Gattungen gedeihen besonders üppig in den reichen (nicht jesuitischen) Klöstern Schwabens und Österreichs. Dieses Schlußdrama selbst nähert sich unter dem Einfluß der Zeit durch Chöre, Ballette und Zwischenspiele immer stärker der Art der höfischen Prunkoper an und zeigt erst in den letzten beiden Jahrzehnten die puristischen Einflüsse des frz. Klassizismus. Auf die gewaltigen Forderungen an die Darstellungslähigkeit der Schüler, die stets die Aufführenden blieben, bereiten monatliche Übungsstücke, declamationes, vor, die von den einzelnen Klassen wetteifernd meist mit vollem szenischen Apparat als interne Veranstaltungen auf einem Übungstheater dargeboten wurden. Abseits vom eigentlichen J. stehen Gelegenheitsstücke wie moralisierende Fastnachtspiele, Fronleichnamsspiele, daneben auch Weihnachts-, Passions- und Osterspiele. § 3. S t o f f w a h l . Bei dem gewaltigen Bedarf an Stücken erstaunt die Vielfältigkeit, und ziemlich selten begegnen selbst Wiederholungen der bewährtesten Dramen, noch weniger Übersetzungen etwa der Spanier. Den Reiz des Neuen erhielt das

JESUITENDRAMA J . durch die Buntheit seiner Stoffe. Alle A r t e n v o n Quellen werden nach Material durchsucht. Das N e u e T e s t a m e n t wird als zu heilig nur bei Darstellungen in der K i r c h e b e n u t z t : in den Dialogen der Frühzeit begegnet noch eine K l a g e Marias oder Magdalenas, auch wohl eine Parabel. Die geistlichen Spiele schöpfen häufig aus dem A l t e n T e s t a m e n t , besonders beliebt sind Josef, Daniel (Nabuchodonosor), Esther (Haman), auch Samson, Judith, die Makkabäer. W e i t ergiebiger floß die Quelle der H e i l i g e n l e g e n d e . Zunächst die Gestalten der Patrone der Stadt oder des Landes vorführend,musterte die erste Hälfte des 17. Jhs. fast alle Märtyrer durch und schreckte auch vor der Verkörperung der zeitgenössischen Blutzeugen in Indien und Japan nicht zurück. Indem man in den folgenden Jahrzehnten zur älteren K i r c h e n g e s c h i c h t e , z u Feinden und Förderern der röm. Kirche, überging, k a m man der Staatsaktion immer näher. Lokalg e s c h i c h t l i c h e Themen geben verherrlichende Festspiele bei Fürstenbesuchen oder zu Feiern des landesherrlichen Hofes. Das tägliche Leben ist im allgemeinen als Haupthandlung verpönt, selten selbst in der A r t der Moralität. Nur in kc mischen Nebenszenen wird es verwendet, gelegentlich als Zwischenspiel dt., sogar im Dialekt. Rein mythologische wie allegorische Stoffe sind auf die Chöre beschränkt. Griff die Frühzeit z u m christianisierten Terenz und wagte nur ausnahmsweise die Bearbeitung eines antiken Vorwurfes, so begegnen erst in den letzten Jahrzehnten g r i e c h i s c h r ö m i s c h e Themen. Bei solchem Auspressen der Quellen n i m m t es nicht wunder, den meisten bekannten Stoffen der Weltliteratur auf der Jesuitenbühne zu begegnen (Esther, Judith, Makkabäer, Genovefa, D o n J u a n , Leben ein T r a u m , Konradin). § 4. D i e T h e o r e t i k e r . Entsprechend der Wichtigkeit für die Wirksamkeit der Gesellschaft Jesu haben sich die Poetiker des Ordens auch eingehend der Theorie des Dramas zugewandt. Die maßgebliche Studienordnung v o n 1599 regelte auch den Theaterbetrieb. Bereits fünf Jahre vorher hatte der Deutschböhme J a k o b P o n t a n u s (eigentlich Spanmüller, 1542—1626)

seine weitverbreiteten 'Poeticarum Institutionutn libri UV (1594) herausgegeben, während die ein Jahr früher erschienene 'Poetica' in der 'Bibliotheca selecta' des Possenius wirkungslos blieb. Hielt sich P o n t a n noch ängstlich in den Grenzen der nlat. Tradition, so ging der Römer A l e x a n d e r D o n a t u s (1584—1640) in seiner 'Ars poetica' (1631) für das D r a m a schon weiter. A b e r erst 1654 gab die 'Palaestra eloquentiae ligaiae' (3. Teil: Drama) der rasch dahin geeilten Entwicklung adäquaten Ausdruck. Bei aller Kenntnis und Schätzung der Antike hatte der Rheinländer J a k o b M a s e n hier den Mut, aus der lebendigen Praxis seiner Gegenw a r t zu schöpfen. D a ß sich darin die Überzeugung der Zeit aussprach, beweisen nicht nur die rasch sich folgenden A u f lagen, sondern auch J a k o b B a l d e s Vorw o r t zur 'Jephtias' (1654), das ebenfalls gleich weit von nlat. Dürftigkeit wie von überwucherndem Maschinenunwesen der Hofoper abrückt. Selbst der Franzose J o s e f J u v e n c i u s (Jouvency, f 1720) steht in seiner 'Ratio discendi et docendi' (1706) noch in Masens Tradition, wie nicht minder das von ihm beeinflußte Lehrbuch der Regie des Münchner Franciscus L a n g 'Disseriatio de actione scenica' (1727). Selbst der letzte bedeutende Jesuitendramatiker C h a r l e s P o r r e e (1733 'De theatro') bekämpfte nur das in Paris übliche Überwuchern der Balletteinlagen in den Stücken, ist jedoch keineswegs Klassizist. Diese Ideen finden sich erst 1753 in den dramaturgischen Reflexionen, die A n t o n C l a u s (1691-^-1754) nach Corneilles Muster seinen Tragödien nachstellt, sowie 1759 in F r a n z N e u m a y e r s (1697—1775) Idea foeseos' und der Bearbeitung der horazischen 'Ars poetica' (1757) von I g n a t i u s W e i t e n a u e r (1709—1783). § 5. D i e T e c h n i k d e s J e s u i t e n d r a m a s . Auffallend erscheint bei dem großen Verbrauch an Dramen das Fehlen von Übersetzungen aus anderen Literaturen sowie die verhältnismäßig seltene A u f nahme bewährter Stücke. Meist sind siein solchem Fall umgearbeitet und den zur V e r f ü g u n g stehenden schauspielerischen K r ä f t e n und bühnlichen Wirkungsmitteln angepaßt. Ihre Schätzung als Dichtwerk 2*

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und die Ehrfurcht vor Unantastbarkeit fehlt. Sie werden wie die Stücke der A n t i k e nur als Sammlung von Bausteinen betrachtet, aus denen jeder Brauchbares holt. Durch Florilegien von Sentenzen erleichtert sich dem Ordinarius der obersten beiden Gymnasialklassen seine jährliche Verpflichtung zu einem Stück. Feste Tradition half auch beim Bau. Durch die Tendenz lag der Gehalt in unverrückbaren Grenzen. Findigkeit bewies hauptsächlich die Aufspürung wirksamer Stoffe; die Verachtung der Welt mußten sie zeigen, indem sie die Hinfälligkeit von Ansehen und Glück, die K ü r z e des Lebens und die drohende Gefahr des überraschenden Todes illustrierten oder direkter zur Buße aufforderten, indem sie den K a m p f mit den bösen Neigungen, den dämonischen Verführungen der W e l t wie der höllischen Mächte zeigten, die Schrecken des Jenseits und die Notwendigkeit der Gnade, den W e r t der Erlösung und die Wirksamkeit der kirchlichen Vermittlung anschaulich erleben ließen. Mußte zwar wegen der christlichen Auffassung de3 Leidens als Prüfung und des Unterganges als Strafe dem J. echte Tragik versagt bleiben, so unterstützte der schroffe Dualismus ihrer Weltanschauung günstig den deutlichen K a m p f mit einem Gegenspiel, dem allerdings nur äußere (tyrannische oder teuflische) Macht zu Gebote stand. D i r Eindringlichkeit half reiche Heranziehung des Grausigen und besonders des Schauerlichen, Dämonischen: der Geisterbeschwörer spielt im Zeitalter der Hexenverfolgung eine große Rolle. Als Kontrastierung wird von komischen Szenen in der Nebenhandlung gern Gebrauch gemacht. Daher begegnet meist die Artbezeichnung comico-tragoedia oder umgekehrt. So steht eine nicht große A n z a h l fester Motive, typischer Szenen zur Benutzung bereit, die stets in besonderen Bühneneffekten gipfeln. Hinzu kommen noch zur Markierung der A k t e allegorische Chöre oder Ballette, später auch eingeschobene komische Zwischenspiele. Durch diese Mechanisierung und Stabilisierung bekommen die Jesuitenstücke jene ermüdende Gleichförmigkeit in der Ausführung. § 6. E p o c h e n d e s J e s u i t e n d r a m a s . Neben anfänglichem Import aus Belgien

und Italien (außer Stefani besonders Francesco Benci, 1542—1594) finden sich in der Frühzeit rasch heimische Dramatiker. Neben dem Österreicher W o l f g a n g P i r i n g e r (schreibt seit 1559) der Rheinfranke Peter Michael gen. B r i l l m a c h e r (seit 1563). Als Meister des (kostümiert gespielten) Dialoges fand P o n t a n auch bei den Protestanten Anerkennung. Das geistliche Schauspiel auf der Freiluftbühne f a n d in München (seit 1567) prunkvollste Ausgestaltung und Festigkeit zu typischer Form, zu der auch das bedeutendste Talent J a k o b G r e t s e r (1562—1625) in seinen rasch sich folgenden S t ü c k e n (Mitte der 80 er Jahre) energisch hinstrebt. Durch die Verlegung in die A u l a gewannen die Stücke an Intensität. Die neue E t a p p e der E n t w i c k l u n g kündigt sich im Münchener 'Udo' (159S) an, um in J a k o b B i d e r m a n n s (1578—1639) Stükken (1606—1614) die bedeutendsten dramatischen Dichtungen des Ordens überhaupt hervorzubringen. Die Tendenz wird bei ihm unmittelbares Herzenserlebnis, das sich theatralisch gewandt zu voller W i r k samkeit entfaltet, vor allem im Sturz des 'Cenodoxus, des Doctors von Paris' (Entwurf 1602, heutige Gestalt 1609) und seinem Gegenstück' Jacubus Usurarius', der durch die Barmherzigkeit Marias gerettet wird, endlich noch in dem Asketenschicksal eines 'Johannes Calybila' (1618). W ä h rend des Krieges verfeinert B a l d e in seiner 'Jephtias' (aufgeführt 1637, umgearbeitet gedruckt 1654) die Ausgestaltung der Charaktere und die A u s m a l u n g des seelischen Geschehens. Die Heranziehung der Musik und des Tanzes wird immer stärker, die Anforderungen an Dekorationen und E f f e k t e v e r m a g die zur Alleinherrschaft kommende Saalbtthne immer mehr zu befriedigen. Nach dem Kriege übernimmt man die Kulissenausstattung der Opernbühne. Durch M a s e n wird der fortentwickelte T y p u s festgelegt. Die Aktschlüsse markieren statt der Chorgesänge j e t z t allegorische Ballette. S t u m m e Szenen, die gelegentlich schon innerhalb der A k t e vorkamen, werden als Vorschau über den Inhalt an den A n f a n g jedes A k t e s gelegt. Licht- und Bluteffekte, Verwandlungen und Geister-

JESUITENTHEATER erscheinungen, reichliche B e n u t z u n g der F l u g m a s c h i n e n sind unentbehrlich. Lag Masens B e g a b u n g n a c h der theoretischen u n d komischen Seite, so ersteht in A v a n c i n u s ( 1 6 1 1 —1686) der führende D r a m a tiker. D i e Wiener A u l a b ü h n e w i r d der S c h a u p l a t z für sein großes T h e a t e r t a l e n t , das in d e n Festvorstellungen f ü r den kaiserlichen Hof [ludi caesarei) m i t allen Mitteln der überaus üppigen A u s s t a t t u n g p r u n k v o l l , doch n i c h t geschmacklos zu w i r k e n v e r s t a n d . A u f dem W e g e der V e r o p e r u n g schritt die folgende Zeit weiter, der im K ö l n e r R e k t o r P a u l A l e r (1654 bis 1727) ein f r u c h t b a r e r Verfasser v o n D r a m e n und O p e r n entstand. N u n m e h r wird es d u r c h g e h e n d s üblich, den historischen S t o f f e n den nicht m e h r so u n m i t t e l b a r deutlichen G e h a l t abzuziehen und als allegorische H a n d l u n g j e d e m A k t v o r s p i e l m ä ß i g v o r a n z u s c h i c k e n . So v e r d o p p e l t sich das S t ü c k gleichsam, besonders w e n n zur allegorischen H a n d l u n g gar ein biblischer S t o f f v e r w e n d e t wurde. A u c h die Balletteinlagen s o w i e selbständige Intermedien innerh a l b der A k t e beginnen die F o r m zu sprengen. D a d u r c h w i r d die klassizistische R e a k t i o n seit den 50 er J a h r e n des 18. Jhs. begreiflich, wie sie sich bei F r a n z N e u m a y r ( 1 6 9 7 — 1 7 7 5 ) , A n t o n Claus (1691 — 1754), I g n a z W e i t e n a u e r (1709—1788) u n d A n dreas F r i z ( 1 7 1 1 — 1 7 9 0 ) zeigt. D a m i t aber h o b sich das J . als eigenartigen Bedingung e n entsprossenes G e w ä c h s selbst auf.

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(mit' rcichenf Liteiaturargaben). Ders. Jakob Gretser und sein Drama 1912. Ders. Jakob Bidermann und das Jesuitentheater, Die Kultur III (1903) S. I44ff. M. S a d i l Jakob Biderman. Progr. Wien 1900. N. S c h e i d Avancini als Dramatiker. Progr. Feldkircb 1913. Ders. Jakob Balde als Dramatiker, Historisch-politische Blätter CXIII (1904) S. 18ff. Ders. Friedrich Längs Büchlein über die Schauspielkunst, Eupb. VIII (1901) S. 57—67. Ders. Der Jesuit Jakob Mosen (1. Vereinsschrift der Gfirresgesellschaft) 1898. B . D u h r Christoph Brenner und Jakob Masen, Festschr. d. Marzellen-Gymn. Kein 1911. S. 98 bis 107. A. F r i t z Paulus Adler, ebd. S. 123—39. N. Nessler Dramaturgie der Jesuiten Pontanus, Donatus und Masenius. Progr. Brixen 1905. W. Flemming.

JesuUentheater.

' D i e Jesuitenbühne h a t zwei grundverschiedene T y p e n entwickelt, die sich w ä h r e n d des 30jährigen K r i e g e s ablösen. § I. D i e k u b i s c h e S i m u l t a n b ü h n e . D a ß in der ersten Generation e t w a bei Gretser f ü r eine A u f f ü h r u n g in L u z e r n 1586 ('Nicolaus v o n U n t e r w a i d e n ' ) die b e k a n n t e mal. A n l a g e mit Häusern begegnet, wie sie gerade f ü r L u z e r n in jener Zeit belegt ist, aber anderseits a u c h die T e r e n z b ü h n e ben u t z t wird, beweist, d a ß der Orden keinen neuartigen K a n o n m i t b r a c h t e . Allerdings ergibt Gretsers ' E r w e c k u n g des L a z a r u s ' (Freiburg 1584) wie die Münchner ' E s t h e r ' (1577) einen andersartigen T y p u s , der als der eigentlich charakteristische f ü r die F r ü h z e i t anzusprechen ist. H i n t e r einer vorhanglosen, langgestreckten Vorderbühne, die neutralen C h a r a k t e r h a t , sind mehrere Innenräume nebeneinander kuB. D u h r Geschichte der Jesuiten I (1907) bisch-simultan angeordnet. Sie sind jeder S. 325—356; II 1 (1913) S. 657—703. A. B a u m durch einen V o r h a n g v e r s c h l i e ß b a r v o r g a r t n e r Geschichte der Weltliteratur IV (1905) S. 629—643. E. W e l l e r Die Leistungen der d e m P u b l i k u m , d a s o f f e n b a r nur v o r der Jesuiten auf dem Gebiete der dramatischen Kunst, V o r d e r b ü h n e ähnlich w i e h e u t e A u f s t e l l u n g Serapeum XXV(1864); XXVII(i866). P . B a h l n i m m t . Voneinander getrennt und seitlich tnann Das Drama der Jesuiten, Euph. II (1898) S. 271—294. K . K a u l f u ß - D i e s c h Unterf l a n k i e r t werden sie d u r c h T ü r e n , die v o n suchungen über das Drama der Jesuiten im 1J. Jh., unbewegbaren Vorhängen verschlossen Arch. f. n. Spr. C X X X I (1914) S. I—17. J. Z e i d werden. E s herrscht also n o c h das Prinzip ler Studien und Beiträge tur Geschichte der Jeder Gleichzeitigkeit der S c h a u p l ä t z e , allersuitenkomödie und des Klosterdramas (TheatergeschF. 4) 1891. Ders. Jesuiten und Ordensleute dings einer beschränkten. Jene i m Freien als Theaterdichter, Blätter d. Ver. für Landesa u f g e f ü h r t e n geistlichen Spiele besitzen kunde von Niederflsterreich X X V I I (1893) nämlich drei Innenräume, die zweite GeneS. 142ff.; X X V I I I (1894) S. 12ff. L. P f a n d l Einführung in die Literatur des Jesuitendramas ration mit B i d e r m a n n k o m m t dagegen bei in Deutschland, GRM. II (1910) S. 445—456. ihren A u l a a u f f ü h r u n g e n in München m i t A. D ü r r w ä c h t e r Das Jesuitendrama und die zweien aus. Diese w a r e n in bescheidenem literaturgeschichtliche Forschung am Ende des M a ß e a u s g e s t a t t e t u n d k o n n t e n — vielleicht Jhs., Historisch-politische Blätter CXXIV (1899) durch W a n d b e h ä n g e — v e r ä n d e r t werden. S. 276—293, 346—364, 414—427. J. E h r e t Das Jesuitentheater tu Freiburg i. d. Schw. 1921 Die in R o m in den 40er J a h r e n des 1 7 . Jhs.

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JESUITENTHEATER

aufgeführten Stücke von Josef Simon zeigen das Grundschema dadurch weitergebildet, daß der mittlere Innenraum rasch veränderlich ist, also wohl Telari oder sogar Kulissenausstattung besaß. Dasselbe letzte Entwicklungsstadium dieser Simultanbühne findet sich nach 1700 in Oberammergau und hat sich im wesentlichen dort heute noch genau erhalten. § 2. D i e K u l i s s e n b ü h n e . Während de3 30jährigen Krieges lassen sich die Anfänge des entgegengesetzten Prinzips, der Nacheinanderfolge (Sukzessionsbühne), ermitteln. Rasch verließ man die nur durch Vorhänge umschlossene Tapetenbühne. Balde setzt einen gemalten Schlußprospekt voraus für den hinteren, durch einen Vorhang verhüllbaren Teil (Hinterbühne) der sonst wohl nur mit Stoffen behangenen Bühne. Masens Stücke verlangen deutlicher sichtbare Dekoration, also Kulissen; doch besaß er vielleicht noch eine Mittelgardine. Diese ist in der Wiener Blütezeit deutlich durch bemalte Schnurrahmen (nach Furttenbachs Ausdruck und Beschreibung) ersetzt. Das übliche Jesuitenstück, wie es in der 2. Hälfte des 17. Jhs. sich zur festen Form herausbildet, verlangt häufige und rasche Veränderlichkeit. Im Wetteifer mit der Oper übernimmt man den Fortschritt zur schief gestellten (Schiebe-) Kulisse (Pozzo) oder die Erweiterung der Bühne in die Tiefe, so daß drei Abschnitte hintereinanderstehen (Grundriß des Augsburger J. 1743). § 3. D i e A u s s t a t t u n g . Die Innenräume der kubischen Simultanb. werden mit einem Bett für Kranken- und Sterbeszenen, mit Tisch und Stühlen für Ratsund Gerichtssitzungen oder Gastmähler, oft mit dem Thron für Staatsszenen, nicht selten als Tempel mit Altären und Götterbildern, also mit Versatzstücken ausgestattet. Für die Darstellung des Himmels oder der Hölle sowie einer Landschaft (Wald, Wüste) dürfte durch einen an der Rückwand aufgehängten Prospekt gesorgt worden sein. Gelegentlich wurde auch lebendiges Buschwerk als Versatzstück noch aufgestellt. Bezeichnenderweise fehlt jeder Anhalt für eine Ausstattung der vorhanglosen Vorderbuhne, da sie ja wechselnde Bedeutung besitzt.

Auch bei der Sukzessionsbühne bleibt sie ohne Versatzstücke, die nun, erweitert durch die oft verwendete Höhle des Zauberers voll seltsamer Requisiten, allein der Hinterbühne zufallen. Dazu kommt neben verschiedenen Landschaften die Meeresdekoration mit (z. T. beweglichen) Wellen und darüber hinziehenden Schiffen. Soffitten sind stets vorhanden. Die ständige Wiederkehr bestimmter Situationen erklärt sich aus einem Normalfundus, den jedes Jesuitengymnasium später besaß: auf den also der Stoff zugepaßt werden mußte. Es sind das neben dem Thronsaal und dem Tempel noch zwei Gemächer, neben dem geschnittenen luftigen Garten der wilde Wald- oder die Einöde, endlich Meer und gelegentlich ein Marktplatz. Offenbar konnte durch Kombination zwischen Kulissen und Hintergründen manche Abänderung geschaffen werden. Besonders kam 6s auf die Häufigkeit der Verwandlung an, 12 — 15 Male dürfen als üblich bezeichnet werden, selbst bei wenigen Dekorationen (3—6). Hinzu kommt neben Blitz und Donner die Benutzung von Versenkungen und besonders ausgiebig die von Flugmaschinen, die meist als Wolke, doch auch als Fabeltier gestaltet sind. Musik und Gesang sowie allerlei Geräusche hinter der Bühne treten hinzu. § 4 . Ä u ß e r e r B e t r i e b . Gespielt wurde im Freien nur bis zu Beginn des 30jährigen Krieges, dann nur noch als lokaler Brauch, meist auf dem Schulhof. Selten fanden die Aufführungen in einer Kirche, im Rathaus oder auf einem Schlosse statt, für gewöhnlich in der Aula. Daneben besaßen seit der 2. Hälfte des 17. Jhs. die größeren Gymnasien eine Übungsbühne für die monatlichen declamationes. Die eigentliche Aufführung fand in der Frühzeit zu Beginn des neuen Schuljahres, Anfang Oktober, statt, später wegen der Erweiterung der Herbstferien am Ende des alten Schuljahres Anfang September. Daneben wurden die kleineren Aufführungen auf besondere Tage gelegt, etwa den Namenstag des Heiligen der Schülersodalität. Ungewöhnliche festliche Anlässe, besonders Besuche von weltlichen oder kirchlichen Fürsten wurden

JESUITENTHEATER nach Möglichkeit durch eine Festaufführung verherrlicht, da die Schüler ja stets in Übung waren. Vorzüglich in der Frühzeit erstreckte sich ein Drama über mehrere Tage. 4 bis 5 Stunden erachten die Erlässe als genügend für die Dauer einer Aufführung, doch wurde diese Zeit nicht selten beträchtlich überschritten, trotzdem nach der Generalprobe und auch nach der ersten Aufführung noch gekürzt wurde. Wiederholungen (2—5) sind üblich. Wegen des großen Andranges sondert man das Publikum in besondere Schichten; den Frauen wird später meist eine besondere Vorstellung eingeräumt. Die erste, zu der die Gönner und Honoratioren persönlich eingeladen wurden, endete mit feierlicher Prämienverteilung. Zur Vorbereitung des Publikums wurden seit den letzten Jahren des 17. Jhs. Programmhefte (in 4 0 meist), „Periochen, Synopsen" genannt, mit Angabe des Inhaltes für jede Szene, lat. und dt. oder auch nur dt., verteilt (300—600 Auflage). Die Zahl der Darsteller ist stets groß, selten unter 100, da die Aufführung ja eine öffentliche Probe für die Erziehung zur Weltgewandtheit war. Außer der Begabung sprach bei der Rollenbesetzung die Herkunft mit. Natürlich waren es alles Jesuitenzöglinge. Gelegentlich waren Hauptrollen mit Studenten oder jungen Lehrern besetzt. In der Spätzeit verstärkte man das eigene Orchester durch Stadtmusikanten und zog für die Ballette einen bewährten Tanzmeister heran. Dessen Name sowie die der Spieler wurden am Ende der Perioche meist gedruckt. § 5. V e r b r e i t u n g . Die Verbreitung des Ordens und damit seines Theaters geht äußerst rasch vor sich seit den 50 er Jahren des 17. Jhs., und gemäß der Propagandawirkung wird meist sofort gespielt. An wichtigen Schulbühnen besaß die niederrheinische Provinz Köln, Aachen, Trier, Paderborn, Hildesheim, Düsseldorf, Bonn, Koblenz, Münster und Osnabrück. Die oberrheinische Provinz scheint keine großen theatralischen Leistungen hervorgebracht zu haben; es kommen nur Speyer, Aschaffenburg, Worms, Mainz und Molsheim (bei Straßburg) in Betracht; dazu gehören

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auch Bamberg und Würzburg. Führend ist durchaus das baiuwarische Gebiet, nämlich Bayern und Österreich. Neben München stehen in der oberdt. Provinz Dillingen und Ingolstadt, Eichstätt sowie Augsburg, Regensburg, Ulm, Straubing mit der Schweiz, besonders Freiburg i. Ü. Die schlesischen Collegs, wie Glatz, Glogau, Breslau, Neiße schließen sich an die österreichische Provinz; Wien steht im Mittelpunkt, daneben strahlt Innsbruck auf Tirol aus, Graz auf Steiermark. Die großen Städte besaßen alle ihre Schulbühnen. § 6. W i r k u n g . Die Wirkung des J . reicht weit über die Mauern ihrer Collegien hinaus. Die reichen Stifte Österreichs werden mitgezogen und leisten für die Oper Großes, besonders Kremsmünster (Rettenbacher), St. Florian und Lambach. Der Benediktinerorden wird im Ganzen fortgerissen, mit dem prunkvollen Theater seiner Universität Salzburg voran. Die oberschwäbischen Klöster bilden im 18. J h . besonders ein rokokohaftes Singspiel aus. Ebenso segeln die Piaristen ganz im Fahrwasser der Jesuiten. Wie volkstümlich die Darbietungen des Ordens waren, offenbart die Form des Volkstheaters in Oberbaiern und Tirol sowie in Wien. Oberammergau zeigt noch 1700 die typische Form des Jesuitendramas, gespielt auf der kubischen Simultanbühne, die wegen der Kulissenausstattung der Mittelbühne dem Typus von Josef Simon am nächsten steht. Endlich ist der Einfluß auf das protestantische Theater und Drama nicht zu verkennen. Allein bei Gryphius ist er genauer untersucht. Sowohl der Hamburger Pastor Joh. Rist wie der Zittauer Schulmeister Christian Weise rühmen die Theaterkunst des Ordens. Lohenstein und sicherlich Hallmann sind ihm verpflichtet. Wieweit auch spätere noch die Einwirkung zeigen (Collin, Denis, Zacharias Werner), entzieht sich noch unserer Kenntnis. Hat der Orden rasch und viel genommen — besonders von Italien die Kulissenbühne und die Oper, das Ballett später unter frz. Einfluß —, so hat er auch reichlich weitergegeben als ein Glied der großen lebendigen Entwicklung des Theaters im 17. und 18. J h .

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JOURNALISMUS W. F l e m m i n g Gesch. d. Jesuitentkeaters in den Landen dt. Zunge (Schriften d. Ges. f. Theat.Gesch. 32) 1923. P. B a b l m a n n Das Jesuitendrama d. Niederrhein. Ordensprovine (5. Beih. z. ZblfBblw.) 1896. A. F r i t z Das Aachener Jes.-Gymnasium. Progr. Aachen 1906. J. E h r e t Das Jes.-Theater zu Freiburg i. d. Schw. I 1921. A. D ü r r w ä c h t e r Aus der Frühzeit des Jesuitentheaters nach Dillinger Mss., Jahrb. d. Hist. Ver. Dillingen IX (1896) S. i f f . Ders. Das Jesuitentheater in Eichstätt, Sammeibl. d. Hist. Ver. Eichstätt X (1895) S. 42—102; X V (1896) S. 115—120. R. M ü l l e r Beiträge zur Gesch. des Schultheaters am Gymn. Josephinum in Hildesheim. Progr. Hildesh. 1901. K . v. R e i n h a r d s t ö t t n e r Zur Geschichte des Jes.-Dramas in München, Jahrb. f. Münchener Gesch. III (1889) S. 53ff. A. v. W e i l e n Gesch. des Wiener Theaterwesens I (1899) S. i6ff. J. Z e i d l e r Die Schauspieliätigkeit der Schüler und Studenten Wiens. Progr. Oberhollabrunn 1888. R. P e i n l i c h Geschichte d. Gymn. in Graz. Progr. Graz 1869—1871. R ö d e r Über die Pflege d. Schuldramas am Trierer Gymn., Festschr. des Trierer Friedrich-WilhelmGymn. 1913. S. 275ff. S. M a u e r m a n n Die Bühnenanweisungen im dt. Drama bis 1JOO (Pal. 102) 1911. S. 102—139. W. F l e m m i n g Das dt. TheaterBd.II 109—117 u.Bd.III. Flemming.

Journalismus. § i. B e g r i f f . J. in der allg. Bedeutung des Wortes ist derjenige Teil des Schrifttums, der in der periodischen Form der Presse erscheint. Indessen ist nicht der gesamte Inhalt der periodischen Presse dem J. zuzurechnen. Der ungeformte Nachrichtenstoff kommt als journalistische Leistung ebenso wenig in Betracht wie etwa der Anzeigenteil oder etwa der nur als Unterhaltungsstoff zu wertende Teil. Der journalistische Stil zeichnet sich dadurch aus, daß er der periodischen Erscheinungsform der Presse angemessen ist: Kürze und Prägnanz des Ausdruckes, Individualität des Schreibenden, das Bezogensein auf das gegenwärtige Allgemeininteresse, auch auf den Gebieten, wo von den rebus publicis nicht gesprochen wird. Eine analytische Betrachtung wird die mit der Herausgabe der journalistischen Produktion befaßten Personenkreise nicht außer acht lassen dürfen, als da sind: Herausgeber, Verleger, Redaktionspersonal, Korrespondenten, freie Publizisten. Soweit es sich um Organe handelt, die nicht lediglich publizistischen Zwekken des Herausgebers dienen, insbesondere also bei der Tagespresse, d. h. dem Zeitungsgewerbe, drängen sich von selbst die wirtschaftlichen Bedingungen auf, denen die

journalistische Produktion unterliegt (vgl. d. Art. Zeitung). — Eigenartig und bedeutsam ist ferner die Wirkung der journalistischen Produktion auf das Publikum (vgl. d. Art. Öffentliche Meinung und Zensur). § 2. Ganz allmählich, stufenweise haben sich die einzelnen Merkmale der journalistischen Form der Presse entwickelt: die P e r i o d i z i t ä t ist immer kurzfristiger geworden. Neben die volkstümliche Literatur der nicht-periodischen „Neuen Zeitungen", die wenige Jahrzehnte nach der Erfindung der Buchdruckerkunst ihren Anfang nahm, traten etwa 100 Jahre später die Anfänge der periodischen Literatur hervor: die nicht weniger volkstümlichen Kalender und die ebenfalls jährlich erschienenen 'Postreuter', die in schlechten Versen, oft dialogisch, die politischen Ereignisse des Jahres, lokale Vorkommnisse, Naturerscheinungen u. a. berichteten. Ebenfalls in der 2. Hälfte des 16. Jhs. kamen die periodischen (halbjährlichen) Meßrelationen auf, die im wesentlichen periodische Zusammenstellungen von Nachrichten aus den „Neuen Zeitungen" waren. Wenige Jahre später, in den 80 er Jahren des 16. Jhs., tauchten die ersten Monatshefte auf, in denen politische Begebenheiten in ähnlicher Weise zusammengestellt waren. Ins 1. Jahrzehnt des 17. Jhs. fallen dann die frühesten bekanntgewordenen politischen Wochenblätter. Fünf Jahrzehnte später (1660) erschien in Leipzig die erste politische Tageszeitung. Das Bedürfnis nach A k t u a l i t ä t des Inhalts der journalistischen Leistungen entwickelte sich naturgemäß in enger Verbindung mit der aus dem regelmäßigen Boten- und Postverkehr hervorgegangenen politischen Nachrichtenpresse: den Wöchentlichen oder Ordinari-Zeitungen. In den übrigen Formen der Journalliteratur trat dieses Bedürfnis nach Aktualität zeitweise völlig zurück. Entweder war dann die periodische Erscheinungsweise lediglich eine beliebte Form des buchhändlerischen Vertriebes literarischer Erzeugnisse, oder die Journale waren Ablagerungsstellen für gelehrtes Material, soweit es „curieux" oder noch nicht „gesammelt" war. Für die Literatur ist dieser Teil des Schrifttums ebenso wie die bis in die Mitte des 18. Jhs. im wesent-

JUNGES

DEUTSCHLAND

Schweiz: Gründung des „Jungen Europa". Tendenz dieser republikanischen Verbindungen ist: Kampf der jungen Freiheit gegen die alte Sklaverei, der jungen Gleichheit gegen die alten Privilegien. Mazzini, der geistige Vater des Ganzen, verkündet Völkerverbrüderung, aber auch Bewahrung der Nationalität, da er der individuellen Veranlagung jedes einzelnen Volkes eine eigene Mission im Befreiungskampf vindiziert. Seine Lehre trägt dazu bei, den heimatlosen Liberalismus des europ. Kontinents national zu machen und konkret zu lokalisieren. Aufkommen eines nationalen Liberalismus an Stelle des früheren vagen Philhellenismus, der Polenbegeisterung usw. Mazzinischen Ideen huldigen damals auch die zahlreichen Organisationen von Handwerksburschen (damals neben den geflüchteten Liberalen die Hauptträger der demokratischen und revolutionären Ideen) in der Schweiz: Lese-, Sing- und Debattierklubs. Pflanzstätten für das politische Junge Deutschland. Dieses wird nach wechselvollen Schicksalen, ohne zufolge der Unfähigkeit der Führer konkrete Resultate gezeitigt zu haben, aufgelöst. — Die revolutionären Tendenzen dieser politischen Vereine erzeugen eine eigene Literatur, eine revolutionäre Sturmlyrik. Diese Dichtung tritt als wirksames Agitationsmittel neben Flugschrift und politische Broschüre; sie ist durchaus exoterisch und populär, in Inhalt und Form den unteren Schichten angepaßt, völlig unliterarisch, gänzlich heteroästhetisch und protreptisch. Diese revolutionäre Poesie ist in den 30 er Jahien politisch, in den 40er Jahren sozialistisch und kommunistisch. Fruchtbarster Revolutionsdichter ist Harro Harring: 'Deutsches Mailied', 'Hundert Handwerker' (die meisten dieser Lieder sind zum Zweck der Massenwirkung volkläufigen Melodien untergelegt), Sammlung 'Blutstropfen' 1832. Im gleichen Jahr erscheint die Sammlung revolutionärer Lyrik verschiedener Autoren: 'Männerstimmen zu Deutschlands Einheit'; weitere Sammlungen 'Der Zeitgeist', 'Vaterländische Lieder' (Beiträge von Sauerwein, Siebenpfeiffer, Harring; Stoffe: Revolution, Fürstenmord, Republik). Revolutionsdramatik: Harrings dramatisches Gedicht

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'Die Völker', Walter Bergs Schauspiel 'Die Bürger' (1831). — Diese massenaufwiegelnde Revolutionsdichtung ist nicht mit den esoterischen Liberalitätsdiskussionen der literarischen Jungdeutschen zu verwechseln, die sich doch — trotz aller belletristischen Popularisierung ihrer Ideen — vornehmlich an die Intellektuellen wenden, zwar eine allgemeine, auch politische Neuorientierung fordern, aber nirgends zu offenem Aufruhr reizen. Sie ist auch von der „politischen Lyrik" der 40er Jahre verschieden, deren ästhetischer Gehalt bedeutend ist. — Eine Verbindung des politischen und literarischen Jungdeutschland zeigt sich in G e o r g B ü c h n e r , der von Gutzkow entdeckt und gefördert wurde (demokratischer Agitator, sozialrevolutionäre Flugschrift 'Der hessische Landbote'. Sein Drama 'Dantons Tod': einziges bedeutsames Werk aus den Kreisen der aktiven liberalen Politiker). L i t e r a t u r zu §§ 4—6: H. v. T r e i t s c h k e Deutsche Gesch. im ig. Jh. IV. Bis zum Tode König Friedr. Wilh. I I I . (Staatengeschichte d. neuesten Zeit 27) 1889. P. N e r r l i c h Herr v. Treitschke u. d. Junge Dld. 1890. K . G l o s s y Literarische Geheimberichte aus d. Vormärz (SA. a u s G r i l l p . J b . X X I — X X I I I ) 1912. F . M e i n e c k e Weltbürgertum u. Nationalstaat 1908. A. W a h l Die französ. Revol. u. das ig. Jh., ZsfPolitik I (1908) S. 1 5 7 f f . G. M a y e r Die Junghegelianer u. d. preuß. Staat, HistZ. C X X I (1920) S - 4 i 3 f f . J . J . H o n e g g e r Literatur u. Kultur des ig. Jhs. 2 i88o. L. G e i g e r Das Junge Dld. u. die preuß. Zensur 1900. D e r s . Das Junge Dld., Studien u. Mitteilgen, o. J . (1907). E . H a r s i n g W. Menzel u. d. Junge Dld. Diss. Münster 1909. H. B 1 o e s c h Das J. D. in seinen Beziehungen zu Frankreich 1902. F. K a i n z Euph. X X V I (1925) S. 388 ff.

Innere Geschichte des Jungen Deutschland. Literarische Entwicklung. § 7. Die jgd. Produktion beginnt, als sich im Gefolge der Julirevolution das Bedürfnis nach einer geistigen, politischen und sozialen Neuorientierung geltend macht. Unter Einfluß dieses Ereignisses geben Gutzkow und Laube ihr Theologiestudium auf, um als freie Schriftsteller den Forderungen des Tages dienen zu können. Jungdeutsch wird die Literaturepoche erst dann, als sie unter den Einfluß der Tendenzschriften Börnes und Heines gerät und die Abhängigkeit von früheren Mustern (Klassik, Romantik) abschüttelt. An-

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JOURNALISMUS

die Schranken einer nur zünftigen Gelehrsamkeit zu beseitigen, und das Ziel einer nationalen Bildung aufgestellt. Besonders seine 'Kleinen dt. Schriften' zeigen, wie er den moralischen Wochenschriften den Boden bereitet hat. Trotzdem lassen sich diese auf Thomasius ebensowenig zurückführen wie etwa auf Leibniz, Spener oder Wolf; sie sind entstanden auf dem Boden der Aufklärung, inmitten eines Bürgertums, das die wirtschaftlichen Folgen des großen Krieges ebenso zu überwinden begann wie orthodoxe kirchliche und zunftmäßige Gebundenheit. Dieser Gebundenheit entwuchsen das Individuum und sein von autoritativen Fesseln befreiter Zusammenschluß: die Gesellschaft. Die neue geistige Macht, die sie beherrschte, war die öffentliche Meinung, deren Organe zunächst ebenfalls gesellschaftliche Bildungen waren: die moralischen Wochenschriften. Der Aufstieg des Bürgertums aus den von der Sitte umhegten überkommenen Formen des Gemeinschaftslebens führte in die leichte Welt des galant komme, zur Nachäffung fremder Lebensformen. Dem traten die moralischen Wochenschriften entgegen, die über Hamburg aus England zu uns gekommen sind. In England hatte Lockes Schüler, der jüngere Shaftesbury, dieser Literatur Bahn gebrochen, indem er es unternahm, philosophische und moralische Probleme in leicht faßlicher und gefälliger Form zu behandeln, um ein größeres Publikum für philosophische Fragen zu interessieren. In den Jahren 1709—1713 erschienen die von Steele und Addison herausgegebenen engl. Vorbilder der dt. moralischen Wochenschriften: der 'Tatler', 'Spectator', 'Guardian'. Bereits im Jahre 1713 erschien in Hamburg die erste dt. moralische Wochenschrift: 'Der Vernünfftler'; seine erste Nummer beginnt mit dem 'Vorbericht des Übersetzers', in dem erklärt wird, daß an den Realien zwar nichts verändert, von einer völligen Übersetzung aber abgesehen worden sei. Der Herausgeber Mattheson bemerkt mit Genugtuung, daß er von dem engl. Autor, dem er seine „Traduction" übermittelte, ein „Approbationsschreiben" erhalten habe. Wie die meisten der späteren moralischen Wochenschriften wird bereits der 'Ver-

nünfftler' als das Produkt einer Gesellschaft vorgestellt. Das häusliche und das gesellschaftliche Leben wird nach dem engl. Vorbild lebendig vorgeführt. Liebe und Ehe, Kindererziehung, die Formen des gesellschaftlichen Umgangs werden nicht nur theoretisch erörtert, sondern an Charakteren aus dem Leben veranschaulicht. Geiz und Verschwendung, Koketterie und Prüderie, Fanatismus und Pedanterie, politische Kannegießerei werden an drastischen Beispielen verspottet. Nach dem engl. Muster wird, wie in den bekanntesten späteren moralischen Wochenschriften, der Katalog einer Frauenzimmer-Bibliothek mitgeteilt, wie überhaupt der Verfasser sich der weiblichen Welt besonders empfiehlt. Im übrigen wendet er sich an jeden, der die Welt als eine Schaubühne betrachtet und „gern einen rechten goût von den agierenden Personen haben" wollte. Von politischen Erörterungen selbst hielt er seine Leser fern; wichtiger sei es, sich selbst kennenzulernen als zu hören, was in Moskau oder Polen vorgehe. Aus dieser gänzlich unpolitischen Einstellung erklärt sich die ungehemmte Verbreitung der moralischen Wochenschriften. Sie besaßen in dieser unpolitischen Einstellung die breiteste Grundlage für einen erfolgreichen buchhändlerischen Vertrieb, den keine Zensur beeinträchtigte. Infolge dieser bewußten Beschränkung ist dann später mit der fortschreitenden Politisierung der Gesellschaft der breite Strom der moralischen Wochenschriften in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. versandet. Der 'Vernünfftler' ist mit dem 100. Stück eingegangen. Sein Herausgeber hatte gemeint, daß ein solches Werk nicht den Erfolg erwarten könne wie in England oder Holland. Das war unter den weiteren Nachahmungen zuerst der 1721 —1723 in Zürich erschienenen Wochenschrift 'Diskurse der Mahlern' beschieden, die auch außerhalb der Schweiz Verbreitung fand. Ihre Herausgeber Bodmer und Breitinger gaben sie als Produkt einer Sozietät von gleichgesinnten Männern aus, die gemeinsam die Redaktion besorgten. Der 'Spectator' war ausdrücklich als Muster genannt. Anonym, wie die bisherigen, erschien auch die bedeutendste moralische Wochenschrift Deutschlands:

JOURNALISMUS 'Der Patriot' (1724—1726), der aus der Patriotischen Gesellschaft in Hamburg hervorging. Zu den Mitarbeitern gehörten die angesehensten Männer der Stadt, Senatoren, Gelehrte, Dichter, darunter Brockes. Aus dem natürlichen Recht, der Sittenlehre, der Staats- und Haushaltungslehre wurde der Stoff genommen und ,,durch gemeinsame Bearbeitung reif gemacht". Als rechtschaffener Patriot will der Herausgeber bei der dt. Nation das Amt des Zensors übernehmen. Auch der 'Patriot' erblickt in den Herausgebern des 'Spectator' und des 'Guardian' seine Vorgänger, mit denen er in London „vertrauliche Freundschaft gestiftet" habe. Brokkes Wurde von Zeitgenossen der „zweite Addison" genannt. Gottsched pries in den 'Vernünfftigen Tadlerinnen' in überschwenglichen Worten den Herausgeber des 'Patrioten'. In den 'Briefen zur Beförderung der Humanität' wurden neben Bodmer und Breitinger die Hamburgischen Patrioten als Reformatoren des Geschmakkes bezeichnet, denen Deutschland zu Dank verpflichtet sei. In verschiedenen Städten bildeten sich Patriotische Gesellschaften, die dem Herausgeber Beiträge sandten. Zur Einsendung geeigneter Beiträge wurde durch Preisausschreiben aufgefordert. Die Schriften für und wider den 'Patrioten' erschienen zu Dutzenden. § 6. Die weitere Entwicklung wurde von Leipzig aus, dem Hauptquartier des dt. J., bestimmt. Mit den hauptsächlich von Gottsched geschriebenen 'Vernünfftigen Tadlerinnen' (1725—1726) erhielt die der gesellschaftlichen Bildung und Erziehung dienende journalistische Literatur eine entscheidende Wendung: durch die Aufnahme der „deutschübenden" Bemühungen poetischer Zirkel und Gesellschaften wuchs aus der moralischen Wochenschrift die l i t e r a r i s c h - ä s t h e t i s c h e Z e i t s c h r i f t . Die moralische Wochenschrift alten Stiles schlug in kaum übersehbarer Masse — bald auch auf die Intelligenz- oder Anzeigenblätter übergreifend — eine volkstümlich-belletristische Richtung ein, deren letzte Ausläufer noch im I. Jahrzehnt des 19. Jhs. deutlich erkennbar sind. Die literarisch-ästhetische Richtung griff im letzten Drittel des 18. Jhs., in der Zeit

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des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und der Frz. Revolution, vorsichtig tastend, auf das politische Gebiet über, um sich lebensfähig zu erhalten. In den 'Vernünfftigen Tadlerinnen' sind die Requisiten der moralischen Wochenschriften noch ziemlich vollständig erhalten, selbst die „Frauenzimmer-Bibliothek" ist nicht vergessen. Gottsched, der schon in den 'Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen', dem Ableger der 'Acta eruditorum', journalistische Erfahrungen gesammelt hatte, hat seine erfolgreichen journalistischen Bemühungen, „die gemeinsten Sachen auf eine veränderte und neue angenehme Art vorzutragen", in seiner Zeitschrift selbst charakterisiert. Noch vor Abschluß der 'Vernünfftigen Tadlerinnen' kam seine neue Zeitschrift 'Der Biedermann' (1726—1729) heraus. In ihr war das literarisch-ästhetische Element noch deutlicher erkennbar, das dann in den 'Beyträgen zur critischen Historie der dt. Sprache, Poesie und Beredsamkeit' (1732—1744) als einer Fachzeitschrift ausschließlich behandelt wurde. Die weitere Ausbildung des literarisch-ästhetischen Journals als Monatsschrift aber brachten die 'Belustigungen des Verstandes und des Witzes* (1741 —1745), das von Schwabe herausgegebene Organ der Gottschedischen Schule. Die Tradition der moralischen 'Wochenschriften ist auch hier noch deutlich erkennbar, durchaus nicht allein wegen der Beiträge Gellerts, dessen Wirken den Höhepunkt der auf die Erziehung und Bildung der Gesellschaft gerichteten literarischen Bestrebungen bildet. Wie stark die Literatur der moralischen Wochenschriften das Feld noch beherrschte, zeigen nicht bloß die immer zahlreicher entstehenden v o l k s t ü m l i c h e n moralischen Wochenschriften, sondern auch die Übersetzungen der engl. Vorbilder, unter denen die von der Gottschedin unternommene Übersetzung 'Der Spectator' in 9 Bänden (1739—1743) hervorragt. Die Vorherrschaft der moralischen Journalistik war indessen mit den 'Belustigungen' gebrochen. Fabel und Lehrgedicht, Satire und Ode, Anakreontik und Schäferpoesie fanden nunmehr auf journalistischem Gebiet eine Pflege und Verbreitung, wie sie außerhalb der journalistischen Form kaum denkbar

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gewesen wäre. Als 1744 einige Mitarbeiter unter Gärtners Führung die Bremer Beiträge als 'Neue Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes' (1744 bis 1748) von dem Organ Gottscheds abzweigten, da war trotz aller Bemühungen des Redakteurs Schwabe das Schicksal der 'Belustigungen' besiegelt. Neben Zachariä, Mylius, Cramer fanden sich Geliert und Rabener ein, Klopstock folgte 1748 mit den ersten drei Gesängen des 'Messias*. Von den Schweizern begünstigt, übernahm die neue Zeitschrift schnell die Führung. Eine stetige Entwicklung ist dieser Journalliteratur aber nicht beschieden gewesen. Dazu war sie zu sehr auf den Zusammenhalt der Herausgeber angewiesen, und dieser war von allerhand Schicksalen und Zufälligkeiten abhängig. Die Voraussetzungen zu einer stetigen Entwicklung waren vielmehr erst dann gegeben, wenn zu den geeigneten Herausgebern eine gewandte geschäftliche Leitung sich gesellte. Das beweisen die Journalunternehmungen von Cotta, Bertuch und Nicolai. Zunächst war es der aus dem Buchhandel hervorgegangene Friedr. Nicolai, der als Publizist wie als Geschäftsmann der literarischen Journalistik eine neue Richtung wies. E r stellte seine Journale auf eine breitere Basis. Mit Unterstützung von Lessing und Moses Mendelssohn gründete er die 'Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste* (1757—1765), deren Leitung 1759 Christian Felix Weiße übernahm. Als 'Neue Bibliothek' hat sie noch bis 1806 bestanden. Besondere Beachtung wurde dem Theater zuteil. Die Vielseitigkeit des Journals verfehlte ihre Wirkung nicht, aber sie führte naturgemäß mehr in die Breite als in die Tiefe. Als 1758 Lessing mit einem neuen Journalprojekt an Nicolai herantrat, griff dieser schnell zu und gab seit 1759 die 'Briefe, die neueste Literatur betreffend' heraus. Damit hatte er das führende kritische Journal Deutschlands geschaffen. Die Notwendigkeit und Bedeutung einer nationalen Dichtkunst wurde hier aufs neue dem gebildeten Publikum vorgestellt. Mit dem Eingehen der 'Briefe' hatte Nicolai bereits eine neue Zeitschrift, die 'Allgemeine Deutsche Bibliothek' (1765 bis 1806), geschaffen, die auf breitester

Grundlage die gesamte Nationalliteratur umfassen sollte. Ein Kreis von bedeutenden Mitarbeitern hatte sich dem neuen Unternehmen zur Verfügung gestellt, darunter Herder, Merck, Musäus, Ersch, Biester, Schlözer. Die dt. Aufklärung zog hier gegen alles zu Felde, was dem gesunden Menschenverstand zuwider war. Daß Nicolai sein Verfahren jahrzehntelang aufrechterhielt, auch dann noch, als die jüngere Generation andere Wege ging, hat schließlich den Mann lächerlich gemacht, dessen journalistische Wirksamkeit nach den Worten eines kundigen Zeitgenossen eine wahre Revolution in allen Teilen der Kultur, ja in der ganzen Denkungsweise des dt. Volkes hervorgebracht hatte. Gegenüber dieser Wirkung auf die Masse der Gebildeten ist die journalistische Literatur der Sturm- und Drangzeit und der Romantik nur Episode geblieben. Das gilt von Gerstenbergs 'Briefen über Merkwürdigkeiten der Literatur' (1766—1767) ebenso wie von den 'Frankfurter Gelehrten Anzeigen', aus deren langer Lebensdauer eigentlich nur das J a h r 1772 für die Literaturgeschichte in Betracht kommt. Eine flüchtige Erscheinung waren auch die 'Blätter von Deutscher Art und Kunst', die Möser in Gemeinschaft mit Herder und Goethe 1773 herausgab. Eine breitere Basis und deshalb eine längere Lebensdauer hatte die unter Mitwirkung von Bertuch und Wieland gegründete 'Allgemeine Literaturzeitung' in Jena (1785—1832), weil sie sich, zunächst wenigstens, nicht in den Dienst einer Partei stellte. An ihr haben Schiller, Kant, W. v. Humboldt, Körner, A. W. Schlegel mitgearbeitet. Noch bevor sie mit ihrem Herausgeber, dem Jenaer Prof. Schütz, nach Halle übersiedelte, war Goethe (1803) um die Gründung eines neuen Organs bemüht, das Träger der Weimarer und Jenaer literarischen Interessen werden sollte und unter der Leitung des Prof. Eichstädt als 'Jenaische LitteraturZeitung' (1804—1848) erschien. Das Politische wurde unter Goethes Einfluß beiseitegelassen. § 8. Indessen hatten das Auftreten Friedrichs des Großen, der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, die Französische Revolution das politische Inter-

JOURNALISMUS e3se und das nationale Bewußtsein geweckt. Die freieren politischen Zustände in England und besonders in Holland, dessen periodische Presse in Deutschland weit verbreitet war, wirkten in gleicher Richtung. O Die immer mehr in die Breite gehende Berichterstattung der politischen Nachrichtenblätter forderte die politische Urteilsbildung, die ihrerseits ein Bedürfnis nach journalistischer Äußerung und Wirkung hervorrief. Die politischen Nachrichtenblätter waren im wesentlichen auf Berichte von Tatsachen beschränkt. Die zahlreichen neuen politisch-historis c h e n J o u r n a l e suchten das politische Interesse zu fesseln durch Anknüpfung an die zur „galanten Wissenschaft" gewordene Staatskunde. Auf diesem Wege konnten an der Hand von mehr oder weniger umfangreichen aktuellen Aktenstücken politische Erörterungen in journalistischer Form veröffentlicht werden. Dem akademischen Publikum konnte in dieser Form der halbgelehrten Journalliteratur manches aufgetischt werden, was in der politischen Nachrichtenpresse und in den volkstümlichen politisch-historischen Journalen streng verpönt war. Unter den letzteren sind vor allem Faßmanns 'Gespräche im Reiche der Toten' zu erwähnen, die zuerst 1718 in Leipzig herauskamen und noch in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. eine ganze Flut von Nachahmungen hervorgerufen haben. Der Erfolg der Faßmannschen Journale, in denen der als vornehm geltende schwülstige Stil bevorzugt wurde, erklärt sich aus der journalistischen Gewandtheit, mit der der Verfasser moralisierende Tendenzen in pikanter Weise vorzutragen verstand, wobei geschickt alle3 vermieden wurde, was Obrigkeit und Kirche hätte verletzen können. Die Sensationslust und die Begierde weiter Kreise, einen Einblick in die Lebensart der obersten Schichten der Gesellschaft zu erlangen, verstand der Verfasser zu befriedigen. Die auftretenden Redner erzählen ihre Lebensschicksale. Am Ende jedes Gesprächs tritt eine Person auf, welche die mit letzter Post aus der Welt gekommenen Zeitungen verliest, worauf die „diskurierenden hohen Häupter" eine politische Erörterung beginnen. Die politisch-historische

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Zeitschrift wurde auf diese Weise zum Zeitungssurrogat. Die der politischen Nachrichtenpresse vorbehaltene politische Berichterstattung wurde auf diesem Wege in die Journale eingeschmuggelt. Die geschmacklosesten Kombinationen, wie z. B. Nero und Herzog Alba, wurden den Lesern vorgesetzt. Vorbild waren die bereits 1683 in Paris erschienenen 'Nouvaux Dialoglies des Morts'. Die Beliebtheit dieser Form ist daran zu erkennen, daß selbst ernsthafte diplomatische und politische Erörterungen zur Zeit des Siebenjährigen Krieges als 'Gespräche im Reiche der Toten' herausgegeben wurden, um ihre Verbreitung zu fördern. § 9. Das erwachende politische Bewußtsein des Bürgertums stellte auch an die literarischen Journale neue Ansprüche. Die P o l i t i s i e r u n g d e r l i t e r a r i s c h e n J o u r n a l i s t i k setzt deutlich erkennbar in den 70 er Jahren des 18. Jhs. ein. Der 'Teutsche Merkur' Wielands (1773—1810) eröffnete eine ganze Reihe literarisch-politischer Journale. Mit Begeisterung wurden hier die revolutionären Vorgänge in Frankreich besprochen. Das 'Deutsche Museum' von Dohm und Boie (1776—1791) konnte sich dieser politisierenden Tendenz ebensowenig entziehen wie Göckingks 'Journal von und für Deutschland' (1784—1792) oder die 'Berlinische Monatsschrift' von Gedike und Biester (1783—1811), an der Ramler und Gleim, Justus Moser, Georg Forster, die Brüder v. Humboldt, Fichte und Kant mitarbeiteten. Den Höhepunkt der politischen Journalistik bedeuten Schubarts 'Deutsche Chronik' (1774—1777), Schlözers 'Briefwechsel' und 'Staatsanzeigen' (1776—1794) und neben Friedrich Karl von Mosers 'Patriotischem Archiv' (1784—1790) die Journale, die Weckherlin (1778—1788) herausgab. An dieser Journalistik bildete sich eine öffentliche Meinung, die bald als eine Macht erkannt wurde, an der die Regierungen nicht vorbeigehen konnten. Die Richtung dieser Journalliteratur war ziemlich eindeutig. Von den größeren Journalen war von Anfang an eigentlich nur die 'Wiener Zeitschrift' (1792—1793) gegen die Anfänge der revolutionären Bestrebungen gerichtet. Man schrieb in Wien

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von einer „allg. Verschwörung unter den dt. Gelehrten zugunsten der Revolution", wobei Herder als einer ihrer „wütigsten Verteidiger" bezeichnet wurde. Gegenüber dieser Politisierung des dt. Bürgertums hatten die den Tagesströmungen abgewandten Journalunternehmungen Goethes und Schillers einen schweren Stand. Schillers 'Hören' und 'Rheinische Thalia' erschienen dem Publikum ebenso unzeitgemäß wie das 'Athenäum' der Brüder Schlegel oder Goethes 'Propyläen'. Den Bestrebungen zur „Beförderung wahrer Humanität" blieb der Erfolg ebenso versagt wie dem romantischen Bildungsideal oder der Flucht aus der politisierenden Gegenwart in das Reich der Kunst. Den Geschmack des Publikums traf dagegen der geschäftskundige Bertuch in Weimar mit seinem geschickt redigierten 'Journal des Luxus und der Mode* und der 1798 begonnenen illustrierten Zeitschrift 'London und Paris'. Wie ihr Muster, die seit 1795 in Altona erscheinende Zeitschrift 'Frankreich', gab sie auf Grund von zuverlässigen Korrespondenzen wertvolle Einblicke in die engl, und frz. Zustände. Demgegenüber konnten die literarischen und politischen Journale wie das 'Berlinische Archiv der Zeit und ihres Geschmackes' (1796—1800) oder 'Geschichte und Politik' nicht aufkommen. Eine längere Lebensdauer hatte die Leipziger 'Zeitung für die elegante Welt', die bald das führende Organ der Romantiker wurde. Hier wurde Schiller von Kotzebue kritisch zerpflückt, Goethe mitunter kritiklos verhimmelt, von Caroline Schlegel in wortreichen Rezensionen der Ruhm ihres Gatten gefördert, bis Kotzebue in einem eigenen Berliner Organ 'Der Freimütige' (1803—1806) mit der Weimarischen literarischen Diktatur in ebenso geschickter wie boshafter Weise abrechnete. Das politisierende Journalunternehmen Johannes Falks in Weimar wurde nach kurzem Bestehen auf Goethes Einspruch 1806 verboten. Unpolitisch war dann die weitere Journalliteratur: das 'Morgenblatt für gebildete Stände* (1807 ff.), das nach dem Plane Friedrich Cottas zuerst als eine internationale Rundschau angelegt war und auch Fragen der politischen Ökonomie behandeln sollte. Die Schwäbische Dichter-

schule mußte sich mit der erfolgreichen, ihre künstlerischen Ziele zunächst ablehnenden Zeitschrift abfinden. Erfolglos bemühten sich Heinrich von Kleist und Adam Müller um ihr literarisch-kritisches Organ 'Phoebus, ein Journal für die Kunst', das 1808 in Dresden herauskam. Redaktionelles Ungeschick und die Angriffe auf Goethe brachten das Unternehmen schon im folgenden Jahre zu Fall. Ebenso schnell verschwand die 1808 von Achim v. Arnim in Heidelberg herausgegebene 'Zeitung für Einsiedler'. Selbst die Unterstützung durch Brentano, Görres, Jacob Grimm, Kerner, Uhland und die Brüder Schlegel vermochte ein größeres Publikum nicht zu fesseln, das eine Stellungnahme zu den großen Fragen der Zeit erwartete. § 10. Die V o r b e r e i t u n g der g e s e l l s c h a f t l i c h e n und nationalen Selbstb e s t i m m u n g war es, die dem J . einen neuen Auftrieb verschaffte. Das dt.Weltbürgertum hatte fast einmütig die neuen Ausblicke begrüßt, welche die ausländischen Freiheitsbestrebungen seinem staatlichen und gesellschaftlichen Leben zu eröffnen schienen. Wie stark diese Einflüsse waren, zeigen die Äußerungen des jungen Görres zugunsten einer cisrheinischen Republik. Selbst der maßvolle Schlözer hatte angesichts der revolutionären Ausschreitungen in seinen 'Staatsanzeigen' über die Vorgänge in Paris geschrieben: „Krebsschäden heilt man nicht mit Rosenwasser." — Görres rief im 'Rothen Blatt' (1798) wie im 'Rübezahl' die öffentliche Meinung auf zur Befreiung von obrigkeitlicher Bedrückung, gleichviel unter welcher Staatsform sie sich zeige. Schon hier wendete er sich scharf gegen die Anmaßung, unter der die frz. Befreier an der Grenze auftraten. Der preuß. Zusammenbruch 1806 fand in dem Kriegsrat Friedrich von Cölln einen Kritiker, der in seiner 1807—1808 erschienenen Zeitschrift 'Feuerbrände' mit rücksichtsloser Schärfe die Schwächen des alten Systems aufzeigte und für eine Erneuerung der staatlichen und gesellschaftlichen Zustände eintrat. Ähnliche Ziele verfolgten Friedr. Perthes in Hamburg mit seinem 'Vaterländischen Museum' und Brockhaus mit den 'Deutschen Blättern' und den 'Landwehrblättern' (1813—1815), während Kotzebues

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Zeitschriften 'Die Biene' (1808—1809) und für die gebildeten Stände', in dessen 'Lite'Die Grille' ( 1 8 1 1 — 1 8 1 2 ) bereits den Über- raturblatt' Adolf Müllner sich kritisch ausgang zu den mannigfachen Unterhaltungs- tobte, oder die seit 1833 von Laube gejournalen vermitteln. Der freie nationale leitete 'Zeitung für die elegante Welt' und Ton, den Görres unter dem Beifall des die von Brockhaus nach engl. Muster herausganzen Vaterlandes in seinem 'Rheinischen gegebene Zeitschrift 'Hermes' (1818), die Merkur' (1814) angeschlagen hatte, miß- auch politische Tagesfragen behandelte. fiel in dem Maße, als er sich den inneren Trotz aller Vorsicht konnte selbst Brockhaus dt. Verhältnissen zuwandte und der allg. Zusammenstöße mit der preuß. Regierung Enttäuschung über das Ausbleiben des nicht vermeiden. Das von ihm 1820 politischen Fortschrittes Ausdruck gab. aus Weimar übernommene 'Literarische Im Jahre 1816 mußten der 'Rheinische Wochenblatt' mußte wiederholt unter anMerkur' und ebenso die 'Deutschen Blätter' derem Titel weitergeführt werden. Schriftvon Brockhaus ihr Erscheinen einstellen. stellern wie Heinrich Heine, für deren ProDem Wartburgfest und der Ermordung duktion die journalistische Form der Presse Kotzebues folgten als Antwort der Re- der natürlichste Boden gewesen wäre, bot gierungen die Karlsbader Beschlüsse, die sich kein Organ, dessen sie sich ungehindert der Presse aufs neue Fesseln anlegten. Die hätten bedienen können. Im Berliner 'Gesellschafter' konnten seine Gedichte politischen Nachrichtenblätter, die eben im Begriff waren, sich aus farbloser Be- nur „gereinigt" gedruckt werden, und auch die 'Harzreise', die ebenda erschien, konnte richterstattung zu Organen einer freien journalistischen Publizistik zu entwickeln, erst nach mancherlei Hindernissen die fielen wieder in den Zustand der lediglich Zensur passieren. Nicht viel anders erging referierenden politischen Wochenblätter des es ihm im Cottaschen 'Morgenblatt', das 18. Jhs. zurück. Die Journalliteratur ver- unter Wilhelm Hauffs Leitung eines der mochte nur dürftig das widerzuspiegeln, beliebtesten dt. Journale geworden war, was die Nation erfüllte. Blätter wie Lu- oder als Pariser Berichterstatter der Augsdens 'Nemesis* (1814—1818) oder Okens burger 'Allgemeinen Zeitung'. Dafür hatten 'Isis' (1816), die einen nationalen und frei- Literaten vom Schlage Müllners und Saheitlichen Ton anschlugen, verletzten selbst phirs freie Bahn und konnten in eigenen in Weimar. Dem Herausgeber der 'Ne- Organen ihre zweifelhaften Produktionen ins Publikum tragen, Müllner in der mesis' empfahl Goethe, die Welt ihren Gang gehen zu lassen. Der Verfasser der 'Hekate' und im 'Mitternachtblatt', Sa'Isis' mußte 1819 seine Stellung an der phir in der 'Berliner Schnellpost' und im 'Berliner Courier'. Eine literarische BeUniversität Jena aufgeben. Diese Hemmungen hatten schließlich den Erfolg, deutung haben die Blätter insofern, als sie daß der J . in neue Bahnen geleitet wurde. in den journalistischen Stil eine größere Meister des journalistischen Stils, wie Flüssigkeit brachten und das m o d e r n e Börne und Heine, suchten nunmehr auch Z e i t u n g s f e u i l l e t o n vorbereiten halfen, in Deutschland in feuilletonistischer Form das Ende der 30 er Jahre vor allem in der unterm Strich das auszusprechen, was 'Kölnischen Zeitung' eingeführt wurde. Die überm Strich, im politischen Artikel, ver- starke politische Erregung, die in den 30 er Jahren durch Deutschland ging und im pönt war. So entstand aus dem Wust von belletristischen Notizen und Unterhaltungs- Jungen Deutschland (s.d.) nach gesellschaftstoff das Zeitungsfeuilleton, das die Be- licher und politischer Selbstbestimmung ziehung zur Zeitgeschichte nicht verleugnet. drängte, kam vornehmlich in der JournalDie neue Form vermochte indessen ebenso- literatur zum Ausdruck. In viel höherem wenig Börnes 'Wage* wie den 'Zeitschwin- Maße als die politische Nachrichtenpresse gen' eine längere Lebensdauer zu ver- wurde sie zum Träger der öffentlichen Meischaffen. Das konnte nicht einem tempera- nung. „Journale sind unsere Festungen", schrieb damals Heinrich Heine. Als Gutzmentvollen Publizisten gelingen, sondern nur einem kühl rechnenden Verleger. Das kow und Wienbarg eine neue Zeitschrift, die 'Deutsche Revue', gründeten, fühlte sich zeigen deutlich das Cottasche 'Morgenblatt



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Wolfgang Menzel in seiner Stellung als Leiter des 'Literaturblattes' bedroht und eröffnete jenen ebenso erfolgreichen wie berüchtigten Pressefeldzug zur gewaltsamen Unterdrückung des Jungen Deutschland, der ihm als „Denunzianten" einen Platz in der Literaturgeschichte gesichert hat. Gutzkow hat nach seiner Gefängnishaft seit 1837 den 'Telegraph für Deutschland' bei Campe in Hamburg herausgegeben, bis die preuß. Regierung 1841 den ganzen Verlag Campes in Preußen verbot. Mäßigend versuchten Rankes 'Historisch-politische Zeitschrift* und Görres 'Historisch-politische Blätter* auf die allgemeine Stimmung einzuwirken. Die großdeutsche Richtung vertraten 'Die Grenzboten', die Kuranda, später Julian Schmidt und Gustav Freytag herausgaben. Ebenfalls in den 40 er Jahren erschien die 'Dt. Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben' von Karl Biedermann, die für Selbstverwaltung und konstitutionelles Staatsleben unter preuß. Führung eintrat. Großer Volkstümlichkeit erfreute sich die seit 1843 erscheinende Heldsche Wochenschrift 'Lokomotive, Volksblatt für tagesgeschichtliche Unterhaltung', die einen freieren Ton anschlug, dafür aber nach dem ersten Jahre abgeschafft wurde. Nicht weniger bedenklich erschien den Konservativen das Organ der ,,JungHegelschen Rotte", die 'Halleschen Jahrbücher', die Arnold Rüge und Echtermeyer seit 1838 herausgaben. Daß sie die Befreiung der Geister vorbereiten und der dt. Revolution den Boden ebnen würden, ist von ihren Gegnern vorausgesagt worden. Ihren Verfolgungen ist das Journal 1843 erlegen. Der zuletzt von Paris aus unternommene Versuch Ruges, die Zeitschrift gemeinsam mit Karl Marx als 'DeutschFranzösische Jahrbücher' über die Grenze zu bringen, scheiterte. § II. Unter diesen Umständen geriet selbst in dem breiten Strom der j o u r n a listischen Unterhaltungsliteratur manches Blatt in die Klippen der Zensur. Schon auf die Ankündigung des 'Leuchtturm, Monatsschrift zur Unterhaltung und Belehrung für das dt. Volk', wonach auch Tagesfragen besprochen werden sollten, wurde das Erscheinen des

Blattes in Leipzig untersagt. Die Zeitschrift erschien dann von 1845—1848 nacheinander in sechs verschiedenen dt. Städten. Nach der Revolution wagte sich ihr Herausgeber Ernst Keil wieder nach Leipzig, wo sein Blatt 1849 endgültig verboten wurde. Keil gab wenige Jahre später den vielgelesenen 'Illustrierten Dorfbarbier' heraus. Ebenfalls illustriert erschienen seit 1847 der 'Berliner Charivari, redigiert von Satan', und der nicht weniger satirische Hamburger 'Mephistopheles' von Marr, mit hervorragenden lithographierten Karikaturen. Zu den Mitarbeitern des 'Mephistopheles' gehörte der jugendliche Julius Stettenheim. Charakteristisch für die journalistische Unterhaltungsliteratur ist schließlich noch die von öttinger (1843 bis 1852) bei Reclam herausgegebene Wochenschrift 'Leipziger Charivari'. Die Hauptsache an dem Blatte waren nicht die den ersten Teil der Blätter füllenden Erzählungen, Plaudereien und Aufsätze über die ausländische Presse, sondern die Unmenge der aus der Presse aller Länder unter der Rubrik 'Zapfenstreich' und 'Katzenmusik' zusammengetragenen Notizen über gesellschaftliche und politische Angelegenheiten. Diese außerordentlich beliebte Zeitungsrevue kennzeichnet das Unternehmen öttingers als typisches Zeitungssurrogat. § 12. Wie die Literatur der moralischen Wochenschriften zu Anfang des 18. Jhs. nach engl. Vorbilde in Deutschland Eingang gefunden hatte, so ist 100 Jahre später das Aufkommen der i l l u s t r i e r t e n U n t e r h a l t u n g s j o u r n a l e auf engl. Einflüsse zurückzuführen. Bei den moralischen Wochenschriften kam das Volkstümliche in der Massenhaftigkeit der Journale zum Ausdruck. Ihre Herausgeber waren betriebsame Journalisten, aber keine Geschäftsleute. Die Einführung der illustrierten Journale ist dagegen Sache der Verleger gewesen. Wenige Jahre nach dem Erfolg des engl. 'Penny Magazine' erschien (1833) das dt. 'Pfennig-Magazin', das sich, wie sein engl. Vorbild, als Organ einer Gesellschaft vorstellte und es in kurzer Zeit auf mehr als 50000 Abnehmer brachte — ein damals unerhörter Erfolg. Dieser gründete sich nicht zum letzten darauf,

JUGENDLITERATUR daß (wie bei den moralischen Wochenschriften) alles Politische und kirchlich Konfessionelle sorgsam vermieden wurde. Historische, geographische und naturwissenschaftliche Beiträge füllten die wöchentlich erscheinenden Hefte. Sie waren zunächst fast ausschließlich mit engl. Holzschnitten illustriert und brachten Bilder aus aller Welt, nur keine dt. Der Erfolg des Unternehmens aber gab den Anstoß zur Vervollkommnung des jahrhundertlang vernachlässigten dt. Holzschnittes, so daß J. J. Weber bereits seit dem Jahre 1843 mit dt. Bildern seine 'Leipziger Illustrierte Zeitung' herausgeben konnte. Sein Ziel war die Illustrierung der Tagesgeschichte, die in humoristischer Form seit 1845 v o n den 'Fliegenden Blättern' und in politisch-satirischer Form seit 1848 vom 'Kladderadatsch' aufgenommen wurde. § 13. Das Revolutionsjahr 1848 brachte der politischen Zeitungspresse einen bedeutsamen Aufschwung; die vorhandenen politischen Nachrichtenblätter brauchten sich die Beurteilung der politischen Tagesfragen nicht länger zu versagen. Zahlreiche neue politische Tagesblätter und Journale entstanden. Die Presse wurde Organ der öffentlichen Meinung — sie gab der Volksstimmung und den gemeinsamen Interessen der breiten Schichten des Volkes Ausdruck. Gleichzeitig wurde die Presse zum Organ auch der führenden Kreise in Staat und Gesellschaft, um auf die öffentliche Meinung einzuwirken. In der politischen Tagespresse trat an die Seite des Nachrichtenteiles der Leitartikel. Die journalistische Leistung war nicht länger auf den Raum ,,unterm Strich" verwiesen. Deutlich erkennbar ist die weitere Entwicklung: die journalistische Individualität durchdringt alle „Sparten" der Zeitung. Die journalistische Basis wird immer breiter. Noch am Ende der 30 er Jahre waren große Blätter wie die 'Leipziger Allgemeine Zeitung' von Brockhaus „unter Verantwortlichkeit der Verlagshandlung" redigiert. Die Anonymität wird seitdem Schritt für Schritt zurückgedrängt. Selbst der Lokalredakteur ist nicht mehr nur Redaktionsbeamter und Berichterstatter. Der „ Z e i t u n g s s t i l " ist in der großen Presse fast nur noch der Stil der Merlcer-Stmmmler, Reallexikoo n.

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Telegraphenbureaus und Korrespondenzen. Überall sonst bestimmt die persönliche Auffassung und Formgebung den Inhalt. Das Streben der einzelnen Blätter nach Differenzierung und Individualisierung ist nur zu begreiflich angesichts der weitgehenden Zentralisation und der damit verbundenen Uniformität des Nachrichtendienstes. So hat gerade die Konzentration und Mechanisierung der Nachrichtenübermittlung eine Fülle von hochwertigen journalistischen Kräften in Bewegung gesetzt. Der Nährboden dieser journalistischen Entwicklung ist längst nicht mehr die immer mehr in die Breite gehende, belletristischen Unterhaltungsstoff produzierende Journalliteratur, sondern die durch reiche Inserateneinnahmen befruchtete Tagespresse. Sie steht im stärksten Konkurrenzkampf, sie ist in der Lage, die größten Aufwendungen für journalistische Leistungen zu bewilligen und vermag deshalb auch die höchsten Anforderungen zu stellen. Der Weg von Börne und Heine bis zu Peter Altenberg und Alfred Kerr bedeutet eine Entwicklung zur Konzentration der journalistischen Leistung, die der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung des Zeitungsbetriebes entspricht, also „ S t i l " hat. Vielleicht ist J. in diesem Sinne eine der neuzeitlichen, stilschaffenden Lebensäußerungen. R. P r u t z Geschichte des deutschen Journalismus 1845. L. S a l o m o n Geschichte des deutschen Zeitungswesens 1906. w . Schöne.

Jugendliteratur. § 1. Zur J. zählt man in erster Linie die besonders für Kinder geschriebene Erzählung, ferner das Kinderlied, das Märchen und das Bilderbuch, auch dann, wenn es ohne Text erscheint. In neuerer Zeit rechnet man auch d i e Erzählungen und Gedichte zur J., die zwar für Erwachsene geschrieben sind, die sich aber schon für jugendliche Leser eignen. Vielleicht entspricht dieser Zustand, daß die Jugend an der Literatur der Erwachsenen teilnimmt, dem ursprünglichen Verhältnis der Jugend zur Literatur. Denn die Ansätze der J. fallen zeitlich mit den Anfängen der eigentlichen Volksliteratur zusammen. Diese Anfänge liegen am Ausgang des MA., weil die Volksliteratur gebunden war an die Erfindung der Buchdruckerkunst (ca. 1440); sie trat in die Er3

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JUGENDLITERATUR

scheinung in der Form der V o l k s b ü c h e r (s. d.). W i r dürfen vermuten, daß die Volksbücher, die bis auf unsere Zeit eine beliebte J . bilden, schon damals teilweise auch v o n der Jugend gelesen wurden, soweit sie des Lesens fähig war. Der Zustand, daß die Jugend an der Lektüre der Erwachsenen teilnimmt, daß also keine eigentliche J . vorhanden war, dauert im allgemeinen bis zum letzten Drittel des 18. Jhs. §2. Die Zeit der P h i l a n t h r o p e n . Die Entstehung der spezifischen Jugendschrift fällt in die Zeit der Philanthropen, als alle W e l t sich mit Erziehungsfragen beschäftigte. Der Umschwung begann mit dem A u f treten des spezifischen Kinderliedes im J . 1765, als C h r i s t i a n F e l i x W e i ß e (1726—1804) seine 'Lieder f ü r Kinder' erscheinen ließ. Ihm waren die Lieder, die seinen Kindern von der A m m e gesungen wurden, zu sinnlos und abgeschmackt. Seine Lieder dagegen waren dem Zeitgeschmack vorzüglich angepaßt. Die Tugend im allg. und Wohltun, Fleiß, Gehorsam, Dankbarkeit im besonderen wurden besungen. Seine Lieder hatten großen Erfolg, und Weiße hat viele Nachahmer gefunden: J . F. Schmidt, Bertuch, Lossius, Overbeck u. a. Mit dem Kinderbuch zugleich taten sich zwei andere Quellen auf, die zusammen den Ursprung der J . bilden: die A b c - und Lesebücher und die Kinderzeitschriften. B a s e d o w machte den A n f a n g mit seinem 'Kleinen Buch für Kinder aller Stände* (1771), das nach dem Vorbild der Madame de Beaumont moralische Erzählungen enthält. Das regte W e i ß e an, sein 'Neues A b c - B u c h ' zu schreiben. Das beste und verbreitetste Lesebuch aber war R o c h o w s 'Bauernfreund' (1773), kleine, kurze, verständliche Erzählungen f ü r Dorfkinder. A l s 1776 der 2. Teil erschien, erhielten beide Teile den Namen 'Kinderfreund'. K e i n e der vielen Nachahmungen erreichte die Höhe des Rochowschen. Die erste Kinderzeitschrift gründete der Sprachforscher A d e l u n g : das 'Leipziger Wochenblatt für Kinder' (1772). A l s es 1774 einging, unternahm W e i ß e die Fortsetzung unter dem Namen 'Kinderfreund'

(1775). E r gebrauchte den dem engl. 'Spectator' entlehnten Kunstgriff, den ganzen Inhalt als Unterhaltung einer Familie erscheinen zu lassen. E r wußte den T o n seiner Leser gut zu treffen, seine Zeitschrift w a r weit verbreitet. V o n den Philanthropen hat sich besonders J . H. C a m p e (1776—1818) der Jugendschriftstellerei gewidmet. E r begründete die 'Kleine Kinderbibliothek' (1779), schrieb seine bekannte Bearbeitung des 'Robinson Crusoe* und später 22 Reisebeschreibungen. — Dann hat C h r . G . S a l z m a n n (1747—1818) zwei Erzählungen geschrieben: 'Heinrich Glaskopf' und 'Joseph Schwarzmantel oder W a s G o t t tut, das ist wohlgetan'. Beide, C a m p e und Salzmann, verbanden mit ihren Schriften ausgesprochen lehrhafte Absichten. D e m Beispiel Weißes und Campes folgte eine Unzahl anderer Autoren. Wie Pilze nach einem milden Sommerregen schössen die 'Beispiele der Weisheit und der Tugend', die 'Moral in Beispielen', die Sittenspiegel, die Almanache, die Reisebeschreibungen und Kinderdramen u. ä. m. hervor, so daß sich sogar aus dem philanthropischen Kreise selber eine Stimme scharf dagegen erhob. E s war Friedrich Gedike, der im Programm seines Friedrichswerderschen Gymnasiums 1787 scharf gegen den „unabsehbaren Schwärm der Skribbler" schrieb, die „ w i e hungrige Heuschrecken über das neue Feld herfielen und sich berufen glaubten, f ü r Kinder und Schulen zu schreiben". Die Jugendschriftsteller aus dem A n f a n g des 19. Jhs. schließen sich zunächst eng an das 18. J h . an. Im selben Maße jedoch, wie der Rationalismus an Boden verliert, tritt zu den bisherigen moralischen A b sichten das religiöse Moment, das sich um so stärker bemerkbar macht, als die meisten Jugendschriftsteller dieser Zeit Theologen waren. E s sind hier zu nennen C. F . Lossius (1735-1817), J. Glatz (1767-1831), J . A . Chr. Lohr (1764—1823), Fr. Jacobs (1764—1847), Fr. Ph. Wilmsen (1776 bis 1831), Ernst v . Houwald (1778—1845), besonders aber C h r i s t o p h v . S c h m i d (1768—1854). Der letztere wird noch heute gelesen: z. B. 'Die Ostereier' und 'Rosa v o n Tannenburg', und manche v o n seinen

JUGENDLITERATUR kleinen Erzählungen finden sich noch heute in Lesebüchern. §3. D i e Z e i t der R o m a n t i k e r . Wichtiger als die genannten Jugendschriftsteller ist für das erste Viertel des 19. Jhs. die Neubelebung des Märchens (s.d.) und der Sage. Schon Musäus hatte, noch innerhalb der älteren Aufklärungsstimmung, versucht, in seinen 'Volksmärchen der Deutschen* (1782) das Gut zu heben, das im Volke schlummerte: 'Rübezahl', 'Nymphe des Brunnens', 'Libussa', 'Stumme Liebe* u. a. Er benutzte die mündliche Überlieferung, durchsetzte sie aber von seinem noch rationalistischen Standpunkt aus mit witzigen und geistreichelnden Bemerkungen. Als dann die Zeit kam, in der es kein Deutsches Reich mehr gab, da suchte man, was uns aus alter Zeit geblieben war. Etwa um das Jahr 1806 begannen die Brüder J a c o b und W i l h e l m G r i m m ihre Sammlung der 'Kinder- und Hausmärchen' (1. Bd. 1812, 2. Bd. 1814). Sie ließen sich die Märchen erzählen und schrieben sie nach, formten sie auch, wenn es nötig war, neu; besonders Wilhelm Grimm war darin Meister. Zugleich mit den Märchen sammelten sie auch die alten Sagen: Ortssagen (1816), historische Sagen (1818). Schon vor den Brüdern Grimm hatten Brentano und Arnim begonnen, V o l k s l i e d e r zu sammeln; sie erschienen in der Sammlung 'Des Knaben Wunderhom* (l. Bd. 1805, 2. Bd. 1808). Aus dem ersten Viertel des 19. Jhs. sind noch zwei Männer zu nennen: J o h a n n P e t e r H e b e l , der seit 1808 seinen 'Rheinländischen Hausfreund* mit den vielen bekannten liebenswürdigen Erzählungen herausgab, und F r i e d r i c h R ü c k e r t mit seinen 'Fünf Märlein' (1813), die er für sein Schwesterchen dichtete: 'Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt' usw. § 3 . Der A u s k l a n g der R o m a n t i k . In den dreißiger Jahren traten unter der Nachwirkung des erwachten Interesses für das Volkslied einige Kinderlieddichter hervor, die noch heute lebendig sind: Wilhelm H e y (1789—1854) mit seinen '50 Fabeln' (1833), mit den Bildern von Otto Speckter; H o f f m a n n v o n F a l l e r s l e b e n (1798—1874): '50 Kinderlieder' (1843), 'Lieder für das junge Deutschland' (1848),

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'Die Kinderwelt in Liedern' (1852) u. a.; F r i e d r i c h G ü l l (1812—79): 'Kinderheimat in Liedern' (1836); R o b e r t R e i n i c k (1805—52): 'Lieder und Fabeln für die Jugend' (1844), 'Abc-Buch für große und kleine Kinder' (1845), 'Deutscher Jugendkalender' (1849—52). Um dieselbe Zeit schrieb F r i e d r i c h F r ö b e l (1782—1852) seine 'Mutter- und Koselieder'. Seine Lieder samt den vielen sich anschließenden Nachahmungen, besonders aus weiblicher Feder, erfreuen sich als Kindergartenpoesie keiner großen Wertschätzung. Ferner haben wir als Nachklang der romantischen Periode eine reiche Märchendichtung zu verzeichnen. Clemens B r e n t a n o schrieb das 'Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia', 'Von dem Rhein und dem Müller Radlauf' u. a., die erst nach dem Tode des Verfassers (1846) Guido Görres herausgab. F o u q u 6 schrieb seine 'Undine' (1811) und Chamisso den 'Peter Schlemihl' (1814). Dann kam W i l h e l m H a u f f , dessen Märchen in den Jahren 1826—28 als 'Märchenalmanach' erschienen. Den Höhepunkt im Schaffen von Kunstmärchen bedeutet der Däne H a n s Chris t i a n A n d e r s e n (1805—75). Seit 1835 schrieb er seine Märchen für Kinder. Vom Volksmärchen ausgehend, entwickelte sich seine Märchendichtung mehr und mehr zur Märchennovelle. Von den vielen späteren Märchendichtern sind zu nennen: T h e o d o r S t o r m mit seinen 'Märchen aus der Tonne' (1864), E d u a r d M ö r i k e mit den Märchennovellen 'Der Schatz' (1836), 'Der Bauer und sein Sohn' (1839), 'Die Hand der Jezerte' (1841) und 'Das Stuttgarter Hutzelmännlein' (1853). L u d w i g B e c h s t e i n . w a r wie die Brüder Grimm Märchensammler, traf aber in seinen Märchen viel weniger den schlichten Volkston und tat viel aus Eigenem hinzu. 1845 erschien sein 'Deutsches Märchenbuch', 1856 sein 'Neues deutsches Märchenbuch'. G u s t a v S c h w a b und K a r l S i m r o c k versuchten die alten Volksbücher zu erneuern (1836 und 1839). In diese Zeit fällt auch die Tätigkeit der großen Zeichner Menzel, Speckter, Richter. Kommt A d o l f Menzels historische Illustrationskunst weniger für die J . in Frage, so ist O t t o S p e c k t e r dagegen gerade 3*

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durch seine Kinderbücher bekannt geworden, besonders durch seine Holzschnitte zu den Heyschen Fabeln. Wertvoller noch sind seine Bilder zum 'Gestiefelten Kater', zum 'Brüderchen und Schwesterchen* und zu Groths 'Quickborn'. Während seine Bilder ausgesprochen norddeutsches Gepräge tragen, ist L u d w i g R i c h t e r der Mitteldeutsche; von seinen zahlreichen Bilderfolgen und seinen Illustrationen (Volksbücher, Märchen u. a.) kommen viele besonders auch der jugendlichen Phantasie zugute. Zur Generation Richter-Speckter gehört auch der Münchener Maler-Dichter Franz Graf P o c c i mit seinen Kasperlbüchern und seinen Schattenspielen. §4. Die B l ü t e der s p e z i f i s c h e n J u g e n d l i t e r a t u r . In Deutschland war inzwischen eine neue Erzählungsliteratur aufgeblüht: E. T. A. Hoffmann, Eichendorff, Hauff, Alexis, Immermann hatten ihre Romane geschrieben. Auch die nun folgende Jugendschriftstellergeneration stand unter dem Einfluß der Novelle und des Romans. Allerdings nur insofern, als sie die Form der Novelle und des Romans mehr noch als bisher auf die Jugendschrift anwandte. In geistiger und gehaltlicher Hinsicht blieb zunächst alles beim Alten. Von all den Stürmen, die Deutschland, vor allem auch das literarische Deutschland, in den dreißiger und mehr noch in den vierziger Jahren durchtobten, findet sich in der J . auch nicht ein Hauch. Der Einfluß der moralischen und religiösen Epoche der Jugendschriftstellerei wirkte nahezu unvermindert fort. Als Vertreter aus den vierziger Jahren sind zu nennen: G u s t a v Nier i t z (1795—1876) mit seinen zahlreichen und seinerzeit vielgelesenen Jugenderzählungen (seit 1834), der ebenso bekannte und nicht minder fruchtbare F r a n z H o f f m a n n (1814—82), ferner Karl Stöber (1796— 1865), Chr. G. Barth, G. H. v. Schubert, L. Hibeau, dann der vielgelesene und ebenso durch seine Jugendschriften wie durch seine Volkserzählungen bekannt gewordene F e r d i n a n d S c h m i d t (1816—90) und der katholische Jugendschriftsteller W. Bauberger (1809—83). Das Charakteristische ihrer Erzählungen ist eine spannende, zumeist abenteuerliche Handlung. Von irgendwelcher dichterischen Qualität,

von psychologischer Vertiefung, von Charakteristik kann keine Rede sein. Starkes Moralisieren und oft auch fromme Ereignisse finden sich in vielen dieser Erzählungen. In die vierziger Jahre fällt auch das erste Auftreten der vielgenannten und vielgelesenen T h e k l a v o n G u m p e r t (Frau v. Schober 1810—97). Ihre erste Erzählung: 'Der kleine Vater und das Enkelkind', erschien 1843. Aber viel bedeutungsvoller als durch ihre Erzählungen wurde sie durch die Herausgabe des 'Töchteralbums' (seit 1855) und von 'Herzblättchens Zeitvertreib' (seit 1856). Ferner gehören hierher A. Stein (Mary Wulf 1792—1874), O t t i l i e W i l d e r m u t h (1817—77) und Isabella Braun, die 1855 die 'Jugendblätter' begründete. Der geschmackverwüstende Einfluß dieser Backfischgeschichten ist gar nicht zu ermessen. Der Typus der „höheren Tochter" mit den verschrobenen Ansichten vom Leben und von dem, was das Leben wertvoll macht und ihm Inhalt gibt, mit der gefährlichen Hoffnung auf eine glückliche Schickung, besonders in Liebesangelegenheiten, mit dem tändelnden Aufgehen in Kleinlichkeiten und Nichtigkeiten ist sicher kein Erziehungsprodukt, das man als Ideal der Erziehung bezeichnen kann. Die Generation der Kinderliederdichter, die auf Güll und Hoffmann von Fallersleben folgte, zeigt einen bedeutenden Rückgang. Zu ihr gehören Hermann Kletke (1813—86), Karl Enslin (1819—75), Rudolf Löwenstein (1819—91) und G. Chr. Dieffenbach (1822 bis 1901). Ihnen allen ist nur hin und wieder ein gutes Gedicht gelungen. Die folgenden Jahrzehnte wetteifern an Fruchtbarkeit mit den vierziger Jahren. An neuen Jugendschriftstellern treten auf: E l i s e A v e r d i e c k (1808—1907), die insofern bemerkenswert ist, als sie in ihren wenigen Erzählungen (z. B. 'Karl und Maria', 'Roland und Elisabeth') fein beobachtete Züge aus dem Kindesleben wiedergibt und bewußt heimatliches Leben darstellt; ferner Julie Ruhkopf und der bekannte W. O. v. H o r n (Wilhelm Oertel, 1798—1867), der als Volksschriftsteller seine Werte hat, hier aber besonders mit den 72 Bändchen seiner 'Kleinen Er-

JUGENDLITERATUR Zählungen für die Jugend' (1851—59) bedeutsam ist; daneben der kath. Jugendschriftsteller Wilh. H e r c h e n b a c h (geb. 1818), ferner R. Baron, Lina Morgenstern, Clara Cron und die erfolgreiche Clement i n e Helm (Cl. Beyrich, 1825—96) mit ihrem bekannten Werk 'Backfischchens Leiden und Freuden' (1863). Gegen Ende der sechziger Jahre, nach 1864 und 1866, beginnt auch innerhalb der J . die Flut der geschichtlichen Erzählungen zu schwellen. In der großen Literatur waren Riehl, Raabe, Scheffel und Freytag vorangegangen. Auf dem Gebiet der Jugendschrift hatte Ferdinand Schmidt bereits die Wege gewiesen. Auch andere Jugendschriftsteller hatten vereinzelte geschichtliche Erzählungen verfaßt. Die neu auftretenden Schriftsteller aber entnahmen ihren Stoff vorwiegend der Geschichte: A. Kleinschmidt (geb. 1847), G. Hiltl, Franz Otto (Otto Spamer, 1820 bis 1886), Oskar Höcker (1840—94), Ottokar Schupp, R. Roth, L. Würdig u. v. a. Die besten von ihnen, wie z. B. Kleinschmidt in seinen ersten Erzählungen, sind die, bei denen sich die freie Erfindung im Einklang mit der historischen Forschung hält und die auftretenden Personen so charakterisiert sind, daß ihre Worte und ihre Taten als Äußerungen ihres Wesens erscheinen. Alle diese Jugenderzählungen aber leiden unter der Absicht, zugleich belehren und unterhalten zu wollen. Dadurch kommt etwas Zwiespältiges in die Darstellung: die Personen führen Selbstgespräche, sie kommen mit allen möglichen Personen, die für die Zeit von Bedeutung sind, in direkte Berührung, es treten irgendwelche Personen auf und erstatten mündlich oder schriftlich Bericht, alles, um möglichst viel „Geschichte" hineinzubringen. Und alle leiden an der Unfähigkeit, Menschen zu gestalten. Über den Durchschnitt hinaus ragt V. F. W e i n l a n d mit 'Rulaman' (1878) und 'Kunning Hartfest'. — Besondere Beachtung verdient noch J o h a n n a S p y r i (1829—1901), deren 'Heidi'Geschichten noch heute gern gelesen werden. Ihre dichterische Begabung zeigt sich besonders in den landschaftlichen Schilderungen ihrer Schweiz. Heimat, aber auch

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ihre Menschen tragen wirklich individuelle Züge. In den siebziger Jahren tritt neben die historische Erzählung eine Gruppe, die bald die erstere an Zahl und Wirkung überholt: die exotischen Schriften, die Indianergeschichten, die Seeromane, die Kolonialerzählungen. Das Streben der Deut« sehen in die Weite macht sich auch in der Jugendschrift bemerkbar. Von den zahlreichen Schriftstellern seien genannt: S. Wörishöfer, F. Pajeken, A. H. Fogowitz, C. Falkenhorst (St. v. Jezewski) und der vielgelesene Karl May (1842—1912). Alle diese Erzählungen zeigen einen Helden, der alle nur denkbaren Schwierigkeiten überwindet. Es ist dieselbe Technik wie im Detektivroman, wo dem Helden keine Gefahr zu groß, keine Situation zu schwierig ist: mit souveräner Sicherheit, mit nie versagender Kaltblütigkeit, mit übermenschlicher Kraft räumt er alle Schwierigkeiten aus dem Wege. Die am Stoff klebenden Leser begleiten den Helden nimmermüde mit atemloser Spannung auf allen seinen Pfaden. Aus den siebziger Jahren ist noch die beste J u g e n d z e i t s c h r i f t zu erwähnen, die Deutschland besessen hat, die ' D e u t sche J u g e n d ' (i873ff.), hsg. von J u l i u s L o h m e y e r (1835—1903). Von den Mitarbeitern nennen wir Mörike, Groth, Geibel, Gerok, Storm ('Pole Poppenspäler'), Leander, Wildermuth, Schanz u. a. Die Illustrationen lieferten Ludwig Richter, Schnorr v. Carolsfeld, Thumann, Flinzer, Pletsch u. a. Fast die ganze Kinderlied-Dichtergeneration dieser Zeit hat für die 'Deutsche Jugend' geschrieben: Julius Sturm, Viktor Blüthgen, Löwenstein, Trojan, Lohmeyer, Heinrich Seidel. Außer den bereits genannten Zeichnern sind noch zu nennen: Heinrich Hoffmann mit seinem 'Struwwelpeter' (1845), Wilhelm Busch mit 'Max und Moritz' (1858) und 'Hans Huckebein' (1871) u. a., Lothar Meggendorfer, Jul. Kleinmichel, Ludwig v. Krämer, Eugen Klimsch, H. Leutemann, A. Zick, C. Offterdinger, F. Reiß, Grotjohann, Herrn. Vogel, Joh. Gehrts. Aber die Bilderbücher dieser Künstler waren Einzelerscheinungen. — Sonst wurde

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der Bilderbuchmarkt beherrscht durch eine große Menge farbiger Süßlichkeiten: die Augen viel zu groß, der Mund hübsch klein, die Gebärde zumeist nur ausdruckslose Bewegung, zur schönen Pose erstarrt, dazu die „feinen" Farben: hübsche rote Bäckchen und Lippen, reizende blaue Augen, entzückende goldblonde Haare, alles — niedlich und seelenlos. §5. J u g e n d s c h r i f t s t e l l e r der a c h t z i g e r u n d n e u n z i g e r J a h r e . Die Fäden, die in den siebziger Jahren geknüpft sind, reichen noch nicht in die achtziger und neunziger Jahre hinein. In bezug auf die exotische Jugendschrift läßt sich insofern ein Abflauen konstatieren, als neue Schriftsteller sich ihr nicht mehr in so großer Zahl zuwenden. Zu nennen sind höchstens: Joseph Spielmann, Max Fuhrmann, Paul Grundmann, A. Gillwald, Hans v. Zobeltitz. Dagegen standen die historische Erzählung und die Biographie noch in hoher Blüte: Bruno Garlepp, Fedor v. Koppen, Brigitte Augusti, W. Lackowitz, Franz Heyer, Anton Ohorn, Herrn. Tiemann, Jul. v. Pederzani-Weber, D. C. Tanera, R. Bahmann, Otto Richter, W. Noeldechen, I. B. Muschi, R. Münchgesang, K . Rademacher, H. Löbner, O. v. Schaching u. a. Im allg. sind ihre Bücher nach altbewährtem Rezept verfaßt, aber es finden sich auch Werke, die ihren Wert haben, z. B. einzelne von Anton Ohorn, auch von Brigitte Augusti, von Rademacher und Löbner. — Eine gesonderte Stellung nimmt Hermann Brandstädter insofern ein, als er seine Stoffe aus der Heimat und aus der Gegenwart nimmt. Leider ist er nicht Gestalter genug, um Dichtungen zu schaffen. Reich sind die achtziger und neunziger Jahre auch auf diesem Sondergebiet an schriftstellernden Frauen: Emmy v. Rhoden ('Trotzkopf'), Marie Ille-Beeg, Elisabeth Halden, Frida Amerlan, E. Wuttke-Biller, Emmy Giehrl, Cordula Peregrina, Flora Hoffmann-Rühle, Lily v. Muralt, Bertha Clement, Luise Koppen, A. Harten, H. Dransfeld, Marg. Lenk, Else Hofmann, M. v. Felseneck. Hervorgehoben zu werden verdient B e r n h a r d i n e S c h u l z e - S m i d t , die im 'Jugendparadies' einen Sommer ihrer eigenen glücklichen Jugend schildert; von ihren übrigen Erzählungen verdient 'Mit

dem Glücksschiff' erwähnt zu werden. Auch A g n e s S a p p e r ragt erheblich über den Durchschnitt hinaus, besonders mit der 'Familie Pfäffling'. §6. D e r U m s c h w u n g i n d e r J u g e n d s c h r i f t e n b e w e g u n g . Die zuletzt genannten Schriftsteller geben indes dem neuen J h . nicht das Gepräge. Schon für das letzte Jahrzehnt ist eine andere Erscheinung charakteristisch. Die achtziger Jahre hatten den langen erbitterten Kampf um die neue Kunst gebracht. Zwar auf die Produktion der Jugendschriften hatte dieser Kampf zunächst nicht den mindesten Einfluß ausgeübt. Aber die Jugendschriftenkritik hatte gelernt, die neuen Waffen zu gebrauchen. Bisher hatte sich wohl ganz vereinzelt ein hervorragender Mann gegen die Flut der minderwertigen Jugendschriften gewandt, wie Herbart, Wolfgang Menzel, Dr. Kellner, C. Kühner, Berthold Auerbach, O. Willmann. Es gab auch schon Kommissionen, die aus der Überfülle das nach ihrer Meinung Beste auswählten. Aber die eindringende Kritik fehlte. Die setzte ein mit den neunziger Jahren. Zuerst war es L u d w i g G ö h r i n g , der die Erzeugnisse der J . genau so als literarische Kunstwerke betrachtete wie die Werke unserer großen Dichter. G e o r g H e y d n e r verlangte 1891, daß auch im Lesebuch nur der Dichter zu den Kindern reden dürfe. 1892 formulierte H e i n r i c h Wolg a s t die Forderung: Die Jugendschrift in dichterischer Form muß ein Kunstwerk sein. In seinem Buch 'Das Elend der dt. J . ' (1896) begründete Wolgast seine Forderung in umfassender, mustergültiger Weise. Die vereinigten dt. Jugendschriftenausschüsse und ihr Organ, die 'Jugendschriften-Warte' (gegr. 1893), nahmen die neuen Gedanken tatkräftig auf. Es begann zunächst ein Suchen nach solchen Werken der großen Literatur, die schon für die Jugencl lesbar sei. Man fand solche Werke bei Storm, Rosegger, Wildenbruch, Liliencron, Scheffel, Riehl, Alexis, Freytag, EbnerEschenbach, Helene Voigt-Diederichs, Helene Böhlau, Keller, Raabe, Reuter, Auerbach, Sohnrey, Schmitthenner, Kniest, Löns u. a. Es kam hinzu, daß eine Reihe hervorragender neuerer Schriftsteller einige Err

JUGENDLITERATUR Zählungen schrieben, die schon von größeren Kindern gelesen werden können, z. B. August Sperl ('Kinder ihrer Zeit'), Gustav Frenssen ('Peter Moors Fahrt nach Südwest'), Gorch Fock ('Seefahrt ist Not'). Andere Schriftsteller wandten sich bewußt dem Gebiet der Jugendschrift zu, ganz besonders G u s t a v F a l k e , der eine ganze Reihe Erzählungen und Gedichte für die Jugend schrieb: 'Drei gute Kameraden', 'Klaus Bärlappe', 'Herr Purtaller und seine Tochter' u. a. Ferner Max Geißler, Eberhard König, Wilhelm Kotzde, Karl Ferdinands, Wilhelm Lobsien, Gustav Schalk, A. Th. Sonnleitner u. a. Auch einige Schriftstellerinnen sind hier zu nennen: Charlotte Niese, Helene Raff, Elise v. Oertzen, Maria Batzer, Agnes Sapper, Helene Pag6s, Frieda Kraze u. a. Die veränderten Anschauungen in den bildenden Künsten kamen ganz besonders dem B i l d e r b u c h zustatten und veranlaßten eine neue Blüte. Der Aufschwung des Bilderbuchs begann mit dem Auftreten E r n s t K r e i d o l f s . 1898 erschienen seine 'Blumenmärchen', 1900 'Fitzebutze', 1902 'Die Wiesenzwerge', 1908 'Sommervögel'. Das Bedeutende dieser Bücher war, daß hier ein ganz eigener Künstler hinter dem Buch stand, der seine farbigen Bilder eigens für den Druck schuf. Mit dem Beginn des 20. Jhs. trat eine ganze Reihe von Bilderbuchkünstlern auf den Plan. Eine Anzahl Zeichner arbeitete für die 'Jungbrunnen'-Hefte, z. B. Hans v. Volkmann, Franz Stassen, MüllerMünster, Ernst Liebermann, Barlösius, Franz Hein u. a. Dem 'Deutschen Bilderbuch' stellten sich zur Verfügung: J . Diez, Lefler und Urban, A. Münzer, A. Schmidhammer, Kunz, H. Schrödter, A. Jank, E. Oßwald, Fr. Wacik, Johanna Beckmann u. a. Alle diese Künstler haben auch anderweitige Bilderbücher geschaffen. Außer ihnen sind noch zu nennen Karl Hofer, Freyhold, J . Mauder, Gertrud und Walter Caspari. Als Zeichner ragt O t t o U b b e l o h d e mit seinen Bildern zu Grimms Märchen und Sagen hervor. Von den neuesten sind Rolf Winkler ('Der Riese Mugel'), Wacik ('Prinz Eugen'), Wanda Zeigner-Ebel ('Sneewittchen') zu erwähnen.

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Neben dem Bilderbuch hat besonders das Kinderlied Nutzen daraus gezogen, daß wirkliche Künstler sich ihm zuwandten: Gustav Falke, Richard und Paula Dehmel, Karl Ferdinands sind hier besonders klingende Namen. Ihre Kinderlieder zeichnet die Absichtlosigkeit aus, das Kind irgendwie erziehen oder belehren zu wollen; sie wollen lediglich durch Inhalt und Klang und Rhythmus erfreuen. Eine besondere Beachtung verdient noch eine Erscheinung, deren Anfang in den neunziger Jahren liegt. Die Heimatkunst (s. d.) fing an, ihren Einfluß auszuüben. Dieser Einfluß war von besonderer Bedeutung für die Erzählung, die für jüngere Kinder gedacht war. Den Stadtkindern vor allem fehlte es an Darstellungen ihres Lebenskreises. Ilse F r a p a n versuchte zuerst in ganz einfacher Weise das, was das Kind alltäglich umgibt, in kleinen Skizzen wiederzugeben: 'Hamburger Bilder für Kinder'. Ahnliche Absichten wie sie verfolgen H. Scharrelmann ('Aus Heimat und Kindheit', 'Berni'), F. Gansberg und W. Eildermann ('Unsere Jungs'), Rieh. Hennings ('Klein Heini'), Wilh. Scharrelmann ('In Großmutters Haus'). Von Einfluß auf die sprachliche Gestaltung dieser Erzählungen sind Berthold Ottos Arbeiten gewesen, der nachdrücklichst auf die Sprechsprache (Altersmundart) der verschiedenen Altersstufen hinwies. So zeigen sich in den kleinen Erzählungen zwei Einflüsse wirksam: der Gedanke, dem Kind seine Welt zu erschließen, und zwar in einer Sprache, die dem Kind gemäß ist, und die es daher lesend leichter erfassen kann als die Sprache des Märchens, die den Atem des Erwachsenen verlangt. Wie diese Gedanken mit den Gedanken der Arbeitsschule und den Fragen des freien Aufsatzes und der freien Wahl der Lektüre zusammenhängen — das darzustellen, würde den Rahmen dieser kleinen Skizze überschreiten. A. M e r g e t Geschickte d. dt. Jugendliteratur 1867, »1882. H. L . K ö s t e r Geschichte der dt. Jugendliteratur '1920. L. G ö h r i n g Die Anfänge der dt. Jugendliteratur im 18. Jh. 1904. H e i n r i c h W o l g a s t Das Elend unserer Jugendliteratur 1912. H. L . Köster.

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JUNGES DEUTSCHLAND

Junges Deutschland. § I.Definition und Allgemeines. — §3. Der Name. §3. Die Vereinigung. — §4—5. Politische Verhältnisse und äußere Geschichte des J. D. — § 6. Das politische J. D. — § 7—13. Innere Geschichte des J. D. Literarische Entwicklung. — § 14. literarische Einrichtung. — § 15. Gegner. — § 16. Ausländische Einflüsse. — § 17—21. Künstlerische Signatur. — § 22—26. Geistige Signatur. — § 27—30. Konstitutive Ideen und Hauptprobleme.

§ 1. D e f i n i t i o n und A l l g e m e i n e s : „Junges Deutschland" ist Sammelbezeichnung für eine nach 1830 aufkommende Gruppe literaturrevolutionärer Schriftsteller, die, ohne engeren persönlichen und Schulzusammenhang, doch durch gleiche Tendenzen zu einer literarischen Partei geeinigt, die Literatur zum Mittel geistiger Erneuerung machen wollen, sie daher als Vehikel für sozialreformatorische, politisch- und ethisch-liberale Ideen verwenden. Man opponiert den leitenden Strömungen des „Alten Deutschland", kämpft gegen politische Reaktion, lebensabgewandte Romantik, engherzige Orthodoxie und starre moralische Konventionen, denen gegenüber das Programm der nach Erneuerung und Fortschritt verlangenden jungen Generation geltend gemacht wird. Das J. D. ist die Literatur der Übergangszeit von der romantisch-idealistischen, spekulativen Epoche (Kultur der Idee) zur modernen, realistischen Kultur der Erfahrung. Mitglieder, wichtigste Voraussetzungen und Vorläufer: L. Börne und H. Heine; Hauptvertreter und führende Geister: K . F. Gutzkow, L. Wienbarg, H. Laube, Th. Mündt, F. G. Kühne, E. Willkomm. Mitglieder in weiterem Sinn s. § 13. Zeitliche Erstreckung: den Anstoß gibt die frz. Julirevolution. Von 1830— 1840 reicht die eigentlich jgd. Epoche; Houben (s. u.) bezeichnet sie als „Jgd. Sturm und Drang", doch verwendet man besser mit Schweizer diese Bezeichnung nur für den revolutionärsten Abschnitt der jgd. Epoche (1830—1835) vor dem Bundesbeschluß und dem um diese Zeit einsetzenden Stilwandel, der die Poesie nicht mehr vorwiegend Tendenzträgerin sein läßt. Das Jahrzehnt von 1840—1850 ist jgd. in weiterem Sinn: die jgd. Richtung herrscht nicht mehr unbedingt wie in der ersten Zeit, wo die bedeutenderen Dichterpersön-

lichkeiten hinter dieser das unmittelbare Tagesinteresse okkupierenden Gruppe zurücktraten, sondern muß sich mit anderen Strömungen (politische Lyrik u. a.) in die Herrschaft teilen. Die auf 1848 folgende politische Enttäuschung der Restaurationszeit, die Übersättigung des Publikums mit politischen Phrasen bereiten das Ende der jgd. Literatur vor. Immerhin finden sich auch noch nach 1848 bedeutsame Ausklänge jgd. Ideen (namentlich im kulturkritischen Zeitroman). Epoche des Ausklangs: bis 1860. Vorher schon hat der erstarkte poetische Realismus (s. d.) die Führung übernommen. J. P r o e l ß Das Junge Dld. 1892. G. B r a n des Die Lit. d.ig. Jhs. in ihren Hauptströmungen Bd. VI = Das Junge Dld. 1891. F. W e h l Das Junge Dld. 1886. H. H. H o u b e n Jungdeutscher Sturm u. Drang 1911.

§ 2. Der N a m e wird durch Wienbarg, der 1834 seine 'Ästhetischen Feldzüge' dem „Jungen Deutschland" widmet, an die b r e i t e r e Öffentlichkeit gebracht. Wienbarg hat den Ausdruck jedoch nicht geschaffen, sondern ist wahrscheinlich durch seinen Verleger Campe zu dieser Widmung veranlaßt worden, der den Ausdruck vielleicht von Gutzkow kannte. Dieser hat ihn von L a u b e ; bei Laube früheste literarische Verwendung (an Max v . Oer 28. 4. 1833 „la jeune Allemagne"); dann bei Gutzkow (an Cotta 2. 11. 1833 und an Menzel 21. 3. 1834). Laube hat jedoch das Wort nicht frei geschaffen, ihm gebührt nur die Priorität in der Analogiebildung, d. h. der Anwendung bereits bestehender Schlagworte [Jeune France, Giovine Italia) auf eine ähnliche dt. Tatsache. Der Ausdruck liegt damals in der Luft. — P o l i t i s c h e W u r z e l n : Ende 1831 wird von dem ital. Demagogen M a z z i n i in Marseille ein politischer Geheimbund La giovine Italia gegründet. Unter Mazzinis Auspizien entstehen 1834 in der Schweiz mehrere revolutionäre Flüchtlingsvereine („das Junge Deutschland", „das Junge Polen") die sich zu einem Gesamtbund („das Junge Europa") zusammenschließen. — L i t e r a r i s c h e W u r z e l n : In Frankreich bezeichnet man nach der Julirevolution die junge frz. Dichterschule als jeune France. Diese Richtung im wesentlichen identisch mit

JUNGES DEUTSCHLAND der Romantik, die ja in Frankreich stark realistische Züge aufweist, in politischer Hinsicht keineswegs reaktionär, nur in ästhetischer Beziehung retrospektiv ist. — In sachlicher Beziehung bestehen zwischen den politischen Geheimorganisationen und dem literarischen Jungdeutschland keine Zusammenhänge, wohl aber terminologisch. Die Duplizität der Namen ist Absicht. Die politischen Schlagworte waren den journalistisch tätigen Jungdeutschen nicht unbekannt; die Giovine Italia mußte Gutzkow und Laube schon von ihrer gemeinsamen Sommerreise nach Oberitalien her vertraut sein. Den Beweis für die politische, den Mazzinischen Bündnissen nachgebildete Herkunft des Namens sieht Houben darin, daß der auf die Literatur bezogene Ausdruck in der ersten Zeit in der frz. und ital. Form auftritt, in der dt. aber erst dann allgemein wird, als auch die politischen Gründungen gleichen Namens schon bestanden oder im Werden waren. Die Jungdeutschen fühlen eine gewisse Analogie zwischen der durch sie repräsentierten neuen Literatur und den politischen Organisationen. Die Regierungen sehen das tertium comparationis im revolutionären, destruktiven Geist. — Der literarische Ausdruck erscheint zuerst bei Laube und Gutzkow im Briefwechsel (erstes Auftreten der dt. Fassung: Gutzkow an Menzel 21. 3. 1834), wird dann auch im Kreis Laubes in Leipzig gebraucht ('Ztg. für die elegante Welt'), durch Wienbarg wird er zum öffentlichen Schlagwort und zum nom de guerre für eine Reihe junger Schriftsteller; Menzels Denunziation, die folgende Polemik und der Bundesbeschluß geben ihm den Charakter eines „Ekelnamens". — Literarische Analogiebildungen: „Junges Österreich", z. T. mit ähnlichem Umfang; „Junges Böhmen", Bezeichnung für junge österr., meist deutsch-böhm. Schriftsteller, die sich in Deutschland aufhalten, um dem österr. Geistesdruck zu entgehen. Politische Analogiebildungen: Young England, Gruppe der Torypartei um Beaconsfield (übrigens auch eine ästhetische Gemeinschaft) ; Jungtürken, Jungtschechen. Programmatische Bedeutung des Wortes 11 J u n g " ( = politisch und geistig liberal, revolutionär), vgl. Verbrüderungsakten des po-

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litischen Jungen Europa (Glossy X L V I I I ) : „Jung ist mehr als ein Wort, es ist ein Programm, es drückt uns allen verständlich aus, daß es hauptsächlich der jungen Generation vorbehalten ist, die Wiedergeburt Europas zu bewirken." Auch Wienbarg versteht unter dem „Jungen Deutschland" zunächst nur die neuerungsempfängliche, fortschrittbegeisterte Jugend, die dem alten (adligen, gelehrten und philiströsen) Deutschland entgegengesetzt wird. — Weitere programmatische Schlagworte: Laubes Lieblingsausdruck ist „ m o d e r n " ( = dasjenige, was den leitenden Tendenzen einer Epoche entspricht). Mündts Schlagwort ist „ B e w e g u n g " ( = Inbegriff des Fortschritts der nimmer rastenden Erneuerung). Auch dieser Ausdruck aus dem politischen Leben bekannt: die süddeutschen Demokraten nannten sich „Partei der Bewegung" (vgl. 'Blätter f. literar. Unterhaltung* 1831: 'Über das Prinzip der Bewegung in der Politik'). Herausforderndes Spiel mit aktuellen, anrüchigen Namen ein jgd. Charakteristikum. Mündts Einleitungsaufsatz im 'Literar. Zodiacus' I (1835) S. I ff. 'Über Bewegungsparteien in der Literatur': Bewegung ist ewiges Naturgesetz; es wirkt als stete Jugend in der Poesie, als auferstehungslustige Nationalkraft im Volksleben, als Systemhaß in der Philosophie. Alle Geistesentwicklung eine Kette revolutionärer Bewegungen. Mündts 'Madonna' nennt sich ausdrücklich ein „Buch der Bewegung". — Synonyma für „ j g d . " sind ferner: die „neue, junge Literatur", „das neue Deutschland". W. F e l d m a n n ZfdWf. X I I I (1911/12) S . 9 i f .

0. Ladendorf Histor. Schlagwörierbuch 1906. S. 151 f.

§ 3. D i e V e r e i n i g u n g . Eine geschlossene Verbindung der jgd. Schriftsteller, ein Schulzusammenhang (wie etwa in der Frühromantik) hat nie bestanden. Die einzelnen Angehörigen der Gruppe sind sich nicht sehr sympathisch, kritisieren einander scharf. Keine Verbündeten, sondern Rivalen und Konkurrenten. Nach dem Bundesbeschluß stellen sie jede Gemeinsamkeit öffentlich in Abrede. Gleichwohl verleiht ihnen die Identität der zentralen Ideen sowie die Gemeinschaft ihres Kampfes gegen dieselben Objekte der Ab-

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neigung die Geschlossenheit einer literarischen Partei. Die Jgd. sind zu sehr darauf bedacht, ihre eigene Persönlichkeit durchzusetzen, als daß eine Vereinigung möglich gewesen wäre, doch hat man eine solche angestrebt. Im August 1835 verbinden sich Gutzkow und Wienbarg zur Herausgabe einer Zeitschrift, die ein Zentralisationspunkt aller jungen Literaturbestrebungen werden sollte. Auch Laube plant Ähnliches mit der 'Ztg. f. d. eleg. Welt'. Am stärksten ist das Bedürfnis des Zusammenschlusses bei Mündt, der bestrebt ist, einen Vereinigungspunkt herzustellen für alles, „was in Deutschland jungen Kopf und junges Herz hat". Er plant einen Bund junger Schriftsteller, der nicht bloß eine Standes- und Berufsorganisation sein sollte, sondern eine innere, auf Gesinnungsgleichheit beruhende Gemeinschaft, an der Gutzkow, Schlesier, Kühne und wohl auch Laube und Wienbarg teilgenommen hätten. 1835 kommen verschiedene jgd. Schriftsteller nach Frankfurt a. M., so daß wenigstens vorübergehend eine lokale Einigung stattfindet. Der Wunsch eines engeren Zusammenschlusses spricht sich auch in verschiedenen Briefstellen aus, die die Vereinigung als fast vollendet hinstellen und durch diese verfänglichen und zuviel besagenden Äußerungen bei den Behörden den Glauben erwecken, es bestünde tatsächlich eine geschlossene Organisation der jungen Schriftsteller. P o l i t i s c h e V e r h ä l t n i s s e und ä u ß e r e G e s c h i c h t e des J u n g e n D e u t s c h l a n d . § 4. Das Jahr 1830 ist ein Wendepunkt in der Geschichte Mitteleuropas. Mitten in das ständige Anwachsen der Reaktion in allen Ländern erfolgt die gewaltsame Entladung der gehemmten Liberalitätstendenzen durch die Julirevolution. Von da an neues Erwachen und Aktivwerden des Liberalismus und politischen Radikalismus. Seit der Enttäuschung am Ende der Befreiungskriege (Verweigerung der versprochenen Volksrepräsentation und Konstitution, an Stelle deren eine Fürstenrepräsentation im Frankfurter Bundestag die erstrebte dt. Einheit symbolisieren soll) gewöhnt man sich mehr und mehr daran, in Frankreich den Hort des Liberalismus zu sehen. Das nationale Ideal, die Gallo-

phobie der Befreiungskriege schwinden und machen einem wärmster Franzosenfreundschaft Raum lassenden Kosmopolitismus Platz („Heilige Allianz der Völker"), der sich nach der Julirevolution zu ausgesprochener Franzosenbegeisterung steigert. Wenngleich sich die große Masse in Deutschland mit dem Absolutismus abgefunden hat, herrscht doch in den Reihen der Intellektuellen tiefer Mißmut gegen das durch Metternich verkörperte reaktionäre Regime. In diese Gärung wirft die Julirevolution, deren Ideen in Deutschland durch zahlreiche Schriften propagiert werden, den zündenden Funken. Es kommt zu einer Reihe von Aufständen in Braunschweig, Hessen, Hannover, Sachsen, Bayern, Württemberg, die die Regierungen zu anfänglichen Konzessionen nötigen, aber bald Ursache zu verschärftem Druck werden. Es bleibt bei kleinen Erneuten von durchaus lokalem Charakter; eine nationale Gesamterhebung zeitigt die Julirevolution nur in Polen. Polenenthusiasmus der in der Verwirklichung ihrer Freiheitsideen gehemmten dt. Liberalen: eine Demonstration gegen das absolute Regime und eine Abreaktion eigener Wünsche. Damals zwei Oppositionsparteien in Deutschland: die L i b e r a l e n (fordernverfassungsmäßige Reformen ohne fremde Einmischung, eine konstitutionelle Monarchie: „Keine Freiheit ohne Vaterland") und die r a d i k a l e n D e m o k r a t e n (wollen eine Republik mit Hilfe Frankreichs, Revolution: „Kein Vaterland ohne Freiheit"). Beiden gemeinsam ist die Forderung eines einheitlichen Deutschen Reiches und das Auftreten gegen den Partikularismus, in dem Metternich die Garantie für die Fortdauer der Ruhe und Ordnung erblickt. Die Forderung der Reichseinigung wird damals schon in kleindeutschem Sinn entschieden (P. P f i z e r s 'Briefwechsel zweier Deutschen* 1831 tritt für preuß. Hegemonie ein), doch kommen die eigentlichen Jgd. niemals völlig von einer großdeutsch angehauchten Stimmungspolitik los. — Die geistig führende Oberschicht Deutschlands erhält durch die frz. Ereignisse stärkste Impulse: Aufflammen der liberal-oppositionellen Betätigung, wachsendes Interesse für politische Zeitfragen (Aufblühen der Tagespresse), po-

JUNGES DEUTSCHLAND litische Organisation und Parteienbildung. Kultus des liberalen Programms. Hambacher Fest (27. 5. 1832), nationale Veranstaltung zur Wacherhaltung des Freiheitsgedankens. Alle namhaften Liberalen nehmen teil, u. a. auch Börne. Zahlreiche Nachahmungen des Festes, Besorgnis bei den Regierungen. Ähnlich wie die Wartburgfeier und die Ermordung Kotzebues Anlaß für die Karlsbader Beschlüsse (1819) und die Demagogenhetze geworden waren, wird das Hambacher Fest Anlaß für die Juliordonnanzen des Bundestags. Die sechs Artikel suchen den aufkommenden Liberalitätstendenzen, wo nur angängig, zu steuern, machen den freiheitlichen Anwandlungen der konstitutionellen Bundesstaaten ein Ende. Verbot von Volksversammlungen, Einschreiten gegen die Burschenschaft, Annullierung des freiheitlichen bad. Preßgesetzes. Scharfe Zensurbestimmungen. Verschärfung all dieser Bestimmungen und neuerliche Demagogenhetze seit dem Frankfurter Wachensturm (April 1833), einem unzulänglich vorbereiteten Putsch, der als Auftakt zu einer allgemeinen Erhebung gedacht war. Nach dessen Mißlingen wird aufs schärfste gegen die in Tagespresse, Literatur, in liberalen Vereinen usw. verkündete politische Freiheitsidee eingeschritten. Zur Aufdeckung demagogisch-revolutionärer Umtriebe wird eine Zentraluntersuchungskommission gegründet, die in Preußen durch eine besondere Ministerialkommission unterstützt wird. Metternich errichtet außerdem eine geheime Überwachungsbehörde, das Mainzer Zentral-Informationsbureau, dessen Tätigkeit literarische Bedeutung erlangt: Bespitzelung der Jgd. durch „Konfidenten" ; Metternich plant ferner ein allgemeines literarisches Überwachungsbureau. Solche Überwachung verdächtiger Personen wird auch preußischerseits geübt. Neben das Konfidentenwesen tritt die Perlustration der verdächtigen Korrespondenz durch die „schwarzen Kabinette". § 5. Aus dieser fieberhaften Aufregung der Regierungen erklärt sich die Verfolgungswut gegen die liberalen Schriftsteller, die literarischen Jgd., deren Gefährlichkeit für die Propaganda oppositio-: neller Ideen man wohl erkennt. Diese Ver-

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folgung ist ein konsequenter Ausfluß der gesamten damaligen Bestrebungen, die liberale Idee in all ihren Manifestationsformen zu unterdrücken. — Konflikte der Jgd. mit Zensurstellen und politischen Behörden schon vor dem Hauptschlag. Laubes 'Polen' am 16. 2. 1833, die 'Reisenovellen' am 4. 9. 1834 in Preußen verboten. Mündt wird wegen seiner 'Madonna' von seiner noch gar nicht angetretenen Privatdozentur suspendiert. Laube wird Sommer 1834 ein Opfer der neuen Demagogenverfolgung, muß wegen Zugehörigkeit zur Burschenschaft und liberaler Meinungssünden eine achtmonatige Untersuchungshaft in Berlin verbringen. Gutzkow wird im August 1835 durch preuß. Spione beobachtet, und seit Frühjahr 1834 schenkt der Bundestag jener Literatur seine Aufmerksamkeit, die, obgleich nicht politisch, doch in unterhaltender Form der Verbreitung staatsfeindlicher Ideen dient. Das sind aber nur Präliminarien. Tiefere Ursache der dann einsetzenden harten Verfolgung ist der erbitterte Haß der herrschenden Kreise gegen die liberalen Tendenzschriftsteller, unmittelbarer Anlaß ist die Denunziation W . Menzels bei Gelegenheit der Kritik des Gutzkowschen Romans 'Wally' (ersch. August 1835 bei Löwenthal in Mannheim) im 'Literaturblatt' vom II. und 14. 9. Die Regierungen schenken den darin enthaltenen denunziatorischen Äußerungen um so mehr Glauben, als Menzel selbst als „Demagoge" gilt. Menzels Kritik wirft dem Roman Frechheit und Immoralität, Verquickung von Unzucht und Gotteslästerung vor. Gutzkow erschüttere die religiösen und sittlichen Grundlagen des Staates, mache das Bordell zum Gotteshaus, predige in „potenzierter Nachahmung der neufranzösischen Frechheiten" frivolsten Atheismus. Menzels Aufsatz ist keine objektive Würdigung, sondern ein auf Vernichtung des Gegners berechnetes, mit bewußten Entstellungen arbeitendes Pamphlet, z. T. durch egoistische Motive bedingt (Menzel fühlt durch Gutzkows und Laubes kritische Tätigkeit seine eigene literarische Vormachtstellung bedroht, fürchtet außerdem die Konkurrenz der angekündigten 'Deutschen Revue'). Die denunziatorische Absicht der Men-

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zelschen Preßkampagne ist deutlich. A m II. I i . bringt das Literaturblatt eine direkte Aufforderung an diepreuß. Regierung, gegen die Mitarbeiter der 'Deutschen Revue' einzuschreiten. Menzel betont in der kritischen Zeit fortwährend die staatsgefährliche und vaterlandsverräterische Einstellung der Jgd. — Gleich nach dem ersten Angriff Menzels wird die 'Wally' in Preußen verboten. Metternich wird am 23. 10. vom Fürsten Schönburg (österr. Gesandten in Stuttgart) über die Angriffe Menzels informiert; dann schickt Metternichs literarischer Hauptinformator K . E. Jarcke ein Gutachten nach Wien. Metternich ist bemüht, ein allgemeines Einschreiten der Bundesstaaten zustande zu bringen; er korrespondiert mit dem preuß. Hausminister Fürsten Wittgenstein (d. h. eigentlich mit dem preuß. König), um alle maßgebenden Stellen von der Gefährlichkeit der neuen literarischen Richtung zu überzeugen. Unter dem Eindruck dieses Briefwechsels und der Menzelschen Polemik erfolgt der erste Hauptschlag gegen das J. D.: auf An trag des preuß. Oberzensurkollegiums werden am 14. II. 1835 in Preußen die Schriften Gutzkows, Wienbargs, Laubes, Mündts summarisch verboten. A m 10. 12. beantragt der Bundespräsidialgesandte Graf Münch-Bellinghausen im Bundestag ein allg. Verbot der jgd. Schriften, doch gelingt es dem württembergischen Gesandten v . Trott, dem geplanten Erlaß die Spitze abzubrechen. Was in der Sitzung zustande kam, war kein unbedingtes Verbot mehr, sondern eine Verwarnung. „Sämtliche dt. Regierungen übernehmen die Verpflichtung, gegen die Verfasser, Verleger, Drucker und Verbreiter der Schriften aus der unter der Bezeichnung 'das junge Deutschland' oder 'die junge Literatur' bekannten literarischen Schule, zu welcher namentlich Heinr. Heine, K . Gutzkow, H. Laube, L. Wienbarg und Th. Mündt gehören, die Strafund Polizeigesetze ihres Landes sowie die gegen den Mißbrauch der Presse bestehenden Vorschriften nach ihrer vollen Strenge in Anwendung zu bringen", um diesen staats- und gesellschaftszerstörenden Schriften Einhalt zu gebieten. Um die allg. -Anweisungen der obersten Zentralbehörde in

konkrete Maßnahmen überzuführen, waren Spezialerlässe der einzelnen Bundesstaaten nötig, die auch großenteils erfolgt sind. Der allg. Bundeserlaß und die folgenden Sonderverbote der einzelnen Regierungen bedeuten eine schwere Schädigung der Jgd., obwohl schon im folgenden Jahre vereinzelt Milderungen vorgenommen werden. Völlige Aufhebung der Ausnahmebestimmungen, denen zufolge alle bereits vorhandenen und zukünftigen Geistesprodukte der genannten Schriftsteller verboten werden sollten, erfolgt erst 1842. Die meisten der Betroffenen stellen eine Zugehörigkeit zur genannten Gruppe in Abrede. — Gutzkow hat Ende 1835 noch eine spezielle Verfolgung wegen seiner 'Wally' zu erdulden. Laube wird Ende 1836 wegen der bereits genannten Delikte zu siebenjähriger Festungshaft verurteilt. Nach eingelegter Berufung wird die Strafe auf anderthalb Jahre herabgesetzt; Laube erhält die Vergünstigung, sie auf Schloß Muskau zubringen zu dürfen. Zunehmende politische Beruhigung. Neuerliches Aufflackern der politischen Begeisterung 1848; dann Resignation. Laube wird 1848 Mitglied der Paulskirche; vgl. seine Schrift 'Das erste dt. Parlament' 1849. §6. D a s p o l i t i s c h e J u n g e D e u t s c h land. Lange verbreitete Ansicht: der Dt. Bund sei gegen die Jgd. deshalb mit solcher Erbitterung vorgegangen, weil man sie mit dem gleichnamigen politischen Bündnis verwechselte. Demgegenüber ist zu betonen, daß sich die leitenden politischen Stellen von dieser Verwechslung freihalten, bei minder informierten Politikern findet sie sich gelegentlich. Manchmal wird ein solcher Zusammenhang absichtlich statuiert, um schärfere Maßregeln gegen die jgd. Schriftsteller zu erzielen. — Ende 1831 gründet Gius. Mazzini den republikanischen Jugendbund La giovine Italia. Ziel ist eine nationale Einheitsrepublik "Italien; dieses soll durch politische Erziehung, Propaganda und Aufstand erreicht werden. Es soll nicht bei der einzelnen nationalen Verbindung bleiben: Verbrüderung der Völker zum Zweck der Freiheit. Zu einer solchen Verbrüderung nationaler Genossenschaften unter den Leitlinien Freiheit, Gleichheit, Humanität kommt es am 15.4.1834 in der

JUNGES DEUTSCHLAND Schweiz: Gründung des „Jungen Europa". Tendenz dieser republikanischen Verbindungen ist: Kampf der jungen Freiheit gegen die alte Sklaverei, der jungen Gleichheit gegen die alten Privilegien. Mazzini, der geistige Vater des Ganzen, verkündet Völkerverbrüderung, aber auch Bewahrung der Nationalität, da er der individuellen Veranlagung jedes einzelnen Volkes eine eigene Mission im Befreiungskampf vindiziert. Seine Lehre trägt dazu bei, den heimatlosen Liberalismus des europ. Kontinents national zu machen und konkret zu lokalisieren. Aufkommen eines nationalen Liberalismus an Stelle des früheren vagen Philhellenismus, der Polenbegeisterung usw. Mazzinischen Ideen huldigen damals auch die zahlreichen Organisationen von Handwerksburschen (damals neben den geflüchteten Liberalen die Hauptträger der demokratischen und revolutionären Ideen) in der Schweiz: Lésé-, Sing- und Debattierklubs. Pflanzstätten für das politische Junge Deutschland. Dieses wird nach wechselvollen Schicksalen, ohne zufolge der Unfähigkeit der Führer konkrete Resultate gezeitigt zu haben, aufgelöst. — Die revolutionären Tendenzen dieser politischen Vereine erzeugen eine eigene Literatur, eine revolutionäre Sturmlyrik. Diese Dichtung tritt als wirksames Agitationsmittel neben Flugschrift und politische Broschüre; sie ist durchaus exoterisch und populär, in Inhalt und Form den unteren Schichten angepaßt, völlig unliterarisch, gänzlich heteroästhetisch und protreptisch. Diese revolutionäre Poesie ist in den 30 er Jahien politisch, in den 40er Jahren sozialistisch und kommunistisch. Fruchtbarster Revolutionsdichter ist Harro Harring: 'Deutsches Mailied', 'Hundert Handwerker' (die meisten dieser Lieder sind zum Zweck der Massenwirkung volkläufigen Melodien untergelegt), Sammlung 'Blutstropfen' 1832. Im gleichen Jahr erscheint die Sammlung revolutionärer Lyrik verschiedener Autoren: 'Männerstimmen zu Deutschlands Einheit'; weitere Sammlungen 'Der Zeitgeist', 'Vaterländische Lieder' (Beiträge von Sauerwein, Siebenpfeiffer, Harring; Stoffe: Revolution, Fürstenmord, Republik). Revolutionsdramatik: Harrings dramatisches Gedicht

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'Die Völker', Walter Bergs Schauspiel 'Die Bürger' (1831). — Diese massenaufwiegelnde Revolutionsdichtung ist nicht mit den esoterischen Liberalitätsdiskussionen der literarischen Jungdeutschen zu verwechseln, die sich doch — trotz aller belletristischen Popularisierung ihrer Ideen — vornehmlich an die Intellektuellen wenden, zwar eine allgemeine, auch politische Neuorientierung fordern, aber nirgends zu offenem Aufruhr reizen. Sie ist auch von der „politischen L y r i k " der 40er Jahre verschieden, deren ästhetischer Gehalt bedeutend ist. — Eine Verbindung des politischen und literarischen Jungdeutschland zeigt sich in G e o r g B ü c h n e r , der von Gutzkow entdeckt und gefördert wurde (demokratischer Agitator, sozialrevolutionäre Flugschrift 'Der hessische Landbote'. Sein Drama 'Dantons Tod': einziges bedeutsames Werk aus den Kreisen der aktiven liberalen Politiker). L i t e r a t u r zu §§ 4—6: H. v. T r e i t s c h k e Deutsehe Gesch. im ig. Jh. IV. Bis zum Tode König Friedr. Wilh. III. (Staatengeschichte d. neuesten Zeit 27) 1889. P. N e r r l i c h Herr v. Treilschke u. d. Junge Dld. 1890. K. G l o s s y Literarische Geheimberichte aus d. Vormärz (SA. ausGrillp.Jb.XXI—XXIII) 1912. F . M e i n e c k e Weltbürgertum u. Nationalstaat 1908. A. W a h l Die französ. Revol. u. das ig. Jh., ZsfPolitik I (1908) S. 157ff. G. M a y e r Die Junghegelianer u. d. preuß. Staat, HistZ. C X X I (1920) S. 413 ff. J. J. H o n e g g e r Literatur u. Kultur des ig. Jhs. •1880. L. G e i g e r Das Junge Dld. u. die preuß. Zensur 1900. Ders. Das Junge Dld., Studien u. Milleilgen, o. J. (1907). E. H a r s i n g W. Menzel u. d. Junge Dld. Diss. Münster 1909. H. B1 o e 3 c h Das J. D. in seinen Beziehungen tu Frankreich 1902. F. K a i n z Euph. X X V I (1925) S. 388 ff.

Innere Geschichte des Jungen Deutschland. Literarische Entwickl u n g . § 7. Die jgd. Produktion beginnt, als sich im Gefolge der Julirevolution das Bedürfnis nach einer geistigen, politischen und sozialen Neuorientierung geltend macht. Unter Einfluß dieses Ereignisses geben Gutzkow und Laube ihr Theologiestudium auf, um als freie Schriftsteller den Forderungen des Tages dienen zu können. Jungdeutsch wird die Literaturepoche erst dann, als sie unter den Einfluß der Tendenzschriften Börnes und Heines gerät und die Abhängigkeit von früheren Mustern (Klassik, Romantik) abschüttelt. An-

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f ä n g e : Laube und Willkomm schreiben klassizistisch • heroische Iambendramen Schillerscher Tradition: Laube: ' G u s t a v Adolf* historisches Trauerspiel 1830; Willkomm: 'Bernhard, Herzog v . Weimar' Tragödie 1833, 'Erich X I V . K ö n i g v o n Schweden' dramatisches Gedicht 1834. Daneben Einfluß der Romantiker (Tieck, E. T . A . Hoffmann), x. B. in Mündts ersten Novellenversuchen (seit 1826, veröffentlicht in Saphirs 'Berliner Schnellpost': 'Abenteuerliches Leben', 'Das einsame Landhaus' usw.). Mündts erster Roman 'Das Duett' (geschr. 1829, veröff. 1831) zeigt noch stark romantische Züge neben neuen Elementen. Die Novelle 'Madeion oder die Romantiker in Paris' 1832 stellt das Ringen der jungen frz. Dichtergeneration dar. F. G. Kühnes 'Novellen* 1831, besonders die 'Wartburgfeier', die eine Schilderung der Volksstimmung nach den Befreiungskriegen gibt, diskutieren bereits jgd. Probleme. Willkomms Novelle 'Julius K ü h n ' 1833 zeichnet in tastendem Versuch den Typus des jgd. genialen Individuums, das sich gegen jeden praktischen Beruf sträubt und nur in freiem Schriftstellertum Befriedigung findet. — Besonders einflußreich für die junge Literatur werden die 'Briefe aus Paris' (1832 bis 1834) von Börne, der 1830 nach Paris geeilt war, um an der Quelle der neuen Freiheitsbewegung zu weilen. Die unmittelbare Lebensnähe, das stete Berühren der großen Zeittendenzen, der geistreiche Stil — all das imponiert der Epoche und wird aufs stärkste nachgeahmt. Sie wirken ähnlich stark auf das junge Geschlecht wie Heines 'Reisebilder' (seit 1826), die mit ihrer witzigsubjektiven Schilderungstechnik Schule machen. — Unter dem Einfluß der Börneschen 'Briefe', neben dem auch die Einwirkung Jean Pauls und Heines erkennbar ist, stehen Gutzkows 'Briefe eines Narren an eine Närrin* 1832, das erste völlig jgd. Werk. Die folgende politische Schrift' Divination auf den nächsten württembergischen Landtag' 1832 zeigt A n s ä t z e zu einem Fortschritt von romantischer Stimmungspolitik zu einer konkreteren Realpolitik, doch fehlt den Jungdeutschen wie der gesamten vorbismarckschen Epoche der politische Wirklichkeitssinn. Diese

Schrift Gutzkows verherrlicht seinen Chef und Gönner, den liberalen Württemberg. Abgeordneten Wolfg. Menzel. Dieser hatte Gutzkow zur Mitarbeit am Cottaschen 'Literaturblatt' nach Stuttgart gerufen, da er auf den jungen Schriftsteller durch dessen „antikritische" Zeitschrift 'Forum der Journalliteratur' (1831) aufmerksam geworden war. Gutzkow wird in Stuttgart sein literarischer Adjutant. Die nächste Entwicklung Gutzkows ist durch Menzel bestimmt. So verweist ihn dieser auf den satirischen Roman des 18. Jhs. und die frz. Enzyklopädisten. Diesen Einfluß zeigt Gutzkows kulturkritischer und satirischer Roman 'Maha Guru, Geschichte eines Gottes' (1833), der an H a n d der Schilderung tibetanischer Zustände moderne, gegenwartinteressierende Probleme behandelt. Idee: Triumph echten, natürlichen Menschentums über die Wahnidee eingebildeter Göttlichkeit; Polemik gegen kunstfeindliche, fortschritthemmende Orthodoxie und Hierarchie. — 1833 erscheint von Wienbarg 'Holland in den Jahren 1831 und 32', eine Reisebeschreibung nach Heines Muster: Eindrücke eines geistreichen Mannes während eines Aufenthalts an fremdem Ort. — Im selben Jahre: Laubes 'Das neue Jahrhundert, I. Band Polen; 2. Band Politische Briefe' (andere Ausgabe unter dem Titel 'Briefe eines Hofrats oder Bekenntnisse einer jungen bürgerlichen Seele'). Das historische Memoire über die aktuelle polnische Frage v o m Standpunkt eines allgemeinen Liberalismus ist schon 1831 entstanden. Unter Einfluß der Julirevolution und des Polenaufstandes wird Laube zum politischen Schriftsteller. Seine frühere literarische Tätigkeit will wenig besagen. Erst nachdem er mit den zeitbewegenden Ideen nähere Berührung gewonnen hat, gewinnt sein Schaffen Bedeutung. A b Jänner 1833 führt Laube die Redaktion der 'Zeitung für die elegante Welt', die er zu einem „modernen" Organ ausgestaltet. Abschluß der zweiten Phase seiner Entwicklung, in der er sich als Politiker und Historiker fühlt. Sommer 1833: Wendung zur Belletristik und literarischen Kritik. 1833 erscheint der erste Teil seiner Novellentrilogie 'Das junge Europa': 'Die Poeten'; Fortschritt von klassizistisch-

J U N G E S DEUTSCHLAND romantischen Jugendanfängen zu einem neuen Realismus. In Form eines Briefwechsels der Mitglieder eines poetisch interessierten Freundeskreises wird der Einfluß der Zeitereignisse und der Zeitideen auf junge Gemüter geschildert. Trotz des erstrebten Realismus liegt über dem Ganzen ein Zug von Gemachtheit und innerer Unwahrheit. — 1833 erscheint die Novelle Kühnes 'Die beiden Magdalenen', ferner von Mündt 'Der Basilisk oder Gesichterstudien' (Novelle) und 'Der Bibeldieb" (Novelle). Zeitgemäßes Problem: Differenz der Lebensanschauungen als Ehehindernis. Eine Sammlung seiner besten Aufsätze und Rezensionen wird unter dem Titel 'Kritische Wälder* zusammengestellt; rege kritische Tätigkeit seit seinen ersten Anfängen. — Programmatiker und Theoretiker des Jungen Deutschland ist Wienbarg: 'Ästhetische Feldzüge' 1834 (hervorgegangen aus Universitätsvorlesungen in Kiel ^ 3 3 ) ; sie werden bald das Programmbuch der neuen Richtung. Gedanken von Jean Paul, Schelling und Solger werden verwendet, schulmäßige philosophische Spekulation wird verworfen wie alle lebensfremde Geistigkeit und weitabgewandte Poesie. Verkündung lebendiger Schönheitsverehrung; Forderung einer schöneren, harmonischeren Lebensführung. Der erstarrten Romantik und dem reaktionären poetischen Historismus wird die Forderung einer neuen Poesie entgegengesetzt, deren höchste Aufgabe es ist, das Leben der Zeit zu gestalten. Die neue Poesie muß dem Leben dienen, dabei ist, wie stets in Zeiten geistiger Neuorientierung, die Tendenz erlaubt, ja gefordert: geistige und politische Liberalitätstendenzen müssen die neue Dichtung erfüllen. Gegenüber dem esoterischen Panästhetizismus, der die Dichtung zum Spiel schöner Geister macht, wird eine Literatur der Tat gefordert. Das aristokratische Lebensideal der Klassik wird hier demokratisch modifiziert. Weltanschauliche und zeitgeschichtliche Begründung der neuen Tendenzliteratur, die aus der Zeit für die Zeit geschrieben ist. Ein klassischneuhumanistisches Bildungsideal wird verkündet, die pandynamistische Metaphysik des 18. Jhs., Herders Organismusgedanke und Humanitätsideal wirken ein. Über

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die zeitgenössische spekulative Ästhetik kommt Wienbarg durch die Anerkennung eines ästhetischen Relativismus hinaus. — 1834 ferner: Mündts psychologische Zeitnovelle 'Moderne Lebenswirren', Zeitsatire in dürftiger novellistischer Umrahmung, Darstellung der politischen und geistigen Widersprüche der Gegenwart. Alle Stilmittel des jgd. Apparates sind hier beisammen: politische Zeitkritik, versteckte Satire, viel Ironie, Diskussion zeitbewegender Fragen, Jonglieren mit aktuellen Schlagworten, deutliche liberale Tendenz, bei allem Zukunftsglauben dennoch Kokettieren mit Desillusionismus. — 1834 sammelt Gutzkow seine novellistischen Beiträge zum 'Morgenblatt' und gibt sie in zwei Bänden heraus. Im selben Jahr bringt das 'Morgenblatt' die Nov. 'Der Sadduzäer von Amsterdam', ferner eine Reihe von 'Reiseskizzen*, Früchte der im Sommer 1833 unternommenen Literaturreise. Laube verwertet die Eindrücke dieser Fahrt in den 1834—1837 erschienenen 'Reisenovellen'. Deutlichster Einfluß Heines: Assoziationsprinzip als Stoffquelle für zahlreiche witzige und sentimentale Schilderungen. Über Heine hinaus geht die straffere Novellenform. — 1835: Wienbargs 'Zur neuesten Literatur', Aufsätze, in denen literarische Tagesfragen mit programmatischem Gewicht in glänzendem Stil behandelt werden. Ferner: 'Wanderungen durch den Tierkreis', eine gehaltvolle Auseinandersetzung dieses selbst nicht poetisch produzierenden, aber produktive Kritik übenden Geistes mit der Zeit. Ferner erscheint Mündts 'Madonna, Unterhaltungen mit einer Heiligen', eine Art philosophischen Reisetagebuchs; der novellistische Gehalt wird durch die Geschichte einer jungen Böhmin gebildet, die dem Dichter als „Weltheilige" erscheint. 1835 ferner: das den Opfertod der Charlotte Stieglitz (29. 12. 1834) verherrlichende 'Denkmal' Mündts, eine Biographie dieser Frau, die auf die Jungdeutschen bedeutenden Einfluß ausgeübt hat (Gutzkows 'Wally' unter Eindruck ihres Freitodes entstanden). — G. Kühne publiziert 1835 sein am meisten jgd. Werk 'Eine Quarantäne im Irrenhause', das sich schon zufolge seiner Fiktion — ein (scheinbar) Wahn-

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sinniger äußert sich über die gegenwärtigen Zustände — als ein echtes Produkt jgd. Versteckspiels darstellt. — Von Gutzkow erscheinen in diesem Jahre die kennzeichnendsten Werke. Seine Tragödie 'Nero', ein unrealistisches Tendenzstück: Satire auf den bayrischen Dichterkönig Ludwig I., gegen die romantisch-reaktionäre Staatsauffassung, die ihre despotische Unduldsamkeit gegenüber neuen Zeitideen durch ein ästhetizistisches Kunstgönnertum vergessen machen möchte. Die Reihe der schicksalsvollen Werke beginnt mit dem 'Nekrolog auf Schleiermacher', der bei den preuß. Orthodoxen unliebsames Aufsehen erregt. Verschärft wird die Erbitterung der kirchlich-orthodoxen Kreise, die Schleiermacher für sich beanspruchten, ohne seiner romantisch-freigeistigen Anfänge zu gedenken, durch Gutzkows Vorrede zu Schleiermachers 'Vertrauten Briefen über die Lucinde*. Gutzkow fordert hier in übertreibender Weise Emanzipation der Ehe von der Kirche. Wie sich Gutzkow hier Schleiermacher und F. Schlegel als Gewährsmänner für die verfochtene Emanzipation des Fleisches sucht, beruft sich Laube auf Heinse und dessen „ästhetischen Immoralismus". Der Typus der Heinseschen starkgeistigen Virago, der emanzipierten Frau lebt in jgd. Werken wieder auf ('Maha Guru', 'Poeten', 'Wally'), wobei er im Sinne des Propagandistisch-Programmatischen eine wirksame Vergröberung {launisch-geistreiche, bizarr-originelle Frau) erfährt. Gutzkow führt den Kampf für moralischen Antikonventionalismus und religiöse Geistesfreiheit fort in dem Roman 'Wally, die Zweiflerin' (1835; 2. überarbeitete Aufl. 1851 u. d. T. 'Vergangene Tage'; Neuausg. von E. Wolff 1905). Gutzkow wendet sich hier, einem kritischen Rat Schlesiers folgend, vom ironischen Exotismus seines 'Maha Guru' ab und sucht ,,den Charakter der Gegenwart zu treffen". Poetische Behandlung der zerstörenden Wirkung der religiösen Skepsis auf ein oberflächlich gebildetes Gemüt. Der Roman ist trotz seiner Monstrosität ein Zeitdokument: Zweifelsucht und religiöse Unbefriedigung bestimmen die Signatur der Epoche. Cäsar ist mit seiner forcierten Blasiertheit ein Zeittypus ebenso

wie Wally, die an die Lélia gemahnende Emanzipierte, die geistreiche, aber ungenügend gebildete Dame von Welt, die durch Cäsars religiöse Skepsis um jeden geistigen Halt gebracht, zur Verzweiflung und zum Selbstmord getrieben wird. Hauptsache sind die Reflexionen über religiöse und erotisch-reformative Probleme, wie sie durch St. Simon, Lamennais, D. F. Strauß an der Tagesordnung waren. Eine Vorahnung der 'Wally' ist F. A. Maerckers Zeitroman 'Julius' (1829). § 8. J u n g d e u t s c h e Z e i t s c h r i f t e n u m 1 8 3 5 . Gutzkow gibt seit 1835 das Literaturblatt des in Frankfurt erscheinenden 'Phönix' (red. von Duller) heraus; durchaus jgd., daher Mißhelligkeiten mit dem vorsichtigen Verleger und Redakteur. Trennung August 1835. Gutzkow verbindet sich mit Wienbarg zur Herausgabe einer eigenen Zeitschrift großen Stils: 'Deutsche Revue', Verlag Löwenthal, nach Muster der großen frz. Revuen. Diese Revue als Zentrum moderner Geistigkeit, als Vereinigungspunkt der zersplitterten geistigen Kräfte Deutschlands geplant; offenbar jgd. Orientierung, aber Abkehr von Politik, Hinwendung zu Wissenschaft und Kunst. Streben nach substantiellem Inhalt: über den seichten Klatsch der zeitgenössischen Journale will man ebenso hinauskommen wie über die bisherigen vagen Reflexionen und subjektiven Selbstbespiegelungen. Die Kampagne Ende 1835 macht das Erscheinen unmöglich. Korrekturbogen des I. Heftes sind erhalten; publiziert von J. D r e s c h Die Deutsche Revue von K. Gutzkow und L. Wienbarg (DLD. 132) 1904. Als Ersatz erscheinen die von Gutzkow allein geschriebenen 'Deutschen Blätter für Leben, Kunst und Wissenschaft'. Nach der zweiten Nummer (5.12.1835) verhindern inoffizielle Schritte des Bundestags das weitere Erscheinen. — Auch Mündt ist eifriger Redakteur. Oktober 1834 gibt er das einzige Heft der 'Schriften in bunter Reihe' heraus, die Notform eines geplanten, aber behördlich unterdrückten Literaturblattes. Seit Anfang 1835 erscheint sein 'Literarischer Zodiacus', der 1836 durch die 'Dioskuren' abgelöst wird. Der 'Zodiacus' bringt vieles JungdeutschProgrammatische, die 'Dioskuren' sind

JUNGES DEUTSCHLAND unter Einfluß des Bundesbeschlusses zahm; sie gehen 1837 e ' n - Neu- und Umgestaltung als 'Freihafen' (1838-1844). Die Zeitschrift 'Der Pilot' (1840—1842) ist ein Seitentrieb des 'Freihafens*. Gutzkow redigiert seit September 1836 den 'Telegraphen', anfangs Beiblatt zur 'Frankfurter Börsenzeitung', später selbständig. § 9. S t i l w a n d e l : Ende 1835 (bei Laube schon früher) setzt ästhetische Selbstbesinnung ein: Streben , nach geschlossener Kunstform; Abwendung von Reflexion, dem rein Gedanklich-Tendenziösen, Fragmentarischen. Am deutlichsten ist die Wandlung bei Laube. Programmatische Äußerung darüber in der Widmung der Novelle 'Die Schauspielerin': die jetzige Literaturrichtung vernachlässigt den Geschmack. „Gedanken und Richtungen werden in Fülle angeregt — aber die Form, das Maß, die innerste Bedingung der Harmonie, ist wenig zu finden." Gegen den absichtsvollen Tendenzspektakel, die ständige Aufgeregtheit, die zu keiner künstlerischen Sammlung kommen läßt, gegen die dürre, abstrakte Sprache und den verwahrlosten undichterischen Stil. Die Novelle 'Das Glück' (1837) zeigt auch inhaltlich die Resignation des jgd. Stürmers und Drängers. Ähnliches auch bei den anderen, doch ist diese Abkehr am stärksten bei Laube, der ja auch nach dem Bundesbeschluß seine Geistesgemeinschaft mit der jungen Literatur am nachhaltigsten widerrufen hat. — Gutzkow hatte sich weniger stark gewandelt und sein pater peccavi lange nicht so betont, aber auch bei ihm ist Einlenken und Selbstbesinnung wahrzunehmen. 'Über Goethe im Wendepunkte zweier Jhh.' zeigt seine neu errungene Fähigkeit, den so oft angegriffenen künstlerischen Standpunkt Goethes vorurteilslos zu würdigen und in ihm mehr zu sehen als ein Zeitablehnungsgenie. Dokument seiner Selbstbesinnung, die Unreifes abstreift, ohne die Fundamente der früheren Lebensanschauung und Kunstauffassung zu leugnen (wie Laube), ist der Roman 'Seraphine' (1837). Problem durchaus jungdeutsch: Zweifelsucht in der Liebe, jgd. Gefühlszergliederung, jedoch geklärte Ansichten über Liebe und Ehe. Form ebenfalls geläutert: objektive Erzählung, Reflexionen stark beschränkt. — M e r k e r - S t a m m l e r , Reallexikon II.

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1837 erscheinen ferner Teil II und III von Laubes 'Jungem Europa': 'Die Krieger* und 'Die Bürger*. Der 2. Teil zeigt bedeutsame künstlerische Fortschritte. An Stelle der subjektiven, reflektionsreichen Briefergüsse tritt eine objektive Erzählung, an Stelle der affektiert-phantastischen Welt der 'Poeten* tritt ein realistisch gezeichnetes Lebensbild. Der Poet gelangt aus einer phantastischen Welt in die rauhe Wirklichkeit. Nachdem er sich als Krieger bewährt hat, wird er Bürger, der in stilltüchtiger Arbeit das zu erringen trachtet, was der jugendliche Stürmer und Dränger durch eine soziale Revolution erreichen wollte. Durchaus moderner Zeitroman, der die Wienbargsche Forderung einer „Dichtung der schönen T a t " verwirklicht. Letzter Teil der Trilogie ein Abfall: Rückkehr zur Briefform, unorganische Schlußwendung. — Um 1837, als bei den Führern Beruhigung eingetreten war, beginnt Willkomms eigentlich jgd. Epoche, die die Zeittendenzen zu extremstem Ausdruck bringt. Der Roman 'Die Europamüden' (1838) ist das extremste Werk des J. D. Alle Widersprüche in den politischen, sozialen und geistigen Verhältnissen werden kritisch hervorgezogen. Pessimistische Folgerung, daß in diesem Europa voll sozialer Unnatur, mystischer Heuchelei, schwächender Knechtsgesinnung keine Hoffnung auf Besserung sei. Gegen diesen Roman, der kein Kunstwerk, sondern ein Bild der großen Lebensschmerzen sein will, wenden sich die anderen Jungdeutschen, da sie in ihm eine ins Karikaturistische gehende Übertreibung ihrer Ideen sehen. Der Roman zeigt alle jgd. Fehler, namentlich den psychologischen Unrealismus: Gestalten und Charaktere nicht geschaut, sondern doktrinär konstruiert. — Probleme des religiösen Liberalismus verfechten Kühnes 'Klosternovellen* (1838). Gutzkows satirischer Erziehungsroman 'Blasedow und seine Söhne' wendet sich gegen pädagogische Kunststücke, gegen Orthodoxie und Duodezfürstentum. Der anspielungsreiche Stil gemahnt an Jean Paul, manches erinnert an die Weise frz. Aufklärer (Montesquieu). 1838 Wienbargs 'Tagebuch von Helgoland'. Nach den sprühenden Anfängen wird Wienbarg immer unproduk4

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tiver. Abkehr von Literatur, er wird historischer und praktisch-politischer Schriftsteller. Rege Teilnahme an der schleswig-holsteinischen Frage. §10. A l l g e m e i n e W e n d u n g z u m D r a m a u m 1840: eine konsequente Fortsetzung der einmal begonnenen Wendung zum Kunstwerk, von der lockeren Aneinanderreihung fragmentistischer Reflexionen zur geschlossenen Kunstform. Freilich ist auch das nunmehr kultivierte Drama zum großen Teil Tendenzdrama: man wählt aus dem Geschichtsverlauf solche Momente aus, an denen sich Probleme der Gegenwart demonstrieren lassen: direkte Ansprachen ad spectatores, programmatische Äußerungen, die der Dichter den Personen in den Mund legt, sind häufig. Laube ist hierin zurückhaltender als Gutzkow. Trotz aller Mängel bedeutet die jgd. Epoche eine Periode der Regeneration des dt. Dramas und eine Hebung der von Kotzebue, Raupach, Blum, Töpfer, der Wiener und Berliner Posse beherrschten Bühne. Diese Wendung zum Drama wird mitgemacht von Mündt, Kühne, Gutzkow und Laube. Auf die früheren, im Gegensatz zu den äußerst bühnengerechten Dramen seit 1840, szenentechnisch nicht sehr geschickten Stücke wird kein Wert mehr gelegt. Den Übergang von dieser älteren Dramentradition zur neueren, in der Gutzkow, angeregt durch den schauspielerischen Realismus Seydelmanns, danach strebt, Bühne und Leben anzunähern, bildet Gutzkows Tragödie 'König Saul' (1839), die gewisse moderne Probleme in altjüdisches Gewand kleidet. Kurz darauf folgt 'Richard Savage oder Der Sohn einer Mutter', Tragödie. Sie stellt an Hand des Schicksals dieses unglücklichen engl. Dichters, dessen Mutter durch gesellschaftliche Konventionen gehindert wird, ihn als Sohn anzuerkennen, symbolisch das Schicksal des Genies dar, das vergeblich um Liebe und Anerkennung seiner Zeit ringt. 'Werner oder Herz und Welt' (1840), ein bürgerliches Trauerspiel, bringt das Credo des jgd. Liberalismus. Das Recht des Herzens gegenüber den starren Postulaten konventioneller Moral wird betont; gesellschaftliche Traditionen (Adel) sind freiem Menschentum hinderlich. Politisch-historischen

Inhalts ist 'Patkul' (1841), während das Lustspiel 'Die Schule der Reichen' sich gegen die entsittlichende Wirkung des Reichtums, gegen bürgerliches Parvenütum und Schmarotzertum herabgekommener Adliger richtet. 1843 schreibt Gutzkow sein historisches Lustspiel 'Zopf und Schwert', das die jgd. Fähigkeit zu Wirkungsanleihen bei bekannten historischen Charakteren, ferner die Technik der aktuellen politischen Anspielungen innerhalb des historischen Stoffs auf ihrem Höhepunkt zeigt. Das Jahr 1844 bringt die historischen Tragödien 'Pugatschew' von Gutzkow und 'Struensee' von Laube, ferner Gutzkows bestes Lustspiel 'Das Urbild des Tartüffe' (aufgef. 1845), das in echt jgd. Weise gegen scheinheiligen Obskurantismus und frömmelndes Heuchlertu.m die Rechte der freien Kunst verficht, «die als Waffe im Kampf der Aufklärung; gegen die Lüge dienen soll. Höhepunkt der jgd. Dramatik 1846: Gutzkows Trauerspiel 'Uriel Acosta", Laubes 'Karlsschüler'. Gutzkows Stück ist die Tragödie der religiösen Skepsis; Stoff: das tragische Schicksal des nach religiöser Klarheit ringenden Wahrheitssuchers. Vieles in diesem Iambendrama erinnert an Schiller, nur daß bei dem Jungdeutschen oftmals leere Deklamation wird, was bei Schiller berechtigtes Pathos war. Jgd. Kampfstellung für Glaubensund Gewissensfreiheit. 'Die Karlsschüler' zeigen die jgd. Vorliebe, den Hauptteil der Wirkung durch tendenziöse Behandlung bekannter Charaktere zu erborgen; ähnlich G.s 'Königslieutenant' (1849). — Auch bei Laube erscheint der jgd. Tendenzapparat, nur viel diskreter und weniger direkt: Kritik des absterbenden Absolutismus, des Adelstreibens und Höflingswesens, Eintreten für Geistesfreiheit ('Monaldeschi' 1841, 'Prinz Friedrich* 1848). Für Gutzkow ist um 1850 die dramatische Produktion im wesentlichen beendet. Seine späteren Stücke sind bereits Ausklänge, trotz dramatischer Qualitäten. Die Altersstücke zeigen zunehmende dramatische Unfähigkeit. Sie lassen vermissen, was die Stärke seiner bühnenbeherrschenden Dramen gewesen war: interessantes Problem, geschickte Handlungsführung, scharfe Charakteristik, geistreichen Dialog.

J U N G E S DEUTSCHLAND Laube ist noch lange mit Erfolg dramatisch tätig, doch verlieren seine Stücke mehr und mehr den spezifisch jungdeutschen Einschlag: 'Graf Essex' (aufgeführt 1856) ein Gipfelpunkt seiner dramatischen Tätigkeit. Die Erfahrungen, die Laube als Burgtheaterdirektor seit 1849 machte (vgl. seine Schrift 'Das Burgtheater' 1868), kommen der Technik seiner Dramen zugute, doch beeinträchtigt der durch die dramaturgische Tätigkeit geforderte Zeitaufwand die eigene Produktion. § 1 1 . Prosaepische Produktion seit 1840: neben der dramatischen hergehend; ungebrochene Fortsetzung aus der früheren Zeit. Herrschend wird die Gattung des Romans aber erst seit 1850. Laube schreibt 1841 seine große historische Novelle 'Die Vandomire' (erschienen 1842); im folgenden Jahr 'Gräfin Chateaubriant". Mündts Roman aus der Reformationszeit 'Thomas Münzer' erscheint 1842; die Wendung zum historischen Roman bedeutet eine Abkehr von jgd. Kunsttheorie. Die Mode, das im Text Vorgebrachte durch wissenschaftliche Belege im Anhang zu stützen, wird u. a. von Scheffel aufgenommen. Mündt wendet sich (gemeinsam mit seiner Frau Luise Mühlbach) mehr und mehr einem betriebsamen Unterhaltungsschriftstellertum ohne literarisches Niveau zu. Sein Freund F. G. Kühne, von dem 1840 der Roman 'Die Rebellen von Irland' erscheint, entfernt sich ebenfalls mehr und mehr vom Jungen Deutschland. Fruchtbar ist die prosaepische Entwicklung Willkomms, die gewisse, neu aufkommende Strömungen anklingen läßt. Auf seine extrem jgd. Epoche folgt nach 1840 eine Wendung zur Heimatsund Volkskunst, die ihm Gelegenheit zu realer Schilderung und objektiver Erzählung bietet ('Grenzer, Narren und Lotsen' 1842). Damit tritt Willkomm in die beginnende Tradition der Dorfgeschichte ein. Wendung aus der Gesellschaft geistreicher Salonmenschen zum ländlichen, realistisch erfaßten Idyll. Aber der jgd. Tendenzschriftsteller ist einer rein poetisch-realistischen, absichtslosen Schilderung auf die Dauer unfähig. Sein ,,Volksbuch auf das Jahr 1844" 'Der deutsche Bauer' enthält sich zwar noch jeder sozialpolitischen Kampfeinstellung; aber schon die 'Schat-

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tenrisse aus dem Volks- und Fürstenleben' zeigen jene soziale Tendenz, die in den gleichzeitigen Romanen zu stärkstem Ausdruck gelangt. Vorher haben wir im 'Traumdeuter' (Roman 1840), den 'Sagen und Märchen aus der Oberlausitz' (1843) eine gewisse Vorliebe für Gespensterphantastik und psychologische Analyse der Nachtseiten der menschlichen Natur zu sehen. Der Roman 'Denkwürdigkeiten eines österreichischen Kerkermeisters' (1843) zeigt deutlichen Einfluß frz. Romantechnik und Suescher Ethik: genaue Analyse des verbrecherischen Seelenlebens; Folgerung, daß jedes Laster letzten Endes eine verirrte Tugend sei. Durchaus jgd., vermehrt um das in den 40 er Jahren zur Herrschaft gelangende sozialistische Element, ist der Roman 'Eisen, Gold und Geist' (1843), in dem kapitalistisches Ausbeutertum an den Pranger gestellt und das Menschenrecht der arbeitenden Klasse betont wird. Das Fabrikproletariat wird nunmehr Stoff für die Dichtung. Einfluß der aufkommenden sozialistischen Zeitströmung. Probleme des Streiks, des maschinellen Fabrikbetriebs, Schattenseiten des sich zur herrschenden Macht entwickelnden Industrialismus. 1845 Roman 'Weiße Sklaven oder die Leiden des Volkes'. Die erfolgte politische Emanzipation der untersten Klassen ist etwas Unvollständiges, sobald nicht durch eine soziale Reform der Proletarier aus seinen Sklavenfesseln erlöst wird. Forderung, die technischen Errungenschaften, die hier nicht mehr apriori für alles Elend verantwortlich gemacht werden, zum Wohl des Volkes zu benutzen. — R e i s e s c h i l d e r u n g e n : Gutzkow 'Briefe aus Paris' (1842) Kritik der frz. Zustände. Die Auseinandersetzung mit den Ideen des St.-Simonismus und Sozialismus zeigt die erlangte Reife der Anschauungen. Laubes 'Französische Lustschlösser' (1840) zeigen neuen Stil: die planlose, assoziationsbestimmte, oberflächliche Plauderei der früheren jgd. Reiseschriften weicht einer ruhigen, gegenständlichen Diktion, die freilich in der Mischung poetischer und historischer Bestandteile, von Novellen und Erörterungen noch den Jungdeutschen erkennen läßt. — Aufschwung der R o m a n p r o d u k t i o n nach 1850. In dem großen Gutzkowschen Zeit4*

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roman 'Die Ritter vom Geist' (1850—51) spielt das sozialistische Problem eine große Rolle, nur daß es dort mehr in die Nebenhandlung verlegt ist, während die Haupttendenz einer Erneuerung der Geistigkeit im Sinn freier Humanität gewidmet ist. Organisation der geistigen Elite zu einem Bund freier Geister. Der Stagnation, hervorgerufen durch Reaktion in Kirche und Staat, wird ein Bündnis für geistigen Fortschritt und Erneuerung gegenübergestellt. Das Werk ist jgd., wenngleich im Ideengehalt geläutert und formal gereift. Kulturbild von umfassender Totalität, Panorama des gesamten Zeit- und Gesellschaftslebens um 1850. Eine Art „politischer Wilhelm Meister" aus kollektivistischem Geist heraus entstanden. Die neue Technik des Nebeneinander, ein unbedingtes Erfordernis des modernen Zeitromans, der nicht nur das Schicksal von Individuen, sondern Massen, Milieu und ganze Schichten darstellen will, tritt der Nacheinandertechnik des früheren Bildungsromans gegenüber. Versteckspiel mit Namen und bekannten Fakten (Annäherung an den Schlüsselroman Spielhagens). Technik oft auf Effekt berechnet. Vorbilder: namentlich Sue; Immermanns Muster ('Epigonen') ist unverloren. Gutzkows zweiter großer Zeitroman 'Der Zauberer von Rom' (1858—1861) behandelt das Problem des wachsenden Einflusses der katholischen Kirche in preuß. Staaten, die Gefahren des Ultramontanismus und Jesuitismus in einem universalen, die reichsdt., österr. und ital. Zustände umfassenden Kulturbild von ruhiger Objektivität. Auch hier verleiht intime Vertrautheit mit allen Zeiterscheinungen dem Roman bedeutenden kulturhistorischen Wert. Realismus der Darstellung vereinigt sich mit Idealismus der Tendenz. Leitende Idee dieses farbenreichen Gemäldes der katholischen Welt ist das Streben nach einer freien Humanitätsreligion. Die Technik des Nebeneinander ist hier vertieft und geläutert, das Soziale tritt hinter dem Geistigen zurück, das Aktuelle weicht dem weltanschaulichen Aspekt. — Gutzkows Romane stehen in breiter Schicht anderer zeitkritischer Tendenzromane. Bedeutsame Nachwirkung hat der jgd. Zeitroman

in Österreich erlangt. A. Meißners Roman 'Schwarz-Gelb* (1862—1864) zeigt den Einfluß des Nebeneinanderromans am deutlichsten. Bei anderen artet diese Technik oftmals in ein Chaos auswegloser Juxtaposition aus. Soziale Problematik, Antijesuitismus, kulturkämpferische Tendenz, die dem Österreicher der Konkordatszeit naheliegen mußte. Vieles Jungdeutsche noch in Spielhagens Zeitromanen. — In die Problemwelt der 'Ritter vom Geist' führt auch Gutzkows rege Novellenproduktion der 50 er Jahre, zu der ihn namentlich das seit 1852 von ihm herausgegebene Familienblatt 'Unterhaltungen am häuslichen Herd* zwang. Auch als Unterhaltungsschriftsteller wahrt er seine Signatur: die Novellen behandeln Zeitfragen und sind in manchen Zügen ihres Realismus (Entdeckung der Berliner Vororte und Laubenkolonien) Vorläufer für spätere Dichter geworden (Fontane). Willkomms Jesuitenromane 'Die Nachtmahlsbrüder in Rom' (1847), 'Die Töchter des Vatikan' (1860) zeigen ein Aufflackern jgd. Geistes. Außerdem pflegt dieser jgd. Proteus nach dem historischen Roman den Handelsroman in der Art Freytags. — Prosaepische Spätwerke Gutzkows: 'Hohenschwangau' (1867—1868), eine Verschmelzung von Dichtung und Geschichte; das in die protestantische Welt der Reformationszeit einführende Gegenstück zum 'Zauberer von Rom'. Idee: weder Katholizismus noch Protestantismus vermögen religiöse Befriedigung zu geben: sie verweisen auf eine höhere Synthese, das freie Humanitätschristentum der Zukunft. 1870 Roman 'Die Söhne Pestalozzis': Erziehungsproblem, Vorstufe des roman expérimental. — Laube schreibt 1863—1866 den großen historischen Roman 'Der deutsche Krieg'. §12. J u n g d e u t s c h e r F r a u e n r o m a n . Unter dem Einfluß der jgd. Geistesrichtung steht auch eine Anzahl von Frauen, die dieselben Tendenzen in ihrer Produktion vertreten. Hauptproblem: die Frau, ihre geistige und soziale Stellung, Eintreten für ihre Eigenberechtigung, Emanzipation der Frau (Einfluß St.-Simonistischer Ideen, wie sie namentlich in den Werken der Gge. Sand: 'Ulia\ 'Indiana,', 'Valentine' zum Ausdrück kommen). Weitere Voraussetzun-

J U N G E S DEUTSCHLAND gen: Rahel, Bettiaa, Charlotte Stieglitz. — Ida Gräfin Hahn-Hahn, Vertreterin der Aristokratie, schreibt Romane aus der großen Gesellschaft, in sozialer Hinsicht antiliberal, aber in Stil und Wesen den Jungdeutschen sehr ähnlich (koketter Subjektivismus, Selbstbespiegelung, Zerrissenheit). Stets wiederkehrende Hauptfigur ihrer Romane ist die unbefriedigte, unverstandene, geistreiche Frau. Kampf gegen erstarrte Traditionen, geistige Emanzipation der Frau gefordert. Ihre Antagonistin ist die auch in sozialer Beziehung völlig jgd. Fanny Lewald: durchaus liberal, Kampf gegen die angemaßte Vorzugsstellung des Adels. Obwohl sie den feministischen Desillusionismus der Hahn-Hahnschen Romane verspottet, tritt sie doch auch für ähnliche Probleme der Frauenemanzipation ein. Phantasiearm, aber verstandesscharf; Hauptwert in der Diskussion zeitbewegender Probleme. Später Wendung zum großen gesellschaftskritischen Zeitroman: Roman 'Wandlungen' (1853), großes Bild der norddt. Gesellschaft. — Soziale Tendenzromane (auch hierin ist George Sand Vorbild) schreibt Luise Aston-Meier. Weitere Geistesverwandte der Jungdeutschen: Therese v. Bacheracht, Ida v. Düringsfeld, Luise Otto-Peters. § 13. W e i t e r e A n g e h ö r i g e und Geistesverwandte der Jungdeuts c h e n : H. J . Koenig, Verfasser liberaler Tendenzromane, führt den historischen Roman in jgd. Fahrwasser. Ad. Glaßbrenner, jgd. beeinflußter Volksschriftsteller, popularisiert die esoterischen Ideen der Führer. Von Börne und Heine stark beeinflußt; ein charakteristisches Beispiel jgd. Reiseliteratur sind seine 'Bilder und Träume aus Wien' (1836). Nach 1848 dienen seine Darstellungen des Berliner Volkes der politischen Satire. — A. v. UngernSternberg zeigt trotz hocharistokratischer Einstellung in einzelnen Werken doch jgd. Züge. Selbst W. Alexis huldigt mit den Romanen 'Haus Düsterweg' und 'Zwölf Nächte' der jgd. Zeitstimmung. H. Marggraff zeigt ebenfalls jgd. Züge; solche finden sich auch gelegentlich bei A. Lewald und Levin Schücking. Als Geistesverwandten bekundet sich ferner A. Jung mit seinen 'Briefen über die neueste Literatur' (1837).

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Jgd. Unterhaltungsschriftsteller: Ernst Koch (ps. Ed. Helmer), F. Wehl, W. R . Heller. K . Immermann zeigt manche Ähnlichkeit mit den Jungdeutschen: Neigung zu Didaxis und Tendenz, zu dem mit politischen und sozialen Ideen beladenen Zeitroman. Doch hebt ihn seine Fähigkeit zu wahrhaft künstlerischer Gestaltung über die Jungdeutschen hinaus, von denen ihn auch seine konservativpatriotische Gesinnung unterscheidet. G. Freytag ist in den Jugenddramen 'Die Valentine' und 'Graf Waldemar* noch stark jgd. beeinflußt (konventionelle Typen, jgd. Technik). Überhaupt ist es nur wenigen Geistern, deren literarische Jugendentwicklung in die 30er und 40er Jahre fällt, möglich gewesen, sich von jgd. Einfluß völlig freizuhalten; solche episodische Einwirkung erteilt jedoch noch nicht das Recht, von einer jgd. Epoche bei solchen Geistern (Wagner, Hebbel, Keller u. a.) zu sprechen. A. Ausgaben: G u t z k o w : R. Gensei 1910. P. Müller 1 9 1 1 . Ausgew. Werke in Ia Bin, v. H. H. Houben o. J . (mit ausführt. Biogr.). L a u b e : Ausgew. Werke in 10 Bin. v. Houben o. J . (ausführt Biogr.). Ges. Werke in 50 Bden. Unter Mitwirkung von A. Hänel hsg. v. Houben 1908. B. Lit.: H. H. Houben Die Zeitschriften des Jungen Deutschlands (Bibliogr. Repertorium I I I u. IV) 1906/09. M. Hochdorf Les poites de la Jeune Allemagne, La Revue 1912 S.234S. A. Nov i k Hemel, Börne, Heine u. die Anfänge jungdeutscher Kritik (in tschech. Sprache) 1906; dazu O.FischerEuph.XIV(i907)S.672ff.A.Schmid Aus den Kreisen des Jungen Dld., ZfBfr.NF.IV (1912) I S. 104ff. H. Meisner u. E. S c h m i d t Briefe an W. Menzel, mit Einl. von R. M. Meyer 1907; dazu Minor ZfdPh. XLIV (1912) S. 87ff. — M. Runze K. Gutzkow »1911. J . Dresch Gutzkow et la Jeune Allemagne 1904. E. Métis K. G. als Dramatiker (Bresl. B. NF. 48) 1915. H. H. Houben Studien über die Dramen K. Gutzkows 1899. D e r s . Gutzkow-Funde 1901. P. Müller Beiträge zur Würdigung von K.Gutzkow als Lustspieldichter (Beitr. Lw. 16) 1910. P. Weiglin Gutzkows u. Laubes Literaturdramen (Pal. 103) 1910; H. Schneider AfdA. X X X V I (1913) S. 177ff. O. B a u m g a r d Gutzkows dramatische Tätigkeit am Dresdener Hoftheater unter besonderer Berücksichtigung seiner Bühnenbearbeitungen. Diss. München 1915. G. G ö h l e r Gutzkow u. das Dresdener Hoftheater, Archiv f. Theatergesch. I (1904) S. 97ff.; II (1905) S. 193ff. R. Göhler Dingelstedt u. Gutzkow, DRs. 159 S. 369 ff., 160 S. 88 ff. D. F. Pasmore K. Gutzkows short stories. Modern Language Notes X X X I V (1919). A. v. Weilen

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K. Gutzkow u. Charlotte Birch-P/eiffer. Eine Abrechnung, Beitrr. zur Lit.- u. Theatergesch. L. Geiger dargebracht (1918) S. 311 ff. P. A . M e r b a c h K.Gutzkow über seinen 'Uriel Acosla', Euph. X X I I I (1921) S. 696 ff. — W . L a n g e H. Laubes Aufstieg 1923. P. P r z y g o d d a H.Laubes literar. Frühzeit.Diss. Berl. 19JO. H . B r o ß w i t z H . L a u b e als Dramatiker 1906. A . v . W e i l e n Theaterkritische u. dramaturg. Aufsätze von H. Laube (Schriften d. Gesellsch. f. Theatergesch. 7) 1906. M. M o o r m a n n Die Bühnentechnik H. Laubes (TheatergeschF. 30) 1917. Gg. A l t m a n n H. Laubes Prinzip d. Theaterleitung (SchrBGes. 5) 1908. A . v. W e i l e n Laube u. Shakespeare, ShJb. X L I I I ( 1 9 0 7 ) S.98ff. D e r s . H.Laube u. das Burgtheater, Bahne u. Welt 1905 S. 701 ff. D e r s . Ch. Birch-Pfeiffer u. H. Laube im Brie}Wechsel (Schriften der Gesellschaft f. Theatergesch. 27) 1917. H. H. H o ü b e n Laubes 'Karlsschüler' in Stuttgart, Württ. Vierteljahrshefte X X I I I (1914) S.220ff. — V. S c h w e i z e r L. Wienbarg. Beitr. zu einer jgd. Ästhetik 1897. Neudruck d. 'Ästk. Feldzüge' (Vorwort von A . K e r r ) in Hoffmann u. Campes Neudrucken Nr. 2, 1919. — O. D r a e g e r Th. Mündt u. seine Beziehungen zum Jungen Deutschland (Beitr. Lw. 10) 1909. H. v. K l e i n m a y r Zu Th. Mündts 'Freihafen', ZföG. L X V I I I (1917/18) S. 385 ff., 481 f f . W. P r i n z Th. Mündt als Literarhistoriker. Diss. Halle 1912. — E. P i e r s o n Gustav Kühne o. J. (1890). F. H i n n a h E. Willkomm. Diss. Münster 1915. H. H a l b e i s e n H. J. Koenig. Diss. Münster 1915. P h . H a f f n e r Gräfin Ida Hahn-Hahn 1890. R. R o d e n h a u s e r A.Glaßbrenner. Ein Beitr. zur Gesch. des Jungen Deutschland u. der Berliner Lokaldichlg. 1912. G. D r o e s c h e r G. Freytag in seinen Lustspielen. Diss. Berlin 1919. O. M a y r h o f e r G. Freytag und das junge Deutschland (Beitr. Lw. 1) 1907. F. P e t i t p i e r r e Heinse in den Jugendschriften der Jungdeutschen. Diss. Bern 1916. A. P l o c h Grabbes Stellung in der deutschen Literatur 1905 S. 71 ff. F r . K r e y ß i g Vorlesungen über den deutschen Roman der Gegenwart 1871. M i e l k e - H o m a n n Der deutsche Roman '1920.

§ 14. L i t e r a r h i s t o r i s c h e E i n r e i h u n g . Die Jungdeutschen lösen die senil gewordene Romantik ab, hängen jedoch durch manche Stilmittel (Ironie, Diskussionsexkurse) mit ihr zusammen. Die jgd. Epoche stellt sich zwischen die überwundene Romantik einerseits, die politische Lyrik und den poetischen Realismus anderseits. Mit jener verbindet sie starke Ähnlichkeit mancher Tendenzen; gleichwohl sind wesentliche Unterschiede vorhanden. Die politischen Lyriker benutzen die Versform zur Aussprache von Dingen, die die Jungdeutschen in eine wenig gepflegte Prosa kleiden. Außerdem gedankliche Differenzen. Die an die frz. Rheinbedrohung und den preuß. Thronwechsel

sich anschließende politische Lyrik findet Gegnerschaft bei den Jungdeutschen. Theoretisch hält man von einer politischen Lyrik nichts, weil dabei die Lyrik und die Politik zu kurz komme. Zur nichtlyrischen politischen Dichtung der 40 er Jahre bestehen enge Beziehungen. — Mit der um 1840 aufblühenden Dorfgeschichte sind wesentliche Berührungspunkte vorhanden, ebenso mit dem Zeitroman des poetischen Realismus, von dem jedoch die Jungdeutschen durch ihre Unfähigkeit zu absichtsloser Wirklichkeitsverwertung getrennt sind. — Verhältnis zu Goethe: Zu Anfang der 30 er Jahre stellen sich zahlreiche Jungdeutsche dem alten Goethe feindlich gegenüber (den jungen hat man stets gelten lassen) wegen seiner Abgewandtheit von nationalen und zeitbewegenden Fragen. Führer der Goethophoben Börne und Menzel. Mündt nennt sich 1834 einen GoetheAntipathen. Dagegen waren Wienbarg, Laube und Schlesier niemals Goethefeinde. Die übrigen kommen nach 1835 von ihrer Gegnerschaft zurück. Varnhagen, der Erzieher des J. D., wirkt dabei mit. Gutzkow wendet sich gegen die aus Unterschätzung des Künstlers und einseitiger Bevorzugung der Gesinnung stammenden Fehlurteile. Rückkehr zu Goethe wird als möglicher Ausweg aus den künstlerischen Wirren der Gegenwart erkannt. — Verhältnis zu Schiller: Anfangs unklare Schillerbegeisterung. Schiller als Dichter der Freiheit und der nationalen Tat gegen Goethe ausgespielt. Die jgd. Anfänge stehen stark unter Schillers Einfluß. Dann wird man kritisch. Wienbarg verehrt Schiller, betont jedoch, daß Schiller nicht als Nationaldichter gelten könne, da seine Dramen in keinerlei Zusammenhang mit ihrer Zeit stehen. Wienbarg wendet sich ferner gegen die in den 'Briefen über die ästhetische Erziehung* ausgesprochene Ansicht, daß die Kunst zur politischen Freiheit reif machen soll. Das Gegenteil sei richtig: politische Freiheit ist die Voraussetzung für alles andere. Gleichwohl gilt Schiller als Muster für die gärende Zeit der 30 er Jahre, weil man genötigt sei, auf bedeutsamen Ideengehalt und Tendenz viel geben zu müssen. Später gelangt man zu gerechterer Würdigung Schillers.

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§ 15. G e g n e r : Außer zahlreichen Pamphletisten existiert auch eine Reihe literarisch ernst zu nehmender Gegner. Tieck hat mehrere Novellen mit antijungdeutscher Tendenz geschrieben. Auch A. W. Schlegel äußert sich polemisch über die junge Literatur. Hebbel protestiert gegen Literatentum und Tendenzpoesie der Jungdeutschen, ähnlich O. Ludwig. Neben dieser künstlerischen Opposition findet sich auch eine z. T. politisch tingierte: G. Freytag und Julian Schmidt machen in den 'Grenzboten* nicht nur die Forderungen des poetischen Realismus geltend, sondern sind auch als kleindeutsche Realpolitiker den jgd. Bestrebungen abhold. § 16. A u s l ä n d i s c h e E i n f l ü s s e : Alle literaturrevolutionären, Kulturkritik am Bestehenden Übenden Literaturrichtungen (frz. Romantik, Shelley, Puschkin) wirken stark auf die Jungdeutschen. Einfluß der damals in Deutschland bekanntwerdenden russ. Literatur (zuerst von H. J . Koenig propagiert). Von der frz. Romantik wirken die eigentlichen Künstler (V. Hugo, Musset, A. de Vigny, Lamartine) verhältnismäßig wenig: der ideell-gedankliche Einfluß überwiegt den künstlerischen. In Biranger sieht und würdigt man zunächst nur die politische Tendenz. Dagegen wird die George Sand von allen Jungdeutschen über Gebühr geschätzt und nachgeahmt: sie gilt als Gipfel realistischer Darstellung. Von Einfluß auf den späteren Zeitroman sind Dumas, Balzac, vor allem E. Sue; für das jgd. Drama ist Scribe wichtig. Von Engländern wirken namentlich Bulwer, dann auch Dickens.

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im 19. Jh. 1905. J . Dresch Schiller et la Jeune Allemagne, Etudes sur Sch. publiées pour le centenaire de la mort du poète par la société pour l'étude des langues etc. 1905. S. 131 ff. — H. Günther Romant. Kritik u. Satire bei L. Tieck 1907. J . Minor Tieck als Novellendichter, Akad. BU. I (1884) S. 129 {f., 193 f{. M. Hasiiiski Tiecks Verhältnis tum Jungen Dld. Diss. Breslau 1921. — Th. St. Baker Lenau and Young Germany in America. Diss. Philadelphia 1897. J . Whyte Young Germany in its relations to Britain (Ottendorfer Memorial Sériés of Germanie Monographs Nr. 8); dazu Mod. Language Notes X X X I I I (1918) S. 168 ff.

Künstlerische Signatur. § 17. J u n g d e u t s c h e r R e a l i s m u s . Zentrales künstlerisches Problem der Epoche: die Eroberung und Darstellung des Lebens und der Wirklichkeit. Streben nach Realismus wurzelt zutiefst in jgd. Geistigkeit. Bestimmend für ihr Schaffen ist die Aktualitätstendenz (Streben, Dichtung und Leben miteinander in Beziehung zu setzen), die Antiromantik, der jgd. Unhistorismus und der lebensanschauliche Sensualismus, der die Anerkennung der sinnenfälligen Wirklichkeit gegenüber der Vorherrschaft des Idealistisch-Spiritualistischen predigt. Man wendet sich gegen den Hyperidealismus Hegels, freilich ohne die extremen Konsequenzen des Materialismus zu ziehen. Im Kampf des Sensualismus und Realismus mit dem bislang herrschenden Idealismus stellt man sich auf die Seite der Wirklichkeit, der Erfahrung, freilich ohne von der Kultur der Idee ganz los zu können. Der jgd. Realismus ist eben noch kein völlig konsequenter, aber die unausschaltbare Vorstufe eines solchen. Auch hier sind die Jungdeutschen die Vorbildner der künstlerischen Errungenschaften des Lit. zu § 14—16: V. Schweizer Das Junge Dld. u. die Überwindung der Romantik, Redende 19. J h s . Jedoch wird der theoretisch geKünste III 29f. E. Hohenstatter Ober die forderte Realismus in der künstlerischen politischen Romane von R. Prutz. Diss. München T a t nicht völlig verwirklicht. E r muß sich, 1918. K. Hensold G. Herwegh u. seine deutschen um überhaupt existenzfähig zu sein, verVorbilder. Diss. München 1916. E. Baldinger schiedene Beimischungen gefallen lassen: G. Herwegh. Die Gedankenwelt der 'Gedichte eines Lebendigen' (SprD. 19) 1917. D. Subotiö Rakel er ist ein spekulativer, reflektierender, Leoin u. das Junge Dld. Diss. München 1914. satirischer und tendenziöser Realismus. Rahel, Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde Zu reiner, absichtsloser WirklichkeitsNeu hsg. von H. Landsberger 1912. M. Holzmann Aus dem Lager der Goethe-Gegner (DLD. schilderung gelangt erst der poetische Der jgd. Realismus kann 129) 1904. O. Kanehl Der junge Goethe im Realismus. Urteil des Jungen Dld. Diss. Greifsw. 1913. Tendenzkrücke und satirische Spitze nicht A. C. v. Noe Das Junge Dld. u. Goethe. Diss. entbehren. Gleichwohl wesentlicher FortChicago 1910. L. Singer Das Junge Dld. u. Goethe, Chron. des Wiener Goethevereins IX schritt gegenüber der Heinischen Wirk(1895) S. 11. A. Ludwig Dai Urteil über Schiller lichkeitsvergewaltigung im Dienst witziger

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Pointen. Die Wienbargsche Forderung einer Zeitkunst stellt die Wirklichkeit hinsichtlich des Kunstobjekts als maßgebend hin. Protest gegen Unnatur und Willkür, aber auch gegen eine bloß äußerliche Wirklichkeitsabschilderung. Gutzkow fordert einen nach ideeller Wahrheit strebenden Realismus. Mündt billigt das Streben der frz. Romantik, die Literatur zu einem schonungslosen Spiegel des Lebens zu machen, Laster und Sünde darzustellen. — Der programmatisch geforderte Wirklichkeitszusammenhang äußert sich inhaltlich durch die Forderung zeitgemäßen Gehalts, in formaler Hinsicht im realistischen Stil, der entsprechend der sozialpolitischen Ideologie ebenfalls idealistische Ausartungen zeigt. Hinsichtlich des Realismus sind zwischen den einzelnen Persönlichkeiten wesentliche Unterschiede vorhanden, ebenso zwischen den Etappen der Entwicklung: manche kommen über einen Pseudorealismus nicht hinaus (Mündt), anderen gelingt ein echterer Realismus (Laube). Gutzkow kommt zeit seines Lebens trotz zunehmender Fähigkeit realistischer Gestaltung von den idealistischen Voraussetzungen seiner Jugend nicht los. Tendenz und Problem seiner Werke sind idealistisch, realistisch ist nur das Äußerlich-Formale. Stets ist seine Lebensgestaltung eine Verkörperung von Ideen und Postulaten. Unterschiede hinsichtlich der Entwicklungsstufen: in der Epoche des jgd. Sturmes und Dranges ist von einem echteren Realismus noch kaum die Rede. Er findet sich nur im Sinn der lebensnahen Stoffe. Sonst überwuchert Reflexion die Wirklichkeitsbeobachtung. Vieles Überspannte und psychologisch Unmögliche. Die Romanfiguren sind ideologische Charakterexperimente mit realistischem Beiwerk. Die Epoche nach dem Stilwandel zeigt echteren Realismus. Manches erinnert an den späteren konsequenten Realismus und Naturalismus: neue Entdeckungen an der Wirklichkeit, Erschließung neuer Stoffe: Fabrikproletariat, Schilderung von Massen, Einwirkung des Milieus wird beachtet. § 18. V o r l i e b e f ü r P r o s a : wichtiges formales Charakteristikum dieser im Zeichen des Realismus stehenden Epoche. Die Prosa ist die angemessenste Form für mo-

dernen Geistesinhalt. Der Romandichter ist der in moderne Prosa und moderne Gesinnung verpflanzte Epiker. Mündts 'Kunst der deutschen Prosa' versucht eine wissenschaftliche Begründung der Herrschaft der ungebundenen Rede. Der überwiegende Hauptteil der jgd. Produktion ist Prosa; die gelegentlichen Versversuche sowie die Iambendramen können nichts besagen. Ursache dieser Negation der gebundenen Form ist weniger in metrischer Unfähigkeit als in der Abneigung gegen die Beeinträchtigung der freien Gedankenbewegung durch Zwang der Form zu sehen, ferner in der unlyrischen Einstellung: warm gefühlte, unmittelbar aus dem Herzen quellende Aussprache innerer Erlebnisse war den räsonnierenden, reflexionsgekühlten Jungdeutschen nicht gegeben. An die Stelle der poetischen Stimmung tritt die absichtliche Tendenz. Die Zeit ist dichterischer Kontemplation abgeneigt. — Lieblingsgattung: anfangs Novelle (Räsonnements- und Diskussionsnovelle, die den pragmatisch-epischen Inhalt hinter der Debatte zurücktreten läßt), dann Drama und Roman. Die Novelle ist beliebt, weil ihre zwanglose Form die Einkleidung von Gedanken leicht macht; sie ist geeignetes Werkzeug für den Ideenschmuggel. Der Roman ist ebenfalls aus Gründen der unbegrenzten Gedankenbefrachtung eine bevorzugte Form. Der Roman ist die zeitgemäße Form des Epos. Was gefordert wird, ist jedoch kein historischer, sondern ein Zeitroman. Wienbargs Forderung eines zeitgeschichtlichen Sittenromans (er selbst plante einen solchen), eines analytischen Gesellschaftsromans wird von Gutzkow erfüllt. — Formgeschichtliche Entwicklung: die ersten Romane zeigen viel Novellenhaftes, später Ausbildung der Form des breiten Querschnitts. Roman des Nebeneinander: Simultaneität als künstlerisches Darstellungsprinzip. Reaktion gegen Hegels Geschichtsauffassung mit ihrer streng logischen Kausalität des Nacheinander. Die seltenen Fälle eines drastischen Nacheinander bleiben dem Drama vorbehalten. Gutzkow ist stets bestrebt, seine Nebeneinandertechnik durch innere Entwicklungslogik, formelle und ideelle Bezüglichkeit zu vertiefen.

JUNGES DEUTSCHLAND In den 40er Jahren wird das D r a m a zur Lieblingsform. Hier wird eine geschlossene Kunstform im Dienste eines satirischen und tendenziösen Realismus verwendet, doch wahrt gerade hier das Künstlerische sein Recht besser als in anderen Gattungen. § 19. F o r m . Für diese Zeit des Überschusses an Geisteskraft, der ein entsprechendes Gestaltungsvermögen mangelt, des Ringens mit neuen Problemen ist jene eigentümlichzersplitterte, lockere Form charakteristisch, jene Zwittergattungen zwischen Poesie, Reflexion, Kritik, journalistenhafter Diskussion über alles mögliche, wobei der Stoff in den Vordergrund tritt. Die jgd. Anfangswerke sind Sammelsurien von Skizzen, Tagebuchfragmenten, Briefen, Exkursen, Schilderungen, Causerien, Glossen, Novellen, Reden, Feuilletons. Später, als man nach dem Stilwandel über diese lockeren Zwittergattungen hinausstrebt, finden diese bei den Jungdeutschen selbst scharfe Kritik. Man will über die amorphen Fragmentenhäufungen zu organischer Formung vordringen, freilich ohne daß sich die atomistische Struktur jgd. Gedankengänge stets hätte verbergen lassen. § 20. S t i l (im äußeren Sinn): anfangs salopp, jede geglättete künstlerische Gestaltung meidend (Ausnahme Wienbarg). Ebenso wie man die Komposition eines Werkes durch Einschübe und Exkurse sprengt, zerstört man auch die syntaktischen Konstruktionen, pfropft alle möglichen Gedanken zu unmöglichen Satzungeheuern zusammen. Verstöße gegen Grammatik sind ebenso wie stilistische Katachresen in diesem ungepflegten Stil häufig. Überschwemmung mit frz. Fremdwörtern aus dem Salon und philosophischen Ausdrücken der Hegeischen Terminologie. Bei Gutzkow bleibt dieser geschraubte und verwilderte Stil auch nach dem Stilwandel, bei anderen bessert er sich wesentlich. Starker Einfluß Heines: Neigung zu realistischer Bilderwahl. Vorliebe für metaphorische Aprosdokesen, nonchalanter Ton der Vergleiche, Haschen nach witzigen Wendungen. Was von Heines Stil gesagt wurde (vgl. M. E b e r t Der Stil der Heineschen Jugendprosa. Diss. Berl. 1903), gilt hinsichtlich der negativen Seiten auch für

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die Jungdeutschen: starke Subjektivität und Willkür, ausgeprägt assoziatives Denken, Pointenmäßigkeit, Sprunghaftigkeit, gesuchter Geistreichtum. Die Saloppheit — bei Heine nur scheinbar — ist bei ihnen wirklich vorhanden. Heines persönliche Note weicht einer unpersönlichen Verwaschenheit. An Stelle der Heinischen Lebendigkeit (bewirkt durch Kurzsätzigkeit, Bevorzugung der Koordination vor der Subordination) tritt bei den Jungdeutschen oft ein langweilig doktrinärer Ton, ermüdende Unübersichtlichkeit langatmiger Satzgebilde. — Technik der versteckten Allusion und beredten Aposiopese — eine Folge des Zensurdrucks. — Die für die jgd. Anfänge charakteristischste Form ist der B r i e f . Novellen, Romane, Kunstkritiken, literarische Besprechungen, politische Erörterungen, Reiseschilderungen: alles in Briefform. Beliebteste Domäne der Briefform ist die R e i s e l i t e r a t u r . Reisen sind damals für die allseits gehemmte Zeit wichtigstes Mittel der Expansion. Man will an Stelle der heimischen Verhältnisse neue „Zustände" kennenlernen. Schlagwort „Zustände" symbolisiert das neue Interesse an der Totalität, die an die Stelle der Teilnahme für das Individuum tritt. Kosmopolitischer Antipartikularismus; Streben nach Annäherung der Völker. Alle Jungdeutschen und zahlreiche andere Literaten wetteifern in realistischen Schilderungen in skizzenhafter, witziger Manier. Zwei Arten von Reiseschilderungen: 1. poetischer Reisebrief, novellenartig, assoziationsbedingte Einfälle, Vorbild Heine; 2. politisch-kulturhistorische Reiseschilderung, viel sachlicher, aber auch hier einfallsreiches Witzspiel, Vorbild Börne. § 21. I r o n i e , S a t i r e , W i t z . Ironie: wichtiges Stilmittel der Jungdeutschen. Es ist aber nicht die romantische Ironie, sondern deren witzige Variante, wie sie sich bei Heine findet: tendenziöse Ironie. Zerstörung der Illusion durch Hervortreten des Dichters. Ironie, Satire und tiefere Bedeutung vereinigen sich meist. Z. B. Ironisierung zeitgemäßer Probleme, an die man selber glaubt. Die jgd. Ironie wird meist satirisch, daher absichtlich und direkt, gegenüber dem freien ästhetischen

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Geistesspiel der Romantik. — Satire: wesentliches Kampfmittel dieser fordernden Epoche, da direkt politische Kampfmittel benommen sind. Keine offenen, pathetischen Angriffe, sondern verdeckte Satiren. Belletristik wird zum politischen Ideenvehikel. Börne macht die Kunstkritik durch versteckte Satire zum Organ des Ideenschmuggels. Willkomm betont in den 'Dioramabildern', daß die das neue Geschlecht bedrückenden Konventionen mit „Witz, Satire und Ironie, der Dreieinigkeit unserer Epoche", zu bekämpfen seien. — Witz: Die jgd. Epoche will um jeden Preis geistreich und witzig sein, doch wird der Witz bei den ernster veranlagten Jungdeutschen (Wienbarg), die ihn als konventionelles Mittel literarischer Manier verwenden, oft gesucht und gequält. Meistens gelangt man gar nicht zu dem funkelnden Heinischen Witz, sondern bleibt bei den faden Wortwitzen in der Art Saphirs stehen. Der Witz ist die einzige, den Jungdeutschen zugängliche Kategorie des Komischen: der Aufstieg zum Humor ist diesen unruhigen, absichtlichen Geistern versagt. Das Streben nach witzigen Allusionen, pointierten Verknüpfungen heterogener Dinge steht im Dienst des allgemeinen Strebens nach Geistreichtuni. Eine gewisse Oberflächlichkeit, die den meisten Jungdeutschen anhaftet, und die die Formen des Feuilletons, des Journalartikels, des Essays als für sie besonders geeignet erscheinen läßt, wirkt in der nämlichen Richtung. Vorbild für diese pikante „Espritpoesie" sind außer Jean Paul, Börne und Heine auch die frz. Feuilletonisten. — Mit all diesen Erscheinungen steht der vollständige Mangel an Naturgefühl in engem Zusammenhang. Die Mißachtung der landschaftlichen Natur gehört zum literarischen Programm. Was man nunmehr aufsucht, ist bewegtes Menschenleben. Gegensatz zur schwäbischen Lyrikerschule und zur zeitgenössischen Almanachspoesie. Nach dem Stilwandel gewinnt Laube jedoch die Fähigkeit eingehender Naturbeobachtung (z. B. Schilderung atmosphärischer Stimmungen im 'Jagdbrevier* 1840). G e i s t i g e S i g n a t u r . § 22. A u f k l ä r e risch-intellektualistische Einstel-

lung: Die Werke der Jungdeutschen sind Produkte des kombinierenden Verstandes und des kritischen Geistes; der Verstand überwiegt die Phantasie und die emotionellen Fähigkeiten, die logisierende Diskussion die poetische Gestaltung. Unfähigkeit zum Symbol: Steckenbleiben in verstandesmäßiger Allegorik. Reaktion auf die Gefühlsseligkeit der Trivial- und Spätromantik. Diese rationalistisch-räsonnierende Haltung läßt auf ein Vorwalten des kritischen Vermögens schließen. Fähigkeit zur Analyse und Destruktion überwiegt die der produktiven Synthese. Alle jgd. Werke bringen ausführliche kritische Reflexionen in aller Extensität. Doch strebt man nach produktiver Kritik und deren Einkleidung in unterhaltende novellenartige Formen. Diese Verbindung von kritisch-räsonnierenden Elementen mit belletristischen, der sich ein scharfer Blick für alle zeitbewegenden Erscheinungen und eine ungewöhnliche Herrschaft über das aktuelle Schlagwort zugesellt, machen die Jungdeutschen zu prädestinierten Journalisten. Tagesschriftstellertum damals als hohe Mission empfunden: Zeiterscheinung dieser hastig bewegten Epoche, die nicht die Muße hat, ihre gärenden Probleme zu künstlerischer Gestaltung reifen zu lassen. Die Jungdeutschen sind Tagesschriftsteller aus Überzeugung, sie wollen nur auf die Mitwelt, nicht auf die Nachwelt wirken. Trotz ihres Strebens nach Massenwirkung durch belletristische Einkleidung schwieriger Probleme, trotz demokratisch-kollektivistischer Tendenz können sie jedoch über eine gewisse esoterische Literatenhaftigkeit nicht hinaus. § 23. J u n g d e u t s c h e r Individualismus. In künstlerischer und ethischer Beziehung, hinsichtlich der Formen der eigenen Lebensgestaltung und philosophischen Geisteshaltung sind die Jungdeutschen durchaus Individualisten. Schroffe Egozentrizität namentlich in der Kritik: Beurteilung nach Maßgabe der eigenen Sympathien. In politischer Beziehung jedoch spielen die sozialen Gemeinschaftsgefühle eine große Rolle. Nicht nur der Einzelne, sondern die Volksgesamtheit soll frei sein. Einwirkung der phantastisch-schwärmerischen Überschätzung

J U N G E S DEUTSCHLAND des Volkes ( = Inbegriff alles Tüchtigen) seit Börne. Doch wird die Negation der Individualität durch die demokratischnivellierende Epoche gelegentlich beklagt. Man opponiert gegen die Hegeische Geschichtsphilosophie, die zu einer theoretischen Negation der Leistungen des Individuums zugunsten einer immanenten Rationalität der Idee gelangt war. Kollektivistisch-demokratische Tendenz auf politischem und sozialem Gebiet, individualistischer Liberalismus auf allen geistigen Gebieten ist das jgd. Credo. Doch ist das jgd. Individuum kein trotzig betontes Eigenwesen, sondern fühlt sich als Exponent der neuen Strömungen. Den veralteten Autoritäten, dem Feudal- und Polizeistaat werden die Rechte der freien, zukunftsfrohen Individualität entgegengesetzt. Auch hier Milderung und Entwicklung. Anfangs verhindert das schroffe Hervorkehren der eigenen Individualität sogar einen engeren Zusammenschluß. Später gelangt man zur Erkenntnis der Rechte der außersubjektiven Umwelt. Sturm und Drang und Romantik fordern besondere Rechte für das geniale Individuum, die Jungdeutschen fordern gemeinsame Rechte für die Gesamtheit, in denen sich auch das bedeutende Individuum ausleben kann. — Ästhetischer Individualismus: nur Individuell-Konkretes ist schön. Auch das Erkenntnisproblem findet subjektivistische Lösung ('Blasedow'). § 24. F o r c i e r t e T a l e n t e : Schlagwort auch auf die Jungdeutschen angewendet. Forciert = erzwungener, künstlich erhitzter, nicht organisch aus echter künstlerischer Veranlagung sich ergebender Stil. Damit in Zusammenhang stehen die zeitcharakteristischen Schlagwörter: „Problematische Naturen", „Epigonentum". Soweit die Jungdeutschen der Epoche des Epigonentums angehören, sind sie von der Freudlosigkeit und Zerrissenheit solcher Zeitläufe angekränkelt. Aber sie überwinden das Epigonentum durch tatkräftige Hingabe an neue zukunftsvolle Probleme.— P e s s i m i s m u s : Zerrissenheit, Unbefriedigung werden als Charakteristika dieser Übergangsepoche angesehen, doch ist diese Geisteshaltung für die eigentlichen Jungdeutschen nur ein Übergangszustand. Dem

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billigen Zeitpessimismus wird ein evolutionistischer Optimismus gegenübergestellt. Trotz zahlreicher desillusionistischer Äußerungen ('Poeten', 'Wally') besteht doch ein starker Glaube an die heilvolle Entwicklung des Menschen. — Charakteristisch für die Jungdeutschen ist ferner ihr l i t e r a r i s c h e r K o s m o p o l i t i s m u s , ihre Franzosenfreundschaft und ihre a n t i r o m a n t i s c h e Einstellung: Kampf gegen die politisch-reaktionär gewordene Romantik und die trivial-romantischen Auswüchse der Restaurationsepoche. Opposition gegen romantische Lebens- und Kunstanschauung, der die moderne entgegengesetzt wird, die nicht kontemplativ und historisch-retrospektiv, sondern aktuell-tendenziös ist. Überwindung der Romantik durch Jungdeutsche und Junghegelianer. § 25. J u n g d e u t s c h e r U n h i s t o r i s mus: eine Folge der allg. Pietäts- und Traditionslosigkeit. Gegen die historische Poesie (Scott und dt. Nachahmer). Poesie nicht mehr ancilla historiae, sondern Dienerin des gegenwärtigen Lebens. Tendenziöser Unhistorismus: man sucht in der Geschichte moderne Probleme auf oder legt sie hinein. Tendenziöse Anachronismen: moderne Probleme in historischem ('Nero', 'Saul') oder exotischem Gewand ('Maha Guru'). Opposition gegen Ad. Müllers und Hallers reaktionäre Staatswissenschaft, gegen H. Leo und Savignys historische Rechtsschule. Die Ausdrücke „historisch" und „Historie" erhalten einen besonderen Sinn: Alle lebendige Entwicklung = Geschichte; Historie = w a s tot hinter uns liegt, Material für erstarrte Gelehrsamkeit ist (Wienbarg). Opposition gegen unpoetische Romanhistorie. Die Jungdeutschen sind Anhänger der historischen Ideenlehre. Geschichte = Auswirkung einer Idee, die sich in jedem Jahrhundert in neuer Weise manifestiert. Zweck der Geschichte ist das Leben. — Vager Zukunftsenthusiasmus, Utopik, Verständnislosigkeit gegenüber historischen Traditionen und Institutionen (Staat). Erst später lernt man realer denken. § 26. T e n d e n z l i t e r a t u r . Hauptcharakteristikum der jgd. Epoche, von dem aus sich alle anderen Merkmale ableiten lassen. Man erstrebt mit der Dichtung

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nicht in erster Linie künstlerische, sondern praktische Wirkung. Nach Ansicht der Jgd. hat die Poesie nur dann Existenzberechtigung, wenn sie sich im Sinn der Zeittendenzen betätigt, zu Taten anfeuert oder reif macht. Hochschätzung der Gesinnung durch die Kritik; die Stellung eines Dichters zu den Zeittendenzen wird beurteilt, weniger die künstlerische Leistung. Das stoffliche „Was" steht im Vordergrund. Schön ist, was den jeweiligen Formen der Weltanschauung einer Zeit gemäß ist. Literatur ist eine Funktion der Zeit, ist Philosophie der Geschichte, ihr Zweck ist „ideelle Konstruktion der Zukunft", ihr Stoff daher nicht phantastische Fiktionen, sondern das bewegte Leben der Zeit (Gutzkow). §27. K o n s t i t u t i v e Ideen u n d H a u p t p r o b l e m e . Politischer und sozialer Liberalismus, neue Ethik, religiöses Freidenkertum. Verdienst: Problemkonstituierung; die geistige Bewältigung gelingt nicht vollständig, am wenigsten deren künstlerische Gestaltung. Man kämpft gegen „die Legitimen, Katholischen, Mittelalterlichen, Absoluten, die Ritter des Bestehenden, die Propheten der Vergangenheit und Feinde der Zukunft" (Mündt). — L i b e r a l i s m u s ist leitendes Prinzip, er erscheint als die moderne Manifestationsweise der historischen Idee. Man fordert Freiheit als Totalität, Freiheit auf allen Lebensgebieten. Anfangs abstrakter politischer Liberalismus. Wurzeln: die naturrechtlichen Kategorien Rousseaus, die frz. Sozialphilosophie; später stellt man ein konkreteres Programm auf. Erneuerung und liberaler Fortschritt auf allen Gebieten, daher kämpft man gegen die absolute Monarchie, die starre soziale Ordnung des Feudalstaates, gegen Geburtsvorrechte, gegen Konventionen in erotischer Hinsicht, gegen Dogma und orthodoxe Religiosität. Gefordert wird vor allem eine geistige Revolution, eine durchgreifende Erneuerung. §28. S t e l l u n g zum S a i n t - S i m o n i s mus. Die Lehre des frz. Sozialreformers Saint-Simon, des Vaters der modernen sozialistischen Bewegung, wird von den Jungdeutschen großenteils rezipiert. Wirksam wird anfangs weniger der wirtschaftlich-sozialpolitische Gedankenkreis, son-

dern der ethisch-religiöse. Besonders wichtig wird die Verbindung von Gesellschaftskritik mit der Kritik des Christentums, das von allem Dogmatismus auf seinen ursprünglichen ethischen Kern reduziert wird. Alles ist göttlich, ein Antagonismus zwischen spirituellem und materiellem Prinzip besteht nicht. Neue Auffassung der erotischen Probleme. Betätigung der Fleischestriebe nicht sündhaft. Ehereform, Kampf für die „Rehabilitation des Fleisches". — In belletristischer Einkleidung werden diese Ideen ziemlich gleichzeitig zuerst von Heine und Laube verkündet. Heine adoptiert namentlich die eudämonologischen Konsequenzen des St.-Simonismus. Außerdem verkündet Heines Hellenismus und Sensualismus, der sich mit dem hyperspiritualistischen Nazarenertum in Gegensatz befindet, leidenschaftlich die „Emanzipation des Fleisches". Diese wird auch von Laube gepredigt. Geschlechtsliebe ist ihm Symbol und Vorstufe der allg. Menschheitsliebe. Gutzkow leistet anfangs der Theorie der Emanzipation des Fleisches leidenschaftlich Gefolgschaft, später wird er zurückhaltender und interpretiert die Emanzipation des Fleisches als „Wiedereinsetzung des Natürlichen auf allen Lebensgebieten". Ein Problem des Erotischen kennt auch die Romantik, aber den saint-simonistisch beeinflußten Jungdeutschen bleibt die Konstituierung dieses Problems als eines sozialethischen, ferner dessen Fundierung durch einen weltanschaulichen Monismus vorbehalten. Zwei Bedeutungen der „Emanzipation des Fleisches": X. praktisch-ethische Konstituierung der neuen erotischen Freiheit; 2. Bekundung einer antispiritualistischen, pantheistisch-monistischen Weltanschauung. Zusammenhang mit der Identitätsphilosophie Schellings und Hegels, doch wird des letzteren Panlogismus bekämpft. Im Zusammenhang mit der Emanzipation des Fleisches fordert man E m a n z i p a t i o n der F r a u : I. Gewährung erotischer Freiheit durch Befreiung von konventionellen Vorurteilen, Ehereform; 2. bürgerliche Gleichstellung der Frau, die solange kein Interesse für öffentliche Angelegenheiten zeigen kann, als sie nicht Recht und Wirkungskreis im Vaterland

J U N G E S DEUTSCHLAND bekommt. — Judenemanzipation: Folge des jgd. Kosmopolitismus, der freien humanitätsreligiösen Anschauungen und des oppositionellen Liberalismus. Man fordert: bürgerliche Gleichstellung der Juden, ferner die Befreiung von dem Haß konventioneller Vorurteile. Das Eintreten für die Juden hat dem J . D. den Verdacht einer von Juden initiierten Bewegung eingetragen. Gutzkow tritt für bürgerliche Gleichstellung ein, doch nur unter der Voraussetzung der Akkommodation der Juden an die dt. Verhältnisse. § 29. S o z i a l i s t i s c h e E i n s t e l l u n g im Gefolge des St.-Simonismus und der frz. Sozialphilosophie. Die sozialistischen Einflüsse lösen den politischen Demokratismus ab. Forderung der Menschenrechte, Hebung der unteren Stände, Interesse für Proletariat, das gegen die Ausbeutung durch das Großkapital in Schutz genommen wird. § 30. P h i l o s o p h i s c h e O r i e n t i e r u n g . Imi Grund eine idealistische Weltanschauung. Superiorität geistiger Prinzipien wird anerkannt, obwohl gegenüber früherem Hyperspiritualismus das Recht der Materie betont wird. Weltanschaulich wie künstlerisch gelangt man zu keinem konsequenten Realismus. Opposition gegen den Materialismus der Linkshegelianer. Monismus und Pantheismus: man erstrebt poetische Überwindung des religiösen, ethischen und metaphysischen Dualismus. — Alle Jungdeutschen stehen unter Einfluß H e g e l s , doch bekämpfen sie ihn. Maßgebend bleibt die formelle Schulung (Dialektik, Antithetik, Neigung zu glossomorphem Begriffsspiel). Der Gedankeninhalt wird oft nur oberflächlich erfaßt. Hegels Terminologie wird festgehalten, von den Ideen wird namentlich der Entwicklungsgedanke übernommen. — Schärfste Opposition gegen Hegel durch Mündt und Kühne, anfangs seine eifrigen Schüler. Ihre Entwicklung ist kennzeichnend auch für die anderen: allmähliche, oft sehr polemische Emanzipation von Hegel, der sie anfangs ganz beherrscht. Mit zunehmendem Wirklichkeitssinn wehrt man sich gegen die Einsperrung des konkreten Lebens in die Paragraphen des Systems, gegen den „Hegelschen Geschichtsstupor", die Mannig-

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faltigkeit des historischen Lebens in logische Schemata pressen zu wollen, gegen die Vernichtung poetischer Illusionen und Symbole durch nackte Begrifflichkeit. Wendung vom abstrakt-spekulativ-idealistischen zum konkret-empirisch-realistischen Denken. — Obwohl die Jungdeutschen zu ernster philosophischer Gedankenarbeit unfähig waren, sind ihre philosophischen Entwicklungsgänge dennoch Symbol der geistigen Neuorientierung in den 30 er Jahren. — Neben Hegel wirkt in der ersten Periode auch noch Schellings romantischer Mystizismus. Gelegentliche Einflüsse Spinozas, Kants, Montesquieus, Rousseaus. Die Jungdeutschen fordern Rückkehr zur Natur aus den Banden der Konvention. Gutzkow verkündet einen rationalistisch und politisch-liberal modifizierten Rousseauismus. Sein Feind ist nicht die Zivilisation schlechthin, sondern die soziale, ethische und religiöse Unfreiheit. — Die r e l i g i ö s e und e t h i s c h e Problematik steht in engstem Zusammenhang mit der metaphysischen, da sich das Religiöse zum Religionsphilosophischen erweitert und für die ethischen Postulate metaphysische Fundierung erstrebt wird. Die stärkste Seite der Jungdeutschen ist skeptische Kritik und Reflexion gegenüber der tiefen Spekulation des Idealismus und der treuen Wirklichkeitsbeobachtung des Positivismus. Die historischen Formen des Christentums werden schärfster Kritik unterworfen (Einfluß des 'Lebens Jesu' von D. F. Strauß) gegen Orthodoxie und Pietismus, aber auch gegen flachen Rationalismus. Der Kern der christlichen Ethik wird nicht angetastet, auch die Idee des Christentums und die Tatsache des religiösen Gefühls bleiben unversehrt. Die religiösen Anschauungen der Jungdeutschen sind beeinflußt durch frz. Aufklärung (Voltaire), engl. Deismus, Lessings Toleranzgedanken, Herders Humanitätsidee, Kants Gedanken von einer Religion innerhalb der Vernunftgrenzen. — Jgd. Ethik: anfangs kritisch und destruktiv (Opposition gegen Vorurteile, gegen gewisse hypothetische Imperative gesellschaftlicher Konvention), später positiv. Ethischer Individualismus, doch wird das freie Ausleben des Individuums durch sozial-ethische Rücksichten beschränkt.

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JUNGES DEUTSCHLAND

Keine nach konventionellen Formen schematisierte Normalmoral, sondern freie, sich selbst gesetzgebende Sittlichkeit. Sittlicher Weltgenuß ohne niedrigen Egoismus. Höchstes Ziel: Aufsteigen zu freier Humanität, die den Forderungen der Gesamtheit Genüge tut und dem Individuum sein Recht läßt. J. C. R a n s m e i e r Heines 'Reisebilder' u. Laurence Sterne, ArchfnSpr. L X I (1907) S. 289 ff. A. P a u l George Sand u. ihre Auffassung von Liebe u. Ehe. Diss. Leipz. 1903. G. W e i l l L'école St.-Simonienne 1896. F. M ü c k l e Henri de St.-Simon 1908. F. M e h r i n g Gesch. der deutschen Sozialdemokratie IV 1 »• '1903—06. L.Maenner K. Gutzkow u. d. demokratische Gedanke (Histor. Bibl.46) 1921. L. F. P i n k u s K.Gutzkows Teilnahme am Emanzipationskampf d. Juden, AZtg. 1902 B. Nr. 162. H. H. H o u b e n H. Laube u. d. Juden, AZtg. des Judentums L X X (1906) S. 497 ff. J. D r e s c b Le roman social en Allemagne 1913. A. C a s e l m a n n K. Gutzkows Stellung zu den religiös-ethischen Problemen seiner Zeit 1900. E. B e r g m a n n Die ethischen Probleme in den Jugendschriften der Jungdeutschen. Diss. Leipz. 1906. H. F r i e d r i c h Die religionsphilosophischen, soziologischen u. polit. Elemente in den Prosadichtungen des Jungen Dld. Diss. Leipz.

1907. K. M ö c k e l Der Gedanke der Menschheitsentwicklung im Jungen Dld. Diss. Leipz. 1916. K. N o l l e H. Laube als sozialer u. politischer Schriftsteller. Diss. Münster 1914. R. W e i ß Relig. u. eth. Probleme in Gutzkows 'Uriel Acosta' u. in unserer Zeit 1912. H. Z i m m e r K. Gutzkow als Pädagog, Pädag. Studien X X X V I I (1916) S. 342ff. M. B a r t h o l m e y L. Wienbarg, ein pädagog. Reformer des Jungen Dld. (Pädag. Mag. H. 437) 1912. Zeitgenössische Darstellungen der jgd.Epoche: G u t z k o w Rückblick auf mein Leben. L a u b e Erinnerungen und Literaturgeschichte 1839—40. G u t z k o w Beiträge zur Geschichte der neuesten Lit. 1836. Ders. Vergangenkeit u. Gegenwart, Jahrb. d. Lit. 1839. M. M e y r Über die poetischen Richtungen unserer Zeit 1838. H. Marggraf f Deutschlands jüngste Literatur- u. Kulturepoche 1839. L. S c h ü c k i n g Rückblicke auf die schöne Lit. seit 1830, Jahrb. d. Lit. 1839. Th. M ü n d t Heine, Börne w. das sogenannte Junge Dld., Freihafen IV (1840) S. 261 ff. Ders. Allg. Literaturgesch. II. Band, 1846. A. J u n g Vorlesungen über die moderne Literatur d. Deutschen 1842. Joh. S c h e r r Poeten d. Jetztzeit usw. 1844. R. E. P r u t z Vorlesungen über die deutsche Literatur d. Gegenwart 1847. G. K ü h n e Das Junge DldWestermanns Monatsh. 1881 S. 488ff. F. Kainz.

K Kammerspiel. Die meisten Bühnen sind, namentlich in den größeren Provinzstädten, erbaut mit Bedacht auf möglichst viele und umfassende Spielvoraussetzungen; die Bühne muß dem großen Apparat der Oper und des historischen Schauspiels mit Massenszenen ebensolche Möglichkeiten lassen wie dem feinen, verinnerlichten Schauspiel, das einen kleinen, intimen, wenn nötig gedrückten Zimmerraum voraussetzt. Da Stücke, deren bester Reiz in der Intimität bestand, auf der großen Bühne verloren gingen, war eine kleine Bühne mit einem gleichfalls kleinen Zuschauerraum, ohne trennendes Orchester und möglichst ohne Ränge, im Interesse der Dichtkunst ebenso erwünscht wie in dem des Theaters. Vorbildlich in der Erzielung der Geschlossenheit und Intimität sind die im November 1906 mit Ibsens 'Gespenstern* eröffneten Kammerspiele des Deutschen Theaters in Berlin. Ein solcher Raum, mit einigen 300 Zuschauern, ermöglicht eine Schauspielkunst überall spürbarer Feinheiten. Strindberg faßte um 1910 'Wetterleuchten', 'Brandstätte', 'Gespenstersonate', 'Scheiterhaufen' als „Kammerspiele" zusammen. Wedekinds 'Frühlings Erwachen', Schnitzlers 'Liebelei', y. Hofmannsthals Stücke sind „Kammerspiele", die diesen Stil mitbringen. Nach Reinhardts 'Lysistrata'-Inszenierung in den Kammerspielen von 1908 ist dasselbe Stück des Aristophanes 1920 auch für das „Große Schauspielhaus" inszeniert worden, die dem „Kammerspiel" am weitesten entgegengesetzte Bühnenform. H. Knudsen. Kantate (cantata ital.). Die Gattung der K . ist an das Aufkommen des monodischen Stils um 1600 (s. Oper) gebunden: der Name bezeichnet ursprünglich ein gesungenes Seitenstück zur instrumentalen Sonate (canzon da sonor) und tritt, nach-

dem man sich zunächst mit dem allg. Ausdruck musiche begnügt hatte, um 1620 für mehrteilige instrumental begleitete Sologesänge auf. Ihre durch Takt und Tempo unterschiedenen Teile sind A r i e n (s. d.) und R e z i t a t i v e (s. Arie), wohl auch R i t o m e l l e (s. Arie), die sich in dramatischer Art zu einem auch durch die Tonart der Stücke zusammengehaltenen Ganzen vereinigen. Die anfänglich bescheidenen Abmessungen der Teile erweitern sich gegen die Mitte des 17. Jhs. vorzüglich durch das Aufkommen der Da-capo-Arie, und innerhalb der K., nicht in der Oper, vollenden sich Entscheidungen wie die Trennung des rezitativischen vom ariosen Stil. Schon früh, bei Grandi, Landi und Ferrari, zeigt sich als künstlerisches Ferment ein in gleicher Form immer wiederkehrender Baß (basso ostinato), über dem sich die Gesangsstimme in ausdrucksvollen Veränderungen ergeht, ein Verfahren, das in späterer Zeit (nach 1700) entartet, indem der Ostinato durch die Kunst des Gestaltens nicht mehr überwunden wird. Außer den genannten Meistern sind Caccini, dann L. Rossi, Carissimi, Provenzale, Stradella Träger der Entwicklung; seit der zweiten Hälfte des 17. Jhs. schwillt die Literatur an: von AI. Scarlatti (1659—1725) sind über 600 K . erhalten, die z. T. dem Zuge der Zeit folgen und an die Stelle des generalbassierenden Cembalo eine ausgeführte Orchesterbegleitung setzen. Seit Rossi (f 1653) findet sich das Duett und das Terzett in Arienform; die Arie kann durch das Arioso und durch das Strophenlied wieder verdrängt werden. Seit dieser Zeit verliert sie auch zum Vorteil des Ganzen die Neigung zu übertriebener Ausmalung des Wortsinnes. Die besondere Note, die der protestantischen Kirchenmusik der „Choral" (rieh-

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KANZONE—KAROLINGISCHE

tiger: das Gemeindelied) gab, verwehrte den Eingang des mit der italien. Form verbundenen obstinaten Wesens der Bässe in die deutsche geistliche K . Immerhin wird man einige Stücke des an italienischer Monodie gebildeten, aber doch im heimischen polyphonen Stil verankerten Heinrich S c h ü t z (1585—1672) der G a t t u n g der K . zuzählen müssen, obwohl der Titel 'Sacrae symphoniae' einen Zusammenhang mit ihr nicht betont. Aber schon das Schütz folgende Geschlecht führt, wenn auch mit großer Freiheit, den basso ostinato ein. Um die Wende des 17. zum 18. Jh. erfolgt dann bestimmt die Übertragung der Eigenschaften der weltlichen K . in die den durchimitierenden Stil zögernd aufgebende geistliche Kunst. Der dem geistlichen Dialog eines Hammerschmidt, Schütz, R . Ahle, Buxtehude angegliederte kunstvolle oder einfache Chorsatz leitet im Verein mit der Aufnahme des Parlandorezitativs (an Stelle der gregorianisch beeinflußten Diktion) zu der Kirchenkantate J . S . B a c h s über, von dem aus fünf vollständigen Jahrgängen etwa 200 Stücke erhalten sind. In England war die geistliche Monodie im Anthem (mit engl. Text) zu Worte gekommen (Purcell, Haendel); in Spanien entspricht ihm das Villancico des 17. und 18. Jhs. (A. G e i g e r Bausteine zur Geschichte des iberischen VulgärVillancicos, Zeitschr. f. Mus.-Wissensch. IV [1921] S. 65). Mit Erdmann N e u m e i s t e r s (1671 bis 1756) Umwandlung des Kantatent e x t e s (einzeln 1700, gesammelt 1704) kam in Deutschland die oben berührte Stiländerung zustande, die sich aus der Lösung von Bibelwort und Choral zugunsten einer dem weltlichen Muster angeähnelten Lyrik ergibt (s. d. Art. Musik und Literatur)', die Verflachung und Veroperung der Gattung, vor der Bach durch sein persönliches Genie bewahrt wurde. A n einem hier anknüpfenden literarischen Streit waren einerseits J. H. Büttstedt ('Ut re mi fa sol tota música et harmonía aeterno.' 1717) und Joachim Meyer ('Unvorgreifliche Gedanken' 1726), auf der anderen Seite J . Mattheson ('Beschütztes Orchestre' 1717, 'Der neue gottingische Ephorus' 1727) beteiligt. Bachs K . zeigen

LITERATUR

reichste Mannigfaltigkeit der Typen, unter denen nur der dem Anthem entsprechende (mit Beschränkung auf das Bibelwort) fehlt. Den Kern der Kirchenkantate bilden seit Bach die Ensemble- und Chorsätze, vorzüglich die auch in der Solokantate nicht fehlenden Choräle; selbst das Solo ist Vertretung der Gemeinde. In der weltlichen Kunst tragen viele moderne Gebilde den Namen K . mit Unrecht: „lyrische Szene" würde für manche opernartige Gestaltung die angemessene Bezeichnung sein. Die Grenzen zu den Gattungen des Oratoriums, der Legende, des Mysteriums, der Ballade erscheinen verwischt. E. D e n t Italian Chamber Cantatas, Mus. Antiquary Juli 1911. £ . S c h m i t r Geschichte der Kantate und des geistlichen Konzerts I. Bd. »9'4. Th. W. Werner. Kanzone. K . (ital. canzone = „ L i e d " ) ist eine lyrische Formi, die wohl von Provenzalen und Nordfranzosen stammt und von Italienern (Dante, Petrarca) ausgebildet wurde. Die Kanzonenstrophe ist meist zweiteilig aus Aufgesang (fronte) und Abgesang (sirima) zusammengesetzt. Der Aufgesang kann wieder in Stollen (piedi), der Abgesang in Volten gegliedert sein. A u f gesang und Abgesang sind meist durch Reime verbunden. Doch kommen auch andere Teilungen vor. Ebenso frei ist die Anzahl der Verse, die meist Elfsilbler sind. Im Laufe der Zeit hat sich eine Vorliebe für die dreizehnzeilige Strophe entwickelt, und in der 7. und 10. Zeile wurde die Verkürzung der elfsilbigen Verse auf siebensilbige Gesetz. Eine Reihe von Kanzonenstrophen wird durch eine ungleiche, oft kürzere Strophe, das Geleit, abgeschlossen. Das Geleit gleicht aber auch gelegentlich dem Abgesang oder einem der beiden Stollen. Die Kanzone wurde durch Übersetzungen Petrarcas von A . W . Schlegel eingeführt und von A . W . Schlegel, Rückert, Platen, Zedlitz, Dingelstedt, Bechstein u. a. in Originaldichtungen gebraucht. Minor Metrik S.478—481; 535. O. F l o e c k Die Kanton« in der deutschen Dichtung 1910. F. Habennann. Karollngisctae Literatur s. A l t h o c h d e u t s c h e L i t e r a t u r II, 2 — 3 und M i t t e l lateinische Literatur.

KASPERTHEATER-KATASTROPHE Kaspertheater. Um die Wende des 18. zum 19. Jh. ist in Wien der Kasperle Larifari aufgekommen, der ein, freilich harmloserer und anständigerer, Verwandter des Hanswurst oder Harlekin ist, ein lustiger, naiver Bauernbursche, dessen Typus der Wiener Joh. Laroche (f 1807) geschaffen hat aus der Vorstadt-Truppe Martineiiis. Nach dieser Figur hieß das Leopoldstädtsche Theater geradezu „Kasperletheater". Der Kasperle trug nicht mehr das alte Hanswurstkostüm, sondern hatte nur einen Brustfleck mit einem aufgenähten roten Herzen als 'Abzeichen. Die Figur hat sich auf der Bühne nicht erhalten, sondern ist eine Belustigungsperson des Kindertheaters geworden, eine stehende Figur der Marionettenbühne; und hier tritt der Kasper stets mit verwachsenen Schultern entgegen. Das Kasperletheater war solange auf Jahrmärkte und ähnliche Veranstaltungen angewiesen, bis in neuster Zeit dem Puppentheater (s. d.) ernstere Bemühungen gewidmet wurden. H. Knudsen. Katabasls s. P e r i p e t i e . Katalexe. Unter K . (von KaxaXfjYiu „aufhören") versteht man das Aufhören der sprachlichen Ausfüllung eines Metrums vor dem Schluß der vollständigen rhythmischen Reihe, besonders aber die Schlußwirkung, die dadurch erzielt wird, daß im orchestischen Rhythmus die letzte Senkung einer Reihe mit der vorausgehenden Hebung zusammengezogen ist: _ L — J- O———L-^J- • Der orchestisch-rhythmischen Folge lZj 1 entspricht bei sorgfältiger Anpassung der Sprache an das Metrum die akzentuelle Folge L \ , sprachlich gefüllt durch eine lange und eine indifferente ( a ) Silbe. Akzentuell stark beeinflußte Metra geben oft die Überdehnung auf, so daß sich l Z j 1. zu Z k oder x entwickelt. Bei B r a c h y k a t a l e x e wird der letzte Fuß des Metrums durch eine Pause ausgefüllt. Ist der Vers vollständig, so nennt man ihn a k a t a l e k t i s c h . Von H y p e r k a t a l e x e spricht man, wenn Verse steigenden Metrums eine oder zwei Silben über das gewöhnliche Maß hinaus haben. In der dt. Verslehre kann man diese antiken Namen entbehren. Je nach der sprachlichen Ausfüllung der letzten Versfüße einer Versform spricht M e r k e r - S t a m m l e r , Reallexikon II.

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A. Heusler von vollen, klingenden und stumpfen K a d e n z e n . V o l l (männlich) ist die Kadenzfüllung, wenn die letzte Hebung auf eine schwere, für sich reimfähige Silbe fällt, die auch Hebungsauflösung (s. d. Art. Hebung und Senkung § 2) haben kann. Als k l i n g e n d (weiblich) wird eine Füllung bezeichnet, bei der die letzte Hebung auf eine sprachlich schwache, dem Reim nicht genügende Silbe fällt und der vorletzte Fuß regelmäßig durch die ausgehaltene Pänultima gefüllt ist. Für s t u m p f gilt die Füllung, wenn die letzte Hebung in eine Pause fällt, der Text des Verses also durch das Fehlen des Schlußiktus am auffälligsten abgestumpft ist. Die Silbenfolge endet bei der vierhebigen Reihe dann mit der Hebung des dritten Fußes. PaulAii/r. in PGrundr.* II 74,75,93. S a r a n Versl. S. 174, 257, 292. A. H e u s l e r Zur Geschichte der altdeutschen Verskunst 1891. S. 49 ff. D e r s . Über germanischen Verstau 1894. S. 35ff. K. P l e n i o Beobachtungen su Wolframs Liedstrophik, PBB. X L I (1916) S. 47—128. G. P o h l Der Strophetülau im deutschen Volkslied (Pal. 136) 1921. S. 19—24. A. H e u s l e r Dt. Versgeschichte I (1925) S. 38—40. P. Habermann.

Katastrophe. § 1. K . (griech. xaTaffTpocpn „das Umstürzen, die Wendung, das Ende"), dt. „Lösung, Auflösung, Sturz, Auswickelung", ist in der Kunstsprache des Dramas die für das Schicksal des Helden entscheidende, den Abschluß herbeiführende und die Frage der Exposition beantwortende Schlußhandlung. Meist denkt man mit K. von der Tragödie aus an einen unglücklichen, erschütternden Ausgang, wie das Wort ja auch im Leben diesen Sinn angenommen hat; doch auch die Komödie hat die K . § 2. In allen Dramen, deren Handlung unter dem Gesetz von Ursache und Wirkung steht, muß die K . notwendig aus den Charakteren oder der Verkettung der Begebenheiten hervorgehen. Wenn, wie in manchen antiken Dramen, die Gewalt eines überraschend eingreifenden (mittels der Schwebemaschine erscheinenden) Gottes oder andere plötzliche und zufällige Ereignisse die Lösung bringen, nennt man sie vom deus ex machina herbeigeführt. § 3. Aristoteles ('Poetik' Kap. XII) hält die durch Chorlieder gegliederte drama5

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KATHARSIS

tische Form des Sophokles für die beste. Donatus unterscheidet in seiner Abhandlung über die Komödie Protasis, Epitasis und K . als für den Aufbau des Dramas wichtige Teile. Die Poetiker der Renaissance suchten diese natürliche Dreiteilung mit der Horazischen Forderung der fünf Akte in Verbindung zu bringen. Der K . fiel dabei der 5. A k t zu. G. Freytags zumeist aus Schillers klassischem Drama abgeleitete, nicht allg. verbindliche 'Technik des Dramas' wollte in jedem alten und neuen Drama finden, daß sich der dramatische Stoff dem Dichter von selbst in fünf Teile gliedere: in Einleitung (s. d. Art. Exposition), Steigerung, Höhenpunkt, Umkehr und K . Vor der K . liegt nach ihm noch die dritte der „dramatischen Stellen", das gute, aber nicht unentbehrliche „Moment der letzten Spannung", das im Zuschauer durch eine fern aufleuchtende Hoffnung eine letzte, die K . hemmende Spannung hervorrufen soll. Die zusammengedrängte, aus Handlung und Charakteren zwingend folgende K . soll nach Freytag einen vollständigen Abschluß bringen und dem Zuschauer durch die wirkliche Ausgleichung der kämpfenden Gegensätze die Notwendigkeit und Vernünftigkeit des Unterganges des Helden fühlbar machen. § 4. Freytags Ansicht geht vorwiegend von formalen, aber zugleich von anderen Gesichtspunkten aus und wird dadurch vieldeutig. Äußerer und innerer Aufbau des Dramas entsprechen sich nicht immer, die K . ist also nicht grundsätzlich auf den letzten A k t beschränkt. Es gibt viele Dramen, besonders moderne, die überhaupt keine Lösung geben, sondern mit einer offenen Frage enden. Andere schürzen gar nicht den Knoten der Handlung vor den Augen der Zuschauer, um ihn endlich in der K . zu lösen. Die Verwicklung ist vielmehr vor der Bühnenhandlung erfolgt, und die K . besteht darin, daß im Drama das Vergangene allmählich enthüllt und in seiner Schicksalsbedeutung erkannt wird. Die meisten griech. Tragödien, besonders 'König ödipus' (Ausnahme: des Euripides 'Hippolytos'), die Dramen Senecas, viele Dramen der Renaissance, der frz. Klassiker, Schillers 'Braut von Messina', die Schicksalsdramen des 19. Jhs., auch Ibsens

enthüllende Analysen vergangener Seelengeschichte, Dramen des Neuklassizismus (P. Emsts 'Brunhilde') gehören hierher. Durch das Weglassen der vorderen Glieder der tragischen Entwicklung ist dann der Eindruck des Unerbittlichen, der ungeheuren Wucht vertieft, und die K . beherrscht das ganze Drama. Vgl. auch d. Art. Drama [Theorie). H. F i e d l e r Die Darstellung der Katastrophe in der griechischen Ttagödie Diss. Erlangen 1914. G. F r e y t a g Die Technik des Dramas II. Kap. R. F r a n z Der Au/bau der Handlung in den klassischen Dramen 1898*. S. 38H. R. L e h mann Deutsche Poetik 1908. S. 177. J. V o l k e l t Ästhetik des Tragischen «917». S. 4i6ff. H. Schauer.

Katharsis. § 1 . Gelegentlich der Wesens bestimmung der Tragödie stellt Aristoteles, der das Wort K . an anderer Stelle auch auf die Wirkung der Musik anwendet, im 6. Buch seiner 'Poetik' im Gegensatz zu Piatons Anschauungen als Wirkung der Tragödie die K. (griech. Kaflapcri? == „Reinigung") der Leidenschaften durch Furcht und Mitleid hin. Jede Nachprüfung der Grundlagen der Dramaturgie hat vor allem diese Bestimmung der K. richtig auslegen wollen. Von dem eng verbundenen Begriffspaar „Furcht" und „Mitleid" gehen die meisten Erörterungen über das Tragische aus, und auch für die komische K . werden oft entsprechende Begriffe vorausgesetzt, ohne daß eine Übereinstimmung darüber bisher erzielt ist. § 2. Die nach einem Ausspruch Lotzes „zu fruchtbarer Deutung zu knappen" Worte des Aristoteles (seine in der 'Politik' für die 'Poetik' versprochene genauere Bestimmung der K. muß verlorengegangen sein) sind in sehr verschiedener Weise ausgelegt worden, um die seelische Beruhigung des Zuschauers bei der Erfüllung des tragischen Geschicks des Helden zu erklären. § 3. L e s s i n g , an dessen Deutung im 7 4 . - 8 3 . Stück der 'Hamburg. Dramaturgie' sich die ausgedehnte Literatur über diese Frage anschließt, kam es mehr darauf an, falsche Auffassungen (vor allem Corneilles) zurückzuweisen als die Lehre des Aristoteles zu begründen. Gelegentlich der Besprechung von Weißes 'Richard III.' stellte er herrschende Mißverständnisse richtig durch eine neue Übersetzung und Auslegung der Worte des Aristoteles, dessen

KATHARSIS Autorität auch für ihn durchaus feststand. Er setzte an die Stelle der bis dahin für cpößot üblichen Übertragung „Schrecken" den Begriff „Furcht", verband Furcht und Mitleid zu unlöslicher Einheit, faßte Furcht auf als „das auf uns selbst bezogene Mitleid", also als „die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit der leidenden Person für uns selbst entspringt", und wies die Auslegung Corneilles zurück, als ob die x d ö a p m ? TÜIV NA0NNÄTUJV (purgation

des

passions) mit den in der Tragödie vorgestellten Leidenschaften etwas zu tun habe, also als ob etwa ein Eifersüchtiger durch Shakespeares 'Othello* von seiner Leidenschaft geheilt werde. Er deutete aber die K . einseitig moralisch aus als ,,Reinigung", die in einer „Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fähigkeiten" bestehe. § 4. Weder mit Lessings moralischphilosophischer noch mit späteren Deutungen stimmt G o e t h e überein in seinem Aufsatz 'Nachlese zu Aristoteles' Poetik' (1827). Nach seinem ästhetischen Grundsatz von der Autonomie des Kunstwerks ist ihm die Frage der K . eine Frage der künstlerischen Form. Er sieht in ihr, ohne daß seine Übertragung des Aristoteles sich philologisch halten ließe, die „aussöhnende Abrundung" des dramatischen Kunstwerks, dessen Wirkung auf die Moralität er bestreitet. Er verlegt also die K . in diesem für ihn wichtigen Kunstbekenntnis nicht in die Personen des Dramas, sondern, wie Lessing, in die Zuschauer, aber sie besteht für ihn nicht in ethischer, sondern in rein künstlerischer Wirkung. Auch H e r d e r hat im 4. Stück der 'Adrastea* (1802) eine von Lessing abweichende, etwas unscharfe Deutung des Katharsisbegriffs bei Aristoteles versucht. § 5. Auf streng grammatisch-philologische Auslegung des griech. Wortgebrauchs gründen sich die Einwendungen gegen Lessing, die J a k o b B e r n a y s in seiner Schrift 'Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie' 1858 machte. Ihm ist K . zunächst ein medizinischer, der Pathologie entlehnter Begriff, eine Kur, eine durch ärztliche erleichternde Mittel bewirkte Hebung oder Linderung der Krankheit.

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Er setzt daher für „Reinigung" „Entladung" und gibt die fraglichen Worte des Aristoteles so wieder: „Die Tragödie bewirkt durch (Erregung von) Mitleid und Furcht die erleichternde Entladung solcher (mitleidigen und furchtsamen) GemütsAffektionen." Lessing sagt er nach, daß er die Tragödie als ein „moralisches Korrektionshaus" aufgefaßt habe. Bernays' Ansicht fand zunächst viele Gegner, unter denen L. Spengel, A. Stahr, H. Bonitz, H. Baumgart hervorzuheben sind. Allmählich betonte man aber die moralische Wirkung der Tragödie weniger und näherte sich Bernays' Meinung von der ästhetischen Wirkung. Die wichtigsten weiterführenden Untersuchungen aus neuerer Zeit, die mit der Katharsisfrage zusammenhängen und sie z. T. neu beleuchten, sind die von T h . L i p p s , T h . G o m p e r z u n d A . v. B e r ger, J. V o l k e l t . Die ausgedehnte Literatur ist verzeichnet von: A. D ö r i n g im Philologus XXX(1864) S. 496ff.j X X V I I (1868) S. 689ff. G o e d e k e IV, 1 1916». S. 409t. C o s a c k Materialien tu Lessings Hamburgischer Dramaturgie 1891'. S. 349 ff., wo über 40 Schriften angeführt werden. E. S c h m i d t Lessing I 1909*. S. 730, dazu Schmidts eigene Darstellung I 628 ff. — Für Goethes Stellung ist zu verweisen auf die Literatur bei G o e d e k e IV. 2 iqio». S. 382f. ( = § 234 C IIIb Nr. 44ff.); ferner: E. H e y f e l d e r Die Illusionstheorie u. Goethes Ästhetik (Ästhetische Studien 2) 1904. S. 135 ff. O. W a l z e l Goethes Werke, Jubiläumsausgabe Bd. X X X V I S . L X f f . ; Bd. X X X V I I I S. 299. Für Herders Stellung: R. H a y m Herder II 1885. S. 77off. — Femer sind hinzuzufügen bzw. hervorzuheben: J. B e r n a y s Zwei Abhandlungen über die Aristotelische Theorie des Dramas 1880. G. F r e y t a g Die Technik des Dramas I Kap. 7. H. B a u m g a r t Aristoteles, Lessing und Goethe 1877. H. B a u m g a r t Handbuch der Poetik 1887, Abschnitt X X I I - X X V und X X X . M a n n s Die Lehre des Aristoteles von der tragischen Katharsis 1883. T h . L i p p s Der Streit über die Tragödie (Beitr. z. Ästhet. 2) 1891, besonders S. 41 ff. Aristoteles' Poetik übersetzt und eingeleitet von T h . G o m p e r z . Mit einer Abhandlung: Wahrheit und Irrtum in der K.-Theorie des Aristoteles von A. v. B e r g e r 1897. J. V o l k e l t Ästhetik des Tragischen 1917 3 ; auch d e r s . Ästhetische Zeitfragen 1895 und d e r s . Die tragische Entladung der Affekte, Zs. für Philos. u. philos. Kritik C X I I (1895) S. 1—16. L. B e l l e r m a n n Schillers Dramen 1 1898* S. 40. C. H e b l e r Über die Aristotelische Definition der Tragödie, Arch. für Gesch. der Philos. X V I I (1904) S. I ff. H. B a h r Dialog vom Tragischen 1904. S. 23ff. H. S c h l a g Das Drama 1909. S. 171 ff. u. 247ff. F. K n o k e Über die Katharsis der Tragödie bei Aristoteles. Progr. 5*

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KEHRREIM-KINDERLIED

Osnabrück 1908. 0. Walzel Vom Geistesleben weise in Liedern volksmäßigen Tones, Kindes 18. u. ig. Jhs. 1911 S. iff. H. O t t e Kennt der- und Tanzliedern. Es sind zwei Arten Aristoteles die sog. tragische Katharsis? 1912. S t . O. H a u p t Wirkt die Tragödie auf das Gemüt ? K . unterschieden worden : T o n k e h r r e i m e : Ausrufe der Freude, des Schmerzes, Jodler, (Bibliothek der Philos. XII) 1915. W. Borm a n n Zwei Hauptstücke der Tragödie, ZfverglLg. Schallnachahmung unartikulierter Laute NF. XIII (1900) S. 311 ff. Max J. Wolff Zur (Klappern der Mühle, Ticken der Uhr, Katharsis des Aristoteles, Z. f. frz. u. engl. U. XIII Pferdegetrappel u. a.), Nachahmung der (1914) S. 29. W . S c h w a n Über die Ideedes TragiTöne musikalischer Instrumente, Tierschen und die Katharsis bei Aristoteles, Philos. Wochenschrift III S. 70ff. R. PetschZM« Theorie stimmen und W o r t k e h r r e i m e : Wiederd. Tragischen im griech. Altert., Zs. f. Ästhetik I X holung einzelner Worte, eines oder mehrerer (1914) S. 208ff. K. Tischendorf Der wahre Sinn der griechischen Katharsis, Die neue Schau- Verse. Behält der K . seine Form durch bühne I (1919) H. 11. H. Moonen Dramatur- das ganze Gedicht, so heißt er f e s t , anderngisch« Neuorientierung, L E . X X I (1919) Sp. 468 ff. falls f l ü s s i g . Der K . kann außer am Ende K. Borinski Deutsche Poetik 1916*. S. 132ff. H. Siebeck Aristoteles 1899. S. 88f. E. Zeller einer Strophe auch am Anfang und in der Die Philosophie der Griechen* II, 2 (1879) S. 773ff.Mitte stehen. Bei den mhd. Lyrikern nimmt er öfters die Stelle des Abgesanges H. Schauer. ein. In manchen Gedichten treten in jeder Strophe auch mehrere K . auf. Oft Kehrreim. Der K . oder R e f r a i n (von s i n d ' K e h r s t r o p h e n einem Chore in den prov. „refrairtgre" [von den Wellen] „wiederMund gelegt. kehrend sich am Ufer brechen") ist ein Vers, der in den einzelnen Strophen eines GeR. M. Meyer Über den Refrain, ZfverglLg. I (1886) S. 34—47. D e r s . Die Formen des Redichtes an bestimmten Stellen wiederfrains, Euph. V (1898) S. 1 —24. F. S t a r k Der kehrt und damit zur Bindung der StroKehrreim in der deutschen Literatur. Diss. Götphen beiträgt. Der Refrain ist auch dem tingen 1886. H. Freericks Der Kehrreim in der Altertum und der mal. Kirchenpoesie bemhd. Literatur. Progr. Paderborn 1890. Minor Metrik S. 427—432; 532. H. P a u l Metrik in kannt. In der Merovingerzeit ist er in der PGrundr. II S. 122—124. O. Schreiber Der lat. Poesie ganz gewöhnlich. Ob sein AufKehrreim als dichterisches Ausdrucksmittel, ZfdU. treten in der älteren dt. Dichtung hiervon XXX (1916) S. 672-674. W. v. U n w e r t h beeinflußt ist, läßt sich nicht nachweisen, u. T h . S i e b s Geschichte d. ahd. Literatur 1920. S. 172—175, 193. K. B ü c h e r Arbeit und ist aber mit ziemlich großer WahrscheinRhythmus• 1919. K . W e i ß Vom Reim und lichkeit anzunehmen. Auf die RefrainRefrain, Imago II (1913) S. 552—572. bildungen der mhd. Lyrik scheint die Form P. Habermann. der provenzalischen alba eingewirkt zu Kette (rhythmisch) s. K u r z v e r s . haben. Vielleicht ist aber der Kehrreim Kettenreim s. R e i m . auch im Deutschen selbständig dadurch entstanden, daß die Zuhörer dem Sänger eines Liedes gegenüber nach jeder Strophe ihren Empfindungen Ausdruck gaben. In den Resten der altgerm. Poesie findet sich kein K . Das älteste Zeugnis für K . im eigentl. Sinne, wozu man die Refrainstrophen bei Otfried nicht rechnen kann, bietet das 'Petruslied'. Das auch sonst herangezogene Kyrieeleison des 'Ludwigsliedes' ist kein Beweis für Refrain. Das nächste Refraingedicht in gesungener Poesie ist das 'Melker Marienlied'. Von den mhd. Lyrikern hat Ulrich v. Winterstetten sehr häufig Refrain angewendet. Die ältesten Minnesänger haben keinen K . Man hat daher (wohl kaum mit Recht) im K . einen Beweis für Entlehnung sehen wollen. Dann erscheint der Refrain vorzugs-

Klnderlled. § i. D e r B e g r i f f „Lied, wie es die Kinder singen, oder wie es den Kindern gesungen oder für sie gedichtet wird" (DWB). Jedenfalls vereinigen sich unter dem Begriffe K . sachlich und genetisch so verschiedenartige Gruppen wie etwa unter dem Begriff Volkslied (s. d.), nämlich: Wiegenlieder, deren Ursprung im Kreise der Mütter, Großmütter, Ammen und Kinderfrauen zu suchen ist, Verse aus dem Verkehr der Eltern und Erzieher mit den Kindern, wie Koselieder, Schaukel-, Kniereiterliedchen, Kindergebete, ferner Schnadahüpfeln (s. d.), Spott- und Neckverse, die sich schon rein inhaltsmäßig als Niederschläge aus dem Kreise der Erwachsenen zu erkennen geben, ohne mit der Psyche des Kindes irgendwie in engerer Beziehung

KINDERLIED zu stehen, zersungene Heilssprüche, zersungene Volkslieder und Balladen für die bei den Kindern noch lebendigen Ball-, Ringel- und Reigenspiele ehemals der Erwachsenen, sodann aber auch Verse für kindliche Spiele und kindliche Arbeiten, wie Abzähl- und Bastlösereime, Tierverslein u. dgl. m., die im Kreise der Kinder selbst entstanden sein mögen. Es ist aber auch unter das K . wie unter das Volkslied mancherlei gesunkenes Kulturgut geraten. Wie auf dem Gebiete der Sachen alte Waffen und Werkzeuge, auf dem Gebiete des Tanzes die alten Ballspiel-, Ringel- und Reigentänze, wie auf dem Gebiete der Dichtung Puppenspiel (s.d.) undMärchen (s.d.) Kindergut geworden sind, so ist auch manche Ballade zum K . geworden („Mariechen saß auf einem Stein", „Als die wunderschöne Anne", „ E s war einmal ein reicher Mann", „ E i n Jäger wollte früh aufstehn", „Ein Bauer fuhr ins Holz" u. a. m.) und bewahrt sich dabei im Reiche der Kinder die alte Funktion, als Reigentanzlied zu dienen. Ein Schäferspiel der Erwachsenen des 18. Jhs. („Amor ging und wollte sich erquicken, Doch das Spielchen wollte sich nicht schicken, Er ging wieder auf und nieder, Bis er seine Liebste fand" usw.) ist mit stark zersungenem Text zu dem Kinderspiel „Adam [oder Emma] ging und wollte sich erquicken, Seine Schüler konnte er nicht schicken, Er ging wieder auf und nieder, Bis er seine Rose fand" usw. geworden. Den Stoff der Blaubart-Volksballade von 'Ulrich und Ännchen' finden wir — offenbar aus einem Volksschauspiel (s. d.) — zum Kinderspiel geworden als 'Bertha im Walde' noch um 1850 in Tübingen von Kindern gespielt. Verraten hier Diktion und Stil die Herkunft aus dem Volksschauspiel, so verrät in manchem an dem K . und Kinderspielvers der aus dem Liebesleben mehr oder minder dezent entnommene Inhalt die Herkunft aus den Kreisen der gereifteren Schicht. Zu all dem kommt, daß die einzelnen Gruppen sich leicht beeinflussen und ineinander übergehen. §2. D e r p r i m i t i v e C h a r a k t e r d e s e c h t e n K . Aber zu allermeist trägt das K . den Geist der Primitivität unmittelbar an sich. Daher geht es fast durchweg im Gewände der Mundart einher wie die übrige

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Kleinpoesie primitiver Herkunft (Schnadahüpfeln usw.). Und mehr noch als diese ist sie, da für Kinder bestimmt oder von Kindern verfaßt, nach dem alogischen Mechanismus der Seele geregelt und aufgebaut, nach äußeren Assoziationen formaler und materieller Natur orientiert. Die Unlogik, wie sie in folgenden Tanzverschen vorliegt: Hopp Marianchen, Hopp Marianchen, Komm, wir wollen tanzen. Nimm ein Stückchen Käs' und Brot, Steck's in deinen Ranzen, Aus dem Ranzen in den Sack, Nimm ein Prischen Schnupftabak! ist typisch, und besonders fällt im K . die starke Funktion der Klangassoziationen auf. Den „Ranzen" hat nur der Reim auf „tanzen'.' veranlaßt, „Ranzen" rief dann assoziationsmäßig den „ S a c k " herbei, und der „Schnupftabak" ward wiederum nur durch den Reim, die Klangassoziation benötigt. Die Kinderpredigten mit ihren alogischen Kettenreimen sind lediglich auf diese Weise zustande gekommen; aber auch das Wiegenliedchen: Schlaf, Kindlein, schlaf! Der Vater hüt't die Schaf, Die Mutter schüttelt's Bäumelein, Da fällt herab ein Träumelein. Schlaf, Kindlein, schlaf! ist trotz der unbestreitbaren Lieblichkeit des entworfenen Bildes lediglich auf diesem mechanischen Wege zustande gekommen. „ S c h a f " ist das nächstliegende Reimwort auf „schlaf", „ V a t e r " assoziiert „Mutter", einem von den Sprachpsychologen oft genug wiederholten Experiment zufolge, und nachdem durch irgendeine der zufälligen äußeren Assoziationen, wie sie uns in der übrigen primitiven Kleinlyrik auf Schritt und Tritt begegnen, das „Bäumelein" benutzt worden war, stellte sich „Träumelein" durch Klangassoziation hinzu. Man wird gut tun, in diesem Falle jede mythische oder andere Spekulation zu unterlassen; es wäre eine Entweihung und völlige Verkennung der kindlichen Simplizität. Die hochgradige Primitivität des K . beruht in der großen Bedeutung des formalen Elements, des Rhythmus und des Reims, die durchaus die Hauptsache sind. Wie man es oft genug

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KINOSTÜCK

bei den wilden Primitiven beobachtet hat, ist in dieser Art Poesie der Inhalt Nebensache. Er zersingt sich bis zur völligen Sinnlosigkeit. Verderbte Wörter, willkürliche Wortbildungen, ja noch unartikulierte Rufe (eia popeia; suse liebe ninne; enneke, denneke, doß; ene, mene, mitte, mei, pasior, lörte, bSne, strei; ecken, becken, beo; britze, britze, brille usw.) sind besonders kennzeichnend für den Grad der Primitivität. Dieses irrationale Moment erhöht vielmehr zusammen mit Rhythmus und Reim den Reiz. Lebendig sind im K . die primitiven Dämonen: der Schwarze Mann, der Butzemann, Frau Holle usw., selbst der Tod, das Urbild manches dieser Dämonen, in naiv-sinnlicher Form: Hunne, hunne, hunne, der Tod sitzt auf der Turnte. Er hoat a langen Kittel oan, er will die klittert Kinder hoan. Stark ausgeprägt ist das Gemeinschaftsgefühl primitivster Art mit dem Tier, welches man ohne die leiseste Differenzierung als seinesgleichen betrachtet („Maikäfer flieg! Dein Vater ist im Krieg, Deine Mutter ist in Pommerland" usw.), und dessen Laute menschlich ausgedeutet werden. Primitiv sind die Melodien, die zumeist aus der vielbemerkten beständigen Wiederholung eines Motivs von zwei Takten bestehen; primitiv ist vor allem auch die Ausdauer und Unermüdlichkeit der Singenden und Spielenden selbst. Nach Resten höherer Mythologie außerhalb der ewig in der Sagenwelt der primitiven Unterschicht fortlebenden und immer wiedererzeugten niederen Dämonen darf man nicht suchen. Unbeabsichtigt mag sich zuweilen, wie in der übrigen primitiven Kleinlyrik auch, eine innere Assoziation einstellen und auf diese Weise ein kleines Kunstwerk erzeugen. R o c h h o l z Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der Schwei* 1857. J. S c h e i b l e Kinderfeste und Kinderspiele der Urzeit, Das Kloster VI 558—572. C. M. B l a a ß Ein Kinderspruch aus dem 15. Jh., Germ. X X I I I (1878) S. 343. I. Z i n g e r l e Das deutsche Kinderspiel im Mittelalter1 1873. A. R i c h t e r Über deutsche Kinderreime 1877. F r a n z M a g n u s B ö h m e Deutsches Kinderlied und Kinderspiel 1897. K a r l W e h r h a n Kinderlied und Kinderspiel (Handbücher zur Volkskunde IV) 1909; daselbst S. 172 ff. die Literatur der allg. und landschaft-

lichen Sammlungen. L e w a l t e r und S c h l ä g e r Deutsches Kinderlied und Kinderspiel 191t. K . B Q c h e r Arbeit und Rhythmus* S. 341 ff. H. Naumann.

Kinostuck. Aus den Erzeugnissen der Kinematographie greifen wir als K . diejenigen Filme heraus, die dank der Eigenart ihres Inhalts Anspruch auf künstlerischliterarische, im besonderen auf dramatische Wirkung machen zu können glauben. Das Wesen des Films ist Bewegung, die uns durch visuelle Eindrücke zu Bewußtsein kommt; er muß also die im Beschauer auszulösenden Gefühlswirkungen durch rein optische Reize restlos übermitteln können, wenn das ihm zur Verfügung stehende Objekt sich zur filmmäßigen Darstellung als wirklich geeignet erweisen soll. Das war der Fall bei den ersten technisch vollendeten, rein auf kinetische Wirkungen eingestellten Laufbildern (Wettrennen, Verfolgung, Eisenbahnfahrten u. dgl.) und ist es noch bei dem sog. Lehr- oder Bildungsfilm, der in höchster Vollendung die Bewegung als Grundprinzip alles organischen Seins uns deutlicher erkennen läßt als das Auge (Zeitlupe, Zeitraffer). Aber gerade die heute in erster Reihe stehende F i l m d r a m a t i k sucht sich kühn über die oben gezogenen Grenzen hinwegzusetzen. Zwischen Wort- und Filmbühne klafft der tiefste Spalt durch die Stummheit des Films, die jede wahrhaft innerlich ergreifende dramatische Wirkung von vornherein unterbindet; seine meist gerühmten Vorzüge, die stark ausgebildete mimische Technik und die szenische Großzügigkeit, haben nur zu einer gröblichen Veräußerlichung alles darzustellenden seelischen Geschehens geführt, die letzten Endes zur zweiten Natur der ganzen Filmdramatik und ihrer Vertreter geworden ist. „Zwischentitel" und der in Entstehung begriffene „sprechende Film" beweisen nur das dem Filmdrama innewohnende Gefühl der eigenen Mangelhaftigkeit. Wie wenig sich die Filmbühne selbst kennt oder kennen will, zeigen die künstlerischen und logischen Ungeheuerlichkeiten der „Detektivdramen", die eine gerade nur im Verborgenen glaubhaft wirkende Tätigkeit schon durch die grellste Verdeutlichung aller Einzelheiten alles Glaubhaften berauben.

KINOSTÜCK Daß die Filmdramatik im Publikum so breiten Raum zu gewinnen vermochte, hat ihr zwar in der Welt des Handels und der Presse zu großer Bedeutung verholfen, spricht aber dem Einsichtigen nur g e g e n , nicht f ü r eine künstlerische Bewertung. Ein eigenes Kapitel bilden die „Verf i l m u n g e n " literarischer Schöpfungen, die — soweit sie sich ihre Stoffe aus dem Drama wählen — sich nur noch viel deutlicher als eine t h ? iu(ir| sch und andere Dinge w e i t in die ahd. Zeit z u r ü c k r e i c h e n ; aber wie selten w a g e n sie sich in den L i t e r a t u r d e n k m ä l e r n hervor, und wie w e n i g liegt das nur a m Mangel v o n B e z e i c h n u n g e n ! D a s Mhd. w a r j a in allem Wesentlichen auf lautlichem Gebiet i m A h d . v o r g e b i l d e t , w i e das N h d . im Mhd., w o h l g e m e r k t in der unkontrollierten S p r a c h e der Unterschicht, nicht oder doch sehr viel weniger, nur gerade erkennbar, in den L i t e r a t u r d i a l e k t e n . Sprachliche Neuerungen fremder H e r k u n f t wie die

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zweite L a u t v e r s c h i e b u n g , Erscheinungen wie der i - U m l a u t des kurzen a, der W a n d e l hst, hsw > st, sw (laster, zeswa) und ähnliche Dinge lagen im allgemeinen fertig abgeschlossen v o r den ahd. K u l t u r d i a l e k t e n , sonst h ä t t e n sie auf lange hinaus keine Bezeichnung gefunden. L . bedeutet allemal ein A b s t o p p e n solcher Zersetzungserscheinungen, die als unschön, als unedel, als stilwidrig erscheinen und nur in der unkontrollierten Sprechweise der Unterschicht inzwischen weiter u m sich greifen können. W e n n die kleinen ahd. Gesprächsammlungen einmal das restituierende S y s t e m durchbrechen und Formen wie gimer f ü r gib mir, suile für sö willu ih verzeichnen, wie das Ohr sie hört, so beleuchten diese Fälle den Unterschied zwischen der wirklichen ahd. Sprechweise und den gepflegten konservierenden Literaturdialekten aufs glücklichste. Ein starker P r o z e n t s a t z des aus vielen Quellen gespeisten und kulturell sehr mosaikartig zusammengesetzten ahd. W o r t s c h a t z e s — wir unterscheiden heute lat., vulgärlat., got., ags., merow. Einflüsse auf lexikalischem Gebiet — , der v o n den Glossatoren dann Generationen hindurch mit rührendstem Fleiß ergänzt, geprägt und geschaffen worden ist, hat niemals ein anderes Dasein als innerhalb der K u l t u r sphäre der ahd. Dialekte geführt. Die Stichworte Karolingische und Ottonische Renaissance, humanistische Benediktinerkultur stecken e t w a den R a h m e n ab, innerhalb dessen sich eine auch sprachliche Pflege v o n selbst versteht. A n t i k e und biblische Mittel sind daher die a m liebsten erstrebten O r n a m e n t e f ü r S a t z b a u und Stil. Möllenhoff MSD.» S.XIVff. Scherer ZfdA. X X I (1877) S. 474, X X I I (1878) S. 321. B e h a g -

hel Germ. X X I V (1879) S. 24. K ö g e l AfdA.

X I X ( 1 8 9 3 ) S . 2 3 2 ; L G . 1,2 S.560. B r a u n e P B B . I (1874) S. 39ff. K a u f f m a n n ZfdPh. X X X (1898) S. 381. S p e r b e r a. a. O. § I 2 f f .

§ 6. Der gleiche A s p e k t — gepflegte Literaturdialekte ohne Streben nach einer K o i n e — ist z u n ä c h s t auch f ü r die mhd. Periode der gültige. J e n e Veränderungen der Sprache, ihre v u l g ä r e n Zersetzungserscheinungen, die lange ferngehaltenen Ergebnisse der unkontrollierten Sprechweise der Unterschicht, sind bei der Neu-

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LITERATURSPRACHE

bildung der [nun ritterlich-höfischen) Kultur, nachdem die alte (Benediktiner-) Kultur durch die großen, geistigen Auflockerungen des I i . —12. Jhs. verschüttet war, mit aufgeströmt und literaturfähig geworden, ein neuer Restituierungstrieb setzt ein und verhindert auf über IOO J., so gut er kann, abermals die Neuerungen {Diphthongierung, Monophthongierung, Apokope, Synkope usw.). Man kann ihn nachweisen durch Reimkriterien, metrische und andere Mittel; doch versteht er sich auch ohne diese für eine Formkultur von selbst. Und zu diesem rein literatursprachlichen Charakter hinzu kommt nun jetzt ein überlandschaftliches Moment, ein Streben nach einer Koine, das sich gleichfalls aus der Reimbetrachtung, aus der Metrik und aus dem Vergleich mit der weniger ehrgeizigen lokalen Urkundensprache erweisen läßt, das sich aber wiederum aus der kulturell-geistigen Perspektive, aus dem Verkehr der ritterlichen Gesellschaft untereinander von selbst versteht. Und wiederum wird bei Einschluß des nd. Gebiets diese Koine am sichtbarsten. § 7. Einer dieser mhd. Literaturdialekte, der am frühesten in Erscheinung tritt, ist der r h e i n i s c h e , durch den auch Heinrich von Veldeke hindurchgeht. Wir wissen heute, daß Veldeke vom fast reinen Mutterdialekt ausging und in der fast rein hd. L. endete, daß er aber übergangsweise in jener frühen L. mit ausgesprochen rhein. Charakter dichtete, in der auch der Straßburger 'Alexander' und Eilharts 'Tristrant', trotz der niedersächs. Herkunft dieses Dichters aus dem Hildesheimischen Gebiet, abgefaßt waren. Wenn auch die Mehrzahl der Reime in der 'Eneit' rein hd. Charakters ist, so sind doch gelegentlich noch Reimbindungen, auch Formeln u. a. m. jener rhein. L. bewahrt, die auch bei Eilhart von Oberg und im Straßburger 'Alexander' begegnen. Veldeke geht durch diese rhein. L. hindurch und erreicht erst zum Schluß annähernd das reine Hd. Die Umarbeitung der'Eneit' erfolgte kurz vor 1190. Er verläßt jenen Literaturdialekt, der prinzipiell also auf der Stufe der ahd. Literaturdialekte steht, weil er nicht genug koinehaften Charakter besaß. Seiner kulturellen Erscheinung nach ist dieser rhein. Literatur-

dialekt zu verstehen als sprachliches Korrelat der Etappenstation, welche die unter westl. Einflüssen sich bildende ritterliche Kultur am Rheine machte. Es haben sich hier also in jüngster Zeit neue Lichtblicke über das Wesen der mhd. Literatursprachenbewegung aufgetan. Indem der Glanz jener rhein. L. Dichter ergriff, die wie Eiihart von Oberg dem Rheinland gar nicht angehörten, bekommt sie doch wieder den Ansatz zu einer Koine. Sie ist dann in diesem Aspekt und dieser Wirkung auf Niederdeutsche von den nichtrhein. hd. Literaturdialekten abgelöst worden. Man wird theoretisch wie von einer rhein., so auch von einer alem.-schwäb., von einer österreich.-bayr., von einer thür.-md. Literaturmundart, Landeshochsprache oder auch Hofsprache reden können, die dann das Streben nach einer Koine (s. u.) enger miteinander verbindet. Die einstmals von Grimm, mehr noch von Koberstein, Wackernagel, Schleicher so stark überschätzte, dann von Pfeiffer und Paul, auch von Müllenhoff bestrittene Rolle der Hohenstaufen in der Bildung einer L. werden wir heute wieder günstiger beurteilen, seitdem wir wieder an Heinrich VI. als Minnesinger glauben und um ihn als solchen einen ganzen Kreis dichterisch und sprachlich hochstrebender Männer erblicken, unabhängig vom wechselnden Raum des Hofes und vom politischen Getriebe der Zeit. Wir werden in Hausen vielleicht den Verbindungsoffizier zwischen Rhein und Hohenstaufenhof erkennen wie in Veldeke den zwischen Rhein und thüring. Landgrafenhof; annähernd in der gleichen Funktion, gesellt sich ihnen Reinmar am Wiener Hof hinzu. C. v. K r a u s Heinrich von Veldeke und die mhd. Dichtersprache 1899. Ders. Festschrift für Kelle (Prager d. Studien VIII 1) S. 211. J. K u h n t Lamprechts 'Alexander'. Diss. Greifsw. 1915. E. G i e r a c h Zur Sprache von Eilharts 'Tristrant' 1908. J a n v a n D a m Zur Vorgeschichte des höf. Epos 1923. D e r s . Das Veldekeproblem 1924. K. W a g n e r Eilharts von Oberg 'Tristrant' 1924. Ders. ZfdMdaa. 1921 S. 129. H. K o p p e r s c h m i d t Die Sprache der Hildesheimer Urkunden in der I. Hälfte des 14. Jhs. und ihr Verhältnis zur Sprache Bertholds von Holle und Eilharts von Oberge. Diss. Marburg 1914. H . d e B o o r F r ü h mhd. Studien 1926. K . W e s l e Frühmhd. Reimstudien 1925.

LITERATURSPRACHE § 8. Während der Veldeke des Anfangs rein niederländ. Reime, die bei wörtlicher Übersetzung ins Hd. keine Reime wären, nicht meidet, meidet sie der spätere Veldeke so gut wie völlig. E r reimt also tit „ Z e i t " nicht mehr auf wit „weiß", Ilden nicht mehr auf rtden, wohl aber tit auf wit „ w e i t " ,

liden auf sntden, rtden auf tiden „Zeiten".

E r vermeidet in der 'Eneit' ndrhein. Wörter wie blide „ f r o h " , die er in seiner Lyrik noch gebrauchte, verwendet relativ wenig frz. Fremdwörter, weil sie im Hd. damals noch nicht so zahlreich waren wie im Niederländ., mit anderen Worten: er nimmt unzweifelhaft Rücksicht auf ein hd. Publikum, er bedient sich, wenn wir so wollen, jener eben erwähnten nichtrhein. hd. (md. obd.) Gemeinhochsprache, deren von der Forschung so heftig umstrittene Existenz er zugleich mit beweisen wie begründen hilft. E r bleibt nicht der einzige nd. Dichter, der sich ihrer bedient. Unmittelbar neben ihm mag man Heinrich von Morungen nennen, dessen Geburtsort damals vermutlich noch innerhalb der nd. Sprachgrenze lag. Beide waren vom Glanz der thüring. Sprachkultur angezogen wie Eilhart und Veldeke selbst einst von der rhein. Man hat gesagt, es sähe so aus, als sei es den Nd. unter dem eminenten Einfluß der obd. Kultur geradezu schwer gefallen oder ganz unmöglich geworden, nd. zu schreiben ( B e h a g h e l Gesch. d. dt. Spr. § 61). Albrecht von Halberstadt, dann der Herzog von Anhalt, Hermann der Damen, Otto IV. von Brandenburg, Berthold von Holle, der Verfasser der Braunschweig. Reimchronik und Nikolaus von Jeroschin, Heinrich Hesler, Brun von Schönebeck, Wernher von Elmendorf dichten gleichfalls hd., obwohl sie Niederdeutsche sind; mannigfache Rückfälle in die heimische Mundart kommen natürlich vor. Ob die Verbreitung des obd. Verkleinerungssuffixes -lin im Nd. in diesen Zusammenhang gehört, ist nicht ganz sicher; vgl. K a u f f m a n n ZfdPh. X X X (1898) S. 383; B e h a g h e l Gesch. d. dt. Spr. § 6 0 ( P B B . X V I I I 534); W. S e e l m a n n Nd. J b . X L V I (1920) S. 5 1 ; E . N ö r r e n b e r g ebd. X L I X (1923) S. 35. Aber zu der Zeit (14. Jh.), da auch im Hd. die Mundarten wieder mehr Selbständigkeit gewinnen,

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hört auch der hd. Einfluß auf die nd. Dichter wieder auf. Viele der sog. grammatischen Indizien, der mhd. Dichtersprache sind zunächst weniger im Sinne eines Koinebeweises als im Sinne des Beweises von Literaturdialekten zu verstehen. Aber der Umstand, daß man dem Alemannen Hartmann und dem Österreicher Waither ihre Heimat sprachlich doch nur an ein paar lächerlich kleinen Geringfügigkeiten nachweisen kann, daß auch manches md. Gedicht sich nur durch ein paar Entgleisungen z. B. in den eReimen verrät, daß die guten Dichter wie eben Hartmann zusehends mehr bestrebt sind, solche mundartliche Erkennungsmerkmale wie überhaupt Formen, die der Koine zu auffallend widersprechen, im Reim zu meiden, das alles weist doch auf eine Art mhd. Gemeinsprache hin, die ihre Parallelerscheinung sicherlich mehr oder minder gut auch im mündlichen Verkehr der dt. ritterlichen Gesellschaft erreicht haben wird. "Wie weit hier jede der beiden Größen, Literatur und Gesellschaft, im einzelnen der Gebende oder Nehmende war, dürfte sich kaum umgrenzen lassen. — Wir haben die positivistische Beweismethode hier kurz im einzelnen durchzugehen. Konnte man nachweisen, daß eine bestimmte Mundart jener Zeit Eigentümlichkeiten besaß, die die Dichter ihrer Gegend nicht teilen, so war damit der Beweis einer Hochsprache erbracht, die freilich noch keine allgemeine mhd. Koine war. Behaghel lieferte 1886 diesen Beweis für das alem. Gebiet durch Vergleich mit der dort sehr früh einsetzenden dt. Urkundensprache. Es ergab sich, daß nur die k u r z e n , vollen Endungsvokale im Alemannischen zu e abgeschwächt sind, daß aber die alten L ä n g e n der Endungen sich in ihrer Vokalqualität bis über das 1 3 . J h . hinaus,, z. T. bis heute, erhalten haben. Würde man bei den höf. Dichtern Alemanniens die Urkundenformen einsetzen, so wären ihre Reime in allen betreffenden Fällen zerstört. Die höf. Dichter Alemanniens reimen etwa

hinnen : beginnen, dannen : mannen, varn :

bewarn, während die Urkundensprache auf Grund der alten Längen die Formen

hinnan, dannon, bewaron verlangt« Da die

2J0

LITERATURSPRACHE

literarischen Aspirationen aber keineswegs huldigende, lokale Urkundensprache hierin n u n die M u n d a r t repräsentiert, so stehen die höf. D i c h t e r hiermit also über der Mundart. D a m i t ist der Beweis einer L . e r b r a c h t . A b e r nun k a n n man weitergehen und folgendes sagen: Berücksichtigt man nun noch, d a ß die alem. Dichtersprache in diesem Falle also keineswegs e t w a einer archaischen und konservierenden T e n d e n z huldigt, w a s bekanntlich sonst ein Merkmal gerade v o n Literatursprachen ist, sondern d a ß sie sich fortgeschrittener darstellt als die Mundart, wenigstens in diesem P u n k t e , so fortgeschritten nämlich in b e z u g auf die Endsilben wie die übrigen hd. Dialekte und Literaturdialekte, d a ß sie sich mit diesen also in diesem P u n k t e auf eine Linie stellt, so kann m a n dies Behagheische A r g u m e n t nun in der T a t über d a s bloß Hochsprachliche hinaus im Sinne einer Gemeinsprache deuten. Ähnliche positivistische Beweise lassen sich natürlich auch aus den anderen hd. Landschaften herbeibringen. Von der bayr.-österr. w e i ß man, aus dt. Ortsnamen l a t . Urkunden, d a ß dort schon früh, ca. IIOO, die Diphthongierung v o n i > ei usw. eingetreten ist. Die Mehrzahl der höf. D i c h t e r m a c h t indessen im Reime hiervon •wie auch v o n der nicht minder alten D i phthongierung ü> ou keinen Gebrauch. Sie bleibt also erstens in Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t der archaischen Tradition und erweist d a m i t in der herkömmlichen Weise eine L . U n d sie bleibt zweitens also in Übereinstimmung mit den übrigen, nicht diphthongierenden Mundarten und L i t e r a t u r dialekten und beweist somit gewisserm a ß e n eine K o i n e . U n d selbst jene wenigen Fälle, w o sich A u s n a h m e n finden, stehen d a n n doch mit dem anderen Teile des Reims über der M u n d a r t ; denn der R e i m min (mein) : stein t r ä g t j a dem U m s t a n d n i c h t R e c h n u n g , d a ß inzwischen aus d e m alten ei (ai) mundartlich etwas g a n z anderes (oa) geworden ist. E s befinden sich also beide A r t e n v o n R e i m e n im Gegensatze zur Mundart. Konservierende Z ü g e wie die A b l e h n u n g der A p o k o p e des e, die Negierung der S y n k o p e des P r ä f i x v o k a l s i m O b d . k o m m e n hinzu, erweisen den kultursprachlichen C h a r a k t e r und w i r k e n

koineartig fürs Md. Es k o m m e n f e r n e r Indizien aus dem Bereiche des W o r t s c h a t z e s z u den lautlichen Indizien h i n z u : gerade die auffälligsten mundartlichen Wörter werden möglichst gemieden (die vielerwähnten D u a l f o r m e n ez, enk i m B a y r . ; obd. weder für wider „ g e g e n " ; klin f ü r klein im A l e m . ; Schweiz, urchig, urche u. a. m.). In unseren klassischen A u s g a b e n m a g die Normalisierung zu w e i t durchg e f ü h r t sein, der hochsprachliche C h a r a k t e r wie auch die ziemlich starke Koinebesinnung k a n n nicht z w e i f e l h a f t sein. Z u den Indizien f ü r die K o i n e k o m m e n die m u n d artlichen A b g a b e n hinzu, die n u n auch bei den höf. Dichtern der anderen M u n d a r t e n G ü l t i g k e i t erlangen: die alem. Formen gdn, stdn bei b a y r . Dichtern, die b a y r . Formen gin, sten bei alem. usw. A u c h die Orthographie scheint dahin z u streben {k im Hochalem.); gesät im R e i m ist vielleicht eine A b g a b e jener rhein. L . M a n k a n n nicht sagen, d a ß eine der M u n d a r t e n N o r m und Muster f ü r die übrigen gewesen wäre. N u r f ü r das Nd. war, wie oben dargetan, auch in dieser Periode der hd. T y p u s d a s Vorbild. Hier h a t die K o i n e ihre sichersten und zugleich weitesten Grenzen. Die schulmäßige, archaische K u n s t f o r m der mhd. L . und ihr koinehafter C h a r a k t e r werden dem besonders sichtbar, der sich k l a r m a c h t , d a ß keine der Mundarten überhaupt mehr h ä t t e N o r m und Muster f ü r die Schriftsprache bilden k ö n n e n : sie waren schon im 13. J h . sämtlich viel z u w e i t fortgeschritten und voneinander differenziert. Sie erlitten ihrerseits langhin s t a r k e fortdauernde Einwirkungen durch das Schriftdeutsch. K. L a c h m a n n Auswahl aus den hd. Dichtern des X I I I . Jhs. 1820. S. VIII ( = K 1 . Schrift. I 161). Grimm Gr. I 2 1822 passim. Fr. P f e i f f e r Über Wesen und Bildung der höf. Sprache in mhd. Zeit i86i(=Freie ForschungS.309ff.). H. P a u l Gab es eine mhd. Schriftsprache ? 1872. Ders. später in Deutsche Grammatik I § 146. 0. Beh a g h e l Zur Frage nach einer mhd. Schriftsprache 1886. Ders. Schriftsprache und Mundart 1896. Ders. Gesch. d. dt. Sprache* § 55—63. Fr. K a u f f m a n n PBB. XIII (1888) S. 464- Ders. Gesch. der schwäb. Mundart S. 281. Ders. ZfdPh. X X X (1898) S. 381. H. F i s c h e r Zur Gesch. des Mhd. 1889, dazu W r e d e AfdA. X V I (1890) S. 275. A. Heusler AfdA. X X (1894) S. 26ff. S. S i n g e r Die mhd. Schriftsprache 1900. H i r t Gesch. d. dt. Spr. S. 159ff. K l u g e

LITERATURSPRACHE Deutsche Sprachgesch. dl. Spr. § 16.

§39.

S p e r b e r Gesch. d.

§ 9. A b e r aus der Erkenntnis v o m Wesen der höf.-ritterl. K u l t u r als einer Formkultur im allerhöchsten Maße ist f ü r uns heute auch ohne die grammatischen Indizien die A n t w o r t auf die Frage nach einer L. von vornherein gegeben. Der Formwille, das wichtigste Lebensgesetz dieser Kultur, erstreckt sich natürlicherweise in erster Linie auch auf die Sprache, auf ihre folgerichtige Typisierung, auf die alleinige Lautform, die möglichst keine Nebenform duldet, auf den reinen Reim mit der eindeutigen Klangklarheit, auf die unauffällige ausgeglichene Wortstellung. D a ß die Termini maze, höfeschheit, zuht in dieser Gesellschaft auch für die Sprache Geltung haben, versteht sich von selbst. Die gepflegte Sprache gehört durchaus mit zur inneren Form dieser Kultur. Natürlich begrenzt sich die Anwendung dieser Sprache auch nicht nur auf den Reim, wenngleich die modische Kultursprache nachweislich oft zuerst in den Reim dringt (z. B. die neuen A d j . klär, fiti, kluoc, gehiure, wert), und wenngleich das neue Reimgefühl zweifellos ein starkes Motiv zur dialektlosen Sprache wird, indem der Reim so zu gestalten war, daß ihn die dörperheit zuchtloser Schreiber nicht verderben konnte. D a ß auch für das Versinnere die schulmäßig-archaische Kunstform galt, ersieht man aus metrischen Indizien, wie z. B. aus der schon erwähnten Ablehnung der Synkope und Apokope im Obd. A b e r es war zu positivistisch-mechanisch gedacht, wenn man aus der Rücksicht auf den Reim allein die Hochsprache ableiten zu können glaubte. A u c h die bei Veldeke so nahe liegende Rücksicht auf das Publikum steht nicht allein hinter dieser neuen Kulturerscheinung der Sprache, die keineswegs immer die lebendigste oder verbreitetste Form in den Reim nimmt und geläufige Doppelformen oder problematische Formen am liebsten meidet: sondern das klassische Stilprinzip, der Stilwille zur einen und allgemeingültigen Form. Versteht man Sprachgeschichte als Bildungsgeschichte, so ist in der ritterlich-höfischen Bildung, um die es sich hier handelt, notwendig eine höhere Sprache eingeschlossen.

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Man muß die Weltanschauung des Rittertums verstehen, wie sie besonders Ehrismann entwickelt h a t (ZfdA. L V I [1919] S. 175; Studien über Rud. v. Ems S. 103), wenn man seine Sprache, deren Möglichkeit und den ruhigen Glanz, der über ihr liegt, verstehen will. A . H e u s l e r A f d A . X X (1894) S. 2Öff. H. N a u m a n n Deutsche Vierteljahrsschrift für Lit. u. Geistesgesch. I (1923) S. 151 ff. A . S c h i r o k a u e r Studien zur mhd. Reimgrammatik, P B B . X L V I I (1923) § 40.

§ 10. Es ist bekannt, daß ein sehr starker frz. Einschlag zur ritterlichen Literaturund Umgangssprache und ein starker vlämischer Einschlag zur ritterlichen Umgangssprache gehören. Den Zeugnissen zufolge wird man in dieser A r t differenzieren können, wenngleich auch einige vläm. Wörter der Umgangssprache dann wieder in die L . gelangen. Aber auch das Frz. erstreckt sich in ganzen Wendungen und Formeln {deus sal, curteis kumpän; merci, gentil sir) mehr auf die Umgangs- als auf die L., den Zeugnissen der Epik, die sie besonders in dialogischen Teilen verwendet, zufolge. Beide Züge unterscheiden die ritterliche Hochsprache des 1 2 . — 1 3 . Jhs. wesentlich v o n der Sprache der Folgezeit und geben ihr eine besondere Färbung. Nur ein geringer Prozentsatz des frz., ein noch geringerer des vläm. Sprachgutes ist übriggeblieben. V o n diesen Zentralwörtern der neuen Kultur, diesen spähen Wörtern, mit denen man nach Thomasin v o n Zirclaere die feinere Umgangssprache strifelte, hielt sich nun freilich die L y r i k auffallenderweise zunächst fast völlig fern, weshalb z. B. noch Walther fast ohne Fremdwörter erscheint. Man kann also von einer lyrischen und von einer epischen Stilart dieser mhd. Kultursprache reden. Und einen besonderen Reichtum bewahrte diese Sprache in dem wohlgehüteten Besitz der sog. u n h ö f i s c h e n W ö r t e r . Hier lag eine Zwiesprachigkeit des Wortschatzes vor, die die glänzendsten Stilmöglichkeiten für eine besonders altertümliche, gewaltige, heroische Färbung im Ernst wie im Scherz gewährte. Diese sog. unhöfischen Wörter repräsentieren ein vielumstrittenes Problem. Es handelt sich um Wörter wie ufigant, recke, degen, helt,

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LITERATURSPRACHE

kneht = ritter', magedtn; u m die A d j . mcere, jruole, balt, veige, gemeit, snel, ellenthaft, ellensrtch, versehr ölen, vertnezzen, milte, küene, vrech, vrevel, westlich, dürkel; u m eilen, hervart, wie, urliuge, rant, schaft, ger, ecke, brünne, Isengewant, wal, künne, tnarc-, u m Formeln und K o n s t r u k t i o n e n wie ein helt ze slnen handen, rötez golt, bürge unde lant, daz mcere fliuget, der herre min, ein ritter guot, Stfrit der snclle zuo dem künege trat, Ludvnc zeHartmuote sinem sune sprach u. ä. Die Bezeichnung „ u n h ö f i s c h " dieser W ö r t e r , Formeln und S t r u k t u r e n k a n n h e u t e nicht mehr als „ u n f e i n " verstanden werden, wie L a c h m a n n glaubte, aber auch nicht als lediglich „ p o e t i s c h " , wie P a n z e r meinte, sondern als „ a l t e r t ü m l i c h - e d e l " , „ v e r a l t e t " oder „ v e r a l t e n d " . Sie umschreiben ein veraltetes Reckenideal, das der modernen, höfischen K u l t u r nicht mehr entspricht. Die veränderte Lebensauffass u n g zeitigte einen neuen Sprachschatz. U n d so wie auf dem W e g e V e l d e k e - W o l f r a m aus der E t a p p e der rhein. L . neue, modische W ö r t e r wie klär, kluoc, gehiure, wert zunächst erst im R e i m erscheinen, später erst im Versinnern, so leben balt, gemeit usw. noch im R e i m eine Zeitlang fort, n i c h t m e h r im Versinnern. W i e jene so neu sind, daß sie zunächst der Sprache des täglichen Lebens n o c h n i c h t angehören, sind diese so alt, d a ß sie ihr n i c h t m e h r angehören. J e n e sind noch starr, diese bereits erstarrt; beides sind literarische, n o c h nicht oder nicht mehr lebendige Bestandteile der Sprache, leben im R e i m (vorerst oder nur noch) und beweisen d a m i t eine übergeordnete Sprache. Man e n t h ä l t sich jenes archaischen Sprachgutes immer mehr, j e moderner die K u n s t w i r d ; a m sichtbarsten t u t das H a r t m a n n , wie denn bei i h m überhaupt a m besten zu beobachten ist, d a ß die K u l t u r s p r a c h e der feineren K r e i s e immer mehr z u m Ideal seiner L . wird, bis er im 'Iwein' den Gipfel erreicht u n d ein großes Vorbild aufgestellt hat. V o m 'Erec* z u m 'Iwein' nehmen W ö r t e r w i e helt und degen p l a n m ä ß i g u n d auffällig a b (im 'Iwein' nur je noch viermal, z. T . nicht ohne besonderen Z w e c k , s. u.); die E n d s t e l l u n g des V e r b s h ä l t der R e i m im ' E r e c ' noch 3 5 7 m a l , im 'Iwein* nur noch 4 7 m a l . D e m Stil des Heldenepos bleibt

das archaische S p r a c h g u t g e m ä ß e r ; die höf. D i c h t u n g v e r w e n d e t es souverän o f t in bestimmter stilistischer A b s i c h t . Man vergleiche in dieser B e z i e h u n g die D i k t i o n der klassischen Stelle 'Iwein' 7741, ferner Walthers Thüringer Landgrafenspruch, beides mit einer durch archaisches Sprachg u t leicht erreichten, humoristischen F ä r b u n g ; R u g g e s wuchtig-barschen K r e u z l e i c h und W a l t h e r s Elegie mit einer d u r c h dasselbe Mittel spielend erreichten, erhabenheroischen Intonierung. Griff m a n in späteren Zeiten auf das Mhd. z u r ü c k , so w a r e n es regelmäßig diese „ u n h ö f i s c h e n " W ö r t e r , die man hervorzog: Pömpler v . Löwenholt, die Schweizer, der G ö t t i n g e r Hain, die R o m a n t i k , weil m i t ihrer Hilfe die große Möglichkeit stilistischer F ä r b u n g immer v o n neuem gegeben war, die schon die alte K l a s s i k empfand. E. S t e i n m e y e r Über einige Epitheta der mhd. Poesie 1889. B ö t t i c h e r Germ. X X I (1876) S. 270. Fr. P a n z e r Das altdeutsche Volksepos 1903 S. 16. Ders. ZfdPh. X X X I I I (1901) S. 127. Z w i e r z i n a ZfdA. XLV (1901) S. 262; C. v. K r a u s Zwierzina-Festschrift 1924 S. 19. W. S t a m m l e r Deutsche Vierteljahrsschrift II (1924) S. 765. N a u m a n n ebd. I (1923) S. 153. Fr. R. S c h r ö d e r Festschrift für Ehrismann 1925 S. I07ff. §11. Der vielbehandelte E i n f l u ß der Schreiber und Schreibstuben k o m m t f ü r die sprachliche Normierung nicht nur in jener destruktiven H i n s i t h t in B e t r a c h t , die A l b r e c h t v o n Scharfenberg, K o n r a d v o n A m m e n h a u s e n und Heinrich Hesler beklagen, sondern auch in aufbauender. W e n n es schon früher b e k a n n t w a r , d a ß die Hs. M v o n Gottfrieds 'Tristan' und die Hs. G v o n W o l f r a m s ' P a r z i v a l ' Überarbeitungen der Originale darstellen, die n a c h einem besonderen, v o r allem w o h l a n H a r t m a n n s W e r k e n genommenen M a ß s t a b angefertigt worden sind, so führen j e t z t die W e g e nach S t r a ß b u r g in die Schreibstube jenes notarius burgensium Meister Hesse, des Vorstehers der städtischen K a n z l e i v o n Straßburg, urkundlich bez e u g t zwischen 1230 und 1240, „ v o r dessen ästhetischer K r i t i k Rudolf v o n E m s so große H o c h a c h t u n g hat, d a ß er ohne sein zustimmendes Urteil den M u t z u m W e i t e r dichten fast verliert: er hat bescheidenheit s6 vil: swd er getihte benem wil, daz er ze

LITERATURSPRACHE

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rehte beggern sol, dä kumt sin Überhaeren von Repgowe schrieb seine beiden hochwol\ wan ez beggerunge holt'1. Gewiß erfährt bedeutenden Prosawerke nicht in jener ritterlichen Sprache, in der doch sein dadurch die literarische Norm eine neue Herzog dichtete, sondern höchstens in Beleuchtung, aber zugrunde liegt doch die einem leise hd. antemperierten Nd. Ein große literarische Persönlichkeit, die in inneres Formgesetz ließ ihn offenbar die diesem Falle Hartmann heißt, und die Grenzen der höfischen Sprache erkennen. selbst schon in der Norm und Konvention Sie war zu festgelegt auf die höfische Kultur; verankert steht, wie sie die Hochsprache ihr Wortinhalt war zu gebunden und keiner bot. Diese liegt also letzten Endes jenem Erweiterung fähig. Schon Bruder Berthold Straßburger literarischen Geschmack zuversteht tugent in einem erweiterten Sinn grunde, und Meister Hesse war weniger und polemisiert gegen die höfische Sprache. ihr Auktor als vielmehr ihr Instrument. Ihre inneren Grenzen waren zu eng. Mochte Und auch die besondere Hartmannsche die höfische Sprache auch mehr oder minder Ausprägung war doch wohl nicht allein stark abgefärbt haben auf Kanzlei-, Prosa-, sein persönlicher Geschmack, sondern der Sprechsprache, mochte sie auch lokale weiter Kreise des dt. Westens, während der Fortsetzungen haben hier und da (etwa md.-schles.-böhm. Osten bei weitem mehr in Luzern) und mochte das beginnende Nhd. unter dem Einfluß der Diktion Wolframs manchmal seinen Kampf nicht so sehr stand. Eine Nachhilfe bestimmter Schreibgegen die Mundarten als vielmehr gegen stuben, weniger ein Vorangehen, wäre auch diese lokalen Fortsetzungen zu führen hier durchaus denkbar. Nicht anders dann haben, im allgemeinen sank doch die Hofim späteren Straßburg, als alles unter der sprache mit der höfischen Kultur dahin. Geschmacksrichtung Konrads von WürzDas Gefäß zersprang, weil es den neuen burg steht. Inhalt nicht mehr fassen konnte. Der Fr. R a n k e ZfdA. LV (1918) S. 415. § 12. Das literarisch-philologische Rich- „letzte Ritter" kümmert sich nur um den Inhalt der ritterlichen Epik, um ihre teramt und Interesse des Kanzleivorstehers Sprachform nicht mehr; und schon die Hesse bedingte keinesfalls ein UmschwenLiederhss. achteten nicht mehr darauf, ken der Straßburger Kanzlei als solcher zu von dem Gros der übrigen Hss. höfischen Hartmannscher Sprache und Diktion. Die Inhalts aus späterer Zeit zu schweigen. höf. Sprache hat ihre inneren Grenzen, sie Wildwuchs hatte die Kulturerscheinung findet sie schon am Drama wie an der wieder einmal abgelöst. Prosa. Beide zeigen sich den letzten großen Neuerungen, die die Mundarten vor der nhd. Phase durchmachen, in stärkstem Maße zugänglich; sie fallen hinter die höfische Zeit. Es gibt keinen höfischen Prosaroman, wenigstens nicht im Hd., von einem nd. Prosaroman des 13. Jhs. wissen wir noch zu wenig. Es gibt kein höfisches Drama; das Osterspiel von Muri und das St. Galler Spiel von der Kindheit Jesu, höfisch immerhin beide in Stil, Form, Vers, Sprache, Haltung, bleiben ohne Nachfolgeschaft und bestätigen die Regel. Das Drama, eine religiöse Angelegenheit, auf Feier, Spannung, Erschütterung gestellt, war dem Formwillen der höfischen Zeit nicht gemäß, wurde in seiner Entwicklung gehemmt und unterbrochen von ihm. Von der Prosa der Mystik gilt Ähnliches; dgl. von Recht und Chronik. Selbst der anhalt. Ritter Eike Merker-Stammlcr, Reallexikon II.

S c h i r o k a u e r a. a. O. H e u s l e r a. a. O. Zu E i k e : R o e t h e Reimvorreden des Sachsenspiegeis (Abhandl. d. Gött. G. d. W. NF. 2, 8) 1899. Dazu F r a n c k A f d A . X X V I (1900) S. 117; E h r i s m a n n ZfdPh. X X X V (1903) S. 102.

§ 13. Auf dem Gebiete der n h d . L i t e r a t u r s p r a c h e liegen die Dinge noch in der verhältnismäßig größten Verworrenheit. Es läßt sich wohl etwa folgende Konstruktion aufrichten: Auch die Geschichte der nhd. Kultursprache ist für uns heute in erster Linie nicht so sehr ein linguistischer als vielmehr ein kultur- und bildungsgeschichtlicher Vorgang. Im Unterschied vom Ahd. und Mhd. ist der Charakter der neuen Kultursprache zunächst ein g e m e i n s p r a c h l i c h e r , erst in zweiter Linie ein l i t e r a t u r s p r a c h l i c h e r . Bei dieser Kultursprache war der Koinecharakter eher angebahnt 18

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LITERATURSPRACHE

und erreicht als der Literaturcharakter; eine L. hatte die neue Koine erst zu werden. Aus einer Koinebewegung der Kanzleien hat sich die heutige Hochsprache zuerst entwickelt, das Gemeine Deutsch, weshalb auch Luther sagen kann, daß er keine sonderliche eigene Sprache im Dt. gebrauche. Freilich hat sich eine absolute und vollkommen einheitliche Norm, besonders in Wortschatz und Ausspräche, bekanntlich bis auf den heutigen Tag nicht entwickelt, wiewohl besonders seit dem 19. Jh. die Einheit größer geworden ist als je zuvor. Obzwar die Kanzleien der einzelnen Gebiete, als sie im 13. und 14. Jh. das Latein verließen, natürlich nicht völlig die reine Mundart schrieben, sondern Kulturdialekte anwandten mit gewissen mehr oder minder starken archaisch-konservierenden Zügen, wie sie sich bei jeder Art Schrifttum einstellen, z. T. vielleicht unter Einwirkung und Nachwirkung der mhd. L. (s. 0.) — so ist doch zu betonen, daß der Sieg der Diphthongierung und der übrigen großen mundartlichen Neuerungen im Gemeinen Deutsch für die Unterbrechung der Kontinuität, für die K l u f t zur mhd. Kultursprache hin, für das im allgemeinen unkontrollierte sprachliche Interregnum, welches mit dem Fehlen einer eigentlich kulturschöpferischen Oberschicht Hand in Hand geht, und für den stark modernisierenden Zug beweisend ist. Man darf neben den neuen „Lautgesetzen" vor allem die katastrophale Zerstörung des Deklinations- und Konjugationssystems nicht vergessen. Die Mundarten werden aufgenommen und berücksichtigt, weshalb ein auf den ersten Blick fast verwirrender Anblick von Schriftdialekten entsteht. Den fortentwickelten Mundarten ist Tor und Tür geöffnet; sie kommen von allen Seiten dann in die Koine, aber der an der alten Tradition festhaltende Partikularismus eines Niclas von Wyle, eines Kölner 'Schryftspiegels' von 1527, denen Vielheit und Sonderung selbstverständlich und löblich waren, der elsäss. Eigensinn Sebastian Brants und die zu einem alten poetischen Obd. rückwärts gewendete Perspektive eines Aventin waren ohne Einfluß. Natürlich trat, nachdem die Schleuse geöffnet und wieder geschlossen war — sehr viel später übrigens —

abermals ein konservierender Zug ein, der die Mundarten fernerhin ausschloß. Und da inzwischen sich diese in der unkontrollierten Sprechweise der Unterschicht verheerenderweise weiter entwickelt haben, so müßte, wenn das ewige Spiel von neuem begönne, d. h. die jetzige Hochsprache verlorenginge und aus den Mundarten oder auch nur aus einer von ihnen eine neue gebildet werden müßte, diese abermals ein gänzlich neues, fremdartiges Aussehen erhalten. Wir hätten zur ahd., mhd., nhd. eine vierte kultursprachliche Phase hinzubekommen, deren Struktur an sich längst vorhanden, nämlich in der Sprechweise der Unterschicht vorhanden war. H. N a u m a n n (1925) S. SS«-

Jahrbuch für Philologie

I

§ 14. Man muß also sagen, daß die Koine der Kanzleien — im Gegensatz zu der mhd. Koine — zunächst weniger durch die Ablehnung als durch die Respektierung der mundartlichen Neuerungen zustande kam, so daß die landläufige Unterscheidung, die das Nhd. von der Anerkennung der Diphthongierung und Monophthongierung an datiert, immer noch zu Recht besteht. Natürlich zeigt sich dann bei dem Ausgleich, daß die bedeutungsloseren unter den Kanzleien einen Teil ihrer mundartlichen Besonderheiten wieder zurückstellen müssen. Aber zum Verständnis des bunten Mosaikes, das seiner landschaftlichen Herkunft nach der Wortschatz der nhd. Kultursprache bildet, ist dieses erste und prinzipielle Verhalten der Kanzleisprachen ihren fortgeschrittenen Mundarten gegenüber dringend mit nötig. Noch immer — und seit Burdachs bildungsgeschichtlichen Forschungen besonders deutlich — beginnt die Geschichte der nhd. Koine am sichtbarsten in einer Kanzlei "wie der l u x e m b u r g i s c h e n in Böhmen mit ihrem lautlichen Gemisch aus obd. und md. Neuerungen entsprechend der Tatsache, daß in Prag selber sich die beiden Kultur- und Sprachkreise mischten, sowie mit ihren humanistischen Bestrebungen, die der Sprache der Kanzleien jenen antik-rhetorischen Glanz in Stil und Satzbau verliehen, der sie von der mhd. Hochsprache so wesentlich unterscheidet. Hier war die Idee einer koinehaften,

LITERATURSPRACHE modernen, durch Aufnahme der wichtigsten Neuerungen ausgleichenden Geschäftssprache am sichtbarsten geboren, wie denn hier überhaupt das Kanzleiwesen besonders gepflegt und entwickelt war; und sie konnte nicht mehr verlorengehen, auch wenn unter Sigismund und dann mehr noch unter den Habsburgern in Graz und Wien wieder Schwankungen und Rückschritte in der kaiserlichen Kanzlei eintraten. Der Anschluß der Kanzleien an das Gemeine Deutsch ist Schritt für Schritt zu beobachten. Der Siegeslauf der neuen österr. Diphthonge nach Norden und Westen über .die Kanzleien Mittel- und Süddeutschlands (hauptsächlich den äußersten Südwesten ausgeschlossen), nach der böhm. besonders über die k u r s ä c h s i s c h e (unter Ernst und Albrecht) und über die k u r m a i n z i s c h e Kanzlei (hier mit Hilfe des wettinischen Erzbischofs Albrecht, Sohnes jenes Ernst, und des vortrefflichen wettinischen Kanzlers Dr. Spigel), hat das Bewußtsein eines Gemeinen Deutsch soweit gefestigt, daß Luther an der schon oben angezogenen berühmten Stelle (Tischreden Kap. 70) fortfahren kann: sondern (ich) brauche der gemeinen Deutschen Sprache, das mich beide Ober und Niderlender verstehen mögen. Ich rede nach der sechsischen Cantzeley, welcher nachfolgen alle Fürsten und Könige in Deutschland. Darumb ists auch die gemeinste deutsche Sprache. Kaiser Maximilian und Churfürst Friderich, Hertzog zu Sachsen, haben im Römischen Reich die Deutschen Sprachen also in eine gewisse Sprache gezogen. Dies förmliche Übereinkommen der Fürsten ist natürlich sagenhaft; aber wir tun gut, im Anschluß an Luther die Kluft zwischen der kaiserlichhabsburgischen und der kursächs. Kanzleisprache, bei allen bestehenden Unterschieden — die übrigens unter Max durch Zugeständnisse d o r t , durch Zurückdrängung einiger omd. Eigentümlichkeiten schon früher h i e r gemildert sind — , nicht zu übertreiben. Mit Hilfe der so markanten Diphthongierung war der koinehafte Charakter dieses Gemeinen Deutsch gegenüber allen Mundarten und Kanzleien, wo sie nicht bestand, im Bewußtsein der Gebraucher eben offenbar doch sehr groß: man ermesse dies etwa am selben Mittel aus dem

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Verhältnis des heutigen Reichshochdeutsch zum Elsässischen oder zum Schwyzer Dütsch. Auch der Umstand, daß Fabian Frangk 1531 bereits allen Ernstes an eine einheitliche hd. Sprache als an eine bereits vorhandene Realität glaubt (das Bayr.-österr., das Kursächs., das Schwäb. bringt er unter einen Hutl), weist in diese Richtung. Es wird dabei von uns vorausgesetzt, daß die neuen Diphthonge außer in ihrem österr. Quellgebiet in allen Mundarten jeweilig als etwas noch Fremdes angesehen wurden, daß sie nicht von der Unterschicht jeweilig zur Oberschicht kamen, sondern umgekehrt, von den Schreibstuben und Kanzleien, von der Oberschicht also schließlich zur Unterschicht sanken, wo immer sie hinkamen auf ihrem nördl. und westl. Zuge, wie das die neuerdings so lichtvoll behandelten Mainzer Verhältnisse besonders anschaulich machen. Alles in allem ergab der auf diesem Boden sich grob zusammenschließende Komplex der Schriftdialekte der Kanzleien eine Art von Koine, die nur eben sehr viel unvollkommener und begrenzter war als unser jetziges Erbe daraus, und deren Wirkungskreis zunächst lediglich auf Amt, Brief, Gerichts-, Verwaltungsgeschäft beschränkt war. V a n c s a Das Auf treten der deutschen Sprache in den Urkunden 1895. M ü l l e n h o f f MSD. 8 1892 S. X X X I I I . H. R ü c k e r t Gesch. der nhd. Schriftssprache 1875. A. S o c i n Schriftsprache und Dialekte 1888. E. W ü l k e r Die Entstehung der kursächs. Kanzleisprache, Z. d. Ver. für thilr. Gesch. IX (1882)S. 349ff. D e r s . Germ.XXVIII (1883) S. I9iff. K . B u r d a c h Vom Mittelalter zur Reformation (seit 1912) und die gesammelten kleinen Arbeiten jetzt in Vorspiel I 2 (1925). G. E h r i s m a n n GGA. 1907 S. 906ff. E. M a r t i n ZfdPh. X X V I I (1895) S. 117. K. v. B a h d e r Die Grundlagen des nhd. Lautsystems 1890. V. Moser Hist.-gramm. Einführung in die frühnhd. Schriftdialekte 1909. E. A. G u t j a h r Der Kanzleistil Karls IV. 1906. Ders. Die Anfänge der nhd. Schriftsprache 1910. R. B r a n d s t e t t e r Die Rezeption der nhd. Schriftsprache in Stadt und Landschaft Luzern 1891. D e r s . Die Luzerner Kanzleisprache 1892 (dazu H e u s l e r AfdA. X X [1894] S. 26). A. G e ß l e r Beiträge zur Entstehung der nhd. Schriftsprache in Basel. Diss. Basel 1888. B. A r n d t Der Übergang vom Mhd. tum Nhd. in der Sprache der Breslauer Kandei (Germ. Abh. 15) 1898 (dazu B u r d a c h Vorspiel I 2, S. 243U.). F. S c h o l z Gesch. d. dt. Schriftsprache in Augsburg (Acta Germ. V 2) 1898. A. H u t h e r Die Würzburger Kandei-

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LITERATURSPRACHE

spräche. Diss. Wiirzburg 1913. H. N o h l Die Deutsch und geben den neuen Diphthongen Sprache des Niclas von Wyle. Diss. Heidelberg Raum. Sie bedienen sich des Gemeinen 1887. K . D e m e t e r Studien zur Kurmainzer Kanzleisprache. Diss. Berlin 1916. D. G. N o o r - Deutsch oft rascher als die heimischen di j k Untersuchungen auf dem Gebiete der kaiser- Ämter. Die Augsburger drucken schon lichen Kanzleisprache im 15. Jh. Diss. Amsterd. 1501 in der Sprache der kaiserl.-habsburg. 1925 (dazu E h r i s m a n n D L Z . 1926, Sp. 279). Kanzlei, die Nürnberger folgen alsbald. B . D e l b r ü c k Grundlagen der nhd. Satzlehre 1920 S. 3 f f . H. P a u l Deutsche Gramm. I § 147. Die Drucksprache der Mainzer Reichsabschiede, die sich mit der der Kurmainzer B e h a g h e l Gesch. d. dt. Spr§64ff. (daselbst weitere Spezialliteratur). K l u g e Deutsche Kanzlei deckt, weil der Mainzer ErzSprachgeschichte § 42. H i r t Gesch. d. dt. Spr. bischof und Kurfürst zugleich der ReichsKap. X I X . S p e r b e r Gesch. d. dt. Spr. §20. kanzler war, wirkt weithin vorbildlich für K . v . B a h d e r Zur Wortwahl in der frühnhd. die Offizinen. Der Übergang der Drucker Schriftsprache 1925.

§ 15. Der Charakter dieser Gemeinsprache war nur in jenem relativ geringen Grade konservativ, in dem Kanzleisprachen überhaupt konservativ sind. Eben dieser Umstand ermöglicht das Eindringen der mundartlichen Neuerungen; ihr Charakter als der einer bloßen Geschäftssprache ermöglicht es. J e mehr aber aus dieser Geschäftskoine, aus dieser amtlichen Staatssprache der Kanzleien eine L i t e r a t u r s p r a c h e wird, desto mehr kommt auch der konservierende Zug einer solchen hinein. An dieser Umwandlung der Geschäftskoine in eine L. kommt offenbar den D r u c k e r n und, auf ihren Antrieb, vor allem L u t h e r das Hauptverdienst zu; freilich ist die eigentliche und endgültige Umwandlung zu einer L. erst im Verlaufe des 18. Jhs. erfolgt. Zu dem amtlichen kam erst in zweiter Linie das literarische Geltungsgebiet. Daß sich schließlich aus dieser Schriftsprache auch eine allgemeine dt. Umgangssprache entwickelt hat, gehört nicht mehr unmittelbar in die hier zu ziehenden historischen Zusammenhänge. Von einer Wechselwirkung zwischen Literatur und Gesellschaft wie im Mhd. kann hier wohl höchstens für das Obersächs. des 17.—18. Jhs. gesprochen werden, das sog. „Meißnische", das sich deshalb auch bis in die Anfänge der Klassik eines ganz besonderen Ansehens erfreut. § 16. Es ist oft darauf hingewiesen, wie die Buchdrucker Rücksicht auf ein weites Publikum nehmen müssen (jedenfalls nun in höherem Grade als einst die mhd. Dichter), weil sie nach Absatz auch in entfernten Gebieten trachten. Daher drucken sie möglichst das Gemeine Deutsch, d. h. sie bemühen sich um die Normalisierung der Orthographie im Sinne des Gemeinen

an das Gemeine Deutsch wird am sichtbarsten in den Städten Straßburg und Basel. Hier übernehmen sie entgegen der Mundart und entgegen den Manuskripten der Verfasser schon im 2. Jahrzehnt des 16. Jhs., ja schon in den 80er und 90er J . des 15. Jhs. die neuen Diphthonge. Um 1530 hört der lokale Charakter der Drucksprachen fast ganz auf. Damit tritt die nhd. Hochsprache, die bisherige amtliche Gemeinsprache in ein neues, zweites Stadium. Es bedient sich ihrer die Literatur in immer stärkerem Grade. Indem etwa Boners 'Edelstein', der 'Ackermann aus Böhmen', die dt. Bibel seit 1466, Steinhöwels 'Äsop', Gengenbachs Werke usw. gedruckt werden in zunehmendem Anschluß an das Gemeine Deutsch, sind die ersten breithin wirkenden Schritte von einer Amtssprache zu einer L. gemacht. Dies allein, und etwa daneben noch die schnellere und wirksamere V e r b r e i t u n g der Koine, die der Druck bewirkte, ist der tiefere Sinn des Umstandes, daß wir in der Geschichte der nhd. Schriftsprache von D r u c k e r s p r a c h e n reden. M. H e r r m a n n Albrecht von Eybs 'Ehebüchlein' 1890 S. X X I V f f . F r . Z a r n c k e Seb. Brants 'Narrenschiff 1854 S . 2 7 3 f f . K . v . B a h d e r Grundlagen S. I5ff. A. G o e t z e Die hd. Drucker der Reformationszeit 1905. D e m e t e r a. a. 0 . S. 26ff.

§ 17. Und in diesem Sinne ist nun freilich auch L u t h e r von entscheidender Bedeutung in der Geschichte der nhd. Schriftsprache, indem auch er und ganz besonders eben er sich jener lautlichen Struktur der Koine, des schon anderthalb Jhh. vor ihm geschaffenen, in Prag, Wien, Meißen, Mainz ausgebildeten, praktischen Kunstsprachtyps, zur Literatur, zur Poesie, vor allem zur Übersetzung der Bibel bedient,

LITERATURSPRACHE ohne indessen damit der Literatur oder der Poesie als solcher dienen zu wollen. Man weiß, daß seine Sprache nicht von Anfang an fertig war, sondern stets und bis zum Schluß im Werden blieb, daß Sprachinteresse und zielbewußte Spracharbeit sich bei ihm erst entwickeln mußten. Und man weiß auch, daß seine Wittenberger Drucker (Hans Lufft besonders) mit seinen eigenen Werken ihm, der sich wie andere Autoren jener Zeit um die Druckkorrektur zunächst (bis 1525 resp. 1527) nicht kümmerte, vorangegangen sind in der Anwendung der Koine kursächs. Färbung; j a einzelne seiner Nachdrucker waren ihm im Anschluß an die Koine durchaus und dauernd voraus. Die im Omd. spät, zuerst 1490, auftretenden Offizinen hatten sich überall sogleich der Koine wettinischer Färbung genähert. Erst dadurch, daß die omd. Färbung des Gemeinen Deutsch durch das Hauptliteraturwerk des Protestantismus so in den Vordergrund gerückt wurde, vergrößerte sich die Kluft zur obd.-kaiserlich-katholischen Färbung, die der Konfessionsstreit der Folgezeit weiter aufriß, und die dem Reformator selbst keineswegs so bewußt war. So erst markieren sich jene zwei sprachlichen Autoritäten innerhalb des Gemeinen Deutsch, deren Divergenzen bei einer Betrachtung von außen zurücktreten müssen. Der lautliche Grundcharakter einer aus obd. und md. Besonderheiten gemischten Gemeinsprache bleibt aber gewahrt. Und dies ist das Wesentliche! — So wandelt also auch Luther, mit den Druckern zusammen und alsbald mächtiger als sie, die Amtssprache in eine L. um; aber zugleich verwandelt er sie, und das ist seine zweite, bedeutungsvollere Funktion in der Geschichte der dt. Sprache. Er bedient sich der Kanzleikoine nur in der lautlichen und flexivischen Struktur; im Stil, Wortgebrauch und vielfach auch im Satzbau, in Geist und Seele war sie ihm zu eng und arm, bewußtermaßen und ausdrücklich mußte er die engere und weitere omd. Heimat, die lebendige Redeweise des Volkes und die schöpferische Kraft der eigenen Persönlichkeit hineinlegen, um die Sprache der dt. Bibel zu schaffen, antihumanistische Elemente also, mit denen er der humani-

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stischen Koine erst zu körperlichem und geistigem Dasein verhalf. Aber der Charakter der frühnhd. Kultursprache als einer humanistischen Umformung von Satzbau und Stil nach dem Muster der antiken Sprachen, wie sie namentlich außer Amt und Brief die humanistische Übersetzungsliteratur gehandhabt hatte, ist durch die Bibel keineswegs verdrängt worden; besonders die Satzeinschachtelung, der Einschub von Nebensätzen ist seitdem eine Errungenschaft unserer Kultursprache. Und die Geschichte der nhd. L. ist jedenfalls mit Luther nicht abgeschlossen, sondern beginnt eigentlich erst mit ihm. C. F r a n k e Grundzüge der Schriftsprache Luthers 1 9 1 3 f . F r . H a u b o l d Untersuchung über das Verhältnis der Originaldrucke der Wittenberger Hauptdrucker zu Luthers Mss. Diss. Jena 1914. G i e s e Das Verhältnis von Luthers Sprache zur Wittenberger Druckersprache. Diss. Halle 1915. H . H a g e n Die Sprache des jungen. Luther und ihr Verhältnis zur Kanzleisprache seiner Zeit. Diss. Greifsw. 1922. P. P i e t s c b Luther und die nhd. Schriftsprache 1883. J o h . L u t h e r Die Sprache Luthers in der Septemberbibel 1887. D e r s . Die Reformationsbibliographie und die Gesch. d. dt. Sprache 1898. B u r d a c h in Vorspiel I 2 passim. B. K u h n Das Verhältnis der Dezemberbibel zur Septemberbibel. Diss. Greifsw. 1901. A. E . B e r g e r Luther u. d. dt. Sprache, Von deutscher Sprache und Art, hsg. von M. Preitz 1925 S. 8ff. G. R o e t h e Luthers Bedeutung für die deutsche Literatur 1918 S. 33 ff. W. S t a m m l e r Zur Sprachgeschichte des 15- u. 16. Jhs., Ehrismann-Festschrift 1925 S. i 7 i f f .

§ 18. Der Prozeß des Durchdringens dieses modifizierten Literaturmeißnischen ist ungemein langwierig und war ohne den Anschluß der norddt. Literatur wohl überhaupt nicht möglich. Noch um die Mitte des 17. Jhs. sind entscheidende Fortschritte kaum erreicht, und es herrscht Koine nur in jenem besprochenen weiten Sinn, zeitweilig und landschaftlich stark unter Einfluß der habsburgisch-katholischen Färbung. Auch stand, und das ist das Wesentlichste, der abschließend-konservierende Charakter noch keineswegs fest, immer wieder dringen noch neue mundartliche Erscheinungen, sprachliche Neuerungen, vor und fortdauernd ein. So gibt es denn eine Norm in unserem Sinne noch um 1600 nicht, und unbedingte Sprachautorität war Luther selbst für die omd. oder für die protestantischen Literaturwerke nicht. Der katholische Süden

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LITERATURSPRACHE

bildet seinen eigenen Sprachtypus aus; die Schweiz geht wie politisch und religiös so auch sprachlich noch lange ihre eigenen Wege. Die derzeitige kulturelle Oberschicht, die Gelehrtenkaste, war lat. orientiert. Hauptsächlich erst der n e u e Gelehrtenstand, der dem protestantischen Pfarrhaus entspringt, zeitigt jene jüngeren Grammatiker und Sprachtheoretiker, die ihr humanistisches Interesse auch der dt. Sprache zuwenden. Das Problem der Koiné als solcher beschäftigt sie weniger; das b e w u ß t e Arbeiten an einer L. setzt ein und steigert sich bis zu den Sprachgesellschaften. Man wirkt gegen neue Idiotismen, für Abschluß, Regelung, Norm. Besonders ist es der omd. Clajus, der in seiner 'Grammatica Germanica ex bibliis Luiheri Germanicis et aliis eius libris collecta1578 das Lutherdeutsch als Grundlage seiner Norm benutzt. Im Punkte der Apokope und Synkope der unbetonten e zeigte die werdende L. noch während des ganzen 16. Jhs. eine chaotische Uneinheitlichkeit. Aber das restituierende Bewußtsein der grammatisch gebildeten Oberschicht, diesmal verkörpert in O p i t z , bewahrte das unbetonte e außer im Hiat und außer wo es paragisch hinzugetreten war. Dadurch, daß Opitz selbst nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch dieser L. dient, fördert er ihre Formung, und indem er eine wissenschaftliche Arbeit wie die 'Teutsche Poeteiey' in sie kleidet, erweitert er ihren Wirkungskreis. Er verbietet Mundartliches, verlangt Reinheit und Dialektlosigkeit des Reims, und so wiederholen sich die Forderungen der mhd. höfischen Sprache. Schottelius (1663) hat die deutlichste Vorstellung von einer L. als von einem über den Mundarten stehenden Kunstprodukt, und ihm eben ist neben Luther und über Luther hinaus schon Opitz selber Muster und Autorität. In dieser Zeit der Sprachgesellschaften wurde die Formung, Feilung, Ausbildung, besonders, aber weniger wirkungsglücklich, die Reinigung der „Muttersprache" von der alamodischen Überwucherung geradezu zu einem gesellschaftlichen Spiel. Es galt, ihr einen vornehmen, kultivierten, gesellschaftsfähigen, deutschlexikalischen Charakter zu verleihen, ihr zugleich die Züge der Neurenaissance aufzuprägen, wor-

über dann das Lutherische freilich völlig verlorenging. Der Ernst und wahrhaft rührende Eifer der Spracharbeit einiger der in Tausenden von Korrespondenzen sich bemühenden Geister dieser Generationen ist so preiswürdig wie der der ahd. Glossatorengenerationen von einst. Fr. K l u g e Von Luther bis Lessing 1888, •1918; dazu E. S c h r o e d e r GGA. 1888 S. 249 bis 286. G. B a e s e c k e Die Sprache der Opitzschen Gedichtsammlungen von 1624 u. 1625. Diss. Göttingen 1899. Fr. N e u m a n n Geschichte des nhd. Reimes von Opitz bis Wieland 1920. Zu Schottel s. J a g e m a n n Public, of the Mod. Lang. Assoc. of America VIII 408 u. K o l d e wey ZfdU.VIII 81. M . H . J e l l i n e k C « f A . d.nhd. Grammatik von den Anfängen bis Adelung 1913. K. B u r d a c h Zur Gesch. d. nhd. Schriftsprache (betrifft bes. Opitz), jetzt in Vorspiel I 2, 34ff. H. S c h u l z Die Bestrebungen der Sprachgesellschaften 1888. H. W o l f f Der Purismus i. d. dt. Lit. d. 17. Jhs. Diss. Straßburg 1888. K . P r a h l Ph. v. Zesen. Progr. Danzig 1890. K . D i s s e l Ph. v. Zesen. Progr. Hamburg 1890. W i i l k e r Die Verdienste der Fruchtbring. Gesellsch. 1888. O. D e n k Fürst Ludwig v. Anhalt-Cöthen und der erste deutsche Sprachverein 1917.

§ 19. Freilich, der große Leibniz (gest. 1716) stellte sich den Gebrauch der dt. Sprache nur für seine zwei kleinen nachgelassenen Schriften nationalen Inhalts zurück, für die 'Unvorgreiflichen Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der dt. Sprache' (ed. Eccard 1717) und für die 'Ermahnung an die Teutschen, ihren Verstand und Sprache besser zu üben'. Und doch scheinen von diesen Lehren und Vorbildern gewisse deutschsprachliche Wirkungen ausgegangen zu sein, wie man z. B. an dem Oberlausitzer Geschichtschreiber Heino aus Lauban feststellen darf, der 1718 plötzlich sein Herz für die dt. Schriftsprache entdeckt. Dies 18. Jh. bringt auch den endlichen Anschluß des katholischen Süddeutschlands. Gottscheds Wiener Reise von 1749 steht in diesem Zusammenhang wie ein weithin leuchtendes Fanal (1748 'Deutsche Sprachkunst'). Erst G o t t s c h e d und A d e l u n g vollenden die strenge Norm der äußeren Sprachform, die das Eindringen mundartlicher lautlicher Neuerungen und Besonderheiten nun definitiv ausschließt. Erst seit dieser Zeit ist endgültig alle sprachliche Fort'entwicklung in die Mundart als die un-

LITERATURSPRACHE kontrollierte Sprache der Unterschicht verbannt. Das Gemeine Deutsch meißnischer Färbung, längere Zeit im Kampf um die Hegemonie auch mit einer mehr schles. Färbung (redet man doch sogar von einer schles. Dichtersprache), bekam durch Gottsched endlich die korrekte und elegante Fassung zugleich, darin es nun in aller Art von Prosa und Poesie Latein und Frz. aus dem Felde schlagen konnte. Wie die Provinzialismen der äußeren Struktur, so verpönte Gottsched, dieser neue Meister Hesse (vgl. § 11), im Stil und Geist der Sprache den unübersichtlichen Periodenbau und die humanistischen Partizipialkonstruktionen des Kanzleistils wie auch die Verschnörkelungen und Arabesken des Barockstils, der inzwischen auch sprachlich sich stark entfaltet hatte, desgl. alle Arten von Archaismen und „neugemachten Wörtern". Es kam damit ein klarer, vernünftiger und rationalistischer Zug in die Sprache, darinnen korrekt und schön identisch wurden. „Wer unnatürlich denkt, muß auch notwendig unnatürlich schreiben." Aber mit dieser gleichfalls versuchten Normierung und endgültigen Festlegung von Stil und Wortschatz sind die beiden sprachlichen Aufklärer nicht so siegreich gewesen wie mit der Regelung der lautlichen Struktur. Die Orthodoxie und „diktatorische Dreistigkeit" der Gottschedianer forderte den Widerspruch der Schweizer und die Empörung der jungen Generation der Dichter, die nicht mehr Gelehrte waren und mit dem neuen Dichterbegriff eine vertiefte Auffassung vom Mysterium der Sprache verbanden, heraus. Und deren jugendlich-revolutionärer Wortschatz und stürmisch-irrationaler Stil rief wiederum das 'Neologische Wörterbuch' (von Schönaich 1754) der schon besiegten Gottschedianer hervor. Aber die lautliche Korrektheit, die Norm der äußeren Sprachform war von der Geniesprache trotz einigen Versuchen (Apokope und Synkope bei Herder und dem jungen Goethe usw.) nicht mehr zu durchbrechen; was die „Genies" und „Magier" retteten, war die schöpferischpoetische Freiheit des Wortschatzes und des Stils, wobei auch die alte Luthersprache eine eigentliche Verjüngung erfuhr. In Hinsicht auf Wortschatz und

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Stil blieb die L. kein rationalistisches Produkt der Vernunft und kein Schulregelsystem, wozu sie in der Aufklärung zu erstarren drohte. Jetzt bricht die i n n e r e Sprachform stark zum Volkstümlichen, Angestammten und Ursprünglichen durch (Goethes 'Götz'), und diese Möglichkeit bleibt fortdauernd gewahrt, wird später von der Romantik aufgegriffen und bewußt auf das Archaische, die Bereicherung des Wortschatzes, der Bilder und Vergleiche aus dem „Altdeutschen", ausgedehnt. Besonders Klopstock fördert das Schöpferische und die Neubeseelung; er gilt mit Recht als einer der Hauptbegründer der neuen Dichtersprache. Was sie den großen Klassikern verdankt, ahnen und fühlen wir mehr, als wir es bis jetzt wissenschaftlich festlegen und präzisieren können. Wir g l a u b e n , daß die dt. L. hier vor allem zum zweiten Male jene geistige Prägung und Reife, jene Tiefe, Füllung und spielend beherrschte Handhabung erhielt, die sie zu Grazie und Anmut (Wieland) wie zu Monumentalität und Würde (Schiller) befähigt, zu jener Freiheit aus der Beherrschung wie Natürlichkeit aus der Zucht, die sie mit dem höfischen Mhd. teilt, und daß sie hier jene moderne Liberalität erhielt, welche die persönliche Note und den eigenen Stil innerhalb aller kulturellen Bindung doch ermöglicht, was allemal die höchste Stufe der Vollendung einer L. zu bedeuten scheint. Hier löst sie sich wie vom Obersächs., das nur mundartlich inzwischen noch seine eigenen Wege gegangen ist, wie überhaupt von aller landschaftlichen Grundlage los, trotzdem sie die Bereicherung des Wortschatzes aus den Mundarten, freilich nur in restituierter Lautform, und damit einen lexikalischen Ausgleich zwischen den Landschaften dauernd ermöglicht. Und wir w i s s e n , daß mit den großen Klassikern, indem sie Vorbild und Einigung bis in die letzten Winkel trugen, unter ihrem unwiderstehlichen Einfluß die L. auch zur Umgangssprache der gebildeten Kreise geworden ist. Hier vor allem mißt man die Hauptrolle Schiller zu. Möglichste Bewahrung der Sinnenhaftigkeit und Anschaulichkeit aber vor Abstraktion und Verflüchtigung scheinen wir Goethe danken zu müssen.

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LITERATURWISSENSCHAFT

Eine gewisse papierene Epoche im 19. Jh., dem Jh. der Zeitungen, scheint jetzt glücklich überwunden. Seit einer Reihe von Jahren haben sich Sprachsinn und Sprachgefühl der großen Zeitungen wie auch der Dichtung wesentlich wieder gehoben, und ebenso suchen auch Stil und Wortgebung der Wissenschaft neuerdings wieder jenen höchsten Anforderungen einer Kultursprache gerecht zu werden, welche die Humboldts, die Grimms und andere ältere Meister längst erfüllt hatten, die aber in den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs. nur selten noch gestellt worden waren. R . J e c h t Neues Lausitzisches Magazin X C I V ( 1 9 1 8 ) S. 3 1 (für Heino). E . W o l f f Über Gottscheds Stellung in der Gesch. d. dt. Sprache, Z f d U . Ergänzungsheft V I I I 208 (Festgabe f ü r Hildebrand). B u r d a c h s ältere Arbeiten j e t z t in Vorspiel I I 1 9 2 6 (Goethe und seine Zeit), d a z u : Deutsche Schriftsprache zur Zeit Gottscheds, Festschrift f ü r A u g u s t Sauer 1 9 2 6 S. I 2 f f . , u n d : Aus der Sprachwerkstatt des jungen Goethe, Zeitwende I I ( 1 9 2 6 ) S. 1 2 3 ff., 2 5 3 ff. Die übrige, meist unwesentliche Literatur ist verzeichnet bei B e h a g h e l Gesch. d. dt. Sprache* S. 8 3 — 8 7 und S ü t t e r l i n Nhd. Grammatik 1 9 2 4 S. 2 0 — 2 2 ; dazu e t w a noch E . B r u c h m a n n Satzbau des Sturm- und Drangdramas. Diss. Greifsw. 1920. J . H i l d e b r a n d Die 'Discourse der Mahlern' und die 'Mahler der Sitten', sprachlich verglichen. Diss. Uppsala 1909. S p e r b e r Gesch. d. dt. Sprache 1 9 2 6 § 30 ff. Kleinere Beiträge zur Sprache Goethes, der R o m a n t i k , Schopenhauers in Von deutscher Sprache u. Art h s g . v o n M . P r e i t z 1 9 2 5 (Festgabe des deutschen Sprachvereins). H. Naumann.

Literaturwissenschaft. I . Gegenstand und Einstellung. I I . Die Betrachtungsarten des literarischen Gegenstandes. A . Die genetische Einstellung. I. Die psychologische Betrachtungsart. 2. Die philologische Betrachtungsart. B . Die beschreibende Einstellung. 3. Die phänomenologische Betrachtungsart. 4 . Die eidologische Betrachtungsart. C. Die historische Einstellung. 5. Die personalistische Betrachtungsart. 6. Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsart.

1. G e g e n s t a n d u n d E i n s t e l l u n g . Das Wort „Literaturwissenschaft" scheint von T h . Mu n d t geprägt worden zu sein, der in der Einleitung zu seiner 'Geschichte der Literatur der Gegenwart* (1842) seine Betrachtungsweise einem schnöden Handw e r k e r n und geistlosen Zusammenraffen von Materialmassen entgegenstellt. K. R o s e n k r a n z gebraucht das Wort in seinen 'Studien' (Fünfter Teil, Dritte Folge), Leipzig 1848, in denen er eine Übersicht

über „die dt. Literaturwissenschaft 1836 bis 1842" gibt. W . S c h e r e r verwendet das Wort ('Jakob Grimm' 18852, S. 60) im Sinne von Literaturforschung, E. E l s t e r wollte damit eine auf die Psychologie fundierte, von der philologischen verschiedene Betrachtungsart bezeichnen. Obgleich von den Philologen strikter Observanz (R o e t h e) immer noch verpönt, hat sich das Wort zur Bezeichnung jeglicher Form der Literaturbetrachtung eingebürgert und tritt auch hier in diesem Sinne auf. — Die Verschiedenheit der Ansichten über Ziele und Aufgaben der L. hat ihren Grund in der Divergenz der Anschauungen über den literarischen Gegenstand und die Art seiner Betrachtung. In der Praxis ist man sich über die Abgrenzung des literarhistorischen Gegenstandes, dessen Umfang sich je nach der Epoche verschieden gestaltet, so ziemlich einig, wenn auch manche Fragen wenig erörtert werden, z. B. das Problem des Schriftstellers, worauf schon Herder in seinem Abbtdenkmal, Fr. Schlegel in seinem Forsteraufsatz hinwies, wofür man sich in der Zeit des Jungen Deutschlands lebhaft interessiert hat, worüber Nietzsche oft, zunächst anläßlich D. F. Strauß' nachgedacht und was von den Romanisten mehr beachtet wird (z. B. K l e m p e r e r : Montesquieu, Die moderne frz. Prosa). Theoretisch hat J. N a d l e r (Euph. X X I iff.) das Wesen des literarhistorischen Gegenstandes mit Hilfe Rickertscher Auffassung zu ergründen gesucht. Es muß streng geschieden werden, ob das literarische Phänomen der Forschung bloß als Quelle dient (so für die Volkskunde, die Kulturgeschichte und die Geistesgeschichte), oder ob es tatsächlich Gegenstand der Forschung bildet, nämlich der literarhistorischen, die niemals nur beim „ W a s " stehenbleiben dürfte, sondern zugleich auch nach dem „ W i e " fragen sollte. Dabei kann entweder der Nachdruck auf den Schöpfer bzw. die Funktion desSchaffens gelegt werden oder auf das Produkt des Schaffens, das Gebilde. Je nachdem lassen sich vom Standpunkt des literarhistorischen Gegenstandes zwei Richtungen unterscheiden, von denen die erstere als p o i e t o z e n t r i s c h e , die andere als e r g o z e n t r i s c h e bezeichnet werden mag, wobei freilich festgestellt werden muß, daß den

LITERATURWISSENSCHAFT Forschern die Verknüpfung beider Richtungen gewöhnlich vorschwebt, selten aber restlos gelingt. Dem so aufgefaßten literarhistorischen Gegenstand gegenüber kann sich der Forscher verschieden einstellen, u. zw. genetisch-erklärend, systematischbeschreibend oder historisch-darstellend, je nachdem sein Augenmerk auf das Werden, auf das Wesen oder auf das Wirken gerichtet ist. Somit ergeben sich sechs H a u p t a r t e n d e r B e t r a c h t u n g , unter denen sich wieder verschiedene Abarten unterscheiden lassen: genetisch

beschreibend

historisch

poietozentrisch

psychologisch

phänomenologisch

personalistisch

ergozentrisch

philologisch

eidologisch

entwicklungsgeschichtlich

Es braucht kaum betont zu werden, daß die hier charakterisierten Richtungen nur selten in reiner Gestalt vorkommen, da sie doch sämtlich aufeinander angewiesen sind. II. D i e B e t r a c h t u n g s a r t e n des literarhistorischen Gegenstandes. A. Die genetische Einstellung ist schon von Herder (Suphan X V , 539) treffend charakterisiert worden. Herder meint, die Entstehung zeige das Wesen der Sache selbst. 1. D i e p s y c h o l o g i s c h e B e t r a c h t u n g s a r t . Ein jedes literarische Werk ist Produkt eines Schöpfers, der aber ziemlich spät in der historischen Entwicklung als ausgeprägte literarische Persönlichkeit auftritt. Die Urdichtung ist anonym, völkisch wenig differenziert; später erst treten Stammesunterschiede, die freilich von vornherein sich geltend machen, deutlicher auf, und schließlich taucht die literarische Persönlichkeit auf. Somit gliedert sich diese Betrachtungsart je nach der Kulturstufe. a) V ö l k e r p s y c h o l o g i e u n d E n t w i c k l u n g s p s y c h o l o g i e . Ansätze zu dieser Betrachtungsart finden sich bereits im 18. Jh. bei Hume und J. Brown und ihren dt. Nachahmern Hamann und Herder. Taylor, Grant Allen haben diese Betrachtungsart vervollkommnet, Spencer gab ihr philosophische Grundlagen; sie ist in Deutschland von Herbart, Lazarus und Steinthal ausgebaut, von W. W u n d t

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systematisiert worden. Diese Betrachtungsweise setzt sich zum Ziel die Erforschung der Anfänge der Dichtkunst und die Bestimmung des Charakters der Urgattungen, deren einzelne Züge in der Kunstdichtung als erstarrte Formeln und produktive Stilmittel fortleben. Deshalb geht F. K r u e g e r {Über Entwicklungspsychologie 1915) über Wundt hinaus, der geneigt ist, an der Schwelle der Halbkultur die Völkerpsychologie zu verabschieden. F. K r u e g e r läßt vom Standpunkt der psychologischen Entwicklung das Fortleben der Motive und Stilmittel verfolgen, so G o l z in den 'Arbeiten zur Entwicklungspsychologie' IV. H. 1920. b) Ethnologische Literaturbet r a c h t u n g prüft literarische Erzeugnisse auf höherer, ja auch höchster Kulturstufe, auf den darin sich offenbarenden Stammescharakter und den Geruch ihrer Erdgebundenheit und Landschaftsatmosphäre. Scherer bereits hat in seiner 'Geschichte der dt. Dichtung im II. und 12. Jh.* das Landschaftliche mit berücksichtigt, A. S a u e r hat in seiner Rektoratsrede 'Literaturgeschichte und Volkskunde' (1907) ein großzügiges Programm einer solchen Betrachtungsweise entwickelt, sein Schüler J. N a d l e r mit großem Kraftaufgebot und Selbstvertrauen eine 'Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften' ausgebaut und versucht selbst so komplizierte Erscheinungen wie die Romantik aus der Völkermischung heraus als ostdeutsche Bewegung zu erklären, ohne allerdings viel Anklang zu finden, da sich diese Betrachtung doch eher für die älteren, ja ältesten Epochen eignet, wo der Stammescharakter noch klarer zum Vorschein kommt. c) P s y c h o g e n e t i s c h e B e t r a c h t u n g stellt sich zur Aufgabe, die literarische Persönlichkeit zu erklären. Dies Problem ist in der Zeit positivistischer Strömung aktuell geworden. Goethe gab' in seiner Autobiographie das Muster einer solchen Erklärung an seiner eigenen Entwicklung als Mensch und Dichter. H. T a i n e sah alles, was der Künstler schafft, als das Produkt der Rasse, des Milieus und des Moments. W . S c h e r e r , der hier eigene Wege ging, unterschied in der literarischen Persönlichkeit das Ererbte, Erlebte und Erlernte.

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Dieser Gesichtspunkt, den E. S c h m i d t in seiner Rede über die literarische Persönlichkeit (Reden zur Literatur und Universitätsgeschichte 1911) feinsinnig gedeutet und leise modifiziert hat, bildet die Grundlage der sog. philologischen Monographie als deren klassische Beispiele E. Schmidts 'Lessing', Minors 'Schiller' betrachtet werden dürfen. Auf ihren Spuren wandelt H. M a y n c in seinen Biographien (Mörike, Immermann, G. Keller, Fontane, C. F. Meyer), der auch in seiner 'Geschichte der Goethebiographie' diese Frage historisch und theoretisch erörtert hat. Durch Diltheys Auffassung des Erlebnisses ist diese Betrachtungsart nachher namhaft beeinflußt worden, indem man als Erlebtes auch die geistige Atmosphäre des Zeitalters zu verstehen lernte, die doch vom Individuum eingesogen, also auch erlebt wird. In anderer Richtung bildete dann G u n d o l f die Lehre vom Erlebnis fort, indem er in seinem 'Goethe* scharf das Bildungserlebnis (R. M. W e r n e r Lyrik und Lyriker nannte es „indirektes Erlebnis") theoretisch vom Urerlebnis schied, was bereits praktisch, freilich auf anderer Grundlage, R. Unger in seinem Hamannbuch durchführte, während z. B. C. Enders in seinem Buche über 'Fr. Schlegel, Zur Geschichte seines Wesens und Werdens* sich wesentlich auf das Bildungserlebnis (Belesenheit) beschränkte. An Dilthey knüpft an, gestaltet aber selbständig die Lehre vom Erlebnis E. E r m a t i n g e r in seiner Poetik 'Das dichterische Kunstwerk', der das Formerlebnis als Synthese von Stofferlebnis und Gedankenerlebnis auffaßt. Den 'Erlebnisbegriff in der modernen Kunstwissenschaft' behandelt Charlotte Bühler in der Festschrift für Walzel (Vom Geiste neuer Literaturforschung 1924). 2. D i e p h i l o l o g i s c h e B e t r a c h t u n g s a r t haftet an dem Werk selbst. Sie sucht es, vom Text ausgehend, in seinem Werden auszubauen. Der klassische Meister dieser Methode, M. H a u p t , bezeichnete (Opuscula III, 1, 173) den geschichtlichen Sinn, der das Gegebene als ein Gewordenes und Werdendes begreift, als die erste Bedingung zu einem innigen Verständnis der Literatur und einer tieferen Auffassung aller Aufgaben der Philologie.

a) D a s S t u d i u m d e s T e x t e s . Grundlage der Forschung bildet der Text. Textkritik ruht auf der Textgeschichte. Sie hat bei älteren, meist handschriftlich überlieferten Texten die Richtung nach rückwärts, um den Archetypus zu erschließen, bei neueren, gedruckten (wo es sich nicht um Verschollenes handelt) nach vorwärts, von der ersten Ausgabe aus. Für die erste Richtung hat L a c h m a n n die Grundlage geschaffen. Die Arbeiten über die Minnesänger von C. v. K r a u s , der es versteht, sich gleichsam die Schwingungen des individuellen Rhythmus des Dichters und sein Ethos anzueignen, haben gezeigt, bis zu welcher Subtilität man hier fortschreiten kann. Den Wert der Textgeschichte neuerer Dichter haben schon Lessing (für Klopstock, im 19. Literaturbrief) und Goethe (für Wieland, 'Literarischer Sansculottismus') anerkannt, sie ist wissenschaftlich durch die Schrift von M. B e r n a y s 'Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes' (1866) begründet worden. E. S c h r ö d e r s Studien über Goethes Sesenheimer Lieder (1905), B. S e u f f e r t s Prolegomena zu der Ausgabe Wielands (i904ff.), A. K ö s t e r s zu Th. Storm (1918) schreiten bahnbrechend in dieser Richtung fort. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Textkritik erörtert im Anschluß an die Ideen E. Husserls H. J. P o s in seinen 'Kritischen Studien über philologische Methode' (1923), von praktischen Gesichtspunkten läßt sich G. W i t k o w s k i leiten in seiner 'Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke' (1924), wozu R . B a c k m a n n s Studie über 'Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter' (Euph. X X V [1924] S. 629 ff.) eine Ergänzung bildet. b) P h i l o l o g i s c h e D i v i n a t i o n . Der Philologe bleibt bei dem Überlieferten, dessen Authentie er festgestellt hat, nicht stehen, er sucht aus dem Entwurf das Angestrebte, aus dem Fragment das Ganze, aus dem Anonymen oder bei dem Pseudonym den Verfasser zu erschließen. So hat A. K ö s t e r den Verfasser der 'Geharnschten Venus' (1897) erschlossen, Fr. S c h u l t z den Verfasser der 'Nachtwachen des Bonaventura' (1909), P. M e r k e r den Verfasser des 'Eccius dedolatus' und anderer

LITERATURWISSENSCHAFT Reformationsdialoge (1923). Der Philologe begnügt sich nicht mehr wie Lachmann bis zur ältesten Gestalt vorzudringen, sondern sucht, wie A. H e u s 1 e r in seinen Nibelungenstudien ('1922), die einzelnen Schichten zu sondern, die dem NL. vorangehen; ihm genügt nicht mehr, wie Scherer, die älteste Faustdichtung zu erschließen, sondern er versucht, wie G. R o e t h e (BSB. 1920), die einzelnen Phasen des ursprünglichen Planes zu rekonstruieren. Die universalistische Auffassung der Philologie ist nur ein Weiterspinnen dieser Tendenz; sie geht vom T e x t aus und sucht die hinter ihm stehende Individualität nicht nur des Einzelnen, sondern des ganzen Volkes zu enträtseln. c. P h i l o l o g i s c h e H e r m e n e u t i k . Der sogenannten philologisch-historischen Richtung hat W . S c h e r e r theoretisch in seiner 'Poetik', praktisch in seinen Arbeiten den Weg gewiesen. Diese Richtung ist von seinen Schülern tatsächlich von einer Betrachtungsart zur Methode ausgebildet worden, womit nicht nur die strenge wissenschaftliche Fundierung der zu wählenden Mittel der Forschung, aber zugleich eine gewisse Verknöcherung angedeutet sein mag. E. S c h m i d t in seiner Wiener Antrittsvorlesung ('Charakteristiken' Bd. I), J. M i n o r in seinem Vortrag 'Die Aufgaben und Methoden der neueren Literaturgeschichte' (N. Fr. Presse 20. Nov. 1904) haben die leitenden Gesichtspunkte scharf formuliert. Mit Hilfe äußerer und innerer Kriterien wird zunächst die Entstehung des Werkes verfolgt, besonderes Gewicht auf den Quellennachweis gelegt unter Berücksichtigung der Herkunft des Stoffes und seiner anderweitigen Behandlung, die einzelnen Motive werden auf ihren Ursprung geprüft und mit den Erlebnissen des Dichters konfrontiert, ihre Kompositionsweise unter Berücksichtigung der Vorbilder angedeutet, die Einflüsse sorgsam aufgespürt, Entlehnungen gewissenhaft gebucht, unter Abwägung der Kontraste und Parallelen mitunter der Versuch gemacht, das Neue und Originelle herauszuarbeiten, mittels des Prinzips der wechselseitigen Erhellung (R. M. M e y e r NJbb. X X I I I ) auf das Dunkle Licht geworfen. Psychologische Vertiefung wird nicht angestrebt, der Ideengehalt von der Be-

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trachtung ausgeschlossen. Ideengeschichte wird von den philologisch orientierten Forschern nur im engsten Zusammenhang mit Wortgeschichte getrieben (K. B u r dach), wodurch sich aber leicht die Grenzen der Ideenkomplexe verwischen, und was zu einer Überspannung der genetischen Tendenz zu einem regressus in infinüum führt. B. Die beschreibende Einstellung, welche sich schon bei den Positivisten (insbesondere bei R. Heinzel) geltend machte, sucht im Gegensatz zur genetischen durch ein Beschreiben der Phänomene nach systematisch ausgearbeiteten Kategorien in ihr Wesen einzudringen. 3. D i e p h ä n o m e n o l o g i s c h e Bet r a c h t u n g s a r t . Mit diesem, vom Philosophen E. Husserl eingeführten Terminus soll diejenige Art der Betrachtung literarischer Persönlichkeiten bezeichnet werden, welche sie nicht aus einer Summe von Faktoren entstehen läßt, sondern das Gepräge einer Individualität in allen ihren Ausstrahlungen vermittels der Beschreibung zum Vorschein zu bringen sich bemüht. F. G u n d o l f hat in seinem Vortrag 'Stefan George in unserer Zeit' (1913) diese Stellung kurz und prägnant charakterisiert. Es handle sich bei der Erkenntnis eines Dichters nicht darum, wie er geworden sei, sondern wie er gewesen sei, nicht woher er komme, sondern was er sei. Das Sein eines Menschen sei tiefer als seine Geschichte. In seinem Buche über 'Shakespeare u. der dt. Geist' (1911) hat sich Gundolf der „Biographie" und der „heutigen Methode" scharf entgegengesetzt. a) S t r u k t u r p s y c h o l o g i e , Psychog r a p h i e , P s y c h o a n a l y s e . Die phänomenologische Forschung geht von der Persönlichkeit als einem Ganzen, von ihm eigentümlicher Struktur aus, dessen Wesen es zu erfassen gilt. Der von D i l t h e y geprägte Begriff der Struktur erwies sich für diese Art der Behandlung besonders fruchtbar. In Sprangers geisteswissenschaftlicher Psychologie ist diese Auffassung zu einem System von 'Lebensformen' (1922) ausgebaut worden, das der Literaturforschung große Dienste leisten kann. Mehr an der Oberfläche des Seelischen haftet die Psychographie, eine Art angewandter Psychologie, welche auf

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Grund von Aussagen, Briefen und Werken die psychischen Funktionen des Dichters beschreibt, so wie es M a r g i s für E. T. A. Hoffmann versucht. Eine Ergänzung der Psychographie bietet die von M ö b i u s eifrigst gepflegte Pathographie, welche allzuleicht in Einseitigkeit verfiel und alles pathologisch erklären wollte. Die psychoanalytische Forschung geht auch vom pathologischen Gesichtspunkt aus und faßt die Dichtungen als eine Art Stillung verborgener, im Leben nicht erfüllter Wünsche auf. A. A d l e r s Vorlesungen über Individualpsychologie (1919) enthalten das System einer solchen Betrachtung, welche von R a n k auf die Sagenkunde angewendet wurde. Mehr Nutzen als die Theorie der verdrängten Komplexe kann dem Literarhistoriker eine auf psychoanalytischer Grundlage aufgebaute Typenlehre bieten, wie sie C. G. J u n g in seinem Buche 'Psychologische Typen* (1921) gibt. Eine Übersicht über 'Psychologie und Literaturforschung' gibt R. M ü l l e r - F r e i e n f e l s LE. X X V (1922/23). b) P s y c h o m e t a p h y s i s c h e B e t r a c h t u n g sucht die letzten Beschaffenheiten und Beweggründe einer Geistigkeit zu erspähen, die ihre ganze Tätigkeit gestalten. So suchte S i m m e l das Phänomen Goethe (1912) zu erfassen und den geistigen Sinn seiner Existenz aus der Dynamik seiner Geisteskräfte zu erschließen. So suchte W i t k o p in seinem Kleistbuch (1921) das Überpersönliche, Metaphysische in Kleists Individualität zu finden. Ahnlich versuchte M. D e u t s c h b e i n in seinem Buche 'Das Wesen des Romantischen' (1922) das Romantische an sich, die immanente Struktur der Romantik und ihrer geistigen Produkte zu erschauen. c) P s y c h o ä s t h e t i s c h e B e t r a c h t u n g sucht den Sinn der Persönlichkeit nicht nur in der Ausstrahlung seines Denkens, sondern seines ganzen Lebens und Trachtens zu erfassen, das sie unter das Gesetz der gestaltenden Kraft stellt. So G u n d o l f in seinem Buch über Goethe (1916). Das Sein eines Dichters erscheint dieser Auffassung nach als Gegenstand einer ästhetischen Würdigung und nicht einer psychologischen Erklärung, da doch dieses Sein ein Sollen bedeutet, einen Wert, wie das E. Rothacker (HistZ. X X V I I I 426) treffend darlegt. Die

Normen des Wertens entnimmt aber Gundolf dem Wertsystem Stefan Georges und seines Kreises. Leben und Werke sind dieser Auffassung nach nur die verschiedenen Attribute einer und derselben Substanz. 4. D i e e i d o l o g i s c h e B e t r a c h t u n g s a r t will auf dem Wege der Beschreibung das Wesen der Gebilde ergründen. Der Ausdruck Eidologie stammt von C. Stumpf (Abh. d. Berl. Ak. 1910, 32) her. R. H e i n z e l (vgl. S. Singer Aufsätze und Vorträge 1912) hielt diese Betrachtungsart für besonders empfehlenswert und arbeitete zeitlebens an einem Kanon der Beschreibung poetischer Werke, wobei er die literarische Persönlichkeit unbeachtet ließ. Diese Richtung kennzeichnet jetzt die morphologischphysiognomische Tendenz, nach H. Cysarz ('Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft' S. 2) ein Vermächtnis Goethes, der solche Deutung seit Italien immer lauterer ausgebildet hat. a) D i e A n a l y s e des I n h a l t s wird von der Forschung vernachlässigt und meistens Pädagogen in die Schuhe geschoben. Und doch ist die „Inhaltsangabe", genaue Hervorhebung der wichtigsten Momente und Motive, ihre Verknüpfung und Verzahnung unter Berücksichtigung der Widersprüche, Unklarheiten sowie des vom Dichter Vergessenen keine so einfache Operation, besonders wenn sie in den Dienst höherer philologischer Aufgaben gestellt wird, z. B. bei der Heldensagenforschung. U h l a n d war ein unvergleichlicher Meister in der Stoffanalyse, H e i n z e l suchte nach bestimmten Kategorien den Stoff der isländ. Saga auszuschöpfen. K . F i s c h e r s Goetheschriften, M e y e r - B e n f e y s Buch über Kleists Dramen, B r a d l e y s 'Shakespeare' suchen die Fülle des Inhalts plastisch zu veranschaulichen. Auch hier stecken neben philologischen Aufgaben, welche die Provenienz der einzelnen Elemente betreffen, morphologische Probleme, zu deren Lösung es allerdings an ausgebildeten und eindeutigen Kategorien gebricht. Im Mittelpunkt steht die Lehre vom Motiv, welches man als abstraktes Kraftelement von dem konkreten Stoffelement unterscheiden lernen sollte. In seinen 'Wegen zu einer vergleichenden Wissenschaft von der dichterischen Komposition' hat F. T r o j a n (in

LITERATURWISSENSCHAFT der Festschrift für Walzel, 1924) die Lehre vom Motivkörper entwickelt, J . K ö r n e r daselbst die Termini „ Erlebnis—Motiv— Stoff" erörtert, H. H e f e l e hat in seinem 'Wesen der Dichtung' (1923) die innere Gesetzmäßigkeit des Inhalts auch nach morphologischen Gesichtspunkten erwogen. b) D i e A n a l y s e des G e h a l t s blühte besonders unter dem Einfluß H e g e l s . Das dichterische Kunstwerk galt den Interpreten aus Hegels Schule als Ideengefäß. Fr. Th. V i s c h e r hat diese Einseitigkeit der Hegelianer bekämpft und in seiner Kritik der Faustkommentare ('Kritische Gänge' II) Rücksichtnahme auf die Formung der Ideen verlangt. D i l t h e y betonte, daß es sich bei der Weltanschauung in der Dichtung nicht bloß um Ideen handle, sondern um den Abglanz des ganzen Zusammenhanges des Seelenlebens; er forderte, daß man der Weltanschauung bis in die Melodie der Verse und innere Form in dem Gedicht nachspüre und Typen der Technik als Ausdruck der Lebensauffassung begreifen lerne. R . U n g e r prüfte die Gestaltung des Problems bei Dilthey und wies in seiner Schrift 'Weltanschauung und Dichtung. Zur Geltung des Problems bei Wilhelm Dilthey* (1917) der Analyse des Gehalts neue Wege, die er selbst in seinen Schriften über Hamann (1905/11), und die Idee im Drama ('Von Nathan zu Faust' 1916) gegangen ist. (Zum Problem Weltanschauung und Dichtung ist zu vergleichen E. E r m a t i n g e r NJbb. X V I u. R. B u c h w a l d GRM VI.) F. S a r a n stellt es seinen Schülern zur Aufgabe, den Gehalt des literarischen Werkes auszuschöpfen (zahlreiche Arbeiten in seinen 'Bausteinen zur neueren deutschenLiteratur'), undgibtselbst in seiner Analyse von Goethes 'Mahomet' und 'Prometheus' (1914) ein gutes Beispiel eines solchenVerfahrens. Diese Betrachtungsweise bemächtigt sich immer mehr der mittelalterlichen Studien. Hier ist A. S c h ö n b a c h vorangegangen. G. E h r i s m a n n hat dann mit seinen Arbeiten über Wolframs Ethik, das mittelalterliche Tugendsystem und Rudolf von Ems neue Perspektiven eröffnet, G.Müller, F.Neumann, W . S t a m m l e r haben den Beziehungen zwischen mhd. Literatur und Scholastik nachgespürt. Arbeiten, welche die Anschauungen eines Dich-

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ters über Welt, Leben und Kunst (viele Untersuchungen aus M u n c k e r s Schule) auf ihre Quellen untersuchen und systematisch zur Darstellung bringen, greifen mehr in das Gebiet der Geschichte der Philosophie oder Ästhetik, es sei denn, daß dabei die Denkart nicht nur in ihren individuellen Umrissen, sondern auch in ihrer stilistischen Auswirkung betrachtet wird, wie es H. Nohl an Dilthey anknüpfend in seiner Schrift 'Weltanschauung und Stil' (1920) verlangt, wie es K a r l Groos in seiner Studie über Nietzsches paradoxen Stil in 'Zarathustra* tut (Zs. f. angew. Ps. VII), wie denn überhaupt seine Untersuchungen über den Aufbau der Systeme, da sie die formale Seite berücksichtigen, für die Charakteristik der Weltanschauung der Dichter sich als besonders fruchtbar erweisen können. Mit vollem Recht hat S. E l k u ß ('Zur Beurteilung der Romantik' 1918) verlangt, daß man den Begriff des Stils auch auf die Denkart anwende. c) A n a l y s e der F o r m . Hier sind drei Möglichkeiten zu unterscheiden. o) S t i l i s t i s c h e A n a l y s e . Der Forscher geht vom Schöpfer aus und sucht die von ihm verwendeten Stilmittel zu beschreiben. Auf Grund von Wundts Psychologie suchte E. E l s t e r seine Stilistik aufzubauen. Demgegenüber tritt eine Richtung auf — als deren Ahnherr J . H. G. Hamann bezeichnet werden darf —, welche das Einzwängen des sprachlichen Kunstmaterials in Kategorien verpönt und die Ergründung des Stils eines jeden Autors nicht nach fertigen Schemen, sondern nach immanenten Gesetzen seiner Ausdrucksfähigkeit verlangt. K . V o ß l e r ist der Hauptvertreter dieser Richtung. Unter „Ausdruck" versteht er aber mit B. Croce nicht nur den sprachlichen Ausdruck, sondern auch höhere Gebilde, die sowohl individuell gefärbt als auch kulturell bedingt sind. Die von K . V o ß l e r begründete, von seinen Schülern und Mitstreitern ausgebaute „idealistische Neuphilologie" ist von den Germanisten wenig beachtet worden, und doch verspricht die Erörterung des Zusammenhanges zwischen 'Motiv und Wort', wie ihm H. S p e r b e r und L. S p i t z e r in dem gleichnamigen Buche (1918) nachgehen, und die Untersuchung der Wortkunst, deren Probleme

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L. Spitzer in der GRM. X I I I (1925) erörtert, die wertvollsten Resultate für die L. Dadurch wird dem gefährlichen Entlehnen von Kategorien aus dem Gebiete der Betrachtung anderer Künste vorgebeugt, und der in letzter Zeit gelockerte Zusammenhang zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft wird auf neuen Grundlagen hergestellt, und zwar im Sinne einer Auffassung der Philologie als Lehre vom Volksgcist, wie sie W. S c h e r e r vertrat, der übrigens diese Probleme (ZGdS. 1878«, 21) gesehen hat. ß) Ä s t h e t i s c h e A n a l y s e geht vom Genießenden aus. Dieser Standpunkt charakterisiert die Kunstlehre des 18. Jhs. Ihn vertritt H. R 0 e 11 e ke n in seiner 'Poetik' (1902). Den Versuch einer Analyse des ästhetischen Gegenstandes auch in der Dichtung, machte W. C o n r a d (ZfÄsth. III 76) auf Grund der Husserlschen Philosophie, in Anlehnung an Lipps, W. D o h m in seinem Buche 'Die künstlerische Darstellung als Problem der Ästhetik' (1907). T h . A. M e y e r hat in seinem 'Stilgesetz der Poesie' (1901) die Fähigkeit der Sprache, bildmäßige innere Anschauungen zu wecken, geprüft und. festgestellt, daß der ästhetische Genuß bei den Werken der Dichtkunst auf ein unmittelbares gefühlsmäßiges Erleben zurückzuführen sei. Die Psychologie des Aufnehmenden, des ästhetischen Genusses, bildet den Ausgangspunkt der literarästhetischen Studien J. V o l k e l t s . Dagegen handelt es sich bei Untersuchungen wie die von O. F i s c h e r über Kleists Mimik oder von K . G r o o s und seiner Schule über die sinnlichen Qualitäten in den Werken der Dichter nicht nur um die dichterische Wirkung auf den Leser, sondern auch um die psychische Organisation des Dichters. Y) K u n s t t e c h n i s c h e B e t r a c h t u n g empfing die Anregung aus dem Kreise der theoretisierenden Plastiker. A. H i l d e b r a n d unterschied in dem Kunstwerk die Wirkungsform und die Daseinsform. Den Gegenstand dieser Betrachtungsart bildet der künstlerische Gegenstand, d. h. der individuelle Zusammenhang wirkungsfähiger Faktoren, dank welchen bei entsprechender Apperzeption der ästhetische Gegenstand entsteht. G. F r e y t a g s 'Technik des Dramas' (1863) bildet den ersten Versuch, den Aufbau einer Kunstgattung

auf induktivem Wege zu ergründen. Doch ging die Forschung, vom richtigen Instinkt geleitet, mehr dahin, die Technik einzelner Dichter und Gruppen zu analysieren, was insbesondere dem Roman zugute kam. Voran schritt R. R i e m a n n mit 'Goethes Romantechnik' (1902). W . D i b e l i u s stellte die 'Englische Romankunst' (*I922) dar, K ä t e F r i e d e m a n n erörterte 'Die Rolle des Erzählers in der Epik'. Auf ganz andere Probleme wies B. S e u f f e r t die Forschung hin in seinen minutiösen Studien über dichterische-Komposition (GRM. Iu. III), in denen er in die feinsten Geäder der Werke eingedrungen ist. Vertieft wurden diese Forschungen nach der Seite der inneren Form hin dank den Anregungen der Kunstwissenschaft. A. R i e h l hat bereits den Versuch gemacht, A. Hildebrands Gesichtspunkte auf die Dichtung anzuwenden (Vjsch. f. wiss. Phil. X X I 22). C. S t e i n w e g unternahm es, die Dramen Corneilles, Racines und Goethes ital. Seelendramen aus der klassischen Baukunst in ihrem symmetrischen Aufbau zu erklären. 0. W a l z e l , der zunächst mehr im Sinne seines Lehrers R. Heinzel die Formen des Tragischen, die Kunstform der Novelle, die sog. objektive Erzählungskunst beschrieben hat, knüpfte dann an die Kategorien Wölfflins an und suchte diese Betrachtungsart literarischer Werke theoretisch zu begründen ('Die künstlerische Form des Kunstwerks' 1916, 'Die wechselseitige Erhellung der Künste* 1917). Die Komposition von Shakespeares Dramen faßte er als atektonisch im Sinne Wölfflins auf. Das Prinzip der wechselseitigen Erhellung der Künste, das Walzel seinem theoretischen Hauptwerk 'Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters' (1925) zugrunde gelegt hat, stieß sowohl bei Kunsthistorikern als auch bei Literarhistorikern auf Widerspruch, wenn man auch den heuristischen Wert dieses Prinzips bei der Analyse des Einzelwerkes nicht leugnen kann, besonders da, wo es sich um technische Probleme höherer Art, „höhere Mathematik der Gestalt" (mit Walzel zu reden) handelt. (K. S o m m e r Über Gruppierung der Gestalien im Drama Zs. f. Ästh. X V I I I , der übrigens an den Heinzelschüler R. M. Werner anknüpft.) Solche technische Probleme sind auch auf immanentem Wege, d. h. unabhängig von

LITERATURWISSENSCHAFT kunstgeschichtlichen Kategorien treffend gelöst worden, etwa von B a u m g a r t e n (C. F. Meyer), A. v. G r o l m a n n (Hölderlin), O. S c h i s s e l v o n F l a s c h e n b u r g (Das Liebeslied, PBB. X X X V I ) , M. S o m m e r f e l d (Hebbel). Auch die von Scherer angebahnte Betrachtung des Aufbaus von Gedichtsammlungen und lyrischen Zyklen (W. B r e c h t über C. F. Meyer) gehört in dieses Gebiet. C. Die historische Einstellung. „Historisch ist, was wirksam ist oder gewesen ist" (E. M e y e r Zur Theorie und Methodik d. Geschichte 1902, 3öff.). Diese Wirkung kann man innerhalb der betreffenden Sphäre verfolgen und beurteilen, oder aber auch außerhalb dieser Sphäre den Standpunkt bei der Betrachtung einnehmen, was gewisse kulturpolitische Momente mit einschließt. 5. D i e p e r s o n a l i s t i s c h e B e t r a c h t u n g s a r t . Den Ausdruck „Personalismus" verwendet D. Fr. Strauß (Kl. Sehr. 1862, 185) für die Auffassung, welche dem Individuum, der großen Persönlichkeit die Hauptbedeutung in dem historischen Prozeß zumißt. a) D e r h i s t o r i s c h e R e a l i s m u s taucht mehrmals in der Literaturforschung auf, so bei den Historikern der Aufklärung, welche das Individuum für Träger der historischen Bewegung halten, dann aber als Reaktion gegen die kollektivistische Betrachtung verschiedenster Observanz (Brüder Grimm, Hegel und seine Schule, Wundt, Lamprecht). Die Vertreter dieser Anschauung (A. W. Schlegel voran) halten die literarische Persönlichkeit für den Hauptträger der literargeschichtlichen Bewegung. Diese Auffassung teilen die Vertreter der philologischen Richtung, auch der klassischen wie Wilamowitz (Sappho u. Simonides 1913, Aber auch bei den Vertretern der geistesgeschichtlichen Richtung findet diese Auffassung Anhänger, da sie das Individuum als den Kreuzungspunkt verschiedener Ideen betrachten. Klar und scharf ist diese Meinung von R. H a y m in der Einleitung zu seiner 'Romantischen Schule' ausgesprochen worden. Die Grundjorm der literargeschichtlichen Darstellung bildet für diese Richtung die Biographie,

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welche Dilthey als die am meisten philosophische Form der Geschichte bezeichnet hat. b) D i e a x i o l o g i s c h e B e t r a c h t u n g prüft die literarische Persönlichkeit nicht nach ihrer Rolle in der literarischen Bewegung, sondern beurteilt ihreWirkung nach heteronomischen Kriterien: ästhetischen, ethischen, religiösen und politischen. Die Betrachtung der Literatur nach außerliterarischen Werten charakterisiert die literargeschichtlichen Werke der Spätromantik (Fr. S c h l e g e l , E i c h e n d o r f f ) , des Jungen Deutschland und seiner Gegner (Menzel), sie prägt ihren Stempel den Literaturgeschichten von G e r v i n u s , J. S c h m i d t , besonders V i 1 m a r auf. Sie machte sich besonders geltend in der antiromantischen Hetze in Frankreich. c) D i e m y t h i s i e r e n d e A u f f a s s u n g . Eichendorff meinte (Der dt. Roman 1866*, 188) Goethe sei schon bei seinen Lebzeiten eine mythische Person, und H. G r i m m glaubte, daß Goethe dereinst späteren Geschlechtern zur Mythe werden müsse. Seine eigene Auffassung Goethes war my thisierend. C a r 1 y 1 e s 'Heroworship' und E m e r s o n s 'Representative men' förderten diese Auffassung. S i m m e 1 s Anschauung, daß die Geschichte keine Wiedergabe der Wirklichkeit, nur eine Schöpfung des ordnenden und wertenden Geistes sei, bot eine Art philosophischer Grundlage, der Expressionismus weckte den Trieb zum Monumentalen und die Vorliebe für das Gigantische, verlangte Wegwerfung psychologischer Tüfteleien und das Betonen des ewig Geistigen. Ein Symptom dieser Richtung sind G u n d o l f s Bücher über George, Goethe und Kleist; E. B e r t r a m s 'Nietzsche, eine Legende' (1918) darf als besonders charakteristisches Beispiel dieser Tendenz bezeichnet werden. 6. D i e e n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t l i c h e B e t r a c h t u n g s a r t hält für den literarhistorischen Gegenstand nicht die Persönlichkeit, sondern die Idee: Kunstgattung, Stilrichtung, Geistesströmung. a) D i e k u n s t g e s c h i c h t l i c h e A u f f a s s u n g haftet entweder an der Gattung oder am Stil. Im ersten Falle faßt sie die Dichtung als einen Organismus auf, der lebt und sich entwickelt. Das war der Stand-

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punkt der Brüder G r i m m gegenüber der Volksdichtung, den A. W . S c h l e g e l bekämpft hat. Auf die Kunstdichtung wandte diese Betrachtungsart F. B r u n e t i è r e an, der die „évolution des genres dans l'histoire de littérature" unter Anlehnung an Darwin verfolgte, während die Amerikaner M a n l y (Modern Phil. 1907) und H o p s k i n s (Modern Phil. 1909) sich an de Vries hielten. Ohne sich von solchen naturwissenschaftlichen Theorien leiten bzw. irreleiten zu lassen, verfaßte W. Creiz e n a c h seine gründliche 'Geschichte des neueren Dramas', unternahm K . V i ë t o r eine 'Geschichte der dt. Literatur nach Gattungen* und eröffnete sie mit einer'Geschichte der dt. Ode' (1923). Er gibt zu, daß die Gattungen der Dichtkunst unter Gesetzen stehen, die a priori in ihrem Wesen liegen, denen sich aber der spontane Schöpferwille des Künstlers verbindet. Nach kunstgeschichtlichen Gesichtspunkten unternahm es schon der junge Fr. S c h l e g e l , Literaturgeschichte zu betreiben, als er Winckelmanns Stilkategorien auf die Geschichte der griech. Poesie anzuwenden versucht hat. H. G r i m m und H. H e t t ner, die auch Kunsthistoriker waren, näherten sich dieser Betrachtungsart, der Wölfflins 'Kunstgeschichtliche Grundbegriffe' (1915) zum Siege verhalfen, ohne die Erscheinungen nach Individuen zu differenzieren und von der einheitlichen Auffassung des Barocks als Stilphänomens ausgehend. Einen großzügigen Versuch, Wölfflins Kategorien auf die L. anzuwenden, hat S t r i c h in seinem Buch 'Deutsche Klassik und Romantik* (1922) gemacht. W a l z e l erwog theoretisch den allerdings sehr gefährlichen Gedanken einer Literaturgeschichte ohne Namen und suchte ihn praktisch in seiner 'Deutschen Dichtung seit Goethes Tod' (1919) durchzuführen, wobei er eingestandenermaßen (AfdA. X L I I I [1924] S. 137) Nachdruck auf die künstlerische Gestalt der Dichtungen gelegt hat, ohne daß die Persönlichkeiten dabei die Führung hätten. Sowohl diese Entpersönlichung als auch die Anwendung kunstgeschichtlicher Kategorien stieß auf Widerstand besonders vonseiten der Philologen. Stilgeschichtliche Betrachtung war ja den Philologen von Haus aus nicht fremd, hat doch R. H e i n -

z e l über den Stil der germanischen Poesie gehandelt und sein Schüler C. v. K r a u s die Literaturgeschichte kurzum als Stilgeschichte bezeichnet (Mhd. Leseb. Einl.). Doch machte sich im Lager der Philologen die Meinung kund, der J. P e t e r s e n in seiner 'Wesensbestimmung der dt. Romantik' (1926) klar und deutlich Ausdruck verlieh, daß, um Stilgeschichte der Literatur zu treiben, man sich nicht von fremden Gebieten Kategorien zu erborgen habe, sondern daß es gelte, sich ebenso klare Kategorien der literarischen Formentwicklung zu gewinnen, wobei die Einsicht unausbleiblich ist, daß literarische Stilforschung nichts anderes als Sprachforschung sei. Auf diese Bahnen wies die literarische Stilforschung bereits N. v. H e l l i n g r a t h unter Anknüpfung an die Kategorien der antiken Rhetorik, indem er in seiner stilistischen Analyse von Hölderlins Pindarübersetzungen verschiedene Arten der Fügung sprachlicher Elemente unterschieden hat. W a l z e l hat diese Einsichten in seinem Werk über 'Gehalt und Gestalt' berücksichtigt und in seinem 'Wortkunstwerk: Mittel seiner Erforschung' (1926) nach dieser Richtung hin die Grundlagen der stilgeschichtlichen Betrachtung der Dichtwerke ausgebaut. b) D i e g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e A u f f a s s u n g ist herausgewachsen aus der Hegeischen Lehre von der spontanen Entwicklung der Idee im Reiche des Geistes, welche eine innere Notwendigkeit aufweist. Unter diesem Gesichtspunkte betrachtete K a r l R o s e n k r a n z die dt. Literatur des MA. Nachdem durch W. D i l t h e y , insbesondere durch seine Lehre von der psychischen Struktur, die man doch auch auf ganze Generationen anzuwenden lernen sollte, sowie durch aktivistische Seelentheorie die Grundlagen einer mehr empirischen Betrachtung der Ideenentwicklung geschaffen worden waren, brach sich eine Auffassung Bahn, welche Ideen und Ideenkomplexe als Kräfte betrachtet, die sich auswirken, bekämpfen und ineinandergreifen. Mit vollem Bewußtsein wollte F. G u n d o l f in seinem Buche 'Shakespeare und der deutsche Geist' (1911) eine „Kräftegeschichte des Geistes" schreiben. Das ist eine G e i s t e s g e s c h i c h t e , eine Dar-

LITERATURWISSENSCHAFT Stellung der schöpferischen Entwicklung im Sinne Bergsons. Mit dieser Darstellung kann sich nur H. A . K o r f f s Darstellung des 'Geist der Goethezeit' (1923) messen, welche auf der Polarität zwischen Rationalismus und Irrationalismus neu aufgebaut ist und auch mit der Methode der Kräftegeschichte des Geistes arbeitet. Dynamisch in der Anlage, aber nicht so dramatisch in der Darstellung sind Arbeiten von E. C a s s i r e r 'Freiheit und Form* (1916), 'Idee und Gestalt* (1921), C. J a n e n t z k y 'Mystik und Rationalismus' (1922), H. C y s a r z 'Erfahrung und Idee' (1921). Von dieser Betrachtungsart ist zu unterscheiden eine andere, welche nicht das Spiel der geistigen Kräfte im Bereich der Literatur zur Darstellung bringt, sondern die Entwicklung gewisser Ideen und Probleme im Spiegel der Dichtung aufzeigt. R . U n g e r hat in seiner Schrift 'Literaturgeschichte als Problemgeschichte' (1924) der modernen L. in dieser Richtung Wege gewiesen und in seinem Buch 'Herder, Novalis und Kleist, Studien über die Entwicklung des Todesproblems im Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur Romantik* (1922) — der Titel ist beinahe Programm — gezeigt, wie solche Aufgaben zu lösen sind. Zu dieser Richtung gehören Arbeiten wie F r . S t r i c h 'Die Mythologie in der dt. Literatur' (1910). Soll Stoffgeschichte mehr sein als ein Inventarisieren von Motiven, wie in J. W i e g a n d s 'Geschichte der dt. Dichtung' (1922), so kann sie nur unter ideengeschichtlichem Standpunkt betrieben werden. Hierher gehören ferner Arbeiten wie W. L i e p e s 'Religionsproblem im neueren Drama' (1914), P- K l u c k h o h n s 'Die Auffassung der Liebe in der Literatur des l8.Jhs. und in der Romantik' (1922) sowie 'Persönlichkeit und Gemeinschaft', Arbeiten, die allerdings schon an die Kulturgeschichte streifen. Von kulturgeschichtlicher Seite her kam zu dieser Betrachtungsart eine Anregung von F. B r ü g g e m a n n , der an K . Lamprecht anknüpfend seine 'Psychogenetische Literaturwissenschaft' (Zs. f. Dtkde. 1925) ausgebaut hat. Diese Methode, deren Beispiele Brüggemann in seinen Arbeiten über 'Ironie als entwicklungsgeschichtliches Moment' (1909) sowie über 'Utopie u. M e r k c r - S t a m m l c r , Reallexikon II.

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Robinsonade' gegeben hat, stellt sich zur Aufgabe, den seelischen Typus Mensch aus den Dichtungen der fortschreitenden Zeit von Generation zu Generation, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt herauszulesen und die einzelnen Dichtungen als Symptome sozialpsychischer Entwicklung zu erfassen. Es handelt sich also dabei vorwiegend um ein soziologisches Problem. c) D i e s o z i a l l i t e r a r i s c h e A u f f a s s u n g rechnet bei der Betrachtung der literarhistorischen Entwicklung mit der sozialen Gruppe. Die Anschauung, welche dank den epochemachenden Arbeiten von E. T r o e l t s c h und M a x W e b e r feste Wurzel gewonnen hat, daß Kulturentwicklung Funktion der sozialen Umschichtung ist und mit ihr zusammenhängt, ist an sich nicht neu, hat doch schon A . W . S c h l e g e l in seinen 'Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst' die dt. Dichtung in mönchische, ritterliche, bürgerliche und gelehrte eingeteilt, und diese Einteilung hat sich eingebürgert. Der engl. Literarhistoriker W . J. C o u r t h o p e hat in seinem ,Lije in poelry' die Wandlungen der engl. Literatur aus soziologischen Gründen erklärt. Das eigentliche Problem einer soziologischen Betrachtung der Literatur ist das Verhältnis zwischen dem Abnehmer (dem Publikum) und dem Produzierenden. Dieses Verhältnis, bei dem der Kritiker die Rolle des Vermittlers spielt, macht das literarische Leben aus. Es genügt nicht, die Geschichte der Aufnahme eines Werkes oder die Schicksale eines Autors bei den Kritikern darzustellen, wi das V . H e h n für Goethe in seinen 'Gedanken über Goethe' und A . L u d w i g für Schiller getan hat, sondern man muß damit rechnen, daß das literarische Werk doch auch Ware ist, worauf W . S c h e r e r in seiner 'Poetik' hinwies, was G . R o e t h e i n seiner akademischen Rede 'Vom literarischen Publikum in Deutschland' berührte und was F. B a l d e n s p e r g e r in seinem Buch 'La littérature' gründlich erörtert hat. N. E i n s t e i n ging in seinem Buche 'Der Erfolg' auch auf die künstlerischen Erfolge ein. Die Stellung des literarischen Publikums zu den Werken der Literatur äußert sich als Wandlung des Geschmacks, und so hat denn L . S c h ü c k i n g eine 'Literaturgeschichte als Ge19

LITURGIE

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schmacksgeschichte' ( G R M . V.) postuliert und eine 'Soziologie der literarischen Geschmacksbildung' (1923) verfaßt. Tiefer drang in diese Probleme P . M e r k e r und entwarf (in seinen 'Neuen A u f g a b e n der dt. Literaturgeschichte' 1920) in scharfen Umrissen die leitenden Gesichtspunkte der sozialliterarischen Methode. V g l . die A r t . Literarhistoriker, Literaturgeschichtschreibung. R. M. M e y e r Über das Verständnis von Kunstwerken, N J b b . V I I . P. M e r k e r Neue Aufgaben der deutschen Literaturgeschichte 1920. S. v. Lempicki.

Liturgie. § 1. Unter L . im weitesten Sinne versteht man jeden von einem verordneten Diener einer Religionsgemeinschaft in amtlicher Eigenschaft nach Vorschrift und Brauch verrichteten Gottesdienst. Im gewöhnlichen Gebrauch aber wird der Bedeutungsinhalt des Wortes beschränkt auf die christlichen Kirchen; in diesem engeren Sinne ist L . die von den verordneten Amtspersonen der christlichen Kirchen nach den vorgeschriebenen Anordnungen und Formularien ausgeübte Gottesdienst- und Gebetstätigkeit. Zur L . gehört also der gesamte Gottesdienst, im besonderen die Spendung der Sakramente und in der katholischen Kirche die Weihen und Segnungen, Prozessionen, Exorzismen, das kirchliche Stundengebet ( O f f i c i u m ) und v o r allem die Messe, die im engsten und besonderen Sinne als L . bezeichnet wird. § 2. Niedergelegt ist die L . in den durch die kirchlichen Behörden veröffentlichten und zum amtlichen Gebrauch vorgeschriebenen l i t u r g i s c h e n B ü c h e r n , in denen die bei den liturgischen Amtshandlungen zu beobachtenden Riten und die dabei zu verrichtenden Gebete und Gesänge angegeben und über Ort und Zeit, K l e i d u n g und Gerätschaften Bestimmungen getroffen sind. In der katholischen Kirche sind es hauptsächlich das Missale, das Brevier, das Caeremoniale episcoporum und das Rituale; dazu treten noch Antiphonarium, Graduale und K y r i a l e und einige andere. In den evangelischen Kirchen ist die L . geregelt durch die Kirchenordnungen oder Agenden. § 3. Mit der wissenschaftlichen stellung der L., der Feststellung

Darihrer

Normen und Regeln, ihrer geschichtlichen E n t w i c k l u n g und der Einführung in ihren Geist und ihre Bedeutung beschäftigt sich die L i t u r g i k . Die sog. R u b r i z i s t i k vermittelt dagegen nur die Kenntnis der Vorschriften und Anweisungen, wie sie für eine ordnungsgemäße und würdige Ausführung der liturgischen Handlungen in den Rubriken der liturgischen Bücher festgelegt sind; sie verfolgt also lediglich praktische Zwecke. § 4. Das W o r t L., v o m griech. XeiTOuptfa, das eigentlich Volksdienst, d. h. jeden für das V o l k oder den S t a a t geleisteten Dienst, dann das öffentliche A m t bezeichnet, wurde in die griech. Bibelübersetzung übernommen zur Bezeichnung des heiligen Dienstes und in den griech. Kirchen zunächst für den eucharistischen Opferdienst, dann aber auch für den gesamten heiligen Dienst der Priester und Diakonen gebraucht. In der abendländischen K i r c h e wurde es erst seit dem 16. Jh. an Stelle des früheren officium oder ministerium divinum oder ecclesiästicum üblich. § 5. Die L . der christlichen Kirchen teilen sich in zwei große Gruppen: die morgenländischen und die a b e n d l ä n d i s c h e n L . Die morgenländischen L. bedienen sich vorwiegend der griechischen (altgriechischen) Sprache, wie die L . des heiligen Jakobus (L. der Kirche v o n Jerusalem), die v o n Antiochien (wo auch eine syrische in Gebrauch war), die von Alexandrien, die byzantinische (sie wurde von den Heiligen Cyrillus und Methodius ins Slavische übersetzt, in Pannonien und Mähren eingeführt und v o n dort auch in Rußland übernommen); andere morgenländische L . gebrauchen die Landessprache, allerdings in der alten, dem V o l k e heute kaum noch verständlichen F o r m der Abfassungszeit, wie die armen., die kopt., die äthiop. (alle drei aus der b y z a n t . L. hervorgegangen), die nestorian. (das Syrische). Dagegen ist die Sprache der abendländischen L., soweit es sich um die katholische Kirche handelt, das Latein; für die evangel. K i r chen gelten allg. die Landessprachen. § 6. Unter den abendländischen L. nimmt die r ö m i s c h e L . den ersten R a n g ein; neben ihr besteht heute nur noch für die Kirche von Mailand d i e m a i l ä n d i s c h e

LITURGIE oder a m b r o s i a n i s c h e L., die sich durch das Ansehen ihres Begründers oder vielleicht nur endgültigen Gestalters, des heiligen Ambrosius, behauptet hat, während die m o z a r a b i s c h e oder g o t i s c h e und die g a l l i k a n i s c h e L. nur noch geschichtliche Bedeutung haben. Aus der röm. L. sind auch die L i t u r g i e n d e r R e f o r m a t i o n s k i r c h e n hervorgegangen, anfangs unter mehr oder weniger starker Anlehnung, später aber sich selbständiger entwickelnd; durch die Beschränkung auf das Wort, neben dem nur noch bei der Taufe und dem Abendmahl die Handlung wesentliche Bedeutung hat, ist die grundsätzliche Einstellung eine andere geworden als in der röm. L. und auch in denen der morgenländischen Kirchen, wo die Handlung als das Wesentliche im Mittelpunkt steht und das Wort sie nur begleitet und umrahmt. § 7- Die L. als die Summe aller äußeren Formen, in denen der christliche Gottesdienst sinnfällig in Erscheinung tritt, strebte naturgemäß von Anfang an zu künstlerischer Gestaltung, und indem sie sich für ihre Zwecke die gesamte Kunst dienstbar machte, wuchs sie sich selbst zu einem Kunstwerk von eigenem Gehalt und Charakter aus, dessen Endziel einzig die Gottesverehrung ist. Die Rückwirkung auf die verschiedenen Zweige der Kunst, deren Dienste die L. in Anspruch nahm, ist sehr bedeutend gewesen; Baukunst, Skulptur, Malerei, Kunstgewerbe, Dichtkunst und Musik haben ganz besonders im MA. sehr stark unter dem Einfluß der L. gestanden und nicht zuletzt auch das gesamte Volksleben. Besonders eng ist das Verhältnis von Dichtkunst und Musik zur L. gewesen, da Wort und Ton unausgesetzt die liturgische Handlung begleiten und in den evangelischen Kirchen, wie schon bemerkt wurde, sogar die Hauptträger der L. geworden sind. Soweit die Worte der L. aus der Heiligen Schrift, sei es des A.T. oder N.T., entnommen waren — und das war ein bedeutender Teil, man denke nur an die Psalmen, die Evangelien und Episteln — , war ihre künstlerische Fassung bereits gegeben, ebenso bei den Lesungen aus den Schriften der Väter. Aber in den zahlreichen, neu hinzutretenden Gebeten, Seg-

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nungen, Weiheformeln und anderen Prosabestandteilen der L. konnte sich die dichterische Gestaltungskraft im Dienste der Gottesverehrung betätigen und bewähren und hat dabei Unübertreffliches erreicht. Weit mehr noch gilt dies von den Bestandteilen der L., die in gebundener (metrischer oder rhythmischer) Form gehalten sind, den Hymnen, Sequenzen und Tropen, von denen das MA. eine fast unübersehbare Fülle hervorgebracht hat; von den Hymnen sind heute noch rund 200 in liturgischem Gebrauch, von den Sequenzen noch fünf, die Tropen sind bereits seit dem 16. Jh. aus der L. verschwunden. Die lat. Dichtung des MA. ist zu einem großen und gewichtigen Teile liturgische Dichtung gewesen; mit dem 15. Jh. ist die Entwicklung der lat. liturgischen Dichtung abgeschlossen. § 8. Bei der Bekehrung der Deutschen zum Christentum wurde für den Gottesdienst die röm. L. übernommen. Die schwere Aufgabe, die Deutschen für das Christentum zu gewinnen, ist gewiß dadurch nicht leichter geworden, daß sich das Volk an den Gottesdienst in einer fremden, ihm unverständlichen Sprache gewöhnen mußte. Wir wissen aus den Kapitularien Karls des Großen und seiner Nachfolger, aus den Bestimmungen der Synoden und anderen Quellen, daß es selbst dem niederen Klerus an Kenntnis und Verständnis fehlte, geschweige denn erst dem Volke. Immerhin verdanken wir diesen Tatsachen einen Teil unserer ältesten ahd. Sprachdenkmäler, die dt. Beichten, die dt. Glaubensbekenntnisse und Abschwörungsformeln bei der Taufe, weil bei der Spendung dieser Sakramente ohne die dt. Sprache nicht auszukommen war. Auch die Interlinearversionen von Psalmen und Hymnen und die Psalmenübersetzungen, wie sie z. B. Notker III. Labeo für den ganzen Psalter anfertigte und mit Kommentar begleitete, stehen in engster Beziehung zur L., bei der Psalmen und Hymnen einen wesentlichen Bestandteil ausmachen. Gereimte Übersetzungen einzelner Psalmen begegnen schon im 10. Jh., während vollständige Umdichtungen des Psalters in Strophenform zum Gebrauch für den kirchlichen Volksgesang erst dem 16. Jh. angehören (vgl. den Art. Psalterium).

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LOKALSTÜCK

§ 9. Umgestaltend wurde die Einwirkung der lat. liturgischen Poesie auf die dt. Dichtung in formaler Hinsicht; es dürfte heute wohl kaum mehr ernstlich bestritten werden, daß die akzentuierende vierzeilige lat. Hymnenstrophe das Vorbild gewesen ist für Otfrieds vierhebigen Reimvers, der von da an die dt. Dichtung beherrscht (vgl. W. M e y e r in den GGN. 1913 S. i67ff.). Ein vollendetes Gegenstück zur lat. Hymnenstrophe ist das dt. Petruslied, das bekanntlich zwei Verse mit Otfried gemeinsam hat. Zum zweitenmal begegnet uns eine ähnliche Einwirkung im 17. Jh. bei Friedr. von Spe, der, ohne Zweifel ganz unabhängig von Opitz, durch die Hymnen des Breviers, die er als Priester der katholischen Kirche täglich betete, für seine Dichtungen auf die regelmäßige Abwechslung von betonten und unbetonten Silben geführt wurde, während Opitz auf anderem Wege zu diesem Ziel gelangt ist. § 10. Daß das dt. Kirchenlied seine Wurzeln in der L. hat, braucht hier nur erwähnt zu werden; das Nähere findet sich in dem Art. Kirchenlied. Auch das mal. Drama ist ein Sproß der L.; die Osterspiele, Passionsspiele, Weihnachts- und Dreikönigenspiele haben lange Zeit im Dienste der L. gestanden, aus deren dramatischen Keimen sie erwachsen waren, ehe sie sich zur Selbständigkeit entwickelten und der Kirche entzogen (vgl. den Art. Drama,mal.). Damit sind aber die Beziehungen der L. zur dt. Dichtung keineswegs erschöpft; auf der Hand liegen sie z. B. bei einem Gedicht wie der Heinrichslitanei (vgl. den Art. Litanei). Wie weit die Einflüsse der L. in der mal. Literatur, und zwar nicht nur der geistlichen, reichen, bedürfte noch eingehender Untersuchungen. Selbst zur Parodie hat die L. herhalten müssen; Parodien der Messe, Sauf- und Spielmessen, parodistische Umbildungen von Hymnen, Litaneien und Gebeten sind uns aus dem MA. in nicht geringer Zahl überliefert. Sie zeugen dafür, wie stark die L. mit dem Fühlen und Denken des mal. Menschen verwachsen war (vgl. P. L e h m a n n Die Parodie im MA. 1922). § 11. Durch die Reformation wurden die Einwirkungen der L. auf die dt. Literatur in mancher Hinsicht noch lebhafter und vor

allem unmittelbarer, wenigstens auf seiten der neu entstehenden Kirchen. Der Ausbau eigener L. in der Landessprache rückte die L. unmittelbar in die dt. Literatur hinein, vor allem durch das dt. Kirchenlied, das in den Reformationskirchen zu einem wichtigen Bestandteil der L. erhoben wurde, während es in der katholischen Kirche nach wie vor nur neben der L. seinen Platz hatte, wenn es auch hier nicht weniger eifrig gepflegt wurde als auf der Gegenseite. Die Angriffe der Reformatoren auf die lat. L. der röm. Kirche veranlaßten auf katholischer Seite Verdeutschungen und Erklärungen der L. zur Belehrung für die Laien. Im Zeitalter des Rationalismus haben sich solche Verdeutschungen wiederholt; man hat auch für einzelne Teile der L. neue dt. Formulare aufgestellt, in der Absicht, sie an die Stelle der lat. L. zu setzen (vgl. die Art. Gebetbuch, Gesangbuch, Brevier). § 12. Die liturgische Bewegung unserer Tage, die sich nicht nur auf die katholische Kirche beschränkt, gilt zwar in erster Linie der L., also dem Gottesdienst selbst. Aber sie wirft naturnotwendig ihre Wellen wie in die anderen, der L. dienstbaren Künste so auch in die Literatur hinein. Das Wiederaufleben der Mysterienspiele, die neuen Verdeutschungen altkirchlicher Hymnen und anderer Teile der L., die Bemühungen, durch die L. den geschwundenen Gemeinschaftsgeist wieder zu beleben, zeigen, daß die L. in unserem Geistesleben noch immer ihre Bedeutung behauptet. G. R i e t s c h e l Lehrbuch der Liturgik I—II 1898—1908. V. T h a l h o f er Handbuch der kath. Liturgik

I — I I a 1912.

Grundriß der Liturgik 1922*. Rubrizistik

R.

S t a p p er

G. K i e f f e r

oder Ritus des kath. Gottesdienstes

19236. J. B r a u n Liturgisches Handlexikon 1924'. L. E i s e n h o f e r Kath. Liturgik 1924. P . K u n i b e r t Mohlberg Ziele und Aufgaben der liturgiegeschichÜichen Forschung 1919.

J. Götzen. Lokalstück. § 1 . L. ist ein realistisches Volksstück (s. d.), das Sitten und Gebräuche einer bestimmten Stadt spiegelt. Die Gattung umfaßt drei Arten mit fließenden Grenzen: die rein komische Lokalposse (s. Posse), das moralisierende lokale Sittenstück und das soziale Volksstück (soweit es nicht Bauernkomödie ist). In der Ver«

LOKALSTÜCK mischung mit dem Zauberstück (s. d.) entsteht die lokale Zauberposse und die parodierende Lokalposse. Eine schärfere Gliederung ergibt sich nach örtlichem Gesichtspunkt: ein L. haben die Städte Wien, München, Hamburg, Nürnberg, Frankfurt a. M. (Darmstadt), Berlin und das Elsaß. §2. Das W i e n e r L o k a l s t ü c k entstand im Hanswurststreit als ein Ausgleich zwischen dem volkstümlichen Stegreifspiel (Stranitzky, Prehauser, Kurz) und dem regelmäßigen Theater, wie es Gottsched empfahl. Von der Burleske sonderte sich das lokale Sittenstück (s. d.) durch lehrhaft ernste Satire; vom bürgerlichen Drama (s. d.) übernahm es den moralischen Kontrast von Spiel und Gegenspiel. P h i l i p p H a f n e r (1735—1764) ging voran. Sein erstes Sittenstück behandelte 1763 den ehelichen Konflikt zwischen einer* Bürgerlichen Dame' und ihrem rechtlich-einfachen Gatten. Dasselbe Motiv verschmolz erst später mit dem Schema der Burleske: in diesem wichtigen Typus von L. tritt der Possenvater auf die Seite der Liebenden, die sittenlose Mutter übernimmt seine abweisende Gebärde (Emanuel Schikaneder 'Der Tiroler Wastel' 1796). Der Zeitsatire wird damit ein brauchbares Instrument geschaffen. Wirklichkeitsfreude ging mit der Satire Hand in Hand. Das L. bereicherte sich durch immer neue Typen der Stadt. Hafner belebte nicht nur in der Art Moliferes die schematischen Figuren der Burleske durch allgemeine Charakterzüge; er brachte auch niederes Wiener Volk auf die Bühne ('Der beschäftigte Hausregent' 1763) oder entwarf mit kecken Strichen ein Wiener Früchtel ('Etwas zu Lachen im Fasching' 1764). Auch Christian Gottlob Klemm und Franz Heufeld richteten ihre Stücke auf Wiener Sitten ein. Heufeld führte als erster (1767) den naiven Bauer in die verderbte städtische Gesellschaft. Ein Nachkomme ist auch in diesem Sinn 'Der Tiroler Wastel'. Wiederum erwuchs Satire aus dem Kontrast. Im Dienst der Marinellischen Schaubühne (gegr. 1781) verwienerte Ferd. Eberl das bürgerliche Rührstück der Zeit, freilich auf eine noch recht trockene Weise. Hafners Possen feierten Triumphe in der Singspielform, die ihnen Joa-

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chim Perinet lieh ('Das neue Sonntagskind' gedr. 1794). Noch aber war das L. durch die Vormacht des Zauberstücks und des dramatischen Volksmärchens beengt. Zur beherrschenden Stellung wurde es durch Emanuel Schikaneder (1751 — 1812) geführt. Sein kräftiges Lokalkolorit machte Schule: Franz Karl Gewey entwarf ein Bild der Wiener 'Modesitten' (1800), J. G. Schildbach rollte die Dienstbotenfrage auf ('Die Dienstboten in Wien* 1806) und versuchte sich im Schlüsselstück. Eine ungemein frische Begabung vom Schlage Hafners war Ferdinand Kringsteiner (gest. 1810). Das J. 1813 sah endlich auch die Verwandlung der komischen Figur zum lokalen Typus (s. d. Art. Posse § 3). Die kulturellen und sozialen Folgen der Befreiungskriege boten dem Sittenstück auch weiterhin eine Fülle von Angriffspunkten. Karl Meisl (1775—1853) focht am heftigsten gegen die Schäden der Zeit; aber er tat es nicht bloß im L. Die m y t h o l o g i s c h e K a r i k a t u r hatte sich seit Stranitzkys 'Amphitruo' (1716) auf dem Wiener Theater behauptet. Sie empfing Kraft von Blumauers epischer Travestie der 'Äneide' und erschien um die Wende des 18. Jhs. als Singspiel (K. L. Gieseke, Jos. Richter). Wirkung erzielte sie mit Vorliebe durch einen unvermittelten Wechsel von Pathos und Dialekt (Perinets 'Ariadne auf Naxos' 1803). Später verstärkte sie den Lokalton (Gewey); schließlich wurde sie durch Meisl zu einem Rahmen der Zeitsatire ('Die Entführung der Prinzessin Europa' 1816). Eine noch engere Bindung mit der Lokalposse erstrebte die l i t e r a r i s c h e P a r o d i e (Kringsteiner 'Die Braut in der Klemme' 1804). Auch sie reicht in die Anfänge des Wiener Volkstheaters zurück: 'Prinzessin Pumphia und Tartar Kulikan' von KurzBernardon, 'Evakathel und Schnudi' von Hafner hatten auf die Alexandrinertragödie gezielt. Shakespeare und Schiller, Grillparzer und Hebbel entgingen dem volkstümlichen Witz ebensowenig wie Raimund (s. d. Art. Literaiursatire und Parodie). Nach anderer Seite hin verschmolz die literarische Parodie vielfach mit dem Zauberstück. Hatte dieses inmer mehr Elemente des L. und der Parodie aufge-

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LOKALSTÜCK

sogen, so unterlag umgekehrt das Sittenstück endlich der romantischen Welle. Zur Alleinherrschaft kam der volkstümliche Realismus erst in den Tagen des Jungen Deutschlands. Er behauptete sich dann auf dem Wege von Nestroy bis Anzengruber; aber nur bei Nestroy erschien er noch in der älteren Zusammengehörigkeit mit der Parodie. Nestroy war ihr Meister ('Judith und Holofernes' 1849 die älteren Zauberparodien 'Nagerl und Handschuh' 1832, 'Robert der Teuxel' 1833 u. a.). K. v. Görner Der Hanswurst-Streit in Wien und J. v. Sonnenfels 1884. E. B a u m Einl. 2. Philipp Hainers Gesammelten Werken (Schrift, d. Lit. Vereins in Wien X I X , XXI) 1914. E. A l k e r Ph.Hafner(Theater und KulturIX) 1924. 0. R o m m e l Aus der Frühzeit des Alt-Wiener Volkstheaters (Dt.-Österr. Klass.-Bibl. Nr. 44). R. F ü r s t Raimunds Vorgänger (Schrift, d. Ges. f. Th.-Gesch. X) 1907. J. Zeidler Die Parodie auf der Wiener Volksbühne, Wiener CommunalKalender auf 1890. S. 367 ff.

§ 3. M ü n c h e n , s. d. Art. Volksstück §4. § 4 . Der Ursprung des H a m b u r g e r L o k a l s t ü c k s ist in Singspielen und Intermedien aus der Zeit der Hamburger Oper zu suchen. Das älteste vollständig nd. Zwischenspiel 'Die lustige Hochzeit' (1708), eine Nachahmung von Cunos 'Karneval in Venedig', zeichnet schlichte Bäuerlichkeit neben dem Aufwand der städtischen dienenden Klasse. Eine Reibung zweier Kulturschichten macht auch den Inhalt des 'Bookesbeutel' (1741) Hinrich von Borkensteins (1705—1777) aus. Leipziger Lebensart nach frz. Vorbild mischt sich mit heimischer Urwüchsigkeit. A n Philipp Hafner erinnert es, wie sich Borkenstein mit den Regeln Gottscheds auseinandersetzt. Aber anders als der Wiener stellt sich der Hamburger auf die Seite der fremden überlegenen Kultur. Vorsichtiger übernahm man fremdes literarisches Gut. Wohl erinnert 'Der Hamburger Jahr-Markt' (1725) von Joh. Phil. Praetorius durch ein Vorspiel, das theatralische Fragen erörtert, an die komische Bühne der Franzosen. Aber niemals bewährte sich Hamburg als fruchtbarer Boden für das Zauberstück. Dagegen blühte im 19. Jh. die Parodie — wohl nach dem Beispiel Wiens. Die neuere Geschichte des Hamburger L. beginnt mit der Gründung des Steinstraßentheaters (1818).

G e o r g N i k . B ä r m a n n (1785—1850) ging voran. Er begnügte sich nicht — wie die vormärzlichen Wiener — mit einer einzigen bäurischen Figur: das 'Burenspill' durchzieht vielmehr im ganzen ein ländlicher T o n ('Kwatern', 'Windmööl un W a t e r m ö ö r 1823). Wohl aber zeigt sich auch Bärmann von der Manier des bürgerlichen Schauspiels beeinflußt. Wesentlich früher hatte Wien sich diese Technik zu eigen gemacht; das Hamburger Lokaltheater holte den Süden ein, indem es die romantische Epoche Raimunds übersprang. Bärmann wurde nach 1835 durch J a k o b H e i n r . D a v i d , den Parodisten und Zeitgenossen Nestroys, abgelöst ('Gustav oder der Maskenball'). Die bäurisch-realistische Linie Bärmanns wurde — seit 1865 an K a r l Schultzes Theater — durch Heinrich Volgemann (1815—1899) und Arnold Mansfeldt (1839 bis 1897) fortgeführt; nun strebte das Hamburger Lokaltheater auch nach Erfassung der städtischen Typen (Mannsfeld 'Der letzte Bürgergardist' 1868). Dieselbe Aufgabe stellte sich gelegentlich die Parodie (Louis Schöbel 'Faust und Margarethe' 1862). Bekannter noch wurde J. P.Th. Lysers 'Linorah' (1860). Mit Julius Stinde (1841 — 1905) und Ludolf Waldmann hob sich schließlich das Hamburger L. gleichlaufend mit der Entwicklung in Wien und Berlin zum sozialen Volksstück. Wie anderwärts behandelte es kulturelle Fragen und bevorzugte das bäurische Milieu (Waldmann 'Soldatenliese' 1872) oder suchte die Frau als Gertrefigur zu erfassen (Stinde 'Die Nachtigall aus dem Bäckergang' 1871). Ernster noch als die genannten meinte es Johann Meyer mit der volkstümlichen Bühne ('En lütt Waisenkind' 1886). Die plattdeutschen Dramatiker C. Beyer, F. Rassow und R . Kruse fanden endlich den Anschluß an die Literatur im strengern Sinn. Ein künstlerisches Volksschauspiel bereitete sich vor, das in Fritz Stavenhagen seine Erfüllung fand. Auch der W e g vom Volksstück zur Heimatkunst findet seine Entsprechung im Süden. K. Th. G a e d e r t z Das nd. Schauspiel 1884. F. H e i t m ü l l e r Hamburgische Dramatiker zur Zeit Gottscheds und ihre Beziehungen zu ihm 1891. Ders. Ein/, zu Borkensteins'Bookesbeutel' (DLD.

56/7).

LOKALSTÜCK § 5. Die N ü r n b e r g e r Lokalposse wird durch Joh. Wolfg. Weikert (1778—1856) vertreten. Vorbild als Dialektdichter ist Konrad Grübel. W e i k e r t ADB. X L I 485.

§6. Dem Lokaltheater in F r a n k f u r t a. M. läuft ein gelehrter Versuch voran: das Schulgespräch 'Der Prorector' (1794) von F. K . L. Textor, einem Vetter Goethes. 1820 eröffnete 'Die Entführung oder der alte Bürgercapitain' von Carl Malß einen Reigen von L., zu deren Mittelpunkt bald die komische Figur des Herrn Hampelmann wurde ('Die Landpartie nach Königstein' 1833). Der Darmstädter Ernst El. Niebergall schuldete dem Frankfurter L. die Anregung zu seinen Komödien 'Des Burschen Heimkehr oder der tolle Hund' (1837) und 'Datterich' (1841). Das letztere Stück, eine bedeutsame Charakterstudie, wird vielfach als Vorläufer von G. Hauptmanns 'Kollege Crampton' genannt. F. H a s s e l Die Frankfurter Lokalstücke 1867. A. A s k e n a s y Die Frankfurier Mundart und ihre Literatur 1904. Malß und Niebergall: M a x Z o b e l v. Z a b e l t i t z LE. X V I I I (1915/16) Sp. 1158 u. X I X (1916/17) Sp. 711. G, F u c h s Ein f. eit Niebergalls dramat. Werken 1894. K . E s s e l b o r n E. E. Niebergall (5. Jahresgabe d. Ges. Hess. Bücherfreunde) 1923. Vgl. auch d. Art. Hessische Mundartendichlung § 4.

§ 7. In die Heimat Gerhart Hauptmanns selbst führen die lebenskräftigen Wurzeln des B e r l i n e r L o k a l s t ü c k s . A . V . A r n i m und H. v . Kleist riefen zur Pflege des Brandenburgischen Provinzialismus auf. Erfolglos mühte sich noch Julius von Voß (1768—1832), ein ernstes Volksstück ins Leben zu rufen. Sein 'Stralower Fischzug' (1821) blieb vereinzelt. Ein richtiges Gefühl wies ihn zur Bearbeitung Wiener Volksstücke von Hensler, Bäuerle und Meisl. Ein volkstümliches Berliner L. erwuchs aus dem Liederspiel. Die Hausdichter des Königstädter Theaters, Karl L. Blum (1786 bis 1844) und Louis Angely (1787—1835), bürgerten das frz. Vaudeville ein. Aber erst in der Figur des Eckensteher Nante verkörperte sich das Berliner Volkstum. Friedr. Beckmann dankte die erfolgreiche Schöpfung einer Anregung seines schlesischen Landsmanns Karl von Holtei (1798 bis 1880; 'Ein Trauerspiel in Berlin' 1832). Origineller als seine Mitstrebenden, war

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auch Holtei ein gewandter Vermittler zwischen den Bühnen von Paris, Berlin und Wien. Er brachte — ein Wegbereiter Hauptmanns — den schlesischen Dialekt auf das moderne Theater und fühlte sich zum Zauberstück hingezogen. Aber ein Versuch, Raimund nach Berlin zu verpflanzen, schlug fehl. Auch sonst kam es hier zu keiner volkstümlichen Romantik, obgleich man schon 1774 Ph. Hafners 'Megära' stürmisch bejubelt hatte. Erst der Geist des Jungen Deutschlands führte das Berliner L. auf seine Höhe. Auch David Kaiisch (1820—1872) ist Breslauer. Seine Pariser Beziehungen zu Heine, Marx und Proudhon spiegelten sich in der liberalen Tendenz seiner Erstlingsposse '100000 Taler* (1847). Kaiisch glänzte im Couplet, das er sorgfältig feilte; stoffliche Erfindungsgabe fehlte ihm. Später arbeitete er für das Wallnertheater, oft in Gemeinschaft mit A . W. Weihrauch (gest. 1883): 'Kieselack und seine Nichte* (1860), 'Die Mottenburger' (1867). Der Unmut der Reaktionsepoche spricht aus der Aristophanischen Komödie Ad. Glaßbrenners (1810—1876) 'Kasper der Mensch' (1850). — In ihrem Niedergang zeitigt die Lokalposse in Berlin ähnliche Erscheinungen wie in Wien. Die Menge der Produktion ist kaum zu übersehen. Emil Pohl (1824—1901) steht mit O. F. Berg in einer Linie. Erfolgreich waren: Ed. Jacobson, Wilh. Mannstedt, Herrn. Salingri, Heinr. Wilken, Louis Herrmann und Leon Treptow. Dem bürgerlichen Schauspiel näherte sich Ad. L'Arronge (1838—1908) in seinen sozialen, sentimental gefärbten Volksstücken: 'Mein Leopold' (1873), 'Hasemanns Töchter' (1877). H. H e t t n e r Das moderne Drama S. 176ff. J. H a h n Julius von Voss (Palästra 94) 1910. M a x R i n g David Kaiisch 1873.

§ 8. Auch das Dialekttheater im E l s a ß ist gelehrten Ursprungs und gewinnt später volkstümlichen Boden. Hebel und Voß stehen an der Wiege des 'Pfingstmontag' (1816) von Joh. G. Daniel Arnold (1780 bis 1829). Goethe, der das volkskundliche Werk einläßlich würdigte ('Kunst und Altertum' II 2), nannte es ein „lebendiges Idiotikon". Autodidakt ist dagegen schon der Kolmarer J. Mangold (1816—1888), der

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zu den jüngeren Elsässern überleitet. Der nationale Konflikt des Grenzlandes schwingt in den Äußerungen dieser neuen Volkskunst mit, wenn sich diese auch ausdrücklich zu keiner politischen Tendenz bekannte. 1898 wurde in Straßburg unter dem Einfluß der Heimatkunst und nach dem Vorbild der Schlierseer Bauernspieler eine Dialektbühne begründet. Für diese schrieb der humoristische Gustav Stoskopf ('D'r Herr Maire') und der klassisch gebildete, ernste Julius Greber ('Lucie'); Ferd. Bastian eiferte vollends dem Stile Ibsens nach ('D'r Dorfschmidt'). Kolmar und Mülhausen folgten mit ähnlichen Gründungen. Für Kolmar wirkte G. Hanc, für Mülhausen Aug. Lustig und Alfred Weiß. René Schickeies 'Hans im Schnakenloch' (1916) lieh endlich dem nationalen Kulturgegensatz Ausdruck auf hochkünstlerischer Ebene. Die reiche Lit. verzeichnet H. S c h o e n Le théâtre Alsacien 1903. K. G r u b e r Zeitgenössische Dichtung des Elsasses 1905. G. K ö h l e r Das Elsaß und sein Theater 1907. Vgl. auch d. Art. Elsäss. Dialektdichtung § 8.

§9. Z u s a m m e n f a s s u n g . Nirgends erwuchs eine Volkskunst unmittelbar aus der literarischen Theorie. Dennoch mußten im dt. Norden gelehrte Versuche dem volkstümlichen Theater fast überall vorangehen. Es fehlte am Zusammenhang mit dem älteren Volksdrama, insbesondere mit seinen komischen Figuren. Zum Vorbild wurde das süddeutsche Volkstheater; dem am nächsten kam durch Alter und ursprüngliche Kraft das Lokaltheater in Hamburg. Ältere und jüngere Überlieferungen werden schließlich dem Naturalismus und der Heimatkunst zur Stütze. Die Literatur über L. u. Lokalpoesie verzeichnet R. M. M e y e r Grundriß zur neueren dl. Lit.-Gesck.s 1907. Nr. 240—247, 787—788. F. Trojan.

Lügendichtung s . M ü n c h h a u s e n i a d e . Lustige Person s. K o m i s c h e P e r s o n . Lustspiel. § I. Der Ursprung des L. ist vielfältig. Zunächst liegen seine Anfänge in den aus heidnischen Frühlingsfeiern sich entwickelnden Fastnachtspielen (s. d.), dann in den komischen Zwischenspielen, die in das geistliche Schauspiel des MA. eingeschoben werden, wie die Salbenkrämerszene, Grabwächterszene, Teufels-

und Sünderreigen, und die sich mit wachsender Selbständigkeit den Fastnachtspielen angleichen. Als dritter Keim mag noch das Puppenspiel (s. d.) gelten, das wie die beiden Hauptwurzeln die Fortwirkung des antiken Mimus bezeugt. Nicht das Literaturdrama — Terenz wurde in Unkenntnis seines dramatisch-theatralischen Charakters nur als Schullesebuch verwandt —, nur der Mimus bildet auf dramatischtheatralischem Gebiete die Brücke von Antike zu MA. Anderseits liegt es aber im Wesen mimischer Kunst, daß sie auch ohne Tradition jederzeit neu entstehen kann, da sie nicht der Literatur, sondern dem Theater angehört, Ausdruck volkstümlicher Spielfreude ist, die in gesteigerten Körper- und Sprachgebärden Lebensausschnitte karikierend wiedergibt. Soweit mimische Kunst ihrer Natur nach nicht allgemeinmenschlichen Charakters ist, liegen hier also verheißungsvolle Keime zu einem volkstümlichen, nationalen L. vor. Doch das mal. Fastnachtspiel kommt über die realistischeGenrebildkarikatur nicht hinaus, es bleibt dialogisierte Anekdote. Auch die Reformation, die die satirische Kraft des Fastnachtspieles in ihren Dienst stellt, Hans Sachs, Jakob Ayrer kommen im Wesentlichen von Inhalt und Form darüber nicht hinaus. § 2. Der Humanismus brachte die Wiederentdeckung der antiken Literaturkomödie: Terenz, Plautus, Aristophanes. Gerade weil diese Komödie ebenfalls eine Nährquelle im Mimischen hat, war die Verschmelzung mit dem mimisch gespeisten Fastnachtspiel nicht schwer, wodurch der anekdotische Inhalt eine Ausweitung erfuhr und in die äußere Form der Akteinteilung gekleidet wurde. Diesen Übergang von dem alten Fastnachtspiel zur modernen Komödie zeigen der 'Henno' des Humanisten Joh. R e u c h l i n und das Spiel 'Von zween Eheleuten' des Schaffhauser Malerdichters T o b i a s S t i m m e r . § 3. Die weitere Entwicklung wird gefördert durch die wandernden Komödiantentruppen des 17. Jhs., die als Engländer hochentwickelte Dramen, wenn auch verballhornt, nach Deutschland brachten, als Italiener Erzeugnisse der commedia delV arte

und

der

Pastoraldichtung,

als

LUSTSPIEL Holländer Kluchten und Rederijkerkomödien, als Franzosen Lustspiele Moliferes und seiner Zeitgenossen. Wenn die literarische Bereicherung auch nicht gering angeschlagen werden darf, so liegt die Hauptwirkung der Wandertruppen als von Theaterleuten und nicht Literaten doch auf mimischszenischem Gebiete. Insbesondere haben sie die Hanswurstfigur in ihren internationalen Typen eingedeutscht und in den Vordergrund gerückt. § 4. Die komische Figur (s. d.), der Narr, ist aber von Anfang an dem dt. Drama •nicht fremd. Der Narr der Fastnachtspiele ist der Abkömmling der Fruchtbarkeitsdämonen in den heidnischen Frühjahrsumzügen. Gemeinsam mit anderen bösen Geistern hat die Christianisierung diese zu Teufeln werden lassen, und als gegen Ende •des MA. rationalisierende Aufklärung sich verbreitet, wird die Verkörperung des Ethisch-Negativen zur Verkörperung des Intellektuell-Negativen gewandelt, der geprellte Teufelstyp wird zum Dümmlingstyp des Narren, der Höllenkerl zum Harlekin. Zugleich aber sind in diese komische Figur die vom antiken Mimus überlieferten und ihm entsprechend auch ohne Tradition neu entstandenen derbkomischen Züge eingegangen, wie etwa die Gestalt des Knechts Rubin in den komischen Zwischenspielen der geistlichen Dramen durchaus den Charakter des mimisch-realistischen Volksnarren trägt, wenn er auch von dem afrz. Robin abgeleitet werden kann. Die Zwischenstufe zwischen Teufel und Narr ist noch vorhanden in den Kindermördern des Bethlehemitischen Kindermords, wobei ihr Doppelcharakter ebensowohl literarisch fixiert ist, wenn im II. Erlauer Spiel, dem 'Ludus trium magorum', der teuflisch blutrünstige Kindermörder als mimisch gefräßiger lappa auftritt, wie in der bildenden Kunst, wenn wir wiederholt, so an der Kirche von Slawietin (Böhmen, zwischen 1365 und 75) und in der Galluskapelle von Ober-Stammheim {Schweiz, 14. Jh.), Kindermörder mit der Narrengugel abgebildet sehen. Als weitere Zwischenstufe dürfte der vice des frühengl. Dramas gelten. Erinnerung an die ursprüngliche Teufels- und Dämonennatur der komischen Figur lebt auch auf, wenn

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in Schwerttänzen die Tänzer dem in der Mitte stehenden Narren die Schwerter auf die Schulter legen zum Zeichen sakraler Hinrichtung, oder aber in der Figur des zum Tode verurteilten Tanawäschel (Keller, Fastnachtspiele Nr. 54). Es ist gewissermaßen ein Prozeß der Rückbildung, wenn in der religiös erregten Reformationszeit die teuflische Natur des Narren wieder stärker betont wird, indem in beiden Lagern Teufelsnarren als Verbildlichung der von den Angreifern bekämpften Schäden und Laster erscheinen, so in der ebenso bitteren wie witzigen Satire Thomas Murners 'Von dem großen Lutherischen Narren* 1522. Mit dem Abklingen der kirchlichreligiösen Fehden und dem Eindringen der Wandertruppen tritt naturgemäß das rein komische Element immer stärker in den Vordergrund, der Clown des engl. Dramas, ohne daß aber die sittlich-negative Seite, das Teuflische, je ganz aus der komischen Figur verschwände, wie sich etwa zeigt in dem Narren des 'Vincentius Ladislaus' des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig oder aber in den Puppenspielen und in der mit Vorliebe getragenen s c h w a r z e n Larve oft sehr bunt- oder weißgekleideter komischer Typen. § 5. Doch mit der durch den Humanismus herbeigeführten Orientierung dramatischer Produktion nach der antiken Komödie wird allmählich die komische Figur, statt isoliert in dialogisierter Anekdote zu stehen, immer mehr in verschlungenes Handlungsgewebe eingeflochten. Das zeigt sich schon bei N. F r i s c h l i n s Komödien, die moderne Lustspielgestaltung heraufführen. Auf dieser Entwicklungsbahn folgt Herzog H e i n r i c h J u l i u s v o n B r a u n s c h w e i g , der, ein Liebhaber fremdländischer Wandertruppen, mit seinem 'Vincentius Ladislaus* um den Miles-gloriosus-Typ oder um dessen damals sehr beliebte italianisierte Form des Capitano Spavento die erste dt. Charakterkomödie schreibt. Wenn auch die Zeit des Dreißigjährigen Krieges die Dichtung nicht begünstigt und hauptsächlich die veräußerlichendeTheatermache der Wandertruppen fördert, so fand dadurch doch gerade das mimische Element wieder mächtigen Antrieb, der der Entstehung realistischer Komödienkunst

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zustatten kam. Dies zeigt sich in den Werken des A n d r e a s G r y p h i u s , der aus ursprünglicher Begabung und aus auf weiten Reisen gesammelter Erfahrung neben derben Possen wie 'Herr Peter Squentz' und 'Horribilicribrifax' rasch das erste L . 'Die geliebte Dornrose' uns schenkte, das auch heute noch starke Bühnenwirkung auslöst. Hiermit ist der erste Gipfel dt. Lustspieldichtung erreicht. In der zweiten Hälfte des 17. J h s . drängt dann der frz. Einfluß stark vor, so daß vom Ende des J h s . ab das dt. L . unter dem Schatten der frz. Komödie, namentlich Molières steht. Das Ergebnis ist die sächsische Komödie, deren Begründer der Zittauer Rektor C h r i s t i a n W e i s e und das liederliche Genie des Studiosus C h r i s t i a n R e u t e r sind. Insbesondere Reuters Bürgersatiren 'L'honnête femme oder die ehrliche Frau zu Plißine' und 'Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod' sind wohlgelungene Komödien. Christian Weise hat weniger dramaturgische Konzentrationskraft; bei ihm nimmt daher die komische Figur auch noch weit selbständigere Stellung ein. Sie hat bei ihm aber doch theoretisch festgelegte dramaturgische Funktion, die etwa dem antiken Chor oder dem modernen Raisonneur entspricht, denn sie „soll das lächerliche Judicium abbilden, welches die Leute stillschweigend bei sich formieren bei ungeschickten und tadelhaften Vorgängen" und muß „gleichsam die Stelle der allg. satyrischen inclination vertreten" (Vorrede zum Zittauer Theater 1682). § 6. Wenn aber auch mit dem Ende des 16. J h s . wiederholt Versuche gemacht werden und teilweise auch gelingen, die komische Figur als Handlungsglied dramaturgisch einzubeziehen, so widerstreitet dieser Tendenz doch ständig das Bestreben der Wandertruppen, durch theatralische Wirkungen das Publikum anzulocken, und der Träger des Theaters ist der Mimus, der sich nie dichterischen Formgesetzen beugt. Der mimische H a n s w u r s t erringt die Herrschaft, seine Pritsche ist das Zepter, das die Bühne regiert. Seine Selbständigkeit und Losgelöstheit von literarischer Handlungsführung werden betont durch die Improvisation. Improvisation aber

bedeutet den unbedingten Sieg des Mimischen, des Theaters gegenüber dem Literarischen, dem Drama. Das Hanswursttheater am Ende des 17. und Anfang des 18. J h s . ist die Auflösung aller dramatischen Kunstform. Das Übergewicht des Hanswurst bei dem Wandertruppentheater bekundet sich schon darin, daß die einzelnen Truppen sich mit Vorliebe nach ihrem führenden Hanswursttyp benennen. Die Quellen dieser lustigen Figur sind vielfacher Art. Wie schon die Spiele von Hans Sachs und J a k o b Ayrer beweisen, werden mit Vorliebe die Schwanksammlungen des 16. J h s . ausgeschlachtet, insbesondere Paulis 'Schimpf und Ernst' und Kirchhoffs 'Wendunmut'. Neben schriftlicher Tradition steht aber auch mündliche Überlieferung und sicherlich auch gelegentliche Eigenbeobachtung, ohne daß diese immer voneinander zu trennen sind; das Leben kann von solcher realistischen Improvisationskomik nicht ausgeschaltet bleiben. Die Lebenswirklichkeit hat aber nicht nur auf den Inhalt des vorgetragenen Komischen eingewirkt, sondern auch auf die Existenz der komischen Figur selbst. Insbesondere konnte bei den in Tragödien neben Fürsten auftretenden Narren die zeitgenössische Sitte der Hofnarren nicht ohne Einfluß bleiben. Aber wenn auch die Hofnarren, die Pritschmeister des wirklichen Lebens, das Auftreten ihres Spiegelbildes auf der Bühne begünstigten, so zeigen uns doch schon die verschiedenen Namen der lustigen Figur, daß die internationalen Wandertruppen ihre Vorbilder aus ihrem engl., ital. und frz. Heimattheater mitbrachten. Dadurch wird aber auch trotz realistischer Improvisation die lustige Figur immer mehr typisiert. Gerade diese Typisierung aber gab ihr eine Selbständigkeit und Festigkeit, die jahrzehntelang aufs wirksamste allen dramaturgisch-gesetzmäßigen Ein- und Unterordnungstendenzen rationalistischen Kunstwillens widerstrebten. § 7 . Hier schuf G o t t s c h e d s Komödienreform Wandel. Dem Rationalisten ist die Willkür des Theaters zuwider, er beugt es unter das Gesetz eines nach frz. Vorbild streng geschlossen aufgebauten Dramas. In Negation eigenwertigen Gefühlsgehalts

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gestaltet er den Inhalt des Dramas gemäß verstandesmäßig zu fassender Lehre. Mit Rücksicht auf die Form muß er den ungebundenen Hanswurst bekämpfen, mit Rücksicht auf den Inhalt das im Hanswurst Gestalt gewordene naiv-volkstümliche Gefühl ablehnen. Die Verbannung des Hanswurst ist ihm ein Mittel zu rationalistischer, gesetzmäßig-lehrhafter Komödienreform. W a s er aber an Statik des Baues gewinnt, verliert er an Dynamik des Komischen. Um aus einer Abbildung bürgerlich-gesellschaftlicher Umwelt komische 'Wirkungskräfte zu ziehen, hätte ein Gesellschaftsbewußtsein, eine Gesellschaftsbildung bestehen müssen. Mangels sozial- wie individualpsychologischer Grundlage wurden durchaus undichterisch-rationalistisch hohle Puppen mit positiven oder negativen Moraleigenschaften bezettelt und mit künstlicher Maschinerie ausgestattet, so daß die derart erhaltenen Typen nach Belieben die Bühne betreten und sie mit Aktschluß wieder verlassen, um dazwischen platte Prosa herunterzuleiern mit der einzigen Absicht des: fabula docet.

Großen, die Mündigwerdung eines bislang dogmatisch gebundenen dt. Bürgertums. Den Niederschlag dieser gesamten literarischen und sozialen Entwicklungstendenzen erkennen wir in der Komödienproduktion C h r i s t i a n F e l i x W e i ß e s , des Jugendfreundes Lessings. Während aber Weiße auch in seinem Alter nie über das geistig-ästhetische Niveau des fünften Jahrzehnts hinauskam, schenkte uns L e s s i n g 1765, aus dem Impuls erwachten Nationalgefühls heraus, das große, trotz aller fremdländischen Einwirkungen, dt. L. in seiner 'Minna von Barnhelm'. Hier hat sich die Vermählung von Verstand und Gefühl, von Männlichkeit und Menschlichkeit vollzogen und überbrückt die K l u f t , wie zwischen Preußen und Sachsen, zwischen Real und Ideal in ethisch fundiertem Humor. Aber wenn auch Lessing, trotz allem Überkommenen, Menschen von Fleisch und Blut und Leben schuf, so waren dessen vorherrschende K r ä f t e doch durchaus bewußte, vernünftige, rationale. 'Minna von Barnhelm* ist der Gipfel der Aufklärung, aber immerhin der Aufklärung.

Eine Bereicherung erfährt diese Gottschedkomödie durch das von Gottsched selbst eingeführte Vorbild Holbergs mit seiner K r a f t derbkomischer Gestaltung grobschlächtiger, aber blutvoller Kleinbürgertypen. Holberg mit seiner volkstümlichen Frische und Derbheit ist die stärkste Triebkraft, um den eben verbannten Hanswurst wieder ins Theater hineinzuführen. Eine weitere Belebung und Vertiefung gewann die sächs. Komödie durch die gewandte Feder des theatererfahrenen J. C h r . K r ü g e r und die dichterische Begabung des theoretisch gereiften J o h . E l i a s S c h l e g e l . Das Jahrzehnt 1740—1750 ist für die sächs. und damit für die dt. Komödie der Maimonat. In diesem Jahrzehnt erblühte auf dem Gebiete des L. auch die sanfte Blume der Empfindsamkeit. Richardsons tugendhaft-moralisierende Familienromane und die rührselige comédie larmoyante sind die Eltern der dt. Rührkomödie, die in dem empfindsam belehrenden G e l i e r t ihren Hauptvertreter fand (s. d. Art. Weinerliches Lustspiel). Zugleich aber bedeuten die Jahre um 1740, den Regierungsantritt Friedrichs des

§ 8. Schon aber vollzog sich der Umschwung in der Grundhaltung dt. Dichtung. A n Stelle des Berechneten tritt das Improvisatorische, an Stelle des Künstlichen das Natürliche, an Stelle des Klaren das Dunkle, an Stelle des Maßvollen das Erschütterte, an Stelle des Geordneten das Überschäumende, an Stelle des Rationalen das Irrationale. Der S t u r m u n d D r a n g bricht ein, und seine gefühlsberauschten Komödien zeigen alle jene neuen Charakteristiken, die aber bei den jungen revolutionären Autoren gar zu leicht ins Chaotische zerfließen. Nur wo sie Sozialrevolutionäre Tendenz darstellen und damit wieder beweisen, daß bei aller Betonung des Irrationalen das Rationale sich doch nie ausschalten läßt, nähern sie sich in ihrer Dramaturgie aufführbaren Bühnenwerken, verlieren dann aber an wirklichen Lustspielelementen, an Komik und Humor. Der tiefste Grund des Versagens der Stürmer und Dränger auf dem Humorgebiete des L. liegt darin, daß die jungen Brauseköpfe Revolutionäre um des Revolutionären willen sind; wenn sie auch einzelne Revolutionsziele auf literarischem wie so-

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zialem Gebiete haben, so haben sie doch keine klar bewußte Weltanschauung, die ihre Revolution speist. Sie haben ein brausendes Jugendgefühl, dessen Hauptquellen Rousseaus Naturevangelium und Hamanns Religiosität sind, aber diesen starken emotionalen K r ä f t e n fehlt das feste Zentrum, von dem aus und um das herum sie wirken. Sie fühlen wohl den Zwiespalt mit der Welt, wissen aber nur die zu negierende Seite des Bestehenden und haben in ihrem unklar-dumpfen Fühlen keinen bewußten Gegenpol des Ideellen. Humor aber ist die geklärte Weisheit, die den Realisten, den Bejaher der Welt, wie sie ist, das Ideale, die Wunschwelt als zwar hoffnungsloses, aber immerhin schönes Traumbild anerkennen läßt, oder aber den Idealisten, den Verneiner der existierenden Welt, diese gebrechliche Welt als zwar mit den ewigen Idealen durchaus unvereinbar, aber doch als einmal unabänderlich hinnehmen läßt. Bei den Stürmern und Drängern kommt es mangels dieser Klärung nicht zu einem gestalteten humorischen Weltbilde, sondern nur zu gefühlsmäßigen humorischen Tendenzen, zu Humorblitzen und zu satirischen Darstellungen von Einzelmotiven. Am ehesten gelingt noch dem jungen Goethe humorische Weltschau, aber doch höchstens in momentanen Knittelversfarcen. Im Grunde ist auch Goethe kein Humorist, da sein natürlicher Monismus die Tatsache des Zwiespalts grundsätzlich verneint. Wenn der Sturm und Drang wenigstens Ansätze zum humorgestalteten L . lieferte, so bleibt die K l a s s i k auf diesem Gebiete unfruchtbar. Weder Schiller noch Goethe sind Humoristen. Schiller überwindet den Gegensatz von Leben und Ideal durch Unterordnung des Lebens unter das philosophisch begründete Gesetz; Goethe durch die Einordnung des Ideals in die organisch wirkende Natur. Beiden fehlt dadurch das erlebte Bewußtsein des ewigen Zwiespalts, das die Vorbedingung des darüber zur Versöhnung sich erhebenden Humors bildet. § 9. Mit der Ablösung rationalen Dramas durch irrationale Dichtung im Sturm und Drang ist aber zugleich eine neue Gattung des Bühnenwerkes entstanden: das T h e a -

t e r s t ü c k , das von den Mitläufern des Sturms und Drangs und der Klassik geschaffen ist. Diese sind keine Dichter, die aus seelischen Erlebnissen heraus gestalten, sondern Theaterschriftsteller, meist Schauspieler von Beruf, die, was ihnen an dichterischer Potenz abgeht, an dramaturgischem Wissen und bühnentechnischer Erfahrung ersetzen. Sie rechnen mit den Bedürfnissen des Durchschnittspublikums im Theater, das Unterhaltung und Spannung verlangt. Als Zeitkind des Sturms und Drangs sucht dieses Theaterstück die Lebensreichhaltigkeit des irrationalen Dramas nachzuahmen. Da es aber dessen irrationale Tiefe nicht besitzt, so bleibt es als echtes Theaterstück in rationaler Berechnung an der Oberfläche haften; nur gibt es jetzt nicht mehr wie die frühere sächsische Komödie einzelne Charaktereigenschaften, sondern setzt seine Menschen aus mehreren zusammen. Da keine dichterischseelischen Erlebnisse diesen Stücken zugrunde liegen, sondern Berechnungen von bühnenwirksamen Konflikten, so suchen die Autoren in ihrer Umwelt die Motive; es entstehen Gesellschaftsstücke im soziologischen Sinn mit den Gegensätzen von J u n g und Alt, Arm und Reich, Stadt und Land, Bürger und Edelmann, Kaufmann und Militär, Handwerker und Beamter; natürlich wird auch der beliebte Rousseauistische Gegensatz von Natur und Kultur behandelt, aber umgedeutet ins Soziologische als Gegensatz von Unverbildet und Verbildet, von Natur und Zivilisation. Überall werden nicht Erlebnisse, sondern aus der bürgerlichen Umwelt, die entsprechend der Revolutionszeit an Bedeutung gewonnen hat, geholte soziale Probleme dargestellt in geschickter Mischung von Komischem und Sentimentalem. Literarisches Vorbild ist die Familiendramatik Diderots mit ihrer bürgerlichen, spießbürgerlichen Moral. Auch die Sprache entspricht in ihrer undichterischen geschraubten Prosa der etwas parvenühaften Kulturschminke eines rasch zu Selbstbewußtsein gekommenen Bürgertums. Um nur einige der bedeutenderen Vertreter des komischen Theaterstücks, die alle selbst dem Theater angehören, zu nennen, seien Brandes, Großmann, I f f l a n d , Schrö-

LUSTSPIEL der erwähnt. Gewiß haben sie durch die Beherrschung des Technischen gute und auch langandauernde Erfolge erzielt, die sogar in moderner Zeit noch eine Wiederbelebung lohnten, wie etwa Großmanns 'Nicht mehr als sechs Schüsseln', Ifflands 'Hagestolzen*. Aber im allg. sind sie ebenso vergessen wie die Probleme, die sie behandeln. Indem die Schauspielerdichter aber gelegentlich nicht einmal Probleme behandeln, sondern nur witzige Pointen in stofflich geschickter Situationskomik darstellen, so erscheint mit dem Theaterstück auch sein derberer Genosse, der S c h w a n k , als bewußte Bühnenmache, der dann allerdings ohne Sentimentalität und Moralpose seine ganze Wirkung auf Derbkomik und Schauspielerroutine einstellt. Schon Iffland handhabt beide Arten des undichterischen komischen Theaterstücks mit großem Geschick. Unerreichter Virtuos aber auf beiden Gebieten ist K o t z e b u e . Mangel an seelischem Erleben, an dichterischer Phantasie, an sittlicher Festigkeit versagen ihm die Humorgabe des L., aber klarer Verstand, weltmännische Kultur, geschärfte Beobachtungsgabe und sichere Beherrschung aller Bühnenmittel lassen ihn zum wirksamen Theaterstückfabrikanten werden, dessen Vielseitigkeit, Laune und Witz allen Erscheinungen seiner Zeit komische Züge abzugewinnen vermögen. Seine Komödien und Possen, die in ihrer Gesamtheit ein Spiegelbild seiner Zeit ergeben, zeigen eine bis dahin nicht erreichte Stärke in Technik und vis comica. § 10. Das ganze 19. J h . hindurch beobachten wir nun den Strom von Theaterstück* und Schwankproduktion, aus dem nur einzelne wirklich aus dichterischen Erlebnisquellen gespeiste L. und Charakterkomödien aufragen. Die Romantik hätte in ihrer weltanschaulichen Einstellung, ihrem strömenden Gefühlsgehalte und ihrer Bewunderung Shakespeares wohl die Grundlagen humorischer Lustspieldichtung gehabt. Doch Unvermögen zur Geschlossenheit dramatischen Baus ließen alle Versuche scheitern. Am ehesten nähert sie sich dem Ziele in den phantastischen Märchenspielen. Als erstes Märchenspiel mit Lustspieltechnik könnte schon

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Lessings 'Nathan' gelten, dem F. M. Klingers 'Derwisch' in direkter Linie folgt. Die Romantiker verknüpfen die Märchenhandlung gerne mit Zeitsatire wie Tieck in seinem 'Gestiefelten Kater', Eichendorff in seinen 'Freiern', Platen im 'Schatz des Rhampsinit', vor allem aber der witzig-anmutige 'Ponce de Leon* Brentanos, der schließlich noch eine geglücktere Nachfolge findet in Büchners 'Leonce und Lena'. In dieser Entwicklungsreihe, aber bissiger in der Satire, grotesker im Ausmaß, steht auch Grabbes 'Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung'. Selbst der ernste Hebbel wußte in seinem 'Diamant', vor allem aber im 'Rubin' satirisches Märchenspiel anmutig zu gestalten. Die beste Ausbildung fand das humorgewürzte, tiefsinnig-heitere, phantastische Märchenspiel in seiner Mischung von Sinnlichem und Übersinnlichem in dem katholischen Barockstammlande Österreich, wo Raimund mit ihm Elemente des Wiener Volksstücks verschmolz; sein Nachfolger Nestroy ist schon weit mehr Satiriker wie Humorist. Der Tradition des volksstückhaften Märchenspiels gehört auch eine der bedeutendsten Schöpfungen dt. Lustspielmuse überhaupt an: Grillparzers 'Weh dem, der lügt'. Die starke Wirkung dieser Tradition zeigt sich auch darin, daß sie selbst einen ausgesprochenen Vertreter des Theaterstücks, E. v. Bauernfeld, zu einem graziös heiteren Werke 'Fortunat* anregte. Eine Erneuerung des shakespearisierenden und calderonisierenden Lust- und Märchenspiels ist im Drama der Gegenwart zu beobachten, und wiederum gehören die betreffenden Werke zu den wertvollsten Produkten der Lustspieldichtung: Gerhart Hauptmanns 'Schluck und Jau', Fritz Stavenhagens 'De dütsche Michel', Eulenbergs Komödien, insbesondere 'Alles um Liebe', Hugo v. Hofmannsthals gerne älteren Werken dt. oder span. Romantik entnommene Bearbeitungen und schließlich Wilhelm v. Scholz' 'Vertauschte Seelen'. Es sind mutwillige Kinder einer krausen und nachdenklichen Phantasie, die Unsinn und Tiefsinn verschwistert zeigen und von warmem Gefühl beseelt sind, die aus weltanschaulichen Gründen stammend Weltschau bieten. Zu

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ihnen möchte ich noch als jüngstes W e r k W a l t h e r v . Molos 'Till Lausebums' zählen. § II. Neben diesen Spielen der Lust, deren überschattender Ahnherr Shakespeare ist, hat die dt. Dichtung sich auch Molière zum Vorbilde genommen, indem sie einige wenige bedeutende Charakterk o m ö d i e n schuf. A n der Spitze steht K l e i s t s 'Zerbrochener K r u g ' , dessen Bedeutung als komisch-humorische Darstellung v o n der W e l t Schein und Sein in ihrer bannenden Konzentration auf die genial erfundene Charakterfigur des Dorfrichters A d a m immer mehr erkannt wird. V o n gleicher Charakterisierungskraft ist die auf die altfrz. Farce v o n 'Maistre Pathelin' zurückgehende Darmstädter Dialektposse N i e b e r g a l l s 'Datterich', die trotz ihrer Lokalfarbe dichterisch ins Allgemeinmenschliche geweitet ist. Lokalfarbe zeigen auch die meisterlichen Charakterkomödien L u d w i g A n z e n g r u b e r s , der mit den Mitteln des österreichischen Volksstücks die kräftige Zeichnung bodenständiger Bauerngestalten zu vertiefter Unterhaltung benutzt. T r o t z gefühlvoller Volksstückmanier, die bisweilen die Grenzen zum Theaterstück überschreitet, leitet er mit seiner gewollten Naturwahrheit bereits den Naturalismus ein, der in G e r h a r t H a u p t m a n n s 'Kollege Crampton', vor allem aber in seiner Diebskomödie 'Der Biberpelz' wiederum Kleists Höhe in der Lustspieldichtung erreicht hat. Indem er die Lehrtendenz des Anzengruberschen Volksstücks und dessen Sentimentalität vermeidet, erhebt er sich auf dem Boden reiner intellektueller Weltbetrachtung zu echtem Humor. A n Anzengruber erinnern auch Schönherrs Tirolerkomödien, die aber entsprechend dem Naturalismus landschaftlich und stammestümlich tiefer verwurzelt sind. Mit dem landschaftlichen Interesse verbindet die naturalistische Epoche gern das Soziale, und daraus entstehen satirische Stammesbilder, wie sie der allzu früh verstorbene Fritz Stavenhagen f ü r das norddt. Niedersachsen, Josef Ruederer und L u d w i g T h o m a für das süddt. Oberbayern gaben. Der Rückschlag, den das Zeitalter der T e c h n i k und die rasche Blüte v o n Industrieund Wirtschaftsleben mit ihrer H ä u f u n g

von R e i c h t u m durch Überschätzung von Zivilisation bedingte, wird gespiegelt in dem Schaffen F r a n k W e d e k i n d s , der den Zivilisationsmenschen in seiner Hohlheit aufweist und seiner Scheinmoral das Natursein triebhaften Menschentums entgegensetzt. Dies führt in seinen Komödien zur Bürgersatire mit Übersteigerung des erotischen Urtriebs. Sein geistig-dichterischer Nachfolger in jüngster Gegenwart ist G e o r g K a i s e r , der mit weit geschickterer Beherrschung der Bühnenmittel in klug berechneter dramatischer Architektonik neben wirkungsvollen Theaterstücken gelegentlich auch ein echtes L . von triebhafter Weltschau wie 'Europa' gestaltet. Eine H o f f n u n g auf dem Gebiete der Bürgersatire w a r auch C a r l S t e r n h e i m mit seinem 'Bürger Schippel', doch hat er sich in der Manier seiner Marionettenfiguren und seines zerhackten Sprachstils immer mehr verhärtet und sich ebenfalls dem Theaterstück verschrieben, nur daß dieses nicht wie früher Unterhaltung, sondern Reizung sich zum Ziel setzt. § 12. A u c h Sternheim zeigt, daß bis zur Jetztzeit das ganze 19. Jh. hindurch das Weiterleben der im 18. Jh. begründeten Gattungsformen des komischen Theaterstücks und des Schwanks zu beobachten ist, wobei immer wieder jenes soziale Probleme behandelt, während dieser seine derbere W i r k u n g durch stoffliche Mittel des Witzes und der Situationskomik erzielt. Für jenes ist der Hauptvertreter E. v . B a u e r n f e l d , der in der Atmosphäre des Wiener Burgtheaters durch gepflegten Dialog den Problemstellungen der Zeitströmungen Ausdruck verleiht und damit die gebildete bürgerliche Gesellschaft in Konversationsund Salonstücken abspiegelt. W e n n u m die Mitte des Jhs. der politische W i n d stärker weht, so macht sich dies auch in diesen Unterhaltungsstücken geltend, indem statt der sozialen und ständischen Probleme solche politischer A r t zum Austrag kommen. A u c h G. F r e y t a g s 'Journalisten' gehören dieser G a t t u n g an, obwohl sie zugleich beweisen, wie schwierig die Trennung zwischen Theaterstück und Dichtung zu ziehen ist. V o n der politischen zur historischen K o mödie ist kein großer Sprung, der um so

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MUNDARTDICHTUNG

leichter fällt, als das technische Vorbild des Unterhaltungsstücks, die Franzosen und insbesondere Scribe, ihn vormachte. Gegen Ende des Jhs. tritt an Stelle oder doch neben das frz. Muster des Gesellschaftsstücks der Sardou, Augier das engl., wie es der glänzende, geistreiche und geistreichelnde Oscar Wilde lieferte. Ihn löste dann der in Paradoxien ihn ebenso wie im Ernst der alle Konventionswerte umwertenden sozialen Auffassung übertreffende Bernard Shaw ab. Während jener seine besten und selbständigen Nachfolger in den dialogsicheren Österreichern wie Felix Saiten, vor allem aber in dem überaus sensiblen und hellhörigen H e r m a n n B a h r und in gewissem Sinne auch in dem allerdings ebenso viel weicheren wie grüblerisch tieferen A r t h u r S c h n i t z l e r fand, ist das Gegenstück Shaws eben jener Sternheim, der aber weit zynischer, teilnahmsloser und daher auch oberflächlicher als sein Vorbild ist. § 1 3 . Der S c h w a n k fand seinen Hauptvertreter um die Mitte des 19. Jhs. in R o d e r i c h B e n e d i x . Seine Nachfolger sind die Brüder v. Schönthan, v. Moser, Blumenthal und Kadelburg und eine ganze Reihe ähnlicher witziger Schwankfabrikanten, zu denen in verschiedenster Abstufung von Fein- und Derbkomik auch F. Kaißler, R.Presber, K.Rößler, L.Schmidt u. a. in der Gegenwart gehören. Dem Witze und der komischen Situation opfern sie gern Wahrheit. Nicht das Allgemeine, sondern das Besondere, das die Regel Durchbrechende, nicht das Schicksal, sondern der Zufall beherrschen den Schwank. Das Besondere können allerdings ganze Gesellschaftskreise und Berufsstände sein. Typisches wird nicht in seiner inneren Wesenheit, sondern in äußeren Zügen verzerrt, übertrieben, karikiert, ob es nun die schon in der afrz. Farce auftretende Schwiegermutter ist oder der zerstreute Gelehrte, ob der aus Hans Sachs bekannte schwangere Bauer oder der Jude oder der verstaubte Bureaukrat, ob der pedantische Schulmeister oder der prahlerische Schieber, ob Künstler und Literaten in ihrem konventionverletzenden Bohfemetum oder das Militär in seiner maschinell erstarrten Form. Gerade die marionettenhafte Erstarrung, der Mangel

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an innerem Leben bedingen den Schwank, weshalb auch der Militärschwank besonders beliebt war. § 14. Zahlreich sind unsere Schwankund Theaterstückautoren, ebenso gering an Zahl aber unsere wirklichen Lustspieldichter. Wenn auch immer wieder Verheißungen erstehen, die Erfüllung dt. Lustspielhoffnung trifft spärlich ein. Das einzige, wirklich große, Volkstümlichkeit und dichterischen Wert, Komik und Humor, Nationales und Universales, Laune und Tiefsinn, Verstand und Gemüt, Vernunft und Phantasie vereinigende dt. L. erreicht seine eigentliche Vollendung erst mit Hilfe der Schwesterkunst der Dichtung, der Musik: es ist Richard Wagners Oper 'Die Meistersinger'. K . H o l l Geschichte des deutschen Lustspiels 1923, worin ausführliche Bibliographie. K . Holl.

Luxemburger Mundartdichtung. § 1. Charakter der Mundart. — § 2. Ihr Gebiet. — § 3. Geschichte der Mundart. — § 4. Einteilung, Grammatik, Rechtschreibung. — § 5. Die Anfänge der Mundartdichtung. — § 6. Die Nationaldichter Lentz und Dicks. — § 7. Das Nationalepos. — § 8. Die neueren lyrischen Dichter. — § 9. Neuere dramatische Dichter. — § 10. Die Mundart in der Prosa. — Literatur.

§ I. C h a r a k t e r d e r M u n d a r t . Die L u x e m b u r g e r sind dt. Stammes, doch haben sich in der Bevölkerung anscheinend starke Reste des Keltentums erhalten, und ist infolge der wechselnden politischen Herrschaft (burgund., dt., frz., österr.niederländ.) und der Lage als Grenzland (vorgeschobenster Posten des Deutschtums gegen das Romanentum) in der Bevölkerung eine Vermischung eingetreten. Da das Land als Herzogtum ein dt. und ein roman. Quartier umfaßte (letzteres wurde bei den Zerstückelungen von 1659 und 1839 abgetrennt), haben sich Deutsch und Französisch als gleichberechtigte Amtssprachen erhalten, doch bevorzugt die Regierung in der Verwaltung das Französische (Gesetze und Verordnungen werden in beiden Sprachen veröffentlicht), während die Kirche sich nur des Deutschen bedient. Die Zeitungen erscheinen mit einer Ausnahme alle in dt. Sprache. Die M u t t e r s p r a c h e ist die luxemb. Mundart. In den Schulen werden das

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Deutsche und das Französische gleichzeitig erlernt, so daß die gebildeten Luxemburger beide Schriftsprachen beherrschen, während die unteren Volksschichten sich ausschließlich der Mundart bedienen und meist nur geringe Kenntnisse des Hochdeutschen oder auch des Französischen besitzen. Während in den Nachbarländern die Mundart teils im Verblassen, teils im Aussterben begriffen ist, erhält sie sich in Luxemburg erfreulicherweise noch sehr gut, weil sie allgemeine Verkehrssprache ist, deren sich die Bürgerschaft auch im mündlichen Verkehr mit den Behörden bis zum Minister hinauf bedient und neuerdings ihr Gebrauch auch in der Volksliteratur stark zunimmt. Das Schulgesetz von 1912 führte die Mundart auch als Unterrichtsgegenstand in die Volksschule ein. Die luxemb. Mundart gehört ebenso wie die Eifeler und Trierer Mundart zum Mittelfränkischen. Sie ist arm an Wortbiegungen und daher etwas schwerfällig, aber kernig. Dem Ausländer fällt in den Städten besonders die starke Vermischung mit frz. Wörtern, denen vielfach eine luxemb. Endung angehängt wird (ähnlich wie imElsässerDeutsch), auf; auf dem Lande ist dies aber viel weniger der Fall. Der Städter hat eben die Gewohnheit, für ein Wort, das ihm in der Mundart fehlt oder ihm nicht sofort einfällt, das ihm geläufige frz. (zuweilen auch hd.) Wort zu gebrauchen. Bei der Landbevölkerung, die mit weniger Begriffen auskommt, hat sich die Mundart viel reiner erhalten, und auch die Mundartdichter haben von Anfang an Wert darauf gelegt, nicht völlig assimilierte Fremdwörter zu vermeiden. §2. Ihr Gebiet. Das Gebiet der luxemb. Mundart (Karte im Jb. der Luxemb. Sprachgesellschaft 1925) erstreckt sich weit über die Grenzen des jetzigen Großherzogtums (260000 Einwohner). Es dehnt sich vorerst auch über einen Teil der früher zum Großherzogtum gehörigen belgischen Provinz Luxemburg, und zwar über Arel (Arlon), Bastnach, Hauflescht (Houffalize) hinaus, wo Wallonisch und Französisch beginnen, und über das 1918 von Belgien annektierte St. Vith nebst Umgebung, ferner über einen Teil von Lothringen bis in die Nähe von Metz (der frühere Kreis Diedenhofen, die Stadt

Sierck usw., bis 1659 zum Herzogtum Luxemburg gehörig). Auf dt. Seite geht die luxemb. Mundart bei Trier und in der Eifel allmählich in die dortigen Mundarten über. Man veranschlagt die Zahl der Bewohner des Gebiets der luxemb. Mundart auf y 2 Million. Gegen das Romanische im Westen ist die luxemb. Sprachgrenze zugleich die Grenze des dt. Sprachgebiets ( G o d e f r o i d K u r t h La frontière linguistique en Belgique et dans le Nord de la France 1896 u. 1898, 2 Bände. C o n s t . T h i s Die deutsch-franz. Sprachgrenze in Lothringen 1886. F. M. F o l l m a n n Wörterbuch der deutsch-lothring. Mundarten 1909). Die luxemb. Mundart besitzt, wie schon 1769 der Abbé de Feller feststellte, merkwürdige Anklänge in der Sprache der Siebenbürger Sachsen (richtiger Franken), früher zu Ungarn, jetzt zu Rumänien gehörig, deren Vorfahren im 12. Jh. aus dem mittelfränk. Gebiet auswanderten (W. K i s c h Vergleichendes Wörterbuch der Nösner [siebenbürg.] und moseljränk.-luxemb. Mundart 1905). Infolge der starken Auswanderung von Luxemburgern nach Nordamerika haben sich in den Vereinigten Staaten luxemb. Siedlungen gebildet, die in eigenen Vereinen, Zeitungen und Schriften noch an der Muttersprache festhalten. Die folgenden Generationen gehen aber ins Amerikanertum über, während die zahlreichen Luxemburger in Frankreich und Belgien meist sehr schnell ihre Muttersprache aufgeben. §3. G e s c h i c h t e d e r M u n d a r t . Die Mundart hat ihre einheitliche Gestalt erst gegen Ende der ahd. Periode, d. h. um das 10. oder 11. Jh. erhalten. Über die Entwicklung geben nur die bisher darauf hin wenig erforschten Urkunden Auskunft, da aus dem MA. keinerlei Dichtungen oder Prosawerke in der Mundart erhalten sind. Obgleich das Französische schon seit dem 13. Jh. vorwiegend Amtssprache war, lassen sich aus älterer Zeit kaum roman. Einflüsse auf die Mundart nachweisen. In den Weistümern (unvollständig veröffentlicht von M. Hardt 1868—70) und in den kirchlichen Sendweistümern, in Prozeßakten (namentlich beim Provinzialrat), in Privatverträgen usw. ist das Hochdeutsch viel

L U X E M B U R G E R MUNDARTDICHTUNG mit Mundartausdrücken und -Wendungen vermischt. Die Frage, inwieweit die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten, Bauernregeln, Handwerkersprüche, Kinderreime und Volkslieder aus älterer Zeit stammen, ist noch ungeklärt. Die Lage Luxemburgs als Grenzland brachte es mit sich, daß infolge der Volksvermischung und der in der Neuzeit gesteigerten Beziehungen zu den Nachbarländern auch die Mundart davon beeinflußt wurde. Der Einfluß der hd. Schriftsprache macht sich durch den Verkehr mit Reichsdeutschen (früher Zugehörigkeit zum Deutschen Bund und zum Deutschen Zollverein), Schule, Kirche und Zeitungen geltend. Namentlich finden sich nd. Wörter, Wendungen und lautliche Erscheinungen (ähnlich wie in der Eifeler Mundart). Die Aufnahme frz. Wörter und Wendungen erfolgte besonders seit der Französischen Revolution (Luxemburg war das WälderDepartement) infolge der Beziehungen zu Frankreich, der frz.Verwaltungssprache und der Lektüre frz. Bücher und Zeitungen (J. T o c k e r t Romanische Lehnwörter in der luxemb. Mundart 1920). In Nordamerika vermischt sich die luxemb. Mundart mit engl. Fachausdrücken. § 4. E i n t e i l u n g , G r a m m a t i k , R e c h t s c h r e i b u n g . Die frühere Einteilung der luxemb. Mundart in vier U n t e r m u n d a r t e n , nämlich die der Mosel, Sauer, Alzette oder Elz und des Öslings (n. gebirgiger Teil des Landes), beruht nicht auf festen Unterscheidungsmerkmalen. Im Konsonantismus weichen die Untermund;arten wenig voneinander ab, sondern nur :in den Vokalen. Jetzt unterscheidet man: 1. S ü d - L u x e m b u r g i s c h südlich der Sauer, jedoch einschließlich Vianden; dazu an der Mosel die Gegend um Diedenhofen und das belg. Arel. 2. N o r d - L u x e m b u r g i s c h von der Sauer bis St. Vith, stark ripuarisch gefärbt (ebenso wie weiterhin in der Eifel bis Prüm). Das ganze Gebiet der luxemb. Mundart bis in die Eifel faßt man als Westmoselfränkisch zusammen. Den ersten Versuch einer G r a m m a t i k machte G l o d e n in den 'Luxemb. Gedichten und Fabeln' von Anton Meyer (1845). Trotz vieler Untersuchungen fehlt noch M e r l c e r - S t a m m l e r , Reallexikon IL

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eine abschließende Bearbeitung. Über die S c h r e i b a r t der Mundart hat sich bisher eine Einigung leider nicht erzielen lassen. Jeder Autor hat seine eigene Rechtschreibung. Namentlich suchte man durch Dehnungs- und Schärfungsakzente und sonstige Zeichen (höhergestellte kleinere Buchstaben u. dgl.) die Aussprache möglichst deutlich anzugeben, erschwerte aber dadurch die Lektüre. Für volkstümliche Schriften sollte man von allen Künsteleien absehen und eine möglichst einfache phonetische Rechtschreibung wählen. Das 'Lexikon der Luxemb. Umgangssprache' von J. F. G a n g l e r (1847) war ein erster Versuch. Das 'Wörterbuch der Luxemb. Mundart' von J. W e b e r (1906) ist auch noch sehr unvollkommen. Der Wortschatz ist noch nicht vollständig gesammelt und erklärt; namentlich sind auch die Urkunden, Orts- und Flurnamen, Fachausdrücke usw. zu verarbeiten. Eine „ L u x e m b u r g i s c h e S p r a c h g e s e l l s c h a f t für Sprach- und Dialektforschung" hat 1924 ihre Tätigkeit begonnen und die Vorarbeiten zu einem wissenschaftlichen Wörterbuch der luxemb. Mundart eingeleitet ('Jahrbuch' der Gesellschaft seit 1925; außerdem 'Beiträge zur luxemb. Sprachund Volkskunde'). P. K l e i n Die Sprache der Luxemburger 1855. N. G r e d t Die Luxemburg. Mundart 1871. M. F. F o l l m a n n Die Mundart der DeutschLothringer u. Luxemburger 1886—90. J. P . B o u r g D i e luxemb. Mundart 1896. M. S c h w e i s t h a l Die luxemb. Mundart 1897. J . W e b e r Lexicologie de la langue luxembourgeoise 1897; Die Luxemb. Sprache 1899. M. H a r d t Vokalismus der Sauermundart 1843. R. E n g e l m a n n Der Vokalismus der Viandener Mundart 1910. A . M e y e r Regelbüchelchen vum Lezeburger Orthograf 1854. E. de la F o n t a i n e Versuch über die Orthographie der luxemb.-deutschen Mundart 1855. J. W e b e r Zur Orthographie der Luxemb. Sprache 1897. E. de la F o n t a i n e Die luxemb. Kinderreime 1877. K . M e r s c h Die luxemb. Kinderreime 1884. E. d e l a F o n t a i n e Die luxemb. Sprichwörter u. sprichwörtlichen Redensarten 1857—58. N. R i e s Die luxemb. Sprichwörter 1909. M. T h i l l Luxemb. Sprichwörter u. Bauernregeln 1922. Arloner Sprichwörter in N. W a r k e r Wintergrün '1890 S. 75—79. E . de la F o n t a i n e Die luxemb. Volkslieder älterer Zeit 1904. W. S t o m p s Letzeburger Lidderboch 1898, '1908. B r o u l l i Aus der Ucht. Lidder aus aler Zeit 1926.

§5. Die A n f ä n g e der Mundartd i c h t u n g . An der Spitze der Mundart20

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dichtung steht ein aus dem 18. Jh. stammender fahrender Sänger, de b l a n n e n T h e i s (der blinde Theis, gestorben um 1830), der bis in sein hohes Alter auf Jahrmärkten und Kirmessen umherzog und mit kreischender Violinbegleitung seine selbstverfaßten komischen und zum Teil recht frei gehaltenen Mundartlieder vortrug. Es sind nur einige Bruchstücke davon aufgezeichnet, und auch im Volksmunde haben sich nur einzelne Verse erhalten. Erst gegen Ende der zwanziger Jahre des 19. Jhs., anfangs nur schüchtern, später aber kühner und entschiedener, traten einzelne Luxemburger auf, die in ihrer Mundart Gedichte veröffentlichten. Diese ersten Versuche waren noch recht unbeholfen, sind aber sprachgeschichtlich wertvoll. A n t u n M e y e r (1801 — 1857), Professor der Mathematik, veröffentlichte ' E Schrek op de letzeburger Parnassus' (Ein Schritt auf den luxemb. Parnaß 1829 u. 1832), 'Luxemb. Gedichte und Fabeln* (1845) und 'Olzegtkläng' (Alzetteklänge 1853). Die Sprache bereitete ihm noch große Schwierigkeiten, und er bildete sie erst für den Schriftgebrauch aus. Bei ihm findet sich schon der humoristische und sarkastische Ton, der einen großen Teil der luxemb. Mundartliteratur durchzieht. J a k o b D i e d e n h o v e n (1809—1868) gab in viel besser geformten Gedichten ('De Bittgang no Conter', 'Om Tribenal zo Letzebureg' [Auf dem Gericht zu Luxemburg]) Szenen aus dem Volksleben wieder. J. F. G a n g l e r (1788—1856) schrieb 'Kurblumen um Lamperberg gepleckt* (Kornblumen auf dem Limpertsberg gepflückt 1841); er beherrschte die Sprache schon wesentlich besser und führte die gereimte Schnurre in die Literatur ein, doch sind seine Gedichte vielfach Nachahmungen aus dem Deutschen oder Französischen. Zu erwähnen sind noch 'D' Geschieht vum Letzeburger Collesch' (Geschichte des Luxemb. Gymnasiums 1843) von P h i l i p p K n a f f und 'De Fridensrichter* von L. A u g . F e n d i u s , eine Satire auf die Verunstaltung der luxemb. Mundart bei den Gerichtsverhandlungen. Die e r s t e n d r a m a t i s c h e n E r z e u g n i s s e in der Mundart waren ein kleines Fastnachtsspiel von 1849: 'De Prenz Carnaval

an de Prenz Faaschtdag' (Der Prinz Karneval und der Prinz Fasttag) und der Einakter von A n t u n M e y e r : 'O wat eng Fred' (0, welche Freude!) 1853. Wahrscheinlich hat ersteres Edmund de la Fontaine (s. u.) zu seinen ersten volkstümlichen Lustspielen in der Mundart angeregt. §6. Die Nationaldichter Lentz u n d D i c k s . M i c h e l L e n t z (1820—1893), ein Regierungsbeamter, zuletzt Rat an der Rechnungskammer, schrieb seit 1837 lyrische Gedichte in der Mundart und bemühte sich dabei besonders, die Sprache weiterzubilden und sie auch für ernste Stoffe brauchbar zu machen. Er dichtete 1859 den 'Feierwon' (Feuerwagen, d. h. Lokomotive), ein Lied zur Eröffnung der ersten Eisenbahn im Lande, das zum Nationallied wurde und sich auch als solches behauptete, als Lentz als eigentliches Nationallied 'Ons Hemecht* (Unsere Heimat) veröffentlicht hatte. (Uber die eigenartige Geschichte jenes Liedes vgl. die Schrift von P a o l o d. h. Sta.atsminister E y s e h e n Dem Feierwon zu seinem 25jährigen Jubiläum 1884). Lentz gab erst später seine Gedichte in Buchform heraus: 'Spass an Jerscht' (Spaß und Ernst 1873) und 'Hierschtblumen' (Herbstblumen 1887), während eine dritte Sammlung 'Wantergreng' (Wintergrün) infolge der Teilnahmlosigkeit des Publikums erst 1920 erschien. Da die Mundart nur Ausdrücke für die täglichen Bedürfnisse des Lebens enthielt, mußte Lentz für höhere Gedanken viele Wörter dem Hochdeutschen entlehnen, doch fand er damit keinen Beifall. Er war zudem kein großes Talent, sondern im Grunde genommen ein bescheidener Spießbürger, der wenigstens etwas poetischen Sinn bei seinen Mitbürgern zu erwecken suchte. Deshalb gelangen ihm außer patriotischen Gedichten und Liedern nur Bilder aus dem bürgerlichen Kleinleben. Gleichzeitig mit ihm war E d m u n d de la F o n t a i n e (1823—1891), ursprünglich Rechtsanwalt, dann Friedensrichter (Amtsrichter), unter dem Pseudonym D i c k s hauptsächlich auf dramatischem Gebiet tätig, aber in seinen Theaterstücken wie auch in seinen lyrischen Gedichten beschränkte er sich auf volkstümliche Stoffe, bei denen er mit der reinen Mundart in der

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Regel vollkommen auskam, so daß seine wald' (Das Vogelparlament in Grünewald), Dichtungen sprachlich einen ungetrübteren einer Satire auf die damalige AbgeordnetenGenuß gewähren als die oft der Muse er- kammer, hervorgetreten. Seine Jugendzwungenen Gedichte von Lentz. Dicks gedichte wurden z. T. erst aus dem Nachnannte seine Singspiele 'Komedesstecker' laß veröffentlicht ('Allerhant vum Dicks' 1903). Lentz und Dicks wurde 1903 ein (Komödienstücke), weil die Luxemburger alle Theaterstücke überhaupt so bezeichnen. gemeinsames Nationaldenkmal in der Hauptstadt errichtet. Seine Stücke sind ein Mittelding zwischen einem Lustspiel oder Schwank und einem G. Spedener Michel Lentz 1895. M. Blum Singspiel oder einer Operette. Er hatte Michel Lentz, unser Nationaldichter 1897. M. Blum Edmund de la Fontaine (Dicks), unser ursprünglich nur die Absicht, einem DiNationaldichter 1895—97. Dicks, ein Gedenkblatt lettantenverein (der 'Gym', d. h. Gymnastik, 1923. T. K e l l e n Zum 100. Geburtstag von Turnverein) geeignete Theaterstücke in der Dicks, Festnummer der Obermosel-Zeitung 1923. luxemb. Mundart zu liefern, aber er war B a t t y Weber Dicks 1923. Gesamtausgaben der Operetten von Dicks 1889—94. Dicksein so guter Kenner der Volksseele, daß er Album (seine schönsten Lieder) 1896. Gein seinen Stücken leibhaftige Typen schuf, sammelte Werke 1924—25. 3 Bde. in denen das luxemb. Volk seinen bezeichnendsten Ausdruck findet und die er der §7. D a s N a t i o n a l e p o s . Michel R o besseren Bühnenwirkung halber etwas ins d a n g e (1827—1876), ursprünglich Lehrer, Gröbliche verzerrte. dann Beamter der Straßenbauverwaltung, Als 1855 sein 'Scholtschein' (Schuld- schuf in seinem 'Renert oder de Fuuss am Frack an a Mansgresst' (Reinhart oder der schein) in der Hauptstadt aufgeführt worFuchs im Frack und in Mannsgröße) 1872 den war, hatte die Mundart ihren ersten entscheidenden Sieg auf der Bühne er- eine geradezu klassische Bearbeitung der fochten, und seither wird sie literarisch mit alten Reinekesage, in die er mit glücklichem Geschick viele lokale und persönliche BeVorliebe im Theaterstück gepflegt. Dicks selbst schrieb noch eine Reihe weiterer ziehungen einflocht. Durch die WiederStücke: 'De Koseng* (Der Cousin), 'D' gabe in der Mundart hat das Tierepos viel Mumm Ses' (Die Muhme Susanna), 'D' von dem Reiz der alten nd. Fassung wiederKirmesgäscht' (Die Kirmesgäste), 'De Ram- gewonnen. Als einzige Quelle soll dem plassang' (Der Remplaçant, d. h. Stell- Dichter Goethes 'Reineke Fuchs' gedient vertreter), 'Den Her an d' Madam Tulle- haben. Sehr glücklich war er in der Wahl pant' usw., zu denen er meist auch selbst des Versmaßes; er wählte nämlich dreidie Lieder komponierte. Der Wert dieser füßige Jamben, von denen zwei Zeilen den Nibelungenvers ergeben. Er schildert die Stücke, die sich bis auf die kleinsten DorfStreiche des Fuchses mit einer lebhaften bühnen eingebürgert haben, liegt nicht in der manchmal etwas dürftigen oder auch Anschaulichkeit. Das satirische Element, das im 'Reineke' sich nur gelegentlich unwahrscheinlichen Handlung, sondern in der Wiedergabe echter Volkstypen mit gegen ganze Stände wie die Großen der Erde, den Klerus usw. wendet, erweitert ihrer kernigen Sprache und ihrem derben Humor. Manche Lieder daraus sind Ge- und vertieft sich unter seiner Feder. Er begnügt sich nicht mit einem verschwommeingut des Volkes geworden. Dicks war ein ursprünglicherer Dichter menen Schauplatz, sondern er verlegt die als Lentz. Es kommt bei ihm mehr aus der ganze Handlung in das luxemb. Land und Tiefe der Seele, und er hat auch mehr zur nennt genau die Orte, so daß ihm reichlich Gelegenheit zu lokalen Anspielungen wie Wertschätzung der Mundart beigetragen, weil seine Stücke auch von vielen gehört auch zur Anwendung verschiedener Unterwerden, denen das Lesen der Mundart zu mundarten geboten war. Er bezeichnet viel Schwierigkeiten bereitet. Er hatte einzelne Persönlichkeiten teils mit Namen, schon um 1837 eine Tierdichtung 'De teils so deutlich, daß die Zeitgenossen sie Wellefchen an de Fisschen' (Das Wölflein sofort erkennen konnten. Die Zeit, in der und das Füchslein) geschrieben, war aber das Werk entstand, ist die für das Luxemerst 1848 mit 'D'Vulleparlament amGrenge- burger Land wegen der Bedrohung seiner 20*

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Selbständigkeit so bedeutungsvolle Periode von 1867—71, und Rodange gibt uns ein treues Abbild der damaligen gesellschaftlichen Zustände. So ist aus dem ursprünglichen Tierepos geradezu ein Nationalepos der Luxemburger geworden, übrigens in seiner reinen, bilder- und sprichwortreichen Sprache die beste mir bekannte mundartliche Bearbeitung der Reinekesage überhaupt. Das Werk wurde von den Zeitgenossen völlig verkannt, und die, die sich davon getroffen fühlten, schwiegen es tot. Erst lange nach Rodanges Tode wurde der Wert der Dichtung erkannt. Seit 1894 wies ich wiederholt eindringlich darauf hin, und später traten auch andere Kritiker dafür ein. Jetzt gilt es unbestritten als das bedeutendste Werk der L. M. Von den übrigen Gedichten Rodanges sei noch seine letzte Dichtung 'Dem Lewäkkerche sei Lidd' (Das Lied der Lerche), eine Verherrlichung des Ackerbaus, erwähnt. T. K e l l e n Reineke Vos, seine Vorgänger u. seine Nachfolger, Niedersachsen X X I I (1917) S. 303—307; R o d a n g e u. d e R e n e r t Gedenkblatt 1926.

§8. D i e n e u e r e n l y r i s c h e n D i c h t e r . Die erste Blütezeit der Mundartdichtung fand einen Nachhall bis nach Amerika. Nachdem N i k o l a u s G ö n n e r , der Herausgeber der 'Luxemburger Gazette' (Dubuque, Iowa), zuerst eine luxemburg. Anthologie veröffentlicht hatte: 'Onserer Lidder a Gedichter an onserer letzeburger-deitscher Sproch' (Dubuque 1879), ließ er auch seine eigenen Gedichte nebst denen zweier anderer Luxemburger in Amerika, J. B. N a u und Nik. B e c k e r , als'Prairieblumen' (Dubuque 1883) erscheinen. Es sind vorwiegend patriotische Gedichte, Verse der Sehnsucht und des Heimwehs, z. T. schon mit Amerikanismen durchsetzt. Am Ende des Jhs. dichtete noch der Luxemburger J . B . M e r k e l s in Chicago, aber seither scheint die Mundartmuse dort verstummt zu sein. Desto mehr wurde in der alten Heimat gedichtet und gesungen, aber nur wenige Dichter konnten sich durchsetzen. Lyrische Gedichte schrieben N i k . S t e f f e n , der auch als dramatischer Dichter noch zu nennen sein wird, in der Areler Mund-

art N. W a r k e r ('Hierschtbleder', d. h. Herbstblätter, 1897, 21908) und der auch frz. dichtende Handwerker J e a n - J a c q u e s M e n a r d . Religiöse Gedichte verfaßte mit mehr gutem Wollen als Gelingen der Domherr Prof. C h a r e l M ü l l e n d o r f f (1830—1902). Zu einem größeren epischen Gedicht hat seit dem 'Renert' keiner mehr einen Anlauf genommen, obschon es z. B. an Stoffen aus der Landesgeschichte nicht fehlen würde. Nur J. N. W a c h t h a u s e n beschreibt in 'Letzeburger Loscht a Liewen' (Luxemb. Lust und Leben) 1903 in behaglicher Breite die volkstümlichen Feste in der Hauptstadt, wie er sie in seiner Jugendzeit (30 J. vorher) erlebt hatte; aber das Ganze ist doch mehr Schilderung als Erzählung, wenn auch mit einzelnen reizenden Episoden, und immerhin ein bemerkenswerter Beweis, daß ein Luxemburger auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Frankreich (der Dichter ist Eisenbahnbeamter in Paris) die Erinnerung an die Heimat und ihre Sprache gut bewahrt hat, ja die Mundart viel reiner beherrscht als die in der Heimat zurückgebliebenen Landsleute. Der fruchtbarste neuere Dichter ist Prof. W i l h e l m G ö r g e n (geb. 1867). Er folgt den Spuren von Michel Lentz, aber er ist vielseitiger als dieser; namentlich hat er die Vorzüge des Landlebens glücklich geschildert. Er hält auch die Mundart reiner als Lentz und hat mit Erfolg viele ursprüngliche Ausdrücke der Mundart, die den Städtern kaum noch bekannt sind, verwendet. Im übrigen begnügt er sich, wie Lentz, in seinem bescheidenen Kreise den Sinn für Poesie auch im Alltagsleben und erhebende oder erbauliche Gedanken zu verbreiten. Er fing an mit 'HemechtsTen' (Heimattöne), und dann folgten die Sammlungen: 'Blummen a Blieder' (Blumen und Blätter) 1905, 'Spackel-Rosen' (Wilde Rosen) 1912, 'Led a Left' (Leid und Liebe), 'Sturm a Sonneschein' 1915, 'Stonneklank' (Stundenklang), 'Vu Grond dem Hiera' (Aus dem Grund des Herzens) 1917, 'Frid a Freihet' (Friede und Freiheit) 1918, 'Fir de Kleng a fir de Groß' (Für die Kleinen und für die Großen) 1920, 'A Streisschen Hemechtsblummen* (Ein

LUXEMBURGER MUNDARTDICHTUNG Sträußchen Heimatblumen) 1922, 'Schlewen an Drauwen' (Schlehen und Trauben) 1925. Stofflich besonders interessant ist 'Dohem' (Daheim) 1913, das Bilder aus dem luxemb. Volksleben und der heimatlichen Geschichte enthält. Von anderen Dichtern seien noch S i g g y (Prof. Lucien König), der Führer der Nationalisten, mit zwei Versbändchen 'Growenierz' (Grubenerz) und 'Sturem' (Sturm), und D o m i n i k S c h l e c h t e r erwähnt. Die einzige Anthologie ist die bereits erwähnte von N i k . G ö n n e r , besonders verdienstvoll, weil sie auch ältere Gedichte enthält, die sonst nicht erhalten geblieben wären. Eine neuere Anthologie, die das Beste aus der Lyrik enthalten müßte, fehlt noch. — H u ß Ein luxemb. Heimatdichter (Wilh. Glrgen) 1925.

§9. Neuere d r a m a t i s c h e D i c h t e r . Infolge des großen Beifalls, den die Dicksschen Stücke gefunden, entstanden zahlreiche Nachahmer, bei denen aber die Mängel des Vorbildes vielfach mehr hervortraten als ihre Vorzüge. Immerhin haben wenigstens einzelne Stücke Erfolg gehabt. Von den Verfassern seien nur genannt: Nik. Steffen und sein Bruder Nik. SteffenPierret, Nik. Liez, Pol Stümper, Wilh. Görgen, Josy Imdahl, Jos. Olinger, Victor Neuens usw. Andreas Duchscher, der schon seit 1864 Stücke in der Echternacher Mundart schrieb, behandelte später als Fabrikherr vor allem soziale Stoffe. Stücke in der Areler Mundart schrieben Nik. Warker und J.-J. Menard. B a t t y W e b e r verdanken wir ein literarisch wertvolles Volksstück aus der Zeit der Erhebung der luxemb. Bauern gegen die frz. Revolutionäre: 'De Scheefer vun Aasselburn' (Der Schäfer von Asselborn) 1897, außerdem humorvolle Stücke aus der Neuzeit. M a x G ö r g e n (ein Sohn Wilh. Görgens) hat versucht, das zeitgenössische Volksstück auf eine höhere Stufe zu heben: 'D'Schmattslisy' (1918), 'Dohem' (1918), 'Ons Hemecht' (1919), 'D' Medche vu Götzen' (Das Mädchen von Götzen) 1923 schlagen ernste realistische Töne voll packender Wirkung an. Es gibt auch freie Bearbeitungen hd., elsäss. und frz. Stücke. § 10. D i e M u n d a r t in d e r P r o s a . Außer den in Prosa geschriebenen Theaterstücken wird die Mundart für Prosa wenig in der Literatur gebraucht. Ganz in der

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Mundart erschienen bisher nur humoristisch-satirische Zeitschriften 'D' Wäschfra', 'Eulenspiegel', 'Haraspel' (Hornisse), 'Uoreg Zongen' (Arge, d. h. Böse Zungen), 'De Letzeburger Kladderadatsch', 'De Letzeburger' (alle wieder eingegangen) und jetzt noch 'De Gukuk' (seit 1922). Außerdem eine gediegene ernste Zeitschrift für die Erhaltung der Selbständigkeit des Luxemburger Landes: 'D' Nation, Organ vum Letzeburger Nationalissm' (seit 1915). Reden in der Mundart hielten einzelne hervorragende Luxemburger, so der frühere Kammerpräsident K a r l M e t z (aber außerhalb der Kammer) und der Staatsminister E y s e h e n (formvollendete Reden auf Lentz und bei der Einweihung des Dicks-LentzDenkmals). Der Abgeordnete M a t h i a s K a s p a r S p o 0(1837—1914) hielt zum ersten Male eine packende luxemb. Rede in der Kammer, aber auf Antrag des Präsidenten Karl Simons fügte das Haus am 10. Dezember 1896 in das Reglement eine Bestimmung ein, wonach die Mundart in den Kammerreden ausgeschlossen sein soll. Das war weder liberal noch demokratisch gehandelt, da infolgedessen einzelne Abgeordnete, die weder das Französische, noch das Hochdeutsche genügend beherrschen, zum Schweigen verurteilt sind. Erzählungen in Prosa schrieben N. S t e f f e n - P i e r r e t , M. K . S p o o und S i g g y . Der einzige Roman in der Mundart ist: 'D' Kerfegsblom' (Die Kirchhofsblume), eng Geschieht aus dem aie Letzeborger Volleksliewen an der Muselsproch' (1921—25, 2 Bände). A d o l f B e r e n s erzählt darin den Einfall der Franzosen 1792, wo ein junges Mädchen in Grevenmacher sich aufopferte, um die Stadt vor der Zerstörung zu bewahren. In einem sprachlich sehr reizvollen und volkskundlich wertvollen Vortrag 'De gud al Zeit' (Die gute alte Zeit) 1925 schildert B a t t y W e b e r das Kirmesleben an der Mosel in der Zeit von 1870—80. F. T h y e s Essai sur la poésie luxembowgoise 1854. T . K e l l e n Luxemb. Dichter, Magazin für Literatur 1894 Nr. 29; Luxemb. Dichter u. Schriftsteller, Beilage zur Allgem. Zeitung 1894 Nr. 216, 264; 1895 Nr. 36, 45. M. B l u m Beiträge gur Literaturgeschichte des Luxemb. Dialekts 1. Heft 1899, 2. Heft 1913; Bibliographie Luxembourgeoise 1902—1913 (noch unvollendet). J.

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LYRIK

K e i f f e r La litUrature du Grand-DuMde Luxembourg 1903. N. W e l t e r Die Dichter der luxemb. Mundart 1906; Das Luxemburgische u. sein Schrifttum 1914, '1925 (mit Proben). T. Kellen.

Lyrik. A. Theorie. § 1. Die lyr. Gattung. — § 2. Wesen der Lyrik: Erlebnis u. Stimmung. — § 3. Subjektivität u. Unmittelbarkeit. — § 4. Das Typische u. Symbolische. — §5. Grundkräfte u. umgestaltende Faktoren: a) Der Weg zum Urbild, b) Das Abirren zur Allegorie, c) Das Urbild bei Hölderlin, d) Umgestaltende Faktoren. — § 6. Zuständlichkeit u. Gegenwärtigkeit (Stoff u. Geschehen). — § 7. Rhythmik u. Metrik. — § 8. Versuche einer Typenbildung (Einteilungsprinzipien). — § 9. Die Lyrik des Intuitiv-Seelischen. — § 10. Die Lyrik des GeistigVisionären u. der Meditation. — j 11. Die Lyrik des Naiv-Herzlichen. — § 12. Grenzformen.

§ 1. Der Begriff L. ist nach zwei Seiten hin ausdeutbar, je nachdem man vom Gehalt oder von der Gestalt ausgeht. Dem Gehalte nach begreift man unter L. alle Wirkungswerte der Wortkunst, die in überwiegendem Maße Träger einer einheitlichen Stimmung sind und diese Stimmungswelle im Rhythmus ausschwingen lassen. Dabei fallen die Grenzen der Gattungen; denn in diesem Sinne ist L. auch in dramatischen und epischen Gebilden als Teilelement möglich. Der Gehaltbegriff scheint also erst einmal der weitere zu sein. — Der Gestaltbegriff L. deckt sich äußerlich mit dem entsprechenden (bisherigen) Gattungsbegriff. Verhältnismäßig kürzere metrische Wortkunstwerke, die seelische oder geistige Erlebnisse in gereimter oder freirhythmischer Form als motivlich-stofflich und zeitlich relativ begrenzte Ausschnitte aus der kausalen Verflochtenheit der Wirklichkeit herausheben und in der sprachlichen Prägung festzuhalten suchen, pflegt man der lyr. Gattung zuzurechnen. Dieser — heute gelockerte — Gattungsbegriff würde etwa Klopstocks 'Messias', Stellen aus dem 'Werther', aus Luthers Bibelübertragung, aus Kleists, Hölderlins, Grillparzers, Hofmannsthals, Sorges Dramen, aus Nietzsches „Prosa" u . v . a . ausschließen. Er scheint also enger zu sein als der Gehaltbegriff. Nun aber zieht der Gestaltbegriff andrerseits Formen hinein: Versfabel, gereimte Schwänke, Verserzählungen, Parabeln, Epigramme, Spruchdichtung, Romanzen und Balladen u. v. a., die für den Gehaltbegriff schwerlich tragbar sind. In

diesem verfehlten Sinne wäre also L. als Gattung weiter als L. als Gehalt. Das mag andeuten, wie verwickelt sich diese Dinge dem erörternden Verstände darbieten, während die nachempfindende ästhetische Einfühlung selten vor Zweifeln der Zuordnungsfrage zögernd haltzumachen braucht. Die Unzulänglichkeit des älteren Gattungsbegriffes wird selten empfindlicher spürbar als bei der Lyrik. Grob vereinfacht: ihr pflegt man zuzuschieben, was bei der Dramatik und Epik nicht gut unterzubringen ist. Gerade bei der L., wo Gehalt und Gestalt so innig verschmolzen sind (Dichtung des „einen Gusses"), dürfen Gehaltund Gestaltbegriff sich nicht unversöhnlich widerstreiten. Der Gestaltbegriff, der bisher die „lyrische Gattung" bestimmte, muß innerlich brüchig sein, wenn er einerseits den Gehaltbegriff nicht zu umschließen vermag, anderseits aber willkürlich über ihn hinausgreift. Lange Zeit hindurch haftete dieser Gestaltbegriff am Reim. Der Reimschmied galt als Lyriker. Diese Stufe wurde um die Mitte des 18. Jhs. überwunden (Lange, Pyra, Klopstock), das reimlose metrische Gebilde drang zur Gleichberechtigung durch trotz scharfer Gegenwehr. Die zweite Stufe band die lyrische Form an die Metrik, an den Vers. Sie reichte bis in das 20. Jh. hinein. Was immer daherkam im noch so schäbig zusammengeflickten metrischen Kleid, im „Versgewande", und zudem noch „kurz" war, galt schlechtweg als Erscheinungsform der lyrischen Gattung. Epigramm (in weitester Beziehungsferne von aller Lyrik), versifizierte Fabel, metrisch klapperndes Sprüchlein und manches andere fiel unter diesen Begriff. Auf dieser Stufe steht durchaus noch das einst verdienstliche Werk von R. M. Werner 'Lyrik und Lyriker' (1890), dessen klassifizierenden Schematismus (vgl. Werners Tabellen) Hirt mit erquickender Klarheit, wenn auch ein wenig scharf als „groteske Pedanterie" kennzeichnet. Historisch gerechter gewertet, zeigt sich, daß Werner, ohne sich auf brauchbare Vorarbeiten stützen zu können, eben nur dem Vorbild der damals in fast alle Disziplinen eingedrungenen naturwissenschaftlichen Methode gefolgt ist, der sich ja selbst ein Scherer ('Poetik')

LYRIK nicht ganz zu entziehen vermochte. Daß diese Methode für die wesenhafte Erfassung der Lyrik besonders ungeeignet war, übersah der Verfasser, der ausdrücklich den ursprünglich geplanten Titel 'Physiologie der L.' erwähnt und damit die naturwissenschaftliche Einstellung seines Buches selbst betont. Wir stehen heute auf der Stufe, die den metrisch gegliederten stofflichen „Inhalt" als unwesentlich beiseiteschiebt, dagegen in hohem Grade die r h y t h m i s c h e E i n heit als Wertmaßstab für lyrische Wortkunst heranzieht (vgl. § 7). Dementsprechend schaltet man neuerdings (früher sprach man im richtigen Gefühl der Unzulänglichkeit des Gestaltbegriffes von „eigentlicher Lyrik im engeren Sinne" und „Lyrik im weiteren Sinne") alle jene Sondergruppen aus, die nur ihrem metrischen Kleid die Zuordnung verdankten (Epigramm u. a.), und weist sie teils der Epik, teils der bloßen Rhetorik zu im begrüßenswerten Bestreben, den veralteten Gestaltbegriff dem inzwischen nicht unwesentlich veränderten Gehaltbegriff anzupassen. E. Hirt, dessen scharfe Grenzsetzung Misch- und Übergangsformen als verwirrend ablehnt, löst selbst die ja nie recht organisch sich einfügende Ballade aus der lyrischen Gattung und ordnet sie der Epik zu. Wenn man die historische Entwicklung der neueren Balladenform aus der Verserzählung des Bänkelsängers berücksichtigt, so erscheint diese Zuteilung durchaus nicht nur deduktiv erzwungen. Auch ließe sich die neue Kunstform der Ballade vielleicht als moderne Ablösungsform (Kurzform) des alten Epos deuten, wobei die Konzentration das dynamisch-dramatische Element verstärkt hätte. Die Außenseiterstellung der Ballade versuchte man sonst wohl einzubeziehen durch die Sonderbezeichnung „balladeske L . " gegenüber der „liedhaften" und „hymnischen L . " . § 2 . D a s W e s e n der L y r i k . E r l e b nis u n d S t i m m u n g . Während die Gestaltungs- und Wirkungsformen der L. erst in neuerer Zeit tiefer greifende Deutungen gefunden haben, wurde ihr Wesen frühzeitig erfaßt als ein unmittelbar sich im Wort Erlösung setzendes subjektives

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Erleben, als reiner Gefühlsausdruck einer ichbezogenen Stimmung. So charakterisierte sie etwa schon H e b b e l als diejenige Dichtungsform, „worin das H e r z seine Schätze niederlegt", und 0 . H a r n a c k als „Ausdruck des Empfindens'', so sah B. L i t z m a n n „ihre eigentliche Bestimmung" darin begründet, „den unmittelbarsten, subjektivsten Gefühlen und Stimmungen des menschlichen Seelenlebens künstlerischen Ausdruck zu geben". Im Grunde wird diese Auffassung auch heute festgehalten, wie denn etwa E . H i r t schlicht zusammenfaßt: „Das lyrische Gedicht ist einfach das Wort für ein Gefühl." Alle Deutungsrichtungen streben schließlich doch beharrlich zurück auf dieses innere Wesenszentrum; und Bezeichnungen wie Stimmungslyrik und Erlebnislyrik stellen sich eben nur bewußter ein auf diesen wesenhaften Beziehungspunkt und bleiben doch letzten Endes Pleonasmen, weil „echte" L. die Bildungskräfte Erlebnis und Stimmung bereits notwendig in sich schließt. Nicht die Stoffweite oder Bedeutungshöhe des Erlebnisses sind maßgebend wirksam, sondern vielmehr die erschütternde Kraft, das seelische Durchdrungensein. Dabei darf der Wert des Wirklichkeitserlebnisses nicht einseitig überschätzt werden. Gewiß wird das hinterm Wasserglas entstandene Trinklied entsprechend nüchtern ausfallen, und das fingierte Liebeslied über die kalte Farbenpracht eines Feuerwerks schwerlich hinauskommen. Aber ob Liliencrons Liebesdichtungen deshalb unbedingt künstlerisch wirkungsvoller geworden sind, weil sie z. T. unmittelbar nach dem Rausch einer Liebesnacht konzipiert wurden, zieht schon E r m a t i n g e r mit Recht in Frage (S. 42). Gerade weil L. so ganz im Gefühlsmäßigen wurzelt, darf hier die Wertung des Erlebnisses nicht abgleiten in die recht materialistischnaturalistische Ansicht, als ob der Lyriker eben nur seelische oder schließlich sogar physische Reizwellen im Wort aufzufangen habe, wie etwa ein Seismograph Erderschütterungen nachzeichnet. Ebensowenig wie Dichtung schlechthin als ein Nachzeichnen objektiver Wirklichkeit gelten kann, darf L. mit einer bloßen Aufzeichnung subjektiver Wirklichkeit gleichgesetzt werden.

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LYRIK

Erlebnisumsetzende, erlebnisersetzende, erlebnisergänzende und vor allem erlebnisklärende Faktoren (s. d. Art. Dichter) heben das Nach- und Neuerleben im Kunstwerk erst empor über ein bloßes, reales Gegebensein. Das erlebnisverklärende (intensivierende) Element, das keineswegs mit billiger Schönfärberei zu verwechseln ist, seine Helle vielmehr aus jener Lichttaufe innerer Erleuchtung empfängt, die das real Gegebene überstrahlt und umschmilzt in ein symbolhaft Geltendes, schlägt aber schon die Brücke vom reinen Realerlebnis zum Idealerleben, zum Wunscherleben, das nicht der Sättigung folgt, sondern der Sehnsucht, der Erfüllung zudrängt. Und es ist kaum zweifelhaft, daß ein intensives Wunscherleben an lyrischer Triebkraft nicht notwendig dem Realerlebnis nachstehen muß. Im Grunde erlöst ja auch beim dichterisch gestalteten Realerleben der Dichter nur die erwärmenden und verklärenden Wunschkräfte, die er selbst hineingelebt hat; denn sein EmpfindungsUberschuß und sein Gestaltungswille sind schon in das Wirklichkeitserlebnis schöpferisch umgestaltend übergegangen, um nun aus dem d i c h t e r i s c h D u r c h l e b t e n in erlebte Dichtung zurückzuströmen. Oder wie Goethe es ausspricht: „Indem der Künstler irgendeinen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen, daß der Künstler ihn in diesem Augenblicke erschaffe." Da das Erlebnis, wenn es „Anlaß" des Gedichts sein soll, äußerlich notwendig abgeschlossen sein muß, Dichtung aber nicht ein Fertiges, Abgeschlossenes, sondern lebendig Werdendes darstellt, so setzt man statt Erlebnis besser „Erleben". Erleben nämlich, rückgreifendes, nachschaffendes Erleben (Realerlebnis), vorgreifendes, neuschaffendes Erleben (Wunscherlebnis) bleibt das Umfassendere, das auch ein gedankliches Erleben (Gedankenlyrik) nicht als „unlyrisch" ausschaltet. A n Stelle von „Stimmung" aber trifft vielleicht besser das „Gestimmt-Sein" das Wesentliche, das Gestimmtsein nämlich auf eine bestimmte K l a n g f a r b e der Empfindung. Denn die Bezeichnung Stimmung ist vielfach — besonders in den

ersten Zeiten einer Theorie der L., etwa von Werner — vermischt worden mit dem Vorstellungskreis „produktive Stimmung". Was Werner (S. 251 f.) unter dem Stichwort 'Stimmung' behandelt, läuft darauf hinaus, daß er die Dichter nach der Artung oder eigentlich nur nach der zeitlichen Bindung (Nachtzeit, Morgen usw.) der schöpferischen Stimmung zu klassifizieren sucht, was natürlich nichts spezifisch dem Lyriker Eigentümliches treffen kann, sondern ganz entsprechend auch vom Epiker und Dramatiker gelten würde. Im Grunde ging es in dieser „Physiologie der L . " offenbar darum, zu registrieren, wie der einzelne Lyriker auf einen Teilfaktor des Milieus (Tageszeit) reagiert. Daß damit nichts wesentlich Lyrisches aufgespürt werden konnte, ist klar. Das Eingestimmtsein aber auf eine einheitliche Klangfarbe deutet zugleich eine ideale Forderung des reinen lyrischen Gedichts an: die K o n s t a n z der G e f ü h l s l a g e ; denn ein krasser Stimmungsumbruch (im Extrem z. B. Heines „kalte Dusche" am Schluß) wirkt durchweg als wertsenkendes, ja zerstörendes Element. Es scheint fast — wenn man empirische Fälle nachprüft, was hier leider unmöglich ist —, als ob nur ein leichter Umschwung, ein behutsames Umbiegen in eine benachbarte Stimmungssphäre und Klangfarbe für das vollendete lyrische Gedicht möglich und angemessen sei. Eine lichte Klangfärbung kann wohl leise abgeschattet werden zur Ahnung des Glücksverlustes, eine, Elegie kann wohl in gedämpfte tröstliche Hoffnungsfreude ausklingen; aber stets muß die Möglichkeit solchen Ausklangs im Grundmotiv vorbereitet sein als latente Unterströmung, die sich dem Hauptstrom anschmiegt, nicht aber mit ihm zusammenprallt. Wie die L. keine Fülle von Erlebnissen und Geschehnissen nebeneinander oder gegeneinander aufführen will (Epik, Dramatik), sondern nur das einmalig in sich ruhende Erleben gibt, so kann und soll sie auch keine reiche Stimmungswandlung (Epik), kein gespanntes Entladen und Umbrechen der Gefühlskraft (Dramatik) sich zum Ziele setzen, sondern nur das intensive Gestimmtsein auf eine in sich erfüllte und nur wenig noch variable Empfindung. — Intensität

LYRIK des Erlebens und ungebrochene Stimmungseinheit ergeben sich so als innere „Gesetze". §3. S u b j e k t i v i t ä t und Unmittelb a r k e i t . Erlebnisintensität und Stimmungseinheit bleiben indessen unfruchtbare Keimkräfte, wenn nicht der schöpferische Trieb sie zur Entfaltung bringt im künstlerisch erlebenden und dichterisch gestimmten Individuum. Der seelisch oder geistig ergriffene Dichter bleibt der zentrale Wirkungspol, von dem die L., „die dichterische Auflösung der Welt im Subjekt" (Witkop I 4), ihre Wellen ausstrahlt. Ob nicht vielleicht das Letzte, das alle Lyrik umgreift, dies ist, daß ein schöpferischer Mensch in gedrängter Gegenwärtigkeit jeweils eine Erlebnismöglichkeit seiner Wesensvielheit als Einheit und Ganzheit erlöst in der Gestaltung, einmal befreit von Mittelbarkeit und Gebundenheit, einmal emporgeworfen zum Wesenhaften, erfaßt vom Rhythmus, ergeben der Gläubigkeit, das Göttliche in sich ahnend, das Menschliche frei bekennend: daß dieses einmalige Sich-Ganz-Finden und Enthüllen Form findet im Wort als freudiges oder leidvolles Bekenntnis, als Überströmen des Herzens (das Naiv-Herzliche), als Auftrieb der Seele (das Intuitiv-Seelische), als Meditation, als Sichversenken des Geistes (das Visionär-Geistige)? — Das Monologische ( L y r i k = „Selbstdarstellung des Dichters in einem Monolog — gegenwärtiger Monolog des Dichters" E. Hirt S. 8/9), das letzten Endes aller ungekünstelten L. eigen ist, deutet hin auf das Zurückstreben aus der zersplitternden Verflechtung der Wirklichkeit zum eigenen Ich, das in der lyrischen Formung doch immer nur sich selbst ausspricht, so sehr es auch — etwa im Liebeslied — im anderen Ich aufzugehen scheint. Die Welt wird Vorstellung, gesehen vom individuellen Blickpunkt aus; das Ich setzt sich hier in der Tat selbst das NichtIch, um sich darin auszuleben, aber nicht vor allem ethisch (Fichte), sondern ästhetisch. Dies erklärt zugleich, warum wir das Lyrische — obgleich das bewußt abwägende Urteil das Drama höher zu stellen pflegt — doch gefühlsmäßig als die Urform des Dichterischen empfinden, als „das Elementarische der Poesie" (Hebbel). In der Drama-

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tik und Epik tritt durchweg der Schaffende so weit hinter die Schöpfung zurück, daß er nicht so leicht erkannt werden kann im Kern seines Könnens. Der breit ausladende Bau, den er zwischen sich und uns auftürmt, entrückt ihn unserer prüfenden Beobachtung, bietet auch dem Nur-Techniker Deckung. Die blendende Technik läßt leicht das Talent als Genie erscheinen; der komplizierte und zudem handwerksicher gebrauchte Apparat verbirgt leicht den bloßen Handwerksmeister. In der lyrischen Kurzform dagegen werden, leicht überblickbar, bloße Kunstgriffe, erschlichene Wirkungen, schneller enthüllt. Der Lyriker muß Dichter sein, wenn er mit so geringen Mitteln Vollwerte künstlerischer Leistung zu bieten vermag. Es heißt Farbe bekennen in der L., wo kein „großer Stoff" den Kleinen hebt. Der dünne Schleier der lyrischen Form ist keine massive Maske; wir sehen den Gestaltenden unmittelbar vor uns, wir fühlen — in unmittelbarer seelischer Berührung —, ob er Dichter ist. An jener Stelle, wo J . B a b den 'Sprachkünstlerischen Wurzeln des Dramas' (ZfÄsth. V I 45 f.) nachgräbt, meint er: „Formulieren wir das Formprinzip der Dichtung als das Suggestivmachen eines Innenzustandes durch Worte, so erscheinen die drei Grundformen der Poesie: Lyrik, Epos und Drama lediglich als verschiedene Grade der Verschleierung dieses Grundprozesses. In der L. tritt die poetische Form noch unverhüllt und deshalb am faßbarsten vor uns. Der Lyriker will keinen Augenblick verhehlen, daß es seine Lust und sein Leid ist, das mitzufühlen er uns zwingen möchte." §4.Das TypischeundSymbolische. Diese letzte Wendung, die Auffassung, daß der Lyriker nur „seine" Lust und „sein" Leid fühlbar machen wolle, d. h. die (impressionistische) Überschätzung der Subjektivität, bedarf indessen der Einschränkung. Sie trifft zu für den Typus des „Naiv-Herzlichen" (s. § Ii), darf aber nicht kanonhafte Geltung für das Gesamtgebiet lyrischer Ausdrucksformen beanspruchen. Vielfach wird der Lyriker nicht bei der individuellen Vereinzelung seines Fühlens beharren; er wird vielmehr von der Vereinsamung seines Erlebens hin-

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streben zum Gemeinschaftserleben, nicht zwar durch Aufgabe des Individuellen, wohl aber durch dessen Ausweitung zum Allgemeinmenschlichen. In diesem Sinne offenbar stellt H e b b e l die Forderung an den Lyriker, ,,das subjektive Gefühl zu generalisieren". Gerade dort, wo ein stark quellendes Empfinden im Wortrhythmus ausströmt, wird es gern einmünden wollen in den großen Strom reinmenschlicher Gefühle: Einzelglück möchte aufgehen in allgemeines Glücksgefühl usw. Der Zug vom starr Individuellen zum Typischen ist damit gegeben. Hier zeigt sich, daß die Forderung der Subjektivität in der L. nicht zu verstehen ist als eine plumpe Diktatur, als ein äußerliches Vordrängen der Dichterpersönlichkeit. Am Sonderfall eines subjektiven Erlebens haften viele unwesentliche Begleitumstände, die den „Erlebnisfall an sich" eher verhüllen als offenbaren. Auch der Lyriker hat dem höheren Gesetz des Dichters (s. Art. Dichter) zu folgen in der Scheidung von zufällig-mechanisch Verbundenem und notwendig-organisch Verbundenem. ZufälligPersönliches (Name, Ort, Zeit, Verhältnisse usw.) — so sehr es auch äußerlich am Erlebnis beteiligt gewesen sein mag — wird daher der echte Lyriker ausschalten, dagegen alle Gefühlswerte als verstärkend hineinziehen, die organisch in sein Erleben einzugehen und es allgemein-menschlich auszuweiten vermögen, selbst wenn sie nicht irgendwie mit dem Sonderfall ursächlich verknüpft und gegeben waren. Das Einzelerleben wird so zum Symbol für ein Allgemeinerleben. Es gibt sich nicht mehr unmittelbar als ein Einzelnes, sondern wird Mittler eines Allgemeinen. Noch von einer anderen Seite her erleidet die Unmittelbarkeit eine Einschränkung. Das Symbol der Sprache kann auch die reine Ausdruckskunst der L. nicht entbehren. Die Sprache aber wird beim Lyriker noch weit mehr als beim Dramatiker und Epiker in ihren symbolischen Geltungswerten wirksam, weil hier alles n u r Sinnvolle, Verstandesmäßige, Logisch Verknüpfte der Wort- und Satzfügung nebensächlich wird entsprechend der Nebensächlichkeit eines sachlichen Inhalts oder kausal verknüpften Geschehens (s. § 6).

Nicht die sinnhaft-logische Bedeutung der Sprachprägung steht daher im Vordergrunde, sondern die seelisch-dumpfe Andeutung, das Symbolische. — Ebenso wie das Typische dem Lyriker ungewollt und zwanglos aus dem Individuellen zuströmen muß und nicht dem Aufnehmenden (Hörer) bewußt aufgedrängt werden darf, soll auch der symbolische Geltungswert dem Dichter ungewollt zuwachsen, nicht aber herangezerrt und erläuternd dargelegt werden (Schwäche der Rationalisten, vgl. E r m a t i n g e r S. 291). § 5. G r u n d k r ä f t e u n d u m g e s t a l t e n d e F a k t o r e n , a) Indem der Lyriker eine Erlebnismöglichkeit als ein geschlossenes Ganzes heraushebt aus der Unbegrenztheit der Erlebnisfülle, kann er durchaus beim Ich stehenbleiben, kann aber auch die ganze Welt erleben unter dem ihn gerade beherrschenden Aspekt dieser Erlebnismöglichkeit, ja, er kann ins Weltall hinausgreifen (L. des kosmischen Allgefühls) und doch alle Strahlungen im Brennpunkte eben des einen Erlebens sammeln („Intensität im Punkt", Hirt). Sobald ihn dies eine Erleben gepackt hat durch Eingriff eines Realerlebnisses, durch Verdichtung einer Stimmung, durch Wunschkraft eines Ersehnens, sinkt alles Auch-Mögliche daneben zurück; die Möglichkeit ist jetzt schon Notwendigkeit geworden. Sie fordert nur noch die notwendige Formgebung; denn absolut unmittelbar ist selbst die L. nicht, da sie nicht beim Seufzer, beim Klagelaut, beim Schrei, beim Jubelruf stehenbleibt, sondern im Ausdruckswert des Wortes Erlösung und Mitteilung erstrebt (Grenzen der Ausdruckskunst). Halb noch verhüllt, tänzerisch noch hierhin und dorthin schweifend, schwebt die Empfindung dem Dichter vor in der inneren Schau. Es gilt, sie zu ertappen im Augenblick der unverhüllten Nacktheit (Gefühls-Lyrik); es gilt, den Gedanken festzuhalten im Moment des hellsten Wachseins oder des stärksten, tiefsten Ahnens (Gedanken-Lyrik). Der Lyriker verfolgt gleichsam die Empfindung bis zu jener reinen Höhe, wo sich das schattenhafte Abbild nähert oder in glücklichen Fällen einfügt dem U r b i l d (Plato). Das lyrische Gedicht ist letzten Endes der Weg,

LYRIK den er dabei gegangen ist: alle Attribute und Stimmungsträger, die er heranzieht, sind wie Wegzeichen, denen er gefolgt ist und deren wesentlichste er stehenläßt, in erster Linie, weil sie ihm ewige Denkmäler sind für sein Erleben, dann aber auch, damit der Nach-Empfindende (Leser, Hörer) ihm folgen kann und mehr: ihm folgen muß. Der Zwang nämlich, unter dem durch die Erlebnisintensität sein Schöpfungsprozeß stand, soll und darf auch die entsprechende Eindruckswirkung erzwingen. In diesem Sinne ist das lyrische Gedicht die sinnlich-schöne Verewigung eines an sich vergänglichen Erlebens in seiner lautersten und reinsten Ursprünglichkeit und seiner zwingendsten Ausdruckskraft. Es ist das Suggestivmachen «iner Empfindung, eines Ahnens durch das Medium des bannenden Wortes. Seine Vollendung liegt — von dieser Seite her gesehen — darin, daß es weiter nichts will, als reinen Ausdruck geben, wohltuend uns aufschließen zum Nach-Fühlen und Nachsinnen, aus Dumpfheit erlösen und zum Einmaligen sammeln aus all der Zersplitterung des Alltags; nicht aber schildern und berichten (Epik), nicht spannen, verwickeln und lösen (Dramatik). So bedeutet jede künstliche, nachträgliche Aufschwellung 'Wirkungslähmung; jede Ballung, jede Kürze aber Wirkungssteigerung. Es ergibt sich als inneres Gesetz Konzentration, Verdichtung. — Nur Analysen an Beispielen könnten hier überzeugende Erläuterung geben. Es sei verwiesen auf die Vergleichsfälle einer lyrischen Formgebung der Nachtstimmung, die H i r t (S. 2iof.) zusammenstellt, um den stimmungsgemäßesten Rhythmus aufzuspüren. Doch läßt sich dort auch nachprüfen, wie die einzelnen Dichter (Gumppenberg, Keller, Mörike, Nietzsche) auf verschiedenen Wegen dem Grundwesen (Urbild) einer Nachtstimmung zustreben. b) Es gibt einen Typus, der sich kurzerhand den ganzen Weg ersparen zu können glaubt, scheinbar gleich beim „Urbild" anfängt und dann d e d u k t i v sich ausbreitet: die Allegorie. In Wirklichkeit aber geht sie von einer nüchternen Begriffsabstraktion aus, schiebt eine erdachte Verstandesformel für das erlebte Urgefühl

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unter und verbirgt das fleisch- und blutlose Gedankenskelett höchst geflissentlich, aber doch durchweg unzureichend unter dem Flitterkleid allegorischer Attribute. Die Personifikation, die dabei über das Tote hinwegtäuschen soll, arbeitet aber mit indirekter (formulierter), nicht mit direkter (gestalteter) Charakteristik; und so ergibt sich als typisches wertsenkendes Element die Formel. Die zum handwerklichen Kunstmittel erstarrte Formel ist jedoch in eben dem Maße das Zeichen einer dem individuellen Ausdruckswillen noch nicht erschlossenen oder ihm schon wieder entfremdeten, mechanisierten Kunstübung, wie die „geprägte Form, die lebend sich entwickelt", die gefühlswarme Prägung aus persönlichem Erleben heraus, das Kennzeichen lebendig geformter Lyrik bleibt. Zeiten, in denen das Bewußtsein persönlichen Sonderwertes noch unausgebildet oder wenig kräftig entwickelt war, bevorzugten deshalb auch in der L. die Formel (s. d.). Ebenso sind die formelhaften Elemente im Volkslied kritisch zu beurteilen, teils als historisch übernommene typische Wendungen, teils als Notbehelfe •eines formenarmen und unbeholfenen Kunstwollens niederer Volksschichten, aus denen sich die Persönlichkeit noch nicht vollbewußt heraushebt, teils als erleichternde Gedächtnishilfen für eine überwiegend m ü n d l i c h e Überlieferung. Bei aller naiven Gefühlsfrische des Volksliedes dürfen doch diese minderwertigen Faktoren nicht übersehen werden, die eben nur dann Erlebniswert erhalten, wenn der Hörer (bzw. Sänger) eignes Erleben hineinlegt. Auf jüngeren Entwicklungsstufen der L. kennzeichnet die Vorherrschaft der Formel durchweg das Absinken, Erstarren und Verkümmern der Form (s. d.) zur Manier. — Wie von der fertigen Verstandesformel nicht ausgegangen werden darf, so ist überhaupt die Kraft des Ahnens stets triebkräftiger für lyrische Gestaltungen als die Klarheit verstandesmäßiger Erkenntnis. Der Lyriker drängt mehr zum ahnenden Erfaßtsein, Ergriffensein als zum wissenden Erfassen, Ergreifen und Begreifen des Urbildes seiner Erlebnisstimmung. c) An der hymnischen L. eines reinen Lyrikers wie Hölderlin läßt sich dieDivergenz

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von Urbild und Allegorie besonders klar erläutern und so auch eine Bestätigung finden für das Hindrängen zum Urerlebnis, zum Urtypus eines einheitlichen Grundgefühls. Hölderlins Hymnen 'An die Göttin der Harmonie, an die Freiheit, an die Menschheit, an die Schönheit, an die Freundschaft, an die Liebe, an den Genius der Jugend'; auch Dichtungen wie 'Das Schicksal', 'Dem Genius der Kühnheit', 'Dem Gott der J u g e n d ' : sie alle könnten dem Titel nach auf Allegorien schließen lassen. In Wirklichkeit aber entschleiert sich hier das Urbild nicht als allegorische, sondern als mythische Gestalt dem Seher, der an dem schattenhaften Abbild kein Genüge findet: „ E w i g muß die liebste Liebe darben — Was wir lieben, ist ein Schatten n u r ! " Zugleich wird hier die individuelle Schicht des Einzelerlebens durchstoßen im Hinabsteigen zu den „Untergründen des Typischen" (s. § 4). d) Ähnliche Urbilder, Urtypen, verursachen nun aber keineswegs Gleichheit in den sich ihnen nähernden Abbildern. Die unendliche Mannigfaltigkeit, wie sie gegeben ist, widerspricht nicht dem Hinstreben zu derartigen Grundkräften, sondern erklärt sich daraus, daß j a das Urbild (das Göttliche, die Liebe, Freundschaft, Vaterlandsliebe, Menschheitsliebe usw.) sich in verschiedenartigen Individuen notwendig verschiedenartig widerspiegelt, daß unendlich reich verzweigte Wege dem Ziele zuführen, und daß schließlich je nach dem Grade der Erlebnisintensität und der schöpferischen Stoßkraft die verschiedenen Lyriker sich verschieden weit dem Urbilde nähern. Gerade die Fähigkeit, immer neue Zugänge zu erzwingen zu demselben Gefühlskomplex, immer neue Bahnen zu ertasten, immer neue Stufen (Abstufungen) zu ersteigen, ist j a die große Gabe und unerschöpfliche Aufgabe des Lyrikers. Neben die individuell umgestaltenden Faktoren treten dann vor allem die Modifikationen durch zeitlich gebundene Bildungskräfte; denn eine Gattung, die so empfindlich sich einstellt auf Stimmungen, schmiegt sich natürlich auch besonders innig der allgemeinen Zeitstimmung und ihren Wandlungen an. Zwar nicht an „aktuelles" Geschehen, an „zeitgemäßen" Stoff, an

„brennende" Tagesfragen sollte sie sich verlieren — hier liegen Gefahrenzonen, denn ihr Wesen ist nicht Stoffbehandlung (s. § 6); wohl aber macht sie ihre fein gestufte Eindrucksempfänglichkeit besonders geeignet, das jeweils vorherrschende Weltgefühl, die dominierende Lebensstimmung einzufangen und damit eben das zu erfassen, was als verbindende Grundkraft einer Zeit alle stofflichen Sonderformen, alles vereinzelte Geschehen vereinheitlichend durchdringt. In diesem Sinne wäre etwa „patriotische L . " möglich und wertvoll (Kleist), wenn wirklich das große Weltgefühl, die herrschende LebensStimmung hindurchleuchtet, während rein „politische L . " stets höchst problematisch bleiben muß. §6. Z u s t ä n d l i c h k e i t u n d G e g e n w ä r t i g k e i t (Verhältnis der L . zu S t o f f und G e s c h e h e n ) . Schon 0 . H a r n a c k hatte bei der Kennzeichnung der „metaphorischen L . " die Stoffweite mit richtigem Instinkt vorsichtig eingeschränkt; nur „in irgendeiner, wenn auch noch so kurz angedeuteten, von der Phantasie geschaffenen Schilderung oder Erzählung" soll sie das „Spiegelbild" des stimmungshaften „Zustandes" geben. Im übrigen hatte er ihr gegenüber die „rhetorische L . " als ein unmittelbares Sich-Aussprechen des Dichters weit höher gestellt und diesem Typus vor allem überragenden Ewigkeitswert zugesprochen. Seitdem ist die rein stoffliche Wertung mit Recht immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Während bei der Epik und Dramatik das inhaltliche Geschehen Träger der Stimmung ist, könnte man bei der L . fast umgekehrt sagen, daß die Stimmung hier Trägerin des Stofflichen bleiben muß, etwa in dem Sinne, daß der stoffliche Inhalt als bloßer „Gelegenheitsmacher" für die Stimmung zu gelten habe. Dabei ist die L . eine sehr empfindliche Trägerin, die unter stofflicher Überlastung leicht zusammenbricht. Ballade und Romanze einerseits (Geschehen), rein realistische Naturschilderungen andrerseits (Stoff) deuten an, wo ungefähr die Grenzen der Tragfähigkeit für die ungebrochene lyrische Wirkung liegen. Irgendwelcher Eigenwert kommt dem Inhalt eigentlich nur dann zu, wenn das Gedicht

LYRIK — unlyrisch — ins Epische oder Dramatische abirrt. Demnach birgt die Frage nach dem stofflichen „Inhalt" einer lyrischen Dichtung im Grunde schon eine abschätzige Kritik in sich und bleibt gegenüber aller wertvollen L. sinnlos oder zum mindesten abwegig und irreführend. Der eigentliche „ S t o f f " des Lyrikers ist das rhythmisch bewegte Wort; sein „Thema" ist Gefühls- oder Gedankenerleben. Stoffliche Elemente sind bloße untergeordnete Träger seiner „Gefühls- und Gedankenmelodien". Auch nicht die kausale Verknüpfung von Ursache und Wirkung zum Ganzen eines logisch motivierten Geschehens ist seine Aufgabe, sondern die lockere Komposition eines Grund- und Leitmotivs von einheitlicher Klangfarbe. Alle inhaltlichen Werte sind nicht verschweißt zur festen Kette, sondern schweben wie Stoffteilchen in einem Lichtstrahl (Grundstimmung), der alle mit der e i n e n Farbe durchleuchtet und durchtränkt. Selbst im vielfach episch belasteten Volkslied beweist das „Sprunghafte", wie wenig es in der L. auf den äußeren Zusammenhang eines Geschehens ankommt. Eben das Kreisen um den einen Erlebnispol gibt den lyrischen Gebilden bei aller dynamischen Bewegtheit des Wortes doch im Wesen etwas Ruhendes, Abgerundetes: die volle Gegenwärtigkeit eines Innenzustandes, das Beharren in einer Seelenlage. Das will offenbar H i r t treffen, wenn er sagt: „Alles Leidvolle, Freudvolle, alles menschliche Erleben mündet in eine Pause, in einen Zustand, und der will ausgesprochen, in L. erlöst werden" (S. 193). Das Abrollen einer Handlung entspricht nicht dem Wesen der L. „Das Allgeschehen [etwas unklarer Hilfsbegriff Hirts] selbst und in ihm das Erleben des Dichters, sie sind die Handlung; wir aber hören in der L. nur den Ausklang, die Erlösung im Lied." — Das Hineingetauchtsein in einen Gefühls- oder Ideengrund bedingt das Zuständliche; das Ganz-Erfülltsein fordert die Gegenwärtigkeit, die „Allgegenwart". Daher erfaßt W a l z e l in scheinbar Äußerlichem doch Wesentliches, wenn er bei der 'Zeitform im lyrischen Gedicht' den Hang nachweist, das Nacheinander eines Vorganges in die Gegenwartsform zu über-

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tragen (vgl. auch E r m a t i n g e r S. 316—17). So erhält auch die schöne Prägung H. v. H o f m a n n s t h a l s tiefere Bedeutung: „ J e des vollkommene Gedicht ist Ahnung und Gegenwart, Sehnsucht und Erfüllung zugleich." §7. R h y t h m i k und M e t r i k . Die in § 1 erwähnte Bindung der lyrischen Gattung an die metrische Form des Verses lockerte sich in dem Maße, wie der freie Rhythmus — besonders seit Nietzsche — immer machtvoller zur Geltung strebte. Die Praxis ging auch hier wegfindend der Theorie voraus, die aber vereinzelt recht frühzeitig folgte. Wenn der Expressionismus die Welt des Rhythmischen neu entdeckt zu haben glaubt, so hatte er selbst in der Theorie — denn die Praxis greift noch viel weiter zurück auf Klopstock, den jungen Goethe, Herder u. a. — bereits einen Vorläufer in A. H o l z ('Revolution der Lyrik' 1899) anzuerkennen, der allerdings von durchaus naturalistischen Voraussetzungen aus die Befreiung vom „unnatürlichen" Zwang metrischer Gesetze forderte. Die Bewegung stand dabei in Zusammenhang mit dem allgemeinen Interesse für Psychologie und Physiologie. Faßten B ü c h e r und B r u c h m a n n das Problem des Rhythmischen schlechtweg als einer naturgegebenen Ausdrucksform des menschlichen Leibes, hinüberwirkend ins Geistig-Seelische, gingen starke Anregungen von J . R u t z und bes. 0 . R u t z aus, so wurde von E. S i e v e r s die rhythmische Klangfigur geradezu als Kriterium derTextkritik herangezogen, währendS a ra n mehr von der Metrik her vorging, N o h l in Anlehnung an Ditheys Weltanschauungstypen 'Typische Kunststile in Dichtung und Musik' (1915) aufzustellen sich bemühte (seinTypus I I I kommt bes. für die L. in Betracht), und schließlich E r m a t i n g e r (allerdings kritisch) und vorbehaltloser sein Schüler H i r t im Rhythmus eine Grundbildungskraft aller lyrischen Gestaltung anerkannte und gebührend betonte. Hatte noch O. H a r n a c k im Rhythmus ein bloßes „Anregemittel" für die Stimmung des Lesers (Hörers) gesehen, hatte B. L i t z m a n n — die Bedeutung des Rhythmischen nicht übersehend, aber noch vorsichtig einschränkend — den Gefühls- und Stim-

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mungsausdruck gefordert „in einer dem Inhalt sich anschmiegenden, den Inhaltsgedanken begleitenden, a b e r nie ü b e r t ö n e n d e n , rhythmischen Form", also den Rhythmus noch dem Inhalte dienend untergeordnet, so macht Hirt umgekehrt die stofflichen Elemente („Realien") dem Rhythmischen dienstbar: „Jedes lyrische Gedicht fließt in einem eigenen Rhythmus daher, dessen Tempo durch die Erschütterung des Erlebnisses ursprünglich bestimmt ist und den die symbolischen Realien aus der bewußten Welt mit ihrem Stimmungsgehalt zum vollen Ton füllen. Dieser Ton, dieser Rhythmus i s t das Gedicht." Tanz und Musik standen wohl an der Wiege aller L.; und wenn H e r d e r von den „unzertrennlichen Schwestern" Musik und Poesie sprach und die Dichtung geradezu „eine Musik der Seele" nannte, so dachte der Herausgeber der 'Volkslieder', der Erwecker Goethischer Erlebnislyrik, vor allem an die L. — Unzweifelhaft führt die Beobachtung der Rhythmik tief in die lyrische Sonderform hinein. Sie läßt als unmittelbare Ausdruckskunst jene zarten Schwingungen der Stimmung oder jene mächtigen Wallungen spontaner Leidenschaften nachbeben im Sprachklang und hinüberströmen in die Seele des Hörers. Vom tänzerisch freudigen Rhythmus im Liebeslied, über die getragen-weiche Gangart der Elegie, über den gebändigten, oft gekünstelten Taktschritt des Sonetts bis hin zu dem wallenden Schreiten der Ode und der Hymne: immer ist der Rhythmus in hohem Maße Wirkungsträger lyrischer Werte. Aber diese Sonderformen wären ja auch noch der Metrik zugänglich. Dagegen vermag allein die Rhythmik das Eingestimmtsein des einzelnen Dichters auf eine ihm spezifisch eigene Klangfarbe in der Sprachmelodik aufzuspüren. Die Normgruppen der Metrik sind bloße Sachund Gestaltgruppen, die, zudem stark begrenzt, nur wenige Takt- und Tonwerte in ihrem Verhältnis erfassen und aufstellen, ohne ihre künstlerische Ausdruckswirkung besonders zu betonen; in gewissem Grade geben sie nur Mittel zum Zweck der Versdeutung und -bildung durch Festlegung eines Taktmaßes. Die Rhythmik aber wertet künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten, die

dem individuellen Ausdruckswillen je nach seiner Artung als innere Notwendigkeit unwillkürlich sich aufdrängen; erfaßt wird hier die rhythmischeWelle als Erscheinungsform seelischer oder geistiger Erschütterung. Die Art einer derartigen rhythmischen Welle wird vor allem bestimmt durch ihre beiden Ansatzpunkte: I. die Ausdrucksquelle (Individuum) und 2. das Ausdrucksziel (Urtypus des ausgedrückten Gefühls: Schmerz, Freude usw.). Ein an sich etwa auf lebhaft bewegten Rhythmus eingestimmter Lyriker wird dennoch bei einer vorübergehenden Depressionsstimmung und ihrem Ausdruck in einer Elegie dem müden Rhythmus sich anpassen usw. Ob und inwieweit zur Zeit der Rhythmus in Reaktion gegen das Metrum überschätzt wird, sei hier nicht näher erörtert. Nur ein Bedenken sei kurz berührt. Das Rhythmische ist an sich eine allgemeine Lebenserscheinung, auch eine allgemeine Erscheinung im Sprachleben. Es wirkt in der Prosaepik ebenso wie im Drama. Schwerlich erfassen wir etwas SpezifischLyrisches, wenn wir ausschließlich beim Rhythmus die Grundkraft suchen. Zugleich äußert sich auch in diesem Falle — unserem romantischen Zeitgeist entsprechend — die „Öffnung" der Form und die Vermischung der Künste (Tanz, Musik). Die Gefahr in der praktischen Kunstübung liegt darin, daß man bald mit bloßen Wortrhythmen „Gefühle" durch Kunstgriffe wird erzwingen wollen, anstatt daß das Gefühl unbewußt den Rhythmus erzwingt. §8. V e r s u c h e e i n e r T y p e n b i l d u n g (Einteilungsprinzipien). Abgrenzungen, Gruppen- und Typenbildungen sind gerade bei den fließenden Formen lyrischer Dichtung und dem Reichtum ihrer Stufungswerte um so schwerer durchführbar, als weder an das bloße Metrum noch an den inhaltlichen „Stoff" angeknüpft werden darf. Allerdings, wenn man, wie W e r n e r , inhaltliche Ähnlichkeiten als Zuordnungskriterien zugrunde legt, dann lassen sich ganze Tabellen von Typen aufstellen, die aber — durchweg beim Äußeren stehenbleibend — die Übersicht eher erschweren als erleichtern. Der naturwissenschaftliche Ehrgeiz, möglichst jede Sonderform zu klassifizieren, erweist sich für den Kunst-

LYRIK theoretiker als gefährlich, weil die großen Grundlinien eher verwischt als herausgearbeitet werden. Demgegenüber beschränkte sich H a r n a c k auf den Nachweis zweier Haupttypen: die „metaphorische L . " (vermittelt durch erzählende und schildernde Elemente) und die „rhetorische L . " (vermittelt durch den unmittelbaren Gefühls- und Gedankenausdruck des Lyrikers). Dem entspräche also etwa die Einteilung in mittelbare und unmittelbare L. oder — da das einteilende Prinzip hier gewonnen wird aus dem Grade der Stofflichkeit bzw. Geistigkeit — in stoffreudige und stoffremde (seelisch-geistige) Lyrik. R. F i n d eis beansprucht in seiner Einleitung für die Einteilung in musikalische L., L. des Ausdrucks (vgl. Harnacks rhetorische L.), schildernde L. (vgl. Harnacks metaphor. L.) und Gedanken-Lyrik selbst nur den Wert eines bloßen „Hilfsmittels der Beschreibung und Verständigung". Anspruchsvoller tritt mit weniger Berechtigung H. L e w a n d o w s k i auf, der zwar nicht sowohl eigentliche Typen als vielmehr typische „Formeigentümlichkeiten beim lyrischen Dichtwerk" auf Grund der Beschäftigung mit 40 Abendgedichten in seinen 5 zweipoligen Begriffspaaren erfassen zu können glaubt. Er unterscheidet: 1. prägende und verwischende Elemente, 2. Vielfältigkeit erfassende und vereinheitlichende Elemente, 3. mittelbar und unmittelbar wirkende Elemente. 4. zur Ruhe und zur Bewegtheit neigende Elemente, 5. formschließende und formlockernde Elemente. Die Schwierigkeit derartiger Aufgaben sei zugestanden. So „fest", wie L. zuversichtlich meint, erscheint indessen diese „Handhabe für die Erfassung der dichterischen Form" keineswegs; denn — von der wenig klaren Darstellung ganz abgesehen — Begriffspaar 3 ist altbekannt, und Begriffspaar 4 läßt sich überall nachweisen. Diese Begriffspaarung ließe sich außerdem wahrscheinlich noch recht „fruchtbar" fortsetzen. Weit wertvoller sind die Gruppenbildungen, die Hirt (S. 227) kurz streift: gnomische, anschauliche, musikalische Lyrik; Lyrik harter und glatter Fügung; dieNohlschen Typen (Nohl S. 1 1 ff.). Die kommende Typenbildung wird wahrscheinlich ausgehen vom Rhythmus, indem

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sie nach ausreichenden Sonderuntersuchungen einige Grundrhythmen und ihre Modifikationen aufstellen und von hier aus ihre Einteilungsprinzipien gewinnen wird. Wie man sich dort von der Einteilung nach m e t r i s c h e n Gesichtspunkten abwendet, so sei hier — mehr anregend als ausführend — der Versuch gemacht, die i n h a l t l i c h e Einteilung zu ersetzen. Ist das Wesen des lyrischen Ausdrucks (und also der eigentliche Inhalt) ein Gefühl- oder Gedankenerleben, so kann nach dieser Richtung eine Typenbildung nur zurückgehen auf die Ausdrucksquellen, auf die (überwiegende) Art dieses Erlebens. Drei Gruppen seien aus der Fülle der Abstufungen kurz hervorgehoben: 1. die L. des Intuitiv-Seelischen, 2. die L. des Visionär-Geistigen und der erlebten Meditation, 3. die L. des NaivHerzlichen. §9. L y r i k des I n t u i t i v - S e e l i s c h e n . Wenn etwa Klopstocks oder Hölderlins hymnischer L. der Vorwurf der Stoffremdheit, mangelnder Sinnlichkeit gemacht wird, so trifft die Kritik nur einen an sich durchaus berechtigten Typus, der unbewußt den Druck einer Stoffbürde ablehnt und das reine Erleben im Wort festzuhalten sucht. Diese Abkehr vom stofflichen Realgeschehen — die nicht ohne weiteres Abkehr vom Bildwert bedeutet — folgt gerne einem Auftrieb ins Metaphysische, ins Religiöse, ins kosmische Allgefühl: ob nun im einzelnen enger gebunden an Mystik, Kirchenglauben, pietistische Schwärmerei oder kosmischen Pantheismus und freie Mythenbildung (Mechthild von Magdeburg, Angelus Silesius, Spee, Klopstock, Hölderlin, Sorge, Stadler, Werfel u. a.). Der lyrische Ausdruckswille folgt hier einer Lebensstimmung der Gläubigkeit im weiteren Sinne, der in die Unendlichkeit gerichteten Sehnsucht zum Göttlichen. Die Bindung an eine seelische Erlebnisrichtung wird unmittelbar spürbar; die Intensität wächst aus der Intuition, dem inneren Erleuchtetsein. Die Unmittelbarkeit kann in der Formgebung indessen die Vermittlung des Metaphorischen nicht völlig entbehren. Doch kommt den bildhaften Elementen nicht in erster Hinsicht sinnlich-anschaulicher Eigenwert zu, sondern der Charakter eines durchscheinenden Symbols, das von

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der gottsuchenden Empfindung durchleuchtet wird. Das vielfach VerschwommenZerfließende, Sichauflösende in den bildlichen Faktoren entspricht dem dunklen, aber mächtigen Drange vom Unbewußten ins Ungewußte, aber Geahnte. Eben jener Auftrieb ins Transzendente bringt leicht, ja fast notwendig eine Verdünnung erdgebundener Sinnlichkeit mit sich, und die Schemen der Allegorie stehen oft bedrohlich nahe im Hintergrunde. § 10. L y r i k d e s G e i s t i g - V i s i o n ä r e n u n d d e r M e d i t a t i o n . Hier wird nun deutlich, wie sich die scheinbaren Extreme: religiöse und philosophische L., doch innig berühren. Ein Weltgefühl steht hinter beiden, manchmal verschmolzen zur Einheit (Religionsphilosophie). Die Bezeichnungen Weltanschauung und Lebenserkenntnis seien dabei vermieden, weil die L. stets vom nur Angelernten und Nachgelebten des Glaubens (kirchliche Lehre) und des Wissens (philos. Lehre) sich abwendet hin zum Erfühlten und Durchlebten, es also ratsamer erscheint, von Weltgefühl und Lebensstimmung zu reden. Da entspricht dann der religiösen Sehnsucht die Sehnsucht nach Erkenntnis. An dieser Stelle schon pflegt die Ablehnung der Reflexionspoesie unduldsam einzusetzen, weil der Gedanke als Feind der Empfindung auch Feind des lyrischen Ausdrucks sein müsse. Die Bezeichnung Reflexions-L. verführt hier zu einer Kritik, die selbst nur beim Verstandesmäßigen stehenbleibt. Reflexion wird durchweg gedeutet als ein scharfgeistiges oder gar spitzfindiges Tüfteln. Faßt man dagegen das Wort in der Sonderbedeutung des L o c k e s c h e n reflexion, also als eine i n n e r e A f f e k t i o n d e r S e e l e d u r c h s i c h s e l b s t im Gegensatze zum bloßen Affiziert-Werden durch die Außenwelt (sensation), so erhellt sogleich die lyrische Auswertbarkeit auch des geistigen Erlebens. Wer möchte einem faustischen Streben das Seelische absprechen und es nur ganz verweisen in das kalte Reich des Intellekts! Die heiße Inbrunst geistigen Ringens, ein prächtig hinbrausender Ideenrausch trägt schwung- und stoßkräftig hinüber in das Reich der Dichtung, die doch immer wieder zur inneren Wesensschau drängt. Die Metaphysik hat gewiß

nicht zufällig so oft die K r a f t besessen, Dichter anzuziehen. Weltdeutung und -dichtung aus umfassendem Weltgefühl heraus schafft eben Werte, denen sich die dichterische Schöpfung innig verwandt fühlt. Versifizierte Lehrsysteme, tüftelnde Morallehren (Aufklärung) in gereimter Form, die für den oberflächlichen Betrachter die Sonderform der Reflexionslyrik ausmachen und sie in weiteren Kreisen in Mißkredit gebracht haben, sind sicherlich ebensowenig Lyrik wie ein versifiziertes Dogma oder ein gereimter Katechismus. In dem Maße jedoch, wie der Tiefsinnige kein Klügler und Vernünftler, der Faust kein Wagner ist, weicht auch das zwanghafte Ersinnen dem spontanen Erleben und Durchleben des Ideelichen. Der warme Zustrom seelischer Ergriffenheit durchblutet und belebt auch die in kühle Höhen entrückte Idee. — Die Jugendlyrik S c h i l l e r s , der nicht zufällig so gern den Titel „Phantasie" wählt, besonders die Lauraoden, aber auch entsprechende lyrische Elemente seiner Jugenddramen (Weltgerichtsvision in den 'Räubern') führten mich zum Typus des „Geistig-Visionären und der L. der erlebten Meditation". Es handelt sich eben nicht um bloße Reflexionen im vulgären Sinne, noch weniger um allegorische Einkleidung oder erkünstelte Symbolbildung, sondern um eine innere Schau {reflexión etwa bei Locke), die sich mit aller Wärme und Helle aufdrängt und den Ausdruckswillen in ihren Bann zwingt. Auch hier liegt in der lyrischen Formung die Erlösung, die Verewigung und das Suggestivmachen einer inneren Erschütterung. Dieses Geistig-Visionäre als hochwertige Triebkraft in der Ideenlyrik findet sich in z. T. reiferen Formen wieder vor allem bei Nietzsches Visionen, die von lyrischer Stimmung gesättigt sind, dann aber auch bei Spitteier, Dehmel, P. Hille, Mombert und bei einer Gruppe der Expressionisten (Stadler, Werfel, Sorge [L. im Drama häufig geistig-visionär] u. a.). Das „Abstrakte" dieser Gruppe, das leicht als Widerspruch zur ekstatischen Ausdruckskunst wirkt, gewann, von diesem Blickpunkt aus gesehen, neue Beleuchtung. Auch Hebbel, Rilke nähern sich hier und dort diesem Typus.

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Das Ideeliche braucht indessen nicht unmittelbarer Ausdruck reiner und starker immer zur Wesensschau erhöht, zum Gefühle ist ihr Wesen. Mit beiden Beinen Geistesrausch erhitzt zu sein und kann fest auf der Erde stehend, vermag sie auch dennoch der L. zugänglich bleiben. Tritt eine kräftigere „Stoffbürde" ohne Schaden an die Stelle des Ersinnens (zielstrebig- zu tragen. Die L. des Naiv-Herzlichen ist bewußt) ein reines Sinnen (ziellos-schwei- denn auch durchweg stoffreudiger als die fend), setzt man „Meditation" an die Stelle anderen beiden Typen. Wobei Stofflichvon „Reflexion", so wird sogleich das keit aufzufassen ist als erdgebundene Stimmungsmäßige deutlich hervortreten. Sinnlichkeit im Anschaulichen, n i c h t aber Eine derartige Meditation erfüllt zugleich als inhaltliches Geschehen. Die erfreulich die Forderung des Monologischen, der scharfe Reaktion gegen die verfehlte InGegenwärtigkeit und bietet überdies ein haltswertung jedoch vermischt im Eifer prägnantes Beispiel für jenes „Einmünden des Gefechts den verwerflichen Inhaltsin eine Pause" (Hirt) freudvoll oder leid- kultus nur zu leicht mit der berechtigten voll gestimmter Betrachtung. Die Möglich- Würdigung sinnlicher Stofffreudigkeit, die keit einer L. der Meditation erscheint damit gerade die naive L. nicht entbehren kann gegeben. Soweit sie wirklich L. bleibt, ist und will. Hirt erkennt wohl für den Dichdas Gedankliche aus einer Stimmung er- ter selbst „die große seelische Gefahr, seiner wachsen und trägt deren gefühlsmäßige Erschütterung zu wenig Stoff zuzuführen, Attribute an sich. Es ist — wenn man nur Erschütterung, Leiden, Musik zu will — ein seelisch durchlebter Gedanke, bleiben und so in die Leere bis zum Wahnoft auch nur ein ersehnter Gedanke. Er sinn auszuschwingen"; aber hier liegt in würde kaum die Ausdrucksform der L. der Übersteigerung der idealen Forderung wählen, wenn er sich aus der Sphäre des (Unstofflichkeit) m. E. zugleich eine Gefahr Ahnens undSehnens in die kühle Klarheit des für die L. überhaupt. Wenn auch z. Z. eine Wissens erhoben hätte. Vielfach knüpft gewisse Abkehr von der L. des Naiv-Herzdie L. der Meditation ihr sinnendes Uber- lichen nicht zu verkennen ist und das schauen an ein Realerleben, oft erwächst sie Gattungsideal nicht als unveränderlich jcdoch auch unmittelbar aus dem seelischen starr, sondern in gewissem Grade als zeitEingestimmtsein auf ein Grundgefühl. lich wandelbar zu gelten hat: so wird doch Goethes resümierende L., manches Gedicht wahrscheinlich von d i e s e m Typus aus der von Hölty, Keller, Storm, P. Steinmüller Gesamtlyrik immer wieder der kräftigende Quellstrom zufließen. Sie ist auch nicht u. a. könnte hier herangezogen werden. §11. Die L y r i k des N a i v - H e r z - bloße „Kennerkunst", vorbehalten den l i c h e n . In ihr tritt die lyrische Eigenart ästhetisch Gebildeten, sondern gehört dem wohl am reinsten zutage. Es könnte hier ganzen Volke, wie schon die vielfach sehr also in der Hauptsache nur wiederholt enge Berührung dieser Liedlyrik mit dem werden, was oben zu erläutern versucht Volkslied andeutet. Weil sie nichts weiter wurde. Sie kennt weder die Gefahr einer will, als warm ans Herz greifen, könnte die Verflüchtigung in abstrakte Reflexionen Liedlyrik eines Günther, Claudius, Hölty, noch in nebelhafte Erdentrücktheit, son- Goethe, Heine (z. T.)5 Mörike, Storm, Greif dern ruht innig und sicher im Rein-Mensch- u. a. im besten Sinne volkstümlich werden, lichen, das sie ganz auszuschöpfen trachtet. wenn nicht gerade das „Volk" inVerkennung In ihrer schlichten Beschränkung auf das des Wesens der „Kunstdichtung" dort Erleben an sich, ohne ablenkende Auswei- allzugern Mittelbarkeit zu suchen geneigt tung ins Religiöse oder Denkerische, liegt wäre, Belehrung und Reflexion im schlechzugleich ihre Kraft. In ihr können deshalb ten Sinne (Geliert, Rückert u. a.). Tiefe und Weite des Gehalts (religiös§ 12. G r e n z f o r m e n . Als Grenz- und denkerisch) nicht hinwegtäuschen über Übergangsformen seien genannt: das geisteinen etwaigen Mangel an dichterisch- liche Lied als Grenzform der L. des Seegestaltenden und erlebenden Kräften. Im lisch- Intuitiven und des Naiv-Herzlichen, sobesten Sinne naiv, spricht sie das Wort aus, weit schlichte Herzensgläubigkeit vertreten wie es vom Herzen auf die Lippe drängt: wird (Claudius). Die L. beschaulicher Medi21 Merker-Stammler. Rcallexikon IL

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tation (Keller) steht ebenfalls der L. des Naiv-Herzlichen näher, während die L. des Geistig-Visionären (etwa bei Schillers Hymnus 'An die Freude', Goethes 'Prometheus', überhaupt in der kosmisch-mythischen L., Hölderlin z. T. in den Hymnen u. a.) zur L. des Intuitiv-Seelischen hinneigt. V. V a l e n t i n Die Dreiteiligkeit in der Lyrik. ZfvglLit N . F . II(1889) S. 9—39. 0. H a r n a c k Über Lyrik (Wesen), Pr.Jbb.LXIX(i892) S.386 bis 401. A . G o e r t h Lyrikschwärmerei, Afterlyrik u. Blausirumpftum 1896. J. O e r t n e r Betrachtungen über dt. Lyrik. Prgr. Groß-Strehlitz 1896. K . B u s s e Über Lyrik und Lyriker. Allerlei Betrachtungen, NMagfLit. L X I V (1895) S. 35 bis 41; L X V (1896) S. 35—47. A. B a r t e l s Spezifische Lyrik, Kunstwart X (1897) S. 259 bis 262, 319—20, 367. V. K i y Ein Beitrag zur Ästh. H. Viehoffs Ansichten üb. d. Bau u. Abschluß lyr. Gedichte, ZDU. X I (1897) S. 591—98. W. N e f Die Lyrik als besondere Dichtungsgattung. Ein Beitr. nur psychoL Grundlegung der Ästhetik. Diss. Zürich 1899. R. M. W e r n e r Lyrisches Gedichtu. biogr. Zeugnis, ZDU. XIII(1900) S. 557 bis 564. A . H a g e n a u e r Zur Psychologie der Lyrik, Autor I (1902). E . B r u n e Psychologie d. lyrischen Genusses, Ev. Schulbl. X L V I (1902) S. 145—51. J. K. v. HoesslinGedankenmelodien. Studie üb. d. lyrischen Mittel der Dichtung, Gegenwart L X I I I (1903) S. 39—42 (recht anregend)C. E n d e r s Lyrische Wirkungen, Dt. Heimat VI (1903) S. 513—22. B. L i t z m a n n Goethes Lyrik (bes. Einleitung Definition) 1903. A. S c h e u n e r t Der Pantragismus als System der Weltanschauung und Ästhetik Fr.HebUls 1903, S.222 bis238 (Hebbels Theorie der Lyrik). E . v . S a l l w ü r k Das Gedicht als Kunstwerk, PädMagaz. Nr. 213/228 (1903—04) (schwach, hält nicht, was Titel verspricht). K . Z w y m a n n Ästhetik d. Lyrik. I. Das Georgesche Gedicht 1904 (Weihrauch für George, einseitige Überschätzung des lyr. Wertes von Wortzusammenstellungen). H.v. Hof m a n n s t h a l ÜberGedichte, NDtRs.XV (1904) S. 129—39. E. Geiger Beiträge zu einer Ästhetik d. Lyrik 1905. E. D r c r u p Was ist Lyrik}, Gottesminne 111(1905) S. 58—67. B. v. M ü n c h h a u s e n Zur Ästh. meiner Balladen, Bausteine z. einer Ästh. d. dt. Ballade, DtMtschr. XI(i9o6)S-97—107,242—53, 332—44. P . W i t kop Das Wesen der Lyrik. Diss. Heidelberg 1907. Ders. Die dt. Lyriker von Luther bis Nietzsche. In der 1. Aufl. theor. Einleitung 'Über Lyrik u. Lyriker'; außerdem im Abschnitt üb. G. Keller, Band II (1913) S.283f. In der 2. Aufl. (1921) ist dieEinleitg. weggefallen. H. H a a g Die Entwicklung u. die Genesis des Gedichtes. Diss. Tübingen 1907. G. N e u m e i s t e r Gedanken üb. Sprache u. Lyrik, TglRs. (1907) Bl.-Nr. 201. H. B a d s t U b e r Die Kunstmittel unserer dt. Lyriker, österrMittelschL XXI(i908) S. 177—90. R. F i n d e i s Über den Ursprung u. das Wesen der lyrischen Dichtung, ZfdOG. L I X (1908) S. 961 bis 966. Ders. Geschichte der. dt. Lyrik (Smlg. Göschen 1914, Einleitung bes. S.9f. W. K i r c h -

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L Y R I S C H E S DRAMA w a n d o w s k i Die Erfassung von Formeigentümlichkeiten beim lyr. Dichtwerk, Lit. X X V I (LE. 1924) S. 385—88. E. S i e v e r s Rhythmisch' melodische Studien. Vortr. u. Aufs. 1912/25. R. H a r t l Versuch einer psychologischen Grundlegung der Dichtungsgattungen 1925. B. Markwardt.

B. G e s c h i c h t e, s. die Artikel Anakreontik, Arbeitslied, Bardendichtung, Barockliteratur, Bilderlyrik, Bremer Beiträge, Chorische Poesie, Dichterschule, Dörferliche Dichtung, Elegie, Expressionismus, Galante Dichtung, Gedankenlyrik, Geistliche Dichtung, Gelehrtendichtung, Gesellschaftslied, Göttinger Hain, Hallesche Dichterkreise, Heldenlied, Hirtendichtung, Hofpoeten, Hymne, Junges Deutschland, Kinderlied, Kirchenlied, Königsberger Dichterkreis, Kontrafaktur, Kriegspoesie, Kunstballade, Lied, Marienlyrik, Meistergesang, Minnesang, Mittellateinische Dichtung, Münchner Dichterkreis, Musenalmanach, Nationalhymne, Naturalismus, Neulateinische Literatur, Nürnberger Pegnitzschäfer, Ode, Ossianische Dichtung, Passionslied, Psalmendichtung, Realismus, Reuterlied, Rheinpoesie, Romantik, Sequenz, Soldatenlied, Spielmann, Studentenlied, Sturm u. Drang, Tanzlied, Totenlied, Trinklied, Vagantenpoesie, Volksballade, Volkslied. Lyrisches Drama. Lyrik, Epos und Drama sind in der Theorie schärfer geschieden als in der Wirklichkeit. Nur wenn die verstandesmäßige Poetik mächtiger ist als die gestaltende Kraft, wird eine strenge Scheidung der Dichtungsgattungen gefordert. Es hat zu allen Zeiten Dramen von lyrischer Grundstimmung oder mit lyrischen Ruhestellen in der dramatischen Handlung gegeben. Auch Shakespeare, Schiller, Kleist sind davon nicht auszunehmen, und viele neuere Dramen haben einen durchaus lyrischen Stimmungsgehalt. In den Schöpfungen der Geniebewegung verfließen mitunter die Grenzen zwischen dem lyrischen Monolog im Drama und dem monologischen lyrischen Gedicht. Herder setzt Monolog=Ode. Stellen aus den Selbstgesprächen im 'Faust', nicht nur die eingeschobenen Lieder, klingen wie die andere Lyrik Goethes. Es gibt förmliche Buchmonologe, deren lyrische Stimmung sich

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gar nicht mehr vom Schauspieler in dramatische Handlung umsetzen läßt. Wenn der Mensch im Drama in lyrischer Stimmung ist, dann ist die Lyrik Mittel und Gegenstand der Darstellung zugleich. Die Mitwirkung der Musik begünstigt das Eindringen der Lyrik ins Drama. Die Oper vor Gluck beruht darauf, daß die durch die dramatische Handlung gegebenen Situationen in den Arien lyrisch ausgeschöpft werden. Anderseits nähert sich die einer Gestalt der dichterischen Phantasie in den Mund gelegte sog. Rollenlyrik (etwa Waithers v. d. Vogelweide Unter der linden) in gewissem Sinne dem Dramatischen, und es war nur ein kleiner Schritt, wenn man aus lyrischen Kantaten des 18. Jhs. kleine Dramen machte. Solchen kleinen Dramen, den etwa zwischen 1775 und 1780 hoch in Ansehen stehenden melodramatischen Spielen, in denen nach dem Vorbild von Rousseaus scène lyrique 'Pygmalion' (1762) eine oder zwei Personen sprechend auftraten und die zwischen die Rede eingeschobene, bald auch mit dem Wort gleichzeitig vorgetragene Instrumentalmusik die Wirkung des monologischen Spiels erhöhte, will A. Köster die dem Wortsinn nach viel weitere Bezeichnung „lyrisches Drama" vorbehalten wissen. Tatsächlich führen auch viele jener Spiele, wie übrigens damals auch manche Singspiele und Opern, die Bezeichnung „lyrisches Drama", ohne dieses Wort allgemein festzuhalten. Von den Dichtern solcher lyrischer Dramen sind außer Wie 1 land ('Wahl des Herkules'), Herder ('Brutus'; 'Philoktet' ; 'Ariadne Libera'), Goethe ('Proserpina'), Schiller ('Semele') noch Joh. Chrn. Brandes, Gotter, Schink, Ramler, Meißner hervorzuheben, von den Komponisten Georg Benda, Beethovens Lehrer Neefe, Reichardt, der kurpfälzische Kapellmeister G. J. Vogler in Mannheim und seine Schüler. Auch Mozart wollte zu einem Duodrama Gemmingens die Musik schreiben. Über die Geschichte dieser Gattung vgl. den Artikel Monodrama, wo auch die Literatur verzeichnet ist. Vgl. ferner Chor, Duodrama, Monolog. A . K ö s t e r Das lyr. Drama im 18. Jh., Pr. Jbb. L X V I I I (1891) S. l88ff. H . Schauer.

M Maccaronische Dichtung In Deutschland. § i . Wesen und Benennung. — § 2. Italien und Deutschland. — § 3. Selbständigkeit der frühesten maccaronischen Erzeugnisse in Deutschland. — § 4. Das Maccaronische als Form für politische Satire. — § 5. Entwicklung der macc. Dichtung vom Ende des 16.—18. Jhs. — § 6. Gesamtcharakter der macc. Dichtung in Deutschland.

§ 1. Das Wesen des Maccaronischen besteht darin, daß ein Wort der einheimischen Sprache den grammatischen Gesetzen einer anderen Sprache unterworfen wird. Als Grundzug der maccaronischen P o e s i e stellt sich daher das Folgende heraus: in fremdsprachliche Gedichte werden Wörter der Nationalsprache eingefügt und nach den Regeln der fremden Sprache flektiert. Grundsätzlich wäre ein solcher Mischmasch bei allen Sprachen möglich. Überwiegend erscheint jedoch als Grundsprache das Lateinische, in das Wörter der Nationalsprache eingeschoben und mit lat. Endungen versehen werden. Der Name maccaronisch ist noch nicht mit Sicherheit gedeutet; am häufigsten wird er von Maccaroni abgeleitet, wobei für die Art der Benennung verschiedene Gründe angegeben werden. Diese Erklärung des Wortes geht am weitesten zurück, wie Fischart durch den von ihm gebrauchten Namen: Nuttelverse = „Nudelverse" bezeugt. § 2. Von der Vorgeschichte des Maccaronischen im Altertum kann abgesehen werden. Als Ursprungsland der Gattung gilt Italien. Der Urheber der maccaronischen Poesie Italiens war Tifi degli Odasi (f 1488); andere, wie Bassano aus Mantua, Alione aus Asti und Fossa aus Cremona versuchten sich um die Wende des 15. und 16. Jhs. auf dem gleichen Gebiet. Ihre entscheidende Prägung erhielt jedoch die Dichtungsart durch Teofilo Folengo (1492—1541), der unter dem Decknamen Merlinus Cocajus

die maccaronische Sprache sowohl in einem großen Ritterepos burlesk-parodistischerArt ('Maccaroneae' 1517U. 1521) als auch in kleineren Epen und einer lyrischen Dichtung mit der größten Gewandtheit handhabte. Er hat daher auch auf Deutschland Einfluß ausgeübt; Fischart erwähnt ihn wiederholt und ahmt ihn in seinerWeise nach. Das dem dt. Geschmack des endenden 16. und beginnenden 17. Jhs. besonders naheliegende Gedicht 'Moscheis' (Krieg der Mücken und der Ameisen) wurde frei durch H. C. Fuchs ins Deutsche übersetzt (erste Ausg. 1580?, erhaltene Ausg. 1600), die gleiche Übertragung gab dann Balthasar Schnurr von Landsiedel 1612 umgearbeitet heraus; doch ist von der Nachahmung der Sprache abgesehen, nur in der Vorrede hat Fuchs durch zwei Beispiele eine Vorstellung von dem Wesen des Maccaronischen zu geben versucht. § 3. Wenn nun auch an der späteren Einwirkung des Teofilo Folengo auf die dt. Literatur kein Zweifel sein kann, so scheinen doch die Anfänge der maccaronischen Dichtung in Deutschland nicht auf ital. Einwirkung zurückzugehen. Diese Tatsache legt von neuem die Frage nach dem Ursprung der maccaronischen Poesie, ja des Maccaronischen überhaupt nahe. Sprachbildungen ähnlicher Art kommen bereits im MA. vor, ohne daß man sich damals des burlesken Charakters einer derartigen Vermischung immer bewußt geworden wäre. Gleichwohl scheinen die ersten Anfänge der burlesken Verwendung des Maccaronischen in Deutschland von diesen mal. Vorläufern und nicht von Italien her angeregt worden zu sein. Auf diese Frage muß später noch einmal zurückgekommen werden. Eine maccaronische Wendung findet sich bereits in Brants ' Narrenschiff' (1494); Thomas Murner muß sich schon in

MACCARONISCHE D I C H T U N G IN D E U T S C H L A N D seiner Frühzeit des Maccaronischen häufig bedient haben, denn in einer Schutzschrift elsäss. Humanisten für Wimpfeling (1502 ?; Goedeke l 2 , S. 409, Nr. 22) wird diese seine Art parodiert; maccaronische Verse bringen später sein'Großer Lutherischer Narr* (1522) und sein 'Ketzerkalender' (1527). Im Zuge dieser Entwicklung liegen aller Wahrscheinlichkeit nach eingesprengte Stücke bei Hans Sachs, in Lindeners 'Katzipori', in Kirchhoffs 'Wendunmut' und gelegentlich auch bei anderen Schriftstellern des 16. Jhs.; auch einige schon aus dem Anfange des 16. Jhs. stammende Vorschriften für das Fischessen gehören in den gleichen Zusammenhang. Von Fischart war bereits die Rede; bei ihm läßt sich der Einfluß der gleichartigen italienischen Dichtung nicht verkennen. § 4. Das älteste s e l b s t ä n d i g e Erzeugnis der maccaronischen Poesie in Deutschland ist ein in drei Fassungen überlieferter Mahnruf an die Führer des Schmalkaldischen Bundes, sieben Distichen, angeblich von Heinrich Glareanus verfaßt (Pasquillus auf den protestierenden Krieg seit 1546). Die in diesem Gedicht enthaltenen Motive und Wendungen sind in dem *Pancketum Caesareum' benutzt und weiter ausgesponnen worden (23 Distichen); es entstand während des Augsburger Reichstages von 1548 und vergegenwärtigt die verbissene Wut der unterlegenen Protestanten. Unmittelbar mit diesem Stück hängt die *Benedidio mensae in Pancketum' zusammen, aus der gleichen Stimmungerwachsen(i548). Nachahmungen beider Gedichte stammen aus dem Anfang des 17. Jhs.; das Pancketum Caesareum' wurde nunmehr, den Zeitverhältnissen entsprechend, zu einem 'Pancketum Leopoldinum' umgestaltet, verfaßt während des Jülich-Clevischen Erbfolgestreites; es richtet sich gegen den Bruder Ferdinands II., Erzherzog Leopold, der im Auftrage des Kaisers die Festung Jülich besetzt hatte, aber in den Herzogtümern wenig Fortschritte machte; Entstehungsjahr wahrscheinlich 1614, wo span. Truppen unter Spinola Jülich zu Hilfe kamen. § 5. Eine A r t Höhepunkt erreicht die maccaronische Poesie in dem Gedicht 'Floia, CortumversicaW, I. Ausg. 1593, verfaßt von einem Hamburger, in den Sprach-

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formen daher nd., gedruckt ebenfalls in Niederdeutschland, ohne daß sich der Druckort mit Sicherheit feststellen ließe; einer bestimmten Persönlichkeit die Urheberschaft zuzuweisen, ist bisher nicht geglückt. In wohlgelungenen Hexametern wird die Plage geschildert, die alle Menschen, insbesondere die Frauen, von den Flöhen erdulden müssen. Zahlreiche Ausgaben, darunter auch eine nhd. Bearbeitung, bezeugen die ungemeine Beliebtheit des Gedichtes. Durch die 'Floia' beeinflußt war das der Entstehung nach zunächst folgende Werkchen, das kleine Epos 'Cortum Carmen de Rotrockis atque Blaurockis' (1600); es schildert das wilde Treiben der Reiter, die der Herzog von Braunschweig in Sold genommen hatte; der Ursprung des Gedichtes ist sicher auf demselben Boden zu suchen, auf dem sich die Handlung abspielt. Inhalt und Form decken sich nicht vollständig; eine Wirkung auf die Folgezeit konnte das Epos nicht ausüben, da es erst im 19. Jh. (1853) aus der Hs. veröffentlicht worden ist. Der Zeit nach schließen sich 16 Distichen an, die einem Spottlied auf die Bernauer Wolfsjagd {1609) vorausgeschickt sind; auch sie stehen ersichtlich unter dem Einfluß der 'Floia' und geben, wie diese, die Worte meist in nd. Form. Die nunmehr folgenden Zeugnisse gehören ebenfalls dem 17. Jh., überwiegend jedoch dessen zweiter Hälfte, an; mit ihnen gelangt man wieder auf das Gebiet, das durch Brant, die Schutzschrift für Wimpfeling, Murner, Lindener nahegelegt und auch bei Hans Sachs gestreift wird, denn sie schildern studentisches Leben und sind sicher auch aus studentischen Kreisen hervorgegangen. In Betracht kommen insbesondere die folgenden Stücke: 'Delineatio sumtnorum capitum lustitudinis studenticae', 1627; 'Certamen studiosorum cumvigilibus nocturnis' (vor 1669); das 'Triumphierende Prosit' (Mahnung zum fröhlichen Studentenleben), enthalten in einer 'Curiösen Inaugural-Dissertation über die Rechte der Studentenburschen'; das 'Gaudium studenticum' 1693. Neben diesen Dichtungen gehen kleinere, vielfach nur aus wenigen Zeilen bestehende maccaronische Stücke her, die sich bei verschiedenen Schriftstellern und in Schwanksammlungen des

MADRIGAL

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17. Jhs. finden; das bekannteste dieser Stücke steht bei Moscherosch: 'Fahrimus in SchliUis'. Für das burleske Hochzeitsgedicht bediente man sich im 17. Jh. ebenfalls gelegentlich der maccaronischen Sprache: Ein umfangreicherer Versuch dieser Art (entstanden vor 1666) und zwei kleinere (entstanden vor 1700) sind nachzuweisen. Auf das engste mit der Hochzeitspoesie berühren sich zwei umfangreiche maccaronische Dichtungen des 18. Jhs.: 'Rhapsodia versu heroico maccaronico Braut-Suppam' u n d 'Rhapsodia andra\

ad die

beide mit unleugbarem Geschick durch epische Ausmalung eines besonderen Falles die Gefährlichkeit des Junggesellenlebens und die Vorteile des Ehestandes dartun wollen. — Damit ist die Geschichte der maccaronischen Poesie erschöpft. Was von ähnlichen Versuchen im 19. Jh. vorliegt, gehört nicht mehr dem Zuge der Entwicklung an, sondern weist sich als bloße Nachahmung aus. § 6. Die geistesgeschichtliche Einordnung der maccaronischen Poesie in Deutschland bereitet Schwierigkeiten. Gewöhnlich faßt man die maccaronische Dichtung als einen bewußten Protest gegen den im wesentlichen nachahmenden Humanismus auf, dessen Glätte und Formvollendung eine zwar kauderwelsche, aber selbständige Leistung gegenübergestellt werde. Für Italien mag diese Erklärung Gültigkeit haben; mit Sicherheit läßt sich das Schaffen des Teofilo Folengo auf derartige Grundgedanken zurückführen; bei ihm handelt es sich in der Tat um einen Rückschlag gegenüber dem Humanismus. Die dt. maccaronische Poesie zeigt aber keine Spuren eines solchen Ursprungs. Die ersten Anfänge bei Brant, den Freunden Wimpfelings usw. weisen vielmehr nach einer ganz anderen Richtung. Sie führen nämlich in den Bereich der Universitäten und der Universitätsspäße, die ursprünglich nur der Belustigung dienten, ohne daß eine höhere Absicht erkennbar wäre. Aus diesen Kreisen ist auch die maccaronische Dichtung Deutschlands hervorgegangen. Wenn man sie daher wiederholt in Verbindung mit d e n in den 'Epislolae

obscurorum

virorunC

verwendeten Darstellungsmitteln gebracht hat, so ist das zwar an sich unzutreffend,

verrät aber einen richtigen Blick für den gemeinsamen Boden, dem beide gründe verschiedenen Stilarten entstammen, wie denn gelegentlich das Maccaronische auch zusammen mit küchenlat. Wendungen nach Art der lEov.' erscheint, z. B. in der oben e r w ä h n t e n 'Delineatio

summorum

capitum

lustitudinis studenticae'. Es wäre also falsch, der m. D. in Deutschland irgendeine tiefere Idee unterzulegen, sie verfolgt lediglich den Zweck, zu belustigen, und erreicht burleske Wirkungen meist immer da, wo das Stoff: gebiet den verwendeten Darstellungsmitteln entspricht. F. W. G e n t he Geschichte der maccaronischen Poesie 1829. — O. S c h a d e im Weim. Jb. Bd. II (1855), S. 409ff.; Bd. IV (1857), S. 355. Goedeke* II 511. Wesentliche Erweiterung des durch Schade beigebrachten Stoffes durch J. B o l t e Alem. X X I X NF. II (1901), S. IXff. C. B l ü m l e i n Die 'Floia und andere deutsche maccaronische Gedichte 1900, wo noch weitere Literatur. — ArchfLg. X V (1887) 2i6ff. G. Ellinger.

Madrigal. Das M. (ital. mandriale 'Schär fergedicht' von mandra 'Herde') stammt aus Italien und gehört, wie schon der Name sagt, zunächst in den Kreis der Hirtendichtung. Ländliche und schäferliche Motive, allerdings meist ins Philosophische, Platonisch-erotische, Didaktische und Satirische gewandelt, geben auch im Laufe der weiteren Entwicklung häufig den Stoff. Die Form hat mannigfache Wandlungen durchgemacht. Zumeist ist das M. ein einstrophiges lyrisches, auch epigrammatisches Gedicht, das aus 6—15 Versen, Elfsilblern, gemischt mit Siebensilblern, besteht. Doch kommen auch alle möglichen anderen Versarten vor. Auch die Reimbindung ist frei. Zuweilen ist der erste Vers reimlos, während die beiden letzten Verse ein Reimpaar bilden. Im 16. Jh. besteht das M. meist aus zwei oder drei Terzetten von Elfsilblern mit verschiedener Reimstellung, auf die dann ein oder zwei Reimpaare folgen (abb, c d d , e f f , gg, hh). Das M. ist von Anfang an mit Musik verwachsen. Die Kompositionsform ist meist zweiteilig mit Reprise. Ursprünglich gehörten die M., wie auch die andern mehrstimmigen Lieder der Frührenaissance, nicht der a-capella-Musik an; sie sind zunächst für eine Singstimme mit begleiten-

MAERE-MAKAME den und schmückenden Instrumenten gedacht. Erst das 16. Jh. überträgt den in der Kirchenmusik aufkommenden a-capellaStil auf das weltliche Lied. Die M. des 16.—17. Jhs. schließen Instrumentalbegleitung im Prinzip aus. Es sind vorzugsweise fünfstimmige Chorlieder; doch werden oft einzelne Stimmen durch Instrumente ersetzt. Die M. des 16.—17. Jhs. sind weder in der sprachlichen noch in der musikalischen Form an feste Regeln gebunden (s. d. Art. Gesellschaftslied § 4 u. 5). Mit den Kompositionen des M., das wegen seines freien Formbaus dem Komponisten Gelegenheit zu selbständigem musikalischen Ausdruck bot und in der Musik des 16. und 17. Jhs. besonders als Chorlied eine hervorragende Rolle spielte, kam die Form nach Deutschland, wo nach ihrem Vorbilde seit dem Ende des 16. Jhs. zahlreiche Übersetzungen und Originaldichtungen entstanden. Hans Leo Haßlers Liedersammlung bringt 1596 die ersten dt. Madrigaltexte komponiert; als Dichterkomponist ist aus der Frühzeit noch Johann Hermann Schein (1586—1630) zu nennen. 1653 erschien Kaspar Zieglers Buch 'Von den Madrigalen'; das M. ist nach Ziegler ein kurzes, nachdenkliches Gedicht, eine Art Epigramm, ein unausgearbeiteter Syllogismus, dessen Hauptkonklusion aus den letzten zwei Reimen, auch wohl aus der letzten Zeile zu erscheinen hat. Es soll aus 5—15 Versen von 6—8 und 10—11 Silben oder aus Versen derselben Art bestehen. Reimfreie Zeilen sind Gesetz; sonst ist die Reimbindung völlig frei. Die zwei letzten Zeilen sollen, aber müssen nicht reimen. Die Betonung des epigrammatischen Elementes durch Ziegler entfremdete das M. der Musik. In der galanten Zeit wird die Form des M. immer freier, es wird zur freien Strophe in freien Versen und damit ein Gegengewicht gegen den lastenden Gebrauch des Alexandriners. Die Romantiker erst nehmen die Nachbildung strenger Strophen im M. wieder auf. Gebraucht haben die Form des M. u. a. Hagedorn, Götz, Götter, Voß, Goethe, Uhland, A. W. Schlegel, Platen. M i n o r Metrik S. 474—478, 535. K . V o ß l e r Das deutsche Madrigal. Geschichte seiner Entwicklung bis in die Mitte des 18. Jhs. 1898. H. R i e m a n n Musik-Lexikon10 S. 770—771. P h . S p i t t a Die Anfänge madrigalischer Dich-

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tung in Deutschland, Musikgeschichtl. Aufsätze 1894. S. 63—76. P . W a g n e r Das Madrigal und Palestrina, Vierteljahrsschr. für Musikwissensch. V I I I (1892) S. 423—498. R . S c h w a r t z Hans Leo Haßler unter dem Einfluß der italienischen Madrigalisten, Vierteljahrsschr. für Musikwissenschaft I X (1893) S. 1 — 6 1 . G. A d l e r Handbuch der Musikgeschichte 1924. S.238ff., 301 ff., 3 i 9 f f . , 384. G. M ü l l e r Geschichte des deutschen Liedes >925P. Habermann.

Maere (mhd. daz maere, häufig im PI. diu m. gebraucht und daher nhd. fem.) bedeutet ursprünglich „Kunde", „Bericht", dann deren poetische Ausgestaltung; also etwa wie unser „Erzählung". Es ist allgemeine Gattungsbezeichnung für die mhd. erzählende Dichtung; Nibelungenlied (vgl. dessen letzte Strophe), 'Parzival' (dem diz maere wart erkorn 112, 12), Strickersche bispel und Heiligenlegenden bedienen sich ihrer gleichmäßig. Der Gegensatz dazu wäre in der klassischen Zeit liet, die lyrische Strophe; nach vielen Belegen der frühmhd. Zeit, z. B. dem Prolog zur Kaiserchronik und nach der Schlußstrophe einer großen Gruppe von Nib.-Hss. war der ältere Ausdruck für umfassende epische Dichtungen ebenfalls liet gewesen. Maere ist jedenfalls immer erzählend, berührt sich also mit der (nur höfischen) äventiure (s. d.), erfährt aber, wie J . Grimm hervorhebt, keine förmliche Personifikation, trotz Wendungen wie: das maere ufbrach, flouc, wuohs usw. Das maere kann auch, wie diu äventiure und der häufigste mhd. terminus daz buoch, die „Quelle" bedeuten. Als uns daz maere seit ist eine verbreitete Bekräftigungsformel für die quellenmäßige Wahrheit eines Berichtes. Daneben steht wie äventiure so auch maere in der Bedeutung „Erfindung" im Gegensatz zu der absoluten historischen Wahrheit. So heißt es in Alberts 'Ulrichleben' 53: Diu wärheit, niht ein maere saget — „es ist Wahrheit, keine Erdichtung" — oder, wie wir sagen würden, „kein Märchen". J . G r i m m Mythologie* S.747. S c h w i e t e r i n g Singen und Sagen 1905 S. 48 ff. H . Schneider^

Makatne bedeutet arab. ursprünglich soviel wie „Aufenthalt", „Versammlung" und ist dann Bezeichnung für eine Zusammenkunft geworden, bei der einzelne Schöngeister durch Stegreifdarbietungen die Zuhörer unterhielten. Mit der Zeit bildete sich dafür eine Form in kunstvoll gereimter,

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rhythmisch gesteigerter, auch mit Versen durchsetzter Prosa mit Wortspielen, witzigen Anspielungen und allerlei stilistischen Künsten heraus. IhrBegründer ist Hamadäni (gest. 1007), der wegen seiner glänzenden schriftstellerischen Begabung auch BSdi al zamin („Wunder der Zeit") genannt wird. Er hat eine Anzahl solcher Dichtungen unter dem Namen 'Makamat* zusammengestellt. M. des Arabers Hariri (etwa 1054 bis 1x22) — sein Werk behandelt in 50 M. 'Die Verwandlungen des Abu Seid von Serug', eines arab. Till Eulenspiegels — hat zuerst Fr. Rückert (1826) nachgebildet und dabei in L. Jacoby den einzigen Nachfolger gefunden. L. J a c o b y Die deutsche Makame 1883. C. B e y e r DU Poetik 1887. I 589—596. M i n o r Metr. S. 508, 537. p . Habermann.

Malerroman. § 1. Der M. gehört nach Gehalt und Gestalt seiner künstlerischen Bedingtheit und Absicht in das weite Gebiet der Wechselwirkungen zwischen dt. Dichtung und Kunst (vgl. Art. Kunst und Literatur). Die Bedeutung von Kunst und Künstlern prägt seit Ende des 18. Jhs. eigengeartete Literaturformen aus: indem Kunst und Künstler zu poetischen Motiven werden, wird ein Kunsterzeugnis gern zum Vorwurf eines Gedichts (vgl. Art. Gemäldegedicht), der Künstler zum Romanhelden gemacht. Dabei ist der Maler vor andern eine beliebte Figur. Forscht man, wie in diesem Fall die Wechselbeziehungen zwischen Dicht- und Bildkunst sich auswirken, so spitzt sich das Problem zu auf die Frage: wie wird der Maler-Typus in seiner beruflichpersönlichen wie kunst- und weltanschaulichen Gebundenheit vom Dichter psychologisch gefaßt und gestaltet? § 2. Als Dichtgattung führt den M. im Ausgang des 18. Jhs. Wilhelm Heinses 'Ardinghello und die glückseligen Inseln* (erschienen 1787) in die dt. Literatur ein: ein leidenschaftlich erregtes Buch, ein glühendes Bekenntnis zum Sturm und Drang und zur Malerei mit sinnigen Gesprächen über Kunst und geistvollen Beschreibungen von Kunstwerken; eine Dichtung, die auf die Romantiker, Jungund Jüngstdeutsche mächtigen Einfluß ausstrahlte. Obschon die Frucht auch einer ital. Reise, lehnt der Roman das einseitig

antike Kunstideal Winckelmanns und Lessings schroff ab und erhebt Dürer und die Gotik, die holl. und dt. Genre- und Landschaftsmalerei auf den Schild: „Dürer habe den Nürnberger Goldschmiedsjungen nie völlig aus sich bringen können; in seinen Arbeiten sei ein Fleiß bis zur Angst, der ihn nie weiten Gesichtskreis und Erhabenheit habe gewinnen lassen . . . Sonst sei er ein wackerer Meister, habe Kraft und Stärke; und ein guter Kopf von richtigem Geschmack könne viel von ihm lernen." Oder: „Ein feierlicher gotischer Dom mit seinem freien ungeheurn Räume . . . wird immer das kleinliche Gemächt im Großen, sei's nach dem niedlichsten Venustempel von dem geschmackvollsten Athenienser, bei einem Mann von unverfälschtem Sinn zuschanden machen." Was Heinse in Italien begeistert, ist weniger die Kunst der Antike und der Renaissance als die Farbenglut eines Tizian. So wird ihm die Malerei zur Farbenkunst schlechthin: „Malen ist Malen und Zeichnen Zeichnen. Ohne Wahrheit der Farbe kann keine Malerei bestehen; eher aber ohne Zeichnung . . . Der Maler gibt sich mit der Oberfläche ab, und diese zeigt sich bloß durch Farbe; und er hat mit dem Wesentlichen der Dinge im eigentlichen Verstände wenig zu schaffen. Das Zeichnen ist bloß ein notwendiges Übel, die Proportionen leicht zu finden: die Farbe das Ziel, Anfang und Ende der Kunst." § 3. Goethe, dem sich in Italien Form und Linie der antiken Kunst erschlossen, stimmt nicht ein in den begeisterten Lobgesang, mit dem der 'Ardinghello' begrüßt wurde. Und als er seinen großen Bildungsroman schreibt, da macht er Wilhelm Meister zum Vertreter der Schauspiel-, nicht der Bildkunst. Aber die Romantiker wenden ihre Neigung erneut den Malern und der Malerei zu. In andächtiger Ehrfurcht vor den Meisterschöpfungen der altdeutschen Kunst schreibt Wackenroder seine 'Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders' (1797), gibt nach des Freundes Tode (1798) Tieck ihrer beider Kunstaufsätze, die 'Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst' heraus. Früher, als Erlanger Studenten, war ihnen an den Gräbern Dürers und Sach-

MALERROMAN sens in Nürnberg die Idee eines M. aufgegangen,' worin Schicksal und Werdegang eines Dürerschülers auf einer Romfahrt geschildert und ihre Hochschätzung der alten Kunst bezeugt werden sollten. Nach Wackenroders Tode fällt Tieck allein die Ausführung zu, und er entwickelt, nicht im Sinne des ursprünglichen Planes, nach dem Vorbild des 'Wilhelm Meister* die Malergeschichte immer mehr zu einem allgemeinen Bildungsroman. Darüber verblaßt die historische Untermalung, der Lauf der Erzählung wird häufig unterbrochen durch lange Gespräche über Kunst und durch lyrische Einlagen, ermüdende Naturschilderungen und romantische Liebesabenteuer im Stil des 'Ardinghello' und dringt schließlich nicht ans Ziel, auch nicht in der späteren Überarbeitung. Aus dem geplanten M. wird die Dreiheit: Künstler-, Reise-, Bildungsroman, die Tiecks dichterische Kraft nicht zu einer Einheit zu verschmelzen vermochte. Blieb dem 1798 erschienenen Buch auch der äußere Erfolg versagt, so wirkte sein Stimmungston und Empfindungsgehalt auf Malerpoeten wie Ph. O. Runge und die christlichdeutsche Malerschule, deren Art man geradezu mit „sternbaldisieren" charakterisierte, desto intensiver ein. Später (1821) hat Tieck in den 'Gemälden', seiner ersten und bestgelungenen Novelle, da3 Wesen der Malerei noch einmal eindringend beleuchtet und im Rahmen einer luftigen, humorbeschwingten Erzählung ein farbenfrohes Bild vom dt. Kunstleben seiner Zeit entworfen. §4. Schon ein Jahr nach dem 'Sternbald' tritt der zweite romantische M. hervor von ganz anderer Artung: Friedrich Schlegels 'Lucinde' (1799). Darin wird nicht die versunkene Herrlichkeit der altdt. Kunst zu neuem Glänze erweckt, sondern der menschliche und künstlerische Werdegang des Malers Julius und der Malerin Lucinde wird dargestellt. Das Grundthema des verkannten und verfehmten Büchleins, die Liebe im Sinne einer angewandten Religion, wird in allen Tonarten variiert: von enthusiastischer Anbetung bis zu frecher Frivolität. Durch die Macht der Liebe wird auch Julius erst ein echter Künstler: die Wandlung, die sein

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Kunststil durch die Glut der Leidenschaft erlebt, ist das psychologische Problem des Romans. Früher, vor der Bekanntschaft mit Lucinde, wirkten seine Gemälde „steif und steinern", jetzt „belebten sie sich, ein Strom von beseelendem Licht schien sich darüber zu ergießen und in frischer Farbe blühte das wahre Fleisch". Und mehr noch: „Wie seine Kunst sich vollendete und ihm von selbst in ihr gelang, was er zuvor durch kein Streben und Arbeiten erringen konnte: so ward ihm auch sein Leben zum Kunstwerk, ohne daß er eigentlich wahrnahm, wie es geschah." Das Buch will in Haltung und Tendenz nicht so sehr Kunstwerk wie ein Bekenntnis von stark autobiographischer Prägung sein und den Kampf führen wider die vorurteilbefangene Zeit. Daher die lockere, uneinheitliche fragmentarische Formgebung, die in wirbligem Wechsel zwischen Briefstil, Erzählton, Charakteristik, Gefühlserguß und Reflexion in romantischer Regelfreiheit mehr im Charakter eines lyrischen Epos als Prosaromans gehalten ist: trotz unleugbaren Schwächen als Ganzes ein bedeutsames Denkmal einer kühnen Geistesepoche. § 5. Hingegen ist das Künstlertum des Helden in Dorothea Schlegels dilettantischem, doch talentiertem Roman 'Florentin* (1801) nur äußere Staffage, auf die der Aufbau der Handlung wie die Charakterzeichnung ohne Schaden hätten verzichten können: Florentin ist Gelegenheitsmaler, nicht ohne Fähigkeit, aber ohne die rechte innerliche Berufung. Ähnlich ist es um das Malertum des Helden in E". T. A. Hoffmanns Novelle 'Signor Formica' (aus den 'Serapionsbrüdern' 1819—21) bestellt: Salvator Rosa, als Maler berühmt, wird vom Dichter nur als Poet und Schauspieler bespiegelt. § 6. Eine Synthese von romantischen Romanideen und Goetheschen Gestaltungsprinzipien bildet Mörikes 'Maler Nolten' (1832). Ursprünglich als Novelle geplant, wuchs die Erzählung zu einem zweibändigen Roman aus, dem umfangreichsten Werk, das dem Dichter gelang. Eine gründliche Umarbeitung, womit der Dichter durch Jahrzehnte bis zum Tode sich abmühte, wurde nur für den ersten Band, beim zweiten bloß auf Teilstrecken

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fertig. Der Roman ist mit reichem, autobiographischem Gehalt beschwert; den aber in allem und jedem auspressen zu wollen, wäre grundfalsch: sein Innenleben, eigene Eindrücke und Erlebnisse hat Mörike mit der K r a f t freischaffender Phantasie gestaltet. Daneben ist das Werk durch literarische Quellen wie vor allem Goethes 'Meister' und 'Wahlverwandtschaften' gespeist. Zwar kein Bildungsroman im strengen Wortsinn und durchaus kein Kunstroman im Stil des 'Ardinghello' oder 'Sternbald', verschattet der 'Maler Nolten' die romantischen Vorläufer tief durch seine künstlerische Haltung und Wirkung. Der Bühnenkünstler Larkens und der Maler Nolten stehen im Vordergrund; nicht zufällig: in beiden Künsten hat sich der Dichter dilettantisch versucht. Die Eigenart des Malerberufs wird aber nicht absichtsvoll betont. Wie bei den Romantikern spielen Ahnungen und Erscheinungen, also übersinnlich-übernatürliche Mächte schicksalbestimmend in das menschliche Leben hinein. Ihr Eingreifen, ihr Einfluß auf die Charakterentwicklung wirkt jedoch nicht gewaltsam: dank der psychologischen Kunst des Dichters, die unterbewußten, zartesten Regungen der menschlichen Seele zu fühlen und zu zeichnen. Die Kunstform des 'Nolten' ist nicht aus einem Guß. Die Komposition ist locker: auch die anderen Dichtgattungen kommen durch Einlagen zu Wort. Kreisen diese auch um das Zentrum der Handlung, so verlangsamen sie doch deren Gang oft zu sehr. Der Dichter konnte sich freilich mit seiner Technik auf den Kunststil jener Zeit berufen, und wir müssen ihm zugute halten, daß seine Kunstform immerhin straffer ist als die der Romantiker. Der Stil mutet uns heute vielfach altmodisch an: der Autor bekundet gern seine eigene Meinung, ohne indessen sich bestimmt zu entscheiden, und zieht auch den Leser zu Rate. Auch das ein Niederschlag des Zeitgeschmacks. Tiefste Wirkung strahlt dagegen auch heute noch Mörikes Sprache aus. Die Darstellung ist sinnlich belebt, reich an plastisch gesehenen Bildern: eine mit dem Auge erfaßte Malersprache; der Grundton ist lyrisch, wenn nötig leidenschaftlich be-

wegt, der Periodenbau rein, durchsichtig, wohllautend, Ausdruck und Stil für jede Person charakterisierend abgestuft, im ganzen von klassischer Abgeklärtheit. § 7. Aber das eigentliche Problem des M., d. h. die Aufgabe, mit den Mitteln der Prosakunst die Eigenart des Malerberufs und den menschlichen und künstlerischen Werdegang eines bildenden Künstlers zu schildern, hat erst Kellers 'Grüner Heinrich' (1855) gelöst. Meister Gottfried von Zürich war dazu berufen wie kein zweiter: als er den Roman seiner Jugend zu schreiben begann, war er als Maler gescheitert. Der Kampf um die Malerei war das tragische Jugenderlebnis dieses Malerpoeten. Er erzählt selbst, wie er, im Atelier sitzend, sich in den Plan eingesponnen habe, einen autobiographischen Künstlerroman zu schreiben, worin durch das Mißgeschick des Helden Mutter und Sohn zugrunde gehen sollten. Und wirklich hat Keller in seiner „Dichtung und Wahrheit" den dornigen Entwicklungsgang seines Malertums mit liebevoller Offenheit und unbeirrbarem Wahrheitsdrang in der Gestalt des jungen Heinrich Lee dargestellt. Kellers Gemälde, vorwiegend Landschaften, muten an wie verbildlichte Träumereien, weil sie mehr mit der Phantasie als nach der Natur gemalt sind. Gleichzeitig füllen Naturschilderungen von ähnlichem Gepräge die Blätter seiner Notizbücher. Damit setzt das Ringen der malerischen mit der dichterischen Begabung ein: über den Umweg einer malenden Wortkunst wird der Bildner zum Dichter, bis der Entschluß zur Tat reift, die Tragik seines Künstlertums in einem autobiographischen Roman sich von der Seele zu schreiben. Mit rücksichtsloser Energie entsagt nun der Dichter dem Malertum: er will nur noch Dichter, nicht Maler und Dichter sein. Aber der Maler in ihm stirbt nicht ab: im Sehen und Beschreiben wirkt die malerische Veranlagung fort und färbt Sprache und Stil des Dichters zu jener vielbewunderten sinnlichen Fülle und Bildhaftheit. Was dem Maler nicht gelingen will, das Erfassen des bildnerisch Wesentlichen der Natur durch Konzentration von Farbe und Figur: diese Kunst übt der D i c h t e r mit vollendeter Meisterschaft.

MALERROMAN Schon bald nach seiner Rückkehr aus München hatte Keller den Plan gefaßt, in einer Art Generalbeichte die Tragik seiner gescheiterten Künstlerlaufbahn niederzuschreiben. Aber erst in seiner Berliner Zeit quälte er den Roman mühsam und verdrossen von Band zu Band vorwärts (1851 — 55). Der 'Grüne Heinrich' erzählt die äußere Lebensgeschichte Kellers bis zum Schiffbruch in München, erweitert sie aber durch die Darstellung seiner inneren Entwicklung bis zum Berliner Aufenthalt. Dadurch wurde in die Grundstimmung des Buches ein Zwiespalt hineingetragen; denn das Maß der inneren Reife, die der Dichter nunmehr erreicht, wollte zu dem ursprünglichen Plan nicht recht passen. Keller selbst hat den Roman sein „ Schicksalsbuch" genannt: sein Lebenswerk, das ihn vom Beginn seines dichterischen Schaffens bis zur Höhe seines Künstlertums begleitet und geführt hat. Was der Dichter an künstlerischer Einsicht und Erfahrung, an Welt- und Menschenkenntnis in seiner langen Werdezeit in sich aufgenommen, das hat in dieser Dichtung Gestalt gewonnen. Keller war mit der ersten Fassung des Romans wenig zufrieden; schon 1851 spricht er von einem formlosen und wunderlichen Versuch und plant dann eine gründliche Umarbeitung. Aber erst gegen Ende der siebziger Jahre, nach Beendigung der 'Züricher Novellen', bekommt er Kopf und Hände frei, durch Umgießung des Jugendromans sein Lebenswerk zu krönen. Die Neuformung war schwierig und schritt nur langsam voran. Weihnachten 1879 konnten die ersten drei Teile der neuen Fassung, ein J a h r später der letzte Teil ausgegeben werden. Die Erstgestalt wurde nach Gehalt und Form fundamental geändert. J e n e r war als romantisch-sentimentaler Künstlerroman begonnen, dann aber, zumal unter dem nachwirkenden Einfluß von Feuerbachs Diesseitsglauben, je länger je mehr mit einer reichen Wirklichkeitsfülle gesättigt, die auch im Stil einen sinnlich-anschaulichen Ausdruck fand, ohne aber voll auszureifen. So wurzelt die erste Fassung in halb romantischem, halb realistischem Nährboden. Nach welcher Richtung sich die Umwandlung

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vollziehen mußte, war klar vorgezeichnet: das Buch mußte als Ganzes ein freudiges Bekenntnis zur Diesseitswelt werden. Keller schied also die romantischen Elemente aus, ebenso strich er die vielen abstrakten Betrachtungen über Kunst, Literatur, Philosophie und Politik oder brachte sie in direkte Gesprächsform, d. h. er rückte sie aus der kühlen L u f t nüchterner Reflexion in das hellwarme Licht poetischer Verpersönlichung. Auch die lyrischen Einlagen, soweit sie nicht organisch aus der epischen Darstellung herauswachsen, fielen fort: das Stilgefühl des reifen Künstlers lehnte eine romantische willkürliche Mischung von Lyrik und Prosa ab. Im ganzen hat der Dichter mit glücklicher Hand neu geformt. Nur hier und da möchte man wünschen, daß die Erstfassung vor seinem kritischen Auge mehr Gnade gefunden hätte. Der Kürzung hält Mehrung die Wage. Diese Zusatzpartien bringen nicht allein eine stoffliche Bereicherung, sondern steigern auch die künstlerische Wirkung; denn in ihnen kommt die erreichte Meisterschaft ohne einschränkende Bindung zum Zuge. Die Kapitel der Jugendgeschichte bedurften solcher Weiterungen nicht; der Schluß hingegen wurde einschneidend umgestaltet. Auch im Technisch-Formalen, in der Komposition wurde die Zweitfassung von Grund auf erneuert: der Held erzählt jetzt seine ganze Lebensgeschichte selbst in zeitlichem Ablauf. Nun stört nicht mehr wie früher der Wechsel zwischen I. und 3. Person, vielmehr wird durch die auf Konzentration eingestellte Form der Ich-Erzählung eine natürlich wirkende Einheit von Stoff, Stimmung und Gestaltung hergestellt. Wo nötig, werden die Erlebnisse durch Umgruppierung besser motiviert. Und auch im kleinen werden durch Verfeinerung der sprachlichen Ausdrucksmittel Prägnanz, Schärfe und Lebhaftheit des Erzähltons gesteigert. Möchte man auch die eine und andere Episode der Erstfassung nicht missen, so wuchs der 'Grüne Heinrich' doch erst in seiner endgültigen Gestalt zu einem Kunstwerk aus, das durch seine Vorzüge in der architektonischen Gliederung, der organischen Geschlossenheit, der überzeugenden

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Motivierung, der scharfen C h a r a k t e r i s t i k wie der sprachlichen S c h ö n h e i t die romantischen V o r l ä u f e r w e i t überholt h a t u n d f ü r die reiche G a t t u n g v o n Maler- u n d K ü n s t l e r r o m a n e n der G e g e n w a r t zu einem lebendigen Urbild geworden ist. K . D. J e s s e n Heinses Stellung zur bildenden Kunst und ihrer Ästhetik. Zugleich ein Beitrag zur Quellenkunde des' Ardinghello' (PalaestraXXI) 1901. H. P r o d n i g g Über Tiecks Sternbald u. sein Verhältnis zu Goethes '•Wilhelm Meister' 1892. E. S u l g e r - G e b i n g Die Brüder A. W. und F. Schlegel in ihrem Verhältnis zur bildenden Kunst (Forschungen zur neueren Literatur-Gesch. 3) 1897. H. v. K l e i n m a y r Die dt. Romantik und die Landschaftsmalerei (Studien zur dt. Kunstgesch. 147) 1912. B. S e u f f e r t Mörikes 'Nölten'und'Mozart' 1925. R. S c h m i t t - S o e d e r Die Anschauungen Gottfr. Kellers vom Wesen u. der Aufgabe des Künstlers (Gießener Beiträge zur dt. Philologie 8) 1922. W. W a e t z o l d t Malerromane und Gemäldegedichte 1914. Westermanns Mhh. 116 II 735 ff. G. Bebermeyer.

Märchen s. N a c h t r a g . Märchenoper. M ä r c h e n h a f t e S t o f f e sind der O p e r n d i c h t u n g v o n jeher b e k a n n t gew e s e n : das Eingreifen übersinnlicher M ä c h t e in menschliche V e r h ä l t n i s s e k o m m t den wechselnden A n f o r d e r u n g e n einer musikalischen B e h a n d l u n g w e i t entgegen. D i e A b wechslung, die das S i n g s p i e l (s. d.), d e m die F i g u r des Zauberers l ä n g s t v e r t r a u t w a r , mit der V e r l e g u n g seines S c h a u p l a t z e s in f r e m d e Zonen zu erreichen h o f f t e , f ü h r t e auf fremde, dann auf dt. M ä r c h e n s t o f f e : J . Fr. R e i c h a r d t b r i n g t 1772 ' H ä n s e l u n d Gretel' auf die B ü h n e ; die 'Geschichte v o n den drei W ü n s c h e n ' behandelt 1775 G. B e n d a ; Oberon-, Undinen-, Faustm o t i v e stellen sich ein. D e r „realistische D ä m o n " (Goethe) des Singspiels h a t t e sich in der W i e n e r Zauberposse m i t phantastischen Elementen a u s der opera seria v e r e i n i g t u n d über M o z a r t s im G r u n d e auf Liebeskinds Märchen ' L u l u ' aus W i e l a n d s 'Dschinnistan' g e s t ü t z t e ' Z a u b e r f l ö t e ' den B o d e n f ü r die romantische O p e r [ W e b e r , Marschner) v o r b e r e i t e t , die ihre Forts e t z u n g einerseits in der M y t h e n g e s t a l t u n g R . W a g n e r s u n d seiner Nachfolger, anderseits (und in R e a k t i o n darauf) in der eigentlichen, den M y t h o s verniedlichenden Märchenoper Siegfried W a g n e r s , Humper* dincks, P f i t z n e r s f i n d e t (s. d. A r t . Oper). L. S c h m i d t Zur Geschichte der Märchenoper. Diss. Rostock 1895. Th. W. Werner.

Mariendichtung. § i . W a s dt. Dichter der ahd. Periode auf diesem Gebiet hervor g e b r a c h t haben, w a r lat. und intern geistliche D i c h t u n g , so die H y m n e n auf Maria G e b u r t u n d H i m m e l f a h r t des Hrabanus Maurus, die Marien-Sequenzen des Notker Balbulus, das in Distichen abgefaßte 'Marienleben' der R o s w i t h a v o n Gandersheim. D t . Mariendichtungen fehlen, und bei O t f r i e d findet die M u t t e r Gottes ebensowenig eine besondere Verherrlichung wie im ' H e l i a n d ' . E r s t im 12. J h . s e t z t mit dem Anschwellen der Marienverehrung, das vorzüglich auf die R e c h n u n g der Zisterzienser u n d P r ä m o n s t r a t e n s e r k a m , auch eine s t ä n d i g w a c h s e n d e Marienliteratur ein. Sie l ä ß t in manchen S t ü c k e n erkennen, wie die F r a u e n v e r e h r u n g und selbst die MinneSchulung, die die höfische Z e i t b r a c h t e , E i n f l u ß gewonnen h a t auf die künstlerischen A u s p r ä g u n g e n des erstarkenden M a r i e n k u l t s ; doch darf m a n das M a ß wechselseitiger A b h ä n g i g k e i t dieser beiden geistigen B e w e g u n g e n n i c h t überschätzen. § 2. E s m a g m i t der erst in frühmhd. Z e i t einsetzenden P o p u l a r i s i e r u n g der Mariengestalt u n d ihres K u l t s zusammenhängen, w e n n die e p i s c h e n D a r s t e l l u n g e n ihres L e b e n s mehr der älteren H ä l f t e der m h d . Periode angehören. A m A n f a n g stehen die auf 1 1 7 2 datierten Marienlieder des Priesters W e r n h e r (hsg. v o n Feifalik 1860), eine sehr g e w a n d t e u n d anziehende D i c h t u n g , die ihrer Quelle und deshalb ihrem S t o f f e nach d e m älteren 'Marienleben' der R o s w i t h a ebenso nahesteht wie, wenigstens auf S t r e c k e n hin, dem nächstjüngeren, d e m nicht v o l l s t ä n d i g erhaltenen G r a z e r M a r i e n l e b e n a u s der Mitte des 13. Jhs. ( Z f d A . X V I I [1874] S. 5 i p f f . ) . N i c h t lange v o r diesem W e r k e n t s t a n d auf dt. Boden, wahrscheinlich i m Südosten, die 'Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica' (hsg. v o n V ö g t l i n 1888), ein vielgelesenes Werk, das sich durch redselige Rhetorik und lyrische E i n l a g e n v o n den schlichten lat. M a r i e n v i t e n älterer Z e i t abhebt und bed e u t s a m w u r d e als Quelle für alle späteren dt. Marienleben, also nächst dem Grazer Marienleben f ü r die W e r k e des W a l t h e r v o n R h e i n a u (hsg. v o n A . v . Keller 1 8 4 9 — 5 5 ) , des K a r t ä u s e r s Philipp (hsg. v o n H . R ü k kert 1853) und des Schweizers W e r n h e r

MARIENDICHTUNG (hsg. von Päpke und Hübner 1920), das mit der gewöhnlichen Datierung „nicht lange vor 1382" vielleicht zu spät angesetzt wird. Das selbständigste und dichterisch wertvollste Werk ist das 'Marienleben' P h i l i p p s , eine Dichtung, die noch im 15. Jh. in immer roheren Bearbeitungen erneuert und schließlich sogar in die Prosa des Volksbuches aufgelöst wurde (zu der ganzen Gruppe vgl. M. P ä p k e Das Marienleben des Schweizers Wernher [Pal. 81] 1913). Besondere Teilnahme erregte der Ausgang des Lebens Mariä: wir besitzen eine frühe 'Himmelfahrt Marias' von K o n r . v. H e i m e s f u r t (ZfdA. V I I I [1851] S. 156H.), ein aus dem späteren 13. Jh. stammendes anonymes Gedicht, das gleichen Inhalts, aber von größerer Reife ist (ZfdA. V [1845] S. 515ff.), von unbedeutenden Bearbeitungen desselben Themas aus späterer Zeit wie der 'Himmelfahrt Marias' aus Seitenstetten zu geschweigen (ArchfnSpr. L I I I S. 121 ff.). Groß ist die Zahl der Legenden (s. d.), die sich um Marienwunder spinnen. Einige der beliebtesten begegnen hier und da in anderen Werken (die Theophiluslegende bereits in Hartmanns 'Rede vom Glauben'); schon im Anfang des 13. Jhs. treten sie in einer (nur in Bruchstücken erhaltenen) Sammlung auf (Germ. X X V [1880] S. 82ff.). Einen Zyklus von 25 Marienlegenden bietet das alte 'Passional' in seinem ersten Buche (besonders hsg. von Fr. Pfeiffer 1863); einzelne von ihnen gehören zu dem Liebenswürdigsten, was die geistliche Dichtung des MA. aufzuweisen hat. Sie sind hier eingewoben in eine Darstellung des Lebens der Maria, wie etwa auch in der aus dem späteren 14. Jh. stammenden Sammlung 'Der maget crom' (hsg. von J. Zingerle in W S B . X L V I I [1864]). § 3. Die M a r i e n l y r i k ist von Anfang an auf den Ton des Hymnisch-Preisenden gestimmt. Sie setzt um 1140 ein mit Dichtungen, die teils in Leichform (Mariensequenzen aus St. Lambrecht [MSD. X L I ] und Muri [MSD. XLII]), teils in gleichmäßigen Strophen sich halten (das schöne Marienlied aus Melk [MSD. X X X I X ] ) . Sie nehmen ihren Ausgang von lat. Dichtungen, mit denen sie die Bestimmung als Gesangstexte teilen, benutzen z. T. stark bekannte lat. Gesänge und schöpfen inhaltlich, unfrei

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und deshalb einander ähnlich, aus dem Gute, das lat. in Vers und Prosa für die Mariolatrie bereitstand. Doch zeigen die Dichtungen in Stil und Inhalt teilweise auch eigene Züge, zumal in stärkerem Hervortreten der Bitte neben dem Lobpreis. Das gilt besonders für den fälschlich sog. Marienleich aus Arnstein (MSD. X X X V I I I ) , ein reines Rezitationsstück; mehr noch steht abseits das überwiegend didaktische Vorauer 'Marienlob' (MSD. XL), das nicht aus seiner Stelle innerhalb der Vorauer 'Bücher Mosis' herausgelöst werden darf. Was sich hier vorbereitet, zeigt die Folgezeit, nach zwei Richtungen hin, breit entfaltet. Es hat gewiß schon im früheren 13. Jh. volkstümliche Marienlieder gegeben; unter den "Geißlerliedern (s. d.) des 14. Jhs. treten sie uns greifbar entgegen. Inhaltlich weist ihnen lat. kirchliche Dichtung den Weg, wie denn große Hymnen {Salve regina, Stabat mater) seit dem 14. Jh. wiederholt eingedeutscht wurden; aber sie scheuen auch Kontrafaktur (s. d.) weltlicher Volkslieder nicht. Im 15. Jh. findet das einfache, volksmäßige Marienlied bei H e i n r . v . L a u f e n b e r g bewußte Pflege (Wackernagel K L . II S. 528ff.). Neben dieser volkstümlichen Marienlyrik läuft eine kunstmäßige einher. Zwar der eigentliche Minnesang zeigt, wo er überhaupt religiöse Töne anschlägt, ausgesprochene Zurückhaltung gegenüber reiner M. Aber die Spruchdichter bemächtigten sich allmählich des Stoffes, um ihn in einer unschuldig-frivolen A r t mit Motiven des Minnesangs zu verquicken (so Reinmar v. Zweter, später Boppe, Friedr. v. Sunburg); ihre Nachfahren, die Meistersinger, nehmen ihn um so lieber auf, als er mit Paradoxien, wie der von Mariens Jungfrauen- und Mutterschaft, von ihrer Gottesmutter- und -tochterschaft, ihrer spintisierenden Kunst das dankbarste Objekt bot. F r a u e n l o b s 'Marienleich' ist das groteske Meisterstück dieser Art von M. (vgl. L. P f a n n m ü l l e r Frauenlobs Marienleich [ Q F 120] 1913); was kunst- und geistlosere Nachahmer auf demselben Gebiet leisteten, davon findet man Proben in der Kolmarer Meistersinger-Hs. In welchem Umfang schließlich das Marienthema, das die älteren Spruchdichter doch nur zögernd aufnahmen, die Produktion beherrschte, lehrt.

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MARIENDICHTUNG

M u s k a t b l ü t , der auch das gewagt Minnigliche auf die Spitze treibt, oder die Meisterliederdichtung des H a n s Folz, nur noch ein innerlich hohles Formenspiel, das auch von der prunkvollen Gelehrsamkeit, mit der früher meistersingerische Allegorien, wie Heinrichs von Mügeln 'Dom' (vgl. Goedeke I 270f.), die Mutter Gottes umgaben, nicht mehr viel hat. § 4. Eine besondere, ständig sich vergrößernde Gruppe innerhalb der Marienlyrik bilden die Gedichte, die in engerem oder loserem Zusammenhange mit dem Ave Maria stehen. Es hängt das zusammen mit der steigenden Bedeutung, die eigentlich erst vom 12. Jh. ab der engl. Gruß im gottesdienstlichen Leben gewann. Das Vorbild geben wieder lat. Dichtungen ab, die Marienpsalterien und Rosarien. Von ihnen entlehnen die dt. M a r i e n g r u ß d i c h t u n gen, was ihre Zusammengehörigkeit bestimmt, die Neigung zur Zahlensymmetrie {gern 50 Strophen oder ein mehrfaches davon), die Vorliebe für anaphorische Stropheneingänge, für akrostichische Verwendung des Ave Maria, den hymnischen Inhalt, der meist alle erdenklichen Benedeiungen Marias zusammenhanglos ausschüttet, seltener die Stationen ihres Lebens verfolgt (die liedhaften Dichtungen dieser Art sind am besten zu übersehen bei Wackernagel KL. II). Alle Stilarten haben sich an diesen Mariengrüßen versucht. Neben kurzen, volkstümlichen Liedern, die •wenige Strophen anaphorisch mit den Worten Avi Maria beginnen lassen (z. B. Wackernagel KL. II Nr. 59), steht schon im 13. Jh. eine pompöse Dichtung wie der pseudogottfriedische 'Marienpreis und Lobgesang auf Maria und Christus' (hsg. von L. Wolff 1924), der im 14. Jh. in dem 'Marienlob' des E b e r h . v. S a x (Wackernagel KL. II Nr. 316) ein Seitenstück hat; von den episch eingefaßten Mariengrüßen, die noch die gute Art des älteren 13. Jhs. zeigen {ZfdA. VIII [1851] S. 274ff.), geht es zu den meistersingerischen Künsteleien des M ö n c h s v o n S a l z b u r g (Wackernagel KL. II Nr. 547ff.). Selbst Humanisten pflegten die Gattung noch (von Seb. Brant ein 'Rosenkranz* in 50 sapphischen Strophen, von Jodocus Beißel ein anderer in 50 Distichen). Auch dem Zwecke nach

herrscht alle Verschiedenheit. Neben reinen Lesestücken stehen andere, die als Gebete gedacht, zum Hersagen oder Singen bestimmt waren. Eine weitere Gruppe von M. läßt zwar äußerlich eine Einreihung unter die hymnischen Mariengrüße nicht mehr recht zu, weil ihre übergroße Länge oder ihre metrische Form sich dagegen sträubt, steht ihnen aber nach Gehalt und Tendenz durchaus nah; dahin das niederrhein. 'Marienlob' (ZfdA. X [1856] S. iff.), um 1230, vielleicht die schönste dt. M. großen Formats, weiter K o n r a d s v. W ü r z b u r g 'Goldene Schmiede' (hsg. von E. Schröder 1926), eine geschätzte Fundgrube für spätere Dichter, endlich aus dem 14. Jh. B r u d e r H a n s e n s 'Marienlieder' (hsg. von R. Minzloff 1863), bei denen die akrostichische Verwendung des Ave Maria neben anderen formalen Besonderheiten einen engeren Zusammenhang mit der Gattung der Mariengrüße gewährleistet. § 5. Ins Gebiet des Dramatischen hinüber führt die von Haus aus rein lyrische Gattung der M a r i e n k l a g e n , die ihren Ursprung wiederum in lat. kirchlicher Dichtung hat. Unter den lat. Sequenzen, die im Passionsgottesdienst Verwendung fanden, waren auch solche, die Marias Schmerz und Klage unter dem Kreuz zum Gegenstande hatten. Eine von ihnen, die Sequenz Planctus ante nescia, im 12. Jh. aus Frankreich nach Deutschland gelangt, ist die Stammutter der meisten dt. Marienklagen geworden (vgl. A. S c h ö n b a c h Über Marienklagen 1874). Man übersetzt zunächst die lat. Sequenz (ndrhein. Gedicht noch des 12. Jhs. bei 0 . S c h a d e Geistliche Gedichte des 14. und 15. Jhs. vom Niederrhein 1854 S. 208ff.), man bearbeitet dann dt. die dialogischen Stücke, die sich noch innerhalb des kirchlichen Gebrauchs aus dem Klagemonolog Marias entwickelten, und man nimmt schließlich diese dramatisierten und ihr Personal allmählich bereichernden Marienklagen in die großen volkstümlichen Passionsspiele auf. Zählebig retten sie sich schließlich noch in das Kirchenlied des 16. Jhs. hinüber. Wie beliebt gerade diese Form poetischer Verklärung Marias war, geht daraus hervor, daß sich eine Marienklage z. T. großen Umfangs auch als Einlage in den großen er-

MARINISMUS—MASKE zählenden und lobpreisenden Werken findet (so in den v o n der 'Vita

metrica'

abhängen-

den Marienleben und in dem ndrhein. 'Marienlob'); sie konnte sogar zum Mittelpunkt einer eigenartigen epischen Darstellung der Passionsgeschichte werden ('Der Spiegel', Mitte des 13. Jhs., am besten hsg. von Milchsack P B B . V [1878] S. I93ff.). § 6. Die M. ist mit dem MA. nicht gestorben, aber sie hat an Niveau verloren, zumal sie durch die Reformation auf das katholische Deutschland beschränkt wurde. Hier aber gedeiht, im 16. und 17. Jh. noch reich entfaltet, eine Marienliederdichtung, die die mal. Tradition zum Auslaufen bringt. Der ganze Stoff- und Formenreichtum, wie er am Ausgang des MA. bereitstand, erneuert sich im Zeitalter des Druckes in einer im ganzen volkstümlichen Sphäre, um in Einzeldrucken und Liedersammlungen verbreitet zu werden, die nicht nur die Hymnenübersetzungen, Rosenkränze, geistlichen Tagweisen, Marienklagen fortsetzen, sondern auch epische Stoffe wie die Opferung, Verkündigung, Heimsuchung, den Heimgang Marias weitertragen. So ist letztlich in katholischen Gesangbüchern die mal. M. verebbt. St. B e i s s e l Geschichte der Verehrung Marias in Deutschland während des Mittelalters 1909. A. K o b e r Zur Geschichte der deutschen Mariendichtuns, ZfdU. X X V I I I (1914) S. 595 ff., 691 ff.

Marinismus s. S c h w u l s t .

A. Hübner.

Marionettentheater s. P u p p e n t h e a t e r . Martinslied, ein zu Ehren des hl. Martin, Bischofs von Tours (4. Jh.), gesungenes Lied. Es sind zwei Arten zu unterscheiden: G e s e l l s c h a f t s - und K i n d e r l i e d e r . Da der Geburtstag des Heiligen den Beginn des bäuerlichen Wirtschaftsjahres bedeutet und um jene Zeit Küche und Keller wohlgefüllt zu sein pflegen, so wurde er mit Schmausereien und Gelagen begangen, bei denen die Gesellschaftslieder üblich waren. Sichere Beispiele für diese findet man seit dem 14. Jh. Es zeigt sich bei ihnen der Einfluß kirchlicher Hymnen, Bacchanten- und Vagantengesänge, auch in den lat. Versen. Der hl. Martin als Weinheiliger (in Frankreich) mußte den Zechgenossen verehrungswürdig erscheinen (St. Martinsminne). Die Gans als sein Attribut weist jedenfalls auf

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den röm. Kriegsgott Mars hin, an dessen Stelle St.'Martin getreten ist. So wird ihr Lob (die Gänse sind im November besonders fett) mit Behagen verkündet. Etwas mehr Zusammenhang mit der Legende verraten die Kinderlieder. Sie haben ihr Verbreitungsgebiet in Holland, Flandern, Ostfriesland, Luxemburg, Hannoverund Braunschweig, wenig östlich von der Elbe und neuerdings in Thüringen, von wo die Umdeutung auf Martin Luther ausgegangen sein mag. In ihnen kommt gelegentlich noch das Motiv der Mantelteilung vor. Wir verfolgen ihre Entwicklung seit der 2. Hälfte des 16. Jhs. Am Martinsfeste zündet man Feuer an, und bei dem Einsammeln des Holzes ertönen die Lieder. Der eigentliche Zweck aber ist das Heischen von Gaben überhaupt. Oft wird dabei der Rummelpott verwendet. Gute Wünsche für die Spender und höhnische Bemerkungen über die Geizigen schließen sich an. Die zuweilen erwähnte Kuh entstammt der Heiligengeschichte. Das „Kögelchen" hat wohl seinen Ursprung in der ,,capa" St. Martins von Tours aus dem Reliquienschatz der fränk. Könige, und das „Vögelchen" [picus martius) dürfte eine Epiphanie der Seele des Heiligen darstellen. In den ersten Jahren des Weltkrieges ist hier und da eine Umdeutung des Brauches eingetreten und für die Feldgrauen gesammelt worden. Auch die Gesellschaftslieder haben auf die Kinderlieder abgefärbt. W. J ü r g e n s e n Martinslieder ( = Wort und Brauch 6.Heft) 1910; dazu Z f d P h . X X X I V ( i 9 l 2 ) S. 233. Fr. W i l h e l m , PBB. X X X V I I (1912) S. 161. A. G e b h a r d t und O e c h s l e r ZfVk. X X X I V (1914) S. 47. E. K ü c k NdZfVk. I (1923) S. 49. Zahlreiche Beispiele in der Zs. 'Niedersachsen'. k . Reuschel.

Maske. Die antike Theaterkunst arbeitete mit Gesichtsbedeckungen, durch die (genauer gesagt) der ganze Kopf bis zum Hals helmartig überzogen wurde. Diese offenbar vom Gottesdienst übernommenen Masken waren typische Masken, nicht individualisierende, und gaben den Gesamtcharakter wieder, indem sie eine gleichmäßige, durchschnittliche Grundstimmung der Rolle festhielten. Allerdings kannte man im späteren Altertum auch den Maskenwechsel innerhalb eines Stückes; es gab etwa 60 verschiedene M. Weder Lessings Bedauern

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MASSENSZENE—MEERESDICHTUNG

gegenüber der Abschaffung der M. ('Hamb. Dramaturgie', 56. Stück) noch Goethes Versuch, in Weimar 1801 die 'Brüder' des Terenz mit M. spielen zu lassen, konnten dieses mimikraubende, jeder individualisierenden Kunst zuwiderlaufende Element früher Theaterkunst retten. Etwas aus der Maskenkunst des Mimus, des antiken Volkstheaters, ist wiederzufinden in den M. der ital. Commedia deW arte, namentlich in den komischen Figuren und ihren Veränderungen des Gesichtes. — Im weiteren Sinne versteht man unter M. nicht nur die wirkliche Gesichtsbedeckung, sondern die Gesamtheit der die äußere Bühnenerscheinung eines Darstellers ausmachenden vorgenommenen Veränderungen, die durch Kostüm, Bart, Perücke und Schminke hervorgerufen werden und Charakter, Alter, Stand, Beschäftigung usw. irgendwie gleich erkennen lassen (s. d. Art. Schminke). Man spricht von „Maske machen", wobei die Angaben des Spielleiters ebenso von Bedeutung sind wie der künstlerische Geschmack und die Phantasie des Schauspielers selbst. C. R o b e r t Die Masken der neuern attischen Komödie 1 9 1 1 . M a r g a r e t e B i e b e r Die Denkmäler zum Theaterwesen im Altertum 1920. F . P e r z y n s k i Japanische Masken 1925. M. v. B o e h n Das Bühnenkostüm 1 9 2 1 . H. R e i c h Der Mimus 1903. B. D i e b o l d Das Rollenfach im dt. Theaterbetrieb des 18. Jhs. 1 9 1 3 . H. D o e r r y Das Rollenfach im dt. Theaterbetrieb des ig. Jhs. ! 926. H. Knudsen.

Massenszene. Erst durch die Meininger (s. d.) ist in Deutschland gezeigt worden, daß die M. eine künstlerische Angelegenheit ist, die sich nicht durch Zusammenrottung dienstwilliger Soldaten oder Studenten lösen läßt. Bei den Meiningern wurden gerade gute Schauspieler in der Statisterie beschäftigt (wie es ähnlich schon Goethe von seinem Solopersonal verlangte), damit die Masse, z. B. in 'Julius Cäsar', als ein wirklich mitspielender, lebender, nicht gedrillter Organismus in der Aufführung erschien. Besonders sorgfältige Vorbereitung erfordern M. mit längeren Sprechpartien, z. B. in der 'Braut von Messina' oder in den antiken Chorstücken. Da muß nach musikalischen Gesichtspunkten gearbeitet werden. Max Reinhardt hat 1911 mit der Zirkusaufführung des 'König Ödipus'

ein vorbildliches Beispiel der Massenregie gegeben. W. L o h m e y e r Dramaturgie der Massen 1913. N e u w e i l e r Massenregie 1919 (schlecht geschrieben, aber durch die Beispiele brauchbar). H. Knudsen.

Meeresdichtung. Das MA. kennt sie noch nicht. Zwar werden geographische Vorstellungen in Verse gebracht und reichlich sagenhafte Berichte gegeben vom Weltmeer (uuentilmere, uuentilseo) und vom geronnenen Meer (lebirmer), vom Magnetberg, der die Schiffe an sich zieht, von Meerungeheuern (Sirenen), Abenteuerdichtung läßt die Helden in Seesturm geraten, aber irgendwie über das Typische geht die Schilderei nicht hinaus, und in der Gestalt der 'Kudrun', die durch das 'Ambraser Heldenbuch' auf uns gekommen ist, fühlen wir eher Mittelmeerstimmung als den Versuch, die heimischen Gestade zu veranschaulichen. Bemerkenswert ist immerhin, daß der 'Heliand' den See Genezareth als ein Meer ansieht und Christus mit seinen Jüngern auf ein hochgebordetes Wikingerschiff versetzt. Die Schrecken einer Reise auf brausenden Wogen meinen die trunkenen Gesellen der 'Wiener Meerfahrt' durchzumachen. In dem historischen Lied von Störtebecker und Gödeke Michael wird die Zeit der Seeräuber lebendig. Lyrische Verherrlichung des Meeres, Sinn für die Erhabenheit und Größe des Ozeans, für den Zauber seiner Beleuchtung ist erst dem 19. Jh. eigen. In Heines 'Nordseezyklen' gelangt freier Rhythmus zur Vollendung. Zum Teil in Kosegartens Spuren bewegt sich Wilhelm Müller in seinen 'Muscheln von der Insel Rügen'; er widmet seinen Sang dem untergegangenen sagenhaften Vineta, das er zwischen Pommern und Rügen verlegt, während man es meist ganz nahe an der Nordwestküste von Usedom sucht. Chamisso behandelt ein paar Jahre später, auf Karl Lappes Reiseführer 'Mitgabe nach Rügen' fußend, die Geschichte von der Stubbenkammerer Jungfrau, und des eben erwähnten Lappe Gestaltung der Sage von dem Meermann und dem Hiddenseer Mädchen, das seine Gattin wird und wieder auf die Oberwelt zurückkehrt (von E r lach Volkslieder der Deutschen I I I [1835] S. 553), scheint Matthew Arnold an-

MEININGER geregt zu haben, im 'Forsaken Meerman' gegenüber der sonst üblichen Parteinahme für das Schicksal von Wassermanns Frau den Schmerz des verlassenen Gatten zu besingen. Der Amerikafahrer Lenau weiß Meeresstimmung meisterlich wiederzugeben, im Hafen von A m s t e r d a m t r ä u m t sich Freiligrath in Seeabenteuer verschiedenster A r t hinein. Seine Seestücke sind von kühnster Phantasiekraft. Seebilder zeichnen dann Strachwitz im 'Nordland', wo die alten Heldenstoffe neue Form gewinnen, Storm und Geibel, die heimatliche Eindrücke festhalten, letzterer besonders in den Heine nicht unebenbürtigen 'Ostseeliedern' der 'Spätherbstblätter', Detlev von Liliencron, der Friesendichter Hermann Allmers, Gustav Falke, Arno Holz, Otto Ernst, Agnes Miegel und z. B . noch Reinhold Fuchs, der seine erste Sammlung 'Strandgut' betitelt. Eine besonders gern gepflegte A b a r t der M. ist die Flottendichtung mit ihrem stark vaterländischen Einschlag. Herwegh begründet sie 1841 mit seiner 'Deutschen Flotte', und Freiligrath sieht 1843 in seinen ' Flottenträumen'Deutschlands künftige Seeherrlichkeit. Als das neue Reich erstanden ist und Kaiser Wilhelm II. das W o r t geprägt h a t : ,, Unsere Z u k u n f t liegtauf dem W a s s e r " , finden sie zahlreiche Nachfolger, unter ihnen Gottfried Schwab ('Michel, horch, der Seewind pfeift!'), Theodor Siebs ('Breit' aus die stolzen Schwingen'), Georg Thouret ('Gürte dich, Germania!'), Reinhold Fuchs ('Hurra! Ihr blauen Jungen'), Robert Linderer ('Stolz weht die Flagge schwarz-weißrot'). A u c h Ruhmestaten dt. Seeleute werden besungen, so der heldenmütige Untergang der Iltismannschaft am 23. Juli 1896, und noch vor dem Weltkrieg läßt Hermann Löns sein zum Volkslied gewordenes, wie eine Prophezeihung klingendes 'Heute wollen wir ein Liedchen singen' erschallen. Das große Ringen von 1914 bis 1918 erweckt eine Menge Flottenlieder und Schilderungen dt. Seemannsmutes. Die Seeschlacht im Skagerrak fordert zur Behandlung des Problems der Seeschlacht überhaupt heraus, als Vision durch Heinrich Lersch ('Deutschland'), als zeitlose Tragödie (R. Goering), als Heldensang eines ganzen Volkes ('Ozean' von Jos. Winckler), M e r k e r - S t a m m l e r , R e a l l e x i k o n II.

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und auch Frenssen, der schon lange zuvor gern das Meer in seinen Prosawerken dargestellt hatte, fügte dem Roman 'Die Brüder' ein packendes Bild der Skagerrakschlacht ein. Unter den Erzählungen von Leiden und Gefahren der Küstenbewohner und der seefahrenden Bevölkerung, die wegen ihrer Fülle unmöglich aufgezählt werden können, ragt Gorch Focks 'Seefahrt ist not' (1913) hervor. Endlich seien Mörikes 'Gesang Weylas', Hebbels mythologische Deutung 'Meeresleuchten' und Gottfried Kellers kühner Vergleich 'O Erde, du gedrängtes Meer' als freie phantasiekünstlerische Gestaltungen innerhalb der dt. M. erwähnt. Eine zusammenfassende Untersuchung der Meeresdichtung steht noch aus. — M. B e r n Ahoi/ Dt. Meereslyrik 1899. J u l . L o h m e y e r Zur See, mein Volk! Die besten See-, Flotten- und Meerespoesien 1910. H. R a y m a n n Die Gestaltung der modernen Seeschlacht, L E . X X I (1918/19) Sp. 13. K . Reuschel.

Meininger. In einer Zeit, in der das dt. Theater immer noch unter der Tyrannei des Virtuosentums stand, das schon Goethe zu bekämpfen sich bemüht hatte, mußte die Theaterreform, die der Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen (1826—1914) an seinem kleinen Residenztheater durchführte, besonders auffallen. Ohne durch die (von ihm abgeschaffte) Oper gehemmt zu sein, konnte der,,Theaterherzog", der nicht etwa ein freigebiger Theaterdilettant war, sondern ein Regisseur, ein Organisator, ein (durch den Münchner Historienmaler Lindenschmitt geschulter) Maler, als sach-und fachkundiger Führer und Mitarbeiter die große Reform der dt. Theaterkunst durchführen. Sein Grundsatz war (neben der Erzielung einer charakteristischen schauspielerischen Einzelleistung) das Ensemble, die Geschlossenheit des Spiels, die Echtheit des Bühnenbildes, des Kostüms, der Requisiten und die überzeugenden Massenszenen. Herzog Georg war nicht ohne Vorgänger und steht innerhalb einer Tradition; besonders haben die engl. Shakespeare-Aufführungen unter Charles K e a n ihm im Ausstattungswesen vorgearbeitet, und in manchem haben schon Eduard Devrient in Karlsruhe und Dingelstedt in München M.-Grundsätze gehabt. Die Leistungen aber des Theaterherzogs, dessen Regisseur Ludwig Chronegk nicht 22

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MEISTERGESANG—MENNONITEN

übersehen werden darf, sind deswegen so epochal gewesen, weil die Gastspielfahrten der M. in den J. 1874—1890 ihr Werk in 37 Städten des In- und Auslandes zeigten. Obschon Künstler wie Ludwig Barnay, Adalb. Matkowsky oder Josef Kainz zu den M. gehörten, ist der wesentliche Einfluß der M. nicht so sehr der Schauspielkunst zugute gekommen als vielmehr der Regie. Noch die eindrucksvollen Massenszenen (s. d.) bei Max Reinhardt sind ohne die M. nicht denkbar, bei denen kein noch so bedeutender Schauspieler sich zu überlegen dünken durfte, um nicht in der Komparserie mitzuwirken, die dann freilich keine Herde von Statisten blieb, sondern ein lebender, beweglicher, mitarbeitender Organismus; so etwa im 'Julius Cäsar'. Den Klassikern Goethe, Schiller, Kleist, Grillparzer, Molière, Shakespeare ist die neue Theaterkunst vor allem zugute gekommen und hat jene Dichter teilweise neu sehen und erleben gelehrt, wenn z. B. die Jungfrau von Orléans nicht mit einer brünhildenhaften Heroine besetzt wurde, sondern mit einer zarten, jungen, eher schwächlichen Künstlerin. Neben den Klassikern, für die durch die M. überhaupt erst das Interesse wieder lebhaft erwachte, wurden gelegentlich auch literarische Nichtigkeiten gegeben, die heute vergessen sind (Minding 'Sixtus V.'). Von zeitgenössischen Dichtern kamen Ibsen (mit den 'Gespenstern* !), Björnson, Anzengruber zu Worte. Der Schlendrian namentlich im Kostümwesen wurde zugunsten der geschichtlichen Echtheit oder wenigstens Richtigkeit beseitigt, das Kulissen- und Soffittenbild änderte sich: man sah feste Wände und Decken. Die deutschen Regisseure machten in Meiningen eine gut disziplinierte Schule durch; freilich fehlte es nicht an geistloser Nachbeterei, durch deren antiquarische Spielereien unter Vernachlässigung des Künstlerischen und Geistigen die „Meiningerei" verschrieen wurde als hohle Theatralik. R . P r o l ß Das herzogl. Meiningensche Hoftheater, seine Entwicklung, seine Bestrebungen und die Bedeutung seiner Gastspiele 1887. D e r s . Das Meiningische Ho/thealer und die Bühnenreform 1882". P. R i c h a r d Die Gastspiele des Herzogl. Meininger Hof theaters während der Jahre 1874—1883 1884. D e r s . Chronik sämtlicher

Gastspiele des Sachsen- Meiningenschen Hoftheaters 1874—1890 1891. C. W . A l l e r s Die Meininger 1890. K . G r u b e Die Meininger o. J. (1904). A . K l a a r Herzog Georg von Meiningen, ShJb. L I (1915) S. 193—204. M. G r u b e Am Hofe der Kunst 1918. E . W o l f f Georg II. Herzog von Sachsen-Meiningen, D t . Biograph. Jb. I (1925) S. 23—26. M. G r u b e Geschichte der Meininger 1926 (mit reichem Bildmaterial von der Hand des Herzogs selbst). H. Knudsen.

Meistergesang s. N a c h t r a g . Melodie s. S p r e c h m e l o d i e . Melodrama. Die musikalische Auslegung eines nicht auf die Höhe des Rezitativs (s. d. Art. Arie) gehobenen Vortrags, der sich im Rhythmischen immerhin gefesselt sieht, verschuldet die Zwitterstellung dieser zu kurzer und treffender musikalischer Ausdrucksweise gezwungenen und deshalb eigenartigen Gattung, von der selbständige Beispiele J. J. Rousseau (gest. 1778) als Erfinder, G. Benda (gest. 1795), Chr. G. Neefe (gest. 1798), später Schubert, Schumann, Liszt, Schillings, Humperdinck, Siegwart u. a. vorlegten. Eine überraschende ästhetische Rechtfertigung erfuhr das M. durch seine Aufnahme in die Oper (Neefe 'Adelheid von Veltheim' 1781, Beethoven 'Fidelio', Weber 'Der Freischütz', Marschner 'Hans Heiling'): hier ist es mit Schilderung unheimlicher Lagen das Einfallstor romantischer Elemente. Vgl. d. Art. Monodrama. E . I s t e l Jean-Jacques Rousseau als Komponist seiner lyrischen Szene 'Pygmalion', Beiheft der Intern. Musikgesellsch. 1901. D e r s . Die Entstehung des deutschen Melodrams 1906. M. S t e i n i t z e r Zur Entwicklungsgeschichte des Melodrams und Mimodrams o. J. (1908). A . E i n s t e i n Neudruck von Bendas 'Ariadne auf Naxos' 1920. J h . W . Werner.

Mennonlten, eine von Menno Simons (1492—1559) gegründete Gemeinschaft der stillen Wiedertäufer, die im scharfen Gegensatz zu den Münsterischen jede gewaltsame Bewegung verabscheuten, den Eid verwarfen, eine Scheidung der Ehe nur bei Ehebruch gestatteten und ihren Mitgliedern die Annahme eines obrigkeitlichen Amtes untersagten. Mit Ausnahme der Gütergemeinschaft sind ihre Ansichten gleich denen der Hutterischen Brüder (s. d.), mit denen sie in Amerika auch nahe Beziehungen unterhalten. Menno fand namentlich am Niederrhein, wo ihm Melchior Hoffmann vorgearbeitet hatte, aber auch

MERKER

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in Norddeutschland, in Friesland und an haben unter eigenes Gut auch viel fremdes der Nordsee, wo er predigte, viele Anhänger. gemengt und entbehren eines einheitlichen Am Rhein begegnete Menno den niederländ. Grundzuges. Die Gemeinden in der Pfalz Reformierten, mit denen seine Anhänger und am Niederrhein haben ihre eigenen sich nahe berührten, wie das namentlich Gesangbücher, ebenso wie die in Nordihre Lieder beweisen. Den holländ. 'Ueeldeutschland; wieder andere besitzen die derhande Liedekens, ghemaect wt den Ouden M. in Südrußland (wo sie seit 1786 angeen Nteuwen Testamente', die 1569 ersiedelt waren und zu großem Wohlstand schienen, entnahm das Liederbuch der M. gelangten, bis die Einführung der Wehr'Ein schon gesangbuchlin Geistlicher Liepflicht viele von ihnen zur Auswanderung der', dessen I. Auflage zwischen 1565 und nach Amerika bewog; vollends vernichtet 1569 erschienen sein muß, aber als verloren wurden ihre Siedlungen durch den Weltgilt, und dessen 2. Auflage nach 1569 erkrieg, so daß neuerdings viele Familien schien, nicht nur die Vorrede, sondern auch nach Amerika zogen, von wo ihnen ihre acht Lieder in fast wörtlicher Übersetzung, Glaubensgenossen hilfreiche Hand boten) während zehn andere Lieder den Gesängen und in Amerika, wo sie seit 1698 in den der Schweizer Brüder (s. d.) entstammen, Vereinigten Staaten (Pennsylvania, Ohio, weitere zwölf Lieder auf verschiedene Virginia, Kansas, Minnesota, Oklahoma und Einzeldrucke und Gesangbücher zurückNebraska) und seit 1800 in Kanada sich gehen. Der Rest von 103 Liedern führt ansiedelten. Die M. Amerikas ließen 1841 uns durch die zahlreichen Akrosticha, die bei Johann Baer in Lancaster ein 'Unsich in ihnen finden und uns die Namen partheyisches Gesangbuch, enthaltend ihrer Verfasser verraten, in die Nähe der Geistreiche Lieder und Psalmen auf BeNiederlande. Die dt. Lieder sind weniger gehren der Mennonisten Gemeinen aus dogmatischen als moralischen Inhalts; nur vielen Liederbüchern gesammelt' erscheidie Tauf- und Abendmahlsfrage wird öfters nen, das auch heute noch in Gebrauch ist. behandelt, der Eid und die Obrigkeit abPh. W a c k e r n a g e l Lieder der niederländigelehnt. Sonst betonen sie vor allem die schen Reformierten 1867. R. W o l k a n Lieder der Wiedertäufer 1903. S. 9 0 - 1 1 7 . R. Wolkan. Liebe als die höchste Tugend, klagen über die grauenhaften Verfolgungen, denen ihre Merker. merkare ist ein eigentümliches Anhänger ausgesetzt seien, und über die Wort des älteren Minnesangs, es erscheint Ungerechtigkeit der Welt und wenden sich besonders vom Kürenberger bis zu Reinscharf gegen den Papst und seine Kirche; mar, später vereinzelt. Ihrem lästigen ihre nahe Verwandtschaft mit dem Volks„Merken", d. h. „Aufpassen", welches den liede zeigen viele Liederanfänge und die Sänger hindert, der Frau nahe zu kommen, häufige Verwendung des Wächtermotivs; gilt die heftige Klage. Daneben findet man häufiger als sonst finden sich hier dialogisch andere Ausdrücke, wie wrüger, „Rüger" geführte Lieder und solche nach dem Abc; (Veldekc MF. 6o, 32), und allerlei andeutende die Töne sind wie bei allen Liedern der verUmschreibungen von valschen liuten u. ä. schiedenen Sekten des 16. Jhs. ausschließManchmal erscheint neben den M. die lich Volksliedern entnommen. Eine 3. Aufl. „Hute" (huote), die feindselige Bewachung; erschien unter dem Titel 'Ein schon gesang- beide Begriffe gehen ineinander über (s. buchlein, darinn begriffen werden vielerW i l m a n n s Walthers Leben2 S. 398f.). Seine handt schöner Geistlicher Lieder'; es erepische Verkörperung ist vor allem der schien ohne Jahreszahl, fällt aber in die Zwerg Melot im 'Tristan', auch Ritschier Jahre 1589—1593 und nicht (wie Wackerim 'Engelhard' des Konrad von Würzburg. nagel K L . 1485 annahm) in die Jahre 1570 Der Begriff ist also von Anfang des Minnebis 1583, da es um sieben Lieder von sangs an als festes Motiv da, gerade bei Lenaert Klock vermehrt ist, von denen den Dichtern, bei denen sich die Idee des vier erst in seinem 1593 erschienenen LiederMinnesangs, aber noch nicht die Nachbuch 'Veelderhande Schriftuerlijcke Nieuwe bildung prov. Vorbilder merklich macht. Liedekens' enthalten sind. Die späteren AufDer merkare entspricht dem prov. lauzenlagen der mennonitischen Gesangbücher gier, über dessen schillernden und einer 22»

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METAPHER

bestimmten Erklärung nicht recht standhaltenden Begriff W e c h ß l e r Kulturproblem des Minnesangs S. 201—203 z u vergleichen ist. Gerade dies scheint auf eine frühere Stufe der Einführung des Motivs zu weisen, die B u r d a c h (auch Wechßler denkt schon daran S. 203) in der arab. Hofpoesie findet (BSB. 1918 S. 997 ff. = Vorspiel 1 1 [1925] S. 253ff.). Das Wort taucht noch einmal in der Literatur auf, bei den Meistersingern (s. d.) sind die M. die Schiedsrichter beim Preissingen (A. P u s c h man Gründl. Bericht [NDL. 73] S. 30ff.). G. Rosenhagen.

Metapher, griech. (lat. translatio) = Übertragung. Aristoteles (Poetik 21) sah noch ganz allgemein jeden Fall von Bedeutungswandel als M. an (jiexacpopa i 2 gebt zurück auf 'Parzival' I 452 u. ö., Azagouc Bartsch 439, 2 ebenso auf ' P a r z . ' V 305; wogegen 'Parz.' V I I I 682 auf R&moldes rdt L a c h m a n n 1405/09 anspielt — k o m m t noch als erwägenswerter terminus a quo, dafl König Philipp das A m t des Reichsküchenmeisters erst 1202 f ü r die Rotenburger neu errichtet zu h a b e n scheint, u m sie für ihre ErbansprUche auf das Reichstruchsessenamt abzufinden (M. J . F i c k e r Die Reichshofbeamten der Stauf. Periode, W S B . X L [1862] S. 447ff.). — A. H ö f e r Die Reiserechnungen des Bischofs Wolfger von Passau, P B B . X V I I (1893) S. 441 ff- - D a ß Wolfger aus d e m Hause der H e r r e n von E r l a an der E r l a h n u r fälschlich 'von Ellenbrechtskirchen' g e n a n n t wird, beweist V. v. H a n d e l - M a z z e t t i Verh. d . hist. Ver. f. N i e d e r b a y e m X L V I I I (1912). — F a s t den ganzen Fragenkomplex b e r ü h r t K . B u r d a c h Der mythische und der geschichtliche Walther, Vorspiel I / l (1925) S. 334 ff-

Für eine Redaktion eines älteren Gedichtes hat man auch die — trotz der abweichenden Form den Hss. von NL. angehängte — 'Klage' gehalten, was neuestens wieder bestritten wird. Die Widersprüche zwischen Kl. und NL. und in NL. selbst versucht die alsbald vorgenommene durchgreifende Neubearbeitung zu beseitigen, die das Gedicht als Der Nibelunge liet bezeichnet. Die erhaltenen ältesten Pergamenthss. A und C befanden sich im 18. Jh. zu Hohenems in Vorarlberg; B gehörte Mitte des 16. Jhs. Ägidius Tschudi, vorher den Grafen

von Werdenberg (der Ort liegt Meilen talauf von Hohenems).

wenige

F ü r die älteste bis j e t z t b e k a n n t gewordene H s . des N L . h ä l t H . M e n h a r d t die von i h m kürzlich a u f g e f u n d e n e n B r u c h s t ü c k e einer zu Falzen zers c h n i t t e n e n P e r g a m e n t h s . in der Papierhs. N r . 152 der K l a g e n f u r t e r Studienbibliothek, deren Veröffentlichung in der ZfdA. b e v o r s t e h t .

Die letzte Umgestaltung [Der Nibelunger liet) im Hildebrandston liegt in der Hs. k der Piaristen auf der Wieden (Wiener Nationalbibliothek Nr. 15478) aus dem 15. Jh. vor. Kaiser Maximilian ließ NL. mit anderen Gedichten 1504—1515 von Johann Ried aus dem verlorenen „Heldenbuch an der Etsch" abschreiben (Ambraser Hs.). Um die Mitte des 16. Jhs. ist es dem Wiener Humanisten Wolfgang Lazius noch wohlbekannt. Dann bricht die Überlieferung ab. Der beispiellose literarische Erfolg von NL. zeigt sich nicht nur in der großen Zahl von Hss., die sich auf drei Jhh. verteilen, sondern auch in der formalen und stofflichen Nachwirkung auf die zeitgenössische Epik. Als Abarten der Nibelungenstrophe stellen sich dar: die Strophe von 'Walther und Hildegund', 'Ortnit', 'Kudrun', 'Titurel', der Hildebrandston und die Heunenweise. Von den verritternden Neubearbeitungen älterer Gedichte der Heldenepik nach dem Muster von NL. weisen auf die österr. Länder: 'Walther und Hildegund'; die schon stärker unter dem Einfluß der höfischen Romane stehenden 'Kudrun', 'Biterolf und Dietleib'; 'Dietrich und Wenezlan'; 'Laurin', 'Der Wormser Rosengarten'; 'Dietrichs Ahnen' und 'Flucht' und die 'Rabenschlacht', diese beiden von einem steir. Fahrenden Heinrich dem Vogler; 'Wolfdietrich' BD. Die obengenannte Piaristenhs. liegt n u n ganz im D r u c k v o r : 'Dieterichs erste A u s f a h r t ' , hg. v . F . S t a r k 1860, Bibl. des Literar. Vereins 52; ' A n t e l a n ' , hg. v . W . S c h e r e r ZfdA. X V (1872) S. 140—149; ' O r t n e i t ' u n d 'Wolfdietrich', h g . v . J . L u n z e r 1906, Bibl. des Literar. Vereins 239; ' D e r Nibelunger liet', hg. v . A. v. K e l l e r 1879, Bibl. des L i t e r a r . Vereins 142; ' L o r e n g e r , hg. v . E . S t e i n m e y e r ZfdA. X V (1872) S. 181—244.

§ 7 . H ö f i s c h e s E p o s . Daß das höfische Epos — in dt. und franz. Dichtwerken — in der ritterlichen Gesellschaft Österreichs nicht unbekannt blieb, ist bei dem gesteigerten Verkehr der Kreuzzugszeit, bei

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR dem politischen Ansehen der Babenberger Herzoge, bei den Beziehungen von Hof zu Hof, namentlich zwischen Österreich und Thüringen, als deren symbolischen Ausdruck wir den 'Sängerkrieg auf der Wartburg' aufzufassen haben, durchaus begreiflich. Den Übergang vom geistlichen zum höfischen Epos stellt die 'Kindheit Jesu' des Konrad von Fußesbrunnen (urkundlich zw. 1182 und 1187 in der Kremser Gegend nachgewiesen) dar, der seine Erzählungskunst an Hartmann von Aue geschult hat. Dieselbe Hs. überliefert die in einer verwandten Manier erzählte Marienlegende vom 'Jüdel'. Charakteristisch für die Dichter höfischer Epen in Österreich (Heinrich v. d. Türlin etwa 1215—1220, Stricker vor 1230, Ulrich v . d. Türlin 1261 — 1269, Pleier 1260—1280 und einige Ungenannte) ist, daß sie stilistisch ebenso von den großen Meistern des dt. Artusromanes wie vom Heldenepos beeinflußt sind, daß sie vielfach auf abgelegenere franz. Romane gegriffen zu haben scheinen, die heute verloren sind, so daß ihnen geradezu freie Erfindung ihrer Stoffe zugemutet worden ist ('Die Krone', 'Daniel vom blühenden Tal', 'Wigamur' vor 1250, 'Edolanz' um 1250), und daß sie sich namentlich in den Liebesszenen oft in einer kecken, die Dezenz beiseite setzenden, bisweilen geradezu lüsternen Realistik ergehen. Edelleute, die die niedere Minne bevorzugen und unpassende Verbindungen eingehen, tadelt der ungenannte Verfasser von 'Mai und Beaflor'. § 8. S i t t e n s c h i l d e r u n g . Ganz einzig in der mhd. Literatur steht die Subjektivität da, mit der Ulrich von Liechtenstein im 'Frauendienst' (um 1250) seinen Liebesroman und die aus ihm hervorgegangenen Minnegedichte den Zeitgenossen darbietet — nur etwa vergleichbar mit der um ein halbes Jh. jüngeren 'Vitanuova' von Dante. Der Schwank und das Fabliau, vereinzelt schon in der Melker Hs. (hg. v. A. L e i t z m a n n , DTMA. IV 1904) auftauchend, nehmen ihren Aufschwung mit dem Stricker (vor' 1230) und Herrand von Wildonie (urkundlich 1248—1278). Noch aus der guten Zeit stammt die Sittenlehre, die sich 'ein spiegel der tugende / und ein magaoge der fugende' nennt und in einer lockeren M c r k e r - S t a m m l e r . Reaülexilcon II.

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Aneinanderreihung von Sprüchen die Pflichten gegen Gott, Gleichstehende, Abhängige und Niedrigerstehende vorträgt (DTM. X V I I S. 2 1 - 2 9 , Nr. 36 hg. v . G. R o s e n h a g e n ; dazu E. S c h r ö d e r ZfdA. L X I I [1925] S. 221 ff., ebenda L X I I I [1926] S. 269). Eine gesteigerte Realistik begegnet in den Satiren und Sittenschilderungen aus der wirren Zeit Herzog Friedrichs II., des österr. Interregnums und den Anfängen der Habsburgerherrschaft bei dem Stricker ('Von den Herren von Österreich', 'Das Märe von den Gauhühnern', 'Frauenehre', 'Die Klage'), Ulrich von Liechtenstein ('Frauenbuch' 1257), Wernher dem Gartenaere ('Meier Helmbrecht' zw. 1236 und 1250), dem Verfasser des Monologs des betrübten Ehemannes 'Von dem übelen wibe', dem 'Weinschwelg', Konrad von Haslau ('Der Jüngling'), dem sog. Seifried Helbling ('Lucidarius' 1283—1299). Eine Fülle leicht herausschälbarer Novellen und Schwänke spannt Jans der Jansen Enikel (zw. 1278 und 1282) in den Rahmen einer 'Weltchronik' und eines 'Fürstenbuchs von Österreich', in dem sich ein bemerkenswertes Streben nach schärferer Charakteristik geltend macht. Dieselbe Freude an der Schilderung drastischer, charakteristischer, derbrealistischer Situationen und an scharfer Charakteristik bei größerer Kunst und Bildung zeigt die auch als Geschichtswerk für die Zeit von 1246—1309 wertvolle Reimchronik des Ottokar (von Steier). §9. V e r f a l l d e r h ö f i s c h e n D i c h t u n g i n Ö s t e r r e i c h . Den Umschwung von der weltlich-ritterlichen zu einer geistlichbürgerlichen Geistesrichtung führt wie in anderen Ländern auch in Österreich die große Ketzerbewegung an der Wende des 12. und 13. Jhs. herbei. Wohl läßt Leopold VI. mit Eifer die Ketzer sieden und braten (1210), wofür ihn Thomasin von Zirclaria V . 12 683 ff. belobt, trotzdem ist das Land voll Ketzer und Teufelsanbeter ( S t r i c k e r 'Die Klage' V. 503ff., auch interessant wegen der Angabe des Inhalts der katharischen Lehren). 1221 beginnen die Franziskaner, 1237 die Dominikaner ihre Tätigkeit in Wien. 1260 auf 1261 tauchen zum erstenmal die Geißler auf. 37

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ÖSTERREICHISCHE

Unfreude tritt an Stelle der Freude ( S t r i c k e r 'Die Klage'; U l r i c h v o n L i e c h t e n s t e i n 'Frauenbuch'). Der alte sile, wie ihn am Hofe Leopolds V . Meier Helmbrecht der Vater als junger Bursch gesehen und bewundert hat (V. 913—981) und in ähnlicher Weise Seifried Helbling (15, V . 47 ff.) schildert, die gute Ordnung, das streng gesetzmäßige Leben (S. H e 1 b 1 i n g 2, V. 649ff.; 8, V. 874ff.) schwindet. Bei Hofe hört man unhöfische Worte, grobe Zoten; die Kunst wird nicht mehr geachtet; die österr. Herren, einst so freigebig gegen Sänger, daß ihrer von allen Seiten kamen, sind karg geworden ( S t r i c k e r 'Von den Herren von Österreich'). Hof- und Frauendienst sind zu Grabe getragen; alle Großen stehen in Waffen, überall herrscht Gewalt undUnbotmäßigkeit(Stricker'DieKlage'). Die Männer haben nur mehr Sinn für Krieg und Turnier, untertags gehen sie auf die Jagd, des Abends saufen sie bis zur Bewußtlosigkeit ( L i e c h t e n s t e i n 'Frauenbuch'). Den Wert der Frauen wissen sie nicht mehr zu schätzen, die Taverne macht der edlen Geselligkeit Konkurrenz ( S t r i k ker'Frauenehre'). Dem 'Weinschwelg' steht Weingenuß höher als Liebesgenuß und Naturfreude. Adlige machen sich der gröbsten Lüste schuldig ( S t r i c k e r 'Die Klage' V . 4 i 7 f f . ; L i e c h t e n s t e i n 6 1 4 , V.9ff.; 616, V . I4ff.; dagegen S . H e l b l i n g 2, V . 1021). Was bleibt da den Frauen übrig, als ein besseres Leben im Jenseits zu erhoffen, ihr Gebände über die Augen zu ziehen, ihre Kleider mit religiösen Emblemen zu verzieren und in die Kirche zu gehen? ( L i e c h t e n s t e i n 'Frauenbuch'.) Wo die Herren ihre Bauern schinden, greifen diese zur Selbsthilfe ( S t r i c k e r 'Gauhühner'), um, wenn es angeht, selber die Herren zu spielen ('Meier Helmbrecht', N i t h a r t ) . §10. H ö f i s c h e D i c h t u n g i n B ö h m e n . Eine Zufluchtstätte findet die ritterliche Dichtung an dem Hofe und bei den Großen Böhmens. Schon für 973 bezeugt Cosmas, gest. 1125, in seiner 'Böhmischen Chronik' (MGS. IX 50), daß bei der Inthronisation des Sachsen Thietmar als Bischofs von Prag, als der Klerus das Tedeum anstimmte, der Herzog und die Großen respondierten: Christe gin&do! Kyrie eleison und die heiligen alle helfSn uns! Kyrie eleisonl (MSD.

LITERATUR

Nr. X X I X und II®, S. isöff.). Seit dem II. Jh. heiraten Premysliden immer häufiger dt. Fürstentöchter, werden sie immer tiefer in die Reichspolitik verflochten. Seit der Zeit Wratislaws II. (1061 — 1092) leben dt. Bürger im Prager suburbium secundum legem et iusticiam Theutonicorum (Cod. dipl. Boh. I, p. 256). Im Verlauf der ersten Hälfte des 13. Jhs. nimmt der böhm. Adel allmählich die ritterlichen Sitten an (so wird die österreichisch-steir. Ritterschaft 1240 zu einem Turnier nach Krumau eingeladen, 'Frauendienst' 477, V . I4ff.). Am Hofe Wenzels I., vermählt mit der Staufin Kunigunde, der Tochter König Philipps, erscheinen Reinmär von Zweter (etwa 1234—1241) und Meister Sigeher; jener empfiehlt Wenzel nach Kaiser Friedrichs II. Bannung 1239 für den dt. Thron, dieser preist ihn (dem dt. Bergleute ungeheure Reichtümer aus den Gold- und Silbergruben verschafft haben) als zweiten Fruote, Salomon und Artus. Ganz dt. ist der Hof Ottokars II., unter dem die Häupter des böhmisch-mähr. Herrenstandes ihre alten Sippennamen vielfach mit dt. Prädikaten vertauschen, dt. Moden mitmachen und lieber Deutsch radebrechen als ihre Muttersprache gebrauchen. Der Tanhüser, der Tiroler Friedrich von Sunnenburc, der ältere Meißner, der Litschauer (aus Niederösterreich) feiern Ottokar in Leich und Spruch. Nach der Marchfeldschlacht 1278 läßt in einer Cantilena ein ungenannter Dichter milte und ere um ihn weinen: Ein löwe an gemüete, ein adelar an güete, der werde künc ist tot ( B a r t s c h Liederdichter XCVIII, V. 573 ff.). Ulrich v.d.Türlin dichtet für ihn seinen 'Willehalm' (um 1261—1269). Ulrich von Eschenbach beginnt unter ihm 1270 auf 1271 seine'Alexandreis', die er unter Wenzel II. vollendet (nach 1284), und der er ein II. Buch, dem Herrn Boresch von Riesenburg zugeeignet, anfügt, nachdem er diesen Wenzel und dessen habsburgische Gemahlin Jutta zu Helden eines pseudohistorischen Romanes 'Wilhelm von Wenden' (etwa 1289—1290) auf Grund einer nicht erhaltenen frz. Quelle gemacht hat. In der großen Heidelberger Hs. erscheint Wenzel II. selbst unter den Liederdichtern als ein geschmackvoller Fortsetzer der Tendenzen der Blütezeit. Für ihn betet

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR Heinrich Klausner aus Görlitz, dem er den Auftrag gegeben hat, die Marienlegende zu bearbeiten. Hohes Lob erteilt ihm der Verfasser des Gedichtes von 'Landgraf Ludwigs Kreuzfahrt' (1301 im Auftrag des Herzogs Bolko I. von Schweidnitz-Jauer verfaßt, hg. v. H. N a u m a n n MG. Dt. Chroniken IV 2 [1923] 179—322); Frauenlobs Klaggedicht auf seinen Tod 1305 (in Ottokars 'Reimchronik' Kap. 755, V. 86 5 50 ff. erwähnt) ist verloren. In der Zeit der beiden letzten Premysliden dichtet Heinrich von Freiberg für seinen Gönner Johann von Michelsberg dessen 'Ritterfahrt' (zw. 1293 und 1296) in Wolframischer Manier, dann vollendet er auf Wunsch des Raimund von Lichtenburg (urkundlich bis 1317) den Tristanroman Gottfrieds getreu in dessen Geist und Stil. Daß an dieser literarischen Bewegung auch des Deutschen nichtkundige Kreise teilnahmen, bezeugen die tschech. Bearbeitungen der Romane 'Tandarois' (vom Pleier) und 'Reinfried von Braunschweig' sowie des 'Rosengartens'. § 11. Bürgerlich-religiöse Dichtung, Spielmannspoesie unter Alb r e c h t I. Nach Österreich kommt von den Anfängen der Habsburgerherrschaft bis zum endgültigen Verlust der Vorlande (1805) ein Strom schwäb. Zuwanderer vom Oberrhein und von der oberen Donau. Im Heer Rudolfs vor Wien finden sich die alemannischen Dichter Kuonrat der Schenk von Landegge, Graf Friedrich von Leiningen, Graf Albrecht von Haigerloch, der Puller, Berthold Steinmär (von Klingenau), Meister Boppe; neben ihnen der Sachse Römzlant und der Meißner Heinrich Frauenlob. Etwas später ist J6hans HadIoub ins Land gekommen; er und Steinmär mögen sich auf dem Boden Neidharts wohlgefühlt haben. Der rehte Wienner empfindet schwäbische Art und Sprache, die „Rheinischheit", als überfein und macht sich über den superklugen Schwaben lustig (noch Raimund parodiert ihn als Ajaxerle im 'Mädchen aus der Feenwelt* 1826). Weder der karge Hof (über die 'Lobscheltreden' auf Rudolf von Habsburg vgl. M a n t u a n i a. a. 0 . S-324ff., M o s e r a . a . O . S.i68f., deTs.Minnesangund VolksliedNr.6) noch die bloß auf ihr materielles Interesse

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bedachten lantherren (Ministerialen) noch die von den Landherren einerseits, von den Bauern anderseits bedrängten Ritter pflegen mehr höfisches Singen. Die Babenbergerzeit erscheint daher Jansen Enikel, Seifried Helbling, Ottokar von Steier durchaus als die gute alte Zeit. Dem Bürgerstand fehlt noch ein besserer Geschmack; das stoffliche Interesse, sei es nun geistlich, sei es weltlich gerichtet, überwiegt, von Kunst — im Sinne Konrads von Würzburg — ist kaum die Rede, wie die Reimwerke des Jansen Enikel deutlich erweisen. Etwas kunstgeübter erscheint Bruder Johannes aus dem schles. Orte Frankenstein, der im Johanniterhaus in der Kärntnerstraße zu Wien, angeregt von dem Schaffner des Hauses Seidel, im Jahre 1300 ein Gedicht 'von unsers heren martir vrSne' über das Leiden Christi des Kreuzträgers {'Crucigere') schreibt, eine gelehrte, rein theologische Vorlage Zeile um Zeile v e r i f i zierend (hg. v. F. K h u l l 1882, Bibl. des Literar. Vereins 160). Sündenfall und Erlösung behandelt Gundaker von Judenburg in seinem 'Christz hört' (hg. v. J. J a k s c h e DTMA. X V I I I 1910; vgl. K . S t ü b i g e r Germanische Studien 15). An Wirnt von Gravenberc geschult, erzählt Lutwin nach einer sonst nicht überlieferten Fassung der ' Vita Adae et Evae' die sagenhafte Geschichte der menschlichen Stammeltern 'Adam und Eva' und die Sage vom Kreuzesholz Christi (hg. v. K . H o f m a n n und W . M e y e r 1881, Bibl. des Literar. Vereins 153). Große Beliebtheit erlangte das den Brüdern vom Dt. Haus gewidmete 'Marienleben* des in der steirischen Karthause Seitz lebenden Bruders Philipp, während sich von einer anderen Bearbeitung der 'Viia B. V. Mariae et Salvatoris metrica? von einem ungenannten Dichter nur ein Bruchstück in einer Grazer Hs. erhalten hat. Ganz gewandt trägt Rüdiger Hünchhover (urkundlich 1290 bis 1293) seine Fabliaux 'Die Heidin' und 'Der Schlägel' vor. 'Der Wiener Meerfahrt' von dem Freudenlaeren (einem Mitteldeutschen) und 'Das Wachtelmaere' (mit Erwähnung von Marionetten, tatermanne, die an Schnüren befestigt sind) sind wohl Schöpfungen von fahrenden Spielleuten, die das Land überschwemmten. Vergeblich suchten 37*

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Stadtrechte, Landfrieden, Konzilsbeschlüsse (1274, 1292, 1310 für die Salzburger, 1284 und 1294 für die Passauer Diözese) dem Unwesen der lotersingaer zu steuern, über das Berthold von Regensburg (1260 in Wien, um 1262 in Ungarn, gest. 1272) ebenso wie Seifried Helbling 2, V.1292 klagen. Da die Landfrieden von 1244 und 1281 loter pfaffen mit langem har und spielläute ouz dem friede setzen, schließen sich die Musiker in Wien vor 1288 zur St.-Nicolai-Bruderschaft zusammen, die ihren Sitz an der St.-Nikolaus-Kapelle, zunächst St. Michael, hat. Seit 1354 bis zur Aufhebung der Vereinigung 1782 gehören alle varunde Spielleute unter das Kämmereramt, und es darf sie niemand richten als der vom Kämmerer eingesetzte Spielgraf. Ihr Verdienst ist es, den in Frankreich aufgekommenen mehrstimmigen Gesang (discantus) um diese Zeit nach unseren Ländern gebracht zu haben. § 12. H ö f i s c h e D i c h t u n g u n t e r den S ö h n e n A l b r e c h t s I . Höfisches Interesse für Poesie zeigt sich wieder unter den Söhnen Albrechts I. Den Herzögen Friedrich und Leopold widmet Johann von Würzburg in Diensten des Grafen Albrecht von Haigerloch zu Eßlingen, der letzte Vertreter der höfischen Epik in Alamannien, 1314 den pseudohistorischen Roman 'Wildhelm von Österreich' (hg. v. E. R e g e l DTMA. III 1906, in Prosa aufgelöst Augsburg 1481 gedruckt): Wildhelm und Aglei, Tristan und Isolde, Wilhelm von Orlens und Amelie erscheinen als die drei berühmtesten Liebespaare auf den seit 1396 ausgeführten Runkelsteiner Fresken. In Verbindung mit dem Namen der ersten Gemahlin Ottos des Fröhlichen, Elisabeth von Niederbayern (vermählt 1325, gest. 1330), tauchen zwei Gestalten auf, die später Träger von weitverbreiteten Schwanksammlungen werden: der Pfaff vom Kahlenberg — der am Schluß des ältesten Druckes des oberdt. Textes als Reimer sich nennende Philipp Franckfürter zu Wien ist nicht vor 1420 anzusetzen — und ein zweiter Neidhart, dessen Tumba bei dem Singertor des Stephansdomes dem 14. Jh. angehört (erst seit 1479 als Neidhart Fuchs bezeichnet und zu einem sächsischen Ritter aus Meißen gemacht), der Held einer

jüngeren, mehr epischen Schicht von Neidhartliedern, dessen Bauernfeindschaft auf den ihm widerfahrenen Streich bei dem Veilchenfest schon in dem etwa zwischen 1330 und 1340 entstandenen Wandgemälde in der Herrentrinkstube des Hauses „Zur Zinne" in Dießenhofen zurückgeführt wird, während der Name der Veyal für einen Weingarten in Ottakring für 1334 und 1360 bezeugt ist. Zu dem von Ludwig dem Bayern 1330 in Ettal erbauten Monsalvatsch bildet ein Gegenstück die von Otto dem Fröhlichen gestiftete adlige Gesellschaft der Templeise in der 1341 eingeweihten Georgskapelle der Augustinerkirche in Wien, beide — gleichwie die Nachbildung des Graltempels im Augustinerchorherrenstift Karlshof zu Prag (1357 begonnen) — angeregt durch den vor 1272 verfaßten, viel bewunderten 'Titurel' des Albrecht (von Scharfenberg?) und gleichzeitig mit dem weitschichtigen 'Parzival'-Werk der Straßburger Claus Wisse und Philipp Colin (1331 — 1336). Ähnlich weitschichtig bearbeitet Seifried nach der lat. 'Historia de proeliis' eine 'Alexandreis' (vollendet 1352), für die er den Alexanderroman des Ulrich von Eschenbach benutzte. Die wenigen mitgeteilten Proben zeugen von dem tiefen Verfall der Kunst. § 13. G e l e h r t e D i c h t u n g . Mit der Zentralpfarrkirche St. Stephan in Wien (errichtet zwischen 1144 und 1x47) ist eine Schule verbunden, deren steigende Bedeutung die Freiheitsbriefe Kaiser Friedrichs II. 1237, Rudolfs I. 1278, Herzog Albrechts I. 1296 erkennen lassen. Versuche, eine strengere Zucht unter den Schülern herzustellen, führen unter dem Rektor Nicolaus (zwischen 1277 und 1282) zu Studentenkrawallen. In latein. Distichengedichten aus dem Jahre 1315 (bei L e y s e r Hist. poet. et poem. medii aevi 1721, S. 2007 bis 2036) rühmt der Schüler Adolfus das damalige Schulhaupt Meister Ulrich, medieus et scholasticus (gest. etwa 1326?), als Gelehrten, Dichter und Maler und preist Wien, wohin von den verschiedenen Weltgegenden Kleriker zusammenkommen: er warnt sie in neun Fabeln mit novellistischem Kern und einer zehnten, rein didaktischen vor List und Trug der Weiber

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR (denen desgleichen Äneas Sylvius den Vorwurf macht, daß sie Geist und Fleiß der Studenten vielfach zerstreuten). Vgl. M. B ü d i n g e r Über einige Reste der Vagantenpoesie in Österreich, WSB. X I I I (1854), S. 314 ff.

Zwischen 1337 und 1342

stand der Stephansschule der an der Pariser Universität ausgebildete Dominikaner Konrad von Megenberg aus Franken (1309 bis 1347) vor, der auch noch als Regensburger Domherr mit Wien in Verbindung blieb. Seine Verdeutschungen naturwissenschaftlicher Lehrbücher, 'Sphaera mundi' (hg. v. O. M a t t h a e i , DTMA. X X I I I 1912) und 'Buch der Natur', mit mancherlei moralischen Abschweifungen fördern Laienbildung im Geiste der Zeit. Für solche, die noch türsenmaere lieber hören, u. zw. für eine Wiener Dame, bearbeitet vor 1291 oder zwischen 1312 und 1318 der zu Wien am Graben wohnende gelehrte Arzt Heinrich von Neustadt den in spätklassischer Zeit entstandenen Roman 'Apollonius von Tyrland', dessen Vorlage er von dem Pfarrer Niklas von Stadlau erhalten hat, mit eigenen Zutaten reicher Belesenheit — ein seltsames Übergangsprodukt vom höfischen Epos zur Renaissanceliteratur (hg. v. S. S i n g e r , DTMA.VII 1906). Reges Naturgefühl, gesteigerte Sinnlichkeit, Freude an lüsternen Schilderungen, Sinn für alles Außere des Lebens kennzeichnen den Österreicher. In seinem zweiten Werke, dem religiösen Lehrgedichte 'Von Gottes Zukunft* ( = Ankunft), dem in der Heidelberger Hs. die selbständige 'Visio Philiberti' (Streitgespräch zwischen Seele und Leib, vgl. T h . v. K a r a j a n Frühlingsgabe für Freunde älterer Lit. 1839) angehängt ist, schließt er sich durchaus Werken der neueren theologischen Literatur an. Er schwelgt in krassen Schilderungen, weiß aber auch zarte Gefühle auszudrücken. Als charakteristischer Vorklang des Humanismus erscheint die Hoffnung, daß die guten gelehrten Heiden doch zur Seligkeit zugelassen werden würden. §14. D e u t s c h e D i c h t u n g i n B ö h m e n u n t e r K a r l IV., b ö h m i s c h e F r ü h r e n a i s s a n c e . In Böhmen setzt unter Johann von Luxemburg eine nationaltschech. Reaktion ein, von der die tschech. Reimchronik des sog. Dalimil, die lat.

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Chroniken des Abtes Neplach und des Domherrn Franz sowie eine tschech. Schrift über die Einwanderung der Deutschen (Mitt. d. Ver. f. Gesch. d. Dt. in Böhmen L I I I [1915] S. 226ff.) zeugen. Bezeichnend ist, daß die tschech. 'Alexandreis' und der sog. Dalimil den Deutschen, bzw. Ottokar II. die Absicht zuschreiben, sie hätten es dahin bringen wollen, daß man auf der Prager Brücke keinen Tschechen mehr sehe ('Vnd uf der pruk czu Präge ¡kein Behem man gesen mag' Tutsch kronik S. 205, V. I9f.). Nur ein paar Meistersinger gehören der Zeit Johanns an: Konrad Streiher, von dem uns bloß der Name überliefert ist, und Mülich von Prag, von dem ein reie und ein Lied im langen tone vorliegen. K. B a r t s c h Meisterlieder der Kolmarer Hs. 1862 S. 179, 199 Nr. IV. P. R u n g e Die Sangesweisen der Kolmarer Hs. 1896 Nr. 9 (S. 24 t.), 1 1 5 (S. 168).

Neue Antriebskräfte erhält das dt. Wesen durch den gelehrten und selbst schriftstellerisch tätigen „Pfaffenkaiser" Karl IV. Zum Jahr 1334 notiert die Königsaaler Chronik (1. III, 2): In omnibus civitatibus fere regni et coram rege communior est usus linguae teutunicae quam boemicae isla vice (Font. rer. Boh. IV p. 320). Gegenüber dem tschech. Adel vertritt die Interessen der dt. Ansiedler 'Di lutsch kronik von Behemlant\ eine Bearbeitung des sog. Dalimil, ursprünglich in Reimen (hg. v. W. H a n k a 1859, Bibl. des Literar. Vereins 48), später in Prosa mit engerem Anschluß an die Vorlage. Die kirchliche Stellung Karls IV. ist durch die innige Verbindung mit dem Avignoneser Papsttum gegeben: wie die Errichtung des Erzbistums Prag 1344 den Hochklerus stützen sollte, so hatte die Universität (seit 1348) als Pflegestätte der scholastischen Wissenschaft einer strengen Kirchlichkeit zu dienen. Gegen Begarden und Beginen ward 1369 die Inquisition aufgerufen, die von ihnen in Laienkreisen verbreiteten Übersetzungen religiöser Schriften sollten eingezogen werden. Geistliche und Laien ermahnte zu sittlicher Besserung der Augustiner Konrad Waldhauser, von dessen dt. Predigten sich jedoch nichts erhalten hat. Das röm. Problem führte den Kaiser mit den ital. Patrio-

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ten zusammen: so kamen durch Cola di Rienzo (1350—1352 in Prag) und Petrarca (Dezember 1354 von Karl IV. spöttisch abgewiesen, seit 1361 mit ihm in Briefwechsel) die Ideen der ital. Renaissance nach Böhmen, die bei dem Kanzler Johann von Neumarkt (gest. 1380), einem Schlesier, willige Aufnahme fanden. Seine Briefe an Petrarca erlangten als 'Handbuch der Kanzlei Karls IV.' weite Verbreitung und brachen der humanistischen Eloquenz in Deutschland die Bahn. Im Auftrage des Kaisers verdeutschte er die im 13. Jh. entstandenen pseudoaugustinischen 'Soliloquia'; für Karls Nichte, die Markgräfin Elisabeth von Mähren, das 'Leben des hlg. Hieronymus in Briefen des Augustinus, Eusebius, Cyrillus' (hg. v. A. B e n e d i c t 1880). In der kaiserlichen Kanzlei bildete sich eine Urkundensprache heraus, die, auf den heimischen obersächs., schles. und oberpfälz. Mundarten beruhend, im Vokalismus und Konsonantismus der späteren Schriftsprache sehr nahe steht, wenn sich auch kein geschichtlicher Zusammenhang zwischen beiden nachweisen läßt. K. B u r d a c h Vom MA. zur Reformation V: Schlesisch-böhmische Briefmuster aus der Wende des 14. Jhs. 1926.

Die Grundzüge der böhm. Frührenaissance zeigen sich auch bei dem Sachsen Heinrich von Mügeln (gest. nach 1371), der mit den gleichzeitigen geistesmächtigen Fürsten der Ostreiche, Karl IV., Rudolf IV. von Österreich, Ludwig dem Großen von Ungarn, in Verbindung gestanden zu haben scheint. In dem allegorischen Gedicht 'Der meyde kränz', Karl IV. gewidmet, ist (wie in dem Lehrgedicht des Heinrich von Neustadt 'Von Gottes Zukunft') der 'Anticlaudtanus' des Scholastikers Alanus (gest. 1202) benutzt. Die strophische 'Chronik von Ungarn', Herzog Rudolf IV. von Österreich zu Lobe, geht auf eine Kéza nahestehende Vorlage zurück. Auf die Anregung des Hertnit von Pettau, Marschalls von Steier, übersetzt Heinrich 1369 die Anekdotensammlung des Valerius Maximus, ein Grundbuch des Humanismus, bald kürzend, bald erweiternd, sachlich erläuternd und moralisierend (gedruckt Augsburg 1489). 1371 verdeutscht er die Psalmen mit den auf Ergründung des Wort-

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sinns bedachten Erläuterungen des Pariser Franziskaners Nikolaus von Lyra, „damit die Laien so zur Andacht geführt würden. Wer dem wehre und widerspreche, der tue wider Gott und finde auch Lohn darum". Seine Fabeln und Lieder, geistliche und weltliche, folgen der gelehrten A r t des Frauenlob, seine im Sinne der Zeit verkünstelten Töne scheinen uns „ohne entsprechenden Ausdruck, ohne Anschluß an den T e x t " . Der 'lange ton', der 'kurze ton', der 'traumton' und der 'grüne ton' bei P. R u n g e a. a. O. S. 137 bis 140, Nr. 84—88. Vgl. M a n t u a n i a. a. 0. S. 333f. Moser a. a. O. S. 175—178.

Heinrichs Übersetzung der Psalmen entsprang dem durch die waldensische, begardische und wiclefitische Bewegung genährten Bedürfnis weiter Laienkreise, die Heilige Schrift im Wortlaut kennenzulernen. Ihm dienten auch anonyme Übersetzungen der Sonntagsperikopen und anderer Teile der Bibel. V o n der um die Mitte des 14. Jhs. entstandenen bayr. Prosaübersetzung des A T . und NT., welche von den vorlutherischen gedruckten dt. Bibeln als Vorlage benutzt ward, liegen uns zwei teilweise von einem Schreiber aus einer gemeinsamen Vorlage abgeschriebene Hss. des N T . vor, 'Di schrift dez newen

gezeugz'

in dem Codex Teplensis und der Codex Fribergensis, ihrer Mundart nach um 1400 sdl. von Prag geschrieben. Waldenser haben den Codex Teplensis benutzt, der behauptete waldensische Ursprung ist strittig. Der Codex Teplensis, hg. v. P. Ph. K l i m e s c h 1884; die Literatur über ihn bei Eb. N e s t l e REPTh. III (1897) S. 64ff-, X X I I I (1913) S. 217. W. W e i s Untersuchungen zur Bestimmung des Dialekts des Codex Teplensis. Diss. Halle 1886. Die erste dt. Bibel (gedruckt von Johann Mentel in Straßburg etwa 1466), hg. v. W. Kurrelmeyeri904—1914, Bibl. desLiterar. Vereins 234, 238, 243, 246, 249, 251, 254, 258, 259, 266 (über das Verhältnis der Hss. und Drucke s. 234, 243 und 266).

Aus der Handschriftenfabrik des reichen Kuttenberger Münzmeisters und Prager Richters Martin Rotlöw (gest. 1392) ist" die herrliche Wenzelsbibel hervorgegangen (Hs. Nr. 2759—2764 der Wiener Nationalbibliothek), eine dem „zweiten Zweig" zugehörige Prosaübersetzung des A T , mit symbolischen Randbildern, mit denen auch

ÖSTERREICHISCHE der Codex Nr. 47 der Salzburger Studienbibliothek, das Psalmenwerk des Heinrich von Mügeln enthaltend, geziert ist. W. W a l t h e r Die dl. Bibelübersetzung des MA. 1889ff., Sp. 288ff. F. J e l l i n e k Die Sprache der Wenzelbibel. Progr. Görz 1899. J . v . S c h l o s ser Über die Bilderhss. Kg. Wenzels /., Jb. der kunsthist. Sammlungen des ah. Kaiserhauses XIV (1893) S. 214—317. W. K u r r e l m e y e r Die Wenzelsbibel, Am. Journ. of Phil. X X I (1901) S. 62—75.

Die mit Richard II. von England vermählte Tochter Karls IV. Anna besaß ein dreisprachiges N T . (lat., tschech., dt.). A l s das bedeutendste Werk der böhm. Frührenaissance nach Ideengehalt und Sprachgewalt erscheint 'Der Ackersmann aus Böhmen' (hg. v . A . B e r n t 1917) des Johannes von Saaz, nach Burdachs Vermutung identisch mit Johannes Pflug von Rabenstein, ein nach Art von Petrarcas D i a l o g 'De remediis

utriusque

fortunae'

ab-

gefaßtes Streitgespräch in Prosa zwischen dem Kläger, dem am 1. August 1400 seine junge Frau Margareta im Kindbett gestorben ist, und ihrem Würger, dem Tod, vor dem Stuhl Gottes, der die Entscheidung fällt. Wie in der engl, didaktischen Vision 'Piers the Plowman' von William Langland (um 1377) führt sich der Adamssohn unter Bezug auf 1. Mos. 3 , 1 7 — 1 9 , 2 3 als Ackersmann ein. Von dem auch in den oberdt. Humanistenkreisen gern gelesenen und nachgeschriebenen Werk sind 15 Hss. und 17 Drucke des 15. und lö.Jhs. erhalten; es ist im tschech.'Tkadlecek' parodiert. Präger Anregungen wirken fort bei Gerhard Groote (gest. 1384), dem Stifter der „Bruderschaft vom gemeinen Leben" (Hieronymianer) und ihrer „neuen Frömmigkeit". K. B u r d a c h Vom MA. zur Reformation 1893 ff. HI/2: Der Dichter des 'Ackermann aus B.' und seine Zeit 1926. Ders. Die nationale Aneignung der Bibel 1925.

§ 15. D e u t s c h e L i t e r a t u r in d e n A l p e n l ä n d e r n u n d in U n g a r n a m A u s g a n g d e s M A . Das 14. und 15. Jh. ist der dt. Dichtung in Österreich wenig günstig: das Wachstum der habsburgischen Hausmacht war begleitet von Kriegen und inneren Zwistigkeiten, dazu kamen verheerende Elementarereignisse (1338 die Heuschreckenplage, 1348 Erdbeben, 1348—1349 der schwarze Tod, wiederholt Überschwem-

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mungen, Mißwachs, Hungersnot, Seuchen), in der zweiten Hälfte wilde Fehden zwischen den Herren und Rittern, gegen Ende des Jhs. die Ausplünderung des Landes durch mähr. Freibeuter, das Aufkommen des ständischen Bündlerwesens zum Selbstschutz gegen äußere und innere Gefahren. Bruderkrieg, Pest, Hungersnot leiten das 15. Jh. ein, in dessen Verlauf die Türkengefahr dem Westen immer näher rUckt. Es klingt nicht wenig abenteuerlich, wenn wir unter den Bandenführern, die 1458 bis 1460 das Land unsicher machen, einen Nabuchodonosor Ankelreuter und einen Gamuret Fronauer genannt finden. Aus dem Chaos des Niederganges der Adelsund Kirchenmacht mit ihren alten Idealen entwickelt sich sehr langsam und allmählich in Laienmoral und Reformtheologie der neue Ideengehalt des Humanismus. Der Hauptvertreter einer religiös-sittlichen Laienbildung ist Heinrich Teichner, vielleicht ein Steirer bürgerlicher Herkunft, etwa zwischen 1324 und 1377 tätig, z. T . auf der Wanderschaft, z. T. in Wien lebend, in höheren Jahren im Wohlstand, an dem er Arme, Spitäler und Kirchen hat teilnehmen lassen, in Verkehr mit allen Ständen, nur nicht mit dem Hofe, in seinen Themen sich ebensowohl berührend mit dem Volksprediger Konrad Waldhauser wie mit dem an der Universität lehrenden Heinrich von Langenstein (1325—1397): ein Mann, kirchlich und päpstlich, kaiserlich und herzoglich aus Pflicht, aber nirgends in ihrem unmittelbaren Dienst, nach allen Seiten frei, unpersönlich in seiner Lehre, die doch ganz persönlich wirken will. Die gegenwärtige Welt findet er schlecht und grundverderbt, mit Wehmut blickt er auf die früheren Tage zurück. Seine Form ist die Reimrede, von 100 bis 200 Versen, seine Technik entwickelt sich vom Zusammengesetzten ('Buch der Weisheit') zum Einfacheren, Einheitlichen hin. Von einem Zeitgenossen Stephan Vohpurk (oder Velschberger), wahrscheinlich aus einer Wiener Bürgerfamilie, rührt der satirische Spruch vom 'Streit zwischen Wolf und Pfaffen' mit dem Fuchs als Ankläger und dem Bären als Richter her. Lehrhafte Richtung mit Geschichtsdichtung vereinigt Peter der Suchenwirt, seit

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etwa 1353 als „Knappe von den Wappen" Verfasser bestellter „Ehrenreden", 1377 auf der Preußenfahrt Albrechts III. unter dessen „Herolden und fahrenden Leuten" reich entlohnt, darauf Hausbesitzer in Wien „ A m Hof" oder in dessen Nähe (urkundlich 1386), gest. bald nach 1395. Seit 1370 dichtet er neben Ehrenreden AventiurenAllegorien mit höfischen Sittenlehren, moralisierende und religiöse Lehrgedichte in Reimpaaren, seit 1378 historische Zeitgedichte in vierzeiligen Strophen mit gekreuzten Reimen. Suchenwirt klagt, daß er kunst, die meisterliche kunst oder meisterschaft nicht besitze, er ist kein Meistersinger, steht aber in seinen Kunstausdrükken, in seiner Neigung, die Rede zu blüemen (florieren), dem älteren Meistergesang nahe. Er wendet sich an die jungen Herren, die er berät, tadelt, lehrt. Seine sittlich-religiösen Anschauungen sind aber nicht ausschließlich die konventionellen höfischen, sondern beeinflußt von der Laienmoral seiner Zeit. Wie Suchenwirts „Ehrenreden" lehren, hat in den adligen Kreisen das Ideal der irrenden Ritterschaft im Leben noch immer manchen Anhänger aufzuweisen. Hier erfährt die Lyrik Pflege und Umgestaltung. Zum Jahr 1356 setzt die Limburger Chronik des Tilmann Elhen von Wolfhagen, Kap. 43, die „große Tageweise" des Peter von Arberg, Burggrafen zu Taufers in Tirol: Nu sterk uns got in unser nSt an (Moser a. a. 0. S. X7öf.). Auch noch andere seiner geistlichen Umdichtungen von weltlichen Tageliedern mit Wächterruf waren beliebt (Mant u a n i a. a. O. S. 337, 452 Nr. X L V I I ) . Für Erzbischof Pilgrim II. von Salzburg (1365—1396) dichtet Hermann, „der Mönch von Salzburg". Nach Art des Heinrich von Langenstein übersetzt er lat. Hymnen und Sequenzen mit altertümlicher monodischer Musik. Seine eigenen geistlichen Lieder haben z. T. einen gelehrten künstlichen Charakter, z. T. einen stark volkstümlichen Einschlag (so das beliebte 'Kindelwiegenlied': Joseph, lieber neve mein, / hilf mir wigen mein kindelein, das als ein vom Volk vorzutragender Wechselchor zwischen den einzelnen Strophen des lat. Resonet in laudibus gedacht war). Die weltlichen Liebes- und Trinklieder sind z. T. noch einstimmig, z. T. schon zwei- und drei-

stimmig komponiert, wobei die eine Stimme oft auch auf einem Blasinstrument geblasen werden konnte. Nithart, Friedrich der Knecht, Steinmär leben in manchen Szenen mit Dorfschönen ('Das Kuhhorn') fort. Für die Beliebtheit seiner Weisen zeugen mehr als fünfzig Hss. M a n t u a n i a. a. O. S. 334f. Moser a . a . O . S. 179—188. Ders. Minnesang u. Volkslied Nr.9.

An der Preußenfahrt Herzog AlbrechtsIII. von 1377 nahm der in Vorarlberg und Steiermark reich begüterte Graf Hugo V . von Montfort (1357—1423) teil, ein besser gebildeter, nachmals in Kriegs- und Staatsgeschäften erfahrener Herr. Hugo, in seiner Jugend ein sehnender Frauenritter, wendet sich 1379—1387 nach dem Vorbilde von Suchenwirts „Reden" religiösen und moralischen Betrachtungen zu, verherrlicht dann wieder in Liebesliedern seine eigene Gemahlin, deren Tod 1391 ihn in die düsterste Gemütsstimmung versetzt. Auch Lust und Leid einer zweiten und dritten Ehe tönen in seinen Liedern wider. Ein starkes, aber in späteren Jahren wohlgezügeltes Temperament machte ihn zum Dichter. Er hat Tanzlieder, moralisierende Lieder, geistliche und weltliche Tage weisen, Reden und Briefe verfaßt. Seine Verse, oft in Wald und Feld auf dem Pferd entstanden, sind schlecht, seine Reime ungenau, seine Sprache ist hart, sein Stil bisweilen übertrieben grell nach Art der späten Nachahmer Wolframs, doch aus allem spricht eine Persönlichkeit. Die Weisen (zehn sind erhalten) hat er nicht selbst, sondern sein Knecht Bürk Mangolt zu Bregenz gesetzt. Moser a . a . O . 8.189—191. Ders. Minnesang und Volkslied Nr. 10.

Oswald von Wolkenstein (1377 [nicht 1367] bis 1445), der erste dt. Dichter, von dem wir zwei authentische Bildnisse besitzen (Nagl-Zeidler I S. 268 und 269), ein beweglicher, phantastischer Sanguiniker, Weltfahrer und dabei doch echter Tiroler, vieler Sprachen kundig und sie gern mit seiner heimischen Mundart vermischend, Musiker und Sänger, lebenslang in Rechtsund Liebeshändel verstrickt, tatkräftig, ja gewalttätig das Seine verteidigend und mehrend, als literarische Persönlichkeit Ulrich von Liechtenstein und dem Tan-

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR hùser nahestehend, doch als Kraftnatur voll Wirklichkeitssinn und volkstümlichem Humor beiden weit überlegen, das bedeutendste poetische Talent seiner Zeit in ganz Deutschland, dichtet Liebeslieder, Tanzlieder, Geschichtsdichtungen, moralische und religiöse Betrachtungen, Marienlieder, gereimte Gebete, denen er einstimmige (82) oder mehrstimmige (40) Weisen unterlegt, jene schon wieder trocken und steif, diese noch ungefüge mit schneidenden Dissonanzen. Er erlebte „das Greisenalter des Minnesangs, das Mannesalter der Meistersingerei, die Jünglingszeit des dt. Volksliedes und die Kinderjahre dt. Kontrapunktik — das erklärt das Buntscheckige, oft Widerspruchsvolle seines Schaffens, mit dem er tatkräftigen Anteil an den Strömungen dieser Übergangszeit genommen hat". Die Lieder, hg. v. J. S c h a t z (Text) und O. K o l l e r (Musik), Denkmäler der Tonkunst in österr. X V I I I (1902). G. R o e t h e DRs. CXCVII (1923) S. 143ff. M a n t u a n i a.a.O. S.335—337. Moser a . a . O . S. 191—197. Ders. Minnesang und Volkslied Nr. II.

Auch von den in Ungarn angesiedelten Deutschen sind geringe lyrische Überbleibsel aus dem 15. Jh. auf uns gekommen: aüs Leutschau Verse unter den Fresken der St. Jakobskirche, aus Bartfeld das Klagelied des Stadtrates Merteyn Schönbleser über den Tod seiner Frau (zw. 1436 und 1439), aus Heitau in Siebenbürgen ein Marienlied. Der Neffe jenes Nikolaus Vintler, der 1385 Burg Runkelstein bei Bozen kaufte und seit 1396 mit Fresken ausschmücken ließ (acht Triaden, zehn Bilder aus Eilharts 'Tristan', siebzehn Bilder aus Pleiers 'Garel'), Hans Vintler (gest. 1419), schafft einem auch von den oberdt. Frühhumanisten geschätzten italienischen Prosawerk Eingang in die dt. Literatur. Es ist des Tomaso Leoni 'Fiore di virtù' ('Blumen der Tugend'), um 1320, samt den in manchen Hss. angehängten 'Ammaestramenti de' filosofi' (ausgezogen aus des Albertanus von Brescia Schrift 'Delle sei maniere di parlare', 13. Jh.). 1411 vollendete Vintler seine gereimte, durch eigene Zutaten, namentlich aus Valerius Maximus (in der Übersetzung des Heinrich von Mügeln) mannigfach erweiterte Bearbeitung. Be-

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sonders interessant ist der (auch in Grimms 'Mythologie' ausgebeutete) Abschnitt über den Aberglauben, V . 7694—8245. Jeder Tugend wird ein Laster entgegengesetzt, jeder Abschnitt enthält Definition, Gleichnis und erläuternde Erzählungen, den Beschluß bildet ein Preis der Mäßigkeit. Die Satire richtet sich gegen alle Stände. Die Sprache, wenig gefeilt, zeigt den Zusammenhang mit der Mundart des Schreibers. Von dem bürgerlichen Publikum werden nach wie vor Geschichtserzählungen und religiöse Dichtungen gern gelesen. Die an Friedrich II. anknüpfende „deutsche Kaisersage" (Goedeke I S. 259, 13) verbindet mit dem 'Brief des Priesters Johannes' in der Variante D (Goedeke I, S. 258, 6) Oswald der Schreiber aus dem oberung. Bergstädtchen Königsberg in den letzten Jahrzehnten des 14. Jhs. zu einer Verserzählung. Er beruft sich auf eine lat. Quelle ('Romschcronica', nahestehend der 2. Erzählung der 'Cenlo novelle antiche'), anderes will er 'von pauren' gehört haben. Das recht kunstlose, nur trümmerhaft in der Heidelberger Nibelungenhs. g überlieferte Gedicht zeigt die bair.-österr. Ma. mit schles. Einschlag, die für seinen Herkunftsort charakteristisch ist. E. C z i n k o t s z k y in den Német Philologiai Dolgozatoh IX (1914), dazu G. H e i n r i c h Ung. Rs. IV (1915) S. 524ff.

Die Lust am Reim schwindet aber zusehends. Wie die prosaische Bibelübersetzung die Reimbibel verdrängt, so wird die Reimchronik abgelöst von der historischen Prosa. Nur die Freude am Fabulieren bleibt ungemindert. 'Die österr. Chronik von den 95 Herrschaften' in Prosa (bis 1398), dem Gregor oder Matthäus Hagen oder Johann dem Seffner zugeschrieben, hebt ganz unbefangen mit der heidnisch-jüdischen Vorgeschichte des Landes an. Andreas Kurzmann, Zisterzienser zu Neuberg bei Maria Zell, gest. vor 1428, der letzte mal. Dichter der Steiermark, übersetzt ziemlich hilflos aus dem Lateinischen die altbeliebte Freundschaftsnovelle von Amicus und Amelius, das Gespräch Mariae mit Jesus aus der ' Vita B. V. Mariae rhythmica' und das vielbearbeitete 'Spéculum humanae salvationis', die Legende vom hl. Alban und 'De quodam mariente'.

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In die Fußtapfen des Teichners tritt als der Kaiserin Diener, unsers Herrn römiLienhard Peuger, erst Knappe, dann Laien- schen Kaisers teütscher poet md lichter auf. bruder in St. Lambrecht und Melk (um 1420), Er singt religiöse und didaktische Meisterdessen Tugendsprüche und Sittenlehre lieder, bald nach seiner Niederlassung in (Hss. in Wien und Melk) eine ähnliche Blü- Österreich ein Preislied auf die hohe Schule mung der Rede aufweisen, wie sie uns auch zu Wien, versifiziert als Offiziosus Berichte über Zeitereignisse, sagt gelegentlich den bei Suchenwirt begegnet ist. Gegen die auf das Ende der Fastenzeit Herren von Österreich, den feindlichen folgende Sinnenlust eifert ein ungenannter Brüdern Friedrich III. und Albrecht VI., Satiriker, der sein Gedicht (hg. v. A. E. bittere Wahrheiten, bringt den Stammbaum S c h ö n b a c h , Wagners Archiv I [1874] der Habsburger in Reime, lobt in dem GeS. 13ff., dazu ebd. S. 95ff-, 227ff.) in einer dichte 'Von denen von Wien' die Stadtdem geistlichen Drama und dem Fastnacht- bürger, die 1461 dem Kaiser Treue hielten, spiel wohlbekannten Weise einkleidet: und tadelt sie scharf, da sie 1462 den Kaiser „Meister Reuaus", der Teufel, bietet in in seiner Burg zu Wien belagern, in dem einer Ansprache an das Publikum sieben chronikartig den Ereignissen bis 1465 folSalben aus, an deren jeder die Eigenschaften genden 'Buch von den Wienern'. Behaims einer Todsünde hängen; in ähnlich drama- Darstellung zeigt technische Fertigkeit, tischer Art wendet sich sein Gehilfe Laster- Sinn für das Tatsächliche, aber geringe balg (im Innsbrucker und Wiener Oster- Fähigkeit zur Erfindung und Komposition. spiel der Kumpan Rubins, als Teufels- und Das 'Buch von den Wienern' ist in einer Spielmannsname auch Berthold von Re- sechszeiligen Strophe abgefaßt, deren Melogensburg I 156 bekannt) an die Zuhörer. die, die „Angstweis", wir kennen. Behaim Die Sprache des Werkes weist auf Bayern- scheint sich vor allem als Musiker gefühlt österreich, der Versbau auf den Anfang des zu haben; sein Wappenschild zeigt drei Systemlinien mit einem steigenden und 15- Jhs. einem fallenden Hexachord. Vgl. M a n Wie in den Gedichten des Hugo von Montfort und des Oswald von Wolken- t u a n i a. a. 0 . S. 338f.; Moser a. a. O. stein offenbart sich mehr und mehr der S. 303. Daß zu seiner Zeit in Wien oder Individualismus der Renaissance in der anderwärts in Österreich eine MeisterAufschreibung von persönlichen Erleb- singerschule bestanden hätte,. läßt sich urkundlich nicht erweisen. Erlebnisse aus nissen. Eine aufregende Episode aus den Hof- der Zeit Friedrichs III. erzählen die 'Österr. und Staatswirren der Zeit halten die 'Denk- Chronik' eines ungenannten Wieners, der würdigkeiten' der Helene Kottanerin, einer kroatische Edelmann Andreas von Lapiz, Siebenbürgerin aus der Gegend von Kron- die Schwaben Georg von Ehingen und stadt, Kammerfrau der Königin Elisabeth, Burkard Zink, der Deutschböhme Christoph fest, wie sie 1439—1440 die ungar. Königs- von Thein. Fern vom Hof schreibt Jakob Unrest krone für den nachgeborenen Ladislaus rettete (hg. v. St. E n d l i c h e r 1846; vgl. (1469 Chorherr zu Gurnitz, Pfarrer zu G. F r e y t a g , Bilder aus der dt. Vergangen- St. Martin am Techeisberge bei Pörtschach heit II, Kap. 10). Blüte und Untergang am Wörthersee, gest. 1500) naiv und der Grafen von Cilli (1341 — 1458, ausführ- schlicht eine 'Kärntner Chronik' (bis 1335), lich 1435—1460) erzählt ein ungenannter in der er so unbefangen wie Hagen GeMinorit aus Cilli recht lebendig in dt. Prosa schichtliches, Sagenhaftes und Fabeleien mischt, und eine 'österreichische Chronik' (vor 1461). Seit den ersten fünfziger Jahren bis 1465 (1435 —1499), die namentlich für die Zeithält sich der schwäb. Meistersinger Michel ereignisse seit 1469 neben dem SelbstBehaim aus Sulzbach bei Weinsberg (1416 erlebten und Gehörten „Mären" oder bis nach 1474) zuerst bei Albrecht VI., dann „Zeitungen" verwertet. Von seiner 'Unbei dem jungen König Laßla (Ladislaus), garischen Chronik' hat sich nur ein schließlich bei Kaiser Friedrich III. und Bruchstück (von der Urzeit bis 1161) erim Gefolge von dessen Gemahlin Eleonore halten.

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR Ritterliche Sportfreude, spätmittelalterliche Allegorik und modernen Subjektivismus vereint das geplante vierteilige Werk Kaiser Maximilians I., in dem er „die Lebensgeschichte eines von der Gottheit zur Wiederherstellung ihres Erdenweltreiches vom Mutterleib berufenen Helden schildern" wollte: das Jugendleben des Helden erzählt 'Weißkunig', an zweiter Stelle wäre einzuschalten gewesen die 'Tragedie vomFürsten oder Küttig Wunderer die Brautfahrt um Maria von Burgund gibt den Rahmen für die „komedie" 4Tewrdannkh' — komedie und tragedie im mal. Sinn: illic prima turbulenta, tranquilla ultima, in tragoedia contrario ordine res aguntur — , des Helden ritterliches Wesen hätte 'Freydal' darzustellen gehabt. Der Plan, vor 1505 gefaßt, kommt 1512—1517 teilweise zur Ausführung. Erfindung und Anlage des Ganzen sowie der Stoff stammen vom Kaiser selbst, in die Ausführung teilen sich der Silberkämmerer Siegmund von Dietrichstein, der Sekretär MarxTreitzsauerwein (aus Mühlau in Tirol) und der aus Nürnberg gebürtige Kaplan Melchior Pfinzing. Der von Pfinzing nach dem Prinzip der Silbenzählung mechanisch versifizierte 'Tewrdannkh', mit Holzschnitten von Schäuffelein, Burgkmair, Leonhard Beck und fünf unbekannten Meistern, in Lettern, gezeichnet von dem kaiserlichen Sekretär Vinzenz Rockner, gegossen von Schönsperger d. Ä., erschien in erster Auflage zu Nürnberg 1517 (neu hg. v. S. L a s c h i t z e r im Jb. der kunsthistorischen Sammlungen des ah. Kaiserhauses V I I I [1888]). 'Weißkunig', nach Diktaten und Aufzeichnungen des Kaisers a. d. J. 1512 von Treitzsauerwein 1514 in Prosa abgefaßt, erschien mit den 237 Holzschnitten von Hans Springinklee, Hans Schäuffelein, Hans Burgkmair, Leonhard Beck u. a. erst 1775 (neu hg. v. A l w i n S c h u l t z a. a. O. V I [1888]). Für 'Freydal' 1515 liegt der Text von Treitzsauerwein nur handschriftlich vor; 26 kölnische Maler lieferten — für die Mummereien unter Beihilfe des Hofschneiders Martin Trümmer — dazu 255 Holzschnitte, aufgeteilt auf vierundsechzig Turnierhöfe, die Anordnung Rennen, Stechen, Kampf, Mummerei immer wiederholend (hg. v . Q u i r i n v o n L e i t n e r 1880—1882).

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Des Kaisers 'Gejaidt puech' und 'Heimliches gejaidt puech' legte Wolfgang Leitner 1502 an (hg. v. K a r a j a n * 1881; vgl. M. M a y r Das Jagdbuch 1901), ebenso ein 'Fischereibuch' 1504 (hg. v. M a y r 1901), beide mit Miniaturen aus Kölderers Werkstatt. Die 'Artalerey' beschlieb Bartholomäus Freysleben 1 ). Die Bücher 'Gartnerey', 'Valcknerey', 'Jegerey', 'Kellerey' sind in einer Abschrift, eine lat. Autobiographie 2 ) und ein 'Kaiserptiech' nur in Bruchstücken vorhanden. Von den 'Gedenkbüchern' haben sich vier erhalten. ' Paumaisterey' und 'Münzbuch' sind verloren. Zu den großen Holzschnittwerken 'Erenporten' (1559*), ' Tryumphwagen' (1796 4 ), 'Stam Chronik'6) und 'Stam"), 'Andacht', 'Moralitet', 'Sant Jorgen' lieferten die Hofgelehrten Treitzsauerwein, Stabius, Manlius die Texte. Die Gebete seiner Gebetbücher 7 ) hat der Kaiser selbst ausgewählt. Maximilian zugeschrieben wurden eine Satire 'Die vier namhafften Königreich' (Frankfurt 1538) und eine Mahnrede 'Die leer' (Mayntz 1532). Die wertvollsten Untersuchungen zu den von Maximilian angeregtenWerken finden sich in dem obenangeführten Jb. der kunsthist. Sammlungen des ah. Kaiserhauses, u. zw. Die Zeugbücher beschrieben und erläut. von \V. B ö h e i m : Jb. X I I I (1892) S. 9 4 - 2 0 1 , X V (1894) S. 295 bis 391. 2) A. S c h u l t z : Jb. V I (1888) S. 421 bis 446. 3 ) Mit Kommentar von Stabius. E. C h m e l a r z : Jb. IV (1886) S. 289—319. *) Mit Text von Treitzsauerwein. F. S c h e s t a g : Jb. I (1883) S. 154—181; K. G i e h l o w : Jb. X X I X (1910/11) S. 1 4 - 8 4 ; K. G i e h l o w und A. W e i x l g ä r t n e r : Jb. X X X I I (1915) S. 1 bis 232. 6) Von Jakob Manlius vorbereitet, im Druck erschien 'Seel und Heiligenbuch Kaiser Maximilians Alt/ordern' 1522. S. L a s c h i t z e r : Jb. V (1887) S. 117—222. Holzschnitte sind vorhanden zu den Heiligen aus der 'Sipp-, Magund Schwägerschaft des K. M.' S. L a s c h i t z e r : Jb. IV (1886) S. 70-88. «) 'Die fürstliche Chronik Kaiser Maximilians genannt Geburtspieger von Manlius, 5 Bücher, Hs. in der Wiener Nationalbibliothek. S. L a s c h i t z e r : Jb. VII (1888) S. 1—200; Th. v. F r i m m e l : Jb. X (1889) S. CCCXXVf. *) Das ältere Gebetbuch des K. Maximilian, Hs. Nr. 1907 der Nationalbibl. in Wien, lat. mit vläm. Einschiebseln, vor 1489, von P. B. (etwa Pieter Beckaert) illuminiert. E. C h m e l a r z : Jb. V I I (1888) S. 201—206. Das Diurnale oder Gebetbuch des K . Maximilian mit Randzeichnungen von Dürer und Cranach. E. C h m e l a r z : - Jb. III (1885) S. 88—102. Beiträge zur Entstehungsgeschichte von K. G i e h l o w : Jb. X X (1899) S. 30—112.

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Auf Befehl des Kaisers schrieb Hans Ried, damals Zöllner in Bozen, 15II das (verlorene) 'Riesenbuch' und nach 1511 das 'Heldenbuch' (23 Dichtungen aus dem 13. und 14. Jh., darunter die zwei 'Büchlein' und 'Erec' des Hartmann von Aue, 'Kudrun', 'Biterolf', 'Der Verweis' des Ulrich von Liechtenstein, 'Vom Reichtum des Priesters Johannes'). (Vgl.Th. G o t t l i e b Die Ambraser Hs. 1900; ferner den Art. Heldenbuch). Um die Ausbildung der Kanzleisprache, nunmehr einheitlich, wo immer sich der Kaiser aufhielt, machte sich der Kanzler Niklas Ziegler verdient. Seit 1500 kommt eine vereinfachte und den (bair.) Lautstand besser ausdrückende Rechtschreibung zur Anwendung. F. R e d l Maximilian in seitun Beziehungen zur Dichtkunst, Wissenschaft und Kunst, ZföG. L X I I I (1912) S. 693-723, 873-892.

§ 16. G e i s t l i c h e s D r a m a des M A . A. O s t e r z y k l u s . Die kirchliche Vigilfeier in der dem Ostersonntag vorausgehenden Nacht, die sich im Abendland bis ins 8. Jh. erhalten hatte, wurde im 9. Jh. auf den Vormittag des Karsamstags verlegt. Aus einem zwischen Matutinum und Laudes eingeschobenen Tropus (erhalten in der St. Gallener Hs. 484 vom Ende des 9. Jhs.) haben sich die Osterfeiern und Osterspiele des MA. entwickelt. Von den 224 durch K . L a n g e Die lat. Osterfeiern (1887) untersuchten liturgischen Büchern „stammen 163 aus dem Gebiet der germanisch-abendländischen Kultur; von diesen sind 52 aus den österr. Ländern, wobei aber die südlicheren Alpenländer (Kärnten, Krain, Steiermark), Mähren, Galizien und Bukowina so gut wie nicht berücksichtigt erscheinen. Aus dem 10.—13. Jh. sind aus Deutschland 38 Stück nachgewiesen, davon sind von Österreich 5 aus dem 12., 8 aus dem 13. Jh. Aus dem 12.—16. Jh. aber sind die einzelnen Kronländer so vertreten: Niederösterreich 7, Oberösterreich 13, Salzburg 9, Steiermark 1, Tirol 2, Böhmen 17, Aquileja 3, wobei das Material keineswegs als vollständig gelten kann; weder die Wiener Klöster noch die Provinzstifter sind in dieser Hinsicht erforscht." (Mantuani a. a. 0 . S. I9öf.) In dem Rituale von St. Florian (ccd. Flor. XI467 aus dem 12. Jh., hg. v. A. F r a n z 1904 S.35ff.) be-

gegnet als Ordo in die palmarum ein ähnlicher mimischer Ritus, wie ihn die Concordia regularis des Bischofs .¿Ethelwold von Winchester (10. J l . ) für die missa praesanctificatorum am Karfreitag bezeugt.

Die älteste österr. Osterfeier in einem Brevier des 12. Jhs. (Wiener Nationalbibliothek Hs. Nr. 1890, f. 163 a, 163 b mit Neumen) enthält nur die Grab- und Apostelszene (vgl. M e y e r Fragmenta Burana 1901 S. 7 7 - 7 9 ) Eine Erweiterung des schon früher verschönerten St. Gallener Tropus durch den Wettlauf der Apostel Petrus und Johannes zum Grabe, wie sie sich in dem Augsburger Brevier aus dem I2.(?) Jh. findet, begegnet in einem Antiphonar des 13. Jhs. aus einem der niederösterr. Klöster (Wiener Nationalbibliothek Hs. Nr. 1768, f. 190 a, von W. M i l c h s a c k Die Oster- und Passionsspiele 1888 S. 124L und von L a n g e S. 104 irrtümlich dem 15. Jh. zugeschrieben, vgl. M a n t u a n i a. a. O. S. 177) mit Tedeum und dt. Schlußgesang des Volkes Christ ist ir• standen. Ihr stehen zunächst die Osterfeier des Klosterneuburger Breviers (Klosterneuburg, Hs. 1185, Mitte des 13. Jhs., durch sieben weitere. Hss. auch für das 13., 14., 15. Jh. bezeugt), die St. Lambrechter Feier mit dt. Weisungsbeischriften (ZfdA. X X [1876] S. 131 ff.) und die Aufeistehungsfeier von St. Florian (ohne Tedeum, cod. Flor. X I 434 aus dem 14. Jh.: A. F r a n z Das Rituale von St. Florian 1904 S. 194fr.). Auch ein Prager Antiphonar des 13. Jhs. stimmt mit dem Wiener im wesentlichen überein, fügt aber noch als stumme Person den unguentarius hinzu. Die Absingung des dt. Osterliedes nach dem Tedeum findet sich wie hier noch in Passauer, Melker und Mondseer Brevieren des 15. Jhs., die Einlage vor dem Tedeum kommt vereinzelt im 14. Jh., häufiger im 15. und 16. Jh. vor. Ähnlich stimmt in einem Prager Ritual des 14. Jhs. das Volk vor dem Tedeum den Gesang Buoh wssemohuczy („Gott allmächtiger") an. ( V g l . C r e i z e n a c h a l 4 7 f f . ) Die Klosterneuburger Hs. 574 vom Beginn des 13. Jhs. enthält auf f. 142 b ß bis 144b ß einen lang verloren geglaubten Ordo paschalis in lat. Sprache mit dem dt. Schlußgesang des Volkes. Es ist ein verkürztes Zehnsilberspiel, von dem uns eine Variante in einer Hs. aus Tours (12. Jh.)

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a überliefert ist. Text und Melodie stehen 305ff.; G r e i z e n a c h I 85f., i u f f . ; dem Benediktbeurer Osterspiel nahe. Das M a n t u a n i a.a.O. S.202f.; Moser a . a . O . ganze Spiel liegt aber nur in der Kloster- S. 322; A. Orel Die Weisen im Wr. Pasneuburger Hs. vor, wodurch sich deren sionsspiel, Mitteilungen des Vereins für Wert erhöht. Die Strophen der Pilatus- Geschichte der Stadt Wien VI [1926] szene, der Wächterszenen und des Engels S. 72-95-) am Grabe stammen nach Meyers VermuFür die Mitte des 14. Jhs. ist in Wien ein tung S. 121 f. von einem dt. Geistlichen, Heiliges Grab und eine feierliche Begehung der eine Zeitlang in Paris studiert hat, was des Leidens und Sterbens Christi in der auf einen Klosterneuburger wohl zutreffen Rathauskapelle urkundlich bezeugt. Seit könnte — man denke an den Pariser wann auf dem Freithof zu St. Stephan am Aufenthalt Ottos von Freising und seiner Karfreitag 'Das bittere Leiden oder der Pas• Begleiter 1128—1133, an den Verduner sion unseres lieben HerrrC dem Volk vorAltar des Meisters Nikolaus 1181. (Vgl. getragen wurde, ist nicht nachweisbar. Es H. P f e i f f e r Klosterneuburger Osterfeier und ergibt sich nur, daß 1435 ein neuer PalmbOsterspiel, Jb. des Stifts Klosterneuburg I Eßl angeschafft, 1437 ein neues Heiliges [1908] S. I—56; C r e i z e n a c h a I 81 ff.) Grab aufgestellt wurde, das bis 1687 in Für die Mitte des 13. Jhs. bezeugen den Verwendung stand. Auf einem Steinrelief ludus paschalis unter Mitwirkung der an der Südmauer der Stephanskirche hat Geistlichkeit und des Volkes, auch schon Herodes, der Jesus verhört, einen Narren mit einem Ansatz zu einem Höllenfahrt- an der Seite wie in Arnoul Grebans franz. spiel, die von dem Probst Einwic auf- Passionsspiel (vor 1452). 1472 wurde in einer Wiener Sammelhs. gezeichneten Visionen der St. Florianer Inclusa Wilbirgis (1248—1289). ( P e z SS. rer. (Nationalbibliothek Hs. 3007) ein Osterspiel eingetragen, mit dt. und lat. Spielaustr. II 268. C r e i z e n a c h 2 I 51 f.) Den Ausdruck ósterspil gebraucht ein anweisungen, Unterscheidung der gesungeunechtes Neidhartlied (Haupt XXV, 10). nen und gesprochenen Partien; leider sind Der von Trostberg, wahrscheinlich ein nur zwei ganz kurze Melodien, darunter ein Tiroler, sagt von seiner Geliebten: si ist Silete, notiert ( M a n t u a n i a.a.O. S.319). Dem auf das Zehnsilberspiel zurückgehentnins herzen oster spil (HMS. II 72). Dem 13. Jh. dürfte ein Wiener ludus den Text liegt wohl ein das Latein mit paschalis angehören (Nationalbibliothek dt. Versen überwucherndes Osterspiel des Hs. 12887 aus den zwanziger oder dreißiger 13. Jhs. zugrunde, von dem eine Version Jahren des 14. Jhs.), vier Doppelblätter, im höfischen Stil die Bruchstücke aus Muri auf denen nur der erste Teil der Passion (13. Jh.), eine Version im Spielmannsstil erhalten ist, lat.-dt., mutmaßlich mittel- das Berliner Bruchstück und das Innsrheinischer Herkunft. Vorgeführt wird brucker Spiel (14. Jh.) darstellen. Die Luzifers Fall, die Verführung und Aus- Spracheigentümlichkeiten der beiden letzttreibung des ersten Menschenpaares aus genannten weisen auf Mitteldeutschland dem Paradies, eine Höllenszene, Maria hin. Das Innsbrucker Spiel (aus dem EichsMagdalena-Szenen, das Gastmahl beim feld?) ist nach 1335 entstanden, 1391 in Pharisäer Simon, die Abendmahlszene. Tirol aufgezeichnet, es wurde durch PrieIn den Szenen der Maria Magdalena und ster und ihre Schüler aufgeführt. Das des Gastmahls ist der Text einem lat.-dt. Wiener Spiel (aus Schlesien, etwa aus dem Benediktbeurer Osterspiel nahe verwandt, Bezirk Oppeln?) enthält im wesentlichen doch ist dessen Prosa durchaus versifiziert dieselben Szenen wie das Innsbrucker, und das Latein vom Deutschen weitaus doch ist auch der Wettlauf der Apostel überwuchert. Die zugehörigen Melodien zum Grab mit komischen Zutaten ausgesind teilweise reich verziert, teilweise ganz stattet. einfach und volksmäßig. In dem LiebesH. Hoffmann von Fallersleben Fundliedchen der Magdalena mit ihrem Liebsten gruben II (1857) S. 296ff. F. J . Mone AUdt. begegnen Motive der höfischen Dorfpoesie. Schauspiele 1841 S. I07ff. Creizenach* I ioöff. (Vgl. F r o n i n g DNL. XIV, i S. 278ff., R. Hopf 11 er Untersuchungen zu dem Inns-

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brucker, Berliner und Wiener Osterspiel (Germ Abhh. 45) 1913. Das Berliner Bruchstück einer Rubinszene aus einer Vorstufe der Innsbrucker Fassung ist mitgeteilt von W . S e e l m a n n Z f d A . L X I I I (1926) S. 257 ff.

Die am Gründonnerstag üblichen Zeremonien zur Erinnerung an die Einsetzung des Altarsakramentes wurden 1264 auf den Fronleichnamstag verlegt, dessen Feier 1311 neuerlich eingeschärft und 1316 mit einer Prozession ausgestattet wurde. 1334 stiftete und begabte der Pfarrer Heinrich von St. Stephan in W i e n den „Gotsleichnamsaltar". Eine unter Rudolf IV. gestiftete „Gotzleichnamsbrüderschaft", deren Regeln aus dem Jahre 1425 stammen, sorgte dafür, daß im Anschluß an die Corpus-Christi-Prozession ein Passion aufgeführt wurde. 1481 und i486 erfolgten Stiftungen zugunsten dieses Fronleichnamspieles, das, wie es scheint, textlich mit dem Passionsspiel des Karfreitags übereinstimmte. Die Stiftung von 1481 nimmt schon Bezug auf eine Regierolle. i486 war der Regierer der Bürger Wilhalm Rollinger, ein pildsnitzer. 1505 wurde das Fronleichnamspiel auf den Dreifaltigkeitssonntag verlegt. Der überlieferte T e x t des 'Passionsspiels bei St. Stephan', zur G a t t u n g der Marienklagen gehörig, und zwar der Gruppe München-Trier-Alsfeld nahestehend, liegt nur in einer barocken Überarbeitung vor (aufgezeichnet von dem Domherrn Testarello 1685, Hs. Nr. 8227 der Nationalbibliothek, S. 381 f f . ; abgedruckt von C a m e s i n a : Berichte und Mitteilungen des Altertumsvereins zu W i e n X [1869] S. 3 2 7 f f . ; A . E. S c h ö n b a c h Z f d P h . V I Die A u f f ü h r u n g e n [1875] S. 146—153). sind bis 1707 bezeugt. In P r a g wurden von den kirchlichen Behörden 1366 ludi theatrales bei der Fronleichnamsprozession, 1384 wurde die Teilnahme der Geistlichen an Fronleichnamspielen verboten: die Einmischung allzu burlesker Szenen mochte Anstoß erregt haben. Das Fronleichnamspiel der Innsbrucker Hs. v o n 1391, das älteste erhaltene dt., zwischen 1 3 I I und 1316 in Ostthüringen entstanden, besteht aus einer Reihe von ziemlich trocken lehrhaften Ansprachen. Text bei F. J. M o n e Altdt. Schauspiele 1841. S. 145ff. D o r a F r a n c k e Das Innsbrucker Frsp. Diss. Marburg 1921.

LITERATUR

Für Eger ist die Veranstaltung von Fronleichnamspielen 1466—1481 bezeugt, es sind aber keine T e x t e erhalten (vgl. Cr eiz e n a c h 2 I 170, 233, 231). Das durch eine unendlich umständliche Ausführung aller dramatischen Momente auf drei T a g e ausgedehnte Egerer Passionsspiel (fälschlich als Fronleichnamspiel bezeichnet, Egerer Hs. im Germanischen Museum zu Nürnberg, 2. Hälfte des 15. Jhs., hg. v. G. M i l c h s a c k 1881, Bibl. des Lit. Ver. 156) zeigt Zusammenhang mit dem Wiener Passions- und dem Innsbrucker Osterspiel. Bezeugt ist die Aufführung des Passionsspiels für 1519 (vgl. J. T r ö t s c h e r Germ. X X X [1885] S. 3 i 5 f . ; C r e i z e n a c h 2 I 231, I I I 140). In einer Hs. des 15. Jhs. (aus Fürstl. Auerspergschem Besitz 1783 für die Erzbischöfliche Diözesanbibliothek von Erlau erworben) liegen sechs einfachere geistliche Spiele vor, wahrscheinlich aus Gmünd im Liesertal ndl. von Millstatt, von denen vier zum Osterzyklus gehören: zwei Osterspiele (das eine mit komischer Arztszene, das andere mit komischer Wächterszene), ein Spiel v o m Weltleben der Maria Magdalena (verwandt dem Wiener Passion, der Charakter des Weltkindes mit den Zügen der törichten Jungfrauen in der hess. Redaktion des 'Spiels von den klugen und törichten Jungfrauen' von 1428), eine Marienklage (vgl. K . F. K u m m e r Erlauer Spiele 1882; C r e i z e n a c h 2 l 244). Die Rolle des Rubin allein hat sich in einer Hs. aus der 2. Hälfte des 15. Jhs. erhalten (ZfdA. L I [1909] S. 263 ff.). Von den als „Marienklagen" bezeichneten oratorienartigen Karfreitagspielen, die alle auf die Sequenz Planctus ante nescia zurückgehen, bewahrt die Bibliothek des Prager Domkapitels eine Variante der Münchener Marienklage in einer Hs. des 14. Jhs. auf. Die Prager Marienklage (Hs. der Universitätsbibliothek, 14. Jh.) ist in das Egerer Passionsspiel übergegangen. Ihr nahe verwandt sind mehrere Tiroler Marienklagen, die Erlauer Marienklage und das spätüberlieferte Wiener 'Passionsspiel bei St. Stephan' (s. 0). Die Stiftsbibliothek in Kremsmünster besitzt eine Marienklage in einer Hs. des 14. Jhs. aus Österreich und eine zweite in einer Hs. des 15. Jhs. aus

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR dem bayr. Benediktinerkloster Wiblingen. Auch das erst um 1593 von dem Pfarrer Johann Gredtner aufgeschriebene 'Lambacher Passionsspiel' gehört hierher (vgl. A. E. Schönbach Über die Marienklagen 1874; S. Mayr, Progr. Kremsmünster 1882, 1883; Creizenach a I 247t.). Die großartigste Ausgestaltung hat das Passionsspiel in Tirol erlangt. Der älteste Tiroler Passion, vom Ende des 14. oder Anfang des 15. Jhs., vielleicht in Sterzing entstanden, wo seit 1455 alle sieben Jahre Aufführungen nachweisbar sind, hat sich nicht erhalten. Mittelbar sind aus ihm hervorgegangen der Passion von Sterzing und der von Hall. Von dem Sterzinger Passion besitzen wir eine Regierolle, aufgezeichnet zwischen 1481 und 1496, für die Spiele am Gründonnerstag und Karfreitag (mit 76 sprechenden Personen) und den Passion des Lienhard Pfarrkircher, Kirchpropst in Sterzing, von i486 für vier Spieltage. In Hall sind die Aufführungen des Passions seit 1430 bezeugt. Die Abweichungen des Haller Passions von dem Sterzinger hat sich ein Sterzinger zu Ende des 15. Jhs. notiert. Auf Grund dieser „Abschrift von Hall" und der Pfarrkircher Passion hat ein jüngerer Liebhaber dieser Spiele in der ersten Hälfte des 16. Jhs. den vollständigen Text des Haller Passions hergestellt. In Bozen läßt sich die Aufführung des Passions seit 1476 nachweisen. Der Bozener Passion geht wieder auf den Sterzinger zurück. Endlich behängte die Urform des Tiroler Passions ein Brixener Liebhaber 1551 mit vielen fremden Lappen, aber nur in der ersten Hälfte des Spieles, während er in der zweiten den Grundtext mehr und mehr unverändert beibehielt. In Sterzing fanden die Spiele in der ältesten Zeit noch in der Kirche statt; in Bozen wirkte die ganze Stadtgeistlichkeit mit; in diesen beiden Städten sind alle Rollen mit Männern besetzt. In Hall spielten die Bürger, Männer und Frauen, im Stadtgarten oder auf dem Stadtplatz. Allmählich wurden die Spiele aus dem Zyklus des Kirchenjahres gelöst und zu beliebiger Zeit, meist im Sommer, aufgeführt. Die Ausgestaltung des Passions in Hall 1511 fand Anklang in Sterzing und Bozen, wo 1514, wie vorher 1495, der Schulmeister Benedikt Debs von

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Ingolstadt (etwa seit 1487 in Bozen angestellt, gest. 1515) den Salvator und der Maler Vigil Räber (gest. 1552) den Judas darstellten. Das Spiel dehnte sich nun auf siebenTageaus (Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag eine Marienklage, Ostersonntag die Auferstehung, Ostermontag das Emmausspiel, am Himmelfahrtstag das Himmelfahrtspiel). Die äußere Pracht stieg, das Pathetische einerseits, das komische Element anderseits wurden verstärkt. Es waren Volksfeste, wie wir sie sonst nirgends auf dt. Boden finden. J . E. W a c k e r n e i l Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol 1897. C r e i z e n a c h 1 ! 228—231. Ober den Situationsplan zu der Bozener Aufführung von 1 J 1 4 : L. T r a u b e Zur Entwicklung der Mysterienbühne (Schauspiel und Bühne, hg. v. Lepsius und Traube, Heft 1 ) 1888 S. 66.

B. W e i h n a c h t s z y k l u s . Von Spielen, die zum Weihnachtszyklus gehören, liegen nur wenige alte Texte vor. Eine Hs. des 12. Jhs. aus St. Lambrecht bietet die altertümliche Form der Weihnachtsfeier mit Verteilung des liturgischen Gesanges und der Lektionen an verschiedene Geistliche (ZfdA. XX [1876] S. I34f.). In einer Wiener Hs. des 14. Jhs. hat sich der Anfang der alten lat. Dreikönigsfeier, wie sie in Rouen und Limoges üblich war, in leoninische Hexameter umgedichtet, erhalten (vgl. Creizenach 2 I 56). Von dem Prophetenspiel (zurückgehend auf eine dem Heiligen Augustinus zugeschriebene Predigt gegen die Juden) mag sich ein Spiel von Isaak, Rebekka und ihren Söhnen abgelöst haben (Bruchstück in einer Vorauer Hs. aus dem Ende des 12. Jhs. mit Requisitenverzeichnis: 0 . K e r n s t o c k im AnzfKde. d. dt. Vorzeit XXIV [1877] Sp. l6pff.)t das mit den Bruchstücken eines mnd. Spieles von Jakob und Esau vom Ende des 14. oder Anfang des 15. Jhs. zu vergleichen wäre (vgl. Creizenach J I 68, I n zwischen das St. Gallener (14. Jh.) und das hess. Weihnachtspiel (15. Jh.) stellt sich der Text des Erlauer 'Ludus in cunabilis Christi1 mit Resten einer jüdischchristlichen Disputationsszene (wie im alten Benediktbeurer 'Ludus scenicus de nativitate Domini aus dem 13. Jh.) und der im Volksbrauch selbständig gewordenen Episode des „Kindelwiegens". Auf die

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Urform des hess. Weihnachtspieles scheint das Tiroler des Vigil Raber von 1511 zurückzugehen (vgl. C r e i z e n a c h 2 I 249). Eine Weiterbildung jenes Dreikönigspieles, das in das St. Gallener Weihnachtspiel eingearbeitet ist, ist vermutlich der Erlauer 'Ludus trium magum', das älteste erhaltene dt. Dreikönigspiel, das noch in naher Beziehung zu dem Officium des Dreikönigstages steht, mit interessanter angehängter Requisitenordnung (vgl. K u m m e r a. a. 0 . ; C r e i z e n a c h 2 I 250). Von Spielen für den Himmelfahrt- und Lichtmeßtag liegen späte Tiroler Texte vor (vgl. C r e i z e n a c h 2 I 250). C. S o n s t i g e g e i s t l i c h e S p i e l e . Ein Antichristspiel aus der Zeit Karls IV., in dem der Kaiser die Auferweckung seines Vaters, des königs von Pehaim, verlangt und sein Finanzminister Bischof (Dietrich von) Kugelweit eingeführt ist, liegt in späterer Umformung als Nürnberger Fastnachtspiel ( K e l l e r Nr. 68) vor (vgl. C r e i z e n a c h 2 I 122 ff.). Mit den Egerer Dorotheenspielen, die 1500—1541 urkundlich bezeugt sind, hängt vielleicht das Bruchstück einer Dramatisierung der Legende dieser Heiligen aus dem 14. Jh. zusammen (Kremsmünsterer Hs.; F. S c h a c h n e r ZfdPh. X X X V [1903] I57ff.; vgl. C r e i z e n a c h 2 I 126, 239). Eine dt. 'Susanna* hat sich in einer Mondseer Hs. aus dem 15. Jh. vorgefunden und wäre mit dem Fastnachtspiel K e l l e r Nr. 129 zu vergleichen. § 17. W e l t l i c h e s D r a m a des MA. Der alte Reigen um das erste Veilchen, den Hans Sachs aufbewahrt hat ( E r k B ö h m e A L B . 366f.; M a n t u a n i 157), die Sitte des Mailehens oder der Maigelobung ( U h l a n d Sehr. III 390—392, 47of.; M a n t u a n i 1 s8f.) in Verbindung mit den Neidhartschwänken bilden den Kern für das erste weltliche Lustspiel unserer Literatur, dessen Entwicklung in merkwürdiger Parallele steht zu dem (auch musikalisch interessanten, weil die Praxis des mehrstimmigen Gesanges bereits erweisenden) frz. Schäferspiel ' Robin et Marion' des Adam de la Haie von 1283 (vgl. C r e i z e n a c h 2 I 397 ff.). Die älteste, kürzeste, wahrscheinlich unvollständig überlieferte Fassung des 4 Neidhartspieles' (um 1350) hat Loserth

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in dem St. Pauler cod. X X X I I . c. sec. X V . 261 gefunden (vgl. A. E. S c h ö n b a c h ZfdA. X L [1896] 3 6 8 - 3 7 0 ; K . G u s i n d e Neidhart mit dem Veilchen [GermAbhh. X V I I ] 1899). Aus dem 15. Jh. stammt das große Tiroler 'Neidhartspiel' von mehr als 2200 Versen mit zahlreichen eingelegten Tänzen und 68 sprechenden Personen, die auf getrennten Standorten agieren ( K e l l e r Nr. 53). Von einer jüngeren Umarbeitung liegt nur ein Szenar aus der Sammlung Vigil Rabers vor (Sterzinger Spiele Nr. XXVI). Während diesen älteren Spielen höfischer Charakter eigen ist, sind das kleine Nürnberger 'Neidhartspiel' K e l l e r Nr. 21 und Hans Sachs' Fastnachtspiel 'Neidhart mit dem Feihel' von 1557 ( G o e t z e V I I iff.) auf den gröberen Ton bürgerlicher Unterhaltungen gestimmt (vgl. C r e i z e n a c h 2 I 407ff.). Die Aufführung des 'Neidhartspieles' ist für Eger zur Fastnacht 1516 urkundlich bezeugt. Auf das bayrisch-österr. Sprachgebiet weist eine Gruppe von Fastnachtspielen, die teils in der Wolfenbüttler Hs.G, teils in der Augsburger Hs. A von derselben Hand überliefert sind und sich stilistisch sowie dramaturgisch von den Nürnberger Fastnachtspielen unterscheiden. Hierher gehören außer dem großen 'Neidhartspiel' ( K e l l e r Nr. 53) Prozeß und Verurteilung des 'Tanawäschel', einer 1414 epidemisch auftretenden Grippe ( K e l l e r Nr. 54), zwei Spiele 'Von dreien bösen Weiben' (Nr. 56) und 'Von drei alten Weibern* (Nr. 57) und den Teufeln, das 'Heiligkreuzspiel' (Nr. 125) und das Spiel 'Von Mayster Aristotiles' (Nr. 128). (Vgl. V. M i c h e l s Studien über die ältesten dt. Fastnachtspiele [QF. 77] 1896; C r e i z e n a c h 2 I 425—427.) Unter den von Vigil Raber 1510— 1535 aufgezeichneten 25 Sterzinger Fastnachtspielen (Wiener Neudrucke Nr. 9, 11) sind wohl etliche Nürnberger Ursprungs, etliche dürften aber in den Alpenländern entstanden sein. Die Quacksalberauftritte haben sich vielleicht von den Osterspielen abgelöst ('Ipokras' Nr. IV, 'Doctor knoflach' Nr.VI,'Doctors appotegg' Nr. XXIV). An die causes grasses der Basoches ( C r e i z e n a c h 2I 439f.) gemahnen komische Prozesse über Intimitäten des Liebes- und Ehelebens ('Consistorj rumpoldi' Nr. VIII, zunächst-

ÖSTERREICHISCHE stehend K e l l e r Nr. 115, und Nr. I, zunächststehend K e l l e r Nr. 130, verwandt mit Nr. 145 des Répertoire von Julleville aus der Lavallièreschen Sammelhs. [vgl. A. K a i s e r Die Fastnachtspiele von der Actio de sponsu. Diss. Göttingen 1899]; 'Der verstoßen Rumpold' Nr. X V I I ; 'Schaydung ains eevolks' Nr. X X I I I ) . Auf volkstümliche Werbe- und Hochzeittänze mögen zurückgehn 'Pater cum quatuor filias' Nr. X V I I I , 'Rex Viole' Nr. X I , 'Von den 7 varben' Nr. X I V (vgl. K e l l e r Nr. 103), 'Venus' Nr. X V (vgl. K e l l e r Nr. 70). Das ebenfalls auf alte volkstümliche Gebräuche und Streitgedichte (Kampf zwischen Sommer und Winter) zurückweisende Streitgespräch zwischen 'Mai vnd Herbst' Nr. X V I (vgl. das ndl. 'Abel speel van dem winter ende van dem. somer': Creizenach 2 I 367 f., 463f.) mutet wie eine Dramatisierung der Motive des höfischen Minnesanges Waltherischer und Steinmarischer Richtung an. Das 'Spill von den risn oder reckhn' Nr. I X (Kriemhilds Rosengarten) läßt an die Runkelsteiner Fresken denken. Auf Fabliaux gehen das 'Spill von dem Toten künig mit den dreien Seinen Sün' Nr. III, 'Aristotiles der hayd' Nr. V I I , 'Esopus und Xanthus' Nr. X zurück. Größere Ausdehnung der Spiele, gelegentliche Reimbrechung, Tänze und Prügeleien der Bauern, gewisse sprachliche und metrische Eigentümlichkeiten unterscheiden in charakteristischer Weise die Sterzinger Spiele von den Nürnbergern. Aufgeführt wurden sie in Wirtshäusern. Wie im Wiener Osterspiel verspricht der Präcursor wiederholt: Wir wollen haben ein Fastnachts (Oster) spiel / Das ist hübsch (vrolich) und kost nicht vil (noch heute in Wien sprichwörtlich: is a Hetz' und kost net vil). (Vgl. C r e i z e n a c h 2 III 141 —149.) Daß allenthalben solche Fastnachtspiele aufgeführt wurden, ist anzunehmen, doch liegen nur vereinzelte Nachrichten vor. In Eger, wo die Müller zur Fastnacht den Schwerttanz auszuführen pflegten, bekamen 1449 die Schreiber ein Trinkgeld für ein Spiel, das sie vor dem Rathaus aufführten, 1475 die Tuchmachergesellen für ihr spyl und schaff am aschermittwoch (also für einen carrus navalis aus dem Motivenkreis der „verkehrten Welt"). Auch die M e r k e r - S t a m m l e r . Reallexikon II.

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Sterzinger Rechnungsbücher (die leider nur bis 1527 zurückreichen) weisen Geldgeschenke für Spiele auf dem Rathaus aus; die Darsteller (Handwerker, Bergknappen) zogen aber auch anderwärts in der Stadt mit ihren Spielen umher (1543), mitunter kamen Spielleute aus Gossensaß oder Stilfes in die Stadt. § 18. V o l k s l i e d e r . A. G e i s t l i c h e V o l k s l i e d e r . Wie im 14. Jh. lat. Hymnen und Antiphonen im österlichen Festgottesdienst durch geistliche Lieder in dt. Sprache ersetzt werden, zeigt eine hsl. Seckauer Liturgie von 1345 (vgl. M o s e r a. a. O. S. 230). Die beliebte geistliche Umdichtung von weltlichen Gesängen in mystischem Sinn übte der „große Sünder" (Mitte des 15. Jhs.), der uns das 'Hohenfurter Liederbuch' hinterließ. W. B a u m k e r Ein dt. Liederbuch mit Melodien aus dem 15. Jh. 1895. M o s e r a. a. 0 . S. 236!.

Die wertvollste ältere Sammlung geistlicher Lieder stammt von dem Benediktiner David Georg Corner (1587 — 1648, gest. als Abt von Göttweig): 'Groß Catholisch Gesangbuch, Darin fast in die funffhundert Alte vnd Neue Gesang vnd Ruff, in ein gut vnd richtige Ordnung auß allen bißhero außgangenen Catolischen Gesangbuchern zu sammen getragen vnd jetzo aufs Neue corrigirt worden' (Nürnberg 1625, zweite Ausgabe 1631). Vgl. die ausführliche Besprechung des Materials bei M a n t u a n i a . a . O . S. 161 —195, 279 (bes. 292)—319. W . B a u m k e r Das katholische dt. Kirchenlied in seinen Singmeisen IV i886ff. J. K e h r e i n Kirchen- und religiöse Lieder vom 12.—75. Jh. 1853 (nur Texte, keine Melodien).

B. W e l t l i c h e V o l k s l i e d e r . Die 'aller künstlichsten, eltisten, seltzamsten vnd besten Teutschen gesang, so er im landt Osterreich vnd anderßwo bekommen mugen', über 370 Melodiefragmente und vollständige Melodien, hat Wolfgang Schmeltzl (etwa 1500 bis 1557) zu Quodlibets vereinigt: 'Guter, seltzamer vii künstreicher teutscher Gesang, sonderlich ettliche Künstliche Quodlibet, Schlacht, vfi dergleichen, mit vier oder fünff stimmen, biß her, im truck nicht gesehen' (Nürnberg 1544). Vgl. die ausführliche Besprechung der Gattungen und einzelnen Lieder bei M a n t u a n i a.a.O. S. 349 bis366 und bei S e e m ü l l e r a . a . O . S.68—70. 38

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Monatshefte f. Musikgeschichte III 201, VIII 35, X I I I i64f. J. M. W a g n e r Serapeum X X V (1864) S.276ff. F . S p e n g l e r WolfgangSchmeltd 1883 S. 84ff. M a n t u a n i a . a . O . S.344. E l s a B i e n e n f e l d W.Schmeltzl, sein Liederbuch und das Quodlibet desl6.Jhs.-. Sammelbde. der IMG. V I (1904/05) S.80—135. Moser a.a.O. S.248f.

C. H i s t o r i s c h e V o l k s l i e d e r . Von der Marchfeldschlacht 1278 bis zum Tod Maximilians I. 1519 sind über 300 historische Volkslieder erhalten, die in Österreich entstanden sind oder sich auf österr. Ereignisse beziehen. Vgl. die ausführliche Besprechung bei M a n t u a n i a . a . O . S. 178, 189?., 320ff., 345—349 und bei S e e m ü l l e r a . a . O . S. 70—72. R. v. L i l i e n c r o n Die histor. Volkslieder der Deutschen I—III 1865—1867.

§ 19. H u m a n i s m u s . Wie die Präger Universität steht auch die von Rudolf IV. am 12. März 1365 gestiftete Universität zu Wien in Zusammenhang mit Paris und erhält nach dem Ausbruch des Schismas 1378 von dort Zuzug an Professoren und Studenten. Der röm. Papst Urban VI., dessen Anhänger hier ehrenvolle Aufnahme finden, gestattet daher 1384 die Vervollständigung des Studium generale durch die Errichtung und Privilegierung der theologischen Fakultät. U m die endgültige Organisation der Universität macht sich der Hesse Heinrich von Langenstein (1325 bis 1397) verdient, der für Albrecht IV. eine Anweisung zur 'Erchantnuzz der svnd' verfaßt. Auch die Schwaben Johann Nider von Isny (gest. 1438) und Nikolaus von Dinkelspühel (gest. 1433) verschmähen es nicht, sich für ihre moralischen Schriften der dt. Sprache zu bedienen. Den Hussitismus lehnte die Universität 1421 ab, an den Reformkonzilien beteiligte sie sich eifrig. Ihr Vertreter zu Basel, Thomas Ebendorfer (1387—1464) hat mit seinem 'Chronicon Austriacum'

(von der U r z e i t bis 1463)

stofflich die bedeutendste Leistung der mal. Geschichtschreibung Österreichs hervorgebracht und die Geschichte in den Kreis der Universitätsfächer eingeführt. Der Vorlesungsbetrieb steckte noch ganz in den scholastischen Methoden. Ebendorfer soll nach einem von Aeneas Sylvius weiterverbreiteten Studentenwitz 22 Jahre über das I. Kap. des Propheten Jesaias gelesen haben, ohne zum Ende gekommen zu sein (tat-

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sächlich liegt die Erklärung der ersten sechzehn Kapitel hsl. vor). Tüchtiges leisteten die Mathematiker und Astronomen Johann von Gmunden (gest. 1442), Georg von Peuerbach (gest. 1461), Johann Müller von Königsberg in Franken (Regiomontanus, gest. 1476), diese beiden v o n Nicolaus Cusanus und Bessarion gefördert. Die Pflege des mehrstimmigen Gesanges beweisen die sieben, wohl vor 1465 in Niederösterreich von Puntschucher und Johann Wiser für Johann Hinderbach, den Geheimschreiber Friedrichs III., angefertigten, 1920 von den Italienern revindizierten Trienter Codices mit 1585 Musikstücken aus dem 15. Jh. von Komponisten aller Nationen. Auswahl in den Denkmälern der Tonkunst in Österreich XIV. X V . X X I I . X X X V I I I . U l i . LXI. Über die Heimat R . W o l k a n in StzMusikwissenschaft VIII(1921) S. 1—8. Mosera. a. O. S. 406—411.

Gelegentlich des Baseler Konzils kommt Enea Silvio Piccolomini (1405—1464) über die Alpen und wird am 27: Juli 1442 zu Frankfurt a. M. von Friedrich III. zum Dichter gekrönt, in dessen Kanzlei er Ende d. J. eintritt, und an dessen Politik er als Protonotarius und Geheimschreiber bis 1455 hervorragenden Anteil nimmt. Der Briefwechsel des E. S. P., hg. v. R. W ö l k a u I—IV (1909/18), Fontes rer. Austr. II. Abt. Bd. 61, 62, 67, 68.

Von seinen zahlreichen Werken seien nur die Novelle 'Euryalus und Lucretia' 1444 (ein Liebesabenteuer des Kanzlers Schlick in Siena 1431 behandelnd) und die 'HistoriaFriderici III. imp(bis 1458, dazu der Bruderkrieg von 1462/3 von dem späteren Bischof von Trient Johann Hinderbach von Rauschenberg) hervorgehoben. Sein Bemühen ist darauf gerichtet, „die dt. Nation durch Lehre und Beispiel zu dem alten Glänze der röm. Beredsamkeit und zu den Humanitätsstudien hinzuleiten". 1445 hält er in der Aula in Wien eine Rede über den Wert der alten Dichter und Dichtkunst, auf deren Anregungen es wohl zurückgeht, wenn Peuerbach im Winter 1454 über die 'Aeneis', 1456 über Juvenal, 1458 über Horaz und 1460 wieder über die 'Aeneis' liest, M. Johann Mandel aus Amberg 1456 Ciceros 'Cato\ 1457 die 'Adelphi' des Terenz und 1458 Lucan, Regiomontanus 1461 Ver-

ÖSTERREICHISCHE gils 'Bucolica' erklärt. A u c h die Domschule zu St. Stephan nimmt seit 1446 einen neuen Aufschwung, zumal unter dem Rektor Paul von Stockerau 1466—1473, neben dem der Propst des Wiener Dorotheenstiftes Stephan Landskranna (gest. 1477) im humanistischen Sinne wirkt, dessen 'Himmelsstraße' (gedruckt Augsburg 1484) zu den gelesensten Erbauungsbüchern der Zeit gehört. Mehr Anhänger für die neue Richtung als unter den Gelehrten warb Aeneas Sylvius unter den Genossen der Kanzlei, die sich durch ihn für einen latinisierenden Stil begeistern ließen. Von dem Nürnberger Gregor Heimburg übernimmt ihn Niklas von W y l e , der als Stadtschreiber zu Eßlingen gegen 1461 mit der PfalzgräfinErzherzogin Mechthild (1390—1482), der in Rottenburg a. N. residierenden Gemahlin Albrechts V I . von Osterreich, in persönlichen Verkehr und geistigen Austausch tritt. Beteiligt an der Stiftung der Universität Freiburg i. B. durch ihren Gatten Albrecht V I . 1454 und der Universität Tübingen durch ihren Sohn erster Ehe, den Württemberger Grafen Eberhard im Bart, 1477, erweist sie sich als eine Hauptförderin des oberdt. Humanismus. A u c h ihre Verwandten Erzherzog Siegmund von Tirol und dessen Gemahlin Eleonore von Schottland (die Übersetzerin des Liebesund Abenteuerromans 'Pontus und Sidonia' 1465) nehmen an der Ausbildung der neuen humanistisch gefärbten Unterhaltungsliteratur teil. Hermann v o n Sachsenheim, J a k o b Püterich von Reicherzhausen, Antonius von Pfore, Heinrich Steinhöwel, Johann Hartlieb, Niklas von W y l e widmen diesen Herrschaften ihre Werke. Ph. S t r a u c h P/alzgräfin Mechthild in ihren lit. Beziehungen 1883. P . W ü s t Die dt. Prosaromane von Pontus und Sidonia. Diss. Marburg 1903. W . L i e p e Elisabeth von Nassau-Saarbrücken 1920.

N a c h Peuerbachs Tod 1461 und Regiomontans A b g a n g 1462 verfielen die humanistischen Studien in Wien wieder, wie das Tagebuch des Arztes Johann Tichtel aus Grein (1477—1494, hg. v. K a r a j a n 1855 in den Fontes rer. Austriac. I, 1—64) deutlich erweist, bis der am 18. April 1487 in Nürnberg zum Dichter gekrönte Konrad Celtis 1490 in Tichtels Haus die Organisa-

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tion der Sodalitas Danubiana unter dem Präsidium des Johann Vitez, Bischofs von Veszprim und Vertrauensmannes des Königs Maximilian, einleitete. Zunächst setzte Bernhard Perger aus Stainz, Rektor der Stephansschule und von 1492 — 1 5 0 1 Superintendent der Universität, die Berufung ital. Humanisten durch (Hieronymus Balbi, Joh. Ricutius Vellinus, Angelus Cospus, Joh. Sylvius Siculus). Nach dem Tode Friedrichs III. 1493 vollzog Maximilian I. die Dichterkrönung seines nachmaligen Leibarztes und Historiographen Johann Cuspinianus (1473—1529). W a s Bartholomäus Steber (Scipio) und Tichtel nicht erreicht hatten, die Berufung von Celtis nach W i e n , gelang jetzt mit Unterstützung von Maximilians Hofgelehrten Cuspinian, Krachenberger und Fuchsmagen 1497: Celtis erhielt die Lehrkanzel der Rhetorik und Poetik an der Artistenfakultät, und nach seinem Vorschlage wurde am 31. Oktober 1501 das Collegium. poetarum et mathematicorum eingerichtet, dem der Kaiser Insignien verlieh (leider ist nur mehr die Kiste, in der sie aufbewahrt waren, im Besitz der Universität), um Dichter zu krönen. Damit ist der neuen Richtung gegen den Scholastizismus zum Durchbruch verholfen. Mit Behagen flicht der 1501 zum Dichter gekrönte Heinrich Bebel in seine 'Comoedia vel potius dialogus de optimo studio scholasticorum' (15. N o v . 1501) die Erzählung des Hofmannes ein, wie einer, der in Innsbruck den Kardinal R a y m u n d u s um ein Beneficium angegangen, wegen seines schlechten Lateins zurückgewiesen worden sei. 1502 ladet Celtis zu Aufführungen der 'Aulularia' und des 'Eunuchus' durch Zöglinge des Kollegiums in der A u l a der Universität ein. Seit der Heirat mit Bianca Maria Sforza 1494 veranstaltet Maximilian an seinem Hofe Festlichkeiten nach ital. Art, kostümierte Aufzüge mit Deklamation, Gesang und Tanz, für die die dt. Humanisten den Canevas liefern: zeitgeschichtliche „ T r a gödien", d. s. Prosadialoge mit Chören nach dem Muster Verardis (Jakob Locher 1495 'Historia de rege Franciae', 1498 ' Tragoedia de Thurcis et Suldano'), allegorische Festspiele (Joseph Grünpeck 1497 'Fallacicaptrtx', Celtis 1501'LudusDianae', 1504 'Rhaps38*

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odia de laudibus et victoria Maximiliani de Boemannis', 1506 ein verlorener 'Ludus', Chelidonius 1515 'Voluptatis cum virtute disceptatio'). Vgl. C r e i z e n a c h 2 II 28ff. Der Zusammenhang zwischen den musischen Kunstübungen der Humanisten und der zeitgenössischen kontrapunktischen Musik, wie sie in der 1498 gegründeten Hofmusikkapelle (Kapellmeister Georg von Slatkonia, Sinfonist Heinrich Isaak und Ludwig Senfl, Organist Paul Hofheimer) gepflegt wurde, zeigt sich auch in des Peter Tritonius 'Melopoeiae' 1507, dem ersten von Erhard öglin in Augsburg hergestellten Typendoppeldruck Deutschlands, vierstimmigen Weisen zu 22 Metren des Horaz und Celtis, mit denen sich der Übergang von der Polyphonie zur Homophonie (Senfl, Hofheimer 'Harmoniae poeticae' 1539) anbahnt.

einen Abriß der Geschichte der dt. Literatur, soweit sie ihm bekannt war (gedruckt auf Grund einer mangelhaften Nachschrift des Tirolers Joannes Singrenius, 'De poetica et carminis ratione Uber', 1518). Aus seinem 'Hahnenkampf' ('Gallus pugnans' 1514) ließe sich ein Rückschluß auf eine Verwandtschaft zwischen Wiener und Sterzinger Fastnachtspiel ziehen, wenn sich die Altwiener Posse wirklich in dem Humanistenscherz spiegeln sollte. Die Unruhen nach Maximilians Tod 1519, die Pest von 1521, die Ketzerverfolgungen seit 1527, Maßregeln zur Wahrung des katholischen Charakters der Universität 1528, die Türkenbelagerung 1529 bewirken den Verfall der Wiener Universität, an der 1532 nur mehr zwölf Studenten neu inskribiert werden, indes von 1507—1515 jährlich gegen 600 Schüler eingeschrieben wurden. —'

A . S m i j e r s Die kais. Hofmusikkapelle von 1543—1619, StzMusikwissenschaft V I (1919) S. 139ff.; V I I (1920) S. 102ff.; V I I I (1921) S. 176ff.; I X (1922) S. 43ff. R . v. L i l i e n c r o n Die horazischen Metren in dt. Kompositionen des 16. Jhs, VjschrfMusikwissenschaft I I I (1887) S. 26ff. M a n t u a n i a. a. 0 . S. 398ff. M o s e r a. a. O. S. 381 ff., 419 ff.

J . R. v . A s c h b a c h Gesch. der Wiener Universität I (1865), II (1877), I I I (1888) mit Nachträgen (1898) berücksichtigt eingehend die G e lehrtengeschichte.

Wie den ital. Humanisten, eignet auch diesen dt. Gelehrten nationaler Sinn. Krachenberger und Suntheim interessieren sich für die Grammatik der dt. Sprache, Celtis im Anschluß an die 'Germania' des Tacitus für die Urgeschichte Deutschlands; eine 'Germania illustrata', ein Bildersaal dt. Ahnen werden vorbereitet. Des Kaisers Beichtvater* der Kartäuser Gregor Reisch, verfaßt eine Enzyklopädie der gesamten Schulwissenschaften ['Aepitoma omnis philosophiae' 1503, bis 1600 immer neu aufgelegt, auch ins Italienische übersetzt). Nach Celtis' Tod 1508 verfiel die „Donaugesellschaft", die etwa vierzig Mitglieder zählte. Eine Zeitlang sammelte sich noch ein kleinerer Kreis um den Bayern Georg Tannstetter (Collimitius, gest. 1535), die Sodalitas Collimitiana. 1511 hält sich Ulrich von Hutten in Wien auf und verfaßt hier seine Elegien an den Kaiser wider die Venezianer. Von 1510—1519 ist die erste Kraft der artistischen Fakultät der Schweizer Joachim von Watt (Vadianus). Im Wintersemester 1512—1513 gibt er in seinen Vorlesungen über Literaturwissenschaft auch

Während in den Alpenländern Männer der Kirche, Schule und Kanzlei, also überwiegend bürgerliche Elemente, als Träger des Humanismus begegnen, eignen sich in den Sudetenländern, wo die Hussitenkriege das Bürgertum erschöpft hatten, geistliche und weltliche Große die neue Bildung an (Bohuslav Lobkowitz von Hassenstein 1462—1510, Ladislaus Czernohorsky von Boskowitz, gest. 1522, Stanislaus von Thurzo, 1497—1502 Bischof von Olmütz, Augustinus Olomucensis de Vsehrd 1467 bis 1513). Mit den unmittelbar von Italien beeinflußten Humanisten des ungar. Hofes stellt die Sodalitas Danubiana eine Verbindung her. §20. R e f o r m a t i o n u n d G e g e n r e f o r mation. Dem Aufsteigen der österr. Macht nach der dynastischen Vereinigung der Alpenländer mit Böhmen und Ungarn 1526 und nach der neuerlichen Erwerbung der dt. Kaiserwürde 1558 stehen zahlreiche Hemmnisse entgegen: Türkennot, Religionsstreit, innere Parteiungen, die sich immer mehr zu einem Entscheidungskampf zwischen katholischer Fürstengewalt und protestantischer Ständeautonomie zuspitzen; namentlich die innerösterr. Linie der Habsburger erkennt früh, daß es sich

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR den Ständen um Beseitigung des Gehorsams in weltlichen Dingen handle, um die Errichtung einer Adelsrepublik nach schweizer oder holländer Art. Schließlich erringt der einheitliche Wille der katholischen Partei den Sieg über die uneinigen Bekenntnisse und Stände. Die Agitation der Reformierten setzt wie überall mit Flugschriften (Watt 'Eyn Underschyd zu erkennen den almechtigen g o t . . . ' 1521; Nie. Herman 'Ein Mandat Jesu Christi an alle seine getreuen Christen' 1524) und Predigten (Speratus in Wien 1521 — 1522, Balth. Hubmaier 1528, Mathesius 'Sarepta' 1562) ein, denen von katholischer Seite nur schwach entgegengewirkt wird (Faber, Nausea). An die Verbrennungen des Kaspar Tauber (12. September 1524), des Balth. Hubmaier (10. März 1528) u. a. schließt sich das evangelische Märtyrerlied an. Als wesentlicher Bestandteil des neuen Gottesdienstes entwickelt sich das Kirchenlied (Michael Weiße 'Ein New Gesengbüchlein' 1531 für die böhmischen Brüder [s. d.], nach deren Annäherung an das Lutherische Bekenntnis von Johann Horn 1544 umgearbeitet; Andreas Moldner 'Geistliche Lieder' 1543 und Valentin Wagner 'Geistliche Lieder und Psalmen* 1553 für die Siebenbürger Sachsen, Nie. Herman 'Sontags Euangelia' 1560, 'Historien von der Sindfludt' 1562 für die Lutheraner; Paul Schede Melissus 'Psalmen Davids' 1564 für die Calvinisten, Simon Gerengel für ödenburg, Laam 1588 für die Zips). Die Schulen nehmen das Lehrziel der evangelischen Gelehrtenschulen an (sapiens atque eloquens pietas), auch die der Deutschen Oberungarns, der Zips und Siebenbürgens (Hontems 1498 bis 1549). Die Schulmeister empfehlen sich durch Lobsprüche (Wolfgang Schmeltzl auf Wien 1548, 'Tiroler Landreim* des Georg Rösch) und führen zu ihrem Vorteil Schuldramen auf: Rebhun aus Waidhofen a. d. Y b b s 1535—1538, Krüginger aus Joachimsthal 1543—1555, Leonhard Stökkel in Bartfeld 1559 stellen die unmittelbare Verbindung mit den Wittenberger Reformatoren her, in deren Sinn auch Clemens Stephani in Eger 1557—1568, Thomas Brunner in Steyr seit 1558 und dessen Nachfolger Georg Mauritius 1572

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bis 1574 dichten. Ins Katholische überträgt die Gattung der Oberpfälzer Schmeltzl, Schulmeister bei den Schotten in Wien, 1540—1551. Aufführungen von Schülern sind auch für Salzburg und Tirol seit 1540 bezeugt. In den Handwerkerkreisen, die sich allenthalben zum erneuten Glauben bekennen, wird der Meistergesang gepflegt (Schwaz 1532, Wels 1549—1601, Steyr 1562—1615, Eferding, Freistadt, Iglau 1571 — 1621, Wien, Prag). „Neue Zeitungen" durchflattern das Land (Türkenlieder, „Waisenlieder" der Siebenbürger Sachsen). Im Dienste des Hofes verfassen Pritschmeister Kriegs- und Siegsbulletins, Beschreibungen von Festlichkeiten und Empfängen (Lienhart und Valentin Flexel, Heinrich Wirrich, Benedikt Edelpöckh, Siegmund Bonstingl, Hans Weitenfelder); über ihre dramatischen Darbietungen wissen wir wenig: von denen des Wirrich 1558—1563 liegen urkundliche Nachrichten vor, von Edelpöckh ist ein 'Weihnachtsspiel' (1568) erhalten. Die geistlichen Spiele finden noch vielfach Pflege (Tiroler Passionsspiele, Egerer Dorotheenspiel, Oberuferer Christi Geburt-, Paradeis-, Schusterund Schneiderspiel, Kremnitzer Volksschauspiele, 'Königslied' der Siebenbürger Sachsen). Vom Geist der neuen Zeit zeigt sich das 'Tiroler Reformationsspiel' berührt (zwischen 1529 und 1535). Dem Meistersingerschwank nahe steht das 'Spiel von der Weyßheit und Narrheit' des Leonhard Freyßleben 1550 und die 'Satyra oder Bauernspiel' des Stephani 1568. Durch eine Reihe von Reformakten, auf die der Jurist Georg Eder großen Einfluß nimmt, verwandelt Ferdinand I. die Wiener Universität 1533—1554 in eine Staatsanstalt; 1557 wird das Collegium poetarum unter der Leitung des Nathanael Balsmanus wiederhergestellt, 1558—1560 erfolgen mehrere Dichterkrönungen (die letzte 1724). Die gelehrten Bestrebungen des Humanistenkreises setzt Wolfgang Lazius fort ('Vienna Austritte' 1546, dt. von Heinrich Abermann 1619; 'De gentium aliquot migrationibus' 1557, mit dem letzten literarischen Zeugnis über das Nibelungenlied für mehr als ein Jh.). In Kärnten und Salzburg 1537—1541 vollendet Paracelsus drei seiner dt. Traktate.

ÖSTERREICHISCHE

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Zur Reinigung und Wiederaufrichtung der alten Kirche, der er anhängt, nimmt Ferdinand I. die Jesuiten in Wien auf (1551): sie erneuern katholische Frömmigkeit durch Festlichkeit des Gottesdienstes, eindringliche Predigt, Milde im Beichtstuhl, Lehre und Unterweisung für alt und jung (Schule, Schuldrama). Nun erhalten auch die Katholiken Katechismus (Canisius 'Catechismus

major'

1 5 5 4 , 'Parvus

Catechismus'

1561, auch dt., Vogler 1625) und Gesangbuch (Leisentritt 1567, Hecyrus 1581, Beuttneri602, Corner 1625). Deutsche, volkstümlich schreibende Polemiker nach Art der Franziskaner Melchior de Fabris 1563 und Johannes Nas (1534—1590) fehlen zunächst dem Orden; erst in der zweiten Generation vermag auch er schlagkräftige Wortstreiter (Georg Scherer, Christoph Mayer, Johannes Zehender) ins Feld zu stellen. Die lutherischen Stände berufen an ihre Landschaftsschulen hervorragende Schulmänner (Chyträus nach Graz 1569, Dr. Johannes Matthäus nach Krems 1557—1558, Calaminus nach Linz 1578, Frischlin nach Laibach 1582—1584, Hieronymus Megiser nach Klagenfurt 1594 bis 1600, Kepler ans Eggenberger Stift 1594—1600); aber durch Eiferer gegen Synergismus und Kryptokalvinismus innerlich zerrissen, vermögen sie sich untereinander nicht zu einigen und erliegen nach zäher Gegenwehr dem Gewaltschlag der Glaubenskommissionen: die geistlichen Klagelieder des Simon Gerengel, das 'Khirmairbüchlein' (1575), die 'Klagenfurterische Chronik' des Paul Kepitz (1611), die Exulantenlieder, die Märtyrerlieder der erbarmungslos verfolgten Hutterischen Brüder (s. d.) geben Zeugnis von den Leiden und dem Todeskampf des österr. Protestantismus. Bei der Verbrennung aller protestantischen Bücher ist gewiß auch viel literarisch Interessantes zugrunde gegangen. Vervollständigen läßt sich das Zeitbild aus den Schriften der Satiriker und Moralisten, die sich in ihren Themen mit Fischart berühren (Johann Rasch, Georg Fleißner, Hippolyt Guarinoni). Aber selbst in dieser freudlosen Zeit verstummt nicht der Gesang. Den Übergang vom Volkslied zum Gesellschaftslied im Zusammenhang mit dem Wandel vom kontrapunktischen zum madrigalesken Stil,

LITERATUR

den die Hofkapellen mitmachen, zeigen nach der textlichen Seite bahnbrechend die 'Teutschen Lieder' von Jakob Regnart (1576), mehr nach der musikalischen Seite Gregorio Turini (gest. 1596), Joachim Lange (1606), Christoph Demantius (gest. 1643) sowie das Jaufner Liederbuch (1600). Der Übergang von der volksmäßigen Dichtung des 16. Jhs. zur gelehrten des 17. Jhs. tritt deutlich in der Lyrik des Christoph von Schallenberg (1561 —1597, Schülers des Calaminus) und des Sekretärs des letzten Rosenbergers Theobald Hock aus Limbach im Saargebiet, vgl. ZfdA. L X I I (1925) S. 20, ('Schönes Blumenfeldt' 1601) entgegen. Literaturangaben bei G. M ü l l e r Gesch. des dt. Liedes 1925. M o s e r I 4 472ff.

Als Nachzügler mal. Rechtsbücher erscheinen 1565 die 'Perckhordnung' der oberungar. Bergstädte und des Matthias Fronius 'Statuta Oder eygen Landtrecht' der Sachsen in Siebenbürgen 1583. Die Jesuiten der österr. Provinz lassen ihre Schüler in der Kirche „Dialoge" halten beim Heiligen Grab in der Karwoche und bei der Fronleichnamsprozession, teils in dt., teils in lat. Sprache; „die Darstellung ist ernst und verursacht große Rührung, so daß wir dadurch manchmal mehr bewirken als durch ein paar Predigten, auch werden Häretiker auf diese Weise für den katholischen Glauben und ihre Söhne für unsere Schulen gewonnen" (1586). Außerhalb der Kirche werden Schuldramen aufgeführt, in Wien seit 1555, in Prag seit 1560, in Innsbruck seit 1563, in Graz seit 1579, grundsätzlich in lat. Sprache mit komischen Zwischenspielen in der Volkssprache und Beschränkung der Zahl der weiblichen Rollen (vgl. d. Art. Jesuitendrama). Aufgeführt wurden (neben klassischen K o m ö d i e n w i e 'Adelphi',

'Aulularia')

Dramen von Ordensleuten mit Musik und Tanz bei größtem Aufwand an Personen, Kostümen, Maschinen. „Man glaubt nicht, wie solche Darstellungen auf das Gemüt der Deutschen wirken und sie für Glauben und Frömmigkeit wieder gewinnen" (Peter Busaeus). Gern gesehen wurden Stücke von Wolfgang Piringer aus Lambach, Jakob Gretser, Jakob Spanmüller-Pontanus (dem ältesten Theoretiker des Jesuitendramas, 'Poeticarum

institutionum

libri

III'

1594).

ÖSTERREICHISCHE Matthäus Rader. Ein besonderer Liebhaber dieser theatralischen Darbietungen ist Erzherzog Ferdinand von Tirol, den vielleicht das Widerstreben des Ordensgenerals gegen Komödien in der Volkssprache veranlaßte, selbst unter die Dramatiker zu gehen ('Speculimi vitae humanae' 1584 in dt. Prosa, verwandt den Dialogen). Von den dt. Weihnachtsdialogen, die arme Studenten in Innsbruck aufzuführen pflegten, gibt uns Edelpöckhs 'Komödie von der freudenreichen Geburt Jesu Christi' 1568 eine Vorstellung. B. D u h r Gesch. der Jesuiten in den Ländern

dt. Zunge I (1907), I I (1913). W. Flemming Gesch. des Jesuitentheaters Zunge 1923.

in den Landen

dt.

Seit 1549 tauchen an den Habsburgischen Höfen ital. Komödianten auf (1568 ff. Tabarino, 1569 ff. Mitglieder der comici gelosi, 1576 Giulio Pasquati, 1614 Fritellino, 1626 und 1628 die Mantuaner Fedeli), daneben span. Sänger (1590 Hieronymus da Gallara, 1598 Don Luis und Don Indracalis), 1607 und 1608 spielt die engl. Komödiantentruppe des John Green zum großen Ergötzen der Erzherzogin Maria Anna und des Erzherzogs Ferdinand in Graz im Wettbewerb mit den Jesuiten, 1617 in Olmütz, Wien(?), Prag; 1610 die Truppe des Webster, Machin und Reeve in Prag; vor Kaiser Matthias 1613 John Spencer in Regensburg, 1617 in Dresden. Guarinoni lobt das Spiel der Italiener ,,darob einer lachen muß, es sei ihm lieb oder leid" sowie die „fahrenden Gesellen aus den niederund engelländ. Städten, die ihre Gaukelund Possenstücke ergötzlich und ohne Ungebühr fürgestellet hätten" (bezeugt ist 1561 ein Schauspiel mit niederländ. Personen in der Ratsstube in Wien). Vgl. d. Art. Englische Komödianten. § 21. B a r o c k . Die Wiederherstellung des Katholizismus ist vor allem Sache zahlreicher, überwiegend aus dem roman. Süden herbeigezogener asketischer Orden. Da aber Ferdinands II. Ziel, zur Glaubenseinheit zu gelangen, nicht zu erreichen war, Ferdinand III. den Protestanten Schlesiens und Ungarns (jenen beinahe und diesen ganz uneingeschränkt) freie Religionsübung, ja selbst dem Adel Niederösterreichs und seinen Untertanen Bekenntnisfreiheit zu-

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gestehen mußte, verlor der Religionskampf allmählich an Schärfe, und es konnten gerade von Wien die Unionsbemühungen des Franziskaners Spinola (1661 —1694) ausgehen, für die sich auf der Gegenseite Männer wie Molanus und Leibniz erwärmten; führt doch auch am Ende des Jhs. der internationale und interkonfessionelle Zug nach Verinnerlichung der Religion die strengprotestantische K a t h . Reg. von Greiffenberg ganz in die Nähe des katholischen Eiferers Angelus Silesius. Der Solothurner Mönch Georg König verwundert sich nicht wenig 1715, „wieviel tausend Unkatholische in Wien wären, weilen man hier alles passieren lasse". Auswanderung, Kriegsnot, Verarmung, Elementarereignisse, Mißjahre, Seuchen trafen wohl schwer die Masse der Bevölkerung, also Bürger und Bauern, die daher auch als Kulturträger für längere Zeit ausscheiden, sie vermochten aber nicht die Lebenskraft des Staates zu erschüttern, der sich im Kampf gegen Franzosen und Türken zu ungeahnten Leistungen und Erfolgen aufschwang, so daß der erste Statistiker Österreichs Hörnigk damals das später oft zitierte Wort prägte: „Österreich über alles, wenn es nur w i l l l " (1684). Als Sieger aus dem Kampf mit den Ständen waren Hof und Kirche hervorgegangen, die jetzt die Kunst der Repräsentation und Inszenierung übten, mit dem steten Hinweis nach oben, von wo allein Gnade und Rettung kommen kann. Sitz des Hofes und damit Zentrum des Staates und der Gesellschaft in allen verschiedenen Auswirkungen ist seit Ferdinand II. wieder Wien. Der Staat ist nicht nur gemäß dem Geist der Zeit, sondern entsprechend seiner tatsächlichen Zusammensetzung übernational, die führende Gesellschaft aber durchaus international, indem der Hof — selbst halb span. oder halb ital. — aus seinen weitverstreuten vielsprachigen Gebieten Adlige, Offiziere, Beamte, Geistliche anzieht, Gesandte aus aller Herren Ländern mit ihrem zahlreichen Anhang ständig bei sich sieht. Dadurch, daß er mit einer gewissen Bereitwilligkeit des Lebenlassens allen Lebensmöglichkeit und Lebensfreiheit in einer höheren Kulturform gibt, assimiliert er sie. Kirche, Heer und Staatsdienst öffnen auch dem Niedriggeborenen

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Aufstiegsmöglichkeiten in die führende Gesellschaftsschicht: dem Geburtsadel tritt ein Militär- und Beamtenadel zur Seite. Zwischen dem Adel und dem Bürgertum stehen also vermittelnd der Offizier, der Beamte, der Geistliche, der Gelehrte. Diese Stände sind von da an durch zwei Jhh. die Träger der Kultur. Die Sprachen, die die Kaiser verstehen, sind außer dem Deutschen das Lateinische, Italienische und Spanische (nicht aber das Französische I). Die Vorstellung, daß Österreich durch die Gegenreformation den Zusammenhang mit der dt. Literatur verloren hätte, ist durchaus irrig; es nimmt vielmehr an allen Richtungen der Barockpoesie teil. Wie sich die Namen zahlreicher österr. und böhm. Adliger, ja sogar einiger ungar.-siebenbürg. Protestanten unter den Mitgliedern der Sprachgesellschaften finden, so suchten nicht nur die Schlesier, Untertanen des Kaisers, von Opitz, Czepko, Scheffler, Knorr von Rosenroth, Hofmannswaldau, Lohenstein, Hallmann bis Günther, der Egerer Siegmund von Birken, sondern auch Zesen, Rist, Kongehl, Pietsch Verbindung mit dem Hof und dessen Gunst. Durch die vorderösterr. Lande war dauernd der Zusammenhang mit Schwaben und dem Elsaß hergestellt (Jesaias Rompier stammte aus Österreich I). Nürnberg, seit alters in Beziehungen zu Böhmen und auch zur tschech. Literatur (vgl. F. S p i n a Präger deutsche Studien 9. 1908), war einer der Sammelplätze der protestantischen Exulanten, die hier den Bestrebungen des Pegnesischen Blumenordens nahe traten. Wie rasch und wie weit sich dt. Unterhaltungsliteratur nach dem Osten verbreitete, dafür liefert der in Leutschau gedruckte 'Ungarische oder Dacianische Simplicissimus' (mit der Fortsetzung 'Türckischer Vagant') 1683 — also vierzehn Jahre nach dem Urbild — ungefähr einen Maßstab. Der österr. Adel stellt nach einer Unterbrechung von fast 200 Jahren wieder eine ganze Reihe von Schriftstellern. Als fleißige Übersetzer der Modeliteratur betätigen sich Hans Ludwig Graf von Kufstein, Rüdiger Günther Graf von Stahrenberg und Johann Wilhelm Graf von Stubenberg; die Freiherren Franz und Johann Baptist von Wützenstein ahmen den galan-

ten Roman nach; Freiherr von Hohberg, „der österr. Orpheus und Homer", wagt in seinem 'Habsburgischen Ottobert' 1664 sogar den Wettbewerb mit Ariost. Hohberg ist ein ebenso glaubenstreuer Protestant und begeisterter dt. Patriot wie die fromme Dichterin der „Geistlichen Sonnette" Katharina Regina von Greiffenberg, Freiherrin von Seyßenegg, die „Clio des Isterstrandes", das Oberhaupt der „ N y m fen-Gesellschaft an der Donau", die ihre 'Sieges-Seule der Buße und Glaubens' 1672 dem „werthen Teutschen Vaterland" widmet. Aber nicht bloß die Freude an der „nunmehr in unserer Teutschen Mutterspräche hochgestiegenen edlen Dichtkunst" drückt dem alpenländ. Adel die Feder in die Hand, er nimmt nun seinerseits (wie in der verflossenen Epoche der böhm. Adel) die humanistischen Bestrebungen auf, jetzt im Dienste der höfischen oder ständischen Repräsentation: auf Opitz' 'Sarmatische Altertümer' (1636) und die geplante 'Dada antiqua', Birkens 'Ostländischen Lorbeerhäyn' 1657 und 'Spiegel der Ehren des Erzhauses Österreich' (auf Grund der Urschrift des Johann Jakob Fugger von 1555) 1668 folgt des Grafen Brandis 'Des Tirolischen Adlers immergrünendes EhrenKräntzel' 1678, des Freiherrn von Valvasor 'Ehre des Herzogtums Krain' 1689, der Grafen Wildenstein und Gaisrugg und des Freiherrn von Schneeweis 'Vollkommenheiten Steiermarks' 1729. — In der Anwartschaft auf ein Ehrengeschenk verfassen auch Studenten dergleichen Repräsentationsdichtungen (Jakob Sturm 'Unverwelklicher österreichischer Ehrenkranz' 1659, Johann Konstantin Feigius 'Adlerskraft oder Europäischer Heldenkern' 1685 in Alexandrinern, 'Wunderbahrer Adlers-Schwung' 1694 in Prosa mit dem ältesten Zeugnis überden„liebenAugustin"). J. S c h w e r d f e g e r VUnna Gloriosa 1923 mit Aufsätzen Ober Valvasor, die Augustin-Legende und Feigius.

Adlige und Beamte sprechen gern von ihren praktischen Erfahrungen. In Schwankbüchern volkstümlichen Stiles geben Angelesenes und Erlebtes zum besten der Steyrer Abele ('Seltsame Gerichtshändel' 1651/4; 'Vivat Unordnung' 1669/75; 'Tu

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR es deus' 1670/71), der Oberösterreicher Huber [ ? ] {'Der simplicianische Weltkukker, sive abentheuerlicher Jean Rebhu' 1678; 'Artlicher Pokazi* 1679/80), Wolfgang von Willenhag (ab 1682). Der Krainer Sietzenheimb poliert einen 'Neubeglänzten Zuchtspiegel der adelichen Jugend' 1659; Hohberg schildert 'Adeliges Land- und Feldleben' 1682; J. J. Wagner von Wagenfels entwirft in dem 'Ehrenruf Teutschlands, der Teutschen und ihres Reiches' 1692, in dem auch das Nibelungenlied wieder erwähnt wird, ein Lehrbuch der Politik für Joseph I. (auf 642 Folioseiten angeblich kein Fremdwort I); Freiherr von Pelzhoffer enthüllt die 'Neuentdeckte Staatsklugheit in hundert politischen Reden' 1710. In Ungarn halten Predigerfamilien den Zusammenhang mit dem dt. Protestantismus aufrecht, so die Klesch, Serpilius und Pilarik; Siebenbürger Sachsen nehmen den Ton der galanten Dichter an (Johann Gorgias, Valentin Frank von Frankenstein und Johann Zabanius im 'Roselum Franktanum' 1692). In den Klöstern erlebt die neulat. Humanistenpoesie eine schöne Nachblüte: der Elsässer Jakob Balde (1628—1629 in Innsbruck), die Salzburger Simon Rettenbacher und Virgil Gleißenberger, der Grazer Christian Rosacinus und viele andere kleiden ihre gut kaiserliche und dt. Gesinnung in die Metren des Horaz oder schreiben christliche Epen nach dem Muster des Vergil. Im Volk verbreiten katholische Gesinnungen: Gesangbücher (Corner 1625 und 1631, 'Geistliche Nachtigall' 1649, Valentin Schindel 1631 u.a.), geistliche Lyriker und Didaktiker (Procopius von Templin, Laurentius von Schnifis, Matthias Schuffenhauer, Bartholomäus Christelius), Prediger (Florentinus Schilling, Procopius von Templin, Heribert von Salum, Johann Ludwig Schönleben), vor allem als größter Volksschriftsteller des katholischen Südens der unvergleichlich fruchtbare, sprachgewaltige und gesinnungstüchtige Abraham a Sancta Clara (Ulrich Megerle, Schwabe aus der Grafschaft Mößkirch inmitten der österreichischen Vorlande, 1644—1709, seit 1677 Hofprediger in Wien).

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A m eindrucksvollsten arbeiten die Orden mit theatralischen Aufführungen, Jesuiten, Benediktiner, Piaristen, Franziskaner, alle miteinander um die Wette, doch untereinander nach Regel, Ziel und Publikum differenziert. Durchaus den Charakter eines Hoftheaters hatte die Wiener Jesuitenkomödie, seit 1630 mit 5 bis 6 Prunkaufführungen im Jahr, im Hof des Kollegiums oder auf dem großen Platz davor und im Universitätstheater (das mit einer kleinen Übungsbühne verbunden war); eines der Glanzstücke war die 'Pietas vicirix' des Avancinus von 1659; die Texte lieferten der aus dem Nonsberg stammende Avancinus (gest. 1686), der Schlesier Johann Adolf (gest. 1708), der Kärntner Joseph Pogatschnigg (gest. 1711) und viele andere. In Salzburg, am Sitz der Alma Benedictina (seit 1623), entwickelte sich seit den Zeiten des Erzbischofs Marx Sittich das vom Jesuitendrama und der ital. Oper beeinflußte Benediktinerdrama, als dessen Hauptvertreter Andreas Vogt, Placidus Rauber, Otto Aicher und Simon Rettenbacher (gest. 1706) anzusehen sind, örtliche und persönliche Beziehungen modifizieren das Drama der einzelnen Benediktinerklöster, das ebensowenig erschöpfend untersucht ist wie das der anderen Orden. (Vgl. A. K u t s c h e r Das Salzburger Barocktheater 1924.) Die Verbindung mit Italien führt zur Aufnahme der Oper (1617 am Hof des Marx Sittich, 1631 in Wien) und in der opernlosen Fastenzeit zur Aufnahme des Oratoriums {'sepolcro', seit 1649 ' n Wien, 1660 des Kaisers 'Sacrificio d'Abramo'). 1652, 1667, 1697 werden in Wien Opernhäuser erbaut; Ludwig Octavius Burnacini zeigt sich als Baumeister, Dekorationsmaler und Theatermeister auf der Höhe des Könnens. Italienische Hofpoeten (Amalteo, Draghi, Sbarra, Minato, Cupeda, Bernardoni, Stampiglia, Apostolo Zeno) liefern die Texte, jährlich sechs Opern, einige Operetten und Fastenoratorien, dt. Hofpoeten (darunter Christoph Adam Negelein-Celadon) haben sie zu verdeutschen. Kaiser Leopold I. komponiert selbst (auch drei dt. Singspiele 1680—1685, dt. Arien u . a . ; vgl. Musikal. Werke der Kaiser Ferdinand III., Leopold I. und Joseph I., hg. v. G. A d l e r , 2 Bde., 1892—93), er und jüngere Mit-

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ÖSTERREICHISCHE

glieder des Hauses spielen als Tänzer gelegentlich mit (vgl. Moser I I / i 2 98ff.). Das Glanzstück 'II pomo d'oro\ T e x t von Sbarra, Musik von Cesti (Denkmäler der Tonkunst in Österr. V I — IX), aus Anlaß der Vermählung Leopolds I. mit Margareta von Spanien 1666, wird ein ganzes Jahr hindurch, die Woche dreimal, „mit Zulassung aller Leute präsentiert" (vgl. Moser I I / i 2 i64ff.). Dann gibt es dt. Komödien für die Hofdamen, dt. Pagenkomödien, Ballette (Sbarra verfaßt die Beschreibung des Roßballetts von 1666 in ital. und dt. Sprache!), Wirtschaften, Serenaden usw., und diese Feste spielen sich nicht etwa bloß in der Kammer im engsten Zirkel ab, sondern sind vielfach wahre Feste des Volkes, wie die Serenade auf dem Burgplatz am 28. Februar 1699 bei der Vermählungsfeier Josephs I. mit Amalia Wilhelmina: „Der gantze Hof, die Cardinäle, die Bottschaffter, die Ministri, die Herren und Damen hatten die Fenster eingenommen, und das Volck in ungläubiger Menge sich dabey eingefunden." E. Welle sz Die Opern und Oratorien in Wien 1 6 6 0 — I J 0 8 , StzMusikw. VI (1919) S. 5—138. H e r t h a V o g l Zur Geschichte des Oratoriums 1 7 2 5 / 4 0 , ebd. XIV (1927) S. 241—264.

Gelegentlich werden bei Hof span. Dramen aufgeführt (Calderon 1668, Moreto 1673). Nach dem Westfälischen Frieden tauchen die Engl. Komödianten in ihren letzten Ausläufern wieder auf: Robert Reinolds „Compagnie kurfürstlich sächs. engl. Komödianten" unter der Führung von Roe, Weyde und Gellius (1649 in Prag und Wien, 1650 in Wien, 1651 in Prag, 1653 in Innsbruck), die Truppe des Joris Jolliphus, bei der „auch rechte Weibsbilder" mitwirken (1653 in Wien, vereinigt mit den dt. Komödianten unter Peter Schwartz und Ernst Hoffmann 1656 in Innsbruck, 1659 in Wien, wo er „skandalöse Zoten" aufführt). Die kursächs. Komödiantentruppe des Hans Schilling erhält zwischen 1651 und 1657 das erste kaiserliche Privileg an eine dt. Schauspielergesellschaft. Christoph Blümel, Peter Schwartz und Ernst Hoffmann stehen an der Spitze der „Innspruggerischen oder Tyrolerischen Komödianten" (ungefähr seit 1654) im Dienst des Erzherzogs Ferdinand

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Karl und sind nach dessen Tod 1662—1668 in Wien tätig, mit zwei Komödiantinnen Ursula Hofmann und Rebecca Schwartz. 1658 und 1659 spielt in Wien der Dresdener Hans Georg Emkher, seit 1669 bis in die neunziger Jahre der Bautzener J a k o b Kuhlmann (der sich seit 1695 kaiserlich privilegierter Direktor der hochdt. Compagnie nennt); als „Komödiant von W i e n " bezeichnet sich Andreas Elenson (1671 — 1706 zu verfolgen). 1671 wird dem Reichshofratskanzlisten Peter Hüttler die Errichtung eines ständigen Theaters in Wien bewilligt, doch wissen wir nicht, ob es tatsächlich zustande gekommen ist. Wiederholt spielen die Fürstlich Eggenbergischen Komödianten unter dem Prinzipal Johann Karl Sommerhammer in Wien (zwischen 1675 und 1700), bei denen Johann Valentin Petzold als „Kilian Brustfleck" auftritt. Neben diesen deutschen Schauspielertruppen gibt es ital. und dt. Policinellspieler in Buden auf der Freyung, auf dem Mehlmarkt (Neuen Markt), auf dem Judenplatz und auf dem Hohen Markt. Seit 1692 erfreuen sich welsche Komödianten, die Komödien und Opern aufführen, großen Beifalls (Johann Thomas Danese, Giovanni Nanini, Francesco Calderoni, Sebastiano Scio). Im September 1705 kommt Joseph Anton Stranitzky (geb. etwa 1676 in Prag?) mit seiner Frau Monica nach Wien und verbindet sich 1706 mit den Puppenspielern Johann Bapt. Hilverding und Heinrich Naffzer; sie erhalten das Privileg, als „Hochdeutsche Komödianten" dt. Komödien zu halten, spielen zuerst in der Hütte auf dem Mehlmarkt, 1706 im Ballhaus in der Teinfaltstraße, schon vor 1712 in dem vom Magistrat erbauten, aber zunächst den ital. Komödianten eingeräumten Kärntnertortheater, in dem seit September 1718 die dt. mit den welschen Komödianten (1720 unter Ferdinand Danese) alternieren. Nach Stranitzkys Tod (19. Mai 1726) erhalten Francesco Borosini und Joseph Selliers das Privileg auf 20 Jahre. Wien ist die erste dt. Stadt mit einem festen Theatergebäude, einer das ganze Jahr hindurch (42 Wochen) ständig spielenden Truppe, einem Publikum aus allen Ständen, hier zuerst in Deutschland kommt eine nicht mehr abreißende Überlieferung, ein sich organisch weiter-

ÖSTERREICHISCHE entwickelnder Stil des Theaterspiels auf. In Stranitzkys Repertoire stehen Stücke aus dem Spielplan der Jesuiten, der kaiserlichen Oper, der Hamburgei und Leipziger Oper, aber auch 'Doktor Faust', 'Don Juan', 'Amphitryo', alle mit der von Stranitzky geschaffenen Charaktermaske des HansWurst im Kostüm eines Salzburger Sauschneiders. Er ist jedoch wahrscheinlich ebensowenig der Verfasser der von ihm hg. Neujahrsglückwünsche (vgl. R. M. W e r n e r Wiener Neudrucke 6. 1883) wie der unter seinem Namen laufenden Hauptund Staatsaktionen (hg. v. R. P a y e r v . T h u m Sehr, des Lit. Vereins in Wien X . 1908, X I I I . 1910 und F. H o m e y e r Pal. L X I I ) . Die ihm gleichfalls zugeschriebene 'Ollapatrida Des Durchgetriebenen Fuchsmundi . . . An das Licht gegeben vom Schalck Terrae)' 1711 (hg. v. R. M . W e r n e r Wiener Neudrucke 10. 1886) setzt einen behäbigeren älteren Komiker voraus, den vielleicht der flinkere Hans Wurst abgelöst hat. H. T r u 1 1 e r Euph. X I X (1912) S. 723—726, X X I (1914) S. 8 3 0 - 8 3 5 , X X I V ( i 9 2 2 ) S. 28—60. — 'Fuchsmundi' und 'Schalck Terrae erklären sich aus P . A b r a h a m a S a n c t a C l a r a , 'Judas der Ertz-Schelm' III, S. 2 7 5 ! . : „ W a s Christus der H E R R einst denen Aposteln gesagt hat, vos estis lux mundi, et sal terrae (Matth. 5,13 f.), kan man anjetzo den mehristen Leuthen, absonderlich zu Hof, sagen, vos estis Fux mundi, ei Schalck terrae." V g l . K . B e r t s c h e Monatsbl. des Ver. f. Landeskunde von N . ö . I I (1927) S. 86 ff.

A u c h die Anfänge des Zeitungswesens fallen in das 17. Jh.: seit 1615 werden die „eingelangten wöchentlichen ordinari undextraordinari Zeitungen" in Wien gedruckt, die Landeshauptstädte folgen alsbald nach. 1671 gibt es neben dem 'Wiener Blättl' einen 'Corriere ordinario' mit Nachrichten aus Madrid, Paris, London, dem Haag, Venedig und R o m . Zu Anfang des 18. Jhs. erscheinen ein 'Reichsblättl', die 'MercurijZeitung' (seit 1703 'Posttäglicher Mercurius'), seit 8. August 1703 das 'Wiennerische Diarium' (fortlebend in der amtlichen 'Wiener Zeitung'). E . V . Z e n k e r Gesch. der Wiener Journalistik 1892. D e r s . Gesch. der Journalistik in Österreich 1900.

§22. A u f k l ä r u n g . Während das Bündnis Habsburgs mit den Seemächten das

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politisch-militärische Übergewicht Frankreichs mit Erfolg einschränkt, erlangt dieses die kulturelle Führung, namentlich in Philosophie, Literatur, Lebensstil. Jean-Baptiste Rousseau, 1715 als kaiserlicher Historiograph angestellt, befindet sich schon nach zwölf Tagen am Wiener Hof wie in Frankreich, da „alle Herren des Hofes die frz. Sprache sprechen und die Mehrzahl von ihnen ihre Vorzüge besser kennt als die Franzosen selbst". Jedoch erhält der politische Zusammenhang ital. Territorien mit der Hausmacht sowie die Musikpflege, besonders die Opernliebhaberei Karls V I . (vgl. Moser I I / l 2 275ff.; Denkmäler der Tonkunst in Österr. X X X I V . X X X V ) , auch den Italienern immer noch ihren Anteil an der poetischen und theatralischen Kultur Österreichs, nur daß die ital. Hofdichter (1718 bis 1731 Apostolo Zeno, 1713—1733 Pariati, 1726—1740 Pasquini, 1730—1782 Metastasio) selbst mehr und mehr sich dem frz. Geschmack anpassen. Indes die Welschen in der Musik, Baukunst und in den bildenden Künsten schrittweise die Herrschaft an einheimische Talente verlieren, steht man in der Dichtkunst noch längere Zeit hinter ihnen zurück. Die eheliche Verbindung Josephs I. und Karls V I . mit weifischen Prinzessinnen schafft Leibniz, dessen 'Monadologie' mit dem Namen des Prinzen Eugen verknüpft ist, den Rückhalt für die von ihm geplante Reichsakademie, deren Stiftung nur durch den Tod des großen Philosophen 1716 vereitelt wird. Der Gedanke bleibt jedoch lebendig, taucht im Laufe des Jhs. wiederholt (1749, 1750, 1768, 1774) auf, wenn auch die Ausführung jedesmal auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt. Der Wirkungsbereich der Laibacher Acadetnia Operosorum 1701 geht über die Landschaft nicht hinaus. Das Bedürfnis der Kanzlei führt zu einer amtlichen Regelung der dt. Rechtschreibung ('Lehr-Büchel von der Rechtschreibung'). Gegenüber der einseitigen Pflege des Französischen bei der vornehmen, des Lateinischen bei der gelehrten Welt schärft man von Amts wegen immer von neuem die „Reinigkeit im Deutschen" ein: der dt. Hofdichter Heräus empfiehlt zu diesem Behufe die Einrichtung einer Teutschen

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Sprachgesellschaft 1721 nach dem Muster der Académie française; der in Wien und Liegnitz als Sprachlehrer tätige Walliser Johann Max bemüht sich, die dt. Sprachlehre dem Studium fremder Sprachen nutzbar zu machen ('Teutscher Schlüssel zu allen Sprachen' 1728); Johann Balthasar von Antesperg sendet seine ' Sprachtabellen" Gottsched zur Korrektur ein und liefert danach 1747 die 'Kayserliche Deutsche Grammatik' und das 'Kayserliche Deutsche Wörterbuch' mit steter Rücksicht auf die Abweichungen des österr. Sprach- und Schreibgebrauches von der obersächs. Schriftsprache. Neben dem gelehrten Münzkenner Karl Gustav Heräus (1671 —1730), dessen 'neue dt. Reimart' (gekreuzt gereimte Disticha) keine Nachahmung fand, ist als dt. Hofpoet der Kölner Johann Karl Newen (seit 1733 von Newenstein), seinem Beruf nach Sortimenter und Verleger, erwähnenswert. Allerdings, sein Versuch, das Publikum für eine illustrierte Monatsschrift im Dialogstil ('Das Merckwürdige Wienn' 1727) zu interessieren, scheiterte; sein zweibändiger Lagerkatalog (1760—1763) legt Zeugnis ab für die geistige Regsamkeit der Wiener, die auch „Span., Engelländ. und Holland. Bücher" bei ihm kaufen konnten. Allenthalben wird Theater gespielt, werden Theatergebäude errichtet. Da die Stadt Wien für das Kärntnertortheater am 25. April 1720 ein Privilegium privaitvum erlangte, war Stranitzky vor der Konkurrenz fremder Banden ziemlich gesichert. Er vergrößerte 1714 seine Gesellschaft durch neue Schauspieler, „waruon die mehristen sich vorhin in Wolffenbittl befunden". Dem Namen nach sind uns bekannt: der auch literarisch tätige Christian Gründler (gest.1724), Paul Tilly (gest. 1729), Heinrich Rademin (gest. 1731), Johann Ernst Leinhaas (Pantalon, seit 1716, bzw. 1744, seit Oktober 1765 pensioniert, gest. 1768), Andreas Schröter (Tyrannenagent, Bramarbas, seit 1726, gest. 1761), Joseph Felix von Kurz d. A. (gest. nach 1760). Dieser sowie Heinrich Wilhelm Benecke ^nachweisbar zwischen 1707 und 1719), Johann Heinrich Brunius (gest. 1729), Karl Joseph Nachtigal (gest. 1762) stellen sich als Prinzipale an die Spitze eigener Trup-

pen. Beneckes Witwe vereinigt ihre Gesellschaft mit der des „starken Mannes" Johann Karl von Eckenberg (zwischen 1717 und 1736 mehrmals auch in Wien). Mit Eckenberg stehen wieder in Zusammenhang Heinrich Rademin und dessen Sohn Karl, der Gesellschafter von Karl Friedrich Reibehand: alle diese Truppen verbreiten den Wiener Geschmack in die österr. Provinzen und nach Deutschland. „Direktoren des von kais. Majestät priv. Komödienhauses" werden 1728 auf 20Jahre der ital. Tenorist Franz Borosini und der Hoftänzer Joseph Karl Selliers, denen es jedoch nur gestattet ist, dt. und welsche Komödien mit einigen untermischten gesungenen Intermedien aufzuführen. Die verbotenen ital. Opern erscheinen in Form von Intermezzi musicali auf dem Spielplan. Schrittweise, wie die heroische Oper gemäß dem frz. Geschmack die komischen Bestandteile an den Aktschlüssen und im Gang der Handlung abstieß, verselbständigten sich diese und wurden ebenfalls Intermezzi genannt: ursprünglich komische Duoszenen, gelegentlich mit einer dritten stummen Person, in drei Handlungen (seit 1706 in Venedig, seit 1709 in Neapel, seit 1713 in Wien nachweisbar), um die Mitte des Jhs. bereits mit drei und vier Stimmen in zwei Handlungen. Seit 1731 gibt es ein zweites Theater bei den Franziskanern für die welschen Komödien und die música Bernesca {opera buffa, Musikkomödie, in Neapel bis 1709 zurückzuverfolgen), deren Libretti, meist ital. und dt. (vielfach in Übersetzungen von Heinrich Rademin), z. T. im Druck vorliegen. R. H a a s Die Musik in der Wiener dt. Siegreifkomödie, StzMusikw. X I I (1925) S. 3—64 mit weiteren Literaturangaben.

Schon zum ältesten Bestand gehören Parodien ital. und dt. Opern und parodistische Opern, z. B. Rademins 'Römische Lucretia' 1731 nach B. Feind, 'Runtzvanscad, König deren Menschenfressern' 1732 nach Valaresso. Anfänglich bestand keine Gemeinschaft zwischen den welschen und den dt. Komödianten, bis der Truffaldino der ital. Truppe, Canzacchi, zur dt. Gesellschaft übertrat. Hans Wursts Erbe hatte schon 1725 Gottfried Prehauser (1699—1769) übernommen. Zusammen mit

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR ihm wirkten Franz Anton Nuth (Harlekin, seit 1725, lebt noch 1784), Maria Anna Nuth (Colombine, seit 1725, gest. 1752), Friedrich Wilhelm Weiskern (2. Liebhaber, später polternder Vater „Odoardo", Regisseur, seit 1734, gest. 1768), Johann Joseph Felix von Kurz d. J . (1717—1784, Scapin, seit 1738 „Bernardon", vermutlich eine Nebenform des Scaramuzz, 1737—1740, 1744 bis 1753» 1754—1760,1769—1770), dessen Gattin erster Ehe Franziska Toscani (gest. 1755), dessen Gattin zweiter" Ehe (seit 1758) die Italienerin Teresina Morelli (Tänzerin, Sängerin, Colombine, die „wankelmütige Fiametta" und „Rosalba") und seine drei ältesten Kinder, feiner Johann Wilhelm Mayberg (zweite Partien, seit 1743, gest. 1761), Joseph Kart Huber (Leander, 1753/4 „Leopoldel", seit 1745, gest. 1760). Nach Karls VI. Tod (20. Oktober 1740) unter Maria Theresia ändert sich der Zuschnitt der ganzen Hofhaltung: die großartige span. Etikette wird preisgegeben, l'esprit de petitesse zieht ein. Aus Ersparungsrücksichten läßt man die Oper auf, und Seiliers wird zum Entrepreneur aller Hoffeste ernannt, mit einem Vertrag auf zwölf Jahre. Außerdem erhält er die Erlaubnis, das Ballhaus nächst der Burg in ein Theater umzuwandeln, auf dem täglich eine Oper oder eine Komödie (eine dt. oder welsche) gegen Eintrittsgeld, also auf Kosten des Publikums, aufgeführt werden soll; es wird 1742 eröffnet. Noch immer laufen nebeneinander Darbietungen von Berufsschauspielern (dt. Komödie, ital. Oper) und Aufführungen von Dilettanten (frz. Komödien der Zöglinge des Theresianums, lat. Schauspiele der Jesuitenschüler, Kavalierskomödien usw.). Die Regentin, kirchentreu, verfolgt zwar die in den vierziger Jahren in Österreich sich konstituierende Freimaurerei, die sich hinwieder des Schutzes ihres Gatten Franz Stephan erfreut, gibt jedoch, von Freimaurern wie Gerhard van Swieten beraten, freimaurerisch-aufklärerischen Bestrebungen allseits Raum. Von daher drohen der altösterr. Kultur infolge gänzlichen Unverständnisses die schwersten Gefahren. Schon arbeiten die „Missionare der Gottschedischen Sekte", vielfach eingewanderte Ostmitteldeutsche, für das reine Hoch-

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deutsch und das regelmäßige Theater, wie es ihr Meister auffaßt. Franz Christoph Scheyb, ein Oberschwabe, unterwirft seine 'Theresiade' 1746, ein höfisches Ehrengedicht mit barocker allegorischer Einkleidung, unbedingt dem Urteil des Leipziger Geschmacksdiktators. Joseph Freiherr von Petrasch, ein Militärkind aus Slawonien, der Stifter der Olmützer Societas Incognitorum 1746, nach ital. Muster, veröffentlicht in den Olmützer 'Monatlichen Auszügen alter und neuer gelehrter Sachen* 1748 Gottscheds Aufsatz 'Kurzes Verzeichnis einiger österr. Dichter, die in dt. Sprache geschrieben haben'. Es soll Gottsched den Weg an eine in Wien zu gründende Akademie bereiten. Gottsched und seine Gattin finden auch 1749 in Wien ehrenvolle Aufnahme, aber aus der Akademie wird nichts. Dagegen stiften nach Petraschs Muster gelehrte Benediktiner in Salzburg die Societas Iliteraria GermanoBenedictina 1752, und der Melker Pater Placidus Amon überläßt die Früchte seiner fünfzehnjährigen mühseligen Sammelarbeit mhd. Texte Gottsched für dessen geplante 'Geschichte der dt. Sprache und Literatur'. Ende 1747 ging die Entreprise der kaiserlichen Hofoper (zu der das Theater nächst der Burg gehörte) auf eine nach Turiner Muster gegründete Kavaliersgesellschaft unter der Führung des Obersten Rocco Baron de lo Presti über, der 1751, nach Ablauf von Selliers' Vertrag, auch die Pacht des Kärntnertortheaters übernehmen sollte. Wahrscheinlich sind die Versuche mit dem regelmäßigen Schauspiel auf die neue Leitung zurückzuführen. Schon 1747 soll als erstes regelmäßiges Trauerspiel 'Vitichab und Dankwart, die Allemannischen Brüder' von dem Gottschedianer Benjamin Ephraim Krüger zur Aufführung gelangt sein. 1748 stößt ein Teil der Neuberschen Gesellschaft (das Ehepaar Koch, Karl Gottlob Heydrich, die von dem jungen Lessing angeschwärmte Lorenzin) zu den Wiener Komödianten, vermutlich, um dem Ensemble Kräfte zuzuführen, die im Leipziger Geschmack ausgebildet sind. Die Wiener finden aber kein übermäßig große3 Gefallen an den regelmäßigen Theaterstücken, das Ehepaar Koch kehrt nach Deutschland zurück, Heydrich und die

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Lorenzin (seit 1757 Gattin des „Leopoldel" Huber, nach ihrem zweiten Ehemann später Weidnerin genannt) bleiben in Wien und lassen sich auch in der Burleske verwenden. Das jetzt erst zu einem richtigen Theater umgebaute Ballhaus nächst der Burg wird am 14. Mai 1748 mit der Oper 'Semiramide riconnoscitäa' von Gluck eröffnet und dient in den folgenden Jahren der ital. Oper. Daß daneben das Ordensdrama auch noch immer lebensfähig ist, beweist die Umgestaltung des Oberammergauer Passionspiels 1750 durch den aus Wien stammenden Benediktiner P. Ferdinand Rosner. 1751 übernimmt Lopresti auch die Leitung des Kärntnertortheaters, in dem nach wie vor die Bernardoniade herrscht (in diesem Jahr liefert Joseph Haydn die gegenwärtig verschollene Musik zu Kurz' 'Krummem Teufel'); ihr Personal wird sogar durch einige neue Engagements verstärkt, doch werden zwei Tage der Woche dem regelmäßigen Drama eingeräumt und die Schauspieler der Burleske einer strengen Zensur unterworfen. Als Hauptförderer des frz. Geschmacks tritt der spätere Staatskanzler Kaunitz hervor, der während eines Wiener Aufenthalts zwischen seiner Gesandtschaftstätigkeit zu London und Paris am I. März 175° der Kaiserin auf ihren Befehl eine Denkschrift über die Wiener Schauspielunternehmung vorlegt, in der er neben der ital. Oper die Errichtung eines frz. Theaters vorschlägt. Gewiß war es auch in seinem Sinn, daß die Regierung 1751 neben anderen alten Volksgebräuchen die volkstümlichen Spiele (Sommer- und Winterspiel, Adam- und Evaspiel, Geburt Christispiel, Heilige drei Königspiel, Steffi Neuhausenspiel, Johann der Täuferspiel, Pfingstkönigsrittspiel, Neujahrsingen und -geigen) verbot. Als Ende 1751 Lopresti seinen finanziellen Zusammenbruch eingestehn mußte, wurde die Vereinigung des Stadttheaters mit dem Hoftheater unter der Oberdirektion und Aufsicht des Grafen Franz Esterhdzy verfügt (11. Februar 1752), dem der Genuese Jakob Graf Durazzo, Kaunitz' Vertrauensmann, 1753 als Direktor und der Stadtrichter als städtischer Kommissarius beigesellt wurden. Nach Esterhdzys Rücktritt (Juni 1754)

führte Durazzo bis April 1764 die Direktion selbständig. Vom 14. Mai 1752—1765 gab es ein Théâtre jrançois in Wien, das das gesprochene Drama, die komische Oper und das Ballett pflegte. Die Wiener hatten also gleich dem jungen Goethe Gelegenheit, das frz. Theater nicht bloß in einem schwachen dt. Abklatsch, sondern in originalen Vorführungen zu sehen. Die gezierte Spielweise der Schauspieler war ihnen aber „unerträglich", und so blieb die frz. Komödie, das Schoßkind des Hofes und Adels, eine Passivpost, während das dt. Theater vorzüglich ging. Die Pariser Neuigkeiten vermittelte der österr. Botschafter Graf Georg Adam von Starhemberg und seit 1760 Favart. Die musikalische Einrichtung besorgte der von Durazzo bestens geförderte und gegen die Eifersucht des Hofkapellmeisters Joh. Georg Reuttcr gehaltene Gluck. In gemeinsamer Kunstarbeit mit dem Ballettmeister Angiolini, dem Textdichter Calzabigi und dem Theateringenieur Quaglio finden wir Gluck das erstemal bei dem Ballett 'Le festin de pierre' ('Don Juan', Burgtheater 17. Oktober 1761, bei der Wiederholung am 3. November im Kärntnertortheater brannte dieses nieder), das zweitemal bei der Oper 'Orfeo ei Euridice' (Burgtheater 5. Oktober 1762), gerade um die Zeit, da der Wunderknabe Mozart in Wien aufgetaucht war. Denkmäler der Tonkunst in österr. X L l V a {Orfeo), L X (Don Juan), dazu E. K u r t h Die Jugendopern Glucks, StzMusikw. I (1913) S. 193 bis 277. R. Haas Die Wiener Ballelt-Pantomime im 18. Jh. und Glucks 'Don Juan', ebd. X (1923) S. 6—36. Ders. Gluck und Durazzo 1925. Ludmilla Holzer Die komischen Opern Glucks, StzMusikw. X I I I (1926) S. 3—37. L. Stollbrock J. G. Reutter, VjsfMusikw. VIII (1892) S. 161—203, 289—306.

Obwohl der dt. Sprache nicht mächtig, suchte Durazzo auch das dt. Theater — allerdings im Sinne der Aufklärer — zu heben, wobei er sich in den späteren Jahren des guten Rates Stephanies d. Ä. bediente. In der Resolution vom 11. Februar 1752 hatte Maria Theresia verfügt: „die [deutsche] comoedie solle keine andere eompositionen spillen als die aus dem frantzösischen oder wälischen oder spanischen theatrisherkomen, alle hiesige eompositionen von bernardon und andern völlig auffzuheben, wen aber einige

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR gutte doch wären Von weiskern, sollen selbe ehender genau durchgelesen werden und keine equivoques noch schmutzige Worte darinen gestattet werden, auch denen comoedianten ohne straff nicht erlaubt sein sich selber [der equivoques] zu gebrauchen". Der Theatersekretär Johann Georg Heubel, die Schauspieler Weiskern, Kurz, Mayberg, Huber u. a. lieferten so viele geschriebene Texte (nach Goldoni so gut wie nach Lessing, nach frz. wie nach engl. Lustspielen und Rührstücken), daß die Burleske ihre volle Lebenskraft behielt. Das gezierte Spiel einer Neuber (5. Mai 1753 bis 15. Februar 1754), Hensel (1763), Mecour vermochte den Wienern nicht zu gefallen. Kurz, der 1753—1754 in Kolin und Prag aufgetreten war, wurde trotz der Abneigung der Kaiserin gegen ihn nach seiner Rückkehr bejubelt, die von seinen Kindern vorgeführten pantomimischen Ballette — Nicolini hatte 1747 mit seiner „compagnia dei piccoli hollandesi" in Prag und Wien gastiert — erregten Entzücken. Die neu engagierten Schauspieler Anton Brenner (zweite Liebhaber, „Burlin", seit 1758), Karl Jaquet (seit 1760, zweite Alte) und seine Gattin Theresia (bürgerliche Mütter), Christian Gottlob Stephanie d. Ä. (seit 1760), Ignaz Preinfalk (Liebhaber, seit 1761), Johann Christoph Gottlieb (seit 1763, niedrig komische Rollen, „Jackerl") und Johann Heinrich Friedrich Müller (seit 1763) zeigten ihre Kunst in der Burleske wie im regelmäßigen Drama. Wieviel das Extemporieren zum „richtigen Gebärdenspiel, zu einem wahren, nicht deklamatorischen, sondern aus der Natur gehobenen Vortrag" beitrug, erkannte Müller, der von Schuch und Schönemann hergekommen war, noch in seinen alten Tagen unumwunden an. Wenn sich Durazzo 1764 bemühte, Goldoni nach Wien zu ziehen, so hätte dieser die Aufgabe gehabt, ein einheimisches Lustspieltalent ersten Ranges zu ersetzen: den frühverstorbenen Philipp Hafner (1735 bis 1764), Sohn eines aus Franken eingewanderten Reichskanzlei-Dieners und einer Wienerin, den Begründer des Wiener Lokalstücks, der es verstand, den Witz der Stegreifkomödie mit den Anforderungen an ein gebildeteres Lustspiel zu verbinden (Ges. Werke hg. v. E. B a u m :

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Sehr, des Literar. Vereins in Wien X I X . X X I , der 3. Bd. ist nicht mehr erschienen). Den besten Einblick in den Spielplan gewähren die 'Teutschen Arien' (s. u.) in Verbindung mit den Wiener Berichten an den Grafen Joh. Adam Questenberg in Jaromieritz (vgl. W. H e l f e r t , Hudebni barok na ceskyck zâmcîch 1916, im Auszug ZfMusikwissenschaft V [1922/23] S. 194 bis 209), dem 'Répertoire des théâtres de la ville de Vienne' (Ostern 1752 bis Ostern 1757), den Tagebüchern des Fürsten Johann Joseph Khevenhüller-Metsch (1752—1759, hg. v . Rudolf Graf Khevenhüller-Metsch und Hans Schiitter 1907 ff.) und dem Journal des Grafen Karl Zinzendorf (1752—1809, für Februar 1761 bis August 1763, Dezember 1763 bis Ende März 1764, Hs. in der Nationalbibliothek). Die (1696) 'Teutschen Arien' (Hss. in Wien und Weimar, 4 Bde., ein 5. Bd. ist vermutlich verloren; der 1. Bd. hg. v. M. P i r k e r 1927) bieten hauptsächlich Strophenlieder, Duette, Terzette aus 261 Stücken, überwiegend Bernardoniaden, die zwischen 1738 und 1757 aufgeführt wurden, und an denen als Verfasser Prehauser, Leinhaas, Kurz, Huber, Heubel, Mayberg u. a. nicht genannte Autoren beteiligt sind. Nur zu den Arien des 4. Bd. aus den Jahren 1752/7, in denen schon das mit Huber gepflegte frz. Vaudeville und Ensemblesätze vorherrschen, haben sich Notenhss. in zwei Sammelbänden der Wiener Nationalbibliothek vorgefunden ('Teutsche Comedie Arien', Hs. 19062 und 19063; Denkmäler der Tonkunst in österr. L X I V ) . Für 13 Komödien des Kurz liegen noch gedruckte Szenarien in einem Sammelband der Wiener Stadtbibliothek (Sign. 22.200 A) vor. Es ergibt sich, daß die deutsche Burleske in Wien keineswegs, wie Ph. S p i t t a VjschrMusikwissenschaft I (1885), S. 113 ff. annahm, bloß das Parodieverfahren in der Art des Sperontes übte — in dessen Geleis sich der Wiener Hausgesang vielfach bewegte, wie Hafners „Scherz und Ernst in Liedern" 1763, 1764 (hg. v. E. K . B l ü m m l 1922) lehrt — , sondern auch mit Originalkompositionen ausgestattet war, die gewiß zum Teil aus der Wiener Volksmusik schöpften. Abgesehen von dem fremden Pfropfreis des regelmäßigen Schauspiels steht das

ÖSTERREICHISCHE W i e n e r T h e a t e r völlig u n a b h ä n g i g v o n dem sächs. T h e a t e r d a ; seine H a u p t b e d e u t u n g liegt darin, d a ß es eine auf der ital. Oper und Operette beruhende dt. komische Oper hervorgebracht hat, n o c h ehe sich die frz. opira bouffon entwickelt h a t t e oder n a c h W i e n gedrungen war, u n d d a ß es Joseph H a y d n wie Gluck wichtige u n d eigenartige Vorbilder f ü r ihre komischen O p e r n bot. A u f d e r Grundlage der Musik v e r b i n d e t sich a u c h die alte Überlieferung des Ordensd r a m a s mit der neuen Wiener K u n s t ü b u n g (P. Marian W i m m e r , P , Florian Reichsiegel, P . Maurus L i n d e m a y r , P . Sebastian Sailer). W a l l e r o t t y (dem sich w ä h r e n d der L a n destrauer 1 7 4 0 — 1 7 4 1 das E h e p a a r N u t h u n d der jüngere K u r z vorübergehend anschlössen), Franz Schuch, J . F . v o n K u r z d. J . , Teresina K u r z sind die vorzüglichsten Prinzipale, die das Wiener Repertoire mit seinen Burlesken, komischen Opern, Zauberopern, Maschinenkomödien, in denen Hanswurst, Bernardon und Leopoldel ihre z. T . recht derben Späße treiben, a u c h in Deutschland spielen, ohne U n t e r l a ß bek ä m p f t v o n den A n h ä n g e r n des „reinen Geschmacks" und des „regelmäßigen Theaters". M i t der U m w a n d l u n g des ständisch gegliederten Feudalstaates in einen zentralistisch verwalteten B e a m t e n s t a a t (seit 1749) und der Neuorientierung der ausw ä r t i g e n Politik (1756) l e n k t Österreich i m m e r mehr in die Geleise des A u f k l ä r u n g s staates ein. Z u n ä c h s t v e r s t ä r k t die Universitätsreform v o n 1752 die Z a h l der A u f klärer. Der z u m Professor der dt. „ W o h l r e d e n h e i t " ernannte kenntnis- u n d ideenreiche Untersteirer J o h a n n S i e g m u n d V a lentin Popowitsch lehnte sich w o h l n a c h seiner Einsicht in d a s W e s e n d e r M u n d a r t gegen die Gottschedische Sprachtyrannei auf, blieb aber ziemlich vereinzelt. U m so eifriger verfochten die kleinen Geister Engelschall, Bob, H e y d e n die Forderungen der Reformfreunde. Diese schlössen sich 1 7 6 0 — 1 7 6 1 im H a u s des Kirchenrechtslehrers P a u l Joseph R i e g g e r zu einer „ D e u t s c h e n Gesellschaft" z u s a m m e n , deren Tendenzen nach „ R e i n i g u n g des Ges c h m a c k s " der Sachse Christian G o t t l o b K l e m m u n d J o h a n n Joseph v o n Herrl in

LITERATUR

Wochenschriften ('Die W e l t ' 1761, ' D e r österreichische P a t r i o t ' 1 7 6 4 — 1 7 6 5 ) v e r traten. V ö l l i g als Wienerischer Lessing gebärdete sich der d e m Nikolsburger G h e t t h o entstammende Joseph v o n Sonnenfels in der Wochenschrift ' D e r M a n n ohne V o r urteil' 1766 u n d in den 'Briefen über die Wienerische S c h a u b ü h n e ' 1767. Durazzos Nachfolger Graf Wenzel S p o r c k (bis 13. A p r i l 1775) k a m nicht dazu, die E n t w i c k l u n g zu beeinflussen. Denn n a c h F r a n z ' I. T o d (18. A u g u s t 1765) wurde d a s „französische S p e k t a k e l " sofort entlassen, das B u r g t h e a t e r blieb vorerst (bis 1 1 . Nov e m b e r 1766) gesperrt und das K ä r n t n e r tortheater wurde v o n Ostern 1766 bis Ostern 1772 a n den Ballettmeister F r a n z Hilverding v o n W e w e n verpachtet, der allerdings schon im Herbst 1766 bei Geldmännern (Häring, Schwarzleutner, K u r länder) Z u f l u c h t nehmen mußte, i m F r ü h ling 1767 seine R e c h t e a n einen Neapolitanischen Glücksritter Giuseppe d ' A f f l i s i o abtrat (von B e g i n n 1768 bis Ostern 1779) und a m 30. Mai 1768 gänzlich v e r a r m t starb. D a alle aufzuführenden S t ü c k e der Bücherzensur vorzulegen waren, n a h m Hilverd i n g als Theatersekretär K l e m m an, der im Verein m i t dem Vorderösterreicher F r a n z Heufeld und dem Hauptmann v . A y r e n h o f f d a s Kärntnertortheater mit regelmäßigen S t ü c k e n versorgte. Eine Reise K l e m m s n a c h Leipzig u m S t ü c k e und Darsteller führte ebensowenig zu einem Ziel wie eine E i n l a d u n g an Lessing. D e r Wiener Spielplan steht damals dem K o c h s in Leipzig doch schon sehr nahe. T r o t z d e m übte der anmaßende und rechthaberische Sonnenfels an seinen früheren Gesinnungsgenossen scharfe K r i t i k . N u n erging es ihm wie einst Gottsched. K l e m m persiflierte ihn in d e m Lustspiel ' D e r auf den P a r n a ß versetzte grüne H u t ' u n d Heufeld in der ' K r i t i k über den Geburtstag' (1767), woraus sich der „ H a n s w u r s t s t r e i t " entspann, dessen Entscheidung d u r c h den T o d Weiskerns (29. Dezember 1768) und Prehausers (28. Jänner 1769) zugunsten des regelmäßigen D r a m a s herbeigeführt zu sein schien. W i e v i e l das dt. Schauspiel auch zu wünschen übrig ließ, so reine Genüsse gewährte das v o n Noverre ( 1 7 6 7 — 1 7 7 4 ) i m anti-

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ÖSTERREICHISCHE LITERATUR lasierenden Geschmack reformierte Ballett, die ital. opera buffa, die in Gaßmann ('Contessina' 1770, vgl. Denkmäler der Tonkunst in Österr. X L I I - X L I V und G. D o n a t h und R. H a a s in StzMusikw. II [1914] S. 34—211), und die große Oper, die in Gluck ('Alceste' 26. Dez. 1767) ihre Meister fand. Künftige geniale Leistungen kündigten sich in des zwölfjährigen Mozart 'Finta semplice' und in 'Bastien und Bastienne' (nachWeiskerns Übersetzung) an. Den Wünschen des Staatskanzlers Kaunitz und des Adels entsprechend, engagierte d'Afflisio 1768 wieder eine frz. Truppe, die nach einer am 26. Jan. 1769 mit dem Bankhaus Bender & Co. abgeschlossenen Konvention zusammen mit der ital. Oper im Burgtheater spielte, während das dt. Schauspiel — man sprach bereits vom „Nationaltheater" — im Kärntnertortheater unter der artistischen Leitung von Franz Heufeld seinen Fortgang nahm. Heufeld war entschlossen, nur mehr „studierte Stücke" zur Aufführung zu bringen, und ergänzte die Lücken des Ensembles durch das Engagement von Steigentesch (für Kavaliere, Helden, Liebhaber), Gottlieb Stephanie d. J. (Militärpersonen, Polterer, Tyrannen), Maria Anna Teutscher (erste Heldin und Liebhaberin), Demoiselle Kummersberg (Naive, Soubrette), Maria Anna Jaquet (muntere, zarte, naive Rollen) u. a. Aber noch immer mangelte es trotz Honorarversprechungen und Preisen an guten Originalstücken und Übersetzungen: das ganze dt. Theaterrepertoire bestand aus 44 Stücken (darunter 6 gänzlich, 9 halb durchgefallenen, 10 Übersetzungen aus dem Französischen) und 10 Nachspielen, von denen aber nur 6 zu brauchen waren. Vergeblich machte man Lessing neue Anerbietungen. Das Geschäft wollte nicht gehen, und im Okt. 1769 löste das Haus Bender & Co. die kostspielige Verbindung mit d'Afflisio. Dieser fand neue Opfer in dem jüngeren (Franz) Lo Presti und Gluck (11. Okt. 1769). Gluck als bestellter Administrator der Wiener Bühnen wollte die für die Theaterkasse einzig ersprießliche Maßregel durchführen, die ständige dt. Truppe, die auf das unzulängliche regelmäßige Schauspiel eingeschworen war, zu entlassen und die Burleske mit der MenningerMerker-Stmmmler, Realluikoo II.

schen Truppe wieder einzuführen: aber auf ein Promemoria des älteren Stephanie hin entschied der Kaiser, daß drei Abende der regelmäßigen Komödie gewahrt bleiben müßten. d'Afflisios Versuche, sich der Verpflichtung in Hinsicht der frz. Komödie zu entziehen, scheiterten an dem Widerspruch des Staatskanzlers. Um das Unternehmen zu retten, wurde Kurz-Bernardon herbeigerufen — Sonnenfels sollte als Zensor der Bernardoniaden fungieren —, der alte Spaßmacher mißfiel jedoch einem jüngeren Geschlecht. Endlich (Febr./März 1770) streckte ein ungar. Magnat Johann Graf Kohary die nötigen Summen vor, um d'Afflisio mit seinen Associés auszugleichen, und übernahm am 31. Mai 1770 selbst die Leitung der Theater, unter dem besonderen Schutz des Staatskanzlers für die Franzosen und mit Sonnenfels' Unterstützung für die dt. Komödie. Doch Sonnenfels verlor schon im Herbst 1770 die Zensur, weil er Weißes 'Matrone von Ephesus' zugelassen hatte, und damit den Einfluß auf das Theater, dessen artistische Leitung von Ostern Î771 auf Franz Anton von Häring überging, sodann auf den Italiener Varese. Neben ihnen fungierte als Zensor der überaus engherzige Franz Karl von Hägelin (bis 1805), ein Vorderösterreicher, der durch Wolfis Schule gegangen war. In kürzester Zeit hatte Kohary sein ansehnliches Vermögen eingebüßt und mußte auf der Entlassung der Franzosen bestehen, die am 27. Febr. 1772 ihre Abschiedsvorstellung gaben. Daß die dt. Schauspieler von ihnen „Zusammenspiel, Eintreffen (Einsatz), Feuer und Leben im Ensemble" gelernt haben, gestehen J. F. H. Müller und Joseph Lange (seit 1770, Heldenspieler) gern zu. Seit August 1772 stand Kohary unter der Kuratel des Grafen Keglevich, der wieder Heufeld mit der Leitung des dt. Schauspiels betraute. Dieser engagierte 1773 einen guten Komiker, Joseph Weidmann, 1774 einen hervorragenden Tyrannenagenten, Johann Baptist Bergopzoom. Den Tagesbedarf an Stücken deckten Heufeld selbst, Schauspieler (die beiden Stephanie, Müller, Sternschütz, Bergopzoom), Beamte und Offiziere (der Staatsrat Freiherr von Gebler, Ayrenhoff, Jester, Pelzel, Keßler, Brahm, Laudes, Paul Weidmann, Rautenstrauch, 39

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR Kepner, Johann Andreas von Wieland u. a.). Wie in Deutschland wagte man sich jetzt an die Bewältigung Shakespeares. Nach Weißes Verballhornungen von 'Richard III.' (1770) und 'Romeo und Julia' (1772) schnitt Stephanie d. J. 'Macbeth' (1772), Heufeld 'Hamlet' (16. Jan. 1773) zurecht. Lessing fand bei der ihm zu Ehren aufgeführten 'Emilia Galotti' (19. April 1775) die Darsteller „pomphaft und tönend in der Sprache, anständig in ruhiger Stellung, übertreibend in Bewegung, in Ausdruck und in Gestikulation, ohne feine Einsicht in den Verstand der Charaktere und sogar oft nachlässig in Bezeichnung des gemeinen Sinnes der Worte". Das vielleicht auf seine Unterredungen mit Gebler zurückgehende Projekt, der Hof möge die Verbesserung der öffentlichen Ergötzlichkeiten einem kaiserlichen Direktorium übertragen, unter einem Kavalier (etwa dem jüngeren van Swieten), mit Lessing für das Schauspiel, Gluck für die Oper, Noverre für das Ballett, hatte keine Folge. Koharys Konkurs (22. März 1776) nötigte endlich den Kaiser zu einem entscheidenden Entschluß: die Pachtung wurde für erloschen erklärt, allgemeine Spektakelfreiheit proklamiert, das Burgtheater als Hof- und Nationaltheater unmittelbar in die Hofregie unter dem Ersten Obersthofmeister Fürsten Johann Joseph zu Khevenhüller, nach dessen Tod unter dem Oberstkämmerer Franz Xaver Graf (Fürst) Orsini-Rosenberg (1776—1796) übernommen, das Kärntnertortheater für alle annehmbaren Truppen freigegeben. Inzwischen hatte die Aufklärung auf dem Gebiet des Schul- und Kirchenwesens weitere Fortschritte gemacht: 1765 wurden die Ordensdramen, 1768 alle Schuldramen eingestellt. Im Zusammenhang mit der Schulreform von 1767 tauchen 1768 die Akademieprojekte wieder auf: sowohl von Seiten Klopstocks wie von Seiten des Jesuiten Maximilian Hell. Die Kaiserin nitnmt Winckelmann 1768 das Versprechen ab, übers Jahr wiederzukommen und ihr Kabinett in Ordnung zu bringen. Klopstock erhält für die Widmung der 'Hermanns Schlacht' 1769 eine goldene, brillantenbesetzte Medaille mit Josephs Bild. Graf Pergen schlägt 1771 Wieland für eine Stelle

im neuen Schuloberdirektorium vor. An Winckelmanns und Wielands Stelle bringt Kaunitz 1772 seinen Schützling, den Klotzianer F. J. Riedel, nach Wien, dem die Aufgabe zufällt, das aus Winckelmanns Nachlaß erworbene Manuskript der 'Geschichte der Kunst des Altertums' letzter Hand in Druck zu geben (1776). An Stelle des aufgehobenen Jesuitenordens (1772) übernehmen die den Neuerungen der Zeit williger entgegenkommenden Piaristen und allmählich auch Weltliche den höheren Unterricht. Das katholische Kirchenlied (s. d.) wird im Sinne der Aufklärer „gereinigt" ('Geistliche Lieder' von Denis 1774, 'Katholisches Gesangbuch' 1774), die dt. Liturgie unter dem Einfluß der Febronianischen Ideen auf Kosten der lat. begünstigt. „Katholisch's österrei", klagt der originelle oberösterr. Dialektdichter P. Maurus Lindemayr (1723—1783), „Mä schnitzelt, schnegert so lang um, Bist wirst ä lauters Luthertum". Seit dem Siebenjährigen Krieg strebt man, mit der Entwicklung in Deutschland gleichen Schritt zu halten. Die feste Überlieferung der antikisierenden Ordenslyrik läßt die Jesuiten Denis und Mastalier in ihren dt. Oden sich Klopstock und Ramler nähern. Den 'Gedichten Ossians', durch den Italiener Cesarotti vermittelt, gibt Denis nach alter Ordensübung das gewohnte Kleid des Vergilisierenden Renaissanc-Eepos (i768f.). Der 'Wienerische Musenalmanach* (1777—1796) bringt neben lautem Widerhall der jeweiligen Modeklänge auf dem Gebiet der Lyrik und Ballade in den achtziger Jahren vereinzelt auch schon wieder volkstümliches Gut. Herders Anregungen lenken den Blick auf dt. und slawische Volkspoesie. Das sangbare Lied steht textlich und musikalisch im engsten Zusammenhang mit der Entwicklung des dt. Singspiels (s. u.) und erhebt sich musikalisch zu klassischer Höhe in Mozarts 'Veilchen' 1785. Das Wiener Lied IJJ8—1791, Denkmäler der Tonkunst in östeir. LIV, dazu Irene P o l l o c k S c h l a f f e n b e r g StzMusikw. V (1918) S. 97 b b 151 und Editha A l b e r t i - R a d a n o w i c z Das Wiener Lied 1789—1815, ebd.X (1923) S. 37—78.

Um die Aufklärung in den k. k. Erblanden zu verbreiten, bedienen sich die

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR Freimaurer, die in den siebziger Jahren in allen Ländern, selbst in den kleinsten Städten, Logen errichtet haben und Adelige, Beamte, Geistliche und Literaten zu einem Bruderbund vereinen, der 'Wiener Realzeitung' (1770—1786). Als Journalist, Spion und Gegenspion betätigt sich von 1772—1776 in Wien höchst zweideutig der Schwabe Wilhelm Ludwig Wekhrlin. Alle Zügel läßt Joseph II. (29. Nov. 1780 bis 20. Febr. 1790) dem freimaurerischen Journalismus durch Erweiterung der Preßfreiheit (11. März 1781) und dem Ordenswesen durch Anerkennung des Bestandes „weltlicher Orden" (26. März 1781) schießen. Um den Siebenbürger Ignaz von Born scharen sich Blumauer, Alxinger, Haschka, Leon, Ratschky, Sonnenfels, Retzer, Reinhold, Gemmingen u. v. a., die als Mitarbeiter an der 'Realzeitung', an dem 'Journal für Freymaurer' (1781 — 1783), an dem 'Magazin für Wissenschaft und Literatur' (1784^), an den 'Wiener Ephemeriden' (1786) begegnen. Nicolais schiefe Beurteilung der österr. Zustände in der 'Beschreibung seiner Reise durch Deutschland und die Schweiz 1781' (1783) veranlaßt Joseph Richter, Johann Pezzl, Johann Rautenstrauch zu berichtigenden Schilderungen des Wiener Lebens. Richter vertritt in seinen Romanen, Lustspielen, vor allem aber als Schöpfer des ersten Wiener Witzblattes 'Der Spaßvogel' (1778) und der offiziösen 'Briefe eines Eipeldauers' 1785 bis 1821 den Typus des Josephinischen Journalisten. Er wie die anderen Wiener Aufklärer haben den Ton für ihre Produktionen in erster Linie Wieland abgelauscht, der mit ihnen auch persönlich (durch seinen Schwiegersohn Reinhold) zusammenhängt. Bezeichnend für diese Literatur ist der Kampf gegen Aberglauben, Priesterherrschaft, Klostermißbräuche u. ä. (Blumauer 'Virgils Aeneis travestiert' 1783), die Verherrlichung der Loge in 'Freimaurergedichten', die halbe und dadurch anlockende Enthüllung der Geheimnisse der Logen, die man auf oriental. Mysterien oder auf die Tafelrunde und die Templer zurückführt (Gebler 'Thamos' 1774; Friedrich Wilhelm Meyern 'Dya-Na-Sore' 1787; Alxinger 'Doolin von Mainz' 1787, 'Bliomberis' 1791; Schikaneder-Mozart 'Die Zauberflöte'

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1791). Das Bedürfnis nach einer besseren Religion leitet auf das Studium Kants (Haschka 1786, Lazarus Ben David 1793 unter dem Schutze des Philanthropen Grafen Karl B. Harrach, Freiherr von Herbert in Klagenfurt, Graf und Gräfin Purgstall). 1781/2 propagiert Alxinger den neuen Orden der" Illuminaten, als deren „Chef und Direktor" Sonnenfels bezeichnet wird (J. Pezzl 'Faustin' 1783, Chr. E. Wünsch 'Horus' 1783). Die Freimaurerei, zumal def Alchimie treibende Bund der „asiatischen Brüder" und der Orden der Rosenkreuzer — die Zahl der Laboranten, unter Maria Theresia 10—13000, soll unter Joseph auf 20000 gestiegen sein — nähren aber auch die Hingabe an Ausgeburten der Einbildungskraft, an geträumte mystische Gewalten in der uns umgebenden Welt ('Lavaters Protokoll über den Spiritus Familiaris Gablidone' [des Grafen Frz. Jos. Thun] 1787; Max. Jos. Fh. v. Linden 'Hss. für Freunde geheimer Wissenschaften' 1794). Naturschwärmerei, philanthropische Ideale, pietistische Neigungen wandeln die Gesellschaft in ihrem innersten Kern um. Man flüchtet auf das Land, in die Wildnis, allenthalben entstehen Parkanlagen im engl. Geschmack. Man kokettiert mit der Einfachheit und Anspruchslosigkeit der bäuerlichen Verhältnisse, man faßt wieder Interesse für die Lebensformen des MA. (Gotisierungen seit 1784, Ruinenschwärmerei, Ritter-, Räuber-, Gespensterromantik im Schauspiel und Roman). Tiefere Individualitäten durchzieht von da ab ein Bruch: die übergreifende Subjektivität setzt an eine Grille alles Glück und Weh (Amand Berghofer, Johann Samuel Keßler, Fürst Franz Seraphin Porcia und W. Hellrigl). Zu spät erkannte Joseph die Gefahren, die dem Staat und der Gesellschaft durch die geheimen Gesellschaften drohten. Das Logenwesen ward zwar nicht, wie in Bayern, verboten, aber der staatlichen Oberaufsicht unterworfen ( 1 1 . Dez. 1785), und die durch die Zensurfreiheit entfesselte „Broschürenflut" 1781 — 1784 suchte man durch neue Zensurvorschriften einzudämmen. Die Illuminaten verschwinden, Borns Gesellschaft löste sich 1786 auf. Naturrechtliche Ideen leiteten Joseph bei der Freigabe des Büchernachdrucks 39*

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wie bei seiner Theaterpolitik. Hastig, ungeduldig und sprunghaft wechselte er auch hier Systeme und Programme. Im Nationaltheater führte 1 7 7 6 — 1 7 7 9 die „Versammlung" der Schauspieler die Geschäfte, 1779 bis 1789 ein fünfgliederiger „ A u s s c h u ß " , 1789—1792 als alleiniger dirigierender Regisseur Franz Karl Brockmann. Das Engagement der Heldin und Liebhaberin Johanna Richard-Sacco (1776), der Soubrette Marie Henriette Wilhelmine Stierle (1777), des Heldenspielers Franz K a r l Brockmann (1778), der Königinnen- und Mütterdarstellerin Rosaliä Nouseul (1780), endlich des großen Charakterdarstellers Friedrich Ludwig Schröder (1781 —1785) brachte das Ensemble auf ansehnliche Höhe und den bei Ackermann gepflegten natürlicheren Konversationston zur Herrschaft. Der Kaiser ließ es an Aufmunterungen (Geschenken, Auszeichnungen, Verleihung der Pensionsberechtigung, Begründung der Schauspielergalerie des Nationaltheaters) für die Künstler nicht fehlen, auch eröffneten sich ihnen die Salons der Großen. Den Spielplan bestritten hauptsächlich P. Weidmann, Stephanie d. J., Schröder, Iffland, Spieß, Kotzebue. Die interessanten literarischen Produktionen wurden entweder von der Zensur überhaupt nicht freigegeben oder verschwanden nach wenigen Aufführungen (wie 'Die Zwillinge' 1777, 'Julius von Tarent', 'Fiesco' 1787 u. a.); die Wiener lernten sie auf den Vorstadtbühnen kennen. Eine höhere Kritik nach dem freilich unerreichten Vorbild des Hamburger Dramaturgisten suchte J. F. Schink zu üben, den 1789 Schröder nach Hamburg zog. Ende 1777 faßte Joseph, veranlaßt durch den guten Erfolg der dt. Oper des Prinzipals Böhm in Brünn, den Entschluß, in jeder Woche zweimal dt. Singspiele geben zu lassen. Nach vielversprechenden Anfängen (1778, 17. Febr., Umlauf 'Die Bergknappen', vgl. Denkmäler der Tonkunst in Österr. X X X V I ; 1781 Gluck'Iphigenie auf Tauris', 'Alceste', 'Orpheus', 'Die Pilgrime von Mekka'; 1782, 16. Juli, Mozart 'Die Entführung aus d e m Serail') gewann der Hofkapellmeister Salieri 1783 den Kaiser für die Wiedereinführung der ital. Oper. A m 4. März wurde das letzte dt. Singspiel

LITERATUR

am Burgtheater, dafür am 22. April Salieris 'Scuola de' gelosi' aufgeführt. 1785 lebt das dt. Singspiel im Kärntnertortheater noch einmal auf (x 1. Febr. 1786 'Der Schauspieldirektor' von Mozart, Juli 1786 'Doktor und Apotheker' von Dittersdorf), am 15. Okt. 1787 wurde der dt. Operngesellschaft jedoch endgültig gekündigt. Aber auch in der ital. Oper siegt der dt. Mozart (1. Mai 1786 'Nozze di Figaro', 7. Mai 1788 'DonGiovanni', 26. Jan. 1790 'Così fan tutte'), bewundert von Haydn, Dittersdorf, Weigl, während sich der Kaiser und die Hofkreise in den Reichtum dieser Musik noch nicht zu finden wissen und Martin, Cimarosa, Paisiello, Salieri höher stellen. In dem für fremde Banden freigegebenen Kärntnertortheater spielte seit 1776 eine frz. Operistengesellschaft unter Hamon, die Ballettruppe v o n Noverre abwechselnd mit der Brünner Singspielgesellschaft des Prinzipals Böhm, die dt. Schauspiel- und Singspielgesellschaft Wäser, eine ital. Operngesellschaft, 1779 die „Theatralische Pflanzschule" (Kindergesellschaft) des Schauspielers J. F. H. Müller, 1780—1782 die frz. Komödien- und Singspieltruppe Dalainval und Beaubourg mit dem Ballett Riccis, 1782 die Jähnsche Gesellschaft, 1783 die aus ihr hervorgegangenen Truppen von Nouseul und Gensike, dann Gensike im Verein mit der Gesellschaft der Madame Fuhrmann, 1784 Scherzers Gesellschaft, dann ital. Schauspieler, 1784—1785 die Gesellschaft Schikaneder und K u m p f ; seit August 1785 ließ der Hof hier wieder ital. und dt. Singspiele aufführen. Wäser hatte 1776 die Wiener mit 'Clavigo', Gensike 1783 mit 'Macbeth', 'Götz', 'Clavigo', Schillers 'Räubern', die Madame Fuhrmann etwa vierzehn Tage nach der Mannheimer Première (11. Jan.) 1784 mit 'Fiesko' bekannt gemacht. In den Vorstädten Wiens, die vielfach noch dörflichen Charakter hatten, spielte Felix Berner mit seiner Kindertruppe auf dem Neustift „ Z u m weißen Fasan", Scherzer in der Josephstadt, Hebentinger im Lichtental, Burghuber in Neulerchenfeld. Seit 1777 findet sich ständig in der Leopoldstadt im Czeminschen Garten die Badnerische Gesellschaft ein unter Menninger, später unter Marinelli, der 1781 das Leo-

ÖSTERREICHISCHE poldstädter Theater errichtet. A n der Wien im Haus „ Z u m W a s e n " spielt Barbara Fuhrmann 1783—1784, Bauernschober 1785 in Margareten, 1786 in Mariahilf und in der Roßau. Roßbach, der Höheres anstrebte, ward in der Hütte auf dem Glacis beim Spittelberg sowie im Freihaus, wo er als Nachfolger der Brüder K e e ß ein Theaterchen erbaute, von Unglück verfolgt; seine Erben wurden Johann Friedel und Emanuel Schikaneder. Während das 1788 von K a r l Mayer eröffnete Josephstädtertheater alle Krisen immer wieder überstand, führte das Theater auf der Landstraße von 1789—1793 ein wechselvolles, doch immer kümmerliches Dasein, und Scherzers Bühne in der Porzellangasse konnte 1792—1793 nicht überleben. Daneben gab es noch Budenkomödianten auf der Freyung, auf dem Graben, auf dem Hohen Markt, auf dem Mehlmarkt, in Simmering, Meidling, Penzing, Hütteldorf, Währing, Nußdorf, Döbling usw. E . K . B l ü m m l und G. G u g i t z Alt-Wiener Thespiskarren 1925. G. G u g i t z Der weiland Kaspert 1920.

W i e minderwertig auch das einzelne, was hier geboten wurde, war, so vergesse man doch nie, daß in dem kleinen hölzernen Freihaustheater am 30. Sept. 1791 Mozarts 'Zauberflöte' herauskam, als Gipfel dt. K u n s t auch von den Weimarer Großen sofort willig anerkannt; selbst Schikaneders T e x t mußte den Zeitgenossen, die ihm die Absicht unterlegten, den jungen Thronerben Franz für die Ideale der Freimaurer zu kaptivieren, bedeutungsvoller erscheinen als uns. Durch die Schauspielhäuser zu Prag, Brünn, Klagenfurt, Innsbruck, Laibach, Linz, Ofen, Lemberg, Hermannstadt wurde die Theaterkultur der Hauptstadt in die Provinz und weit in den nichtdt. Osten getragen. Neben dem Theater verbreiteten die Logen die Ideen der A u f k l ä r u n g über alle Länder. In Prag sammeln sich die A u f k l ä r e r um Seibt, Rautenstrauch, A . G. Meißner, Cornova; in Lemberg um Bretschneider, Kratter, Feßler; in Preßburg um K a r l Gottlieb Windisch; der Hauptmitarbeiter des 'Preßburger Musenalmanachs auf das J. 1785' ist der Siebenbürger Johann Seivert. Selbst in dem Erzstift

LITERATUR

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Salzburg, wo die Regierung des letzten souveränen Erzbischofs Hieronymus Fürst Colloredo seit 1777 mit allen alten religiösen und weltlichen Volksgebräuchen aufräumt, schaffen sich die Aufklärer ein angesehenes Organ, die 'Oberdeutsche allgemeine Literaturzeitung' 1788—$11. Chr. W. B e r g h o e f f e r M. Opitt'... (s. 0.). R. B e c k h e r r n M. Opitz, P. Ronsard u. D. Heinsius. Diss. Königsberg 1888, 1890. G. W e n d e r o t h Die poet. Theorien der frz. Plejade in M. Opitz' Dt. Poeterei, Euph. 13 (1906) S. 445ff. G. W i t k o w s k i M. Opitzens Aristarchus... u. Buch v. d. dt. Poeterey 1888 (Einleitung u. Ausgabe, vgl. auch Braunes Neudr. I). Fr. G u n d o l f Martin Opitz 1923.

§ 9. Die starke Nachwirkung dieses bescheidenen Büchleins Opitzens, die in der vielgliedrigen Kette der Auflagen (1634, 1635, 1638, 1641, 1645 mit Hanmanns Anm.; 1647, eine o. J. [1650], 1658 u.a.) zum Ausdruck kommt, dankte es nicht zum wenigsten seinem kompilatorischen Charakter. Trotzdem und trotz der durchgängigen Verbeugung der meisten Barockpoetiken vor der Autorität Opitzens ist nicht zu verkennen, daß Weiterentwicklungen, z. T. auch wesentliche Abweichungen und Neuerungen sich durchzusetzen strebten. In der äußeren Gestalt fand vor allem gegenüber dem „mageren Heftchen" (Roethe) eine massige Aufschwellung zu erdrückenden Wälzern statt. Dafür sorgte einerseits die ausgiebige Einflechtung vieler, oft recht langer, gern eigener Beispiele, so daß nicht selten das Verhältnis sich in der Weise verschob, daß die Gedichtsammlung den theoretischen Bindetext weit überwog (Zesen). Andererseits wirkten die beliebten Anhänge von Schatzkammern aufblähend, Mustersammlungen von schönen Stellen oder allegorischen Umschreibungen (Harsdörffers Trichter* III füllt 400 Seiten mit über 500 Beispielen; Tscherning wartet mit einer 'Schatzkammer von . . . Poetischen redens-arten' auf) oder Reimregister (Zesens Helikon). Wie solche Schatzkammern und Reimregister isoliert auftreten (M. Bergmann 1662 u. a. m.) und damit für die abhandelnde P. ausscheiden,

wenn auch für das Kunstwollen symptomatisch bleiben, so sind auf der anderen Seite Vorreden von Dichtungen heranzuziehen, z. B. bei Rist, Neumark u. a. Noch stärker fast als in der Kunstübung herrscht in der Kunstanweisung das wechselseitige Übernehmen bis zu wörtlichen Anklängen. Dabei verläuft die Abhängigkeit keineswegs in übersichtlichem chronologischen Nacheinander, sondern verwirrt sich in einem kaum zu klärenden Nebenund Durcheinander der Beziehungen. Denn die Problematik der Originalität verschwimmt vollends mit der der Priorität. Die Erscheinungsdaten nämlich der Druckausgaben können nicht als brauchbare Anhaltspunkte gelten, weil innerhalb der Orden und Sprachgesellschaften und bei ihrem Austausch vielfach mündliche Anregungen (so besonders seitens Buchners und Zesens) oft den schriftlichen Ausarbeitungen vorangingen. Vor allem aber erschienen nicht selten vor dem Hauptwerk Teildrucke von vorbereitenden Auszügen in beschränkter Zahl von Exemplaren, die dann oft in Freundeskreisen die Runde machten. Oder auch handschriftliche Entwürfe zirkulierten und verbreiteten die Anschauungen, noch bevor sie in Buchform niedergelegt waren. Einige Beispiele : Buchners P. ist uns nur als Nachlaßdruck (1663 und 1665) erhalten, kam wohl überhaupt erst damals heraus; trotzdem ist seine Einführung des Daktylus (Buchnerart) jedem bekannt, trotzdem nähert sich ihm Harsdörffers 'Trichter' mit wörtlichen Wendungen (vgl. I S. 9—10 mit Buchner S. 52), wie denn Titz das Geheimnis solcher verhüllten Abhängigkeiten verrät bei seinem Hinweis gelegentlich der Buchnermetren: „gemeldet in seinem (Buchners) noch zur Zeit unausgegangenen (aber eben doch Titz bekannten) Buche von der deutschen Poeterey". Im 5. Kapitel (Buch II) finden sich bei Titz außerdem wörtliche Anklänge an Harsdörffer, obgleich Titz' P. schon 1642 herauskam. Birken berichtet in der Vorr. seiner P. (1679), daß ein früherer Entwurf in Form von 50 Lehrsätzen bereits 1650 verbreitet gewesen sei; ähnlich hatte Neumark etwa 20 Jahre vor seiner P. (1667) bereits 14 Tafeln (Thorn 1650) für den Freundeskreis herausgebracht. Innerhalb

POETIK der Entwicklung müssen die einzelnen P. also wesentlich anders eingeordnet werden, als die Druckjahre es nahelegen würden. Verwirrend kommt hinzu, daß oft mehrere von gemeinsamen dritten (gern ausländischen) Quellen (besonders Scaliger) abhängig sind, ohne unmittelbar von einander beeinflußt zu sein. Daneben ergeben sich ausgeprägte Abschreiberketten, von denen Borinski z. B. jene nachweist, die von Schottel über Rist zu Kindermann und schließlich zu Th. Kornfeld bis in die Weisesche Epoche hineinreicht. Bekannt ist etwa die Abhängigkeit Rotths von Morhof; Titz und Tscherning belauern sich gegenseitig usw. § 10. Kulturpatriotische Leitidee. Sie scheint in diesem Wirrwarr der Kompilation noch am ehesten eine durchgreifende Geltung beanspruchen zu können. Immer wieder münden die Forderungen der P. ein in das Bemühen, die Eignung des Deutschen als Dichtersprache nachzuweisen. Jenes vielgescholtene Virtuosentum technischer Rekordleistungen auf sprachlichmetrischem Gebiet, also gerade das, was selbst bei aller gebotenen Berücksichtigung des zier- und schmuckfreudigen Kunstwollens der Zeit (das Borinski vernachlässigt in unhistorischer Gegenwartswertung) dennoch als Auswuchs eines an sich durchaus künstlerischen Spieltriebes so scharfe Kritik erfahren hat, gewinnt doch tiefere entwicklungsgeschichtliche Bedeutung, wenn man derartige „Kunststückchen" historisch zu verstehen sucht und auffaßt als Paradeleistungen mit dem achtungheischenden Seitenblick auf das Ausland, als unbewußte, teils aber auch ganz bewußte Belastungsproben hinsichtlich der Tragfähigkeit der dt. Muttersprache für poetische Werte. Nicht nur, daß hier eine allgemeine Triebkraft der Zeit ihre Ableger nachträglich eben auch in die Poetikanweisungen eindringen ließ; vielmehr wurden unverkennbar manche P. geradezu aus dieser sprachlich-patriotischen Triebkraft heraus erst geboren aus dem Milieu der Sprachgesellschaften (s. d.); denn oft genug bedeuten sie nur die Durchführung eines der Hauptprogrammpunkte der Orden. Besonders stark ist diese lange vorbereitete Richtung ausgeprägt bei

Schottel ('Teutsche Sprachkunst' mit ihren „Lobreden"; aber auch in seiner 'Versoder Reimkunst' 1656), bei Buchners Anhänger und Harsdörffers Ordensbruder Klaj ('Lobrede der dt. Poeterey' 1645) oder in G. Neumarks 'Zuschriftlicher Vorrede' zu seinem 'Musikalisch-Poetischen Lustwald' 1657 u. a. Hervorgehoben sei in dieser Reihe J . H. Hadewigs an sich wenig bedeutende 'Kurtze und richtige Anleitung, wie in unserer Teutschen Muttersprache (!) ein teutsches (I) Getichte zierlich . . . könne verfertiget werden' (1650), wo Hadewig selbst als Leitgedanken voranstellt: „ § I. Die Teutsche Sprache ist zur Poesie eben sowol als andere Sprachen geschickt." Der Gründer der Deutschgesinnten Genossenschaft Ph. Zesen stellt grundsätzlich fest, daß ihm sein 'Helikon' vor allem wertvoll ist als eine „in Betrachtung unserer lieben mütter-sprache hochwichtige arbeit". Seine eigenen „Erfindungen" an neuen Gedichttypen gelten ihm als kulturpatriotische Leistungen „zu unseres lieben Vaterlandes und desselben spräche aufnehmen (Entwicklung, Fortschritt) und ehre". Nicht zum wenigsten deshalb heben die Poetiker so nachdrücklich ihre neuen Versformen hervor, weil sie darin einen stärkenden Neuerwerb für die deutschsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten sahen. § 11. Christlich-moralische Leitidee. Gegenüber der weitverbreiteten verhülltüppigen Sinnlichkeit und Weltfreudigkeit mancher barockalen Dichtung vertritt die Kunsttheorie überwiegend das christlichmoralische Zweckprinzip der Poesie, nicht zum wenigsten, um im theoretischen Gegengewicht der Moralforderung einen der Hauptvorwürfe gegen die edle Poeterei zu entkräften und von vornherein abzuwehren. Vielfach steht indessen unverkennbar persönliche Gesinnung dahinter. So vor allem bei dem eifrigsten Sittenprediger, bei S. von Birken, der grundsätzlich seine theologische Tendenz festlegt: „Gegenwärtige Poesy-Anweisung zielet auf den frommen Zweck." Er bringt nur geistliche Beispiele. Ziel des Dichters ist „die Ehre Gottes" und die „Tugendlehre" (S. 154/155). Der Romanschreiber „muß die Laster bestrafft und die Tugend belohnt beschreiben" {S. 306). Birkens wütender Vorstoß gegen 44*

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die antike Mythologie, gegen die „Götzen" der heidnischen Götterwelt, die der Teufel ausgeheckt habe, kehrt, wenn auch etwas abgeschwächt, in den meisten P. wieder. Daß ein späterer Nachtreter Birkens, M. D. Omeis, nicht weniger predigt, versteht sich von selbst. Er versucht aber, die als Schatzkammer doch schwer entbehrliche Mythologie durch christliche Hineindeutung für die poetische Auswertung zu retten. Auch Buchner betont gegenüber der antiken Trennung von Kunst und Privatmoral die volle sittliche Verantwortlichkeit des Dichters für sein Werk (S. 31), so daß ein „züchtiger Geist" allein a b rechte Gesinnung gilt. Selbst der weltmännische Harsdörffer will nicht nur das Böse selbst, sondern schon den bloßen Schein des Bösen vermieden wissen (Tr. I S. 8/9) und sieht in dem Trauerspiel den „gerechten Richter", der Tugend belohnt und Laster bestraft (Tr. II S. 83). Immerhin wird bei ihm eine leichte Lockerung der kirchlichen Bindung und moralischen Zweckfessel spürbar. — Dieser kräftig ausgeprägte christlich-moralische Einschlag hebt zugleich die Barockpoetik scharf ab von der Kunsttheorie des heidnischen Altertums mit deren weitgehender Lebensbejahung und Duldsamkeit und modifiziert in seiner durchgreifenden Einwirkung auch die theoretischen Einzelforderungen und Einzelvorschriften. Zugleich läßt diese neue richtunggebende Triebkraft es allein schon als unberechtigt erscheinen, von einer „Poetik der Renaissance" (Borinski) zu sprechen. Wenn immerhin auch hier Verflechtungen mit der Überlieferung der Antike nachzuweisen sind, so kommt dabei noch am ehesten die Vermittlung des Neuplatonismus zur Geltung, während doch gerade die Hauptgesetzgeber Aristoteles und Horaz hier, wie z. B. Birken ausdrücklich klarstellt, nicht ausreichen für die christlich-ethische Kunstanschauung. § 1 2 . Dichtung und Malerei. Das Primat der Malerei bestimmte in der Gestaltfrage einseitig vorherrschend die Anforderungen an die Wortkunst. Voraussetzung war das Horazische ut pictura poesis und die von Simonides her nachwirkende Überzeugung von der nahen Wesensverwandtschaft, ja Wesensgleichheit \on Malerei und Dichte

kunst, wobei die geistreich einprägsame Formulierung das ihrige zur zähen Dauerhaftigkeit der Auffassung beitrug. Das „poema est loquens pictura; pictura est tacitum poema" setzt Buchner als Motto über seine P. Die Anwendungsart der Mittel (Farben = Worte) wird völlig gleichgesetzt; nur die Mittel selbst sind eben ganz äußerlich verschieden: „was der Mahler mit Farben thut, das thut der Poet mit Worten" (Buchner). Am reinsten vertritt indessen Harsdörffer im bilderfreudigen Nürnberger Kreis (s. d.) jene grundlegende Zeitanschauung, der in den 'Gesprechspielen' die Poeterey als „ein natürliches Gemäld, welches mit kunstschicklichen Wortfarben ausgestrichen wird" ansieht; und im 'Trichter' gilt ganz entsprechend die malende Schilderung, das „redende Gemähl", als Hauptelement der dichterischen Wirkung (Tr. II S. 33 und 37). Auch bei Birken wirkt der Dichter „als ein Mahler durch den Pinsel des Verstandes mit Wortfarben" (S. 186); doch verdient Hervorhebung (besonders im Hinblick auf die Schweizer), daß Birken dem Dichter immerhin das Vorrecht und den Vorzug einräumt, auch innere Vorgänge (wie Empfindungen usw.) schildern zu können. Für Titz besteht das Dichtwerk gleichfalls in einem redenden Gemälde und „lebenden Bild" (Buch II, Kap. 1). § 13. Schmuckbild und Sinnbild beherrschen dementsprechend die barockale Kunstdeutung ebenso wie die Kunstübung. Es ging ja nicht eigentlich um eine naturmalende Schilderung in unserem Sinne, sondern um schmückendes, prunkfreudiges Ausmalen und sinngebende, allegorische Unter- bzw. Übermalung. Den Vorzug der „Wortblumen" (Birken) preisen sie alle. Harsdörffer gibt auch hier den Extrakt der Zeitgesinnung: an schmückenden Beiwörtern erkennt er den Dichter wie den Löwen an den Klauen (Tr. I S. 106). Die Gleichnisse gelten ihm als die „allertiefste Quelle" der Dichtung. Die Grundlage von den so wünschenswerten „Sinnbildern" (mehr Allegorien als Symbolen) aber sieht er wiederum im „Gemähl" und der „verblümten Beschreibung" (Tr. I S. 12). Damit stimmt die Anlage seiner P. überein: den Gleichnissen widmet er ein ganzes (das 10.) Kap.

POETIK (Tr. II); der riesige Anhang sorgt für Vorbilder an verblümten Umschreibungen und sinnreich-schönen Einkleidungen (Tr. III). In enger Verbindung mit der zweckhaften Tendenz wird hinter dem Bild und im weiteren Umkreis hinter der bildernden Fabel gern ein „tieferer" Sinn und Doppelsinn versteckt und gesucht (Sinnbild). J a , von hier aus wird die gesamte Dichtung als solche betrachtet und (moral-pädagogisch) gewertet als angenehme Einkleidung ernster Lehren und reizvolle Verkleidung oft bitterer Wahrheiten. Das Gleichnis Buchners von der überzuckerten und so schmackhafter gemachten Arzneipille durchläuft zahlreiche Poetiken. Zugleich konnte von dieser Position aus leicht der Vorwurf des bloßen Lügnertums vom Dichter abgewehrt werden. Birken weist beruhigend auf die Tugend-, j a „Gotteslehre" und die lehrreichen Gedanken hin, die hinter dem weltlich bunten „Fürhang der Fabeln" stehen, und Titz betont nicht weniger geflissentlich, daß der Dichter in den „schönen Decken und zierlichen Tapeten" (Einkleidungen) dennoch ernste Wahrheiten „einzuwickeln pflegt", um so eben auch den Leser „einzuwickeln" und zu bestechen. — Neben der Malerei im Wortkunstwerk spielt auch die Klangmalerei eine führende Rolle; Birken überträgt das Simonideswort auf Dichtung und Musik; Harsdörffer weist auf klangliche Vorteile hin; man sah in der vermeintlichen Überlegenheit der dt. Sprache in klangmalender Hinsicht j a einen besonderen Gewinn in kulturpatriotischer Hinsicht. § 14. In der Gattungsgliederung, die noch ganz in den unsicheren Anfängen stecken bleibt, spielt — entsprechend den Humanistenpoetiken — die Art der Redevertretung, der Gesprächsverteilung, eine wesentliche Rolle, und zwar in dem Sinne, daß man Gattungen danach unterscheidet, ob der Dichter selbst oder eine Person als sein Mittelsmann oder mehrere Personen reden (Buchner, Titz u. a.). Bei Birken, der vor allem über die Romanform (Kap. 1 1 ) neben dem Schauspiel (Kap. 12) eingehender handelt, wird die sonst dem Schauspiel vorbehaltene Wechselrede mehrerer Gesprächspartner immerhin auch schon den epischen (Roman)-Arten zugestanden.

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Doch stellt diese Berücksichtigung der technischen Anlage, so primitiv sie uns erscheinen mag, noch die fortschrittliche Richtung dar, während überwiegend nach rein stofflichen Inhaltskriterien die Artunterscheidung vorgenommen wird (Harsdörffer, Schottel u. a.), wobei die unerschöpflichen Themen der Gelegenheitsgedichte zu endlosen Artabstufungen zu führen pflegen (Birken, K a p . 10, Hadewig u. a.). Vielfach verbinden sich formales und inhaltliches Einteilungsprinzip (Neu* mark); eine Trennung war aber durchweg ganz äußerlich dadurch gegeben, daß man die P . in die Hauptgruppen: I. Reimkunst, 2. Dichtkunst aufzuteilen gewohnt war. Die „ R e i m k u n s t " beschäftigte sich mit metrisch-sprachlichen Fragen, während die „Dichtkunst" Anweisung zur Stofferfindung und sonstige praktische Winke über die vorteilhafte Herstellung eines Gedichtes gab. Gern schwenkte man von der „Worterfindung" (Wortspiele), vom wesenhaften zum formal-metrischen Teil über, so daß also auch diese Grenzlinie methodisch keineswegs klar verläuft. Gegenüber dem Vorherrschen des Epos in vielen Humanistenpoetiken rückt allmählich das Drama stärker in den Vordergrund auch des theoretischen Interesses (Birken, Harsdörffer, Rotth, Omeis). Eine eigentlich lyrische Gattung kannte man noch nicht; durchweg bog die Barockpoetik nach dieser Seite hin auf die breite Landstraße der Gelegenheitsgedichte ab, auf der sich auch der Theoretiker — in Anpassung an das vom Benutzer der P. vor allem Gewünschte — behaglich erging. Für Titz z. B . sind auch Erzählungen „carmina" und Dramen „Lieder". Leise Ansätze zur Unterscheidung einer lyrischen Sondergruppe werden noch am ehesten spürbar in G. Neumarks 'Poetischen Tafeln . . . ' (1667), während Birken f ü r den Roman, Harsdörffer, Rotth und Omeis für das Drama gewisse Fortschritte erzielen. Hinsichtlich der Satire herrscht Wirrwarr auf Grund der Verwechslung und Vermischung von Satyrspiel und Satire (Birken, Harsdörffer). Von Gattungen im modernen Sinne darf durchweg noch nicht die Rede sein; immerhin findet sich die Bezeichnung Gattung (z. B . bei Zesen): „ahrten und gattungen".

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§ 15. Schulung und Begabung. Gesamtanlage, Titel, Reimregister, Schatzkästlein, praktische Winke, kurz der offenbare Zweck und die große Zahl der P. lassen es unzweifelhaft erscheinen, daß wir es mit einer A weisungs- und Lehrpoetik zu tun haben, die in der Dichtkunst vor allem eine erlernbare Kunstfertigkeit sah. Die durchaus ernst gemeinten Vergleiche mit dem Handwerk sagen ein übriges. Diese allgemein bekannte und hervorstechende Tatsache bedarf keiner beweisenden Belege. — Es trifft indessen nicht zu, daß der Bildungsfaktor der natürlichen Anlage einfach nicht in Rechnung gestellt wird. Dafür sorgte schon die ältere Überlieferung, die von göttlicher Eingebung zu berichten wußte, wobei dann teils eine Umdeutung ins Christliche bemerkbar wird (Birken). Es ließe sich als charakteristischer Zug vieler P. nachweisen, daß an solchen begabungbetonenden Stellen, die man sich zudem zur Stützung der umkämpften Wertposition der Poeterei natürlich nicht entgehen ließ, stets die eifrige und eilige Berufung auf ältere Gewährsmänner erfolgt, wobei man eben oft merklich hilflos konventionelles Gut mit traditionellen Autoritäten deckt. Abgesehen hiervon aber kann immerhin als eigene Anschauung der Epoche gelten, daß Begabung stets als eine günstige Voraussetzung angesehen wird, um den Weg zum Parnaß schneller zu finden. Selbst Harsdörffer, der doch nur eintrichtern zu wollen scheint, verlangt „poetischen Geist" als Vorbedingung; denn nur dem gut Veranlagten kommt die rechte „Lust zum Poetisieren" (Trichter II. Vorr.). Schottel verwirft ausdrücklich die Irrlehre, als ob man Poesie „eintröpflen künne". Bei Kaspar Stieler sind sogar noch wärmere Bejahungen des Begabungsstandpunktes nachweisbar. Borinski läßt doch wohl diese positive Seite zu wenig hervortreten, wenn auch manche Stelle nicht allzu schwer wiegt, da eben häufig nur der „furor divinus" der Humanistenpoetiker aufgenommen wird. Im Durchschnitt wird der Vorteil der Naturanlage wohl anerkannt, aber gegenüber der Überwertung der Schulung doch unterschätzt. Die Kunstübung des Barock darf gewiß nicht ohne hinreichende Berücksichtigung der Barockpoetik ge-

deutet und gewertet werden, wenn Verzeichnungen ins Moderne vermieden werden sollen. Andererseits darf das Bild der Barockdichtung nicht einseitig vom Blickpunkt der P. aus gesehen werden; denn o f t genug sind die P. ausdrücklich für Schüler und Studierende bestimmt und wenden sich eben an die große Gruppe derer, die Anweisung — besonders zu Gelegenheitsgedichten — forderten. Das schließt natürlich nicht aus, daß unabhängig von der Dichtlehre echte Dichter ihren eigenen Weg gingen und ohne Weisung auch fanden. Aber auch innerhalb der P. selbst sind neben den bloßen Rezepten doch auch Einschläge von wesenhaften Deutungsversuchen der Dichtkunst, wenn auch in einer uns primitiv erscheinenden Form, unleugbar vorhanden. Aufzählungen von P. des 17. Jhs., vgl.GGr.III 1 § 177 u. bes. auch Th. G r ä s s e Lehrbuch einer attg. Literärgesch. (1837/59) Band III, 2, S. 317ff. K. B o r i n s k i Die Poetik der Renaissance u. d. Anfänge d. liier. Kritik in Deutschland 1886. Th. R u c k t ä s c h e l Einige arts poétiques aus der Zeit Ronsards u. Malherbes, Beitrag 3. Gesch. d. frz. Poetik des 16. u. JJ. Jhs. Diss. Leipzig 1889. A. R o s e n b a u e r Die poetischen Theorien der Plejade 1895. A. K r a p p Die ästh. Tendenzen Harsdärffers 1903. G. A. N a r c i ß Studien s. Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprechspielen. Diss. Greifswald 1927. P. S t a c h e l Seneca... (s.o.) 1907 S. 274ff. (Nürnberger Poeten u. Poetiker). G. P o p p Uber d. Begriff d. Dramas in den Poetiken des IJ. Jhs. Diss. Leipzig 1895. W. R e i s s D. Theorie d. Tragischen im IJ. Jh. in DU. u. Frankr. Diss. Berlin 1910 (mehr üb. frz. Theorie im 16. u. 17. Jh.). W. J u k e r Die Theorie d. Tragödie ». d. dt. Poetiken u. ihre Durchführung in d. bedeut. Trauerspielen d. IJ. Jhs. Diss. Heidelberg (Masch.) 1924. L. P f e i l G. W. Sacers „Reime dich, oder ich fresse dich...". Diss. Heidelberg 1914. C. B r u m a n n Ph. Zesens Beziehungen e. Holland. Diss. Bonn 1916. H. H. B o r c h e r d t A. Buchner... 1919. H. S c h a u e r Lit. Zeugnisse e. Poetik u. Kulturgesch. d. dt, Barock, Dt.-kdl. Bacherei 1926 (wenig). Joh. B o l te Eine ungednukte Poetik Kaspar Stielers, SB. d. Pr. Akad. d. Wiss. X V (1926), vorher erwähnt schon C. H ö f e r Die Rudolstädter Festspiele a. d. Jahren 1665I67 (1904) diese P. Stielers. H. C y s a r z Dt. Barockdichtung 1924 S. 101—116.

IV. Reaktion Weise-Gottsched. § 1 6 . In dem letzten Drittel des 17. Jhs. wird die sich anbahnende Aufklärung auch innerhalb der P. deutlich spürbar. Frankreich mit Boileau (Art poétique 1674) beginnt Fuß zu fassen, die literarische Kritik

POETIK (s. d.) setzt erst langsam und dann schnell anwachsend ein und fördert den Glauben an Regel und Muster, die internationale Geschmacksdebatte (s. d. Art. Literarischer Geschmack) dringt auf Klärung, wobei Geschmack als Verstandesfunktion aufgefaßt wird. Das galante Wesen (s. Galante Dichtung) greift weit über die Poesie hinaus. Die Ästhetik beginnt am vielästigen Baum der Philosophie zu sprossen. Aber die Besinnung gegenüber der barockalen Übersteigerung war wie alle diese neuen Kräfte vorwiegend Angelegenheit des kritischen Intellekts, Verstandessache, und brachte eine Ernüchterung, die schließlich dem Wesen und damit auch der Wesenserfassung der Dichtung noch weit ferner stand als der immerhin künstlerisch triebkräftige Schmuckwille und Größenkultus der Barockzeit. Die aufklärerische P. verläuft von Weise als Ansatzpunkt über Gottsched als Höhepunkt, während Lessing mit seiner Vollendung doch zugleich zu einem guten Teil die Überwindung der rationalistischen P. wirksam vorbereitete. Der Theoretiker Lessing, der in seiner Kunstdeutung vielfach weit fortschrittlicher war als in seiner Kunstübung, wird richtiger jener auflockernden Übergangsepoche zugeordnet, für die die Psychologie steigende Bedeutung gewann (s. § 19f.). Nähere Prüfung zeigt, daß zwischen Barock und Aufklärung die Grenzen in ähnlicher Weise fließen wie in der Übergangszeit zwischen Aufklärung und Geniezeit. Die Entwicklungsschichten lagern in zeitlicher Überschneidung mit vielfachen Verwerfungen übereinander. Wie Sacer schon polemisch ein gut Teil der kritischen Bedenken vorweggenommen hatte, so verbindet M. Daniel Omeis in seiner 'Gründlichen Anleitung' (1704, 1712) nachwirkende Barockelemente (Birken, Harsdörffer u. a.) mit den neuen Lehren Weises und den — allerdings mehr historischen — Neuerwerbungen Morhofs. Im dritten Teil seines berühmten 'Unterrichts von der Teutschen Sprache und Poesie* (1682) bietet Morhof eine in vieler Hinsicht beachtenswerte P., wo er 'Von der teutschen Poeterey an ihr selbst' handelt und beweist, daß er nicht nur von Boileau, sondern auch von Longin gelernt hat. Seinem methodisch

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fortschrittlichen Wege folgte indessen nur ein wenig einflußreicher Schüler (Rotth), während Weise bald das Feld beherrschte. Ein typisches Zwitterwesen der Übergangszeit stellt auch äußerlich 'Die allerneuste Art zur reinen und galanten Poesie zu gelangen' (1707 bzw. 1717) dar, die eigentlich von E. Neumeister stammt (1795 Poetikvorlesungen in Leipzig), aber von MenantesHunold hsg. und mit einer langen Vorrede versehen wurde. Da Neumeisters P. ausdrücklich an Weise anknüpft (S. 7/8), Menantes-Hunolds Vorrede aber überwiegend auf die Schlesier eingestellt ist, so ergeben sich mehrfach Widersprüche zwischen Herausgeber und Verfasser. Dabei sei einmal mit Nachdruck auf diese Vorrede Menantes-Hunolds hingewiesen, weil dort gefühlsmäßige Einschläge Erlebnis und Begabung erstaunlich betonen. Ist dieser Vorteil auf die Anlehnung an den Barockgeschmack zurückzuführen, der eben doch dichterischem Wesen näherstand, so führt bei Neumeister die Anlehnung der Poesie an die Prosa kennzeichnenderweise zu einem Sonderabschnitt 'Vom Stylo'. Der Poetiker wechselt jetzt mehr und mehr auf das Gebiet der Stilistik und Rhetorik hinüber (Weise-Gottsched). § 17. Chr. Weises 'Curiöse Gedanken von dt. Versen' (1691, 1693) hoben den im Barock stark betonten Unterschied zwischen hoher Dichtersprache und gemeiner (allgemein durchschnittlicher) Redeweise bewußt auf und rückten das Primat der Prosakonstruktion in die Kernstellung der neuen Entwicklungslinie. Die normale Syntax ist auch für den Dichter verbindlich: „Welche Construction in prosa nicht gelitten wird, die sol man auch in Versen darvon lassen" (I S. 141; vgl. auch I S. 174, II S. 104). Ein volles Kapitel (III) des 1. Teils ist Konstruktionsfragen eingeräumt. Das war für die sprachliche Festigung des Deutschen förderlich, hemmte aber die dichterische Entfaltung. Die Dichtung verliert mehr denn je ihr Eigenleben und Daseinsrecht, jedenfalls ihre Sondergeltung, um die das Barock recht tapfer gekämpft hatte, und wird ausdrücklich als „Dienerin der Beredsamkeit" (II S. 16), als bloße Unterabteilung der praktischen Rhetorik (II S. 55) angesehen und bewertet. An die

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Stelle des Schönheitssinns tritt der Ordnungssinn. Für die Weise-Gottsched-Epoche deckt sich geordnete Regelmäßigkeit mit Schönheit. — Auch zwischen Weise und Gottsched verläuft der Strom der P. weiter in einer verstandesmäßigen Hauptrichtung, wenn auch zugleich mit B. Neukirchs Ausgabe der spät-barockalen Schlesier (1695) das Galante hier und da Ablenkungen hervorrief. Wernicke und Richey sorgten für kräftige Abwehr. Meisters 'Unvorgreiffliche Gedanken von teutschen Epigrammatibus' (1698) sind kennzeichnend für die wachsende Bevorzugung des Scharfsinns und „Witzes". Während Reimmann (P. 1703) merklich Weise folgt, wich der Vorredner Menantes-Hunold merklich von Neumeisters Darstellung ab; er gab dann 1713 aber doch eine eigene 'Anleitung zur vernünftigen (1) Poesie'. Joh. S.Wahl, Schulmann wie Weise, steuert nach einem früheren Beitrag (1709) seine ...'Einleitung zu der rechten, reinen und galanten Teutschen Poesie' bei. Andere Poetiken verfassen: J . Grüwel (1709), Chr. Weisenborn (1713), J . F. Rottmann (1718), E. Uhse 'Der Wohlinformierte Poet' (1715 oder 1719), während Philander (J. B. Menke) seinen 'Vermischten Gedichten' (1710) Beiträge anhängt. J . G. Neukirch will seine 'Anfangsgründe zur reinen Teutschen Poesie itziger Zeit' (1724), die einen „galanten" Abschnitt aufweisen, vor allem der studierenden Jugend beibringen. — E i liegt also zwischen Weises und Gottscheds P. eine Fülle von Regel- und Lehrbüchern, nicht zum wenigsten aus pädagogischen Kreisen stammend, wo man die Professur der P. wohl zu schätzen wußte. Ja, noch über Gottsched hinaus greifen derartige Unternehmen, wie etwa Joh. Hübners berühmt-berüchtigtes poetisches Handbuch von 1731 (Anleitung und Reimregister) wie die Poetiken von A. Köhler (1734), D. H. Arnold (1741), Joh. E. Philippi (1743) u. a. m. § 18. Im Grunde ragt Gottscheds 'Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen' (1730, erschien 1729) durchaus nicht so beträchtlich über andere P. hervor. Weises Arbeit markiert einen weit schärferen Entwicklungseinschnitt. Das „Critisch" griff nämlich nicht sehr tief, und die pseudophilosophische Aufmachung wirkte

zwar im Wolffzeitalter bestechend, war aber nur recht äußerlich angenommen. Aber wie etwa hundert Jahre vorher M. Opitz, verstand auch Gottsched ausgezeichnet das Sammeln und Auswerten fremder, besonders ausländischer Anregungen. Wie schon der Titel den Nachweis verspricht, daß „das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe", so wird überhaupt (vor Batteux, aber vgl. Aristoteles, Dacier, Bossu) das Nachahmungsprinzip in den Mittelpunkt gestellt (S. 82, 110 u. a.), erleidet aber bei der gleichzeitigen Vormachtstellung des Fabelbegriffs wesentliche Abschwächung. Fabel als Gattungsform und Fabel als StoffMotiv-Sujet werden dabei vielfach vermischt. Angesichts der Kapitel „vom Charakter eines Poeten" und „vom guten Geschmack eines Poeten" wirkt G. Wanieks sonst vorzügliche Arbeit doch fast zu wohlwollend in der Stellungnahme. Jenseits der 'Cr. D.' sei besonders hingewiesen auf die Definition der 'Beobachtungen...' (1758) unter dem Stichwort „Dichten, Dichtkunst, Gedicht" (Beob. S. 77). Das Leitmotiv auch für die Gottschedsche P. gibt am kürzesten die 'Redekunst' : „Was nicht vernünftig ist, das taugt gar nicht" (R.-K. S. 350). V. A u f l o c k e r u n g d e r W e i s e - G o t t s c h e d - R e a k t i o n . §19. Fortschritt durch Gottsched-Opposition, Übergang von der Dichtungslehre (Anweisung) zur Dichtungsdeutung, von der P. zur Literaturphilosophie. — Von den Schweizern über die Schlegel (J. E. u. J . A.), die Fachästhetik von Baumgarten-Meier, die jungen Berliner Kritiker Mendelssohn-Lessing-Nicolai bis hin zu dem Lessing des 'Laokoon' und der 'Dramaturgie' ziehen sich unter stetiger Opposition gegen die Gottsched-Herrschaft und Heranziehung der Psychologie und des englischen Sensualismus kunsttheoretische Neuerungsbestrebungen, die zugleich den spröden Boden des Rationalismus für die Saat der Geniezeit vorbereitend auflockern. Die ältere, nicht mehr haltbare starre Formel der „Aufklärung" (s. d.) reicht für diese Gruppe nicht aus und weicht im besonderen für die P. besser der Umschreibung „Auflockerung". Einsprengungen gefühlsmäßiger Art sind ebensowenig ab-

POETIK zuleugnen wie Teilvorstöße gegen die Alleinherrschaft des Regelzwangs oder verstreute Keime zum Geniebegriff und teilweise recht energische Lösungsversuche von der Gottsched-Batteuxschen Naturnachahmungsthese, ja selbst von der D i k t a t u r der Moral (Mendelssohn). Aber bei ihrer kraftlosen Zersplitterung vermögen die nirgends konzentrierten Einzelkräfte die Eroberung des Zukünftigen, entscheidend Neuen, nicht zu erzwingen; sie wollen das auch gar nicht ernstlich. Denn die Aufklärung als Revolution des Verstandes blieb auch hier in den hemmenden Bedenken einer allzu vorsichtigen Verstandeskontrolle stecken. Man wollte reformieren, nicht rebellieren; und h ä t t e nicht Gottsched gereizt, so wäre wahrscheinlich noch weniger von schein-revolutionären Vorstößen, wie sie etwa beim jungen Lessing, Nicolai oder bei Mendelssohn zu beobachten sind, zu verspüren. So m a c h t e man auf halbem Wege (Lessing) zögernd und schwankend Halt. Und als die Gefühlsrevolte der Geniezeit rigoros ans Ziel und übers Ziel vorstieß, da wichen die zudem älter Gewordenen doppelt bedenklich, ja abgestoßen zurück, teils in kritische Reserve (Lessing), teils in kämpferische Verärgerung (Nicolai). Zeitlich und lokal hebt sich die ältere Schweizer Gruppe (Bodmer-Breitinger) von der jüngeren Berliner (Lessing-Mendelssohn-Nicolai) ab, während die dritte lockere Gruppe Baumgarten-Meier, Sulzer und die Schlegel weniger eng verbunden erscheint. Methodisch gemeinsam aber ist allen die stärkere Durchdringung der P. mit Philosophie, im besonderen Psychologie. § 20. Der philosophische U n t e r b a u fällt zuerst auf in Bodmers frühzeitiger Abhandlung 'Von dem Einflüsse und Gebrauch der Einbildungskraft' (1727). Die damals geplante und angekündigte (vgl. Vorr.) systematische P . in 5 Teilen ist allerdings in der ursprünglich vorgesehenen F o r m nie zustandegekommen. Doch brachten die Schweizer wenigstens wesentliche Teile ihres groß angelegten Programms zur Ausführung in den Abhandlungen und der 'Crit. D.' von 1740. Der Anteil und Vorteil Breitingers bei dieser Arbeitsgemeinschaft lag vor allem in seiner zäheren Ausdauer und Geduld bei der D u r c h f ü h r u n g , während

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Bodmer wohl als der lebhafter anregende, geistig fruchtbarere Kopf zu gelten h a t . Jedenfalls ist der relative Neuerwerb an kunsttheoretischen Anschauungen nicht sowohl in der 'Critischen Dichtkunst' (i74°) Breitingers und dessen Aufsatz über den Gleichnisgebrauch (1740) zu suchen als vielmehr in Bodmers genannter Schrift über die Einbildungskraft und seiner 'Crit. Abh. von dem W u n d e r b a r e n in der Poesie' (1740). Angesichts des aufklärerischen K a m p f e s gegen den Wunderglauben und Aberglauben war dieser Rettungsversuch eines dichterisch wertvollen Phantasiefaktors besonders verdienstlich. Die „ E m p f i n d u n g " aber h a t Breitinger noch nicht eigentlich f ü r das Bereich der P . erobert; jedenfalls steht seine „ E m p f i n d u n g " dem „ s e n t i m e n t " näher, wie auch seine „ E i n b i l d u n g s k r a f t " die spezifische F ä r b u n g von Addisons „imagination" aufweist. Hier ist in der W e r t u n g der Bedeutungswandel der Bezeichnungen zu berücksichtigen und o f t zu wenig mit in Rechnung gestellt worden. Der damals so klaffende Abstand zwischen den Schweizern und Gottsched erscheint in größerem Zusammenhange doch nur als nicht allzu beträchtliche Abstufung, da m a n im ganzen Gottsched etwas höher, die Schweizer aber etwas tiefer stellen müßte, als es noch vielfach geschieht. — Gottscheds N a t u r n a c h a h mungs-Prinzip erhielt einige J a h r e später eine starke Stütze in B a t t e u x ' 'Les b e a u x arts, réduits à un même principe' (1746) und 'Cours des belles lettres' (1747), die gerade auch in Deutschland beherrschenden Einfluß gewannen (übers, von J . A. Schlegel 1751, Ramler 1756). Aber als Gottsched triumphierend seinen Auszug aus B a t t e u x (1754) herausbrachte, da a h n t e er schwerlich, daß inzwischen schon ein begabter junger Theoretiker und Dichter, noch überdies sein ungetreuer Schüler, in aller Stille a m Werke war, um die scheinbar so feste Verankerung dieses Lehrgebäudes der N a t u r n a c h a h m u n g zu lockern: J . E. Schlegel (Abhandlungen 1741/42, gedruckt 1742/45 teils in Gottsched-Organen! vgl. D L D . 26). Doch handelt es sich bei J . E. Schlegel nicht u m ein resolutes Durchstoßen, sondern erst einmal u m ein teilweises Abbröckeln der Front. Ahnlich,

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aber mehr von der Lyrik als vom D r a m a herkommend, beteiligte sich sein Bruder J . A. Schlegel im Anhange zu seiner Batteux-Übersetzung (1751) an der kritischen Auseinandersetzung mit dem Naturnachahmungs-Gesetz. Hier wird eine leichte Berücksichtigung der Subjektivität und S t i m m u n g frühzeitig fühlbar. § 21. Inzwischen sucht die d t . Fachästhetik mit ihren Begründern Baumgarten-Meier eine Lücke im Wölfischen System zu schließen und eine Art Logik des ästhetischen Sinns zu begründen. Baumgartens 'Meditationes' von 1735 verraten, wie eng die Ästhetik in ihren Anfängen mit der P . verbunden war. Hervorgehoben sei die Definition: poema est oratio sensitiva perfecta; denn die „sinnlich vollkommene R e d e " wirkt lange in allen Wesensbestimmungen der Poesie nach. Indessen das „sensitiv" war nicht = „sinnlich", sondern lehnte sich an die sensitiven Vorstellungen an zur Unterscheidung von den „distinkt e n " . Die konfusen Vorstellungen entsprachen etwa dem „clair-obscur" als dumpfe, nicht bestimmt-klare, aber sehr lebhafte Vorstellungen der unteren Seelenkräfte, bilden also eine A r t Zwischenstufe zwischen den dunklen und klaren. Schon nach Gottscheds 'Critischer Dichtkunst' h a t es der Geschmack „ m i t klaren, aber nicht gantz deutlichen Begriffen der Dinge zu t u n " (S. 102). Diese Möglichkeiten der Wolff-Leibnizschen Lehre werden also jetzt nach der logisch-psychologischen Seite hin ausgebaut. Auf diese Anschauung gehen weiterhin viele Stellen späterer Poetiken zurück, die ohne Berücksichtigung dieses Zusammenhanges leicht mißdeutet werden. Man meinte mit dem f ü r uns paradoxen „undeutlich, obwohl sehr k l a r " (Gottsched S. 104) begrifflich unklar, dem Erkennen nicht fest greifbar, aber in der Vorstellung lebhaft und voll gegenwärtig. U m in vergröbernder Kürze wenigstens auch die positive Seite der Baumgarten-Meierschen Lehre zur Abwehr herrschender Vorurteile anzudeuten, sei das Moment der Leidenschafterregung e r w ä h n t : affectus movere est poeticum, wobei allerdings wiederum die „Affectenlehre" mitspielt. Die 'Meditationes' sind f ü r die P . bedeutsamer als das Baumgartensche H a u p t w e r k , die eben-

falls lat. 'Aesthetica' (I, 1750; II, 1758). G. Fr. Meier d u r f t e als Baumgartens Schüler dessen Vorlesungen schon vorher auswerten in seinen ' A n f a n g s g r ü n d e n . . . ' (1748/50). Meier s t a n d im Halleschen Kreise (s. d.) der Dichtung näher als Baumgarten und wurde dessen Vermittler für breitere Kreise. Mit Baumgarten-Meier entstand eine d t . Strömung neben Batteux und drängte ihn bald beiseite. In diese Richtung gehört auch der zu wenig gewürdigte J . G. Sulzer mit seinen frühen Beiträgen über die Empfindungen (1751/52), über den Geniebegriff (1757) u. a. Seine lange erwartete 'Allgemeine Theorie der sch. K ü n s t e ' (1771 ¡74), eine A r t kunsttheoretisches Reallexikon von hervorragender historischer Bedeutung (weitere Aufl. 1786L I797f., wichtig besonders auch durch die „Literarischen Zusätze" von Blankenburg), wirkte s t a r k ein, war aber nach den Fortschritten der sechziger J a h r e nicht mehr eigentlich originale Leistung der eignen Kunstanschauung. Hinsichtlich seines auch heute noch beachtlichen Aufgabenprogramms f ü r die P. sei verwiesen auf Lempicki I S. 306. § 22. Es ist kennzeichnend, daß M. Mendelssohn vor allem in ausgesprochener Weise der Psychologie zustrebt (I S. 281) und von hier aus B a t t e u x ablehnt. Seine Briefe über die Empfindungen (1755) bereiten sein Hauptprinzip des „Vergnügens" bereits vor ( ' H a u p t g r u n d s ä t z e . . 1 7 5 8 ) - An die „undeutliche, aber lebhafte Vorstellung" ( I S . 146) wird ebenso a n g e k n ü p f t wie an die „sinnlich vollkommene R e d e " ('Hauptgrundsätze' I S.291); durch sie zu g e f a l l e n gilt als „ H a u p t e n d z w e c k der Dichtkunst". Mendelssohn v e r t r a t das Recht der „vermischten E m p f i n d u n g e n " (vgl. die „vermischten Charaktere" in Lessings Dramatik), das Recht einer eigenen „theatralischen Sittlichkeit" in Abwehr der Moraldienstbarkeit der Poesie, die Lockerung des Regelzwangs, die A n n ä h e r u n g an den Geniebegriff. Seine — von Harris beeinflußte? — Lehre von den natürlichen und willkürlichen Zeichen ( ' H a u p t g r u n d s ä t z e ' I S. 290f.) wird wichtig nicht n u r f ü r Lessing ('Laokoon'); dem uninteressierten Wohlgefallen nähert er sich vor K a n t (Einfluß Burke). Die Betonung der Leidenschaftserregung als

POETIK Zweck des Dramas ( I S . 157 und 66. Lit.-Br.) war nicht neu und wurde nicht konsequent durchgeführt, wich zudem zeitweise dem Zweck der „Bewunderung". Mendelssohns Beiträge zur P. sind reich an entwicklungsfähigen Keimen, aber ebenso reich an Widersprüchen; seine Gesamthaltung bleibt unsicher schwankend. Sein feiner Gerechtigkeitssinn scheute die kraftvolle Einseitigkeit und schützte die Ausnahmen. Vielfach den Spuren Mendelssohns folgt Nicolai, der aber sowohl hinsichtlich der Naturnachahmung als auch des Moraldogmas noch weit zögernder vorschreitet als sein Führer. Trotzdem finden sich beim jungen Nicolai Einsprengungen revolutionärer Art, besonders in den 'Briefen über den itzigen Zustand sch. Wiss. in Deutschland' (1755, Berl. N.-D. III, 2) und der 'Abhandlung vom Trauerspiele* (hsg. v. R. Petsch, Philos. Bibl. 121, 1910). Besonders hervor sticht — vor Young — die Stelle über „das Genie, die vivida vis animi", die allein den rechten Zugang zum dichterisch Vortrefflichen öffnet (18. Br. S. 146), aber auch die Abkehr von der Überschätzung des Regelwertes (S. 84, 86), der Hinweis auf den Vorteil der englischen Unregelmäßigkeit (11. Br.) U. a. Abgesehen von der Berührung mit Lessing, wurde der junge Nicolai in diese fortschrittliche Bahn vor allem hineingetrieben durch seine Opposition gegen Gottsched und die Schweizer. Alle diese Keime erleiden beim späteren Nicolai eine entschiedene Rückbildung. § 23. Lessing hat gegenüber solchen Anregungen die Energie des Durchführens. Aber trotz der Entschiedenheit der Grenzsetzung im 'Laokoon', die das Nebeneinander im Raum auf Grund ihrer „natürlichen" Zeichen der Malerei zuweist und demgegenüber das Nacheinander in der Zeitfolge (Handlung) der Dichtung vorbehält auf Grund ihrer willkürlichen Zeichen, ihrer artikulierten Töne in der Zeit (IX S- 94/95), trotz des nur geringen Zugeständnisses des „prägnantesten (fruchtbarsten) Augenblickes" aus dem Bereich der Handlungen für die Malerei einerseits und des „sinnlichen Bildes des Körpers" aus dem Bereich des Nebeneinanders für die Poesie andererseits, trotz dieser — von Herder sogleich erkannten und bekämpften,

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aber spät erst von der Theorie wirklich aufgegebenen — allzu schneidigen Schärfe, die, aus zeitgebundenem Besserungswillen entsprungen, niemals zeitlose Allgemeingeltung hätte gewinnen dürfen, die ein bloßer relativer Entwicklungsfortschritt, kein zweckbefreiter Gewinn von absoluter Geltung war: trotz dieses zeitbedingten und daher zeitgebundenen rigorosen Durchgreifens ist auch Lessing keineswegs frei vom Schwanken der Übergangszeit. Der Handlungsbegriff selbst ist ja solchen Schwankungen unterworfen (Fabel-Abh., 'Laokoon', Nachlaß z. 'Laokoon'), vor allem aber seine Genieauffassung und seine Stellung zu den Regeln. Beim Rebellieren gegen Gottsched besonders in der frühen Zeit vielfach revolutionär wirkend und auch weiterhin auflockernd (Sehr. IV S. 345, 413/14, V S. 283/84, VII S. 67/68, 416, V I I I S . 43 u. a. m.), hofft der reifere Lessing den Schäden durch kritische Reform hinreichend beikommen zu können. Als Theoretiker fortschrittlicher als als Dichter, reicht er hart an die neue Epoche heran, weicht aber — abgestoßen von der Maßlosigkeit — vor der Erfüllung entschieden zurück. Wie er von sich selbst sagt, daß die Kritik ihm als Dichter etwas gegeben habe, „was dem Genie sehr nahe kömmt" (X S. 210, vgl. schon IV S. 30/31), so führt ihn auch die Kritik zum kunsttheoretischen Vorstoß, der der Geniezeit sehr nahe kommt (IX S. 210, 322, 324/325, X S. 120 u. a.). Eine der stärksten Hemmungen erwuchs dem Theoretiker und Kritiker Lessing aus der prächtigen Gesinnung, aus der Ethik des Menschen Lessing: das moralpädagogische Zweckprinzip hält er nämlich viel starrer aufrecht als etwa Mendelssohn. Auf der anderen Seite läßt ihn ein Fortschreiten über bloße Einzelregeln und deren mosaikhafte Zusammensetzung zu einem Regelsystem vor allem weit vor- und empordringen zum K u n s t g e s e t z als dem Übergeordneten, Umfassenderen, weniger Kleinlichen, mehr Hauptrichtung als Sondervorschrift Gebenden. Aber nicht sowohl Schöpfungsgesetze, denen Mendelssohns psychologischer Spürsinn oft schon weit näher kam, als vielmehr Wirkungs- und Gattungsgesetze sucht und stellt er auf, entsprechend dem Absichtsvollen, Be-

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wußten, das er v o m Dichter — noch am Schluß der Dramaturgie I — fordert. Insofern war sein Festhalten und Wiederaufrichten der Autorität des Aristoteles nur durchaus folgerichtig, denn auch Aristoteles hatte Wirkungs- und Gattungsformen v o m empirisch Gegebenen abzulesen gesucht. E s darf bei allem Lessingschen Neuerwerb des Kunstverstandes nicht übersehen werden, daß auch er die ererbte Vorstellung des künstlichen E r schaffens, den Glauben an das P r i m a t der Technik als schwere L a s t mitschleppte; denn selbst seinen geliebten Homer läßt er mit bewußten „ K u n s t g r i f f e n " arbeiten. B e h ä l t man die auflockernde Arbeit der Übergangspoetik gebührend im Auge, so darf doch der über weitere Entwicklungsräume hinschauende Blick die ganze Zeit von den Humanistenpoetiken und Meistersinger-Tabulaturen, von Opitz bis Lessing insofern als Einheit sehen, als in ihr der Glaube an technisches Können weit überwiegt und damit die zweckmäßig-lehrhafte, dogmatische P . vorherrscht. Wichmann L'art poétique de Boileau dans celui de Gottsched 1879. Fr. Servaes Die Poetik Gotischeds u. d. Schweizer 1887. Fr. B r a i t maier Geschichte d. poet. Theorie u. Kritik von den Discoursen der Mahlern bis auf Lessing 1888/89. G. Waniek Gottsched u. d. dt. Lit. seiner Zeit 1897, bes. S. 127—182. H. Sommer Die poet. Lehre Baumgartens. Diss. München 1911. H. Bieber J. A. Schlegels poetische Theorien (Palaestra 114) 1912. J . Giehl Joh.Heinr. Schlegel. Diss. Heidelberg 1911. J . v . A n t o n i e wicz Einleitung eu Joh. El. Schlegels ästh. u. dramaturg. Schri/ten (DLD. 26). F. A. Geißler Die Theorien Boileaus. Diss. Leipzig 1909. Frhr. v. Danckelmann Ch. Batteux... u. s. ästh. Lehrgebäude. Diss. Rostock 1902. M. Scbenker Ch. Batteux u. s. Nachahmungstheorie in Deutschland 1909. (Fr. Nicolais Abhandlung vom Trauerspiele, hsg. v. R. Petsch, Philos. Bibl. 121 [1910]). M. Sommerfeld Fr. Nicolai u. d. Sturm u. Drang (1921) S. 22 ff. L. Goldstein M. Mendelssohn u. d. dt. Ästhetik (Teutonia III) 1904. K. May Lessings u. Herders kunsttheoretische Gedanken in ihrem Zusammenhang (Germ. Stud. X X V ) 1923. Aus der weitschichtigen Lessingliteratur sei nur hervorgehoben H. Blümner Lessings Laokoon 1880. J . Leo J. G. Sülzer u. d. Entstehung s. Allg. Theorie d. schön. Künste 1906. K. J . Groß J . G. Sulzers Allg. Theorie d. sch. Künste 1906. K. F. Wize Fr. J. Riedel u. s. Ästhetik. Diss. Leipzig 1907. — Größere Entwicklungsspannen umfassen neben B r a i t maier (s. o.) noch: A. K ö s t e r Von d. Crit. Dichtkunst sur Hambg. Dramaturgie, Volkelt-Festschr. 1918. K. H.

v. Stein Die Entstehung der neueren Ästhetik 1886. R. Sommer Grundzüge einer Geschichte d. dt. Psychologie u. Ästhetik von Wolfj-Baumgarten bis Kant-Schiller 1892. VI. E n d g ü l t i g e Ü b e r w i n d u n g d e r L e h r p o e t i k (Geniezeit). § 24. Die Geniezeit brachte als Revolution des Gefühls ohne retardierende Verstandeshemmungen die große Befreiung auch innerhalb der P . Dieser Einschnitt betrifft nicht nur das 18. J h . , sondern die gesamte vorhergehende Kunsttheorie. E r s t damals stießen Hamann-Herder — weniger weit Gerstenberg, der fast noch den A u f lockerern zugeordnet werden könnte und von A . M. Wagner denn j a auch als Übergangstypus gekennzeichnet worden ist — von der verstandesmäßigen Begriffsdefinition vor zur gefühlsmäßigen, intuitiven Einfühlungstheorie. Wesenhafte Dichtungsdeutung trat an die Stelle normhaftcr Dichtungsbestimmung. Die angemaßte Bedeutung der P . als Lehre der Dichtung, des Dichtens (Anweisung, Vorschrift, Gesetz) wurde nach unzulänglichen früheren Lockerungsversuchen erst jetzt endgültig zu F a l l gebracht im großen befreienden Regelsturm, der dem Bildersturm Lessings als tiefer aufwühlende Befreiungswelle unmittelbar folgte. E i ist f ü r diesen entscheidenden Vorstoß des Gefühlskriteriums v o m Wert und Wesen der Dichtung gegenüber dem überwundenen Verstandeskriterium überaus kennzeichnend und entwicklungsgeschichtlich höchst bedeutsam, daß er v o r allem vom Erfassen der L y r i k her vorgetragen wurde, also von der Gattung, die bis dahin stets das Stiefkind der P . geblieben war. Deshalb ist meines Erachtens in den 'Kritischen Wäldern' Herders, die wohl als einzige wirkliche Kunsttheorie der Geniezeit gelten können, die Kernstellung der Sturm- und Drangpoetik zu suchen, denn von der L y r i k aus suchte dort j a Herder vor allem das starre Gebäude Lessings zu erschüttern. Schon W. Scherer betont nicht mit Unrecht in seiner P. (1888): „ H e r d e r . . . hat durch seine Anregungen vielleicht am meisten eine neue P . vorbereitet" (S. 58), und G. Popp sieht die grundlegende Schwenkung gerade in den 'Kritischen Wäldern' vollzogen. — Näheres über die P. der Geniezeit s. d. Art.

Sturm und Drang.

POETIK R. Unger Hamann u. d. Aufklärung 1911. A. M. W a g n e r H. W. v. Gersienberg u. d. Sturm u. Drang, bes. Band II (1924). D. B l o c h Herder als Ästhetiker. Diss. Würzburg 1895. B. Markwardt Herders Kritische Wälder 1925. E. U t i t z Heinse u. d. Ästhetik d. dt. Aufklärung, eine problemgesch. Studie 1906. W. B r e c h t Heinse u.d.ästhetisihe Immoralismus 1911.vgl.auch unter gleichem Titel R. P e t s c h i n N . Jbb. f. d. klass. Alt. 31 (1913) S. 423ff. Chr. J a n e n t z k y G. A. Bürgers Ästhetik 1909. Weitere Lit. s. Sturm u. Drang. V I I . K l a s s i k . § 25. W ä h r e n d Goethe im v e r e b b e n d e n S t u r m und D r a n g noch ablehnend der reinen F o r m p f l e g e gegenüberstand ( A n h a n g z. Mercierübersetzung 1776), ist ihm beim U m g u ß der 'Iphigenie' ( E i n f l u ß M o r i t z : Prosodie 1786) der Sinn „ e n d l i c h a u f g e g a n g e n " f ü r die Formenharmonie. Die W e r t u n g der F o r m und des Maßes, des E b e n m a ß e s rundender Ges t a l t u n g aber wird eine der H a u p t f o r d e rungen der P . der K l a s s i k . S o lag es nahe, d a ß die Theorie auch der W o r t k u n s t A n lehnung s u c h t e bei der ausgeprägtesten F o r m k u n s t , bei der bildenden K u n s t , im besonderen der P l a s t i k . Mit R e c h t darf S p r a n g e r v o n einem „ P r i m a t der P l a s t i k " in W . v . H u m b o l d t s Ä s t h e t i k sprechen. W . v . H u m b o l d t schlägt denn auch eine neue G r u p p e n b i l d u n g v o r in „ p l a s t i s c h e " und „ l y r i s c h e " Poesie, fordert eine der „ b i l d e n d e n K u n s t n a h e k o m m e n d e " Obj e k t i v i t ä t und übersteigert dieses J d e a l so weit, d a ß er (in einer A b h a n d l u n g über ein D i c h t w e r k ! ) die bildende K u n s t der K u n s t an sich (abstr. Begriff f ü r den künstlerischen U r t y p u s ) näher stehen l ä ß t als die D i c h t k u n s t ( H G S . I I S. 151), weil jene „ r e i n darstellend und s i n n l i c h " sei. K e n n zeichnend ist weiterhin, d a ß K . P h . Moritz sein K e r n a t t r i b u t „ b i l d e n d " z w a r nicht n u r a u f . die bildende K u n s t bezieht, aber d o c h v o n ihr bezieht und auf die W o r t k u n s t ü b e r t r ä g t . Der als symbolisch bet o n t e T i t e l der Goetheschen „ P r o p y l ä e n " s a g t ein übriges, wie denn inhaltlich durcha u s die B i l d k u n s t vorherrscht. D e m entsprechen denn auch die A n f ä n g e . Die ber ü h m t e P r ä g u n g W i n c k e l m a n n s in seinen ' G e d a n k e n über die N a c h a h m u n g . . . ' (1755) v o n der edlen E i n f a l t und stillen Größe in d e n griech. Meisterstücken ( D L D . 20 S. 24, 2 9 u. a.) klingt immer wieder, teils wörtlich, a n bei Goethe, Schiller, dem älteren Herder

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und H u m b o l d t und v e r b a n d sich z. T . mit der anderen Z w e i h e i t des N a i v e n und Erhabenen. Dennoch w u r d e n i c h t in erster Linie W i n c k e l m a n n , sondern K . P h . Moritz der eigentliche Anreger und T r ä g e r der klassischen P . v o r H u m b o l d t . A b e r auch v o r Goethe, auf dessen A n s c h a u u n g e n Moritz richtunggebend einwirkte. Denn der angebliche A n t e i l Goethes an der K o n zeption der Moritzschen Theorie ist problematisch oder darf doch jedenfalls nicht überschätzt werden angesichts der Tatsache, d a ß Moritz schon v o r d e m gemeinsamen R o m - A u f e n t h a l t in seiner A b h a n d l u n g über die 'Vereinigung aller schönen K ü n s t e und Wissenschaften unter d e m Begriff des in sich selbst Vollendeten' (1785) in der Auseinandersetzung mit Mendelssohn die Grundlinien seines H a u p t w e r k e s bereits v o r w e g n a h m . N a c h Moritz ist das K u n s t w e r k völlig zweckbefreit, sein Sinn liegt nicht in irgendwelcher W i r k u n g nach außen ( A b w e h r des Mendelssohnschen „ V e r g n ü gens", mittelbare A b w e h r Lessingscher Wirkungsgesetze), überhaupt in keiner Beziehung nach außen (Zweck, Nutzen), sondern r u h t in sich selbst. Das in sich selbst Vollendete, in sich Gerundete, in sich A b geschlossene ohne alle W e r t - oder Wirkungsbrücken nach außen ist das W e r t v o l l e , w a h r h a f t Künstlerische. Nicht nur das W e r k , schon der Schöpfungsprozeß m u ß frei sein v o n jeder F o r m der E f f e k t s t r e b i g k e i t ; schon die selbstgenießende L u s t a m S c h a f f e n erscheint dieser keusch-kühlen D e u t u n g des Zeugungsvorganges als unreines, genießerisches und daher die objektive K l a r h e i t trübendes E l e m e n t (kühler A b s t a n d des K o n t e m p l a t i v e n ohne individuelle Lusterregung). A l s Leitideen des Moritzschen H a u p t w e r k s ' Ü b e r die bildende (d. i. die gestaltgebend-schöpferische) Nacha h m u n g des Schönen' (1888, D L D . 31 seien hervorgehoben: I. lustfreie A b s i c h t s losigkeit des S c h a f f e n d e n und völlige Zweckfreiheit des Geschaffenen; 2. das „ E d l e " als absoluter Selbstwert (ohne die Beziehung der Moral auf einen Z w e c k , also entsprechend der Vollendung in sich selbst); 3. das W e s e n h a f t - T y p i s c h e ; 4. klare A b grenzung v o n Genialität ( P r o d u k t i v i t ä t ) und ästhetischem G e s c h m a c k (Rezeptivität). B e t o n t sei, d a ß der Verfasser des

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'Anton Reiser' das „bildende" nicht einseitig auf bildende Kunst bezieht, sondern gleichzeitig und nicht weniger auf die Dichtung. So kommt er auch rein thematisch für die P. weit stärker in Betracht als Winckelmann, der übrigens das Mendelssohnsche Vergnügen noch beibehält. Hinsichtlich der Naturnachahmung verlangt Moritz ein Umbilden „unter der Hand des bildenden (gestaltenden) Künstlers". § 26. Zu dieser Anschauung bekehrt sich auch der einst „so steife Realist" Goethe: „Indem der Künstler irgendeinen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an; ja man kann sagen, daß der Künstler ihn in diesem Augenblick erschaffe . . . " (Einl. i. d. Propyläen); ähnlich in dem Gespräch 'Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke' (Propyläen-AufsätzeI798), wo mit der Wendung „übernatürlich, aber nicht außernatürlich" eine Vermittlung gesucht wird. Mit Moritz lehnt Goethe Effektstrebigkeit scharf ab (Ital. Reise, 17. 5. 1787 gegen den Effekt), ebenso die moralische Zweckstrebigkeit, besonders deutlich dort, wo er in seiner 'Nachlese zu Aristoteles* Poetik' (W. 41, 2 S. 247f.) Lessings Katharsis-Interpretation: Reinigung der Leidenschaften verwirft (vgl. auch an Zelter, Juli 1831). Überaus kennzeichnend aber ist es für sein Streben nach harmonischer Ausgeglichenheit, wenn er dort den vieldeutigen und vielgedeuteten (neuerdings als Entladung von den Leidenschaften) Begriff des Aristoteles als „Ausgleichung (!) solcher Leidenschaften" (Furcht und Mitleid) deutet und wünscht, daß „diese aussöhnende Abrundung" allen Dichtwerken eigen sein solle. Ihm war solche ausgleichende Abrundung naturgegeben, und das ruhend in sich selbst Vollendete (Moritz) war ihm persönlicher Besitz geworden. Nicht der Denker Goethe, vielmehr der Mensch mit seinem reifen, in sich geschlossenen Sein hatte damals in Italien offenbar Moritz als Vorbild beeinflußt. In noch höherem Grade gilt das von W. v. Humboldts P., die — ein volles Jahrzehnt nach Moritz' Hauptwerk entstanden — ja nicht zum wenigsten ihre besten Kräfte zieht aus der erlebten, lebendigen Beobachtung Goethes und auch

Schillers beim Schaffen. Wenn Humboldt in seinem ersten (einzigen) Teil der 'Ästhetischen Versuche', der weitschichtigen und zur Kunsttheorie erweiterten Abhandlung 'Über Goethes Hermann und Dorothea' (1798/99), abstrahierte Faktoren wie „Idealität" und „Totalität" oder „Objektivität" zur Kunstdeutung heranzieht, so gab ihm Goethe-Schillersche Kunstübung die Anregung vom Empirischen her. Die Objektivität besonders der Epik trägt gleichfalls starken Ton in der Abhandlung 'Über epische und dramatische Dichtung von Goethe und Schiller' oder in des jungen Fr. Schlegels Arbeit 'Über das Studium der griech. Poesie'. § 27. Schillers dramatische Dynamik und menschliche Ethik konnte sich nur recht schwer und etwas gezwungen (vgl. den bekannten Brief an Humboldt gelegentlich der 'Braut von Messina') abfinden mit dem plastischen Ideal ruhenden Seins und der sittlichen Neutralität, die das Moralische verwarf. Sein Willensidealismus und gesund-theatralischer Instinkt litten unter der Ausschaltung des Wirkenwollens, und so sah Schiller im Kontemplativen der Winckelmannschen Antike die Gefahr erschlaffender Passivität. Es ist interessant, zu beobachten, wie Schiller das eigene aktiv-dynamische Element zu retten suchte in 'Über Anmut und Würde' in der „energischen Schönheit", während doch auch die „schmelzende Schönheit" (als entspannend auflockernd von der Anstrengung) ein Bewegungselement enthält, vor allem aber im Sentimentalischen, im Pathetischen usw. Die Beseelung und Vergeistigung des Objekts vom Subjekt her (Kallias 1793, Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung") suchte und wußte er zu behaupten neben Goethes Belebung des Subjekts vom Naturgegenstand her. Hier zog er Goethe etwas zu sich hin; umgekehrt wirkte Goethe auf ihn zurück. Aber jene Linie des harmonischen Ausgleichs, philosophisch gestützt auf seine frühe Identitätsmethode (vor Schelling), entwicklungsgeschichtlich beeinflußt von Shaftesburys Virtuoso-Ideal, jene Harmonie-Sehnsucht, die Schiller das Ästhetische und Ethische zugleich umspannen ließ ('Briefe über die ästhetische Erziehung

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der Drang zur umfassenden Weite vorgebildet. Die ideale Forderung aber einer „progressiven Universalpoesie" ging noch weit darüber hinaus. Jede klare Scheidung der Künste, nicht nur die zur bildenden Kunst, wurde bewußt als Einengung aufgegeben; denn „die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie O. H a r n a c k Die klassische Ästhetik d. Deutlebendig und gesellig und das Leben und schen 1892. H. S t ö c k e r Zur Kunstanschauung d. 18. Jhs., von Winckelmann bis g. Wackenroder die Gesellschaft poetisch machen . . . " (Palaestra 26) 1904, im Thema unklar. An(Ath.-Frg. 116.) Und neben dem draufsichten üb. Ästhetik u. Literatur von W. v. Humgängerischen Friedrich Schlegel stellt auch boldt, seine Briefe an Chr. G. Körner (1793/1830), der besonnenere A. W. Schlegel in seinen hsg. v. F. J o n a s 1880. E. S p r a n g e r W. v. HumBerliner Vorlesungen fest, daß Poesie boldt und die Humanitätsidee 1909. S. 309 ff. eigentlich in allen Künsten zu finden, daß G. v. S t r y k W. v. Humboldts Ästhetik. 1911 sie das allen Künsten Gemeinsame sei (einseitig). W. B o d e Goethes Ästhetik 1901. (Urtypus wie bei Humboldt die Bildkunst). G. Z i m m e r m a n n Versuch einer Schillerschen Ästhetik. Diss. Leipz. 1889. V. B ä s c h La poéDamit ist schon der Gegenstand, der Stofftique de Schiller 1902. Zu „Naiv. u. sent. Dichtg." kreis der P., eben die Dichtung selbst, in s. d. W. B ö h m Schillers 'Briefe üb. d. ästh. den Grenzen fließend geworden. Das KernErziehung...' 1927, darin ein längerer Überblick stück der Athenäum-Fragmente (Nr. 116) über d. Lit. tu Schillers 'Briefen' S. 139/188.. übersah die Problematik einer festen K . K i n d t Die Poetik von K. Ph. Moritz. Diss.Theorie denn auch keineswegs und half Ausz. Rostock 1924. — Ausland: Ch. F. Weiser sich vorerst kurzerhand mit der revolutioShaftesburys Ästhetik. Diss. Heidelberg 1913. nären Abwehr aller P., denn die romantische G. S t e r n b e r g Shaftesburys Ästhetik. Diss. Breslau 1915. E. G r a h l - S c h u l z e Die AnDichtkunst „kann durch keine Theorie erschauungen d. Frau v. Staël über d. Wesen u. d. schöpft werden. Sie allein ist unendlich, Aufgaben d. Dichtung 1913. — Weitere Lit. vgl. wie sie allein frei ist und das als ihr erstes d. Art. Klassik, dazu neuerdings f. d. klass. WeltGesetz anerkennt, daß die Willkür des anschauung grundlegend: H. A. K o r f f Geist Dichters kein Gesetz über sich leide". Im der Goethezeit II, 1 (1927). Gegensatz zum ruhenden Sein der Klassik VIII. R o m a n t i k bis G e g e n w a r t . § 28. Die Problematik der klassischen oder zum Regelrecht-Fertigen der AufKunsttheorie liegt in ihrer engen und einklärung erhebt man wieder das lebendige seitigen Bindung an die Theorie der bildenWerden der Geniezeit (Herder) zur beden Kunst, deren Forderungen allzu unwußten Forderung: „Grenzenlose Probedenklich auf das wesensfremde Gebiet gressivität" (A. W . Schlegel), „ewiges der Wortkunst übertragen wurden, ohne Werden" (Fr. Schlegel). An die Geniezeit die Möglichkeiten und Notwendigkeiten erinnert auch die Feindschaft gegen das der organisch-dynamischen Sprachkunst System; selbst für die milden 'Herzensgegenüber dem architektonisch-statischen ergießungen' ist „Aberglaube besser als Charakter der Bildkunst genügend zu berücksichtigen. Die Gefahren der romantiSystemglaube". Aber was schon eine beschen P. liegen nicht in solcher Einseitigachtenswerte Modifikation gegenüber der keit, sondern gerade in einer zersplitternden drangvollen, bedingungslosen SchöpferfreiVielseitigkeit der Beziehungen: zur Reliheit und Freude der Geniezeit erkennen gion, Philosophie, Musik, Geschichte, ja läßt: für die Romantik soll nicht nur das Physik (dichterisch gesehen) u. a. Schon Werk, nicht nur die Produktion der Willim Humboldtschen Totalitätsbegriff lag des Menschen' 1795) war doch, ganz abgesehen von Goethe, schon in der eigenen Entwicklung vorbereitet, keimhaft in der Sympathievorstellung des Kosmischen und Menschlichen der Laura-Oden (Leibniz* präst. Harmonie), weiterhin modifiziert in den 'Phil. Briefen von Julius an Raphael'. Im ganzen drängte Schiller über die P. weiter in die Ästhetik und deren Verschmelzung mit der Ethik. Über das vor allem die P. betreffende Hauptwerk (1795) vgl. den Art. 'Naive und sentimentalische Dichtung' ; über Goethes Beiträge zur Theorie der Kurzerzählung siehe Novelle.

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kür unterstehen, sondern schon die Prod u k t i o n s s t i m m u n g . Fr. Schlegel erlaubt nicht nur, er fordert vielmehr, daß der Poet sich nach Themagebiet und Gefühlsbereich jederzeit bewußt, besinnungsvoll, willkürlich umzustellen und umzustimmen vermag (Lyc.-Frg. 55). Hier mündet das rezeptive Stimmungsvirtuosentum ein, das nicht als Mangel, sondern als Stärke vom Kunstwollen der Zeit empfunden wurde. Und die Abwandlung gegenüber derGenie-( I) Zeit wird noch deutlicher, wenn gar nicht mehr das aus dumpfem, übermächtigem Trieb Zeugende als das Wesentliche erscheint, sondern das Geistig-Überlegene, das souveräne „heilige Spiel", wenn die dann vor allem von Moritz so scharf gezogene Linie zwischen Genialität und Geschmack nicht etwa nur verwischt — wie alle Grenzen —, sondern ausdrücklich wieder aufgehoben, ausgelöscht wird. Für A . W. Schlegel ist Genialität nichts weiter als „produktiver Geschmack" (Berliner Vorlesungen) oder als „Geschmack in seiner höchsten Wirksamkeit" (Wiener Vorlesungen). Die These von dem Geschmäckler- und Virtuosentum der Romantik ist durchaus keine bloße kritische Wertungshypothese, sondern weitgehender berechtigt, als die jüngst übliche Deutung der Romantik vielfach wahr haben wollte. Neben dem Gefühlsmäßigen sind kräftige verstandesmäßige Einschläge auch in der P. unverkennbar. Die Gegenwehr des Größten der Zeitgenossen, H. v. Kleists, gegen die Reflexion, die Mittelbarkeit ('Marionettentheater'), oder auch Jean Pauls gegen die „weiblichen", rezeptiven „Genies", die zu zeugen glauben, während sie nur empfangen ('Vorschule der Ästhetik'), deuten rationalistische Einschläge und dadurch verlorene Schöpferkraft hinreichend an. § 29. An kunsttheoretischen Problemen der Romantik seien neben den oben berührten kurz hervorgehoben: das ungeklärte Verhältnis von Bewußtheit und Unbewußtem; die poetische Reflexion (im Sinne der Brechung, Spiegelung und Widerspiegelung) und die romantische Ironie („die freieste aller Lizenzen", spielende Überlegenheit, „erhabene Urbanität", Aufhebung auch noch des Selbstzwecks der

Kunst, das sich über sich selbst und sein Werk Hinwegsetzen und Hinwegdichten, vgl. Lyc.-Frg. 7, 48, 55, 108 u. a.; Ath.-Frg. 51, 1 2 1 , 305, 431 u. a.), weiterhin die sog. „Poesie der Poesie" (eng mit der Ironie verwandt, immer neue Aufgipfelung beim Dichten über die Dichtung), die Transzendentalpoesie, das Religiöse und Mystische, Symbolik und Mythologie, Phantasiefreiheit und Naturnachahmung, das Wunderbare, Mittelalterliche, Orientalische, Volkstümlich-Vaterländische usw. — An Fundstellen seien genannt: Lyceums-Fragmente (in Reichardts 'Lyceum der schönen Künste' 1797 f.) und die vor allem grundlegenden Athenäums-Fragmente (Ath. 1798—1800), davon neben Nr. 1 1 6 besonders Nr. 125, 126, 139, 153, 154, 238, 247, 253 u. a. In Band I I I gehen die Aphorismen, jetzt erst stärker religiös eingestellt, unter dem Titel „ I d e e n " . Im letzten Band d. Ath. verdient das 'Gespräch über die Poesie' Hervorhebung. Eine weitere Etappe in der Entwicklung Fr. Schlegels bezeichnet der 'Brief über den Roman' und der Aufsatz 'Literatur' (in der Zeitschr. 'Europa' 1803/05). Novalis' aphoristische Beiträge zum Ath. sind als 'Blütenstaub' eingestreut; ihm sind von den Ath.-Frg. außerdem zuerkannt worden Nr. 25, 288, 292; nicht zum wenigsten aber ist sein 'Ofterdingen' heranzuziehen. A. W. Schlegel, der durchgehend die Einfälle Friedrichs nach der sprachphilosophischen Seite hin ausbaut und unterbaut, geht bedachtsamer vor, bewegt sich anfangs besonders auf dem Gebiet der Metrik ('Briefe über Poesie, Sylbenmaß und Sprache', dann 'Ein Gespräch über Klopstocks Gespräche' Ath.), knüpft gern an die Sonderkritik an (über 'Hermann und Dorothea', Jenaer Lit.-Ztg. 1797 u.a.). Der Form der Ath.-Frg. entsprechend, steuerte er 'Rhapsodisches' und 'Notizen' bei, holt aber lieber weiter aus wie in den 'Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst' (1801/04), die in ihrem ersten Teil, der 'Kunstlehre' (1801/02) eine ausgesprochene P. enthalten. Die Wiener Vorlesungen sind weniger reich an Kunsttheorie. — A. F . Bernhardis Beiträge in der Zeitschrift 'Kynosarges' (1802) sind kompilatorisch, geben aber eben deshalb einen guten Überblick.

POETIK C h r . D. P f l a u m Die Poetik d. dt. Romantiker 1909. A . B ö g e r Die Anschauungen d. dt. Frühromantik über d. Wesen d. poetischen Gattungen. Diss.-Ausz. Greifswald 1922. B. P i e r t Fr. Schlegels ästhet. Anschauungen, Progr. 1910 (wenig). M. A d a m Schillings Kunstphilosophie 1907. E . H a v e n s t e i n Fr. v. Hardenbergs ästhet. Anschauungen (Palaestra 84) 1909. B . B o l l e Fr. Schlegels Stellung zu Lessing. Diss. Münster 1912. F r . E r n s t Die romantische Ironie. Diss. Zürich 1915. H. v . Z a s t r o w Die Unverständlichkeit der Aphorismen Fr. Schlegels im Athenäum u. Lyceum... Diss. München 1917. J. G r e g o r D. dt. Romantik aus d. Beziehungen v. Musik u. Dichtung 1908/09. P. F. R e i f f Plotin u. d. dt. Romantik, Euph. X I X (1912) S. 591 ff. R . U n ge r Hamann u. d. Romantik, Sauer-Festschr. (1925) S. 202ff. J. B o b e t h Die Zeitschriften d. Romantik 1911. In größerem Zusammenhang: H a y m (1870), H u c h (1899, 1902), J o a c h i m i (1905), W a l z e l ( l 9 o 8 , 1923), T u m a r k i n ( 1 9 2 0 ) , N a d l e r (1921), S t r i c h (1922), M e h l i s (1922), S t e f a n s k y (1923), K l u c k h o h n (1924) u. a., s. Romantik. — Vgl. bes. auch das für die R.Forschung grundlegende 'Verzeichnis...' bei J . P e t e r s e n Die Wesensbestimmung d. dt. Romantik (1926) S. 186 ff. — Nur als Diss.-Ausz. liegt bisher vor: J. G o e t z Fr. Schlegels Theorie v. der romant. Objektivität. Diss. München 1923.

§ 30. Relativ eigene Wege neben Klassik und Romantik suchten Jean Paul und Kleist (vgl. auch Hölderlin). J. P. Fr. Richters 'Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen...' (1804, maßgebend 1813) ist in Wirklichkeit eine Vorsch. d. P., wie die Kritik sogleich herausfand (vgl. die Abwehr Richters in d. Vorr. zur 2. Aufl. § 6), dem Gehalte nach wesentlich durch die Erörterungen über das Lächerliche und den Humor. Gemessen an anderen Werken Richters, steht sie der Romantik verhältnismäßig nahe (vgl. E. Behrend S. 42), doch rückt Jean Paul besonders im Geniebegriff merklich von der Romantik ab, wie er in der hohen Wertung des Inhaltlichen, der Stofferfindung von dem Gestaltkultus der Klassik sich abwendet. Die 'Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule' (1825) ist mehr als satirisch-polemische Skizze und als Zeitkritik angelegt. — Wie Richter das nur Rezeptive der Romantik ablehnte, so verwirft Kleist jede kraftraubende Brechung und Spiegelung, alle mittelbare Besinnung und abschwächende Reflexion. Wenn er von der Musik her tiefe Einsicht in das Wesen seiner Wortkunst zu gewinnen hoffte, so zog ihn vor allem das Dynamische und die AusdrucksM e r k e r - S t a m m l e r , Reallexilcon II.

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unmittelbarkeit an, Kräfte, die er zu Grundfaktoren seiner P. macht. Die Forderung des Dynamischen tritt bereits hervor in dem Aufsatz 'Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden' und verbindet sich vor allem in der Abhandlung über das 'Marionettentheater' mit dem Drängen nach ungebrochener, ursprünglicher Ausdruckskraft, die durch keine Verstandeseinmischung, durch keinen „Sündenfall der Erkenntnis" verfälscht und gelähmt werden darf. (Vgl. auch Briefe an Rühle, Aug. 1806, und die kunsttheoretischen Briefe, IV 145 f.) Die Form will die Forderung der Unmittelbarkeit möglichst zurücktreten sehen; sie darf nie Selbstzweck werden, muß dünne Hülle, reiner, nicht brechender Spiegel sein (Abwehr der Klassik). Im ganzen liegt in Kleists Kunstdeutung ein erster Vorstoß in der Richtung reiner Ausdruckskunst vor ; in seiner Kunstübung zieht er aber als Gegengewicht gegen dieses Expressive stark das Impressive (Realistik) heran. Ihn in seiner P. und Dichtung von Burkes Einfluß so ganz abhängig zu machen (Stefansky), geht doch wohl nicht gut an. Kleist nähert sich erstaunlich weit neueren Auffassungen der P. § 31. Von den Zeitgenossen nicht mit Unrecht geschätzt, wendet sich Fr. Bouterwek (Ästhetik 1806) scharf gegen die Romantik („allerneuste Modemetaphysik, modische Kunstmetaphysiker" usw.) und hält sich, wie er selbst betont (S. 6) an die Richtung Herder-J. Paul. Dabei überwiegt merklich Herder, besonders in der recht beachtlichen Fassung des Geniebegriffs Bouterweks (S. 223f.), aber auch in der Abwehr der bloßen Materialberücksichtigung (artik. Töne) bei der Wesensbestimmung der Dichtkunst (S. 303/304). Die 2. Abteilung bringt eine noch zu wenig beachtete P. (S. 301/436); er betont die Subjektivität der Lyrik und rettet für das Drama die „Handlung der Seele", die innere psychische Handlung, die Lessing wohl berührt, aber nicht ausgebaut hatte. — Die eigenartige Mischung der Einflüsse in J. Görres 'Aphorismen über die Kunst' (als Einleitung der 'Aphorismen über Organomie...') kann hier nicht analysiert werden. Die Unterscheidung von „pro45

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duktiv" und „eduktiv" (S. 27L) geht a u f Schillers „sentimentalisch" und „ n a i v " zurück (S. 37f.); darüber gipfelt Görres als — unklare — Synthese sein „Ideal" auf (S. 29, 39, 63, 68), das die Einheit in die Entzweiung bringen soll. Erwähnt sei die Wendung: „Ein Segment aus seiner inneren Sphäre oder aus der Sphäre außer ihm stellt der Dichter dar im W o r t " (S. 37). — Hegeische Dialektik bestimmt weitgehend K . W. F. Solgers 'Erwin, vier Gespräche über das Schöne und die Kunst' (1815). Auch er sucht den Dualismus zwischen Subjekt (Dichter) und Objekt (Natur) aufzuheben (vgl. Görres „Ideal"), und zwar im Symbol der Sprache, das kein willkürliches Zeichen (Aufklärung) ist, noch weniger eine bloße Vorbildnachahmüng (Abbildtheorie; z. T. bei Herder), sondern die Offenbarung der Idee selbst darstellt. Für den Wortkünstler fällt daher der Gegensatz zwischen Phantasie und Wirklichkeit fort, weil ihm von vornherein die „höchste Idee" (das Allgemeine) immer schon unter einer wirklichen Gestalt (im Besonderen) erscheint" (II S. 43). Das Allgemeine kann und soll die Poesie immer nur im Besonderen darstellen ( I I S . 79/80); dabei soll der Künstler das „Innere der Dinge (Wesen) zum Äußeren (Erscheinung) machen" im Sinne der Wesensoffenbarung (II S. 44). Solgers Darstellung ist recht verschwommen, besonders gewunden beim Drama, wo er merklich in Verlegenheit gerät (II S. 90f.). Hebbel geht z. T. auf Solger zurück. § 32. Wenn Solger zugestand, daß wenigstens Tragödie und Komödie bestimmt seien, den „wahren Gehalt des Lebens auszudrücken", so war das eben nur ein Zugeständnis. Aber schon seit dem beginnenden 19. Jh. regt sich dieses Fühlungsuchen mit der Wirklichkeit, der Gegenwart, dem Leben. Von einer neuen Seite her trat aber zugleich wieder der alte Gegenspieler, der endlich überwundene Zweckbegriff, bedrohlich an die Dichtung heran. Seume hatte bereits 1805 etwaige Vorwürfe gegen die Tendenz abgewehrt mit dem Hinweis, daß jedes gute Buch mehr oder weniger politisch sein müsse. Kleist wollte Werke schaffen, die in die „Mitte der Zeit hineinfallen" (1809)

und sich auch als Künstler in die „Wage der Zeit" werfen. Besonders seit den Befreiungskriegen war man an Tendenz gewöhnt, nur daß sich angesichts der Enttäuschung der Besten die Richtung mehr und mehr nach der liberalen Seite hin verschärfte. Unter dem Druck der Reaktion und Restauration trug man patriotischpolitisches Sehnen hinein in die Dichtung. Das wurde die Grundeinstellung des Jungen Deutschlands (s. d.). Börne appellierte an das staatsbürgerlich-soziale Gewissen des Dichters, mahnte, die Gabe aufzufassen als erzieherische Aufgabe im Dienste der Allgemeinheit. Auch die 'Poeten' (1833) in Laubes Sammlung 'Das junge Europa' weist in dieselbe Richtung. Im gleichen Jahre hielt L. Wienbarg seine schwungvollen Kieler Vorlesungen, die dann als 'Ästhetische Feldzüge' dem jungen Deutschland gewidmet wurden (1834) und als Hauptpoetik der jung-deutschen Gruppe gelten können, wie sie denn auch deren Namen vor allem durch ihren Titelzusatz einbürgerten. Mehr um politisch-gesellschaftskritische Feldzüge als um ästhetische geht es in den ersten und breitesten Teilen dieses vielfach an die Geniezeit erinnernden Buches, das als begeistertes und begeisterndes Manifest von revolutionär-reformatorischem Eifer getragen war. Die kunsttheoretische Besinnung scheint Wienbarg für Deutschland zu früh gekommen zu sein; es hätte besser die „politische Bildung der ästhetischen vorausgehen" sollen. Eine Art aktivistischer Dichtung mit enger Lebens- und Gegenwartsfühlung wird gefordert, das mal. u. oriental. Ideal der Romantik wegen seiner Passivität verpönt. Doch wird die Gefahr nüchterner Leitartikel-Dichtung vermieden durch die starke Gefühlsbetontheit: „Herz und immer wieder Herz muß dringen und klingen aus dt. Rede". Die Begeisterung soll die Brücke schlagen helfen zwischen poetischem Wollen und politischem Wirken: der „handelnde u n d fühlende Mensch" trägt die Poesie in sich, die eine Vermittlerin „aller Gefühle u n d Bestrebungen" (S. 231) darstellt. Sehr warme Töne findet Wienbarg für das Gefühl; aber die „Bestrebungen" dürfen dabei nie zu kurz kommen. Die Lyrik etwa soll das Revo-

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POETIK lutionäre poetisch ausströmen. Aber die Gegenwart und Zukunft gehört der Prosa, die als Waffe im Kampf besonders tauglich erscheint (S. 139), der moderne Prosaist (Heine wird als Vorbild genannt) muß „mitten im Strom der Welt schwimmen". Kennzeichnend ist das Auftauchen der Bezeichnungen „Schriftstellerei" und „ästhetische Prosaisten". Der Kunstschriftsteiler, der den Dichter zu Recht verdrängt, hat nicht schöngeistig zu spielen (Romantik), sondern dem Geist der Zeit zu dienen, der ihm die Hand beim Schreiben lenkt. Bei aller Gefühlsbetonung tauchen, wie stets bei Erneuerung des Zweckprinzips, aufklärerische Ziele zwangsläufig auf: das pädagogische Element, die Ethik bzw. Moral (wenigstens in der Theorie) und das Primat der Prosa (Weise). Von einer Forderung des Realismus kann bei Wienbarg noch keine Rede sein. Der Schärfung der Prosawaffe dient Th. Mündts 'Kunst der dt. Prosa* (1837), wie seine früheren 'Kritischen Wälder' (1833) nicht zufällig einen Titel der Geniezeit aufnehmen (Herders 'K. W.*). § 33- Wenn auch der erwachende Realismus noch hart mit der Nachklassik und der Nachromantik, mit Epigonentum in jeder Form zu ringen hatte: 1853 konnte immerhin schon eine eigene 'Ästhetik des Häßlichen' (K. Rosenkranz) herauskommen, die moderne Beispiele der damaligen Gegenwart (Hebbels und Kleists Novellen) heranzieht, vorerst aber noch das Häßliche als Teilfaktor unter das Patronat des Schönen gestellt sehen will. Die Kompromißlinie zwischen alten Idealen der Vergangenheit und jüngerer Kunstübung wird mehr und mehr erkennbar; die Entwicklung richtet sich bereits langsam ein auf den poetischen Realismus, auch in der P. Gegen die Tendenz wendet sich Fr. Th. Vischers weitschichtige Ästhetik, deren Abteilung 'Dichtkunst' (1857) hier in Betracht kommt; Vischer steht im ganzen dem Idealismus der Klassik gefühlsmäßig näher als dem Realismus, bringt denn auch — anders als Rosenkranz oder Wienbarg — nur ältere Beispiele, versucht aber schon theoretisch beide Strömungen gelten zu lassen. Gern stützt sich Vischer auf Humboldt, Goethe und Schiller; J . Paul wird

ergänzend herangezogen. Konstruktiver Leitgedanke ist die Zweipoligkeit des realistischen und idealistischen Stils. Dieses Einerseits-Anderseits des Ideal-Klassischen und Poetisch-Realistischen durchzieht seine ganze P. (S. 1215, 1234, 1238,1246, 1289, 1250, 1318, 1354, 1406 u.a.). Das Doppelattribut „naturalistisch und individualisierend" (S. 1234) des Realismus zieht er gern zusammen in „charakteristisch" (S. 1215). Vischer zwingt sich merklich zur Objektivität gegenüber diesen „charakteristischen" Bestrebungen; aber seine Sympathie gehört der Klassik. Der Prosaroman kommt schlecht weg; über die Lyrik dagegen bringt Vischer recht Beachtliches (S. 1322 f.). § 34. Wenn man die P. des poetischen Realismus zu erfassen strebt, so ist sie eher bei 0 . Ludwig als bei Fr. Hebbel zu finden. Denn Hebbel weitet die Grenzen seiner theoretischen Besinnung weit über das eigentliche Gebiet der Wortkunsttheorie hinaus ins Weltanschauliche. Doch sei betont, daß neben seinen Beiträgen zur Dramaturgie, wie sie, abgesehen von den Briefen und Tagebüchern, vor allem die Vorrede zu Maria Magdalene und 'Ein Wort... (dann erweitert zu 'Mein Wort) über das Drama* (1843) bieten, nicht weniger seine Theorie der Lyrik Beachtung verdient (vgl. L. Brun). Innerhalb des spezifischen Bereichs der P. aber und hinsichtlich der typischen Ausprägung des poetischen Realismus ist Ludwig aufschlußreicher in seinen weitschichtigen und vielseitigen 'Shakespearestudien' (Nachlaß, entstanden etwa 1850/60; gedruckt erstmalig in M. Heyderichs Nachlaßschriften 1874), deren Gehalt keineswegs im Abschnitt 'Mein Wille und Weg' zusammengezogen worden ist. Die eigentlichen Kerngedanken sind vielmehr in den 'Shakespearestudien' selbst verstreut. 0 . Ludwig verwirft die Extreme: den schönfärbendschwärmerischen, den„subjektiven, falschen Idealismus" einerseits (V S. 76, 278, 323, 522; VI S. iof., 172 u.a.) und den krassen, „naturalistischen Realismus" anderseits (V S. 79, 77; VI S. 10, 19, 21/22, 33 u. a.). Grenzscheidungen des poetischen Realismus werden sowohl gegen den naturalistischen Realismus (besonders V S. 458) als 45*

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POETIK

§ 35. Wie in der Kunstübung (besonders der Lyrik) der Bruch mit dem poetischen Realismus durchaus nicht so radikal vollzogen wird (Moderne Dichtercharaktere, Buch der Zeit), wie die revolutionär-verheißungsvollen Manifeste des Naturalismus (s. d.) vermuten lassen könnten, so auch in der Kunstdeutung. K . Bleibtreu etwa ('Revolution der Literatur' 1885) hält sich noch im Kapitel „Realismus" an die Rechtfertigung, daß gerade durch krasse Wirklichkeitsschilderung die wahren Geheimnisse der Romantik, wie sie in den Erscheinungen ungehoben ruhen, offenbart würden. Noch bedachtsamer, als es Bleibtreus Draufgängertum möglich war, sucht W . Bölsche in seinen 'Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, Prolegomena einer realistischen Ästhetik' (1887) den „besonnenen Realismus" vor dem Mißkredit des Extrems zu bewahren. Aber schon tritt hier der Naturalismus unG. H a s e n k a m p Hölderlins Anschauung vom Beruf d. Dickters. Diss.-Ausz. Münster 1923. verkennbar hervor, von physiologischer F. B e r e n d Jean Pauls Ästhetik (Munckers Psychologie unterbaut; „hier verknoten Forschungen 35) 1909. G. S t e f a n s k y Ein sich Naturwissenschaft und Poesie", nämneuer Weg zu H. v. Kleist, Euph. X X I I I (1921) lich beim „poetischen Experiment". Wie S. 639ff. E. R e i c h Grillparzers Kunstphilosophie 1890. Fr. S t r i c h F. Grillparzers Ästhetik. Diss. in der Aufklärung gilt der Kampf dem München 1905. Fr. J o d l Vom Lebenswege, ges. Aberglauben und vor allem dem MetaVortr. u. Aufsätze (1916) dort: Grillparzers physischen (S. 12, 40, 58, 61, 62, 69 u. a.). Ideen zur Ästhetik. E. Müller Schopenhauers Der Dichter hat sich den neueren ForVerhältnis zur Dichtkunst. Diss. Erlangen 1904. O. W a l z e l Herbart über dichterische Form, schungsergebnissen anzupassen; er hat, ZfÄsth. X (1915). (Solgers Vorlesungen über wie der Wissenschaftler „harte A r b e i t " Ästhetik, hsg. v. H e y s e 1829; Hegels Vorlesunzu verrichten im exakten Wirklichkeitsgen über Ästhetik, hsg. v. Hotho 1832.) H. studium. Dem künstlerischen Geniebegriff S p i t z e r H. Hettners kunstphilos. Anfänge und Literaturästhetik 1913. V. S c h w e i z e r Ludolf weicht Bölsche aus und flüchtet sich in Wienbarg, Beiträge zu einer Jungdeutschen Ästhe- diesem gefährlichen Punkte zu den großen tik 1897. F. G o w a H. Heines Ästhetik. Diss. Entdeckern und Erfindern. Der KrankenAusz. München 1923. Th. P o p p e Fr. Hebbel u. Naturalismus („ Krankenstuben-Poesie") s.Drama, Beiträge zur Poetik (Palaestra 8) 1900. A. S c h e u n e r t D. Pantragismus als System d. indessen wird noch abgelehnt, angesichts Weltanschauung u. Ästhetik Fr. Hebbels (Beieiner merklich aufklärerischen Glückseligträge z. Asth. 8) 1903; ist umstritten. L. B r u n keitslehre. — Die eigentliche ZentralstelHebbel..., dt. Übersetzung Leipzig 1922, dort lung der natural. P. erobert erst Arno über Theorie d. Lyrik im Abschnitt Hebbel als Lyriker S. 155—938(1). K. A d a m s Otto LudHolz in der Abhandlung 'Die Kunst, ihr wigs Theorie d. Dramas. Diss. Greifswald 1912. Wesen und ihre Gesetze' (1891). Die HauptC. A l t Schillers u. 0. Ludwigs ästhet. Grundsätze definition ist bekannt: „Die Kunst hat die (Ludwigs Schiller-Kritik u. a.), Euph. X I I (1905) S. 648ff. (R. S c h m i t t - S o e d e r D. AnschauTendenz, wider die Natur zu sein. Sie wird ungen G. Kellers v. Wesen u. der Aufgabe d. Künst- sie nach Maßgabe ihrer jeweiligen Reprolers 1922.) M. Gump A. Stifters Kunstanschauduktionsbedingungen und deren Handung. Diss.-Ausz. München 1926. — Größere Enthabung". Auch die seit Gottschall (poetiwicklungsspannen umfassen: G. S c h u l t z e Die Poesie im Urteil der dt. Gehaltsästhetik von Schel- scher Realismus, Abwehr des krassen Realing bis Vischer. Diss. Leipzig 1917. Fr. B r i e lismus) und Carriere (Richtung Vischer) Ästhetische Weltanschauung in der Literatur d. einsetzende gelehrt-kritische P. jenseits ig. Jhs. 1921. VgL auch R. R i e m a n n s Lit.» der Dichtung paßt sich deren Umstellung Gesch. (1922*).

auch den subjektiven Idealismus in kritischer Abwehr errichtet (V. S. 459). Die einseitigen Richtungen soll der „künstlerische Realismus" in einer „künstlerischen Mitte" vereinigen. Diese Mitte, dieser Kernbegriff, nach dessen treffender Bezeichnung und Umschreibung Ludwig verschiedentlich sucht, ist nicht eigentlich „poetischer", auch nicht „idealer", sondern ein „ideeller" (vergeistigender, nicht idealisierender) Realismus. Das sog. „Typische", ein anderer Hauptbegriff, würde dabei zu deuten sein als das Ideelle im Besonderen, im Einzelnen. In der (selbstkritischen) Gegenwehr gegen die Reflexion erinnert Ludwig gelegentlich unmittelbar an Kleist (vgl. V S. 52 mit dem 'Marionettentheater'); ist jedoch — aus individuellem Hang heraus — allzu leicht zu Konzessionen geneigt, die Kleist Rigorismus der idealen Ausdrucksforderung verwarf.

POETIK an. W. Scherers P. (Nachlaß 1888), aus Vorlesungen hervorgegangen und von ihm selbst als unzulänglicher Versuch einer historischen Grundlegung empfunden, verrät die Einwirkung materiellen Zeitgeistes, gleitet zudem vom Theoretischen, das Scherer weniger liegt, gern ins Historische hinüber, und zwar in den empirischen Entwicklungsgedanken. Das empfand E. Wolff ganz richtig, als er seine Gruppe „empirische Poetik" durch Scherer vertreten sein ließ. Er suchte den Entwicklungsgedanken selbst konsequenter durchzuführen in den 'Prolegomena d. literar-evolutionistischen Poetik' (1890) und der 'P. Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung' (1899). Wie diese P. für den (Darwinschen) Entwicklungsgedanken, so sind andere für die Stofferweiterung charakteristisch, so etwa Fr. Brentano 'Das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung' (1892) oder K . Bruchmann 'P., Naturlehre der Dichtkunst' (1892). Die zeitlich uns naheliegenden Programme des Neuklassizismus (P. Ernst, W . v . Scholz, Lublinski), des GeorgeKreises (Blätter für die Kunst) des Frühexpressionismus und Aktivismus (K. Hiller, W . Serner u. a.), des gegen den Aktivismus' beachtlich abgestuften Expressionismus (M. Buber, Koffka, Wolfenstein u. a.) haben in jüngster Zeit vielfache und eingehende Darstellung erfahren, besonders bei A. Soergel. Ein Eingehen auf die mit der Literaturwissenschaft besonders seit Scherer aufkommende wissenschaftliche Fachpoetik, die neuerdings vom bloßen Systemwillen und der Rekonstruktion längst bekannten Besitzes (H. Baumgart, eigentliches Lessing-Schiller-Kom.) sich befreit und zur Literaturphilosophie sich ausbaut und vertieft, würde zu einem Forschungsbericht anschwellen. Man könnte von einer psychologisch-induktiven P. sprechen (besonders Müller-Freienfels), von einer ästhetisch-analytischen (Walzel, Ermatinger, Hirt), von einer psychologisch-synthetischen (Richtung Dilthey), von einer historisch unterbauten Wert- und Formlehre (Lehmann). Im größeren Zusammenhang d. Lit.-Gesch. •gl. W a l z e l (1919), R . M. M e y e r u. H. B i e b e r (1920), N a u m a n n (192a, 1924), S t a m m l e r

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(1924, 1926), W i t k o p (1924). K . B o r i n s k i G. d. dt. Lit. II (1921) bringt weniger über P. als sein Interesse für Kunsttheorie erwarten ließe. Dagegen bietet R. R i e m a n n Von Goethe tum Expressionismus (1922) manches, bes. für das 19. Jh. FOr den Naturalismus hat A. v. H a n s t e i n Das jüngste Deutschland (1901) den Vorteil der Erlebnisnähe. Das reichste Material breitet aus auch für die P. (Natur.-Expr.) A . S o e r g e l Dichtung u. Dichter der Zeit (1911, 1928), NF. Im Banne des Expressionismus (1925). — R. M a g n u s Wilh. BSlsche (1909). R. R e ß Arno Holt (1913). W . F i s c h e r Arno Hol• (1924). Das Werk von Arno Höh hsg. v. W. Fischer, Band X (1925): Die moderne Wort• kunst. Neuromantik u. Neuklassik s. d. (im Text). Eine Ste/.-George-Bibliographie stellt zusammen Die schine Lit. Jg. 27 (1926) S. 202 bis 207. W. H e i n s i u s Zur Poetik d. Expressionismus, LE. X X I V (1922), aphoristisch. O. B r a u n Studien £. Express., ZfÄsth. X I I I (1918) S.283f. L. B e r t a l a n f f y Express, u. Klassirismus, ZfÄsth.XVIII(1924). G . J . v . A l l e s c b ü w G r u n d kräfte d. Express., ZfÄsth. X I X (1925). F. B l e i Vom Gedicht, Aktion III (1913) u. a. I. Neuere Poetiken: R. G o t t s c h a l l Poetik, die Dichtkunst und ihre Technik 1858, 1874', darin kurzer Überblick über d. Gesch. d. P. J. M i n c k w i t z Katechismus d. dt. Poetik 1868, dann als Dl. Poetik (1899). K. B e y e r Dt. Poetik 1900* (schwach). H. O e s t e r l e y D. Dichtkunst u. ihre Gattungen 1870. W. W a c k e m a g e l Poetik, Rhetorik, Stilistik, hsg. v. Sieber 1873. (J. M e t h n e r Poesiev. Prosa 1884.) M. C a r r i e r e (nach früheren Arbeiten zusammenfassend): Die Poesie, ihr Wesen und ihre Formen 1884. W. S c h e r e r Poetik (aus dem Nachlaß hsg. v. R. M. Meyer) 1888. H. B a u m g a r t Handbuch der Poetik 1887 (rückschrittlich). E. W o l f f Prolegomena d. literar-evolutionistischen Poetik 1890. Ders. Poetik, die Gesetze d. Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung 1899. Tb. A . M e y e r Das Stilgeseta der Poesie 1901 (wichtiger Versuch, eine spezifische Wort-Kunsttheorie zu begründen). H. R o e t t e k e n Poetik I, 1902, als II: Aus der sperieUen Poetik, Eupb. X X V (1924). R. L e h m a n n Dt. Poetik 1908. D e r s . Poetik 1919 (2. verb. Aufl. d. Vor., Hdb. d. d t Unterr. III, 2). R. M ü l l e r - F r e i e n f e l s Poetik. (A. N. u. G.-W. Bd. 460) 1914, 2. verb. Aufl. 1921. K . B o r i n s k i Dt. Poetik (Göschen) 1916' (dort reiche Lit.-Angaben: S. 7/11, 40/41, 68, 114/15). II. Beiträge z. Literaturphilosophie: W. D i l t h e y Die Einbildungskraft des Dichters 1887 (Philos. Auff. E. Zeller gew.). E . E l s t e r Printipien d. Lit.-Wiss. I 1897. D e r s . Über d. Elemente d. Poesie u. d. Begriff d. Dramatischen. Univ.-Pr. Marburg 1903. O. Behaghel u. a., s. d. Artikel Dichter; ergänzend: J. R e i c k e Das Dichten in psychoL Betrachtung. Diss. Greifs* wald 1915 (vgl. ZfÄsth. X). L. P o l a k Stoff, Gehalt u.Form, Neophüologus IV (1918). J. K ö r ner Erlebnis-Motiv-Stoff, Walzelfestschrift 1924. 0. K a t a n n Asth.-lit. Arbeiten 1918 (darin z . B . IV. Die Frage d. Nachahmung, ein Problem d. Poetik, V. Die Tendenz u. a.). Joh. V o l k e l t

POLENLITERATUR Über d. Nachahmungstheorie, ZfÄsth. V I (1911) S. 497 ff. E. B e r g m a n n D. antike Nachahmungstheorie in d. dt. Ästhetik d. 18. Jhs., Neue Jbb. f. d. klass. Alt. X X V I I (1911) S. 120ff. M. F r i s c h eisen-Köhler Philosophie u. Dichtung, KantStudien X X I (1916). J . Göll Das Wort an sich, Versuch einer neuen Poetik 1921. (Walzel, Ermatinger, Hirt, Winkler u. a., s. Dichter.) R. H a r t l Versuch einer psych. Grundlegung d. Dichtungsgattungen 1924. — Über die Gattungen vgl. Drama (Theorie), Lyrik (Theorie), Epos (s. Nachtrag). III. Für den Gesamtartikel: G. S a i n t s b u r y A history of criticism and literary taste in Europe 1905/068, 19083. K. Borinski Die Antike in Poetik u. Kunsttheorie, vom Ausgang d. klass. Altertums bis auf Goethe u. IV. v. Humboldt-, I. Mittelalter, Renaissance, Barock (1914); II. aus d. Nachlaß hsg. v. R. Newald (1924) in: Das Erbe der Alten I X u. X . L e m p i c k i I. — LitAng. finden sich weiterhin (für die älter. Zeit) bes. in Sulzers Allg. Theorie d. schön. Künste.., mit den Lit. Zusätzen von Fr. v. B l a n k e n b u r g (l786f.). T o n y Kellen Die Dichtkunst 1912. K. Borinski Dt. Poetik 1916 (s. o.). B. Markwardt.

Polenliteratur. Zu der im weiteren Sinne selbstverständlichen Bedeutung des Wortes (irgendwie auf Polen und die Polen sich beziehendes Schrifttum) tritt eine spezielle: der literarische, zumal poetische und insbesondere lyrische Ausdruck dt. Sympathien mit dem durch die Teilungen (1772, 1793, 1795) zerrissenen, dann im 19. Jh. gegen russ. Tyrannei ankämpfenden poln. Volk. In der älteren P., die bis zum Ausbruch (29. Nov. 1830) des großen Aufstandes im sog. Kongreßpolen reicht, herrscht die politische oder wissenschaftliche Diskussion poln. Angelegenheiten, überhaupt die Prosa vor; Grenzländer wie Preußen und Schlesien, dt. Kulturstätten innerhalb der erlauchten Republik, wie Danzig und Thorn, spielen da, sei es als Nährboden, sei es als Gegenstand der P., eine große Rolle, und die nominelle Herrschaft sächs. Fürsten (1697—1763 und wiederum 1807 bis 1812) schafft zahlreiche Berührungspunkte oder Reibungsflächen der beiden Nationen und damit immer erneute Voraussetzungen für eine P. Wenn die Aufklärung, als deren literarische Stimmführer hier Friedrich d. Große und Seume gelten mögen, den Polen im allg. ironisch oder ablehnend gegenübersteht, führt ihnen die Frz. Revolution, dann ihre eigene Erhebung von 1794 und die edle Gestalt Koäciuszkos die Sympathie eines Großteils der jüngeren

Generation zu, und der nunmehr einsetzenden Romantik, die ja ohnehin den Deutschen die slawische Welt entdeckt und erschließt, sind sie nicht bloß das geknechtete und zerrissene, sondern auch ein ritterliches, katholisches, der unverbildeten Natur nahestehendes Volk und darum anziehend. In Zacharias Werners Lyrik und Dramatik fließt alles dies zusammen, und der KoÄciüszko-Kultus zeitigt noch nach dem Tode (1817) seines Helden in Holteis Liederspiel 'Der alte Feldherr' (Uraufführung 1825 Berlin) die sich lange als dt. Volkslieder behauptenden Gedichte 'Fordre niemand, mein Schicksal zu hören' und 'Denkst du daran, mein tapferer Lagienka?'. — Wahrhaft uferlos aber, wie in allen Kulturländern außer Rußland, wird unsere P. während der unglücklichen Insurrektion von 1830—31 und erst recht nach ihr, als poln. Flüchtlinge einen großen Teil Deutschlands überfluten, die poln. Frage tief in die Politik der dt. Kabinette eingreift und der dt. Liberalismus die poln. Sache zur seinen macht. Jetzt erst erlangen jene harmlos-sentimentalen Lieder Holteis eine von ihrem Autor weder gewünschte noch erträumte politische Resonanz, gleich dem aktuellen 'Zu Warschau schwuren tausend auf den Knien' von Julius Mosen (1831); und fast in der gesamten Lyrik jener Zeit, von Uhland, Grillparzer, Platen, Auersperg, G. Pfizer, Freiligrath, Hebbel abwärts, hallt der „Polenschmerz" wider, während der Tendenzroman und das geistesverwandte Drama (man denke etwa an Laube und Ludwig) die malerischen Gestalten und Situationen des poln. Befreiungskrieges nicht eben selten verwerten. Aber schon im 5. Jhz. des Jhs. werden Polenschwärmerei und P. durch die eigenen Angelegenheiten der Deutschen zurückgedrängt, und das J . 1848 bringt die nationalen Interessen hüben und drüben (genau so wie zwischen Deutschen und Tschechen) in zu heftigen Widerspruch, als daß fürderhin deutscherseits die Verherrlichung slaw. Vergangenheit und Gegenwart hätte fortgesetzt werden können. Der alte Arndt, Freytag (dessen Jugendlyrik noch für Polen geschwärmt hatte), W.Jordan und andere Politiker und Dichter machen der dt. P. im engeren Sinn

POLITISCHE DICHTUNG ein Ende. Natürlich gibt es vereinzelte Nachzügler, auch noch während einer Konjunktur des Weltkrieges. — Für die Literaturgeschichte kommt die P. als ein interessantes Stadium unserer politischen Dichtung in Betracht; formal und stilistisch hat sie nichts Eigenes zu bieten und steht somit hinter dem literarischen Philhellenismus (s. d.) zurück. Ihr künstlerisch wertvollstes Ergebnis sind die Polenlieder Platens.

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einer fremden Macht, sondern auch um die Auseinandersetzung zwischen innerpolitischen Mächtegruppen; die innerpolitisch revolutionären Bestrebungen der jungdt. Zeit sind gleichzeitig z. T. von starken nationalen Impulsen getragen usw. Wie im MA. und in der Reformationszeit religiöse Gesichtspunkte die Stellungnahme des politischen Dichters entscheidend bestimmten, so sind in neuerer Zeit soziale Motive in steigendem Maße wirksam geworden. R . F. A r n o l d Geschichte der dt. P. I (1900) § 2. Bezugnahme auf zeitgeschichtliche (reicht von den Anfängen bis 1800). D e r s . T. KoSciüssko in der dt. Literatur 1898. D e r s . Ereignisse findet sich in der dt. Dichtung Holtet und der dt. Polenkultus, Forschungen zur von Anfang an: in der alten Heldensage, neueren Literaturgeschichte. Festgabe für R . einzelnen geschichtlichen Liedern, bei den Heinzel 1898. B . T i m m Die Polen in den Spielleuten und Vaganten. Aber von einer Liedern dt. Dichter 1907. H. D e l b r ü c k Dt. Polenlieder 1917. J. M ü l l e r Die Polen in wirklich politischen Stellungnahme ist noch der öffentlichen Meinung Deutschlands 1830—32 kaum die Rede; die große Einzelpersönlich1923. — Bibliographie: H. P r a e s e n t Bibliographischer Leitfaden für Polen 1917. P . R e i c h e keit und ihre Verherrlichung stehen durchDt. Bücher über Polen 1917. W . R e c k e und aus im Vordergründe. Der erste politische A . M. W a g n e r Bücherkunde zur Geschichte und Dichter großen Stils in unserer Literatur Literatur des Königreichs Polen 1918. ist Waither von der Vogelweidc. Seine temR . F . Arnold. peramentvolle politische Spruchdichtung Politische Dichtung. § 1. Der Begriff .(s. d.) begleitet die Thronfolgestreitigkeiten zwischen dem weifischen und dem staufider p. D. umfaßt im weiteren Sinne alle schen Hause; drei dt. Herrschern, Philipp poetischen Erzeugnisse, welche irgendeinen von Schwaben, Otto IV. und Friedrich II., Wandel der öffentlichen Verhältnisse vorhat er nacheinander seine poetische Unterbereitend heraufführen helfen bzw. ihn stützung geliehen. Gewiß ist seine Parteizustimmend oder feindlich begleiten. Wir nahme, wie er mit naiver Offenheit zugibt, schalten jedoch hier alle jene Dichtung aus, und was damals auch kaum als anrüchig die als Ausdruck des nationalen Geltungsempfunden wurde, stark von der Rückund Machtwillens die realen und geistigen sicht auf seinen materiellen Vorteil mitKräfte des eigenen Staates oder Volkstums bestimmt, aber eine feste Linie ist in seinem nach außen hin zu wecken und zusammenzufassen sucht, sei es gegen einen politi- Verhalten doch zu verfolgen: die Stärkung der kaiserlichen Macht nicht nur gegen schen Gegner oder auch nur gegen eine innere Widersacher, sondern vor allem Geringwertung dt. Geistes und dt. Kultur, auch gegen den Papst, dessen weltliche und weisen sie dem Begriffe der „vaterHerrschaftsbestrebungen und dessen Einländischen Dichtung" (s. d.) zu. Unter p. D. im engeren Sinne sei somit der Anteil mischung in innerdt. Angelegenheiten er der Dichtung an den Kämpfen innerpoliti- aufs schärfste bekämpft. Das bedeutet indes keineswegs religiöse Gegnerschaft scher Kräfte um eine neue Ordnung der oder ein Bestreiten der geistlichen Autoriinnerstaatlichen Machtverhältnisse vertät des päpstlichen Stuhles. Walthers standen, also um die Staatsform, um den größeren oder geringeren Einfluß einzelner letzte politische Sprüche fallen ins J. 1227. Stände, um den Ausgleich drückender sozia- Während er auch dem gebannten Friedrich II. die Treue hielt und für seine Kreuzler Unterschiede usw. Die Grenze gegen die vaterländische Dichtung wird dabei zugsunternehmungen warb, hat Reinmar vielfach im Flusse bleiben müssen: so von Zweter, sonst gleichfalls ein Vorkämphandelt es sich bei den Kämpfen zwischen fer des Kaisertums, sich von dem Gebannten zeitweilig als von einem Ketzer abKaisertum und Papsttum im MA. nicht nur um die Zurückweisung der Ansprüche gewendet. Reinmar wie auch der Marner

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POLITISCHE DICHTUNG

bekämpfen ebenfalls die weltliche Politik des Papstes und ihre Parteigänger im Rciche, die Ritterorden und Bettelmönche. Der Niedergang der öffentlichen Ordnung, besonders seit dem Interregnum, spiegelt sich in der Dichtung vielfach wider, gern in satirischer Form. Das Fastnachtspiel (s. d.), als Sprachrohr des Bürgertums, kritisiert das Fehdewesen und die dadurch hervorgerufene ständige Unsicherheit; mit bitterer Ironie läßt es den nach Deutschland gekommenen Sultan den Verhältnissen seines Reiches vor den verworrenen dt. den Vorzug geben. Geschichtliche Volkslieder (s. d.) berichten in sachlich trockenem Erzählerton von den Wirren und Kämpfen zwischen Fürsten, Rittern und Städten. § 3. Die Kämpfe zwischen Kaisertum und Papsttum waren noch im wesentlichen weltlich-politischer Natur gewesen, mochten auch seitens des Papstes die geistlichen Machtmittel gegen den Widersacher in Anwendung gebracht werden. Beide Gegner standen auf positiv kirchlichem Boden; der freigeistige Friedrich II. war die erste, Ausnahme. Seit Hus aber wird die religiöse Überzeugung Anlaß auch politischer Streitigkeiten. Und zugleich tritt jetzt das soziale Moment nachdrücklich in den Vordergrund. Hatte die Forderung sozialen Ausgleichs im Sinne der Evangelien schon bei älteren Sektenbildungen eine große Rolle gespielt, so bildet sie in der Lehre des Hus einen wesentlichen Programmpunkt und fehlt auch in der reformatorischen Bewegung nicht. Die wichtigste Sozialrevolutionäre Erhebung der Zeit, der große Bauernaufstand von 1524—25, hat freilich in der zeitgenössischen Dichtung kaum einen Nachhall gefunden. Die Leiden der ostdt. Grenzgebiete durch die Einfälle der räuberischen Hussiten schildert noch 1520 der schles. Humanist Corvinus in dem Epos 'Bohemia'. Wie im 16. Jh. die religiösen Gegensätze zu politischen Kämpfen führten und oft politischen Machtbestrebungen zum Vorwande dienen mußten, so kommt auch der reichen Publizistik der Reformationszeit nicht nur religiöse, sondern auch politische Bedeutung zu. Das gilt denn auch von den Sendschreiben Luthers, ganz besonders aber von den Klag- und Mahnschriften Ulrichs v . Hutten. Sein Streben

geht nicht nur auf die Befreiung Deutschlands von dem Einflüsse Roms, er erwartet auch von einem Bündnis des Ritteradels, als dessen Sprecher er sich fühlt, und in dem er den eigentlichen Kern der Nation sieht, mit der Bürgerschaft die Überwindung der dem Adel lästigen Machtstellung der weltlichen Fürsten und besteht auf der Ausübung des ritterlichen Fehderechts. Hans Sachs, der Vertreter des Bürgertums, mahnt zwar zum christlichen Sichabfinden mit den Unterschieden des Standes und Vermögens, tritt aber zugleich gegen die reichen Kaufleute auf, die den armen Lohnarbeiter wirtschaftlich ausnutzen. § 4. Mit dem Dreißigjährigen Kriege beginnt die p. D. stark zurückzutreten. Noch wenige Jahre vor Kriegsausbruch haben wir des kurbrandenburg. Rates Abraham von Dohna ergötzliche 'Historische Reimen von dem ungereimten Reichstage Anno 1613', die vom evangelischen Standpunkte aus die ergebnislosen Verhandlungen über die Wahl Ferdinands von Steiermark zum röm. König und das gegenseitige Mißtrauen verspotten und die katholischspan. Gegenpartei sehr boshaft behandeln. Aber die mit Opitz einsetzende neue humanistische Bildungsrichtung in dt. Sprache hält sich den Nöten und Sorgen des Tages vornehm fern. Opitzens 'Trostgedicht in Widerwärtigkeit des Krieges' ist eine allgemein philosophische Betrachtung, aber kein lebendiges Bild der Zeitverhältnisse. In den Volksszenen manches volkstümlicheren Dramas enthüllt sich freilich ein erschütterndes Bild des durch den Krieg hervorgerufenen Elends und der Leiden der drangsalierten und ausgesogenen Bevölkerung. Rist gibt in seinem allegorischen Spiele 'Das Friede wünschende Teutschland* den von Merkur auf die Erde geführten alten Recken nur ein Bild des Verfalls zu schauen. Den ersehnten Westfälischen Frieden begrüßte er 1653 mit seinem 'Friede jauchzenden Teutschland*. Nach dem Kriege setzt die p. D. ganz aus, wenn auch zeitgenössische Persönlichkeiten und Ereignisse des öfteren behandelt werden: Wallenstein (Rist), Maria Stuart, die Ermordung Karl Stuarts (Gryphius). Im absolutistischen Zeitalter ist das Volk von

POLITISCHE DICHTUNG der Teilnahme am politischen Leben völlig ausgeschaltet. Wo in der Dichtung auf politische Vorgänge der Zeit Bezug genommen wird, geschieht es nur zur Verherrlichung des Kaisers oder anderer Fürsten. § 5. In der ersten Hälfte des 18. Jhs. ändert sich hierin nichts. Die Literatur bleibt völlig unpolitisch. Soziale Unzufriedenheit lebt sich in bescheidener, vorsichtiger, allgemein gehaltener Ständesatire aus. Wo die Übernahme eines antiken Stoffes zur Verherrlichung eines republikanischen Freiheitshelden führt (Gottscheds 'Sterbender Cato*), bleibt man in rein akademischer Sphäre und hält sich von jeder politisch-tendenziösen Bezugnahme auf die Verhältnisse des eigenen Landes fern. § 6. Mit dem Einsetzen der Sturm- und Drangbewegung kommen in der dt. Dichtung wieder politische und soziale Forderungen zur Sprache, wenn auch zunächst nur rein gefühlsmäßig und ohne weitere praktische Auswirkung. Die Gedankenwelt Rousseaus, seine individualistische Kampfstellung gegen die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung, seine Lehre von der Souveränität des Volkes wirken nach Deutschland herüber. Ein neuer empörerischer und aufständischer Ton erklingt, gerichtet gegen den Absolutismus und den Mißbrauch seiner unumschränkten Herrschergewalt, gegen die Unnatur des gesellschaftlichen Kastenwesens. Bei den Göttingern regt es sich zuerst: Friedrich Leopold Graf Stolberg lechzt in jugendlich überschäumender Leidenschaft nach dem Blute der Tyrannen und schwärmt in einem begeisterten 'Freiheitsgesang aus dem 20. Jh.* von einer schöneren Zukunft; Voß, selbst der Enkel eines Leibeigenen, gibt in seinen Idyllen düstere Bilder unmenschlicher Behandlung mecklenburg. höriger Bauern durch den Gutsherrn. Geradezu revolutionäre Töne aber schlagen Bürger und Schubart an: jener, wenn er gegen die „Fürsten- und Adelsbrut" und das „Geschmeiß der Pfaffen" beim Aufgebote der dt. Reichsfürsten gegen die frz. Revolutionsheere den Vorwurf erhebt, daß sie den nationalen Gedanken nur als Vorwand benutzten zur Sicherung der Vormacht«

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Stellung ihrer Klasse; dieser, wenn er in der 'Fürstengruft' zornglühend den entarteten Fürsten ihre Verbrechen gegen die Menschheit vor Augen hält, im 'Kapliede' den gewissenlosen Menschenhandel einzelner dt. Fürsten geißelt, den auch Schiller in der Kammerdienerszene von 'Kabale und Liebe' scharf gebrandmarkt hat. Im Drama der Geniezeit vertreten vor allem Lenz ('Die Soldaten'), Wagner und Klinger revolutionäre Tendenzen; aber auch Goethes 'Götz von Berlichingen', der sich mit dem Selbstgefühl des freien Ritters gegen die Gerichtsbarkeit der Fürsten und Städte auflehnt und kein Fürstenknecht sein mag, gibt verwandtem Geiste Ausdruck. Besonders leidenschaftlich richtet sich die Anklage gegen die Grausamkeit damaliger Gesetzgebung, die im Falle des Kindesmords über die gegen die Frucht ihres Fehltritts schuldig gewordenen Opfer gewissenloser Verführung die Todesstrafe verhängte, die vornehmen Verführer aber frei ausgehen ließ. Goethes 'Faust' und Wagners 'Kindermörderin* sind die bekanntesten Werke dieser Richtung. Durchaus von revolutionärem Geiste erfüllt sind Schillers Jugenddramen. 'Die Räuber* sind eine wilde Kampfansage an die bestehende vermorschte staatliche, kirchliche und gesellschaftliche Ordnung, 'Fiesco* eine Verherrlichung des republikanischen Gedankens, 'Kabale und Liebe' verficht das Recht des Herzens und der Persönlichkeit gegen die Unnatur der geltenden Klassenvorurteile. Ein typisches Übergangsstück ist 'Don Carlos': nicht mehr von stürmischer Neuerung, sondern von zunehmender geistiger Reife der Menschheit wird die Erfüllung der weltbürgerlichen und Freiheitshoffnungen erwartet. § 7. Der Ausbruch der Französischen Revolution konnte unter solchen Umständen nicht ohne starken Eindruck auf das geistige Deutschland bleiben, wenn er auch nur in einigen Grenzlanden unmittelbare politische Folgen zeitigte. Freilich weckte die Revolution zumeist nur einen Rausch unklarer Begeisterung, dem schnell genug die Ernüchterung folgte. Wieland war der einzige unserer Klassiker, der, in den Aufsätzen seines 'Teutschen Merkur', für das weltpolitische Geschehen nicht nur leb-

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hafte Teilnahme, sondern auch Verständnis und politischen Blick zeigte. Klopstock nahm in seiner Odendichtung den Anbruch des vermeinten Freiheitsmorgens zunächst mit Jubel auf und beneidete die Franzosen, daß sie als erste mit der Verwirklichung wahren Menschentums Ernst gemacht ('Die États Généraux 1788', 'Der Fürst und sein Kebsweib', 'Kennet euch selbst', 'Sie und nicht wir'), widerrief aber auf die Kunde von den Pariser Bluttaten recht bald ('Mein Irrtum'). Schiller, der sich inzwischen völlig gewandelt hatte, nahm bereits die ersten Nachrichten von der Revolution mit großer Zurückhaltung auf; nach der Ermordung des Königs, für den er in einer eigenen Denkschrift einzutreten geplant hatte, wandte er sich voll Ekel von den „elenden Schinderknechten" ab. Wiederholt wies er auf das Unheil hin, das aus der Entfesselung der Instinkte und Leidenschaften der zügellosen Menge entspringt ('Spaziergang', 'Lied von der Glocke'). Den eifrigen Parteigänger der Revolution in Deutschland, Joh. Fr. Reichardt, traf in den 'Xenien' schärfster Tadel. Goethe, der Hofmann und Minister, verharrt von Anfang an in vornehm aristokratischer Ablehnung der revolutionären Bestrebungen. Wohl ist er sich darüber klar, daß bei allen Revolutionen die letzte Schuld immer die Regierenden treffe, die durch Mißbrauch ihrer Macht, Überschreitung der Schranken von Sitte und Gesetz, durch verkehrte Regierungsmaßnahmen die Unzufriedenheit im Volke groß werden ließen ('Venezianische Epigramme', 'Reise der Söhne Megaprazons', Gespräche mit Eckermann). Aber er ist auch von der Überzeugung durchdrungen, daß die Masse nicht imstande sei, sich selbst zu regieren, und sein ganzer Widerwille gilt den demagogischen Aufwieglern, die, selbst entweder verblendete Schwärmer oder auf ihren eigenen Vorteil bedachte Schelme, die unzufriedene Menge zu empörenden Gewalttätigkeiten aufreizen. Schon das Lustspiel 'Der Großkophta' (1791) hatte eine Schilderung der angefaulten Zustände bei den herrschenden Klassen zu geben unternommen, die notwendigerweise zum Zusammenbruche führen mußten. Die unter dem unmittelbaren Eindrucke der Ereignisse in Frankreich ge-

schriebenen Stücke ('Der Bürgergeneral', 'Die Aufgeregten') nehmen das Revolutionsproblem jedoch viel zu leicht und begnügen sich mit billiger Verspottung untergeordneter Führertypen aus dem Sehwinkel des durch die rebellische Menge angewiderten Aristokraten. 'Das Mädchen von Oberkirch', das nach dem Plane dem Ernste der Lage verständnisvoller gerecht zu werden versprach, blieb unausgeführt. Allmählich wird seine Stellungnahme objektiver: in den 'Unterhaltungen dt. Ausgewanderten' läßt er die gegensätzlichen Ansichten sich miteinander in sachlicher Diskussion messen, ohne seine eigene Neigung für die alte Ordnung zu verleugnen; in seiner Bearbeitung des 'Reineke Fuchs' wird ihm zwar die Tierwelt mit ihrem ungescheuten Hervortreten selbstsüchtiger Instinkte zum Gleichnis der politischen Gegenwart, und er fügt eine Rede des Fuchses gegen „den Dünkel des irrigen Wahns" ein, aber das Ganze wird doch von überlegener Ironie beherrscht. 'Hermann und Dorothea* endlich, obwohl auch hier düstere Bilder der Auflösung und Zerstörung der bestehenden Ordnung entrollt werden, kennt doch, in der Gestalt des gefallenen Bräutigams der Heldin, den edelgesinnten, für das Ideal sein Leben einsetzenden Vorkämpfer der Revolution. Goethes Plan, aus der Rückschau das weltgeschichtliche Ereignis der Revolution in seinen Ursachen und Folgen im Rahmen einer dramatischen Trilogie dichterisch zu gestalten, kam nicht zur Vollendung; das einzig fertiggestellte erste Stück, 'Die natürliche Tochter' (1803), ist nur Vorspiel zum eigentlichen Thema. Bei allem Abscheu gegen gewaltsame Neuerung ist Goethe keineswegs reaktionär: mit durch seinen Einfluß erhält Weimar 1816 als erster dt. Staat eine Verfassung, und die 'Wanderjahre' bekunden noch des Greises teilnehmendes Verständnis für die fortschreitende Umgestaltung der sozialen Verhältnisse. § 8. Hatte schon die Pariser Schreckensherrschaft der Revolutionsbegeisterung in Deutschland entscheidenden Abbruch getan, so schlug unter dem Eindruck der Napoleonischen Gewaltpolitik, unter der Deutschland vor allem zu leiden hatte,

POLITISCHE DICHTUNG die öffentliche Stimmung vollständig um. Die nationale Begeisterung und die Sehnsucht nach Befreiung von der Herrschaft des Korsen ließen alle innerpolitischen Gegensätze zurücktreten. Allerdings faßte die dt. Öffentlichkeit den Befreiungskampf ausgesprochenermaßen als Volkskrieg auf und erwartete von seinem siegreichen Ausgange zugleich eine Erfüllung der berechtigten Wünsche des Volkes. Als diese ausblieb, war bittere Enttäuschung die Folge. Doch fanden die herrschenden Mächte wichtige Unterstützung in der Ideologie der Romantik. Der frühromant. Kreis war zu klarer politischer Begriffsbildung überhaupt nicht gekommen. Friedrich Schlegel schrieb zwar einen gefühlsmäßiger Begeisterung für die Revolution entsprungenen, Kantische Gedanken weiterspinnenden 'Versuch über den Republikanismus', änderte aber unter dem Einfluß der Lektüre des Revolutionsgegners Burke seine Ansichten recht bald; Novalis wußte eine phantastische Revolutionsschwärmerei mit überschwenglicher Verherrlichung des monarchischen Gedankens zu vereinen; A. W. Schlegel lehnte die Revolution von vornherein schroff ab. Die Hinwendung zum dt. MA. und die Forderung einer dt. Renaissance zur Heilung der Schäden der Zeit führt die Romantik dann bald zur weitestgehenden Anerkennung des historisch Gewordenen und damit auch der ständischen Tradition. Der Berliner Kreis der „Christlich-deutschen Tischgesellschaft" (Kleist, Adam Müller, Arnim, Brentano, Savigny), als dessen Sprachrohr die von Kleist herausgegebenen 'Berliner Abendblätter' gelten können, wird ein Sammelpunkt der Opposition des Feudaladels gegen die liberale Politik Hardenbergs. Nach den Befreiungskriegen sind Adam Müller und Fr. Schlegel in Wien die schriftstellerischen Hauptstützen der Restaurationspolitik Metternichs. Im Anschluß an die gegenrevolutionäre Ideenwelt der Burke, Bonald, de Maistre suchen sie den alten Feudalstaat geschichtsphilosophisch zu begründen und brandmarken jede gewaltsame Erhebung gegen den legitimistischen Absolutismus als Unrecht. Ihr tatsächlicher Einfluß auf die Politik Metternichs ist gering; sie spielen wohl eine gewisse Rolle infolge der Gönner-

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schaft des einflußreichen Gentz, doch bedient sich Metternich ihrer nur als Werkzeuge und läßt sie fallen, wo sie, wie Fr. Schlegel in kirchenpolitischen Fragen, von seinem Kurs abweichen. Aber sie liefern den gedanklichen Untergrund für die konservative Politik der Folgezeit. § 9. Die national-demokratische Opposition gegen die Politik der Restaurationsepoche wird zunächst hauptsächlich von den Kreisen der Burschenschaft getragen. Das Wartburgfest und die Ermordung Kotzebues durch den Jenaer Burschenschafter Sand 1819 geben den Regierungen erwünschten Vorwand zur rücksichtslosen Verfolgung und Unterdrückung der Bewegung. Auch die geistigen Anreger, Arndt und Jahn, werden davon betroffen, Jahn sogar gefangengesetzt. Binzers „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus" ist Ausdruck der entmutigten Stimmung. Allerdings fehlte es nicht an sehr radikalen Elementen (Harro Harring, die Brüder Folien). Die gewaltsam unterdrückte Sehnsucht nach einer freiheitlichen Entwicklung der innerdt. Verhältnisse führt zu leidenschaftlicher Teilnahme dt. Dichter an dem Freiheitskampfe unterdrückter fremder Völker. Mit dem Ausbruche des griech. Freiheitskrieges 1818 setzt die Griechenlyrik (s. d. Art. Philhellenismus) ein (Wilhelm Müllers 'Lieder der Griechen', Chamisso, Ludwig I. von Bayern, Waiblinger, Pfizer, Stieglitz, Schwab), die Erhebung der Polen 1830 hat, unter schwerster Verkennung des eigenen dt. politischen Vorteils, eine umfangreiche Polendichtung (s. d.) zur Folge (Platen, Heine, Grün, Freiligrath, Lenau, Mosen, Holtei). Auch die jetzt einsetzende Verherrlichung Napoleons (Gaudys 'Kaiserlieder', Heine, Zedlitz; Chamisso und Gaudy übersetzen die Lieder B^rangers) ist als Zeichen des durch die Reaktion hervorgerufenen Stimmungsumschwunges beachtenswert. Von überlegenem Standpunkt jenseits alles Parteifanatismus geißelt Chamisso in gleicher Weise die Torheiten der zopfigen Reaktion wie des unklaren revolutionären Demagogentums ('Tragische Geschichte', 'Kleidermacherwut'). Während der süddt. Demokrat Uhland in Dichtung und politischem Wirken eine ausgesprochen vater-

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ländische Gesinnung zeigt und in seinem Zurückgreifen auf mal. Verhältnisse der Romantik noch nahesteht (sein Eintreten für das alte Recht und die Landstände, Verherrlichung des Rittertums in seiner Dichtung), weist die jungdt. Bewegung (Näheres s. unter Junges Deutschland), die etwa seit 1830 einsetzt, ein mehr weitbürgerliches Gepräge auf, mit starker Hinneigung zu Frankreich, das seit der Julirevolution wieder einmal den Deutschen als Vorbild eines freiheitlich gesinnten Landes galt. Das jungdt. Schrifttum steht ausnahmslos im Dienste der Tendenz; die Dichtung ist den Jungdeutschen vor allem Sprachrohr revolutionärer politischer, sozialer und ethischer Ideengänge. Eine Kritik Menzels über Gutzkows 'Wally* gibt den Machthabern die ersehnte Handhabe zum Verbot der jungdt. Schriften 1834 und zum Vorgehen mit schärfsten Polizeimaßregeln und Freiheitsstrafen. Außer den in dem Bundestagsbeschluß namentlich genannten Schriftstellern Heine, Laube, Gutzkow, Wienbarg und Mündt ist vor allem Ludwig Börne mit seinen 'Briefen aus Paris' als leidenschaftlicher und einflußreicher Vorkämpfer einer allgemeinen Revolution anzuführen. Während Laube und Gutzkow in dickleibigen Romanen mit umständlicher Gründlichkeit ihre Ideen entwickelten, verstand Heine, die weitaus reichste dichterische Begabung des jungdt. Kreises, nicht nur durch die geistreiche und witzige Feuilletonprosa seiner 'Reisebilder' (1826—31), sondern auch durch die sprühende Bosheit seiner leichtflüssigen Verse einprägsam zu wirken. Wie Börne sicherte er sich durch Übersiedlung nach Paris vor der Verfolgung durch die deutschen Behörden und suchte durch Berichte über 'Französische Zustände' wie andererseits durch die Schilderung dt. Geisteslebens eine geistige Annäherung beider Völker anzubahnen und zugleich die dt. Öffentlichkeit im Sinne einer revolutionären Entwicklung zu beeinflussen. Es fehlt bei ihm nicht an Stellen, wo das Gefühl der Heimatliebe zum Durchbruch kommt, aber dem reaktionären Polizeistaate gilt sein erbitterter Haß; und wenn man auch den Ernst seiner politischen Überzeugung nicht ohne Grund angezweifelt hat, so ist er doch als politischer Dichter

fanatischer Parteimann und hat durch seine ätzende Ironie wie durch die geschickte Zuspitzung seiner Gedichte ungemein stark auf die dt. Öffentlichkeit gewirkt. Seine 'Zeitgedichte' wimmeln von boshaften Verunglimpfungen dt. Fürsten, und sein komisches Epos 'Deutschland, ein Wintermärchen' (1847) ironisiert mit bitterem Hohne die Zustände des vormärzlichen Deutschland. Auf der anderen Seite hat er sich aber auch im 'Atta Troll' über die Tendenzpoesie seiner politischen Gesinnungsgenossen lustig gemacht. Das soziale Moment spielt in der vormärzlichen Revolutionsdichtung eine sehr große Rolle; und zwar handelt es sich jetzt bereits nicht allein mehr um einen Kampf des Bürgertums gegen Fürsten und Adel, sondern der vierte Stand, das Proletariat, beginnt in die Bewegung einzugreifen. Der Aufstand der hungernden schles. Weber (1844) zeitigt in dem durch Hauptmanns Schauspiel wieder allgemein bekannt gewordenen 'Blutgericht' eine Volksdichtung von elementarer Gewalt, bei aller Unbehilflichkeit; er findet Widerhall auch in der Bildungsdichtung: die Weberlieder Freiligraths und Heines (mit unverhüllter Revolutionsdrohung: „Alt-Deutschland, wir weben dein Leichentuch"), Willkomms Roman 'Weiße Sklaven'. Von den politischen Dichtern fanden neben Heine die zündendsten Töne Georg Herwegh ('Gedichte eines Lebendigen' 1841) und Ferdinand Freiligrath ('Ein Glaubensbekenntnis', ira', 'Neuere politische und soziale Gedichte'); weiter sind zu nennen Hoffmann von Fallersleben mit seinen 'Unpolitischen Liedern', die warmes, vaterländisches Fühlen verraten, ihm aber nichtsdestoweniger den Verlust seiner Breslauer Professur eintrugen, Franz Dingelstedt ('Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters') Robert Prutz (satirische Komödie 'Die politische Wochenstube'), Wilhelm Wackernagel, Rudolf Gottschall und Gottfried Kinkel. Im Metternichschen Österreich, auf dem der Druck der Reaktion am schwersten lastete, und wo eine rücksichtslos gehandhabte Zensur jede freie Meinungsäußerung unterband, konnte die p. D. naturgemäß zu keiner breiteren Entfaltung kommen. Dennoch war es ein Österreicher, Graf

POLITISCHE DICHTUNG Auersperg, der mit seinen 'Spaziergängen eines Wiener Poeten' (1831) der zielbewußten dt. politischen Lyrik das erste Vorbild gegeben hat; das Büchlein, das das entwürdigende Bevormundungssystem der MetternichschenÄra mit einer für Österreich. Verhältnisse unerhörten Kühnheit angriff, erschien unter dem Decknamen Anastasius Grün, dessen Geheimnis die Polizei vergebens zu lüften suchte, und hat trotz alsbaldigen Verbotes eine tiefgreifende Wirkung nicht verfehlt. Auch def Ungar Lenau verherrlichte in seinen epischen Dichtungen 'Die Albigenser' und 'Savonarola' den Kampf um die Freiheit des Geistes. Grillparzer, so sehr er unter den vormärzlichen Verhältnissen zu leiden hatte, und obwohl er in geheimgehaltenen Gedichten und Epigrammen seiner Erbitterung Luft machte, war doch ein Gegner jeder gewaltsamen Umwälzung und erhob auch beim Zusammenbruch des absolutistischen Systems seine mahnende Stimme. § 10. Die Revolution von 1848 brachte zwar die Erfüllung einiger politischer Wünsche des Bürgertums, wie die Teilnahme des Volkes an der Regierung durch seine erwählten Vertreter, endete aber im ganzen doch mit einem Siege der Reaktion. Zahlreiche mißliebige Dichter mußten dauernd oder vorübergehend Deutschland verlassen, wie Freiligrath und Kinkel; andere, wie Laube und Dingelstedt, hatten rechtzeitig ihren Frieden mit den herrschenden Gewalten geschlossen. Von der jungdt. politischen Ideologie wendet man sich ernüchtert ab zu den Aufgaben des täglichen Lebens; die nationalliberale Politik der mittleren Linie gewinnt an Boden. Freytags 'Journalisten' predigen Aussöhnung der politischen Gegensätze. Die liberale Richtung ist in diesem Zeitraum vertreten durch die Zeitromane Gutzkows ('Die Ritter vom Geist', 'Der Zauberer von Rom'; s. d. Art. Junges Deutschland) und noch tendenziöser und wirkungsvoller durch die Spielhagens. Während der Roman 'Problematische Naturen* (1861) noch die Helden der Märzrevolution verherrlicht, schildern 'In Reih und Glied' (1866), dessen Held die Züge des Sozialistenführers Lassalle trägt, bereits das Empordrängen des

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vierten Standes und 'Hammer und Amboß' den Kampf der Klassen selber. Die erstarkende proletarische Bewegung erhält 1863 durch Herwegh, den Freund Lassalles, ihr programmatisches 'Bundeslied' (mit der viel zitierten Strophe „Mann der Arbeit, aufgewacht"). § 11. Auch im neuen Reich dauert die oppositionelle Strömung weiter. Sie wächst zu besonderer Stärke an in den achtziger Jahren, mit dem Aufkommen des Naturalismus (s. d.) in der Literatur. Die naturalistische Dichtung mit ihrer Teilnahme für die Besitzlosen, ihrer Schilderung des Arbeiterelends hat zweifellos stark politischen Charakter, auch wo dieser nicht unmittelbar hervortritt. Viele Vertreter der jungen Dichtergeneration stehen der sozialistischen Partei nahe und üben harte Kritik am bürgerlichen Staat und seiner Gesellschaft. Häufig sind Angriffe gegen Junker, Offiziere, Beamte, gegen Standesdünkel und Kastengeist. Die soziale Anklagedichtung erreicht einen künstlerischen Höhepunkt in einigen Gedichten Dehmels {'Der Arbeitsmann' u. a.). § 12. Nachdem der anarchische Individualismus der mehr ästhetisch gerichteten Neuromantik (s. d.) die Teilnahme der Literatur am öffentlichen Leben zeitweilig hatte zurücktreten lassen, folgt eine erneute Hochflut politischer und sozialer Oppositionsdichtung im Verlaufe des Weltkrieges. Der allgemeine nationale Aufschwung von 1914 weicht unter dem niederdrückenden Eindruck der langen Kriegszeit und der immer geringer werdenden Siegeshoffnung einem tiefen Pessimismus und steigenden Mißtrauen gegen die bisherige Führerschicht. Die neue Ausdruckskunst (s. d. Art. Expressionismus) stellt sich fast ausnahmslos in den Dienst des revolutionären Gedankens; ihre Ziele sind die endgültige Beseitigung des Krieges und vollständige Umgestaltung der sozialen Verhältnisse. Das durch den Umsturz vom November 1918 Erreichte genügt vielen radikalen Geistern noch nicht, die eine Diktatur des Proletariats nach dem Vorbilde des russ. Bolschewismus erstreben. Zahlreiche Zeitschriften und Sammelunternehmungen dienen den Zielen dieses „Aktivismus" ('Aktion', 'Sturm', 'Roter Hahn', 'Jüngster

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Tag'). Dichter greifen als Führer der äußersten Linken aktiv in die Politik ein: Eisner, Toller, Mühsam usw. Gegen das Bürgertum, dem ungeistiger Materialismus und veraltete Moralauffassung zum Vorwurf gemacht werden, wird erbitterter Kampf geführt (Sternheim 'Bürger Schippel'). In Drama (Kaiser 'Koralle', 'Gas', 'Hölle, Weg, Erde'; Unruh 'Ein Geschlecht', 'Platz.'; Toller 'Die Wandlung', 'Masse Mensch'), Erzählung (Heinrich Mann 'Die Armen', 'Der Untertan'; L. Frank 'Der Mensch ist gut') und Lyrik (Werfel, Hasenclever, Johs. R. Becher) herrscht die revolutionäre und kriegsfeindliche Stimmung und die Hoffnung auf den „neuen Menschen". Der von Kurt Pinthus herausgegebene lyrische Sammelband 'Menschheitsdämmerung' schaltet erotische und Naturpoesie zugunsten der politischen fast vollkommen aus. Nach der leidenschaftlichen Erregtheit der ersten Nachkriegsjahre sind die politischen Probleme in der dt. Dichtung neuerdings merklich zurückgetreten. J. W i e g a n d Geschichte der dt. Dichtung 1922 (s. im Stichwortverzeichnis unter 'Politik'). Fr. M e i n e c k e Wellbürgertum und Nationalstaat •1922. Jul. B a b Die deutsche Revolutionslyrik 1919. E. S c h a i r r o w Schubart als politischer Journalist 1914. M. K o c h Deutsche Literatur und Franz. Revolution, Dt. Wochenblatt 1892 Nr. 5/6. P. G e r b e r Die Revolution und unsere Klassiker 1920. H. v. K o s k u l l Wielands Aufsätze über die Frz. Revolution 1901. W. B o d e Goethes Religion und politischer Glaube '1903. 0. L o r e n z Goethes politische Lehrjahre 1893. G. K e t t n e r Goethes 'Natürliche Tochter' 1912. G. R o e t h e Über Goethes 'Mädchen von Oberkirch', GGN. 1895 S. 492—514. K. R i c h t e r Schiller und seine 'Räuber' in der Frz. Revolution 1865. K. R i e g e r Schillers Verhältnis zur Frz. Revolution 1885. M. B a t t Schillers attitude towards the French revolution, Journal of Germanic Philology I (1897) S. 482. H. H i r s c h s t e i n Die Frz. Revolution im dt. Drama und Epos nach 1815 (BreslB. 31) 1912. C. S c h m i t t D o r o t i c Politische Romantik 1919. A . P o e t z s c h Studien zur frühromantischen Politik und Geschichtsauf fassungigoy. O . B r a n d t A.W.Schlegel. Der Romantiker u. die Politik 1919. R. V o l p e r s Fr. Schlegel als politischer Denker und dt. Patriot 1917. R. S t e i g H. v. Kleists Berliner Kämpfe 1901. V. K l e m p e r e r Dt. Zeitdichtung von den Freiheitskriegen bis zur Reichsgründung 1910. R. A r n o l d Der dt. Philhellenismus, Euphorion Erg.-Heft II (1896) S. 71—181. W. B ü n g e l Der Philhellenismus in Deutschland 1821—1829 1917. R. A r n o l d Gesch. der dt. Polenliteratur 1900. L e o n h a r d Der Novemberaufstand in den

Polenliedern dt. Dichter 1911. Ed. N i e m e y e r Die Schwärmerei für Napoleon in der dl. Dichtung, Arch.f. Lg. IV (1875) S. 507ff. P . H o l z h a u s e n Heine und Napoleon 1903. H. R e n c k Platens politisches Denken und Dichten (BreslB. 19) 1911. H. v. T r e i t s c h k e Über Uhlands politische Stellung und Kämpfe, Hist. und pol. Aufsätze I (•1903) S. 197—304. W. R e i n ö h l XJhland als Politiker 1911. W. B e r n h a r d t Uhlands politische Betätigungen und Anschauungen 1910. W. B ü c h e r Grillparzers Verhältnis zur Politik seiner Zeit (BeitrLw. 19) 1913. Chr. P e t z e t Die Blütezeit der dt. politischen Lyrik 1840—50 1903. Die politischen Lyriker unserer Zeit (Auswahl) 1847. R. S e i d e l Herwegh, ein Freiheitssänger 190$. E. B a l d i n g e r Die Gedankenwelt der 'Gedichte eines Lebendigen' 1917. M. B o l l e r t Kinkels Kämpfe um Beruf und Weltanschauung bis zur Revolution 1913. A. V o l b e r t Freiligrath als politischer Dichter (Münstersche Beitr. z. n. Lg. 3) 1907. W. D o h m Das Jahr 1848 im dt. Drama und Epos (BreslB. 32) 1912. V. K l e m p e r e r Spielhagens Zeitromane und ihre Wurzeln (ForschgnLg. 43) 1913. L. B e r g Die sozialen Kämpfe im Spiegel der Poesie (Neue lit. Volkshefte 3) 1889. K . P i n t h u s Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung »920H. Heckel.

Posse. § I. P. ist in neuerer Zeit ein Gattungsname für mehrere Formen des niedrig-komischen Theaters. Die P. verzichtet auf Belehrung und übertreibt die Charaktere und Situationen ins Volkstümlich-Groteske. In ihrem Mittelpunkt steht die lustige Person. Die Vorläufer der neuern P. sind das dt. Fastnachtspiel (s. d.), das Singspiel der Engl. Komödianten (s. d.) und die ital. commedia dell' arte. Zwei Motive beherrschen die P. wie die niedere Komik überhaupt: Das Ehebruchsmotiv (s. H. R e i c h Der Mimus I 51 u. ö.) und das Intrigenspiel eines Freiers und seiner hanswurstischen Helfer gegen den Vater oder Vormund des Mädchens (Schema der commedia delV arte). Ein burlesker Kampf um die Frau ist beiden Fällen gemeinsam. Die Motivwahl gibt kulturgeschichtlichen Aufschluß. — Die P. gliedert sich in die gemeindt., die Lokal- und die Bauernposse. §2. P. als Gattungsbegriff findet sich schon im Verzeichnis der von Joh. Velten gespielten Dramen (Dresden 1679: 'P. von Münch und Pickelhäring'). Sie steht dort neben den Possenspielen des 17. Jhs., deren gelehrte Autoren sich im Lustspiel nach dem Vorbild der holl. Kluchten volkstümlicher gaben. Gottsched vertrieb den

PRAKTIK Narren von der dt. Bühne und nahm damit der P. den Lebensnerv. Er spornte zugleich den Eifer der Übersetzer. Den Titel P. führten nach Gottsched Einakter, die F. W. Götter, F. L . W. Meyer u. a. aus dem Französischen übertragen hatten. Auf demselben Wege suchte die komische Figur von neuem einzudringen (W. Chr. S. Mylius 'Hanswurst Doctor nolens volens' nach Molière 1777; vgl. auch K . F. Romanus 'Crispin als Vater' 1761). Es mißlang trotz der Fürsprache Just. Mosers ('Harlekin oder Verteidigung des GroteskeKomischen' 1761). Indes erhielt sich die Sitte, einaktige P. und Schwanke als Nachspiele zu geben, selbst an führenden Theatern fast bis zur Mitte des 19. Jhs. — Abendfüllende P. finden sich dagegen in verhältnismäßig geringer Zahl. Gelegentlich wählte das bürgerliche Lustspiel diesen Namen (Kotzebues 'Wirrwarr' 1803, 'Pagenstreiche' 1805). Kulturgeschichtlich interessant ist K . L. A. Sessas antisemitische P. 'Unser Verkehr' (1814), die J. v. Voß mit der P. 'Euer Verkehr' beantwortete. E. Raupach versuchte in den 'Schleichhändlern* (1830) komische Figuren unter den Namen Till und Schelle einzuführen. § 3. Die komische Figur, die dem gemeindt. Theater genommen ward, erhielt sich länger in der Lokalposse. Hanswurst hatte bald nach Beginn des 18. Jhs. durch Stranitzky nationale Tracht empfangen. 1770 unterlag der Spaßmacher im Kampfe gegen die Wiener Anhänger Gottscheds. Doch entstand er — von J. Laroche verkörpert — 1781 als Käsperle im Leopoldstädter Theater und wurde dort von dem Thaddädl A. Hasenhuts abgelöst. Schikaneder brachte ihn als dummen Anton (1789), M. Stegmayer als Rochus Pumpernickel (1808) auf die Bühne. Endlich wandelte er sich in Bäuerles Lokalposse 'Die Bürger in Wien' (1813) zum kleinbürgerlichen Gewerbsmann (Staberl), doch wurde die Figur durch Theaterdirektor Carl bald wieder zum alten Possenreißer. Es war die letzte stehende Maske. § 4. In ihrer Struktur beharrte die Wiener Lokalposse beim Schema der Burleske; auch die Personen der commedia dell'arte lebten fort (J. A. Gleich 'Die Musikanten

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auf dem Hohenmarkt' 1815; Joh. Nestroy 'Das Haus der Temperamente' 1837, 'Einen Jux will er sich machen' 1842). Schema und Figuren lösen sich endlich im sozialen Volksstück (s. d.) auf. — Außerhalb Wiens hat die Lokalposse in Frankfurt und in Berlin komische Figuren hervorgebracht (s. d. Art. Lokalstück). Nach dem Abblühen der Lokalposse erwuchs — vielfach unter franz. Einfluß — eine drastische Komik im (gemeindt.) Schwank (F. v. Schönthan, G. v. Moser, O. Blumenthal u. a.). §5. Die B a u e r n p o s s e gestaltet teils weltliche, teils geistliche Stoffe. Weltliche Dorfdichtung war schon das mal. Neidhartspiel. Es verrohte vor dem 16. Jh. unter dem Einfluß Nürnbergs. Dem gleichen Los verfielen die geistlichen Schauspiele in den katholischen Ländern durch die Wirkung der Reformation; sie wurden zu geistlichen Volkspossen, die sich teils dem Ordenstheater einfügten, teils entartet fortbestanden und endlich von der Bürokratie der Aufklärungszeit verboten wurden (in Tirol 1751). § 6. Zwischen dem bäuerischen Volksschauspiel und dem geistlichen Barocktheater vermittelten Dialektstücke und volkstümliche Intermedien. P. Maurus Lindemayr (1723—1783) trat mit 'Schnackischen Stücken in oberennsisch-bäurischer Mundart* hervor. In Bayern wirkte Franz von Paula Kiennast (gest. 1783). Schwaben wird durch Sebastian Sailer (1714—1770) vertreten, der parodistische Burlesken aus der biblischen Geschichte schrieb. Biltz Über das Wort und den Begriff Posse, ArchfnSpr. L X X I I I (1885) S. 35ff. F l ö g e 1B a u e r . E b e l i n g . K . S c h i f f mann Drama und Theater in Österreich ob der Enns 1905. F. v. P. K i e n n a s t Altbairische Possenspiele für die Dachauer Bühne, hsg. von O. B r e n n e r 1893. S e b . S a i l e r Biblische und weltliche Komödien, hsg. von O w l g l a s s o. J. (1913). R. K r a u ß Das schwabische Volks- und Dialektdrama, Bühne und Welt VII (1905) S. 931 ff. O. B r a h m Die Berliner Posse, Kritische Schriften I (1915) S. 93 ff. F Trojan

Praktik. Der mittellat. Ausdruck practica in dem Sinn einer Ausübung der Wahrsagekunst bezeichnete seit dem Ende des 15. Jhs. die damals aufkommenden Anhänge zu den in Deutschland seit Jahrhunderten üblichen

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PREDIGTMÄRLEIN-PREISAUSSCHREIBEN

Kalendern. Diese Anhänge hatten den Zweck, auf Grund astrologischer Deutungen der Stellungen der Planeten Wetterprognosen und Weissagungen allgemeiner Art zunächst in lat. Sprache mitzuteilen. Doch bereits vor 1500 erschienen solche P. auch selbständig ohne Kaiendarien, auch in dt. Sprache. Solche dt. P. wuchsen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an Anzahl, erreichten ihre Blüte im letzten Drittel des 16. Jhs. und verschwanden allmählich nach der Mitte des 17. Jhs. Sie waren während dieser ganzen Zeit für Unzählige unter den breiten Schichten das einzige weltliche Buch. Nach Fischarts scherzhaftem Ausspruch „so nötig als die Bibel". § I. D i e ä l t e s t e n d e u t s c h e n K a l e n d e r u n d P r a k t i k e n . Der erste bekannte deutsche Kalender, der Münchner Türkenkalender 1455, war im Gegensatz zu den früheren geschriebenen deutschen und fremdsprachigen sog. „immerwährenden" ein Einblattkalender für ein Jahr, dem zahlreiche ähnliche und mehrjährige (für eine verschieden lange Reihe von Jahren berechnete) Kalender in Heftform folgen. Mit dem Jahre 1546 wird auch für die Heftkalender die Berechnung für ein einziges Jahr Regel. An der Abfassung von Kalendern und insbesondere von P. beteiligten sich damals Berufsastrologen, Gelehrte, Ärzte, Geistliche, auch berühmte Männer wie Paracelsus und Kepler, doch auch Literaten niedrigster Art. In ihrem Inhalt und äußerlich sind diese P. ziemlich gleich, meist Quarthefte von wenigen Blättern, mit den altüberlieferten Bildern des Jahresregenten, der Planeten und des Tierkreises versehen. In der Regel ist die Darstellung absichtlich dunkel, kraus und rätselhaft gehalten. Abschnitte über die Witterungsverhältnisse des kommenden Jahres, über Kriege und Seuchen, über glückliche und unglückliche Tage, über das Schicksal einzelner Völker, Länder und Städte. Bauernregeln, volkstümliche Heilvorschriften, genaue Bestimmungen über den Aderlaß bilden den Inhalt. Die Weissagungen werden sehr vorsichtig abgefaßt. Trifft der angekündigte Weltuntergang nicht ein, so hat Gottes unerschöpfliche Gnade das drohende Unheil abgewendet. Politische, soziale und kirchliche Ereignisse

werden je nach dem Bekenntnis des Verfassers im katholischen oder protestantischen Sinne vorausgesagt. In protestantischen Kreisen, wo die Zahl und Wirksamkeit der P. besonders groß war, ging auch die besondere Art der theologischen Prognostiken hervor, die ihre Weissagungen, Astrologie zurückweisend, aus der Heiligen Schrift, besonders aus der Apokalypse, natürlich auch willkürlich und phantastisch ausdeuten. § 2. B e k ä m p f u n g d e r P r a k t i k e n ; i r o n i s c h e P r a k t i k e n . Trotz der Beliebtheit dieser Gattung gab es genug einsichtige Männer, die diesen Unfug bekämpften wie Erasmus Roterodamus, Sebastian Brant, Luther, Murner, Gengenbach, Moscherosch und mehrere Gelehrte, ferner viele Schriftsteller, welche die Lächerlichkeit und Unverschämtheit der P. in scherzhafter und satirischer Art nachahmten. Vom Ausgang des 15. Jhs. ab erschienen in rascher Folge bis über die Mitte des 17. Jhs., vor allem in Deutschland Hunderte von Scherz- und Spottpraktiken, z. T. auch von berühmten Verfassern, Heinrich Bebel, Rabelais, Johann Nas u. v. a. Die bedeutendste von allen ist Fischarts 'Aller Praktik Großmutter* 1572. Besonders die zweite stark erweiterte Bearbeitung von 1574 übertrifft durch Vielseitigkeit und Reichhaltigkeit, durch die Schärfe der Satire und durch die lange Nachwirkung — es erscheinen viele Ausgaben bis 1635 — alle anderen Scherzpraktiken. W. U h l Unser Kalender in seiner Entwicklung von den ältesten Zeiten bis heute 1893. G . H e l l m a n n Reperlorium der deutschen Meteorologie 1883, bes. S. 696—700. D e r s . Versuch einer Geschichte der Wettervorhersage im XVI. Jahrh., A b h . d. pr. AkdWss., Phys.-Math. Klasse 1924 Nr. 1 (mit einem genauen Verzeichnis der dt. und anderssprachigen Praktiken). A . H a u f f e n Fischart-Studien, IV.'Aller Praktik Großmutter', Euph. V (1898), S. 25—47 u. 226—256. A . Hauffen.

Predigtmärleln s. E x e m p e l . Preisausschreiben. In Zeiten stockender literarischer Produktion pflegen führende Männer des dt. Geisteslebens durch P. das junge Geschlecht zur Produktion anzuregen. Nur drei der bedeutendsten P., welche in der dt. Literatur eine Rolle spielen, mögen hier erwähnt werden.

PREISLIED

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liedes, sofern dieses seinen Stoff nicht der In seinem Prospekt zur 'Bibliothek der zeitlich fernen und heroisch umgestalteten schönen Wissenschaften und der freien nationalen Geschichtsüberlieferung (HelKünste' setzte N i c o l a i im Frühjahr 1756 dendichtung) entnimmt, sondern auf akeinen Preis von 50 Talern für das beste tuelle Ereignisse und zeitgenössische Perdt. Trauerspiel aus; als Leitsatz war Nicosönlichkeiten panegyrisch Bezug nimmt. lais 'Abhandlung vom Trauerspiel' vorSind Taten und Leben jüngstverstorbener gesehen. Die Einsendung der Werke, Männer Gegenstand der Dichtung, so bewelche nach 1756 erfolgen sollte, wurde rührt sich das P . eng mit der Totenklage; bis zum Oktober 1757 aufgeschoben. Da die nordische Skaldendichtung hat hier Kleists 'Seneca' nicht fertig wurde, ebenso den offiziellen Typus der „erfidrdpa", des Weiße sein Drama nicht vollendete, blieb preisenden „Erbgedichtes", geschaffen. Das die Wahl zwischen Brawes 'Freigeist', P. mag die erste Grundlage abgeben, auf Cronegks 'Codrus' und Breithaupts 'Reneder die Heroisierung der historischen Pergat'. Der Preis wurde Cronegk zuerkannt, sönlichkeit im Heldenlied beruht. gemäß seinem Wunsch aber für 1759 mit 100 Talern erneut ausgeschrieben. Dieses Zeugnisse für die Existenz des P. liefern Mal erhielt Breithaupt den Preis; denn uns alle germ. Stämme; es ist gemeingerm., Lessings Codrusdrama war nicht fertig darum aber durchaus nicht schon urgerm. geworden. In diesem Zusammenhang entWas Tacitus (Ann. II, 88) über den Preis standen Lessings Pläne zum 'Kleonnis' und des Arminius im Liede bei den Germanen 'Philotas'. berichtet, muß hier beiseite bleiben. Es ist dort von dem Fortleben im Gedächtnis 1775 schrieb S c h r ö d e r in Hamburg weit jüngerer Generationen die Rede, es einen Preis aus für ein bühnengemäßes fehlt also die Aktualität. Wir haben es mit Drama. Von den drei Dramen, welche zur einem „historischen Lied", und zwar kaum engeren Wahl standen, erhielten Klingers schon in den metrischen und poetischen 'Zwillinge' den Vorzug vor Leisewitzens Formen der späteren Heldendichtung, zu 'Julius von Tarent'. Schröder zog Klingers tun. Unsere ältesten Zeugnisse gehen nicht Drama vor, „weil es die mächtige, gewalüber die Völkerwanderungszeit zurück. tige Triebfeder der unentschieden gebliebeFür die gotische Welt sichert uns das P. nen Erstgeburt voraus hatte". der Bericht des Priscus über Attilas HofIm Anfang des J. 1801 setzten G o e t h e haltung. Die Stelle bezieht sich zwar auf und S c h i l l e r in den 'Propyläen' (III 169) den hunnischen Hof und den Preis des einen Preis von 30 Dukaten aus für das Hunnenkönigs Attila, ist aber so gut wie beste Intrigenstück. Brentano beteiligte die Schilderung seiner Bestattungsfeier sich mit dem 'Ponce de Leon', erhielt aber unbedenklich als germ.-got. in Anspruch ebensowenig den Preis wie die zwölf zu nehmen. Bei festlichem Gelage treten anderen Bewerber; denn Goethe hielt mit zwei Sänger auf, die „seine Siege und die seinem Urteil zurück, „ d a eigentlich keines kriegerischen Tugenden" im Liede preisen zu fällen w a r " (Annalen für 1802). und tiefste Bewegung froher Kampfeslust Die zahlreichen P. des 19. Jhs. sind oder melancholischer Erinnerung damit literarisch ohne Bedeutung ebenso wie die erwecken. An der entgegengesetzten Ecke jährlich angesetzten Preise, welche nach der germ. Welt bezeugen Widsid und bedeutenden Dichtern wie Schiller, GrillBeowulf das P. bei den Angelsachsen. Im parzer, Kleist u. a. benannt wurden. J. Ettlinger Brauchen wir Dichterpreise}, älteren Widsid erscheint sogar die ZweiLE. VII (1905) Sp. 1227—32. A. Nutzhorn zahl der Sänger wieder, im jüngeren BeoWarum ist Leisewitz' 'Julius von Tarent' nicht mitwulf singt der Sänger wie bei Priscus dem Hamburger Preise bedacht?, Euph.XVI (1909) S. 58ff. G. Roethe Brentanos 'Ponce de Leon' während des Gelages und preist Beowulfs (GGN. NF. V, 1) 1901. Brandis Goethes dramat. jüngste Heldentat (Beow. 873ff.). Es ist Preisaufgabe, ZfBfr. NF. IV (1912) S. 231 ff. deutlich, daß der Vortragende hier imO. Stempelt. provisiert, und das kann uns wenig verwundern, wenn wir wissen, daß die norPreislied. Mit P. bezeichnen wir eine dischen Skalden ihre enorm anspruchsbestimmte Gruppe des epischen EinzelMerker-Stammler, Realleiilcon II.

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PREMIÈRE—PREUSZISCHE

volle Metrik und Poetik improvisierend beherrschten. Weitere Zeugnisse zum P. stellt E h r i s m a n n Literaturgeschichte I 20 f. zusammen. Der Vortrag des P. war Einzelgesang oder wohl noch eher gehobene Rezitation zu instrumentaler Begleitung. Über die Art des Zusammenwirkens der zwei Sänger, das Priscus und Wiösid erkennen lassen, können wir nichts aussagen. Jedenfalls war es kein Chorgesang; die Menge lauscht teilnehmend und hingerissen der Verherrlichung von Ereignissen, an die sich persönliche Erinnerungen für jeden einzelnen knüpfen, sie stimmt aber nicht ein. Nach unserer Kenntnis der gemeingerm. metrischen Verhältnisse sind wir berechtigt, dem P. eine metrische und stilistische Kultur zuzuerkennen, die nur der ausgebildete und erfahrene Berufssänger beherrschen und ev. auch improvisierend zur Geltung bringen konnte. Die obengenannte Beowulfstelle läßt erkennen, daß der Sänger des aktuellen P. zugleich auch Träger und Pfleger des altüberlieferten Heldensanges ist. Unmittelbar nachdem er Beowulfs letzte Tat, den Kampf mit Grendel, verherrlicht hat, singt er, „was er von Sigmunds Heldentaten hatte sagen hören". P. und Heldensang fanden in denselben Kreisen Pflege. Es war die festgefügte und aristokratisch selbstbewußte Gefolgschaft, die aus der Atmosphäre der Wanderungszeit heraus über und neben dem alten Sippenverband mit neuen rechtlichen und sittlichen Anschauungen erwuchs. In ihr hatte der aristokratisch gehobene, durchgebildete Sänger seinen Platz, der im aktuellen P. dem sieghaften Selbstbewußtsein der Gefolgschaftsgenossen und des Gefolgschaftsherrn poetischen Ausdruck verlieh, im Heldenlied den Idealtyp der Gefolgschaftsethik dichterisch verklärte. Zum Studium vorhandener Beispiele des altgerm. P. hätten wir uns zunächst an den skand. Norden zu wenden, wo die Dichtung der Hofskalden reiches Material sowohl für das eigentliche P. als auch für die Sonderart der erfidrdpa liefert. Indessen kann uns diese spezifisch nordische Dichtung kein Bild der germ. Verhältnisse geben. Hier ist eine extreme Überschätzung des

DIALEKTDICHTUNG

Formalen in strengster Silbenzählung, Stab-, Binnen- und Endreimkünsten und Verschnörkelung des Ausdrucks in der Umschreibungstechnik des kentiing, so daß jede Individualität der besungenen Ereignisse und Persönlichkeiten unter dieser Auflösung in verschlungene Arabesken verlorengeht. Wie auch die noch wenig geklärte Entwicklung dieser Kunst verlaufen sei, das skaldische P. ist nur ein seltsamer Seitentrieb, der nicht ins Germanische hinübergenommen werden darf. Auch die neuerdings von Genzmer analysierten „eddischen Preislieder", die dem heroischen Stil bedeutend näher stehen, sind in ihrer mythologischen Einkleidung viel zu sehr auf das vikingische Kriegerparadies Valhall mit der verklärten Odinsgestalt und den strahlenden Valkyrien eingestellt, um ohne weiteres als getreue Abbilder germ. P.Dichtung zu gelten. Bessere Anschauung geben ein paar ags. Stücke, Verseinlagen in den ags. Annalen, auf die Heusler aufmerksam gemacht hat. Auf dt. Boden dürfte das Ludwigslied trotz christlichen Grundklangs und moderner Reimform der germ. Stilisierung des P. näher kommen als die nordischen Belege, und es dürfte ein gutes Beispiel dafür geben, wie sich in solcher Preisdichtung konventionelle Stilformen und aktueller Stoff miteinander abfanden. E h r i s m a n n Geschichte der deutschen Literatur bis tum Ausgang des Mittelalters Bd. I S. 20 f. A. H e u s l e r Artikel Dichtung in Hoops Reallexikon, insbes. Abs. Fa, S. 453f. G e n z m e r Das eddische Preislied, PBB. X L I V (1920) S- 146 ff. H. de Boor.

Première s. U r a u f f ü h r u n g . Presse s. J o u r n a l i s m u s und Ö f f e n t liche Meinung. Preßfreiheit s. Z e n s u r . Preußische Dialektdichtung. § i. Während der Ordenszeit herrschte im schriftlichen Verkehr sowie in der Dichtung und Geschichtschreibung ausschließlich die md. Amtssprache des Ordens. Nd. Dichtung kam überhaupt nicht zur Geltung. Das einzige Zeugnis des Gebrauchs des Nd. in vorreformatorischer Zeit ist die Inschrift an der Kirchentür zu Arnau (ö. von Königsberg), wohl aus dem Ende des 14. oder Anfang des 15. Jhs. : Sunte Katrins sta

PRIAMEL uns bi und lat uns nicht vorderven, Make uns van allen sunden vry wen wi beginnen to sterven. § 2. Das zeitlich nächstfolgende ist zugleich das schönstend. Gedicht Ostpreußens, das 'Anke von Tharaw', 1637 zur Hochzeit des Johann Partatius mit Anna, der Tochter des Pfarrers Neander in Tharau, entstanden, wohl von A l b e r t verfaßt und 1642 in Alberts 'Arien' anonym gedruckt ( O e s t e r l e y Simon Dach 1876 S. 34—40,420L). Es steht an der Spitze der nd. Hochzeitsgedichte, die im 17. und 18. Jh. auch in Ostpreußen üblich waren (W. Z i e s e m e r Nd. Jb. X L I I [1916], Zs. f. d.Mda. 1917). Auch das Erbsenschmekkerlied von Heling (ca. 1680) geht auf ein aus den vierziger J. des 17. Jhs. belegtes Hochzeitsgedicht zurück (W. Z i e s e m e r ZfVk. 1922). Von S. Dach stammt das 'Gretkelied', eine Parodie auf die Schäferpoesie ( P r i e b s c h Miscellany presented to Kuno Meyer 1912 S. 65—78; Z i e s e m e r Altpr. Forschungen 1924 S. 29ff.). Ihm folgte Gertraud Mollerin mit ihrem nd. Gedicht von 1672 (Nd. Jb. X X [1886] S. 141 f.). Zum Jubiläum der Königsberger Universität im Jahre 1644 wurden drei nd. Zwischenspiele aufgeführt, die ohne Zusammenhang mit dem Hauptstück stehen ('Hildegardis magna'-, B o l t e Altpr. Mon. X X V I I i i l f f . ) . Verfasser ist wohl ein Universitätsangehöriger oder Schulmann Königsbergs. Zur Erzielung komischer Wirkungen werden auch sonst in Dramen kleine nd. Partien hineingebracht: so muß Vulkan in Jakob Reichs 'Nestor' (1683) auf Plattdeutsch schimpfen. Zur besseren Charakteristik einer aus dem Volke stammenden Frau wird das Niederdeutsche in A. L. Kulmus' 'Die Pietisterei im Fischbeinrock' (1737) angewandt. W . M i t z k a Ostpreußisches Nd. nördlich vom Ermland (Deutsche Dialektgeographie V I ) 1920 S. 202—255.

§ 3. Von eigentlicher Dialektdichtung kann man sonst im 18. Jh. in Ostpreußen nicht sprechen. Erst zu Beginn des 19. Jhs. brachte der Danziger A l m o n d e einige Gedichte, die in der Weichselniederung und in Ostpreußen sich verbreiteten: 'Dat verlearne Paradies' und die 'Seelenwandering*. In den vierziger Jahren besonders wurden in den 'Preuß. Provinzialblättern'

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zahlreiche nd. Volkslieder, Kinderverse, Abzählreime veröffentlicht und regten zu weiterer Sammlung und Gestaltung an. R. Reusch (1810—1871) gab 'Plattdeutsche Sagen des Samlands' heraus, H. F r i s c h b i e r sammelte Kinderlieder und Volkslieder, Zaubersprüche und Segensformeln. Der hochpreuß. Dialekt in der mitteldt. Kolonie in Ostpreußen wurde in der 'Ermländischen Freischaft' (anonym in Rössel erschienen), einem trefflichen Bauern stück, verwendet. E. Lemke brachte in 'Volkstümliches aus Ostpreußen' III (1899) nur wenige Proben oberländ. Märchen im Dialekt. Die Elbinger Niederung fand in R o b e r t D o r r (1835—1918) ihren Dichter. Er lieferte in 'Twischen Wiessei on Noacht' (1864, 18972) gute Bilder aus dem Volksleben des- Niederunger Bauern zwischen Weichsel und Nogat und gab in der plattdt. Übersetzung von Shakespeares 'Merry wives of Windsor' als 'De lostgen Wiewer von Windsor* eine ansprechende Wiedergabe. In Natangen schrieb der fruchtbare W i l h . R e i c h e r m a n n seine mehr umfang- als inhaltreichen Bändchen 'Ut Noatange*. Ihm folgten für Samland und andere Landschaften Toball, Koszik, Boldt, Böhme, Stepputat, Schulz, E. v. Olfers-Batocki, Hintz, Wüstendörfer, Schencke, Müller, Rink, Sellke. Volksmärchen und -lieder in nd. Dialekt sind mehrfach enthalten in K . Plenzats 'Liederschrein' und 'Wundergarten'. Proben ostpr. Dialektdichtung brachte Ziesemer in 'Die ostpr. Mundarten' 1924, Plenzat im 'Ostpreußenspiegel' 1925. W. Ziesemer. Prlamel. § 1. Als Literaturgattung ist das P. von.Hans Rosenplüt geschaffen und nach dem damals Mode gewordenen Volkswort für die ersten Improvisationen der Orgel- und Lautenmusik benannt. Echt und beglaubigt ist nur das Neutrum, das Femininum entstammt dem Französischen und neuerer Mundart; die Wandlung von Praeambulum zu P. ist lautgesetzlich. Zugrunde liegen typische Formen der Stegreifdichtung. Da diese Formen nun nicht auf das Deutsche beschränkt sind, sondern fast überall sich finden, und da die Kenntnis unseres 15. Jhs. nicht ausreichte, um die individuelle Entstehung des P. zu erfassen, ist Irrtümern über diese 46*

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PRIAMEL

Dichtungsgattung Tür und Tor offen gewesen. So erklären sich die Trugbilder der P. in der Weltliteratur, einer indogerm., urgerm., altgerm. P., die irrtümliche Verknüpfung des P. mit dem Minne- und Meistergesang, die ausschweifenden Theorien über seine Entstehung und sein Wesen. Das P. gehört als literarische Gattung nur der dt. Literatur an und ist eine im 15. Jh. selbständige Gattung ursprünglich epigrammatischer Improvisation, die eine Reihe paralleler Einzelheiten in bestimmten Formen mit künstlerischer Absicht zu einer inneren Einheit zu verbinden sucht. Es sind die einfachsten Mittel aller volkstümlichen Improvisation, deren sich das P. bedient; man verfährt im wesentlichen synthetisch, steigernd und analytisch. Paradigma dafür ist der priamelhafte Vierzeiler; im Fastnachtspiel wird dieser als Schlager sich seiner Wirkung bewußt und tut damit den ersten Schritt auf dem Wege zur Entwicklung der Gattung. § 2. Rosenplüts dichterische Individualität, die unerschöpfliche Ergiebigkeit seiner anschauenden Phantasie und der Mangel an strengerer logischer Konzentration, traf in eigentümlicher Weise mit den Bedingungen und Errungenschaften der Stegreifdichtung zusammen, die in der Mitte zwischen den Erzeugnissen des psychologischen Mechanismus und der Kunstpoesie des schönen Gedankens steht. Das P.Gedicht ist auf solcher Grundlage von dem Nürnberger Meister mit sinnigem Kunstverstande formal reich durchgebildet; inhaltlich hat es wie Epigramm und Skolion eigentlich keine Grenzen. Es ist buntes Nürnberger Leben aus dem Anfang des 15. Jhs., was in diesen köstlichen Gebilden literarischer Kleinkunst Gestalt gewonnen hat, vergleichbar den Erzeugnissen der bildenden Kleinkunst jener Zeit. Unter dem Gesichtspunkt des Kunsthandwerks kommen diese P. in der Beurteilung vielleicht am besten zu ihrem Rechte. Gesammelt wurden sie zuerst in Spruchbüchern und in ziemlich willkürlichem Zusammenhange von Spruchsprechern vorgetragen; ein solches Spruchbuch ist in der sog. P.- Rede einer Donaueschinger Hs. erhalten. Der Pritschmeister und Spruchsprecher Hanns Steinberger ließ

noch 1631 ein P. - Spruchbüchlein erscheinen, das denselben Umfang hat wie die Donaueschinger Hs. Dann kommt es zu größeren, immer mehr anschwellenden hs. Sammlungen mit verschiedenen Einteilungsgrundsätzen; eine Fülle von Hss. stellt diesen Zweig der Überlieferung dar. Leider fehlt bis jetzt eine kritische A u s gabe der P. Rosenplüts ebenso, wie eine wissenschaftliche Ausgabe seiner anderen Werke. § 3. Für die organische Form des P . hatte schon Rosenplüts Nachfolger Hans Folz wenig Verständnis mehr. Er erweitert das kleine Gedicht, nicht ohne es (ähnlich wie später z. B. B. Waldis) ins Unorganische zerfließen zu lassen. Liebhaber aus unliterarischen Kreisen verleiben die P.Sprüche ihren Sammlungen ein, in deren unergründlichem Durcheinander (wie später in den Sprichwörtersammlungen des 17. Jhs.) von dem Charakter des Rosenplütschen Gedichtes fast nichts übrigbleibt. Ein frühes Beispiel dafür liefert die sog. Wolfenbüttler P. - Hs., deren Besitzer dann auch, mit dem Modewort spielend, dieses auf alles und jedes anwenden. Das rasche Verschwinden der Gattung erklärt sich vielleicht auch daraus, daß die Erzeugnisse der Kleinkunst, die Neujahrswünsche, Klopfan, Weingrüße, Biersegen, P., besonders schnell wechselnden Moden unterworfen waren. Die Nachwirkung des klassischen P.-Gedichts, das in mannigfachen Verbindungen mit Tischzucht, Liebeslied, Rügespruch u. dgl. erscheint, dauert bis in die Gegenwart; es wird noch als Hausspruch und Hausinschrift in Mittelund Oberdeutschland angetroffen. Die kunstlosere, priamelhafte Stegreifdichtung, wie sie auch vor Rosenplüt geübt war, und die gelegentliche P.-Form (z. B. bei Logau) wurden bis in unsere Zeit weitergepflegt, ohne Anspruch auf eine literarische Gattung zu machen. F r . W. B e r g m a n n Lapriamile dans les différants littératures anciennes et modernes 1868. C. W e n d e 1er De praeambulis eorumque historia in Germania. Partieula I. De praeambulorum indole, nomine, origine Haller Diss. 1870. W. U h l Die deutsche Priamel, ihre Entstehung und Ausbildung. Mit Beiträgen sur Geschichte der deutschen Universitäten im Mittelalter 1897. K. E u l i n g Das P. bis Hans Rosenplüt (Germ.

PRITSCHMEISTER-PROLOG Abh. hsg. von Weinhold und Vogt 25) 1905. Die sogenannte Wolfenbüttler P.-Hs. 24. Aug. 2° hsg. von K . E u 1 i n g (Deutsche Texte des Mittelalters, hsg. von der Preuß. A k a d . d. Wiss. M) »908. K . Euling.

Pritschmeister. Eine im 16. und 17. Jh. verbreitete Klasse von Gelegenheits- und Stegreifdichtern, die bei höfischen und bürgerlichen Festlichkeiten als Sprecher auftraten. Namentlich bei fürstlichen Hochzeitfeiern und städtischen Schützenfesten waren sie gern gehörte Festredner. Ihren Namen führten sie von der Pritsche: einem langen, bis auf den handbreiten Griff in dünne Blätter gespaltenen Schlagund Klapperwerkzeug, das beim Aufschlagen schnarrende, durchdringende Töne verursachte und so im Lärm der Versammlung den Sprechern Aufmerksamkeit und Gehör verschaffte. Die P. haben mit den Meistersängern nichts zu tun, setzen vielmehr die alte Tradition der Wappendichter und Herolde fort (vgl. Art. Heroldsdichtung). Fürsten und andere Vornehme und solche, die zu ihnen gerechnet sein wollten, auch die Reichsstädte, legten Wert darauf, daß das feierliche Gepränge ihrer Festlichkeiten durch den poetischen Vortrag der P. gehoben und gesteigert wurde. Die P. sprachen meist in Versen, oft auch mit Prosa untermischt. Gedruckt wurden ihre Vorträge nur selten, etwa wenn sie eine prunkvolle Hochzeitsfeier eines Landesfürsten oder ein großes Schützenfest in ausführlicher Lobrede verherrlicht hatten. Dann wurde der Druck auch mit kostspieligem Aufwand reich ausgestattet. Dichterisch sind die Reimereien der P. durchweg nicht sehr wertvoll; hingegen bieten sie dem Historiker und Kulturhistoriker ein nicht zu unterschätzendes Quellenmaterial, das noch mehr ausgeschöpft werden sollte. K . G o e d e k e Grundriß

II 2 S. 321, 325ff. G. Bebermeyer.

professorenroman s. H i s t o r i s c h e r Roman. Programm s. T h e a t e r z e t t e l . Proletarierdichtung s. S o z i a l e D i c h tung. Prolog. § 1. A l l g e m e i n e s . P. (griech. ffpöXoxo? = „Vorrede", früher im Singular und Plural schwachformig gebraucht, schon im 14. Jh. als der prologe belegt)

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nennt man die an die Zuschauer oder Leser gerichteten Einleitungsworte oder -verse vor einem Drama, in denen eine besondere Prologperson oder auch eine (meist wichtige) Person des nachfolgenden Stücks die Absichten des Dichters oder der Aufführung zur Aufmerksamkeit mahnend darlegt. Zu den oft wiederkehrenden Aufgaben des P., der die Beziehungen des Dichters oder der Schauspieler zu dem Publikum herstellen soll, gehören das Freimachen des Platzes, in Ermanglung des Vorhangs die Bezeichnung des Anfangs, die Aufforderung zur Ruhe, die Rechtfertigung der Absichten des Spiels. Ferner übernimmt er oft Mitteilungen, die später dem Theaterzettel zugefallen sind, nämlich Ansagen des Titels, der Personen, des Inhalts und derVoraussetzungen (s. d. Art. Exposition) und der Quellen (besonders bei biblischen Dramen). Darüber hinaus soll er Stimmung geben und die Aufmerksamkeit auf die besondere Veranlassung lenken, wofür noch heute bei feierlichen Gelegenheiten Festprologe verwendet werden. Auch Vorspiele (s. d.), die ein abgeschlossenes Ganzes bilden, haben von diesen vorbereitenden Aufgaben mitunter die Bezeichnung P. ('P. im Himmel' im 'Faust', 'Wallensteins Lager', vgl. Schiller an Körner 30.9.1798); manchmal zu Unrecht: so ist der P. zur 'Jungfrau von Orléans* kein P., sondern ein aus Stoffüberfülle vom I . A k t abgesprengter Teil der dramatischen Handlung. Dem P. entspricht am Ende der Epilog (s. d.). Von der Entwicklung der Bühne und des Dramas sind die Aufgaben und damit Blüte und Verfall des P. wie des Epilogs abhängig gewesen. §2. D e r P r o l o g in d e r A n t i k e . Die griech. Tragödie bezeichnet mit P. die vor dem ersten Chorgesang liegenden, exponierenden Sprechszenen (Aristoteles 'Poetik' XII). In den ältesten Stücken fehlt der P. Er wird zuerst von einer Person gesprochen, bei S o p h o k l e s von beiden, zuweilen allen drei Schauspielern. E u r i p i d e s beginnt in der 'Medea' mit einem lyrischen, sonst mit einem schematisch erzählenden Monologbericht, um nicht mit Leidenschaft einzusetzen und um die Möglichkeit der Steigerung zu haben. Die Komödiendichter lösten den P. vom Stück und "ge-

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PROLOG

stalteten ihn zu einer Unterredung des Sprechers mit dem angeredeten Publikum aus. P l a u t u s läßt eine Person des Spiels alles zum Verständnis Nötige mitteilen (Titel, Inhalt, auftretende Personen, sogar den Hinweis auf das griech. Original), während die P. des T e r e n z , die Donat in empfehlende, polemische, inhaltangebende und gemischte einteilt, mehr ästhetische Theaterfragen behandeln. Von S e n e c a s Tragödien beginnen die meisten mit der Prologrede vor dem Chor. G. F r e y t a g Technik des Dramas II 2. F. L e o Der Monolog im Drama (AbhandL der Gesellsch. der Wisselisch, zu Göttingen NF. X 5) 1908 S. 23, 70. G. W e i s s t e i n Geschichte des Theaterzettels, Spemanns Goldenes Buch des Theaters (1912*) S. 692.

§3. D e r P r o l o g i m D r a m a d e s d e u t s c h e n M i t t e l a l t e r s . Im lat., noch ganz kirchlichen Drama in Deutschland sind nur selten Ansätze zur Verdeutlichung der Darstellung durch P. zu finden. Als mit der Ausgestaltung der Spiele der Inhalt schwerer zu erfassen war, mußte ein von einem prächtig gekleideten praecursor, proclamator, praelocutor, Boten, Herold, exposüor ludi, auch vom regens, rector, regierer ludi oder von einem ehrfurchtgebietenden Spieler (z. B. Engel, Kirchenvater) gesprochener, episch im Voraus deutender P. in das Spiel richtunggebend und eindringlich einführen. Er wird vorhanden gewesen sein, auch wo er im Text nicht mit überliefert ist. Sogar vor den einzelnen Abschnitten der Handlung, besonders vor den einzelnen Spieltagen, waren der Übersicht wegen mitunter noch einzelne P. nötig. Als gesprochener Theaterzettel mußte er das Spiel ansagen, die Spielpersonen aufrufen. Freimachen des Raumes, das stimmunggebende Zeichen für den Beginn und die stete Aufforderung zum ruhigen Zuhören nach dem Gesang des Silete durch die Engel sind seine, im Text schließlich nicht mehr ausgeführten, sondern nur noch angedeuteten Aufgaben. Durch Verteilung des P. auf mehrere Personen und durch leicht komische Wendungen wurde für Abwechslung gesorgt. Die Belastung des sowieso breiten Textes durch diese Mitteilungen des P. ist der dramatischen Technik der mal. geistlichen Spiele sicher nachteilig gewesen. In den

höher stehenden Fastnachtspielen des 15. Jhs. mußte der Einschreier (Vorlaufer, praecursor, Herold) humorvoll den Wirt des Hauses begrüßen, den Platz frfei machen, die Spieler vorstellen, den Inhalt andeuten, soweit nicht bei improvisierten Stücken die Überraschungswirkung gewahrt werden sollte, und zum Achtgeben und Schweigen auffordern. Das zusehende Publikum faßte der P. dabei manchmal als mitspielendes auf. H e i n z e l Beschreibung des geistlichen Schauspiels im dt. MA. (Beiträge zur Ästhetik IV) 1898 S. 27t. 63ff. C. H a g e m a n n Geschichte des Theaterzettels I. Diss. Heidelberg 1901. S. 44ff., 62ff., 86ff.; auch zusammengefaßt in 'Bühne u. Welt' IV (1902) S. 501 ff. F. Z e l l w e k e r Prolog undEpilogim dt.Drama 1906; d a z u D L Z . X X V I I (1906) S. 1697; ZföG. L V I I (1906) S. 720; LZbL LVIII (1907) S. 671.

§4. D e r P r o l o g im D r a m a d e r R e n a i s s a n c e . Im volkstümlichen reformatorischen Drama nimmt der oft von einem Narren gesprochene P. häufig die belehrende Ausdeutung vorweg. Seine epische Form erinnert an die langen, gedruckten Vorreden zu den didaktischen Dichtungen. Er gibt Quelle und, da die Bühne dekorationslos war, den Schauplatz an. In Nachahmung der in den Terenzausgaben neben den P . stehenden kommentierenden, nicht für die Aufführung, sondern nur für den Druck bestimmten Argumente (Inhaltsangaben) trennt das neulat. Drama und von den dt. zuerst B. Waldis' 'Verlorener Sohn' (1527) die nach dem P. von einem bekränzten Knaben oder schryber vorgetragene Inhaltsangabe von dem eigentlichen P. Später wurden die Argumente (Periochen) länger und jedem A k t vorangestellt. Die P., denen auch Chorlieder vorausgingen, und deren Kostüme manche Drucke zeigen, und die Argumente bedienten sich um der Verständlichkeit willen noch vor den Dramen selbst der dt. Sprache, wenn auch die lat. daneben im Gebrauch blieb. Das gelehrte Schuldrama vereint oft wieder P. und Argument, so daß die typische Form: P., 5 Akte, Epilog entsteht. Der P. zählt auch wie ein Theaterzettel die Personen auf, hebt den Nutzen der Schulaufführungen hervor und sucht durch Auflösung in ein Gespräch in seine immer gleichen Aufgaben Abwechslung zu bringen. Auch bei Hans Sachs liegen dem vom Herold

P R O S A R H Y T H M U S — P R O S O D IE gesprochenen P. die Anrede ans Publikum, Inhalts- und Quellenangabe, Aufforderung zum Stillschweigen ob. In den weniger als die Meistersingerdramen formelhaften Fastnachtspielen übernimmt oft nur eine Person des Spiels die Begrüßung. In dem bald in Deutschland wirksam werdenden engl. Theater war der P. ebenfalls wichtig. Lily hat manchmal verschiedene P. für Hofund Stadtaufführungen desselben Stücks. Bei Shakespeare ist er von der Handlung abgelöst (vgl. das Schauspiel im 'Hamlet', Quince im 'Sommernachtstraum'). In 'Heinrich V.' tritt der P. ähnlich wie später bei Tieck vor jedem Akt als Chorus auf, um den Zusammenhang herzustellen, dafür hat Marlowes 'Faust' das älteste Beispiel gegeben. F. Z e l l w e k e r P. und Epilog 1906. C r e i z e n a c h II 98, 293; IV 52, 313, 343.

§5. D e r P r o l o g s e i t d e r R e n a i s s a n c e . A m Ende des 16. Jhs. wird der entbehrlich gewordene P. oft nur noch verwendet, weil es eben so herkömmlich ist. Heinrich Julius von Braunschweig konnte sich bei seinem höfischen Publikum die Verdeutlichung meist ersparen. Ebenso verzichtet Ayrer in seinen Fastnachtspielen meist darauf; er deutet den Inhalt nur an und gibt gelegentlich durch einen Boten die Exposition. Gryphius hält noch an den einleitenden Reden fest und verspottet die alte, volkstümliche Form des P. im 'Peter Squentz'. Das Schultheater der Jesuiten wie Chr. Weises behielten den „Vorredner" (die Jesuiten vor jedem Akt) wegen der Rollenvermehrung bei. Weise übertrug ihm die Begrüßung und die übliche Bitte um Nachsicht. Die Angabe des Inhalts, die der Überraschung wegen oft nur unvollständig war, und der Personen hatten weitläuftig gedruckte Programmhefte übernommen, wie sie auch die Jesuiten lat. und dt., später nur dt. für die Honoratioren drucken ließen (Synopsen, Periochen). Im 18. Jh. sind die meisten herkömmlichen Aufgaben des P. durch die Form der Bühne erledigt oder vom Theaterzettel übernommen. Den Expositionsprolog verteidigte Lessing im 48. Stück der 'Hamburgischen Dramaturgie' unter Berufung auf Diderot gegen H&lelin. Manche Monodramen (z. B. A. G. Meißners 'Sophonisbe') wären aller-

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dings ohne P. unverständlich. Stimmunggebende P. gehörten aber noch zu den Obliegenheiten der Theaterdichter und schreibgewandter Schauspieler. Sie sollten um die Gunst des Publikums bitten (worüber sich K . F. Cramer 1776 in seiner Schrift 'Über den Prolog' aufhielt, der eine Beziehung des P. auf das Stück forderte), auf besondere Gelegenheiten hinweisen ('Hamburger Dramaturgie' VI, F. L. Schröder, Goethe als Theaterdirektor) und eigene Ansichten durchkämpfen. Wichtig wurden P. und Epilog noch für Tieck, der durch diese Umrahmung seine Spiele der Illusion entrückte. Im übrigen haben im 19. Jh. Bühne, Zeitungsaufsätze, Theaterzettel, Textbuch den P. unnötig gemacht und ihn auf zufällige Launen und besondere Gelegenheiten eingeschränkt. H. Schauer. Prosarhythmus s. R h y t h m u s . Prosodle ist ein der antiken Grammatik entlehnter Begriff, dem schon im Altertum, dann in der Entwicklung der deutschen Verswissenschaft wechselnder Inhalt gegeben ist. Die Übernahme antiker Anschauungen mit diesem Begriff und seine schwankende Bedeutung haben nicht wenig dazu beigetragen, die Unklarheiten in der dt. Versbetrachtung zu vermehren und die Erkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse zu hindern. Der Ausdruck P. wird daher in der dt. Verswissenschaft jetzt gemieden. P . (griech. Trpoffiubia, lat. accentus)

be-

deutet ursprünglich im Griechischen die „Betonung" einer Silbe. Die antiken Grammatiker geben an, daß die Silben der griech. Worte verschiedene Tonhöhe hätten. Sie unterscheiden einen „Hochton" (Trpocriybiä öEeia oder ¿ E Ü £ T Ö V O ? ) , einen „Tiefton" (npopiubia ßaptia oder ßapu? T Ö V O ? ) , der wohl als der Normalton (Mittelton) der Silbe angesehen wurde, und den „Schleifton", bestehend aus einem hohen und einem tiefen Ton (Trpopujfoianepumuinivri). Schon im Griechischen gaben aber sicherlich diese Ausdrücke und Zeichen nicht die natürlichen Betonungsverhältnisse der Worte in der lebendigen Rede wieder. Denn es lag nicht in der Art der Alten, phonetisch genau zu beobachten und Beobachtungen wiederzugeben; auch wußten sie noch nicht das

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PROVENZALISCHE L I T E R A T U R

geschriebene Wort vom gehörten streng zu trennen. Die Akzentuierung derWortbilder stammt aus derZeit der Alexandriner (3. Jh. v.Chr.). Sie schließt sich vielleicht an eine uralte liturgische oder rhapsodische Lehre an und erfaßt weniger den natürlichen „Akzent", d. h. die Silbenschwere mit allen ihren Faktoren, als einen Faktor dieser Schwere, die Tonbewegung oder das, was man dafür hielt. Zugleich bedeutete P. im Griechischen auch die Tonzeichen selbst ( / , \ Der Begriff wurde ausgedehnt auf andere Zeichen, die die Aussprache mit bestimmen (Spiritus, Apostroph u. a.); schließlich wurde er von den griech. Metrikern auf die Messung der Silbenquantität erweitert, vielleicht weil man sich auch hier gewisser Zeichen, _ a bediente. Auch hier drangen die Alten nicht in das Wesen der Quantität ein (s. den Artikel Quantität), da man bei der Erforschung bloß über den g e s e h e n e n Text spekulierte, nicht aber vom Buchstaben zum Laut weiterging, ein Fortschritt, den erst die Sprachwissenschaft des 19. Jhs. machte. Die lat. Grammatiker übernahmen die griech. Theorie einfach in ihre Akzentlehre. Durch die Humanisten und die dt. Grammatiker des 16. Jhs. kommt diese Lehre von der P., die schon die natürlichen Verhältnisse der antiken Sprachen nicht richtig wiedergab, in die dt. Grammatik und Metrik. Im Anschluß an antike Metriker verstand man dabei unter P. besonders die Behandlung der Silbenquantität, diese ganz im antiken Sinne genommen. Es werden aber auch unter P. gelegentlich Abstufungen der Tonhöhe, der „Stärke" und anderer Faktoren des Akzents begriffen, ohne daß die komplexe Natur des Akzents erkannt wird. So wurde die Verwirrung immer größer und der Begriff P. immer schwankender und unklarer. Im allgemeinen ging er auch in der Folge auf Zeitmessung d. h. Messung des Silbenmaßes. Zu einer wahren Erkenntnis der Quantität, ihres Wesens und ihrer Bedeutung für den dt. Vers kam es aber nicht. Stark macht sich auch der Einfluß der musikalischen Taktlehre seit Sulzers Artikel 'Rhythmus' in der 'Allge-

meinen Theorie der schönen Künste' ¡1773) geltend. (K. Ph. M o r i t z Versuch einer deutschen Prosodie 1786; J. H. V o ß Zeitmessung der deutschen Sprache 1802; J. M i n c k w i t z Lehrbuch der dt. Verskunst oder Prosodie und Metrik 1843.) (S. auch den Art. Quantität.) In der geschichtlichen Entwicklung der Forschung wird der Begriff „ P . " im allgemeinen mit dem Begriff „Akzent" zusammengeworfen. (S. auch den Art. Akzent.) In neuerer Zeit behandelt A. H e u s l e r als P. die Möglichkeiten der Formung dt. Sprache im Vers, also die metrische Sprachbehandlung, d. h. den Einfluß der musischen Form auf die Sprache, die Formung des Rhythmizomenon, der Sprache, durch den Rhythmus, dies im wesentlichen unter dem Gesichtspunkt der Silben„stärke" und der Silbendauer. Aber auch er verwendet den jetzt in der Verswissenschaft wegen seines unbestimmten Inhalts gemiedenen Ausdruck mit großer Zurückhaltung. F. S a r a n meidet den Ausdruck P. für die Verhältnisse der dt. Sprache und des dt. Verses überhaupt. Dafür hat F. Saran eine sehr ausführliche, durch Beobachtung an der gesprochenen Sprache gewonnene, von den Fesseln der antiken Theorie befreite Lehre vom „Akzent" (begriffliche Deutung dieses Komplexes, Darlegung der Faktoren des Akzentes u. a.) im ersten Abschnitt seiner „Verslehre" gegeben und in dem unten angegebenen Aufsatze die Anschauungen der Alten über P. und die durch die Jhh. überlieferten Begriffe und Regeln dem Ohre vorstellbar und lebendig gemacht, soweit das wenigstens möglich ist (s. auch die Art. Akzent und Quantität). C. B e y e r Deutsche Poetik' (1911): Deutsche Prosodik S. 216—260. A. H e u s l e r Deutsche Versgeschichle 1(1925) S. 51—75. F. S a r a n Deutsche Verslehre S. 5—131. Ders. Die Quantitätsregeln der Griechen und Römer, Festgabe Streitberg (1924) S. 299—325. P. Habermann.

Provenzalische Literatur. § 1. T r o u b a d o u r l y r i k und M i n n e s a n g . Die Hauptbedeutung der p. L. für die dt. liegt darin, daß die Lyrik der Troubadours den dt. Minnesang hervorgerufen und in weitgehendem Maße in seiner Eigenart bestimmt hat. Während die meisten Gattungen der altprovenzal. Literatur, besonders gegenüber der altfrz., keine besondere

PROVENZALISCHE LITERATUR Originalität zeigen, besaß die provenzal. Kunstlyrik von Anfang an eine ausgeprägte Eigenart: es war eine auf konventioneller Grundlage ruhende höfische Poesie, die mit der kulturellen Erscheinung des Minnedienstes in engstem Zusammenhang steht und die Huldigung für hochstehende verheiratete Damen als hauptsächliches Thema hat. Bei der Entstehung dieser vorzugsweise in den Kreisen des ritterlichen Adels gepflegten Dichtung scheint vor allem das Vorbild arab. Hofpoesie in Spanien maßgebend gewesen zu sein, wenn auch die Zusammenhänge im einzelnen noch nicht geklärt sind; zur weiteren Ausbildung des gedanklichen Gehalts haben auch antike Anschauungen und Motive, die besonders aus Ovid stammen, beigetragen, und von der zeitgenössischen christlichen Religion her sind mystische Stimmungen und Vorstellungen eingeflossen. Neuerdings ist von verschiedenen Seiten auf die mlat. Lyrik, besonders die Vagantendichtung, als eine Quelle des Minnesangs hingewiesen worden; daß tatsächlich bei einigen lyrischen Gattungen der Provenzalen mit Einwirkungen von dieser Seite her zu rechnen ist, daran dürfte nicht mehr zu zweifeln sein, wenn auch Weg und Umfang eines solchen Einflusses noch nicht klargestellt sind. Gegen die einseitigste Fassung dieser Theorie, wonach die lat. Liebesdichtung des MA. sowohl den provenzal. als auch (unabhängig hiervon) den mhd. Minnesang hervorgerufen hätte, ist jedoch einzuwenden, daß vom Minnedienst, der eigentlichen Grundlage des Minnesangs, in der mlat. Lyrik nur Spuren zu finden sind, und daß eine selbständige zweimalige Herausbildung jener Kulturerscheinung in Südfrankreich und Oberdeutschland auf derartiger Grundlage unmöglich erscheint. Die ältesten bekannten Denkmäler einer provenzal. Hofdichtung sind uns in den Liedern des Grafen Wilhelm IX. von Poitou (um 1100) erhalten, und die sich in der ersten Hälfte des 12. Jhs. entwickelnde Troubadourlyrik hat offenbar den Anstoß dazu gegeben, daß um die Mitte des Jhs., so wie in Nordfrankreich, auch in Oberdeutschland eine ritterlich-höfische Poesie entsteht; allerdings handelt es sich dabei

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zunächst nur um eine allgemein kulturelle Einwirkung, die das Eindringen des Minnedienstes in die höfische Gesellschaft Deutschlands begleitet und zuerst (nach II50) in Österreich (wohin die neue Mode möglicherweise auf dem Wege über Oberitalien und Friaul gelangt ist), bald danach auch in Bayern und Schwaben erkennbar wird. Hier scheint schon in den Liedern der ältesten uns bekannten Minnesänger z. B. bei dem Motiv der Merker und bei der Auffassung der Minne als Dienstverhältnis provenzal. Einfluß vorzuliegen, während diese älteste dt. Minnedichtung im übrigen noch selbständig ist, indem ihr literarischer Ausgangspunkt wohl in der Volkslyrik zu suchen ist. Fr. D i e z Die Poesie der Troubadours 1883*. J. A n g l a d e Les troübadours 1908. E . W e c h ß l e r Das Kullwproblem des Minnesangs I 1909. K. B u r d a c h Vorspiel I, 1 (1925) S. 253ff. S. S i n g e r Arab. u. europ. Poesie im MA., Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1918, Philos.-hist. Kl., Nr. 13. S a l v e r d a de G r a v e Neophil. 111(1918) S. 247-252. W. H. Moll Über den Einfluß der lat. Vagantendichtung auf die Lyrik Walihers von der Vogelweide 1925 S. 1—12. H. B r i n k m a n n Entstehungsgeschichte des Minnesanges 1926. A. J e a n r o y Les origines de la poisie lyrique en France au moyen dge '1904 S. 274ff. A. S c h ö n b a c h Die Anfänge d. dt. Minnesanges 1898.

§2. L i t e r a r i s c h e E i n w i r k u n g d e r altprovenzalischen Lyrik. Allgemeines. Seit etwa 1175 beginnt nun aber der dt. Minnesang sich sowohl formal als auch inhaltlich enger an das provenzal. Vorbild anzuschließen. Schon vorher war die nordfrz. Kunstlyrik in gleicher Richtung vom Süden her beeinflußt worden und wirkt in der Folge auch ihrerseits, parallel mit der provenzal., auf die dt. ein, so daß im einzelnen nicht immer mit Sicherheit zu entscheiden ist, wie weit der unmittelbare Einfluß der provenzal. Lyrik reicht, oder wie weit er durch die altfra. Dichtung vermittelt ist. Jedenfalls ist diese literarische Einwirkung der roman. Lyrik zuerst in Westdeutschland zu bemerken, indem Heinrich v. Veldeke, der besonders im Strophenbau, weniger im gedanklichen Gehalt, abhängig erscheint, sich nach altfrz. Mustern gerichtet hat, während bei Friedrich v. Hausen Anschluß an provenzal. Vorbilder nachweisbar ist. Der letztere wird der eigentliche Begründer

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PROVENZALISCHE

der romanisierenden Richtung im dt. Minnesang, an ihn schließen sich Ulrich v. Gutenberg, Bligger v. Steinach, Bernger v . Horheim an, bei denen aber z. T. auch frz. Einflüsse erkennbar sind. Neben Friedrich v. Hausen stehen Rudolf v. Fenis, Graf v . Neuenburg in der Schweiz, und der Thüringer Heinrich von Morungen in engerem Zusammenhang mit der provenzal. Lyrik; bei allen dreien sind sogar direkte Nachahmungen bestimmter provenzal. Lieder festzustellen: so bildet Friedrich v. Hausen Strophen von Bernart v. Ventadorn und Folquet v. Marseille nach (K. B a r t s c h Germ. I [1856] S. 48off.), Rudolf von Fenis solche des genannten Folquet sowie von Peire Vidal ( B a r t s c h ZfdA. X I [1859] S. 145 ff.), Heinrich v . Morungen solche eines anonymen Troubadours ( B a r t s c h Germ. III [1858] S. 304ff.). Die provenzalisierende Richtung findet nun in Oberdeutschland noch verschiedene andere Anhänger und wird dann durch den Elsässer Reinmar v. Hagenau auch nach Österreich verpflanzt; doch gelangt schon dessen anfänglicher Schüler Walther von der Vogelweide (wegen Nachahmung provenzal. Stellen durch Waither vgl. GRM. V [1913] S. 552f.) zu einer viel selbständigeren Kunstübung und trägt dabei auch mancherlei neue, dem Provenzalischen unbekannte Auffassungen in das Minneverhältnis hinein. Damit beginnt die Abkehr von der provenzal. Manier, die im 13. Jh. fast nur noch bei Hildbolt v. Schwangau, Otto v. Botenlauben und dem Markgrafen v. Hohenburg eine streng traditionelle Fortsetzung gefunden hat. Wenn also auch die Nachfolger Walthers der provenzal. Mode im ganzen freier gegenüberstehen, so hat sich doch der durch die provenzal. Herkunft bestimmte allgemeine höfisch-konventionelle Charakter des dt. Minnesangs bis ins 15. Jh. erhalten, und viele seiner aus der gleichen Quelle stammenden formal-metrischen Eigentümlichkeiten leben noch im Meistergesang fort. Daß im Zusammenhang mit der literarischen Nachahmung auch die für die Troubadourgedichte geltenden musikalischen Formen in Deutschland nachgebildet werden, sei beiläufig vermerkt.

LITERATUR K . B u r d a c h Reinmar der AUe find Walther von der Vogelweide 1880. F. Michel Heinrich von Morungen und die Troubadours ( QF. 38) 1880. C. v o n K r a u s Heinrich von Morungen 1925

S. 109—112. Fr. Gennrich ZfMusilntriss. VII (1924—25) S. 65—98.

§ 3. I n h a l t l i c h e B e e i n f l u s s u n g e n . Während bei den ältesten Vertretern des dt. Minnesangs die Frau noch oft als der werbende Teil erscheint, ziehen bald unter dem literarischen Einfluß der roman. Minnedichtung deren typische Motive in die mhd. Lyrik ein: die Huldigung des Sängers für die Herrin, gern eingekleidet in das charakteristische Bild des Lehnsverhältnisses, Schilderung ihrer Vorzüge, ihres Verhaltens gegenüber dem Liebenden, dessen Gesinnung und Gefühle (vor allem Beteuerung der unwandelbaren Treue und Klagen über die Aussichtslosigkeit der Werbung), sowie andere besondere Motive (Schüchternheit des Liebenden, Verschwiegenheit [tougen tnintte, provenzal. celar], die merkoere [provenzal. lauzengiers], Forderung der tttdze [provenzal. mezura] u n d hövescheit

[provenzal. cortezia] usw.) und Gedanken über Wesen und Wirkungen der Minne. Daher lassen sich zahlreiche Parallelen zwischen provenzal. (und altfrz.) Kanzonen und mhd. Liedern zusammenstellen ( D i e z a. a. O. S. 238 Anm. 4; W e c h ß l e r a. a. O. passim). Auch im ganzen poetischen Charakter des dt. Minnesanges kommt die Wandlung zum Ausdruck: herrscht zunächst noch die unmittelbare Empfindung darin vor, so wird sie unter der provenzal. Einwirkung mehr und mehr durch Reflexion verdrängt. Auch außerhalb der Minnedichtung im engeren Sinne ist der provenzal. Einfluß zu verfolgen: das der Kanzone nahestehende Klagelied (provenzal. plattch), worin der Dichter den Tod befreundeter Genossen oder fürstlicher Gönner beklagt, findet in Deutschland Nachahmung (doch fehlen hier ganz die in Südfrankreich begegnenden Klagelieder auf den Tod der Herrin); unter der Einwirkung des provenzal. siruentes (Rügelied; s. d.) erweitert die mhd. Spruchdichtung ihren Stoffbereich und gibt, über die moralisierenden Betrachtungen der älteren Spruchdichter hinausgehend, seit Waither vor allem politischen Motiven Raum, richtet Lob oder Tadel an einzelne Personen oder

PROVENZALISCHE LITERATUR auch Stände und ergeht sich in Klagen über den Verfall des höfischen Lebens; weiter erleidet das dt. Tagelied nach dem Muster der provenzal. alba eine Umgestaltung derart, daß die Figur des Wächters, bisweilen auch der Refrain, eingeführt wird {G. R o e t h e AfdA. X V I [1890] S.9off.); die provenzal. Tenzone, das Streitgedicht, hat, speziell in der Unterart des joc partit (wobei in der ersten Strophe eine dilemmatische Streitfrage aufgeworfen wird), das dt. geteilte spil hervorgerufen, von welcher Gattung uns in verschiedenen „Sängerkriegen" Beispiele erhalten sind; nach dem Vorbild des provenzal. breu (poetischer Liebesbrief) ist auch in Deutschland der gereimte Liebesbrief (vielleicht in Fortbildung des einheimischen Liebesgrußes) entstanden. Bei Kanzone, Liebesbrief und geteiltem Spiel muß übrigens mit einem stärkeren Einfluß auch der nordfrz. Lyrik auf die dt. gerechnet werden; und bei der mhd. Spruchdichtung, bei Klagelied und Liebesbrief können auch von der mlat. Literatur her Einwirkungen stattgefunden haben. Eine Abgrenzung dieser verschiedenen Einflußsphären bleibt aber, wenn sie überhaupt möglich ist, noch zu ermitteln. Beim mhd. Kreuzlied (vgl. d. Art. Kreuzzugsliteratur) hingegen ist trotz großer Ähnlichkeiten eine literarische Beeinflussung durch die entsprechende provenzal. (-altfrz.) Gattung nicht wahrscheinlich, da diese nur etwa ein Jahr vor jenem erscheint (1187), nachdem in Südfrankreich nur vereinzelte zum Kampf gegen die Mauren in Spanien auffordernde Lieder und in Nordfrankreich einige Kreuzlieder mehr volkstümlichen Ursprungs vorangegangen waren; und die religiöse mhd. Lyrik (z. B. Walthers) ist als völlig unabhängig von der romanischen anzusehen, da religiöse Lieder weltlicher Dichter (abgesehen von einigen Bußliedern) in Süd- und Nordfrankreich bis weit ins 13. Jh. hinein kaum zu finden sind. A n n a L ü d e r i t z Die Liebestheorie der Proventalen bei den Minnesingern der Staufereeit (LithForsch. 29) 1904. H. S p r i n g e r D. altprov. Klagelied. Diss. Berlin 1894 S. 45 f. W. N i c k e l Sirventes u. Spruchdichtung (PaL 63) 1907. K . B a r t s c h Über die roman. u. dt. Tagelieder, Album des lit. Vereins in Nürnberg, Jg. 1865, S. iff. W. de G r u y t e r Das dt. Tagelied.

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Diss. Leipzig 1887. H. J a n t z e n Gesch. d. dt. Streitgedichtes im MA. (GermAbh. 13) 1896. A. R i t t e r Altschwäb. Liebesbriefe (Grazer Stud. z. dt. Phü. 5) 1897. E. M e y e r Die gereimten Liebesbriefe d. dt. MA. Diss. Marburg 1898. H. S c h i n d l e r Die Kreuzsäge in d. altprov. u. mhd. Lyrik. Progr. Dresden 1889.

§4. F o r m a l e B e e i n f l u s s u n g e n . In stilistischer Hinsicht finden viele Bilder und Vergleiche der roman. Lyrik im dt. Minnesang Nachahmung ( M i c h e l a. a. 0. S. I94ff.); viel stärker sind jedoch die Umgestaltungen, die der mhd. V e r s b a u erleidet. Nach dem Vorbild der streng alternierenden (dabei aber die Wortakzente freier behandelnden) roman. Metrik wird der streng akzentuierende, aber mit der Silbenzahl freier umgehende mhd. Versbau in der Richtung umgebildet, daß mehr und mehr ein regelmäßiger Wechsel von streng einsilbiger Hebung und Senkung Platz greift. Weiter wird die roman. Lyrik mit ihrer größeren Mannigfaltigkeit an Versarten die Herausbildung neuer dt. Versarten gefördert haben; an eine unmittelbare Einwirkung ist aber wohl nur bei dem roman. Zehnsilbler zu denken, der, als lyrischer Vers sehr beliebt, den dt. fünfhebigen Vers hervorgerufen oder wenigstens in die Mode gebracht hat. Eigentümlicherweise wechselt bei vielen der unter roman. Einfluß stehenden Minnesänger dieser fünfhebige, im ganzen alternierend gebaute Vers regellos mit vierhebigen Versen von annähernd gleicher Silbenzahl, aber „daktylischem" Rhythmus; es wird kaum zu zweifeln sein, daß auch diese sehr umstrittene und noch nicht einwandfrei erklärte Erscheinung der sog. Daktylen auf irgendwelchem roman. Einfluß (vielleicht seitens der musikalischen Form) beruht. So wie der Versbau, unterliegt auch der S t r o p h e n b a u mancherlei Veränderungen, wobei das frz. Vorbild stärker gewirkt zu haben scheint als das provenzal.: die Strophen werden mehr und mehr dreiteilig gebaut (zwei metrisch genau übereinstimmende Stollen und der Abgesang), und zwar weisen im Deutschen (wie im Französischen) etwa 6 / g aller Lieder diesen Bau auf, wogegen im Provenzalischen nur 8 / 6 so gebaut sind; während die Stollen im Provenzalischen überwiegend umschlingenden Reim zeigen, bevorzugt das Mittelhochdeutsche

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PROVENZALISCHE

(wie das Französische) den gekreuzten Reim; die Originalität der metrischen und musikalichen Form, die provenzal. zwar oft gesucht wird, aber keineswegs als erforderlich galt, wird in der mhd. Lyrik sehr streng angestrebt (noch strenger als altfrz.). Die Mischung von Versen verschiedener Länge innerhalb der Strophen ist ebenfalls durch das roman. (provenzal. und altfrz.) Vorbild veranlaßt. W a s die G e d i c h t e betrifft, so ist die Zunahme der Mehrstrophigkeit, die auch in die Spruchdichtung eindringt, ebenso die besondere Vorliebe für die Fünfzahl der Strophen, aus Nachahmung der roman. Muster (vor allem Kanzone und Sirventes) zu erklären; die Eigentümlichkeit der tornada, d. h. einer verkürzten Geleitstrophe am Schluß, die provenzal. und altfrz. vorherrscht, ist dagegen im Mittelhochdeutschen nur ganz vereinzelt anzutreffen. Von den nichtstrophischen Gedichtgattungen hat der mhd. Liebesbrief die Form der paarweise gereimten, vierhebigen Verse vom provenzal. (-altfrz.) breu übernommen, und der Leich (s. d.) ist durch den provenzal. (-altfrz.) descort beeinflußt, wenn er gern kurze, zweihebige Verse verwendet und nach Zweiteiligkeit des ganzen Aufbaus strebt (letzteres speziell beim provenzal. descort beliebt, altfrz. dagegen seltener). Hinsichtlich der R e i m e schließlich hat das roman. Vorbild auf strengere Reinheit hingewirkt, ferner größere Mannigfaltigkeit in Zahl und Stellung der Reime innerhalb der Strophen, auf der anderen Seite aber gelegentlich (z. B. beim Leich) auch häufige Wiederholung des gleichen Reims oder beim Lied Durchführung derselben Reime durch Stollen und Abgesang hervorgerufen. Die Ersetzung des klingenden, zweihebigen Reims durch den zweisilbigen mit nur einer Hebung ist durch die roman. Praxis der „weiblichen" Reime mindestens befördert worden. Dagegen haben die mancherlei Reim- und Wortspiele, die bei den Troubadours gelegentlich begegnen, in Deutschland wenig Nachahmung gefunden.

LITERATUR S. 146ff. O. Gottschalk D. dt. Minneleich u. s. Verhältnis zu Lai u. Descort. Diss. Marburg 1908. Zur Daktylenfrage u.a. Saran PBB. XXIII (1898) S.6sff. Saran Rhythmus S. 134 i(.

§5. E i n f l ü s s e der a l t p r o v e n z a l i s c h e n E p i k . Neben der Lyrik haben n u r noch einige epische altprovenzal. Dichtungen die mhd. Literatur beeinflußt. Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht beruht auf einem nur bruchstückweise erhaltenen provenzal. Alexanderroman, der um 1100 in der südl. Dauphiné entstanden ist, so daß als Heimat des von dem mhd. Dichter als Verfasser genannten Elberich v. Bisenzûn statt Besançon eher Pisançon (Dép. Hautes-Alpes) anzunehmen ist (A. R o c h a t Germ. I [1856] S. 272ff.). Von dem südpoitevinischen Heldenepos 'Girart de Rossillon' (etwa drittes Viertel des 12. Jhs.) sind Bruchstücke einer nd. Prosaübersetzung erhalten (ZfdA. X X X [1886] S. 76ff., X L V [1901] S. i f f . ) ; und das ebenfalls nur als Bruchstück auf uns gekommene Heldenepos 'Daurel und Beton* (etwa Ende des 12. Jhs.) soll in einer Episode des Nibelungenliedes Spuren hinterlassen.haben (S. S i n g e r im Neujahrsblatt d. Lit. Gesellsch. Bern auf d. J. 1917 [1916] S. 97ff.). Dagegen ist an keine provenzal. Quelle zu denken bei dem 'Daniel vom blühenden Tal' des Strickers, der sich, in Anlehnung an das Alexanderlied, auf ein Werk des Albrich v. Btsenze als Quelle beruft (G. P a r i s Rom. X [1881} S. 478, 481 f.); und auch bei Wolframs Quelle seines 'Parzival' ist, obwohl er als seinen Gewährsmann Kyât den Provenzdl nennt, keinesfalls an ein Werk der p. L. zu denken, zumal Wolfram selbst sagt, jener habe en franzoys gedichtet. § 6. E i n w i r k u n g e n i n n e u e r e r Z e i t . Eine geringe Nachwirkung hat die altprovenzal. Literatur noch seit der Zeit der Romantik entfaltet, indem die Gattung der Tenzone, allerdings mehr als Spielerei, neu belebt wufde (J. M i n o r Nhd. Metrik 1893 1 S. 490), Troubadourlieder verschiedentlich (z. B. von Paul Heyse) dt. nachgedichtet Fr. Kauffmann Deutsche Metrik 1897 S. 54fi. (E. L o m m a t z s c h Prov. Liederbuch 1917 Fr. Saran Deutsche Verslehre 1907 S. 259ff. S. X f . , 245ff.) und einige an die TroubaDers. Der Rhythmus des fran*. Verses 1904 dours anknüpfende Stoffe neu gestaltet S. 103ff. E. Gottschau PBB. VII (1880) worden sind (z. B. von Uhland, Heine, S. 408ff. K. Bartsch Germ. II (1857) S. 269ff. P . Heyse). E. H. Willems Modem Philology XII (1915)

PSALMENDICHTUNG L o t t e Z a d e D. Troub. Jaujre Rudel u. d. Motiv d. Fernlicht i. d. Weltlit. Diss. Greifswald 1919 S. 66ff., 75. K. L e w e n t ArchfnSpr.CXXVII (1911) S. 91 ff. O. S c h u l t z - G o r a ArchfnSpr. CXLIV (1922) S. 103 ff.

§ 7 . Schließlich sei noch auf einige ind i r e k t e E i n w i r k u n g e n hingewiesen, die die p. L. auf die dt. ausgeübt hat. Die provenzal. balada, ein Tanzlied volkstümlichen Ursprungs, hat die nordfrz. bailade hervorgerufen oder wenigstens stark beeinflußt, und von dieser wurde dann weiter die nordische epische Volksballade mit angeregt, die ihrerseits seit dem letzten Drittel des 18. Jhs. in der dt. Kunstdichtung eine anhaltende Nachwirkung entfaltet hat (A. H e u s l e r GRM. X [1922] S. 16ff.). Die Sextine, von dem Troubadour Arnaut Daniel (Ende des 12. Jhs.) erfunden, ist von Dante nach Italien verpflanzt worden und von dort im 17. Jh. nach Deutschland gekommen (J. Minor Nhd. Metrik 1902» S. 483ff.). Zur Zeit der Romantik gelangte die Kanzone nach Deutschland, ebenfalls von Italien her, wohin sie aus Südfrankreich gebracht, und wo sie in der Form noch vom dt. Minnesang beeinflußt worden war (Minor a. a. O. S. 478ff.; W i l k i n s Mod. Phil. X I I I46ff.). Die Blumenspiele, die Joh. Fastenrath 1899 in Köln begründet hat, sind von ihm aus Spanien nach Deutschland übertragen worden, dort aber (in Barcelona) Ende des 14. Jhs. entstanden nach dem Muster der im J. 1324 in Toulouse eingerichteten jocs florals, mit denen einige poetisch tätige Toulouser Bürger die alte Troubadourdichtung zu neuem Leben erwecken wollten. Walther Suchier.

Psalmendichtung. § 1. Das katholische MA. interessierte der Psalter wegen seines Lehrgehalts: psalterium est registrum et consummatio totins theologicae paginae (Augjustin). Daher er vom 9. Jh. bis in die Zeit der frühen Drucke häufiger als irgendein anderes biblisches Buch in prosaischer Übertragung eingedeutscht wurde. Poetische Bearbeitungen erscheinen nicht, mit einziger Ausnahme der ahd. Behandlung des 138. Psalms, die aber nicht als Bruchstück einer Übersetzung des ganzen Psalters anzusehen ist. Das änderte sich mit der Reformation. Denn für die neue Form des Gottesdienstes bedurfte man der Cho-

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räle, und für sie war der Psalter der gegebene Anhalt und Ausgang, zumal man an der überkommenen, theologisch begründeten Wertschätzung dieses Buches festhielt. So hat nicht nur Luther selbst, sondern, z. T. auf sein ausdrückliches Geheiß, die ganze erste Generation der protestantischen Geistlichkeit sich mit der Umwandlung von Psalmen in Kirchenlieder befaßt. Die Stärke dieser ersten Schicht von P. liegt in der Wärme und Tiefe der religiösen Empfindung und in der Freiheit der Behandlung des biblischen Textes, die oft nur eine ganz lockere Paraphrasierung ist, zumal man auch diese Dichtung gelegentlich aktuell färbte und dogmatischen oder polemischen Zwecken dienstbar machte. Auch daß man vorerst nur einzelne Psalmen nach persönlichem Gefallen herausgriff, gab einen Vorsprung vor der Massenproduktion der Folgezeit. Aus solchen Einzelbearbeitungen einen vollständigen dt. Psalter zusammenzustellen, lag nahe; seit Ende der dreißiger Jahre des 16. Jhs. sind mehrere derartige Sammlungen erschienen, von denen die älteste, von Joachim Aberlin herausgegeben (1537), Stücke von mehr als dreißig Dichtern bietet, unter denen kaum ein hervorragender Name der Reformation bis zu Zwingli und den Calvinisten fehlt. § 2. Der nächste Schritt führte zu dt. Psalterien, die durchweg von demselben Bearbeiter herrührten, und dieser Form von P. gehörte die Zukunft. Den Anfang machte 'Der gantz Psalter Davids' des Augsburger Geistlichen J a c o b D a c h s e r (1538), und schon bis auf Opitz sind mehr als fünfundzwanzig solcher poetischen Psalmenübersetzungen erschienen, neben denen stückweise Bearbeitungen, wie sie noch Fischart im 'Straßburger Gesangbüchlein' von 1576, z. T. mit gutem Gelingen, bot, schließlich mehr und mehr verschwinden. Formal halten sich die Bearbeitungen gewöhnlich in einfachen, sangbaren Strophen; doch erscheinen, und zwar unter den gröbsten und ledernsten Arbeiten, auch Übersetzungen in Reimpaaren (Johann Claus 1542, Vitus Abel Entter 1559, Gregor Sunderreuter 1574, Zacharias Eiring 1608). Überhaupt ragt künstlerisch nur wenig über das Niveau des Handwerksmäßigen empor und an die

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PSALMENDICHTUNG

Leistungen des ältesten Kreises heran, am ehesten noch einige Stücke des B u r k a r d W a l d i s (1553), der auch in der freien Behandlung und Aktualisierung der biblischen Vorbilder, ebenso in dem Kampf- und Bekennergeist seiner Lieder sich noch ganz zu der ersten Generation der Psalmendichter stellt. Nicolaus Seinecker, der seiner Psalterauslegung (1565—66) freilich nur einige Psalmenlieder eingelegt hat, ist ihm in manchem ähnlich. Zu beachten ist, wie man immer mehr treue Wiedergabe des Originals, und zwar in der Lutherschen Fassung, erstrebt, und wie man diese Treue immer bestimmter als Ziel der Bearbeitung hinstellt. Aber mit solcher Beschränkung der subjektiven Freiheit verringert sich K r a f t und innerer Wert dieser poetischen Erzeugnisse zusehends, zumal die steigende Entwicklung des Kirchengesanges, besonders des chormäßigen, den untergelegten Psalmentexten etwas von ihrer selbständigen Bedeutung benahm. Es ist begreiflich, wenn in Werken wie dem 'Ganzen Psalter Davids' des Cyriacus Spangenberg (1582) oder der 'Himlischen Cantorey' des Franciscus Algermann (1604) das Vorwiegen musikalischer Interessen von einer formalen Vernachlässigung der Texte begleitet ist. § 3. Auf dem Gebiet des Melodischen liegt auch der Hauptgrund, der im späteren 16. Jh. mehrere Dichter die frz. Psalmenübersetzung von Clemens Marot und Theodor Beza als Grundlage dt. Bearbeitungen wählen ließ, ein Werk reformierter Richtung. Um die Melodien übernehmen zu können, war es nötig, auch Strophe und Vers des frz. Textes silbengetreu zu kopieren. Das geschah zuerst von P a u l S c h e d e - M e l i s s u s , der aber nur die ersten 50 Psalmen erscheinen ließ (1572), bald danach (1573) durch A m b r o s i u s L o b w a s s e r , der eine vollständige Übersetzung vorlegen konnte, die überdies an künstlerischer und sprachlicher Gewandtheit der Schedischen Bearbeitung mit ihrer künstlichen Syntax und ihrer halb gequälten, halb gespreizten Sprache erheblich überlegen war und ihre Schwäche eher in übergroßer Planheit hatte. Dieser Lobwassersche Psalter, gegen den auch eine ähnlich geartete Arbeit des noch von Opitz berühmten Freiherrn Philipp v. Winnenberg (1588) nicht ankam,

ist die erfolgreichste aller Psalmenbearbeitungen geworden: er hat der reformierten Kirche bis in die neuere Zeit als Gesangbuch gedient, ja er hat sich früher gelegentlich auch lutherische Gemeinden und Schulen erobert. Daher lutherische Konkurrenzarbeiten wie 'Der Psalter Davids Gesangweis' des Cornelius Becker (1602), der unter offener Polemik gegen die reformierte Skepsis den christologischen Gehalt der Psalmen stark, bisweilen grob unterstreicht, freilich musikalisch Lobwasser seinen Vorsprung lassen mußte, weil er seine Texte den in der protestantischen Kirche üblichen Melodien unterlegte. Gleichwohl war sein Werk einflußreicher als die Bearbeitung des Johannes Wüstholz, der in seinem 'Lutherischen Lobwasser' (1617) auch die ketzerischen Weisen beibehielt. § 4. Was der Psalmendichtung von Luther bis Opitz den Stempel gibt, ist, daß dieses erste Jh. sich an das breite Volk wendete und aus den Psalmen Choräle schuf, die gesungen werden sollten. Nebenher läuft freilich fast von Anfang an eine künstlichere, wesentlich aufs Lesen berechnete Form der Psalterbearbeitungen, aber sie ist l a t e i n i s c h . Bis zu Opitz' Anfängen sind in Deutschland an die fünfzehn poetische Bearbeitungen des Psalters in lat. Sprache entstanden, formal denkbar bunt, von rein antiken Vers- und Strophenmaßen bis zur Nachbildung dt. Strophenformen. Am Anfang steht das von Luthers Beifall begrüßte ' Psallerium Davidis' (in elegischen Versen) des Eobanus Hessus (1542); einen späten Nachläufer bildet der eigentümliche lat.-dt. 'Davidische Jesuspsalter' des Narciss Rauner (1670), den Spener einleitend empfahl. § 5. Diese gelehrte, unvolksmäßige Tendenz bleibt auch die Signatur für die dt. P. im O p i t z i a n i s c h e n J a h r h u n d e r t . Nicht daß man auf den Gesang bereits verzichtete, aber auf Vers, Reim, Diktion wird solch Gewicht gelegt, daß diese jüngeren Bearbeitungen notwendig mehr und mehr den Charakter von Lesewerken annahmen; und einige Werke wie die umständlichen und künstlichen Psalmenparaphrasen Weckherlins wollen nur noch so genommen sein. Auch darin bewährt sich

PSALMENDICHTUNG der gelehrte Zug der Bearbeitungen des 17. Jhs., daß man, statt sich mit dem Luthertext zu begnügen, des öfteren auf die hebraica veritas zurückgeht (so, nächst Opitz, Georg Werner, der 1638 und 1643 zweimal 50 Psalmen Davids erscheinen ließ). Im übrigen war Opitz nicht der erste, der die Regeln der neuen Verskunst auf die P. anwendete. Schon 1628 ließ Johann Vogel zwölf Psalmen nach neuer Manier, und zwar in Alexandrinern, erscheinen (1638 den ganzen Psalter), 1631 kamen die 10 Bußpsalmen Flemings heraus, ebenfalls in Alexandrinern abgefaßt, und auch der 'Poetische Psalter Davids* des Andr. Heinr. Bucholtz (1640), dessen „Zierlichkeit" noch Spener hoch belobte, ist vor dem Erscheinen der Opitzischen Bearbeitung begonnen. Diese kam, nach mehreren Einzelveröffentlichungen, 1637 heraus, glatt und elegant, verhältnismäßig schlicht in den Formen, aber dem hymnischen Charakter der Psalmen so wenig konform wie die anderen Bearbeitungen dieser Richtung, etwa die Psalmen des Landgrafen Ludwig von Hessen (1657), die 'Davidische Herz-Lust' des Const. Christ. Dedekind (1669), die mit ausgesprochener Absicht ihr ganzes Augenmerk auf Vers und Reim richtet, der 'Lustund Artzeney-Garten des Königlichen Propheten Davids' von Freiherrn v. Hohenberg (1675), eine Alexandrinerbearbeitung, die sich schon durch die kostbaren Kupfer zu jedem Psalm als ein bibliophiles Lesewerk darstellt. Freilich fehlt es auch an Reaktionserscheinungen nicht. Die 'Musica Sionia' des Daniel Zimmermann (1656) ist eine Bearbeitung, die in ihrem bewußten Verzicht auf die modernen Zierate, der Schwerfälligkeit ihrer Form und der Wärme und Echtheit ihrer Empfindung noch ganz den Geist des 16. Jhs. atmet; und die 'Neugestimmte Davidsharfe' des Christian v. Stöcken (1656) legte es darauf an, die Opitzische Übersetzung dem Luthertext anzubequemen, stieß auch die Lobwasserschen Melodien ab, an die sich Opitz noch gehalten hatte. § 6. Auch im 18. J h . dauert der Strom der Psalmenbearbeitungen in unverminderter Stärke an: jede Veränderung des literareischn Geschmacks, jede Neuerung poetischer Formgebung macht das Genos ge-

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treulich mit. Aber Werke, die für den Gesang bestimmt sind oder wenigstens diese Fiktion aufrechterhalten, werden nunmehr selten. Dahin gehören als verbreitetstes Werk die mehrfach aufgelegte Ubersetzung des Joh. J a k . Spreng, „auf die gewöhnlichen Singweisen gerichtet" (1741), oder die des Daniel Wolleb (1751), die den veralteten Lobwasser ersetzen möchte. Im allg. bekennen sich die Bearbeitungen als reine Lesewerke, die bisweilen schon im Titel ihre literarische Richtung erkennen lassen. So erschienen 1746 erstmalig 'Oden Davids' von S. G . L . ( S a m u e l G o t t h o l d L a n g e ) ; ihr Verfasser stellt sich als Anhänger Breitingers vor, dem das Werk gewidmet ist, und proklamiert die Psalmen Davids als Muster der Ode, ohne daß er freilich schon auf den Reim zu verzichten wagte. Urfd die künstlerische Form der Ode in diesem freien Verstände herrscht auch in den Bearbeitungen des späteren 18. Jhs. vor, die sich mehr oder minder stark von Klopstock beeinflußt zeigen. Mit der Lockerung der Form geht öfter eine Befreiung vom Inhalt der Vorlage Hand in Hand, so daß an die Stelle von Übersetzungen wieder freie Paraphrasen treten. So nähert sich auf gewisse Weise die P. nun ihren Anfängen im 16. Jh., auch darin, daß man öfter wieder nur Auszüge nach subjektiver Wahl bearbeitet (Joh. Ad. Schlegel in den 'Brem. Beiträgen') und eine Übersetzung des ganzen Psalters ablehnt (so sehr entschieden Lavater in seinen 'Auserlesenen Psalmen Davids' 1765). Die stärkste dichterische Leistung dieser Zeit ist die 'Poetische Übersetzung der Psalmen' von J o h . A n d r . C r a m e r (von 1755 an), in sehr freien Strophenmaßen, aber noch gereimt. Andere, wie der Freiherr Franz Thomas v. Schönfeld, schreiten bis zu freien, reimlosen Rhythmen vor ('Davids Kriegsgesänge deutsch' 1788). Auch in die wenig paßrechte Form antiker Metra hat man die Psalmen wiederholt gegossen (Jos. Ant. Cramer 1787, Ernst Wetisl. Wilh. v. Wobeser 1793, am gelungensten noch J . Zobel 1790). Auf einer besonderen Linie liegen die mit dem späteren 18. J h . einsetzenden Bearbeitungen, die vor allem das Grundelement hebräischer Poesie, den parallelismus membrorum, zur Geltung

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PSALTERIUM

kommen lassen wollen, zugleich aber auch eine durch Prosa- oder Versrhythmus gehobene Form anstreben. A n ihrem A n f a n g steht die Psalmenübersetzung v o n Moses Mendelssohn (1783); sie reichen mit Werken wie der jambischen Bearbeitung von Joh. Rud. Schärer (1812) ins 19. Jh. hinüber und bilden den Übergang zu Arbeiten, die nichts sein wollen als Übersetzungen, aber doch noch, sei es unter dem Druck der Tradition oder nach dem Vorbild des Originals, an einer erhöhten Form festhalten (dahin 'Die Psalmen metrisch übersetzt' von Chr. Gottl. Kühnöl 1799, ein W e r k gleichen Titels von A u g . Wilh. K r a h m e r 1837). A u c h wo sich noch einmal Psalmendichtung freiester Form regt, die, noch selbständiger als die des 16. Jhs., nur Motive der biblischen Psalmen verwertet, wählt sie jetzt das Gewand der rhythmischen, in Parallelismen sich gliedernden Prosa ('Dreißig Psalmen D a v i d und Assaph Im nachgesungen' von Hillmer 1817). übrigen sinken im 19. Jh. die Psalmenbearbeitungen, die, in Liedform, bis in die jüngste Zeit fortdauern, auf das Sonntagsblattniveau herunter; und nur die Arbeit von W i l h . S t o r c k 'Die Psalmen in stabreimenden Langzeilen' (1904) hat noch ein gewisses literarisches Interesse. Eine zusammenfassende Arbeit fehlt. Zu den Psalmenbearbeitungen des 16. u. 17. Jhs. vgl. G o e d e k e II 173ff.; G e r v i n u s III 48ff., 424ff.; M . E i t l e Studien zu Weckherlins geistl. Gedichten. Diss. Tüb. 1911. Die lateinischen Bearbeitungen stellt S p e n e r in der Vorrede zu R a u n e r s Psalter zusammen. A. Hübner.

Psalterlum. § 1. Mit dem Namen P . bezeichnet man das B u c h der Psalmen, das liturgische Gesangbuch der Synagoge, das auch v o n der christlichen Kirche als Grundlage ihres liturgischen Gebetsgottesdienstes übernommen wurde. Alle liturgischen Bücher der christlichen Kirche (Brevier, Missale, Agende) enthalten Psalmen, sei es vollständige oder einzelne Verse aus ihnen, und lehnen sich auch bei ihren übrigen Gebeten in Stil und Ausdruck an die Psalmen an. § 2. Einen wesentlichen Bestandteil bildet das P . im Brevier; es ist hier in der Weise auf die sieben Tagzeiten verteilt, daß in der W o c h e sämtliche 150 Psalmen gebetet werden. B e v o r das Brevier seit

dem I i . Jh. als einheitliches Buch zusammengefaßt wurde, w a r unter den einzelnen Büchern, in denen bis dahin seine verschiedenen Bestandteile vereinigt waren, das P . das wichtigste; es enthielt außer den Psalmen zumeist auch noch die Cantica, den Ambrosianischen Lobgesang, das Glaubensbekenntnis, die Allerheiligenlitanei und andere Zusätze. Diese P . blieben auch nach der Einrichtung des Breviers noch in Gebrauch. In unverkürzter oder verkürzter Form und vermehrt um andere Gebete wurden sie auch v o n Laien als Gebetbücher benutzt (salter, saltari)-, ihre Ausläufer sind seit dem 15. Jh. die Livres d'heures und Hortuli animae. Vgl. die Art. Brevier und Gebetbuch und die dort angeführte Literatur. Ferner W . B r a m b a c h Psalterium. Bibliogr. Versuch über die liturg. Bücher des christl. Abendlandes (Sammlung bibliothekswissenschaftl. Abhandlungen. H. 1) 1887.

§ 3. P . wurde im MA. auch eine A r t lat. geistlicher Gedichte genannt, deren Beziehung zu den Psalmen darin gegeben war, daß die Zahl ihrer Strophen der Zahl der 150 Psalmen entsprach. Ursprünglich sollte dabei jede Strophe eine Anspielung auf den ihr entsprechenden Psalm oder eine inhaltliche Berührung mit ihm enthalten; doch ist das keineswegs immer durchgeführt und später ganz vernachlässigt worden. Der größte Teil dieser P . sind Marien-Psalterien. Man teilte sie auch in drei Abschnitte von je 50 Strophen ein, die bisweilen als „ R o s a rien" bezeichnet werden, wie das Rosarium, der Rosenkranz, der ebenfalls Psalterium Mariae, Marienpsalter, genannt wird, wegen seiner Zusammensetzung aus dreimal 50 A v e Maria. Vgl. G. M. D r e v e s Psalteria Rhythmica I — I I 1900—1901. Psalteria Wessofontana 1902. (Analecta hymnica medii aevi 35—36 und 38.)

§ 4. Bei der großen Bedeutung, die dem Psalter für die Liturgie zukam, mußte Wert darauf gelegt werden, sein Verständnis durch Erklärung und Übersetzung vor allem dem Klerus zu erschließen, der die Psalmen täglich beten und singen mußte. Die älteste bekannte dt. Übersetzung mit K o m m e n t a r von N o t k e r L a b e o (gest. 1022) ist wohl zur Unterweisung der S t . Galler Klosterschüler angefertigt worden. Eine Reihe von Interlinearversionen (s. d.)

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ist aus dem 12. und 13. Jh. bekannt; sie waren sicherlich in erster Linie zum Studium für geistliche Kreise bestimmt. Mit dem 14. Jh. beginnt dann die lange Reihe der Psalterübersetzungen, die mit oder ohne den lat. Text zur Seite und mit oder ohne Kommentar in zahlreichen Hss. erhalten und auch in der Frühzeit des Buchdrucks oft gedruckt worden sind. Sie enthalten zumeist auch die üblichen Zutaten der Cantica, des Te Deum, des Glaubensbekenntnisses, der Litanei (s. d.) u. a. Gebete. Sie mögen ebensosehr zur Belehrung des Klerus wie zum Gebrauch für Nonnenklöster und als Gebet- und Erbauungsbücher für Laien benutzt worden sein. Vornehmlich an Laienkreise wandten sich die „Seelenwurzgärtlein" und ähnliche Büchlein, die als verdeutschte Limes d'heures und Hortuli animae eine Reihe von Psalmen enthielten.

(E. L. E n d e r s Luthers Briefwechsel IV 273), im Anfang dasselbe im Auge gehabt, was Calvin später in der reformierten Kirche erreichte: Psalmengesang im engsten Anschluß an die Psalmen des AT. Auch unter den Lutheranern gab es Leute, die wollten, das man nichts singen sölte dann allein Psalmen, oder was sunst nach dem buchstaben in der Bibel geschrieben stand (Vorrede zum Zwickschen Gesangbuch 1536/37). Luther selbst hat sieben oder, wenn man die zweite Fassung des 130. Psalms mitzählt, acht Psalmen in Liedform gebracht, und kaum einer ist unter den zahlreichen Liederdichtern der Reformation, der nicht an einem oder mehreren Psalmen sich ver* sucht hätte. Es gab eine doppelte Möglichkeit, die Psalmen in Strophenform für den dt. Gesang zu gewinnen: einmal, den Text unter möglichster Beibehaltung des Wortlautes in Versform zu übersetzen, wobei Vgl. W. Walther Die dt. Bibelübersetzung des Einschiebungen und Erweiterungen des MA. l—lll 1889—92 (besonders X Il9ff. und Metrums wegen kaum zu umgehen waren, III 557ff ). oder aber den Gedankengehalt der Psalmen § 5- Altere gereimte Übertragungen ein- frei in dt. Verse umzudichten — Psalmzelner Psalmen sind nur wenige überliefert: lieder im engeren Sinne, wofür Luthers aus dem 10. Jh. der 138. Psalm Uuellet ir Umdichtung des 46. Psalms 'Ein* feste Burg gihßren Daviden den guoten und ein Bruch- ist unser Gott' das berühmteste Beispiel stück des 139. Psalms (MSD. Nr. XIII); ist, ein Beispiel freilich, das eher eine Neusodann aus dem 13. Jh. eine Übersetzung schöpfung als eine Um- oder Nachdichtung des 51. Psalms Miserere ( W a c k e r n a g e l darstellt. Es hat über diese Fragen in der KL. II Nr. 45). Doch war bei diesen ge- Reformationszeit viele Auseinandersetzunreimten Verdeutschungen an einen Ge- gen gegeben, sowohl unter den Reformabrauch für den Volksgesang nicht gedacht; toren selber, namentlich zwischen Luthedas Bedürfnis nach sangbaren Übertra- ranern und Calvinern, als auch besonders gungen der Psalmen in Liedform entstand im Streit mit den Anhängern der alten erst durch die Reformation infolge der Be- Kirche, die den reformatorischen Psalmlieddichtern „Verfälschung" des Gottesseitigung der lat. Liturgie. §6. Die Einführung der Landessprache wortes der Psalmen im Sinne ihrer neuen in die Liturgie ergab mit einer gewissen Lehre vorwarfen, wobei im allg. die ReforNotwendigkeit das Verlangen nach Psalm- mierten besser abschnitten als die Lutheliedern in dieser Sprache, nicht nur in raner. Es liegt im Wesen der durchaus Deutschland, sondern auch in den anderen biblisch begründeten und gerichteten FrömLändern, in denen die Reformation Ein- migkeit in der reformierten Kirche, daß in gang fand. Die Psalmen waren, ganz ab- ihr der Psalmengesang an die erste Stelle gesehen von ihrem religiösen Gehalt, für trat, und zwar ganz im alttestamentl. die Liturgie nicht zu entbehren, wenn man Sinne, ohne die Umdeutung auf das NT. sich nicht völlig von der bisherigen christ- und auf Christus, wie sie in der lutherischen lichen Überlieferung trennen wollte. Das Kirche vorwaltete, in der die rechtfertiwar aber keineswegs die Absicht der Re- gende Erlösertat Christi Ausgangs- und formatoren; vielmehr hat auch Luther, Mittelpunkt der Frömmigkeit war. Der wie aus seinem bekannten Briefe vom Gegensatz in der Bewertung der PsalmJanuar 1524 an Spalatin hervorgeht lieder für den kirchlichen Gottesdienst ist M e r k e r - S t a m m l e r . Reallexikon II.

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in den beiden Kirchen immer lebendig geblieben; äußerlich kennzeichnet er sich schon durch das Überwiegen der freien Umdichtungen bei den Lutheranern. § 7. Psalmlieder finden sich in allen Gesangbüchern der Reformation seit 1524. Das von J o b . Z w i c k hsg. Constanzer 'Nüw gsangbüchle' von 1536—40 enthielt ihrer bereits 67, das Straßburger Gesangbuch von 1537 schon 59. Straßburg zeichnete sich besonders aus durch seine Vorliebe für den Psalmengesang, und als Calvin im J . 1538 hier eintraf, um für drei Jahre die Leitung der frz. Gemeinde zu übernehmen, hatte er in dem Straßburger dt. Psalmengesang das Vorbild, das ihn veranlaßte, für seine Gemeinde das älteste frz. Gesangbüchlein zu schaffen (1539), das zwölf Psalmlieder von C l é m e n t M a r o t und fünf von ihm selbst gedichtete enthielt. Im J . 1541 nach Genf zurückgekehrt, ordnete er hier den Gottesdienst nach Straßburger Muster und nahm in die von ihm bearbeitete älteste Genfer Kirchenagende von 1542 neben seinen eigenen die sämtlichen dreißig Psalmen von Marot auf. Die frz. reformierte Kirche der Schweiz hat diese vom dt. Psalmengesang ausgegangene Anregung später in der Lobwassersehen Übersetzung des frz. Psalters reichlich zurückgegeben. § 8. Der älteste, vollständige dt. Reimpsalter 'Der gantz Psalter Davids' ist im J . 1537 erschienen; der Druckort ist bis heute nicht festgestellt. Herausgegeben ist dieser P. von J o a c h i m A b e r l i n und S i g m u n d S a l m i n g e r ; stark beteiligt an der Übertragung war auch J a k o b D a c h ser. Salminger und Dachser waren führende Mitglieder der Augsburger Täufergemeinde; es waren also Täuferkreise, aus denen dieser erste dt. Reimpsalter hervorgegangen ist. Eine Neuausgabe erschien schon 1538 unter dem Titel 'Der New gesang psalter'. Obgleich die Dichtungen dieses P. ohne Wert und Bedeutung sind, fanden sie doch viel Anklang. Sie wurden noch im J . 1538 in Straßburg nachgedruckt als zweiter Teil zu dem dort bereits vorhandenen Gesangbuch und im J . 1539 mit den Psalmen des Gesangbuches verschmolzen, so daß hier das erste Gesangbuch vorlag, das sich in zwei Teilen aus dem ge-

samten P. und einem Gesangbuch geistlicher Lieder zusammensetzte. Im J . 1538 trat J a k o b D a c h s e r selbständig hervor mit seinem 'Gantz Psalter Davids' (Augsburg 1538); ihm folgten J o h . C l a u s (Leipzig 1542) und H a n s G a m e r s f e l d e r (Nürnberg 1542), der aber vielfach nur Bearbeitungen fremder Dichtungen bot. Als dichterische Leistungen sind diese Übertragungen nicht von Bedeutung. Höher steht der P. von B u r k h a r d W a l d i s (Frankfurt a. M. 1553), von dessen in wechselnde Strophenformen gekleideten Psalmen ein Teil in die Gesangbücher übergegangen ist und sich bis ins 17. J h . gehalten hat. Von den Psalmen des J o h . M a g d e b u r g (Frankfurt a. M. 1565) in der beliebten sieben zeiligen Strophe wurde mehr als die Hälfte in die Frankfurter 'Kirchen-Gesäng' von 1569 und 1584 aufgenommen und dadurch weiter verbreitet. §9. Von größter Bedeutung für den Psalmengesang in den dt. Reformationskirchen, besonders aber in der reformierten Kirche wurde der frz. Hugenottenpsalter von C l é m e n t M a r o t und T h e o d o r B e z a , der vollständig zuerst im Jahre 1562 in Genf erschien, und von dem noch im selben Jahre 24 und bis zum Jahre 1565 bereits 62 Ausgaben nachzuweisen sind, ein Beweis für die ungeheure Begeisterung, mit der er überall aufgenommen wurde. Wesentlich verdankt dieser Psalter seine Verbreitung den Melodien, die, z. T. wenigstens, auf frz. Volksweisen zurückgehen. Als erster versuchte sich P a u l M e l i s s u s - S c h e d e an seiner Verdeutschung, von der aber nur die ersten 50 Psalmen erschienen sind (Heidelberg 1572), während die übrigen ungedruckt blieben. Einen ähnlichen Erfolg wie das frz. Original erzielte dann in Deutschland die Übersetzung von A m b r o s i u s L o b w a s s e r (Leipzig 1573), die sich mit überraschender Schnelligkeit verbreitete. Lobwasser war Lutheraner und hatte den frz. Psalter, den er in Frankreich kennengelernt hatte, zunächst zur eigenen Erbauung übersetzt. Der Melodien wegen mußte er sich, wie Melissus und die späteren Nachfolger, an die Strophenform und Silbenzahl seiner Vorlage halten; der dadurch gegebenen Schwierigkeiten ist Lobwasser nicht Herr geworden. Aber trotzdem seiner Übersetzung

PSALTERIUM etwas Rühmenswertes nicht nachgesagt werden kann, ist sie mehr a b zweihundert Jahre lang in den dt. reformierten Kirchen in unbestrittener Herrschaft geblieben. Daß gegen sie die „auf die Frantzösische Reimen und Art gestellte" Übertragung des jüngeren Freiherrn P h i l i p p v o n W i n n e n b e r g (Speier 1588) nicht aufkommen konnte, verwundert nicht, da sie keineswegs besser war. Aber Lobwassers Psalmen ließen sich auch, nachdem ihre sprachliche und metrische Form fast unerträglich geworden war, durch bessere Übertragungen des frz. Psalters, wie sie M a r t i n O p i t z (Danzig 1637) und A. H. B u c h o l t z (Rinteln 1640) — beide wieder Lutheraner und auf Gebrauch in lutherischen Kreisen abzielend — oder noch später E r n s t L a n g e (Danzig 1713) und D a n i e l W o l l e b (Halberstadt 1751) lieferten, nicht verdrängen. In der dt. S c h w e i z machten im 18. Jh. J o h . K a s p . H a r d m e y e r (Zürich 1701), J o h . J a k . S p r e n g (Basel 1741) und J o h . S t a p f e r (Bern 1775) den Versuch, den „Lobwasser" durch neue Bearbeitungen der Psalmen zu ersetzen, mit geringem und nur örtlich beschränktem Erfolg, während Verbesserungsversuche wie der 'Verbesserte Lobwasser' von D a v i d H o l z h a l b (Zürich 1704) oder von J o h . K a s p a r G o t t f r . W i l d e r m e t t (Biel 1747) ohne Bedeutung blieben. Erst gegen Ende des 18. und im Anfang des 19. Jhs. ist der Lobwasser in der Schweiz allmählich ganz beseitigt worden (vgl. H. W e b e r Geschichte des Kirchengesanges in der dt. reform. Schweiz seit der Reformation 1876). Um dieselbe Zeit ist er auch am N i e d e r r h e i n durch die 'Neue Bereimung der Psalmen' von M a t t h i a s J o r i s s e n (Wesel 1798) abgelöst worden. § 10. Die L u t h e r a n e r verhielten sich, wie überhaupt gegen den frz. Psalter, so auch gegen die dt. Psalmen Lobwassers ziemlich ablehnend; nur wenige sind in die lutherischen Gebetbücher aufgenommen worden. Wohl aber hat der Siegeszug des Lobwasser ohne Zweifel bei den Lutheranern den Wettbewerb rege gemacht. Noch im 16. Jh. erschien eine ganze Reihe von Psalterübertragungen in lutherischem Geiste, wozu auch die Anpassung an die lutherischen Choralmelodien gehörte; als Verfasser seien genannt G e o r g H e n n i n g e s (Magdeburg

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1574), G e o r g S ü n d e r r e i t e r (Augsburg 1574, wesentlich umgearbeitet Nürnberg 1581), H a n s S a c h s (Nürnberg 1579 [Gedichte 5. Buch]), C y r i a k u s S p a n g e n b e r g (Frankfurt a. M. 1582), N i k o l a u s H e ß (Leipzig 1583), J o a c h i m S a r t o r i u s (Breslau 1591). Im Kirchengesang haben diese Dichtungen keine bleibenden Spuren hinterlassen. Dagegen sind aus dem 'Psalter Davids Gesangweis' von C o r n e l i u s B e c k e r (Leipzig 1602 u. ö.) manche Psalmen in die Gebetbücher aufgenommen worden, und einzelne haben sich bis heute gehalten. In der Vorrede gebraucht Becker scharfe Worte gegen den Calvinischen frz. Psalter und seine dt. Bearbeitung. Seine eigenen Verdeutschungen, einfach und verständlich, aber auch schwunglos und etwas nüchtern, fanden so viel Beifall, daß sie bis zum Jahre 1661 wenigstens siebenmal neu aufgelegt werden mußten. Im 17. und 18. Jh. sind dann weiter so zahlreiche neue gereimte Bearbeitungen der Psalmen erschienen, daß es nicht möglich ist, sie hier einzeln aufzuführen oder gar näher auf sie einzugehen. Die Geschichte und Entwicklung dieser dt. Reimpsalterien, deren Zahl sich bis auf unsere Zeit wohl auf anderthalb Hundert beläuft, verdiente einmal eine eingehende Untersuchung und Darstellung. Nur einige wenige können hier noch erwähnt werden. 'Der Lutherisch Lobwasser' von J o h . W ü s t h o l t z (Rothenburg ob d. Tauber 1617) zeigt schon durch seinen Titel, wie sehr Lobwasser in Deutschland ein besonderer Begriff geworden war. G e o r g W e r n e r lieferte eine Bearbeitung von zweimal je 50 Psalmen (Königsberg 1634 und 1643), von denen einige bis ins 18. Jh. in Gebrauch gewesen sind. „Auf die heutige Singe-art" stimmte D a n i e l N e u k r a n t z des 'Königs Davids Psalter-Spiel' (Hamburg 1650), d. h. er gab seinen Psalmen z. T. eigene, neue Arien-Melodien, z. T. unterlegte er ihnen die Melodien weltlicher Lieder, wobei er allerdings nur an den Hausgebrauch seines Psalters dachte, „um der lieben Jugend dadurch die weltlichen Liebes-Sachen aus dem Kopfe zu bringen". C h r i s t i a n v o n S t ö k k e n richtete seine 'Neugestimmte Davids-Harfe' (Schleswig 1656) nach der Übersetzung Opitzens so ein, „daß sie auch nuhnmehr nach den in 47*

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Lutheriscben Kirchen üblichen Gesangweisen andächtig können gesungen werden". „Der Opitzianischen Art gemäß" gab aiich der Landgraf L u d w i g VI. v o n H e s s e n D a r m s t a d t eine neue Psalmenübertragung (Gießen 1657). Zugleich in lat. und dt. Reimen mit neuen Melodien, aber auch nach den alten zu singen, war der 'Davidische Jesus-Psalter'von N a r c i ß R a u n e r (Augsburg 1670). Der 'Lust- und ArtzeneyGarten des Königl. Propheten Davids' von W o l f g a n g Helmhard Frhrn. von Hohb e r g (Regensburg 1675) brachte zu jedem Psalm (in Alexandrinern) mit neuen Melodien einen emblematischen Kupfer und auf dessen Rückseite eine symbolische Pflanzenabbildung mit gereimten Erläuterungen, in denen der Verfasser der seiner Zeit weitberühmten 'Geórgica curiosa' seine botanischen Kenntnisse bewährte. Aus dem 'Psalter Davids' von M i c h a e l M ü l l e r (Stuttgart 1700) übernahm Freylinghausen eine Reihe von Psalmen in seine Gesangbücher von 1704 und 1714 und verhalf ihnen dadurch zu weiter Verbreitung. E r n s t L a n g e arbeitete seine zuerst auf die frz. Melodien eingerichtete Übertragung (Danzig 1713) so um, daß sie nunmehr auch auf die lutherischen Choralmelodien gesungen werden konnte (Danzig 1720). Als bedeutendste Leistung des 18. Jhs. auf dem Gebiete der Psalterdichtung muß die 'Poetische Übersetzung der Psalmen* von J o h . A n d r e a s C r a m e r gelten (4ßände, Leipzig 1755—1764). Es sind freie Bearbeitungen, zu frei, als daß man sie Übersetzungen nennen könnte, schwungvoll und durchweg dem Geist der Psalmen gemäß, wenn auch öfter etwas breit umschreibend und dadurch die Kraft des Originals abschwächend; viele gingen in die Gesangbücher der Aufklärungszeit über, auch in katholische, sogar in die neueren reformierten Gesangbücher der Schweiz sind einzelne aufgenommen worden. § 1 1 . Bei den K a t h o l i k e n war das Bedürfnis nach dt. Psalmliedern kaum vorhanden, daher denn auch dt. gereimte Psalmen vor der Reformation nur spärlich sind und auf einen Gebrauch im kirchlichen Volksgesang nicht abzielen. Der lat. Psalter blieb in der katholischen Kirche in ununterbrochener liturgischer Verwendung,

und wo das Volk am ersten am Psalmengesang sich beteiligen konnte, wie bei der sonntäglichen oder feiertäglichen Vesper, da verlangten die Choralmelodien eher nach einer ihnen angepaßten Verdeutschung in Prosa als in Strophenform. Solche dt. Vesperpsalmen in Prosa sind denn auch in der Zeit des Rationalismus viel gebraucht worden und werden auch heute noch in einzelnen dt. Diözesen gebraucht. Einzelne Psalmlieder wie die sieben Bußpsalmen, die sich seit dem 17. Jh. in vielen katholischen Gesangbüchern finden, hatten keine andere Geltung und Bedeutung als das dt. Kirchenlied im allg. Gereimte Verdeutschungen des ganzen Psalters sind daher auf katholischer Seite nur in geringer Zahl vorhanden. Die beiden ältesten aus dem 16. Jh. sind, wie aus den Vorreden deutlich hervorgeht, im Gegensatz zu den protestantischen Reimpsaltern entstanden, und zwar in Köln zur Verdrängung der Psalmen, die durch das Bönnische Gesangbuch (1544 u. ö.) auch in katholische Kreise im Rheinland Eingang gefunden hatten (vgl. den Art. Kirchenlied, kath.). Dem ersten, unbeholfenen und unzulänglichen Versuch von R u t g e r E d i n g e r 'Der gantz Psalter Davids' (Köln 1574), der ohne Melodien war, folgte acht Jahre später der von K a s p a r U l e n b e r g (Köln 1582), der auf diesem Gebiete als eine der besten Leistungen des Jhs. anzusprechen ist. Es liegt in den oben gekennzeichneten Verhältnissen begründet, daß von Ulenbergs Psalmen trotz ihrer Vortrefflichkeit doch nur wenige in den Volksgebrauch gekommen sind. Da ein Bedarf nicht vorhanden war, sind auch andere Bearbeitungen wie die des Mainzer Kurfürsten und Fürstbischofs von Würzburg Johann Philipp von Schönborn (Mainz 1658, Frankfurt 1673) und die des Jesuiten A l b e r t C u r t z (Augsburg 1659 und 1669) an den Gesangbüchern ziemlich spurlos vorübergegangen. Dasselbe gilt von einigen jüngeren dichterischen Verdeutschungen von F r a n z K a r l K i e n l e (Augsburg 1787), M a r k u s F i d e l i s J ä c k (Freiburg 1817), F r a n z J o s e p h W e i n z i e r l (Augsburg 1819), S i m o n B u c h f e i n e r (Landshut 1832), um so mehr, als hier im Gegensatz zu den früheren Bearbeitungen auf die Beigabe von Melodien oder

PSEUDONYM den Hinweis auf solche verzichtet ist; sie rechnen also von vornherein mehr auf Lesung und Erbauung als auf Gesang. G o e d e k e I I 2 172ff. Die vollständigste, wenn auch nicht vollständige Zusammenstellung der dt. Reimpsalter bei J . J u l i a n A Diclionary of Hymnology 1892 S. 1542—47 (die neue Aufl. dieses Werkes von 1925 ist mir nicht zugänglich gewesen). R E P T h . X V I » 2 1 4 « . (Psalmenmelodien, frz.) und X I * 568 ff. (Lobwasser) und die dort angegebene Lit.; dazu J u l i a n S. 932—936 (Psalters, French). P h . A . B e c k e r Clement Marals PsalmenüberSetzung (Berichte über die Verhandl. d. Sachs. Akad. d. Wissensch. Phil.-hist. Klasse Bd. 72 H. 1) 1921. D e r s . CUment Marot, sein Leben u. seine Dichtung (Sachs. Forschungsinstitute in Leipzig. Forschungsinst. f. neuere Philologie. 4. Rom. A b t . H. 1) 1926. W . H o l l w e g Geschichte der evang. Gesangbücher vom Niederrhein im 16.—18. Jh. (Publikationen der Gesellsch. f. Rhein. Geschichtskunde X L ) 1923. j , Götzen.

Pseudonym. „Schon vor Erfindung des Bücherdruckes, insbesondere aber seither, haben Autoren es aus verschiedenen Gründen für rätlich erachtet, ihre Namen durch erfundene zu verhüllen" (R. F. A r n o l d Allg. Bücherkunde zur n. dt. Lit.-Gesch. 2I9I9 S. 240t.). § 1. Früh bereits treffen wir angenommene Namen. Der des Stricker (ca. 1200 bis 1250) ist wohl ein solcher; der Freudenleere schildert 'Der Wiener Meerfahrt', Niemand ist der Dichter des Schwankes von den drei Mönchen zu Kolmar (GA. Nr. 62), Meister Altswert erläutert die Wahl seines Namens durch ein Gleichnis. Die von nun an immer wieder auftretenden Pseudonymen Autoren sind wohl am zahlreichsten im 16. und 17. Jh., und wenn auch später der Anteil der maskierten Literatur kleiner wird im Verhältnis zu der Gesamtzahl der veröffentlichten Werke, er ist immer noch ganz beträchtlich geblieben, da ja die Gründe, die zum P. führen, zu allen Zeiten wirksam gewesen sind. In den genannten Jhh., dem „klassischen Zeitalter der Pseudonyme" (Bormann), tritt uns fast jeder namhafte Schriftsteller auch unter einem Decknamen entgegen. Hutten verwendet deren eine ganze Reihe, ebenso Fischart und Gabriel Rollenhagen; Grimmelshausen treibt ein Versteckspiel, das erst spät genug zur Feststellung seines wahren Namens und zur richtigen Zuschreibung

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seiner Werke führte; Herzog Heinrich Julius von Braunschweig stellt sich aus den Initialen seines Namens und seiner Titel die Hibaldeha, Hiehadbel usw. zusammen; Simon Dach findet das Anagramm Chasmindo, Logau schreibt als Solomon von Golaw, J. Lauremberg gibt seine Scherzgedichte als Hans Willmsen L. Rost heraus. Wie schwierig es manchmal ist, den wahren Autor eines Werkes dieser Zeit zu bestimmen, zeigt Fi7»¥or-Stielers 'Geharnschte Venus', die so lange Schwieger zugeschrieben war. Die Gressel, Bohse, Hunold, Henrici sind als Celander, Talander, Menantes, Picander in der Literatur geblieben, die Identität Schnabels mit Gisander ist erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit festgestellt. Die Übersetzungen des dt. Namens ins Lateinische oder Griechische (Oelschlegel > Olearius, Wolfhart Spangenbergp> Lycosthenes) sind sehr häufig, ebenso eine Umschreibung des Zwecks, den der Autor verfolgt; man sehe für letzteres im Pseudonymen-Lexikon beispielsweise die so zahlreichen Zusammensetzungen mit Alethes oder Philos. §2. Eine ganze Reihe von Autoren neuerer Zeit ist unter ihren P. jedenfalls viel bekannter, als sie es unter ihren bürgerlichen Namen sind: Jean Paul, Novalis, Gotthelf, Halm, Anastasia Grün, Lenau wird man stets nur unter diesen Namen suchen, von weniger hervorragenden beispielsweise Clauren, Tromlitz, Alexis, Sealsfield. Bei vielen hat der gewählte Name auch im Privatleben den bürgerlichen völlig verdrängt (Julius Rodenberg, Martin Greif, Maximilian Horden, Peter Altenberg). § 3. Die mannigfachsten Gründe führen zur Wahl eines Decknamens. Vor allem ist es erklärlich, daß der literarische Neuling sich zuerst nicht mit dem wahren Namen vor der Öffentlichkeit zeigen will; wenn auch manche wieder zum wirklichen Namen zurückkehren (L. Gruber = Anzengruber, Theophil Morren = Hugo von Hofmannsthal), so ist es doch häufiger, daß an einem P., unter dem ein literarischer Erfolg errungen wurde, festgehalten wird. Unter Frauen findet sich die Maske verhältnismäßig häufiger als unter Männern; es ist bezeichnend, daß die drei erfolgreichsten Erzählerinnen der 'Gartenlaube' (Marlitt,

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Werner, Heimburg) unter P. schrieben, und daß die Wahl eines Männernamens so oft vorkommt (Karl Detlef, Moritz von Reichenback, Adalbert Meinhardt, Golo Raimund, Emil Marriot). Für den umgekehrten Fall, die Wahl eines weiblichen P. durch einen Mann, gibt es weniger Beispiele; immerhin befindet sich darunter Sacher-Masoch [Charlotte Arand, Zoe von Rodenbach). Die öffentliche Stellung, der bürgerliche Beruf des Schriftstellers legt ihm oft nahe, sich unter einem erfundenen Namen zu decken: Fr. Th. Vischer = Schartenmayer und Mystifizinsky, Hausrat = Taylor, R. Volkmann = Leander, Alfred Schöne = A. Roland; der dichtende Literarhistoriker zieht auch manchmal das P. vor, wie Goedeke = Stahl. Für die Gruppe der Aristokraten sei das Geschwisterpaar Johann und Amalie von Sachsen genannt (Philalethes, Amalie Heiter). § 4. Häufig soll der gewählte Name einen Gegensatz bekunden, so, wenn sich der Lebendige Herwegh dem Verstorbenen, dem Aristokraten Pückler-Muskau, gegenüberstellt. Der exotische Klang des Namens soll den Leser reizen, wie bei Gleich = Deilarosa und später bei den exotischen Romanen Goedsches = Sir John Ratcliffes oder den politischen Romanen Medings = Samarows. Nicht selten wird das P. auch so gewählt, daß es über die Herkunft täuschen soll oder doch früher erschienenen Werken Konkurrenz machen könnte, so wenn die von J. D. F. Neigebauer verfaßten 'Ansichten aus der Cavalierperspective im Jahr 1835' als aus den Papieren eines Verstorbenen bezeichnet werden; neben Glaßbrenner = Brennglas taucht gleich ein noch nicht enthüllter Fernglas auf. Die Probleme, die sich bei dem Versuch der Deutung eines Decknamens ergeben, können oft ungemein schwierig sein; es sei nur an das so allgemein interessierende P. des Bonaventura ('Nachtwachen') erinnert, an das sich schon eine ganze Literatur geknüpft hat, die den Verfasser nacheinander mit Schelling, Karoline, E. T . A. Hoffmann, F. G. Wetzel, Clemens Brentano identifizierte. § 5. Eine Arbeit, die der Verfasser als seiner unwürdig empfindet, deckt er oft auch mit einer Maske; so veröffentlicht

Hebbel seine historischen Schriften als Dr. J. F. Franz. Besonders häufig ist dies in der erotischen Literatur; ein Blick in die 'Bibliotheca Germanorum erotica' zeigt eine Fülle von P., die zum größten Teil ungedeutet sind, in der Mehrzahl eine Deutung wohl auch kaum verdienen. Daß die Satiriker, selbst solche, die sonst offen genug auftreten, manchmal einen Decknamen vorziehen, ist erklärlich. Aus neuerer Zeit seien nur 0 . J. Bierbaum genannt mit seinen 'Literarischen Steckbriefen', die er a b Martin Möbius herausgab, und Frank Wedekind, der sich auf dem 'Neuen Vater Unser' Hugo Frh. v. Trenck nennt. §6. Oft ist es übrigens auch nur die Häufigkeit des bürgerlichen Namens, die den Autor zur Wahl eines P. veranlaßt (Schulze = Laun, Müller = Mylius, Schmidt = Otto Ernst) oder der schlechte Klang des Familiennamens (Schafhäutl = Pellisov, Rumpelmaier = Nordmann). Die Möglichkeit, der bürgerlichen Wirklichkeit abzuhelfen, ist jedenfalls immer verlockend. E . B o r m a n n Die Kunst des Pseudonyms 1901. H o l z m a n n u. B o h a t t a Deutsches Pseudonymen-Lexikon 1906 (die ältere Literatur, die darin vollständig aufgezählt ist, ist durch dieses Werk ersetzt. Freilich ist es, „wie es nicht anders sein kann, unvollständig, und seine Angaben sind nicht ungeprüft zu benutzen" A r n o l d a. a. O. S. 254). G. H. H a p p e l Das Pseudonym. Jur. Diss. Marburg 1924. H. M. S e m o n Der Schutz des Pseudonyms nach § 12 B G B . Jur. Diss. Breslau 1924. A . Hoffmann.

Pseudoromantik. § 1. Mit diesem durch H. A. Krüger (s. u.) in Umlauf gebrachten Ausdruck bezeichnet man die niedere Unterhaltungsliteratur der Restaurationszeit, im besonderen den Dresdner Liederkreis. Obwohl durchaus in der platt alltäglichen Nüchternheit der ausgehenden Aufklärung wurzelnd und auf die Bedürfnisse der breiten Masse eingestellt, suchten die vielgelesenen Tagesschriftsteller jener Zeit sich durch modischen Aufputz mit rein äußerlich romantischen Zügen ein zeitgemäßes Ansehen zu geben. Die Romantik war in ihren Anfängen revolutionär gewesen: sie stellte die Willkür des Einzelnen, vor allem des Künstlers, über Gesetz und Regel, sie wollte das ganze Leben mit Poesie durchdringen, begegnete den Ansprüchen des gesunden Menschenverstandes, des Vertreters des prosaischen Alltags, des

PSEUDOROMANTIK Philistertums, mit unverhohlener Geringschätzung. Der innere Zusammenhang zwischen den führenden Geistern der romantischen Schule war von vornherein ziemlich locker gewesen. Als sich dann bei den einen nationale, bei den anderen universalkatholisierende Tendenzen immer deutlicher herausbildeten, schwand jede Einheitlichkeit, und die Bewegung zerlief nach den verschiedensten Richtungen. In dem Maße, als die Romantik an Stoßkraft und an Bedeutung für die geistige Führerschaft verlor, kam sie bei den Durchschnittsgebildeten in Mode. Die schriftstellernden Dilettanten, die das nach den großen Ereignissen der Befreiungszeit ermüdete dt. Lesepublikum mit unterhaltender und wenig anstrengender Lektüre versorgten, stutzten nun ihre kleinlichen und spielerischen Erzeugnisse auf romantische Weise zu. Äußere Kennzeichen dieser pseudoromantischen Moderichtung sind: die Auflockerung der Technik, die künstliche Verwicklung und Verwirrung der Handlung, der Verzicht auf anschauliche Wirklichkeitsschilderung und Charakteristik, die übertriebene sentimentale Naturschwärmerei, die Bevorzugung einer kenntnislos und mit phantastischer Willkür geschilderten mal. oder sonstwie in nebelhafter Ferne liegenden Umwelt, die phrasenhafte Verherrlichung des Künstlerbcrufes. Wurden so gewisse romantische Besonderheiten bis zur läppischen Manier übertrieben, so steht doch diese pseudoromantische Tagesliteratur mit dem romantischen Geiste in keinerlei innerem Zusammenhange mehr; vielmehr lebt in ihr der Geist des alten Rationalismus weiter, ihre Moral ist die enge und beschränkte des dt. Spießbürgers, ihr Wesen Trivialität. § 2. Diese Charakterzüge sind so ziemlich der gesamten Modeliteratur Deutschlands nach den Befreiungskriegen gemeinsam. Der Dresdener Kreis nimmt insofern eine bemerkenswerte Sonderstellung ein, als es hier einer an sich bedeutungslosen Schriftstellergruppe gelang, eine literarische Machtstellung zu erringen und geraume Zeit auf die öffentliche Meinung des gebildeten Deutschlands einen maßgebenden Einfluß auszuüben. Die Anfänge der Vereinigung lassen sich bis ins J . 1801 zu-

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rückverfolgen. Die gebildete Gesellschaft Dresdens nahm damals am literarischen Leben regen Anteil; in verschiedenen Zirkeln fanden sich die Freunde schöngeistiger Bestrebungen zusammen. Während sich in dem gastfreien Hause des Konsistorialrates Körner vorzugsweise die Freunde der klassischen Richtung trafen, stand der Kreis des Hofsekretärs Ernst, des Schwagers der beiden Schlegels, in engen persönlichen Beziehungen zur romantischen Schule. Ludwig Tieck, der im Ernstschen Kreise ein häufiger Gast war, bildete zugleich das Bindeglied zu einer jüngeren literarischen Vereinigung, der schon die meisten Führer des späteren Liederkreises angehörten, als dessen Vorläuferin sie angesehen werden darf. Man kam einmal in der Woche zum Tee zusammen, las eigene poetische Erzeugnisse vor und besprach sie, wobei an gegenseitigen Lobeserhebungen nicht gespart wurde. Dieser Wochenzirkel hatte weder literarisch noch gesellschaftlich große Bedeutung und ging auch bald wieder ein. Aber er wurde die Grundlage für ein Unternehmen ähnlicher Art, als 1814 der Freiherr von Seckendorf-Zingst den Versuch machte, einen neuen geistigen Mittelpunkt zu schaffen, wobei zugleich eine Brücke geschlagen wurde zwischen den Mitgliedern des einstigen Wochenzirkels und den adligen Kreisen der Hauptstadt. Größere Bedeutung gewann dieser literarische Kreis erst, als nach Seckendorfs Weggang der Minister v. Nostiz -Jänkendorf an seine Spitze trat. Nun wurden die Zusammenkünfte planmäßig organisiert, feste Satzungen aufgestellt, und die Vereinigung nahm den Namen „Der Dichtertee" an, der später der Bezeichnung „Liederkreis" weichen mußte. Selbstverständlich war, daß man der beherrschenden Literaturströmung der Zeit, also der romantischen, sich anzuschließen gewillt war. Sehr bald aber hatten die Mitglieder des alten Wochenzirkels, die sämtlich betriebsame Unterhaltungsschriftsteller waren, das Heft in der Hand, und so wurden alle höheren Bestrebungen im Keime erstickt. Von selbständiger Eigenart war bei den poetischen Hervorbringungen des Kreises keine Rede; es genügte, eine angenehme Unterhaltung zu bieten und den

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PSEUDOROMANTIK

äußeren Anstand zu wahren, um von den Freunden anerkannt und zum großen Dichter emporgelobt zu werden. Ernsthafte Kritik fehlte vollständig. Zum Verhängnis für die weitere Öffentlichkeit aber wurde das Treiben des Liederkreises vor allem dadurch, daß sein Organ, die von Hell und Kind seit 1817 herausgegebene 'Abendzeitung', poetisch Vespertina genannt, eine ungewöhnliche Verbreitung fand und, namentlich in Norddeutschland, von weiten Kreisen als berufene Hüterin des guten Geschmackes angesehen wurde. Dabei läßt das Schaffen der Vespertinapoeten bestimmte ästhetische und künstlerische Ziele gar nicht erkennen, sondern erweist sich als stillose Mischung von prosaischer Nüchternheit mit rührseliger Empfindelei und romantisch seinsollender Phantastik. Die Zahl der Mitglieder war nicht immer gleich; zu den 9—12 ordentlichen Mitgliedern gesellte sich noch eine Reihe außerordentlicher, auch Frauen waren zahlreich vertreten. § 3. Der Vorsitzende des Kreises, der sächs. Konferenzminister G. E. A. v. N o s t i z u n d J ä n k e n d o r f , oder, wie er sich als Dichter nannte, Adolf von Nordstern (1765—1836), persönlich eine liebenswürdige Erscheinung und ein tüchtiger Staatsmann, kommt in seinen romantischen Epen 'Valeria' (1803) und 'Irene' (1819) sowie seinen lyrischen Gedichtsammlungen über geschmacKvolle Formvollendung und sprachliche Gewandtheit nicht hinaus. Der klassische Vertreter der Modeschriftstellerei des Liederkreises ist der aus Leipzig stammende F. K i n d (1768—1843), bis 1816 Advokat, dann freier Schriftsteller. Er beginnt mit rührseligen Gedichten und Erzählungen, wird von Böttiger in die Literatur eingeführt und entwickelt sich bald zum seichten Vielschreiber nach Art des Modelieblings Lafontaine. Nach den Freiheitskriegen macht er sich die romantische Manier zu eigen und kommt durch die Mitgliedschaft beim Liederkreise rasch zu Ruf. 1815 wird ihm die Leitung von W . G. Beckers 'Taschenbuch zum geselligen Vergnügen' übertragen; er selbst gibt ein ähnliches Jahrbuch, 'Die Harfe', heraus, Später noch ein drittes, 'Die Muse'. Sein „malerisches Schauspiel" 'Van Dycks Land-

leben' bringt ihm 1815 am Dresdner Hoftheater den ersten Bühnenerfolg. Es ist sein bestes Werk, obwohl an sich unbedeutend genug. Seinen literarischen Nachruhm verdankt er der Verbindung mit K a r l M a r i a v o n W e b e r , der seit Januar 1817 Kapellmeister und Musikdirektor der dt. Oper in Dresden war und bald durch Böttiger in den Liederkreis eingeführt wurde. Noch im selben J. schrieb Kind für Weber das Textbuch zum 'Freischütz', wofür ihm eine Novelle aus dem 'Gespensterbuch* seines Freundes Johann August Apel (gest. 1816) den Stoff lieferte. Der beispiellose Erfolg der Oper kam natürlich vor allem dem Ruhme des Komponisten zugute, was den eitlen Kind maßlos erbitterte. So kam es wegen nichtiger Geldfragen zum Bruche, trotzdem Weber weitgehendes Entgegenkommen bewies, wie er auch Kind den gothaischen Hofratstitel verschafft hatte. Noch 1843 hat Kind in seinem von Verdrehungen und Gehässigkeiten gegen Weber strotzenden 'Freischützbuche' sich selbst das Hauptverdienst an der Oper zuzuschreiben gesucht. Noch ein weiteres Drama Kinds wurde die Grundlage einer Oper 'Das Nachtlager von Granada', das Konradin Kreutzer in einer Bearbeitung Braun von Braunthals vertonte. Aus der großen Zahl der Kindschen Dichtungen verdienen noch das Volkstrauerspiel 'Schön Ella' (1822) und die historisch-romantische Humoreske 'Der Rector magnificus oder der Feind vor dem Tore' (1829) Erwähnung. Im allg. bewegt sich Kinds literarisches Schaffen auf absteigender Linie: seinen ohnehin nicht vorbildlichen Stil vernachlässigte er immer mehr, seitdem er sich als großer Dichter fühlte, sein zur Schau getragener, rein äußerlicher Idealismus und das Streben nach Wirkung um jeden Preis bewahrten ihn nicht davor, der Schablone zu verfallen. Sein literarischer Ruhm verblaßte sehr rasch. Bei seinem Tode kannte ihn die dt. Öffentlichkeit kaum mehr. Noch tiefer unter Kind steht der vielgeschäftige T h e o d o r H e l l (eigentlich Theodor Winkler, 1775—1856). Aber gerade er hat, namentlich als Leiter der 'Abendzeitung', das meiste dazu beigetragen, den Einfluß der Vespertinaleute nach außen zur Geltung zu bringen. Seine eigenen

PSEUDOROMANTIK poetischen Schöpfungen — zahlreiche lyrische Gedichte und ein paar Lustspiele und Novellen — sind ganz wertlos. Doch erwies er sich als geschickten und anpassungsfähigen Übersetzer und wußte sich auf der Bühne durchzusetzen; es gab Jahre, wo in Dresden sieben Schiller gewidmeten Abenden vierundzwanzig Aufführungen Hellscher Machwerke gegenüberstanden. Sein Bestes gab er schon 1807 mit seiner Übersetzung von Camoens' 'Lusiaden', die gemeinsam mit seinem Freunde, dem Dresdner Rechtsanwalt F . A . K u h n (1774 bis 1844) verfaßt ist. Eine Vereinigung klassischer und romantischer Eigenart erstrebte erfolglos E. H. G e h e (1795—1850), ein Jugendfreund Theodor Körners, in seinen Trauerspielen. Der Thüringer K . A. F ö r s t e r (1784—1841, seit 1807 Professor am Dresdener Kadettenhause) überragt an künstlerischem Ernste alle bisher Genannten durchaus, gewann aber innerhalb des Liederkreises keinerlei maßgebenden Einfluß. Seine Gedichte, die Tieck nach seinem Tode herausgab, heben sich durch echte Empfindung vorteilhaft von den flachen Erzeugnissen seiner Genossen ab. Auch als Erzähler und Übersetzer (Petrarca, Tasso, Shelley, Dantes 'Vita nuova') verdient Förster Beachtung. Eine besondere Gruppe innerhalb des Liederkreises bilden die drei Aristokraten v. d. Malsburg, Graf Kalkreuth und Otto Heinrich Graf v . L ö b e n (1786—1825). Der bedeutendste von ihnen, Löben, ist auch nur geschickter Nachahmer. Seine Glanzzeit sind die Heidelberger Studenten jähre (1806—08), in denen er — als „Isidorus Orientalis" — auf den jungen Eichendorff vorübergehend großen Einfluß gewann. Sein Roman 'Guido' (1807) und die 'Lotosblätter' (gedruckt 1817) zeigen ihn ganz im Fahrwasser von Novalis, dessen Eigenart bei ihm freilich als ungesund - verworrene Mystik erscheint. Dann wurden Tieck, Fouqui und E. T. A. Hoffmann nacheinander seine Muster. Eichendorff hat ihn im Alter als „Afterromantiker" abgeschüttelt; für die Dresdener aber bedeutete er eine romantische Autorität. Das klassizistische Element war durch den nüchternen Archäologen K . A. B ö t t i g e r {1760—1835), den einstigen Weimarer

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„Magister Ubique", wenig ruhmvoll vertreten. Er gehörte infolge seiner zahllosen persönlichen Beziehungen zu den einflußreichsten Mitgliedern des Kreises und genoß vor allem als Kritiker Ansehen. Doch fehlte ihm jedes ästhetische Urteilsvermögen, und so ist es vor allem dem Gewicht seines Namens zuzuschreiben, wenn der Größenwahnsinn des Liederkreises sich ins ungemessene steigerte. Unter den Frauen der Vespertinagemeinde ist am bekanntesten die abenteuerliche H e l m i n a v o n C h i z y (1783—1856), eine Enkelin der Karschin. Sie hat das Textbuch zu Webers 'Euryanthe' geschrieben. Dann standen noch die begabte Malerin Therese aus dem Winkel, Luise Brachmann, von der einige Gedichte noch Schillers Beifall gefunden hatten, und die fruchtbare Erzählerin Fanny Tarnow dem Kreise nahe. §4. Noch viel größer ist natürlich die Zahl der Schriftsteller, die durch die Kindschen 'Jahrbücher' und vor allem durch die ' A b e n d z e i t u n g ' in Beziehungen zu den Dresdenern traten. Hell kam es auf einen großen Leserkreis an, und so suchte er besonders dem Geschmack der Frauen entgegenzukommen. Alle beliebten Modeschriftsteller wurden herangezogen: Fouqu6, Clauren, Houwald, Laun, Castelli, Langbein, Vandervelde, die Contessas, Tromlitz, Weisflog usw., aber auch Willibald Alexis und Wilhelm Müller haben zeitweilig mitgearbeitet. Hauptsache waren die Erzählungen und Gedichte, Politik war verpönt, die Kritik war absolut unsachlich und diente hauptsächlich der gegenseitigen Beweihräucherung. Verehrungsgedichte auf die Mitglieder des Kreises waren an der Tagesordnung. Das Beste waren noch die Korrespondenzen aus anderen dt. Städten, weil diese wenigstens eine gewisse Objektivität wahrten. § 5. Eine ganze Reihe von J. hindurch konnte der Liederkreis seinen Einfluß ungestört zur Geltung bringen. Körners Haus war seit den Befreiungskriegen geschlossen, und eine andere ebenbürtige Macht kam nicht mehr in Frage. Auch als Tieck 1819 nach Dresden übersiedelte, führte das anfänglich keine Änderung der Verhältnisse herbei: der gichtkranke und halbgelähmte Dichter hielt sich zunächst

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P S Y C H O D R A M A — P S Y C H O L O G I S C H E R ROMAN

fast ganz von der Öffentlichkeit zurück. Das wurde anders, als man Tieck die 'Abendzeitung' und bald auch die 'Morgenzeitung' ('Dramaturgische Blätter') für kritische Meinungsäußerungen zur Verfügung stellte, in der Hoffnung, in ihm einen neuen, angesehenen Vorkämpfer der eigenen Sache zu gewinnen. Tiecks Kritik, die durchaus produktiv war und die höchsten Maßstäbe anlegte, hatte für persönliche Beziehungen nicht die geringste Rücksicht und nahm auch die Vespertinaleute rücksichtslos vor. Dazu kam, daß Tieck durch seine Vorlesungen sehr bald der literarische Mittelpunkt Dresdens wurde, so daß der Stern des Liederkreises zu verblassen begann. So begann immer offener der Kampf gegen Tieck, vor allem von Seiten Theodor Heils, der es Tieck gewaltig übelnahm, daß er 1825 die Stellung eines Hoftheaterdramaturgen erhalten hatte, auf die Hell selbst gehofft hatte. Man warf Tieck vor, er verletze den Dresdener Lokalstolz, und suchte ihn durch allerhand Intrigen beim Theater unmöglich zu machen. Tieck seinerseits gab in der satirischen Märchennovelle 'Die Vogelscheuche* die Vespertinaleute als die „Ledernen" der Lächerlichkeit preis: „Das Romantische — nein, das Mittelmäßige, ja, was noch unter diesem, sei unsere Losung!" Zwar gelang es Hell und seinen Anhängern, Tieck den Aufenthalt in Dresden immer mehr zu verleiden, zumal auch die Jungdeutschen sich mit ihnen verbündeten, so daß Tieck 1842, als Hell Vizedirektor des Hoftheaters geworden war, einer Einladung Friedrich Wilhelms IV. nach Berlin Folge leistete. Aber das literarische Ansehen des Liederkreises war durch Tiecks ätzende Satire vernichtet, und wenn die Gesellschaft auch noch eine Reihe von J. weiterbestand, so war doch ihre Bedeutung für immer dahin. H. A . K r ü g e r Pseudoromantik. Friedrich Kind und der Dresdener Liederkreis 1904 (wo auch eingehende Quellenangaben für die einzelnen Vertreter des Kreises gegeben werden). G. T r u e Studien zu C. F. van der Veldes Romanen. Diss. Greifswald 1926. h . Heckel.

Psychodrama s. M o n o d r a m a . Psychologischer Roman. § 1. Der gegebene Stoff epischer Erzählung ist das äußere Geschehen, die sichtbare Bewegt-

heit des Lebens. Die Reise bildet daher den bevorzugten Gegenstand des volkstümlichen Epos, lange bevor die Prosa als Kunstform auftaucht. Als einzelne Abenteuerfahrt und als gemeinsame Kriegsunternehmung vieler „Reisiger" begegnet sie im homerischen Epos. Die römische 'Aeneide' stellt eine Kombination beider Grundtypen dar. Das dt. Volksepos bietet dasselbe Bild, ohne uns durch seine geschickte Komposition zum Bewußtsein zu bringen, daß die Freiersfahrt Siegfrieds, der Dänenzug, Gunthers Brautwerbung, die Jagd im Wasgenwald und die Nibelungenfahrt nach Hunnenland eigentlich Variationendesselben Themas — Heerzug — sind, während in der 'Gudrun' die individuelle Reiseunternehmung, soweit sie vorliegt, auf das Schicksal des Weibes beschränkt bleibt. Daneben geht nun aber, gleichfalls schon vor der prosaischen Kunstform, eine innerlichen Seelenvorgängen zugewendete Erzählung her, die sentimentalen Charakter trägt. Episodisch erscheint sie in der 'Aeneide', die sich dadurch als Produkt jüngerer Entwicklungsstufe zu erkennen gibt. In der dt. Literatur wendet sich Gottfrieds 'Tristan' zum ersten Male ausgesprochenermaßen psychologischen Vorgängen zu. Man mag ihn daher als den ersten ps. „ R . " bezeichnen. Mitten unter ritterlichen Abenteuererzählungen taucht er auf, vom Dichter mit vollem Bewußtsein als Werk anderer Gesinnung hingestellt. Zur Zeit des Humanismus steigert sich das Interesse an der psychologischen Erzählung, die nun als galante, pikante Novelle gepflegt wird. Mag das bürgerliche Milieu seinen Einfluß dabei geltend machen, so überrascht andererseits, daß im Zeitalter der Aufklärung, nachdem sich das dichterische Interesse im engl. Familienroman zuerst wieder seelischen Problemen zugewendet hatte, auf demselben zwischenvölkischen Grenzstreifen der Genius auftaucht, dem es gelingt, die Aufmerksamkeit einer neuen, ästhetisch gebildeten Kriegerkaste nachdrücklich auf die Bedeutung der Gemütswerte hinzuweisen: Rousseau, auch er als Sohn Genfs, wie der Tristandichter, bürgerlichem Milieu entstammend. Unter dem Einfluß engl.

PSYCHOLOGISCHER ROMAN Philosophen schreibt sodann Wieland seinen 'Agathon' mit dem Motto: „Was die Tugend und was die Weisheit vermag, zeigt uns hier ein nützliches Beispiel", während Goethes 'Werther', künstlerisch ungleich höher stehend, das mächtige Echo der Rousseauschen Gedanken bringt. Damit war nach einer vorwiegend dem Abenteuer geneigten Epoche der dt. Literatur das Interesse an der unmittelbaren Spiegelung seelischer Stimmungen zurückgewonnen und der klassischen Dichtung der Boden bereitet, die im Drama die Richtung auf das Psychologische weiter verfolgte. § 2. Allein, man versteht unter dem ps. R. im engeren Sinne nicht sowohl eine von Stimmung bewegte, das Gefühl frei ausströmende, gleichsam musikalisch-lyrische Erzählung, als vielmehr eine solche, die das psychologische Geschehen dem Gesetze von Ursache und Wirkung unterstellt, es in seiner inneren Logik beobachten, nach seiner „Wahrheit" forschen will. Der ps. R. ist somit seinem Wesen nach eine realistische Gattung, die für das Seelenleben dieselbe nüchtern-kritische, vorurteilsfreie und rein intellektuelle Betrachtungsweise fordert, die der Realismus sonst dem äußeren Leben angedeihen läßt und die nun an die Stelle konventioneller Beurteilung des menschlichen Gehabens treten soll. Eine objektiv-skeptische, ja ironische Haltung ist ihm daher häufig eigen. Er liebt es, zu enthüllen, zu vertiefen und anstatt des herkömmlichen ein von realer Erkenntnis getragenes Bild des Menschen zu bieten. § 3. Der ps. R. entwickelt seine Blüte im 19. Jh. Aus seiner Übertragung der Betrachtungsweise vom Äußerlichen auf das Innerliche ergibt sich, in Anlehnung an Lamprechts Stufenlehre, daß er als Zeiterscheinung später als der übliche realistische Roman auftaucht. Die soziologischen Fresken der Balzacschen Sittenromane sind früher als die gefeilten Psychogramme Maupassants und die getönten Skizzen Bourgets, der Bauernroman Gotthelfs früher als die 'Problematischen Naturen* Spielhagens und die Charakterbilder der 'Dorf- und Schloßgeschichten' Marie vonEbner-Eschenbachs.derZeitroman aller Schattierungen älter als das Gesell-

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schaftsbild, das, indem es eine in festen Lebensformen sich bewegende Schicht von Bildungsträgern und wirtschaftlichen oder politischen Führern schildert, die unmittelbare Vorstufe des ps. R. bildet, welcher oft nur als ein nach innen gewendetes, einem Hauptvertreter sich monographisch-charakterologisch widmendes Gesellschaftsbild erscheint. Es ergibt sich somit, daß der ps. R. als das Produkt einer soziologischen Spätzeit in dem Momente hervortritt, wo die gesellschaftlichen Formen sanktioniert und auf dem Punkte der Erstarrung angelangt sind, das individuelle Seelenleben aber zum Problem geworden ist, während der verwandte, das Innenleben gleichfalls berücksichtigende Entwicklungsroman mit dem Lebensprinzip des Helden die neuen Normen einer sich bildenden Gesellschaft zum Siege führt. Der ps. R. der ausgereiften sozialen Struktur bevorzugt seinerseits die unrettbare seelische Problematik. Das Paradoxe des Falles ist sein Kennzeichen. Er liebt als Helden den religiösen Neuerer oder den Verbrecher, weil das Verhältnis zwischen dem seelisch starken Einzelnen und der Gesellschaft schon von tragischen Spannungen heimgesucht wird. § 4. Unter diesen Umständen verblüfft zunächst, daß die ersten Vertreter des ps. R. zur Zeit der Romantik auftauchen. Doch sind es nicht ihre ausgesprochen jugendlichen Erscheinungen, die ihn schaffen, sondern solche, die sie als epigonische Strömung kennzeichnen oder von ihr, obwohl älteren Gruppen zugehörend, spät noch ergriffen werden. Friedrich Schlegels 'Lucinde' (1799) und Goethes 'Wahlverwandtschaften' (1809) begründen die Gattung in Deutschland, während ihr in Frankreich Henri Beyles Werke Eingang verschaffen. Die romantische Forderung nach „Realpsychologie" liegt hier als Impuls durchweg zugrunde. Während aber Schlegels und Beyles Dichtungen aus unerschrockener, unerbittlichster Selbstbeobachtung hervorgehen, sucht Goethes Roman für das Seelenleben objektive, naturwissenschaftliche Gesetze aufzustellen. Das rein psychologische Problem verbindet diese Dichtung mit ihrer Epoche, während die Lösung sowie Technik und Form allerdings auf das realistische Zeitalter voraus-

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PSYCHOLOGISCHER ROMAN

deuten. Die Emanzipationsromane des Jungen Deutschland sind sodann zu sehr von sozialen Forderungen erfüllt, als daß sie ps. R. im eigentlichen Sinne des Wortes heißen könnten. Dagegen nimmt bei Otto Ludwig die realistische Erzählung nach Anlage und Stil bewußt die Wendung zum Innerlichen. Die Zeichnung des landschaftlich bedingten Menschen verbindet sich bei ihm mit ausgesprochen psychologischen Interessen, welche bald in den seltsam zugespitzten Voraussetzungen, bald in der minutiösen Fräparierung (im medizinischen Sinne) des Konfliktsverlaufs hervortreten. Jenes ist in der Novelle 'Maria* (geschrieben 1842), dieses bei der Erzählung 'Zwischen Himmel und Erde' (1856) der Fall. Keller, auf anderem Standpunkte stehend, sah sich daher veranlaßt, den Mangel der Gattung in der „Uhrenmacherei des psychologischen Räderwerkes" festzustellen, und beanstandete bei Ludwig, daß „der rasselnde und knarrende Mechanismus ihm so ungeheuer vorwiegend und wichtig war und er nicht wußte, daß das zu starke Hervortreten des Anatomen in einem Gemälde ein Abweg ist und zum Verzopfen der Kunst führt". Immerhin sind Kellers 'Legenden' (1872) gleichfalls psychologisch orientierte Dichtungen, die sich die Korrektur des landläufigen Urteils auf Grund einer unvoreingenommenen Analyse der seelischen Komplexe herausnehmen. Bei Meyer, dem zweiten schweizerischen Realisten, verbirgt sich die psychologische Novelle häufig unter der Form der historischen Erzählung. So, wenn er versucht, „in gefälliger Form einen mittelalterlichen Heiligen zu enträtseln und, in weiterer Auffassung, den Unterschied zwischen der Legende, der konventionellen Auffassung eines Menschenlebens piit seiner grausamen Wirklichkeit herauszuheben". Die Wendung zum Psychologischen geht bei ihm mit der zunehmenden Vorliebe für den problematischen Charakter, den rätselhaften Konflikt Hand in Hand. Der komplizierte 'Heilige' (1879) verhält sich in dieser Hinsicht zum schlichteren 'Jürg Jenatsch' wie das kühne Entführungsmotiv in der 'Hochzeit des Mönchs' (1884) zu dem des 'Amulet'. Der tragische Konflikt erscheint jedesmal gesteigert, verinnerlicht, während die frühere Dichtung

episch-abenteuerlich verläuft. Die modernnaturalistischen Erzähler vollends, Schnitzler, Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, sind unter dem Einfluß Dostojewskis, des eigentlichen großen Dichters der pathologischen und verbrecherischen Erscheinung, dessen Vorbild übrigens schon bei der 'Richterin' festgestellt werden muß, völlig zur Darstellung pathologischer, verbrecherischer und religiös-transzendental verankerter Menschen übergegangen. § 5. Einen eigenen, individuellen Stil entwickelte indes keiner dieser neueren Vertreter für den ps. P. Wohl aber, nach den Anfängen bei Ludwig, Theodor Fontane (1819—1898). Er wird daher einmal, wenn erst genügender Abstand gewonnen sein wird und die Schlagworte der Mode verklungen sind, als der große dt. Repräsentant der Gattung einem Thackeray und Beyle gegenüberstehen. Nach einem breiten historischen Roman und einigen kriminalistischen Erzählungen, die das psychologische Problem von außen, als soziale Erscheinung fassen, wendet sich Fontane mit 'L'Adultera' (1882) der Schilderung des modernen Gesellschaftslebens zu, die er bald als Zeit- oder Milieustudie, bald mit besonderer Bevorzugung eines dominierenden Charakters als eigentlichen ps. R. ausgestaltet. Mit zunehmender Verfeinerung der Darstellungsmittel vertreten diesen der •Schach von Wuthenow' (1883), 'Graf Petöfy' (1884), 'Cécile' (1887) und 'Effi Briest' (1895), die letztere, wie Fontane selbst bemerkte, „fast wie mit dem Psychographen geschrieben". Die in diesen Romanen angewendete Technik, die Fontane bei nordischen Autoren, vor allem bei Walter Scott und C. F . Meyer, studiert hatte, verdrängt den objektiven Tatsachenbericht des Erzählers zugunsten der Selbstdarstellung der Gestalten. Alles äußere Geschehen, alle Schilderung ist auf ein Minimum reduziert, der geistreichen Unterhaltung der breiteste Raum gegönnt. Der gesellige Anlaß in jeder Form, als gastliche Tafel, Ausflug oder Ausfahrt, bildet das Rückgrat der Handlung. Der Brief als intimstes persönliches Zeugnis erlangt erneute Bedeutung. Die Streichung des epischen Vermittlers, in dessen Rolle sich der frühere Erzähler

PUBLIKUM—PUPPENTHEATER gefallen hatte, ist energisch, doch ohne Kleinlichkeit durchgeführt. Hier vor allem geht Fontane über Scott hinaus, mit dem er sonst in Milieu, Charakterisierungskunst, die soziale Ober- und Unterschicht einander gegenüberstellend, und in der geistreichen Causerie über Kunst, Politik und Leben übereinstimmt. Es ist nicht erstaunlich, daß die Jugend von 1890 Fontane auf den Schild hob, denn in seinen Romanen ist geleistet, was sie erstrebte: eine schonungslose Kritik der Gesellschaft ohne Voreingenommenheit, aber auch ohne theoretische Pedanterie und mit jenem hingebenden Verständnis für die Einzelseele, das immer wieder den echten Dichter kennzeichnet. Spielhagen Beiträge zur Theorie und Technik des Romans 1883. Ders. Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik 1898. M. G u y a u L'art au point de vue sociologique 1897. M. Nußberger.

Publikum. In den ältesten Zeiten aller (wissenschaftlich erkennbaren) Theaterkunst sind Darsteller und P. nicht geschieden ; das Theater in seinen ersten Anfängen ist eine Kunst aller für alle, die Betätigung des Spieltriebes in einem großen Kreise, ein soziologisches, ein Gesellschaftsspiel. Erst durch die allmähliche Absonderung eines Protagonisten steht das P. für sich da. Es bleibt, trotz seiner Selbständigkeit, dennoch ein notwendiger Faktor des Theaterkunstwerkes; das P. ist ein Mitschöpfer der Aufführung. Die Münchener Separatvorstellungen vor König Ludwig II. sind theaterunsinnig. Der Schauspieler braucht für das Zustandekommen seiner Leistung das P. Dieses massenpsychologisch zu beurteilen und nötigenfalls zu beeinflussen, ist Sache des Spielleiters. Ein übler Brauch der Einwirkung auf das P. ist die Benutzung der Claque, d. h. die Verteilung von Leuten im P., die an genau bestimmten Stellen des Stückes Beifall oder Lachen äußern müssen. Während im MA. das P. die Marktvorstellung umstand, schuf der moderne Theaterbau eine scharfe Trennung von P. und Darstellungsschauplatz, die freilich im 18. J h . in Frankreich und in Deutschland zu der Unsitte führte, daß der Zuschauer dennoch einen Platz auf der Bühne einnehmen wollte (vgl. Lessing 'Hamburg.

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Dramaturgie' St. I I , Petersens Ausgabe S. 448 f. [Anmerkungen]). Noch um 1800 und später bitten die Theaterzettel das P., „sich ohne Unterschied die unentbehrliche Einrichtung, wegen Verschonung des Theaters, gütigst gefallen zu lassen". Neuerdings hat man versucht, den Konnex des Darstellers mit dem P. enger und greifbarer zu gestalten, so Max Reinhardt mit der Arena-Bühne des „Großen Schauspielhauses" in Berlin, in dem er z. B. für 'Danton* auch noch die Volksmenge aus dem Stück in das P. verteilt. Nach dem Vorbild der „Volksbühne" (s. d.), der ersten großen Zusammenfassung und Organisation des P., sind in den letzten Jahrzehnten allerorts Theatergemeinden verschiedenen Charakters gebildet worden (als Gegengründung gegen die aus sozialistischer Weltanschauung entstandene „Volksbühne" besonders der „Bühnenvolksbund", der auf „christlich-nationalem" Boden steht). Sie haben den Zweck, dem Theater durch feste Platzmieten des zusammengeschlossenen P. sichere wirtschaftliche Grundlagen zu geben, die dann auch wieder dem P. zustatten kommen. H. Knudsen. Publizistik s. J o u r n a l i s m u s und ö f f e n t l i c h e Meinung. Puppentheater. Vielleicht schon für das 12. J h .

('Hortus

deliciarum'

der Äbtissin

Herrad von Landsberg), bestimmt aber im 13. Jh. belegt, ist das Marionettentheater (bei dem eigentlich die Marionette oder Drahtpuppe zu scheiden ist von der Handpuppe mit wesentlich einfacherer und stets volkstümlich gewesener Theatertechnik) doch erst im 16. Jh. weiter ausgebildet, ja sogar erst im 17. Jh., als die Kriegsunsicherheit die Schauspielertruppen verschwinden ließ, ausgebreitet worden. Den Charakter des Volksschauspiels bekommt das P. besonders durch die komische Figur, so daß man ihm nach dem von Joseph Laroche aufgestellten „Kasperl" die Bezeichnung „Kasperle-Theater" gab. Um 1800 heißt es noch in Krünitz' Lexikon über das P., es diene „oft zur harmlosen Belustigung, sowie es sehr häufig aber von nichtswürdigen Landstreichern behandelt wird, die zuweilen durch recht grobe Zweideutigkeiten und Zoten den Beifall des großen Haufens

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PUPPENTHEATER

zu erhalten suchen". Aus solchem Tiefstand ist es herausgeholt worden durch die Anteilnahme der ohnehin an der Volksdichtung interessierten Romantik, nachdem es durch Goethe, der in Frankfurt die Darbietungen des angesehenen Marionettenspielers Robertus Schäffer kennenlernen konnte, im 'Jahrmarktsfest zu Plundersweilern' (mit 'Hamann und Esther') und im 'Wilhelm Meister' erneutes Ansehen erhalten hatte. Aus dem Beginn des 19. Jhs. ist Kleists Aufsatz 'Über das Marionettentheater' (1810) herauszuheben. Nachdem schon in der ersten Hälfte des 19. Jhs. das P. gewissermaßen seßhaft geworden war — 1802 gründete Christoph Winter in Köln das sog. „Hänneschen-Theater", Schütz und Dreher haben in Berlin, Geißelbrecht (vgl. Th. Storms 'Pole Poppenspeler') in Frankfurt a. M. gewirkt —, hat es an Bemühungen zur Veredlung dieses Zweiges wahrer Volkskunst nicht gefehlt; namentlich (im Literarischen) Graf Franz Pocci (gest. 1876) und „ P a p a " Joseph Schmid (geb. 1822) in München haben mit Erfolg daran gearbeitet. Von den Texten der Puppenspieler kennen wir nicht sehr viel; denn „ein Buch gibt es nicht. Wir Puppenspieler sind — ein Überbleibsel aus die finstre Zeiten 1 Bei uns erbt sichs vom Vater auf den Sohn; einer lernt vom andern auswendig, und hernach trägt man die ganze Geschichte im Kopfe mit sich herum. Jeder von uns hat müssen einen Schwur ablegen, daß er niemals eine Zeile niederschreiben will, damit es nicht in unrechte

Hände kommt, die uns das Brot wegnehmen" (K. v. Holtei). Eine Rekonstruktion des für uns interessantesten 'Puppenspiels von Doktor Faust' hat nach Texten von Schütz und Geißelbrecht 1846 K . Simrock versucht. Aus neuster Zeit ist vor allem das Marionettentheater Puhonnys in München als künstlerisch reife Leistung zu nennen. R. Pisch el Die Heimal des Puppenspiels 1900. E . Maindron Marionettes ei Guignoles. Les poupées agissantes et parlantes A travers les Ages 1900. Ch. Magnin Histoire des marionettes en Europe* 1862. Ph. Leibrecht Zeugnisse und Nachweise zur Gesch. d. Puppenspiels in Deutschland. Diss. Freiburg i.B. 1919. Ders. Gesichtspunkte eu einer Gesch. des Puppenspiels, L E . X X I I I (1920/21) Sp. 1211—14. R- K ö h l e r Der alte Hildebrand als Puppenspiel, Kleinere Schriften I I (1900) S. 265. K. Holl Geschichte des dt. Lustspiels 1923 S. 40—43. J . E. R a a b e Kasper Putschenelle1 1924. M. Herrmann Das Jahrmarktsjest eu Plundersweilern 1900. E l e o nore R a p p Die Marionette in der dt. Dichtung vom Sturm u. Drang bis zur Romantik 1924. A. Riedelsheimer Geschickte des J . Schmidsehen Marionettentheaters in München 1906. C. Niefien Das rheinische Puppenspiel, ZfDtkde. 1925 S.488—503. G . E t t l i n g e r ZfdPh. X V I I I (1886) S. 257—301; X X I I I (1891) S. 286ff.; X X V (1893) S. 420f. K. E n g e l Dt. Puppenkomödien 1876; ZfvglLg. I (1887) S. 402 f. K. Simrock Doktor Joh. Paust, Puppenspiel. Neuausgabe von R. P e t s c h (Reclams Univ.Bibl. Nr. 6378—79) o. J . (1923). J . L e w a Iter und J . B o i t e ZfVk. X X I I I (1913) S. 36—51, »37—46. R. K r a l i k u. J . W i n t e r Dt. Puppenspiele 1885. J . M e i e r - G r a e f e Volanda und Angelica, ein Puppenspiel in 10 Akten 1912. A. R. J e n e w e i n Das Höltinger Peterlspiel 1903. F. Graf Pocci Sämti. Kasperl-Komödien 1909; Puppenspiele hsg. v. K. Schloß 1909.

H. Knudsen.

Q QttUltltit § I. Der besonders für die Verswissenschaft, aber auch für die Grammatik und Phonetik bedeutungsvolle Begriff Q. hat im Laufe der Forschung wesentliche Veränderungen erfahren. Dabei ist der starke Einfluß der antiken Theorie einerseits, die an der geschriebenen statt an der gesprochenen und gehörten Sprache betriebene Forschung andererseits der Erkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse sehr hinderlich gewesen. Der Name Q. selbst ist vieldeutig. Auch die dt. Bezeichnungen für den weiten Begriff Q., wie „Silbenmaß" und „Dauer", sind unzulänglich und treffen nicht das Wesen der Sache. Der unter Q. begriffene Komplex muß nach den Forschungen F. Sarans zerlegt werden in: L a u t z e i t , S i l b e n z e i t , K a m m z e i t , A b s t a n d s z e i t (s. §6). § 2. Die Ansichten über Q. haben bis in die jüngste Zeit sehr stark unter dem E i n f l u ß d e r — noch dazu meist nicht klar erfaßten — a n t i k e n T h e o r i e n gestanden, obwohl diese nicht einmal die tatsächlichen Verhältnisse der eigenen Sprache richtig widerspiegeln, sondern am Schriftbild, nach der philosophischen Weise der Alten, sehr spekulativ entwickelt sind. Die Q. wurde hier schlechtweg als D a u e r d e r S i l b e angesehen. Schon früh wurde bemerkt, daß die Silben nicht alle gleich lang sind. Man fand am Text die Regel: Eine Silbe ist lang, wenn sie einen langen oder lang gebrauchten Vokal oder einen Diphthong enthält und nicht unmittelbar darauf wieder ein Vokal folgt. Solche Silben sind von Natur (