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German Pages 592 Year 2020
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Maximilian Lässig
Radikale Aufklärung in Deutschland Karl von Knoblauch, Andreas Riem und Johann Christian Schmohl
De Gruyter
Herausgeberinnen und Herausgeber: Thomas Bremer, Daniel Cyranka, Elisabeth De´cultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Ottfried Fraisse, Daniel Fulda, Frank Grunert, Wolfgang Hirschmann, Heiner F. Klemme, Till Kössler, Andreas Pecˇar, Jürgen Stolzenberg, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Anke Berghaus-Sprengel, Albrecht Beutel, Ann M. Blair, Michel Delon, Avi Lifschitz, Robert Louden, Laurenz Lütteken, Brigitte Mang, Steffen Martus, Laura Stevens Redaktion: Andrea Thiele Druckvorlage: Maximilian Lässig Diss. phil. Universität Trier, Fachbereich III 2018
ISBN 978-3-11-069305-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069310-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069313-3 ISSN 0948-6070 Library of Congress Control Number: 2020936799 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung Zu Beginn dieses Buches, das unter dem Titel Beispiele radikaler Aufklärung in Deutschland. Die drei Aufklärer Karl von Knoblauch (1756–1794), Andreas Riem (1749–1814) und Johann Christian Schmohl (1756–1783) im Juni 2018 vom Fachbereich III der Universität Trier als Dissertation im Fach Geschichte angenommen wurde, ist es mir eine Freude, denjenigen zu danken, die – bewusst oder unbewusst – zum erfolgreichen Gelingen dieser Dissertation beigetragen haben. Hierbei möchte ich zuallererst Frau Prof. Dr. Helga Schnabel-Schüle danken, die nicht nur schon während des Studiums mein Interesse an der Frühen Neuzeit weckte, sondern mir hierbei auch durch ihre unverwechselbare Art gezeigt hat, dass das kritische Hinterfragen vermeintlicher wissenschaftlicher Gewissheiten ein aufklärendes Licht auf hochtrabend anmutende Gedankengebäude werfen kann. Dass Sie mich immer haben schreiben lassen, was ich wollte und für die langen, immer äußerst anregenden Gespräche zum Thema oder über alles mögliche, bedanke ich mich sehr! Dank gilt ebenfalls Herrn Prof. Dr. Christian Jansen, der nicht nur als Zweitgutachter der Arbeit, sondern auch in der Planungsphase der Dissertation nützliche Ratschläge erteilte und durch interessierte Nachfragen immer wieder wichtige Denkanstöße lieferte. Ich schätzte die vertrauensvolle und unkomplizierte Zusammenarbeit sehr! Herrn Prof. Dr. Lutz Raphael und Herrn Prof. Dr. Stephan Laux möchte ich dafür danken, dass sie meine Verteidigung als Prüfer begleitet haben und – neben vielen anderen – mit zahlreichen Anmerkungen bei den Veranstaltungen des Promotionskolloquiums PROMT zu dieser Arbeit beitrugen. Dass die Arbeit in die Reihe Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle übernommen wurde, verdanke ich der positiven Begutachtung durch Herrn Prof. Dr. Andreas Pečar – vielen Dank hierfür! Für die redaktionelle Betreuung durch das IZEA bedanke ich mich bei Frau Dr. Andrea Thiele und für die Unterstützung des Verlages bei Frau Susanne Rade. Für Hinweise und Tipps danke ich ebenfalls Herrn Dr. Michael Niedermeier und Herrn Dr. Falk Wunderlich. Gleiches gilt für Herrn Prof. Dr. Dieter Hüning, der – möglicherweise ohne es zu wissen – das Konzept meiner Arbeit beeinflusste. Stellvertretend für alle Archive und Bibliotheken, die ich während meiner Recherche besucht habe, möchte ich mich namentlich bei Herrn Helmut Klingelhöfer aus dem Hessischen Staatsarchiv Marburg und bei Frau Franziska Mücke aus
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Danksagung
dem Geheimen Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz bedanken, die mich freundlich unterstützt haben. Für die Finanzierung meiner Arbeit gilt der Friedrich-Ebert-Stiftung und hier besonders Frau Dr. Ursula Bitzegeio sowie der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz mein Dank. Dafür, dass sie sich spontan vor der Veröffentlichung dieses Buches für das Korrekturlesen einspannen ließen, möchte ich Eva Geibert, Anne Königs und Matthias Spieth herzlich danken. Zu guter Letzt möchte ich mich bei meiner Familie für das Verständnis bedanken, das sie mir während der Arbeit an meiner Dissertation entgegengebracht haben. Für die Erstkorrektur bedanke ich mich herzlich bei Karola Schönwetter-Kallabis. Und da das Wichtigste zum Schluss kommt, seien ebenfalls die ausgedehnten thematischen Diskussionen mit Anna Kallabis, ihre Geduld und Unterstützung erwähnt; ohne sie wäre diese Arbeit nie möglich gewesen! Trier, im März 2020
Inhalt 1 Zur Einführung: Aufklärung und radikale Aufklärer . 1.1 1.2
. . . . Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textkorpus und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 Historischer und biographischer Überblick 2.1
2.2 2.3 2.4
. . . Johann Christian Schmohl . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl von Knoblauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Riem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrungen von Repression, Vertreibung und Flucht .
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. 16 . 16 . 16 . 20 . 43 . 43 . 48 . 68 . 68 . 72 . 101
3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.1
3.2
Philosophie versus Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Religionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Aberglaube und Intoleranz . . . . . . . . . . . . 3.1.1.2 Wunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.3 Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Die Seele, das Denken und das Bewusstsein seiner selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Moral trotz Fatalismus . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Johann Christian Schmohl: die private ‚Herzensreligion‘ des Sturm und Drang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Zwischenfazit: Philosophie versus Religion . . . . . . . . . Soziale Verhä ltnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Vom ‚Wilden‘ zur Zivilisation? Die geschichtsphilosophische Entwicklung der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Stä ndegesellschaft: Über Untertanen und Herrscher . . 3.2.3 Die Juden als benachteiligte Minderheit . . . . . . . . . . .
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105 106 116 144 158 166
. 190 . 214 . 235 . 246 . 248 . 248 . 277 . 319
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3.3 3.4
Inhalt 3.2.4 Zwischenfazit: Die Kritik der sozialen Verhältnisse . Wirtschafts- und Handelssystem . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Rechte, Freiheiten und deren Einschrä nkung . . . . . 3.4.2 Die Auseinandersetzung mit politischen Umbrüchen 3.4.2.1 Revolution(en) und ihre Legitimation . . . 3.4.2.2 Die Rolle des Militärs . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Eigenschaften einer ‚guten‘ Regierungsform . . . . . 3.4.4 Zwischenfazit: die politische Ordnung . . . . . . . . .
4 Schlussbetrachtung
. . . . . . . . .
358 365 398 398 430 430 467 485 510
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Quellen- und Literaturverzeichnis . Personenverzeichnis
. . . . . . . . .
1 Zur Einführung: Aufklärung und radikale Aufklärer Die Aufklärung im deutschsprachigen Raum besteht aus vielen Unbekannten. Zahlreiche ihrer Protagonisten, die nicht das Glück hatten, von der Nachwelt in den Rang von ‚Klassikern‘ erhoben zu werden, fallen hierunter. Sie wurden höchstens kursorisch beschrieben und nur selten genauerer Betrachtung unterzogen. Der Fokus liegt früher wie heute auf den kanonisierten ‚Großen‘1 und den von ihnen eingenommenen Positionen. Verstärkt hat dieser verengte Blick zusätzlich die Meinung der älteren Forschung, in Deutschland habe die Aufklärung nur in gemäßigter Form stattgefunden.2 Auch wenn dieser Ansatz von modernen Autorinnen und Autoren nur noch selten dezidiert und bewusst aufgegriffen wird,3 hat er den Kanon gefestigt und den Eindruck entstehen lassen, es habe eine – wenn nicht sogar eine besondere deutsche – Aufklärung gegeben. Doch was kann man überhaupt unter Aufklärung verstehen? Da eine Erklärung dieses Phänomens vielfältige Antworten zulässt, werde ich an dieser Stelle zuerst darlegen, mit welchem Verständnis von Aufklärung ich arbeiten werde und wie es sich mit der Zuspitzung einer ‚radikalen Aufklärung‘ verhält. Wohl am häufigsten wird Immanuel Kant (1724–1804) herangezogen, wenn es um die Bestimmung der Aufklärung geht. Seine Antwort auf die 1783 von Johann Friedrich Zöllner (1753–1804) in der Berlinischen Monatsschrift aufgeworfenen Frage, was Aufklärung sei,4 wurde im darauffolgenden Jahr veröffentlicht. Bekannt ist dieser Text – besser gesagt: meist nur sein erster Absatz – durch „die schon fast sprichwö rtlich gewordene Definition“5 von Aufklärung als „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Er gipfelt in den Appell 1
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5
Vgl. Terence James Reed: Mehr Licht in Deutschland. Eine kleine Geschichte der Aufklärung. München 2009, S. 14 f. – Wobei für Reed schon Aufklärer wie Georg Forster (1754–1794) oder Moses Mendelssohn (1729–1786) in die Klasse der „Gestalten zweiter Ordnung“ gehören, „die international kaum ins Gewicht fallen.“ (Ebd., S. 15). So beispielsweise: Heinrich Hoffmann: Die Frömmigkeit der deutschen Aufklärung. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 16.3 (1906), S. 234–250. Vgl. Angela Borgstedt: Das Zeitalter der Aufklärung. Darmstadt 2004, S. 11. Bei diesem Beispiel wurde sogar das gesamte Konzept des Buches an diesem Diktum ausgerichtet. „Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!“ Johann Friedrich Zöllner: Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren? In: Berlinische Monatschrift 2 (1783), S. 508–517, hier S. 516. Simone Zurbuchen: Zur Entwicklung von der Toleranz zur Religionsfreiheit im historischen Kontext Brandenburg-Preußens am Beispiel von Pufendorf und Mendelssohn. In: Ursula Goldenbaum u. Alexander Košenina (Hg.): Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien. Bd. 3. Hannover 2007, S. 7–32, hier S. 7.
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1 Zur Einführung: Aufklärung und radikale Aufklärer
an seine Leser: „Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“6 Die beim ersten Lesen sehr positiv wirkenden Aussagen entwickeln auf den zweiten, vor allem über die erste Passage hinausreichenden Blick einen bitteren Beigeschmack: Nicht nur ist die Schuld – und damit die Verantwortung – für ihre Unmündigkeit alleine bei den Menschen selbst zu suchen. Auch können sie nach Kant den Mut nicht aufbringen, dies zu ändern oder sind schlicht durch „Faulheit und Feigheit“7 nicht dazu in der Lage. Kant nennt zwar „Vormünder“, die diese Menschen wie „ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht“ hätten, um danach Sorge zu tragen, dass sie aus Angst unmündig blieben, indem sie „ihnen nachher die Gefahr [zeigen], die ihnen drohet, wenn sie es versuchen allein zu gehen.“8 – Dennoch bleibt die alleinige Verantwortung der fehlenden Aufklärung beim Menschen selbst zu suchen und nicht bei diesen Vormündern.9 Neben diesem negativen Bild der geringen Aufklärungsfähigkeit der breiten Masse ist auch Kants Verständnis von Freiheit, das er in diesem Text äußert, widersprüchlich: Er betont zwar, zur Aufklärung werde „nichts erfordert als Freiheit“. Freiheit wiederum bedeute „von seiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu machen.“10 Neben dem öffentlichen, freien Gebrauch gibt es nach Kant jedoch auch einen Privatgebrauch von Freiheit und dieser dürfe „öfters sehr enge eingeschränkt seyn, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.“11 Kants Defintion von öffentlichem bzw. privatem Gebrauch ist unserem 6
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Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatschrift 4 (1784), S. 481–494, hier S. 481, Hervorh. i. Orig. Aufgrund der orthographischen Glättungen, die an Kants Text in der Akademie-Ausgabe (Ders.: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: AA Bd. VIII. Berlin, S. 33–42) vorgenommen wurden, verwende ich in diesem Fall das Original des Artikels. – Die Tradition des lateinischen Ausrufs: Sapere aude! – Wage es, weise zu sein!, reicht jedoch über Kant hinaus. Er stammt ursprünglich von Horaz (65–8 v. Chr.) und wurde im aufgeklärten Kontext erstmals von Johann Georg Wachter (1663–1757) verwendet, der diesen Spruch für eine Medaille der ‚Alethophilen Gesellschaft‘ von Ernst Christoph von Manteuffel (1676–1749) wählte. Vgl. Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 2012, S. 221–231. Kant: Beantwortung der Frage (wie Anm. 6), S. 481. Ebd., S. 482. Dies ist nicht verwunderlich, denn es handelte sich bei der Berlinischen Monatsschrift, in der Kants Artikel erschienen ist, um das „Sprachrohr der Berliner Aufklärung“ bzw. im engeren Sinne um das „Publikationsorgan der Mittwochsgesellschaft“ (Günter Birtsch: Die Berliner Mittwochsgesellschaft. In: Peter Albrecht, Hans Erich Bödeker u. Ernst Hinrichs (Hg.): Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750–1820. Tübingen 2003 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 27), S. 426–439, hier S. 428). Dieser gehörten vor allem höhere Verwaltungs- und Justizbeamte, Geistliche sowie Mitglieder des Oberkonsistoriums, Gelehrte und weitere Personen des öffentlichen Lebens an. Ihr Zielpublikum stellte also die intellektuelle Elite im deutschsprachigen Raum dar, welche Kant sicher nicht zu den Menschen, denen der Mut zum Selbstdenken fehlt, gezählt haben wird. Im Gegenteil: Die Leser der Berlinischen Monatsschrift gehörten eher zu jenem kleinen Teil der „Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.“ (Kant: Beantwortung der Frage (wie Anm. 6), S. 482). Ebd., S. 484, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 484 f.
1 Zur Einführung: Aufklärung und radikale Aufklärer
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heutigen Begriffsverständnis genau entgegengesetzt: Öffentlich ist das, was eine Person in ihrer Freizeit beispielsweise als Philosoph schreibt und publiziert. Der Privatgebrauch findet hingegen dann statt, wenn dieser Mensch ein Amt oder einen sonstigen Posten in der bürgerlichen Gesellschaft bekleidet: Hier – als „Theil der Maschine“12 – stehe es dem Menschen nicht zu, von seiner Vernunft freien Gebrauch zu machen, da er innerhalb des Systems zu funktionieren habe. Die Freiheit, die Grundvoraussetzung für Aufklärung, unterliegt bei Kant letztlich doch einer Beschränkung: Die Freiheit besteht nur solange, wie sie der Landesherr gewährt – wenn die Bürger nämlich ihren Pflichten nachkommen. Unter dieser gewährten Freiheit kann die Aufklärung grenzenlos vorangetrieben werden und ihre Ergebnisse können wiederum Eingang in das politische oder gesellschaftliche System finden – aber auch dies nur, wenn es vom Herrscher zugelassen wird.13 Kommen die Bürger ihren Pflichten nicht mehr nach (sei es auch nur aus der subjektiven Sicht des Herrschers), hat er keinen Grund, die Freiheit aufrecht zu erhalten. Statt durch Sapere aude! wird die Kernaussage von Kants Text also besser durch den Satz umschrieben, den er seinem Landesherrn, Friedrich II. (1712–1786) in den Mund legt: „räsonnirt, so viel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht!“14 Drei Jahre vor diesem Artikel, im Jahr 1781, und weitaus seltener zitiert, bestimmte Kant in einer Fußnote seiner Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft seine Epoche und damit das Wesen der Aufklärung weitaus allgemeiner und uneingeschränkter: Sie sei „das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß.“ Von dieser Kritik sei weder die „Religion durch ihre Heiligkeit“, noch die „Gesetzgebung, durch ihre Majestät“ ausgenommen, auch wenn beide „sich gemeiniglich derselben [zu] entziehen“ versuchten. Das wesentliche Merkmal der Aufklärung ist also nach dieser Definition die kritische Untersuchung aller Bereiche des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Keines dieser Gebiete kann sich der „freie[n] und öffentliche[n] Prüfung“ aus welchen Gründen auch immer ent12 13
14
Ebd., S. 485. „Der öffentliche und freie Gebrauch der autonomen Vernunft wird die beste Garantie des Gehorsams sein, jedoch unter der Bedingung, daß das politische Prinzip, dem gehorcht werden muß, selbst mit der universalen Vernunft übereinstimmt.“ (Michel Foucault: Was ist Aufklärung? In: Eva Erdmann, Rainer Forst u. Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne: Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a.M. u. New York 1990, S. 35–54, hier S. 40) – Da es sich aber letztendlich um eine völlig einseitig gewährte Gunsterweisung des Fürsten gegenüber seinen funktionierenden Bürgern handelt, die jederzeit ebenso einseitig zurückgezogen werden kann, fällt es schwer, von einem „Vertrag“ zu sprechen, wie es Foucault in seiner Interpretation macht. Das politische Prinzip, das nach der Rücknahme der gewährten Freiheit nicht mehr „mit der universalen Vernunft übereinstimmt“, verliert weitaus weniger als die nun freiheitslosen Bürger, welche wiederum keinerlei Möglichkeit haben, den Fürsten zur Einhaltung dieses Vertrages zu zwingen: Sie müssen schließlich gehorsam sein. Kant: Beantwortung der Frage (wie Anm. 6), S. 484, Hervorh. i. Orig. – Eine ähnliche Interpretation findet sich bei: Andreas Pečar u. Damien Tricoire: Falsche Freunde: War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt a.M. 2015, S. 32 f. und ebenfalls: Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015, S. 835–844. Vgl. außerdem bzgl. Kants Freiheits- und Gehorsamsverständnis: Marcus Llanque: Politische Ideengeschichte – ein Gewebe politischer Diskurse. München 2008, S. 294, 296.
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1 Zur Einführung: Aufklärung und radikale Aufklärer
ziehen, ohne „gerechten Verdacht wider sich“ zu erregen. Selbst althergebrachte Traditionen, wie die der Religion, könnten nur „unverstellte Achtung“15 erlangen, wenn sie der aufgeklärten Untersuchung standhielten. Diese Art der aufgeklärten Kritik nimmt keine Rücksicht auf von Menschen gesetzte Grenzen. Sie ist nur dann vollständig, wenn alles untersucht wurde. Aufklärung als „universale, an die Wurzeln gehende und weder auf religiöse noch weltliche Autorität Rücksicht nehmende Kritik“16 ist somit von Grund auf radikal. Kritik bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass zwangsläufig etwas zerstört werden soll oder dass das Ergebnis einer kritischen Untersuchung automatisch negativ ausfallen wird. – Beide Fälle werden jedoch gerade aufgrund der Neutralität der Kritik in Kauf genommen, sie sind aber keine Prämissen. Daher darf Kritik nicht, wie es heute manchmal der Fall ist, als pejoratives Kritisieren im Sinne von Beanstanden oder Bemängeln verstanden werden: Die kritische Prüfung und ihr Urteil sind im aufgeklärten Idealfall objektiv und neutral. Gleiches gilt für den Begriff der Radikalität, dessen Bedeutung in der heutigen Sprachverwendung in erster Linie negativ behaftet ist.17 Radikalität in Verbindung mit Kritik bedeutet damit nichts anderes, als dass eine Tradition der historisch-politischen, religiösen oder gesellschaftlichen Wirklichkeit neutral untersucht wird. Diese Untersuchung wird ohne Prämissen, die das Ergebnis der Untersuchung beeinflussen könnten, begonnen: Um das spätere Urteil nicht durch die subjektive Meinung zu verfälschen, darf man im Vorfeld nicht davon überzeugt sein, dass ein Untersuchungsgegenstand richtig noch falsch ist. Geht man jedoch schon im Vorfeld einer Untersuchung davon aus, dass die zu beurtei15 16 17
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781). In: AA Bd. IV. Berlin, S. 1–251, hier S. 9, Hervorh. i. Orig. Winfried Schröder: Radikalaufklärung in philosophiehistorischer Perspektive. In: Jonathan I. Israel u. Martin Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung. Berlin 2014, S. 187–202, hier S. 188. Neben der neutralen mathematischen Verwendung des Begriffs ist nur eine Erläuterung des Duden positiv: (1.a) „von Grund aus erfolgend, ganz und gar; vollständig, gründlich“. Die weiteren Bedeutungen sind negativ konnotiert: (1.b) „mit Rücksichtslosigkeit und Härte vorgehend, durchgeführt o. Ä.“; (2.) „eine extreme politische, ideologische, weltanschauliche Richtung vertretend [und gegen die bestehende Ordnung ankämpfend]“ (‚radikal‘ auf Duden online. URL: http://www.duden.de/node/642774/revisions/1613138/view – Abgerufen: 24.3.2017). – Vgl. außerdem: Ursula Goldenbaum: Some Doubts about Jonathan Israel’s New Compartmentalization of Enlightenment: A Plea for Hobbes, Voltaire and Mendelssohn. In: Frank Grunert (Hg.): Concepts of (Radical) Enlightenment: Jonathan Israel in Discussion. Halle a.d.S. 2014 (Kleine Schriften des IZEA 5), S. 52–80, hier S. 56; Peter Wende: Radikalismus. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 113–133. Günter Mühlpfordt stellt den Radikalen, die auch positiv bewertet werden können, die ‚Extremisten‘ gegenüber, die statt einer radikalen eine extreme Position vertreten und negativ zu bewerten sind: „[E]ntschiedene Aufklärer […] konnten nicht Radikale und Extremisten in einem sein. Mehrheitlich waren sie Radikalaufklärer und (zumindest der Zielsetzung nach) Radikalreformer, jedoch keine Extremisten.“ Günter Mühlpfordt: Außenseitertum. Typologie und Sonderfall: Karl Friedrich Bahrdt – Stimme der schweigenden Mehrheit. In: Günter Hartung (Hg.): Außenseiter der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1995 (Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte 14), S. 75– 107, hier S. 83 f.
1 Zur Einführung: Aufklärung und radikale Aufklärer
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lende Sache richtig oder falsch, wahr oder unwahr ist, ist es nicht mehr möglich, bis zu den Wurzeln einer Tradition vorzudringen, um diese neutral zu bewerten. Eine solche Untersuchung wäre weder radikal noch kritisch; ihr Ergebnis stünde von Beginn an fest. Aufgrund ihrer Allgemeinheit scheint die Definition ‚Kritik, der sich alles unterwerfen muss‘ für ein generelles Verständnis von Aufklärung hilfreich zu sein. Da dieses offene Verständnis ohne wertende Vorannahmen auskommt, besteht auch nicht die Gefahr, dass Selbstinszenierungen der damaligen Zeit kritiklos übernommen werden.18 Bei der Untersuchung historischer Texte fällt jedoch schnell auf, dass das Ideal der grenzenlosen Untersuchung dort kaum erreicht wird. Besonders im Bereich der Religion stößt man sehr schnell auf Beschränkungen: So spricht sich Moses Mendelssohn (1729–1786) zwar für eine umfassende Toleranz des Staates gegenüber allen Religionsgemeinschaften und Konfessionen aus, die sogar die natürliche Religion des Deismus umfasst. Eine vollständige Negation der Religion steht für ihn jedoch außer Frage: „Vor ‚Atheisterei‘ und ‚Fanatismus‘ müsse sich der Staat […] schützen, weil es sich dabei um Lehren handele, welche die staatliche Ordnung selbst gefährdeten.“19 Die Religion stellt nicht das einzige Thema dar, bei welchem die Zeitgenossen dachten, sie müssten es gegen radikale Kritik in Schutz nehmen. Kants Verweis, dass neben der Religion aufgrund der ihr zugeschriebenen Heiligkeit auch oft angenommen werde, die Gesetzgebung sei durch die Majestät jeglicher Kritik erhaben, nennt eines dieser außerreligiösen Themen.20 Ebenso waren Untersuchungen, denen das Potenzial innewohnte, die damalige Ständegesellschaft21 verändern zu können, eher problematisch und konnten auf Ablehnung stoßen. So war man sich beispielsweise unter den Befürwortern der sogenannten Volksaufklärung größtenteils einig, dass ‚wahre‘, das heißt vollständige und freie Aufklärung, nur für die Gelehrten sinnvoll sei. Das gemeine Volk hingegen sollte nur kontrolliert und ausgewählt Aufklärung erfahren, da es entweder zu vollkommener Aufklärung nicht fähig sei oder durch sie auf ‚aufrührerische‘ 18 19
Vgl. Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 14, S. 3), S. 29 f. Zurbuchen: Entwicklung zur Religionsfreiheit (wie Anm. 5, S. 1), S. 24 – Vgl. außerdem Dieter Hüning: Die Grenzen der Toleranz und die Rechtsstellung der Atheisten. Der Streit um die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes in der neuzeitlichen Naturrechtslehre. In: Sandra Richter, Sandra Pott u. Lutz Danneberg (Hg.): Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Berlin u. New York 2002, S. 219–273, hier bes. S. 249 sowie Schröder: Radikalaufklärung (wie Anm. 16), S. 188 f. 20 Bei der frühneuzeitlichen Verquickung von Religion und Herrschaft kann natürlich auch die ‚Heiligkeit‘ der Religion einen Schutz der Herrschaft ‚von Gottes Gnaden‘ und damit auch der vom Herrscher gegebenen Gesetze bedingen. 21 Auch wenn man nach damaligen Verständnis noch in einer Ständegesellschaft lebte, konnte das hochmittelalterliche Modell der drei Stände die vielschichtige Gesellschaftsstruktur des 18. Jahrhunderts nicht mehr befriedigend beschreiben. Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2006, S. 68–71.
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1 Zur Einführung: Aufklärung und radikale Aufklärer
Gedanken kommen könnte.22 Die Beschränkung besteht also in der kontrollierten Weitergabe des ausgesuchten aufklärerischen Wissens, um zu verhindern, dass der Bauer zum aufgeklärten Selbstdenken befähigt wird.23 Um die begrenzte Kritik von der tatsächlich schrankenlosen, bis zu den Wurzeln reichenden Aufklärung zu unterscheiden, werde ich die in der Forschung übliche Bezeichnung der ‚moderaten Aufklärung‘ verwenden. Für ihren Gegenpart übernehme ich jedoch nicht den in der Literatur häufig verwendeten Begriff der ‚Radikalaufklärung‘.24 Durch dieses Substantiv entsteht der Eindruck, es habe neben der Aufklärung noch eine gesonderte ‚Radikalaufklärung‘ gegeben, die sich so deutlich von der ‚normalen‘ Aufklärung unterscheide, dass es eine eigene Bezeichnung rechtfertige. Wird jedoch Aufklärung in Verbindung mit den Adjektiven moderat oder radikal verwendet, kann auch sprachlich deutlich gemacht werden, dass beide jeweils eine mögliche Ausprägung desselben Phänomens darstellen. Diese Sichtweise wird dadurch gestützt, dass sich in der Frühen Neuzeit wohl kein Aufklärer finden lässt, der eine ‚reine Lehre‘ der radikalen Aufklärung vertreten hat: Meist können bei verschiedenen Themen moderate und radikale Positionen bei der gleichen Person festgestellt werden.25 Es besteht kein Widerspruch darin, dass ein Aufklärer bezüglich eines Themas für eine tiefgreifende, die Gesellschaft oder Politik in ihren Grundfesten verändernde Reform plädierte und mit Blick auf eine anders gelagerte Sache eine eher konservative Meinung vertrat. Woran lässt sich aber erkennen, ob man es mit radikaler Aufklärung bzw. einem radikalen Aufklärer zu tun hat? Folgt man bei dieser Frage dem wohl bekanntesten und wirkungsmächtigsten Forscher der radikalen Aufklärung, dem Historiker Jonathan Israel, so zeichnet sich 22
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25
Vgl. Anne Conrad: Aufgeklärte Elite und aufzuklärendes Volk? Das Volk im Visier der Aufklärung. Einleitung. In: Anne Conrad, Arno Herzig u. Franklin Kopitzsch (Hg.): Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert. Hamburg 1998 (Veröffentlichungen des Hamburger Arbeitskreises für Regionalgeschichte 1), S. 1– 15, hier bes. S. 10 f. Kants Diktum von der selbstverschuldeten Unmündigkeit wirkt mit dieser Perspektive geradezu zynisch. Auf die Volksaufklärung und die Situation der Bauern werde ich näher in Kapitel 3.2.2 eingehen. Bzw. das in der englischsprachigen Forschung verwendete Pendant der ‚Radical Enlightenment‘. Geprägt wurde diese Bezeichnung vor allem durch: Margaret C. Jacob: The Radical Enlightenment: Pantheists, Freemasons, and Republicans. London u. Boston 1981 (Early Modern Europe Today 3). In ihrem Werk beschäftigt sich Jacob mit der Aufklärung nach der Englischen Revolution bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Vertreter der moderaten Aufklärung sind bei ihr Anhänger der ‚Newtonian Enlightenment‘. Wie McKenzie-McHarg hervorhebt, wurde der Begriff des ‚radikalen Aufklärers‘ schon vor Jacob verwendet. Vgl. Andrew McKenzie-McHarg: Überlegungen zur Radikalaufklärung am Beispiel von Carl Friedrich Bahrdt. In: Martin Mulsow u. a. (Hg.): Radikale Spätaufklärung in Deutschland. Hamburg 2012 (Jahrbuch der Aufklärung 24), S. 207–240, hier S. 216–218. Vgl. Martin Mulsow: Radikalaufklärung, moderate Aufklärung und die Dynamik der Moderne. Eine ideengeschichtliche Ökologie. In: Israel u. Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung (wie Anm. 16, S. 4), S. 203–233, hier S. 222.
1 Zur Einführung: Aufklärung und radikale Aufklärer
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ein radikaler Aufklärer dadurch aus, dass er einen bestimmten Katalog an Merkmalen erfüllt. Er habe beispielsweise bestimmte Prinzipien verfolgt: „democracy; racial and sexual equality; individual liberty of lifestyle; full freedom of thought, expression, and the press; eradication of religious authority from the legislative process and education; and full separation of church and state.“26 Ziel sei ein säkularer Staat gewesen, der die Minderheiten vor der Mehrheit beschützt und in dem alle Menschen gleiche Rechte und Freiheiten besitzen. Its universalism lies in its claim that all men have the same right to pursue happiness in their own way, and think and say whatever they see fit, and no one, including those who convince others they are divinely chosen to be their masters, rulers, or spiritual guides, is justified in denying or hindering others in the enjoyment of rights that pertain to all men and women equally.27
Eines der wichtigsten Merkmale ist jedoch, dass sich jeder radikale Aufklärer nach Israel in die philosophische Tradition des Niederländers Baruch de Spinoza (1632–1677) gestellt habe. Seine aufgeklärten Prinzipien hätten in erster Linie dazu beigetragen, dass die Gesellschaft weniger durch religiöse oder politische Autoritäten manipuliert werden könne und einen höheren Grad an Demokratie, Liberalität und Egalität erreicht habe. Außerdem habe Spinoza wie kein anderer zu einer strikten Trennung von Philosophie und Theologie beigetragen. All dies mache ihn zu einem der ersten Hauptvertreter der radikalen Aufklärung.28 Eine solche Sichtweise der radikalen Aufklärung verleitet zu einer Ideengeschichte, welche die Aufklärung ausschließlich aus einem teleologischen und eklektischen Blickwinkel beurteilt: Der Ursprung der Ideen, welche uns aus heutiger Sicht sinnvoll und wünschenswert erscheinen, werde in der Geschichte gesucht, die dann auf ihrem historischen Weg verfolgt und der Prozess ihrer Durchsetzung gegen andere, missgünstige Positionen beschrieben. Die Aussagen und Handlungen eines Aufklärers scheinen aus dieser Sicht nur deswegen getätigt worden zu sein, um unsere ‚Moderne‘ zu ermöglichen. Ihre Legitimität (und die ihrer Untersuchung) wird aus dem Umkehrschluss gezogen, dass sie sich schließlich durch ihre Durchsetzung als ‚richtig‘ erwiesen hätten. – Dass wir daher für die von Israel hervorgehobenen Merkmale der radikalen Aufklärung Sympathien hegen, ist also nicht verwunderlich: Sie werden von uns als selbstverständlich ‚modern‘ bzw. ‚aufgeklärt‘ wahrgenommen.29 Ein solches Vorgehen ist jedoch sehr problematisch und unhistorisch: „Statt die Autoren und ihre Äußerungen in ihrem jeweiligen Kontext zu verstehen, projizieren wir unsere Wertvorstellungen in deren Texte und machen aus ihnen 26 27 28 29
Jonathan Israel: A Revolution of the Mind: Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy. Princeton 2010, S. vii f. Ebd., S. viii. Vgl. ebd., S. 2. Vgl. Winfried Schröder: Zur Modernität der Radikalaufklärung. In: Hubertus Busche (Hg.): Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700). Hamburg 2011, S. 986–993, hier S. 988 f.; Mulsow: Radikalaufklärung (wie Anm. 25), S. 204 f. So erweckt Is-
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Gründungsväter einer Moderne, von deren Existenz sie nichts wissen konnten.“30 Der künstlich hergestellte Zusammenhang der handverlesenen ‚radikalen‘ Thesen konstruiert zudem eine ‚Radikalaufklärung‘, die es in dieser Form nie gegeben hat. „Eine so verfasste Geschichte ist keine Geschichte der Ideen, sondern einer der Abstraktionen: eine Geschichte von Gedanken, die niemals gedacht wurden, auf einer Kohärenzebene, die niemals erreicht wurde.“31 Radikalität im historischen Kontext und radikale Aufklärung können also nicht in Relation zu heutigen Wertvorstellungen bestimmt werden. Sie sind immer vom historischen Kontext abhängig, in dem sie geäußert wurden und müssen auch von diesem ausgehend interpretiert werden.32 Genauso ist es nicht möglich, dass eine historisch radikale Position aus heutiger Sicht auch automatisch als radikal angesehen werden kann:33 Wenn in der Frühen Neuzeit die Möglichkeit von Wundern aufgrund der Gleichförmigkeit der natürlichen Ordnung bestritten wurde, handelte es sich aus philosphiehistorischer Sicht um keine innovative Argumentation, da sie seit der Antike bekannt war und vorgebracht wurde.34 Dennoch enthielt sie das Potenzial, die Offenbarungsreligionen an ihren Wurzeln anzugreifen, diese in Zweifel zu ziehen und wurde daher von religionskritischen Autoren gerne aufgegriffen.35 Aus heutiger Sicht ist weder das Bezweifeln von Wundern noch das Bestehen auf der Gleichförmigkeit der Naturgesetze ein Skandal, sondern eine naturwissenschaftliche Selbstverständlichkeit. Für die moderne Welt ist sogar das Gegenteil der Fall: Würde man die Grundlage der modernen Naturwissenschaft in Frage stellen, um etwa die Existenz von Wundern zu behaupten, wäre dies heute eher als ‚radikal‘ zu bezeichnen – wenn auch nicht als aufgeklärt. Durch die strenge binäre Einteilung in ‚Radikalaufklärer‘ und moderate Aufklärer kann es vorkommen, dass die radikalen Thesen derjenigen Aufklärer aus den Augen verloren werden, die nicht in dieses enge Schema passen: So zählt Israel
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raels Darstellung auch den Eindruck, die radikalen Aufklärer hätten „die zukunftsfähigen Ideen für sich gepachtet“. Martus: Aufklärung (wie Anm. 14, S. 3), S. 403. Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 14, S. 3), S. 23. Quentin Skinner: Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte. In: Martin Mulsow u. Andreas Mahler (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Berlin 2010, S. 21– 87, hier S. 41. Vgl. Mulsow: Radikalaufklärung (wie Anm. 25, S. 6), S. 213; Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 14, S. 3), S. 34–35. Vgl. Schröder: Modernität (wie Anm. 29, S. 7), S. 991. Vgl. Ders.: Athen und Jerusalem: die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011 (Quaestiones 16), S. 182. An dieser Stelle wird auch deutlich, dass der Bezugspunkt, von welchem aus Radikalität bewertet wird, ebenso von der Fragestellung einer Arbeit bzw. der jeweiligen Fachrichtung abhängt. So ist teilweise die frühneuzeitliche Wunderkritik im Kontext einer philosophischen Fragestellung nicht radikal, da ihre Argumentation einerseits seit der Antike bekannt ist und ihr andererseits selbst eine Tendenz zum Metaphysischen innewohnen kann (Vgl. ebd.; Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus: Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Quaestiones 11), S. 392). Betrachtet man
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beispielsweise David Hume (1711–1776) nach seiner Einteilung zu den moderaten Aufklärern, da Hume kein Anhänger einer demokratischen Republik war und sich für eine Mischform aus Monarchie und Demokratie aussprach, wie es zu seinen Lebzeiten in Großbritannien der Fall war.36 Dass hingegen Humes areligiöse Philosophie mit ihrer Wunder- und Religionskritik äußerst radikal und für die spätere Kritik metaphysischer Positionen sehr wichtig war, geht durch dieses Label unter.37 Nach der offenen Definition wäre Humes Politikverständnis als moderat zu beschreiben; seine Kritik an der Religion jedoch als radikal, da er keine Rücksicht auf religiöse Vorstellungen nimmt und diese sogar ausdrücklich als schädlich für das menschliche Zusammenleben hervorhebt.38 Auch ist Spinozas Plädoyer für eine Republik aus Sicht des republikanischen Niederländers als staatstragend und in diesem Zusammenhang eher moderat, denn als radikal zu bewerten.39 Werden diese Aussagen jedoch aufgegriffen und beispielsweise von einem deutschsprachigen Aufklärer in einem nicht-republikanischen Kontext geäußert, können sie durch das veränderte Umfeld wiederum radikal sein. Ebenso kann die strenge Einteilung zu dem Eindruck führen, dass ein moderater Aufklärer weniger Interesse an der Veränderung der allgemeinen Situation hatte, als ein Aufklärer mit einer radikalen Position. „In Israel’s view it looks as if there were good radical enlighteners and, in contrast, moderate enlighteners who were anxiously keeping with the status quo or selfishly siding with the rulers.“40 Wie Goldenbaum treffend feststellt, wurden die Aufklärer durch die jeweiligen politischen Umstände geprägt: „In any case, they were enlighteners because they all worked for change in thinking as well as in society, moderate and radical enlighteners—both in contrast to anti-enlighteners and to political and church authorities.“41 Wenn ein moderater Aufklärer auf Veränderungen in moderaten Bahnen hinarbeitete, bedeutet dies nicht im Umkehrschluss, dass ein radikaler Aufklärer eine Revolution, das heißt einen unmittelbaren und schlagartigen Umsturz der vorhandenen Verhältnisse, bevorzugte. Der Radikalität entsprechend konnten seine Vorstellung von Veränderung zwar tiefgreifender und weitreichender sein. Jedoch
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nun in einer historischen Arbeit die Intention eines Autors bei seiner Kritik, kann diese im Bezug auf den zeithistorischen Kontext äußerst radikal sein. Vgl. Israel: Revolution of the Mind (wie Anm. 26, S. 7), S. 15 f., 59 f.; David Hume: Zur Frage, ob die britische Regierung mehr zu absoluter Monarchie oder zu einer Republik tendiert. In: David Hume: Politische und ökonomische Essays. Bd. 1. Hamburg 1988, S. 44–50. Vgl. Schröder: Radikalaufklärung (wie Anm. 16, S. 4), S. 199. „Bereits die stä ndige Rü cksichtnahme auf ein derart wichtiges Interesse wie das des ewigen Seelenheils ist geeignet, die wohlwollenden Gefü hlsregungen zu ersticken und einen engherzigen, beschrä nkten Egoismus zu erzeugen. Wo eine solche Einstellung gefö rdert wird, gelingt es ihr ohne Schwierigkeit, sich all den allgemeinen Geboten der Liebe und der Wohltä tigkeit zu entziehen.“ David Hume: Dialoge über natürliche Religion. Hg. u. übers. v. Norbert Hoerster. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2004, S. 134 f. Vgl. Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 14, S. 3), S. 22. Goldenbaum: Some Doubts (wie Anm. 17, S. 4), S. 55. Ebd.
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impliziert dies nicht zwingend eine Forderung nach einem schnellen Umsturz.42 – Dennoch wurde die Französische Revolution von vielen deutschen Aufklärern anfangs begrüßt.43 Wenn es sich bei der Unterteilung in radikale und moderate Aufklärung auch nicht um zeitgenössische Bezeichnungen handelt, lässt sich im 18. Jahrhundert dennoch ein ähnliches Verständnis finden: So betont beispielsweise Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792)44 mit Blick auf die Einstellung seiner Zeitgenossen gegenüber der Aufklärung, dass er hierbei drei verschiedene Gruppen ausmachen könne: Während die erste Gruppe der Aufklärung vollkommen unvoreingenommen gegenübersteht, möchte die zweite Gruppe eine gewisse Beschränkung und Kontrolle bezüglich der Verbreitung von Aufklärung bewahren. Die dritte Gruppe setzt sich wiederum aus den ausgesprochenen Gegnern der Aufklärung zusammen.45 Vor allem aber ist Bahrdts Text deswegen interessant, da sich in seinem Aufklärungsverständnis weitere Parallelen zur oben formulierten offenen Begriffsdefinition finden lassen. Nach seinem Verständnis lasse sich die Aufgeklärtheit eines Menschen nicht durch eine bestimmte Menge von Wissen quantitativ bestimmen. Einzig die Beschaffenheit der Kenntnisse könne etwas über den Grad der jeweiligen Aufklärung aussagen. Dieser Grad wiederum sei relativ, da „ein und derselbe Mensch in Absicht auf gewisse Säze aufgeklärt und in Absicht auf andere unaufgeklärt seyn kann“. Wie stark – oder: radikal – nun eine Position als ‚aufgeklärt‘ bezeichnet werden könne, hänge allein davon ab, wie sehr „jene Begriffe deutlich und jene Ueberzeugung gründlich und bewährt“ seien. Aufgrund dieser Relativität der gründlich aufgeklärten Begriffe eines Menschen könne man „das Wesen der Aufklärung“ nicht „von seiner ganzen Erkentnißmasse abstrahiren, sondern […] blos von einzelnen Kentnissen“, denn die Aufklärung eines Menschen „erstrekt sich nur auf einzelne Säze und auch auf diese nicht in gleichem Grade.“46 42
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Nicht umsonst ist die 1771 erschienene Utopie Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume LouisSébastien Merciers (1740–1814) weit mehr als ein halbes Jahrtausend in die Zukunft verlegt worden. Auch wenn dieses Werk beim heutigen Leser nicht grundlos, wie Pečar und Tricoire zurecht hervorheben, „Unbehagen und einige Zweifel an der idealen Beschaffenheit“ (Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 14, S. 3), S. 12) der dort beschriebenen Gesellschaft hervorruft, ist es dennoch ein radikal aufgeklärter Zukunftsentwurf, da die gesellschaftliche Welt im Vergleich zu der des 18. Jahrhunderts grundlegend verändert dargestellt wird. Vgl. Moshe Zuckermann: Obrigkeitsgehorsam und Revolution. Zur bürgerlichen Rezeption der Französischen Revolution in Deutschland. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 18 (1989), S. 29–62; Peter Burg: Reaktionen auf die Französische Revolution in Berlin und Königsberg. In: Dina Emundts (Hg.): Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung. Wiesbaden 2000, S. 148–163. Zusammen mit seinen Mitarbeitern August Gottlob Weber (1762–1807) und Degenhard Pott (1759–nach 1804). Vgl. [Carl Friedrich Bahrdt]: Über Aufklärung und die Beförderungsmittel derselben. Unter Mitarb. v. August Gottlieb Weber u. Degenhart Pott. Leipzig 1789, S. 4. Ähnlich beschrieben bei: McKenzie-McHarg: Überlegungen (wie Anm. 24, S. 6), S. 216 f. Bahrdt: Über Aufklärung (wie Anm. 45), S. 10 f., Hervorh. i. Orig.
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Zu ‚gründlichen Überzeugungen‘ komme man nach Bahrdt nur durch eine grenzenlose Kritik. Alleine, wenn das Ergebnis einer solchen Untersuchung nicht von Anfang an feststehe, könne ein beruhigendes, da gründliches Urteil gebildet werden. Daher müsse „[a]lles, was man mit ganzer Beruhigung glauben soll, […] anfangs – bezweifelt werden.“ So würde man von einer Aussage, die man in der Jugend als wahr beigebracht bekommen habe, „auch bei der schärfsten und fleißigsten Prüfung zuweilen getäuscht werden, weil der jugendliche Eindruk des schon längst als wahr gedachten Sazes immer verhindern wird, daß die Prüfung so streng geschahe als sie geschehen sollte.“ Nur der unvoreingenommenen Prüfung könne man beruhigt Glauben schenken: „Denn was hat man für Beruhigung bei einem Saze, wenn man ihn nie bezweifelte?“47 Eine offene Definition von (radikaler) Aufklärung als grenzenlose Kritik, angelehnt an die philosophiehistorische Sicht Winfried Schröders48 und mit Parallelen zu Carl Friedrich Bahrdts Darlegung, erscheint mir für eine historische Arbeit letztendlich sinnvoller und praktikabler zu sein, als eine streng binäre Einteilung mithilfe eines strikten Kriterienkatalogs. Indem man davon ausgeht, dass ein Aufklärer gleichzeitig radikale und weniger radikale (das heißt moderate) Ideen vertreten haben kann, verwischt zwar die Grenze zwischen beiden Ausprägungen. Dennoch gehe ich davon aus, dass dieses, auf den ersten Blick ‚inkonsequent‘ wirkende Bild, eher der Realität entspricht als die strenge Einteilung in das eine oder das andere Lager. Wenn die jeweiligen Positionen eines Aufklärers im Sinne einer modernen Ideen- und Kulturgeschichte49 in ihren sozialhistorischen Kontext eingeordnet und innerhalb dieses Kontextes interpretiert werden, werden sie nicht durch eine teleologische Herangehensweise verzerrt. Ebenfalls wird nicht unterstellt, dass ‚die Aufklärung‘ als eigenständig handelndes Subjekt ein bestimmtes Ziel verfolgt habe.50 Dass jedoch die jeweiligen Aufklärer bestimmte Ziele zu verwirklichen versuchten, steht außer Frage und muss in eine Interpretation stets einfließen. Die Bezeichnung Aufklärer ist daher auch nicht als ‚Ehrentitel‘ zu verstehen. Es handelt sich stattdessen um eine Beschreibung, die zusammen mit den Adjektiven ‚radikal‘ oder ‚mode47
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Ebd., S. 33, Hervorh. i. Orig. – Besonders hebt Bahrdt den Bereich der Religion hervor, da vor allem hier vorgegebene Wahrheiten ohne die geringste Prüfung übernommen oder eigene Irrtümer von vornherein ausgeschlossen würden: Die „Möglichkeit des Irrthums fällt wenig Menschen ein. Und es ist als wenn es eine algemeine Pest des menschlichen Geschlechts geworden wäre, daß sich ieder Mensch, besonders in seinen religiösen Begriffen und Urtheilen, für den Besizer untrüglicher Wahrheit ansieht“. Ebd., S. 53, Hervorh. i. Orig.. Vgl. Schröder: Radikalaufklärung (wie Anm. 16, S. 4), S. 187–191. Vgl. Lutz Raphael: „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“: Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogrammes. In: Lutz Raphael u. Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006 (Ordnungssysteme 20), S. 11–27. Vgl. Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 14, S. 3), S. 15–18. – „Die Tatsache, dass Ideen Akteure voraussetzen, wird häufig vernachlässigt, wenn Ideen sich verselbstständigen.“ Skinner: Bedeutung (wie Anm. 31, S. 8), S. 31.
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rat‘ verdeutlicht, an welcher Stelle sich die Argumentation eines Autors innerhalb des vielfältigen Feldes der Aufklärung historisch einordnen lässt.
1.1 Fragestellung Das übergeordnete Ziel dieser Arbeit soll sein, einen Beitrag zur Abrundung der Geschichte der Aufklärung bzw. in diesem Fall: der Aufklärung im deutschsprachigen Gebiet in ihrer radikalen Ausprägung zu leisten. Wie einleitend beschrieben wurde, ermöglicht die Zuordnung von Positionen in den Bereich einer radikalen oder moderaten Aufklärung ihre Verortung innerhalb des Feldes der Aufklärung. Da die radikalen Positionen eher den Rand dieses Feldes abstecken, werden so die Grenzen des Sagbaren ausgeleuchtet. Damit handelt es sich um einen Versuch der „Vermessung des Raumes theoretischer Optionen, die in der Epoche der Aufklärung ergriffen wurden“.51 Hierbei wäre es nicht zielführend, beliebige Äußerungen von Aufklärern bezüglich ihrer eventuellen Radikalität zu untersuchen. Das Ergebnis einer solchen Abhandlung wäre eine Sammlung radikaler Äußerungen, die außer ihrer Radikalität keinen weiteren Zusammenhang hätten. Stattdessen soll bei dieser Untersuchung akteursbezogen vorgegangen und anhand dreier Aufklärer dargestellt werden, welche radikalen oder moderaten Positionen diese im Bezug auf die verschiedenen, von ihnen behandelten Themen vertraten und durch welche historischen Bedingungen und Strukturen sie in ihrer Meinungsbildung beeinflusst wurden. Dieser primär ideengeschichtliche Ansatz wird daher durch die biographische Rekonstruktion der Lebensumstände dieser Aufklärer ergänzt. Da radikale wie moderate Positionen gleichberechtigt dargestellt und miteinander verglichen werden, wird durch dieses Vorgehen einerseits versucht die Frage zu beantworten, was als Grund für eine radikale Ausprägung der aufgeklärten Kritik zu betrachten ist. Andererseits lässt dies im Umkehrschluss auch eine Antwort auf die Frage zu, was einen Aufklärer dazu bewog, bei bestimmten Themen gerade nicht streng radikal zu argumentieren. Indem keiner der beiden Positionen ein Vorzug gegenüber der anderen gegeben wird und diese jeweils im biographischen und zeithistorischen Kontext zusammen mit einem sehr offenen Verständnis von Aufklärung interpretiert werden, wird eine eklektische und teleologische Darstellung einer idealisierten (radikalen) Aufklärung vermieden. Für die Untersuchung wurden drei unbekanntere Aufklärer ausgewählt, die von der Forschung aufgrund ihrer Aussagen auf bestimmten Gebieten als ‚radikal‘ bezeichnet werden: Andreas Riem (1749–1814), Johann Christian Schmohl (1756–1783) und Karl von Knoblauch (1756–1794). Um die Vergleichbarkeit ihrer Positionen zu gewährleisten, entstammen sie alle der Generation von Aufklärern, die um 1750 geboren wurden. Sie haben hierdurch einerseits die damals bestimmenden historischen Ereignisse (beispielsweise die amerikanische Unabhängigkeit) 51
Schröder: Modernität (wie Anm. 29, S. 7), S. 993.
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1.1 Fragestellung
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in einem ähnlichen Alter erlebt. Andererseits wurden sie durch einen sehr ähnlichen Buch- und Zeitschriftenmarkt52 und, eng damit verknüpft, durch die gleichen literarischen und sozialen Strömungen geprägt. Hierzu zählte besonders der Sturm und Drang. Die Vertreter dieser Generation wuchsen in einer Wissensumgebung auf, in der die aufklärerischen Erkenntnisse vorangegangener Generationen als geradezu selbstverständlich angenommen wurden. Gleichzeitig führten ihnen die sogenannte Gegenaufklärung bzw. ihre eigenen Probleme, die sich aus ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ergaben, vor Augen, wie fragil die nur oberflächlich an aufklärerische Ideale angepasste Ordnung sein konnte. Auch die bekannte gesellschaftliche wie politische Ordnung der damaligen Zeit wurde durch mehrere politische Ereignisse infrage gestellt, sodass in diesem Zusammenhang ebenfalls untersucht werden soll, welche Auswirkung diese Ereignisse auf das Denken der drei Aufklärer hatten. Die Auswahl der drei Aufklärer fand auch unter ergänzenden Gesichtspunkten statt: Während Karl von Knoblauch (auf Hatzbach) dem hessischen Uradel entstammte und damit einem höheren Stand entsprang, war Johann Christian Schmohl Sohn eines Kossäten53 aus Anhalt-Zerbst. Der Vater Andreas Riems wiederum war Rektor der Lateinschule in Frankenthal in der Pfalz, seine Mutter stammte aus einem reformierten Pfarrhaus. Riem gehörte somit zum sich allmählich herausbildenden Bürgertum. Während der persönliche Hintergrund der jeweiligen Personen immer in die Interpretation ihrer Schriften einbezogen werden muss, ermöglicht er auch einen Blick auf die spezifische und persönliche Meinung, die durch die Standeszugehörigkeit bedingt war: Wenn beispielsweise Schmohl, verglichen mit Riem oder Knoblauch, ein anderes Verständnis für die Bauern oder die damals populäre Volksaufklärung hatte, wird dies auf seine Herkunft und die damit verbundene unmittelbare Kenntnis des Lebens eines Bauern zurückzuführen sein. Selbst Andreas Riem, der große Sympathien für die bäuerliche Bevölkerung hegte, blieb dieses direkte Verständnis verwehrt. Aber auch thematisch ergänzen sich die drei Aufklärer: Während für Karl von Knoblauch vor allem die Religions- und Wunderkritik ein sehr wichtiges Themenfeld darstellte, thematisierte Johann Christian Schmohl die Religion weitaus vorsichtiger und betrieb keine direkte Religionskritik. Andreas Riem beschäftigte sich ebenfalls sehr ausführlich mit religiösen Themen, konzentrierte sich jedoch in der Mehrzahl seiner Schriften auf die Kritik des Christentums und der Bibel. Dennoch verfasste er zwei Werke, in denen er seine Sicht einer materialistischen Philosophie beschrieb und sich ausdrücklich gegen die herkömmlichen Religionsvorstellungen aussprach. 52 53
Da die drei Aufklärer in unterschiedlichen Ländern des Heiligen Römischen Reiches aufwuchsen bzw. lebten, unterschied sich zwar nicht der überregionale Buch- und Zeitschriftenmarkt, sofern er unbeschränkt zugänglich war, jedoch aber der lokale Markt. Als ‚Kossäten‘ (auch: Kötter, Kätner, etc.) wurden Kleinbauern bezeichnet, die in der dörflichen Hierarchie aufgrund ihres geringen Besitzes unterhalb der Vollbauern angesiedelt waren.
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1.2 Textkorpus und Vorgehen Da es bei dieser Untersuchung in erster Linie darum geht, welche Positionen Schmohl, Knoblauch und Riem bezüglich bestimmter Themen vertraten und was sie zu dieser Meinung veranlasste, besteht das Korpus dieser Arbeit aus allen schriftlichen Zeugnissen, die von diesen Aufklärern recherchiert werden konnten. Hiervon machen die veröffentlichten Monographien und Artikel den größten Anteil aus. Von Johann Christian Schmohl und Karl von Knoblauch war es zudem möglich, bisher unveröffentlichte Manuskripte ausfindig zu machen. Von allen drei Personen sind ebenfalls Briefe an verschiedene Adressaten erhalten geblieben.54 Da, wie oben beschrieben, der jeweilige historische und biographische Hintergrund der drei Akteure für die Interpretation ihrer Positionen grundlegend ist, wird im nachfolgenden zweiten Kapitel zunächst auf die Biographie eingegangen. In diese Darstellung ist auch der bisherige Forschungsstand zu den drei Aufklärern eingebunden.55 Bestandteil dieses biographischen Teils ist ebenfalls eine knappe Beschreibung des literarischen Schaffens der drei Autoren, damit ihre Schriften in der nachfolgenden Untersuchung besser in ihr Gesamtwerk eingeordnet werden können. Der biographische Teil schließt durch ein zusammenfassendes Kapitel ab, welches der Frage nachgeht, welche gemeinsamen Erfahrungen alle drei Aufklärer durch die von ihnen erlebte Repression, Vertreibung und Flucht gemacht haben. Das dritte Kapitel stellt den Hauptteil dieser Untersuchung dar. Um die Vergleichbarkeit der sehr unterschiedlichen Themen, welche die drei Autoren behandelten, zu erleichtern, ist ihre Kritik in vier Themenfelder gruppiert, die das dritte Kapitel unterteilen. Jedes dieser Felder wird durch ein Zwischenfazit abgeschlossen, um einen knappen Überblick und einen deutlicheren Vergleich der jeweiligen Aussagen zu ermöglichen. Um die Übersicht innerhalb der Kapitel zu erleichtern, sind diese durch Zwischenüberschriften gegliedert. Das erste Themenfeld umfasst die philosophischen Positionen der drei Aufklärer und die damit verbundene Religionskritik. Während im Bezug auf die Religion näher auf religiösen Aberglauben, Intoleranz, den Glauben an Wunder und die Bibel als heiliges Buch eingegangen wird, wird mit Blick auf die philosophischen Positionen die materialistisch geprägte Vorstellung der Seele, des Denkens und der Moral thematisiert. Da Johann Christian Schmohl eine spezielle, durch den Sturm und Drang geprägte Gefühlsreligion vertrat, wird diese in einem eigenständigen Kapitel beschrieben und eingeordnet. Die Kritik an den sozialen Verhältnissen der damaligen Zeit bildet den zweiten großen Themenkomplex. Hierbei thematisiert das erste Unterkapitel die Vorstellung der drei Autoren von der Entstehung der menschlichen Gesellschaft. Das 54 55
Eine Auflistung der Artikel und Werke befindet sich im Quellenverzeichnis des Anhangs. Sie werden überblicksartig zusammen mit den archivalischen Quellen in den jeweiligen Biographien des 2. Kapitels beschrieben. Zur radikalen Aufklärung bietet das einleitende Kapitel einen Überblick.
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1.2 Textkorpus und Vorgehen
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nachfolgende Unterkapitel geht auf ihre Wahrnehmung der damaligen Ständegesellschaft und dem Verhältnis der Stände untereinander sowie der Untertanen zu den Herrschenden ein. Das letzte Unterkapitel stellt die Kritik an der systematischen, von der christlichen Mehrheitsbevölkerung ausgehenden Unterdrückung der Juden dar. Das dritte Themenfeld umfasst einerseits die Kritik an den verschiedenen zeitgenössischen Wirtschafts- und Handelssystemen. Andererseits werden hier auch die Konzepte dargestellt, welche die Autoren als Alternative aufzeigten oder denen sie sich anschlossen. Der vierte und letzte Themenkomplex beschäftigt sich mit der Kritik an der damaligen politischen Ordnung. Hierbei wird zunächst dargestellt, was Knoblauch, Riem und Schmohl unter Rechten und Freiheiten verstanden und inwiefern sie eine Einschränkung derselben hinzunehmen bereit waren oder kategorisch ablehnten. Mit Blick auf die amerikanische Unabhängigkeit und die Französische Revolution wird zudem untersucht, welche Position sie zu revolutionären Umbrüchen vertraten, wann sie diese eventuell als legitim erachteten und welche Rolle hierbei das Militär darstellte. Wie aus ihrer Sicht ein ideal eingerichteter Staat gestaltet sein musste, wird im letzten Unterkapitel dieses Themenfeldes behandelt.
2 Historischer und biographischer Überblick 2.1 Johann Christian Schmohl 2.1.1 Forschungsüberblick Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts kann Johann Christian Schmohl als vergessener Autor gelten. Im 19. Jahrhundert wird er – abgesehen von Meusels Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller 1 und im Anhalt’schen Schriftsteller-Lexikon2 – lediglich am Rande von zwei Publikationen erwähnt. 1824 wird er im Anhang eines Handbuches zur Geschichte Anhalts genannt,3 wobei dem Autor Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) die Empörung über die Verfolgung seines Landsmannes Schmohl deutlich anzumerken ist. Aufgrund der langen Regierungszeit des sächsischen Fürsten und späteren Königs Friedrich August (1750–1827)4 enthielt die hierbei geäußerte Kritik auch mehr als 40 Jahre nach Schmohls Tod für Stenzels Zeitgenossen eine aktuelle Komponente. Ebenso mit Wohlwollen wird Schmohl in einer Biographie5 über Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) erwähnt, in dessen Begleitung Schmohl nach seiner Flucht aus Halle durch Deutschland reiste. Auch in einer Biographie6 über Johann Georg Hamann (1730–1788), bei welchem sich Schmohl ebenfalls aufhielt, wird ausführlich auf ihn (vor allem auf Grundlage des Briefwechsels zwischen Hamann und Reichardt) eingegangen. In Straßburg erschienen 1912 und 1913 mehrere Artikel,7 die sich ausführlich mit Schmohls anonym veröffentlichtem Bericht über seinen Aufenthalt im Elsass befas1 2 3 4 5 6 7
Johann Georg Meusel: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Bd. 12. Leipzig 1812, S. 327. Andreas Gottfried Schmidt: Anhalt’sches Schriftsteller-Lexikon, oder historisch-literarische Nachrichten über Schriftsteller, welche in Anhalt gebohren sind oder gewirkt haben. Bernburg 1830, S. 370 f. Gustav Adolf Harald Stenzel: Anhang zu G. A. H. Stenzel’s Handbuche der Anhaltischen Geschichte. Leipzig 1824, S. 93, bes. S. 96–98. Ab 1763 als Churfürst Friedrich August III. und ab 1806 bis zu seinem Tod als König Friedrich August I. von Sachsen. Hans Michel Schletterer: Joh. Friedrich Reichardt. Sein Leben und seine musikalische Thätigkeit. Augsburg 1865, S. 311–313. Carl Hermann Gildemeister: Johann Georg Hamann’s, des Magus in Norden, Leben und Schriften. Bd. 2. Gotha 1857, S. 380–384. August Hertzog: Ein deutscher Tourist im Dagsburger Lande. 1778–1779. In: Elsässische Monatsschrift für Geschichte und Volkskunde 3 (1912), S. 17–24, 94–105; Ders.: Ein Ausflug auf den Odilienberg und in das Steintal im Jahr 1779. In: Elsässische Monatsschrift für Geschichte und Volkskunde 4 (1913), S. 373–378; Ders.: Ein Besuch bei Pfeffel in Colmar, Frühjahr 1779. In: Elsässische Monatsschrift für Geschichte und Volkskunde 4 (1913), S. 379–382.
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2.1 Johann Christian Schmohl
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sen. Schmohl wird zwar nicht namentlich genannt, da es dem Autor lediglich möglich war herauszufinden, dass es sich um einen Lehrer des Dessauer Philanthropins aus Anhalt handelte.8 Dennoch wird vor allem die Genauigkeit der Beschreibung von Wirtschaft und Landwirtschaft kurz vor der Französischen Revolution hervorgehoben: „Seine Beschreibung der landwirtschaftlichen Zustände in Elsaß-Lothringen dürfte wohl nach dem Schwertz’schen Werke das Ausführlichste sein, was über diesen Gegenstand aus jener Zeit auf uns gekommen ist.“9 Insgesamt wird Schmohls Bericht vom Autor ausführlich zitiert und genauestens kommentiert. In der neueren Forschung erscheint Schmohl erstmals namentlich 1949 in einem Artikel des amerikanischen Philosophiehistorikers Philip Merlan.10 In diesem wird vor allem auf Grundlage der genannten Biographie Hamanns das Zusammentreffen mit diesem und die weitere Flucht Schmohls in die Niederlande referiert. Die ersten vier Seiten bieten zudem einen sehr groben Überblick über den Inhalt von Schmohls Schriften. Im Zusammenhang einer großen Untersuchung der physiokratischen Bewegung in Deutschland befasst sich Kurt Braunreuther11 ebenfalls mit Schmohl und dessen Aussagen zum – bzw. gegen den – Physiokratismus. Einerseits ist seiner Beschreibung an einigen Stellen deutlich anzumerken, dass er von bestimmten Vorgaben der DDR-Forschung beeinflusst wurde.12 Andererseits krankt die Darstellung auch daran, dass der Autor Schmohl vorwirft, was dieser angeblich alles nicht gewusst habe.13 Ein weiteres Manko stellt dar, dass Braunreuther nur einen Artikel Schmohls gekannt zu haben scheint. So blieb ein Großteil seiner gegen die Physiokraten gerichteten Argumentation für die Einordnung unberücksichtigt. Ganz anders hingegen fällt in den späten 1970er-Jahren Horst Dippels Urteil in seiner Studie über die Darstellung der Amerikanischen Revolution in Deutschland14 aus. Mehrfach betont er die herausragende Stellung von Schmohls Aussagen im Vergleich zu vielen anderen deutschsprachigen Autoren: Einerseits sei Schmohl ei8 9 10 11
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Vgl. Ders.: Ein deutscher Tourist (wie Anm. 7), S. 18; Ders.: Ausflug (wie Anm. 7), S. 373. Ders.: Ein deutscher Tourist (wie Anm. 7), S. 17 f. Philip Merlan: Parva Hamanniana (II) Hamann and Schmohl. In: Journal of the History of Ideas 10.4 (Okt. 1949), S. 567. url: www.jstor.org/stable/2707190 [19. 09. 2014]. Kurt Braunreuther: Über die Bedeutung der physiokratischen Bewegung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein geschichtlich-politökonomischer Beitrag zur „Sturm-und-Drang“-Zeit. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 5.1 (1955–56), S. 15–65. Braunreuther sucht an vielen Stellen seines Textes Anzeichen für einen ‚Klassenkampf‘ in den frühneuzeitlichen Thesen des Physiokratismus. „Petty wußte ein Jahrhundert früher besser, daß die Erde nur eine Bedingung des Reichtums war, und gab der Arbeit ihre theoretischen Rechte. Schmohl sah bloß richtig, daß man so, wie die Physiokraten vorgingen, nicht verfahren konnte. Er bemerkte weder, daß etwas Entscheidendes fehlte, noch was das Entscheidende war. Dafür war er allerdings weder ein Genie wie Petty, noch hatte er dessen unmittelbare gesellschaftliche Erfahrung zur Verfügung.“ Ebd., S. 57, Hervorh. i. Orig. Horst Dippel: Germany and the American Revolution. 1770–1800. A Sociohistorical Investigation of Late Eighteenth Century Political Thinking. Wiesbaden 1978.
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2 Historischer und biographischer Überblick
ne Ausnahme gewesen, was dessen Argumentationsgrundlage anbelangt. Diese sei bei allen anderen deutschsprachigen Befürwortern der amerikanischen Unabhängigkeit zu dünn gewesen. Schmohl hingegen habe, vermutet Dippel, die wichtigsten Quellen zur Unabhängigkeit genau gekannt und sich somit die Positionen der führenden amerikanischen Unabhängigkeitskämpfer am treffendsten – wenn auch nicht immer ganz akkurat – angeeignet.15 Andererseits habe er sich auch durch seine radikalere politische Position von allen anderen deutschsprachigen Befürwortern der Amerikanischen Revolution abgehoben: So sei es als Erster Schmohl gewesen, der nachdrücklich das Prinzip der Volkssouveränität in Amerika betonte.16 Ausführlich auf Dippels Studie bezieht sich Irmgard Egger in einem 2015 erschienenen Artikel.17 Ab 1994 werden die Publikationen zu Schmohl zahlreicher. So erschien in diesem Jahr in den Wieland-Studien ein von Waltraud Hagen eingeleiteter Brief Christoph Martin Wielands (1733–1813) an Schmohl vom 18. November 1780.18 Um diesen einordnen zu können, befasste sie sich erstmals – wenn auch sehr knapp – auf Grundlage der unter anderem bei Meusel angegebenen Schriften Schmohls mit dessen Zeit am Dessauer Philanthropin. Im darauffolgenden Jahr legte Michael Niedermeier eine umfassende Studie zum Philanthropin in Dessau vor, in welcher sich der Autor ausführlich mit Johann Bernhard Basedows (1724–1790) Schule befasst.19 Ein besonderer Fokus liegt hierbei vor allem – genau wie in einem im gleichen Jahr erschienenen Artikel Niedermeiers20 – auf den Spannungen, die sich in den späten 1770er-Jahren zwischen den aus dem Elsass stammenden und durch den Sturm und Drang beeinflussten Lehrern, zu deren Fraktion auch Schmohl zu zählen ist, und den, durch die rationalistische Berliner Aufklärung geprägten Lehrern um Joachim Heinrich Campe (1746–1818), entwickelten. Diese Auseinandersetzung gehörte, so Niedermeier, zu den am schärfsten geführten dieser Zeit: „Das ist auch nicht verwunderlich, ging es doch bei dem ersten Philanthropin für die deutsche und europäische Aufklärung darum, in einem ihrer wichtigsten Wirkungsfelder, der Pädagogik, Maßstäbe für eine grundlegende Reform zu schaffen.“21 15 16 17
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Vgl. Dippel: Germany (wie Anm. 14, S. 17), S. 90 f. Vgl. ebd., S. 172 f. Vgl. Irmgard Egger: „Siebentausend Landskinder nach Amerika.“ Militärwesen versus Menschenrecht: Schiller, Schubart, Seume, Schmohl. In: Stefanie Stockhorst (Hg.): Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien. Hannover 2015 (Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (DGEJ), die am 13. bis 16. September 2012 an der Universität Potsdam stattfand), S. 219–229, hier S. 228 f. Waltraud Hagen: Ein unbekannter Brief Wielands an Johann Christian Schmohl vom 18. November 1780. In: Wieland-Studien. Aufsätze, Texte und Dokumente 2 (1994), S. 249–253. Michael Niedermeier: Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. Hg. v. Erhard Hirsch. Dessau 1995 (Dessau-Wörlitz-Beiträge 6). Ders.: Mitteldeutsche Aufklärer und elsässische ,Genies‘ im Kampf um das pädagogische Musterinstitut des Philanthropismus in Dessau. In: Lenz-Jahrbuch 5 (1995), S. 92–117. Ebd., S. 92.
2.1 Johann Christian Schmohl
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Ebenfalls von Michael Niedermeier erscheint 1997 ein umfassender und biographischer Artikel zu Johann Christian Schmohl.22 In diesem äußerst quellenorientierten Text beleuchtet der Autor erstmals neben Schmohls Zeit am Dessauer Philanthropin sein Leben nach dem Zerwürfnis mit seinen elsässischen Freunden. Mit einer ebenfalls sehr quellennahen Darstellung wurde die biographische Darstellung von Schmohls Leben 2014 erneut aufgegriffen und wesentlich erweitert.23 Beide Artikel behandeln neben Schmohls Biographie auch sein literarisches Werk und fassen einige seiner Standpunkte mit Rückgriff auf die jeweiligen Texte zusammen. Zwei weitere Artikel Niedermeiers zu Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) und Franz Heinrich Ziegenhagen (1753–1806) befassen sich nachgeordnet mit Schmohl und seinen Schriften.24 Auf Michael Niedermeier verweist außerdem Andrew McKenzie-McHarg. Bei ihm wird Schmohls Flucht als Beispiel zur Beschreibung eines solidarischen Netzwerkes hervorgehoben, „in dessen Zentrum Bahrdt stand und dessen Zusammenhalt gewiß vom Bewußtsein einer gemeinsamen aufklärerischen Gesinnung getragen wurde.“25 Knappe Erwähnung findet Schmohls Kritik an der auf die Jagd ausgelegten Forstwirtschaft in Erhard Hirschs Untersuchung zur aufgeklärten Reformbewegung in Dessau-Wörlitz.26 Schmohls Polemik gegen die Jagd sei zu verstehen „als ein aufklärerischer Anruf des jungen Ökonomiestudenten an den Fürsten [Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740–1817), Anm. M. L.], dieses nicht mit moderner landwirtschaftlicher Ökonomie zu vereinbarende feudale Vergnügen endlich abzuschaffen oder wenigstens einzuschränken.“27 Im 2007 erschienenen Sammelband 700 Jahre Zerbst in Anhalt findet sich ebenfalls ein Artikel28 zu Schmohl. Der Autor zitiert zwar ausführlich aus archivalischen 22 23
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Michael Niedermeier: Der anhaltische Philanthrop, Schriftsteller und Aufrührer Johann Christian Schmohl und seine spektakuläre Flucht aus Halle im Jahre 1781. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Weimar u.a. 1997, S. 229–247. Ders.: „Thu Recht und scheue Niemand“. Johann Christian Schmohl: sorbisch-patriotischer Bauernsohn, philanthropischer Radikalaufklärer, „Hochverräter“. Erneute Spurensuche. In: Hanno Schmitt (Hg.): Dessau-Wörlitz und Reckahn. Bd. 9. Bremen 2014 (Philanthropismus und populäre Aufklärung), S. 123–142. Ders.: Sexualität und Freimaurergeheimnis. Ein neu aufgetauchter Brief von J. M. R. Lenz und sein Kontext. In: Manfred Beetz, Jörn Garber u. Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm: neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007 (Das achtzehnte Jahrhundert Supplementa 14), S. 225–235; Ders.: Franz Heinrich Ziegenhagens konfliktreiches Intermezzo am Dessauer Philanthropin und seine Erziehungsutopie. In: Jörn Garber (Hg.): „Die Stammutter aller guten Schulen“. Das Dessauer Philanthropinum und der deutsche Philanthropismus 1774–1793. Tübingen 2008 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 35), S. 229–247. McKenzie-McHarg: Überlegungen (wie Anm. 24, S. 6), S. 213. Vgl. Erhard Hirsch: Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung: Personen, Strukturen, Wirkungen. Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 18), S. 195, 217, 223. Ebd., S. 195. Gorgas: Die Verbrennung einer „Schmähschrift“ vor dem Roland zu Zerbst im Jahre 1781 und der Lebensweg ihres Verfassers. In: Agnes-Almuth Griesbach (Hg.): 700 Jahre Zerbst in Anhalt.
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2 Historischer und biographischer Überblick
Quellen, gibt jedoch leider nicht genau an, um welche Quellen es sich handelt. Ebenfalls hätten sehr viele biographische Ungenauigkeiten unter Rückgriff auf die bereits vorhandene Literatur vermieden werden können. Mit Schmohls sprachwissenschaftlichen Überlegungen beschäftigt sich in Konzepte des Hochdeutschen29 Katja Faulstich-Christ. Die in der Frühen Neuzeit aufkeimende Debatte befasste sich unter anderem mit der Frage, was ‚richiges‘ bzw. ‚gutes‘ Deutsch sei und ob es überhaupt eine einheitliche Nationalsprache geben könne. Nach Faulstich-Christ sei Schmohl zusammen mit dem Hallenser Sprachforscher Johann Christian Christoph Rüdiger (1751–1822) aufseiten derjenigen Autoren einzuordnen, die das Obersächsische als Sprachvorbild für eine deutsche Hochsprache ablehnten. Für Schmohl seien alle regionalen Sprachen Vorbilder für eine zu bildende Nationalsprache gewesen.30 Ausführlich mit Schmohls Darstellung verschiedener Prozesse seines Vaters in Anhalt-Zerbst um einigen Grundbesitz31 beschäftigt sich Paul Beckus in seiner 2018 erschienenen Dissertation Land ohne Herr – Fürst ohne Hof? Friedrich August von Anhalt-Zerbst und sein Fürstentum. Nach Beckus waren Schmohls „vernichtende Kritik“ und sein „desaströses Urteil“32 über den sich im Ausland aufhaltenden Fürsten Friedrich August (1734–1793) ausschlaggebend für das negative Bild, das vor allem Aufklärer in ihren Schriften von diesem Landesherren und seiner Regierung zeichneten. Schmohls Urteil wirkte sich damit ebenfalls maßgebend auf die Darstellung Friedrich Augusts in der späteren Forschung aus.33 2.1.2 Biographie Johann Christian Schmohl wurde am 12. August 1756 in dem zu Anhalt-Zerbst gehörenden Dorf Pülzig als Sohn des sorbischen Bauern Johann Andreas Schmohl geboren. Nach Schmohls Angaben war sein Vater ein sogenannter Kossäte,34 da er weniger Land und kein Gespann wie ein entsprechend bezeichneter Vollspänner besaß:
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Zerbst 2007 (Zerbster Heimatkalender Jg. 48), S. 229–239. Mit einem kurzen einleitendem Text: Dieter Friedrich: Die Sache mit Schmohl. In: Agnes-Almuth Griesbach (Hg.): 700 Jahre Zerbst in Anhalt. Zerbst 2007 (Zerbster Heimatkalender Jg. 48), S. 228–228. Katja Faulstich-Christ: Konzepte des Hochdeutschen. Der Sprachnormierungsdiskurs im 18. Jahrhundert. Berlin u. New York 2008 (Studia linguistica Germanica 91). Vgl. ebd., S. 260. Vgl. Paul Beckus: Land ohne Herr – Fürst ohne Hof? Friedrich August von Anhalt-Zerbst und sein Fürstentum. Halle a.d.S. 2018 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 15), S. 34–47. Ebd., S. 289. Vgl. ebd., S. 289, 361. Wie Michael Niedermeier hervorhebt, wird sein Vater in einem Verhörprotokoll jedoch nach der Flucht seines Sohnes als ‚Vollspänner‘ bzw. ‚Hüfner‘ bezeichnet. Vgl. Niedermeier: Thu Recht (wie Anm. 23, S. 19), S. 126.
2.1 Johann Christian Schmohl
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Ein Bauernhof hält 5–7 Hufen Land, man nennt den Bauer im Kanzleystil Vollspänner, weil er die Frohn mit Gespann verrichtet. Ein Koßätenhof hält mehr als zwey Drittel weniger Land, so viel weniger Vieh, und giebt so viel weniger ab, und die Frohndienste der Koßäten werden nur mit der Hacke, Axt, Spaden, oder mit der Hand gethan – Bauer wie Koßät haben die Woche zwey Frohntage. Mehrentheils haben die Koßäten in den eigentlichen drey Feldern und der ganzen Mark kein Land; sondern allenfalls ein eignes Koßätenfeld apart liegen. Viele haben auch gar nichts als einen Garten und das Recht Vieh zu halten.35
Sowohl auf seine Herkunft aus einem Bauernhaus als auch auf seine Zugehörigkeit zu den Sorben war Schmohl sehr stolz, wie aus zahlreichen Passagen seiner Schriften hervorgeht. Bauern besäßen im Vergleich mit „den sogenannten gesitteten Ständen“ durch ihre natürliche Erziehung zahlreiche körperliche Vorteile und lebten insgesamt gesünder und länger. Sie seien „von gesunden edlen Säften zusammen gesetzt mit gesunder kräftiger Muttermilch als Kinder, und einfacher Nahrung immerdar gespeist und getränkt, unter freiem Himmel in reiner Luft, frühzeitig in allen Gliedern und Sinnen geübt, leicht, treffend und stark gemacht“. Selbst wenn Kinder durch die naturüberlassene Erziehung nachlässiger behandelt würden, wäre dies immer noch besser „als von der Kunst übel gebildet“ und dadurch „verdorben [zu] werden.“36 Die Sorben wiederum seien ein altes und ebenfalls sehr starkes Volk, das sich lange erfolgreich den Christen widersetzt habe. Schmohls Großväter – väterlicher- wie mütterlicherseits – hätten beide noch Wendisch gesprochen, sodass er selbst „noch Sorbenblut in [sich] habe! – Lächerlich mag das immer dem Deutschen klingen, in dessen Augen die Slaven ein träges unwissendes großer Handlungen wenig fähiges Volk sind.“37 Die sorbischen Bauern seien nicht nur zäher und stärker als die deutschen, sondern hätten, so Schmohl, auch große Geisteskräfte, da sie in ihrer Landwirtschaft eine größere Ordnung als ihre Nachbarn hielten, ihre Kinder besser erzogen und insgesamt mehr Land erworben hätten. „Und dies darf ich nicht nur von einer Familie rühmen; so viel ich bisher kennen gelernt habe, waren der Art.“38 Schmohl gibt an, seit seinem „achten Jahr außer Landes gewesen“ zu sein und sich danach „nur dann und wann während Monath – Wochen – oder gar nur Tage – langen Besuchen darinn aufgehalten [zu] habe[n].“39 Er scheint zuerst im zu Kursachsen40 gehörenden Nachbardorf Straach bei einem „Pastor J.“ unterrichtet 35
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Johann Christian Schmohl: Briefe an Herrn Pstlzz. zu Neuhof bey Brugg im Bernergebiet. Über den Zustand der Landwirthschaft und des Bauernstandes im Fürstenthum Az. Ein Roman für Landesregierungen Consisorien und Rentkammern. In: Ders. (Hg.): Sammlung von Aufsätzen verschiedener Verfasser, besonders für Freunde der Cameralwissenschaften und der Staatswirthschaft. Leipzig 1781, S. 199–340, hier S. 214, Hervorh. i. Orig. Ders.: Urne Johann Jacob Mochels, ehemaligen Lehrers am Philanthropin zu Dessau. Leipzig 1780, S. 33 f. Ders.: Briefe (wie Anm. 35), S. 225. Ebd., S. 227. Ebd., S. 206. Straach gehörte in Schmohls Jugend nicht zu Preußen, wie es Gorgas schreibt. Vgl. Gorgas: Verbrennung (wie Anm. 28, S. 19), S. 231. Vgl. außerdem: Johann Christian Schmohl: Kameralisti-
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worden zu sein, den er später noch als „meine[n] alten Gönner und Nachbar[n]“ bezeichnete. Er sei ein Geistlicher gewesen, „der bey aller Festigkeit im Glauben doch den Freygeist dulden, und wenn er ein braver Mensch ist, von Herzen lieben kann – kein kleines Lob!“41 Mit seinem älteren Bruder wurde Schmohl 1767 in das nahe gelegene Wittenberg auf die Schule geschickt und erhielt wohl nach drei Jahren eine Freistelle an der Fürstenschule St. Afra in Meißen.42 Über diese wird er im November 1775, vermutlich an Christian Heinrich Wolke (1741–1825), der neben Basedow das Philanthropin in Dessau leitete, schreiben, dass dort, „wie Ihnen vielleicht bekannt ist, der Lehrling in klostermäßiger Einschränkung fast von aller Welt abgesondert bleibt“.43 Ab dem 9. September 1775 studiert er in Wittenberg Theologie.44 Dass er hier zum Magister promoviert wurde – eine Information, die auf eine vage Vermutung Hamanns in einem Brief an Johann Gottfried Herder (1744–1803) zurückgeführt wird –, scheint nicht korrekt zu sein.45 Die Zeit hierzu war zudem äußerst knapp, da Schmohl schon vor dem 10. November 1775 mit dem Philanthropin Kontakt aufgenommen hatte46 und im Jahr darauf – vor dem 6. November 177647 – von Wittenberg nach Dessau gezogen ist. Es scheint wahrscheinlicher zu sein, dass Schmohl sein Studium abbrach, um stattdessen in Dessau Lehrer zu werden. Einerseits hatte er sein Theologiestudium wohl nur auf Wunsch seiner
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sche Reise durch das Fürstenthum Anhalt oder auch Ritt von H. nach P. und von P. nach H. S. In: Ders. (Hg.): Sammlung (wie Anm. 35, S. 21), S. 355–418, hier S. 401. Ebd., S. 388 – Nach Niedermeier handelte es sich bei der besagten Person wohl um Johann Andreas Jäger, Pastor in Straach und Beckau. Vgl. Niedermeier: Thu Recht (wie Anm. 23, S. 19), S. 126; Ordination und Confirmation von Geistlichen und Schulleuten. In: Wittenbergsches Wochenblatt zum Aufnehmen der Naturkunde und des ökonomischen Gewerbes 6 (1773), S. 6–7, hier S. 7. „An dieser bedeutenden sächsischen Schulanstalt hatten bekanntermaßen auch so prominente Aufklärer wie Chr. F. Gellert, G. W. Rabener und G. E. Lessing ihre Schulbildung erhalten.“ Niedermeier: Thu Recht (wie Anm. 23, S. 19), S. 126. Johann Christian Schmohl an N. N. [vermutl. Christian Heinrich Wolke, M. L.], 10. November 1775, Nachlass Philanthropin Dessau, III. 4, p. 16r. Er wurde ‚semigratis‘ aufgenommen, was bedeutet, dass ihm die Gebühren zur Immatrikulation zum Teil erlassen wurden. Vgl. Karl Eduard Förstemann (Hg.): Album Academiae Vitebergensis. Bd. 3 (Jüngere Reihe) (1710–1812). Unter Mitarb. v. Bernhard Weissenborn u. Fritz Juntke. Halle a.d.S. 1966, S. 414. Aus diesem Brief geht jedoch hervor, dass Schmohl möglicherweise Herder besucht haben könnte: „Hab ich Ihnen nicht von diesem Candidaten der amerikanischen Colonien geschrieben, u können Sie sich nicht auf den Besuch deßelben besinnen u das Geheimnis seines Namens u Schicksals aufklären? Er hat in Wittenberg studiert, und wenn er Magister gewesen, so muß er es da geworden seyn.“ Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bd. 4. 1778–1782. Hg. v. Walther Ziesemer. Wiesbaden 1959, S. 385, Hervorh. i. Orig. Vgl. außerdem: Niedermeier: Thu Recht (wie Anm. 23, S. 19), S. 126 f. Wie aus dem ersten erhaltenen Brief an das Philanthropin vom 10. November 1775 hervorgeht, hat Schmohl schon zuvor einen Brief an Basedow geschickt: „Wie sehr mich die Beantwortung meines neulich an den H. Prof Basedow geschriebenen Briefs erfreut hate, kann ich Ihnen weder schriftlich noch mündlich beschreiben[.]“ Johann Christian Schmohl an N. N. [vermutl. Christian Heinrich Wolke, M. L.], 10. November 1775, Nachlass Philanthropin Dessau, III. 4, p. 15r, Hervorh. i. Orig. Vgl. Niedermeier: Gartenreich (wie Anm. 19, S. 18), S. 99.
2.1 Johann Christian Schmohl
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Eltern begonnen. Ihnen „zu lieb“ hätte er sogar „ohne allen weitern innern Beruf die Kanzel bestiegen und hellauf gepredigt“,48 obwohl er „keinen schwarzen Rock an“49 sich leiden könne. Andererseits legt er in einem Brief an Wolke vom 3. Mai 1776 „einem Diaconus hiesiger Stadtkirche“, zu dem sein Vater angeblich gegangen war, „um sich bey diesem Orakel wegen des so verschrienen Phil. Raths zu erholen“, in den Mund, dass er wohl nicht lange genug studiert hätte, um einen Abschluss zu erhalten. Schmohl lässt den Geistlichen über das Philanthropin schimpfen, es sei eine unchristliche Irrlehre, was selbst der Fürst von Dessau noch einsehen werde. „Und dann wohin mit dem Hr. Sohn? In Sachsen, in Anhalt kann er nicht versorgt werden, denn er ist nicht die gesezte Zeit auf der Universität gewesen, u. dazu wird man dann auch seinen Glauben in Verdacht ziehen. Schulmeister könnt er werden, weiter nichts.“50 Schmohls Faszination für die neuartige Schulart des Philanthropins war nach eigenen Angaben schon während seiner Schulzeit erweckt worden: Nachdem er gehört habe, „daß sich H. Basedow nun mehr in Deßau aufhielte, faßte ich den Entschluß, sobald ich mich wieder in meiner Heymath befände, einmal hinüberzureisen, um ihn wenigstens doch zu sehen“.51 Zwischen November 1775 und März 1776 scheint die Entscheidung gefallen zu sein, dass er nicht nur als Besucher, sondern sogar als Lehrer nach Dessau kommen dürfe. Schmohl musste nun bei seinen Eltern Überzeugungsarbeit leisten, die, so klagt Schmohl am 9. März 1776, „den meisten Glauben zu dem Gott auf der Kanzel haben!“ So hätte er sich zwar bemüht, ihnen sowohl in „Religionssachen als auch von wahren Wesen des Philanthropins [etwas richtiger] denken zu lehren; sie geben mir auch oft Beyfall, billigen meinen Entschluß, wiewohl mit dem Anhang, sie sähns lieber, wenn ich in Wittenberg bliebe“.52 Während seiner Zeit in Wittenberg widmete sich Schmohl intensiv dem Schreiben von Gedichten. 1775 erschien im Teutschen Merkur ein Gedicht An Bodmer.53 Dieses jedoch, wie aus einem Brief Wielands an Johann Caspar Lavater (1741–1801) von 1775 hervorgeht, „mißfällt aller Welt“ und wurde – abgesehen von weiteren mitgeschickten Gedichten – nur veröffentlicht, weil es an Bodmer gerichtet war. Wielands deutliches Urteil – „in der That ein Mensch sollte keine Verse machen, der keine gute machen kan“54 – scheint Schmohl ebenfalls in abgeschwächter Form von Wolke erhalten zu haben. In seinem Brief vom 9. März 1776 bedankt er sich 48 49 50 51 52 53 54
Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 289. Ebd., S. 288. Johann Christian Schmohl an Christian Heinrich Wolke, 3. Mai 1776, Nachlass Philanthropin Dessau, III. 7, 27, p. 3r. Johann Christian Schmohl an N. N. [vermutl. Christian Heinrich Wolke, M. L.], 10. November 1775, Nachlass Philanthropin Dessau, III. 4, p. 15v. Johann Christian Schmohl an Christian Heinrich Wolke, 9. März 1776, Nachlass Philanthropin Dessau, III. 7, 27, p. 1r, Hervorh. i. Orig. Johann Christian Schmohl: An Bodmer. In: Der Teutsche Merkur 3 (1775), S. 14–15. Christoph Martin Wieland: Wielands Briefwechsel. Bd. 5. Berlin 1983, S. 414.
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bei Wolke, „daß Sie mit meinen Oden nicht zur Druckerey geeilt sind. Alles, was Sie mir davon anmerken, hatt ich mir schon wenig Tage nachher, als ich sie Ihnen zugeschickt hatte, selbst gesagt.“ Er habe die Gedichte nicht lange genug ruhen lassen, um sie erneut zu lesen und zu verbessern. Außerdem habe er, „um den Leser selbst denken zu laßen, oft zu wenig Worte gegeben, sehr oft zwischen zweyen Gedanken, den dritten, der sie verband in der Kette der Ideen Glieder aus gelaßen und dadurch für Viele dunkel geworden“. Im März 1776 war sich Schmohl noch nicht sicher, „ob ich mehr Poesie oder Philosophie schreiben soll“55 und veröffentlichte im Leipziger Musenalmanach 1777 vier56 und im darauffolgenden Jahr sechs57 weitere Gedichte, welche insgesamt sehr stark durch den Sturm und Drang geprägt sind.58 Schmohl unterrichtete ab dem 11. November 1776 offiziell am Dessauer Philanthropin Griechisch.59 Seine Tätigkeit als Lehrer dauerte knapp ein Jahr: Nach seiner Ankunft in Dessau freundete sich Schmohl mit Johann Friedrich Simon (1747–1829), Johann(es) Schweighäuser (1742–1830), Johann Christian Ehrmann (1749–1827) und Johann Jakob Mochel (1748–1778) an, einigen aus dem Elsass stammenden Lehrern. „Diese Junglehrer hatten sich schon am Philanthropin zu einem Bruderbund zusammengeschlossen und waren mit ihren Überzeugungen und ihrer Lebensart sofort mit Joachim Heinrich Campe, dem neuen Direktor des Philanthropins in Dessau, heftig aneinandergeraten.“60 Campe versuchte eine strenge Hierarchie in der Schule durchzusetzen, was den demokratischen Vorstellungen des Bruderbundes widersprach. Ebenfalls waren sich die Elsässer und der durch die Berliner Aufklärung geprägte Campe auf philosophischer Ebene uneins: Während erstere Normen ablehnten und vor allem versuchten, in der Erziehung der Kinder das Gefühl anzusprechen, hob letzterer die Vernunft hervor und versuchte die Gefühle zu kontrollieren und zu dämpfen. Nachdem sich Campe nicht gegen 55 56
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Johann Christian Schmohl an Christian Heinrich Wolke, 9. März 1776, Nachlass Philanthropin Dessau, III. 7, 27, p. 2v, Hervorh. i. Orig. Johann Christian Schmohl: Der Liederwürdige. In: Leipziger Musenalmanach 1776, S. 84–87; Ders.: Der Menschenfreund. In: Leipziger Musenalmanach 1776, S. 32–34; Ders.: Die Grazien. In: Leipziger Musenalmanach 1776, S. 196–198; Ders.: Himmelflug. In: Leipziger Musenalmanach 1776, S. 247–249. Ders.: Lebensregel. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 116; Ders.: Alt Deutsche Fabel. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 15; Ders.: An Str––b–. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 17–20; Ders.: Dichterlob. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 69–71; Ders.: An Basedow. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 131–133; Ders.: Selbstgefühl. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 184–186. „Lebensregel. // Sieh! dort wehet vom Ziel unsrer Glückseligkeit / Kranz, dort hinter dem Sand, der dir ins Auge stäubt / Wo süßduftige Goldfrucht / Einen hesperischen Garten durchglänzt. // Geh, kein Rohr des Systems, keines Sophisten Stab / sey dein Führer! Umsonst wohnt nicht im Herzen ein / Unbestechlicher Richter. / Wo dich des Selbstgefühls Kette hinreißt. // Folg’! und sichrer und eh’ kommst du zur Wonne der / Paradisischen Flur, als die Moral sie wies. / Wenn dann jene des Schulzwangs / Ruthen – ach irrten ihr kindliches Herz. // J. C. Schmohl.“ Ders.: Lebensregel (wie Anm. 57). Vgl. Niedermeier: Philanthrop (wie Anm. 22, S. 19), S. 231. Ders.: Thu Recht (wie Anm. 23, S. 19), S. 128.
2.1 Johann Christian Schmohl
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den Bruderbund durchsetzen konnte, floh er nach eigener Darstellung regelrecht aus Dessau. Einen Monat später, im Oktober 1777, verließen auch die Elsässer zusammen mit Schmohl das Philanthropin.61 Simon, Schweighäuser, Mochel und Schmohl planten nun eine eigene Schulanstalt nach ihren Prinzipien zu eröffnen, was sie in einer gemeinsamen Publikation62 detailliert beschrieben. Dieses Institut sollte die philanthropische Erziehung mit dem natürlichen Leben auf dem Land verknüpfen: Dass in Dessau die Landarbeit zu kurz gekommen sei, kritisierte vor allem Mochel, der wie Schmohl aus einem Bauern- bzw. Winzerhaushalt stammte. Zwischen ihnen entwickelte sich – hierdurch sicherlich begünstigt – eine enge Freundschaft.63 Beinahe neun Monate nachdem die Freunde aus Dessau abgereist waren, starb Mochel am 29. Juni 1778 in Straßburg. Dies veranlasste Schmohl, eine Biographie seines Freundes zu verfassen. In der 1780 erschienenen Urne Mochels beschreibt Schmohl ihn – ganz im Stil des Sturm und Drang – emotionsbetont als geborenes Genie, das schon in seinem zweiten Lebensjahr laufen und sprechen gelernt und mit vier Jahren Buchstaben nachgemalt haben soll.64 Schmohl vermischt außerdem Mochels Lebensbeschreibung mit dessen und seinen eigenen philosophischen Überlegungen und Erfahrungen, sodass das Werk nicht nur Schlüsse über Mochel, sondern auch über den Autor selbst zulässt. Ebenfalls 1780 gab Schmohl eine Sammlung hinterlassener Erzählungen, philosophischer Texte und Mochels Briefwechsel mit Christoph Kaufmann (1753–1795) unter dem Titel Mochels Reliquien65 heraus. Nach Mochels Tod blieb Schmohl noch einige Zeit im Elsass, um dieses sowie Lothringen, die Pfalz, Baden und die Schweiz zu bereisen. Ein Bericht hierüber erschien posthum.66 Als ökonomisch interessierter Reisender befasste sich Schmohl besonders intensiv mit der Landwirtschaft der bereisten Länder. Seine Herkunft ermöglichte es ihm, die Situation der Bauern nicht nur oberflächlich zu beschreiben, sondern auch einen tieferen Einblick in ihr Leben zu erhalten, da er ihnen auf Augenhöhe begegnen konnte und nicht als Gelehrter gegenübertrat.67 Hierdurch ist dieser Reisebericht nicht nur eine interessante Beschreibung des Elsass in den späten 1770er-Jahren, 61 62 63 64 65 66 67
Vgl. zu den Konflikten und Debatten am Philanthropin: Ders.: Gartenreich (wie Anm. 19, S. 18), zum Bruch mit dem Philanthropin bes. S. 59–66. Johann Christian Schmohl u. a.: Einiger vom Dessauischen Philanthropin abgegangenen Lehrer Gedanken über die wichtigsten Grundsätze der Erziehung und die darauf gegründete Einrichtung einer Erziehungsanstalt. Leipzig 1779. Vgl. Niedermeier: Gartenreich (wie Anm. 19, S. 18), S. 67. Vgl. Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 37, 43. Ders. (Hg.): Johann Jakob Mochels Reliquien verschiedener philosophischen, pädagogischen, poetischen und anderer Aufsätze. Halle 1780. Ders.: Bemerkungen auf verschiedenen Reisen durch Elsaß, Wasgau, nach Lothringen und den obern Rhein entlang. In: Journal von und für Deutschland 10 (1784), S. 237–242, 11 (1784), S. 331– 337, 12 (1784), S. 365–372, 2 (1785), S. 137–147, 3 (1785), S. 223–232. Wie das Beispiel zweier Straßburger Landwirte zeigt, mit denen Schmohl ausführlich über deren Höfe und Anbaustrategien fachsimpelte. (Vgl. ebd., S. 239 f.) Ebenso ein weiterer Bauer in
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wie Hertzog schon 1912 hervorhob.68 Der Text erhält vielmehr durch die besondere Perspektive des Autors seinen außergewöhnlichen Stellenwert. So konnte Schmohl in einem elsässischen Wirtshaus beobachten, wie sich die örtlichen Hanfbauern69 zusammenfanden, um gemeinsam einen festen Verkaufspreis für ihre Erträge zu verhandeln. Auf diese Art versuchten sie, der Konkurrenz zu begegnen, die ansonsten unter den Bauern aufgrund ihrer großen Anzahl geherrscht hätte. Die Käufer des Hanfs, welche – so Schmohl – durch ihre geringere Zahl auch weniger Konkurrenz und daher beinahe eine Art Monopol besaßen, hätten ansonsten ihre Stellung ausgenutzt, um den Preis des Hanfs aus Gewinnsucht zu drücken. Dies sei jedoch nicht möglich, wenn die Bauern als eine Person auftreten würden oder sich sogar mehrere Gemeinden zusammenschlössen.70 Auf seiner Reise besuchte Schmohl auch das Steintal und dort den Pädagogen und Volksaufklärer Johann Friedrich Oberlin (1740–1826), den er bereits in Straßburg kennen gelernt hatte.71 In Colmar traf er den Pädagogen Gottlieb Konrad Pfeffel (1736–1809), den Leiter der von ihm gegründeten École militaire. Diese Schule wurde 1773, ein Jahr vor dem Philanthropin in Dessau, gegründet und nach Basedows philanthropischen Prinzipien geführt.72 Schmohls Reise in die Pfalz – bei der er auch Carl Friedrich Bahrdts, von 1777–1779 bestehendes Philanthropin in Hei-
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den Vogesen, der als Wiedertäufer zuerst befürchtete, Schmohl suche, als er sich dessen kleine Bibliothek betrachtete, „nach ketzerischen, die Ehre der heiligen Jungfrau Maria beleidigenden Schriften, und sey einer aus der intoleranten Pfaffenzunft. Doch benahm ihm die Sprache, die ich führte, bald alle Furcht; er ward sehr offen über seine Wirthschaft.“ Schmohl: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 369. Vgl. Hertzog: Ein deutscher Tourist (wie Anm. 7, S. 16), S. 17 f. Hanf hat nach Schmohls Beobachtung als Rohstoff für die Bekleidung der elsässischen Bevölkerung einen höheren Stellenwert besessen als Leinen. So seien im Sommer nicht nur die Hemden der Bauern, sondern die gesamte Kleidung aus diesem Fabrikat gewesen. Da sich der Boden im Elsass nach Angaben der Einheimischen einerseits nicht sehr für Leinen geeignet habe und dieses andererseits „nicht so viel […] Gewicht“ erbracht habe „als der Hanf “ (Schmohl: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 365, Hervorh. i. Orig.), wurde letzterer bevorzugt. Dieser sei jedoch sogar zu gut gewachsen, sodass sich das Material lediglich für Hanfwolle geeignet habe, wohingegen für feineren Stoff kleinere und feinere Stängel bevorzugt wurden. „Ich war damals eben zugegen, wie die Gemeinde im Wirthshause ihren Hanf gemeinschaftlich verhandelte. Diese Manier gefiel mit nicht übel. So wird keiner durch einen liederlichen, bedürftigen oder einfältigen Wirth, der seine Waare für einen zu wohlfeilen Preis verschleudert, genothdrungen, sich auch einen niedrigern Preis gefallen zu lassen. Die große Concurrenz der Verkäufer, die den Monopolisten, mit denen gar keine Käufer concurriren, so vortheilhaft ist, wird dadurch gemindert. Statt zwanzig, dreyßig Verkäufer, ist nur einer in jedem Dorfe; die personificirte Gemeinde. Stimmten mehrere Dörfer so überein, und handelten einstimmig, alle für einen und einer für alle, so könnte man den Monopolisten, die doch gewiß nur ein desto größeres Bedürfniß des Einkaufens haben, je mehr Reichthümer sie zusammen scharren wollen, einigermaassen das Gegengewicht halten. Es wäre für die Bauern sehr rathsam, auch Röthe, Taback, Wein, und was sie nur bauen und zum großen Handel gehört, in allen den Ländern, wo Monopolien grassiren, gemeinschaftlich zu verkaufen.“ Ebd., S. 365 f., Hervorh. i. Orig. Vgl. ebd., S. 228 f. Vgl. Walter E. Schäfer: Pfeffel, Gottlieb Konrad. In: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 307– 308, hier S. 307.
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desheim besuchte –, nach Baden und abschließend in die Schweiz, wird im Bericht leider nur am Rande erwähnt. Aus seinen Briefen an Isaak Iselin (1728–1782) geht jedoch hervor, dass er sich mit seinen Freunden Simon und Schweighäuser im Juni 1779 in Basel aufhielt, um dort Iselin zu treffen.73 Im Oktober quartierte er sich in Weil am Rhein ein, da ihm – vielleicht durch die Vermittlung Iselins – in Aussicht gestellt wurde, dass ihm die mit ihrem Mann im Baseler Exil lebende Fürstin von Anhalt-Zerbst, Friederike Auguste Sophie von Anhalt-Bernburg (1744–1827), durch ein Empfehlungsschreiben zu einem Amt verhelfen könnte. Das erhoffte Amt stellte sich jedoch lediglich als „eine Vorreiter-, höchstens eine Schreiberstelle“74 heraus, wie Schmohl ein Jahr später an Iselin berichtete. Von Weil bzw. Bern aus besuchte Schmohl in Zürich Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), dem er später seine selbst veröffentlichten landwirtschaftlichen Briefe75 widmete. In Zürich traf er außerdem Pestalozzis Lehrer, Johann Jakob Bodmer (1698–1783). An diesen schrieb er nach seiner Rückkehr nach Weil am 27. Oktober 1779: Lavater traf ich nicht zu Hause; länger in Zürich bleiben wollt ich nicht; keinen Menschen darf ichs sagen, daß ich dort gewesen. Ich habe doch viel und große Sünden begangen, aber keiner schäme ich mich so als der, daß ich in Zürich gewesen und L. nicht gesehn, nicht den Augenblik erwartet habe, wo ich ihn sprechen könnte. […] – Doch was klag ich? Vater Bodmer, Vater Bodmer hab ich ja noch gesehn; einen Lieblingswunsch meines Herzens, der aus den Knabenjahren her mit mir grosgewachsen, den erfüllt!76
Zu seinen Freunden und Bekannten in Bern zählte außerdem der Buchdrucker und Verleger Johann Jakob Thurneysen der Jüngere (1754–1803).77 Schmohl hatte, wie es scheint, Bodmer versprochen, sich um einen Verleger für dessen überarbeitete Neuausgabe des erstmals 1752 erschienenen Werks Die Noachide in zwölf Gesängen zu kümmern. Um seinem Freund zu helfen, der 1779 zusammen mit dem ihm assoziierten Schriftgießer Wilhelm Haas (1741–1800) seine erste Druckerei eröffnet hatte, brachte Schmohl diesen ins Gespräch. Thurneysen glaube, so Schmohl, „in seinem patriotischen Wesen, der Rhein bey Basel sey stark genug, die Arche durch Deutschland bis ans Meer der Ewigkeit hinüberzutragen; wenn auch alle Vögel unter dem Himmel, alle 4füßigen und andere Thiere und Gewürme auf Erden darinn wären.“ Zwar bot Schmohl Bodmer ebenfalls an, sollte dieser „den neuen Noah nicht 73 74 75 76 77
Vgl. Johann Christian Schmohl an Isaak Iselin, 8. Juni 1779, Staatsarchiv Basel-Stadt (= StABS) Nachlass Isaak Iselin PA 98a 38 p. 97. Johann Christian Schmohl an Isaak Iselin, 11. Juni 1780, StABS Nachlass Isaak Iselin PA 98a 38 p. 108. Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21). Johann Christian Schmohl an Johann Jakob Bodmer, 27. Oktober 1779, Zentralbibliothek Zürich (= ZBZ) Ms Bodmer 4c.12. Zu Thurneysen vgl. Martin Germann: Johann Jakob Thurneysen der Jüngere, 1754–1803. Verleger, Buchdrucker und Buchhändler in Basel. Ein Beitrag zur Geschichte der Spätaufklärung in Basel und zur Geschichte des Eindringens der englischen und französischen Aufklärung im deutschen Sprachgebiet am Ende des 18. Jahrhunderts. Basel 1973 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 128).
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Thurneisen in Basel anvertrauen wollen“, stattdessen „aus Leipzig oder Berlin Ihnen nächstens einen andren Verleger“78 zu vermitteln. Bodmer scheint jedoch Schmohls Urteil vertraut zu haben, sodass der ‚neue Noah‘ 1781 bei Thurneysen in Basel erschien.79 Im Winter 1779/80 befand sich Schmohl seit etwas mehr als zwei Jahren wieder auf seinem väterlichen Hof in Pülzig.80 Hier beendete er im Januar 1780 die Arbeit an der Urne Mochels 81 und verfasste seine landwirtschaftlichen Briefe an Pestalozzi, die 1781 in seiner Sammlung von Aufsätzen verschiedener Verfasser, besonders für Freunde der Cameralwissenschaften und der Staatswirthschaft erschienen. Nachdem die Empfehlung seiner Fürstin nicht das erhoffte Amt, sondern nur „einige schmeichelhafte Worte und Vertröstungen“ erbracht hatten, entschloss sich Schmohl, „kein Erzieher von Metier“ zu werden, solange er nicht an seinen eigenen Kindern bewiesen hätte, „ob ich dazu tüchtig bin“.82 Stattdessen schrieb er sich am 26. Mai 1780 an der Universität Halle ein, um dort Jura zu studieren. Er sah sich selbst nun als ‚Gelehrter‘ an und unterschrieb entsprechend seine offizielle Korrespondenz.83 Neben dem Land- und Bauernrecht beschäftigte sich Schmohl ebenfalls mit der Kameralistik und – wie ein 1780 erschienener Artikel zeigt – auch mit sprachwissenschaftlichen Themen.84 In beiden Bereichen wurde er von dem in Halle lehrenden Kameralisten und Linguisten Johann Christian Christoph Rüdiger (1751–1822) geprägt. Rüdiger, der eine sehr moderne, da in erster Linie deskriptive Vorstellung der Sprachwissenschaft vertrat,85 wurde ebenfalls von Schmohl aufgrund seiner ka78 79
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Johann Christian Schmohl an Johann Jakob Bodmer, 27. Oktober 1779, ZBZ Ms Bodmer 4c.12. Johann Jakob Bodmer: Die Noachide in zwölf Gesängen. ganz umgearbeitet und aufs neue verbessert. Basel 1781. – Das Buch fand jedoch keine Anerkennung mehr, da die Gattung des biblischen Heldenliedes nicht mehr dem zeitgenössischen Geschmack entsprach. Vgl. Germann: Thurneysen (wie Anm. 77, S. 27), S. 27. Ebenfalls war Bodmer nicht mit dem Druck zufrieden, da Thurneysen sie „mit elenden Fehlern befleckt“ (Johann Jakob Bodmer: Bodmer’s Tagebuch (1752 Bis 1782). Hg. v. Jakob Bächtold. Zürich 1891, S. 212) habe. Dass Bodmer viel von Schmohl gehalten haben muss, zeigt ebenfalls die Bemerkung in seinem Tagebuch: Bodmer hatte Wilhelm Gottlieb Becker (1753–1813) Manuskripte anvertraut, damit dieser sie in Leipzig drucken lasse. Da Becker nun behauptete, er habe keinen Verleger finden können, vermutete Bodmer, er wolle mit seinen Manuskripten wuchern und forderte Becker auf, die Schriften an Schmohl zu übergeben. Vgl. ebd., S. 211 f. Vgl. Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 216. Vgl. Ders.: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 6. Johann Christian Schmohl an Isaak Iselin, 11. Juni 1780, StABS Nachlass Isaak Iselin PA 98a 38 p. 108. Vgl. Johann Christian Schmohl an Georg Jacob Decker, 20. Februar 1781, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (= SBB PK), Nachlass Decker. Bd. 9, p. 175r. Johann Christian Schmohl: Ueber die neue Klopstocksche Rechtschreibung nach der Aussprache der sächsischen oder sogenannten hochdeutschen Mundart, die wohl auch die Schrift- und Nazionalsprache heißt. In: Deutsches Museum 2 (1780), S. 154–175. „Der Sprachkundige hat eigentlich zunächst nur zu sammeln, und in Ordnung zu stellen, was er in der lebendigen Sprache und bey den Schriftstellern findet.“ Sollte hingegen der Linguist versuchen wollen, die Sprache zu verbessern, sollte er hierbei behutsam vorgehen und sich „in sei-
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meralistischen Vorlesungen gelobt.86 Schmohl erwähnt außerdem in einem bisher unveröffentlichten Manuskript,87 das er am 17. Mai 1781 an Lichtenberg für dessen Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur schickte, dass „die Zigeuner“ ihrer „Sprache und Geschichte nach“ eigentlich „Sindi“88 genannt werden sollten. Zu dieser Information muss er durch den Kontakt zu Rüdiger gekommen sein, welcher diese, auf eine ausführliche sprachwissenschaftliche Untersuchung gestützte Vermutung erst 1782 in seinem Artikel Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien89 publizierte. Indem Rüdiger den ‚Zigeunern‘ zudem einen ‚Volkscharakter‘ zugesteht, sieht er sie nicht bloß als soziale Abweichler, „die mutwillig gegen die Regeln des Rechts verstoßen“, wie es allgemein in der Frühen Neuzeit aufgefasst wurde. „[D]er Ausschluss der ‚Zigeuner‘ [sei] in den politischen Verhältnissen begründet und damit zumindest theoretisch revidierbar“. Rüdiger sah „die Verfolgung der ‚Zigeuner‘ als Fehler, wenn nicht als Versagen der deutschen Staaten“ an. Während jedoch für Rüdiger die ‚Zigeuner‘ ein junges Volk waren, das „sich noch im ‚rohen‘ Stadium befände[]“ und auch wie „jedes Volk während seiner Anfänge eine nomadische Phase durchlaufen würde“,90 handelt es sich für Schmohl bei ihnen um
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nen Verbesserungen und Neuerungen mäßigen. Er darf darin noch weniger ausschweifen, als ein den Ton gebender Schriftsteller, weil er sonst noch weniger Nachfolge findet. Am wenigsten lasse er sich einfallen, ein ganzes neues Lehrgebäude zu erfinden und einzuführen. Nie läßt sich das durchsetzen, und wenn die Predigerstimme und der Posaunenton auch noch so hoch erhoben wird, so verhallen sie doch im kurzen.“ (Johann Christian Christoph Rüdiger (Hg.): Neuester Zuwachs der teutschen, fremden und allgemeinen Sprachkunde in eigenen Aufsätzen, Bücheranzeigen und Nachrichten. Bd. 1. Leipzig 1782, S. 28). Die Entwicklung einer Sprache beschreibt er als evolutionären, lebendigen Prozess: Sinnvolle Neuerungen würden übernommen und solche „die dem Geist und der Natur unserer Sprache zuwieder [sic.] sind, […] können daher durch kein Ansehn behauptet werden, es sey so groß es auch wolle.“ (Ebd.). Sprachwandel sei außerdem zu allen Zeiten von einer Seite begrüßt, von vielen anderen jedoch abgelehnt worden: „Der herrschende Ton verändert sich von Zeit zu Zeit. Einige sehen darin nichts als Verbesserung, und freuen sich über die Ansprüche ihres Zeitalters […]. Andere sehn in den Veränderungen nichts als Verderben und wiederkehrende Barbarey. […] Welch Zetergeschrey erhob nicht Gottsched mit seinen Jüngern, über die Abweichungen von seinem Ton und Geschmack als einreißende Barbarey, und gleichwohl erhielten wir nur dadurch die jetzigen bessern Zeiten. Ein jeder hüte sich also den Gipfel für erstiegen, sein Zeitalter für das vollkommenste zu halten. Die Fortwirkung der Natur, in Veränderung der Sprache ist unaufhaltsam. Die Festsetzung auf beständig, won welcher einigen Franzosen, und auch bey uns Gottscheden geträumt hat, ist unmöglich. Regeln und Beyspiele sind hier, wie eine Furche im Sande, gegen das steigende Weltmeer. Es verändere also nur jeder nach seinem Vermögen, Geschmack und Einsichten, die Entscheidung aber, wie weit die Veränderung Wachsthum gewesen, wo sie Verderben geworden, gebühret allein der Nachwelt.“ (Ebd., S. 20 f.). Vgl. Johann Christian Schmohl: Anmerkungen zu Oesfelds Topographie von Magdeburg. In: Ders. (Hg.): Sammlung (wie Anm. 35, S. 21), S. 435–488, hier S. 446. Ders.: Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie. Wahre Geschichte der Menschheit. NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6. Ebd., p. 16r, Hervorh. i. Orig. Johann Christian Christoph Rüdiger: Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien. In: Ders. (Hg.): Neuester Zuwachs (wie Anm. 85), S. 37–84. Iulia-Karin Patrut: Phantasma Nation: „Zigeuner“ und Juden als Grenzfiguren des „Deutschen“ (1770–1920). Würzburg 2014, S. 125 f.
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ein altes, ehemals sesshaftes und Viehzucht treibendes Volk, das – wie auch das Volk der Juden – durch äußere Einflüsse aufgerieben und aus ihrem eigentlichen Siedlungsgebiet vertrieben wurde.91 Im Zuge des Erscheinens der Urne Mochels kam es zum endgültigen Bruch zwischen Schmohl und seinen elsässischen Freunden Simon und Schweighäuser. Diese befürchteten, sie könnten durch Schmohls Darstellung in ein falsches Licht gerückt werden, was ihre Bemühungen, ihr derzeitiges Mädcheninstitut nach Dessau zu verlegen, gefährdet hätte.92 Sie beschwerten sich daher bei Schmohl durch einen öffentlichen Brief im Deutschen Museum,93 was Schmohl durch die unpersönliche Form und den teilweise beleidigenden Inhalt kränkte. An Iselin schrieb er, dass keiner, der die Urne gelesen habe, verstehen könne, dass er von Freunden nur wegen eines Buches derart beschimpft würde. Nur um sich in Dessau reinzuwaschen „opferten [sie] den Freund auf, um sich Brod zu schaffn“.94 Nachdem Wieland die Veröffentlichung eines Antwortschreibens im Teutschen Merkur bestimmt, aber mit wohlwollenden Ratschlägen abgelehnt hatte,95 wurde ein Antwortbrief Schmohls ebenfalls im Deutschen Museum abgedruckt. In diesem machte Schmohl seine Freunde unter anderem darauf aufmerksam, dass nun jeder, der ihnen schaden wolle, erst recht das Buch lesen würde, „um Stellen darin zu finden, die euch in den Augen derer und jener nachtheilig sein können? Wird man nun dergleichen nicht eben, weil man sie finden will, um so häufiger finden?“96 Dass Iselin sich zurückhaltend verhielt, um nicht in den Streit verwickelt zu werden, dürfte einerseits dazu beigetragen haben, dass Schmohl „begann, das weltanschauliche Grundkonzept des dem Sturm und Drang zugrunde liegenden Physio-
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Vgl. zu Rüdiger, neben der umfangreichen Arbeit von Iulia-Karin Patrut ebenso: Kurt Röttgers: Das Wandern der Zigeuner und der freie Warenverkehr. In: Emundts (Hg.): Kant (wie Anm. 43, S. 10), S. 164–178, hier S. 168; Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Bonn 2011, S. 47, 155, 168. Vgl. Niedermeier: Philanthrop (wie Anm. 22, S. 19), S. 238–240 und auch: Ders.: Mitteldeutsche Aufklärer (wie Anm. 20, S. 18), S. 105–108. – Der Versuch der Verlegung wurde von den Dessauer Lehrern abgelehnt, da sie „den Elsässern und ihren Frauen schlechtes sittlichen Betragen nachsagten und nachteilige Folgen für die Moral der männlichen Zöglinge prophezeiten, falls es zu Kontakten mit dem Mädcheninstitut der Straßburger käme.“ (Ders.: Philanthrop (wie Anm. 22, S. 19), S. 240). Ihre angeblich unsittliche Jugend sollte den ehemaligen Lehrern des Philanthropins noch zu Zeiten der Französischen Revolution vorgehalten werden: Simon, der an die Spitze der Straßburger Jakobiner aufgerückt war und auch Johann Christian Ehrmann sowie Schweighäuser als Mitglieder der Gesellschaft der Verfassungsfreunde wurden von den Jakobinern wegen ihrer freizügigen Vergangenheit kritisiert. (Vgl. Ders.: Sexualität (wie Anm. 24, S. 19), S. 234–236). Johann Friedrich Simon u. Johann Schweighäuser: An Herrn Schmohl. In: Deutsches Museum 2 (1780), S. 363–367. Johann Christian Schmohl an Isaak Iselin, 18. Oktober 1780, StABS Nachlass Isaak Iselin PA 98a 38 p. 110. Vgl. Hagen: unbekannter Brief (wie Anm. 18, S. 18), S. 252 f. Johann Christian Schmohl: An Simon und Schweighäuser. In: Deutsches Museum 2 (1780), S. 566–570, hier S. 269.
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kratismus zu demontieren“,97 an dessen Verbreitung im deutschsprachigen Raum Iselin maßgeblich beteiligt war.98 Andererseits wird er ebenfalls in seiner naiv erscheinenden aufgeklärten Überzeugung, dass sich Wahrheit am Ende immer durchsetze, davon überzeugt gewesen sein, Iselin mit durchdachten und stichhaltigen Argumenten von den Fehlern des Physiokratismus überzeugen zu können – vor allem, wenn es sich bei ihm ebenfalls um einen von der Aufklärung überzeugten Menschen handelte: „Ich bitte Sie um alles, mein werthester Iselin, einsichtsvoller denkender Mann; zeigen Sie mir, worinn liegt mein Irrthum, wenn ich hier die Wahrheit verfehle!“99 Schmohls Überzeugung, sich mit seinen „schneidend-kritischen Schriften […] bei seinem Landesfürsten für eine einflußreiche Stelle zu empfehlen“,100 wie er es in seinen Briefen an Pestalozzi formulierte,101 wirkt im Nachhinein, so Michael Niedermeier, ebenfalls „unglaublich naiv“.102 Andererseits entspricht es dem auch bei radikalen Aufklärern verbreiteten Fürstenbild, dass der Fürst zu keiner falschen Handlung fähig sei und ausnahmslos Gutes von ihm käme,103 wobei Schmohl diese Ansicht nicht durchgängig vertreten zu haben scheint: So erwähnt er nicht ohne kritischen Unterton, daß weil der Fürst [von Anhalt-Zerbst, Anm. M. L.] in der Welt incognito leben will und allen Unterthanen verboten hat, nach seinem Aufenthalt zu forschen, ja so gar von ihm zu reden, geschweige zu ihm zu kommen und zu klagen, die Räthe im Dunkeln wirthschaften können, wie ihnen nur gelüstet.104
Entsprechend unverblümt berichtet er auch von einem, sich über Jahre hinwegziehenden Prozess seines Vaters um einen Garten in Pülzig.105 Dass dieser Konflikt, in dem es auch um Hut- und Triftrechte ging, welche die Einzäunung des Schmohl’schen Gartens untersagten, das ganze Dorf gegeneinander aufgebracht 97 98
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Niedermeier: Philanthrop (wie Anm. 22, S. 19), S. 239. Vgl. Guido Metzler: Markgraf Karl Friedrich von Baden und die französischen Physiokraten. In: Francia, Frühe Neuzeit, Revolution, Empire 1500–1815 28, 2001.2 (2002), S. 35–63, hier S. 56, 59; Richard T. Gray: Economic Value-Theory and Literary Culture in Late-Eighteenth Century Germany: The Debate over Physiocracy. In: Richard E. Schade u. John A. McCarthy (Hg.): Practicing Progress. The Promise and Limitations of Enlightenment. Festschrift for John A. McCarthy. Amsterdam u. New York 2007 (Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 106), S. 93. Johann Christian Schmohl: Antiphysiokratische Briefe an Herrn Rathsschreiber Iselin über Mauvillons physiokratische Briefe an Herrn Kriegsrath Dohm. In: Ders. (Hg.): Sammlung (wie Anm. 35, S. 21), S. 105–181, hier S. 119. Niedermeier: Philanthrop (wie Anm. 22, S. 19), S. 240. Vgl. Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 206–208. Niedermeier: Philanthrop (wie Anm. 22, S. 19), S. 240. Vgl. Pierre Rosanvallon: Die gute Regierung. Übers. v. Michael Halfbrodt. Hamburg 2016, S. 47– 62. Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 259. Vgl. Ders.: Kameralistische Reise (wie Anm. 40, S. 21), S. 361, 382–385; Ders.: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 304–326.
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hatte, führt Schmohl nicht auf das Dorf zurück: „Nur das muß ich noch vom Herzen los seyn, daß die Leute im Dorf im grunde brav sind, recht zu thun glaubten, nur durch schlechtes Betragen der Obrigkeit verderbt worden waren.“106 Die Briefe an Pestalozzi, an Iselin und Schmohls Bericht über kameralistische Beobachtungen in seinem Heimatland wurden mit zahlreichen weiteren Artikeln im Frühjahr 1781 unter dem Titel Sammlung von Aufsätzen verschiedener Verfasser, besonders für Freunde der Cameralwissenschaften und der Staatswirthschaft veröffentlicht. Schmohl warb in einer Selbstrezension107 im April und in einer ausführlichen Anzeige108 im Mai 1781 für sein Werk. Schmohl scheint mit seinem Verleger in Leipzig, der sowohl die Sammlung als auch die Urne Mochels veröffentlicht hat, nicht zufrieden gewesen zu sein.109 Daher erkundigte er sich schon im Februar 1781 in Berlin bei Georg Jacob Decker (1732–1799), ob dieser Interesse hätte, eine wohl als Fortsetzung der Sammlung gedachte „Schrift mit dem Titel: Beyträge zur Oekonomie und zu den Kameralwißenschaften in Deutschland überhaupt und mit besonderer Anwendung auf das Fürstenthum Anhalt, nebst einer staatsrechtlichen Dißertazion über die Gränzen der Fürsten- und Unterthanen-Rechte – in Verlag zu nehmen“. Neben „einer Nachricht von der Einrichtung einer ökonomischen Gesellschaft in Anhalt“ und der „Schilderung des ökonomisch kameralisch politischen Zustandes genannten Fürstenthums“ sollten in dieser Abhandlung ebenfalls „viele neue Erörterungen aus der Geschichte der Landwirthschaft und der Auflagen“, zudem Überlegungen zu „ländlichen und städtischen Schulverbeßerungen“ enthalten sein. Einzig die „ökonomisch kameralischen Anmerkungen“, welche Schmohl auf seinen „Reisen durch Deutschland, eini-
106 Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 326. 107 Ders.: Rezension: Sammlung von Aufsätzen verschiedener Verfasser. In: Hallische gelehrte Zeitungen 16.33 (1781), S. 261–264. 108 Ders.: Anzeige: Sammlung von Aufsätzen verschiedener Verfasser. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1 (1781), S. 237–245. 109 Wie aus einem Brief hervorgeht, hatte Schmohl die versprochenen Freiexemplare der Sammlung nicht erhalten und befürchtete nun, die versprochene Drucklegung um Michaelis (29. September) 1780 hätte sich verzögert, obwohl das Buch schon im Katalog der Osterbuchmesse 1781 angekündigt worden war. Vgl. Johann Christian Schmohl an Johann Jacob Gebauer, [4.12.1780], Stadtarchiv Halle (= StdA Halle), Verlagsarchiv Gebauer & Schwetschke, A 6.2.6 Nr. 18179 (Kartonnr. 67). – Der Versuch, einen neuen Verleger zu finden, ist also eher nicht auf Sicherheitsbedenken zurückzuführen, wie Niedermeier vermutet, (vgl. Niedermeier: Thu Recht (wie Anm. 23, S. 19), S. 135). Dies ist auch dahingehend unwahrscheinlich, da Sachsen durch seine Buchmesse als besonders liberal galt. Vgl. hierzu: Wilhelm Haefs: Zensur und Bücherpolizei. Zur Kommunikationskontrolle im Alten Reich und in Frankreich im 18. Jahrundert. In: Christine Haug, Franziska Mayer u. Winfried Schröder (Hg.): Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2011 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 47), S. 49–66, hier S. 63; Ernst Fischer: „Immer schon die vollständigste Preßfreiheit“? Beobachtungen zum Verhältnis von Zensur und Buchhandel im 18. Jahrhundert. In: Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix (Hg.): Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen 2007 (Das achtzehnte Jahrhundert Supplementa 12), S. 61–78, hier S. 64, 72.
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gen Provinzen Frankreichs und die Schweiz gemacht“110 hatte und die höchstwahrscheinlich mit dem posthum erschienenen Reisebericht111 identisch sind, scheinen von diesen Aufsätzen erhalten geblieben zu sein.112 Ob der 1783 erschienene Artikel Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft 113 auch in der Fortsetzung der Sammlung erscheinen sollte oder ob er von Schmohl auf dessen Flucht geschrieben wurde, ist ebenfalls nicht bekannt. Im Frühjahr 1781 erschien im Deutschen Museum Schmohls Artikel Vermischte land- und staatswirtschaftliche Ideen,114 welchen er in seinem Brief an Decker selbstsicher als Beispiel für seinen eigenen Schreibstil anpreist: Eine Probe von Werth derselben kan Ihnen der Aufsatz seyn, der im Jänner des Deutsch. Museums von dies. J. unter meinem Namen steht. Was dieser Art Schriften sonst nachtheilig ist, die schwerfällige unelegante Schreibart, davon haben Sie bey meiner nichts zu fürchten. Ich hoffe, daß bey meiner die Sprache eben so sehr die Sachen empfehlen wird als die Sachen die Sprache.115
Nicht erschienen, aber trotzdem erhalten, ist das schon erwähnte, am 17. Mai 1781 an Lichtenberg geschickte Manuskript Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie. Wahre Geschichte der Menschheit. Die in Schmohls Sammlung geäußerte Kritik an der Regierung von Anhalt-Zerbst wurde von dem dortigen Rat nicht gut aufgenommen. Als besonders beleidigend wurden Schmohls Äußerungen in den Briefen an Pestalozzi und dem kameralistischen Reisebericht durch Anhalt angesehen, aber auch eine Fußnote des vergleichsweise knappen fünften Kapitels Eines gescheiden Mannes Bevölkerungsplan für die neueroberten Rußischen Provinzen.116 In dieser ironischen Bemerkung schreibt Schmohl, dass alleine der Gedanke an die aus Zerbst stammende Zarin Katharina II. (1729–1796), welche „die Schöpferin des größten Kaiserthums in der Welt worden, 110 Johann Christian Schmohl an Georg Jacob Decker, 20. Februar 1781, SBB PK, Nachlass Decker. Bd. 9, p. 175r. 111 Schmohl: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25). 112 Vgl. ebenso: Niedermeier: Thu Recht (wie Anm. 23, S. 19), S. 136. 113 Johann Christian Schmohl: Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Jahrbücher des Geschmacks und der Aufklärung. Bd. 2. 6. Stück, Juni 1783. Leipzig 1783, S. 339–348. Dieser Artikel wurde im gleichen Jahr ein weiteres Mal veröffentlicht (Ders.: Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Berlinische Monatschrift 1 (1783), S. 336–347) und 1788 sogar ins Dänische übersetzt und 1788 veröffentlicht (Ders.: Om Oprindelsen til Trœldom i det borgerlige Selskab. In: Ditlev Flindt Staal (Hg.): Samling af Oversættelser i Prosa til Nytte og Fornøielse. Bd. 1–2. Kisbenhavn 1788, S. 73–86). Möglicherweise stammt diese Übersetzung von Christian Lävin Sander (1756–1819) oder wurde von diesem lanciert. Sander war deutscher und dänischer Schriftsteller, der ebenfalls ab 1778 bis 1783 am Dessauer Philanthropin angestellt war. Vgl. zu Sander: Franz Brümmer: Sander, Christian Lävin. In: Allgemeine Deutsche Biographie 30 (1890), S. 347–348. 114 Johann Christian Schmohl: Vermischte land- und staatswirtschaftliche Ideen. In: Deutsches Museum 1 (1781), S. 37–53. 115 Johann Christian Schmohl an Georg Jacob Decker, 20. Februar 1781, SBB PK, Nachlass Decker. Bd. 9, p. 175r. 116 Vgl. Schreiben der Regierung Anhalt-Zerbst, 8. September 1781, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (= GStA PK), I. HA. GR, Rep. 11, Akten Nr. 146, p. 12r.
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und aus einer Zona in die andere ihren beglückenden Zepter steckt“, den Bürgern von Zerbst „vieles Elend und die Bitterkeit einer baldigen unglücklichen Vernichtung selbst versüßen“117 könne. Auch im Bezug auf den, sich im ausländischen Exil aufhaltenden Herrscher Friedrich August von Anhalt-Zerbst bewegte sich „Schmohl selbst für gutmütige Beobachter mit seinen Äußerungen an der Grenze zu einem Majestätsverbrechen“.118 Zwar waren sich die Räte in Anhalt-Zerbst bewusst, dass das Ergreifen von Maßnahmen gegen eine unliebsame Schrift zwangsläufig das Interesse der Öffentlichkeit nach sich ziehe und damit zu deren Verbreitung beitrage. Dennoch hielt man „es angesichts der drastischen Verunglimpfung […] schlicht für unmöglich“,119 Schmohls Schriften einfach zu ignorieren. Daher wurde die Sammlung ungefähr zwei Monate nach Erscheinen am 19. Juli 1781 in Anhalt-Zerbst verboten. Alle verkauften Exemplare mussten innerhalb von acht Tagen unter Strafe von 50 Reichstalern abgegeben werden. Diese wurden schließlich am 3. August 1781 in Zerbst öffentlich verbrannt. Nachdem die Regierung von Anhalt-Zerbst herausgefunden hatte, dass sich Schmohl an der Universität in Halle aufhielt, forderte man diese am 23. August 1781 auf, ihn festzusetzen und auszuliefern. Die Arretierung Schmohls wurde erst am 1. September beschlossen und seine Auslieferung gleichzeitig abgelehnt, da er als Universitätsbürger anzusehen sei. Aufgrund einer angeblichen Gallenfiebererkrankung durfte Schmohl am 26. September aus dem Karzer in den Stubenarrest wechseln, wo ihm in der Nacht des 27. auf den 28. September die Flucht gelang.120 Obwohl die anhalt-zerbstische Regierung die preußische nur auf eine Stelle aufmerksam machen konnte, an welcher nach ihrer Ansicht auch „die Königl. Preuß. Einrichtung auf die zügelloseste Art“121 angegriffen werde,122 wurde das Werk auch dort, unter Androhung einer Strafe von 100 Dukaten am 18. September 1781 verboten: Die im Buch befindlichen Schriften enthielten „nicht allein unanständige Kritiken unserer eigenen Regierungs-Maaßregeln und Einrichtungen, sondern auch äußerst beleidigende Ausfälle auf respectable Reichsfürsten und deren Verwaltung.
117 Johann Christian Schmohl: Eines gescheiden Mannes Bevölkerungsplan für die neueroberten Rußischen Provinzen, in der Crimm, am schwarzen Meer und am Dnepr; mit Anmerkungen von fremder Hand. In: Ders. (Hg.): Sammlung (wie Anm. 35, S. 21), S. 183–198, hier S. 185. 118 Beckus: Land ohne Herr (wie Anm. 31, S. 20), S. 42 f. 119 Ebd., S. 43. 120 Vgl. hierzu ausführlicher: Niedermeier: Philanthrop (wie Anm. 22, S. 19), S. 243–247. 121 Schreiben der Regierung Anhalt-Zerbst, 8. September 1781, GStA PK, I. HA. GR, Rep. 11, Akten Nr. 146, p. 12r. 122 „Die Accise, die dem König aus Halle jährlich, ich weiß nicht ob 60 000 oder 100 000 Thlr. einbringen soll, drückt niemand ärger als den ländlichen Produzenten. […] Besonders kann ich mich nicht überzeugen, daß das Verbot der Einfuhr des Schwedischen Eisens eine Wolthat fürs Land sey. Gedanken sind Zollfrey. Mich deucht, durch die meisten dieser Verbote ausländischer Waaren und Produkte, bereichert sich der König zum Nachtheil der Unterthanen.“ Schmohl: Kameralistische Reise (wie Anm. 40, S. 21), S. 366.
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Wir wollen sie in unseren Landen unterdrückt und eingezogen wißen.“123 Dieses Verbot wurde an die Universitäten des Landes gesandt, welche wiederum den ihnen unterstehenden Buchhändlern zu kommunizieren hatten, dass sie Schmohls Sammlung nicht mehr verkaufen dürften. Auch wenn das idealisierte Bild der preußischen Buchzensur unter Friedrich II. nicht der Realität entsprach und auch er – entgegen seiner eigenen Stilisierung – „der Untersuchung und Verbreitung der Wahrheit prinzipielle Grenzen“124 setzte, scheint dennoch ein nachträglich unter Strafe verbotenes Buch für das Preußen der 1780er-Jahre eine Ausnahme dargestellt zu haben.125 So schreibt Hamann am 7. Juli 1782 verwundert an Herder, dass Schmohls „Corpus delicti“, wie er die Sammlung entsprechend der Affäre in seinen Briefen bezeichnete, „hier mit 100 # weiß nicht warum verboten“126 worden sei. Trotz dieser Ausnahmestellung scheinen die preußischen Behörden Schmohl nicht mit Hochdruck verfolgt zu haben: In der Akte, die Schmohls Fall am 15. November 1781 abschloss, wurde von den Kabinettsministern Karl Wilhelm Graf Finck von Finckenstein (1714–1800) und Ewald Graf von Hertzberg (1725–1795) vermerkt: „Es ist bey dieser Sache nun um so weniger etwas zu thun, da die Schrift nicht in Unsern Lande gedruckt ist“.127 Da das Buch verboten worden war und Schmohl verschwunden, sahen sie keinen weiteren Handlungsbedarf. Hiervon bekam Schmohl freilich nichts mit. Sein letztes Werk schließt er mit einer Klage über Preußens fehlende Freiheit ab: Echte Toleranz gäbe es in Preußen nicht, denn dort könne man „von den Universitäten wegen eines zweydeutigen Ausdrucks von der Jungfrau Maria, einer Gotteslästerung beschuldigt werden“.128 Vermutlich hatte man ihm in Halle – neben seiner Kritik an Preußen – eine Stelle vorgeworfen, die er in seiner Sammlung einem Wiedertäufer in den Mund gelegt hatte: „[D]er H. Geist war freylich Vater“ von Jesus, „aber Maria doch die Mutter,
123 GStA PK, I. HA. GR, Rep. 11, Akten Nr. 146, p. 14r. 124 Simone Zurbuchen: Aufklärung „von oben herunter“ oder „von unten herauf“? Die Berliner Preisfrage über den Volksbetrug (1780). In: Haefs u. Mix (Hg.): Zensur (wie Anm. 109, S. 32), S. 157–188, hier S. 158. 125 Stenzel beispielsweise betont 1824 empört: „König Friedrich II. von Preußen ließ – man denke! – das Buch bei 100 Ducaten Strafe verbieten, (so Etwas hatte er wohl schwerlich je gethan! Ein gleiches Beispiel nachher ist nicht bekannt worden)“, in Stenzel: Anhang (wie Anm. 3, S. 16), S. 97, Hervorh. i. Orig. – Nach Paul Beckus war das Verbot in Preußen für den „gegen die Obrigkeit streitenden Aufklärer“ Schmohl geradezu als „Ritterschlag“ (Beckus: Land ohne Herr (wie Anm. 31, S. 20), S. 43) zu verstehen. Darüber hinaus ist Beckus’ Vermutung plausibel, dass das wachsende Interesse, das mit einem Verbot einhergehen musste, von Friedrich II. intendiert war, um „dem von ihm verachteten Friedrich August von Anhalt-Zerbst mit voller Absicht einen Bärendienst“ (ebd., S. 44) zu erweisen. 126 Hamann: Briefwechsel. Bd. 4 (wie Anm. 45, S. 22), S. 399, Hervorh. i. Orig. 127 GStA PK, I. HA. GR, Rep. 11, Akten Nr. 146, p. 24. 128 [Johann Christian Schmohl]: Ueber Nordamerika und Demokratie. Ein Brief aus England. Koppenhagen [= Königsberg] 1782, S. 212, Hervorh. i. Orig.
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die ja immer mehr von ihren Säften und Bestadtheilen zur Bildung eines Kindes hergiebt als der Vater“.129 Die genauen Stationen von Schmohls Flucht aus Halle lassen sich nur zum Teil gesichert rekonstruieren. So kann es sich beispielsweise bei der von Christian Konrad Wilhelm Dohm (1751–1820) in seiner Rezension der Sammlung verbreiteten Nachricht, Schmohl sei nach Italien geflohen, einerseits um eine gezielte Falschinformation gehandelt haben, um Schmohls Spur zu verwischen, die von Dohm aufgegriffen wurde.130 Andererseits kann es auch ein früher Fluchtplan gewesen sein, der letztendlich nicht umgesetzt wurde. Bahrdt, den Schmohl Ende 1780 in Dessau kennenlernte, wie er in seiner Kameralistischen Reise beschreibt,131 scheint ihn zuerst für kurze Zeit bei sich in Halle versteckt zu haben – auch wenn er ihn in seiner Autobiographie mit dem längst verstorbenen Mochel verwechselte.132 Nachdem Schmohl Halle verlassen hatte, reiste er inkognito durch Europa; jedoch sind nur wenige Stationen dieser Reise bekannt. Wie aus Hamanns Briefen an Herder hervorgeht, scheint Schmohl letzteren besucht zu haben, sodass Weimar wohl sein erstes Ziel war. Ebenfalls geht aus diesen Briefen hervor, dass er sich am 10. Februar 1782 zusammen mit dem Kapellmeister Friedrichs II., Johann Friedrich Reichardt (1752–1814), als dessen ‚Vetter Becker‘ in Königsberg aufgehalten hat. Dort blieb er bis zum 15. April 1782 und wurde in den neun Tagen vor seiner Abreise von Hamann beherbergt. Mit der Familie Hamann hielt er in dieser Zeit griechi-
129 Johann Christian Schmohl: Fragment aus der Lebensgeschichte eines Elsaßer Wiedertäufers, von ihm selbst beschrieben. Die Untersuchung enthaltend: ,Ob und in welchen Umständen man den Juden nicht nur freyes Religionsexerzizium, sondern selbst gleiche Rechte des Menschen und Bürgers mit den Christen einräumen könne und zum Vortheil des Staats müsse.‘ In: Ders. (Hg.): Sammlung (wie Anm. 35, S. 21), S. 41–103, hier S. 62, Hervorh. i. Orig. 130 Vgl. Christian Konrad Wilhelm Dohm: Rezension: Sammlung von Aufsätzen verschiedener Verfasser besonders für Freunde der Cameralwissenschaften und der Staatswirthschaft. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 49 (1782), S. 237–241, hier S. 241. 131 „Eine große Freude hatte ich, als er [Schmohls Reisegefährte ‚R.‘, Anm. M. L.] mir noch vorher unvermuthet der von mir, je besser ich ihn kennen lernte, immer mehr liebgewonnenen und verehrten, Dr. Bahrdt zuführte, der eben hierdurch auf einer Kalesche mit eigner Hand nach Berlin fuhr.“ Schmohl: Kameralistische Reise (wie Anm. 40, S. 21), S. 377. 132 Zu dieser Verwechslung scheint es vor allem aufgrund des Werkes Urne Johann Jacob Mochels gekommen zu sein: „Mein Herz bleibt bis dahin von allem fortdauernden Widerwillen gegen den verehrungswerthen Mann so entfernt, als es gegen den armseligen Schriftsteller geblieben ist, aus dessen Urne er jenen Vorwurf [Bahrdt sei ein Trinker, Anm. M. L.] mit christlicher Glaubwilligkeit entlehnt hat. – Ich habe viele Zeugen, die es wissen, daß Herr Moschel selbst den von ihm verleumdeten D. Bahrdt so gut gekant hat, daß er in seinem Unglük, wo Lebensgefahr ihn bedrohte, zu ihm floh, sein Leben selbst ihm anvertraute und – daß er mehrere Tage lang, von ihm, dem D. Bahrdt, kurz nach der Ausgabe der ihm bekant gewordnen Urne, mit eigner Gefahr vieler Verdrüßlichkeiten, als Flüchtiger gehegt, als Hungriger beköstigt, als Kranker verpflegt, als halb verwirrter und Geängsteter getröstet und mit Unkosten und Mühe gerettet worden ist.“ (Carl Friedrich Bahrdt: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst geschrieben. Bd. 4. Berlin 1791, S. 81, Hervorh. i. Orig.) – Bei dem Vorwurf, Schmohl habe ihm unterstellt, ein Trinker zu sein, verwechselt er ihn zudem mit Basedow. Vgl. McKenzie-McHarg: Überlegungen (wie Anm. 24, S. 6), S. 215.
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sche Vorlesungen ab.133 Nach Hamanns näherer Beschreibung habe Schmohl „sich auf Oekonomie u Statistik gelegt, hat sich mit […] Kaufmann in Deßau aufgehalten, und ist ein Liebhaber der Gymnastik zu Land und zu Waßer.“134 An Bodmer schrieb Schmohl am 12. April, als er sich schon bei Hamann in Königsberg aufhielt, um seinem Züricher Freund zu erklären, weshalb er auf dessen letzten Briefe nicht antworten konnte: „[I]ch hatte schon einig Monathe vorher meinen letzten bekannten Aufenthalt gewechselt und flüchtete inkognito aus Europa, in dem ich nirgends selbst in England nicht, Sicherheit finden könnte.“135 Schmohl scheint also von Weimar aus über Den Haag136 nach London gereist zu sein, was mit der Datierung seines in Königsberg herausgegebenen Werkes Ueber Nordamerika und Demokratie. Ein Brief aus England – „London, den 19sten Nov. 1781“137 – korrespondiert. Warum Schmohl nach seinen eigenen Angaben sogar in England keine Sicherheit finden konnte, sodass er wieder nach Preußen zurückkehren musste, ist nicht bekannt. Zu vermuten wäre, dass seine Begeisterung für die amerikanische Unabhängigkeit, die aus seiner Schrift Über Nordamerika und Demokratie hervorgeht, ihn letztlich auch in England in Gefahr gebracht hätte. Es gibt jedenfalls keine Hinweise darauf, ob sich Schmohl in London aufgrund seiner Begeisterung zu Handlungen oder Aussagen verleiten ließ, die ihn zur weiteren Flucht nötigten. So ist es fraglich, ob beispielsweise das Gespräch zwischen Schmohl und dem im Tower von London einsitzenden Henry Laurens138 (1724–1792) wirklich stattgefunden hat. Wie Merlan anmerkt, wäre es für Schmohl leichtsinnig gewesen, eine derart illegale Unternehmung zu wagen.139 Dass Schmohl mit seinem Bericht Laurens und allen anderen Beteiligten seines Besuchs möglicherweise ernsthafte Probleme bereitet hätte, scheint ihm selbst bewusst gewesen zu sein. Entsprechend betont er am Ende seiner Ausführung, alles sei lediglich ein Traum gewesen: Ein gewisser „Esqu. Pl.“, der Schmohl „unwissend Gelegenheit“140 zu diesem Treffen bereitet haben soll, behauptete, als Schmohl ihm von seinem Besuch erzählte, ihm müsse „die ganze Geschichte […] nothwendig im Traum erschienen seyn“. Er habe Schmohl nicht zu der Unterredung geholfen, […] man hielte auch den Präs. L. so fest daß es mir unter keiner Gestalt könne möglich worden seyn, eine so lange Unterredung mit ihm zu führen, und worzu, wenn es wahr wäre, eine so gefährliche Sachen in die Welt hineingeschrieben? was für einen andern Erfolg könne es haben, als daß man ihn noch fester verwahrte, noch schlechter hielte? Also, mein Lieber, das war nur ein Traum!141
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Vgl. Hamann: Briefwechsel. Bd. 4 (wie Anm. 45, S. 22), S. 373. Ebd. Johann Christian Schmohl an Johann Jakob Bodmer, 12. April 1782, ZBZ Ms Bodmer 4c.12. Vgl. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 3. Ebd. Vgl. ebd., S. 79–85. Vgl. Merlan: Parva (wie Anm. 10, S. 17), S. 571. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 79. Ebd., S. 85.
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So unwahrscheinlich Schmohls Treffen auch erscheinen mag, wirkt einerseits gerade das mehrfache Betonen, es habe sich um einen Traum gehandelt, nicht direkt glaubwürdig und beinahe ironisch. Andererseits lassen sich in Schmohls Schriften keine vergleichbaren fiktiven Begebenheiten finden, in denen er sich ein unmögliches Treffen oder Gespräch ausgedacht hat, um es in dieser Detailfülle niederzuschreiben. Laurens’ Berichte von ihm unbekannten Besuchern passen nicht zum Zeitraum, in dem sich Schmohl in London aufgehalten haben muss.142 Spätestens in Königsberg, wenn nicht schon in London, stand Schmohls Plan, nach Nordamerika auszuwandern, fest. An Bodmer schrieb er, er wolle die tausend Fehler, „die ich auf dieser Halbkugel begangen habe, auf jener wieder gut zu machen suchen. Denn eben bin ich auf dem Weg nach Philadelphia und bald werde ich Bürger des gesündesten edelsten Staats, den ich jezt auf Erden kenne, suveräner Herr einer freyen Hütte seyn.“143 Mit Hamann scheint Schmohl seinen Plan der Auswanderung intensiv diskutiert zu haben: Schmohls Gastgeber, der sich nicht als Anhänger der Demokratie sah,144 warnte Schmohl ausdrücklich vor der dortigen „Demomanie“.145 Nachdem dessen richtiger Name nach seiner Abreise Mitte April bekannt wurde, bemühte sich Hamann, die erschienenen Bücher und Artikel seines ehemaligen Hausgastes zu erhalten. Als ihm am 12. Juni im Buchladen Über Nordamerika und Demokratie angeboten wurde, lehnte er zuerst ab: „Das erste ist ganz gleichgiltig [sic] für mich, und das zweite hatte auch nicht viel Reiz. Man sagte mir aber, daß es eine Schift vom Vetter Becker wäre. Ich steckte sie deswegen mit einer ziemlich kaltsinnigen Neugierde in die Tasche“.146 Trotz Hamanns abweichender Meinung zum demokratischen System, habe Schmohls Schrift bei ihm dennoch „viel Eindruck gemacht“, da sie „so viel feine, naive, treffl. Züge“147 enthalte. Nicht nur bei Hamann, sondern auch bei vielen weiteren Königsbergern scheint Schmohl das Interesse an seinen Schriften geweckt zu haben. Einer der ersten, der die Identität des wahren Autors von Über Nordamerika und Demokratie kannte, war – nach Hamanns Angaben – Immanuel Kant. Ebenfalls scheinen in Königsberg – trotz des Verbotes – mehrere Exemplare von Schmohls Sammlung zirkuliert zu sein. Kant sei, so Hamann an Reichardt, gerade durch das „ungewöhnliche Rescript“,148 also das Verbot, dessen Umsetzung vom Senat der Universität bestätigt 142 Merlan bezieht sich hierbei auf einen Besucher, von welchem Laurens am 12. Juni 1781 berichtet. Schmohl befand sich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht auf der Flucht. Vgl. Henry Laurens: Journal and Narrative of Capture and Confinement in the Tower of London. In: David R. Chesnutt (Hg.): The Papers of Henry Laurens. Bd. 15. Columbia, S.C. 2000, S. 330–404, hier S. 366; Merlan: Parva (wie Anm. 10, S. 17), S. 571. – Dass es zu derartigen Besuchen kam, deutet jedoch auch darauf hin, dass es mit den richtigen Kontakten nicht unmöglich gewesen sein könnte, zu Laurens in den Tower zu gelangen. 143 Johann Christian Schmohl an Johann Jakob Bodmer, 12. April 1782, ZBZ Ms Bodmer 4c.12. 144 Vgl. Hamann: Briefwechsel. Bd. 4 (wie Anm. 45, S. 22), S. 390. 145 Ebd., S. 396, Hervorh. i. Orig. 146 Ebd., S. 390. 147 Ebd., S. 393. 148 Ebd., S. 396, Hervorh. i. Orig.
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wurde,149 auf Schmohls Sammlung „eben so lüstern gemacht worden, wie ich es selbst damals schon gewesen bin“.150 Während Kant sein Wissen in Königsberg verbreitete, fürchtete Hamann um Reichardts Sicherheit, da dieser für die Herausgabe des Buches verantwortlich gewesen zu sein scheint.151 Schmohl erreichte am 2. Mai 1782 Amsterdam. Von Hamann und Reichardt hatte er Empfehlungsschreiben an Gijsbert Karel van Hogendorp (1762–1834) erhalten. Weitere Empfehlungen scheinen ihm von anderen Königsbergern in die Niederlande nachgesandt worden zu sein.152 Ebenfalls scheint Schmohl John Adams (1735–1826), der zu dieser Zeit Gesandter in Den Haag war, getroffen zu haben. Er beschreibt diesen Hamann in einem zwei „Bogen langen Brief in engl. oder vielmehr anglo-sächsischer Sprache“. Schmohl habe, so Hamann an Herder am 7. Juli 1782, „Adams seinem Ideal und sich selbst ähnlich gefunden, ohne das letztere zu merken“.153 Eine Korrespondenz zwischen Adams und Engelbert François van Berckel (1726–1796), auf die Merlan aufmerksam gemacht hat, diesem jedoch nur im Auszug vorlag,154 lässt offen, ob es zu einem direkten Treffen kam: Van Berckel versuchte am 22. Juli 1782 im Auftrag von Gijsbert Karel van Hogendorps Mutter, Carolina Wilhelmina van Haren (1741–1812), sich bei Adams „en faveur d’ún Inconnu“ einzusetzen, da dieser dem Unbekannten, nachdem er ihm von Hogendorp vorgestellt worden war, lediglich Adressen in Amerika, aber keine Empfehlung gegeben habe. Van Berckel, der den Unbekannten nicht persönlich kannte, sei darüber informiert worden, es sollte sich nicht um eine gewöhnliche Empfehlung handeln, da die Person gedenke, sich dauerhaft in den Vereinigten Staaten niederzulassen und hierzu eine Beschäftigung suche, die ihm genau dieses ermögliche.155 Adams wiederum wunderte sich in seiner Antwort vom darauffolgenden Tag, dass ihm der 149 Bestätigung durch den Senat der Universität Königsberg vom 8. Oktober 1781, GStA PK, I. HA. GR, Rep. 11, Akten Nr. 146, p. 20r. – Kants eigenhändige Unterschrift befindet sich auf dem Schreiben. 150 Ebd. 151 Vgl. ebd. 152 Vgl. ebd., S. 393. 153 Ebd., S. 297, Hervorh. i. Orig. 154 Vgl. Merlan: Parva (wie Anm. 10, S. 17), S. 573. 155 „Par Madame d’Hogendorp, qúi demeúre actúellement a La Haÿe, Son Epoux, le Conseiller de la Ville de Rotterdam, Se troúvant, a present, aux Indes orientales, Je me trouve continuellement pressé, poúr m’interesser en faveur d’ún Inconnu, qui doit avois été presenté a votre Excellence, pas le jeune Monsieúr d’Hogendorp, fils des Súsmentioner; et a qúi, Selon qu’on me dit, Votre Excellence aúroit donné qúelqúes adresses en Amerique; Sans pourtant avoir trouvé a propos, de lúi donner aúcune lettre de Recommendation. […] On me dit, qu’il ne S’agit d’aúcune recommendation: qu’aú contraire Le dit Inconnú Va qúitter Sa patrie, dans le dessein d’aller S’etablir dans les Etats unis d’Ameriqúe, pour toujoúrs; et que poúr y trouver ún moyen de Subsistance, il demande ún employ, que l’on y troúvera convenable a Ses Lúmieres, apres un Examen, qúe l’on trouvera bon de prendre de Ses connoissances, et de Son merite. Monsieúr et Madame d’Hogendorp etants de mes proches Parens; je ne Scaúrois resister plús longtems a des instances Si vives. En consequence de quoi, je prends la liberté, de voús temoigner, que votre Excellence m’obligera infiniment, Si elle voudra avoir la bonté, Sans donner des lettres immediates de recommendation, de donner aú dit Inconnú la direction, et les oúvertúres necessaires, poúr le bút
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‚Inconnu‘ ein Rätsel sei, er ihm aber gerne einige Vorstellungsbriefe für Freunde in Philadelphia oder Boston mitgeben würde, sofern er wirklich auswandern wolle.156 Schmohl scheint im Spätjahr 1782 nach Nordamerika aufgebrochen zu sein. Hamann erhielt von Reichardt am 16. November 1782 die Nachricht, dass Schmohl „bereits in ofner See ist und seinem künftigen Wohnort in der neuen Welt entgegensegelt.“157 Erst nach über einem Jahr, am 18. Februar 1784, erhält Hamann von Reichardt einen Brief Schmohls, den dieser ein Jahr zuvor verfasst haben soll. Hamann berichtet dies Johann George Scheffner (1736–1820): „Erhalt [sic] heute von unserm Capellmeister [Johann Friedrich Reichardt, Anm. M. L.] einen Brief mit einer Jahrealten Einlage vom Vetter Becker, der sich in Wilhelm Birken verwandelt. Der Brief ist von Bermudas wo er gestrandet und beynah all das Seinige verloren den 14. Jänner 83. Der Brief an R. ist vom 17. Febr.“158 Erst im November 1784 scheint Hamann über Schmohls Schicksal Gewissheit gehabt zu haben: Am 10. November bedankt er sich bei Reichardt, er sei nun beruhigt „über unsers guten und ehrl. Vetters Schicksal, und wird auch seinen Eltern zum Trost gereichen. Ein Hunger u Kummer Leben, mit Chimären im Kopf u. einem nagenden Wurm im Herzen – vertreibt die Bitterkeit des Todes.“159 Am gleichen Tag schreibt er an Scheffner, Schmohl sei „kurz vor
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qu’il Se propose, de pouvoir S’etablir Solidement dans votre heureúse Repúbliqúe; et de pouvoir obtenir pour cet effet, un Employ analogue a ces Talens. En Verité, il est encore plus inconnú a moi, qu’a Votre Excellence, púisqúe vous vous êtes entretenú avec lúi: Mais qúelqúe Inconnú qu’il noús Soit; il me Semble, qu’il peút être recommandable, S’il veút Se Soúmettre a L’Examen, qu’il vient d’offrir lúi meme. Et ce n’est que Sur ce pied la, que j’ai l’honneúr d’interceder aupres de votre Excellence, en Sa faveúr. Pour ce qu’il en est de Sa Famille, et des circonstances, qui l’engagent de qúitter Sa Patrie; Votre Excellence poura S’en reposer, Súr les avis, qúe Madame d’Hogendorp Voús en fera parvenir. Ils Seront, Sans doute, conformes a la plús exacte verité.“ Engelbert François van Berckel to John Adams, 22. Juli 1782. In: Founders Online, National Archives. url: http://founders.archives.gov/documents/Adams/06-13-02-0118-0001 [07. 06. 2017]. „All that You say about Madam D’Hogendorp, and the ‚Inconnu‘ is a Mystery to me, never having had a Visit or Application from either, to my Knowledge. It would give me pleasure however to be of any Service to this Person upon your Recommendation, if it were in my power: but I have not only no Authority to recommend any body to Offices or Employments in America, but I am forbidden ever to give any one the least Encouragement. There are in America as in all other Countries, two Persons who wish for Employment, to one Employment, and therefore whoever goes to America with Expectations of getting into public Employment will find himself disappointed; and most certainly would not thank me for leading him into an Error and decieving him with false hopes. If after this candid Information he persists in his determination to go to America, I will with pleasure, at your desire, give him Letters of Introduction to some of my Friends at Philadelphia or Boston.“ John Adams to Engelbert François van Berckel, 23. Juli 1782. In: Founders Online, National Archives. url: http://founders.archives.gov/documents/ Adams/06-13-02-0121 [07. 06. 2017]. – Im dritten und letzten Brief zu diesem Thema zeigte sich Van Berckel verwundert, dass Adams nichts zu dem Unbekannten sagen könnte, da ihm Frau Hogendorp schriftlich berichtet habe, Adams habe diese Person schon getroffen. Vgl. Engelbert François van Berckel to John Adams, 8. August 1782. In: Founders Online, National Archives. url: http://founders.archives.gov/documents/Adams/06-13-02-0135-0001 [07. 06. 2017]. Hamann: Briefwechsel. Bd. 4 (wie Anm. 45, S. 22), S. 453. Ders.: Briefwechsel. Bd. 5. 1783–1785. Hg. v. Walther Ziesemer. Wiesbaden 1965, S. 128 f. Ebd., S. 254.
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seiner Abfahrt über Bord gefallen.“160 Am 3. Februar 1785 wiederum erwähnt er – eher nebenbei – in einem Brief an Herder, „daß der ungl. Schmohl, weiland Vetter Becker bey den bermudischen Inseln über Bord gefallen u ertrunken, wird Ihnen schon bekannt seyn.“161 Auch wenn diese Information über Schmohls Tod, wie Michael Niedermeier bemerkt, „auffallend beiläufig“ von Hamann erwähnt wurde, ist dennoch anzunehmen, dass sie korrekt ist und Schmohl die Überfahrt nicht überlebt hat. Hamanns Beiläufigkeit ist möglicherweise eher auf den zeitlichen Abstand zurückzuführen. Dass es sich bei Hamanns Nachricht „um ein gezieltes Ablenkungsmanöver gehandelt haben könnte, um Schmohls Spuren zu verwischen“,162 ist unwahrscheinlich. Aufgrund seiner potenziellen Fürsprecher und den vor seiner Abreise gesammelten Adressen, hätte es ihm möglich sein sollen, in Nordamerika Fuß zu fassen. Dass ihm „[w]egen einer ziemlich starken Stelle gegen Frankreich“163 in seinem Buch Über Nordamerika und Demokratie ebenfalls Verfolgung gedroht hätte, wie Kant prophezeite, ist ebenfalls eher unwahrscheinlich. Obwohl Schmohl in den Jahrzehnten nach seiner Flucht aus Europa langsam in Vergessenheit geriet, hat er doch auf seine Zeitgenossen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Hiervon zeugt nicht nur Bodmers Vertrauen gegenüber Schmohl und dessen – auf Gegenseitigkeit beruhende – hohe Wertschätzung. Ebenfalls ließ es sich Johann Erich Biester (1749–1816) nicht nehmen, am Ende eines Artikel über Benjamin Franklin (1706–1790) ausdrücklich die, seiner Meinung nach, „nicht genug bekannte[] neue[] Schrift“ Über Nordamerika und Demokratie „[v]on dem bekannten Schmohl“ zu erwähnen, „die freilich viel Deklamation, aber doch auch viel Trefliches enthält“.164 Johann Georg Büsch (1728–1800), dessen Schrift Abhandlung von dem Geldsumlauf Schmohl in seinem Artikel Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft kritisiert hatte, sah sich in seinen 1784 erschienenen Schriften über Staatswirtschaft und Handlung genötigt, eine Antwort auf Schmohls Kritik anzuhängen.165 Schmohls ehemaliger Dessauer Kollege Christian Lävin Sanders166 verarbeitete Schmohls Schicksal – ohne Genaues über dessen Ende zu wissen – in seiner deutschen Bearbeitung des Gargantua und Pantagruel: Erinnerst Du Dich, guter Klaus, daß ich Dir einmal von dem armen Schmohl erzählt habe, der wegen einer etwas kecken Abhandlung über sein Vaterländlein Anhalt Zerbst zu meiner Zeit in Halle gefangen gesetzt ward. Er hatte sich selbst sein Schicksal prophezeyt, als er den Vers: Quid160 161 162 163 164
Ebd., S. 256. Ebd., S. 352, Hervorh. i. Orig. Niedermeier: Thu Recht (wie Anm. 23, S. 19), S. 138. Hamann: Briefwechsel. Bd. 4 (wie Anm. 45, S. 22), S. 396. Johann Erich Biester: Etwas Über Benjamin Franklin. In: Berlinische Monatschrift 2 (1783), S. 11–38, hier S. 28, Hervorh. i. Orig. 165 Vgl. Johann Georg Büsch: Schriften über Staatswirtschaft und Handlung. Dritter Teil. Hamburg u. Kiel 1784, S. 482–484. 166 Vgl. Anm. 113, Kap. 2.1.2.
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2 Historischer und biographischer Überblick quid delirant reges, plectuntur Archivi so übersetzte[:] Wenn der Fürst von A.Z. in der Schweiz lebt, so müssen es seine Unterthanen büßen. – Ungewiß, ob er würde gebraten oder gesotten werden, fagte er die Aeneide um Rath und bekam zur Antwort: Heu fuge crudeles terras, fuge littus anarchum! Er verstand den Wink, und entfloh; und deshalb lebt er noch zu dieser Stunde.167
Ob Lävin Sander mehr wusste und schrieb, als es andere getan haben oder ob er auch nur von Schmohls Flucht unterrichtet war, ist nicht bekannt.
167 Christian Lävin Sander: Gargantua und Pantagruel. Umgearbeitet nach Rabelais von Dr. Eckstein. Bd. 3. Hamburg 1787, S. 25 f., Hervorh. i. Orig.
2.2 Karl von Knoblauch
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2.2 Karl von Knoblauch 2.2.1 Forschungsüberblick Sieht man von Edgar Bauers unter dem Pseudonym ‚Martin von Geismar‘ veröffentlichter Textsammlung Bibliothek der Deutschen Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts 168 ab, lässt sich die erste ausführliche Veröffentlichung zu Karl von Knoblauch im Jahr 1882 in der Allgemeinen Deutsche Biographie 169 finden. Dieser Artikel stamt von Knoblauchs Enkel, dem studierten Philosophen und Familienforscher Karl Damian Achaz von Knoblauch, und fasst trotz seiner Kürze die Lebensstationen Knoblauchs grob zusammen. Von demselben Autor stammt auch der acht Jahre später erscheinende Abschnitt zu Karl von Knoblauch in dessen Kurzfassung der Familiengeschichte des Hauses von Knoblauch.170 Diese basiert auf einer ausführlichen, nur im Manuskript vorhandenen Familiengeschichte171 und beruht hauptsächlich auf den Akten des im Hessischen Staatsarchiv Marburg befindlichen Familienarchivs. Trotz der familiären Nähe des Autors ist diese, was den Teil zu Karl von Knoblauch anbelangt und abgesehen von einigen altersbedingten Eigenheiten, objektiv verfasst. Fritz Mauthner erwähnt Knoblauch im dritten Band von Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande von 1922 nur am Rande und im Zusammenhang mit Jakob Mauvillon (1743–1794): Er sei „ein eifriger, etwas zudringlicher Freidenker“ gewesen, der es jedoch „nicht weiter als zu Aphorismen, mit denen er seine Briefe füllt“,172 gebracht habe. Sehr ausführlich, aber stark durch die Vorgaben der marxistisch-leninistischen DDR-Forschung beeinflusst und verklärt, findet Knoblauch in zwei 1958 und 1961 erschienenen Artikeln173 des Philosophen Otto Finger Beachtung. Finger macht das Anliegen seiner Arbeiten direkt zu Beginn deutlich: Die „bürgerliche[] Philosophiegeschichtsschreibung“ habe ein „unwissenschaftliche[s] und apologetische[s]“ Bild der „nationalen philosophischen Vergangenheit“174 konstruiert, das es zu revidie168 Martin von Geismar (Hg.): Bibliothek der Deutschen Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts. Bd. 5. Leipzig 1847; Vgl. außerdem: Mulsow: Radikalaufklärung (wie Anm. 25, S. 6), S. 205. 169 Karl Damian Achaz von Knoblauch: Knoblauch, Karl von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 16 (1882), S. 307–308. 170 Ders.: Kurzgefaßte Geschichte der Familie Knoblauch von und zu Hatzbach. Marburg 1890. 171 Ders.: Ausführliche Geschichte der Familie von Knoblauch zu Hatzbach. Nach den archivalischen Papieren derselben und andern Quellen zusammengestellt. Germanisches Nationalmuseum (= GNM) Hs59285. 172 Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bd. 3. Aufklärung in Frankreich und in Deutschland. Die große Revolution. Hildesheim 1985 (ND. d. Ausg. Stuttgart/Berlin 1922), S. 452. 173 Otto Finger: Karl von Knoblauch – ein deutscher Atheist des 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 6.6 (1958), S. 924–948; Ders.: Der Kampf Karl von Knoblauchs gegen den religiösen Aberglauben. In: Gottfried Stiehler (Hg.): Beiträge zur Geschichte des vormarxistischen Materialismus. Berlin 1961, S. 255–297. 174 Ders.: Knoblauch (wie Anm. 173), S. 924.
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ren gelte. Mit Ausnahme von Mauthner und Geismar habe sie das Wirken Knoblauchs unterschlagen. Der umfangreiche Überblick über Knoblauchs Schriften solle ihn in „die Auseinandersetzung zwischen der religiös-idealistischen Ideologie des Feudalsystems und die Ideologie des auch in Deutschland um seine Emanzipation kämpfenden Bürgertums“175 einordnen und rehabilitieren. Entsprechend der vorgegebenen Erkenntnisziele spiegele sich auch „[i]n Knoblauchs gesellschaftlichen Anschauungen […] die Fäulniskrise des Feudalsystems wider.“176 Finger schreibt ganz im Stil der alten Ideengeschichte, wenn er postuliert, bei Knoblauch liege „[d]er materialistischen Spinozainterpretation […] vornehmlich die Einwirkung mechanischmaterialistischer Ideen zugrunde; nicht zuletzt ermöglichten sie es, die pantheistische Mystifikation zu beseitigen.“ Sie, die Ideen, könnten jedoch nicht „in einer höheren Synthese“ auftreten und müssten daher „in eklektischem Nebeneinander“177 verharren. Ohne ideologischen Ballast fällt das Urteil des französischen Germanisten Jean Mondot aus. Durch seine religionskritischen Ideen sei Knoblauch in Deutschland als Avantgarde des Denkens seiner Zeit anzusehen.178 Was seine politische Philosophie anbelangt, ist für Mondot hier ebenso Knoblauchs Antiklerikalismus bestimmend, der auf der Ablehnung aller kirchlich-religiösen Dogmen fuße. Wie auch im Falle der Religion sei der anerzogene blinde Gehorsam des Bürgers charakteristisch für den vorherrschenden Fürstendespotismus.179 Auch weitere Punkte von Knoblauchs politischen Positionen, wie sein Verständnis von Majestät, die alleine beim Volk liege, oder seine Einstellung zum stehenden Heer, fasst Mondot ausführlich zusammen. Auch wenn Knoblauchs Ideen insgesamt nicht sehr neuartig oder originell seien, sondern eine Synthese vieler existierender Meinungen seiner Zeit darstellten, würde er dennoch den Fürsten raten, das vorhandene monarchische System aufzugeben, um ihre Legitimation wiederzuerlangen.180 Im Zusammenhang mit Mondots ausführlicher Untersuchung des Publizisten Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739–1792), für dessen Zeitschriften Knoblauch einen Großteil der Artikel beisteuerte, geht Mondot ebenfalls auf Knoblauch ein. Außerdem findet sich in diesem zweibändigen Werk eine Zusammenstellung der Artikel, welche Mondot Knoblauch zuordnen konnte.181
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Finger: Knoblauch (wie Anm. 173, S. 43), S. 925. Ebd., S. 947. Ebd., S. 948. „Knoblauch se situe donc dans le domaine des idées religieuses à l’avant-garde de la pensée de son temps en Allemagne.“ Jean Mondot: Carl von Knoblauch zu Hatzbach ou les audaces religieuses et politiques d’un „esprit fort“. In: Roland Krebs (Hg.): Recherches nouvelles sur l’Aufklärung. Reims 1987 (Actes du 18e Congrès de l’Association des Germanistes de l’Enseignement Supérieur, Reims 27–28 avril 1985), S. 43–59, hier S. 49. 179 Vgl. ebd., S. 50. 180 Vgl. ebd., S. 53. 181 Jean Mondot: Wilhelm Ludwig Wekhrlin. Un publiciste des lumières. 2 Bde. Bordeaux 1986.
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Knoblauchs Atheismus, der aus einer Kombination aus Rationalismus, Materialismus und Agnostizismus entstanden sei, betrachtet Daniel Minary in seiner 1993 erschienenen Dissertation zum Atheismus in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts.182 Auch Minary hebt hervor, dass es Knoblauchs vorrangiges Interesse gewesen sei, die Menschen von Unwissenheit, Angst, Täuschung, Einbildung und anthropomorphistischen Ideen zu befreien.183 Eher aus einer historischen Perspektive beschreibend, widmet Rolf Haaser Karl von Knoblauch ein Kapitel seiner Dissertation. In diesem betrachtet er ausführlich Knoblauchs Rolle in Bahrdts Deutscher Union und dem Prozess gegen seinen Freund, den Gießener Professor Georg Friedrich Werner (1754–1798).184 Neben diesem Kapitel sind auch zwei weitere Artikel Haasers185 für die Einordnung Knoblauchs in das Gießener Umfeld hilfreich. Gleiches gilt für weitere Artikel zum Großraum Gießen bzw. Bahrdts Deutscher Union in diesem Gebiet.186 Für Jonathan Israel fällt Karl von Knoblauch aufgrund seiner Interpretation und Aneignung der spinozistischen Philosophie eindeutig in seine Definition von ‚Radical Enlightenment‘. Ausführlich wird Knoblauch im dritten, 2011 erschienenen Band Democratic Enlightenment 187 behandelt. Leider unterläuft Israel der Fehler, dass er Artikel, die aufgrund ihres Inhalts und ihres Stils eindeutig Knoblauch zugeordnet werden können (und von Jean Mondot auch korrekt zugeordnet worden 182 Daniel Minary: Le problème de l’athéisme en Allemagne à la fin du „Siècle des Lumières“. Dissertation, Strasbourg, Univ. des Sciences Humaines, 1992. Paris 1993. Zu Knoblauch besonders S. 482–520. 183 Vgl. ebd., S. 519 f. Ebenso in einem 1998 erschienenen Artikel: Daniel Minary: Deutsche religionskritische Aufklärung als praktische Philosophie. In: Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 45), S. 419–432, hier S. 428 f. 184 Rolf Haaser: Spätaufklärung und Gegenaufklärung. Bedingungen und Auswirkungen der religiösen, politischen und ästhetischen Streitkultur in Gießen zwischen 1770 und 1830. Darmstadt 1997 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 114), S. 51–57. 185 Ders.: Vom unbezwinglichen Leichtsinn des Enthusiasmus für Aufklärung. Karl Friedrich Bahrdt in Gießen. In: Gerhard Sauder u. Christoph Weiß (Hg.): Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792). St.Ingbert 1992 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 34), S. 179–226; Ders.: Sonderfall oder Paradigma? Karl Friedrich Bahrdt und das Verhältnis der Spätaufklärung und Gegenaufklärung in der hessisch-darmstädtischen Universitätsstadt Gießen. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Band 2: Frühmoderne. Weimar u.a. 1997, S. 247–285. 186 Günter Mühlpfordt: Europarepublik im Duodezformat. Die internationale Gemeinschaft „Union“ – Ein radikalaufklärerischer Bund der Intelligenz (1786–1796). In: Helmut Reinalter (Hg.): Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa. Frankfurt a.M. 1983, S. 319– 364; Hans Haering: Drei Herborner Mitglieder von Bahrdts „Deutscher Union“. In: Donnert (Hg.): Europa (wie Anm. 185), S. 323–346; Christine Haug: Das Verlagsunternehmen Krieger 1725–1825. Die Bedeutung des Buchhändlers, Verlegers und Leihbibliothekars Johann Christian Konrad Krieger für die Entstehung einer Lesekultur in Hessen um 1800. Frankfurt a.M. 1998. 187 Jonathan Israel: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790. Oxford u.a. 2011. – In den vorangehenden beiden großen Bänden Radical Enlightenment und Enlightenment Contested kommt Knoblauch aufgrund des betrachteten Zeitraums von 1650–1750 bzw. 1670–1652 nicht vor.
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sind188 ), nicht diesem, sondern Wilhelm Ludwig Wekhrlin zuschreibt.189 Teilweise fällt das Urteil des Autors auch etwas zu verkürzt und reißerisch aus: Knoblauch sei ein „Göttingen-trained jurist of lesser noble extraction from Nassau-Dillenburg, prominent also as head of an underground group of opponents of princely authoritarianism at Giessen“.190 Dennoch ist Israels Darstellung des hohen Stellenwertes von Spinozas Schriften für Knoblauch nicht falsch. Dieses Bild hätte sogar noch deutlicher gezeichnet werden können, wären die Passagen, die fälschlich Wekhrlin zugeschrieben wurden, dem richtigen Autor zugeordnet worden. Sieht man von Israels strikter Definition der radikalen Aufklärung ab, bieten seine äußerst quellenreichen Darstellungen einen Anhaltspunkt zur groben Einordnung von Knoblauchs Positionen. Von der neueren deutschsprachigen Forschung wird Karl von Knoblauch erstmals 2012 ausführlich von Martin Mulsow in einem Artikel191 betrachtet. In diesem werden die wichtigsten Punkte von Knoblauchs materialistischer Philosophie zusammengefasst und mit dem in der Aetiologie dargestellten System seines Freundes Georg Friedrich Werner verglichen. Mulsows Artikel zeichnet sich auch dadurch aus, dass er auf einige von Knoblauchs Artikeln zurückgegriffen hat und nicht – was in den vorher genannten Studien oft der Fall war – auf die von Edgar Bauer (‚Geismar‘) gesammelten Schriften. Mulsows knapper Abschnitt zu Knoblauch im Handbuch Grundriss der Geschichte der Philosophie 192 hingegen ist aufgrund einiger Fehler bzw. Ungenauigkeiten193 mit entsprechendem Vorbehalt zu lesen.
188 Vgl. Mondot: Wekhrlin (wie Anm. 181, S. 44), S. 725–728. 189 So ist es beispielsweise nicht Wekhrlin, der Knoblauch zustimmt, Spinozas Tractatus Theologico-Politicus sei dessen bestes und nützlichstes Werk, da dieser Artikel von Knoblauch selbst stammt. Vgl. Israel: Democratic Enlightenment (wie Anm. 187, S. 45), S. 699, ebenso S. 701, 702, 714, 715, 755. 190 Ebd., S. 754. 191 Martin Mulsow: Karl von Knoblauch und Georg Friedrich Werner als Materialisten. Eine Gießen-Dillenburger Konstellation. In: Mulsow u. a. (Hg.): Radikale Spätaufklärung (wie Anm. 24, S. 6), S. 91–112. 192 Ders.: Deismus. Radikale Religionskritik. In: Helmut Holzhey u. Vilem Mudroch (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie/Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nordund Osteuropa: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 5.1. Basel 2014, S. 345–369, hier S. 368 f. 193 Dillenburg gehörte nicht zu Hessen, sondern seit 1739 zu Nassau-Diez, dessen Fürsten sich ab 1702 als Fürsten von Nassau-Oranien bezeichneten. Folglich war Knoblauch kein hessischer, sondern Beamter des Fürstentums Nassau-Diez mit zentralem Regierungssitz in Dillenburg. Knoblauchs erster Artikel im Teutschen Merkur erschien zwar im April 1787, jedoch erschienen im vorherigen Jahr in Wekhrlins Das graue Ungeheur bereits 37 Artikel aus der Feder Knoblauchs. Ebenfalls verband Knoblauch seine Religionskritik nicht mit der physiokratischen Wirtschaftstheorie, da Knoblauch nicht zu den Anhängern des Physiokratismus gezählt werden kann und sich in einigen Artikeln sogar ausdrücklich gegen dieses System ausspricht.
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Marco Bunge-Wiechers befasst sich mit Karl von Knoblauch in einem 2015 zu Wielands Agathodämon erschienenen Artikel194 mit Knoblauchs Wunderkritik. An Rande setzt sich Bunge-Wiechers jedoch auch knapp mit Knoblauchs politischen Positionen auseinander und stellt korrekt fest, dass Knoblauch nicht, wie Otto Finger schrieb, aus seiner Ablehnung des Feudalismus zum Atheisten wurde. Ebenfalls betont der Autor, dass sich die Rolle Spinozas im Knoblauch’schen Denken auf die Religions- und Wunderkritik beschränkt habe und keinen Einfluss auf dessen politisches Verständnis gehabt habe. Auch sei es nicht möglich, Knoblauch als ‚Demokraten‘ zu bezeichnen, denn „trotz Ablehnung eines absolutistischen Despotismus wird keinesfalls einer ‚Demokratie‘ das Wort geredet“.195 Eine sehr quellenorientierte Darstellung von Knoblauchs politischen Positionen zur Zeit der Französischen Revolution bietet Gerhard Katschnigs Artikel196 von 2016. Katschnig konzentrierte sich zwar hauptsächlich auf die Politisch-philosophischen Gespräche Knoblauchs, zog jedoch auch eine Vielzahl anderer Werke und Artikel heran. Während Knoblauch nach Urteil des Autors zwar bezüglich der naturwissenschaftlichen Aussagen „gelegentlich […] über den Konsens des Erlaubten hinaus“ reiche, so bleibe Knoblauch doch durch seine „utopiehaften Ausführungen […] – unveränderliche Grundsätze der Natur, individuelles Recht auf Existenz und Vervollkommnung, bürgerliche Gesellschaft als friedliche, wenngleich interessengeleitete Vereinigung freier, aufgeklärter Menschen – […] innerhalb der spätaufklärerischen Riege im gesellschaftspolitischen Grundrauschen der Revolutionszeit.“197 In seinem ebenfalls 2016 erschienenen Artikel vergleicht Falk Wunderlich die Philosophie Karl von Knoblauchs mit acht weiteren Materialisten dieser Zeit. Wunderlich hebt bezüglich Knoblauchs Wunderkritik die Bedeutung Spinozas und Kants hervor. Knoblauchs Verweis auf Kant sei, so der Autor, überraschend; dennoch wäre es nach Knoblauch der Königsberger Philosoph gewesen, der die lange metaphysische Debatte zwischen Dualisten und Materialisten beendet hätte. Was Knoblauchs Wunder- und Religionskritik anbelangt, bleibe jedoch Spinoza dessen wichtigster Bezugspunkt:198 „What Knoblauch most importantly adopts from Spinoza, though, and ascribes to Kant is a kind of property dualism“.199 Diesem Dualismus zufolge ist der Mensch aus zwei Perspektiven betrachtet einerseits durch seine Ausdehnung 194 Marco Bunge-Wiechers: Wielands Agathodämon als Apologie des Trugs. In: Michael Multhammer (Hg.): Verteidigung als Angriff. Apologie und Vindicatio als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs. Berlin u. Boston 2015 (Frühe Neuzeit 197), S. 201–228. 195 Ebd., S. 210. 196 Gerhard Katschnig: Ein tuskulanischer Dialog im Augenschein der französischen Revolution – Karl von Knoblauchs Politisch-philosophische Gespräche. In: Franz Eybl (Hg.): Häuser und Allianzen. Bochum 2016 (Das Achtzehnte Jahrhundert und Österreich 30), S. 137–148. 197 Ebd., S. 147. 198 Vgl. Falk Wunderlich: Materialism in Late Enlightenment Germany: A Neglected Tradition Reconsidered. In: British Journal for the History of Philosophy 24.5 (2016), S. 940–962. url: http: //dx.doi.org/10.1080/09608788.2015.1116434 [22. 01. 2016], hier S. 12 f. 199 Ebd., S. 14.
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‚Körper‘ und andererseits – im Bezug auf die Selbstwahrnehmung – ‚Seele‘. Weder Seele noch Körper können unabhängig voneinander existieren. Dennoch sind physische und geistige Eigenschaften heterogen und können sich weder verursachen noch identisch sein. Hierdurch unterscheide sich Knoblauchs spinozistischer Dualismus, so Wunderlich, von anderen materialistischen Theorien, die davon ausgingen, dass sich Bewegung und Denken gegenseitig verursachen.200 2.2.2 Biographie „Ich kam in die Welt wie jeder von uns“,201 beginnt Karl von Knoblauch am 22. Oktober 1791 seine knappe Autobiographie. Mag seine Aussage anfangs als Koketterie erscheinen, entstammt Karl von Knoblauch (auf Hatzbach) doch dem hessischen Uradel,202 so scheint diese Zurückhaltung trotz aller Selbststilisierung doch seinem Charakter und Selbstverständnis als philosophischer Autor zu entsprechen. Mit seiner Lebensbeschreibung wollte er sich seinem Briefpartner, Jakob Mauvillon, mit welchem er seit August desselben Jahres in Kontakt stand, vorstellen, um diesem „als Psycholog“ zu beschreiben, wie er „durch den Gang meiner Schicksale auf den Gang meiner Ideen“203 gekommen sei. Knoblauch wurde am 3. November 1756 in Dillenburg (Nassau-Diez)204 geboren. Sein Vater, Georg Philipp Reinhard (1705–1759), war von Hessen in oranische Dienste gekommen und hatte dort zuletzt das Amt des Oberjägermeisters inne. Er starb drei Jahre nach Karls Geburt, am 26. Dezember 1759 in Dillenburg. Knoblauchs Mutter, Auguste Johanette Friederike von Röder (1714–1792), übernahm die Vormundschaft über ihn und seine jüngere, am 2. November 1787 geborene Schwester Auguste Wilhelmine Henriette Sophie. Knoblauch besuchte in Dillenburg zuerst das öffentliche lateinische Pädagogium und ab Mai 1773 die Hohe Schule zu Herborn, wo er Mathematik und Philosophie studierte. In Herborn kam er bei Professor Wolrad Burchardi (1734–1793) unter, einem Freund seines Vaters und der Familie,205 der seit 1768 das erste Ordinariat der juristischen Fakultät in Herborn bekleidete.206 200 Wunderlich: Materialism (wie Anm. 198, S. 47), S. 15. 201 Friedrich Wilhelm Mauvillon (Hg.): Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzoglich Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Deutschland [Braunschweig] 1801, S. 197. 202 Sofern nicht anderweitig angegeben, sind die Daten entnommen: Knoblauch: Kurzgefaßte Geschichte (wie Anm. 170, S. 43); Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser. Bd. 3. Gotha 1902. 203 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201), S. 197. 204 Vgl. Anmerkung 193, Kap. 2.2.1. 205 Vgl. Knoblauch: Ausführliche, GNM Hs59285 (wie Anm. 171, S. 43), p. 24v. – Nach dem Tod des Vaters half Burchardi beispielsweise Karls Mutter bzgl. der Vormundschaft über ihre Kinder. 206 Vgl. Hans Haering: Die Spätzeit der Hohen Schule zu Herborn (1742–1817). Zwischen Orthodoxie und Aufklärung. Frankfurt a.M. u. New York 1994 (Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 615), S. 182–185.
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In seiner Autobiographie schreibt Knoblauch, er habe eine fromme und gut gemeinte Erziehung erhalten, die jedoch nicht zu seiner „individuellen Natur“ gepasst hätte. Wurde er gezwungen, Dinge zu tun, die ihm „unnütz und mithin unbillig“ erschienen, sei ihm dies als „Einschränkungen“ seiner „natürlichen Freyheit“ vorgekommen: „Früh empfand ich einen heftigen Widerwillen gegen alle Arten des Zwangs, deren Nothwendigkeit mir nicht einleuchtend gemacht werden könnten.“207 Hierunter seien vor allem gesellschaftliche Verpflichtungen und Erwartungen gefallen, denen er sich angeblich verweigerte, wenn er „vorher erklärt hatte, daß ich diesen Nachmittag lieber spazieren gehen, oder im Virgil lesen oder schreiben wollte […]. Man hatte mich – das sagte mir mein Gefühl – gezwungen etwas ohne allen Nutzen für mich und andre, gegen meine Neigung zu thun, eine alberne Rolle zu spielen, wozu ich heute keinen Beruf fühlte.“208 Entsprechend habe er sich über die größere Freiheit gefreut, die er zu Beginn seines Studiums in Herborn erlangte.209 Burchardi scheint jedoch mit ihm nicht zufrieden gewesen zu sein, denn in Briefen an dessen Mutter beschwerte er sich, Knoblauch würde ihn meiden, „während des Tischgebets nicht selten eine lächerliche Miene annehmen und auf seinem Zimmer und in seinen Büchern sich Unordnung zu schulden kommen lassen.“210 Im Frühjahr 1775 wechselte Knoblauch nach Gießen, um dort an der Universität Jurisprudenz zu studieren. Für die dortigen Spannungen nach dem Weggang Bahrdts, was 1776 in einem Studentenaufstand und der Gründung einer Gegenuniversität gipfeln sollte,211 scheint sich Knoblauch nicht interessiert zu haben. Inspiriert von Wielands Dialogen des Diogenes von Sinope (1770) habe er stattdessen „fast den ganzen Sommer wie ein Einsiedler, in einem reizenden Wäldchen verfanthasirt[].“212 Vor Ausbruch des Aufstandes wechselte er im April 1776 ein weiteres Mal die Universität, diesmal nach Göttingen. An diesem Ort habe sich, so berichtet er Mauvillon, seine philosophische Einstellung herausgebildet: „Hier entwickelten sich meine Begriffe. Hier ward ich Skeptiker“.213 Besonders scheint er in Göttingen von Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) beeinflusst worden zu sein. Knoblauch taucht nicht nur bis zu seinem Studienende auf den Hörerlisten von Lichtenbergs Vorlesungen auf,214 sondern scheint auch von Lichtenbergs religionskritischen Aussagen 207 208 209 210 211 212 213 214
Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201), S. 197, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 198, Hervorh. i. Orig. Vgl. ebd. Knoblauch: Ausführliche, GNM Hs59285 (wie Anm. 171, S. 43), p. 24v. Vgl. Haaser: Sonderfall (wie Anm. 185, S. 45), S. 253 f. Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201), S. 198. Ebd., S. 199. Vgl Hans-Joachim Heerde: Das Publikum der Physik. Lichtenbergs Hörer. Göttingen 2006 (Lichtenberg-Studien 14), S. 737 f. – In den gleichen Veranstaltungen saß auch August Wilhelm Rehberg (1757–1836), sodass sich Knoblauch und Rehberg wohl persönlich kannten, auch wenn es keinen Beleg gibt, dass beide über ihr Studium hinaus in Kontakt blieben. Knoblauch erwähnt Rehberg in nur einem seiner Artikel von 1787 („Mich freut es, vor kurzem zu sehen, daß auch
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beeinflusst worden zu sein.215 Ebenfalls lässt sich Karl von Knoblauch auf den Hörerlisten August Ludwig von Schlözers (1735–1809) nachweisen.216 Auch ist belegt, dass Knoblauch nach Abschluss des Studiums weiterhin Kontakt zu Schlözer hielt. So schrieb Schlözer nach seiner Italienreise „[a]uch an den Kanzleiassessor Karl v. Knoblauch auf Hatzbach aus Dillenburg […], daß seine Reise ‚bis zum Miracle‘ glücklich verlaufen sei. Knoblauch ließ ihm Zollregister zukommen, die im ‚Briefwechsel‘ veröffentlicht wurden.“217 Vermutlich wird er auch bei Christoph Meiners (1747–1810) und dessen Schüler Michael Hißmann (1752–1784) studiert haben. Auf letzteren bezieht er sich mehrmals und zitiert ihn zweimal sogar sehr ausführlich.218 Da von Knoblauchs Lektüre zu seiner Studienzeit kaum etwas bekannt ist, bleibt
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der Herr Geheime Kanzleysekretair Rehberg in Hannover, den ich für einen der tiefsinnigsten teutschen Philosophen halte, in seiner neuesten Schrift über das Verhältniß der Methaphysik zu der Religion, welche überhaupt mit seltener Freymüthigkeit geschrieben ist, p. 160, u.s. den Optimismus deswegen verwirft, weil es ihm an bündigen Beweisen sehr fehlt, und, weil er ausserdem noch unauflöslichen Einwürfen ausgesetzt ist.“ [Karl von Knoblauch]: Etwas von Naturgesetzen. In: Der Teutsche Merkur 3. Vierteljahr (1787), S. 197–203, 4. Vierteljahr (1787), S. 82–94, hier S. 202 f., Hervorh. i. Orig.), war aber nachweißlich im Besitz von zwei Büchern Rehbergs: 1. Abhandlungen über das Wesen und die Einschränkungen der Kräfte. Leipzig 1779 (Vgl. Verzeichnis derjenigen Bücher welche der HE: Hauptmann Werner zu Gießen erhalten hat, Nr. 5, HStAM 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 37); 2. Untersuchungen über die Französische Revolution. Hannover u. Osnabrück 1. Teil: 1792, 2. Teil: 1793 (Vgl. Bücher, welche H[err] Assessor von Bodé hat haben sollen, Nr. 49, Hessisches Staatsarchiv Marburg (= HStAM) 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 37). Bei Lichtenberg, wie auch bei Knoblauch „heißt es, dass die Menschen ‚Götter‘ nach ihrem eigenen ‚Bilde‘ schaffen, diese also ‚menschliche Eigenschaften‘ haben.“ (Ulrich Dierse: Georg Christoph Lichtenberg. In: Holzhey u. Mudroch (Hg.): Grundriss (wie Anm. 192, S. 46), S. 265– 275, hier S. 272) Diesen Anthropomorphismus lehnen beide ab: „Wahrlich, meine Freunde, eure anthropomorphistische Theologie ist klarer Non-Sens!“ ([Karl von Knoblauch]: Die Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos. Germanien [Nürnberg] 1790, S. 33). Vgl. Mulsow: Knoblauch (wie Anm. 191, S. 46), S. 93. Martin Peters: Altes Reich und Europa: der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809). Münster 2003 (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit 6), S. 315. Im von Mulsow erwähnten Zusammenhang (Mulsow: Knoblauch (wie Anm. 191, S. 46), S. 95) zitiert Knoblauch Hißmann ebenfalls in: [Karl von Knoblauch]: Ueber Wunder. In: Der Teutsche Merkur 2 (1787), S. 85–91, hier S. 89. Außerdem nicht wörtlich: „Ich gebe mit Ihnen Hismann Beifall, daß man Wunder, die nur von Einem bezeugt werden, gar nicht glauben könne.“ (Ders.: Crates an Hippias über Mirakel. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 13,1 (1790), S. 41–44, hier S. 43, Hervorh. i. Orig.) In zwei seiner Monographien bezieht er sich sehr ausführlich auf Hißmann. So zieht er ihn beispielsweise heran, um seiner Aussage, es gäbe keine historische Erzählung oder Legende, die zweifellos als erwiesen angesehen werden könnte, zu belegen: Ob es über dem Menschen noch denkende Wesen gebe, sei Sache der philosophischen Spekulation. Das Problem bestünde alleine darin, ob sie „‚mit uns in irgend einer bemerkbaren Verbindung stehen, und irgend einen Einfluß auf uns äussern? das ist das Problem!—‘ sagte Hißmann.“ (Ders.: Ueber Sylphen, Gnomen, Salamander und Ondinen. Einige Gespräche. Zwei Teile. Weissenfels u. Leipzig 1793, S. 69 f., Hervorh. i. Orig.) Über drei Seiten erstreckt sich das Zitat aus Hißmanns 1777 erschienenem Werk Psychologische Versuche, ein Beitrag zur esoterischen Logik: Wie die Sehkraft des Auges hingen Sensibilität, Bewusstsein, Gedächtnis usw. nur von der Verbindung gewisser Teile des Körpers ab. Es sei sonderbar, sich statt der Denkorgane einen im Menschen wohnenden Geist vorzustellen. (Vgl. Ders.: Ueber den Pan und sein Verhältnis zum Sylvanus. Eine antiquarisch-philosophische Abhandlung. Biel [Gießen] 1794, S. 67–70).
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lediglich seine Aussage gegenüber Mauvillon, dass er 1777 einen von dessen Aufsätzen über die Beweiskraft von Wundern219 „mit Entzücken las, und wieder las“.220 Nachdem Knoblauch sein Studium im Herbst 1778 abgeschlossen hatte, ging er zurück nach Dillenburg und wurde noch im gleichen Jahr, am 29. Dezember, als Auditor in der Dillenburger Kanzlei angestellt. In Dillenburg lebte er im Haus des wohlhabenden Bruders seiner Mutter, Viktor August Wilhelm von Röder, der nach dem Tod von Knoblauchs Vater das Amt des Oberjägermeisters übernommen hatte.221 Das Verhältnis zu diesem Onkel scheint sehr gespannt gewesen zu sein, da die Philosophie dieses Mannes, wie Knoblauch Mauvillon berichtet, „die erklärte Gegenfüßlerin der unsrigen“222 gewesen sei. Aufgrund seiner finanziellen Abhängigkeit war er jedoch gezwungen, sich mit seinem Onkel zu arrangieren. Nach seiner autobiographischen Darstellung hat er sich nach seiner Rückkehr aus Göttingen – wie schon in seiner Jugend – gegen gesellschaftliche Verpflichtungen gesträubt: Man habe seine „affectirte […] Zurückhaltung, und meinen Hang zur Einsamkeit für unerträgliche Bisarrerie“ gehalten. „Auch bemerkte man misfällig, daß ich (um des Sonntags ungestört arbeiten zu können) fast nie in die Kirche gieng. Man verlangte daß ich mein Betragen entweder ändern oder rechtfertigen sollte. Es zu ändern hatte ich keine Lust. Rechtfertigen ließ es sich, aber nur vor einem Tribunale von vorurtheilsfreien Philosophen.“223 Beinahe vier Jahre nach seiner Anstellung in Dillenburg wird Knoblauch am 7. August 1782 zum Kanzleiassessor und am 14. Juni 1786 zum Justizrat befördert.224 In diesem Jahr – nach seiner Beförderung zum Justizrat, wie es scheint – beginnt er auch, seine ersten Artikel anonym zu veröffentlichen. Sie erscheinen in Das graue Ungeheur, einer Zeitschrift Wilhelm Ludwig Wekhrlins, in dessen Publikationen die Mehrzahl von Knoblauchs Artikeln abgedruckt werden sollten. Die Vorsichtsmaßnahme, die meisten Artikel und später auch seine Bücher anonym erscheinen zu lassen, wird Knoblauch ergriffen haben, da er persönliche Anfeindungen von Seiten der Orthodoxie als Antwort auf seine radikalen Angriffe auf die Religion befürchtete. In einer solchen Situation, die ihm „beynahe große Verdrüßlichkeiten zugezogen hätte“, scheint sich Knoblauch nach eigenen Angaben im Jahr 1789 gesehen zu haben: „Ein Buchhändler […] hatte einem hiesigen vornehmen Theologen“ eines von Knoblauchs anonym veröffentlichten Werken zukommen lassen, „mit der Aeußerung, daß sie von mir sey. Dieser hielt über das paradoxe Phänomen Conferenz mit der theol. Fakultät zu Herborn (wo unsre hohe Schule ist, 2 Stunden von hier). Ein Professor warnte in einer öffentlichen Vorlesung 219 Jakob Mauvillon: Von Genius des Sokrates, eine philosophische Untersuchung. In: Deutsches Museum 6 (1777), S. 481–510. 220 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 205. 221 Vgl. Knoblauch: Ausführliche, GNM Hs59285 (wie Anm. 171, S. 43), p. 25r. 222 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 199. 223 Ebd., S. 203 f. 224 Vgl. Knoblauch: Ausführliche, GNM Hs59285 (wie Anm. 171, S. 43), p. 25r.
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2 Historischer und biographischer Überblick
seine Zuhörer vor diesem – wie er es nannte! – Skandal, und gab kurz hernach zwey bis zum Ekel alberne Programmen heraus“.225 Auch wenn sich Knoblauch wohl, wie Haering meint, bezüglich der Vorlesung und der beiden gegen ihn gerichteten Schriften geirrt haben muss, zeugt dies dennoch von der latenten Bedrohung, die Knoblauch für seine Existenz empfunden zu haben scheint. Zumal es sich sehr wahrscheinlich bei dem von Knoblauch erwähnten „hiesigen vornehmen Theologen“ um den Dillenburger Oberkonsistorialrat und Ephorus des Pädagogiums Wilhelm Heinrich Seel (1725–1793) gehandelt hat,226 welcher 1789227 die Einführung des Preußischen Religionsediktes 1788 begrüßte.228 Gleiches tat ein reaktionärer Flügel im nahegelegenen Gießen. Hier hatte sich schon vor Knoblauchs Studienbeginn eine Opposition gegen den damals dort lehrenden Bahrdt gebildet. Diese Gruppe, welche aus Professoren der dortigen Universität und vor allem aus dem „Gießener Regierungs- und Konsistorialdirektor Ludwig Adolf Christian von Grolman“ bestand, bekämpfte Bahrdt „in einer kaum noch überschaubaren Fülle von Veröffentlichungen“ und hörte selbst nach dem Weggang Bahrdts nicht auf, gegen ihn und „seine Parteigänger zu Felde zu ziehen.“229 In den späten 1780er-Jahren, vor allem angesichts der Französischen Revolution, entwickelte Grolman „in seinen Artikeln über das Wirken der ‚Deutschen Union‘ in Deutschland die These von der Verschwörung der Illuminaten und tritt entschieden für deren politische Verfolgung und die Beschränkung der Lehr- und Pressefreiheit ein. Der Atheismusvorwurf erweist sich nun als ein probates Mittel“,230 um Gegner zu diskreditieren.231 Zu einem Parteigänger Bahrdts war Knoblauch 1788 durch den Beitritt zu dessen Korrespondenzgesellschaft, der Deutschen Union, geworden.232 In einem Brief an Bahrdt vom 17. Juli 1788 schreibt der begeisterte Knoblauch, dass er alle seine „Kräfte angewendet habe, um das unselige Reich des Aberglaubens und der Vorurtheile zu bekämpfen […]. Philosophie war allezeit das Idol meines Herzens, die Gespielin schon meiner frühen Tage, mein Trost im Unglücke, die Freude meines 225 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 194 f., Hervorh. i. Orig. 226 Vgl. Haering: Herborner (wie Anm. 186, S. 45), S. 334; Cuno: Seel, Wilhelm Heinrich. In: Allgemeine Deutsche Biographie 33 (1891), S. 575–576. 227 Wilhelm Heinrich Seel: Briefe über das Preußische Religionsedict, Aufklärung, Toleranz und Preßfreyheit. Frankfurt u. Leipzig 1789. 228 Vgl. Haug: Verlagsunternehmen (wie Anm. 186, S. 45), S. 113. 229 Haaser: Sonderfall (wie Anm. 185, S. 45), S. 249. 230 Haug: Verlagsunternehmen (wie Anm. 186, S. 45), S. 135. 231 Zu Grolmans publizistischem Vorgehen, vgl. außerdem: Rolf Haaser: „…als wenn ich ein Erzaufklärer wäre…“ Der Gießener Regierungsdirektor und reaktionär-konservative Publizist Ludwig Adolf Cristian von Grolman. In: Christoph Weiss u. Wolfgang Albrecht (Hg.): Von ,Obscuranten‘ und ,Eudämonisten‘. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. St.Ingbert 1997 (Literatur im historischen Kontext 1), S. 305–365. 232 Vgl. zur Deutschen Union: Mühlpfordt: Europarepublik (wie Anm. 186, S. 45); Christine Haug: Die Bedeutung der radikal-demokratischen Korrespondenzgesellschaft „Deutsche Union“ für die Entstehung von Lesegesellschaften in Oberhessen im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Donnert (Hg.): Europa (wie Anm. 185, S. 45), S. 299–321; Haering: Herborner (wie Anm. 186, S. 45); Haaser: Sonderfall (wie Anm. 185, S. 45); Haug: Verlagsunternehmen (wie Anm. 186, S. 45).
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Lebens – das Ziel meiner Bestrebungen.“ Seine Sympathiebekundung für die Ziele der Deutschen Union ist eine Erklärung seines Aufklärungsverständnisses: „Ich liebe und ehre Ihren Zweck, Aufklärung und Tugend – ohne welche für Menschen kein Glück, keine dauernde Zufriedenheit stattfindet, – selbst durch außerordentliche Mittel, deren Güte der Erfolg rechtfertigen wird, zu befördern. Ein Feind des Glaubenszwanges, ein Feind des Fürstendespotismus, wie Sie, meine Herren! ja, wahrlich das bin ich!“233 Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass Knoblauch auch in seiner Heimatstadt versuchte, nicht als philosophischer Schriftsteller aufzufallen. Hierzu ließ er seine Korrespondenz über den Gießener Buchhändler und ebenfalls Mitglied der Deutschen Union, Johann Christian Konrad Krieger (1746–1825),234 laufen, wie er einem unbekannten Adressaten 1788 mitteilte: „Sollte es Ew. Wohlgeb. je gefallen, mir zu antworten, so bitte ich, den Brief an den jüngern Krieger in Gießen zu senden, der ihn mir zustellen läßt. Ich lebe in Abdera,235 und um mich der Indiscretion eines neugierigen Publici und neugieriger Hausleute zu entziehen, correspondire ich durch Schlupfwege.“236 Knoblauchs Mitgliedschaft in der Deutschen Union währte kein Jahr: Nachdem bekannt wurde, dass Bahrdt der Initiator und Kopf der Korrespondenzgesellschaft war und außerdem – für den auf seine Privatsphäre bedachten Knoblauch besonders fatal – Listen der Mitglieder an die Öffentlichkeit gerieten, scheint er seinen Austritt erklärt zu haben. Dies geht aus einem Brief des ebenfalls aus Dillenburg stammenden Heinrich Carl Dapping (1761–1795), dessen Vater Johann Christian Dapping (1715–1791) als Dillenburger Kanzleidirektor Knoblauchs Vorgesetzter war,237 an Bahrdt hervor:
233 Degenhard Pott: Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner, und anderer, an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt. Seit seinem Hinweggange von Leipzig 1769 bis zu seiner Gefangenschaft 1789. Nebst andern Urkunden. Bd. 4. Leipzig 1798, S. 158, Hervorh. i. Orig. 234 Zu Krieger, dessen Verlagsbuchhandlung, seiner Beteiligung an der Deutschen Union und den sonstigen Aktivitäten in Gießen, Marburg und Umgebung vgl. Haug: Verlagsunternehmen (wie Anm. 186, S. 45); Dies.: „Die Liebe zum Lesen verbreitet sich überhaupt in unserer Gegend“. Formelle und informelle Formen von literarischer Geselligkeit in der Universitätsstadt Gießen zur Zeit der Französischen Revolution. In: Peter Albrecht, Hans Erich Bödeker u. Ernst Hinrichs (Hg.): Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750–1820. Tübingen 2003 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 27), S. 20–41; Dies.: Weibliche Geselligkeit und literarische Konspiration im Vorfeld der Französischen Revolution – Über das Projekt zur Gründung einer Frauenlesegesellschaft in Gießen 1789/1790. In: Holger Zaunstöck u. Markus Meumann (Hg.): Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung. Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 21), S. 177–192. 235 Die Bürger Abderas, die sog. Abderiten, hatten in der antiken griechischen Welt den Ruf, kleinstädtisch und nicht sehr intelligent zu sein. Sie sind mit den heutigen Schildbürgern bzw. der fiktiven Stadt Schilda vergleichbar. 236 Karl von Knoblauch an Unbekannt, 8. August 1788, HStAM 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 36, Hervorh. i. Orig. 237 Vgl. Haering: Herborner (wie Anm. 186, S. 45), S. 326.
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2 Historischer und biographischer Überblick Auch betrübt mich die Nachricht sehr, daß G. R. Baldinger und der durch ihn geworbene238 würdige von Knoblauch sich von der U. trennte. Die erste Veranlassung dazu war es, daß die U. zuerst auf eine hämische Art bekannt wurde. Hrn. von Knoblauchs, einen durch Talente und Herz gleich verehrungswürdigen Mann, werde ich nach allen meinen Kräften wieder mit der U. zu vereinigen suchen.239
Während sich die Deutsche Union noch im gleichen Jahr auflöste, scheint Knoblauch weiterhin mit dem in Herborn lehrenden Heinrich Carl Dapping bzw. den beiden anderen dort lebenden Mitgliedern der Deutschen Union, Jan Daniel (von) Bodel (1760–1802, nach dem Geburtsnamen seiner Mutter auch ‚von Schorer‘) und Johann Ernst Wisseler (1753–1821), in Kontakt geblieben zu sein. Dies geht jedenfalls aus einem undatierten Brief hervor, der jedoch aufgrund seines Inhaltes in die zwei letzten Lebensjahre Knoblauchs eingeordnet werden kann. In diesem schreibt Knoblauch einem unbekannten Empfänger, er hätte diesem gerne aus dem Teutschen Merkur die Fortsetzung des Dialogs Die Wälder 240 sowie eine Abhandlung von sporadischen Dörfern241 geschickt, doch „ich habe sie noch nicht zurükerhalten. Ich warf sie in den – Abyssus der Gelehrsamkeit zu Herborn, welcher [nach
238 Dass Knoblauch durch den geheimen Rat und Arzt Ernst Gottfried Baldinger (1738–1804) geworben wurde, ist nicht sicher und kann sich auch um eine falsche Information Dappings handeln. Generell kann Knoblauch Baldinger aus Göttingen gekannt haben, wo dieser ab 1783 Professor für Medizin war und Direktor der dortigen Klinik, was jedoch aufgrund des gesellschaftlichen Unterschieds und der verschiedenen Fachrichtungen doch sehr unwahrscheinlich ist. Möglicherweise war Baldinger, der ab 1785 in Marburg wohnte (Vgl. Magnus Schmid: Baldinger, Ernst Gottfried. In: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 550–551, hier S. 550), der unbekannte Adressat, an welchen der im vorigen Absatz genannte Brief gerichtet war und der wiederum davon zeugt, wie sehr sich Knoblauch Ende der 1780er-Jahre bemühte, mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten: „Verzeihen Sie, Verehrungswürdiger Vater! / Daß ein Ihnen Unbekannter, verdienstloser Sterblicher an Sie schreibt, und Ihnen ein Buch schikt. Er hat an diesem Buche großen Antheil, und wünscht mit Ihnen näher bekannt zu werden. – / Meine Artikel in diesem Hefte habe ich durch Striche || kenntlich gemacht. / Das ist Alles, was ich Ihnen sagen darf. Ihre Zeit ist zu edel, zu kostbar, als daß ich – einen Augenblik davon rauben dürfte, den Sie der heilenden Kunst, im physischen und moralischen Sinne, schuldig sind. / Ewig / Ihr Verehrer / v. Knoblauch. / Dillenburg, den 8. Aug. / 1788 / Sollte es Ew. Wohlgeb. je gefallen… [weiter: wie oben]“ (Karl von Knoblauch an Unbekannt, 8. August 1788, HStAM 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 36, Hervorh. i. Orig.). Mit Baldinger stand Knoblauch im Oktober 1791 wegen einer Erkrankung seiner Mutter in Kontakt, wobei dieser Brief ohne große persönliche Vorstellung eingeleitet wird („Ich nehme mir die Freiheit, mich in einer Gesundheitsangelegenheit meiner Mutter an Ew. Wohlgeb. zu wenden.“ Karl von Knoblauch an Ernst Gottfried Baldinger, 14. Oktober [1791], HStAM 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 36), sodass angenommen werden kann, dass beide in der Zwischenzeit Bekanntschaft gemacht hatten. 239 Vgl. Degenhard Pott: Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner, und anderer, an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt. Seit seinem Hinweggange von Leipzig 1769 bis zu seiner Gefangenschaft 1789. Nebst andern Urkunden. Bd. 5. Leipzig 1798, S. 190. 240 Karl von Knoblauch: Politisch philosophische Gespräche. Fortsetzung des Gespräches: Die Wälder. In: Der neue Teutsche Merkur 2 (1792), S. 306–319. 241 Ders.: Politisch philosophische Gespräche. Erstes Gespräch. Die Wälder. In: Der neue Teutsche Merkur 1 (1790), S. 297–307.
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dem Beispiel des Orkus, Anm. i. Orig.] nichts, was er einmal verschlungen hat, wieder von sich gibt.“242 Eine weitere Bekanntschaft Knoblauchs, die ebenfalls durch die Deutsche Union zustande gekommen sein könnte, ist der seit 1778 in Gießen lehrende Professor für Kriegswissenschaften und Ingenieurhauptmann Georg Friedrich Werner (1754–1798).243 Namentlich erwähnt Knoblauch ihn erstmals in einem Anfang 1791 erschienenen Artikel, in welchem er Werners im darauf folgendem Jahr erscheinendes Werk Versuch einer allgemeinen Aetiologie 244 ankündigt: „Wie stolz macht mich mein Schiksal. Voltaire pflegte zu sagen: Ich bin’s, der Newtons Philosophie in Frankreich bekannt machte; ich darf ihm nachsprechen: Durch Mich wird die Analyse der Natur angekündigt.“245 Werner stilisierte sich selbst als Selbstdenker. Er sah es nicht nur als Vorteil an, sich nicht auf andere naturwissenschaftliche Werke zu beziehen, sondern betonte sogar, diese nicht einmal genau zu kennen, da er „sich lieber auf sein eigenes Denken und seine eigenen Experimente“246 verlasse. Dies spiegelt auch der Titel des Werkes wieder: Der letztendlich gewählte Name Aetiologie bedeutet ‚Ursachenlehre‘, denn sein Werk müsse nichts weniger, so Werner, als „angeben, warum der Baum aus dem Saamenkorn entsteht, welch Verhältniß er zum Thier, zum Stein habe“.247 Zwar verstand sich Werner mit seinem Werk „als treibende Kraft in Zeiten der politischen und wissenschaftlichen Revolution“,248 in welchem „die bisherige Scheidemauer zwischen Metaphysik und Physik verschwindet, beide machen Eine grosse Wissenschaft aus.“249 Letztendlich erzielte es jedoch keinen revolutionären Paradigmenwechsel und blieb ohne größere Wirkung.250 Auf Karl von Knoblauch hatte das Werk seines Freundes dennoch Einfluss.251 242 Karl von Knoblauch an Unbekannt, [zwischen September 1792 und September 1794], GStA PK VIII. HA. Rep. C Nr. 187 Bd. 33, p. 165. 243 Vgl. Karl Damian Achaz von Knoblauch: Werner, Georg Friedrich. In: Allgemeine Deutsche Biographie 42 (1897), S. 49–50. 244 Georg Friedrich Werner: Versuch einer allgemeinen Aetiologie. Giesen 1792. 245 [Karl von Knoblauch]: Da liegt der Apfel. In: Paragrafen 1 (1791), S. 228–240, hier S. 239, Hervorh. i. Orig. – Dass es sich bei Analyse der Natur um einen von Knoblauch ausgedachten Arbeitstitel zu Werners Werk handelt, wird im darauffolgenden Satz deutlich: „Ob der Herr Verfasser seinem Werk diesen Nahmen geben wird; das weis ich nicht: er ist ein bloßes Spiel meiner Idee.“ Der von Werner gewählte Arbeitstitel lautete philosophische Naturlehre. Vgl. Werner: Aetiologie (wie Anm. 244), S. XIV. 246 Mulsow: Knoblauch (wie Anm. 191, S. 46), S. 98. 247 Werner: Aetiologie (wie Anm. 244), S. XIX. 248 Haaser: Sonderfall (wie Anm. 185, S. 45), S. 266. 249 Werner: Aetiologie (wie Anm. 244), S. XIII. 250 Vgl. Mulsow: Knoblauch (wie Anm. 191, S. 46), S. 98; Haaser: Sonderfall (wie Anm. 185, S. 45), S. 266. 251 Dies geht v. a. aus einem Artikel ([Karl von Knoblauch]: Versuch eines konzentrirten Beweises für die Substantialität und Einfachheit des Ich. In: Philosophisches Archiv 1,3 (1792), S. 114– 120) und einer Monographie (Ders.: Ueber einige Grundbegriffe der Ontologie, Kosmologie und Grössenlehre. Ein philosophischer Kommentar von einem Eklektiker. Weissenfels u. Leipzig 1794) hervor, deren Autorschaft Knoblauchs mir erstmals zuzuordnen möglich war. Zu Werners Einfluss siehe Kapitel 3.1.2.
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2 Historischer und biographischer Überblick
Mit Beginn der Französischen Revolution verschärfte sich die allgemeine Lage für die Sympathisanten von Bahrdts Deutscher Union ein weiteres Mal. Knoblauch geriet durch seine 1791 begonnene Korrespondenz mit dem in Braunschweig lebenden Mauvillon in den Fokus der Untersuchungen angeblich revolutionärer Umtriebe. Ein Schreiben Mauvillons, welcher aufgrund eines abgefangenen Briefes an den Kasseler Bibliothekar Ernst Wilhelm Cuhn (1756–1809) von Hessen-Kassel überwacht wurde,252 an Knoblauch wurde in diesem Zusammenhang ebenfalls abgefangen. Es wurde mit einem Begleitschreiben nach Dillenburg weitergeleitet, „um mich darüber zu vernehmen: ob ich die Grundsätze meines Korrespondenten billige, in welchem Fall ich (man höre!) als ein gefährlicher Mann von meinem Posten zu removiren sei“,253 wie Knoblauch nach seinem Verhör im Teutschen Merkur berichtete. Ebenfalls in Kassel wurden Briefe und Pakete an Knoblauch von dessen Berliner Verleger Friedrich Gottlieb Unger (1753–1804) beschlagnahmt.254 Knoblauch löste durch seine Artikel eine Debatte über das Recht und Unrecht des Abfangens von Briefen aus: Er verurteilte das staatliche Abfangen von Briefen als schwerwiegenden Eingriff in das Eigentum der Bürger, dessen Schutz eigentliche Aufgabe des Staates sei und stellt diesen Vorgang mit einem Straßenraub gleich.255 Ein Buch, das ein Land auf seinem Transport passiere und dabei geschlossen bleibe, könne diesem Land keinen Schaden zufügen und müsse deswegen nicht konfisziert werden.256 Er sei außerdem „alt und klug genug geworden […], um der Aufsicht und Vormundschaft eines Staates über den Inhalt oder die Pertinenzstücke meiner Bibliothek ganz und gar entbehren zu können“.257 Im hessisch-darmstädtischen Gießen erhielt unterdessen der dortige Konsistorialdirektor Grolman durch fürstliches Reskript gegen revolutionäre Propaganda vom April 1792 die Möglichkeit, gegen ihm unliebsame Personen vorzugehen. Den darauffolgenden Denunziationen fiel auch Werner zum Opfer.258 Zum Verhängnis wurden ihm zwei Absätze der Einleitung seiner Aetiologie, in welcher er „schlechte Fürsten“ und „solche Menschen“ verurteilt, „die es wagen, gute Fürsten zu mißleiten, zu belügen, der Wahrheit den Zutritt zu versperren, um unter mißbrauchter hö252 Vgl. Knoblauch: Ausführliche, GNM Hs59285 (wie Anm. 171, S. 43), p. 25r. 253 Karl von Knoblauch: Etwas über das Recht eines Staats, Briefe, die an ihn nicht geschrieben sind, zu erbrechen und zu unterschlagen. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1791), S. 139–142, hier S. 142. 254 Vgl. Ders.: Anzeige. In: Braunschweigisches Journal 4.12 (1791), S. 490–491, hier S. 491. 255 Vgl. Ders.: Recht eines Staats (wie Anm. 253), S. 140; Ders.: Eine Anekdote die bekannt zu werden verdient. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1791), S. 443–446, hier S. 445. 256 Vgl. Ders.: Erklärung des Justizraths von Knoblauch, über den Aufsatz im ersten St. der Wiener Zeitschrift, betitelt: über das Recht und Nichtrecht, Briefe zu erbrechen und zu unterschlagen. In: Schleswigsches ehem. Braunschweigisches Journal 2 (1792), S. 110–114, hier S. 113 – Knoblauch berief sich nicht, wie Haaser schreibt, auf das Briefgeheimnis, sondern auf das im 18. Jahrhundert weitaus schwerer wiegende Eigentumsrecht. Vgl. Haaser: Spätaufklärung (wie Anm. 184, S. 45), S. 54. 257 Knoblauch: Anekdote (wie Anm. 255), S. 445, Hervorh. i. Orig. 258 Vgl. hierzu, sofern nicht anders angegeben, Haaser: Sonderfall (wie Anm. 185, S. 45), S. 264–268.
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herer Autorität, – selbst zu despotiren, und schändlichem Egoismus zu fröhnen.“259 Deswegen sei er bereit, gegen diese feindlichen Kräfte zu kämpfen, wobei dieser folgende Absatz ebenso aus der Feder Knoblauchs hätte stammen können: Gegen solche böse Fürsten, gegen solche gefährlichen Gleißner, so wie gegen alle Art von Unwahrheit und Vorurtheile – sey es auch hinter tausendjährige Altäre des Herkommens verschanzt! – kurz gegen alles, was dem Glück der Menschheit im Einzeln oder im Allgemeinen entgegen strebt, will ich dann auch meine Kräfte, bis auf den letzten Lebenshauch, verwenden.260
Die Aetiologie wurde nach der Anzeige Grolmans verboten und die Untersuchung der Universität übergeben. Da das entsprechende Gutachten der Untersuchung in seinem Urteil zu mild ausfiel, wurden – nach Beschwerde eines Grolman nahestehenden Professors – vom Landgrafen Ludwig X. von Hessen-Darmstadt (1753–1830) im Juli 1792 Partikulargutachten aller Universitätsprofessoren angefordert. Diese wurden am 24. Januar 1793 zu einem abschließenden Gutachten zusammengefasst. Der Landgraf hob daraufhin das Verbot auf und beließ es bei einer Verwarnung Werners. Obwohl die Angelegenheit mit der Entscheidung des Fürsten eigentlich beendet war, wurde sie im Dezember 1793 durch einen Artikel261 Knoblauchs in der Zeitschrift Minerva erneut entfacht. In diesem verarbeitete er die Partikulargutachten der Gießener Professoren sinngemäß in ihrem Inhalt und zitierte teilweise sogar wortwörtlich. „Damit hatte der Vorschlag Grolmans zur Ausforschung der Gesinnung jedes einzelnen Professoren anhand seiner Partikularvoten, […] sich auf ironische Weise gegen die zu seiner Fraktion zu rechnenden Professoren gewendet“, indem nun „deren intolerante und reaktionäre Haltung“262 öffentlich kritisiert wurde. Knoblauch wurde Anfang 1794 in Dillenburg, diesmal auf Wunsch der Universität Gießen, erneut vernommen. Wie aus dem Vernehmungsprotokoll263 und aus einem Artikel264 hervorgeht, in welchem Knoblauch im Mai 1794 die ihm gestellten Fragen und seine Antworten veröffentlichte, wollte man in Gießen wissen, ob Knoblauch wirklich der Autor des Artikels gewesen sei und ob er diesen aus eigenem Antrieb oder auf fremde Veranlassung geschrieben habe. Außerdem war man daran interessiert, von wem Knoblauch die Partikulargutachten erhalten habe und ob er noch im Besitz dieser sei. Als Beweggrund gab Knoblauch an, dass er das Verbot der Aetiologie und den Verlust bedauert habe, der Werner und dessen Verleger dadurch entstanden sei. Da jeder Gelehrte das „eigenmächtige Verbot“ der Universität „gleich Anfangs“ bedauert habe, freute sich Knoblauch umso mehr über die Aufhebung des Verbots 259 Werner: Aetiologie (wie Anm. 244, S. 55), S. XXXVIII f. 260 Ebd., S. XXXIX. 261 [Karl von Knoblauch]: Nachricht von dem merkwürdigen Proceß des Professor Werners der Universität Gießen, wegen seiner herausgegebenen Aetiologie. In: Minerva 8 (1793), S. 477–511. 262 Haaser: Sonderfall (wie Anm. 185, S. 45), S. 268. 263 Vollständig abgedruckt in Anmerkung 36 bei: Ebd., S. 268 f. 264 Karl von Knoblauch: Beytrag zur Gelehrten-Geschichte. In: Minerva 2 (1794), S. 366–371.
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durch den Landgrafen. In seinem Artikel fährt er, die beiden kompromittierenden Absätze aus der Aetiologie sinngemäß aufgreifend, fort: „Warum sollte das Publicum mein Vergnügen darüber nicht mit mir theilen, in einem Zeitalter, wo, so sehr übertrieben, so viel Böses auf die Rechnung der Fürsten gesetzt wird, was doch aus einer ganz andern Quelle fließt, und weit mehr das Werk eigennütziger und herrschsüchtiger Privatpersonen ist?“265 Die Gutachten habe er außerdem nur aus dem Grund veröffentlicht, da es sich schließlich nicht um „Staatsgeheimnisse“, sondern lediglich um „Privaturtheile einzelner, nicht untrüglicher, Gelehrten, über den Inhalt eines philosophischen Buches“ gehandelt habe: „Ihre Bekanntmachung ist also doch auch kein Verbrechen? Oder will man sie etwa nur deswegen nicht bekannt werden lassen, weil man – sich ihrer schämt?“266 Die einzige Option, die der Universität nach Knoblauchs Befragung blieb, war, allen Angehörigen der Universität, welche die Möglichkeit zur Weitergabe der Urteile gehabt hatten, einen Eid abzunehmen. Lediglich einige mit Werner befreundete Professoren gaben zu, diesem ihre Gutachten freiwillig gezeigt zu haben. „Grolman war dann auch entsprechend aufgebracht über den leichtfertigen Einsatz des Eides, durch den praktisch jede weitere Ermittlung in der Sache unmöglich gemacht worden war.“267 Knoblauchs Mutter starb am 8. Mai 1792 in Dillenburg. Um seinem Onkel zu entgehen, reiste er kurz danach ins anhaltische Bernburg, wo seine Schwester seit 1783 mit dem dortigen Landkammerrat Ludwig Heinrich Friedrich von Brandenstein verheiratet war. Von Bernburg aus versuchte Knoblauch, der in Dillenburg im Januar 1792 zusätzlich zu seiner Stelle als Justizrat noch Bergrat geworden war, sich für ein Amt in Hessen-Kassel zu bewerben. In zwei Schreiben an den Landgrafen Wilhelm IX. (1743–1821) vom 27. Juni und 12. Juli 1792 betont Knoblauch seine hessische Abstammung: Ich bin meiner Herkunft nach ein Hesse, und stolz darauf, es zu sayn. Eine glänzende Fortuna, welche mein verstorbener Vater, in der Qualität eines Oberjägermeisters und Kammerherrn, in Diensten Sr. Hoheit des Prinzen von Oranien, [Wilhelm V. (1748–1806), Anm. M. L.] machte, entfernte mich von meinem Vaterlande, und ich fand in den Diensten dieses vortreflichen Fürsten eine Entschädigung für diese, mir allzeit schmerzliche, Privation.
Sein Fachgebiet sei „außer einigen Theilen der Rechtswissenschaft, besonders Politik und Statistik.“ Nebenher habe er sich auch als Schriftsteller „in verschiedenen wißenschaftlichen Fächern“ einen Namen gemacht und „sehr vortheilhafte Zeugnisse, die dem Publico zum Theil bekannt sind, von den ersten Schriftstellern der Nation, und selbst von sehr bedeutenden Staatsmännern erhalten, deren Urtheil von allgemein anerkannten Gewicht ist.“ Knoblauch konnte sich daher vorstellen, als Landrat in die Dienste des Fürsten zu treten, würde aber auch, „wenn fürjezt keine 265 Knoblauch: Beytrag (wie Anm. 264, S. 57), S. 369 f. 266 Ebd., S. 370, Hervorh. i. Orig. 267 Haaser: Spätaufklärung (wie Anm. 184, S. 45), S. 55.
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solche Stelle offen sayn sollte, den Wunsch nicht unterdrükken können, bisdahin in den Staaten Ew. Hochfürstl. Durchlaucht auf andere Art placirt zu werden.“268 Dass der eigentliche Grund für den versuchten Wechsel des Dienstherren und -landes jedoch nicht patriotischer Art war, geht aus dem ersten Brief an Knoblauchs zukünftige Frau Wilhelmine von Bodé (1766–1826, auch: Bode) vom 24. Juli 1792 hervor, welche er einige Wochen zuvor in Ballenstedt, wo sie Hoffräulein war, kennen gelernt hatte. In diesem schreibt er ihr, dass es zwar keine finanziellen Gründe gebe, die ihn von einer Heirat abhalten würden. Doch sei es ihm „wegen Familienverhältnißen, die mich nicht wenig géniren – unmöglich.“ Möglicherweise, so deutete er an, könne „die Lage sich vielleicht bald zu meinem Vortheil ändern […], und ich – in andere Dienste, wo ich aus dem Wirkungskreise gewißer Personen entrückt sayn werde, übergehen“.269 Auch an Mauvillon schreibt Knoblauch, dass ihm nach dem Tod seiner Mutter nun in meiner Heimath nichts übrig geblieben [sei], was mich interessiren, und an den Ort meiner bisherigen nicht selbstgewählten, und meiner natürlichen Neigung ganz widersprechenden Bestimmung fesseln könnte. Abhängigkeit von antiphilosophischen Geschöpfen, ist im Grunde noch unerträglicher, als der Druck des politischen Despotismus, der mit seinen hundert Augen doch nie das innere Detail unserer vie privée – wovon unser Glück oder Elend so sehr abhängt – belauschen, und uns bey jedem Schritte überschleichen kann.270
Knoblauchs Selbstverständnis – oder Selbststilisierung – als philosophischer Schriftsteller, der auf die Öffentlichkeit verzichtet, um sich in Ruhe seiner Philosophie zu widmen, wird auch aus dieser Passage an Mauvillon deutlich: Äußerlich möchte er nicht als Schriftsteller auffallen, was ihm im Bezug auf den „politischen Despotismus“ – die staatlichen Behörden – ermöglicht, seine Privatsphäre zu wahren und seinen philosophischen Gedanken nachzugehen. Diese Freiheit bietet ihm sein näheres Umfeld – sei es sein Onkel oder die Kleinstadt Dillenburg – nicht, auch wenn er versucht, seine außerberufliche Tätigkeit zu verbergen. Für den Philosophen Knoblauch ist also selbst ein Land, in welchem „politische[r] Despotismus“ herrscht, bezogen auf seine Freiheit, ein kleineres Übel als die Anforderungen, die von gesellschaftlicher Seite an ihn gestellt werden. Entsprechend ist auch der Text zu verstehen, welchen er dem dritten Abschnitt seiner Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos vorangestellt hat: Was, wenn seine Schrift „auf das Pult eines kritischen Schäkers“ gelangen, der Knoblauchs Aussagen missbilligt? „[D]u wirst deine Tinte versprüzen, um mir zu beweisen, daß ich die meinige übel angewandt habe; ich aber – ich hülle mich in die Nacht meiner Zelle, um der Natur der Dinge nachzudenken. / Warum liesest du, was für Deinesgleichen nicht geschrieben ward.“271 268 Karl von Knoblauch an Landgraf Wilhelm IX. von Hessen-Kassel, 12. Juli 1792, HStAM 17d Knoblauch Nr. 27, Hervorh. i. Orig. 269 Karl von Knoblauch an Wilhelmine von Bodé, 24. Juli 1792, HStAM 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 36, Hervorh. i. Orig. 270 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 216 f., Hervorh. i. Orig. 271 Knoblauch: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 85 f.
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In Hessen-Kassel wurde Knoblauchs Gesuch mit der Begründung, man habe keine offenen Stellen, abgelehnt. Ob ebenfalls die Affäre um die in Kassel abgefangenen und unterschlagenen Briefe und Pakete bei der Ablehnung eine Rolle gespielt hat, ist nicht zu rekonstruieren. Vermutlich wird aber auch diese Angelegenheit – und nicht nur die fehlenden Mittel – ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass man in Kassel nicht gut auf Knoblauch zu sprechen war, hatte er doch in Artikeln offen und scharf die dortige Regierung aufgrund ihres Vorgehens kritisiert. Auch die Fürsprache des ehemals in hessischen, dänischen und russischen Diensten stehenden Diplomaten, des Freiherrn Achatz Ferdinand von der Asseburg (1721–1797), der weiterhin gute Beziehungen zum Kasseler Hof hatte272 und für die Verbindung von Knoblauch und Wilhelmine verantwortlich war,273 konnte Knoblauch nicht helfen. Die Hochzeit fand an Wilhelmines Geburtstag, am 23. September 1792, in Ballenstedt statt. Knoblauch legte Wert darauf, dass „die Sache am einfachsten, geschwindesten, und mit Vermeidung des lieben Ceremoniells von statten“274 gehe. Entsprechend schnell waren beide Anfang Oktober wieder in Dillenburg. Wie in seiner Kindheit und Jugend hat sich Knoblauch auch nach seiner Heirat geweigert, am gesellschaftlichen Leben seiner Heimatstadt teilzunehmen, was dort nicht gut aufgenommen wurde. Hierdurch haben er und seine „Ehehälfte“, wie aus einem Brief an einen unbekannten Adressaten hervorgeht, sich „unschuldiger Weise in […] Dillenburg viele Feinde(‼) dadurch zugezogen, daß wir uns dem Wirbel der guten Gesellschaft nicht so ohne alle Einschränkung Preis geben, wie es dem Vernehmen nach die Landessitte, oder das unfürdenkliche Herkommen mit sich bringt.“275 Kurz nach seiner Hochzeit, am 5. Oktober 1792, hielt sich Knoblauch in Frankfurt am Main auf, möglicherweise um mit seiner Frau Besorgungen für ihren neuen Haushalt zu tätigen.276 Hier gerät er in unmittelbare Nähe zum Geschehen der Französischen Revolution. Die Revolutionstruppen hatten im linksrheinischen Gebiet im September Speyer und am 5. Oktober Worms eingenommen. In der freien Reichs272 Vgl. Achatz Ferdinand von der Asseburg u. Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des Freiherrn Achatz Ferdinand von der Asseburg. Berlin 1842, S. 344–371. 273 Karl von Knoblauch an Wilhelmine von Bodé, 3. September 1792, HStAM 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 36: „Dem Hrn. Minister von Aßeburg, und seiner Frau Gemahlin Excellenz, bitte ich meine aufrichtige Ehrfurcht und gänzliche Ergebenheit zu versichern. Aus beßern Händen, als den ihrigen, hätte ich nie eine Gattin empfangen können.“ 274 Karl von Knoblauch an Wilhelmine von Bodé, 19. September 1792, HStAM 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 36, Hervorh. i. Orig. 275 „Einige, welche nach dem berühmten virgilischen Verse: Felix, qui potuit rerum cognoscere causas! immer löblich bemüht sind, die Ursachen der sich ihnen darstellenden Phänomene, von vorne oder von hinten (a priori, oder a posteriori, je, nachdem es angeht,) zu ergründen, haben in unserm Hochmuth, d. h. in einer Qualität, welche einst den Fall Lucifers und seiner Bataillonen Veranlaßte, eine ihnen befriedigende Erklärung dieser Erscheinung gefunden.“ Karl von Knoblauch an Unbekannt, [zwischen September 1792 und September 1794], GStA PK VIII. HA. Rep. C Nr. 187 Bd. 33, p. 165v, Hervorh. i. Orig. – Die Unterstreichungen des Originals wurden übernommen und der Schriftwechsel von Kurrent zur lateinischen Schreibschrift durch Kursiven verdeutlicht. 276 Vgl. Knoblauch: Ausführliche, GNM Hs59285 (wie Anm. 171, S. 43), 25r.
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stadt wünschte, so Knoblauchs Bericht, „[f]ast alles […] den Waffen der Freiheitsverfechter glücklichen Fortgang.“ Auch wenn es bis zur Einnahme von Mainz am 21.Oktober noch etwas mehr als zwei Wochen dauern sollte, rechnete man in Frankfurt schon Anfang Oktober mit dem baldigen Angriff auf die Stadt. In Mainz sei „die Erbitterung gegen den Kurfürsten [Friedrich Karl Joseph von Erthal (1719–1802), Anm. M. L.], welcher eigentlich der Lärmtrompeter zum Kreuzzuge gegen die Franken war, außerordentlich groß.“277 Wieder zurück in Dillenburg, am 15. Oktober, zeigt sich Knoblauch verwundert über die militärischen Erfolge der Franzosen gegen „zwei mächtige feindliche Heere“, Hessen und Preußen, die „sich mit Verlust zurückziehen“ mussten, „ohne dasjenige in Frankreich wieder hergestellt zu haben, was gewisse Leute bald Ordnung, bald die Rechte des Königs nennen“. Zwar schenkte er Gerüchten über einen europäischen Feldzug gegen Frankreich im Frühjahr 1793 keinen Glauben, dennoch war er der Meinung, „daß ganz Europa besser thun wird, sich nicht um das Privatinteresse einiger Despoten willen den Uebeln eines fürchterlichen Krieges auszusetzen, der sich – über kurz oder lang unfehlbar mit dem Untergange der Despoten endigen wird.“278 Gegen Ende des Jahres rückt der Kriegsschauplatz immer näher Richtung Dillenburg. Obwohl die französischen Truppen von den „venalen [käuflichen, Anm. M. L.] Zeitungsschreiber immer als regellose Horden undisciplinirter und ungeübter Fanatiker“ beschrieben würde, sei man „[m]it dem Betragen der fränkischen Truppen […] in Maynz […] in Frankfurt und im Nassauischen sehr zufrieden. Sie begehen keine Excesse, und ihre Aufführung kontrastirt sehr zu ihrem Vortheile mit der jener Barbaren aus Ungarn und Servien und Sklavonien, welche vorigen Sommer“ an die französische Grenze geschickt wurden, „um in Verbindung mit den übrigen combinirten Truppen, Deutschland, ich weiß nicht, von welchen Uebeln zu erlösen.“279 In Bezug auf die Vorrede der Aetiologie und auf materialistische Art kritisiert er die Fürsten und ihre schlechten Berater, die durch ihr Privatinteresse verführt „einem Schicksal entgegen[eilen], welches in der anfangslosen Reihe der (von Ewigkeit her verketteten) Ursachen und Wirkungen längst vorbereitet war, und nun unvermeidlich ist.“ An dieser Sache würden, so Knoblauch, jedoch nicht die Schriftsteller, die auf diesen Umstand hinweisen, die Schuld tagen, denn sie „seyn nicht die Urheber, sondern die Propheten ihres Schicksals. Was können wir dafür, wenn sie unsern Weissagungen, deren Gründe aus der Natur der Dinge genommen sind, nicht eher Gehör geben wollten, bis sie die Erfüllung derselben mit ihren Augen sehen mußten?“280
277 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 221. 278 Ebd., Hervorh. i. Orig. – Auf Knoblauchs politische Einschätzung der Französischen Revolution und ihrer Auswirkungen wird genauer in Kap. 3.4.2.1 eingegangen. 279 Ebd., S. 226. 280 Ebd., S. 227, Hervorh. i. Orig.
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Um sich vom Zustand der Rheinlande persönlich ein Bild machen zu können und „die von unseren Zeitungsschreibern so gerühmten Progressen derjenigen Mächte in der Nähe zu sehen, welche die jetzt so wenig galanten Franken les déspotes coalisés zu nennen belieben“, unternimmt Knoblauch im Frühjahr des folgenden Jahres eine Reise „bis in die Gegend von Landau“.281 Ein Bericht dieser Reise wurde in Johann Wilhelm von Archenholz’ (1743–1812) Zeitschrift Minerva veröffentlicht.282 Von Frankfurt ausgehend reiste er in die damals noch neutrale Pfalz; über Heidelberg nach Mannheim. In seinem Artikel hebt er besonders die in der Mannheimer Garnison eingerichteten militärischen Gärten hervor: Durch diese profitiere einerseits der Soldat aus ökonomischer Sicht und werde andererseits „durch die Kultur des Feldes an die sanften Sitten und nützlichen Beschäftigungen der Landleute [gewöhnt]. Er wird vom Müssiggang, der in Friedenszeiten unter starken Garnisonen so gewöhnlich ist, und von denen daraus entspringenden Lastern, in etwas abgehalten.“283 Den Schlossgarten Schwetzingens vergleicht er begeistert mit dem Pantheon in Rom, da dort „allen Göttern […] der Zugang gestattet“ sei: „Unweit dieses Tempels des grossen Allah, und nicht weit vom Grabe seines Propheten Mahomet, stehen die Tempel der Götter Griechenlands und Roms.“ Vor allem letztere haben es Knoblauch angetan und er lobt den pfälzischen Churfürsten Karl Theodor (1724–1799), denn dieser sei „selbst, seiner Orthodoxie unbeschadet, […] dem Kult dieser Gottheiten ergeben.“284 Seinem eigenen literarischen Interesse entsprechend hebt Knoblauch ebenfalls den Waldtempel, den Ort Pans bzw. des Fauns, hervor. Der Mainzer Kurfürst, welcher 1792 vor dem Einmarsch der Franzosen nach Aschaffenburg geflohen war, sei, so Knoblauch, äußerst unbeliebt. Dies sei schon drei Jahr zuvor so gewesen. Für den Aufklärer steht hierbei fest, dass die Ursachen hierzu im Versuch, die Aufklärung zu unterdrücken, zu suchen sei: Unter andern mögen wohl einige nicht übelgemeinte – aber doch, wenn der Geist des Zeitalters eine gewisse Richtung und Energie bekommen hat, in ihren Wirkungen fast immer schädliche, als nützliche – Vorkehrungen und Veranstaltungen, die Freiheit im Denken, Lesen, Schreiben, und Sprechen, einzuschränken, zu diesen Ursachen gehört haben.285
Noch sei es jedoch möglich, aus dieser negativen Entwicklung zu lernen: „Aus den Ereignissen dieser Zeit lassen sich wenigstens große heilsame Lehren ziehen, und der Schuzgeist uneres Vaterlandes möge es wollen, daß man sie wirklich daraus 281 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 228, Hervorh. i. Orig. 282 Aus diesem Bericht geht hervor, dass es sich mindestens um Knoblauchs zweite Reise in die „Gegenden, die zu den schönsten von Deutschland gehören“, (Karl von Knoblauch: Reise in die Rheinländer im Frühling des Jahres 1793. In: Minerva 7 (1793), S. 17–31, hier S. 18) handeln muss. Auf seine erste Rheinreise scheint Knoblauch drei Jahre zuvor, 1790, gegangen zu sein, denn nach eigenen Angaben hat er dort die Aufnahme des Grafen von Artois, dem späteren Karl X. Philipp (Frankreich) (1757–1836), beobachten können. Vgl. ebd., S. 26. 283 Ebd., S. 22 f. 284 Ebd., S. 23, Hervorh. i. Orig. 285 Ebd., S. 26 f., Hervorh. i. Orig.
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ziehet!“286 Deutlicher – und in seinem Urteil pessimistischer – ist Knoblauch in seinem Brief an Mauvillon: Ironisch stellt er fest, dass „trotz aller Religionsedicte, Katechismen, Glaubenskommissionen, und trotz alles [sic.] Bücherverbots, das verteufelte Raisonniren und Grübeln selbst unter den niedern Volksklassen überhand […] nehmen.“287 Um diese Aufklärung zu unterdrücken, sei es aber nicht sinnvoll, „[m]it dem Prügel drein zu schlagen oder gar die Leute todt zu schlagen, wie Wurmser dem armen Leuchsenring288 thun lies, das scheint wenigstens nicht rathsam zu seyn“,289 da dies die Menschen nur irritieren und nicht umstimmen würde. Dennoch sei es Knoblauch „[n]ach der jetzigen Lage der Dinge“ lieber, „daß die Franken aus Deutschland fort wären“ und ihre Gegner sie als eine „unabhängige Republik anerkennen, und einer Fehde ein Ende machen möchten, deren Folgen unabsehliches Elend seyn wird.“290 In Darmstadt hatte Knoblauch zwar die Erlaubnis, die Landgräfin Luise Henriette Karoline von Hessen-Darmstadt (1761–1829) zu besuchen, nahm dies jedoch nicht wahr. Stattdessen traf er sich hier mit seiner Schwägerin Caroline von Bodé (ca. 1759–1828). Diese war zu dieser Zeit Hofdame und später Staatsdame in Diensten der Landgräfin und bei Hof eine sehr einflussreiche Persönlichkeit.291 – Ob Knoblauch Caroline von Bodé schon vor seiner Hochzeit kannte, beispielsweise durch August Friedrich Wilhelm Crome (1753–1833), mit welchem er schon vor 1790 bekannt gewesen sein soll,292 ist nicht überliefert. Möglicherweise wurde eine Verbindung mit der Familie Bodé von ihm jedoch aufgrund der Verbindung zum Darmstädter Hof als vorteilhaft angesehen. Seine Beziehungen hat Knoblauch nicht genutzt, um eine Anstellung in Hessen-Darmstadt zu erhalten. Am 18. September 1793 wurde Knoblauchs Sohn, Karl August Wilhelm Achaz (1793–1855), geboren. Kurz danach, im Frühjahr 1794, erkrankte Knoblauch. Nachdem weder eine Kur in Bad Brückenau noch die Dillenburger Ärzte ihm helfen 286 Ebd., S. 27, Hervorh. i. Orig. 287 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 229. 288 Hierbei handelt es sich um eine Anspielung auf Johann Ludwig Leuchsenring (1732–1812), den älteren Bruder des 1792 aus Preußen verwiesenen Franz Michael Leuchsenring (1746–1827). Am 2. Mai 1793 berichtete die Augspurgische Ordinari Postzeitung: „Der alte markgräflich badische Leibmedicus Leuchsenring ist wegen eines verdächtigen Briefwechsel vom Markgrafen Karl Friedrich von Baden (1728–1811) an den Grafen von Wurmser (1724–1797) ausgeliefert worden. Als er in Speier angekommen war, so bekam er 25. Prügel, und, ehe er aus Speier weggebracht wurde, 30. wurde dann in Kantonierungen als ein Ehrloser herumgeführt, und starb an den Folgen seiner Strafe.“ (Augspurgische Ordinari Postzeitung, Nr. 104, 2. Mai 1792, Hervorh. i. Orig.) – Entgegen dieser Angabe überlebte Leuchsenring jedoch. 289 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 229. 290 Ebd., S. 229 f. 291 Zu Caroline von Bodé: Christa-Irene Nees: Vom Katheder in die grosse Welt. Zum Selbstverständnis August Friedrich Wilhelm Cromes (1753–1833). Eine kritische Biographie. Hildesheim 2012 (Studia Giessensia. Neue Folge 1), S. 262 f.; ebenfalls im Zusammenhang mit der Verleumdungsaffäre um Johann Ludwig Justus Greineisen (1751–1831): Haaser: Sonderfall (wie Anm. 185, S. 45), S. 281–283. 292 Vgl. Nees: Katheder (wie Anm. 291), S. 262.
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konnten, überredete ihn sein Schwager von Brandenstein, mit seiner Frau und dem Sohn nach Bernburg zu reisen, um die dortigen Ärzte zu konsultieren. Doch auch in Bernburg konnte ihm nicht geholfen werden. Karl von Knoblauch starb, so ein Brief seines Schwagers, „nach einem langen und schmerzlichen Lager“293 am 6. September 1794 im Alter von fast 38 Jahren. Quellenlage und literarisches Werk Außer einigen Briefen – vor allem an seinen in Hatzbach lebenden Onkel294 und seine spätere Frau Wilhelmine gerichtet –, die im Familiendepositum im Staatsarchiv Marburg295 liegen, befinden sich weitere fünf Briefe an nicht zu identifizierende Adressaten im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin.296 Zwei Briefe Knoblauchs ließen sich im Goethe- und Schillerarchiv ausfindig machen.297 Die Briefe an Jakob Mauvillon liegen lediglich im zeitgenössischen Druck vor;298 ebenso Knoblauchs Brief an Karl Friedrich Bahrdt.299 Drei erhaltene Briefe Knoblauchs an Georg Christoph Lichtenberg sind in dessen neuester Briefedition enthalten. Bei zweien dieser Briefe lag zudem jeweils ein Artikel Knoblauchs bei, von denen einer in die Briefedition aufgenommen wurde.300 Der zweite Artikel ist bisher nicht abgedruckt worden und liegt nur im Manuskript vor.301 – Weitere Briefe und Manuskripte Knoblauchs sind nicht erhalten oder bekannt. Knoblauchs literarisches Werk – über 280 Artikel in verschiedenen Zeitschriften sowie 18 Monographien – ist thematisch äußerst vielfältig. Schon in den Artikeln aus dem ersten Jahr seiner Veröffentlichungen lässt sich die große Bandbreite seines späteren Schaffens erkennen: Viele der oft sehr kurzen Artikel thematisieren den Wunder- und Aberglauben. Knoblauch befasst sich jedoch auch mit dem Ur293 Ludwig Heinrich Friedrich von Brandenstein an Heinrich Ludwig Wilhelm von Knoblauch, 16. September 1794, HStAM 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 37. 294 Heinrich Ludwig Wilhelm von Knoblauch (1716–1795); eigentlich Knoblauchs Vetter 2. Grades. Er wird von Knoblauch jedoch – möglicherweise aufgrund des Alters – durchgängig als Onkel bezeichnet. 295 HStAM 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 36. 296 GStA PK VIII. HA. Rep. C Nr. 187 Bd. 33. Die Briefe sind verteilt auf die Mappen: ‚Knoblauch, von, 1691–1795‘, ‚Knoblauch von Hatzbach, 1341–1793‘ und ‚Knobloch, von, 1180–1666‘. 297 Karl von Knoblauch an Christian Joseph Jagemann, 3. Dezember 1787, Goethe- und SchillerArchiv Weimar (= GSA) 119/20; Karl von Knoblauch an Christian Wilhelm Büttner, 2. Mai 1788, GSA 105/142. 298 Friedrich Wilhelm Mauvillon (Hg.): Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzoglich Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Deutschland [Braunschweig] 1801. 299 Pott: Briefe 4 (wie Anm. 233, S. 53), S. 158. 300 Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel 1785–1792. Hg. v. Ulrich Joost u. Albrecht Schöne. Bd. 3. München 1990, S. 262–267. 301 Karl von Knoblauch: Beweis, daß keine Materie denken kann. Anhang zum Brief Karl von Knoblauch an Georg Christoph Lichtenberg, 25. September 1786, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (= NSuUB Göttingen) Cod Ms Lichtenberg III, 118.
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sprung der Religion oder den Fragen, ob Menschen einen freien Willen besitzen, unter welchen Umständen ein Selbstmord zu rechtfertigen ist, wie sich die Menschheit entwickelt oder welchen Stellenwert die Selbstliebe hat. Schon 1786 befasst sich Knoblauch mit der Thematik der Menschenrechte: Indem ein Mensch existiere, habe dieser auch das Recht, sich in seiner Existenz zu erhalten. „Das Recht der Selbsterhaltung ist also nothwendige Folge des ersten Menschenrechts – zu seyn.“302 Auch wenn Knoblauch einige seiner Ansichten mit der Zeit weiterentwickelt, beispielsweise seine Meinung zum stehenden Heer oder – in Auseinandersetzung mit Werners Aetiologie – Teile seines Materialismus, sind die meisten Grundlagen seiner Philosophie schon in den ersten Artikel deutlich erkennbar. Obwohl alle Texte Knoblauchs mindestens ein philosophisches Thema behandeln, sind sie von der Art ihrer Darstellung sehr kreativ und vielfältig gestaltet. Zahlreiche seiner Artikel sind in Briefform verfasst, sodass sich teilweise ein (wenn auch meist sehr kurzer) Dialog zwischen fiktiven Briefpartnern entwickelt, was der in der Aufklärung populären Gattung des Briefromans ähnelt. Den ebenfalls populären Stil des Dialogs wendete Knoblauch erstmals 1789 in den Dialogen über einige Gegenstände der politischen Oekonomie und Philosophie 303 an. Diese Dialoge veröffentlichte er zwischen 1790 und 1792 in stark überarbeiteter und erweiterter Form erneut in Wielands Teutschem Merkur und als eigenständiges Werk – zum Teil erneut erweitert – mit den Politisch-philosophischen Gesprächen.304 Aufgrund seiner Gestaltung mit 13 Kupferstichen, die teilweise von Daniel Chodowiecki (1726–1801) stammen, ist außerdem Knoblauchs 1790 herausgegebenes Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer auf das Jahr 1791305 hervorzuheben. Neben kurzen Artikel zu abergläubischen Vorstellungen und Praktiken enthält es außerdem zwei Kapitel mit zeithistorischem Bezug: Ein Kommentar zum 1790 zu Ende gegangenen Krieg zwischen Schweden und Russland sowie die Klagen eines französischen Bürgers, am 14ten Jul. 1790. In verschiedenen, auch ab 1790 erscheinenden Büchern widmet sich Knoblauch der antiken Mystik, besonders den Waldgöttern.306 Von der Kritik werden die Werke und der Autor positiv aufgenommen. So konnte sich der Rezensent der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste das „Lob eines angenehmen Schriftstellers nicht versagen, der Scharfsinn und Phantasie mit Kentnissen und einer ausgebreiteten Belesenheit verbindet, und die Gabe eines unterhaltenden Vor302 Ders.: Erste Menschenrechte, auf den Kodex der Natur gegründet. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 152–159, hier S. 153. 303 Ders.: Dialogen über einige Gegenstände der politischen Oekonomie und Philosophie. [Marburg] 1789. 304 Ders.: Politisch-philosophische Gespräche. Erster Theil [kein zweiter Teil]. Berlin 1792. – Bei diesem Werk handelte es sich auch um die einzige Monographie, welche nicht anonym erschien. 305 Ders.: Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer auf das Jahr 1791. Berlin 1790. 306 Ders.: Ueber Faunen, Satyrn, Panen und Silenen. Einige Gespräche. Erster Teil. Berlin 1790; Ders.: Ueber Faunen, Satyrn, Panen und Silenen. Einige Gespräche. Zweiter Teil. Berlin 1791; Ders.: Sylphen (wie Anm. 218, S. 50); Ders.: Pan (wie Anm. 218, S. 50).
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trags und einer blühenden Schreibart in vorzüglicher Maaße besitzt.“307 Neben der antiken Mythologie sind ebenfalls viele der anderen, von Knoblauch bevorzugten Themen – die Wunderkritik oder die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele – fester Bestandteil dieser Werke. Noch 1837 werden die zahlreichen Artikel Knoblauchs verwundert, wenn auch lobend hervorgehoben, wie in einer Biographie Wilhelm Ludwig Wekhrlins: „Wer wohl der Anonymus gewesen seyn mag, dessen Beiträge oft besser sind, als W[ekhrlins] eigene?“308 Durch Knoblauchs größtenteils anonyme Publikationspraxis konnten von der Forschung309 bisher sehr viele, wenn auch nicht alle Artikel Knoblauchs ausfindig gemacht werden. Daher war es mir möglich, Knoblauchs Autorschaft sieben Artikel aus der Zeitschrift Olla potrida: Eine Quartalschrift zuzuordnen.310 Zwei neue Artikel ließen sich auch im Philosophischen Archiv von 1792 finden.311 Die Liste seiner bekannten Monographien konnte ich um Knoblauchs 1794 erschienenes – möglicherweise letztes – Werk Ueber einige Grundbegriffe der Ontologie, Kosmologie und Grössenlehre. Ein philosophischer Kommentar von einem Eklektiker 312 erweitern. Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine stark überarbeitete Erweiterung des vier Jahre zuvor erschienenen Buches Beitrag zur Erläuterung einiger mathematischen, ontologischen und philosophischen Wahrheiten313 , die auf besonders eindrückliche Weise den Einfluss von Werners Aetiologie auf Knoblauch deutlich macht. Auch aus gestalterischen Gesichtspunkten unterscheiden sich Knoblauchs Monographien von vielen anderen, die zur gleichen Zeit erschienen sind: So wurden die 1790 veröffentlichten Nachtwachen, die Politisch-philosophischen Gespräche von 1792 und zwei 1794 herausgegebene Werke314 statt in Fraktur in einer modernen Antiqua-Schriftart gesetzt, was Knoblauch für die Gespräche in einem Brief an Mauvillon ausdrücklich hervorhebt: „Künftige Messe erscheint bey Voß in Berlin der ers307 Rezension zu: Ueber Faunen, Satyrn, Panen und Silenen. Einige Gespräche. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 44.1 (1791), S. 101–102, hier S. 102. 308 Karl Julius Weber: Der Geist Wilhelm Ludwig Wekhrlins. Stuttgart 1837, S. 27, Hervorh. i. Orig. 309 Für die Zuordnung von Knoblauchs Artikel war bisher die Zusammenstellung Mondots maßgebend: Mondot: Wekhrlin (wie Anm. 181, S. 44), S. 724–730. 310 [Karl von Knoblauch]: Skizze eines künftigen größeren Werks über Wunder. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 12,3 (1789), S. 35–37; Ders.: Ueber Feerei. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 13,4 (1790), S. 56–62; Ders.: Anti-Spectrologie: oder Beweis, daß es außer der Einbildung keine Gespenster giebt. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 13,4 (1790), S. 41–48; Ders.: Beschluß des Artikels von unglaublichen Dingen. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 14,1 (1791), S. 17–24; Ders.: Mirakel (wie Anm. 218, S. 50); Ders.: Von den Ursachen der Liebe der Eltern zu ihren Kindern. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 14,2 (1791), S. 60–67; Ders.: Ein Beitrag zu den Prüfungen der Wunder. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 12,3 (1789), S. 21–26. 311 Ders.: Ein Gespräch. In: Philosophisches Archiv 1,2 (1792), S. 99–108; Ders.: Versuch (wie Anm. 251, S. 55). 312 [Karl von Knoblauch]: Ueber einige Grundbegriffe der Ontologie, Kosmologie und Grössenlehre. Ein philosophischer Kommentar von einem Eklektiker. Weissenfels u. Leipzig 1794. 313 Ders.: Beitrag zur Erläuterung einiger mathematischen, ontologischen und philosophischen Wahrheiten. Amsterdam [Berlin] 1790. 314 Ders.: Pan (wie Anm. 218, S. 50); Ders.: Grundbegriffe (wie Anm. 251, S. 55).
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te Band meines großen philosophischen Werks. – Es wird mit Didotschen Lettern gedruckt.“315 Wie Christina Killius in ihrer umfangreichen Untersuchung zur Antiqua-Fraktur-Debatte um 1800 herausgearbeitet hat, wurde die Fraktur-Schrift als rückständig angesehen, wohingegen Antiqua als Schrift der Antike als fortschrittlich galt.316 Die Antiqua-Type stand beispielsweise aus Wielands Sicht positiv für die Internationalisierung der deutschsprachigen Literatur, wohingegen Fraktur von Christoph Friedrich Nicolai (1733–1811) und von Jean Paul (1763–1825) als wichtiger einheitsstiftender Faktor für die deutsche Nation und die nationale Abgrenzung angesehen wurden.317 Für Knoblauch kann die ungewöhnliche Gestaltung seiner Bücher als besonderer Ausweis seiner Verbindung einerseits mit der Literatur und Philosophie der Antike und andererseits mit der politischen Entwicklung in Frankreich als Ausdruck eines zeitgenössisch-modernen Verständnisses verstanden werden.
315 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 220. 316 Vgl. Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur-Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung. Wiesbaden 1999 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 7), S. 148–155; Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 69), S. 226–232. 317 Vgl. Killius: Antiqua-Fraktur-Debatte (wie Anm. 316), S. 237–240. – Der erste klassizistische Antiqua-Schnitt des Pariser Typographen François Ambroise Didot (1730–1804) wurde erstmals 1788 von Georg Jacob Decker (1732–1799) in Deutschland eingeführt. Im gleichen Jahr erhielt Johann Friedrich Unger (1753–1804) das Privileg zur Einfuhr der Didot’schen Schriften und hatte von 1790 bis 1805 das Recht zum alleinigen Vertrieb dieser Typen in Deutschland. Vgl. ebd., S. 252–261.
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2.3 Andreas Riem 2.3.1 Forschungsüberblick Das philosophisch-theologische Werk Andreas Riems wird erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausführlicher behandelt. In Gustav Franks Geschichte der protestantischen Theologie werden Teile seiner Schriften unter dem Kapitel Verstandesaufklärung und Gefühlsvertiefung beziehungsweise dessen 19. Paragraph Die Ultras der Aufklärung zusammengefasst. Während Riems Positionen pointiert und unter Heranziehung einiger Zitate sogar einigermaßen neutral dargelegt werden,318 ist Franks Geschichte nicht aufgrund ihres Alters, sondern wegen ihrer tendenziösen Darstellung allenfalls unter Gesichtspunkten der Historiographiegeschichte zu betrachten. Als Weltbürger und Republikaner wird Riem von Otto Tschirch, einem brandenburgischen Historiker, im fünften Kapitel Andreas Riem, ein Verkünder der preußischen Vorherrschaft in Deutschland seiner 1933 erschienenen Monographie Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen vom Baseler Frieden bis zum Zusammenbruch des Staates (1795–1806) 319 beschrieben. Der besondere Fokus dieser Darstellung liegt auf Riems literarischer Tätigkeit und seinen politischen Forderungen seit Ausbruch der Französischen Revolution. Detailliert stellt Tschirch Riems Versuch dar, auf die preußische Politik einzuwirken, um ein Bündnis mit der revolutionären Republik zu erreichen. Jedoch muss man bei diesem Autor beachten, dass es sich um die Darstellung eines Historikers des Deutschen Kaiserreichs handelt, der die Überwindung des preußisch-österreichischen Dualismus unter der Vorherrschaft Preußens – die seiner Meinung nach Riem gefordert habe – „zum Heile und zur Größe des Vaterlandes“320 begrüßte. Von der neueren Forschung321 des 20. Jahrhunderts wird Andreas Riem erstmals ausführlich 1983 und 1985 in zwei Artikeln der Zeitschrift des Frankenthaler Altertumsvereins Frankenthal einst und jetzt von Ernst Merkel dargestellt.322 Beide Artikel bieten einen ersten Überblick über Riems Leben und wurden sehr quellennah erarbeitet. Leider beinhalten sie auch einige Fehlinformationen, die auf den frühen Stand der damaligen Forschung zu Andreas Riems Leben zurückzuführen sind.323 318 Vgl. Gustav Frank: Geschichte der protestantischen Theologie. Leipzig 1875, S. 144–146. 319 Otto Tschirch: Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen vom Baseler Frieden bis zum Zusammenbruch des Staates (1795–1806). 2 Bde. Bd. 1. Weimar 1933. 320 Ebd., S. 139. 321 Knappe Erwähnung findet Riem in der neueren Foschung bei: Zuckermann: Obrigkeitsgehorsam (wie Anm. 43, S. 10), S. 36 und ebenfalls: Minary: Deutsche religionskritische Aufklärung als praktische Philosophie (wie Anm. 183, S. 45), S. 422. 322 Ernst Merkel: Andreas Riem, Literat und Publizist. In: Frankenthal einst und jetzt 1 (1983), S. 2– 7; Ders.: Andreas Riem in Berlin (1786–1795). In: Frankenthal einst und jetzt 1 (1985), S. 10–14. 323 Beispielsweise geht die Romanfigur des John Bunkels auf eine literarische Kontroverse zurück und ist keine Erfindung Riems. Siehe Kap. 2.3.2. Vgl. ebenso: Michael Maaser: Andreas Riems
https://doi.org/10.1515/9783110693102-007
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1991 und 1995 wird Riem von Walter Grab in zwei Darstellungen behandelt.324 Beide Artikel bieten zwar eine detaillierte Darstellung von Riems politischen Ansichten bezüglich der Französischen Revolution, aber indem Grab Riem in die sogenannte Jakobinerforschung einreiht, nimmt er eine undifferenzierte Zuschreibung vor, die es zu beachten gilt, wenn man seinen ansonsten sehr hilfreichen Artikel heranziehen möchte. Die bisher umfangreichste Darstellung Andreas Riems findet sich in dem 1999, zu seinem 250. Geburtstag herausgegebenen Sammelband Andreas Riem. Ein Europäer aus der Pfalz.325 Dieser basiert auf der gleichnamigen, am 22. August 1998 in Frankenthal in der Pfalz abgehaltenen Tagung. Im ersten, biographischen Teil des Buches wird zum einen Andreas Riems Leben durch den Herausgeber des Sammelbandes, Karl H. L. Welker, beschrieben.326 Zum anderen wird ebenfalls Riems älterer Halbbruder, der Bienenforscher Johann Riem (1739–1807), vorgestellt.327 Der zweite Teil des Sammelbandes befasst sich mit Riems literarischem Werk,328 seinen künstlerischen und kunsthistorischen329 sowie theologischen Schriften.330 Der dritte und umfangreichste Teil des Sammelbandes ist grob unter dem Stichwort ‚Politisches‘ gegliedert. Er enthält einen Artikel zu Riems Fragmenten Ueber Aufklärung 331 und seiner Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland, wobei diese Schrift ebenfalls in die zeitgenössische Debatte um die Gleichstellung der Juden eingeordnet wird.332 Untersucht werden auch Riems Aussagen zur Französischen Revoluti-
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literarisches Werk. In: Karl H. L. Welker (Hg.): Andreas Riem. Ein Europäer aus der Pfalz. Stuttgart 1999 (Schriften der Siebenpfeiffer-Stiftung 6), S. 37–49, hier S. 43. Walter Grab: Revolutionsfreunde in Preußen im Zeitalter der Französischen Revolution. In: Otto Büsch u. Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Preußen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789. Berlin u. New York 1991 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 78), S. 119–144; Ders.: Andreas Riems Weg vom Neologen zum Jakobiner. In: Hartung (Hg.): Außenseiter (wie Anm. 17, S. 4), S. 183–199. Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323). Ders.: Andreas Riem. Daten und Fakten zu seiner Biographie. In: Ders. (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323), S. 9–23. Roland Paul: Johann Riem, Agrarschriftsteller und Bienenforscher. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323), S. 25–35. Maaser: Literarisches Werk (wie Anm. 323). Christoph Martin Vogtherr: Andreas Riem als Akademiesekretär und Kunstschriftsteller. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323), S. 51–60. Katharina Becker: Andreas Riem als Theologe. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323), S. 61–77. Peter Weber: Andreas Riems Fragmente „Ueber Aufklärung“. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323), S. 79–91. Gerda Heinrich: Riems „Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland“ im Kontext der Debatte um „bürgerliche Verbesserung der Juden“. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323), S. 93–105.
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2 Historischer und biographischer Überblick
on,333 und seine finanz- und wirtschaftspolitischen Thesen.334 Ebenso werden Riems herausgegebene Reiseberichte thematisiert335 und es wird genauer auf die in diesen Berichten kritische Betrachtung der Verfassung Großbritanniens336 und des Heiligen Römischen Reiches eingegangen.337 Auf politische Zeitbezüge in Riems Schriften verweist der letzte Artikel.338 Abgeschlossen wird der Sammelband durch eine vollständige Auflistung von Riems eigenständig erschienenen Schriften.339 2003 befasste sich Erhard Hirsch mit Riems Aussagen zur jüdischen Bevölkerung in Anhalt-Dessau.340 Im darauffolgenden Jahr erschien ebenfalls ein biographischer Artikel zu Riem von Andreas Mühling,341 welcher jedoch größtenteils auf dem Sammelband Welkers basiert. Ebenfalls 2004 veröffentlichte Georg Bürger, ein Nachfahre Riems, im Privatdruck eine Biographie über ihn.342 Hierbei handelt es sich um einen Auszug aus einer größeren Familiengeschichte, welche im darauffolgenden Jahr – ebenfalls als Privatdruck – erschienen ist. Sieht man davon ab, dass die Darstellung und die Zitationen nicht historischen Standards entsprechen, handelt es sich um eine sehr umfassende und quellengesättigte Biographie. Es ist ebenfalls die einzige Darstellung, welche – wenn auch sehr knapp – auf Riems philosophisches Werk eingeht und dessen materialistisch-spinozischtischen Kern erkennt.343 Auf Riems Beziehung zu Karl Philipp Moritz (1756–1793) und vor allem auf Riems Äußerungen über Moritz nach dessen Tod geht Christof Wingertszahn ein.344 So sei es Riem anzurechnen, dass er eine Anfrage Karl Gotthold Lenz’ (1763–1809) an die Akademie der Künste weiterreichte. Lenz hatte sich an Riem gewandt, um von 333 Johannes Süßmann: Andreas Riem und die Französische Revolution. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323, S. 69), S. 107–118. 334 Roland Rölker: Ansichten von Andreas Riem zur Finanz- und Wirtschaftspolitik der europäischen Staaten. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323, S. 69), S. 119–131. 335 Winfried Siebers: Geizige Bataver und halbwilde Barbaren. Zum Bild Hollands und Englands in Andreas Riems „Reisen durch Deutschland, Frankreich, England und Holland“. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323, S. 69), S. 133–145. 336 Hans-Christof Kraus: Andreas Riems Darstellung und Kritik der Verfassung von England. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323, S. 69), S. 147–170. 337 Wolfgang Burgdorf: Andreas Riems Kritik am Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323, S. 69), S. 171–196. 338 Christine Adam: Politische Zeitbezüge in Riems Publizistik. In: Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323, S. 69), S. 197–206. 339 Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323, S. 69), S. 207–234. 340 Vgl. u.a. Hirsch: Dessau-Wörlitzer Reformbewegung (wie Anm. 26, S. 19), S. 168–170, 213, 218. 341 Andreas Mühling: Aufklärung und Säkularisation im Urteil des evangelischen Pfarrers Andreas Riem. In: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 53 (2004), S. 97–111. 342 Georg Bürger: Andreas Riem (1749–1814). Frankfurt a.M. u. Miami Beach 2004. 343 Vgl. ebd., S. 195. – Im Gegensatz zu Dirk Fleischers 2014 erschienenen Artikel, auf welchen am Ende dieser Darstellung und ebenfalls in Kapitel 3.1.2 ausführlich eingegangen wird. 344 Christof Wingertszahn: „Armer Moritz!“ Andreas Riems und Karl Gotthold Lenz’ Totengericht über Karl Philipp Moritz. In: Christof Wingertszahn u. Yvonne Pauly (Hg.): „Das Dort ist nun Hier geworden“ Karl Philipp Moritz heute. Hannover 2010, S. 235–251.
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diesem Informationen für einen Nachruf auf Moritz zu erhalten. Riem selbst sah sich jedoch nicht in der Lage, diese Anfrage guten Gewissens zu beantworten und berief sich auf die langjährige Konkurrenz und Missgunst, die zwischen Moritz und ihm bestanden habe. Gerhard R. Kaiser vergleicht in seinem 2011 veröffentlichten Artikel Riems Aussagen und Bewertungen zur Spätzeit der Französischen Revolution – vor allem zur Zeit nach Napoleon Bonapartes (1769–1821) Staatsstreich vom 18. Brumaire VIII (9. November 1799) – mit denen Joseph Görres’ (1776–1848). Kaiser kritisiert in seiner umfassenden Analyse, dass es Riem, trotz seines rationaleren Stils, an analytischer Schärfe gefehlt habe: Seine blinde Parteilichkeit für Napoleon Bonaparte, die Schwarz-Weiß-Malerei, mit der er die Nutznießer des 18. Fructidor einerseits und andererseits Sieyès und Napoleon gegenüberstellt, […] zeigen ihn, den Spätaufklärer, weitgehend blind in den historischen Prozess verstrickt, dessen fortschrittlichen Charakter er ungeachtet aller Rückschläge besonders in Napoleon wahrzunehmen glaubt.345
2012 gaben Anneliese Klingenberg und Alexander Rosenbaum 18 Briefe Andreas Riems an den Weimarer Verleger Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) heraus. Diese im Original im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar liegenden Briefe, wurden zwischen September 1788 und Dezember 1789 verfasst und hatten unter anderem das Ziel, Bertuch als Sachverständigen zur Einrichtung einer Zeichenschule in Berlin zu gewinnen.346 Die Briefe sind ausführlich kommentiert und durch ein Nachwort in ihren Kontext eingeordnet. Unter dem Kapitel zur Berliner Aufklärung wird Andreas Riem von Ulrich Dierse im 2014 erschienenen Handbuch Grundriss der Geschichte der Philosophie in einer knappen Biographie vorgestellt.347 Trotz seiner Kürze bietet der Artikel eine genaue Übersicht über Riems Schriften und seine darin geäußerten Positionen. Daneben stellt der ebenfalls 2014 erschienene Artikel Dirk Fleischers Religion und Gefühl in Andreas Riems Schrift: Reines System der Religion für Vernünftige (1793) 348 die neueste Publikation zu Riem dar. Der Artikel ist in doppelter Hinsicht eine Ausnahme, denn der Titel behauptet, Riems philosophische Schrift, das Reine System der Religion für Vernünftige 349 zu interpretieren; eine Schrift, die von der Forschung 345 Gerhard R. Kaiser: Deutsche Paris-Bilder um 1800. Andreas Riem und Joseph Görres. In: Volker Gallé u. Werner Nell (Hg.): Zwischenwelten. Das Rheinland um 1800. Tagung vom 28. bis 30. Oktober 2011 in Schloss Herrnsheim, Worms. Worms 2011, S. 111–128, hier S. 127 f. 346 Vgl. Andreas Riem u. Friedrich Justin Bertuch: Berliner Kunstakademie und Weimarer Freye Zeichenschule: Andreas Riems Briefe an Friedrich Justin Bertuch 1788/89. Hg. v. Anneliese Klingenberg u. Alexander Rosenbaum. Göttingen 2012, S. 126. 347 Vgl. Ulrich Dierse: Berliner Aufklärung. In: Holzhey u. Mudroch (Hg.): Grundriss (wie Anm. 192, S. 46), S. 276–318, hier S. 307–309. 348 Dirk Fleischer: Religion und Gefühl in Andreas Riems Schrift: Reines System der Religion für Vernünftige (1793). In: Albrecht Beutel, Volker Leppin u. Markus Wriedt (Hg.): Glaube und Vernunft. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte des späten 18. Jahrhunderts. Leipzig 2014 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 41), S. 203–219. 349 [Andreas Riem]: Reines System der Religion für Vernünftige. Berlin 1793.
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2 Historischer und biographischer Überblick
höchstens erwähnt, aber nicht weiter beachtet wurde. Der Artikel wird jedoch nicht den Ansprüchen einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit und Interpretation gerecht: So wird Riems Werk, das Neue System der Natur. Über Gott, Welt, Intelligenzen, und Moralität,350 auf welches das Reine System der Religion aufbaut, von Fleischer nur mit einem vollkommen aus dem Zusammenhang des Gesamtwerkes herausgerissenen Zitat beachtet.351 Gleichzeitig wird das Reine System lediglich bis zum Ende des ersten Teils, bis zur Seite 136 berücksichtigt – die restlichen zwei Teile des Buches, beziehungsweise seine nachfolgenden 268 Seiten flossen nicht in Fleischers Interpretation ein. Hierdurch werden Begrifflichkeiten, die Riem in seinem Neuen System einführt und ebenso in den zwei letzten Teilen des Reinen Systems eingehender definiert, von Fleischer nicht in ihrer korrekten, von Riem intendierten Bedeutung aufgegriffen. Stattdessen legt er ihnen eigene Begriffsbedeutungen zugrunde, die mit der modernen Theologie kompatibel zu sein scheinen, jedoch nicht zu den sonstigen Aussagen Riems passen. 2.3.2 Biographie Am 22. August 1749 wurde Andreas Riem in Frankenthal in der Pfalz geboren. Sein Vater Johann Philipp Riem (1698–1758) war Rektor der dortigen reformierten Lateinschule, seine Mutter Sara Johanna Böhme (1720–1799) Tochter des Frankenthaler reformierten Pfarrers Johann Daniel Böhme (gest. 1720). Aus der ersten Ehe seines Vaters mit Maria Elisabeth Traut (gest. 1744) hatte Andreas Riem drei ältere Brüder, die das Erwachsenenalter erreichten: Philipp Konrad (1728–1826), Johann Daniel (1730–1784) und Johann (eigentlich: Johannes) Riem, einem Agrarschriftsteller und Bienenforscher, mit welchem sich Andreas Riem besonders verbunden fühlte.352 Aus der zweiten Ehe mit Sara Johanna erreichten – neben Andreas Riem – zwei weitere Kinder das Erwachsenenalter: Riems ältere Schwester Maria Elisabeth Wilhelmina (1747–1809) sowie sein Bruder Abdias Theodatus (1752–1825). Riems Elternhaus war wohlhabend; seine Familie hatte neben ihrem Wohnhaus in der Stadt noch weitere Gärten und Ländereien.353 Viele von Andreas Riems Verwandten waren Prediger oder hatten ein theologisches Studium abgeschlossen: So war sein Vater – er hatte in Heidelberg Philosophie und Theologie studiert – nicht nur der erste seiner Familie, der eine Universität besucht hatte, sondern galt auch als „strengfromme[r] Manne.“354 Riems ältester 350 Andreas Riem: Neues System der Natur. Über Gott, Welt, Intelligenzen, und Moralität. Dreßden u.a. 1792. 351 Vgl. Fleischer: Religion und Gefühl (wie Anm. 348, S. 71), S. 219. 352 Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 13–16; zu Johann Riem vgl. Paul: Johann Riem (wie Anm. 327, S. 69). 353 Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 16–19. 354 Johann Friedrich Mieg: Denkrede auf Friedrich Amadeus Böhme, Prediger der Gemeinde zum heil. Geist. Heidelberg 1794, S. 7 Vgl. außerdem: Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 13; Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 12.
2.3 Andreas Riem
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Bruder Philipp Konrad, welcher in Halle und ebenfalls in Heidelberg studiert hatte, musste 1754 seine Predigerstelle in Homburg aufgeben, da er verdächtigt wurde, den Herrnhutern nahezustehen.355 Nach dem Tod des Vaters zog er für einige Zeit nach Frankenthal und hat somit mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls seine sehr viel jüngeren Geschwister beeinflusst.356 Riems Onkel mütterlicherseits, Johannes Böhme (gest. 1788), war ebenfalls Theologe. Als Pfarrer Frankenthals konfirmierte er Riem Ostern 1762. Da er danach Prediger an der Heiliggeistkirche in Heidelberg wurde, begleitete er Andreas Riem auch während seines dortigen Studiums. Johannes Böhmes Sohn – der Cousin Andreas Riems –, Friedrich Amadeus Böhme (1742–1794), hatte ebenfalls in Heidelberg Theologie studiert und war – wie zuvor sein Großvater und Vater – zwischen 1776 und 1788 reformierter Pfarrer in Frankenthal und übernahm nach dem Tod seines Vaters dessen Amt in Heidelberg.357 Ebenfalls wurde Riem in seiner Jugend durch die konfessionelle Inhomogenität seiner Heimatstadt358 geprägt. So beschreibt er nicht ohne Ironie rückblickend in seinem 1796 erschienenen Reisebericht sein Elternhaus und den dazugehörenden Garten: „Das Haus meines Vaters, mit allen heimlichen Plätzen jugendlicher Spiele, […] der kleine, schlängelnde Bach, der unsern Garten von der Dechaney trennte, auf die unser ächt protestantisches Herz mit Schauern und Furcht hinüber sah, weil ihr Grund und Boden katholisch war –“.359 Nachdem Andreas Riem im Frankenthaler Pädagogikum auf die Universität vorbereitet worden war, schrieb er sich mit 14 Jahren am 27. April 1764 in Heidelberg ein, um dort, wie sein Vater, Philosophie und Theologie zu studieren.360 In Heidelberg wurde Riem, wie er 1796 rückblickend in seinem Reisebericht schrieb, durch einen bisher nicht identifizierten Freund oder Erzieher namens Barthelemy361 zum Aufklärer: Diesem verdanke er „den Uebergang zur Cultur des Verstandes“. Er zerstreute „die Nebel des Vorurtheils, die meinen theologisch gebildeten Verstand be-
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Vgl. Becker: Theologe (wie Anm. 330, S. 69), S. 62. Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 25 f. Vgl. Mieg: Denkrede (wie Anm. 354), S. 9. Um 1745 lebten dort ca. 350 Familien katholischen, reformierten und lutherischen Glaubens nebeneinander. Vgl. Becker: Theologe (wie Anm. 330, S. 69), S. 61. 359 Andreas Riem: Reisen durch Deutschland, Frankreich, England und Holland in verschiedener, besonders politischer Hinsicht. In den Jahren 1785 und 1795. [Leipzig] 1796 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 1), S. 275. 360 Vgl. Becker: Theologe (wie Anm. 330, S. 69), S. 62. Er wurde immatrikuliert als: „Andreas Riem, Francothalio-Palatinus, philos. stud.“, siehe: Gustav Toepke (Hg.): Die Matrikel der Universität Heidelberg. Vierter Teil. Von 1704–1807. Heidelberg 1903, S. 218. 361 Dass es sich hierbei um den französischen Diplomaten und das spätere Direktoriumsmitglied François Barthélemy (1747–1830) handelt, ist zwar unwahrscheinlich, konnte bisher jedoch nicht ausgeschlossen werden. Vgl. Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 12; Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 29–31.
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deckten“, indem er Riem unterrichtete, „wie man Wahrheit suchen und finden müsse“.362 Riem studierte in Heidelberg sechs Semester lang.363 Im Frühjahr 1766 besuchte er in den Niederlanden seinen ältesten Bruder Philipp Konrad, der inzwischen einer Herrnhutergemeinde in Amsterdam vorstand.364 Riem berichtet 1796, dass er hier im März 1766 zwischen die Fronten der Auseinandersetzung von Anhängern und Gegnern des oranischen Statthalters geriet, da er einen Degengurt in den Farben des Herrscherhauses getragen habe.365 In Utrecht hatte er ebenfalls Gelegenheit, „einem Gefechte des partheiischen Pöbels zu zusehen, das unter meinem Fenster unfern der Staatenkammer vorfiel“.366 Im Spätsommer 1768 besuchte Andreas Riem seinen Bruder Johann Riem in Kaiserslautern, der dort als Apotheker arbeitete.367 Nachdem dieser 1767 eine 1768 erweiterte Preisschrift an der Mannheimer Akademie eingereicht hatte und für diese ausgezeichnet worden war, gründete er 1769 in Kaiserslautern die Physikalisch-Ökonomische und Bienengesellschaft, in welche Andreas Riem als außerordentliches Mitglied aufgenommen wurde.368 Im gleichen Jahr kandidierte Riem für ein Predigeramt in Heidelberg. Da das Eintrittsalter in ein solches jedoch bei 25 Jahren lag, war diese Bewerbung aussichtslos.369 Gleichzeitig ließen die Korruption und der Stellenhandel es Riem unmöglich erscheinen, in seiner Heimat eine Anstellung zu erhalten, die seinen Lebensunterhalt gesichert hätte.370 Aus diesem Grund entschloss er sich, 1771 das Land zu verlassen und erhielt 1772 in der Uckermark eine Anstellung als Hauslehrer. In dieser Zeit fing Riem an, seine ersten Romane zu schreiben. 1773 erschien mit Timoclea und Charitides 371 sein erstes Werk, das – trotz einer etwas widersprüchlichen Handlung – von der Kritik gut aufgenommen wurde. Hierdurch ermutigt, versuchte sich Riem in seinem zweiten, im gleichen Jahr erscheinenden Roman Dorset und Julie 372 in einer assoziativen, durch die Romane Lawrence Sternes (1713–1768) inspi362 Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 275 f.; Vgl. außerdem: Merkel: Literat (wie Anm. 322, S. 68), S. 2 f. 363 Vgl. ebd., S. 2. 364 Vgl. Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 13. 365 Vgl. [Andreas Riem]: Europens politische Lage und Staats-Interesse. Hg. v. dems. Bd. 2. 1796, S. 78. 366 Ebd., S. 79. 367 Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 32. 368 Vgl. Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 13; Johann David Krämer: Geschichte der Gesellschaft. In: Bemerkungen, der physikalisch-ökonomischen und Bienengesellschaft zu Lautern. Vom Jahr 1769 1 (1770), S. 3–25, hier S. 9. 369 Vgl. Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 13. 370 Der kurpfälzische „protestantische Kirchenrat war überfordert; seine personelle Vergrößerung hatte eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung zur Folge. Gleichzeitig führte die starke Ämterkäuflichkeit dazu, daß Pfarrstellen ganz offiziell und öffentlich an den Meistbietenden versteigert wurden.“ Becker: Theologe (wie Anm. 330, S. 69), S. 64. Diesen Missstand beschreibt Riem ausführlich: Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 282–286. 371 Ders.: Timoclea und Charitides, eine Geschichte von A*** R***. Leipzig 1773. 372 Ders.: Dorset und Julie. Eine Geschichte der neuern Zeiten. Bd. 1. Leipzig 1773.
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rierten Schreibtechnik. Gepaart mit der Zivilisationskritik Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) traf Riem den populären Geschmack der damaligen Leser. „So wird verständlich, daß ‚Dorset und Julie‘ […] in den Monaten bis zum Erscheinen von Goethes ‚Die Leiden des jungen Werthers‘ zu den am häufigsten gelesenen Romanen zählte und vom breiten Publikum geschätzt wurde, während die Literaturkritik unerbittlich darauf reagierte.“373 Im folgenden Jahr veröffentlichte Riem einen zweiten Teil der Geschichte um Dorset und Julie. Zu einem geplanten dritten Teil kam es nicht.374 Durch seinen Bruder Johann Riem, der von Friedrich II. „1775 zum Bieneninspektor der Kurmark und Lehrer der Bienenökonomie in Berlin ernannt worden war und 1776 nach Grünenthal in Schlesien ging, um dort die staatseigene Imkerei zu beaufsichtigen“,375 erlangte Riem in dem 1748 als ‚Pfälzerkolonie‘ gegründeten Friedrichswalde 1776 eine Anstellung als reformierter Prediger. In dieser Zeit veröffentlichte er sein erstes aufklärerisches Werk, Von dem Einfluße der Religion auf das Staatssystem der Völker. Wie muß die christliche Religion beschaffen seyn? wenn sie einen guten Einfluß auf Staat, Staatssystem und Moralität haben soll.376 Es ist auch das erste Werk, das Riem in Berlin bei Georg Jacob Decker (1732–1799) erscheinen ließ, der ihm ein besseres Honorar als sein vorheriger Verleger aus Leipzig bieten konnte. In seinem Werk schreibt Riem, dass das Christentum seine größte Würde in der Zeit seiner Entstehung gehabt hätte,377 was bedeute, dass es, um gut für den Staat zu sein, zu diesen frühen Grundsätzen zurückkehren müsse.378 Riem fordert in diesem philosophischen Erstlingswerk eine reformatio – also eine Wiederherstellung – des Christentums in dessen grundlegenden Prinzipien. Diese Religion – hier lässt sich die Tendenz seiner späteren Religionskritik erkennen – ist ausnahmslos der Natur, ihren Gesetzen und der menschlichen Vernunft untergeordnet.379 Sie sei, so Riem, durch die Kirchenväter verunstaltet worden. Ebenso hätten sich die bekannten Reformatoren Martin Luther (1483–1546), Huldrych Zwingli (1484–1531) und Johannes Calvin (1509–1564) in Wortklauberei zerstritten und seien nicht in der Lage gewesen, einen sinnvollen Kompromiss zu finden, der zu dieser Wiederherstellung geführt hätte: „Jeder behauptete seinen Satz, und Nachgeben war nicht Sitte und Mode, und durch diesen Eyfer hinderten sie eine allgemeinere Ausbreitung 373 Maaser: Literarisches Werk (wie Anm. 323, S. 68), S. 42. 374 Ausführlicher zu den beiden ersten Romanen Riems vgl. ebd., S. 39–42; ebenfalls eine Zusammenfassung und Interpretation zu Dorset und Julie Merkel: Literat (wie Anm. 322, S. 68), S. 3. 375 Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 14. 376 [Andreas Riem]: Von dem Einfluße der Religion auf das Staatssystem der Völker. Wie muß die christliche Religion beschaffen seyn? wenn sie einen guten Einfluß auf Staat, Staatssystem und Moralität haben soll. Berlin u. Leipzig 1776. 377 Vgl. ebd., S. 3. 378 Vgl. ebd., S. 120. 379 Vgl. Becker: Theologe (wie Anm. 330, S. 69), S. 65 f. – Riems Einstellung gegenüber den angeblich ursprünglichen, christlichen Prinzipien wird sich in seinen nachfolgenden Werken jedoch deutlich ändern, sodass er auch diesen ablehnend gegenüber steht, wie in Kapitel 3.1.1 ausgeführt wird.
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des vernünftigen Christenthums.“ Trotzdem hätte dies „ein gewisses Licht über die Welt“380 ausgebreitet, das jedoch aufgrund der konfessionellen Streitigkeiten nicht ausreichte, das ungenügende Werk der Reformatoren sinnvoll zu verbessern.381 Drei Jahre später erscheint mit Verträglichkeit der Religion mit der Politik der Staaten382 eine weitere Monographie, die Riem als Fortsetzung seines ersten philosophischen Werkes angesehen hat. Durch die Untersuchung von Politik und Religion angeregt, wollte er sich den Ursachen zuwenden, die seiner Meinung nach verantwortlich für die Unterschiede in diesen Bereichen bei den verschiedenen Völker seien. Einen großen Teil des Buches nimmt ein Entwurf zu einem geplanten, aber nie erschienenen Werk ein, in welchem er – im Stile der Klimatheorie Montesquieus (1689–1755) und Buffons (1707–1788)383 – die Unterschiede der Völker in „Staatskunst – Nationalgeist, Religion und Wissenschaften“384 aufzeigen wollte. Aufgrund seiner Freundschaft zu seinem Verleger Decker und wegen seines Bruders hielt sich Riem häufig in Berlin auf, das nur eine Tagesreise von Friedrichswalde entfernt lag. Hier wurde er 1778 in die Freimaurerloge De La Concorde aufgenommen. Vermutlich besuchte er schon in seiner Friedrichswalder Zeit einige der Berliner Zirkel und gehörte spätestens nach seinem Umzug nach Berlin zum Kreis des Salons von Henriette Herz (1764–1847).385 Am 13. Juli 1780 heiratet Riem in Berlin die Tochter eines preußischen Kriegsund Steuerrats, Sidonie Ernestine Sophie Cosmar (1752–1817). Mit ihr hatte er drei Kinder, die das Erwachsenenalter erreichten.386 In den kommenden drei Jahren veröffentlichte Riem zwei weitere Romane: 1780 die Geschichte eines Landpredigers in Westphalen387 und zwischen 1782 und 1783 die dreibändige Geschichte einiger Esel oder Fortsetzung des Lebens und der Meynungen des Weltberühmten John Bunkels.388 Letztere ist durch ihren titelgebenden John Bunkel eine Anspielung auf eine Kontroverse zwischen Wieland und Nicolai, in dessen Verlag 1778 eine Übersetzung 380 Riem: Einfluße (wie Anm. 376, S. 75), S. 18. 381 Vgl. ebd., S. 20. 382 Andreas Riem: Verträglichkeit der Religion mit der Politik der Staaten. Nebst Entwurf eines Werks: Clima, – Staatsverfassung, – Nationalgeist, – Religion und Wissenschaften; Welches ist ihr wechselseitiges Verhältniß? Berlin 1779. 383 Vgl. Kay Kufeke: Die Darstellung des „Volkes“ in Reiseberichten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (1780–1810). In: Conrad, Herzig u. Kopitzsch (Hg.): Volk (wie Anm. 22, S. 6), S. 81–102, hier S. 87; Stefan Kaufmann: Vom Zeichen zur Ursache einer kulturellen Differenz. Die Körper der Wilden in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts. In: Monika Fludernik, Peter Haslinger u. Stefan Kaufmann (Hg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos. Würzburg 2002 (Identitäten und Alteritäten 10), S. 96–120, hier S. 105. 384 Riem: Verträglichkeit (wie Anm. 382), S. 43. 385 Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 43–47. 386 Vgl. Merkel: Literat (wie Anm. 322, S. 68), S. 5; Becker: Theologe (wie Anm. 330, S. 69), S. 67. 387 [Andreas Riem]: Geschichte eines Landpredigers in Westphalen. Wie sie im Gange des Lebens aufstößt. Berlin u. Leipzig 1780. 388 Ders.: Geschichte einiger Esel oder Fortsetzung des Lebens und der Meynungen des Weltberühmten John Bunkels. Drei Bände. Hamburg u. Leipzig [=Berlin] 1782, 1783.
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des Romans The Life and Opinions of John Buncle, Esq. erschien. Wieland kritisierte diesen Roman, was wiederum Nicolai zu einer Verteidigung veranlasste. „Riem griff Wielands eher ironisch gemeinte Empfehlung auf, junge Autoren sollten, um schreiben zu lernen, Bunkels Vortrag und Stil studieren und verfasste einen eigenen Bunkel-Roman.“389 Damit zwischen der Kontroverse um die Bunkel-Übersetzung und dem Erscheinen von Riems Romanen nicht zu viel Zeit liege, empfahl Riem seinem Verleger in einem Brief vom 2. Februar 1781, den ersten Band so schnell wie möglich zu veröffentlichen.390 Im März 1782 wurde Riem als Prediger an das Friedrichshospital genannte Waisenhaus in Berlin berufen und am 15. Dezember 1782 in sein Amt eingeführt. Bei der Erlangung seines neuen Amtes wurde er durch Prinz Heinrich von Preußen (1726–1802) unterstützt.391 Dass dieses Amt als Prediger ihn nicht sonderlich beanspruchte, aber dafür mit einem Gehalt von 550 Reichsthalern gut absicherte, beschreibt er in einem 1791 veröffentlichten Brief von 1788: „Meine Geschäfte als Prediger, der keine Gemein[d]e hat, die groß ist, bestanden in einer Predigt alle 8 Tage. Wenn reformirte Kinder zum Abendmal vorbereitet wurden, so nahm dieß 2 Stunden die Woche hinweg, die Visitationen im Waisenhause treffen bloß Stunden, die mich an andern Geschäften nicht stöhren können.“392 Riem ließ sich 1785 für eine Reise nach Frankreich und England beurlauben, die er elf Jahr später, ab 1796, in seinen Reiseberichten verarbeitete. Wie es scheint, wurde Riem von der preußischen Regierung als ein vertrauenswürdiger Mann angesehen, sodass er offizielle Briefe an den preußischen Gesandten in London, Spiridion Graf von Luisi (1741–1815), im Gepäck hatte.393 Im gleichen Jahr veröffentlichte er eine weitere religionsphilosophische Schrift.394 Riems tiefe Bewunderung für die Regentschaft und Politik Friedrichs II. wurde nach Friedrichs Tod 1786 in Riems Gedächtnißrede auf Friedrich den Einzigen deutlich. Das überschwängliche Lob des verstorbenen Herrschers stellte dessen Nachfolger in ein schlechtes Licht. Der Ratschlag, Friedrich Wilhelm II. (1744–1797) solle sich in seiner Politik an seinem Onkel orientieren, handelte ihm einen Verweis ein. Auch brachten ihn 1787 die Herausgabe von Reimarus-Fragmenten, welche 389 Maaser: Literarisches Werk (wie Anm. 323, S. 68), S. 43. 390 Vgl. Andreas Riem an Georg Jacob Decker, 2. Februar 1781, SBB PK, Nachlass Decker. Bd. 9, p. 136r f. – Dieser Brief ist ebenfalls in Michael Maasers Artikel abgebildet und transkribiert. 391 Vgl. Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 14. 392 Andreas Riem: Kurze Nachricht über die Niederlegung meines geistlichen Amtes, bey der großen Friedrichs-Hospitalkirche in Berlin. Aus Aktenstücken bestehend. In: Ders. (Hg.): Neues Berlinisches Journal über Gegenstände der Geschichte, Philosophie, Gesetzgebung und Politik 1 (1791), S. 81–112, hier S. 100, Hervorh. i. Orig. 393 Vgl. Ders.: Reise durch England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht. Bd. 1. [Leipzig] 1798 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 4), S. 8. 394 Ders.: Philosophische und kritische Untersuchungen über das Alte Testament und dessen Göttlichkeit, besonders über die mosaische Religion. London [Dessau] 1785.
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angeblich aus dem Nachlass Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781) stammten, in Bedrängnis.395 Angeregt durch den Maler Christian Bernhard Rode (1725–1797), mit welchem sich Riem angefreundet hatte, veröffentlichte er 1787 Über die Malerei der Alten.396 Dieses Werk sticht besonders durch seine künstlerische Gestaltung heraus, indem es sich einerseits durch zahlreiche antike Kunstwerke darstellende Stiche auszeichnet. Andererseits wurde für die typographische Gestaltung ein Antiqua-Schriftsatz verwendet, was aufgrund des Erscheinungsjahres noch ungewöhnlich ist und den hohen ästhetischen Anspruch Riems bei dieser Publikation widerspiegelt.397 „Riem wollte sich mit diesem Buch offenbar gezielt für eine Position an der Berliner Akademie qualifizieren. Auf dem literarischen Gebiet gelang ihm dieser Beweis durchaus“.398 Gleichzeitig wurde deutlich, dass er sich nicht mit der zeitgenössischen Kunst auskannte, da er vor allem barocke Maler lobend hervorhob. Um eine Stellung an der Akademie zu erhalten, war dies jedoch kein Problem, denn „[d]amit entsprach Riems Buch der Situation der Berliner Akademie und der preußischen Malerei dieser Jahre.“399 Protegiert durch Friedrich Anton von Heynitz (1725–1802) wurde er im September 1787 als Ehrenmitglied und Assessor in die Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin aufgenommen.400 Schon zwei Monate nach seiner Aufnahme schlug er in der Akademie die Einführung einer Monatsschrift vor, welche unter dem Titel Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin 1788 erstmals erschien. Sie war – wie sein Werk Über die Malerei der Alten – ebenfalls reich mit Stichen gestaltet und in derselben Antiqua-Type gesetzt.401 Neben seiner kunsthistorischen Monographie von 1787 beschäftigte sich Riem nur noch in zwei weiteren Artikeln402 mit derartigen Themen. Hiervon ist vor allem 395 Vgl. Adam: Politische Zeitbezüge (wie Anm. 338, S. 70), S. 199 f.; Süßmann: Französische Revolution (wie Anm. 333, S. 70), S. 108; Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 15. 396 Andreas Riem: Über die Malerei der Alten. Ein Beitrag zur Geschichte der Kunst. Veranlaßt von B. Rode. Verfaßt von A. Riem, Pr. zu Berlin. Berlin 1787. 397 Vgl. Kap. 2.2.2. Außerdem: Killius: Antiqua-Fraktur-Debatte (wie Anm. 316, S. 67), S. 148–155; Wehde: Typographische Kultur (wie Anm. 316, S. 67), S. 226–232. 398 Vogtherr: Akademiesekretär (wie Anm. 329, S. 69), S. 58. 399 Ebd., S. 59 – Allgemein zur Akademie, deren künstlerische Mitglieder und Ausrichtung, vgl.: Claudia Sedlarz: Gelehrte und Künstler und gelehrte Künstler an der Berliner Kunstakademie. In: Anne Baillot (Hg.): Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800. Berlin 2011 (Berliner Intellektuelle um 1800 1), S. 245–277. 400 Vgl. Riem u. Bertuch: Kunstakademie (wie Anm. 346, S. 71), S. 20 f., 137; Vogtherr: Akademiesekretär (wie Anm. 329, S. 69), S. 52, 58. 401 Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 128 f. – Wie Riem Bertuch am 5. November mitteilte, handelte es sich jedoch nicht um eine Antiqua von Didot. Vgl. Riem u. Bertuch: Kunstakademie (wie Anm. 346, S. 71), S. 15. 402 Andreas Riem: Vom Einfluss der schönen Künste auf Staaten und Charakteristik der Völker. In: Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin 1 (1788), S. 216–232; Ders.: Ueber die Arabeske. In: Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin 1 (1788), S. 276–285, 2 (1788), S. 22–37, 119–13.
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sein Artikel zur Arabeske, den pflanzenartig wirkenden Ornamenten, interessant. Indem Riem diese künstlerischen Verzierungen als aus dem „Zeitalter des Mönchsdespotismus und der Barbarei“403 stammend ablehnt, kritisiert er ebenfalls die Gestaltung verschiedenster privater und repräsentativer Räume Friedrich Wilhelms II., die sich dieser in Potsdam und Berlin entsprechend gestalten ließ. Ebenfalls wurde durch Riems Artikel – wie es scheint – Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) zu einer Verteidigung der Arabeske veranlasst.404 Goethes, an Johann Heinrich Meyer (1760–1832) gerichtete Aussage: „In Deutschland wird viel erbärmliches über die Kunst geschrieben. Die Berliner Akademie, wovon Riem Sekretair ist, zeichnet sich besonders aus“,405 dürfte sich daher eher auf Riems Arabesken-Aufsatz, statt auf Über die Malerei der Alten beziehen.406 Um die Herausgabe der Monats-Schrift zu vereinfachen, schlug Riem vor, eine akademische Kunst- und Buchhandlung zu gründen. Er selbst wollte diese leiten und wurde, nachdem das Privileg am 25. März 1788 erteilt wurde, im April zum ‚Entrepreneur‘ derselben ernannt. Im September 1788 befand sich Riem in Weimar „zu verlegerischen und buchhändlerischen Verhandlungen“407 mit Friedrich Justin Bertuch, woraus sich ein intensiver Briefwechsel ergab. Am 1. Oktober 1788 wurde Riem „wegen seiner an den Tag gelegten litterarischen Kunst Kentniß, und der, um die Academie, durch die Einrichtung der nützlichen academischen Monaths Schrift […] erworbenen Verdienste“ in das Amt des „beständigen Secretair“408 der Akademie berufen. Er übernahm das Amt von Daniel Chodowiecki. Riem sah es nun als seine Aufgabe an, verdiente Künstler und Persönlichkeiten als Ehrenmitglieder der Akademie zu gewinnen. In diesem Zusammenhang wurden Bertuch 1788 und im darauffolgenden Jahr Goethe, der Künstler Georg Melchior Kraus (1737–1806) sowie Herder, Wieland und deren Landesherr, Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757–1828), als Ehrenmitglieder der Akademie aufgenommen.409 Ab Oktober 1788 gab Riem zusammen mit Gottlob Nathanael Fischer (1748–1800) ebenfalls das Berlinische Journal für Aufklärung heraus, dessen acht Bände bis 1790 erschienen. Es wurde 1791 als Neues Berlinisches Journal über Gegenstände der Geschichte, Philosophie, Gesetzgebung und Politik von Riem alleine weitergeführt, erschien jedoch nur in einer Ausgabe. Inwiefern Riem Kontakte zu Personen pflegte, die der Berliner Aufklärung zugerechnet werden, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden. Er selbst nennt in sei403 Ebd., S. 27. 404 Vgl. Vogtherr: Akademiesekretär (wie Anm. 329, S. 69), S. 57 f. 405 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. II. Abt., Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 3. Hg. v. Karl Eibl. Frankfurt a.M. 1991, S. 467. 406 Vgl. Vogtherr: Akademiesekretär (wie Anm. 329, S. 69), S. 60. 407 Riem u. Bertuch: Kunstakademie (wie Anm. 346, S. 71), S. 139. 408 GStA PK, I. HA Rep. 78 alt III Nr. 80, p. 27r, Hervorh. i. Orig. 409 Vgl. Vogtherr: Akademiesekretär (wie Anm. 329, S. 69), S. 54 f. Die Dankesschreiben der aufgenommenen Ehrenmitglieder sowie die Antworten Heynitz’ und Riems an Goethe sind ebenfalls abgedruckt in: Riem u. Bertuch: Kunstakademie (wie Anm. 346, S. 71), S. 114–125.
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nen Schriften der Berliner Zeit kaum Beziehungen oder Bekanntschaften. Einerseits hängt dies wohl damit zusammen, dass er viele dieser Werke anonym erscheinen ließ, sodass eine Nennung konkreter Personen seine Anonymität gefährdet hätte oder – bei Verschweigen des eigenen Namens – nicht angebracht gewesen wäre. Andererseits inszenierte sich Riem als Selbstdenker, der „es immer nicht für allzurühmlich hielt, den betretnen Weg irgend eines Menschen knechtisch nachzugehen, oder andere für mich denken zu lassen.“410 Selbst wenn er – wie in der Frühen Neuzeit üblich – sein Wissen eklektisch aus unterschiedlichen Quellen zusammenfügte, um daraus seine persönliche Meinung zu bilden, stand dies nach damaligen Verständnis unter der Devise des Selbstdenkens: „Man sucht sich aus allen Strömungen das heraus, was einen überzeugt, und denkt im übrigen mit dem eigenen Kopf.“411 Gerade deshalb lassen sich letztendlich auch bei Riem Parallelen zu anderen Berliner Aufklärern finden, auch wenn ihre Verbindung nicht genau bekannt ist. So sah beispielsweise auch Ewald Graf von Hertzberg eine aufgeklärte Monarchie gleichwertig mit einer Republik an, wenn in beiden das Staatswesen durch aufgeklärte Vernunft gelenkt werde.412 Andererseits ist Riem nicht nur als Herausgeber des Berlinischen Journals für Aufklärung selbst Protagonist der Berliner Aufklärung.413 Das Jahr 1788 stellte für Riem nicht nur eine Zäsur dar, weil er durch die Herausgabe zweier Zeitschriften und der Anstellung als Ständiger Sekretär der Akademie in seinem neuen Tätigkeitsfeld neben der Predigerstelle am Waisenhaus etabliert war. Durch das von Johann Christoph von Wöllner (1732–1800) am 9. Juli 1788 kurz nach dessen Ernennung zum Chef des Geistlichen Departements erlassene Religionsedikt, geriet Riem ebenfalls als überzeugter Aufklärer in Bedrängnis. Während die ersten fünf Paragraphen des Ediktes noch die aufgeklärten Prinzipien der Gewissensfreiheit und Toleranz hervorheben, wird spätestens ab dem sechsten Paragraphen deutlich, dass es sich hierbei um reine Lippenbekenntnisse handelte, um das genaue Gegenteil zu erreichen:414 die strikte und wortwörtliche Umsetzung dessen, was den jeweiligen Lehrern aller Konfessionen zu lehren vorgegeben wurde.415 Gegen wen sich das Edikt richtete, wurde ebenfalls unverblümt (in §7) dargelegt: „[M]anche Geistliche der protestantischen Kirche [würden] sich ganz zü gellose Freiheiten, in Absicht des Lehrbegrifs ihrer Confession, erlauben“ und sogar „verschiedene wesentliche Stü cke und Grundwahrheiten der protestantischen Kirche und 410 Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 10. 411 Mulsow: Prekäres Wissen (wie Anm. 6, S. 2), S. 53. 412 Vgl. Burg: Reaktionen auf die Französische Revolution in Berlin und Königsberg (wie Anm. 43, S. 10), S. 149. 413 Vgl. Dierse: Berliner Aufklärung (wie Anm. 347, S. 71), S. 278, 307–309; Burg: Reaktionen auf die Französische Revolution in Berlin und Königsberg (wie Anm. 43, S. 10), zu Riem bes. S. 159, 162. 414 Vgl. Jan Rachold: Kant und die preußische Zensur. In: Emundts (Hg.): Kant (wie Anm. 43, S. 10), S. 116–132, hier S. 122. 415 Vgl. v.a. §6 Edict die Religionsverfassung in den Preußischen Staaten betreffend. In: Andreas Riem (Hg.): Neues Berlinisches Journal über Gegenstände der Geschichte, Philosophie, Gesetzgebung und Politik 1 (1791), S. 5–25, hier S. 12 f.
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der christlichen Religion ü berhaupt weglä ugnen“. Manche dieser Geistlichen gingen sogar soweit, die elenden, lä ngst widerlegten Irrthü mer der Socinianer, Deisten, Naturalisten, und anderer Secten mehr wiederum aufzuwä rmen, und solche mit vieler Dreistigkeit und Unverschä mtheit durch den ä ußerst gemißbrauchten Namen: Aufklä rung, unter das Volk auszubreiten; […] und auf diese Weise dem Christenthum auf dem ganzen Erdboden gleichsam Hohn zu bieten.416
Der achte Paragraph legte fest, dass „[e]in jeder Lehrer des Christenthums in Unsern Landen“ das lehren müsse, „was der einmal bestimmte und festgesetzte Lehrbegriff seiner jedesmaligen Religions-Parthey mit sich bringet, denn hiezu verbindet ihn sein Amt, seine Pflicht, und die Bedingung, unter welcher er in seinem besondern Posten angestellet ist.“ Halte er sich nicht daran, „ist er schon nach bü rgerlichen Gesetzen straffä llig, und kann eigentlich seinen Posten nicht lä nger behalten.“417 Als Riems prompte Reaktion auf Wöllners Edikt wurden seine Schriften Ueber Aufklärung angesehen.418 Obwohl der erste Teil der Fragmente – wie Riem beide Teile auch betitelte – wie das Edikt im Juli 1788 erschien, kann nicht mit vollkommener Sicherheit bestimmt werden, ob und inwieweit das Edikt einen Einfluss auf Riems Werk hatte. Aufgrund der geringen Zeitspanne, die zwischen dem Erlass des Ediktes und dem Erscheinen von Riems Buch lag, scheint ein direkter Einfluss unwahrscheinlich.419 Für den zweiten Teil der Fragmente besteht jedoch die höhere Wahrscheinlichkeit, dass Riem Anpassungen an die aktuellen Geschehnisse vorgenommen hat. Dass es wiederum so scheint, als sei schon das erste Fragment direkt auf das Religionsedikt bezogen, liegt daran, dass es an die Debatte um die Definition von Aufklärung anknüpft, die mit der Frage verbunden war, ob Aufklärung – in ihrer radikalen Ausprägung – für die Bevölkerung oder den Staat schädlich sein könne. Auf diese Diskussion stellt wiederum das Religionsedikt Wöllners die Antwort derer dar, welche die Aufklärung gerne durch möglichst viele Grenzen eingehegt gesehen hätten. – Nur, dass es sich hierbei um keinen Zeitschriftenbeitrag, sondern um eine erlassene Verordnung handelte. Riems Fragment in den Zusammenhang dieser Debatte um Aufklärung zu stellen, bezeichnet Peter Weber als „[v]erfehlt“, denn Riems
416 Ebd., S. 13 f., Hervorh. i. Orig. 417 Ebd., S. 17 f. 418 So wurden Riems Fragmente beispielsweise schon 1793 als Beginn des „Aufklärungskrieg[es]“ angesehen, „wozu das Religionsedikt das Signal gegeben hatte.“ Heinrich Philipp Conrad Henke: Beurtheilung aller Schriften welche durch das Königlich Preussische Religionsedikt und durch andre damit zusammenhängende Religionsverfügungen veranlaßt sind. Kiel 1793, S. 201. Vgl. ebenso: Weber: Fragmente (wie Anm. 331, S. 69), S. 79. 419 Peter Weber sieht Riems Gegendarstellung, das erste Fragment sei nur zufällig Ende Juli erschienen und schon 1786 fertiggestellt worden (Vgl. Andreas Riem: Geschichte des fiscalischen Prozesses gegen den Herausgeber dieses Journals, die Fragmente über Aufklärung betreffend. In: Neues Berlinisches Journal über Gegenstände der Geschichte, Philosophie, Gesetzgebung
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Verständnis von Aufklärung zeuge „eher von Desinteresse gegenüber problembewußt-avancierten“ Definitionsversuchen Kants oder Mendelssohns, mit deren Beiträgen der „Höhepunkt theoretisch-strategischer Reflexionen“420 erreicht worden sei. Weber übersieht hierbei die deutlichen Gemeinsamkeiten zwischen Wöllners und Kants Aufklärungsverständnis, wenn letzterer in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? fordert, ein Geistlicher müsse seinen Katechismusschülern genau das beibringen, was ihm seine Kirche an Lehren vorgegeben habe, da er das Amt unter diesen Bedingungen angenommen hätte. Könne der Lehrer dies nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, müsse er das Amt niederlegen.421 Dass sich Riem als aufgeklärter Katechismuslehrer diesem angeblich ‚problembewußt-avancierten‘ Aufklärungsverständnis nicht anschließen wollte, ist verständlich. Er setzte dem restriktiven, allgemein akzeptierten und sich 1788 im Religionsedikt manifestierendem Aufklärungsverständnis wiederum eine sehr einfache und offene Definition entgegen: Und doch ist nichts so deutlich und einfach, als die Idee, welche das bloße Wort: Aufklärung, darbietet. ‚Sie ist nichts anderes als die Bemühung der Ideen-Welt, alle menschlichen Meinungen, und ihre Resultate, und Alles, was auf Menschheit Einfluß hat, nach Prinzipien einer reinen Vernunft-Lehre, zu Beförderung des Nützlichen, ins Licht zu setzen.‘422
Riems Fragmente stellen zudem eine konsequente Fortführung seiner Untersuchung zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft dar: Nachdem er ab 1776 in mehreren Werken erörtert hatte, ob Religion für ein Land und dessen Gesellschaft gefährlich sein könne – was er letztendlich verneinte, sofern Religion in ihrer Macht durch umsichtige Gesetze geschützt und gleichzeitig eingehegt sei423 – wandte er sich in seiner Veröffentlichung von 1788 mit der gleichen Fragestellung
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und Politik 1 (1791), S. 26–80, hier S. 30), als reine Schutzbehauptung an. Vgl. Weber: Fragmente (wie Anm. 331, S. 69), S. 79. Ebd., S. 79 f. Vgl. Kant: Beantwortung der Frage (wie Anm. 6, S. 2), S. 486. Nicht mit dem Religionsedikt kompatibel ist hingegen, dass Kant dem Geistlichen zugesteht, er habe außerhalb seines Amtes „volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol, und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens, dem Publikum mitzutheilen.“ (Ebd.). Das Religionsedikt lässt sich in diesem Zusammenhang lediglich dazu herab, „aus großer Vorliebe zur Gewissensfreiheit überhaupt“, die „bereits in öffentlichen Amte stehende[n] Geistlichen, von denen es auch bekannt seyn möchte, daß sie leider! von denen in §. 7. gemeldeten Irrthümern mehr oder weniger angesteckt sind“, zuzugestehen, dass sie „in ihrem Amte ruhig gelassen werden; nur muß die Vorschrift des Lehrbegriffs ihnen bey dem Unterricht ihrer Gemeinden stets heilig und unverletzbar bleiben“. Riem (Hg.): Edict (wie Anm. 415, S. 80), S. 19. Ders.: Ueber Aufklärung. Ob sie dem Staate – der Religion – oder überhaupt gefährlich sey, und seyn könne? Ein Wort zu Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester. Ein Fragment. 3. unv. Aufl. Berlin 1788, S. 4. „So wie die Majestät – und das allgemeine übereinstimmende Gefühl von der Größe eines Königs, die Unterthanen bis zum Tode gehorsam macht; eben so führt sie die Religion an der Hand einer Duldung, die durch das Uebergericht der Majestät, durch ihr Uebersehen, nicht eingeschränkt ist, aber eben so wenig auszuarten vermag. Die Gesetze, die sie schützen, verhindern zu gleicher Zeit, daß sie gefährlich werde.“ Ders.: Verträglichkeit (wie Anm. 382, S. 76), S. 34.
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der Aufklärung zu. Dass ihm mit der beinahe gleichzeitigen Veröffentlichung seines Buches mit dem Erlass des Religionsediktes ein publizistischer Glücksgriff gelang, dürfte dem Zufall geschuldet sein. Ebenso zeigen mehrere Auflagen des Werkes in kürzester Zeit,424 dass eine Publikation mit dem Titel Ueber Aufklärung. Ob sie dem Staate – der Religion – oder überhaupt gefährlich sey, und seyn könne? Ein Wort zu Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester vorzüglich an die innerpreußischen Debatten nach dem Tod Friedrichs II. und der Thronbesteigung seines, in Religions- und Aufklärungsfragen das vollkommene Gegenteil darstellenden Nachfolgers, Friedrich Wilhelm II., anknüpfte.425 – Selbst ohne das Religionsedikt wäre es somit tagesaktuell gewesen.426 Durch ihre Popularität wurde auch Wöllner auf Riems Fragmente aufmerksam. Er verfasste am 10. September 1788 einen Entwurf für eine Kabinettsordre, die „vom konkreten Anlaß zum Grundsätzlichen“427 überging und später auch erlassen wurde.428 Den konkreten Anlass stellten unter anderem Riems Schriften dar: Durch sie sei „die Preßfreyheit in Berlin in Preßfrechheit aus[ge]artet, und die Bücher-Censur völlig eingeschlafen“. Gegen das Religionsedikt seien „allerley aufrührerische Schar424 Nach Riems Angaben waren zwei Auflagen des Buches schon am ersten Tag ausverkauft. Vgl. Ders.: Geschichte (wie Anm. 419, S. 81), S. 28. 425 Vgl. Weber: Fragmente (wie Anm. 331, S. 69), S. 81. 426 Vollkommen losgelöst vom historischen Kontext und seinen anderen Schriften zieht Jonathan Israel Riems Fragmente heran, um ihn einzig aufgrund dieser Publikationen als monarchietreuen und aufklärungsfeindlichen Philosophen zu kennzeichnen, der sich deutlich gegen demokratische Republiken und Umwälzungen, die zu diesen führten, ausgesprochen habe. Als Beispiel werden u. a. seine ablehnenden Aussagen gegenüber den revolutionären Niederlanden der 1780er-Jahre herangezogen. Riem nahm diese Zeit als äußerst unstet wahr, und hatte – wie schon dargelegt – nach eigener Aussage vor Ort miterlebt, wie mehrmals am Tag die Kräfteverhältnisse der jeweils verfeindeten Lager grundlegend (und teilweise vollkommen grundlos) wechselten und mehr oder weniger Unbeteiligte zwischen diese Fronten gerieten. Israel interpretiert Riems Bezeichnung von ‚falschen Philosophen/Aufklärern‘ als Missbilligung derjenigen Aufklärer, die er als ‚Radikalaufklärer‘ bezeichnet und welche für ihn qua definitione Anhänger von Revolutionen sein müssen (vgl. Israel: Democratic Enlightenment (wie Anm. 187, S. 45), S. 744 f.). Gleichzeitig beschreibt Riem in seinen Fragmenten genau, was er unter ‚falschen Aufklärern‘ versteht: „Es giebt falsche Aufklärer, aufbrausende Köpfe, die ihre Einfälle für Philosophie, und ihre Irrthümer für Wahrheiten ausgeben; die so gut, wie ihr, und eben so intolerant ihre Meinungen auf den Thron setzen wollen, um jene ihrer Mitmenschen zu beherrschen, die gewöhnlich da anfangen, wo sie aufhören sollten; die Systeme einstürzen, ehe sie bessere erbauet haben; leuchtende Meteoren, die einen Augenblick glänzen, um auf ewig in Dunkelheit zu verlöschen. […] Ein solcher Mensch ohne geschmeidige Menschenkenntniß, der sich ein Aufklärer zu seyn dünkt, den aber die Vernunft nicht unterstützt; dessen Lehren das Gepräge eines ungeübten Verstandes verrathen; ein solcher verdient den Namen eines Aufklärers nie.“ (Riem: Aufklärung 1 (wie Anm. 422), S. 17 f.). Dennoch kann, wie in Kapitel 3.4.2.1 ausgeführt wird, letztendlich nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob Riems Darstellung, die Israel als ‚moderat‘ beschreibt, der publizistischen Zielsetzung entsprang, im preußischen Königreich für die Aufklärung zu werben oder ob diese Aussagen seiner persönlichen Überzeugung dieser Zeit entsprang. 427 Uta Wiggermann: Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010 (Beiträge zur historischen Theologie 150), S. 171. 428 Vgl. ebd.
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teken gedruckt“ worden, sodass gegen die Verantwortlichen ermittelt werden müsse. Zudem wurde der zuständige Großkanzler Johann Heinrich Casimir von Carmer (1720–1801) angewiesen, Mir [Friedrich Wilhelm II., Anm. M. L.] übrigens Vorschläge zu thun, wie die Bücher-Censur auf einen bessern Fuß eingerichtet werden kann. Ich will meinen Unterthanen alle erlaubte Freyheit gern accordiren, aber Ich will auch zugleich Ordnung im Lande haben, welche durch die Zügellosigkeit der jetzigen so genannten Aufklärer, die sich über Alles wegsetzen, gar zu sehr gelitten hat.429
Am darauffolgenden Tag ordnete Wöllner die Untersuchung von Riems Fragmenten an, „[o]b diese Schartecke die Censur passirt sey oder nicht?“430 Für beide Werke hatte der Geheime Archivar und Kriegsrat Joachim Andreas Schlüter (1723–1804) die Veröffentlichung erlaubt, wodurch Riem, der sich weiterhin weigerte, den Namen des Autors zu nennen, nicht weiter belangt werden konnte. Er wurde lediglich am 3. November für „seine Unbesonnenheit“ abgemahnt, „eine Broschure zum Drucke befördert“ zu haben, „die, besonders in dem Zeitpunkt ihrer Erscheinung, durch die darin enthaltene, eben so heftige und vieldeutige Aeußerungen, das Volk über eine Maasregel der Regierung leicht beunruhigen und irre machen, und ohne den geringsten wahren Nutzen zu stiften nur Haß und Verbitterung unter denen über diese Materie verschieden denkenden Gemüthern“431 hervorgebracht hatte. Gegen Schlüter, der das Amt des Zensors seit Mai 1775 inne hatte, wurde jedoch weiter ermittelt, um herauszufinden, weshalb er beiden Büchern seine Imprimatur gegeben hatte. Dieser sah sich nun gezwungen, die Stellen des zweiten Fragmentes, welche ihm der ermittelnde Generalfiskal Jean Frédéric Benjamin d’Anières (1736–1803) als aufrührerisch vorgehalten hatte, in ihrer Brisanz zu widerlegen, um somit seine erteilte Imprimatur zu verteidigen.432 Auch diese Untersuchung endete mit einem Verweis, denn Schlüter, „einem Manne, der das Officium eines Censors schon so lange bekleidet“, sollte „[d]er Unterschied zwischen bescheidner Prüfung und leidenschaftlicher Verunglimpfung […] billig nicht unbekannt seyn.“433 Kurz nachdem Wöllner die Untersuchung gegen die Fragmente Riems eingeleitet hatte, wandte dieser sich am 24. September 1788 direkt an den König und verwies auf einen, seiner Meinung nach vorherrschenden Widerspruch des Religionsediktes: Er habe sich als reformierter Prediger an die Confessio Sigismundi zu halten, die ihm „als eine bloße Formalität zu unterzeichnen“434 vorgelegt worden war. Die Confessio Sigismundi wiederum hatte der Preußische Kurfürst Johann Sigismund (1572–1619) nach seinem Wechsel von der lutherischen zur reformiert-calvinisti429 Riem: Geschichte (wie Anm. 419, S. 81), S. 35 f., Hervorh. i. Orig. Vgl. hierzu auch: Wiggermann: Woellner (wie Anm. 427, S. 83), S. 171. 430 Riem: Geschichte (wie Anm. 419, S. 81), S. 29, Hervorh. i. Orig. 431 Ebd., S. 52 f. 432 Vgl. ebd., S. 59–78. 433 Ebd., S. 80. 434 Riem: Kurze Nachricht (wie Anm. 392, S. 77), S. 81, Hervorh. i. Orig.
2.3 Andreas Riem
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schen Konfession 1614 erlassen, um seinen Untertanen zu versichern, sie nicht gegen ihren Willen zur Konversion zu zwingen, womit auch eine Garantie ihrer Gewissensfreiheit verbunden war.435 Wie Riem in seinem Brief und in einem Artikel vom November 1788 darlegte, in welchem er ausführlich aus der Confessio Sigismundi zitierte,436 setze die Confessio Sigismundi „keinen Lehrbegriff fest, sondern der Schluß derselben läßt allen Unterthanen, mithin auch den Geistlichen ihre Ueberzeugungen ohne alle Einschränkungen frey.“437 Durch §1 des Religionsediktes sei, so Riem, der Bestandsschutz der drei Konfessionen und ihrer bisher erlassenen Verordnungen – also auch der Confessio Sigismundi – versprochen worden.438 „Gleichwohl besagt eben dieses Edikt, am Ende des 8. §. daß wir gegen unsere Ueberzeugungen Lehren sollen.“439 Riem zählte sich selbst zu den „Unglücklichen, (wenn es ein Unglück ist) welchen die Fortschritte in dem Fache der Theologie und Philosophie, statt ihn dem Lehrbegriffe der Kirche zu nähren, von demselben“ entfernt hätte. Er könne daher nicht mit reinem Gewissen gegen seine aufgeklärte Überzeugung lehren: „Sire! Kein Mann, der in seinen Grundsätzen zu evidenten Ueberzeugungen überging – der die Lehren selbst befolgt die er gibt, kann ein Heuchler seyn, und Grundsätze ausbreiten, die er – verzeihen Sie bester König! – für Wahrheiten anzusehen keine Gründe hat.“440 Als Gründe, weshalb Riem sein Amt nicht aufgeben wollte, gibt er einerseits die Beiträge zur Prediger-Wittwenkasse an. Im Falle einer Amtsaufgabe hätte er diese umsonst eingezahlt und seinen Angehörigen wäre nach seinem Tod eine Auszahlung verwehrt geblieben. Andererseits führt er an, die Ehre des Geistlichen Departements würde kompromittiert, sollte er gezwungen sein, sein Amt niederzulegen: „Denn wer würde diesen Schritt wohl nicht für einen Erfolg von Intoleranz auslegen, da es gewiß ist, das Jeder wie ich, bey ungestörter Freiheit im Denken und Lehren an Niederlegung desselben nie würde gedacht haben.“441 Zudem sei seine Berufung „unter uneingeschränkten Bedingungen in Rücksicht“ seines Glaubens erfolgt: „Mei435 Vgl. Sascha Salatowsky: Dürfen Sozinianer geduldet werden? Obrigkeitliche und theologische Debatten in Brandenburg und Preußen im 17. und 18. Jahrhundert. In: Friedrich Vollhardt (Hg.): Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur. Berlin 2014 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Antitrinitarismus und Sozinianismus in der Frühen Neuzeit 2), S. 223–250, hier S. 223 f. 436 „Wenn ein reformirter Prediger des Königreichs Preußen die Confessio Sigismundi unterschreibt; folgt daraus, daß er nach derselben lehren müsse? Und verbindet ihn wirklich dieses symbolische Buch dazu? Diese wichtige Frage beantwortet die Confessio Sigismundi am besten selbst, wovon der Schluß also lautet: ‚Schließlichen […] wiederfahren.‘ Die oben vorgesetzte Frage beantwortet sich also von selbst – und die Antwort heißt: Nein.“ [Andreas Riem]: Wenn ein reformirter Prediger des Königreichs Preußen die Confessio Sigismundi unterschreibt; folgt daraus, daß er nach derselben lehren müsse? Und verbindet ihn wirklich dieses symbolische Buch dazu? In: Berlinisches Journal für Aufklärung 1.2 (1788), S. 156–159, hier S. 156, 159, Hervorh. i. Orig. 437 Ders.: Kurze Nachricht (wie Anm. 392, S. 77), S. 81 f., Hervorh. i. Orig. 438 Vgl. ebd., S. 82; 19 f. Wiggermann: Woellner (wie Anm. 427, S. 83), S. 135. 439 Riem: Kurze Nachricht (wie Anm. 392, S. 77), S. 82, Hervorh. i. Orig. 440 Ebd., S. 82 f., Hervorh. i. Orig. 441 Ebd., S. 84, Hervorh. i. Orig.
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ne letzte Vocation enthält durchaus keine Vorschrift deshalb, sondern überläßt mir die Lehre, gänzlich.“442 Riem erbat sich von Friedrich Wilhelm die Erlaubnis „Entweder nach meinen Ueberzeugungen ferner lehren, oder mir selbst einen Gehülfen wählen zu dürfen, der in den Fällen, wo es auf Glaubenslehren ankommt, predige, und den Unterricht der Kinder zum Abendmal übernehme.“443 Die Reaktion auf dieses Schreiben war eine Rüge, er habe den offiziellen Dienstweg nicht eingehalten. „[Z]ugleich wurde eine Untersuchung seiner Amtsführung eingeleitet.“444 An Bertuch schrieb Riem am 3. Oktober 1988, er wolle sein Predigeramt niederlegen, denn er sei „der geistlichen Verfolgungen müde, und überdrüßig eines Standes, der in unsern Tagen allmählich ein Schandfleck werden wird, wenn alles geschieht wie Einer will.“445 Am 13. Oktober 1788 stand sein Entschluss fest, sein Amt am 1. Januar 1789 niederzulegen.446 Neben seiner Stelle als Sekretär der Akademie war Riem zwischenzeitlich ebenfalls zum Direktor der akademischen Kunst- und Buchhandlung aufgestiegen. Als ihm in dieser Stellung im Herbst 1789 vorgeworfen wurde, er habe „das Landkarten-Privileg der Akademie der Wissenschaften verletzt“,447 gab seine wohl ungehaltene Antwort Anlass, ihn von seinem Amt des Sekretärs zu suspendieren.448 Am 6. Dezember 1789 schrieb Heynitz, man habe begonnen, die mit „Riem eingegangene Verbindung zu bereuen, indem die Erfahrung leider bewiesen hat, wie wenig derselbe, dem in ihm gesezten Vertrauen entsprochen hat“.449 Es hat den Anschein, als habe Riem entweder sein Amt vernachlässigt, da ihm ebenfalls vorgeworfen wurde, er habe mehrmals „sorgloß einen Termin nach dem andern verstreichen“450 lassen oder er war aufgrund seiner schriftstellerischen Tätigkeit in Ungnade gefallen und eine ihm negativ gesinnte Gruppe versuchte ihn zu denunzieren. Diesen Schluss lässt Heynitz’ Formulierung zu, „[d]er Herr Riem wird selbst ermeßen, daß bey einem solchen Betragen von seiner Seite, das ohnehin geschwächte Zutrauen zu ihm, gänzlich verloschen“451 sei. Schon im Februar 1789 war Riem als Herausgeber der akademischen Monatsschrift Karl Philipp Moritz (1756–1793) zur Seite gesetzt worden. Aus einem Brief an Bertuch vom 14. August 1789 geht hervor, dass Riem Moritz als zudringlich wahrnahm und sich bei Bertuch beschwerte, dass dieser „allenthalben auch in [sein] Amt [des Sekretärs der Akademie, Anm. M. L.] um 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451
Riem: Kurze Nachricht (wie Anm. 392, S. 77), S. 85, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 86. Weber: Fragmente (wie Anm. 331, S. 69), S. 82. Riem u. Bertuch: Kunstakademie (wie Anm. 346, S. 71), S. 11, Hervorh. i. Orig. Vgl. Riem: Kurze Nachricht (wie Anm. 392, S. 77), S. 91; Weber: Fragmente (wie Anm. 331, S. 69), S. 82. Vogtherr: Akademiesekretär (wie Anm. 329, S. 69), S. 56. Vgl. ebd. GStA PK, I. HA Rep. 78 alt III Nr. 80, p. 30r. GStA PK, I. HA Rep. 78 alt III Nr. 80, p. 30r f. GStA PK, I. HA Rep. 78 alt III Nr. 80, p. 30r.
2.3 Andreas Riem
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sich“452 greife. Riem scheint Moritz spätestens ab diesem Zeitpunkt als Konkurrent betrachtet zu haben.453 Am 1. Dezember 1789 beklagte er sich wieder bei Bertuch, Heynitz habe sich mit Wöllner verbündet und selbst Moritz arbeite „mit der niedrigsten Undanckbarkeit“ daran, sich Riems „Postens zu bemächtigen und [ihn] zu verdrängen“.454 Möglicherweise fühlte Riem sich in seiner Vermutung, Moritz habe es auf sein Amt abgesehen, dadurch bestätigt, dass dieser am 2. Februar 1790 anstelle Riems zum Ständigen Sekretär der Akademie ernannt wurde.455 Riems Gehalt, dessen Auszahlung seit seiner Suspendierung eingefroren war, wurde ihm erst wieder ab dem 9. März 1790 zugestanden.456 Auch wenn die Amtsgeschäfte von Moritz weitergeführt wurden, durfte Riem neben seinem Gehalt auch den Titel des Sekretärs der Akademie behalten.457 Zusätzlich hatte Riem ab 1791 im Johannisstift Herford die Pfründe eines Kanonikers inne. Diese wurden abwechselnd von preußischer, kurpfälzischer Seite oder den Mitgliedern des Ordens vergeben, wobei davon auszugehen ist, dass Riem sie durch seine pfälzischen Verbindungen erhalten hat.458 In der folgenden Zeit widmete sich Riem wieder intensiver seinen eigenen theologischen und philosophischen Schriften. So veröffentlichte er 1792 das beinahe 750 Seiten umfassende Werk Christus und die Vernunft oder Prüfung der Wahrheit und Göttlichkeit der Lehre Jesu Christi des christlichen Lehrbegrifs und der symbolischen Bücher. Es stimmt zwar, dass Riem in diesem Buch das Christentum von der asketischen Lehre der jüdischen Gruppierung der Essener ableitet, wie es Katharina Becker zusammenfasst.459 Es ist jedoch nicht richtig, dass Riem die Essener als die „Verfechter der Menschenrechte“ ansah, und das Christentum durch diese Tradition „die Freiheit des Menschen und die Wahrung der Menschenrechte“460 betriebe. Wie in Kapitel 3.1.1.3 näher dargelegt wird, behauptet Riem das genaue Gegenteil: Er wirft Jesus von Nazaret Resignation vor dem Unrecht vor, wodurch dieser die Unterdrücker der Schwachen schütze, statt die Unterdrückten zu unterstützen. Ebenfalls 1792 veröffentlichte Riem seine erste rein philosophische Abhandlung, das Neue System der Natur. Über Gott, Welt, Intelligenzen, und Moralität. Sie erschien – im Gegensatz zu den meisten theologischen Schriften Riems – nicht an452 Riem u. Bertuch: Kunstakademie (wie Anm. 346, S. 71), S. 38. 453 Vgl. Vogtherr: Akademiesekretär (wie Anm. 329, S. 69), S. 52, 56. 454 Riem u. Bertuch: Kunstakademie (wie Anm. 346, S. 71), S. 39; Vgl. außerdem: Ebd., S. 147–151; Vogtherr: Akademiesekretär (wie Anm. 329, S. 69), S. 56. 455 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 78 alt III Nr. 80, p. 37r. 456 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 78 alt III Nr. 80, p. 48r. 457 Vgl. ebd. 458 Vermutlich hatte sein Halbbruder Johann, der weiterhin gute Kontakte in die Pfalz hatte, sich für ihn eingesetzt oder sein Schwager Johann Ludwig von Fliesen (Geburts- und Sterbedaten unbekannt), damals Regierungs- und Konsistorialrat in Speyer. Vgl. Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 17, hier bes. Fn. 34. 459 Vgl. Becker: Theologe (wie Anm. 330, S. 69), S. 74 f. 460 Ebd., S. 75.
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2 Historischer und biographischer Überblick
onym. Dies ist dahingehend verwunderlich, da einerseits der Titel auf das von Paul Henri Thiry d’Holbach (1723–1789) verfasste und 1770 erschienene System der Natur 461 verweist,462 welches einen „dogmatisch-materialistische[n] Atheismus“463 repräsentierte. Andererseits bezeichnet Riem selbst seine Philosophie als einen ‚reineren Materialismus‘, den er von einem ‚gröberen Materialismus‘ abgrenzt, da dieser „alles auf die Organisation leitet, ohne in den Dingen selbst unaufhörliche und ewige Bedingungen des Vorhandenseyns zu finden“.464 Trotzdem fühlte er sich sicher genug, seinen Namen auf ein Werk zu setzen, das ihm den damals schwerwiegenden Vorwurf des Atheismus hätte einhandeln können. Dem Neuen System folgte im Jahr darauf das – wieder unter seinem Namen veröffentlichte – Reine System der Religion für Vernünftige. Auch wenn der Titel eine weitere theologische Abhandlung vermuten lässt, legt Riem in ihm ebenfalls sein durch den Materialismus und Spinozismus geprägtes philosophisches Weltbild dar. So schreibt er in der Einleitung: „Ich habe bisher niederzureißen gesucht die Religionssysteme, die blos dem Eigennutz der Menschen schmeicheln, die seine Hoffnungen täuschen, sein Vertrauen misbrauchen und die großen Probleme der Harmonie zwischen Tugend und Glückseligkeit im Dunkeln lassen.“465 Das Christentum sei hier nicht besser als andere Religionen und selbst der Deismus, „die Religion der neueren Moralphilosophen“, habe ihn nicht befriedigt: „Sie lehrt Unabhängigkeit des moralischen Menschen; und spricht von Geboten Gottes: sie redet von eigner Gesezgebung; und fordert Gehorsam von Gott. Sie stellt Gott als Gesezgeber dar, ohne Macht, sie geben zu können, oder zu gebieten.“466 Während Riem in seinen frühen Schriften nur dann politische Themen anspricht, wenn sie im direkten Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zum Einfluss der Religion oder der Aufklärung auf den Staat und die Gesellschaft stehen, ändert sich dies in den 1790er-Jahren. Auch wenn er die Französische Revolution anfangs höchstens am Rande erwähnte, geht aus seinen Schriften dieser Zeit immer deutlicher hervor, dass er sich mit der französischen Politik beschäftigte. Dennoch betrachtete er die Rolle der revolutionären Republik größtenteils von außen, aus der Perspektive Preußens. Frankreich war für ihn in dieser Zeit in erster Linie eine „außenpolitische Größe, die auf die deutschen Verhältnisse einwirkte.“467 Publika461 [Paul Henri Thiry d’Holbach]: Système de La Nature, Ou Des Loix Du Monde Physique et Du Monde Moral. 2 Bde. London [Amsterdam] 1770. 462 Dass es sich bei dem Titel ebenfalls um eine Anspielung auf Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646–1713) 1695 erschienenen Aufsatz Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen sowie der Vereinigung von Leib und Seele handeln könnte, ist ebenfalls wahrscheinlich, wenn auch der Bezug zum zeitlich näheren und ebenfalls materialistischen System der Natur näher liegt. 463 Schröder: Ursprünge (wie Anm. 35, S. 8), S. 87. 464 Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. IX. 465 Ders.: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 3. 466 Ebd., S. 4. 467 Süßmann: Französische Revolution (wie Anm. 333, S. 70), S. 110.
2.3 Andreas Riem
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tionen politischen Inhalts sind jedoch auch deshalb nicht erschienen, da ihnen von der Zensur die Imprimatur verweigert wurde, wie es im Januar 1792 bei einem Manuskript mit dem Titel Über die Rechte der Regenten und Staaten und die Mittel, wie einer Revolution, ohne Beider Rechte zu beeinträchtigen, begegnet werden kann468 der Fall war. Es lag einem Schreiben Riems vom 20. Januar 1792 bei, das direkt an Friedrich Wilhelm II. gerichtet war und in welchem sich Riem gleichzeitig um ein Amt im Auswärtigen Departement bewarb. Dabei gibt er sich keineswegs zurückhaltend, was seine Verdienste für Preußen anbelangt: Vielleicht wird es Ew: Königl: Majestät auffallend seyn, daß der Mann, den der Staat ganz vernachläßigte; von deßen Talenten, sie seyen gering oder gut, der Staat keinen Gebrauch machen wollte; daß der Mann dem der Staate seinen Schuz, jährlich mit mehr denn 1000 rthl, die er im Außland erwirbt, und hier verzehrt, bezahlen läßt, ohne mich mit mehr als 300 rthl zu entschädigen; daß ein Mann dem sein Fortkommen erschwert ist; noch Neigung fühlen könne diesem Staate zu dienen?469
Trotzdem wolle er sich für eine Stelle bewerben und fühlte sich dafür qualifiziert, denn er habe sich „vorzüglich auf die Politische Geschichte der Staaten gelegt [und] einen großen Theil von Europa, zum Theil Ein, und Zweymal durchreißt, um [sich] nähere Kenntniß desselben aus Erfahrung zu erhalten.“470 Von offizieller Seite wollte man jedoch Riem weder einstellen noch war man mit den in seinem Manuskript formulierten Vorschlägen einverstanden. Eine Druckerlaubnis, so befürchtete man, würde „unter den vorliegenden Umständen eine Approbation der Ideen und Vorschläge des Verfaßers enthalten […], von welcher man doch weit entfernt ist“.471 Spätestens drei Jahre später, im Jahr 1795, machte Riem die Regierung erneut auf sich aufmerksam, indem er mit Europa. In seinen politischen und Finanz-Verhältnissen seine erste politische Zeitschrift herausgab, die jedoch, um die preußische Zensur zu umgehen, in Leipzig gedruckt wurde. Gleichzeitig sandte er ab September desselben Jahres mehrere Briefe und Manuskripte an den Preußischen Kriegs- und Kabinettsminister Philipp Karl Graf von Alvensleben (1745–1802), welcher ebenfalls 1787 als Ehrenmitglied in die Akademie der Künste aufgenommen worden war. Schon aus seinem ersten Schreiben vom 19. September 1795 geht hervor, dass Riem die politische Lage wahrscheinlich anders als sein Adressat einschätzte: „Der gegenwärtige Übergang der Republikaner über den Rhein, ist ein für unseren Staat 468 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 9, Allg. Verw. Nr. F 2 a, Fasz. 24, p. 6. 469 Ebd., p. 8r. 470 Ebd., p. 8v – Riem führt außerdem an, dass er „Mitstifter einer Oeconomischen Societät“ sei. Zudem habe er als „Mitglied einer [a]ndern“ Societät „Finanz- und Cameral-Kentniße“ (ebd.) erworben. Hierbei meint Riem die Leipziger ökonomische Societät, welche zu diesem Zeitpunkt in Dresden ihren Sitz hatte und in der Johann Riem seit 1785 Sekretär war (vgl. Paul: Johann Riem (wie Anm. 327, S. 69), S. 34). In diese Gesellschaft wurde Riem Anfang 1787 als korrespondierendes Mitglied aufgenommen. Vgl. Anzeige der Leipziger ökonomischen Societät in der Ostermesse 1787. Bd. 32. Dresden 1787, S. 5. 471 GStA PK, I. HA Rep. 9, Allg. Verw. Nr. F 2 a, Fasz. 24, p. 6.
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zu glücklicher Vorfall, als daß er nicht einige Ideen in mir hätte hervorbringen sollen, wie unser Hof daraus Vortheil ziehen könnte“.472 Seine Ideen legte er in einem Manuskript mit dem Titel Waß sollte Preußen bey der gegenwärtigen Lage der politischen Angelegenheiten von Europa thun? 473 dar. Er forderte darin – wie auch in seiner Zeitschrift – die preußischen Politiker auf, das Bündnis mit ihren Alliierten zu brechen und ein neues mit Frankreich zu suchen.474 Alvensleben lud Riem daraufhin zu sich ein, um sich persönlich ein Bild von ihm zu machen. Er notierte später, Riem habe ihm einen Brief überlassen, der von einer Person stammen solle, die mit Mitgliedern des französischen Wohlfahrtsausschusses in Verbindung stünde. Riem hatte auf dieser Grundlage einen Plan ausgearbeitet, wie man mit den Mitgliedern des Ausschusses am besten verhandeln sollte. Diesen Plan bezeichnet Alvensleben als lächerlich und politisch laienhaft.475 Riem hingegen interpretierte das Treffen als besonderen Beweis der Gunst des Ministers und überließ ihm den Brief des nicht identifizierbaren Korrespondenten476 und seinen eigenen Plan mit dem Titel Ideen in Betreff des allgemeinen Reichsfriedensschlußes mit Frankreich. Dieser Plan umfasste viele Punkte der im Frieden von Basel angelegten Ergebnisse und konkretisierte sie: Das linksrheinische Gebiet solle dauerhaft an Frankreich fallen und der Rhein als sichere Grenze eingerichtet werden. Durch eine Säkularisation kirchlichen Besitzes solle Geld eingenommen und Fürsten, deren Besitz im Linksrheinischen lag, entschädigt werden. Eine Garantie sollte ein Bündnis zwischen dem Reich, Preußen und Frankreich darstellen.477 Riem ließ Alvensleben weitere Briefauszüge zukommen und schließlich auch am 6. November 1795 das dritte Stück seiner eigenen politischen Zeitschrift.478 Wahrscheinlich war die Regierung schon auf diese Zeitschrift aufmerksam geworden, bevor Riem ein Exemplar an seinen vermeintlichen Freund geschickt hatte. Anfang November wurde erörtert, „ob die Hinwegweisung des Riem ausser Landes, in den Landes-Gesetzen gegründet sey?“ Das Gutachten hierzu fiel eindeutig aus und ist ein bezeichnendes Dokument der Situation von Politik und Justiz in Preußen zu dieser Zeit: „Dieses Resultat ist nun die unbedingte Verneinung dieser Frage.“479 Es folgte eine juristische Erörterung nach den in Frage kommenden Paragraphen des im vorherigen Jahr erlassenen Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (PrALR): Riem konnte weder wegen des Sammelns oder des Besitzes von geheimen Nachrichten oder Operationsplänen480 noch aufgrund eingegan472 473 474 475 476 477 478 479 480
GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 5r. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 6r–7r. Vgl. hierzu auch: Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 19. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 8. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 9r f. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 10r–11v. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 23r. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 161r, Hervorh. i. Orig. Vgl. PrALR P. II. Tit. XX. §. 129.
2.3 Andreas Riem
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gener Verbindungen, „wodurch der Staat auf irgend eine Art in ä ußere Unsicherheit, oder gefä hrliche Verwickelungen gerathen kö nnte“,481 ausgewiesen werden. Als Strafe für diese Vergehen sei lediglich eine Geld- oder Haftstrafe fällig, aber kein Landesverweis.482 Ein Landesverweis stelle jedoch „[d]as dem Riem von Einem hohen Cabinets Ministerio bestimmte Schicksal“ dar. Die Befürchtung war, dass Riem bei einem Verfahren das Recht besessen hätte, eine „Untersuchung zu verlangen“. Hierbei wäre wiederum zu befürchten, dass diese für Riem einen „schwereren Ausgang, als seine Hinwegweisung aus dem Lande ist, haben könnte; deß Umstandes nicht zu gedenken, daß Ein hohes Cabinetsministerium, vielleicht, aus politischen Gründen, eine solche Untersuchung für unthunlich halte.“483 Der einzige Paragraph, der Riem seinem vorbestimmten Schicksal zuführen würde, wäre Paragraph 191, der besagte, dass Landstreicher ohne Wohnsitz und Einkommen über die Grenze gebracht werden könnten, auch wenn sie sich keines Verbrechens schuldig gemacht hätten.484 Das Gutachten stellte hierauf abschließend fest: Eine rechtliche Analogie zwischen dem Vergehen des Riem u. dem eines solchen Landstreichers existirt nicht, aber das ist gewiß, daß den der Nachtheil, welcher, möglicher Weise, aus des Riem Benehmen, für das Staats-Interesse Seyner Ew. Majestät, erwachsen kann, ungleich größer ist, als der Nachtheil, welchen ein Landstreicher dem Staate bringt. Hieraus ergibt sich nun, daß die Hinwegweisung des Riem über die Gränze zwar keineswegs gesez- u. justizmäßig ist, aber daß vielleicht dadurch ihm ein härteres, nach Befinden des Ausgangs einer Untersuchung, sowie gesetzlich harrendes Schicksal erspart, und dem Staat von möglichen und unübersehbaren Folgen des möglichen bedenklichen künftigen Betragens des Riem befreyet wird.485
Am 13. November 1795 wurde an den König die Empfehlung geschickt, er möge Riems Zeitschrift verbieten, da sie – obwohl sie im Ausland gedruckt werde – Preußen kompromittieren könnte, „wenn die, obgleich unbegründete Vermutung entstehen sollte, der Herausgeber werde hier geschützt oder begünstigt“.486 Er solle außerdem dem „hiesigen Policeydirectorio anzubefehlen geruhen wollen, den Canonicus Riem über die Landesgränze zu bringen, und ihm dabey die ernstliche Verwarnung zuertheilen, daß, wenn er“ wieder Preußen betrete, „er arretirt werden solle“.487 Am gleichen Tag schrieb Riem seinen letzten Brief aus Berlin an Alvensleben. Er berichtete ihm darin von neuen „gegenwärtig minimal etwas angenehmern Nachrichten“488 aus Paris von seinen dortigen „Freunden, die von höchstem Gewicht 481 482 483 484 485 486 487 488
PrALR P. II. Tit. XX. §. 119. Vgl. PrALR P. II. Tit. XX. §. 130, §. 119. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 162r, Hervorh. i. Orig. Vgl. PrALR P. II. Tit. XX. §. 191. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 162v, Hervorh. i. Orig. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 163r. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 164v, Hervorh. i. Orig. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 165r. – Er spielt u. a. auf die Niederschlagung eines Aufstandes von Royalisten am 5. Oktober 1795 in Paris an.
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sind“. Er habe eigenmächtig eine Korrespondenz eingeleitet und versucht auf das Direktorium einzuwirken. Von Alvensleben wollte er daher wissen, „wohin ich arbeiten soll, denn ich möchte auf keinen Fall einem Kabinet durch Privat Einflus in den Weg tretten, der bedeutend ist, da sich gleiche Denkungsart immer begegnet; und dadurch Plane vereiteln, deren Recognition, unter Andern Umständen mir gar nicht zusteht.“489 Vier Tage später, in der Nacht vom 17. auf den 18. November 1795, wurde Riem nach Baruth an die Grenze zu Kursachsen gebracht und abgeschoben.490 Seine Frau Sidonie und ihre drei Kinder, die Riem nie wieder sehen sollte, waren gezwungen, ohne sein Gehalt auszukommen. Ihnen half anfangs Sidonies Bruder, Carl Wilhelm Cosmar (1763–1844), der seit 1786 zweiter und später erster Pfarrer der Hofgerichtskirche in Berlin war. Ebenfalls wurde sie von Henriette Herz unterstützt.491 Erst im Februar 1799 wurde ihr eine Pension von 100 Reichsthalern zugestanden, um von fremden Zuwendungen unabhängiger sein zu können.492 Riems weitere Schritte wurden unterdessen nach seiner Ausweisung von den preußischen Stellen und Informanten im Ausland genauestens beobachtet: Am 27. November wurde aus Dresden vom dortigen preußischen Gesandten Karl Christian von Brockhausen (1766–1829) gemeldet, er würde sich dort seit fünf Tagen bei seinem Bruder versteckt halten und bald nach Leipzig abreisen.493 Aus Dresden schrieb Riem nochmals an Alvensleben. Riem wusste nicht, dass dieser an seiner Ausweisung beteiligt war und erhoffte sich von ihm Hilfe bei seiner Rehabilitierung. Um diese zu ermöglichen, versprach er, weiterhin für Preußens Interessen zu wirken, obwohl es seine Bemühungen verkannt hätte. Riem erhielt keine Antwort.494 Aus Frankfurt am Main wurde am 1. Dezember 1795 berichtet, Riem sei dort gewesen und habe vorgegeben, direkt nach Paris weiterzureisen.495 Weitere Berichte von preußischer Seite sind nicht bekannt. Aus einem in der Zeitschrift Frankreich im Jahre 1796 veröffentlichten Tagebucheintrag eines unbekannten Verfassers vom 14. Januar 1796 geht hervor, dass sich „[d]er wegen seiner politischen Schriften aus Berlin verbannte Canonicus Riem […] seit einigen Wochen“ in Paris aufgehalten habe. Er wird dort höchstwahrscheinlich bei seinen gegenüber Alvensleben erwähnten Freunden untergekommen sein und war durch sie weiterhin über die politische Lage informiert. In Paris war man zu dieser Zeit davon überzeugt, dass nach dem 1795 in Basel geschlossenen Frieden zwischen Frankreich und Preußen auch der Krieg mit Österreich bald beendet sein würde. Riem, der trotz seiner Ausweisung als „preußischer Patriot“ beschrie489 490 491 492 493 494 495
GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 166r, Hervorh. i. Orig. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 184. Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 47. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 78 alt III Nr. 80, p. 90. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 189. Vgl. ebd., S. 251–253. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, p. 192v.
2.3 Andreas Riem
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ben wird, versicherte dem Tagebuchschreiber „aus guten Händen und von mehreren Seiten her zu wissen, daß die Friedensverhandlungen mit Oesterreich schon weit gediehen wären, und der Friede nahe sey.“ Er wünschte daher, „daß das preußische Cabinet das österreichische nicht aus dem Auge lassen möchte, um nicht am Ende bey dem Frieden Oesterreichs mit Frankreich bereuen zu müssen, daß es nicht gleich mit dem Frieden auch eine Off- und Defensiv-Allianz mit Frankreich geschlossen habe.“496 Was seine publizistische Tätigkeit anbelangt, führte Riem lediglich die in seiner Berliner Zeit begonnenen politischen Zeitschriften weiter: Als Nachfolgepublikation von Europa. In seinen politischen und Finanz-Verhältnissen erschienen zwischen 1795 und 1799 zwölf Hefte mit dem Titel Europens Politische Lage und Staats-Interesse. 1798 und 1799 veröffentlichte Riem zudem zwei Bände vom Tagebuch der merkwürdigsten Weltbegebenheiten; nebst einem Commentar über die wichtigsten Zeitungsartikel. Philosophie- bzw. theologietheoretische Bücher verfasste Riem nach 1795 nicht mehr. Stattdessen begann er, seine Reisen, die er früher unternommen hatte und nun eher unfreiwillig tätigen musste, niederzuschreiben und ab 1796 als Reisen durch Deutschland, Frankreich, England und Holland in verschiedener, besonders politischer Hinsicht zu veröffentlichen. Gerade in seinem ersten Band, der vor allem seine Reise durch Deutschland beschreibt, verarbeitete er seine Erlebnisse des letzten Jahres, die zu seiner Verbannung führten: Es habe auffallende Differenzen zwischen den politischen Grundsätzen des preußischen Kabinetts und Riem gegeben. Die Minister wollten das Verderben nicht sehen oder erkannten es nicht. Auf ihn hören wollten sie jedenfalls nicht: Ich unterhielt eine schuldlose Correspondenz mit einigen der größten Staatsmänner, und indem ich jedesmal dem Kabinet die Resultate derselben vorlegte, so hoffte ich, dasselbe allmählig von den verderblichen Maaßregeln zurückzubringen, die alle seine Negotiationen für sich und Deutschland fruchtlos machen. Zum Erstaunen aller derjenigen, die gemeinschaftlich mit mir für Preußens Wohl arbeiten, wurde ich verbannt.497
Er selbst könne nicht, so wie viele Verbannte, den Staat kalt von außen betrachten, da er dort zu viele Männer kenne „und deren Freundschaft und Achtung mich glücklich machte“.498 Ebenfalls 1796 erschien mit Behemoth. Der Roman über alle Romane. Oder Leben, Thaten und Meynungen des irrenden Ritters Orthodox welcher gegen 2000 Jahre lebte und jetzo an der Auszehrung gar jämmerlich und gefährlich darnieder liegt. Eine Feen- und Popanzen-Geschichte fürs ganze Volk. Historia des alten Bundes. Gedruckt in diesem Jahre ein satirischer Roman, in welchem er mit der Politik des preußi496 Auszüge aus den Briefen eines Nordländers. In: Frankreich im Jahre 1796. Aus den Briefen Deutscher Männer in Paris 1 (1796), S. 232–246, hier S. 235 – Zu einem Frieden zwischen Frankreich und Österreich kam es erst am 17. Oktober 1797 mit dem Frieden von Campo Formio. 497 Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 4 f., Hervorh. i. Orig. 498 Ebd., S. 12.
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schen Königshauses, dessen Ministern und Beratern sowie der Kirche und Religion abrechnete. Vermutlich wurde das Werk schon in Preußen begonnen, da einige Kapitel vorab in Georg Friedrich Rebmanns (1768–1824), an Wilhelm Ludwig Wekhrlin anknüpfende Zeitschrift Das Neue graue Ungeheuer veröffentlicht wurden.499 Im Behemoth werden die Herrscher von Riem als eigennützig und selbstbezogen dargestellt: Werden sie vor die Wahl gestellt, selbst zu verhungern „oder de[n] Tod [ihrer] Unterthanen“ in Kauf zu nehmen, wählten sie „weislich das Letztere, weil es nur die Unterthanen betraf“.500 Gegen „sogenannte[] Aufklärer, die blos der Vernunft folgen“,501 müsse, so der König, ein Edikt gemacht werden, „gegen die Vernunft und die Aufklärer“. Sein Feldherr und Berater solle ihnen ebenfalls befehlen, „daß sie an die Erbsünde […] und alles glauben sollen, was meine Priester sagen, und wenn es noch so unglaublich wäre“, worauf dieser ihm beipflichtet: „Allerdings Sire! man muß das Volk in seiner Dummheit erhalten, damit sie desto leichter regiert werden können. Vernunft und Klugheit sind Gift und Pestilenz für Despoten und Alleinherrscher.“502 Im Sinne des Religionsediktes ist dem König alles egal, „wenn die Leute nur glauben und pariren. Meine Prediger müssen überhaupt viel Schatten machen, denn es sitzt sich gut darunter, und man sieht nicht alles, wie die Sonne, was man nicht sehen soll. O! ihr Stützen meines Thrones, Priester und Leviten! Pestilenz der Freyheit und der Vernunft! ich will euch belohnen, wenn ihr Aristokraten bleibt“.503 Dem Behemoth folgte im gleichen Jahr in zwei Teilen Der Substitut des Behemoth oder Leben, Thaten und Meinungen des kleinen Ritters Tobias Rosemond 504 sowie ein dritter Teil, der 1798 erneut unter dem Titel Infernale. Eine Geschichte aus Neu-Sodom dramatisiert 505 herausgegeben wurde. Riems genaue Aufenthaltsorte können nach 1796 nur schwer rekonstruiert werden. Vereinzelte Anhaltspunkte lassen sich in seinen Reiseberichten finden. Ihnen zufolge war er, nachdem er Paris verlassen hatte, 1796 und 1797 vor allem in den Niederlanden bzw. der zwischen 1795 bis 1806 bestehenden Batavischen Republik unterwegs. Er befand sich hierbei im Gefolge von französischen und batavischen Gesandten. Mit diesen war er beispielsweise 1796 von Den Haag nach Kassel gereist und hielt sich im Hauptquartier des französischen Generals Jean-Baptiste Jourdan 499 Vgl. Das Neue Graue Ungeheuer 1 (1795), S. 121–133. 500 [Andreas Riem]: Behemoth. Der Roman über alle Romane. Oder Leben, Thaten und Meynungen des irrenden Ritters Orthodox welcher gegen 2000 Jahre lebte und jetzo an der Auszehrung gar jämmerlich und gefährlich darnieder liegt. Eine Feen- und Popanzen-Geschichte fürs ganze Volk. [Hamburg] 1796, S. 32, Hervorh. i. Orig. 501 Ebd., S. 112. 502 Ebd., S. 113. 503 Ebd., S. 118. 504 [Andreas Riem]: Der Substitut des Behemoth oder Leben, Thaten und Meinungen des kleinen Ritters Tobias Rosemond. Eine Geschichte aus uralten Zeiten. Erster und zweiter Theil. Bagdad [Hamburg] 1796. 505 Ders.: Infernale. Eine Geschichte aus Neu-Sodom dramatisiert. West-Indien [Hamburg] 1798.
2.3 Andreas Riem
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(1762–1833) auf: „Meine Freunde und ich ließen uns das Schloß des Landgrafen [zu Hessen-Homburg in Homburg vor der Höhe, Anm. M. L.] zur Wohnung anweisen, um es gegen alle mögliche Beleidigung zu sichern. Ich für meinen Theil machte aus Achtung für den Fürsten keinen Gebrauch davon, und wohnte bei einem Freunde.“506 Er scheint sich Hoffnung gemacht zu haben, als Gesandter der Batavischen Republik nach Berlin zurückkehren zu können, was nicht erfolgreich war.507 Bei seinem erwähnten Freund wird es sich wahrscheinlich um den ehemaligen Hofrat Franz Wilhelm Jung (1757–1833) gehandelt haben. Jung wurde 1794 aufgrund seiner Sympathie für die Revolution und die Mainzer Republik aus den Diensten des Landgrafen entlassen. Trotz seiner Entlassung setzte er sich nach der Besetzung Homburgs für die Familie des Landgrafen und für die Neutralität der Stadt ein und war hierbei sehr erfolgreich.508 Eingedenk seines eigenen Schicksals betont Riem daß das Schicksal des Regenten [von Hessen-Homburg, Anm. M. L.], seiner Besitzungen und Unterthanen ganz in der Hand desjenigen war, den Er, hintergangen durch schlechte Menschen, von sich entfernt hatte. Ich nenne Ihm laut meinen Freund, den Hofrath Jung, dem Er zum zweitenmal seine Rettung verdankte, und der Ihn eben so hochschätzt, als liebt, und der unermüdet für Ihn und sein Land bey und durch uns arbeitete.509
In den Niederlanden war Riem mit dem dortigen Abgeordneten Jacob George Hieronymus Hahn (1761–1822) befreundet. Dieser gehörte der batavischen Nationalversammlung an und war nicht nur einer der häufigsten Redner, sondern stach auch aufgrund seines intellektuellen Niveaus hervor. Nicht nur das Interesse an der Gleichstellung der Juden, sondern auch das Engagement für Menschenrechte verband ihn thematisch mit Riem.510 So übersetzte Riem eine Rede Hahns Über die vollkommene Gleichstellung der Juden mit den übrigen Bürgern, die er in seinen Reiseberichten abdruckte.511 Hahn, der aufgrund seiner gelähmten Beine auf die ständige Begleitung durch zwei Träger angewiesen war,512 führte Riem zudem 1796 in die patriotische Gesellschaft in Den Haag ein. Wer da glaubt, daß irgend etwas, welches Beziehung auf Partheien oder die Republik habe, hier debattirt oder wie in den weiland Jakobinerclubbs zu Paris abgemacht werde, der irrt sich sehr. 506 Ders.: Reise durch Holland in den Jahren 1796 und 1797 in Beziehung auf die Geschichte der Republik und ihre gegenwärtige Lage. Bd. 1. Frankfurt u. Leipzig 1797 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 2), S. 13. 507 Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 247. 508 Jung spielte ab 1798 eine wichtige Rolle in Mainz und versuchte, die dortige Universität wieder zu beleben, was am Widerstand der Franzosen scheiterte. – Vgl. hierzu v.a. Martin Glaubrecht: Jung, Franz Wilhelm. In: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 672–674, hier S. 673. 509 Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506), S. 14 f., Hervorh. i. Orig. 510 Vgl. Joris Oddens: ,Een lam republikeintje als ik‘ – Jacob Hahn, het achttiende-eeuwse gevoelsdenken en de ordeverstoringen in de Nationale Vergadering. In: Peter van Dam, Bram Mellink u. Jouke Turpijn (Hg.): Onbehagen in de polder. Nederland in conflict sinds 1795. Amsterdam 2014, S. 145 f. 511 Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506), S. 77–102. 512 Vgl. Oddens: Een lam (wie Anm. 510), S. 145.
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2 Historischer und biographischer Überblick Es ist weiter nichts, als eine Erholungsgesellschaft, wo alle periodische Blätter und Zeitungen zu finden sind, und man essen und trinken und seine Pfeife Taback rauchen oder ein Spiel machen kann.513
Trotzdem bekam Riem in dieser Gesellschaft mehrmals Gelegenheit, mit den Repräsentanten der Batavischen Republik zusammenzukommen und zu debattieren.514 Den Winter 1796/97 verbrachte Riem in Gesellschaft des Gesandten der Batavischen Republik in Württemberg, Paul Strick van Linschoten (1769–1819). Riem schreibt später über diesen: Die ganze batavische Republik hat nur einen einzigen Reichen aufzuweisen, der alle Oberherrlichkeitsrechte aufopferte, und seine Unterthanen ganz frei, und sich zu ihrem Mitbürger machte. Sein Nahme verdient auf die Nachwelt zu kommen, und ich nenne ihn der gegenwärtigen Zeit mit so viel mehr Vergnügen, als ich sein Freund bin, und seine ächt republikanische Denkungsart genau kenne.515
Inwiefern Riem mit Georg Friedrich Rebmann bekannt oder befreundet war, kann nicht genau rekonstruiert werden. Riem scheint ihn noch kennengelernt zu haben, bevor er aus Preußen verbannt wurde. Diese Vermutung wird durch einen Brief gestützt, den Rebmann an Riem nach Berlin schickte, nachdem dieser ausgewiesen worden war. In seinem Brief bat Rebmann, der selbst verfolgt wurde und von Erfurt nach Altona geflohen war, Riem um Hilfe auf seiner Flucht. Der Brief wurde als nachträgliche Rechtfertigung von Riems Ausweisung herangezogen.516 Da beide ein ähnliches Schicksal teilten und vergleichbare politische Positionen vertraten, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Riem und der beinahe 20 Jahre jüngere Rebmann nach ihrer Flucht in die französischen Gebiete den Kontakt aufrecht hielten oder sogar intensivierten. Rebmann hielt sich von 1796–1798 in Paris auf. Er war ab 1798 Richter in Mainz und 1799–1803 am Revisions- bzw. Appellationsgericht in Trier. Ab 1803 kam er wieder nach Mainz und war dort unter anderem Präsident des Kriminalgerichts des Departements Donnersberg, zu welchem auch die Vorderpfalz mit Riems Lebensmittelpunkten Neustadt, Frankenthal und Speyer gehörte.517 Seit 1797 lebte Riem zusammen mit Henriette Rahelena Beltz und bekam mit ihr am 13. 12. 1797 in Heidelberg einen Sohn.518 Ab 1797 veröffentlichte er Empfehlungen an den Rastatter Kongress, die zwischen 1797 und 1798 in mehreren Auflagen 513 Andreas Riem: Reise durch Holland in den Jahren 1796 und 1797 in Beziehung auf die Geschichte der Republik und ihre gegenwärtige Lage. Bd. 2. Frankfurt u. Leipzig 1797 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 3), S. 431, Hervorh. i. Orig. 514 Vgl. Ders.: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 115 f. 515 Ders.: Reise, Holland 2 (wie Anm. 513), S. 349 f. 516 Vgl. Welker (Hg.): Andreas Riem (wie Anm. 323, S. 69), S. 18; Georg Seiderer: Rebmann, Georg Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 226–228, hier S. 227; Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 256 f. 517 Vgl. Seiderer: Rebmann (wie Anm. 516), S. 227. 518 Vgl. Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 20 f.; Riem u. Bertuch: Kunstakademie (wie Anm. 346, S. 71), S. 157.
2.3 Andreas Riem
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erschienen und mit welchen er versuchte, auf die Verhandlungen Einfluss zu nehmen.519 Der Kongress von Rastatt wurde von Riem ebenfalls in seiner Zeitschrift Tagebuch der merkwürdigsten Weltbegebenheiten; nebst einem Commentar über die wichtigsten Zeitungsartikel ausführlich besprochen. Im Zuge dieser Schriften erschien 1798 außerdem Riems – neben seinen 1788 veröffentlichten Fragmenten – wohl heute noch bekanntestes Werk Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland.520 Es wurde, bevor es im eigenständigen Druck erschien, zuerst in Riems Zeitschrift Europens Politische Lage und Staats-Interesse veröffentlicht,521 wurde jedoch von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen.522 Während Riem, wie in Kapitel 3.2.3 beschrieben wird, für Juden eine generelle Sympathie hegte und – wie sein niederländischer Freund Hahn – Fürsprecher einer vollkommenen Gleichberechtigung war, betont er in seiner Apologie zu großen Teilen den wirtschaftlichen Nutzen der Juden. Zusätzlich würden die Lasten, die aus der Benachteiligung der Juden für die christlichen Bürger entstünden, wegfallen.523 Dass Riem in seinem 1801 erscheinenden Roman Leviathan oder Rabbinen und Juden524 hingegen „exzessive Rabbinerschelte“525 betrieben habe oder den Talmud in seinem Behemoth verspottete, widerspricht nicht seiner generellen Hochachtung gegenüber Juden. Vielmehr ist es Ausdruck seiner konsequenten Religionskritik, die unaufgeklärte Auswüchse der religiösen Institutionen und Ämter als schädlich kritisiert und hierbei keine der Offenbarungsreligionen einer anderen vorzieht oder als schlechter bewertet.526 Im Frühjahr 1798 wurde Riem durch „das despotische Triumvirat, das keine rechtschaffene Bürger im Staate leiden wollte“, aus Frankreich verbannt. Der genaue Grund hierzu ist nicht bekannt, wahrscheinlich hatte es jedoch mit Riems Publikationen oder anderen Äußerungen zu tun, da er hierzu schreibt: „Ich hatte mei519 [Andreas Riem]: An den Congreß zu Rastadt. Von einem Staatsmanne. [Leipzig] 1797; Ders.: Supplement zu der Schrift: An den Congreß zu Rastadt. Von einem Staatsmanne. [ohne Ort] 1798. 520 Ders.: Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland. An den Congreß in Rastadt gerichtet. Zwei Teile. [ohne Ort] 1798; Ders.: Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland. Mit einer Einleitung zum Leben und Werk des Autors von Walter Grab. Hg. v. Georg Bürger. Tübingen 1998. 521 Ders.: Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland – An den Congreß in Rastadt gerichtet. In: Europens Politische Lage und Staats-Interesse 7 (1798), S. 99–144; Ders.: Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland – An den Congreß in Rastadt gerichtet. Fortsetzung. In: Europens Politische Lage und Staats-Interesse 8 (1798), S. 3–43. 522 Vgl. Heinrich: Riems Apologie (wie Anm. 332, S. 69), S. 100. 523 Vgl. ebd., S. 102 f. 524 [Andreas Riem]: Leviathan oder Rabbinen und Juden. Mehr als komischer Roman und doch Wahrheit. Voll der kurzweiligsten Erzählungen und doch Ernst. Vom Verfasser des Behemoth. Erste, zweyte und dritte Parascha. Jerusalem, Im Jahre nach der kleinen Zeitrechnung 561. Der Christlichen 1801. Der Republikanischen 9. [Leipzig] 1801. 525 Heinrich: Riems Apologie (wie Anm. 332, S. 69), S. 104. 526 Hierzu ausführlicher Kapitel 3.1.1.1. Vgl. zudem: Merkel: Literat (wie Anm. 322, S. 68), S. 7; Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 364.
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ne Grundsätze, nach welchen ich meine Meinungen bestimmte, und diese können nicht die ungereimtesten oder schrecklichsten Behandlungen, sondern bloß überzeugende Beweise, daß sie unrichtig sind, mir entreißen.“527 Hintergrund dieser Ausweisung scheint gewesen zu sein, dass Riem zum Beisitzer des Frankenthaler Gerichts vorgeschlagen wurde, dieser Vorschlag jedoch von der Mainzer Justizverwaltung abgelehnt wurde. „Riem hatte den dafür nötigen ‚rapport de la moralité‘ nicht erhalten, weil schwere Vorwürfe gegen ihn erhoben wurden. Welcher Art sie waren, wurde ihm nicht angegeben.“528 Gegen Riem wurde ermittelt und im April erhielt er den Befehl, innerhalb von zehn Tagen das französische Gebiet zu verlassen, da er ansonsten als Spion festgenommen würde. Ein Widerspruch Riems wurde abgelehnt; es gelang ihm trotzdem, in der Pfalz zu bleiben.529 Ende 1799 begleitete Riem die französische Armee über den Rhein und geriet im September bei Mannheim in österreichische Gefangenschaft. Zusammen mit dem Hauptquartier der Armee wurde Riem im Oktober nach Donaueschingen verlegt.530 Auch wenn Riem 1800 nur den siebten Teil seiner Reiseberichte, den zweiten Band seiner Reise durch Frankreich vor und nach der Revolution531 herausgab, ist es dennoch unwahrscheinlich, dass er, wie es seinen Nachkommen zufolge der Fall gewesen sein soll, einige Monate in Oberitalien interniert war. Hierzu fehlt in seinen Schriften jeglicher Hinweis.532 Nachdem 1801 der achte und letzte Band von Riems Reisebeschreibungen herausgekommen war,533 sollte dies für die kommenden acht Jahre seine letzte Publikation sein. Zu den politischen Ereignissen und Entwicklungen der nachfolgenden Zeit äußerte sich Riem nie wieder öffentlich. Um 1802 lebte er in Neustadt an der Haardt534 und bezeichnete sich als Schriftsteller. Kurz darauf arbeitete er als Rechtsbeistand 527 Andreas Riem: Reise durch Frankreich vor und nach der Revolution. Bd. 2. [Leipzig] 1800 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 7), S. 88, Hervorh. i. Orig. 528 Merkel: Literat (wie Anm. 322, S. 68), S. 7. 529 Vgl. ebd. – Riem erwähnt diesen Prozess im siebten Band seiner Reisebeschreibung: Ein Angestellter der Kommunalverwaltung in Frankenthal namens Weigand, der aufgrund seiner Konversion zum katholischen Glauben von den Franzosen als vertrauenswürdig betrachtet wurde, habe ihm unliebsame Bürger verleumdet und Zeugenaussagen gefälscht. In Mainz habe er für seine Denunziationen immer ein offenes Ohr gefunden, konnte jedoch, als er nicht mehr gehalten werden konnte, nicht entsprechend verurteilt werden, „denn seine Ankläger waren Protestanten; der Beklagte ein Proselit und seine Beschützer – bigotte Menschen.“ Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527), S. 103. 530 Vgl. Ders.: Reise durch Frankreich vor und nach der Revolution. Bd. 3. [Leipzig] 1801 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 8), S. 62; Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 21. 531 Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527). 532 Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 346; Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 21. – Dass er zudem Napoleon auf dessen Ägyptischen Expedition begleitet habe, ist noch viel unwahrscheinlicher. 533 Riem: Reise, Frankreich 3 (wie Anm. 530). 534 Heute: Neustadt an der Weinstraße.
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und war am Arrodissement-Tribunal tätig. Nachdem dieses nach Speyer verlegt worden war, erwarb Riem dort 1804 das Bürgerrecht und zog mit seiner Familie dorthin.535 Riem wandte sich in seiner Zeit in Speyer einem neuen Projekt zu, welchem er seine letzten beiden Veröffentlichungen 1809 widmete: Er versuchte eine Zeichenschrift zu entwickeln, welche die Kommunikation zwischen verschiedensprachigen Menschen ohne Dolmetscher und Kenntnis der fremden Sprache ermöglicht: Neben einer einfachen Übersetzung der Wörter sollte die Schrift auch grammatische Informationen beinhalten, um die Gesamtheit des Informationsaustausches unabhängig von der Ausgangs- und Zielsprache zu gewährleisten. Wörterbücher seien als einfache „Wort-Lieferanten“ anzusehen, während Riem sich ausmalte, die Wörter in Beziehung auf Zahl, Vergleichung, Art, Zustand, Zeiten und Personen, nach allen Bedürfnissen der Darstellung lenk- und biegsam [zu machen], das [es] ein diensames Instrument w[ü]rde, alle Sprachen unter sich in leichte Beziehung zu bringen, und ein Mittel zu werden, ohne irgend eine Kenntniß anderer Sprachen, durch ein bloßen Mechanismus, sich in der uns unbekannten Sprach-Welt vollkommen deutlich zu machen.536
Riem ließ sich ein Gerät anfertigen, das er ‚Conjugator‘ nannte. Inspiriert von der Erfindung der Pasigraphie durch Joseph de Maimieux (1753–1820) sowie der „Pasi-Telegraphie“537 durch den in Württemberg angestellten Emigranten Armand-CharlesDaniel de Firmas-Périés (1770–1828), gelang es Riem, durch seinen Conjugator „mit einer einzigen Haupt-Bewegung einen mäßigen Brief auf einmal, und in allen dazu eingerichteten Sprachen zugleich leßbar signalisiren“ zu können. Als Anwendungsgebiet schwebte ihm vor, mit ihr „Taubstummen jede Sprache“ beibringen zu können, „die man wünscht. Ferner fand ich, daß sie einem Souverain, der sich gerne ohne Dollmetscher mit Gesandten fremder Nationen selbstverständigen will, vollkommen die Dienste eines lebendigen Interpreten leistet.“538 Von seinen anfänglichen Überlegungen zu den Möglichkeiten einer solchen Kommunikation war er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung abgekommen. Anfangs hoffte er nicht weniger, als dass seine Erfindung einen Beitrag dazu leiste, „die getrennten Nationen wieder in ein vertrauliches Ganzes“ zu vereinigen: Sie wären dann „unter sich nicht mehr Automaten, die mit einander fremde Dialekte aussprechen, ohne einen Ton zu verstehen. Wo ich hinkomme, bin ich gleichsam zu Hause, denn ich habe ein Mittel, mein Verlangen, meine Bedürfnisse, und selbst meinen Hang, ihnen nützlich zu werden, deutlich zu machen.“539 Mit zunehmenden Alter konnte Riem, schwerhörig und beinahe blind, nicht mehr als Anwalt arbeiten und verarmte. Sein mittlerweile in der Uckermark als Patri535 Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 384; Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 22; Merkel: Literat (wie Anm. 322, S. 68), S. 7. 536 Andreas Riem: Uiber [sic] Schrift-Sprache und Pasigraphie. Erstes Stück. Mannheim 1809, S. 52 f., Hervorh. i. Orig. 537 Ebd., S. 56, Hervorh. i. Orig. 538 Ebd. 539 Ebd., S. 53 f.
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2 Historischer und biographischer Überblick
monialrichter arbeitender Sohn Johann August Friedrich Ludwig Riem (1786–1876) nahm 1810 oder 1811 Kontakt zu seinem Vater auf. Als er von dessen Situation erfuhr, unterstützte er ihn finanziell und bot an, ihn zu sich nach Preußen zu holen. Riem wollte seine neue Lebensgefährtin Henriette Rahelena Beltz und ihren gemeinsamen Sohn mitnehmen. Johann wandte sich daraufhin an die Brüder seiner Mutter Sidonie, die dieses Vorhaben strikt ablehnten. Obwohl die Briefe seines Vaters daraufhin ungehalten gewesen sein sollen, unterstützte sein Sohn ihn weiterhin durch die Begleichung von Schulden.540 1811 beantragte Riem in Speyer eine finanzielle Unterstützung, um seinen Haushalt aufrecht erhalten zu können. Im Dezember wurde er in das Speyrer Bürgerhospital aufgenommen und erhielt Kost und Logis. Dort verstarb er am 21. März 1814.541
540 Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 395. 541 Vgl. Welker: Daten und Fakten (wie Anm. 326, S. 69), S. 23. – In der neueren Literatur, sogar bei Israels 2011 erschienenem Democratic Enlightenment, wird 1807 als Riems Todesjahr angegeben. Hierbei dürfte es sich um eine Verwechslung mit dem Tod seines Bruders Johann 1807 handeln.
2.4 Erfahrungen von Repression, Vertreibung und Flucht
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2.4 Erfahrungen von Repression, Vertreibung und Flucht Wie in Kapitel 1.1 bereits erwähnt, wurden die drei Aufklärer dieser Untersuchung auch nach dem Gesichtspunkt ausgewählt, dass sie sich in ihren Werken thematisch ergänzen. Ebenfalls sind sie von sehr unterschiedlicher Herkunft und ihre jeweilige Lebensdauer unterscheidet sich deutlich: Während Riem mit 65 Jahren starb, ertrank Schmohl mit 27 und Knoblauch wurde nur knapp elf Jahre älter als dieser. Sie studierten – sieht man von Schmohls abgebrochenem Theologiestudium in Wittenberg ab – jeweils unterschiedliche Fächer und entsprechend unterschiedlich waren ihre späteren Berufe. Die biographischen Schnittpunkte scheinen auf den ersten Blick also eher gering zu sein. Trotzdem lassen sich zwischen allen drei Aufklärern Gemeinsamkeiten feststellen, die darüber hinausgehen, dass sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgewachsen sind. Alle drei verstanden sich als Schriftsteller, die sich einerseits als aufgeklärt betrachteten, andererseits zur Aufklärung beitragen wollten. Dies taten sie, indem sie in der damals üblichen Art und Weise über öffentliche Zeitschriftenartikel diskutierten oder auch stritten. Ihre Schriften, die dieses Selbstverständnis als Aufklärer vermittelten, brachten alle drei Autoren – wenn auch unterschiedlich stark – in Bedrängnis: Knoblauch wurde zweimal von der Obrigkeit verhört, die durch den Eindruck der Französischen Revolution aufklärerischen Themen gegenüber nervös geworden war. Zwar widersprechen Spekulationen wie ‚Was wäre wenn?‘ der historischen Arbeitsweise, dennoch ist es nicht schwer vorstellbar, dass – wäre Knoblauch Ende 1794 nicht verstorben – die hessische Obrigkeit den Aufklärer aus dem benachbarten Dillenburg auch weiterhin streng im Auge behalten hätte. Die von ihrem der Aufklärung feindlich gesinnten Funktionär, dem Konsistorialdirektor Grolman aus Gießen, initiierte, ab 1795 erscheinende Zeitschrift Eudämonia oder Deutsches Volksglück und ihr Autor, der in Gießen lehrende Professor Heinrich Martin Gottfried Köster (1734–1802), hatten Knoblauch noch 1798 nicht vergessen. Die Eudämonia stellte ein „Agitationsblatt polemischster Machart“542 dar, das sich selbst als Denunziationsorgan verstand und zu großen Teilen Verschwörungstheorien um das Fortbestehen der Illuminaten und ihre Rolle in der Französischen Revolution verbreitete.543 Ein unbekannter Autor544 stellte 1798 Knoblauch unter anderen in eine Reihe mit den beiden ehemaligen führenden Mitgliedern der Illuminaten, Adam Weishaupt (1748–1830) und Adolph Freiherr Knigge (1752–1796).545 Schon zwei Jah542 Haug: Verlagsunternehmen (wie Anm. 186, S. 45), S. 142. 543 Vgl. Haaser: Sonderfall (wie Anm. 185, S. 45), S. 256 f.; Haug: Verlagsunternehmen (wie Anm. 186, S. 45), S. 141 f. 544 Wenn es sich beim Autor dieses und des nachfolgenden Artikels weder um Grolman noch um Köster gehandelt haben sollte, war der Verfasser jedenfalls auf ihrer, der Aufklärung feindlich gesinnten Linie. 545 Vgl. Anonym: Treuherzige Vermuthungen, durch Dinge veranlaßt, die man vor Augen sieht. In: Eudämonia oder Deutsches Volksglück, ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht 6 (1798), S. 415–424, hier S. 422.
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re zuvor waren in dieser Zeitschrift Mauvillons abgefangener Brief an Knoblauch abgedruckt und Knoblauchs Veröffentlichungen scharf verurteilt worden. Er habe „heimlich das Handwerk getrieben, zur Untergrabung und Zerstörung des Christenthums zu wirken, Aufsätze gemacht, um die Wahrheit von den Wundern Christi, worauf die Göttlichkeit des Christenthums mit beruhet, zu vernichten“.546 Auch wenn die erste Ausgabe der Eudämonia 1795, also nach Knoblauchs Tod, erschienen ist, betätigten sich Grolman und Köster bereits ab 1778 publizistisch: Ihre Zeitschrift Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen verfolgte eine ähnliche Agenda wie ihre spätere Eudämonia und war als Gegenpublikation zu Friedrich Nicolais Allgemeinen deutschen Bibliothek konzipiert.547 Trotz der unterschiedlichen Konfession gab es sogar Verbindungen zwischen Grolmans Religionsbegebenheiten und der ebenfalls aufklärungsfeindlichen Wiener Zeitschrift von Leopold Alois Hoffmann (1760–1806), da Grolman letztere ausführlich zitierte und Artikel übernahm.548 Hoffmanns Zeitschrift tat sich besonders mit der Affäre des abgefangenen Briefes an Knoblauch beziehungsweise mit Knoblauchs dies thematisierenden Artikeln hervor.549 Neben dem Prozess um Georg Friedrich Werner nahmen sich Köster und Grolman ebenfalls den Professor Carl Christian Erhard Schmid (1761–1812) wegen der Herausgabe materialistischer Schriften vor und schalteten sich mit Artikeln in den sogenannten ‚Atheismusstreit‘ um Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) ein. Ein Hö546 Anonym: Eine wichtige Obscuranten-Entdeckung über die Zwecke und das Wirken des Licht-Reichs; aus einigen Original-Briefen von Mauvillon. Mitgetheilt aus dem HerzoglichBraunschweigschen Archiv. In: Eudämonia oder Deutsches Volksglück, ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht 2 (1796), S. 289–308, hier S. 298. 547 Zu den Religionsbegebenheiten vgl.: Jochen Krenz: Konturen einer oberdeutschen kirchlichen Kommunikationslandschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Bremen 2012 (Presse und Geschichte 66), S. 252–259. 548 Vgl. ebd., S. 259. 549 So schrieb Knoblauch hierzu erbost in einem undatierten Brief an einen nicht identifizierbaren Empfänger: „Sankt-Aloys Hofmann zu Wien würde mir nicht predigen, wenn er wüßte, daß ich schon lange aufgehört habe, in seine Kirche zu gehen. Das ‚Etwas zur Notiz des – v Knoblauchs‘ kommt gerade, wie alles andere, was der Hr. Professor etwa künftig auch zu meiner Notiz schreiben könnte, darum nicht zu meiner Notiz, weil er es geschrieben hat, und weil ich allen denen resp. Geburten und Misgeburten, welche sein Mahlzeichen an der Stirn tragen, wie einer Büchse Teufelsdreck, aus dem Wege gehe. […] Hr. Hofmann ist aber nun einmal zum Lobredner des Despotismus berufen, und man muß gestehen, daß eine so böse Sache, welche das Gefühl und Urtheil des ganzen menschlichen Geschlechtes (einige unwürdige Individuen ausgenommen) wider sich hat, in keine ungeschicktere Hände hätte fallen können. […] Die Schlangen haben bekanntlich ihren Gift in einer Blase. Die Giftblase unseres Aloys ist – die Wiener Zeitschrift.“ GStA PK VIII. HA. Rep. C Nr. 187 Bd. 33, p. 147r f. Hervorh. i. Orig. – Knoblauch bezieht sich auf die zwei Artikel Aloys Hofmann: Ueber das Recht und Nichtrecht, Briefe zu erbrechen und zu unterschlagen. In: Wiener Zeitschrift 1.1 (1792), S. 97–100; Ders.: Abermals etwas über BriefErbrechen; zur Notitz der Herren Mauvillon, von Knoblauch und Hinze. In: Wiener Zeitschrift 4.12 (1792), S. 373–380, und antwortete auf den ersten mit: Knoblauch: Erklärung (wie Anm. 256, S. 56). Näher zu Hoffmann und dessen publizistischer Tätigkeit vgl.: Helmut Reinalter: Gegen die „Tollwuth der Aufklärungsbarbarei“. Leopold Alois Hoffmann und der frühe Konservatismus in Österreich. In: Weiss u. Albrecht (Hg.): ,Obscuranten‘ (wie Anm. 231, S. 52), S. 221–244.
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hepunkt in Grolmans Verleumdungen stellte die 1794 beginnende Affäre um Johann Ludwig Justus Greineisen (1751–1831) dar, an welcher Grolman gleichzeitig in legislativer, judikativer sowie exekutiver Funktion beteiligt war: Die Gesetze, die zur Festnahme und der beinahe zwei Jahre andauernden Kerkerhaft des Gießener Privatdozenten Greineisen führten, hatte Grolman selbst für Fälle von vermutetem Jakobinismus und angeblicher Volksverhetzung geschrieben. Mit entsprechender Verve schritt er zur Tat und ließ Greineisen in einer „Nacht- und Nebelaktion wie einen gefährlichen Schwerverbrecher unter seiner persönlichen Anwesenheit verhaften“.550 Greineisen wurde erst aus dem Kerker entlassen, nachdem sich August Friedrich Wilhelm Crome bei Knoblauchs Schwägerin, der Hofdame Caroline von Bodé, für ihn eingesetzt hatte.551 Noch deutlicher als Knoblauch erfuhren Schmohl und Riem die Probleme, die sie aufgrund ihrer Schriften bekamen. Auch wenn bei Schmohl wiederum nur spekuliert werden kann, was mit ihm geschehen wäre, hätte er sich in Halle nicht seiner Haft entzogen oder wäre er gefasst worden. Die von höchster Stelle, den beiden Kabinettsministern unterzeichnete abschließende Akte seines Falls552 lässt die Vermutung zu, dass Schmohl in Preußen nicht weiter verfolgt wurde – auch wenn sein persönliches Empfinden natürlich für einen anderen Eindruck verantwortlich war und Schmohl sich weiter unter Verfolgung wähnte. Riems Ausweisung aus Preußen war eine direkte Folge seiner Publikationen und seiner Korrespondenz mit französischen Revolutionären einerseits und andererseits die gutgläubige Weitergabe seiner Informationen an preußische Beamte. Auch wenn ihm sein Konflikt mit dem preußischen Religionsedikt lediglich seine Anstellung als Prediger kostete, hatte vermutlich auch diese Sache dazu beigetragen, dass Riem konservativen Kreisen in der preußischen Gesellschaft und Politik negativ aufgefallen war. So galt besonders für das Preußen Friedrich Wilhelms II., was ihm Gotthold Ephraim Lessing bereits 1769 unter der Herrschaft Friedrichs II. vorwarf, als er gegenüber Nicolai in einem Brief klagte, man könne in Preußen „gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte […] bringen, als man will.“ Lasse man jedoch „einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Unterthanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es itzt sogar in Frankreich und Dänemark geschieht: und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist.“553 Dies bekam auch Riem aufgrund seines politischen Journals zu spüren. Flucht, Ausweisung und juristische Verfolgung stellen Auswirkungen einer repressiven Landespolitik dar. Insofern wird neben Schmohls Flucht aus Halle ebenfalls durch die Biographie Riems und Knoblauchs gestützt, was Andrew 550 551 552 553
Haaser: Sonderfall (wie Anm. 185, S. 45), S. 277. Vgl. ebd., S. 276–283; Haaser: Leichtsinn (wie Anm. 185, S. 45), S. 210 f. Vgl. GStA PK, I. HA. GR, Rep. 11, Akten Nr. 146, p. 24. Gotthold Ephraim Lessing: Briefwechsel mit Karl Wilhelm Ramler, Johann Joachim Eschenburg, und Friedrich Nicolai. Berlin u. Stettin 1794, S. 256 f.
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2 Historischer und biographischer Überblick
McKenzie-McHarg zum Zusammenhang von Fluchterfahrung und radikalen Aufklärern schreibt: „Flucht gehörte zu den Biographien mehrerer Aufklärer vor allem der radikalen Variante, die sich den Repressionsmaßnahmen der kirchlichen und staatlichen Machtapparats entziehen mußten.“554 Ebenfalls kann man im Bezug auf derartige Biographien mit Martin Mulsow von einer gewissen Prekarisierung der Aufklärer radikaler Ausprägung sprechen.555 Andererseits stellt sich die Frage, ob beispielsweise Schmohls Flucht und das Verbot seines Buches nicht gerade zur Verbreitung seiner Schriften und der Bekanntheit ihres Autors beigetragen haben: Kant hätte womöglich nie von Schmohls Schriften erfahren, wenn dessen Sammlung nicht in Preußen verboten worden wäre. Zudem lernte Schmohl – der schon vor seiner Flucht mit vielen zentralen Personen der deutschsprachigen Aufklärung bekannt war – auf seiner Reise durch die Niederlande, England und Preußen weitere wichtige Personen der damaligen Zeit kennen. Es bleibt festzuhalten, dass Verfolgung, Flucht und Verbannung trotz aller Gemeinsamkeit in ihren Wahrnehmungen und Reaktionen individuell bleiben. Ebenfalls kann die Verfolgung nicht als Ursache einer Radikalisierung angesehen werden. Die radikalen Gedankengänge der jeweiligen Aufklärer waren schon zuvor vorhanden, denn sie führten schließlich teilweise dazu, dass sie mit den Obrigkeiten in Konflikt gerieten. Dennoch kann dieses Erlebnis als eine Art Katalysator fungiert haben, das dazu führte, dass ein vorher, durch die innere Schere der Zensur eher verschlüsselt formulierter Gedanke, nun eindeutiger niedergeschrieben wurde. Schmohl konnte seine Begeisterung für die demokratische Republik frei und deutlich kundtun, nachdem seine Flucht nach Nordamerika beschlossen war. Riem konnte lauter für ein Bündnis zwischen Frankreich und Preußen plädieren, nachdem er verbannt worden war und alle Hoffnung auf eine Rückkehr aufgegeben hatte. Knoblauch setzte sich vehementer für die Wahrung des Briefgeheimnisses und der Meinungsfreiheit ein, nachdem er erfahren hatte, wie einfach beide missachtet werden konnten. Inwiefern die Erfahrung von Verfolgung und Flucht zu vergleichbaren oder verschiedenen Positionen zwischen den drei Aufklärern geführt haben können, wird auch für die genaue Untersuchung ihrer Schriften im folgenden Kapitel relevant sein.
554 McKenzie-McHarg: Überlegungen (wie Anm. 24, S. 6), S. 220. 555 Vgl. Mulsow: Prekäres Wissen (wie Anm. 6, S. 2), S. 145, 166 f.
3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer 3.1 Philosophie versus Religion Das Verhältnis von Religion und Philosophie wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu geordnet. Stellte die Theologie an den Universitäten die erste aller Disziplinen dar, wandelte sich dies, indem neue Fächer eingeführt1 oder alte Fächer, wie die Philosophie, die bis dahin eine „vorwiegend propädeutische[] Funktion“2 besaß, aufgewertet und gleichberechtigt wurden. Manche Aufklärer ordneten sogar die Theologie komplett der Philosophie unter, wie es im schematisch dargestellten System des menschlichen Wissens von Denis Diderots Encyclopédie der Fall war. Wenn sich die Theologie auch nicht in allen Fällen unterordnen ließ, vollzog sich in der Aufklärung jedoch mindestens die Emanzipation der Philosophie von der Theologie.3 Dieses Verständnis geht beispielsweise aus einer ab 1786 in mehreren Teilen erscheinenden Erzählung Karl von Knoblauchs hervor. In ihr wird die Theologie als eine „alte andächtige mürrische Dame“ dargestellt, welche ihre „jüngere Stiefschwester“4 – die Philosophie – aufgrund „des Rechts des Stärkern“, des höheren Alters und ihrer „vermeintliche[n] größere[n] Klugheit […] zur Magd“ erniedrigte, zu deren Pflichten es gehörte, „an Feyertägen, der Dame Theologie die Schleppe nachzutragen.“ Die Philosophie „durfte nur reden, wenn und wie es die ältere Schwester erlaubte, und sie war deswegen nicht vielmehr als das Echo der Gedanken der mürrischen Dame.“5 Obwohl die Philosophie hierdurch über die Jahre hinweg „blöde gemacht“6 wurde, schafft sie es dennoch, sich von ihrer Schwester zu lösen, nachdem sie das als Geist personifizierte materialistische Werk Vom Geiste des französischen Aufklä1 2 3
4 5 6
Vgl. hierzu: Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 187–193. Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1997, S. 243. Vgl. Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990, S. 21. – Für Knoblauch steht zum Beispiel fest, dass es sich bei der Theologie nicht um eine „wahre Wissenschaft“ handele, „da ihr Gegenstand uns in keiner möglichen Erfahrung je gegeben, oder dargestellt werden kann. Er [der Gegenstand der Theologie, Anm. M. L.] ist und bleibt für uns eine bloße Idee, deren objective Realität nie erwiesen werden kann.“ Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 227, Hervorh. i. Orig. [Karl von Knoblauch]: Bileam der zweite/Schwester Philosophie. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 334–340, 10 (1787), S. 177–181, 281–285, 12 (1787), S. 109–114, hier S. 334. Ebd., S. 335. Ebd., S. 336.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
rers Claude Adrien Helvétius (1715–1771) traf. Beide Schwestern ziehen auseinander, worauf die Philosophie unter ihrer gewonnenen Freiheit aufblüht und sich dem Skeptizismus zuwendet. Die Theologie hingegen beschimpft die Philosophie als „Atheistin, Materialistin, Zweiflerin“,7 steht ihr jedoch letztendlich hilflos gegenüber, da sie der skeptischen Philosophie – außer Beschimpfungen – nichts entgegensetzen kann. Dass vor allem die aufgeklärte, von der Theologie emanzipierte, selbstbewusste Philosophie der Religion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusetzte, wird in den beiden großen Unterkapiteln dieses ersten Untersuchungsteils thematisiert. Das erste Kapitel umfasst mit der radikalen Kritik der Religion den von Knoblauch bildlich dargestellten Konflikt der Trennung der ‚kleinen Schwester‘ Philosophie von ihrer, bis dahin alles beherrschenden ‚großen Schwester‘, der Theologie. Das zweite Unterkapitel umfasst das philosophische Konzept des Materialismus, welches als Folge der religionskritischen Abwendung von der Theologie der Religion entgegengesetzt wurde. Ein drittes Unterkapitel thematisiert, weshalb der ansonsten radikal argumentierende Johann Christian Schmohl das Thema der Religionskritik (nicht aber der Religion) meist ausspart und abergläubischen Vorstellungen höchstens eine Art wohlwollendes Unverständnis entgegenbringt. 3.1.1 Religionskritik Die Kritik der Religion stellte eine der grundlegendsten Disziplinen der Aufklärung dar. Durch ihren Anspruch, eine absolute Wahrheit zu vertreten, bot die Religion eine besondere Angriffsfläche. Ihre Bedeutung war (und ist) Bestandteil einer kontrovers geführten Debatte: Während sie von einer Gruppe als das ‚Heiligste‘ angesehen wurde, das je dem menschlichen Verstand entsprungen ist, machten sie wiederum andere für die größten Übel und Verbrechen verantwortlich. Dennoch ist die Religionskritik der Aufklärung nicht gleichbedeutend mit Atheismus. Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde der Vorwurf des Atheismus synonym für Heterodoxie in all ihren Facetten und der sich daraus ergebenden Unschärfen verwendet: Als ‚Atheisten‘ wurden diejenigen Personen bezeichnet, die eine falsche Gottesvorstellung vertraten. Es wurde sogar allgemein bezweifelt, ob es überhaupt Menschen geben könnte, die in der Lage seien, ein höheres Wesen in vollem Bewusstsein zu leugnen und eine solche Gewissheit nicht nur aus bloßer Bosheit unterdrückten.8 Dies änderte sich erst Mitte des 18. Jahrhunderts, als der philosophische Atheismus mit den Schriften Paul Henri Thiry d’Holbachs „das subkulturelle Milieu der littérature clandestine“ verließ und „an die Öffentlichkeit“9 trat.
7 8 9
Knoblauch: Bileam (wie Anm. 4, S. 105), S. 283. Vgl. hierzu bes. Kap. I. Atheismus und Heterodoxie sowie Kap. II. Die Exeptionalität des Atheismus in der Geschichte der Philosophie bei: Schröder: Ursprünge (wie Anm. 35, S. 8). Ebd., S. 87, Hervorh. i. Orig.
3.1 Philosophie versus Religion
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Während für die meisten radikalen Aufklärer die „Kritik an aller Religion überhaupt“ ein zentraler Bestandteil ihrer Philosophie war, so stellte der Weg hierzu vor allem die „Kritik an bestimmten Formen der Religion, die sie als Aberglauben, Enthusiasmus, Fanatismus usw.“10 bezeichneten, dar. Vor allem die Kritik an abergläubischen Vorstellungen und Praktiken war für diese Aufklärer ein universelles Mittel, um den Offenbarungsreligionen die Grundlage und gesellschaftliche Legitimation zu entziehen. Dabei ist jedoch die Frage, wie sich ‚Aberglaube‘ definieren lässt, genauso schwierig zu beantworten, wie im Fall der Aufklärung:11 Im Zweifel ist Aberglaube das, was nicht dem eigenen Glauben entspricht. Daher war sowohl für gläubige Katholiken als auch für Protestanten des 18. Jahrhunderts die Kritik an abergläubischen Gebräuchen ihrer Mitmenschen ein wichtiges Thema – auch wenn sie aufgrund ihres Glaubens kein Bedürfnis an einer umfassenden Kritik der eigenen religiösen Vorstellungen verspürten. „Die Kluft zwischen Neuerern und Orthodoxen verlief quer durch den Klerus aller Konfessionen und quer durch Adel und Bürgertum. Die breite Bevölkerung sah sich nicht selten mit dem irritierenden Umstand konfrontiert, dass die Vertreter der Obrigkeit einen guten Teil der bisher von ihnen vertretenen Lehren nun selbst als Aberglauben bekämpften.“12 Während ein durch eine Offenbarungsreligion geprägter Aufklärer die Kritik von abergläubischen Praktiken als erste Stufe der Religionskritik noch mittrug und sich beispielsweise gegen Prozessionen oder die Häufung von Feiertagen wandte, kann es sein, dass er die nächste Stufe, die Kritik an Wundern13 und anderen übernatürlichen Begebenheiten, nicht mehr unterstützte. Wunder, die einen Verstoß gegen die natürliche Ordnung bedeuteten, aber für seine Glaubensvorstellung eine immanente Rolle gespielt hätten, wären von diesem Aufklärer folglich nicht als ‚Aberglaube‘ bezeichnet worden.14 Für Aufklärer, die sich mit einer umfassenden Kritik religiöser Vorstellungen befassten, bestand diese Art der Unterscheidung nicht. Aberglaube war für sie das, was nicht durch rationale Argumente oder wissenschaftliche Beweise belegt werden konnte. Nach ihrer Sichtweise bestand eine enge Verbindung von abergläubi10 11 12 13 14
Schneiders: Hoffnung (wie Anm. 3, S. 105), S. 23. Vgl. Nils Freytag: Aberglauben im 19. Jahrhundert. Preussen und seine Rheinprovinz zwischen Tradition und Moderne (1815–1918). Berlin 2003 (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22), S. 18. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 104. Da die Wunderkritik innerhalb der Kritik des Aberglaubens ein umfassendes eigenes Thema darstellt, wird sie in einem eigenen Unterkapitel, 3.1.1.2, beschrieben. Gleiches gilt für die Bibelkritik der drei Aufklärer (Kapitel 3.1.1.3). Wobei natürlich auch Aufklärer innerhalb der katholischen und protestantischen Kirche zwischen ‚wahren‘, durch die Bibel belegten und ‚falschen‘, durch unglaubwürdige Personen behaupteten Wundern unterscheiden konnten. Vgl. Gabriela Signori: Wunder. Eine historische Einführung. Frankfurt a.M. 2007, S. 28–32. Gleichzeitig stellte die Unterscheidung zwischen Wunder- und Aberglaube ein Dilemma vor allem für die katholische Kirche dar. Vgl. Freytag: Aberglauben (wie Anm. 11), S. 117; Hermann Bausinger: Aufklärung und Aberglaube. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 (1963), S. 345–362, hier S. 356.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
schen mit vorurteilsbehafteten und intoleranten Vorstellungen. Alle drei – Aberglaube, Vorurteil und Intoleranz – waren untrennbare Bestandteile von Religionen und bedingten sich mitunter gegenseitig.15 Sie mussten der aufgeklärten Kritik unterworfen werden, auch wenn damit ebenfalls religiöse Vorstellungen angegriffen werden konnten. Im direkten Bezug auf Kants Fußnote zur Aufklärung im Vorwortes seiner Kritik der Reinen Vernunft 16 hebt beispielsweise Karl von Knoblauch hervor, „Hr. Kant [habe] sehr wahr sagt: daß die Religion nicht durch ihre Heiligkeit, und die Gesezgebung nicht durch ihre Maiestät, der Prüfung der Kritik entzogen werden kan“.17 Entsprechend schonungslos widmen sich alle drei Aufklärer in ihren Schriften der Religion sowie dem Aberglauben, der Intoleranz und den Vorurteilen. Kritik an allen Religionen und Konfessionen Da alle drei Autoren in nicht-katholischen Gebieten beheimatet waren, könnte man davon ausgehen, dass ihre Religionskritik in erster Linie der katholischen Konfession gegolten hätte. Diese – jedenfalls aus protestantischer Sicht – legitime Form der Kritik war vor allem in Norddeutschland durch eine gedankliche Gleichsetzung von Aufklärung mit protestantisch-theologisch geprägter Aufklärung entstanden.18 Entsprechend wurde unter Religionskritik eine allgemeine, gegen den Katholizismus gerichtete Konfessionspolemik verstanden und – jedenfalls außerhalb katholischer Territorien – meist als ‚aufgeklärt‘ akzeptiert.19 Diese Sichtweise einer als Religionskritik missverstandenen Konfessionskritik kann für Karl von Knoblauch, Andreas Riem und in Teilen auch Johann Christian Schmohl nicht bestätigt werden. Zwar spielt die Kritik des Katholizismus auch in ihren Schriften eine große Rolle. Dies kann jedoch dadurch erklärt werden, dass der Katholizismus durch seine auf den Papst ausgerichtete und auch ansonsten äußerst hierarchische Struktur, die Existenz von geistlichen Landesherren und religiösen Orden sowie durch den tief verwurzelten Wunderglauben auch für radikal argumentierende Aufklärer ein besonders vielversprechendes und an Kritikmöglichkeiten reichhaltiges Ziel darstellte. Daneben umfasste jedoch ihre Kritik das gesamte Christentum, also auch die reformierte und lutherische Konfession und konnte auch über die christliche Religion hinaus ausgeweitet werden. Dies trifft, wie nachfolgend gezeigt wird, auf Andreas Riem zu, der in seinen Schriften abergläubische und intolerante Strukturen innerhalb des Judentums aufzeigte und auch auf Karl 15 16 17 18 19
Vgl. Schneiders: Hoffnung (wie Anm. 3, S. 105), S. 20 f.; Freytag: Aberglauben (wie Anm. 11, S. 107), S. 397 f. Siehe Kapitel 1. [Karl von Knoblauch]: Lindor an Araminthe. Etwas aus dem sapphischen Zirkel. In: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 299–215, hier S. 303. Vgl. Möller: Vernunft (wie Anm. 2, S. 105), S. 86. Vgl. Jürgen Overhoff: Die Katholische Aufklärung als bleibende Forschungsaufgabe: Grundlagen, neue Fragestellungen, globale Perspektiven. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 41.1 (2017), S. 11–27, hier S. 11 f.
3.1 Philosophie versus Religion
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von Knoblauch, wobei dessen Verweise auf den Islam sowie Religionen des asiatischen und amerikanischen Kontinents einem besonderen didaktischen Impetus entspringen. Bei der Kritik von Wundern bezog sich Knoblauch ebenfalls, wie in Kapitel 3.1.1.2 gezeigt wird, sehr häufig auf die Wunder verteidigenden Argumente protestantischer Theologen sowie auf die Wunder, die der christliche Religionsstifter Jesus gewirkt haben soll, die daher von allen Konfessionen geglaubt werden. Neben diesen jeweiligen Schwerpunkten unterscheidet sich ebenfalls Knoblauchs und Riems kritische Herangehensweise an die Thematik: Während Knoblauchs Untersuchungen sehr breit angelegt sind und er sich grundlegenden Widersprüchen der religiösen Vorstellung widmet, schwingt bei seinen Artikeln aufgrund ihrer Kürze oft ein provokativer Unterton mit. Riem geht hingegen detailliert bibelkritisch vor und interpretiert sie in seinen ausführlichen Publikationen vor ihrem historischen Hintergrund. Somit unterscheidet sich Riems Bibel- und Religionskritik nicht nur in ihrer thematischen Konzentration, sondern auch in ihrer publizistischen Bearbeitung: Während Knoblauch die Bibel kaum beachtet, wird der Leser von Riems Interpretationen und bibelkritischem Detailwissen geradezu erschlagen. Dennoch lässt er sich nicht, wie in Kapitel 3.1.1.3 genauer dargelegt wird, der Neologie zuordnen. Riem möchte dieser theologischen Strömung eher seine eigene Interpretation der Bibel und des Christentums entgegensetzen, da er auch der ‚ursprünglichen‘ christlichen Lehre keine positiven Glaubenssätze abgewinnen und sie daher nicht als pädagogisches Vorbild gelten lassen kann.20 In seinen frühen religionskritischen Schriften wendet sich Riem noch hauptsächlich gegen die katholische Konfession. Diese wird als Negativbeispiel der reformierten Konfession gegenübergestellt und entspricht somit der klassisch protestantischen Kritik am Katholizismus. Die negativen Einflüsse der katholischen Konfession stehen ebenfalls in Riems Reiseberichten zu Frankreich im Vordergrund, was jedoch durch die dortige konfessionelle Homogenität erklärt werden kann. Von diesen Ausnahmen abgesehen, wird in seinen Schriften dennoch deutlich, dass er ansonsten Aberglaube, Vorurteile und Intoleranz aller christlichen Konfessionen kritisiert. Vorurteile breiteten „Bestialität […] über den Verstand bigotter Protestanten und Catholiken“ gleichermaßen aus: Während „[d]er Ochse“ in der Lage sei, „das giftige Kraut auf der Weide, das ihn tödten kann“, zu meiden, würde hingegen „der bigotte Christ“ – aller Konfessionen! – „jeden Unrath und jedes Gift des Vorurtheils“ fressen, „das ihn unter alle Menschheit erniedriget, ohne so viel Verstand zu haben, seine Schädlichkeit zu wittern.“21 Auch wenn für Riem die katholische Kirche eine besondere Stellung einnimmt, wenn es um religiöse Intoleranz geht,22 betont er, dass sie keine Monopolstellung darauf habe: So gebe es sogar im aufgeklärten Europa „protestantische Inquisiti20 21 22
Vgl. Möller: Vernunft (wie Anm. 2, S. 105), S. 79 f. Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 40. Vgl. Kapitel 3.1.1.1.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
onstribunale“.23 Ebenfalls ist es für ihn denkbar, dass es zu Verfolgungen innerhalb des Christentums kommen könnte, wenn „[i]n einem Lande, wo die Protestanten das Uebergewicht haben“, diese dann davon ausgingen, „den Katholiken zu verfolgen sey Pflicht“.24 Als Beispiel nennt Riem die schottischen Covenanters, „dies schändliche Denkmal, was Anhänglichkeit an Lehrbegriffe vermag“,25 deren Zusammenschluss zu den sogenannten Bischofskriegen zwischen Schottland und England 1639 und 1640 führten, auf welche wiederum der englischen Bürgerkrieg zurückgeführt werden kann.26 Als weitere Beispiele protestantischer Intoleranz nennt Riem die Uniformitätsakte des englischen Parlaments27 sowie die Gordon Riots, bei denen in England viele Katholiken verfolgt und ihnen zum Opfer gefallen seien.28 In der reformierten Kirche Englands habe sich vieles erhalten, was auf dem Kontinent schon lange in Vergessenheit geraten sei: Hier schwingt eine ungleich finstere Art des Unsinns, als bei uns, die Fackel des Aberglaubens, des Unsinns und des Verfolgungsgeistes, der im Aufruhr vom Lord Gordon die Kapellen der fremden Gesandten niederriß und den Katholicismus verfolgte, und in Birmingham seine protestantischen dissentierenden Glaubensbrüder zu morden und zu verbrennen trachtete; der den Wissenschaften Trotz bot, und die herrlichen Werke des menschlichen Geistes als Ketzerschriften vernichtete. In dieser Religion herrscht eine Wuth, die mit Mord und Todtschlag schwanger geht, und welche Minister, Bischöfe und Priester der englischen Kirche bis zur Flamme des Aufruhrs anfacht.29
Riem überträgt seine Kritik am Christentum ebenfalls auf die jüdische Religion, in welcher seiner Meinung nach die Rabbiner die Position der christlichen Priester einnehmen: „Kein Romandichter, nicht die schwindelnste Phantasie eines Schwärmers der gegenwärtigen Zeit, würde im Stande seyn, wie sie Rabbinen aller Zeiten 23 24
25 26 27 28 29
Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 57 f. Ders.: Ueber Aufklärung. Was hat der Staat zu erwarten – was die Wissenschaften, wo man sie unterdrückt? – Wie formt sich der Volkscharakter? – und was für Einflüsse hat die Religion, wenn man sie um Jahrhunderte zurückrückt, und an die symbolischen Bücher schmiedet? Ein Wort zu Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester. Zweytes Fragment, ein Commentar des Ersten. Berlin 1788, S. 30. Ders.: Aufklärung 1 (wie Anm. 422, S. 82), S. 47. Vgl. Michael Maurer: Kleine Geschichte Schottlands. Stuttgart 2008, S. 139 f.; Allan I. MacInnes: Union and Empire. The Making of the United Kingdom in 1707. Cambridge u. New York 2007, S. 67 f. Vgl. Riem: Aufklärung 2 (wie Anm. 24), S. 47. Vgl. ebd., S. 53 f. Andreas Riem: Reise durch England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht. Bd. 2. [Leipzig] 1799 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 5), S. 134, Hervorh. i. Orig. – Interessant ist an dieser Stelle Riems Verwendung der Fackel-Metapher mit ausdrücklich negativer Konnotation und nicht in Verbindung mit der Aufklärung, sondern deren Gegenteil: Krieg oder Aberglaube. Ein ähnliches Bild findet sich auch in dem, im darauffolgenden Jahr erschienenen Reisebericht durch Frankreich, in welchem Riem die „Fackel der Religions-Kriege“ (Ders.: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 117) nennt, die vor allem von katholischen Priestern genutzt werde, um Bürgerkrieg und Königsmord anzuzetteln. Zur gängigeren Verwendung des Bildes der Fackel als Metapher für die Aufklärung, vgl. Daniel Fulda: „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor“. Eine deutsch-französische Bild-Geschichte. Halle a.d.S. 2017 (Kleine Schriften des IZEA 7).
3.1 Philosophie versus Religion
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erfanden, und den Aberglaube des gemeinen Juden noch jetzo zu glauben für Pflicht hält.“30 Philosophisch aufgeklärte Menschen seien nicht unter den Rabbinern zu finden, sondern immer Laien gewesen: Salomon Maimon (1753–1800), Moses Mendelssohn, David Friedländer (1750–1834) und andere31 seien „vielleicht gerade darum erleuchtete und große Männer geworden, eben – weil sie keine Rabbiner waren.“32 Das Christentum habe keinen Vorzug gegenüber dem Judentum: „[Z]ur christlichen Religion übergehen, dies hieß: einen Aberglauben mit dem andern verwechseln.“ Zum Deismus hätten sie sich ebenfalls nicht bekennen dürfen – Riem spricht an dieser Stelle von „zur Vernunft übergehen“ –, da sie seiner Aussage nach „zur Schande des Kaysers und Reichs […] aus dem Reiche in das christliche Sibirien geschickt“33 würden. Es habe also weder im Christentum, noch im Deismus für Juden, wie für Riem selbst,34 eine vernünftige – das heißt: wirklich mit der Aufklärung zu vereinbarende – oder erlaubte Ersatzreligion gegeben, sodass ihnen nichts anderes übrig blieb, als weiterhin dem Judentum anzuhängen.35 Knoblauch geht bei seiner Religionskritik allgemeiner vor. Schon seine Definition des Begriffes Religion macht deutlich, dass er diese als abstraktes Phänomen betrachtet: Religion ist schlicht „[e]in Zusammenhang von Meinungen“, die sich auf „ein übernatürliches, auf die Welt wirkendes, von der fühlbaren Materie verschiedenes Wesen“36 bezögen. Alleine aufgrund dieser Definition erscheint die Annahme schwierig, Knoblauch könne von einer ‚einzig wahren‘ Religion, wie dem Christentum, ausgegangen sein. Stattdessen kann er sich, mit dieser Position als Grundlage, pauschal über die Christen lustig machen, die zwar – wie er ironisch bemerkt – „unläugbar die beste Religion“ hätten, „aber auch die Wuth, Alles, was ihnen aufstößt, zu taufen und zu bekehren.“ Hierbei würden ihre Missionare, um „[d]as Lächerliche noch zu vermehren“ oft gegen die anderen Konfessionen schimpfen: „[S]o deklamirt – selbst in Ostindien – der luther’sche Missionar gegen den Katholischen, der Katholische gegen den Luther’schen, so, daß der Täufling nicht recht weiß, wem er eigentlich glauben soll?“37 Knoblauch wundert sich, dass es überhaupt möglich gewesen sei, eine Religion wie das Christentum mit seinen „sublimen Mysterien“ und seinen „abstrakten Begriffe[n]“ zu verbreiten, wenn man nicht einmal die Sprache der fremden Völker gesprochen habe: Die „Paters“ seien über das „Meer zu 30 31 32 33 34 35 36 37
Riem: Leviathan (wie Anm. 524, S. 97), S. III. Christian Wilhelm Christlieb Wolf (gest. 1766) oder David Seligmann (1775–1850), der sich ab 1814 mit der Verleihung des Freiherrntitels David Freiherr von Eichthal nannte. Ebd., S. VI. Ebd., S. X, Hervorh. i. Orig. Vgl. ebd., S. IX. Dies sei jedoch kein Grund, ihnen die Menschen- und Bürgerrechte zu verweigern, wie Riem später ausführt. Siehe hierzu Kapitel 3.2.3. [Karl von Knoblauch]: Hippias an Xantus. Formul zu einem politisch-chymischen Prozeß. In: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 153–161, hier S. 156. Ders.: Heidenbekehrer. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 107–111, hier S. 107.
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ihnen [ge]kommen, um ihnen Dinge zu verkündigen, die sie platt nicht [haben] begreifen können“.38 Die Grönländer „ennuyrte der Sermon“ der dänischen Missionare „so sehr, daß man ihnen das Zuhören bezahlen mußte.“39 Solange sie also Lebensmittel erhielten, hätten sie zugehört. „Sie hatten sogar die Gedult, die Zinzendorfianer40 predigen zu hören, wenn man ihnen Brandwein und Stahlnadeln dafür gab.“41 Eine zweite Missionsreise 1733 nach Grönland habe jedoch ergeben, dass man den dortigen Bewohnern lediglich Krankheiten gebracht hätte: „Diese Prädikanten fanden Grönland von den Pokken verheert, womit – ältern Berichten zufolge – andre Missionare die Eskimaux angestekt hatten.“42 Häufig bedient sich Knoblauch in seinen Texten des zur Zeit der Aufklärung durch seine Exotik äußerst beliebten Orients43 sowie Nord- und Südamerikas: Er verweist damit, wie schon Montesquieu in seinen 1721 erschienenen Persischen Briefen, auf einen Relativismus zwischen den Kulturen – und in Knoblauchs Fall besonders zwischen den Religionen. Damit kann er seinen Lesern mithilfe der fiktiven, nicht-christlichen Dialogpartner einen Spiegel vorhalten:44 Es sei zwar, wie er einen muslimischen Korrespondenten einem Freund schreiben lässt, keine Kleinigkeit, die Wunder des Islams zu glauben. Dennoch sollten sich die Christen nicht darüber lustig machen, denn sie besäßen „eine besondere Arithmetik. Drei sind Eins, und Eins ist drei.“45 Drei Personen seien ein Geist, der als Geist einfach, aber gleichzeitig dreifach sein solle. Von einer ähnlich paradoxen Annahme gehe man bei der Transsubstantiation während der Eucharistie aus: „Eine ihrer Sekten lehrt, ein körperliches Ding könne an mehren Orten zugleich seyn, auf den Altären zu Krakau, Lisabon und Mexiko koexistiren.“46 Es werde ein Gebäck aus Mehlteig als „Leib eines Gottes“ gegessen, verdaut und „im Nachtstuhl ab[gesetzt], ohne daß er sich verändert!“ Nur durch eine Zauberformel werde das Plättchen zum „Leib dieses Stifters, welcher vor 1800 Jahren lebte.“47 Und obwohl man ihn „weder sehen, noch fühlen, noch schmeken“ könne, habe man „über diese Speise unzählige Bände in horriblem Latein geschrieben“ und sich gegenseitig „über die Art und Wirkung derselben […] verfolgt, geschimpft, gehaxt und die Hälfte abgeschnitten“. Hierauf stellt Knoblauchs fiktiver 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47
Knoblauch: Heidenbekehrer (wie Anm. 37, S. 111), S. 107. Ebd., S. 109. Hiermit sind die pietistischen Herrnhuter nach ihrem Gründer Nicolaus Graf von Zinzendorf (1700–1760) gemeint. Ebd. Ebd., S. 110. Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 2013, S. 376 f. Vgl. Rainer Forst: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a.M. 2014, S. 354. [Karl von Knoblauch]: Mysterien. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 66–71, hier S. 67. Ebd., S. 68 f. Ebd., S. 69.
3.1 Philosophie versus Religion
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Muslim spöttisch fest: „Dieses Jahrhundert nennt man im Occident das Jahrhundert der Aufklärung.“48 Knoblauch betont in seiner Schrift, dass es ihm nicht nur um die katholische Eucharistie gehe, sondern um die Kritik aller Konfessionen: Die Protestanten hätten ihre „Ausspender der Verdammnis“, welche „die ganze Welt für ihren Kirchensprengel, und ihre Kanzel für dessen Orakel“ hielten. Die Katholiken würden pauschal allen „Nicht-Katholiken die Seligkeit“ absprechen. Nichts sei „furchtbarer und lächerlicher […], als die Thesen und Kontroverspredigten dieser heiligen Donquixotte.“49 Erstaunt berichtet Knoblauchs fiktiver Erzähler davon, dass er in Wetzlar – „einem Städtchen, wo sich, wie man sagt, der Thron des öfentlichen Verstandes von ganz Deutschland aufhält“50 – einen Exjesuiten Dabuz51 predigen hörte. Hierbei habe ihn nicht die „düstre Philosophie und die Impertinenz des Paters“ gewundert, sondern „die Gedult der Zuhörer, unter welchen selbst viele Protestanten waren, denen der Pater für die künftige Welt den Stab brach.“ Als Fazit legt Knoblauch seinem fiktiven Muslim in den Mund: „Nur gegen Intoleranten allein sollte man intolerant seyn. Nichts ist abscheulicher, als ihre Religion, denn ihre menschfeindlichen Handlungen sind nothwendige Folgen davon.“52 An manchen Stellen bedenkt Knoblauch mit seiner Kritik auch die beiden anderen Offenbarungsreligionen: Allgemein hält er fest, dass man wisse, „daß die Geschichte aller Sekten und ihres Kult Nichts ist als ein Sammelsurium scandalöser Albernheiten, daß der Aberglaube der eingebohrne Sohn der Dummheit ist, und der Zwillingsbruder der Schurkerey.“ So gebe es unter den Juden zwar „Leute, welche die Mirakel des Korans sehr lächerlich finden“ würden, aber stattdessen „Wunder, die 1000 Jahre älter, und uns eben so streng erwiesen sind“53 glaubten. Wenn er alle drei Offenbarungsreligionen vergleiche, falle ihm auf, dass „die hebräische das Vorurtheil des höchsten Alterthums, der Christianism die größten Mysterien, der Mahometism die größten Miarakel für sich“54 habe: „Ein Skeptiker könnte daher sagen, die erstere habe die Einrede der Ignoranz alter Zeiten, die andere einen
48 49 50 51
52 53 54
Ebd., S. 70. Ebd. Ebd., S. 71. Florin Dabuz (geb. 1727) war Professor für Mathematik an der Universität Mainz und veröffentlichte ebenfalls gegenaufklärerische Literatur, wie beispielsweise: Florin Dabuz: Der Unsinnige Freygeist. Jungen und gemeinen Leuten zur Warnung. Frankfurt u. Leipzig 1775. Aus diesem Buch könnten „[g]emeine Leute“ lernen, „sich den Anfällen des Unglaubens mit christlichen Waffen entgegen zu stellen“, wie in einer Rezension von 1774 zu lesen ist: Es sei „[e]ine Schrift, die also einen sehr einleuchtenden Nutzen hat. Für Denker hat der Verfasser nicht geschrieben; darzu wär’ auch sein Kopf und seine Schreibart zu schwach.“ Rezension: Der unsinnige Freygeist. In: Deutsche Chronik 62 (1774), S. 496. Knoblauch: Mysterien 2 (wie Anm. 45), S. 71. Ders.: Ueber den Begriff der Abderitheit. Eine Vorlesung. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 47– 62, hier S. 54. Ders.: Advise an Heidenprediger. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 324–327, hier S. 324.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Kram von Metaphysik, die dritte den einförmigen Lauf der Natur wider sich.“55 So unterhalten sich in Knoblauchs Dialogen fiktive Anhänger des Islam nicht nur über die christliche Mystik, ihren Wunder- und Aberglaube, sondern ebenfalls über die metaphysischen Bestandteile ihrer eigenen Religion. Dennoch scheint es, als habe Knoblauch unter seinen Beispielen von unsinnigen, nicht-christlichen Bräuchen in erster Linie diejenigen ausgesucht, die eine gute Parallele zum Christentum bieten: So könne man über die Speisung von 80 000 Menschen mit vier Datteln – „wofern man nur nicht ein Türk ist“56 – nur staunen oder lachen. Es scheint also Knoblauchs vorrangige Intention gewesen zu sein, durch die augenscheinliche Parallele die Speisewunder des Christentums zu kritisieren. Auch bei Wundern, die in der christlichen Lehre kein direktes Pendant besitzen, ergeben sich trotzdem Parallelen: So soll beispielsweise ein Stein in ein Kamel verwandelt worden sein, wobei einer der Dialogpartner feststellt, dass derjenige, der dieses Kamel-Wunder vollbracht haben soll, niemals zu lügen in der Lage gewesen wäre, denn: „Wer aus einem Stein ein Postkameel machen kan, Dem mus man glauben, was er sagt.“57 Einerseits wird in diesem Text vordergründig die Redundanz theologischer Argumentationen der islamischen Religion kritisiert. Andererseits kann hieraus wie im vorhergehenden Beispiel eine Kritik der christlichen Offenbarungsreligion abgeleitet werden, die ebenfalls auf redundanten Beweisen beruht. Ähnliche Zusammenhänge findet Knoblauch auch in Religionen, die nicht zu den abrahamitischen gehören: So nehme man, wie er auf Grundlage Cornelius de Pauws (1739–1799) 1768 erschienenem Buch Philosophische Untersuchungen über die Amerikaner erörtert, in der „Lama’sche[n] oder Tibet’sche[n] Religion, deren Moral untadelhaft ist, die Existenz eines ersten Wesens“58 an, woraus man ihr, so Knoblauch, noch keinen Vorwurf machen könne. Aber wohl verdient sie ihn, wenn wir dem Herrn von Paw glauben wollen, um der absurden Mährchen willen, womit sie den Glauben des Volks amüsirt, indem sie ihm aufbindet, daß der Gott Xa-Ca 2000 Jahre vor unserer Aere sich verkörpert habe, um von der Jungfrau Lamogiupral gebohren zu werden.59
Im Orient sei der Glaube, dass „Götter und große Männer aus dem Schooß einer Jungfrau herfürgehen“,60 seit langer Zeit verbreitet. Dennoch habe, wie Knoblauch betont, der „Lama’sche Kult“ mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht „der christlichen Kirche […] zum Modell bei seiner Dogmatik gedient“,61 um direkt anschließend auf die große Anhängerschaft des Dalai-Lamas zu verweisen, sodass eine Beeinflussung 55 56 57 58 59 60 61
Knoblauch: Advise (wie Anm. 54, S. 113), S. 324 f. Ebd., S. 326. [Karl von Knoblauch]: Phädon an Kallias. Salech und der große Stein. In: Hyperboreische Briefe 5 (1789), S. 183–185, hier S. 184. Ders.: Aehnlichkeit der Religionen. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 91–100, hier S. 94. Ebd., S. 95 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 95. Ebd., S. 96.
3.1 Philosophie versus Religion
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dennoch suggeriert werden kann. Entschuldigend komme auch hinzu, „daß in Thibet, soviel als ehemals bei uns, über die Abracadabra’s und unverständliche Fragen der Metaphysik geschrieben wird, und daß man, mit diesen horriblen Subtilitäten bewafnet, Alles beweisen und Alles widerlegen kan.“62 In südamerikanischen Bräuchen sieht Knoblauch eine Parallele zum Verspeisen des eigenen Gottes in Form von Oblaten: So sei es in Mexiko üblich, dass „man aus Teig von Mays eine große Statue“63 backe, um dieses Abbild des Gottes im Anschluss zu essen. Auch werde in Peru rituell Brot verspeist, das vorher „mit dem Blut junger Kinder“ benetzt wurde. Diese Bräuche versucht Knoblauch naturhistorisch zu erklären: Es sei „bei den ältesten historischen Völkern fast durchgängig Brauch“ gewesen, den Göttern Menschenopfer darzubringen: Diese Opfer „scheinen eine noch ältere Anthropophagie [Kannibalismus, Anm. M. L.] vorauszusezen. Man sezt seinen Gönnern Nichts zu essen vor, was man nicht selbst schmakhaft findet. Immer schloßen die Menschen aus ihrem Geschmack auf den der Götter.“64 Mit zunehmender Verbesserung des Ackerbaus und der Viehzucht habe man jedoch eine bessere Versorgungsgrundlage gehabt, weshalb „die Menschenfreßerei aus der Mode“ gekommen sei. „[D]en Göttern ihren geheiligten Festbraten zu entziehen“,65 habe man jedoch nicht gewagt. Daher hätte das Opfern von Menschen länger als der Kannibalismus angehalten.66 Letztendlich habe dies zu einem „ewige[n] Krieg“ zwischen Menschen und Göttern im „einander um die Reihe“ essen geführt: Die Menschen verspeisten ihre Götter in Form von Gebäck und wurden dadurch zu „Theophagen. Sie, die sich izt mit einer Hand voll Rauchpulver begnügen, verlangten einst unsere Körper.“67 Indem seine Leser über die Berichte der unsinnig wirkenden Bräuche fremder und ‚wilder‘ Kulturen ins Schmunzeln geraten sollen, erkennen sie vielleicht auch – so die möglicherweise intendierte Hoffnung und der didaktische Impetus Knoblauchs –, wie ähnlich sie doch den eigenen christlichen Bräuchen sind: Das, was auf den ersten Blick fremd und exotisch wirkt, stellt sich auf den zweiten Blick als dem Eigenen, das man für einzigartig erachtet, als äußerst ähnlich heraus. Mit dem Blick von außen möchte Knoblauch zeigen, dass die innerchristlichen Debatten um theoretische Details, bei denen es den Protagonisten um nichts weniger als 62 63 64 65 66
67
Ebd., S. 98. Ebd. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100. Der Kannibalismus-Topos wird bei Knoblauch in diesem Fall nicht pejorativ verwendet, d. h. er sieht den Kannibalismus nicht als moralisch verwerflich oder die ihn praktizierenden Völker nicht als moralisch verdorben an. Der Kannibalismus scheint für ihn, ähnlich wie für Michel de Montaigne (1533–1592), ein Ausdruck eines reinen Naturzustandes, eines mythischen goldenen Zeitalters zu sein. Vgl. Joseph Jurt: Die Kannibalen. Erste europäische Bilder der Indianer – Von Kolumbus bis Montaigne. In: Fludernik, Haslinger u. Kaufmann (Hg.): Alteritätsdiskurs (wie Anm. 383, S. 76), S. 45–63, hier S. 60 f. Knoblauch: Aehnlichkeit (wie Anm. 58), S. 100.
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um alles geht, bei einem Außenstehenden lediglich verständnisloses Kopfschütteln hervorrufen.68 In diesem Sinne gibt es für Knoblauch auch keine „wahren und […] falschen Religionen“, da es letztendlich auch „keine falsche Religion [gebe], welche nicht irgendwo für wahr gehalten“69 werde. So lässt Knoblauch auch einen der fiktiven Korrespondenten seinen Brief mit dem Wunsch schließen: „Gott bewahre dich und mich vor dem Fegefeur des P. Dabuz, und vor jeder alleinseligmachenden Religion, und führe mich bald aus den Ländern der Gjaur’n [Ungläubige, Anm. M. L.] an die Ufer des Nils zurük, wo ich im Schatten duftender Orangenhaine an deiner Seite, ohne Kontrovers, meine Pfeiffe schmauchen kan.“70 3.1.1.1 Aberglaube und Intoleranz Aberglaube besteht für Knoblauch aus einem komplexen Geflecht von Unwissenheit und Unsicherheit, das zu Furcht führe und dadurch zu Aberglauben werde: „Unwissenheit der Ursachen, Gefühl unserer Schwäche, unserer Uebel, darauf gegründet Besorgnis künftiger Uebel, brachte die Furcht – und mit dieser den Aberglauben hervor.“71 Dass Aberglaube mit religiösen Vorstellungen gleichzusetzen sei, macht Knoblauch deutlich, indem er einen hypothetischen „rohe[n] Wilde[n]“72 heranzieht und – ähnlich wie David Hume73 – naturhistorisch argumentiert. Dieser „Wilde“ sah „Wirkungen in der Natur, die ihm Aehnlichkeit mit menschlicher Handlungsweise zu haben, von einem Willen – wie die seinigen – herzurühren schienen.“74 Indem nun nützliche Ereignisse einem guten Geist, schädliche Ereignisse einem bösen Geist zugeschrieben würden, „imaginirt [er] sich also seine – gewöhnlich unsichtbaren Urheber des Guten und Bösen, in einer der unsrigen ähn68 69 70 71 72
73
74
Wenn auch nur in einem knappen Absatz erwähnt auch Andreas Riem, ein solches Vorhaben verfolgt zu haben. Siehe hierzu Kap. 3.1.1.2. [Karl von Knoblauch]: Jedem das Seinige! Oder über die Herrschaft der Eigenliebe. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 325–329, hier S. 328. Ders.: Mysterien 2 (wie Anm. 45, S. 112), S. 71, Hervorh. i. Orig. Ders.: Ueber Aberglauben. In: Der Teutsche Merkur 4 (1787), S. 193–200, hier S. 193. Diese Formulierung ist mit Blick auf Knoblauchs Begriffsverständnis nicht negativ zu verstehen: So beschreibt er an anderer Stelle die Leichtgläubigkeit von Afrikanern, die bei einem einfachen Trick an ein Wunder glaubten, und fügt dieser Aussage hinzu: „Laßt uns nicht vergessen, daß alle Völker der Erde Hottentoten sind, oder es ehemals waren.“ Ders.: Etwas von blauen Wundern. Oder Nachtichten aus der Feenwelt. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 77–82, 169–177, 255–259, hier S. 79 Vgl. hierzu auch Kapitel 3.2.1. Hume hatte erstmals in seiner Naturgeschichte der Religion eine ausführliche naturgeschichtlichen Erklärung von religiösen Vorstellungen vorgenommen, „was für sich genommen um die Mitte des 18. Jahrhunderts schon ein Politikum“ darstellte. Da er sich nicht nur auf „eine Einteilung und Bestimmung der überlieferten Religionen“ beschränkte, sondern Religion allgemein auf einen psychologischen Vorgang reduzierte und eine anthropologische „Entwicklungstheorie ausgearbeitet [hatte], die die religiösen Phänomene kausal“ (Elisabeth Heinrich: Religionskritik in der Neuzeit. Hume, Feuerbach, Nietzsche. München 2001, S. 49 f.) zu erklären versuchte, ist seine Kritik vor allem gegen die Offenbarungsreligionen, aber auch gegen den Deismus gerichtet. Knoblauch: Ueber Aberglauben (wie Anm. 71), S. 193.
3.1 Philosophie versus Religion
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lichen Gestalt. Und in dieser Gestalt sollen die Engeln, Dämonen, und alle Popanzen der Feenwelt auch mehrentheils erschienen sein.“ Die Vorstellung von Göttern in Menschengestalt oder auch die Vergöttlichung verstorbener Menschen seien „uralte Ausschweifungen des menschlichen Geistes.“75 In den Bereich des Aberglaubens gehöre ebenfalls „der Glaube an mündliche oder schriftliche Orakel, an Wunder, Geistererscheinungen, ovidische Verwandlungen, u. d. m.“76 Anders als man erwarten könnte, steht Knoblauch dem „Wunderbaren und Ausserordentlichen“ nicht pauschal ablehnend gegenüber, da aus ihnen auch Positives entstanden sei: Die Vorliebe für diese beiden Phänomene scheint schon immer bei den Menschen vorherrschend gewesen zu sein und sei „oft zu ihrem Vortheil“, aber auch „oft zu ihrem Schaden“77 verwendet worden. Positiv sei es beispielsweise der „Vorliebe zum Wunderbaren und Ausserordentlichen“ anzurechnen, dass sie „den menschlichen Verstand angespornt [habe], Erfindungen zu machen, Werke der Kunst hervor zu bringen, die Kräften der Natur zu erforschen, ihren Wirkungen nachzuspühren, solche nach ihren Absichten zu leiten, und Etwas zu thun, was bey ihren Zeitgenossen Erstaunen und Bewunderung erwekte.“78 Während „das Unerwartete, das Niegesehene, und oft für den grössesten Theil des Zeitalters Unbegreifliche“ also immer Bewunderung hervorgerufen hat und damit zum Fortschritt beitrug, waren einige Menschen eher daran interessiert, durch Taschenspielertricks, „nur ihre Nebenmenschen hinters Licht [zu] führen, um daraus für sich einen Vortheil zu ziehen.“79 Zwar hätten sich vor allem heidnische Priester auf Kunststücke konzentriert, um genügend Menschen „geduldig bey der Nase herumführen“80 zu können, dennoch hätten die christlichen Religionslehrer und vor allem die „zum Verderbnis der Religion und guten Sitten geschaffenen Orden der Mönche“81 diese heidnischen Vorgänger noch bei Weitem übertroffen: Sie, welche das gemeine Volk aufklären, demselben bessere, anständigere Begriffe beybringen sollten, machen’s sich vielmehr zur Maxim, dasselbe in der diksten Finsterniß, in der rohesten Unwissenheit zu erhalten, damit sie sich mit ihren elenden Taschenspielereyen, derben Lügen und leicht zu erfindendem Betrug ein Ansehen machen und solches auf ihre Seite ziehen konnten.82
Sie hätten sich somit zu einer „der ersten Stüzen der grausamen Hierarchie“ gemacht, die mithilfe des Aberglaubens „über Gewissen, über Könige und ihre Länder so lange den tyrannischen Zepter führte.“ Ironisch stellt Knoblauch fest, dass 75 76 77 78 79 80 81 82
Ebd., S. 194, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 30. Ders.: Auch etwas über Wunder. Vom Dritten. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 237–251, hier S. 237. Ebd., S. 237 f. Ebd., S. 238. Ebd., S. 239. Ebd., S. 239 f. Ebd., S. 240.
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„diese geistlichen Despoten“ wahrhaftige Wunder vollbracht hätten, indem sie „ohne Schwerdstreich Völker unterworfen, die schönsten Ländereyen an sich gebracht, und ohne öffentliche Schazung, den einfältigen Layen die Beutel gefegt“83 hätten. Mit beiden Argumenten – einerseits der Entstehung von Gottesvorstellungen aufgrund der Unwissenheit über die Ursachen von positiven wie negativen Ereignissen und andererseits das Ausnutzen menschlicher Gutgläubigkeit beziehungsweise der Begeisterung für Wunderbares und Außerordentliches – knüpft Knoblauch an gängige Argumentationen der Religionskritik an. So führte David Hume ebenfalls die Entstehung des Aberglaubens und der Religion auf Ängste und Unwissenheit zurück.84 Derartige Argumentationen lassen sich aber auch bis in die Antike zurückverfolgen.85 Knoblauch selbst verweist in vielen seiner Texte direkt auf Lukrez’ (99/94–55/53 v. Chr.) De rerum natura86 und übersetzte sogar 1792 den Anfang des ersten Buches für Den neuen teutschen Merkur.87 Knoblauchs Argumentation stimmt ebenfalls in großen Teilen mit dem anonym erschienenen und wohl im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts entstandenen Traktat über die drei Betrüger überein. Auf dieses Werk verweist Knoblauch nie direkt, spielte jedoch indirekt auf dieses „Schlüsseldokument der Geschichte des Atheismus“88 an. So unterschrieb er den ersten Teil seiner Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos mit dem Namen ‚Spinoza der Dritte‘, was auf eine 1787 auf Deutsch erschienene Ausgabe des Traktates mit dem Titel Spinoza II. oder Subiroth Sopim verweist.89 Daher sind viele der Aussagen 83 84
85
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Knoblauch: Auch etwas (wie Anm. 77, S. 117), S. 240. Sie seien vor allem aus der Angst der Menschen vor Krankheit und Unglück entstanden: Es würden „unzählige Übel von unbekannter Seite gefürchtet, und wo reale Objekte des Schreckens fehlen, folgt die Seele dem eigenen Vorurteil und findet eingebildete, deren Macht und Bösartigkeit sie keine Grenzen setzt. Diese Feinde sind vollkommen unsichtbar und unbekannt, und Maßnahmen zu ihrer Entkräftung sind daher ebenso unberechenbar. Dazu gehören Zeremonien, Observanzen, Kasteiungen, Opfer, Geschenke oder jede noch so absurde oder leichtfertige Handlung, die Dummheit oder Niedertracht blinder oder verschreckter Leichtgläubigkeit gebieten. Schwäche, Angst, Melancholie sind daher zusammen mit Unwissenheit die wahren Quellen des Aberglaubens.“ David Hume: Über Aberglaube und Enthusiasmus. In: Ders.: Essays 1 (wie Anm. 36, S. 9), S. 77–85, hier S. 77. Zu Lukrez’ Herleitung des Aberglaubens aus der Furcht der Menschen und der Verbindung von Aberglaube mit Religion vgl.: Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur 119), S. 68. „Zwei Dinge haben unläugbar, wie uns deucht, an der Schöpfung der Religionen den größten Antheil gehabt, Furcht, und Unwissenheit der Ursachen. Dies scheint Lukrez einsehen zu haben, wenn er in seinem herrlichen Poem über die Natur der Dinge spricht.“ [Karl von Knoblauch]: Ursprung der Theologie. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 5–12, hier S. 9. Vgl. Ders.: Anfang des Ersten Buches des Lukrez, von der Natur der Dinge. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1792), S. 44–49. Winfried Schröder: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Traktat über die drei Betrüger. Traité des trois imposteurs (L’esprit de Mr. Benoit de Spinosa). Übers. v. dems. Hamburg 1992, S. VII–XLIII, hier S. IX. Vgl. Knoblauch: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 1; Schröder: Einleitung (wie Anm. 88), S. XLII.
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Knoblauchs auf das Traktat – mit seinen zahlreichen intertextuellen Bezügen90 – zurückzuführen. Nicht nur durch bewussten und boshaften Betrug seien Religion und Aberglaube entstanden. Knoblauch führt auch eine psychologisch anmutende Begründung an, welche sich in dieser Form nicht in anderen, auf die Betrugshypothese aufbauenden Werken finden lässt. So könnten Menschen Träume „bis zur Täuschung klar und lebhaft“ erscheinen, sodass sie „Einbildung [und] Wirkung der Imagination, nicht von wirklicher Empfindung“91 unterscheiden könnten. Auch seien durch natürliche Täuschung – „[o]ptische[n] Betrug“ – abergläubische Vorstellungen entstanden: „Schatten der Dämmerung, welche für die rege Einbildungskraft allerley Gestalten annehmen, und sich auf- und abzubewegen scheinen – verbunden mit nächtlichen Träumen, die uns das Bild verstorbener Geliebten, bis zur Täuschung lebhaft, erneuern und darstellen – seufzerähnlicher Ton, Getöse in der Nacht, dessen Ursache uns nicht in die Sinne fällt“.92 Dies, zusammen mit der psychologischen erklärten Täuschung, „erzeugte den Wahn von Gespenstern, Widerkehr der abgeschiedenen Seelen, u. s. w.“93 Kritik an anthropomorphistischer Theologie Ebenfalls psychologisch argumentierend erklärt Knoblauch, dass sich die Menschen ihre Götter – wie oben beschrieben – nach ihrem eigenen menschlichen Bild vorstellen: „Von seiner eigenen, mehr gefühlten als erkannten, Natur hatte er zuerst den Begrif der göttlichen abstrahiert. Und wie konnt’ er anderst? Ist doch seine Natur die edelste und vortreflichste, die er auf Erden kennen lernt.“94 Bei dieser Argumentation wird Knoblauch durch seinen ehemaligen Lehrer Lichtenberg beeinflusst worden sein. Auch dieser kritisierte, dass die Menschen nach ihrem eigenen Bild ihre Götter geschaffen und sie mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet hätten. Anders als Knoblauch wollte Lichtenberg damit jedoch nicht die Religion an sich kritisieren, sondern eher auf die Unsinnigkeit einer vermenschlichenden Gottesvorstellung hinweisen.95 In besonderer Beschreibung des christlichen Gottesbildes stellt Knoblauch dem „Anthropomorphism, welcher (gröber) der Gottheit menschähnlichen Leib, Sinne, Glieder, gibt, oder sie in sichtbarer Menschengestalt vom Himmel herabkommen, leiden und sterben läßt, um sich selbst zu versöhnen, um wegen menschlicher Sün90 91 92 93 94 95
Vgl. hierzu: Ebd., S. XXVIII–XXXVII. Knoblauch: Ueber Aberglauben (wie Anm. 71, S. 116), S. 194, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 195. Ebd. [Karl von Knoblauch]: Beitrag zur Geschichte der Theologie. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 231–239, hier S. 237. Vgl. Dierse: Lichtenberg (wie Anm. 215, S. 50), S. 272 f. – Zu Lichtenbergs ambivalenter Religionsvorstellung mit einem Schwerpunkt auf seinen Überlegungen zur Seelenwanderung, vgl. außerdem: Ulrich Joost: Lichtenbergs Glaube. In: Ulrich Kronauer u. Andreas Deutsch (Hg.): Der „Ungläubige“ in der Rechts- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 2015 (Akademie-Konferenzen 20), S. 301–328.
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den sich Satisfaction zu geben“,96 die Kritik einer weiteren Vermenschlichung gegenüber, die nicht nur die äußere Gestalt der Götter betrifft. Indem einer Handlung oder einem Ereignis ein göttlicher Wille zugesprochen werde, entstehe ebenfalls eine anthropomorphische Vorstellung, welche „(verfeinert) die Gottheit nach menschlichen Grundsäzen und Absichten handeln läßt“.97 So besäßen die Religionen „launige, eigensinnige Götter, welche ganz nach Menschenart handeln, erscheinen, befehlen, drohen, verheissen, zürnen, und wieder besänftigt werden, lieben, hassen, billigen, verwerfen, oder gar, zufolge einer eigensinnigen und unerklärbaren Wahl, selig machen und verdammen.“98 Analog zu der Erfahrung, dass man Menschen in ihrer Meinung und ihren Entscheidungen umstimmen könne, indem man sie zu etwas überredet oder sie mit Geschenken besticht, glaubten die Menschen auch, dass sich die Götter nach menschlichen Wünschen umstimmen ließen. Die Versuche, auf die Götter Einfluss zu nehmen, würden jedoch nur aus Eigennützigkeit geschehen: Knoblauch stellt die Frage, wozu man mit den Göttern in Verbindung treten solle, wenn man „von ihnen keine willkürliche Gaben zu hoffen, keine willkürliche Mishandlungen zu fürchten habe[]?“ Wäre man nicht davon überzeugt, dass eine Gottheit, die man beeinflussen wolle, auch im gewünschten Sinne handelt, man also auch damit rechnen müsste, dass sie möglicherweise das genaue Gegenteil in die Tat umsetzen könnte, würde man eher davon absehen. Da dies nicht der Fall sei und die Menschen davon ausgingen, dass ihre eigenen Wünsche auch die ihrer Götter sein müssten, gebe es, so Knoblauch, in allen Religionen die Vorstellung, dass Menschen nach eigenen Wünschen „auf die Götter wirken, und, gewissermassen, ihren Zustand, durch angenehme oder widrige Eindrüke, modificiren könnten.“99 Diese Annahme sei nach Knoblauchs Ansicht unsinnig, da die Menschen meist selbst nicht wüssten, was ihnen schade oder nutze und sie daher auch unfähig seien, den Göttern zu diktieren, was auf der Erde geschehen solle: „Nach unsern Wünschen, nach unsern kleinen Bedürfnissen soll sich der Himmel beugen, die Natur soll den ewig vorentworfenen Lauf ihrer Bestimmung ändern. Jupiter soll da sizen, wie ein Amtsschulze, um auf unsere Klagen zu warten, und uns Recht zu pflegen.“100 Da in allen Religionen die Götter als unabhängige Wesen angesehen würden, sei diese Vorstellung sogar doppelt widersprüchlich: Wenn einerseits der Mensch Einfluss auf göttliche Entscheidungen hätte und sich andererseits dieser Einfluss auch auf das göttliche Befinden auswirke, müsste ein göttliches Wesen, das den menschlichen Wunsch erfüllt, möglicherweise über die selbst herbeigeführten Auswirkungen des Wunsches verstimmt sein und wäre so nicht unabhängig. „Ihr traget auf euren 96
[Karl von Knoblauch]: Anthropomorphism. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 146–152, hier S. 150 f. 97 Ebd. 98 Knoblauch: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 30. 99 Ebd., S. 31. 100 [Karl von Knoblauch]: Evander an Palemon. Ueber einen Vers des Horaz. In: Hyperboreische Briefe 3 (1788), S. 78–82, hier S. 79.
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Weltvater eine menschliche Gerechtigkeit über, und lasset den zureichenden Grund von allem, was ist, [Und also auch von allem, was geschiehet.] wie einen Unsinnigen, über seine eignen Folgen zürnen. Warlich, meine Freunde, eure anthropomorphistische Theologie ist klarer Non-Sens!“101 Politischer Aberglaube Neben dem religiösen Aberglauben existiert für Knoblauch ebenfalls ein politischer Aberglaube,102 wobei beide zusammen zu den „größten Calamitäten [gehörten], welche unsere unglückliche Race von jeher betroffen und zu Boden gedrückt“103 habe, wie Knoblauch in seinen Politisch-philosophischen Gesprächen den Baron gegenüber seinem Dialogpartner, dem Marquis, erläutern lässt: „Um Ihnen ein Beispiel vom politischen Aberglauben zu geben, führe ich Ihnen den Köhlerglauben104 an die legale Allmacht des tel est nôtre plaisir, oder stet pro ratione voluntas! an.“105 Beide Aussprüche seien Anfangs nicht mehr „als eine unschuldige Floskel im Kanzleistil“ gewesen, die nur ausgedrückt habe, dass ein Regent etwas genau so wolle. [M]it der Zeit ändert sich die Bedeutung der Wörter […]. Exegeten von einer gewissen Art forschen in den Buchstaben der Schrift, und ohne sich um den vermuthlichen Sinn der ersten Urheber zu bekümmern, schieben sie den geduldigen Formeln ihre Gedanken unter, und – beweisen alles daraus, was sie zu beweisen dienlich erachten.106
Genau wie der religiöse Aberglaube basiere nach Knoblauch auch politischer Aberglaube auf willkürlichen Annahmen, die zur Grundlage einer Politik gemacht würden. Bei der Religion seien dies die jeweiligen Schriften, in welche alles hinein interpretiert werden könne, was gerade an religiösen Aussagen benötigt werde. Gleiches geschehe auf politischer Ebene mit Gesetzen oder Erlassen, wenn durch geschickte Auslegung den Worten Bedeutungen untergeschoben würden, die nicht im Sinne des eigentlichen Verfassers gewesen seien.107 Dass für politischen Aberglauben meist auch die gleichen Personen wie für den religiösen verantwortlich seien, macht Knoblauch durch die Bemerkung deutlich, dass es noch genug Länder gebe, in de101 Ders.: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 33 Hervorh. u. Klammer als Fußnote i. Orig. 102 Dieser Begriff taucht nach Werner Schneiders erst gegen Ende der Aufklärungsepoche auf. Vgl. Werner Schneiders: Aberglaube. In: Ders.: Lexikon der Aufklärung: Deutschland und Europa. München 2001, S. 25–27, hier S. 26. 103 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 147. 104 Auch wenn dies eine Bezeichnung ist, die Luther als negativen Begriff prägte, wird sich Knoblauch wohl auf die ursprüngliche, neutralere Bedeutung beziehen und ist „im lobenden Sinne für den treuherzigen Glauben des einfachen Mannes im Anschluß an eine Teufelsgeschichte“ (Pott: Aufklärung und Aberglaube (wie Anm. 85, S. 118), S. 108) zu verstehen. – Aber natürlich ist auch für Knoblauch ein treuherziger Glaube keinesfalls ein positives Phänomen. 105 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 148, Hervorh. i. Orig. 106 Ebd., S. 149, Hervorh. i. Orig. 107 Inwiefern allgemeine Gesetze von einem unabhängigen Richter ausgelegt werden dürften – was eine gewisse Willkür mit sich bringe – oder ob Gesetze besonders ausführlich sein müssten, damit sie wortwörtlich befolgt werden könnten, ließ Knoblauch seine beiden Protagonisten, den Baron und den Marquis, ebenfalls diskutieren. Vgl. hierzu Kapitel 3.4.1: Rechte, Freiheiten und deren Einschrä nkung.
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nen „Pfaffen, die Beichtväter der Fürsten, die Soufleurs auf dem politischen Theater sind; wo sie im Kabinet Entschlüsse und Verordnungen diktiren, und in den Konsistorien Wahrheit und Tugend verfolgen.“108 Wie Knoblauch in einem seiner ersten Artikel von 1786 angibt, stellt der Einfluss, den der religiöse Aberglaube auf den politischen zu nehmen versuchte, einen der Hauptgründe dar, weshalb er sich intensiv mit abergläubischen Themen beschäftigte. So beschreibt er seine Beobachtung einer entstehenden beziehungsweise wachsenden, der Aufklärung entgegen gerichteten Bewegung: Diese gegenaufklärerischen Kräfte würden vermehrt versuchen, Einfluss auf die Gesellschaft und die Politik zu nehmen – was ihnen durch ihre Ähnlichkeit zum bestehenden politischen Aberglauben auch gelänge. Daher sei es auch noch „in unseren Tagen“ der Mühe wert, „sich von der Nichtigkeit der Wundermärchen, der Erscheinungsfrazzen, u. d. m. fest zu überzeugen“.109 Es werde „im Verborgenen“ ein großer „Entwurf zur Unterdrückung des Menschenverstandes, und [zur] Gründung einer geistlichen Universalmonarchie“110 gearbeitet, sodass es im Interesse „gewißter Leute“111 sei, „den Köhlerglauben an Legenden, Magie, Geistereinflüße und Eingebungen, geheime Wissenschaften, Mysterien, u. d. m. auszubreiten und zu stärken.“ Als Beleg sah er „[d]ie vielen sinnlosen, aber nicht absichtlosen, Schriften“ an, „welche seit einiger Zeit in Deutschland und Frankreich zum Vorschein“112 gekommen seien. Man würde diesen Texten ihre Herkunft aus der religiösen Orthodoxie ansehen und könne ebenfalls den geheimen Plan erkennen, der sich gegen die Menschheit und sogar gegen das Interesse der Herrscher wende. Dies beweise „zur Genüge, daß der Aberglauben, diese Pest des menschlichen Geschlechts, seine letzten Kräfte jetzt mit verdoppeltem Effort anwendet, sich wieder auf den Thron emporzuarbeiten, von welchem ihn Kritik, Philosophie, und gesunde Physik zu verdrängen angefangen hatte.“ Knoblauchs Vernehmen nach versuchten diese Kräfte nicht nur, die Aufklärung und ihre Erkenntnisse zurückzudrängen, sondern sie bedienten sich ebenfalls der aufklärerischen Methoden und versuchten die Aufklärung quasi mit ihren eigenen Waffen zu schlagen: Der Aberglaube nehme jezt die Gestalt der Wissenschaft an, und indem er alles ächte menschliche Wissen verdächtig zu machen, und alles unzuverlässige darzustellen sucht, pralt er mit verborgenen Wißenschaften und geheimen Künsten, unter welchen occulten Dingen nur allein die grose Bonzen- und Ordenskunst, das Menschengeschlecht durch grobe Täuschungen zu hintergehen, und am Narrenseil herumzuführen, Realität hat.113 108 [Karl von Knoblauch]: Aufmunterung an’s Ungeheur. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 261– 267, hier S. 264 – Staatliche Verfolgung von religionskritischen, nicht der offiziellen Lehre entsprechenden Meinungen ist also für Knoblauch schon ein Jahr vor Erlass des Religionsediktes in Preußen ein wichtiges Thema gewesen. 109 Ders.: Ueber die Kunst in der Geschichte zu muthmassen. Aus dem Französischen des Herrn von Alembert. Mit einigen Zusäzen. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 168–180, hier S. 178. 110 Ebd., S. 178 f. 111 Ebd., S. 178. 112 Ebd., S. 179. 113 Ebd., S. 179 f.
3.1 Philosophie versus Religion
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Der Menschheit, „die sich mühsam aus dem Schlamm der Vorurtheile und des sie begleitenden Elends“ hervor gearbeitet habe, drohe nun wieder, wie Knoblauch im darauffolgenden Jahr schrieb, der „Rükfall unter das eherne Joch der Bonzen, Rükfall in alle Schreken der Superstition, in alle Schande leiblicher und geistlicher Sklaverei“.114 Auch wenn „die entscheidende Schlacht gegen den Aberglauben bereits in der Frühaufklärung geschlagen worden war“115 und Knoblauchs Beobachtung verschwörungstheoretisch anmutet, kann sie aus wissenschaftlicher Perspektive bestätigt werden: Seit den 1770er-Jahren wurden in Reaktion auf die aufgeklärte Publizistik sowie die Umsetzung aufgeklärter Reformen Stimmen lauter, welche diese Entwicklungen kritisierten und zu verhindern versuchten. Auch gingen diese Versuche vor allem von kirchlicher Seite aus: „Die allmähliche Durchsetzung der neuen Ideen wurde als Angriff auf Religion und Kirche wahrgenommen, die bisher als unbestrittene Stütze der Obrigkeit und als erste Institution der Erziehung gegolten hatten.“116 In Anlehnung an die französische Gegenaufklärung und unter Einbeziehung der Methoden der Aufklärung veröffentlichte ab 1787 der ehemalige Jesuit Hermann Goldhagen (1712–1794) in Mainz das Religions-Journal und bereitete damit den Boden für weitere, in die gleiche Richtung argumentierende Publikationen, wie beispielsweise Grolmans und Kösters Zeitschrift Die neuesten Religionsbegebenheiten. Diese Publikationen und ihre Herausgeber einte die „Überzeugung, dass geheime aufgeklärte Gesellschaften und darunter insbesondere Freimaurer und Illuminaten einen ‚Umsturz der Staaten und Religionen‘ planten.“117 Neben der Herausgabe der Zeitschriften stellt ebenso die enge Vernetzung der gegenaufklärerisch tätigen Personen untereinander eine weitere deutliche Parallele zur von ihnen bekämpften Aufklärung dar.118 Das Religions-Journal und auch weitere Zeitschriften thematisierten schon lange vor der Revolution in Frankreich die Gefahr eines revolutionären Umsturzes aufgrund der „so häufige[n] ärgerliche[n] Schriften, die heut zu Tage zum Vorschein kommen“.119 Genauso zeugen viele der Artikel von den von Knoblauch beschriebenen Versuchen, sich den Anschein einer wissenschaftlichen Untersuchung zu geben, um eine alternative ‚Wahrheit‘ zu lancieren.120 114 [Karl von Knoblauch]: Natur ist unser Gesezz. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 296–301, hier S. 300. 115 Schneiders: Aberglaube (wie Anm. 102, S. 121), S. 26. 116 Annette Meyer: Die Epoche der Aufklärung. Berlin 2010 (Akademie-Studienbücher Geschichte), S. 176. 117 Ebd., S. 177. 118 Ausführlich zu Hermann Goldhagen und dessen Religions-Journal, vgl. Krenz: Konturen (wie Anm. 547, S. 102), S. 177–188. Zu den neuesten Religionsbegebenheiten, vgl. ebd., S. 252–259. 119 [Anonym]: Von bevorstehenden Revolutionen aus so vielen ärgerlichen Schriften unserer Zeiten. In: Religions-Journal 8 (1783), S. 280–283, hier S. 281. 120 So als stellvertretendes Beispiel der ebenfalls 1783 erschienene Versuch des Religions-Journals, philosophische Prophezeiungskritiken zu imitieren, um die Möglichkeit glaubwürdiger Prophe-
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Waren in Frankreich die Vertreter der Gegenaufklärung naturgemäß der katholischen Konfession zuzurechnen und nahm auch im deutschsprachigen Raum Goldhagen eine Vorreiterrolle ein, so bemühten sich im Verlauf besonders protestantisch-orthodoxe Kräfte, die aufgeklärten Reformen zurückzudrängen. Eine wichtige Rolle nahm hierbei der Pietismus ein: Nachdem in der Mitte des 18. Jahrhunderts das „Zweckbündnis“ zwischen Aufklärung und Pietismus zerbrochen war, zählte letzterer „zu den Gegnern zumindest der radikalen Aufklärer.“121 Zu den zentralen Kontrahenten der Aufklärer zählte der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717–1786), aus dessen mit Lessing geführtem Streit 1779 Nathan der Weise hervorging. Aufgrund ihrer Nähe zu Dillenburg war für Knoblauch vor allem der Gießener Zirkel um Heinrich Martin Gottfried Köster und Ludwig Adolf Christian von Grolman mit ihrer Zeitschrift Die neuesten Religionsbegebenheiten eine besondere Gegnerschaft.122 In seinen Texten beschreibt Knoblauch ausführlich die Auswirkungen, welche der Einfluss des religiösen Aberglaubens auf die Gesellschaft und das politische System seiner Meinung nach hatte. Indem die religiösen Lehren „in einer Sprache geschrieben [seien], die der Geistliche fast nur allein versteht“, entstehe hier ein großes Potenzial für Willkür, da die Geistlichkeit den „Ausleger des göttlichen Gesezzes“123 darstellte. Nach Knoblauchs Ansicht sei mit zunehmender Aufklärung diese Willkür so weit zurückgedrängt worden, dass den „passionirten Priestern“ nichts weiter übrig blieb, als zu „beklagen, daß der Unglaube“ in Form von „Philosophie und Toleranz […] bis zu den Thronen der Könige durchgedrungen sei.“ Daher blieb der Geistlichkeit lediglich das „Predigen und Schimpfen auf die Philosophen; und wenn sie Diesem oder Jenem aus christlicher Liebe einen Inquisitionsprozeß an den Hals hängen konnten, so ermangelten sie nicht, diesem Berufe zu folgen, und der Gottheit zu Ehren ihre Geschöpfe zu plagen.“124 Knoblauch nennt in diesem Zusammenhang Johann Philipp Jacob Winz (1759–1813), einen reformierten Prediger in Neuwied, der zwischen 1787 und 1788 langwierige Untersuchungen bezüglich seines Glaubens über sich ergehen lassen musste.125 Auch erwähnt er den, wegen seiner aufklärerischen Haltung in mehrere Prozesse verwickelten und im Zuge des Preußischen Religionsediktes entlassenen Johann Heinrich Schulz (1739–1823)126
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zeiungen zu erörtern: [Anonym]: Von der überzeugenden Glaubwürdigkeit wahrer Prophezeyungen. In: Religions-Journal 8 (1783), S. 342–356. Borgstedt: Das Zeitalter der Aufklärung (wie Anm. 3, S. 1), S. 95. Vgl. ebd., S. 94 f. – Zu Knoblauchs Bedrohung durch die Personen um Köster und Grolman, vgl. außerdem Kapitel 2.4. [Karl von Knoblauch]: Klindor an Araminta. Zwote Lektion. In: Hyperboreische Briefe 5 (1789), S. 305–316, hier S. 307. Ebd., S. 308. Winz berichtete Bahrdt ausführlich von diesen Untersuchungen und schickte ihm Kopien seiner diesbezüglichen Korrespondenz sowie des abschließenden Gutachtens der theologischen Fakultät Marburg. Vgl. Pott: Briefe 4 (wie Anm. 233, S. 53), S. 233–310. Vgl. Andreas Menk: Johann Heinrich Schulz – „Meteor an dem Kirchenhimmel der Mark von Deutschland“. Über eine personelle Konstellation der Ermöglichung radikaler Religionskritik
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und Carl Friedrich Bahrdt, der ebenfalls aufgrund des Religionsediktes in Kerkerhaft geraten war.127 Im Bezug auf solche Aufklärer hätten alle Religionsedikte, „ausser der nachtheiligen Wirkung, daß sie dem Untersuchungsgeist drükende Fesseln anlegen“,128 lediglich bewirkt, „die Zahl der Heuchler zu vermehren“. Wenn man Menschen aufgrund ihrer Überzeugungen verfolgen könne, würde das zu willkürlichem Vorgehen gegenüber unliebsamen Personen führen. So lässt Knoblauch seinen fiktiven Briefschreiber berichten, er hätte gehört, dass man in Wien „Jeden, der sich über gewisse Punkte seines Gewissens erkläre, ins Narrenhaus“129 stecke. Am Beispiel Bahrdts macht er deutlich, dass auf diese Weise auch die Möglichkeit bestehe, alleine aufgrund eines bloßen Verdachtes, verhaftet zu werden: „War es schon vor der Verhaftung des Doktor Bahrdt am Tage, daß er der Verfasser wäre, wozu sein langer Arrest? Warum lies man die Strafe der Entdeckung nicht auf dem Fuße folgen? Herrschte aber gegen ihn blos ein Verdacht, wie konnte man ihn deswegen in Verhaft ziehen?“130 Teufels- und Hexenglaube Zu ähnlich willkürlichen Verleumdungen und Denunziationen führt innerhalb der Gesellschaft der Aberglaube an den Teufel. Diesem oder „böse[n] Dämone[n]“ würden „[d]ie unsichtbaren Ursachen schädlicher Ereignisse“131 zugeschrieben. „[O]rthodoxe Theologen“ – Knoblauch betont ausdrücklich, dass er Theologen „[a]ller drei Confessionen“ meint – sähen den Teufel überall dort, „wo ihn kein vernünftiger Mensch nur von ferne wittern sollte.“132 So sei er einerseits bei Dieben und Räubern zu finden oder habe andererseits zu verantworten, wenn ein Mensch Selbstmord begehe.133 Es reichten jedoch auch vollkommen belanglose ‚Vergehen‘, um die religiöse Obrigkeit gegen sich aufzubringen: Habe ein Mensch „auch nur Etwas gethan oder unterlassen, was nicht eigentlich zum Wesen der Religion gehört, oder dem Herrn Pastor Etwas vom Zehnden abgezwackt, so hat ihn der Teufel re-
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im spätfriderizianischen Preußen. In: Mulsow u. a. (Hg.): Radikale Spätaufklärung (wie Anm. 24, S. 6), S. 135–171; Mulsow: Deismus (wie Anm. 192, S. 46), S. 362 f. – Schon 1786 bedachten Die neuesten Religionsbegebenheiten Schulz und dessen Schriften mit einer ausführlichen Rezension, die mit der unverhohlenen Drohung endete: „Wir dencken, wenn diese seine liebe Schrift einmahl in die rechten Hände kommen sollte: so dürfte vielleicht zu ihrem Verf. gesagt werden: Stehe auf von deiner Pfarrey und wandle deiner ewigen Bestimmung und deinem Verhängniß gemäs nach.“ [Anonym]: Des Predigers Herrn Schulz Schriften wider die Religion. In: Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen 9 (1786), S. 183–220, hier S. 220, Hervorh. i. Orig. Vgl. Mulsow: Deismus (wie Anm. 192, S. 46), S. 365. Knoblauch: Zwote Lektion (wie Anm. 123), S. 309. Ebd., S. 310, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 313, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Ursprung (wie Anm. 86, S. 118), S. 7. Ders.: Wo ist der Teufel? In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 116–127, hier S. 121. Vgl. ebd., S. 119 f.
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girt.“ Auch wenn sich jemand anders verhalte als es nach „christlicher Einfalt“134 üblich sei und sich erlaube, „[e]twas freyer zu denken, und die liebe Vernunft auch ein Wort reden zu laßen; kann er [der freidenkende Mensch, Anm. M. L.] an hirnlosem Zeug, welches man ihm als heilige Wahrheiten aufdringen will, keinen Geschmack finden: so geht er in des Teufels Stricken.“135 Diese willkürlich religiöse Verfolgung wirke sich sogar auf die privatesten Handlungen der Menschen aus. Die Menschen, die bei etwas erwischt würden, was der Geistlichkeit missfalle, könnten auch durch den Vorwurf des Teufeleinflusses sanktioniert werden: „Ist etwan gar ein Paar junger Leute einander zu nahe gekommen, und hat es im Taumel der Liebe einen Fehler begangen: so wird es umbarmherzig für die grösten Verbrecher gerichtet, abgekanzelt und zur strengsten Buße verwiesen, damit die Seelen gerettet und nicht mit Stumpf und Stiel dem Teufel in die Hände fallen mögen.“ An manchen Orten sei es sogar noch Brauch, derartige ‚Verbrechen‘ mit dem öffentlichen Pranger zu bestrafen, was – wie Knoblauch sarkastisch bemerkt – „mit dem frommen Nahmen Kirchenbuße bezeichnet“136 würde. Sogar bei körperlichen Krankheiten – „besonders beim weiblichen Geschlecht“ – wüssten „die schwarzen Herren recht gewis und zuverläßig, daß der Teufel im Spiel ist.“137 Wer hierbei widerspreche, werde von den Priestern als Atheist oder Naturalist beschimpft. Die Verantwortung, dass dieser Glaube an den Teufel aufrecht erhalte werde, trage nach Knoblauch alleine die Geistlichkeit. Sie würden den Menschen die Überzeugung, „der Teufel schleiche ihnen nach“, in einem „sublimen Gewissenstribunale, vulgo Beichtstuhl“,138 einreden. Hierdurch könnten die Menschen nicht erkennen, dass der eigentliche Grund der „falschen Grundsätze“ und der „üblen Gewohnheiten“139 in ihnen selbst zu suchen sei. Indem die Begründung des schlechten oder bösen Verhaltens auf eine externe Ursache, den Teufel, übertragen werde, fürchte man nur diese: Der Teufel mus an Allem Schuld seyn. Nur diesen wird er fürchten, auf sich selbst aber nie wachsam werden. Anstatt sein eigenes Herz anzuklagen wird er auf den Teufel schimpfen, der ihn keine Ruhe läßt, sondern auf alle seine Tritte und Schritte lauert. Vor dem Erstern wird er ruhig seyn, nur der letztere macht ihn schlaflos.140
Der Glaube an den Teufel hat nach Knoblauch also zwei Auswirkungen: Einerseits werde er instrumentalisiert, um den Geistlichen unliebsames Verhalten zu sanktio134 135 136 137
Knoblauch: Teufel (wie Anm. 132, S. 125), S. 121. Ebd., S. 121 f. Ebd., S. 122, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 124 – Hierbei sei „[d]as Schlimmste“, wie Knoblauch anmerkt, „daß in solchen Fällen selten ein vernünftiger Arzt, der das Ding versteht, zu Rath gezogen wird. Oder man glaubt ihm wohl nicht, sondern hält sich lieber an Pfuscher und Hexenbanner, die man zur Schande der deutschen Polizei noch duldet“ (Ebd., S. 124 f.). 138 Ebd., S. 123. 139 Ebd., S. 123 f. 140 Ebd., S. 124.
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nieren. Dies betreffe Freidenker genauso wie junge Paare, die sich erlaubten, eine verbotene Liebschaft einzugehen. Andererseits hindere es die Gläubigen an der Selbsterkenntnis, die Ursache für wirklich negative Taten in sich selbst zu suchen. Stattdessen hätten sie vor einem imaginären Wesen Angst, das sie verfolge und sie zu diesen schlechten Handlungen veranlasse, wenn sie sich nicht ‚christlich‘ verhielten. Dies wiederum führe zu einer stärkeren Bindung an die Religion und damit zu einer Verstärkung des Teufelsglaubens. Eng mit dem Glauben an den Teufel ist der an Hexen verbunden. Diesen thematisiert Knoblauch – neben vielen weiteren Formen des Aberglaubens – in seinem Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer auf das Jahr 1791. Zwar hätte es zu allen Zeiten und in allen Ländern Hexen und Zauberer gegeben – so auch in Deutschland, bevor es christianisiert worden sei. „Aber wenn es [das nicht-christianisierte Deutschland, Anm. M. L.] thöricht genug war, sie zu haben, so war es doch so grausam nicht, sie zu verbrennen. Es nahm die christliche Religion an, und fuhr fort, Hexen zu glauben, aber – verbrannte sie!“141 Dass es auf dem Brocken den Glauben an einen jährlichen Hexentanz gebe, erklärte Knoblauch durch eine Fehlinterpretation germanischer Frühlingsrituale durch christliche Priester, wie er einem unbekannten Adressaten im Vorfeld einer Reise in den Harz und auf den Brocken schrieb: Er selbst wolle dort den „Hexentanz auf dem Berge der Brukterer (auf Walpurges)“ aus der Nähe beobachten, um – wie er ironisch kommentiert – die freidenkenden Philosophen widerlegen zu können, welche […] die Realität dieses Balls freventlich läugnen, […] oder auch wohl gar, wie jezt Mode wird, den Ursprung jener satanischen Menuets und Kotillons142 aus einer von katholischen Geistlichen unterhaltenen falschen Idee von dem jährlichen Opfer herleiten, welches die Cherusker bei der Widerkehr des Frühlings, ihren Göttern – oder nach christlicher Auslegung dem Teufel – auf den beschneyten Höhen des Blocksberges darbrachten.
Knoblauch verspricht seinem Briefpartner, sollte es ihm „gelingen, einen Besen, oder eine Ofengabel habhaft zu werden“,143 auf welchen die Hexen auf den Brocken flögen, so würde er diese dem Raritätenkabinett in Kassel vermachen. Objekte, wie Besen, Zauberstäbe oder eben Ofengabeln, die durch Zuschreibung einer unbekannten, unsichtbaren Kraft in der Lage seien, wundersame Dinge zu vollführen, nehmen in Knoblauchs Ausführungen zur Hexen- und Zauberervorstellung eine besondere Rolle ein. Er betont, dass es die Behauptung unsichtbarer göttlicher oder teuflischer Kräfte nicht nur im Zusammenhang mit Hexen und Zauberern, sondern auch allgemein im Christentum gebe: Auf die unsichtbare Kraft Gottes berufe sich beispielsweise „auch der Jünger des heil. Franz von Assisi, wenn er […] durch das Zeichen des Kreuzes und das Hersagen einer gewissen Formel, womit seinem Vorgeben nach die unsichtbare Kraft Gottes verbunden ist“, Oblaten „in den 141 Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 69. 142 Ein Menuet ist ein schnellerer Tanz im Dreivierteltakt; der Kotillon ein französischer Gesellschaftstanz mit der spielerischen Verlosung von Geschenken. 143 GStA PK VIII. HA. Rep. C Nr. 187 Bd. 33, p. 156r.
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Leib unseres Erlösers verwandelt“. Bei dieser Verwandlung würden diese jedoch ihre Form und ihren Geschmack „und alle Merkmale behalten, woran wir, daß es Oblaten sind, erkennen, und sie von allen andern Körpern, z. B. von Fleisch, unterscheiden können.“144 Nicht nur Christen bei der Eucharistie, sondern auch Quäker würden sich auf solche unsichtbaren Kräfte berufen, „wenn er den heil. Geist zu haben vorgiebt“ oder eine Bauersfrau, wenn sie ihr Butterfass bekreuzige, „um es gegen daß Verhexen zu sichern.“145 Für Knoblauch besteht in der Behauptung unsichtbarer Kräfte, die mit einer „äusseren Scheinursache“146 – einem Zauberstab, einem Spruch oder dem Bekreuzigen – verbunden sind, eine zweifache Gefahr: Zum einen könne man weder die Kraft noch die Scheinursache belegen oder widerlegen. So habe Lavater fest an „die noch fortdauernde Wunderkraft des Glaubens und Gebets“147 geglaubt, obwohl niemals ein Zusammenhang zwischen einem Gebet und einem eintretenden Ereignis hergestellt werden konnte: Alle schrecklichen Ereignisse – ein Orkan, ein Erdbeben oder eine Flut – müssten irgendwann ein Ende haben, aber die Menschen würden dieses Ende mit ihren Gebeten (oder Opfern) in Verbindung bringen: „Ha! Nun ist das Gebet erhört: das Opfer war den Himmlischen angenehm: ihr Zorn ist gestillt.“ Zum anderen werde der Aberglaube durch diese „Scheinerfahrung“ lediglich gestärkt, da „[d]em Unwissenden […] Dinge, die neben einander sind, auch in einander gegründet zu seyn“ scheinen. Durch diesen eingebildeten Zusammenhang verdoppelten die Menschen ihren „Eifer im Dienst der Himmlischen.“148 Damit öffnen sie allen weiteren „Arten des Aberglaubens und der Schwärmerei Thüre und Thor. Man läßt der Einbildungskraft den Zügel schießen, und giebt sich den Betrügereien eines jeden Charlatans Preis“.149 Besonders beim Glauben an Hexen könne man nach Knoblauchs Aussage eine besonders schädliche Auswirkung von angenommenen Scheinzusammenhängen beobachten: So sei es durch die Wiegeprobe von Hexen „vor Zeiten“ gefährlich gewesen, „ein altes Weib zu seyn, und Runzeln auf der Stirne zu haben! – Eine betrügerische Waage gab den Ausschlag, ob man leben, oder in den Flammen sterben sollte.“150 Die Praxis der Hexenprozesse war auch in Knoblauchs Zeit nicht vorüber und demonstrierte auf besondere Weise, was die Verquickung von religiösem und politischem Aberglauben an grausamen Folgen haben konnte.151 Mit dem 1782 in der Schweiz stattfindenden Hexenprozess macht der Aufklärer Knoblauch auf die – von der heutigen Geschichtswissenschaft gerne betonte – Gleichzeitigkeit des Un144 145 146 147 148 149 150 151
Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 71 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 72, Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd., S. 110, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Ursprung (wie Anm. 86, S. 118), S. 10. Ders.: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 73. Ebd. Vgl. Pott: Aufklärung und Aberglaube (wie Anm. 85, S. 118), S. 134, 262.
3.1 Philosophie versus Religion
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gleichzeitigen im 18. Jahrhundert aufmerksam: „[Z]ur Schande der Vernunft der dortigen Oligarchen“152 sei Anna Göldi (1734–1782) als „sogenannte Hexe hingerichtet worden.“153 Ganz Europa habe mit Widerwillen auf dieses Ereignis geblickt, da es nicht zum aufgeklärten Selbstverständnis der damaligen Menschen gepasst habe. Doch auch in Kreisen der führenden Wissenschaftler der damaligen Zeit konnte es vorkommen, dass der Glaube an Hexen als wahre magische Erscheinung aufrecht erhalten wurde: Würde man, so Knoblauch, der Argumentation des (1782 schon verstorbenen) ersten medizinischen Professors der Wiener Universität, Anton van Haën (1704–1776) glauben,154 sei Göldi wirklich eine Hexe gewesen: Denn wenn Nägel, Haarnadeln, u. d. aus dem menschlichen Körper ausgeworfen werden, so ist das, ihm zufolge, ein untrügliches Zeichen der Magie. Man ist dem Andenken des Herrn von Haen große Hochachtung schuldig. Er war ein großer Arzt; aber bei weitem nicht so groß war er in der Philosophie. Das beweisen die Bücher, die er von Mirakeln und von der Magie schrieb.155
Medizinischer Aberglaube Nicht alle Formen des Aberglaubens werden ausschließlich auf den negativen Einfluss der Theologen zurückgeführt, da oftmals auch die menschliche Irrationalität eine gewisse Mitverantwortung trägt. Dies ist nach Knoblauch beim Glauben an magnetische Heilungskräfte der Fall, der hauptsächlich durch gezielte Manipulation und die Bereitschaft, sich manipulieren zu lassen, erklärt werden könne. Somit sei die einzige Kraft, die ein Magnetiseur ausübe, die „magische Kraft der Manipulation“.156 Diese Manipulation könne durch die situativen Umstände erklärt werden: Auch wenn man nicht an den Magnetismus glaube, könne man sich trotzdem vorstellen, „daß durch die Wirkung der lebhaften und äusserst gespannten Imagination eines reitzbaren, durch gewisse physische und profane Mittel in Ekstase gesetzten,
152 Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 74 – „Die Orte der alten Eidgenossenschaft – auch Zürich, Bern etc. – waren vor der Staatsumwälzung durch den Einmarsch der napoleonischen Truppen Oligarchien und hatten mit Demokratie wenig am Hut.“ Walter Hauser: Der Hexenprozess gegen Anna Göldi in der Beurteilung der Zeitgenossen. In: Wolfgang Behringer, Sönke Lorenz u. Dieter R. Bauer (Hg.): Späte Hexenprozesse. Der Umgang der Aufklärung mit dem Irrationalen. Bielefeld 2016 (Hexenforschung 14), S. 123–126, hier S. 125. 153 Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 74. 154 Vgl. August Hirsch: Haën, Anton van. In: Allgemeine Deutsche Biographie 10 (1879), S. 311–313. 155 Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 75, Hervorh. i. Orig. – Zu Anna Göldi: Rainer Decker: ,Sagt euren Landsleuten, daß sie rechte Tölpel und Narren sind!‘ Die letzten Hexenprozesse in der Schweiz (1780–1782). In: Behringer, Lorenz u. Bauer (Hg.): Späte Hexenprozesse (wie Anm. 152), S. 127–135; und Wekhrlins Darstellung, auf welche sich Knoblauch bezog: Hauser: Hexenprozess (wie Anm. 152). Zum weiteren Überblick über die Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit: Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung. Paderborn 2015, S. 625–659; und besonders im 18. Jahrhundert: Wolfgang Behringer: Späte Hexenprozesse – ein Pfahl im Fleisch der Aufklärung. In: Behringer, Lorenz u. Bauer (Hg.): Späte Hexenprozesse (wie Anm. 152), S. 1–24. Ausführlicher zur aufgeklärten Kritik am Hexenglauben: Pott: Aufklärung und Aberglaube (wie Anm. 85, S. 118), S. 262–265. 156 Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 44, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Mädchens, wichtige Veränderungen in ihrem Körper vorgehen können.“157 Hierbei spiele auch eine Rolle, dass die Krankheiten, welche durch eine derartige Behandlung geheilt werden sollten, in den meisten Fällen nur eingebildete Modekrankheiten seien: „In unseren Tagen streckt man sich auf einem Sopha, oder einem persischen Teppich hin, und genest durch Einbildung – welcher die Manipulation zu statten kommt – von eingebildeten Uebeln.“158 Diese Mode werde sogar noch davon übertroffen, dass man meinte, sich über die – wenn auch in der Frühen Neuzeit aus heutiger Sicht begrenzten – wissenschaftlichen Erkenntnisse der Schulmedizin hinwegsetzen zu können, „welche Aeskulap […] den auf gehörige Art Fragenden offenbarte“.159 So würden viele davon ausgehen, „ohne selbsterworbene medizinische Kenntnisse, seinen eigenen, oder fremder Personen Krankheitszustand anzugeben und wirksame Heilmittel dagegen zu verordnen.“160 Ebenfalls habe sich der katholische Theologe und Exorzist Johann Joseph Gaßner (1727–1779),161 welchem Knoblauch ebenfalls ein Kapitel seines Taschenbuchs widmete, einen Placebo-Effekt zunutze gemacht und nur die kuriert, welche eine hinlängliche Dosis von Glauben und Vertrauen mitbrachten. Die Aerzte wissen, daß dergleichen Dispositionen nicht selten die Kur befördern. Gaßner wirkte mächtig auf die Imagination seiner Patienten, und durch die Imagination auf ihr Nervensystem. Er brachte darin gewisse Erschütterungen hervor, welche bisweilen heilsame Veränderungen in dem Zustande des Patienten zur Folge haben konnten.162
Auch aus der Sicht Johann Christian Schmohls besteht eine Gefahr in medizinischem Unwissen und dem medizinischen Aberglauben, der daraus hervorgeht. So berichtet er, er habe „von den Nordamerikanischen Wilden“ gelesen, die glaubten, „man könne natürlicherweise nicht krank werden.“163 Seinen Lesern, die diese Meinung der ‚Wilden‘ als unsinnig bezeichnen könnten, hält Schmohl entgegen, dass bei diesem Aberglauben selbst die meisten Europäer nicht aufgeklärter wären: „Sobald einem etwas fehlt, glaubt er, es sey ihm etwas angethan, er sey behext.“ Daher würden meist den wundersamen Ursachen entsprechende „zauberische Mittel“ gegen diese Krankheiten eingesetzt: „Beschwörung, Bann und Segen.“ Selbst Fleischwunden würden „versprochen“: Sobald „der Pfuscher“ einen „gottlosen Spruch […] unter den Zähnen murmelt, muß das Blut, und wenns auch aus der Schlagader sprudelte, die Minute still stehn.“ Ein anderer schneide alles ab, „[w]as ihm unter die Hände kommt, es sey der Krebs, oder eine unbedeutende Beule“. Einige dieser falschen Ärzte würden auf dem Land im Ansehen aufsteigen, wenn auch nur ein Patient, der von richtigen Ärzten aufgegeben wurde, ohne ihr wirkliches Zutun geheilt 157 158 159 160 161 162 163
Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 45. Ebd., S. 48. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 49. Zu Gaßner vgl. Pott: Aufklärung und Aberglaube (wie Anm. 85, S. 118), S. 252 f. Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 107, Hervorh. i. Orig. Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 279 – Zu Schmohls Sicht auf ‚wilde‘ Völker, was bei ihm nicht negativ konnotiert ist, vgl. Kapitel 3.2.3.
3.1 Philosophie versus Religion
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werde. Alle ihre „verunglückten Kuren“164 würden hingegen verschwiegen, sodass sich ein Scheinzusammenhang zwischen vermeintlicher Ursache – dem Werk des ‚Pfuschers‘ – und dem Effekt – der unglaublich wirkenden Heilung – ergebe. Wie auch Knoblauch erwähnt Schmohl, dass es einen unbekannten psychologischen Heilungseffekt bei Krankheiten geben könnte, da schon „so viel Gutes auch oft der bloße Glaube an den Wundarzt“165 wirke. Schmohl betont jedoch, dass „unsre Krankheiten doch auf natürliche Art“ entstehen und daher auch „auf natürliche geheilt werden“166 müssen. Hierzu sein keine Zauberei und kein Aberglaube nötig, sondern lediglich „eine richtige physiologisch-pathologische Kenntniß des menschlichen Körpers“.167 Vampire, Gespenster und Geister Für Knoblauch ist ebenfalls der Glaube an Vampire auf menschliche Irrationalität zurückzuführen.168 Dieser sei vor allem durch die besondere Bedeutung von Friedhöfen in der Phantasie der Menschen begünstigt worden: „Kirchhöfe und Todtengewölber gehörten allzeit zu den Lieblingsplätzen, wo der Aberglaube seinen Spuk treibt.“ Zwar gäbe es an Friedhöfen generell nichts Gruseliges, denn die dortigen Gräber seien nichts anderes als die „friedliche Wohnung der Todten, welche den Gefahren und Stürmen auf dem unruh- und klippenvollen Meere des Lebens“ entgehen konnten. Sie wurden jedoch „ein Objekt des Schreckens für die Lebenden“, da der Mensch immer bemüht sei, „die Zahl unserer wirklichen Uebel noch durch eingebildete zu vermehren.“169 Nach Knoblauchs Meinung ist die gezielte oder zufällige Täuschung auch für die Entstehung des Gespenster- und Geisterglaubens verantwortlich. Die Theorie von Geistern, die „bey allen angeblichen Mirakeln die eigentlichen unsichtbaren Agenten seyn sollen“, begünstigen „Schwärmerei und Aberglaube“, weshalb letztendlich die „Hexen- Gespenster- und Feenmährchen auf einerlei Grunde“170 beruhten. Wie bei den Vampiren erklärten sich viele ‚Erscheinungen‘ alleine aufgrund des Ortes, an denen Gespenster gewöhnlich von Menschen gesehen würden: „Alte verlassene Gebäude, unbewohnte Schlösser, dunkle Kirchen, Begräbnißplätze, die abgelegen sind, 164 165 166 167 168
Ebd., S. 280. Ebd. Ebd., S. 280 f. Ebd., S. 281. Knoblauch übernahm seine Kritik des Vampirglaubens in großen Teilen von Voltaire. Vgl. Pott: Aufklärung und Aberglaube (wie Anm. 85, S. 118), S. 401. 169 Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 18 – Die Angst vor dem Tod stellt eine besondere Furcht der Menschen dar, die mit den Friedhöfen verbunden wurde: „Aber euren bewölkten und vom Aberglauben geängstigten Geist umschweben, wie Furien des Orkus, alle Schreken der andern Welt. Ihr zittert vor eurem eignen Schatten, vor einem Gespenst, welches der Tod heißt, und eurer bangen Phantasie in den scheuslichsten Gestalten sich darstellt.“ Ders.: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 37, Hervorh. i. Orig. – Vgl. hierzu auch Kapitel 3.1.2. 170 Ders.: Anti-Taumaturgie oder die Bezweiflung der Wunder. Loretto [Berlin] 1790, S. 39, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
und selten besucht werden, ferner sumpfige Plätze, wo brennbare Luft aufsteigt und Irrwische bildet – waren gewöhnlich der Schauplatz der Geisterapparitionen.“171 Einerseits hätten an diesen Orten viele Tiere ihr Versteck, die aufgeschreckt würden, wenn ein Mensch sich ihnen nähert. Andererseits würden die meisten Gespenster „an dunklen Orten – wo man die Objekte nicht erkennen und deutlich unterscheiden kann –“,172 wahrgenommen. Die Begriffe Gespenst und Geist werden meist synonym verwendet, wobei diese als „einfache denkende Wesen“173 verstanden werden. Auf den Dualismus von Materie und Geist von René Descartes (1596–1650) verweisend, schreibt Knoblauch, dass der Geist vollkommen unabhängig von Materie sein muss. Er sei daher „ohne Ausdehnung, ohne Figur, ohne örtliche Bewegung“ und könne deshalb nicht „sichtbar, hörbar oder fühlbar“174 sein. Ein Gespenst oder ein Geist müsste entweder „doch einen mehr oder minder zarten Körper haben“175 – es könnte damit jedoch keine Töne hervorbringen oder mit anderer Materie interagieren, da „sich mit einem so zarten, aus der reinsten Luft oder Aether gebildeten Körper kein unserm Ohre hörbares Gepolter verursachen läßt“176 – oder es hätte einen einfachen, also nicht zusammengesetzten Körper. Mit diesem könnte es jedoch ebenfalls nicht wahrgenommen werden: Die Einfachheit ist gar keine wirkliche, den Dingen an und für sich zukommende Beschaffenheit. Sie kann ihnen auch eben so wenig in ihrer Erscheinung zukommen, da jede Erscheinung, die unsern Sinnen sich darstellt, zusammengesetzt und in andre auflösbar ist. Das Einfache würden wir, wenn es in der Natur der Dinge wäre, nie wahrnehmen können. Für uns wäre es so gut, als – nicht vorhanden.177
Da nach Knoblauchs Überzeugung das Denken ebenfalls von der Materie abhängt, kann ein körperloser Geist auch kein denkendes Wesen sein. Knoblauch hebt daneben hervor, dass es nicht möglich sei, sollte man – entgegen aller Möglich- und Wahrscheinlichkeit – doch einen Geist beobachten können, festzustellen, ob diesem neben der Fähigkeit zu denken, Verstand oder eine Persönlichkeit innewohne. Letztendlich werde Geist lediglich als „Zauberwort“ für alle möglichen Probleme – „Gott, Seele, Engel, Teufel, Gespenster, Weingeist“178 – verwendet, die man jedoch auch durch diese Bezeichnung nicht erklären könne. Somit hängt der GespensterAberglaube, beziehungsweise die Frage nach der Existenz von Geistern, direkt mit dem Problem der Seele, ihren Eigenschaften und der Thematik des Denkens, des Verstandes und der Persönlichkeit zusammen.179 171 172 173 174 175 176 177 178 179
Knoblauch: Anti-Spectrologie (wie Anm. 310, S. 66), S. 47. Ders.: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 60 f., Hervorh. i. Orig. Ders.: Anti-Spectrologie (wie Anm. 310, S. 66), S. 41, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 42. Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 59. Ders.: Anti-Spectrologie (wie Anm. 310, S. 66), S. 181. Ders.: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 35, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 59. Diese Themen werden aufgrund ihrer engen Verbindung mit Knoblauchs und Riems Materialismus-Konzepten in Kapitel 3.1.2 behandelt.
3.1 Philosophie versus Religion
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Andreas Riems philosophischer Glaube Andreas Riem verwendet Aberglaube – wie Knoblauch auch – als Kampfbegriff und damit als allgemeine Bezeichnung für Vorstellungen oder Zustände, mit denen er nicht einverstanden ist: So habe, wie er in seiner Gedächtnißrede auf Friedrich den Einzigen schreibt, bei Friedrichs II. Thronbesteigung im Jahr 1740 „noch das unwürdige Dunkel der Vorurtheile und des Aberglaubens, gröstentheils auf Europa“180 gelegen. Sieht man an dieser Stelle von Riems Stilisierung Friedrichs ab, zu der ebenfalls die falsche Darstellung gehört, es habe vor dessen Regierungszeit quasi keine Aufklärung gegeben, wird deutlich, dass Riem mit Aberglaube das Gegenteil von Aufklärung meint. Er muss diesen Begriff hierzu nicht aufwändig definieren, sondern kann auf das Begriffsverständnis der Zeitgenossen rekurrieren.181 Auch in seinem ersten Reisebericht setzte er – wieder im Zusammenhang mit Friedrich II. – die Aufklärung in Form von Weisheit, Wahrheit, Vernunft und Wissenschaften, der Intoleranz, der Unwissenheit und dem Aberglauben gegenüber.182 Während Knoblauch jedoch ausführlich die vielfältigen Auswirkungen des Aberglaubens thematisiert und in seinen Untersuchungen verschiedene Formen von abergläubischen Überzeugungen beschreibt, geht Riem an dieser Stelle zurückhaltender vor. Dennoch definiert er den Begriff Aberglaube, wenn er ihn nicht als reinen Kampfbegriff zur Diskreditierung verwendet, im Vergleich zu Knoblauch differenzierter: Während Letzterer unter Aberglauben alles subsumiert, was er als widersinnig erachtet – Religion, Wunder, Teufel, Hexen, etc. –, unterscheidet Riem zwischen philosophischem Glauben, Aberglaube und dem – zwischen beiden angesiedelten – Leichtglauben. Der Glaube ist nach Riems Definition „das Fürwahrhalten eines Satzes ohne zureichende Gründe seiner Wahrheit.“ Hierunter fallen „transcendentale Sätze, die ohne zu machende und mögliche Erfahrung in der Idee gemacht werden können und müssen, die man als Wahrheiten vermuthet und gelten läßt, weil die reine Vernunft ihr Vorhandenseyn nicht widerstreitet.“183 Je größer die Wahrscheinlichkeit, dass das, was geglaubt wird, nicht der allgemeinen Erfahrung widerspreche, desto ver180 Andreas Riem: Gedächtnißrede auf Friedrich den Einzigen. Berlin 1786, S. 13. 181 Zur allgemeinen Begriffsverwendung und -bedeutung in Reiseberichten, die sich aufgrund ihrer hohen Verbreitung und Beliebtheit im 18. Jahrhundert für derartige linguistische Untersuchungen besonders eignen, stellt Uta Piereth fest: „Ständig gegenwärtig ist selbstverständlich die Metapher der Finsternis, die den geistigen Zustand des Ortes kennzeichnete, wo die verurteilte Beobachtung gemacht wurde. Gerne benutzte man für die Grundhaltung der Abergläubischen auch die Charakterisierung als bigott, fanatisch, mitunter auch als schwärmerisch, als beeinflußt von einer verpfafften Fantasie. Fast zwangsläufig wurden diese Menschen dann als vernunftfern, intolerant, vorurteilsbehaftet eingeschätzt.“ Uta Piereth: Dem Aberglauben auf der Spur. Notizen zu abergläubischen Phänomenen zwischen Maas und Rhein in Reiseberichten um 1800. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 24 (1998), S. 245–268, hier S. 252, Hervorh. i. Orig. 182 Vgl. Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 109. 183 Ders.: Christus und die Vernunft oder Prüfung der Wahrheit und Göttlichkeit der Lehre Jesu Christi des christlichen Lehrbegrifs und der symbolischen Bücher. Erster Theil. [Braunschweig] 1792, S. 635.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
nünftiger sei dieser Glaube. Dies bedeutet: Im Unterschied zu Wissen ist der Glaube an etwas nicht durch die Erfahrung belegbar. Dennoch muss eine gewisse Wahrscheinlichkeit vorhanden sein, dass das, was geglaubt werden soll, der allgemeinen Erfahrung, die ein Mensch während seines Lebens macht, nicht widerspricht. Das bedeutet, dass etwas mit einer hohen Wahrscheinlichkeit möglich sein muss, um mit Sicherheit geglaubt werden zu können. Riem hatte diese Definition bereits 1787 ausführlich und mit zahlreichen Rückgriffen auf Kants Kritik der reinen Vernunft ausgeführt,184 weshalb davon ausgegangen werden kann, dass er auch fünf Jahre später mit dem Verweis auf die „reine Vernunft“ Kants Philosophie zusammen mit der Erfahrung als die grundlegenden philosophischen Instanzen für die mögliche Wahrheit eines Glaubens festlegt. Wenn eine Annahme weniger wahrscheinlich sei, da sie der menschlichen Erfahrung und der Vernunft widerspreche, aber dennoch geglaubt werde, handelt es sich nach Riems Definition um „Leichtglauben“. Wenn es überhaupt keine Gründe gebe, eine Sache für wahrscheinlich zu erachten, sei dies „als Aberglauben [zu] karakterisiren.“185 Während der Glaube „keine Ursache [habe,] die Kritik der reinen Vernunft zu scheuen“, da er niemals mit den Sätzen „der Vernunft in Streit“186 stehe, beruhe der Aberglaube alleine auf Autorität: Diese liefere „der Vernunftmäßigkeit keinen Zuwachs“, und zwinge lediglich dazu, etwas zu glauben. „Sie ist eine unstatthafte Forderung, nicht der Vernunft, sondern ihres Mangels“.187 Bestünden vernünftige, also wahrscheinliche, da nicht der Erfahrung widersprechende Gründe, etwas zu glauben, wäre autoritärer Zwang nicht nötig. Daher könne und dürfe Glaube „nie gebietend“ gelehrt werden, sondern nur „conditionel und frei“. Die jeweiligen Gründe würden „vor den Richterstuhl der Vernunft“ dargelegt werden und jeder könne nach eigenem Ermessen darüber entscheiden, ob er daran glauben wolle oder nicht. Der jeweilige Glaube setze sich selbst „auch nicht als absolut nothwendig voraus, sondern überläßt einem Jeden die Freiheit nach dem Maaße bewegender Gründe sein Petitum anzunehmen oder zu verwerfen.“188 Entsprechend sei es als ein Verbrechen anzusehen, jemanden zu einem Glaubenssatz zu zwingen oder – noch schwerwiegender – jemanden zu nötigen, einen Aberglauben anzunehmen.189 184 Vgl. [Andreas Riem]: Beyträge zu Berichtigung der Wahrheiten der christlichen Religion. Erstes Stück. Ueber Glauben und Ueberzeugung. 1787, S. 17–31. – So verhalte es sich mit dem Glauben an einen Gott: „Gibt es wohl einen allgemeinern Glaubenssatz, als ‚Es ist ein Gott‘[.] Und doch ist es bekannt, daß die Gottheit für die Menschen eine bloße Idee, der also die Realität durch überzeugende Beweise fehlt, ist, von deren Existenz sich gar kein Beweis führen läßt. Kant hat die Unzulänglichkeit aller Beweise für die Existenz der Gottheit mit aller Kraft dargethan, und gezeigt, daß sich die Ueberzeugung nie über einen Weltbaumeister; nie zum Beweise eines Weltschöpfers, erheben könne.“ Ebd., S. 19, Hervorh. i. Orig. 185 Ders.: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 636, Hervorh. i. Orig. 186 Ebd., S. 635. 187 Ebd., S. 636. 188 Ebd., S. 637, Hervorh. i. Orig. 189 Vgl. ebd., S. 640.
3.1 Philosophie versus Religion
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Von dieser philosophischen Definition von Glaube und Aberglaube unterscheidet Riem die theologische Sichtweise: Zwar würden Religionslehrer unter Glaube ebenfalls „das Fürwahrhalten eines Satzes ohne zureichende Gründe“ verstehen. Dennoch zögen die Theologen nicht die Gründe „der Wahrscheinlichkeit, die keiner Erfahrung widersprechen“ dürfen, heran, wie es beim philosophischen Glauben der Fall ist. Selbst der „Glaube, den Christus forderte“, sei „bloß imperativ“ gewesen und wurde „nie durch richtige Gründe einer reinen Vernunftlehre unterstützt […]. Der unbedingte Glaube an ihn und gehorsame Unterwerfung unter Alles, was er sagte, waren immer das Grundgesetz für seine Anhänger.“190 Durch diese Argumentation fällt auch die Lehre des Jesus von Nazaret und das sich auf diesen berufende Christentum für Riem in die Kategorie des Aberglaubens: Die als Beleg dienenden Wunder widersprächen der allgemeinen Erfahrung und der reinen Vernunft. Gleichzeitig sei ihre Durchsetzung nur durch den Zwang der Autorität vonstatten gegangen, was dem „Verbrechen der beleidigten Vernunft“191 entspreche: „In Rücksicht auf den Glauben an die Lehren der Religion, verfuhren Christus und einige Apostel eben so gebiethend durch Autorität, und belegten den gegenseitigen Glauben durch Drohungen und Flüche. Wer meine Lehre nicht glaubt, sagt ersterer, der wird verdammet werden.“ Die christliche Religion und auch die Lehre ihres Gründers sei genauso ein Aberglaube, wie zu Riems Zeiten die Glaubensvorstellungen, wie sie ein „P. Gaßner, Lavater und alle neuern Schwärmer ihn gleichfalls gefordert haben.“192 Auch die Lehre der Reformatoren habe autoritär den „Glaube ohne Gründe“ als einzige Bedingung zur „Befreiung von aller Strafe der Sünde“ vorausgesetzt. Tugend solle nach dieser Lehre „nicht aus dem Gefühle der Moralität, sondern“193 lediglich aus der Überzeugung entspringen, dass an nichts, was die Religion lehre, gezweifelt werden dürfe. Andreas Riems Definition des Aberglaubens stimmt dahingehend mit der Karl von Knoblauchs überein, dass er ebenfalls religiöse Vorstellungen als das Gegenteil eines philosophischen Glaubens darstellt. Dieser Glaube ist mit einer wissenschaftlichen Hypothese vergleichbar und enthält – auch wenn er nicht belegt werden kann – doch eine gewisse vernünftige Wahrscheinlichkeit, um als ‚wahr‘ angesehen werden zu können. Was diese Kriterien nicht erfüllen kann, wird als ‚Aberglaube‘ angesehen. Während Knoblauch sich in diesem Punkt allgemein auf alle Religionsvorstellungen – nicht nur die christliche – konzentriert, ist es in der Mehrzahl von Riems Schriften sein besonderes Anliegen, den christlichen Glaube bis hin zu den Lehren ihres Gründers einer kritischen Untersuchung zu unterziehen und sie als ‚abergläubisch‘ darzustellen.
190 Ebd., Hervorh. i. Orig. 191 Ebd., S. 639. 192 Ebd., S. 644, Hervorh. i. Orig. – Lavater glaubte an Gaßners Wunderkraft und wollte diese sogar selbst untersuchen. Vgl. Pott: Aufklärung und Aberglaube (wie Anm. 85, S. 118), S. 254. 193 Riem: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 645.
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Schmohls Verständnis für traditionellen Aberglauben Johann Christian Schmohls Verwendung des Begriffs Aberglaube kann im Vergleich zu Knoblauch und Riem als die einfachste, wenn auch, mit Blick auf die allgemeine Verwendung zur Zeit der Aufklärung, als durchschnittlich angesehen werden.194 So verwendet er die Begriffe Aberglaube oder abergläubisch ebenfalls als Diskreditierung, ohne diese jedoch genau zu definieren. Schmohl greift somit wie Riem – und in Teilen auch Knoblauch – auf die Kenntnis der jeweiligen zeitgenössischen Begriffsbedeutung seiner Leser zurück, die ebenfalls seiner eigenen entspricht. Während Schmohl jedoch den medizinischen Aberglauben vehement kritisiert, sieht er den ‚klassischen‘ Aberglauben, der aus wundersamen Erzählungen entsteht, weniger kritisch. Mit Blick auf den Bauernstand, den er aus persönlicher Erfahrung am deutlichsten kannte, beschreibt er dessen abergläubische Vorstellungen sogar mit einer gewissen Belustigung: So gebe es, aus Angst vor dem Schaden, den Vögel und Wild auf dem frisch eingesäten Feld anrichten könnten, den Glauben, die Tiere könnten der Saat nichts anhaben, „wenn man sie – splinter fasernakt säet; und weil man sich deß am Tage vor den Leuten schämt, so thut man es des Nachts.“ Eher Scham und nicht Religion sei hierbei nach Schmohls Vermutung höchstwahrscheinlich der Grund, aus welchem sich dieser Aberglaube halte: Der Bauer, der nackt sein Feld eingesät habe, schäme sich, „die Wahrheit zu gestehn“ und würde daher „behaupten, es habe gute Wirkung gehabt“195 und daran festhalten. Dieser Art der bäuerlichen „Hartnäckigkeit [und] Steifigkeit“ kann Schmohl sogar eine gewisse Sympathie entgegenbringen: Den Bauern werde vor allem „das Festhalten ihrer einmal gefaßten Pläne, ihres Aberglaubens, ihrer alten Vorurtheile in der Landwirthschaft sowohl, als in der Hexen- Gespenster- und Zauber- und Theo-Logie!“196 vorgeworfen. Sogar das „Verwerfen aller Neuerungen, wenn man ihren Verstand auch noch so sehr von ihrer Vernünftigkeit und Nutzen überzeugte“,197 sei Schmohl lieber als das „städtische Herumflattern von einem Vorurtheil zum andern, in derselben Stunde dasselbe Ding schwarz und weiß, rund und viereckig behauptend, ohne die geringste Festigkeit des Characters, Seelenstärke und eigene Existenz.“198 Zwar habe man vom Aberglauben auf dem Land „ein Feld von so unendlichem Umfang als Fruchtbarkeit“. Dennoch sieht Schmohl davon ab, der Landbevölkerung dies vorzuwerfen und betrachtet ihn eher als ein adäquates Mittel, um „die Fassungskraft und das Ideenmaas des gemeinen Mannes kennen [zu] lernen“. So habe man auf dem Land noch meist die Vorstellung, dass es Hexen gebe, „wofür meist die besten Wirthinnen bey den schlechtern gelten“,199 wie Schmohl ironisch 194 195 196 197 198
Vgl. Piereth: Aberglauben (wie Anm. 181, S. 133), S. 252. Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 240. Ders.: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 77. Ebd., S. 77 f. Ebd., S. 78 – Auf Schmohls Aussagen zum Bauernstand und der damit verbundenen Volksaufklärung wird näher in Kapitel 3.2.2 eingegangen. 199 Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 294, Hervorh. i. Orig.
3.1 Philosophie versus Religion
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anmerkt. Er verweist damit auf die Willkür der Hexen-Beschuldigungen, die meistens mit einem persönlichen Interesse der denunzierenden Person verbunden waren. Neben dem Glauben an Hexen gebe es noch den Glauben an Gespenster, Drachen oder Kobolde. Aus der religiösen Tradition nennt Schmohl Knecht Ruprecht: „[D]ieses fürchterliche Gespenst das man braucht, die Kinder zu schrecken und a la Religion chretienne fromm zu machen, und das manchem Kinde vor Schrecken und Furcht schon den Tod zugezogen hat“.200 Hierbei kritisiert er neben der eigentlichen, abergläubischen Vorstellung ebenfalls die Verbindung von Aberglaube mit einer autoritären Religionsvorstellung, die Kindern – unter Androhung von Angst und Schrecken – zur ‚wahren‘ Glaubensvorstellung leiten möchte. Schmohl berichtet darüber hinaus von der verbreiteten Überzeugung, dass Kinder von Wassermenschen durch „Wechselbälge, Scheusale mit einem ungeheuren Kopf“ ausgetauscht würden. Dieser Aberglaube würde sogar dazu führen, dass Mütter, die sich ihrer mit Missbildung geborenen Kinder schämten, diese mit der Überzeugung verleugneten, „ihre wolgestalteten Kinder wären ausgetauscht“201 worden. Den Grund, weshalb sich in der Landbevölkerung der Aberglaube weiterhin halten könne, erklärt Schmohl mit einer mangelhaften Schulbildung und den intellektuellen Defiziten der Lehrer sowie der Auswahl von unpassenden theologischen Schriften – in Anhalt-Zerbst hat nach Schmohls Aussage die Schullektüre lediglich aus zwei Büchern bestanden202 –, die als einziges Unterrichtsmaterial dienten. Sie enthielten „die Lutherische Religion in nuce“ und mussten unter Zwang „mit Hülfe eines Kopferöffnenden Stockes auswendig gelernt“203 werden. Dies führe dazu, dass der Landbevölkerung Intoleranz und Aberglaube geradezu anerzogen werde: Sie glaubten, dass „so weit Deutsch gesprochen wird, sind Christen in der Welt, und dabey doch weder Reformirte noch Katholik unter die Christen zählen, daß sie einen herzlichen Haß gegen diese haben, ob sie gleich so gut wie unser Pfarrer von der christlichen Liebe gegen Feinde zu schwatzen wissen“.204 Wie im Fall des medizinischen Aberglaubens würden sich „[a]lle diese Hirngespinster“ in der Bevölkerung halten, wenn diese keine bessere Bildung erfahre und weiterhin „so wenig Einsicht in die Naturkunde“205 habe. Gefühlsüberhöhung und religiöse Intoleranz In der Biographie seines verstorbenen Freundes Johann Jakob Mochel kritisiert Schmohl 1780 eine andere Form des Aberglaubens, die ebenfalls zu Intoleranz führt. 200 Ebd., S. 293 f., Hervorh. i. Orig. 201 Ebd., S. 296. 202 1. Enchiridion. Der kleine Katechismus für die gemeinen Pfarrherren und Prediger. Durch D. Martin Luther. 2. Kurzer und richtiger Himmelsweg, das ist: wie ein Kind in 24 Stunden lernen kann, wie es soll der Höllen entgehen und selig werden. Begreift in sich 735 Fragen und Antworten, darinn alle Artikel der christlichen Lehre kürzlich zusammen gezogen sind. Vgl. ebd., S. 285. 203 Ebd., Hervorh. i. Orig. 204 Ebd., S. 286. 205 Ebd., S. 297.
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In einem mit Apologie der Vernunft betitelten Kapitel beschreibt er seine Zeitgenossen, von denen sich einige zwei extremen Lagern angeschlossen hätten: Das eine besteht nach Schmohl aus den Anhängern des Sturm und Drangs, von welchem – und damit von seinen elsässischen Freunden – er sich zu dieser Zeit zu lösen begann. Viele der Stürmer und Dränger hielten sich, so Schmohl, für die „aufgeklärtesten des Zeitalters“ und wollten dennoch „keine Moral, keine Erziehung, keine Vernunft, sondern nichts als physische Gesundheit, sinnlich Gefühl, und gesunden Menschenverstand haben.“206 Da sie von der trockenen Philosophie der Aufklärung enttäuscht gewesen seien, hätten sie ihr die absolute Geltung des eigenen Gefühls entgegengesetzt. Auf der anderen Seite habe es neben diesem – aus Schmohls Sicht – Typus des zügellosen Stürmers und Drängers andere gegeben, die das entgegengesetzte Extrem darstellten: Diese hätten versucht, mit „einer übertriebenen Tugend, und Religiosität, ja allen hirnlosen Aberglauben darmit wieder aufzubringen, die man seit Jahren erdrücken wollen!“207 In diesem Fall hängt nach Schmohls Ansicht der Aberglaube sehr stark mit dem Bereich der religiösen Vorstellungen zusammen. Diese sind mit einer „übertriebenen Tugend“, also einer Bigotterie verbunden. Ebenfalls fallen, wie Schmohl ausführt, die Offenbarung, der Teufel, Übernatürliches und die priesterliche Unterdrückung der Vernunft in die Kategorie des Aberglaubens: Wie die Stürmer und Dränger ihr eigenes Gefühl „für den Maaßstab der Wahrheit“ hielten, so würden auch „alle Völker“ die Göttlichkeit ihrer religiösen Offenbarungen aus dieser „selbst beweisen und die aller andern für falsch, für untergeschoben, für ein Werk des Teufels ansehen, und ihre Priester um diese übernatürlichen Wahrheiten in Ansehn und Fertigkeit zu erhalten, die Vernunft der Menschen in Ketten und Banden legen“.208 Diese Andersdenkenden würden nicht toleriert, sondern „mit Feuer und Schwerdt“209 bekämpft. Indem folglich von beiden Lagern jeweils das eigene Gefühl oder die persönliche religiöse Vorstellung als eine absolute Wahrheit angesehen werde, die allen anderen überlegen sei, entstehen nach Schmohls Auffassung Vorurteile und Intoleranz. Diese wiederum stellen einen grundlegenden Bestandteil seines Begriffs von Aberglauben dar. Schmohl beschreibt diese Sichtweise sehr bildlich durch die ausführliche Verwendung der aufgeklärten Lichtmetaphorik: Er führt an, dass jeder Mensch in „seiner Stube“ sein eigenes, persönliches „Lämpchen“ hat und er „kein anders Lämpchen“ in seinem eigenen Haus als „so brauchbar und nothwendig als das eigene“ empfinde. Aus diesem Grund habe man es „lieber als alle andere Lampen in der Welt.“ Es sei jedoch ein „rasendes Unternehmen, in die Häuser der andern mit 206 Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 231. 207 Ebd., S. [233], Hervorh. i. Orig. – Die Seitennummerierung von S. 232 und 233 der Urne sind fehlerhaft. Um Verwechslungen zu vermeiden, wird die korrigierte Seitenzählung hier in eckigen Klammern angegeben. 208 Ebd. 209 Ebd., S. 234.
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Gewalt einzubrechen, die Lichter zu löschen, und im Dunkeln wie ein erboster Kobold! das unterste zu oberst zu kehren? oder mit dem Lämpchen, das in seiner Stube noch manchen Winkel finster läßt, alle Welt von Aufgang bis Niedergang erleuchten zu wollen!“210 Auf sich alleine gestellt, könne man nicht das erkennen, was „die sämtlichen Lampen zusammen“ ausmachten, nämlich die Erkenntnis der „allgemeinen Wahrheiten“, welche „die Dinge in der wahren, d. h. fürs Ganze vortheilhaftesten Gestalt“ zeigen, dass „das Licht der Vernunft heißt“.211 Nur im Umgang mit anderen Menschen, durch die „Vereinigung unsers Lichts mit dem ihrigen[, könne] unser Gesichtspunkt“212 erweitert werden. Er sieht andere, der eigenen Meinung widersprechende Menschen nicht als Gefahr oder als ‚falsch‘ an, sondern als Erweiterung und Ergänzung der eigenen Sichtweise. Ein gewisser Rest an Aberglaube – ein Winkel, den das „Lämpchen“ in der eigenen „Stube noch […] finster läßt“213 – sei letztendlich bei jedem Menschen vorhanden und könne nur im Umgang mit anderen Menschen minimiert werden, indem deren Licht an jene Stellen reiche, die das eigene nicht erhellen könne. Dieser Aspekt betont deutlich die Subjektivität der persönlichen Erkenntnisfähigkeit: Einem Menschen ist es meist nur möglich, einen Gegenstand mit seiner eigenen ‚Lampe‘ – dem eigenen Erkenntnisvermögen – einseitig oder doch wenigstens nur von einigen, aber nicht von allen Seiten zu ‚beleuchten‘. Um alle Aspekte einer Sache begreifen zu können, sind wieder die anderen Menschen nötig, die ihrerseits – aufgrund ihrer eigenen Subjektivität – auf die Sichtweise anderer angewiesen sind. Ähnlich wie es Riem formuliert, ist es auch aus Schmohls Sicht nicht zulässig, anderen den eigenen Glaube beziehungsweise die eigene Weltanschauung – das eigene ‚Lämpchen‘ – aufdrängen zu wollen. Dies würde einerseits dazu führen, dass der Mensch, dem das fremde ‚Lämpchen‘ aufgedrängt wurde, damit nicht zufrieden sein kann, da es nicht das subjektiv Liebgewonnene und Gewohnte darstellt. Andererseits würde dieses Aufzwingen einer fremden Sichtweise die Pluralität der subjektiven Sichtweisen zerstören. Das Annähern an die ‚Wahrheit‘, die sich aus dem Zusammenschluss aller ‚Lämpchen‘ ergibt und selbst wiederum subjektiv ist, da sie lediglich die „fürs Ganze vortheilhafteste[] Gestalt“ – und nicht absolute ‚Wahrheit‘ – zeigt, würde hierdurch einseitiger. Die summierten, aber dennoch durch Vereinseitigung beschränkten Sichtweisen könnten nicht mehr das volle Potenzial ausschöpfen, die ihr durch die Vereinigung der verschiedensten Perspektiven möglich wäre. Das Bedürfnis, anderen ihre persönliche Meinung streitig zu machen und durch die eigene zu ersetzen, hätten nach Schmohls Kritik unter anderem die Stürmer und Dränger gehabt. Sie wollten das „Lämpchen [ihres] sinnlichen Gefühls […] zum Pharus [Leuchtturm, Anm. M. L.] fürs ganze Weltmeer“ machen und würden 210 211 212 213
Ebd. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 235. Ebd., S. 234.
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damit jedoch „nur ersaufen, und in [ihren] Schifbruch hineinziehn, wer um [sie] ist!“ Das ‚Lämpchen‘ des sinnlichen Gefühls der Stürmer und Dränger und das derjenigen, die „Licht nicht leiden könnt[en]“ und es daher als „Feuer“ bezeichneten, bliebe nach Schmohls Meinung, „doch nur ein Caminfeuer“, wohingegen die Vernunft „allemal dagegen das Sonnenfeuer“214 darstelle. Den Intoleranten, welche die ‚Lämpchen‘ anderer Menschen gering schätzten und nicht wahr haben wollten, dass jeder in „seinem Lämpchen einen Partikel“ der allgemeinen Vernunft besitze, ruft Schmohl zu: „Das Sonnenlicht nicht brauchen mögen, weils allgemein ist, es deswegen verachten! – wenn ihr Menschengefühl im Herzen hättet, würdet ihr euch darüber freuen, daß andere das Glück auch geniessen.“215 Auch in Schmohls letztem Werk Über Nordamerika und Demokratie spielt religiöse Intoleranz und Unterdrückung eine wichtige Rolle. So sei vor allem „der größte und bravste Theil von Engländern“ nach Nordamerika ausgewandert, „um sich den politischen und religiösen Bedrückungen der Englischen Krone zu entziehen“.216 Gleiches habe für die Länder des Heiligen Römischen Reiches gegolten, wobei Schmohl ausdrücklich die Pfalz und Salzburg nennt. Gerade diese religiöse Verfolgung habe dazu geführt, dass „die Neuengländer für Toleranz und Religionsfreyheit um so fühlbarer“,217 also sensibler geworden seien. So habe es, wie Schmohl anführt, keine Religionsunruhen in den Kolonien gegeben. Stattdessen sei „im Gegentheil eine bürgerliche Freyheit in der Religion Sitte gewesen, von der man in allen andern Welttheilen kein Beyspiel hat“. Diese nordamerikanische Toleranz und Freiheit stellt er Preußen gegenüber, welches ansonsten von vielen Aufklärern stets für ein aufgeklärtes Musterbeispiel gehalten wurde. Im Vergleich zu den amerikanischen Staaten könne man, wie Schmohl auf den vermuteten Grund seiner eigenen Verfolgung hindeutet, von den preußischen „Universitäten wegen eines zweydeutigen Ausdrucks von der Jungfrau Maria, einer Gotteslästerung beschuldigt werden“.218 Die Erfahrung, welchen Einfluss religiöse Intoleranz hat, machte Schmohl schon 1776, bevor er von Wittenberg an das Philanthropin wechselte. In zwei seiner Briefe berichtet er von dem Versuch eines Priesters – „dem Gott auf der Kanzel“219 – auf seinen Vater einzuwirken, damit er seinen Sohn nicht nach Dessau lasse. Der Geistliche warf Basedow sogar vor, kein Christ zu sein. In Gegnerschaft zum Deisten Basedow berief sich der „Diaconus [der] hiesige[n] Stadkirche“ in ungewohnter konfessioneller Einigkeit auf die Autorität der beiden anderen Konfessionen – jedoch nicht, ohne sie zusammen mit einem ‚Jäckel‘ (einem Dummkopf oder einfäl214 215 216 217 218 219
Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 235. Ebd., S. 234. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 10. Ebd., S. 211. Ebd., S. 212, Hervorh. i. Orig. – Vgl. hierzu Kapitel 2.1.2. Johann Christian Schmohl an N. N., 9. März 1776, Nachlass Philanthropin Dessau, III. 7, 27, p. 1r, Hervorh. i. Orig.
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tigen Menschen220 ) aufzuzählen: „Eine Irrlerhre ists! ein unchristliches Werk! Kein Katholik, kein Jäck, kein Reformierter lobts! Kein Mensch ist in ganz Wittenberg, der davon vortheilhaft urtheilte! Was kann auch gutes kommen von dem Irrgeist B.?“221 Die Aussagen zeigten bei Schmohls Vater ihre Wirkung und er widerrief seine Zustimmung, Schmohl an das Philanthropin gehen zu lassen. Dieser klagte: O hätt ich sie [die Einwilligung, Anm. M. L.] wieder, könnt ich, ein schweres fast unmögliches Unternehmen, das Gebäude irrigen Wahns auf den Felsen der Priesterautorität gegründet, wieder umstürzen! Allein das Geschrey des Pöbels betäubt meine stillen Zuredungen, kaum erlang ich einmal die Zulaßung, so kommt hurtig wieder ein widriger Wind hergeweht, und weg ist sie!222
„Religions-Fanatismus“223 ist auch für Andreas Riem einer der Gründe, weshalb zwischen Menschen Intoleranz entsteht. Zwar forderten Religionen lediglich Pflichten gegenüber einem göttlichen Wesen und könnten deshalb „zu keine[m] weltlichen Departement“224 gehören. Daher würden sich Religionsgrundsätze nur negativ auswirken, wenn sie „ihre Anhänger zu bösen Handlungen ermuntern.“225 Dieser „Ausbruch einer Religions-Sottise, jede Handlung eines bigotten Fanatikers, die der öffentlichen Ruhe nachtheilig wird“,226 falle jedoch „unter die Gesetze des Staats, und das Tribunal der öffentlichen richterlichen Gewalt.“ Für einen Staat könnten „Religions-Meinungen“ nur dann wirklich gefährlich werden, „wenn Fürsten selbst Fanatiker sind“227 oder die Landesgesetze nicht befolgt würden und die Justiz schlafe. – Bei dieser Aussage wird sich Riem durch die eigene Erfahrung der Ausweisung aus Preußen bestätigt gesehen haben. Sollte „also der unduldsame Priester, oder eine ganze Religions-Parthei“ verlangen, dass andersgläubige Menschen „unter dem Vorwande: ‚ihre Grundsätze seyen gefährlich für den Staat‘ “ verfolgt und unterdrückt werden, „so fangen sie selbst an, das Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung thätig zu begehen, und zeigen, daß ihre Intoleranz es eigentlich ist, welche alle Achtung gegen die Gerechtigkeits-Liebe, Wachsamkeit und thätige Aufmerksamkeit der Regierung bei Seite setzt“.228 Riem hebt hervor, dass sich besonders die katholische Kirche gegenüber anderen Konfessionen und Religionen intolerant verhalte. So hätten nicht nur „alle Staaten von Europa […] mehr oder weniger mit den Eingriffen der Päbste, oder der Hierar220 Vgl. ‚Jäckel, der‘ auf Duden online. URL: https://www.duden.de/node/842609 – Abgerufen: 7.8.2017. 221 Johann Christian Schmohl an Christian Heinrich Wolke, 3. Mai 1776, Nachlass Philanthropin Dessau, III. 7, 27, p. 3r. 222 Johann Christian Schmohl an Christian Heinrich Wolke, 3. Mai 1776, Nachlass Philanthropin Dessau, III. 7, 27, p. 4r. 223 Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 119, Hervorh. i. Orig. 224 Ebd., S. 115. 225 Ebd., S. 116. 226 Ebd., S. 118. 227 Ebd., S. 119, Hervorh. i. Orig. 228 Ebd., S. 120, Hervorh. i. Orig.
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chie in ihre Souverainitäts-Rechte zu kämpfen gehabt“, sondern sie habe auch „ihre Wuth bis in die neue Welt“229 und Teile Asiens gebracht. „Noch jetzo vermag kein Regent einen Akt der Toleranz und der Gerechtigkeit gegen Protestanten auszuüben, ohne daß diese Hydra ihre Häupter schüttelt und ihren giftigen Geifer auf die Ehre der Regenten spritzt.“230 Wenn für Riem der katholischen Kirche in Bezug auf die Förderung von Intoleranz eine besondere Rolle zukommt, bedachte er, wie in Kapitel 3.1.1 dargelegt, mit seiner Religionskritik auch die anderen christlichen Konfessionen: In allen christlichen Gebieten könnte nämlich, wenn beispielsweise die orthodoxen symbolischen Lehren wieder an Einfluss gewännen, dies einerseits „den alten Haß gegen die Juden wieder anfachen“.231 Andererseits würde auch der Hass und die Verfolgung unter den christlichen Konfessionen wieder zunehmen. Mit Blick auf die französische Republik betont Riem, dass aufgrund der ehemaligen religiösen Intoleranz in Frankreich die Nationalversammlung keine „herrschende Kirche“ annehmen durfte, um nicht „allen Greueln des Vervolgungs-Geistes Thüre und Thore“ zu öffnen. Da in Republiken „alle Bürger gleiche Rechte“232 besäßen, sei hier die Toleranz des Staates gegenüber den religiösen Weltanschauungen ihrer Bürger ein besonderes Gut. So habe die französische Republik nicht versucht, die Religion zu zerstören, wie ihr von ihren Gegnern – Riem nennt den britischen Premierminister William Pitt (1759–1806) – vorgeworfen wurde. Stattdessen habe „sie aber nur widerspenstige Pfaffen bestraft, deren eigentliche Absicht es war, alle Religionen, außer der ihrigen, zu vernichten.“233 Entsprechend stand für Riem schon 1793 fest, dass „[a]llgemeine Toleranz“ noch „nie Unruhen gestiftet“ habe; „wohl aber [die] Einschränkung derselben.“234 Nachdem vor der Revolution in Frankreich der Begriff Toleranz nach Riems Ansicht auf verachtenswerte Weise interpretiert worden war, wurde ihm durch die Revolution die Bedeutung „‚Recht der Freiheit der Meinungen‘ substituirt.“235 Hierdurch wurde in Frankreich eine weltanschauliche Neutralität ermöglicht: „Der Staat wußte nichts von Katholischen, Protestanten, Deisten, Juden, Heiden und Türken etc.“236 229 230 231 232 233 234
Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 122, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 123. Riem: Aufklärung 2 (wie Anm. 24, S. 110), S. 29. Ders.: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 124, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 125. Andreas Riem: Ueber Religion als Gegenstand der verschiedenen Staatsverfassungen. Mit Rücksicht auf die gegenwärtige Lage von Politik und Religion. Berlin 1793, S. 42, Hervorh. i. Orig. So sei die Intoleranz, die die Widerrufung des Ediktes von Nantes mit sich gebracht habe, nach Riems Ansicht der Auslöser für die Franzosen gewesen, sich mit politischen Themen zu befassen. Dies habe mit der Zeit „die Wissenschaft über die Politik“ (ebd., S. 50) vollendet und 1789 zur Französischen Revolution geführt. 235 Ders.: Reise durch Frankreich vor und nach der Revolution. Bd. 1. [Leipzig] 1799 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 6), S. 98. 236 Ebd., S. 98 f.
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Auch Karl von Knoblauch verknüpft Intoleranz – wie Johan Christian Schmohl und Andreas Riem – mit dem Grad der Freiheit einer religiösen Weltanschauung. Daneben geht es ihm als überzeugten Philosophen jedoch im besonderen Maß auch um die Freiheit jeder – also nicht nur der religiösen – Weltanschauung: Ich verstehe hier unter Intoleranz, in weiterm Sinn genommen, die Unmöglichkeit, Meinungen und Handlungsarten zu ertragen, die von den unsrigen abgehen; jene prätendirte Unfehlbarkeit, welche ihre Dezisionen [Entscheidungen, Anm. M. L.], in welcher Gattung es auch seyn mag, der ganzen, oder wenigstens der halben, Welt als Glaubensartikel aufdringen mögte, und welche Diejenigen, die sich erdreisten, die Heerstraße zu verlassen und ihren eigenen Gang zu gehen, oder eine Kleinigkeit für Das halten, was sie ist […], sogleich der gröbsten Ignoranz, des Eigensinns – eben als ob nicht Jeder seinen eigenen Sinn hätte! – und wohl gar […] eines bösen Herzens beschuldigt.237
Als skeptischer Philosoph sieht es Knoblauch nicht als seine Aufgabe an, die Belege eines unwahrscheinlichen Glaubens, wie ihn die Religion fordere, zu suchen und darzulegen. Diese Aufgabe liege seiner Meinung nach bei „[s]einem intoleranten Gegner“, der schließlich für „den in Zweifel gezogenen Saz […] unumschränkten Beifall fo[r]dert“. Da dieser Gegner meist nur eine relative Wahrscheinlichkeit vortragen könnte, die mit einer ebenso großen Wahrscheinlichkeit unzutreffend sei, machte er sich lediglich „lächerlich, wenn er, wie eine vom Gift geschwollene Kröte, jedem vernünftigen Skeptiker gegen über, zu bersten drohet.“238 Auch wenn der skeptisch denkende Mensch so die Wahrscheinlichkeit auf seiner Seite hätte, seien trotzdem meist seine Gegner in der Lage, sich durchzusetzen. Die Auswirkungen eines solchen Einflusses thematisiert Knoblauch im Grauen Ungeheur, nachdem in Österreich ein Artikel dieser Zeitschrift von 1785 verboten worden war. Knoblauch spricht direkt zum Ungeheur: „Hat der Präzeptor [Hauslehrer, Anm. M. L.] Silentium gebothen, armes Ding? – Du schweigst also künftig von benedeiten Schamanen, blauen Wundern ätherischen Eseln etc. etc. und hütest dich wohl, zu sagen, daß Mährchen von Mutter Gans ein Mährchen sei?“239 Wäre es „niedrig oder einfältig genug“ gewesen, das zu schreiben, was die Geistlichkeit gerne lesen wolle, hätte es hingegen keine Probleme bekommen. Stattdessen habe es das Gegenteil gemacht und nun „die Pfaffen, die Bethschwestern, die Heuchler und politischen Heiligen gegen“ sich, „die mit fanatischer Wuth den Censoren das Kreuzige! Kreuzige! in die Ohren“240 brüllten. Um wieder sicher gedruckt und gelesen werden zu können, rät Knoblauch ironisch, das Ungeheur könne nun „Legendenmirakel und Mönchsvisionen“ abdrucken und auch „die Philosophie, der wir die 237 Knoblauch: Abderitheit (wie Anm. 53, S. 113), S. 60 f. – Zur Abderitheit, vgl. Anm. 235, Kap. 2.2.2. 238 Ders.: Was ist der unerträglichste Despotismus. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 64–66, hier S. 65. 239 Ders.: Aphorismen für Selbstdenker. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 5–13, hier S. 5 – Gleichzeitig lobt er das Ungeheur, da „Konfiskation“ eine „Apotheose“ darstelle, die schon dem „unsterblichen Werke der Voltaire, Rousseau, Diderot, Helvez, Rainal das Siegel der Unsterblichkeit“ (Ebd.) gegeben habe. 240 Ebd., S. 6, Hervorh. i. Orig.
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grösten Wohlthaten zu verdanken haben, in aller Sicherheit lästern, die erhabensten Genien für Teufelsbraten erklären, und, indem du den scheußlichen Thron des Aberglaubens und seiner Tochter, der Intoleranz, zur Stüzze dientest, Pinseln weismachen, du vertheidigst Religion.“241 3.1.1.2 Wunder Karl von Knoblauch widmete sich bei seiner Untersuchung des Aberglaubens intensiv der Frage nach der Möglichkeit von Wundern. Durch ihre besondere Stellung für Religionen spielen sie auch innerhalb der Religionskritik Knoblauchs eine wichtige Rolle: So liefern wundersame Orakel als Offenbarungen die Grundlage von religiösen Überzeugungen und dienen gleichzeitig als Beweis für die Richtigkeit der Offenbarung und Religion: „Alle Volksreligionen sind auf Undinge, d. h. auf vorgegebene Offenbarungen und Göttersprüche gegründet. Offenbarung ist ein Wunder, und wird durch Wunder bewiesen. Dieser Beweis enthält einen offenbaren Zirkel.“242 Die Überlegung, dass göttliche Offenbarungen als ‚wahr‘ angesehen werden können, wenn sie durch Wunder belegt seien, existierte zwar schon lange vor der Zeit der Aufklärung, wurde jedoch Mitte des 17. Jahrhunderts wieder populär: Um die Religion zu stützen, wurde der Versuch unternommen, den Wunderglauben auf eine ‚vernünftige‘ Grundlage zu stellen.243 So ging John Locke (1632–1704) in seinem An Essay concerning Human Understanding davon aus, dass nur die Vernunft entscheiden könne, was eine wirkliche göttliche Offenbarung sei und was nicht: „Whatever God hath revealed is certainly true; no doubt can be made of it. This is the proper object of faith: but whether it be a divine revelation or no, reason must judge“.244 Diese Vernunftentscheidung war von der Wahrheit der Wunder abhängig, welche wiederum durch vernünftiges Nachdenken belegt zu sein schien: Kein Mensch könne die Macht haben, Wunder zu vollbringen, weshalb sie von Gott auf einen Menschen übertragen worden sein müssten. Gott würde eine derartige Macht jedoch nie auf einen Menschen übertragen, der ihn nicht entsprechend repräsentiere. Daher müssten alle gewirkten Wunder wahr und die Offenbarung richtig sein.245 Was als Absicherung der Wunder gegenüber kritischer Untersuchung gedacht war, eröffnete einen neuen Weg zur Kritik, welcher erstmals von David Hume beschritten wurde: Er zweifelte nicht direkt die Existenz von Wundern an, sondern untersuchte einerseits, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie stattgefunden haben könnten und andererseits, welche Glaubwürdigkeit den Augenzeugen zukomme, die von den Wundern berichteten. Auf beide Aspekte der Hume’schen Wunderkritik greift 241 Knoblauch: Aphorismen (wie Anm. 239, S. 143), S. 9. 242 Ders.: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 30, Hervorh. i. Orig. 243 Vgl. J. C. A. Gaskin: Hume’s Philosophy of Religion. London 1978 (Library of Philosophy and Religion), S. 105 f. 244 John Locke: The Works of John Locke in Nine Volumes, Vol. 2. An Essay Concerning Human Understanding Part 2 and Other Writings. 12. Aufl. London 1824, S. 270. 245 Vgl. Gaskin: Philosophy (wie Anm. 243), S. 106.
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Knoblauch in seinen Texten zur Wunderkritik ausführlich zurück. Auch er konzentriert sich auf die Untersuchung der Wahrscheinlichkeit von Wundern und die Glaubwürdigkeit der Wunderzeugen sowie derjenigen, die diese Zeugenberichte aufschrieben und tradierten. Doch gerade bei der Untersuchung der Wahrscheinlichkeit von Wundern bezieht sich Knoblauch nicht ausschließlich auf Hume, sondern verfolgt mehrere Argumentationen und Herangehensweisen. So argumentiert er in einem seiner ersten Artikel von 1786 materialistisch und beruft sich dabei auf Denis Diderots 1754 erschienenes Werk Zur Interpretation der Natur: Jedes Ereignis in der Natur habe eine Ursache, die wiederum von einer Ursache hervorgebracht worden sei. Da auch diese eine Ursache habe, ließe sich diese Kette theoretisch bin ins Unendliche erweitern. Die gleiche hypothetische Reihe ließe sich auch auf der zeitlichen Achse in entgegengesetzte Richtung in die Zukunft verfolgen: Da das beobachtete Naturereignis wiederum eine Wirkung habe, könnte man – wäre es möglich, alle bewegten Atome zu beobachten –, alle nachgeordneten Wirkungen unendlich verfolgen. Bei dieser Kette von Ursache und Wirkung – und hierbei beruft sich Knoblauch auf Kants Kritik der reinen Vernunft – sei es „unter keinem Vorwand erlaubt, von dem Naturgesez abzugehen.“246 Es könne „kein Nagel“ dieser materialistischen „Maschine der Welt […] herausgenommen werden, ohne daß das Ganze zerfällt, kein Rad gehemmt werden, ohne daß die Bewegung des Ganzen stockt.“247 Genau dies stelle jedoch ein Wunder dar: Erklärt man befriedigend ein augenscheinlich wundersames Ereignis durch die Reihe von Ursache und Wirkung, ist es nicht mehr wundersam – es wurde auf Grundlage der Naturgesetze erklärt. Ein Wunder stelle hingegen ein Ereignis dar, das „in den Naturkräften nicht hinreichend gegründet scheint.“248 Hierbei ist wichtig, dass Knoblauch Wert darauf legt, wie er selbst betont, dass es lediglich so scheine, als könne etwas nicht natürlich erklärt werden: „Ich sage: scheint; denn nur vom Schein können wir, unfähig, alle Naturkräfte zu messen, urtheilen.“249 Es sei also falsch zu behaupten, man habe ein Wunder beobachtet, nur weil man das, was man beobachtet habe, aufgrund seines unzureichen246 [Karl von Knoblauch]: Noch Etwas von Mirakeln: oder ein Paragraf aus der Kritik der reinen Vernunft. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 329–333, hier S. 329. 247 Ebd., S. 331 f. 248 Ebd., S. 332 – Knoblauchs Definition von Wundern entspricht damit der frühneuzeitlichen Sichtweise, dass sie dadurch charakterisiert sind, den Naturgesetzen zu widersprechen, (Vgl. Schröder: Athen (wie Anm. 34, S. 8), S. 162) wobei gleichzeitig das Insistieren „auf die Unverletzlichkeit der naturgesetzlichen Ordnung […] ebenso wenig eine neuzeitliche Signatur“ hat, „wie die Versicherung der anderen Seite, der Allmächtige sei imstande“, die Naturgesetze außerstande zu setzen: „Wenn ein Wunderkritiker der Spätaufklärung, der nicht nur mit den einschlägigen Debatten der Spätantike, sondern auch mit dem 6. Kapitel von Spinozas Tractatus theologico politicus und Humes Of miracles vertraut ist, sich auf den ‚einförmigen und beständigen Naturlauf‘ beruft, sind keine anderen naturphilosophischen bzw. naturwissenschaftlichen Vorannahmen im Spiel als bei einem der vormodernen Mentalität der Spätrenaissance verhafteten Autor wie Bodin, der durch die Wunder gleichfalls die ‚unverletzliche und unveränderliche Reihe der natürlichen Ursachen‘ verletzt sieht.“ Ebd., S. 182, Hervorh. i. Orig. 249 Knoblauch: Noch Etwas (wie Anm. 246), S. 332 f., Hervorh. i. Orig.
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den Wissens nicht natürlich erklären könne. Man dürfe daher nicht die eigenen beschränkten Einblicke in den Verlauf der Natur „zum Maasstab der Möglichkeit der Dinge machen“.250 Einen ähnlichen Gedanken formuliert Knoblauch sieben Jahre später: Die „Unmöglichkeit, eine Würkung aus natürlichen Ursachen zu erklären, [sei] etwas relatives“,251 da es von der Tiefe der eigenen Naturkenntnisse abhänge. Erklärbar ist einem großen Physiker und Mathematiker manches, was dem rohen Wilden, dem unwissenden Bauer, unbegreifliches Wunder ist. Unerklärbar bleibt dem großen Physiker und Mathematiker manches, was er bei einer tiefern Einsicht in den verborgenen Mechanismus der Naturkräfte, gar wohl aus natürlichen Ursachen würde herleiten können.252
Um die Naturkenntnisse zu erhöhen, appelliert Knoblauch an seine Leser, die natürlichen Gesetze neutral und wissenschaftlich zu studieren, um festzustellen, was man wissen und was man nicht wissen könne. Ebenfalls sollten diejenigen, die sich dieser Aufgabe widmeten und damit in Konflikt mit der Theologie kommen konnten, weder kritisiert noch verfolgt werden: „[L]aßt uns kaltblütig untersuchen, nicht mit fanatischer Hitze deklamiren – am wenigsten aber Diejenigen, zur Schande der Vernunft, verfolgen, welche bis an die Grenze unsers realen Wissens vorzudringen, und diese Grenze abzustekken, bemühet sind.“253 Den umgekehrten Fall, dass man aufgrund unzureichenden Wissens noch nicht alle Wunder leugnen könne, beschreibt Knoblauch in einem Artikel des darauffolgenden Jahres: „Ich glaube, wir sind noch nicht so weit, daß wir zuverläßig darüber entscheiden, alle Wunder ohne Ausnahme verwerfen, oder alle Gegengründe ganz entkräften und vernichten können.“254 Nur, weil man nicht in der Lage sei, „irgend eines Dinges Unmöglichkeit zu erweisen“ sei man gleichzeitig deswegen „nicht verbunden, seine Möglichkeit dreist vorauszusezen, sondern nur: sie nicht voreilig zu verneinen.“255 Dass die Naturgesetze ihren beständigen Gang gingen, sei, so Knoblauch, dann richtig, „wenn die Natur durch ihre eigne Kraft wirket, ihren ordentlichen Gang gehet, und ihr von dem grossen Uhrwerker keine andere Richtung gegeben, oder eine Abweichung von den bestehenden Gesezen veranstaltet wird.“256 Da alle Gesetze jedoch voraussetzten, dass sie jemand gegeben hätte, müsse es auch in der Macht dieses Urhebers liegen, die Gesetze wieder zu verändern: „Man kann also doch nicht sagen, daß die Geseze der Natur absolut nothwendig und gar nicht anders seyn können.“257 Dass sich Knoblauch in diesem Artikel des deistischen Bildes des Weltuhrmachers bedient, der für die Festlegung der Naturgesetze verantwortlich sein soll und 250 Knoblauch: Noch Etwas (wie Anm. 246, S. 145), S. 333, Hervorh. i. Orig. 251 Ders.: Skizze meiner Wundertheorie. In: Schleswigsches ehem. Braunschweigisches Journal 1 (1793), S. 272–278, 3 (1793), S. 499–505, hier S. 274. 252 Ebd., S. 275, Hervorh. i. Orig. 253 Knoblauch: Noch Etwas (wie Anm. 246, S. 145), S. 333, Hervorh. i. Orig. 254 Ders.: Auch etwas (wie Anm. 77, S. 117), S. 242. 255 Ders.: Anti-Taumaturgie (wie Anm. 170, S. 131), S. 118 f. 256 Ders.: Auch etwas (wie Anm. 77, S. 117), S. 242. 257 Ebd., S. 243, Hervorh. i. Orig.
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diese auch wieder verändern könne, scheint lediglich ein stilistisches Mittel zu sein, um auch Anhänger des Deismus anzusprechen. In anderen Artikeln desselben Jahres – und auch im vorangegangenen Artikel von 1786 – widerspricht er der Vorstellung eines höchsten Wesens, das die Naturgesetze festgelegt habe, vehement: Da die Gesetze der „Statik und Mechanik“, die man durch Erfahrung erkennen könne, mit denen übereinstimmen, „welche uns das Raisonnement a priori entdeckt, so ist der Schluß natürlich, daß die beobachteten Gesetze, nothwendige Wahrheiten, also nicht von der Willkühr oder Wahl irgend eines Wesens abhängig sind.“258 Hierbei geht Knoblauch jedoch nicht davon aus, dass es kein göttliches Wesen gibt. Im Gegenteil setzt er, wie in Kapitel 3.1.2 gezeigt wird, im Sinne der Philosophie Baruch de Spinozas die Natur mit dem göttlichen Wesen gleich und geht von diesem, die gesamte physische Welt umfassenden Gott aus. Von einem von der physischen Welt unabhängigen göttlichen Wesen unterscheidet sich diese spinozistische Sichtweise gerade durch ihre direkte Gleichsetzung von Natur und Gott. Hierdurch ist die Natur beziehungsweise Gott immer verantwortlich für natürliche Ereignisse. Ein übernatürliches Wesen hingegen dürfe nicht zur Erklärung von physischen Phänomenen herangezogen werden: „Nach jeder vernünftigen Philosophie ist es nicht erlaubt, bey Erklärung einzelner Begebenheiten, welche Theile der Sinnenwelt sind, zu dem Willen, oder der unmittelbaren Wirkung eines hyperphysischen Wesens seine Zuflucht zu nehmen.“259 Indem Knoblauch auf die Erfahrung verweist, die den Menschen die Gesetze der Natur erkennen lässt, schließt er wieder an die Argumentation David Humes an. Dessen philosophische Überlegungen fasste er einerseits in seinem 1790 erschienenen Buch Anti-Taumaturgie oder die Bezweiflung der Wunder in einem eigenen Kapitel Ueber Hume’s Theorie der Wunder 260 zusammen. Andererseits lässt sich Humes philosophisches Konzept auch in vielen von Knoblauchs Schriften ohne direkte Nennung finden. So habe Hume einerseits festgesetzt „daß die Erfahrung die Basis aller unserer Vernunftschlüsse in Ansehung geschehener und wirklicher Dinge sei“. Es sei zudem nicht möglich, alleine aufgrund eines Zeugnisses von „der Wirklichkeit der bezeugten Sache, a priori“261 auszugehen. Hierdurch spreche die menschliche Erfahrung des gleichförmigen Naturverlaufs zwar nicht gegen die theoretische Existenz von Wundern, aber gegen ihre Wahrscheinlichkeit: „Erfahrung zeugt also nicht für Wunderdinge. Sie zeugt vielmehr wider sie, indem sie für die Gleichförmigkeit und Beständigkeit des Naturlaufes, Zeugniß ablegt.“262 Damit man trotzdem an ein wundersames Ereignis glauben könne, müssten die Berichte, die von der Wahrheit des Wunders künden, auf ihre Glaubwürdigkeit 258 259 260 261 262
Knoblauch: Naturgesetzen (wie Anm. 214, S. 50), S. 199, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 93, Hervorh. i. Orig. Vgl. Knoblauch: Anti-Taumaturgie (wie Anm. 170, S. 131), S. 89–98. Ebd., S. 89, Hervorh. i. Orig. [Karl von Knoblauch]: Anti-Hyperphysik zur Erbauung der Vernünftigen. [ohne Druckort] 1789, S. 6, Hervorh. i. Orig.
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überprüft werden – was im Hinblick auf die allgemeine Unwahrscheinlichkeit von Wundern hohe Hürden aufstellt: „Je größer die innere Unwahrscheinlichkeit des Fakti ist, das heist, je mehr es von der bekannten einförmigen Ordnung der Natur abweicht, je geringer ist die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses, wodurch ein solches Faktum bestättigt [sic.] werden soll.“263 Würde man trotz der Unwahrscheinlichkeit von Wundern und der gleichzeitig hohen Wahrscheinlichkeit, dass ein Wunderzeugnis falsch sei, dennoch „auch nur eine“ Wundererzählung „als glaubwürdig“ zugeben, müsste man nach Knoblauchs Argumentation ebenfalls „das ganze unermeßliche Chaos von Legenden und Wundermährchen“264 glauben: Die biblischen Wundererzählungen stünden „an Unwahrscheinlichkeit und Ungereimtheit den Ovidschen Metamorphosen, die sich zwar imaginiren, aber nicht begreifen lassen“,265 in nichts nach. Wäre man jedoch in der Lage, die Wunder des Alten Testamentes durch natürliche Ereignisse zu erklären, fiele „der einzig mögliche Beweis für die göttliche Sendung Mosis, und mithin für den göttlichen Ursprung des Jüdischen, oder Mosaischen Gesetzes weg“.266 Mit der Bemerkung, dass man ohne stichhaltigen Beleg – genauso, wie man kein Wunder einfach voraussetzen oder voreilig verneinen dürfe267 – ebenso lange berechtigt sei, etwas „zu läugnen, oder wenigstens in Zweifel zu ziehen“,268 wendet sich Knoblauch ausdrücklich „den Wundern Christi, und seiner Apostel“ zu. Diese seien, dem lutherischen Theologen Gottfried Less (1736–1797)269 zufolge, weitaus besser und zahlreicher belegt, als die „Thatsachen […] der ganzen, alten und neuern, Geschichte“.270 Hierbei vergesse Less jedoch, wie Knoblauch hervorhebt, dass alleine eine hohe Zahl an Zeugen nicht ausreiche, um „wundervolle[], ungewöhnliche[]“ Ereignisse zu belegen: Während zehn Zeugen nicht „die Wiederbelebung eines todten Körpers“ bezeugen können, würden hingegen bei „gewöhnlichen, natürlichen Begebenheiten“, wie dem „Einsturz eines Hauses“, einer „gewonnene[n] Schlacht“ oder dem „Fall eines Kindes in’s Wasser“271 schon zwei genügen. Während also die schlichte Anzahl der Zeugen irrelevant ist, da „[t]ausend Lügner […] noch immer kein Mirakel“ darstellten und existieren könnten, „ohne daß 263 [Karl von Knoblauch]: Einige Regeln zur Prüfung angeblicher Wunder. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 329–333, hier S. 329. 264 Ders.: Beitrag (wie Anm. 310, S. 66), S. 23, Hervorh. i. Orig. 265 Ders.: Das Uebernatürliche geprüft von einem Freiwilligen. Germanien [Weißenfels] 1794, S. 8, Hervorh. i. Orig. 266 Ebd., S. 9 f., Hervorh. i. Orig. 267 Vgl. Knoblauch: Anti-Taumaturgie (wie Anm. 170, S. 131), S. 118 f. 268 Ders.: Uebernatürliche (wie Anm. 265), S. 10, Hervorh. i. Orig. 269 Knoblauch bezog sich in seinen Schriften oft – und gerne mit beißendem Spott – auf Gottfried Less, welcher während Knoblauchs Studienzeit in Göttingen theologischer Professor und von 1784 bis zu seinem Weggang aus Göttingen 1791 erster Professor der dortigen theologischen Fakultät war. Vgl. Ernst Berneburg: Less, Gottfried. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 334–335, hier S. 334. 270 Knoblauch: Uebernatürliche (wie Anm. 265), S. 11. 271 Ebd., S. 14, Hervorh. i. Orig.
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die bekannten Geseze der Natur aufgehoben werden“272 müssten, zähle allein die Güte des Zeugnisses und damit verbunden die Glaubwürdigkeit desjenigen, der das Wunder bezeugt haben will und davon berichtet. In Anlehnung an Montaigne schreibt Knoblauch: „Man mus die Zeugnisse nicht zälen, sondern wägen. Was ich Einem unmöglich glauben kan, warum sollt’ ich es hunderten glauben?“273 Um also die Güte eines Zeugen abzuwägen, müsse zuerst überprüft werden, ob er möglicherweise daran interessiert sei, eine Lüge zu verbreiten: „Das Interesse zu lügen kan aber doch bisweilen Statt haben, wo wir keines sehen können.“274 Bei denjenigen, die ein Interesse an einer Lüge hätten, dachte Knoblauch an die Religionsstifter selbst, aber auch an die nachfolgenden Priester und Religionslehrer, die ebenfalls ihre Legitimität aus Wundern ableiteten. Auf sie werde sich oft berufen, obwohl sie die einzigen Zeugen der Sache darstellten, die sie selbst behaupteten, erlebt zu haben: „Moses ist der einzige Zeuge der Wunder im Pentateuch, da wir keine andere gleichzeitige Nachrichten, kein anderes Geschichtbuch von gleichem Alter haben. Johannes ist der einzige Zeuge für die Auferweckung des todten Lazarus. Kein anderer Evangelist sagt ein Wort davon.“275 Moses habe „in seiner eigenen Sache […] und zu seinem eigenen Vortheil“ die geschehenen Wunder behauptet, da er „sich für einen göttlichen Gesandten, und von Gott selbst bestellten Volksführer“276 ausgegeben habe.277 Neben der Lüge ist auch die „Täuschung der Sinne oder [die] Einbildungskraft der angeblichen Augenzeugen des Fakti“ zu beachten, da es genug Beispiele gebe, bei denen „Menschen sich eingebildet haben, Etwas zu sehen, was doch keine Wirklichkeit hatte. Z. B. Geisterseher, und gewisse Leute, die mit offenen Augen wachend träumen.“278 Während folglich ein Wunder an sich äußerst unwahrscheinlich ist, sei es in jedem Falle unendlich wahrscheinlicher, daß ein Mensch gelogen, oder sich geirret hat […]. Denn die Beispiele von der Lügenhaftigkeit der Menschen, von der Trüglichkeit ihrer Sinne, von den Täuschereien ihrer erhitzten Einbildungskraft, sind unendlich zahlreicher und gewisser, als die Beispiele von Aeusserungen der wunderthätigen Kraft.279
Entsprechend dieser Überlegungen erörtert Knoblauch in einem fiktiven Dialog drei Voraussetzungen, die ein Wunderzeuge erfüllen müsse, um als glaubwürdig angesehen werden zu können: Zuerst sollten die Sinne des Zeugen untrüglich sein. Hierdurch solle sichergestellt werden, dass er keine Illusion gehabt habe. Als zweite 272 273 274 275 276 277
Knoblauch: Anti-Hyperphysik (wie Anm. 262, S. 147), S. 8. Ders.: Montaigne. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 320–329, hier S. 325 f. Ders.: Einige Regeln (wie Anm. 263), S. 329. Ders.: Anti-Taumaturgie (wie Anm. 170, S. 131), S. 125. Ders.: Uebernatürliche (wie Anm. 265), S. 7, Hervorh. i. Orig. In diesem Zusammenhang erwähnt der Jurist Knoblauch, dass es nicht einmal nach dem „bürgerlichen Gesetze“ gültig sei, für sich selbst als Zeuge aufzutreten: „Denn hier ist das Interesse zu lügen gar zu stark.“ Ebd., Hervorh. i. Orig. 278 Knoblauch: Einige Regeln (wie Anm. 263), S. 329. 279 Ders.: Uebernatürliche (wie Anm. 265), S. 4 f., Hervorh. i. Orig.
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Bedingung sollte der Zeuge über genügend Menschenverstand verfügen, um „seine sinnliche Wahrnehmung exakt, d. h. ohne Beimischung von Einbildungen, u. d. m. zu erzählen.“ An dieser Stelle betont Knoblauch, dass die Beobachtung eines Bauern unter Umständen mehr wiegen könnte als das Zeugnis „eines Newton, Bernoulli, Euler, d’Alembert, Segner, Noller, Lichtenberg, u. s. f.“, da selbst „[d]er unwissendste Bauer“ meist „so gute, und oft bessere Sinne, als der größte Gelehrte“280 besäße. Als dritte Bedingung müsse der Zeuge eines Wunders ehrlich sein und kein Interesse an einer Lüge haben: „Diese Tugend, wenn sie einmal an ihm erkannt ist, sichert ihn gegen allen Verdacht eines von seiner Seite gespielten Betruges.“281 Gerade über diesen letzten Punkt, die Ehrlichkeit des Zeugen, sei es unmöglich, mit hoher Sicherheit zu urteilen. Dies gestalte sich zudem besonders schwierig, wenn die Person vor langer Zeit gelebt haben soll. Knoblauch lässt daher einen seiner fiktiven Dialogpartner fragen: „Woher, ich bitte dich, käme uns eine so zuverlässige Kenntniß vom psychologischen und moralischen Charakter eines Menschen, der vor tausend Jahren lebte, und von dessen Leben und Handlungen wir entweder keine, oder nur unausführliche, oder bloß einseitige, oder in Ansehung ihrer Authenticität zweifelhafte Nachrichten haben?“ Selbst bei Nachbarn oder Hausgenossen, die man oft sehen und deren Verhalten man entsprechend beobachten könnte, wäre man nicht in der Lage, ein Urteil über deren Ehrlichkeit zu treffen: Der Hausgenosse „könnte mich vielleicht hundertmal belogen und betrogen haben, ohne daß ich es merkte, und so würde mein Glaube an seine Ehrlichkeit sich bloß auf meine Ignoranz in Ansehung dessen, was er gethan hat, gründen.“282 Wunderberichte, die lediglich von einem Geschichtsschreiber tradiert wurden und deren Zeuge der Autor nicht war, könne man genauso wenig glauben, wie das Zeugnis, das nur von einer Person gegeben wurde. Bei dieser Aussage beruft sich Knoblauch mehrmals auf Michael Hißmann.283 Aufgrund der hohen Hürden, die bezüglich der Glaubwürdigkeit eines Wunderzeugen überwunden werden müssen, schreibt Knoblauch in Anlehnung an David Humes ironisch formulierten letzten Absatz des Kapitels Über Wunder seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand, wonach es aufgrund der hohen Unwahrscheinlichkeit der christlichen Wunder einem erneuten Wunder gleichkomme, an das Christentum zu glauben:284 „Jene Untrüglichkeit eines Erzählers aber würde 280 281 282 283 284
Knoblauch: Gespräch (wie Anm. 311, S. 66), S. 102, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 103 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 104, Hervorh. i. Orig. Vgl. Anm. 218, Kap. 2.2.2 dieser Arbeit. „So dürfen wir nach alledem schließen, daß die christliche Religion nicht nur in der ersten Zeit von Wundern begleitet war, sondern sogar heutigentags von keinem vernünftigen Menschen ohne Annahme eines Wunders geglaubt werden kann. Vernunft allein reicht nicht aus, uns von ihrer Wahrheit zu überzeugen; und wen der Glaube [Faith, Anm. M. L.] bewegt, ihr zuzustimmen, ist sich eines fortwährenden Wunders seiner eigenen Person bewußt, das alle seine Verstandesprinzipien umkehrt und ihn bestimmt, das [der] Gewohnheit und Erfahrung am meisten Entgegengesetzte zu glauben.“ David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hg. u. übers. v. Herbert Herring. Durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1982. Stutt-
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selbst ein Wunder, und zwar, da sie auf Inspiration beruhet, ein unsichtbares Wunder seyn, welches, da es nie Objekt der äussern Sinne seyn kann, nur von Einem einzigen bezeugt werden könne, von dem nehmlich, der inspirirt zu seyn vorgiebt.“ Hierbei würde jedoch wieder Hißmanns Aussage greifen, da man nur einen Zeugen dieses Wunders – die Person selbst – habe. Deswegen ergebe sich ein Zirkelschluss, aus welchem man nicht ausbrechen könne: „Das erzählte Wunder können wir nur um der vorausgesetzten Untrüglichkeit des Erzählers willen – seine Untrüglichkeit aber, als eine der allgemeinen menschlichen Natur widersprechende Eigenschaft, nur um der sichtbaren Wunder willen glauben“,285 durch welche sich der Zeuge legitimieren könnte. „Diese Wunder aber würden, um uns glaublich zu werden, wieder einer Bestätigung durch die Aussagen untrüglicher Geschichtschreiber bedürfen, und hier würde die Noth wieder von neuem angehen.“286 Neben der Untersuchung der Glaubwürdigkeit von Wunderzeugen versuchte Knoblauch ebenfalls logisch zu belegen, weshalb Wunder nicht so stattgefunden haben konnten, wie von ihnen berichtet wurde. Als beliebtes Beispiel dienen ihm Speisungswunder, bei denen eine große Anzahl von Menschen mit wenig Nahrung gesättigt worden sein sollen und die sowohl im Islam als auch im Christentum bekannt sind. So sollen, wie die Bibel berichtet, „mit fünf Brodten, oder dünnen platten Gerstenkuchen, und zwei kleinen Fischen, fünftausend Mann gesättigt“ worden sein. Wenn man voraussetze, dass die Menschen „gesund und hungrig waren“ und ebenfalls „der eben angegebene Vorrath von Lebensmitteln der Menge und dem Appetit der Esser nicht proportioniert, d. h. zur Sättigung so vieler Menschen nicht hinreichend war“287 bleibe lediglich die Möglichkeit, dass „die Nahrungskräfte“ erhöht wurden, ohne gleichzeitig die Masse zu erhöhen, oder das Brot müsste durch eine„Schöpfung aus Nichts“288 erklärt werden. Beides sei jedoch, wie Knoblauch ausführt,289 nicht möglich, sodass „man das Wunder der Speisung nicht glauben“290 könne, ohne von anderen unlogischen Voraussetzungen auszugehen. Auch beschäftigte sich Knoblauch ausführlich mit Apollonios von Tyana (ca. 40–120 n. Chr.), dessen angebliche Wundertätigkeit eine große Ähnlichkeit mit den biblischen Wunderberichten des Jesus von Nazaret hatten. Der Verweis auf die Figur des Apollonios „war geradezu ein Gemeinplatz der religionskritischen
285 286 287 288 289 290
gart 2011, S. 167, Hervorh. i. Orig. Hume macht deutlich, dass einfacher Glaube (belief ) oder Vernunft nicht ausreiche, an Wunder zu glauben, denn hierzu sei lediglich religiöser Glaube (faith) in der Lage. Knoblauch: Ueber Wunder (wie Anm. 218, S. 50), S. 90. Ebd., S. 90 f. Knoblauch: Uebernatürliche (wie Anm. 265, S. 148), S. 16, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 17, Hervorh. i. Orig. Vgl. ebd., S. 17–21; oder ebenso: [Karl von Knoblauch]: Palemon an Evander. Etwas aus den lezten Stunden eines sterbenden Geometers. In: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 248–256; und für den Islam: Ders.: Mohämmeds Traktament. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 301–307. Ders.: Uebernatürliche (wie Anm. 265, S. 148), S. 20, Hervorh. i. Orig.
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Literatur der Neuzeit“291 und wurde entsprechend ausführlich von Wunderapologeten und -kritikern behandelt. So wurde Apollonios wahlweise als erster Plagiator der biblischen Wunder angesehen oder als Betrüger. Gerade letztere Argumentation spielte jedoch den Wunderkritikern in die Hände, da es wenig ratsam war, „Apollonios als Betrüger und seinen Biographen Philostratos als abergläubischen Einfaltspinsel zu diskreditieren“, da dies derselbe Verdacht war, „mit dem sich die biblischen Verfasser selbst […] konfrontiert sahen.“292 Dass die Wundererzählungen um Apollonios populär waren, um die christlichen Berichte über Wunder des Jesus zu diskreditieren, war Knoblauch durchaus bewusst. So beschreibt er ihn in seinem Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer im neunten Kapitel Apollonios von Thyana erweckt ein verstorbenes Mädchen vom Tode als den „berüchtigte[n] Gaukler des Alterthums, dessen angebliche Wunder ältere und neuere Feinde des Christenthums, den Wundern des Stifters unserer Religion entgegenzuwerfen gewagt haben.“ Dies täten sie, obwohl diese Wunder, wie Knoblauch betont, lediglich „den Kunststücken gewisser Taschenspieler und Charlatane“293 glichen und alleine durch die Berichte eines Mannes, Flavius Philostratos (ca. 165–249), bezeugt wurden, der lange nach Apollonios lebte. Obwohl, wie Knoblauch in den Nachtwachen erwähnt, Philostratos, „so viel wir wissen, ein ehrlicher Kauz“ gewesen sei, müsse man ihm jedoch nicht „auf sein ehrliches Gesicht“ die Wunder glauben, „die er seinem Helden zuschreibt“.294 Zudem habe Philostratos seine Berichte von einer unbekannten Person erhalten und diese habe sie wiederum „von einem noch unbekanntern“ Menschen, den „Philostrat nicht einmal zu nennen“295 wusste. Apollonios’ Wunder, die darin bestanden haben sollen, dass er Geister ausgetrieben, Kranke geheilt, „ein verstorbenes Mädchen wieder lebendig [gemacht] […] und gen Himmel fuhr“,296 stelle man nun – trotz ihrer schlechten Beweislage, wie Knoblauch ironisch-empört kommentiert – die Wunder „Jesu entgegen, die auf dem Zeugniß mehrerer gleichzeitige[r] Skribenten, worunter einige sogar Augenzeugen gewesen sind, beruhen!“297 Statt die Wiederbelebungswunder direkt den biblischen Wunderberichten entgegenzustellen, vergleicht Knoblauch sie mit denen des Missionars und Mitbegründers des Jesuitenordens Franz Xaver (1506–1552), da „Todtenerweckungen […] bei den alten Griechen so wenig selten“ gewesen seien, „als in den Legenden und Mönchschroniken gewisser christliche[r] Jahrhunderte.“298 Wenn man diese Wiederbelebungen, die weit entfernt in Japan stattgefunden haben sollen, und die291 292 293 294 295 296 297 298
Schröder: Athen (wie Anm. 34, S. 8), S. 160. Ebd., S. 161. Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 76. Ders.: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 65. Ders.: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 77. Ebd., S. 77 f. Ebd., S. 77, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 78.
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jenigen des Apollonios nun verwerfe, nur um gleichzeitig die biblischen Wunder zuzugeben, bestünde die Schwierigkeit darin, zu bestimmen, bis zu welchem Zeitpunkt es möglich war, Tote wieder zum Leben zu erwecken und ab wann nicht mehr. Dass es jedoch eine solche Grenze nicht gebe und Wiederbelebungen von Toten entweder überhaupt nicht oder immer – und damit: immer noch – möglich sein müssten, ergebe sich aus den Naturgesetzen: [S]o gehörten alle Zeiten und alle Oerter mit gleichem Rechte zu den Domainen der Natur. Diese unerbittliche Göttin beugte ihren stolzen Nacken – ungewohnt ein anderes Joch, als das ihrer eigenen Nothwendigkeit zu tragen – nie unter den magischen Stab eines Wunderthäters, oder unter den Zepter eines Wesens, welches von ihr selbst verschieden, und ihr unumschränkter Gebieter wäre.299
Im gleichen Jahr schrieb Knoblauch in seiner Anti-Taumaturgie oder die Bezweiflung der Wunder mit ironischem Verweis auf Gottfried Less, „der Unglückliche“ Apollonios habe nicht wissen können, „daß keine Sekte ‚Religionswunder aufzuweisen hat, ausser Juden und Christen,‘ wie D. Leß versichert.“ Auch habe Apollonios nicht gewusst, „daß unsere Wunder die fünf Kennzeichen nur allein haben, welche nach der Theorie des Göttingischen Professors, sie zu göttlichen Wundern machen.“300 Indem Knoblauch in mehreren Schriften ausführlich auf die Unwahrscheinlichkeit und unglaubwürdige Tradierung der angeblich von Apollonios gewirkten Wunder verweist, macht er deutlich, dass man diese nicht ablehnen und trotzdem die Wahrheit der von Jesus gewirkten Wunder behaupten könne.301 Er wendet hierbei eine ähnliche Methode an, wie er es bei der Schilderung religiöser nichtchristlicher Traditionen302 im Sinn hatte: Durch das Aufzeigen des Absurden im Fremden möchte er auf das Unsinnige in der eigenen Tradition verweisen. Hierdurch sollen seine – höchstwahrscheinlich in großer Zahl – christlich geprägten Leser darauf aufmerksam gemacht werden, dass nicht das Eigene befürwortet und das Fremde aufgrund fehlender Logik oder Beweise abgelehnt werden könne, wie es die christliche Theologie versuchte, indem sie die Wunder des Apollonios diskreditierte, aber die des Jesus weiterhin als wahr annahm. Knoblauchs Wunderkritik ist nicht nur wegen der hohen Anzahl von Schriften, in welchen er sich mit diesem Thema befasst, sondern auch aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunkte und Herangehensweisen sehr vielfältig. Abgesehen von diesen Variationen ändert sich jedoch seine grundlegende Argumentation während seiner gesamten Schaffenszeit nicht: Indem Knoblauch vor allem die Wunderkritik David Humes als Grundlage dient, plädiert er in Humes Sinne für eine strenge Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Wunderzeugen. Diese Argumentation lässt 299 300 301 302
Ebd., S. 79 f., Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Anti-Taumaturgie (wie Anm. 170, S. 131), S. 105, Hervorh. i. Orig. Vgl. Schröder: Athen (wie Anm. 34, S. 8), S. 170. Vgl. Kap. 3.1.1.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
sich sowohl in seinen ersten Artikeln aus dem Jahr 1786 finden als auch in der ausführlichen Darlegung der ab 1789 herausgegebenen Monographien und ebenfalls in seinen letzten Schriften von 1794. Entsprechend konnten in der obigen Darstellung problemlos Zitate aus der gesamten Zeit seiner schriftstellerischen Tätigkeit zusammengefügt werden und ergaben – trotz des zeitlichen Abstandes ihrer Entstehung – dennoch ein kohärentes Bild seiner Kritik an Wundern. Wunderkritik bei Andreas Riem Im Gegensatz zu den philosophischen Erörterungen Karl von Knoblauchs konzentriert sich Andreas Riem bei seiner Wunderkritik stärker auf die Lehren der Religionsstifter Moses und Jesus. So betont er in einem seiner ersten theologischen Werke von 1785, in welchem er sich vor allem mit dem Alten Testament beschäftigt, die Ähnlichkeit der angeblich von Moses gewirkten Wunder „mit den von Zauberern“,303 die sich meist ebenfalls Taschenspielertricks bedienten. Statt zu behaupten, dass die mosaischen Wunder, sollte eines als unwahr belegt werden, alle anderen ebenfalls unwahr sein müssen, wie es Knoblauch im Bezug auf die Wunder des Jesus hervorhob, betont Riem das genaue Gegenteil: Auch wenn er die Lehre des Moses, an welcher auch Jesus festgehalten habe,304 als vollkommen falsch erachte, müsste sie dennoch, sofern nur eines seiner Wunder als wahr erwiesen werde, alles, was Riem „gegen die Göttlichkeit seiner Sendung und seiner Bücher gesagt habe“,305 falsch gewesen sein. Dass sich Riem generell der Wunderkritik David Humes anschloss, macht er mit der Bemerkung deutlich, dass er nicht wiederholen wolle, was andere über die Wunder geschrieben hätten und verweist auf Humes „schöne Abhandlung […] über die Wunderwerke“.306 Ebenso nennt er das 1783 anonym veröffentlichte Buch Horus des in Frankfurt an der Oder lehrenden Professors für Mathematik und Physik, Christian Ernst Wünsch (1744–1828). Wünsch stellt Moses in seinem Werk „als Betrüger und zugleich Pyrotechniker“307 dar, dessen Wunder – genau wie die Wunder von Jesus – entweder erdichtet oder übertrieben wurden oder auf vollkommen natürliche Art und Weise erklärt werden könnten.308 Entsprechend urteilt Riem auch über die neutestamentarischen Wunder: Auch Jesus’ Jünger seien getäuscht worden, da diese durch „Achtung, Unwissenheit und Anhänglichkeit […] leicht dahin“ gebracht werden konnten, „Wunderbares zu finden, wo es nicht war“. Gleichzeitig habe es Jesus immer abgelehnt, wenn man Wun-
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Riem: Untersuchungen (wie Anm. 394, S. 77), S. 80. Vgl. Ders.: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 180 f. Ders.: Untersuchungen (wie Anm. 394, S. 77), S. 81. Ders.: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 181. Gustav Frank: Wünsch, Christian Ernst. In: Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898), S. 317– 320, hier S. 319. 308 Vgl. Jürgen von Kempski: Apokalypse, „Horus“ und Wünsch. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47.4 (1995), S. 304–319, hier S. 307.
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der „zur Bestätigung seines Vorgebens, daß er der Messias sey, von ihm forderte.“309 Er habe nach Riems Ansicht alle Gelegenheiten verstreichen lassen, wirkliche Wunder – die auch bei Riem durch einen Verstoß gegen die Naturgesetze charakterisiert werden310 – zu vollbringen und die durch eine größere Anzahl von Menschen hätten bezeugt werden können. Stattdessen habe er Wunder vollbracht, wenn sie nicht durch glaubwürdige Zeugen belegt werden konnten. Riem stellt verwundert die Frage, weshalb Jesus sich geweigert habe, Wunder zu vollbringen, wenn „sie von so großem Nutzen für ihn selbst hätten seyn“ können, um damit „alle üble Nachreden [zu] stillen, und alles zur Bewunderung der Macht Gottes, die durch ihn gewirkt haben würde, hätte hinreissen müssen?“ Stattdessen habe er die „unedle Ausflucht“ bemüht, dass „[d]iesem verkehrten Geschlechte […] kein Wunder gegeben werden“ solle. Hierdurch sei „[u]nser Zweifel und Unglaube […] nicht freiwillig, sondern durch ihn selbst veranlaßt und abgenöthigt“311 worden. Für Moses und vor allem Jesus versucht Riem zu erörtern, worin der Nutzen ihrer angeblich gewirkten Wunder gelegen haben könnte. So habe beispielsweise das ‚Wunder‘ von Jesus’ Wiederbelebung, welche Riem durch eine Ohnmacht am Kreuz erklärt, da das unwiderlegbare Kennzeichen des Todes „allein der Uebergang zur Verwesung“312 darstelle, keinerlei Nutzen haben können: Weder für die „Bestätigung seiner Lehre“ sei es brauchbar gewesen, denn dies wäre dann ebenfalls eine „Bestätigung für den Mosaismus und [dessen] Irrthümer gewesen“, die nach Riems Meinung ebenfalls von Jesus gelehrt wurde. Zudem liege „[d]ie Wahrheit einer Lehre […] in ihr selbst“313 und könne nicht dadurch belegt werden, indem „aus der Möglichkeit der Auferstehung der Menschen, auf die Gewißheit der Auferstehung Christi“314 geschlossen werde, wie es der Apostel Paulus von Tarsus geschrieben habe. Ebenfalls könne das angebliche Wunder seiner Auferstehung nicht als Bestätigung von Jesus’ Messiaswürde angesehen werden, da er dies Riems Meinung nach „vor allem Volke, besonders vor dem hohen Rathe und vor Pilatus [hätte] zeigen müssen“315 und nicht nur vor seinen Anhängern, die schon von ihm überzeugt gewesen seien. Die Unmöglichkeit von Himmelfahrten Wie für Riem die Auferstehung von den Toten als unmöglich erscheint, hält er ebenfalls die anschließende Himmelfahrt des christlichen Religionsstifters für unwahrscheinlich, da sie lediglich durch die Außerkraftsetzung der Naturgesetze geschehen könne: Da ein Körper sich immer auf den Mittelpunkt der Erde zubewegt, hätte Jesus „[m]it einem wirklichen Körper […] nicht gen Himmel fahren, es sey denn, 309 310 311 312 313 314 315
Riem: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 181. Vgl. ebd., S. XVII. Ebd., S. 182. Ebd., S. 196. Ebd., S. 200, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 201, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 200.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
daß Gott durch ein Wunder die anziehende Kraft der Erde in eine ins unendlich gehende Centrifugalkraft verwandelt hätte.“316 Unter diesen Umständen wäre jedoch nicht nur Jesus, sondern „nothwendig alles Bewegbare, alles Schwere, Christo in dem Himmel“ nachgefolgt „und seine Jünger“ wären nicht zurückgeblieben, „so wenig wie die Bäume und Felsen des Oelberges selbst.“ Da jedoch die Zentrifugalkraft, so Riem, nur bis zu einer gewissen Grenze wirke, würde sich Jesus „endlich in dem Zustande gefunden haben, die Erde wie ein Mond in Ellipsen zu umlaufen“,317 sofern nicht viele weitere Wunder gewirkt worden wären. Andreas Riem verweist wie auch Karl von Knoblauch in diesem Zusammenhang auf die Mythen anderer Religionen: So sei „Mahomed“ ebenfalls „auf dem raschen Bocke Alborack in einem Augenblick durch sieben Himmel“ gereist und habe dort Dinge gesehen, „wozu andere Jahre nöthig hätten.“ Genau wie Knoblauch möchte auch Riem darauf aufmerksam machen, dass man das eigene Unsinnige wertschätze, in anderen Kulturen jedoch nicht: „Wir verachten in fremden Religionen solche Erzählungen als Fabeln, in der unsrigen haben wir für gleiche Fabeln Achtung.“318 Auch Knoblauch sieht Himmelfahrten als eine physikalische Unmöglichkeit an: Anziehende und zurückstoßende Kraft seien für „die Erhaltung und Harmonie der Welt“ verantwortlich und könnten nicht durch „Himmelfahrten vorgegebener Propheten“ negiert werden. „Die Unmöglichkeit eines solchen Facti ist vollkommen mathematisch erwiesen.“319 Knoblauch erläutert wie Riem seine Vorbehalte gegenüber einer Himmelfahrt mit physikalischen Überlegungen: Damit die Gravitation der Erde überwunden werden konnte, hätte „eine anziehende Kraft aus der ungemessenen Ferne so stark auf einen einzelnen Theil unsers Globs wirken“320 müssen. Diese Kraft wäre jedoch von einer solchen Stärke gewesen, dass „dieser kleine Glob, auf welchen die Wirkung traf“, in Unordnung geraten, „aus seiner Stelle gerissen [und] aller seiner Bürger beraubt“ worden wäre. „So hätte der Himmel, der durch ein Mirakel die Bewohner der Erde überzeugen wollte, sie mit samt ihrer Wohnung durch die Folgen dieses Mirakels zerstört.“321 Gerade diese Grenzen der Physik, zu deren Überschreitung es nach Meinung Knoblauchs und Riems Wunder – also Verstöße gegen die Naturgesetze – bedürfe, veranschaulichen gleichzeitig eindrucksvoll das allgemein verbreitete zeitgenössische Verständnis von physikalischen Vorgängen. So geht Knoblauch generell davon aus, dass Luftfahrten, die über die Erde hinaus gehen, unmöglich sind, da hierdurch Materie, die „zu ihrer Individuität [sic.] gehört, entrissen“ würde. Diese Verminderung der Masse hätte gravierende Folgen: „Bei jedem Verlust, durch die verringerte Schwere aus ihrer Laufbahn verrükt, weil sie sich gegen andere Weltkörper nicht 316 317 318 319 320 321
Riem: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 219 f. Ebd., S. 220. Ebd., S. 221, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 93, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 94, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 95, Hervorh. i. Orig.
3.1 Philosophie versus Religion
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mehr im Gleichgewicht halten könnte, müsste sie unvermeidlich sich ihrer Zerstöhrung nahen.“ Selbst aufgewirbelter Staub würde nach einer gewissen Zeit „in der Erde mütterlichen Schoos [zurückkehren], deren Kraftmasse nicht verringert werden darf“.322 Entsprechend schrieb Knoblauch auch, dass die „Himmelsbürger […] noch auf geraume Zeit von der Gefahr entfernt [seien], daß einer von unsern Drachen bei ihnen ankomme, um sie zu erobern und zum christlichen Glauben zu bekehren.“323 Das Gesetz der Natur verhindere, das man mit einem Fluggerät die Atmosphäre verlasse. Und wenn es dennoch möglich wäre, mit einem Drachen „gen Himmel [zu] fahren“, so vermutet Knoblauch, dass „nicht nur der Faden, woran Sie [den Drachen] führen, sondern Sie Selbst und, wer weis wie noch viel Menschen, welche in einem gewißen Abstand von der anziehenden Masse sich verhielten, mit auffahren.“ Auf entsprechende Himmelfahrtswunder und die für Knoblauch wichtigen Zeugen anspielend, stellt er die Frage: „Wo blieben also Diejenigen, die das Wunder erzählen könnten.“324 Johann Christian Schmohl: Wunder und andere Mythen Während sich Karl von Knoblauch sehr ausführlich mit der Frage nach Wundern beschäftigt und Andreas Riem, um nicht zu wiederholen, was andere – vor allem David Hume – geschrieben haben, das Thema eher streift, um seine Thesen zu untermauern, behandelt Johann Christian Schmohl die Thematik nur am Rande. „Wunder überhaupt“ stellen für ihn eine Art verallgemeinernde Kategorie dar, unter welche abergläubische „Hirngespinster“, wie den „Glauben an Schatzgräber, Weißsager, sympathetische Kuren und – Heckthaler325 “ fallen. Diese abergläubischen Vorstellungen würden, wie schon in Kapitel 3.1.1.1 dargelegt, weiterhin bestehen bleiben, „so lang als die Leute so wenig Einsicht in die Naturkunde“326 hätten. Schmohls allgemeines Unverständnis gegenüber dem Wunderglauben wird in seinem Reisebericht durch das Elsass deutlich. Als er im Frühjahr 1779 auf den oberelsässischen Odilienberg, einem frequentierten Wallfahrtsort, wanderte, erwähnt er nur am Rande und mit amüsiertem Spott die angeblichen Wunder, die dort gewirkt worden sein sollen: Der bei Hochzeiten auf dem Odilienberg erbetene Segen sei „so kräftig, daß manche unfruchtbare Frau durch dieß Beten schwanger würde.“ Zudem gebe es als „wunderthätige[s] Andenken[]“ der dort verehrten Odilia noch eine Quelle „und mehrere Alfranzereyen [Gaukeleien, Anm. M. L.].“ Diese Aufzählung quittiert er mit der schlichten Bemerkung: „Das beste, was der Berg hat, ist die fette Weide und die Milch, die die Kühe geben.“327 Somit spiegelt die 322 323 324 325
Ebd., S. 97, Hervorh. i. Orig. [Karl von Knoblauch]: Fliegende Drachen. In: Paragrafen 1 (1791), S. 206–209, hier S. 206. Ebd., S. 207. Als Heckthaler wurden entweder Falschgeld bezeichnet oder – was Schmohl an dieser Stelle meint – Münzen, die sich auf wundersame Weise vermehren oder immer wieder zu ihrem Besitzer zurückkehren. 326 Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 397. 327 Ders.: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 227.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
ironische Kommentierung dieser angeblich geschehenen Wunder Schmohls allgemein zurückhaltende Meinung gegenüber religiösen Themen wider:328 Statt sich mit der Theorie von Wundern und deren philosophischer Widerlegung zu beschäftigen, wie es Knoblauch und Riem gemacht haben, thematisiert er sie als Teil von weiterhin vorhandenen, abergläubischen Überzeugungen, die jedoch wie Relikte aus längst vergangenen Zeiten weiterhin zu beobachten sind. So erwähnt er neben dem Kloster sowie der auf dem Berg verehrten Odilia mitsamt ihren Wundern und Wallfahrern auch, dass man erzähle, „vor Zeiten“ sei das „Elsaß ein Meer gewesen“ und „hoch am Gipfel des Odilienberges [habe] sich ein Hafen befunden“. Dessen Ankerplatz, „wo noch Klammern und Ketten davon übrig wären“,329 wollte man Schmohl – neben den gegenwärtigen wundersamen ‚Alfranzereyen‘ – ebenfalls zeigen. Von beiden Erzählungen – den Wundern der Odilia und die als Hafen mythisierte Mauer – berichtet Schmohl auf die gleiche ablehnend-ironische Weise und relativiert beide jeweils im direkten Anschluss mit einem, seiner Ansicht nach wirklich erwähnenswerten Wunder: „[D]ie Fettigkeit und Kraft der Odilienmilch“, welche nach einem Sprichwort zufolge „stark genug ist, die Leute zu berauschen.“330 3.1.1.3 Bibel Während die Wunderkritik in Andreas Riems Werken einen eher nebengeordneten Charakter besitzt, befasst er sich stattdessen ausführlich mit der Entstehung und Überlieferung des Christentums. Folgt man hierzu der Forschungsliteratur, war Riem ein Bibelinterpret, welcher der aufgeklärten theologischen Strömung der Neologie zuzuordnen sei.331 Die Neologen versuchten das ‚vernünftige‘ neologische Christentum gegenüber der natürlichen Religion des Deismus zu verteidigen, wobei ihrer Meinung nach die deistische Glaubensvorstellung durch die christliche erst ermöglicht worden sei. Das Christentum sollte zwar „nicht als die einzige, aber doch die geschichtlich entwickeltste und kulturell höchststehende Variante von Offenbarungsreligionen“ betont werden: „Religion und Offenbarung seien im Wesentlichen Unterricht im Licht der Aufklärung; Gott war dem entsprechend vor allem ein gütig-barmherziger Lehrer um der Perfektibilität und der Glückseligkeit der Menschen willen.“332 Während die frühen Vertreter der Neologie aufgrund ihrer philosophierenden Predigt 328 Hierzu mehr in Kapitel 3.1.3. 329 Schmohl: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 228 – Hierbei scheint die sogenannte ‚Heidenmauer‘ gemeint zu sein, die sich um den Gipfel des Odilienbergs zieht. 330 Ebd. 331 So schon der Titel Andreas Riems Weg vom Neologen zum Jakobiner bei: Grab: Riems Weg (wie Anm. 324, S. 69). Auch Daniel Minary bezeichnet Riem als Neologen: Vgl. Minary: Deutsche religionskritische Aufklärung als praktische Philosophie (wie Anm. 183, S. 45), S. 422. Nach Katharina Becker sei er ein vom Rationalismus beeinflusster Neologe gewesen, der ebenfalls dessen Vertreter kritisierte und sich aufgrund ihrer Inkonsequenz distanzierte. Vgl. Becker: Theologe (wie Anm. 330, S. 69), S. 61. 332 Holzem: Christentum (wie Anm. 155, S. 129), S. 747.
3.1 Philosophie versus Religion
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„um der ethischen Beeinflussung des Hörers willen“333 von ihren Gegnern als ‚Bibelfeinde‘ bezeichnet wurde, konzentrierten sie sich ab den 1770er-Jahren vermehrt auf die Bibelwissenschaft. Dieser kam in historisierender Interpretation die Aufgabe zu, die Entwicklung des Christentums vor dessen Entstehungshintergrund darzustellen und mit „biblische[r] Hermeneutik“334 den ‚wahren‘ Sinn der biblischen Texte zu erschließen. Die Zuschreibung, Riem sei Neologe gewesen, ist nur für seine frühen aufklärerischen Schriften haltbar. So fasste Walter Grab für Riems 1776 erschienenes, erstes philosophisches Werk Von dem Einfluße der Religion auf das Staatssystem der Völker zusammen, Riem habe „den christlichen Heiland im Einklang mit den Prinzipien der Neologie als ‚Gesetzgeber‘ dar[gestellt], der ‚die Religion der Natur und Vernunft zur Grundlage seiner Lehre[n]‘ gemacht und die ‚Menschen zu den edelsten Tugenden ermuntert[]‘ habe.“335 Ähnliche Aussagen lassen sich auch in den folgenden Publikationen finden: So setzt er „[d]ie Lehre J. C. von Gott“ in neologistischer Weise mit der „Lehre des Menschenverstandes“336 gleich oder bezeichnet Jesus als ersten Lehrer und Aufklärer.337 Jedoch für das 1792 erschienene Werk Christus und die Vernunft oder Prüfung der Wahrheit und Göttlichkeit der Lehre Jesu Christi des christlichen Lehrbegrifs und der symbolischen Bücher, an welchem Riem fünf Jahre lang geschrieben haben soll,338 ist diese Zuschreibung nicht mehr haltbar. Wie Katharina Becker korrekt zusammenfasst, wird von Riem das Christentum mit der jüdischen religiösen Gruppe der Essener gleichgesetzt.339 Diese werden jedoch von Riem nicht ausschließlich positiv bewertet, wie Becker schreibt,340 sondern aufgrund ihrer asketischen, trieb- und genussfeindlichen Lehre kritisiert, die nach Riems Meinung aus „einigen Grundsätzen der morgenländischen Philosophie“ entsprungen sein müsse, da die Asketik der 333 Ebd., S. 744. 334 Ebd., S. 748. 335 Grab: Riems Weg (wie Anm. 324, S. 69), S. 184 – Die Zitate Riems stammen von: Riem: Einfluße (wie Anm. 376, S. 75), S. 11, und wurden in korrigierter Form übernommen. 336 Ders.: Beyträge (wie Anm. 184, S. 134), S. 42. 337 Vgl. Ders.: Das reinere Christenthum oder die Religion der Kinder des Lichts. Fortgesetzte Betrachtungen über die eigentlichen Wahrheiten der Religion oder Fortgang da, wo Herr Abt Jerusalem stillstand. Erster Theil. Berlin 1789, S. 307. 338 Vgl. Becker: Theologe (wie Anm. 330, S. 69), S. 74. – Auch wenn Riem getrost als Viel- und Schnellschreiber bezeichnet werden kann, ist diese lange Bearbeitungszeit alleine aufgrund des großen Umfangs von beinahe 750 Seiten plausibel. 339 Diese These wurde erstmals von Johann Georg Wachter angeführt und später von „Prominentere[n] als [ihm] – Lord Bolingbroke, Voltaire und Karl Friedrich Bahrdt – populär gemacht“. Schröder: Ursprünge (wie Anm. 35, S. 8), S. 109. Vgl. außerdem: Mulsow: Prekäres Wissen (wie Anm. 6, S. 2), S. 224. 340 „Die Gemeinsamkeiten“ von esseischer und christlicher Lehre „beruhen, so Riem, auf den gleichen Tugenden, die in Leutseligkeit, stillem, einsamen Leben, in Liebe, Geduld und Verträglichkeit, in Freundlichkeit, Bescheidenheit und Genügsamkeit bestehen, auf welche ja schließlich die Weisungen Christi und der Apostel hinzielten.“ Becker: Theologe (wie Anm. 330, S. 69), S. 74 f.
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Essener „jener am nächsten“341 komme. Entsprechend habe „Christus […] die Verkündung des büßenden Lebens zur Hauptsache [gemacht], worin seine Jünger genau seinem Befehle nachkamen; und allenthalben das Kreuzigen des Fleisches, sammt dessen Trieben und Begierden, predigten.“342 Diese „Ertödtung des Sinnlichen“ hätte, so Riem, vielleicht zu Jesus’ Lebzeiten „die Stelle der besten […] Sittenlehre“343 eingenommen. Zu Riems Zeiten hingegen sei sie höchstens als mittelmäßige Moral zu bezeichnen. Daher sei dieser „Fanatismus“ beziehungsweise „die christliche Moral“, die „nichts weiter denn die fanatische Ascetik“ darstelle, „das gefährlichste Uebel in einem Staate […], der in bürgerlicher Thätigkeit und Industrie seine Wohlfahrt sucht.“344 Als besonders schädlich habe sich „die fanatische Ascetik des Christenthums“345 dadurch erwiesen, dass sie durch ihre „heilige Außenseite“ in kurzer Zeit sehr viele Anhänger angezogen habe. Das frühe Christentum konnte jedoch nicht das Bedürfnis an Weisheit befriedigen, „welche die Spekulation des Zeitalters forderte.“ Um dieses Bedürfnis zu erfüllen – und weil sich die frühen Christen nach Riems Aussage nicht mit der Philosophie ausgekannt hätten –, griffen sie den „Neu-Platonismus mit unüberlegtem Eifer [auf], weil er ihrer Ascetik am angemessentsten war, und einige ihrer Dogmen zu begünstigen schien“. Statt nun ihre Lehre „aus ihrer Vernunftmäßigkeit“346 heraus zu belegen, bewiesen sie sie aus dem Alten und Neuen Testament. Damit war die Grundlage der christlichen Lehre auf ein äußerst instabiles Fundament gebaut worden, da beide Testamente für die „Heiden“ – also alle außer den Christen – „eben so viel Autorität hatten, als den Christen der Zend 347 , oder ein anderes heidnisches Buch.“ Lediglich wenn sie die „die Vielgötterei“ angreifen konnten, „hatten sie ein ruhigeres Feld fürs Nachdenken“ und hätten hierbei ihre Argumentation auf eine plausiblere und durchdachtere Grundlage stellen können. Stattdessen griffen sie zwar die Lehrsätze der Vielgötterei mit „vielem Ungestüm“ an, übernahmen diese jedoch selbst, „da sie Tritheisten wurden, ohne es zugeben zu wollen, daß sie es wären.“348 Hierbei wird von Riem also nicht die katholische Heiligenverehrung als ‚Vielgötterei‘ dargestellt und abgelehnt, sondern das gesamte Christentum mit seiner Lehre der Dreieinigkeit. In seiner genauen Untersuchung der Grundsätze der christlichen Moral beziehungsweise der identischen esseischen Asketik kritisiert Riem unter Rückgriff auf Kants 1785 erschienenes Werk Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den durch 341 342 343 344 345 346 347
Riem: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 700. Ebd., S. 701, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 702, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 704. Ebd. Ebd., S. 705. Die Bezeichnung Zend bezieht sich auf Übersetzungen und Kommentare des Avesta, dem heiligen Buch der im iranischen Raum entstandenen und auf Zarathustra zurückgehenden Religion des Zoroastrismus. 348 Ebd., Hervorh. i. Orig.
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Jesus bekräftigten „mosaischen Grundsatz: ‚liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘“. Dieser könne, da das eigene Interesse nicht ausgeschlossen werde, niemals ein „Princip der Sittlichkeit“349 sein, „weil in der Liebe zu sich selbst, so viele Modificationen Statt finden“. Das bedeutet: Die mögliche Deutung der Phrase ‚wie dich selbst‘ könne in ihrer Nuancierung zwischen den beiden Extremen – „der untersten Gleichgültigkeit über sich selbst, bis zur höchsten Selbstschätzung“ – liegen. Entsprechend könnte man diesen Grundsatz auch formulieren, dass man seinen Nächsten so vernachlässigen solle, wie sich selbst und die letztendliche Bedeutung wäre gleich. „Indem der Grad der Selbstliebe zum Princip oder Normal der Nächstenliebe, angegeben wird, und das Gesetz der Moral Christi nicht mehr fordert, als der Mensch gegen sich selbst thun würde, so wird ein ganz unrichtiges und falsches Grundgesetz etablirt, das höchst schädlich in seinen Folgen werden kann.“350 Ein verschwenderischer Mensch könnte hierdurch das Recht ableiten, die Güter aller anderen Menschen – wie die eigenen – zu verprassen. Riems Kritik zufolge, könne er sich immer damit entschuldigen, er verfahre schließlich mit seinem Nächsten wie mit sich selbst. In diesem Grundsatz lasse sich „das Rohe Unausgebildete der Vernunftlehre eines Verstandes“ finden, der, wie die Philosophie des Moses, die Jesus übernommen hatte, alles „auf das eigne Interesse hinlenkte.“351 Damit sei ebenfalls der Grundsatz ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ verbunden, der die Gleichheit darauf reduziere, das persönliche Rachebedürfnis zu erfüllen. Nach diesem Prinzip gibt es keine gerechte Wiedergutmachung, sondern nur augenscheinliche Gerechtigkeit durch das Ausüben von Rachegelüsten. Diesem Grundsatz habe Jesus nach Riems Kritik „nicht auf eine richtige Art entgegen“ gewirkt, sondern lediglich ein anderes Extrem entgegengesetzt: Mit der Lehre, man solle dem Übel nicht widerstreben und, wenn man geohrfeigt werde, auch die andere Backe hinhalten, habe er „eine Resignation [gefordert], die wahrlich nicht von jedem Karakter und Temperament vernünftigerweise gefordert werden“352 könne. Den christlichen Grundsatz, auch die andere Backe zur Ohrfeige hinzuhalten, verknüpft Riem nun mit den „Rechte[n] der Menschen“. Diese seien für jeden Menschen vollkommen gleich und die christliche Forderung nach Resignation gegenüber Ungerechtigkeiten unverantwortlich: „[W]er so etwas im Ernste fordern kann ‚nicht zu widerstehen dem Uebel‘ der begünstiget nicht den Leidenden, sondern den Unterdrücker. Er nimmt nicht die Sache des Gekränkten in Schutz, sondern des Beleidigers.“353 Riem fordert seine Leser auf, sich vorzustellen, wie es in christlichen Staaten aussähe, wenn dort die durch Jesus gelehrte Philosophie pflichtgemäß aus349 350 351 352 353
Ebd., S. 665. Ebd., S. 666. Ebd., S. 667. Ebd. Ebd., Hervorh. i. Orig.
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geübt würde: „Das Recht des Stärkern würde dann gelten, seine Macht den Schwächern unterdrücken, der weiter keinen Trost haben würde, als es Gott anheim zu stellen, und sich mit dem Wahne zu schmeicheln, daß er seine sklavische Kleinmüthigkeit einst am Unterdrücker richten werde.“354 Dennoch habe Jesus, wie Riem betont, diese, der Allgemeinheit schädliche Philosophie dem Volk gelehrt. Hierdurch habe er „sein eignes Princip von Moral“ umgestürzt und „die Gleichheit der Rechte“ – und damit die Gerechtigkeit – aufgehoben. Während der Duldende die alleinige Pflicht habe, das, was ihm angetan wurde, zu erdulden, wird ihm „das Recht versagt[], von seinem Nächsten dasselbe zu fordern“.355 Durch die Überlegung, wie es in christlichen Staaten aussähe, wenn man sich streng an die Erduldungspflicht halten würde, erweitert Riem seine religiöse Kritik um eine politische Ebene: Es sei weder richtig, nach dem Prinzip ‚Auge um Auge‘ zur Wiedergutmachung von begangenem Unrecht, Rache zu fordern und dem Unterdrücker das anzutun, was einem selbst angetan wurde. Noch sei es sinnvoll, in vollkommener Resignation zu verharren und sich mit seinem Schicksal abfindend auf die Gerechtigkeit einer göttlichen Instanz zu vertrauen. Dass dennoch beide Extreme angewandt würden, erklärt Riem mit der „ungebildete[n] menschliche[n] Vernunft“, die nicht in der Lage sei, „zusammenhängend zu denken […], sondern immer rhapsodisch urtheilt, wie es ihr in jedem Augenblicke zweckmäßig zu seyn scheint“.356 So könne nicht erkannt werden, dass durch das Erdulden von Unterdrückung auf lange Sicht kein Ende dieser Unterdrückung erreicht werden könne. Stattdessen würden, wenn man sich nicht gegen diese Ungerechtigkeit wehre, nur diejenigen begünstigt, die schon stark seien und sich aufgrund ihrer Stärke Recht verschaffen könnten. Ebenso wäre es auf lange Sicht nicht sinnvoll, Rache mit Gerechtigkeit zu verwechseln, wie es der ältere Religionsgrundsatz vorsehe: Hierdurch würde nur das augenblicklich zweckmäßige Bedürfnis befriedigt, aber keine nachhaltige Gerechtigkeit erwirkt und möglicherweise ein Konflikt nur weiter befeuert. Es ist für Riem wichtig, keinen Extremen zu verfallen, sondern in einem gemeinschaftlich gerechten Prozess zur Lösung eines Problems zu gelangen. Hierbei ist weder das mosaische Gebot der Rache im Sinne von ‚Auge um Auge‘ hilfreich noch das christliche ‚Ihr sollt nicht widerstreben dem Übel!‘ zielführend. Ebenfalls könne der gerne mit Nächstenliebe umschriebene Grundsatz ‚liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘ nicht als moralischer Grundsatz aus der Lehre Jesu abgeleitet werden, da dieser jeglichen Missbrauch legitimieren könnte: Das, was man selbst gerne habe, sei vielfältig und dadurch zu relativ, als dass es zu einen verallgemeinerten Grundsatz gemacht werden könnte. Es scheint auf der Grundlage des 1792 erschienenen Werks nicht haltbar zu sein, Andreas Riem weiterhin als Neologen zu bezeichnen, auch wenn seine Bibelkritik 354 Riem: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 667 f. 355 Ebd., S. 668. 356 Ebd.
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mit Blick auf sein methodisches Vorgehen dem neologischen Vorbild entspricht. Da es jedoch das Ziel der neologischen Bibelhermeneutik darstellte, durch „die Trostund Erbauungswirkung biblischer Texte […] ihren göttlichen Ursprung“357 zu verbürgen, wird gerade unter dieser Voraussetzung der Unterschied zu Riems Bibelinterpretation deutlich: Für ihn ließen sich auch in der ursprünglichen Lehre Jesu keine Glaubenssätze finden, die seiner Meinung nach mit einer vernünftigen philosophischen Religion vereinbar wären. Stattdessen macht er deutlich, dass selbst auf den ersten Blick harmlos anmutende Gebote bei genauerer Betrachtung schädlich sein können. Entsprechend kommt Riem 1793 in seinem Werk Reines System der Religion für Vernünftige zu dem Schluss, das Christentum sei „an innerem Gehalte nicht reich, an Irrthümern nicht arm, an Lehrsätzen nicht unschädlich, und für Moralität ächter Art, nicht minder verderblich, als andere Religionen.“358 Dennoch steht er den Bemühungen der Neologen im Bereich der Philosophie nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber und lobt sogar die philosophischen Errungenschaften deren wichtigster Vertreter: So habe Johann Salomo Semler (1725–1791) der philosophisch reinen Religion den Weg geebnet und Abraham Teller (1734–1804) „ihr unglaublich viel Würde durch die Reinigung der Exegese“ gegeben, sodass „viele Sätze, welche eine falsche Hermeneutik in ihr erhielten, von selbst wegfielen.“ Der durch Johann Joachim Spaldings (1714–1804) Philosophie in die Höhe gehobenen Religion hätten sogar „Religionsspötter selbst mit Achtung“ zugehört. Auch Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) habe zusammen mit August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) den christlichen Glauben verteidigt – wenn auch ohne die Möglichkeiten von Kants „reinen Kritik, die zu ihren Zeiten noch ein Desiderat“359 darstellte. Die wirklich „großen Verbesserungen“ habe die reine Religion und die Philosophie nach Riems Meinung jedoch nicht durch die Neologen, sondern durch Philosophen wie David Hume mit seinem „fast unerreichbaren Scharfsinn“360 erhalten.361 Heilige Bücher bei Karl von Knoblauch Karl von Knoblauchs Bibelkritik befindet sich meist als ironischer Kommentar zwischen den Zeilen: Thematisiert er beispielsweise „Götzenbilder im heidnischen Alterthum“, welche „bisweilen geschwizt, ja gar Blut geschwizt haben“ sollen, so betont er, dass sich „Pendants zu diesen heiligen Schweissen“ keinesfalls in der „wohlverstandenen heil. Schrift“ fänden. Die Wunder der Bibel seien „von ganz anderer Art“ und beruhten „auf ganz andern Gründen“362 – welche Knoblauch selbstverständlich nicht nennt. Hierbei kann es sich einerseits um eine vorgeschobene 357 358 359 360 361
Holzem: Christentum (wie Anm. 155, S. 129), S. 748. Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 3 f. Ders.: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 743. Ebd. Zu Riems eigener Vorstellung einer ‚reinen Religion‘ und deren Auswirkung auf die Moral der Menschen, vgl. Kap. 3.1.2.2. 362 Knoblauch: Anti-Taumaturgie (wie Anm. 170, S. 131), S. 154.
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Schutzbehauptung handeln, um sich gegen eventuelle Angriffe abzusichern und behaupten zu können, er habe schließlich nicht das gesamte Christentum kritisiert. Andererseits kann diese Bemerkung ebenfalls ironisch verstanden werden, da sie in einem eindeutig wunder- und religionskritischen Kontext formuliert wurde und der Leser mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass der Autor – auch wenn er ihn und seine weiteren Schriften nicht kennt – seine Behauptung nicht ernst gemeint haben kann. Etwas deutlicher und ebenfalls im Zusammenhang mit Wundern formuliert es Knoblauch in seinen Nachtwachen des Einsiedlers von Athos: Diese könnten, wie in Kapitel 3.1.1.2 dargestellt wurde, nicht geglaubt werden, wenn sie von einem unbekannten Autoren berichtet würden, über dessen Zuverlässigkeit aufgrund seiner Anonymität keine Aussage gemacht werden könne. Dies gelte ebenfalls für die Bibel, welche Knoblauch, ohne sie ausdrücklich zu nennen, beschreibt: Wenn seine Leser „ein altes, hin und wieder verstümmeltes, hin und wieder erweislich verfälschtes, Buch“ fänden, das ihnen so wundersame Dinge erzähle, wie: das Licht sei eher, als die Sonne, gewesen, Eisen habe auf der Oberfläche des Wassers geschwommen, ein Hexenmeister habe Stäbe in Schlangen, und Schlangen in Stäbe, alles Wasser eines grosen Stromes in Blut, und eine Frau in eine Salzsäule, Staub in Läuse, verwandelt, ein Esel habe geredet, einige Priester hätten mit ihren Widderhörnern die Mauern einer belagerten Stadt über den Haufen posaunet, Tode wären wieder lebendig geworden, ein Weissager sei in einem feurigen Wagen, von feurigen Rossen gezogen, gen Himmel gefahren – – wenn ihr all’ diese Sächelchen in einer alten Urkunde läset, würdet ihr diese Thorheiten darum glauben, weil – sie geschrieben stehen?363
In darauffolgenden Jahr betonte Knoblauch in seinem schmalen Buch Ueber Feerei. Auch ein Beitrag zu den Theorien des Wunderbaren, dass ausnahmslos alle Bücher Menschen als Urheber hätten – auch wenn die Autoren des „ehrwürdigsten aller Bücher“, der Bibel, „vom Geiste Gottes getrieben“364 worden seien. Dennoch seien sie Menschen gewesen und man könne „kein einziges Buch aufweisen, welches von einem Engel, oder Dämon entweder eigenhändig geschrieben, oder einem Menschen in die Feder diktirt worden wäre“.365 Wie im Bezug auf Wunderzeugen seien Menschen auch als Autoren von Büchern nie unfehlbar, sodass es nie ein unfehlbares Buch geben könnte. Dasselbe gelte für das Auslegen von Büchern: „Und wenn alle Ausleger Menschen sind, so wird es auch eben so wenig eine untrügliche Auslegerinn irgend eines in vielen Stellen dunklen Buches geben.“366 Statt der Bibel nennt der studierte Mathematiker Knoblauch am Ende seines schmalen Buches eine Ausnahme von seiner aufgestellten Regel: „Es giebt vielleicht nur Ein – in der That kleines – Buch, welches von Anfang bis zu Ende lauter sichere unzweideutige Wahrheiten enthält: die Elemente des Euklides.“367 363 364 365 366 367
Knoblauch: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 27. Ders.: Ueber Feerei. Auch ein Beitrag zu den Theorien des Wunderbaren. Berlin 1791, S. 34. Ebd., S. 34 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 35 f. Ebd., S. 36.
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Ebenfalls wendet Knoblauch beim Thema der Bibelkritik seine gerne gebrauchte Methode an, anhand des nicht-christlichen Fremden die Unstimmigkeit des Eigenen aufzuzeigen. So ließ Knoblauch 1788 einen fiktiven muslimischen Briefschreiber feststellen, dass „eine noch so einfache Moral“, die im Koran enthalten sei, keinen Beweis darstelle, „daß es ein göttliches Buch ist.“ Er stellt die Frage, weshalb die Menschen, wenn sie „ohne Inspiration die Algebra erfunden“ hätten, nicht auch „die, an sich, so einfache Moral erfinden“368 konnten. Wie in Knoblauchs Buch Ueber Feerei wird vom Briefschreiber betont, dass er, wenn er „auf eine alte bestäubte Urkunde Charaktere gemahlt sehe“, er automatisch darauf schließe, dass es sich um „Menschenmachwerk“ handle und folglich „irgend eine Hand und irgend eine Feder sie geschrieben hat.“ Dieser Hand könne man nun nicht absprechen, dass sie „noch von einem andern, ausser ihrem, Eigenthümer geführt worden ist“.369 Auch könnte man vom „blumig[en] und erhaben[en]“ Stil des Korans nicht auf dessen himmlischen Ursprung schließen, denn wir würden „[d]en Styl des Himmels“ nicht kennen. Aus diesem Grund könnten wir den Koran nur mit irdischen Stilen vergleichen. Diese seien ebenfalls „des Bombasts fähig“ und würden aber „mit großer Pracht und Majestät“ oft nur „eine Armseligkeit“ ausdrücken. Entsprechend sei es auch mit dem Koran: „[D]as viele Kindische und Alberne“ seines Inhalts, verbunden mit „der Majestät seines Styls“370 lasse höchstens den Schluss zu, dass der Stil von Gott diktiert worden sein könnte. Für den Rest des Korans könnten aufgrund seines minderwertigen Inhalts lediglich die Menschen verantwortlich gemacht werden. An dieser Stelle lässt Knoblauch seinen muslimischen Briefschreiber aus dessen Rolle fallen und begründet die Aussage, das „Paradies“ sei ein „Schlaraffenland“, das „von der Einbildungskraft, dieser mächtigen Zauberin, geschaffen“ worden sei, mit Beispielen aus dem christlichen Kulturkreis: Die Einbildungskraft habe den Menschen ebenfalls „die Apokalypse“ diktiert, sie ließ „den heiligen Tertullian eine Seele sehen“ und habe auch „Swedenborg’s Geister“371 beschworen.372 Statt sich von der Einbildungskraft irreale Dinge vorspielen zu lassen, solle man lieber „die Fabel vom Orkus den Dichtern, oder eigentlich den arabischen Mährchensamm368 [Karl von Knoblauch]: Mesrour an Al-Mamun. Ueber den Koran. In: Hyperboreische Briefe 1 (1788), S. 77–81, hier S. 77. 369 Ebd., S. 79. 370 Ebd., S. 80. 371 Ebd. 372 Emanuel Swedenborg (1688–1772) war schwedischer Forscher, Mystiker und Theosoph, der durch Visionen die Natur der Geister erkannt und verstanden haben wollte. Im deutschsprachigen Raum wurde er besonders durch Immanuel Kants 1766 veröffentlichte Kritik Trä ume eines Geistersehers erlä utert durch Trä ume der Metaphysik bekannt. Vgl. Yvonne Wübben: Der Schwärmer als Selbstbeobachter. Zur Transformation hermetischen Wissens in Karl Philipp Moritz’ Fragmenten aus dem Tagebuche eines Geistersehers (1787). In: Ursula Goldenbaum u. Alexander Košenina (Hg.): Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien. Bd. 3. Hannover 2007, S. 171–197, hier S. 171, 174.
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lern, überlassen“.373 Am Ende des fiktiven Briefes kommt Knoblauch durch Verweis auf die im 18. Jahrhundert populäre Märchensammlung Tausendundeine Nacht nochmals auf das muslimisch-orientalische Leitmotiv zurück: Statt „auf den Besiz der wunderbaren Lampe“ – und damit auf märchenhafte Erzählungen, wie die Bibel oder den Koran zu hoffen – sollten die Menschen lieber „edel, gut und gerecht seyn, den Gesezzen gehorchen, und den Menschen, wiewohl sie es oft kaum werth sind, Wohlthaten erzeigen. Wenn es Götter giebt, so können sie nur Den lieben, der an Weisheit und Güte ihnen ähnlich zu werden strebt.“374 Während sich Andreas Riem, wie gezeigt wurde, in seiner Bibelkritik sehr ausführlich mit dem Inhalt des Alten und Neuen Testaments auseinandersetzte, lehnte Karl von Knoblauch für heilig gehaltene Bücher pauschal ab. Kein Buch könne – abgesehen von Euklids Elementen – als unfehlbar angesehen werden und absolute Wahrheiten enthalten. Wie auch bei angeblichen Wunderzeugen zuerst angenommen werden müsse, dass sie sich geirrt hätten, müsse auch von einem Autoren angenommen werden, dass er Fehler mache. Wenn Knoblauch die vermeintlich bewiesene Glaubwürdigkeit der Bibel anführt, handelt es sich bei dieser Aussage entweder um eine Schutzbehauptung oder – was bei Knoblauch wahrscheinlicher ist – um Ironie: Dass ‚heilige‘ Bücher für ihn nicht mehr als Märchen enthalten, macht er durch den Vergleich mit der zur Zeit der Aufklärung wohl bekanntesten orientalischen Märchensammlung, Tausendundeine Nacht, deutlich. 3.1.2 Materialismus Auch wenn die Philosophie des Materialismus, zugespitzt auf die Annahme, dass das Universum aus Bewegung und Materie besteht, mit unserem heutigen physikalischen Wissen problemlos vereinbar zu sein scheint, trifft dies nicht umbedingt für das 17. und 18. Jahrhundert zu. Es mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, doch sorgten gerade die Erkenntnisse der Naturwissenschaft – dem Gebiet der Aufklärung schlechthin – dafür, dass materialistische Philosophen bei der wichtigen Frage nach der Entstehung von Leben gegenüber Vertretern der theistischen Schöpfungslehre in Erklärungsnot gerieten: Seit der Antike wurde mit der Urzeugungslehre bis zu ihrer Widerlegung davon ausgegangen, dass Leben aus unbelebter Materie und unter Einwirkung von Wärme durch Fäulnis und Gärung entstehen konnte. Experimente und mikroskopische Untersuchungen hatten dies jedoch im 17. Jahrhundert widerlegt. Als plausible Hypothese blieb lediglich die theistische Schöpfungslehre, welche die Entstehung von Leben als einen göttlich initiierten Vorgang beschrieb.375
373 Knoblauch: Koran (wie Anm. 368, S. 165), S. 80 f. 374 Ebd., S. 81. 375 Vgl. Schröder: Ursprünge (wie Anm. 35, S. 8), S. 296 f.
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Dennoch wurde vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermehrt auf die eigentlich unbrauchbar gewordene Hypothese der Urzeugungslehre zurückgegriffen, um die Existenz eines Schöpfergottes zu widerlegen. Somit vertraten die materialistischen Philosophen und hier vor allem Holbach in seinem System der Natur, wie Winfried Schröder kritisiert, „Positionen, die mit den Programmideen der Aufklärung unvereinbar sind, der es ja darum ging, das traditionelle Weltbild im Zeichen von Rationalität und Wissenschaft zu überwinden.“376 Indem sie die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ignorierten und bereits widerlegte Theorien aufgriffen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, vertraten sie „eine von theorieexternen Interessen geleitete pseudowissenschaftliche Position, im Grunde also eine Ideologie.“377 Neben diesem „materialistische[n] Dogmatismus“ existierte eine skeptische Ausprägung, die von Schröder als „skeptische[r] Atheismus“ bezeichnet wird. Dieser bestritt ebenfalls „die Welterklärungskompetenz des Theismus, aber er konkurriert[e] nicht mit ihm.“378 Statt eine konkurrierende Metaphysik zu postulieren, wurde von diesen skeptischen Materialisten betont, „keine metaphysischen Letztbegründungen leisten zu können“.379 Die Problematik der Entstehung des Lebens Diesem argumentativen Dilemma der Materialisten war sich Knoblauch bewusst. So lässt er einen fiktiven Briefschreiber in einem 1788 erschienenen Artikel in Wekhrlins Hyperboreische Briefe feststellen, dass alleine die Entstehung des Lebens „das Daseyn jenes großen Wesens beweise, welches man unter dem Nahmen des Weltschöpfers, Jupiters und Tjen“380 anbete. Diejenigen, „[d]ie so unglücklich sind, Atheisten zu seyn“, müssten nämlich davon ausgehen, dass „entweder die Erde, von den Einflüssen der Sonne modifizirt“, Eier ohne Huhn hervorgebracht haben müsse, oder „die Reihe der Produkte“ müsse „ohne Anfang unendlich – wie man spricht, von Ewigkeit her“ existieren. Auch wenn „[d]iese letztere Hypothese“381 auf den ersten Blick die wahrscheinlichere sei und ebenfalls „die Lieblingshypothese der Gegner der Religion“382 darstelle, widerspreche jedoch die Mathematik: „Eine wirklich unendliche Zahl und unendliche Grösse“383 sei an sich unmöglich, wie Knoblauch in seinem 1789 erschienenen Werk Skeptische Abhandlungen über 376 Ders.: Der Insipiens im 18. Jahrhundert. Aufklärung und Atheismus. In: Kronauer u. Deutsch (Hg.): Ungläubige (wie Anm. 95, S. 119), S. 249–264, hier S. 256 f. 377 Ebd., S. 257. 378 Ebd., S. 260. 379 Ebd., S. 260 f. – Ausführlicher zum dogmatischen und skeptischen Materialismus/Atheismus sowie zu den philosophischen und wissenschaftlichen Defiziten materialistischer Schriften vgl.: Schröder: Ursprünge (wie Anm. 35, S. 8), hier v. a. Kap. 6. 380 [Karl von Knoblauch]: Phädon an Kallias. Meine Genese. In: Hyperboreische Briefe 2 (1788), S. 161–165, hier S. 161. 381 Ebd., S. 162. 382 [Karl von Knoblauch]: Skeptische Abhandlungen über wichtige Gegenstände der menschlichen Erkenntniß. [Marburg] 1789, S. 21. 383 Ebd., S. 14.
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wichtige Gegenstände der menschlichen Erkenntniß unter Berufung auf Christian Wolffs (1679–1754) Philosophia prima, sive Ontologia (1730) ausführt. Eine unendliche Menge stelle die absolut größte Zahl dar, die aufgrund dieser absoluten Größe nicht mehr vermehrt werden könne. Wenn die Menschheit nun keinen Anfang habe, müsse ein Mensch eine unendliche Zahl an Vätern haben. Gleichzeitig würde sich diese Anzahl jedoch mit jedem Nachkommen erhöhen: „Ein Nachkömmling von mir, der im tausenden Glied von mir abstammet, hat tausend Väter mehr gehabt, als ich, der ich deren doch eine unendliche Menge gehabt haben soll.“384 Gegen die Annahme, dass die Menschheit schon immer existiert habe, spreche zudem die Erdgeschichte: „[I]n der Beschaffenheit unseres Globus“ ließen sich Gründe finden, die zu der Annahme führten, dass die Erde „irgendeinmal für Menschen und Landthiere unbewohnbar gewesen ist.“385 So sei die Erde beinahe komplett von Wasser bedeckt gewesen und höchstens die Gipfel der Alpen hätten, so Knoblauch, aus diesem Meer hervorgeschaut. „Damals bewohnten also Menschen und Elephanten die Fläche noch nicht, weil sie nie die Natur der Häringe gehabt haben können.“386 Da die Menschen nicht auf den aus dem Meer ragenden Berggipfeln leben konnten, müsse davon ausgegangen werden, dass es eine Zeit gegeben habe, in denen es keine Menschen gab. Die Menschen könnten, so Knoblauch, vom Himmel herabgefallen sein, „wie ehemals Götterbilder, Schilde u. dgl.“ oder sie sprangen „aus der Erde hervor, wie Schwämme“, was „die Mythologien der Griechen und Juden“387 behaupteten. Dieser Sichtweise widerspreche, dass „zur Entstehung der Schwämme“ lebendige Materie vonnöten sei – Knoblauch spricht biologisch inkorrekt von „Saamen“. Die Existenz des „Schwammsaame[ns]“ setze im Gegenzug wieder „das Daseyn der Schwämme voraus“. Knoblauch widerspricht an dieser Stelle ausdrücklich der Sichtweise des Materialisten Julien Offray de La Mettries (1709–1751): „Hätte die Erde sich selbst bevölkern können, hätte sie jene zeugende Kraft gehabt, die ihr la Mettrie zueignet, so müste sie solche noch izt haben.“ Da diese Kraft aus diesem Grund „ein Theil des nothwendigen, unveränderlichen Weltsystems“ gewesen sei, hätte die Natur sie nicht verlieren können. Man habe jedoch noch nie beobachten können, wie „eine wüste Insel Menschen aus ihrem Schoose hervortreibe[] und sich selbst“388 bevölkere. Leblose Substanzen wie die „des mineralischen Reichs“ seien nicht in der Lage, „ihren Produkten Empfindungen mit[zu]theilen“, da sie selbst keine hätten. Daher könne man ihnen auch nicht „den Ursprung der ersten Lebendigen von jeder Art zuschreiben.“389
384 385 386 387 388 389
Knoblauch: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 15, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 16, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Genese (wie Anm. 380, S. 167), S. 162 f. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. Knoblauch: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 18.
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Aufgrund dieser Überlegungen lässt Knoblauch seinen fiktiven Absender des Briefartikels von 1788 an seinen Empfänger appellieren, dieser solle sich hüten, „in die Schwächen des Atheismus zu fallen. Es bleibt dir kein Mittel sonst übrig, dir die Menschenschöpfung zu erklären, als entweder Mirakel anzunehmen, oder ovidische Verwandlungen. Eines wäre aber so verzweifelt wie das andere.“390 Deutlicher formuliert es Knoblauch im selben Jahr in einer Anmerkung: „Der erste Ursprung der Thiere bleibt für unsere Physik allzeit ein unauflösliches Problem. Alle unsere Voraussezungen gleichen den Steinen der Pyrrha, womit man keine Menschen hervorbringen kan. Die atheistische Hypothese ist baarer Unsinn. Die theistische erklärt Nichts. Sie sezt ein Wunder voraus…“391 Knoblauch verwirft folglich einerseits die widerlegte Urzeugungslehre und kritisiert diejenigen Materialisten, die sie dennoch zur Erklärung der Entstehung des Lebens anwenden. Andererseits hält er die theistische Erklärung, ein Göttliches Wesen habe die Schöpfung initiiert, aufgrund ihrer Unwahrscheinlichkeit für genauso ablehnungswürdig, da sie einem Wunder gleichkäme. Aus Sicht der heutigen Philosophie hat man im 18. und 19. Jahrhundert bis zur Entwicklung der Evolutionstheorie durch Charles Darwin (1809–1882) nicht ohne Vernachlässigung der philosophischen Redlichkeit an einem Schöpfungsgott zweifeln können, da dies die einzig plausible Erklärung zur Entstehung von Leben darstellte.392 Zu diesem Schluss kann man jedoch nur gelangen, wenn man weiß, dass Darwin im Jahr 1858 seine Forschungsergebnisse veröffentlichen wird. Für die Menschen des 18. Jahrhunderts war dies keine Option und Knoblauch ging, wie oben beschrieben wurde, realistisch davon aus, dass mit der wissenschaftlichen Erkenntnis der Frühen Neuzeit dieses Problem nicht gelöst werden könne. Da er ebenfalls keine Kenntnis darüber besitzen konnte, welche Hypothesen in der Zukunft verifiziert und welche falsifiziert würden, hinderte ihn jedoch weder eine fehlende, plausible Theorie noch der unzureichende wissenschaftliche Fortschritt am Spekulieren und der Suche nach einer haltbaren Erklärung. Entsprechend folgt in Knoblauchs Skeptischen Abhandlungen auf seine oben dargelegten Überlegungen eine Art Replik gegen sich selbst, deren „Schlüsse“ – wie er ironisch bemerkt – zwar „nur Sophistereien“ darstellen, „die der Gl[ä]ubige, seiner gutes Sache gewiß, wo nicht jedesmal widerlegt, doch mit gerechtem Stolze verachtet.“393 So antwortet sich Knoblauch auf die im vorherigen Teil gestellte Frage, „wer die ersten vernünftigen Wesen auf Erden gemacht“ habe, selbst: „Wer anders, stolzer Sterblicher! als jene Natur, die den Strohm abwärts fliessen, die Flamme steigen, den Stein fallen, die Pflanze wachsen, und die Krystalle in regelmäßige 390 Ders.: Genese (wie Anm. 380, S. 167), S. 165. 391 Ders.: Tisander an Philomedon. Ueber Virgil’s Silen. In: Hyperboreische Briefe 2 (1788), S. 43– 48, hier S. 46 Wekhrlin wiederum kommentierte Knoblauchs Anmerkung, dass die theistische Erklärung zur Entstehung des Lebens gegenüber der atheistischen Theorie die Beste darstelle. 392 Vgl. Schröder: Insipiens (wie Anm. 376, S. 167), S. 250 f. 393 Knoblauch: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 23.
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geometrische Figuren anschiessen macht?“394 Ohne zu erklären, wie dies vonstatten gegangen sein könnte und damit auch ohne eine Hypothese aufzustellen, die aufgrund ihres spekulativen Charakters nicht belegt werden kann, ist Knoblauchs Meinung nach der Ursprung des Lebens nur in der Natur zu finden. Der Mensch, der ‚stolze Sterbliche‘, stellt nach dieser Vorstellung lediglich ein „vernünftige[s] Thier“395 unter vielen anderen Tierarten dar, das zufällig mit einer besonders ausgeprägten Vernunft ausgestattet ist, statt die Krone der Schöpfung zu sein. Auch Andreas Riem beantwortet die Frage nach der Entstehung des Lebens nicht direkt, sondern betont, dass der Mensch, als „ein Theil der Erde“, den „gleichen unabänderlichen Gesezen unterworfen“ ist, denen auch alle andere Materie unterworfen sei. Da nach Riems System alles von den Naturgesetzen abhängt, kann absolut nichts entgegen dieser Gesetze geschehen. Entsprechend ist alles, was den Naturgesetzen folgt – unabhängig von menschlich-moralischen Kategorisierungen –, richtig und gut, da es schlicht nicht anders sein kann. Dies gilt auch für die „physische Beschaffenheit“ des Menschen, die hierdurch „nothwendig so [ist,] wie sie ist“: Müsste der Mensch den natürlichen Gesetzen zufolge eine andere Beschaffenheit haben, wäre dies nach Riems Ansicht der Fall. Entsprechend ist „[d]ie Construktion des physischen Menschen […] das Werk der Naturkraft“396 und unabhängig von menschlichem Willen zusammengesetzt und gebildet. – Bis zu diesem Punkt ähneln sich Riems und Knoblauchs Aussagen: Der Mensch ist wie alles andere auch ein Produkt der Natur. Daher müsse sein Ursprung in der Natur zu finden sein und dürfe nicht durch die Schöpfung erklärt werden, was einen Eingriff in die Naturgesetze bedeuten würde. Während Knoblauch jedoch mit dem Argument, man könne mit dem Stand der frühneuzeitlichen Wissenschaft zu keinen weiteren Erkenntnissen über die Entstehung und Beschaffenheit des Lebens gelangen, zu Zurückhaltung mahnt, geht Riem mit seinen Vermutungen weiter: Ein lebendiges Wesen werde durch vorhandene Keime gebildet, die in der Natur vorhanden seien. Diesen Keimen liege „eine gleiche Materie, der unconstruirte Urstof, zum Grunde.“397 Die unterschiedliche „Combinationen in der Construktion der Keime“ würde zu den unterschiedlichen Arten führen: „Der als Eichel construirte Urstof liefert einen Eichbaum, und nie eine Ceder. Der als menschlicher Keim zusammengesezte Urstof bildet einen Menschen, und kein Thier.“ Die Materie an sich sei „nicht kraftlos, […] sondern mit einer allgemeinen Kraft belebt“,398 die von ihrer Konstruktion abhänge. Dieser Keim stelle „[n]ichts anders als den Bildungstrieb der Natur aus sich selbst“399 dar. Für Riem ist 394 395 396 397 398 399
Knoblauch: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 25, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 24. Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 63. Ebd. Ebd., S. 64. Ebd., S. 226, Hervorh. i. Orig.
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der Mensch kein vernünftiges Tier neben anderen Tieren, sondern „das vollkommenste aller Wesen auf diesem Planeten“: Die Natur scheine mit ihm „das vorzüglichste aller irrdischen Wesen construirt zu haben“, wie es „in Rücksicht seines Empirismus, oder seiner höhern geistigen Natur“400 deutlich werde. Auch wenn Riem nicht ausdrücklich die Urzeugungslehre heranzieht, um seine Vorstellung von der Entstehung des Lebens zu untermauern, greift er dennoch auf Hypothesen zurück, die sich weder durch logische Schlussfolgerungen noch durch naturwissenschaftliche Nachweise belegen ließen. Wo Knoblauch keine „[s]pekulative[n] metaphysische[n] und naturphilosophische[n] Ambitionen“401 hegt, da ihm die Grenzen der wissenschaftlichen Nachweisbarkeit bewusst zu sein scheinen, geht Riem weiter und überschreitet dabei die Grenze zur philosophischen Metaphysik. Dass Knoblauch und Riem ein materialistisches Modell der Natur favorisieren, wird deutlich, da beide die Natur als ewigen „Kreislauf von Zusammensetzung und Auflösung“ beschreiben. Nach Knoblauch gehe in ihr nichts verloren: Nichts gehe niemals „in’s Nichts über“, wie auch „aus Nichts […] nie Etwas geworden“ sei. Sterbe ein Lebewesen, würden dessen „Ueberbleibsel“ zur Bildung neuer Gestalten verwendet. Auch Knoblauch vermutet, dass es „Urstoffe der Dinge“ gebe, dennoch kenne man „nicht den tausendsten Theil ihrer Eigenschaften und Kräfte“.402 Diesen Kreislauf der Natur beschreibt auch Riem: „Tod – Zerstöhrung – Vernichtung – etc.“ seien „Redensarten, die keinen Grund in der Natur für sich“ hätten, da es „im Universo“ keinen Tod gebe. Ein Körper werde lediglich umgeformt, wobei er „nichts von seiner lebendigen Eigenschaft sich anders zu construiren, und unter andern Formen lebendig zu wirken“,403 verlöre. Auch bei Riem kann Materie nicht zerstört werden: „Alles wird erhalten, und nur verändert.“404 Theodizee als Argument wider Gott Statt sich auf wissenschaftlich nicht belegbare Positionen zu stützen, ermöglichte die Frage nach der Theodizee, wie sich die Übel und das Leid, die in der Welt existierten, mit einem gütigen Schöpfer vereinbaren ließen, eine sicherere Methode, die Vorstellung eines theistischen Gottes anzuzweifeln. „Der Theismus, der den allmächtigen und allgütigen Gott als Schöpfer dieser übelbehafteten Welt auffasst, ist in sich logisch widersprüchlich.“405 Die materialistischen Philosophen standen, wenn sie die Schöpfung durch ein göttliches Wesen bezweifelten, in der Pflicht, eine alternative Theorie zu entwickeln und glaubwürdig zu belegen, was ihnen zur damaligen Zeit nicht möglich war. Bei der Frage nach der angeblichen Güte Gottes 400 401 402 403 404 405
Ebd., S. 72. Schröder: Insipiens (wie Anm. 376, S. 167), S. 263. Knoblauch: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 27. Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 36, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 37. Schröder: Insipiens (wie Anm. 376, S. 167), S. 257.
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und wie diese mit der alltäglichen Beobachtung von Übeln in Einklang gebracht werden könne, liegt die Aufgabe, Erklärungen und Belege zu präsentieren, hingegen bei der Gegenseite. So widerspricht Knoblauch in seiner in den Skeptischen Abhandlungen enthaltenen Replik seiner zuvor aufgestellten Annahme, die Erde sei nach ihrer Entstehung beinahe komplett mit Wasser bedeckt gewesen. Er kritisiert nun, dass durch diese Hypothese das Postulat, die ersten Menschen seien durch eine Schöpfung entstanden, lediglich erzwungen werden solle. Er leugnet zwar nicht, „daß es – mehr als einmal – große Ueberschwemmungen gegeben hat“: Es gebe jedoch keinen „Beweis, daß die Fluthen die ganze Oberfläche dieses Planeten aufeinmal bedeckt“406 hätten. Knoblauch ist sich sicher, dass das jetzige trockene Land einmal ein Meer gewesen sei. Genauso könne er sich aber vorstellen, dass das Land, das jetzt von Meer bedeckt ist, einmal trocken gewesen sein könnte. So könnte es sein, dass „es immer in einer, oder der andern Weltgegend, Menschen“ gegeben hätte, die „bey dem Einbrechen der Fluthen theils umkamen, theils in die höhern, und von dieser Scene der Verwüstung entfernten Gegenden sich flüchteten, die in der Folge die Pflanzschule eines neuen Menschengeschlechts geworden sind.“407 Dennoch würden bei diesen Überschwemmungen Menschen zu Schaden kommen, weshalb Knoblauch die Frage stellt, wie man „in den Trümmern einer zerstöhrten Welt, die [man] auf den Wogen des Ozeans treiben sehe, die Hand des weisen und gütigen Baumeisters erkennen“ könne, der gleichsam diese zerstörte „ehemalige Welt, um von seiner Kunst und Grösse zu zeugen, gemacht haben soll“.408 Die religiösen „Hymnen auf die Weisheit und Güte unsers Urhebers“ seien kein „Lob unseres Glücks“, sondern „mehr ein Trost in unserm Elend“. Man könne sich kein Übel vorstellen, dass nicht irgendwo schon einmal eingetreten sei: Überall in der Natur sei Kummer und Leid anzutreffen, weshalb Knoblauch die Frage stellt, wie „das Leben […] von der Güte seines Urhebers“409 zeugen solle. Man bewundere den Bau des Körpers und gibt „ihn für das Meisterstück der göttlichen Kunst aus.“ Doch Knoblauch erinnert daran, wie schnell dieser Körper krank und hinfällig werden könne: Tausend Zufälle bringen gar bald die Theile der Maschine in Unordnung. Sie stockt, und ihre angewiesenen Verrichtungen werden gestört. Bald hören sie ganz auf, und der schöne Leib, dessen Ebenmaas und Verhältnisse wir anstaunen, wird in ein häßliches stinkendes Aas, in eine Speise der Würmer verwandelt, die alle Sinne beleidigt, und uns, voll Ekel und Entsetzen, davon laufen macht.410
406 Knoblauch: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 25. 407 Ebd., S. 26 – Zu Knoblauchs Vorstellung, wie sich die Menschheit nach ihrer Entstehung – sei es durch die Natur oder die Schöpfung – entwickelt haben könnte, vgl. Kapitel 3.2.1. 408 Ebd., S. 27. 409 Ebd., S. 28. 410 Ebd., S. 29.
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Ein weiterer Widerspruch stellen auch Missbildungen dar, mit denen Kinder geboren werden. Sie seien „von der Natur mishandelte Geschöpfe“: Einige haben offenbar unnüze Theile. Andern fehlen sehr wesentliche Gliedmassen. Ein Irrthum der Natur, ein Fehler, den sie in der Bildung dieser verpfuschten Wesen beging, sezt das unglückliche Individuum ausser Stand, sich zu erhalten. Nach einem k[u]rzen und unvollkommenen Lebensgenuß zerfällt es durch die Schuld seiner Mutter in Staub.411
Für Knoblauch steht fest, dass „[d]ieses Klümpchen Asche“ eines missgebildeten Kindes, das kurz nach seiner Geburt aufgrund dieser Fehlbildungen sterben muss, „ein redender Vorwurf gegen die Weisheit und Güte dessen“ darstelle, der, wie es unter diesen Umständen scheine, „einen Theil seiner Werke mit so wenig Ueberlegung und Vorsicht gemacht“412 habe. Der christliche Gott soll seinen Anhängern zufolge, wie Knoblauch betont, „das Laster […] verabscheuen“. Daher ruft er ihnen zu, ihr Gott sei ohnmächtig, könne er die weltlichen Übel nicht verhindern. Wolle er es jedoch nicht verhindern, sollten sie aufhören, „seine Heiligkeit zu preisen“.413 Sie sollten „den Lauf der Dinge mit natürlichen gesunden Augen betrachten, und nicht durch das lügenhafte gefärbte Glas“414 der Priester. Man finde in der Natur nirgends „Spuren des Verstandes und der Weisheit“, „denen nicht eben so scheinbare Merkmale von Unüberlegtheit und Wahnsinn zur Seite“ stünden. Statt von „Güte und Vorsehung“ gegenüber seinen Wesen, müsse man stattdessen von der „Vernachläßigung der Geschöpfe“415 sprechen. Knoblauchs Erklärung, weshalb es unglücklicherweise zu Naturkatastrophen kommt, ist stattdessen simpel: Der Mensch gehe zwar „voll Stolz und Eigenliebe“ davon aus, „er sei der Herr der Welt, und Alles sei dazu geschaffen, ihm zu dienen“. Vielmehr sei er aber einem „Spiel des eigensinnigen Schiksals“ unterworfen und dadurch „der gebohrne Sklave der Verhängnisse einer unerbittlichen Natur“.416 Von dieser Tatsache zeugten die zahlreichen Überschwemmungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Viehseuchen, Missernten und daraus resultierende Hungersnöte. Hierdurch erscheint es Knoblauch, „daß die Natur ihre Geschöpfe mit eben der 411 Ebd., S. 29 f. – Da in Knoblauchs Zitat die Natur für die missgebildeten Lebewesen verantwortlich ist, wird in diesem Zusammenhang mit ‚Mutter‘ nicht der leiblichen Mutter, sondern der ‚Mutter Natur‘ die Schuld gegeben. Gleichzeitig wurde jedoch in der Frühen Neuzeit im Falle von Missbildungen ausschließlich den Müttern die Schuld zugeschoben. Sie bürgten mit ihrem Lebenswandel während der Schwangerschaft, in der schließlich der Körper des Kindes gebildet wurde, für die fehlerfreie Entwicklung, welche jedoch schon durch falsche Gedanken negativ beeinflusst werden konnte. Vgl. hierzu: Urte Helduser: Versehen und Vererbung: Zur Wissensund Diskursgeschichte der mütterlichen Imagination im 18. Jahrhundert. In: Vanessa Lux u. Jörg Thomas Richter (Hg.): Kulturen der Epigenetik: Vererbt, codiert, übertragen. Berlin u. Boston 2014, S. 165–178. 412 Knoblauch: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 30. 413 Ebd. 414 Ebd., S. 31 f. 415 Ebd., S. 32. 416 [Karl von Knoblauch]: Katastrophen. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 41–44, hier S. 41.
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Gleichgültigkeit zerstört, womit sie dieselben hervorbringt.“417 Weder Klagen noch Bitten würden an dieser Gleichgültigkeit und am Lauf der Natur etwas ändern. Diesen Zustand des Menschen, der Natur schutzlos ausgeliefert zu sein, aber sich trotzdem selbst als ‚Krone der Schöpfung‘ und ‚Herr der Welt‘ anzusehen, verarbeitet Knoblauch ironisch in der Erzählung Monolog einer Milbe in siebenten Stockwerk eines Edamerkäses.418 Die Ansicht, der Mensch stelle das unbedingte Ziel der Schöpfung dar, ist meist mit der populären Interpretation von Leibniz’ Postulat der besten aller möglichen Welten verbunden, wonach alles in der Natur von einem Schöpfer bestmöglich eingerichtet und somit – als dessen Ziel – auf das Wohl des Menschen zugeschnitten wurde. In seiner Erzählung lässt Knoblauch eine Milbe, „eine Philosophin“, über den „Ursprung und [die] Bestimmung des Käses und der Milben“419 nachdenken. Da dieser Käse perfekt auf die Bedürfnisse der Milben ausgelegt zu sein scheint – „Wie lieblich duftet dieser Käs! Wie ambrosisch ist sein Geschmak! Wie nahrhaft diese Speise! Wie bequem meine Wohnung! Eine unermeßliche, durchaus eßbare Welt!“420 –, schließt sie auf die Wohltätigkeit desjenigen gegenüber den Milben, „der den Käs machte, ihn für Milben schuf“. Der Käse sei „der beste unter allen möglichen“, da schließlich ein besserer Käse geschaffen worden wäre, hätte es ihn nur geben können: „Warum sollte er das Vollkommene dem Mittelmäßigen nachsezen!“421 Auch außerhalb des Käses scheint für die Milbe alles auf sie ausgerichtet zu sein. Sie bewundert ‚ihre‘ Laterne, die sich bestrahlt und wärmt und welche vollkommen an die „Organisation [ihrer] Augen“ angepasst zu sein scheint: „Ja, das Licht ist um der Milben willen gemacht!“422 Daher müssten die Milben den Mittelpunkt der Welt, den „Endzweck aller Kombinationen der Welt“ darstellen: „Euch erfreuet das Licht, Euch duftet der Käs, Euch laden seine fetten Partikeln zum Genus ein.“423 Die Schlussfolgerung der Milbe reicht nach dieser Erkenntnis noch weiter: In ihrer Selbstüberschätzung geht sie soweit, dass die Natur, deren Zweck die Milben darstellen, diesen Mittelpunkt umbedingt benötige, da sie ohne ihn nicht bestehen
417 Knoblauch: Katastrophen (wie Anm. 416, S. 173), S. 42. 418 Diese Erzählung wird, wie viele andere Artikel Knoblauchs in Wekhrlins Publikationen, gerne diesem zugeschrieben, da er der Herausgeber dieser Zeitschriften war und somit auch der Einfachheit halber als deren Autor angenommen wurde. Wenn auch meist schon der Inhalt der Artikel auf die Autorschaft Knoblauchs hinweist, wird zudem in der Zeitschrift Das Graue Ungeheur in zwei getrennten Registern aufgeschlüsselt, welche Artikel die des ‚Ungeheurs‘ sind und damit auf Wekhrlin zurückgehen und welche einen anderen, anonymen Autor haben. Zwischen der achten Ausgabe von 1786 und der zwölften und letzten Ausgabe des Ungeheurs von 1787 stammten die meisten anonymen Artikel von Knoblauch. 419 [Karl von Knoblauch]: Monolog einer Milbe in siebenten Stockwerk eines Edamerkäses. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 88–91, hier S. 88. 420 Ebd., S. 88 f. 421 Ebd., S. 89. 422 Ebd. 423 Ebd., S. 90.
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könne. Daher müssten die Milben „zu den erhabensten Aussichten bestimmt“424 sein, von denen der Käse quasi nur der Anfang dieser Existenz darstelle: Sie beginnt von der „Natur der Käse, welche sie künftig bewohnen, und zum Theil essen würde“, weiszusagen und diese anhand der „unzählichen, wie sie meynte, unumstößlichen, Grundbegrifen der Milbenmetaphysik zu demonstriren“, als sie, „um ihr eine langwührige Reihe Syllogismen zu erspahren“, schließlich gegessen wird: „Man sagt, sie habe noch zwischen den Zähnen des Würgers behaubtet, ihre Erhaltung, ihr Wohl sey der Endzweck der Natur.“425 Nicht nur, indem Knoblauch derartig philosophische Gedanken einer Milbe zuschreibt, sondern auch durch ihr abruptes Ende stellt Knoblauch die Ironie der menschlichen Selbstüberhöhung kritisch in den Vordergrund seiner Erzählung: Der religiöse Mensch, der sich als die Krone der Schöpfung verstehen möchte, bildet sich wie die Milbe auf ihrem Käse ein, alles sei nur für ihn geschaffen worden. Selbst im Angesicht der eigenen Vernichtung ist er bereit, diese Ansicht aus voller Überzeugung zu postulieren. Andreas Riems ‚reinerer Materialismus‘ Während Knoblauch sowohl den Christen vorhält, ihr angeblich gütiger Schöpfer lasse Naturkatastrophen zu als auch vehement die Annahme verurteilt, der Menschen sei die ‚Krone der Schöpfung‘, zu dessen Nutzen die Natur allein erschaffen wurde, betrachtet Andreas Riem dieses Thema von einer anderen Perspektive. Die Natur entferne sich seiner Meinung nach „selbst bey Hervorbringung von Mißgestalten, nicht vom Geseze der Weißheit und der Ordnung“. Indem Riem das Gesetz der Natur absolut setzt, dessen sich nichts entziehen oder widersetzen kann, postuliert er quasi durch die Naturgesetze die beste aller möglichen Welten. Wenn sich nichts entgegen der Naturgesetze entwickeln kann oder es niemandem möglich ist, gegen sie zu handeln, gilt dies auch für Missbildungen und Naturkatastrophen: Da Erstere auf eine bestimmte Art und Weise entstanden seien, sind sie für Riem nach den „Gesezen der Natur und in ihr vorhanden“. Eine „bessere Gestalt“ – dies bedeutet in diesem Fall: eine Gestalt ohne Missbildungen – hätte unter diesen Umständen „eine Unvollkommenheit in der Natur, d. i. ein Wunder voraussezen“ müssen, da die Natur schließlich „etwas gegen ihre Geseze oder sich selbst“426 getan hätte. Gleiches gilt für Naturkatastrophen: Aus unserer subjektiven Sichtweise würde es ein ungeheures Unglück darstellen, „[w]enn zum Beyspiele Lissabon, Messina oder sonst eine Gegend vom Erdbeben verschlungen oder zertrümmert“427 werden. Würden wir hingegen alle Ursachen und Wirkungen des natürlichen Verlaufes kennen, die zu diesem augenscheinlichen Unglück geführt hätten, kämen wir zu einem anderen Schluss: „[W]ürden wir in allem, es sey noch so verheerend in seinen Momenten, 424 425 426 427
Ebd. Ebd., S. 91. Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 223. Ders.: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 357.
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die bildende Hand der ewigen Weisheit, den festen Gang von unveränderlichen, festen Naturgesezzen gewahr werden“, wären die Menschen daher eher „zum Tadel befugt […], wenn Länder und Städte Nicht untergiengen, sobald der ordnende Lauf der Naturgesezze es“428 erfordere. Diese Aussage Riems mutet auf den ersten Blick hochgradig fatalistisch an, ist jedoch in seinem philosophischen System begründet. Wie in den vorangehenden Kapiteln gezeigt wurde, sprach sich Riem deutlich gegen andere Religionen und besonders gegen das Christentum aus. In der Einleitung des Reinen Systems stellt er fest, er „habe bisher niederzureißen gesucht die Religionssysteme, die blos dem Eigennutz der Menschen schmeicheln, die seine Hoffnungen täuschen, sein Vertrauen misbrauchen und die großen Probleme der Harmonie zwischen Tugend und Glückseligkeit im Dunkeln“429 ließen. Da das Christentum keinen „innere[n] Gehalt[]“ habe, zudem voll an „Irrthümern“, schädlichen Lehrsätzen und verderblich „für Moralität ächter Art“,430 lässt er sich ebensowenig als Neologe bezeichnen, welche schließlich das Christentum als bessere aufgeklärte Religion definierten. In seinem Artikel Religion und Gefühl in Andreas Riems Schrift: Reines System der Religion für Vernünftige (1793) schreibt Dirk Fleischer, Andreas Riem habe „auf der Grundlage eines reineren erkenntnistheoretischen Materialismus eine Vernunftreligion“431 vertreten, welche deutlich vom englischen Deismus beeinflusst sei. Dies ist dahingehend richtig, dass Riem bei der Beschreibung seines philosophischen Systems durchgehend von der reinen Religion spricht, die jedoch keinesfalls eine deistische Vernunftreligion darstellen soll: Diese Bezeichnung ist vielmehr – zusammen mit dem Begriff der reinen Theologie – eine der beiden zentralen Bestandteile seines Reinen Systems der Religion materialistischer und spinozistischer Prägung. Riems Kritik an den monotheistischen und besonders der christlichen Religion führte nämlich keineswegs, wie meist der Fall war, zu einem deistischen Glaubensbekenntnis. Auch gegen diese „Religion der neuern Moralphilosophen“ sprach sich Riem aus, da diese zwar die „Unabhängigkeit des moralischen Menschen“ lehrten, „von [den] Geboten Gottes“ sowie „von eigner Gesezgebung“ sprechen und „Gehorsam von Gott“ fordern. Gleichzeitig stelle der Deismus Gott jedoch als machtlosen Gesetzgeber dar, der nicht in der Lage sei, diese Forderungen auch durchzusetzen. Dem Menschen werde „das Bestreben zu einem ewig unerreichbaren Ideal zur Pflicht“ gemacht, ohne, dass er es je erreichen könne und schlage „dadurch den Muth nieder“.432 Ein wichtiger Bestandteil seines Systems bleibt – trotz seiner Ablehnung des Deismus – der Begriff Gott. Unterstellt man Riem ein christlich-theologisches Gottesbild, so erscheint es tatsächlich mystisch,433 wenn er – aus dem Kontext herausgerissen – 428 429 430 431 432 433
Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 358. Ebd., S. 3. Ebd., S. 3 f. Fleischer: Religion und Gefühl (wie Anm. 348, S. 71), S. 207. Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 4. Vgl. Fleischer: Religion und Gefühl (wie Anm. 348, S. 71), S. 219.
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das religiöse Gefühl in Bezug auf Gott als „[t]iefes Gefühl grenzenloser Ehrfurcht“ beschreibt, das man im Herzen fühle, „wenn du ihn denkst: der überall und jeden Augenblick dir nahe [ist].“434 Bettet man dieses Zitat jedoch in seinen Zusammenhang ein, lässt sich ein pantheistisches Gottesbild erkennen, das Gott mit der Natur und ihren Kräften beziehungsweise dem gesamten Universum gleichsetzt.435 Die Gottheit als allgemeine Kraft des Alls ist nach Riem „[a]llenthalben wo Kraft, wo Leben, Bewegung, Wachsthum, Empfindung oder irgend eine Eigenschaft sich finden, wodurch die Erhaltung des Ganzen und seiner Theile sich darstellt – allenthalben ist sie gegenwärtig.“ Gott, die allgemeine Kraft, lasse sich sowohl auf unserer Erde als auch „[i]n Millionen Sonnen und Planeten“436 finden: „Fliehe von einem Punkt des Alls zu dem andern – du wirst sie finden, wo dein Gedanke verweilt – sehen, wohin dein spähender Blick sinkt.“437 Riems Gottes- und Naturbegriff entspricht somit der zeitgenössischen „Lehre eines Gottes, der nichts anderes als die lebendige, pulsierende Allnatur ist“ und lässt sich in ähnlicher Form im „mitunter überschwänglichen Naturenthusiasmus“ der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden, der von „der euphorischen Naturverehrung bis hin zur Naturreligiosität“438 reichte. In seiner Vorrede zum Neuen System hebt Riem hervor, es handele sich bei seiner Philosophie – trotz der deutlichen pantheistischen Gleichsetzung von Gott und Natur – nicht um ein spinozistisches System: Er wolle nicht in den Verdacht geraten, „den Spinozismus wieder aufzuwärmen“, wie es „vielleicht den Schein haben“ könnte. Stattdessen stilisiert sich Riem als Selbstdenker, der sich sein System ohne Bezug auf fremde philosophische Einflüsse ausgedacht habe, da er es „immer nicht für allzurühmlich“ hielt, „den betretenen Weg irgend eines Menschen knechtisch nachzugehen, oder andere für [sich] denken zu lassen.“439 Daneben kritisiert Riem an Spinozas System, dass dieser der Gottheit Extension gegeben und „die Körper Modificationen derselben“ genannt habe. Dies möchte Riem in seinem System wenigstens „zum Theil“ bestreiten, indem er „nachweißt, daß durch Construktion nie die Materie oder Substanz verändert werden könne“. Mit anderen Worten: Körper sind nach Riems System keine, in ihren Eigenschaften veränderte Substanz, sondern lediglich Konstrukte unveränderbarer Materie. Weiterhin, so Riem, widerspreche sich Spinoza, wenn er „den Verstand oder die Intelligenz von der Einheit der Substanz“440 trenne: Alleine auf die „Beschaffenheit der 434 Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 119. 435 Vgl. hierzu und zur historischen Deutung und Bewertung der Begriffe Pantheismus und Spinozismus: Anne Eusterschulte: Ist Spinozismus Atheismus? Die Diskussion um die atheistischen Konsequenzen der Philosophie Spinozas im 17. und 18. Jahrhundert. In: Susanne Lanwerd u. Richard Faber (Hg.): Atheismus. Ideologie, Philosophie oder Mentalität? Würzburg 2006, S. 35–73. 436 Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 118. 437 Ebd., S. 119. 438 Eusterschulte: Spinozismus (wie Anm. 435), S. 69. 439 Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. I. 440 Ebd., S. II.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Construktion“ sei „Schweere, Elasticität, Elektricität, magnetische Kraft, Urtheilen, Denken, u. s. w.“441 zurückzuführen. Dass sich Riem ausführlich mit der Philosophie Spinozas und der Kritik an dieser auseinandergesetzt hatte, zeigt die Tatsache, dass er in seinem Werk wichtige Punkte dieser Kritik anspricht und für sein eigenes System zu entkräften versucht. So bemüht er sich, die aus der „naturalisierenden bzw. materialistischen Interpretation des Spinozaschen Substanzbegriffes“ entspringenden Außerkraftsetzung der „personale[n] Gott-Mensch-Beziehung“442 wiederherzustellen, indem er sein System mit theologischen Begriffen zur Beschreibung göttlicher Eigenschaften verknüpft. Auch der Vorwurf an das spinozistische System, es würde durch den „Ineinsfall von Freiheit und Notwendigkeit in Gott“443 in einen Fatalismus münden, greift Riem für seine Theorie auf und verteidigt sie gegen diesen, eigentlich an den Spinozismus gerichteten, Vorwurf. Es scheint sich daher bei Riems Insistieren, sich mit seinem System nicht auf Spinoza zu beziehen und der damit verbundenen Inszenierung als ‚Selbstdenker‘, nicht ausschließlich um stilisierende Koketterie gehandelt zu haben. Er fürchtete sich augenscheinlich nicht vor dem Vorwurf, als Atheist bezeichnet zu werden: Dieser Schluss war durch die zeitgenössische Gleichsetzung von Spinozismus und Pantheismus mit Atheismus wahrscheinlich, da die Atheismusfrage ebenfalls den „Dreh- und Angelpunkt der Diskussion“444 des sogenannten Spinoza- beziehungsweise Pantheismusstreites darstellte. Auch wenn dieser Vorwurf zu Riems Zeiten nicht mehr die gleichen strafrechtlichen Konsequenzen hatte, die er noch im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach sich gezogen hätte,445 barg er weiterhin Risiken bezüglich des gesellschaftlichen Ansehens. Gegen die Vermutung, es handele sich um eine Schutzbehauptung, spricht jedoch die Tatsache, dass Riem sein eigenes System, hätte er sich vor diesem Vorwurf ernsthaft gefürchtet, sicherlich auch nicht als „reineren Materialismus“446 bezeichnet hätte – ein Begriff, der ebenso, wenn nicht sogar stärker mit dem Vorwurf atheistisch zu sein, behaftet war. Diesem ‚selbstdenkenden‘ Anspruch entsprechend lassen sich in seinem Werk auch kaum Bezüge zu anderen Autoren – abgesehen von Immanuel Kant und das von ihm entworfene „sogenannte Moralprincip“447 – finden. So behauptet Riem auch in seinem Vorwort, ihm seien weder bei älteren noch bei neueren Philosophen Bemühungen bekannt, die „aus der Construktion die Phönomenologie [sic.] erklärt“ hätten, weshalb er sich erlaube, „diesem System den Namen eines neuen
441 442 443 444 445 446 447
Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. III. Eusterschulte: Spinozismus (wie Anm. 435, S. 177), S. 50. Ebd., S. 51. Ebd., S. 62. Vgl. Hüning: Grenzen (wie Anm. 19, S. 5), S. 219–222, 249. Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. V, Hervorh. i. Orig. Ebd.
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Systems zu geben“.448 Diese Behauptung Riems ist hingegen nicht haltbar und wohl eher seiner Selbststilisierung eines ‚Selbstdenkers‘ geschuldet, da sein ‚neues System‘ in großen Teilen den populärphilosophischen materialistisch-spinozistischen Arbeiten des späten 18. Jahrhunderts ähnelt. Außerdem griff Riem auf ebenso beliebte klimatheoretische Erklärungen zurück, um beispielsweise menschliche Unterschiede in Kultur und Phänotypik zu erklären.449 Auch grenzt sich Riem gegenüber anderen philosophischen Strömungen ab. So verfahre der Dualismus nach Descartes, den Riem als „Rationalismus“ bezeichnete und der nach seiner knappen Charakterisierung „zwey Grundwesen, Körper und Geist, oder Substanzen und Intelligenzen im Ganzen“ annehme, „inconsequent“.450 Der Dualismus sei durch „sonderbare Antinomien“ hergeleitet: Zu seinen Widersprüchen gehöre, dass „nach dem System des Rationalismus“ es der Wille Gottes sei, „daß alles, was von Menschen geschiehet, gut sey“. Da es jedoch aus subjektiver Sicht schlechte menschliche Entscheidungen gebe, stellt Riem die Frage, warum der Mensch nach der rationalistischen Annahme stärker sei „als der Wille des sonst unwiderstehlichen Allmächtigen“.451 Des Weiteren habe sein System auch nichts damit zu tun, was Riem als „gröberen Materialismus“452 bezeichnet: Es sei „kein System unzuverlässiger […] als dieses“, da in ihm „nichts dauerndes angetroffen“ werde. Im ‚gröberen Materialismus‘ sei die einzige Wirkung der Natur, „sich selbst zu zerstören“. In dieser groben Auslegung lasse sich „in den Dingen selbst“ keine „unaufhörliche und ewige Bedingungen [ihres] Vorhandenseyns“453 dieser Dinge finden.454
448 Ebd., S. IV, Hervorh. i. Orig. 449 In diesem Zusammenhang hob er auch die in der Frühen Neuzeit populäre Diätetik als „die erste und vornehmste Wissenschaft für den physischen Menschen“ (Ebd., S. 67) hervor, weil seiner Meinung nach „[j]eder zu starke Gebrauch der Nahrungsmittel […] verderblich für den Körper“ sei, da er mehr verarbeiten müsse, „als er braucht, und eben dadurch der Construktion des Körpers hinderlich wird.“ Ebd., S. 66. – Zur Geschichte der Diätetik, als Lehre zur richtigen Lebensweise, vgl. Sabine Merta: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880–1930. Stuttgart 2003 (Studien zur Geschichte des Alltags 22), S. 209–217. 450 Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. IV, Hervorh. i. Orig. 451 Ebd., S. VI. 452 Ebd., S. VIII, Hervorh. i. Orig. 453 Ebd., S. IX. 454 Diesen Materialismus als grob zu bezeichnen, ist eine interessante Parallele zu Siegmund Jakob Baumgartens (1706–1757) Bezeichnung der gröbsten Atheisten. Wie es Riem in seinem System vornimmt, verknüpften diese gröbsten Atheisten den Begriff des göttlichen Wesens mit der Natur aller Dinge, also dem gesamten Universum. Dieser „dem Ausdruck nach zugestandene Gott hat nichts mehr mit dem personalen Schöpfergott bzw. der unergründlichen Vorsehung des transzendenten Gottes der christlichen Eschatologie gemein.“ Eusterschulte: Spinozismus (wie Anm. 435, S. 177), S. 49. Sich ebenfalls abgrenzend spricht Adam Weishaupt in seinem Werk Ueber Materialismus und Idealismus auch von einem gröberen Materialismus, zu welchem lediglich „[s]ehr mittelmäßige Verstandeskräfte […] hinreichend“ waren, um „dieses System zu erfinden“ (Adam Weishaupt: Ueber Materialismus und Idealismus. Nürnberg 1787, S. 9).
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Das materielle Ganze, „[d]as Universum als Gott, nach Grundsätzen“ von Riems ‚reinem Materialismus‘ enthalte hingegen die „Ursache seiner Existenz […] in sich selbst“, womit „schlechthin-nothwendig“ die gesamte Natur „als Urwesen selbst angesehen werden“455 müsse. Ein geisterartiger, ewiger und von der Materie getrennter Schöpfergott könne das Universum und die Erde nicht geschaffen haben, da das Denken, durch welches sich ein Geist auszeichnet, nicht unabhängig von der Materie existieren kann: Denken setzte sich Riems Ansicht nach aus Ideen zusammen, welche wiederum nur durch die Erfahrung von realen, also physischen Dingen entstehen können.456 In dieser Hinsicht könne es, so Riem, auch keine Schöpfung des Universums gegeben haben, wie es das „gewöhnliche[] System der Metaphysik“ bzw. deren „Trennung der intelligiblen Welt von der materiellen“ annehme: Materie als endlich anzunehmen und „den ewigen Verstand“, der für die Weltschöpfung zuständig gewesen sein soll, als unendlich, ginge an der „Bemerkung vorbey, daß die Existenz ohne Beziehung“ auf eine real existierende Sache „grade nichts weiter als den Begrif der ‚Nichtexistenz‘ in sich fasse.“457 Ein Schöpfergott als „ewige[r] Verstand“ habe nicht bis zum Zeitpunkt der Schöpfung – „eine Unendlichkeit hindurch“ – ohne jegliche Vorstellungen als „bezuglose Idee“ existieren können. Diese „bezuglose Idee“ hätte auch nicht die Möglichkeit gehabt, plötzlich „die Materie oder das Reale“458 aus dem Nichts zu erschaffen. Nicht einmal der Gedanke ‚Ich bin‘ wäre nach Riem vor der Schöpfung möglich gewesen: „Denn es ist dem Verstand ungedenkbar, ohne Beziehung auf etwas Reales die Idee einer realen Existenz fassen zu können, da eine Idee nie eine Sache selbst, sondern nur die Vorstellung einer Realität seyn kann.“459 Mit der Annahme der Schöpfung würde der Deismus einerseits „der Gottheit ungebührliche Grenzen“ setzen: „Er removirt in ihr die Ideen der höchsten Vollkommenheit, und schränkt ihre Aeusserungen auf den Punkt einer geringen Existenz in der Zeit ein.“460 Andererseits enthalte ein göttliches Wesen im Sinne des Deismus, aber auch des Christentums, das vor allem Körperlichen existiert und ebenfalls für die Schöpfung dieser körperlichen Welt verantwortlich gewesen sein soll, den Widerspruch, „daß etwas seyn könne, ohne zureichenden Grund und ohne zu sein.“461 Durch die Gleichsetzung von Gott und Materie erübrige sich dieser Widerspruch und die ungebührende Beschränkung göttlicher Macht, die sich aus einer Trennung von Geist und Substanz ergebe: Durch den ‚reinen Materialismus‘ könnten dem „Universo als Materie“ alle göttlichen Eigenschaften, „Allwissenheit,
455 Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 137, Hervorh. i. Orig. 456 Wobei es natürlich auch möglich ist, sich Zukünftiges, d. h. noch nicht reale Dinge, zu denken, wobei dies durch Konstruktion oder Analogie geschieht. Vgl. ebd., S. 86. 457 Ebd., S. 84. 458 Ebd., S. 84 f. 459 Ebd., S. 85. 460 Ebd., S. 137. 461 Ebd., S. 85 f., Hervorh. i. Orig.
3.1 Philosophie versus Religion
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Alweißheit, Allgegenwart, Ordnung, Zweck usw.“462 zugeschrieben und nachgewiesen werden. Statt wie der ‚gröbere Materialismus‘ lediglich davon auszugehen, dass in der Natur ausschließlich und stetig zerstört werde, beschreibt Riem eine Materie, die einer ständigen Veränderung der Konstruktion ihrer Teile, aus denen sich das gesamte All zusammensetze, unterworfen sei. In Relation zur angenommenen Unendlichkeit der Materie – was bedeutet, dass ohne Anfang und Ende diese Veränderung als ewig anzusehen ist –, könne „alles Mögliche zum Objekt der Construktion“463 werden: Wenn eine unendliche Zeitspanne zu Verfügung steht, in der alles durch Materie konstruiert werden kann, was möglich ist, kann es auch konstruiert werden – und sei es noch so unwahrscheinlich. Diese Tatsache wird von Riem mit dem theologischen Begriff der Allmacht verbunden. Da alles aus Materie besteht, ist die Natur – und damit Gott – ebenso allgegenwärtig. Wenn zudem alles nach der absoluten Ordnung der Naturgesetze geschehe, von denen nichts im Universum abweichen könne, und deren Ursache in der Natur liege, zeuge dies von der Allwissenheit der Natur, beziehungsweise der „Weisheit Gottes“: Selbst in den „Trümmern zusammenstürzender Reiche“ und auch „mitten in der Zerrüttung der Anarchie“ könne man „den Saamen der Ordnung“ sowie Vernunft und Zusammenhang erkennen, „der nach allweisen Gesezzen Staten und Gesezze bildet, und ihnen neues Leben und neue Existenz giebt.“ Aus dieser Sichtweise sei nichts „überflüssig, und alles an seinem Orte.“ Auch ein beobachteter „Widerstreit in der Natur“ ist nur ein scheinbarer, da er letztendlich nur „zum großen Zwecke“464 wirke. Hierdurch ergebe sich „höchste Vollkommenheit“, die nicht darin bestehe, „daß alles auf einerley Art sey, sondern daß alles auf alle mögliche Art sey“ und gleichzeitig auf den Zweck entgegenlaufe, „daß alles gut sey.“465 Unter diesen Umständen wird auch deutlich, wie Riem zu der fatalistisch wirkenden Einschätzung kommen kann, selbst Naturkatastrophen seien niemals schlecht, da sie vollkommen den Gesetzen der Natur entsprächen: Wenn etwas in der Natur geschieht, geschieht es nach deren absoluten Gesetzen. Sie stellen „die bildende Hand der ewigen Weisheit“466 dar, die aufgrund ihrer Gesetzmäßigkeit aus absoluter Sicht nie falsch sein können. Entsprechend verhalte es sich auch mit menschlichen Taten: Da im „großen, unermeßlichen Ganzen […] kein Atom“467 existiere, das nicht „sein heiliger guter Wille […] zu seinem Besten bestimmt hätte“, sei erst recht nicht der Mensch in der Lage, sich den Naturgesetzen zu widersetzen. Daher könne es auch keine „Irrthümer, […] Fehler, Nichts – ganz Nichts“ geben, das „ihn unzufrieden machen [könnte] mit 462 463 464 465 466 467
Ebd., S. 136. Ebd., S. V, Hervorh. i. Orig. Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 351. Ders.: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 208, Hervorh. i. Orig. Ders.: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 358. Ebd., S. 376.
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uns“.468 Mit anderen Worten: Wenn der Mensch als Wesen der Natur nur im Sinne der natürlichen Gesetze handeln kann, ist er nicht in der Lage, etwas zu tun, was der Natur, also Gott, widersprechen könnte. Hierdurch ist der Mensch unfähig, Gott zu beleidigen, genauso, wie es keine Tat gibt, durch die die Natur beleidigt werden könne. Diese Unverletzbarkeit natürlich-göttlicher Gefühle bezeichnet Riem als die „Heiligkeit Gottes“469 In groben Zügen folgte Riems philosophisches System den gängigen Argumentationsmustern der damaligen Zeit – auch wenn er selbst Gegenteiliges behauptete. In seiner Gleichsetzung von Gott mit der Gesamtheit aller Einzeldinge entspricht sein Materialismus einer „materialistisch verkürzte[n] Interpretation“ von Spinozas Ethik, wie sie „in der Aufklärung häufig anzutreffen ist.“470 Indem er seine Vorstellung der Eigenschaften der Materie mit gängigen theologischen Begriffen, wie beispielsweise Heiligkeit, Vollkommenheit, Allmacht und Allwissenheit, verknüpft, möchte er einerseits diese bekannten Begriffe mit einer neuen, materialistischen Bedeutung belegen. Andererseits kann dies auch als Versuch gewertet werden, sein System durch die akzeptierten theologischen Begriffe zu legitimieren: Indem er von einem Gott ausgeht, der zwar nicht wie in der klassischen christlichen Theologie aus einem immateriellen und außerweltlichen Geist besteht, aber sich dennoch durch die aus diesem Bereich bekannten Begriffe charakterisieren lässt, kann er an die akzeptierte Lehre anknüpfen. Vermutlich erhoffte sich Riem, dass seine materialistische Philosophie durch die Verbindung mit der vertrauten Begrifflichkeit nicht direkt abgelehnt würde. Karl von Knoblauch: Zwischen Spinozismus und Materialismus Es scheint, als hätte auf Karl von Knoblauchs philosophisches System Baruch de Spinoza den größten Einfluss gehabt. So argumentiert er jedenfalls in seinen 1790 erschienenen Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos, wie es Falk Wunderlich ausdrückt, geradezu „in an orthodox Spinozistic fashion“.471 Knoblauch führt ganz im Sinne Spinozas aus, dass es nicht mehr als eine Substanz geben könne, deren Begriff nur bestimmte, unveränderliche Merkmale enthalte: Substanz könne „nicht Einmal diese, ein Andermal jene Merkmale“ besitzen und „[e]in Ding, dem nicht alle darin
468 469 470 471
Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 377. Ebd., S. 372, Hervorh. i. Orig. Schröder: Einleitung (wie Anm. 88, S. 118), S. XXXI. Wunderlich: Materialism (wie Anm. 198, S. 47), S. 13 – Da es sich bei dieser Dissertation um eine historische Arbeit handelt, ist es mir nicht möglich, Knoblauchs Materialismus und Spinozismus en detail zu bewerten und in die philosophische Forschung einzuordnen. Hierzu kann MarisBrigitta Schröder u. Manfred Lauermann: Textgrundlagen der deutschen Spinoza-Rezeption im 18. Jahrhundert. In: Hans-Christian Lucas u. a. (Hg.): Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Spekulation und Erfahrung II,44), S. 39–83 (und auch die anderen Artikel desselben Sammelbandes) dienen, welche auf die frühneuzeitliche Spinoza-Rezeption eingehen und in diesem Zusammenhang auch auf Knoblauch verweisen. Vgl. ebd., S. 81 f.
3.1 Philosophie versus Religion
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enthaltene, oder etwas andere, Merkmale zukämen, wäre keine Substanz.“472 Die in der Natur existierenden Individuen stellten lediglich eine „Differenz der Modifikationen“ dar, lediglich „Arten zu sein (Modi) einer und derselben Substanz.“473 Die eine Substanz könne nicht von einer anderen Substanz hervorgebracht worden sein, da zwei Substanzen – um verschieden zu sein – komplett unterschiedliche Eigenschaften besitzen müssten. „Hätten sie aber nicht einerlei Eigenschaften, so hätten sie auch nicht einerlei Wesen. Folglich hätte wenigstens eine von ihnen das Wesen der Substanz nicht, d. h. sie wäre keine Substanz.“474 Von zwei Dingen, die keine Gemeinsamkeit besitzen, könne nicht das eine die Ursache des anderen darstellen. Sie könnten sich aufgrund ihrer grundverschiedenen Eigenschaften nicht einmal gegenseitig erkennen. Da nun nichts als die Substanz existiere, die von keiner anderen Substanz hervorgebracht worden sein kann, folgt daraus, „daß die Substanz gar nicht herfürgebracht, also – ewig, unabhängig, selbstständig, nur in sich selbst gegründet, mithin nothwendig, und das Erste oder vorderste sei, was allem Andern zu Grunde liegt.“ Seine Aussage bringt Knoblauch knapp auf den Punkt: Die Substanz „ist die Basis aller Möglichkeiten.“475 In seiner Beschreibung der Eigenschaften der Substanz bleibt Knoblauch – im Gegensatz zu Riem – philosophisch neutral: Substanz ist bei ihm – ganz trocken – „der Grund, die Basis alles Werdens, aller Herfürbringung.“ Da sie von keiner anderen Substanz hervorgebracht wurde und dadurch keine Ursache besitzt, ist sie „ein unabhängiges, wesentliches Sein.“476 Hierdurch, da sie keinen Anfang und kein Ende hat, weil dies eine Einschränkung bedeuten würde und etwas anderes (das es nicht geben kann) der Grund dieser Einschränkung sein müsste, ist Substanz nur „als unendlich, denkbar.“477 Während sich Knoblauch in seiner philosophischen Argumentation der Nachtwachen streng auf die Darlegung der Philosophie Spinozas konzentrierte, scheint er sich parallel auch für andere physikalische Theorien und Hypothesen interessiert zu haben. In den Jahren zwischen 1790 und seinem Tod 1794 verschiebt sich jedoch seine Überzeugung, sodass er ein eher materialistisches, statt eines spinozistischen Systems für wahrscheinlich erachtet. Hierfür gibt es mehrere Anhaltspunkte: So erklärt Knoblauch in seinem – wie die Nachtwachen – 1790 erschienenen Werk Beitrag zur Erläuterung einiger mathematischen, ontologischen und philosophischen Wahrheiten und den, im Jahr zuvor erschienenen Skeptischen Abhandlungen über wichtige Gegenstände der menschlichen Erkenntniß sein Verständnis der Geometrie: „Der physische Körper, welcher Länge, Breite, und Dicke hat, und von allen Seiten be472 473 474 475 476 477
Knoblauch: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 13, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 14, Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd., S. 15, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 16, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 18, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
grenzt ist“,478 wird zusätzlich durch die ihm wesentliche Eigenschaft der Undurchdringlichkeit charakterisiert. Ein geometrischer Körper ist – bis auf die fehlende Undurchdringlichkeit – diesem physikalischen Körper identisch, da er ebenfalls „drei Dimensionen, und, Schranken hat, d. h. dessen Ausdehnung von allen Seiten begrenzt ist.“ Knoblauch betont, dass ein solcher geometrischer Körper lediglich „in der Idee vorhanden ist“,479 also ein imaginiertes Ding darstellt. Es verhält sich zum mathematischen Raum, „der als völlig grenzenlos gedacht wird, wie sich der physikalische Körper zur Materie verhält.“ Genauso wie der physikalische Körper nach spinozistischer Sichtweise eine Modifikation der Substanz darstellt, ist der geometrische Körper eine Modifikation des Raumes und „unterscheidet sich von“ diesem „durch seine allseitige Begrenzung.“480 Wird von einem dreidimensionalen Körper eine Dimension entfernt, erhält man eine Fläche, die durch Linien begrenzt wird. Durch Entfernen einer weiteren Dimension wird die Fläche zur Linie, die an ihren jeweiligen Enden durch Punkte begrenzt wird. Nun betont Knoblauch, dass ein Körper nicht durch das Aufeinanderlegen von Flächen erzeugt werden könne: „Denn entweder bleiben sie etwas von einander entfernt, oder nicht.“481 Im ersten Fall erhalte man Knoblauchs Ansicht nach zwischen beiden Flächen lediglich einen leeren Raum. Dieser Raum werde zwar von beiden Flächen begrenzt, aber es werde dadurch kein neuer dreidimensionaler Körper gebildet. „Im anderen Falle, wenn nemlich die Flächen auch nicht den allerkleinsten Abstand von einander behalten sollen, fallen sie alle in einander, d. h. sie bilden nur eine Fläche, keinen Körper.“ Gleiches gelte für Linien: Wenn man sie aneinanderreiht, könne aus ihnen niemals eine Fläche entstehen, genauso wie zusammengesetzte Punkte niemals eine Linie ergeben könnten. Diese geometrischen Überlegungen, welche in den Skeptischen Abhandlungen von 1789 mit „Beweis, daß jedes Körpertheilchen einen Raum einnimmt“482 überschrieben sind, richtet sich gegen die Monadenlehre Gottfried Wilhelm Leibniz’ in der Auslegung Alexander Gottlieb Baumgartens (1714–1762).483 1790 fällt Knoblauchs Kritik sehr knapp aus, bringt jedoch seine Meinung ohne Umschweife auf den Punkt: „Was Baumgarten in seiner Metyphysik von Punkten, Linien, Flächen, u. d. lehrt, ist in den Augen des ächten Mathematikers baarer Unsinn.“484 Diese Kritik erläuterte Knoblauch in den Skeptischen Abhandlungen etwas näher. Neben Basedows Argumenten aus dessen Knoblauchs Ansicht nach „zu frühe ver478 479 480 481 482 483
Knoblauch: Erläuterung (wie Anm. 313, S. 66), S. 17, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 18, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 19, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 20, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 5. Vgl. Dagmar Mirbach: Die Rezeption von Leibniz’ Monadenlehre bei Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Hanns-Peter Neumann (Hg.): Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung. Berlin u. New York 2009, S. 271–300. 484 Knoblauch: Erläuterung (wie Anm. 313, S. 66), S. 24, Hervorh. i. Orig.
3.1 Philosophie versus Religion
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gessenen Philalethie“,485 ist für Knoblauch vor allem ausschlaggebend, dass Leibniz die Monaden als kleinste, nicht mehr teilbare Substanzteilchen verstand, die jedoch keine Ausdehnung besäßen. Knoblauch kritisiert: „Wann aber Ausdehnung von keiner einzigen Substanz prädicirt werden kann, so ist sie eine Beschaffenheit, die keinem möglichen Dinge je zukommen kann, also – etwas an sich unmögliches.“486 Genauso, wie aus vielen Punkten keine Linie, aus vielen Linien keine Fläche und aus vielen Flächen kein Körper entstehe, könne nie aus unausgedehnten, körperlosen Monaden etwas Undurchdringliches und Körperliches entstehen. Von ausgedehnten Dingen hätte man eine sichere Erfahrung und könnte sie sich daher vorstellen. „Kann das Ausgedehnte gar nicht existiren, so denken wir lauter Nichtse, Dinge, die weder möglich noch wirklich sind, und eben daher auch nicht vorstellbar seyn müßten.“ Stattdessen könne man, wie Knoblauch 1789 anmerkt, „Grundtheile der Körper vermuthen“, die nicht mehr durch eine „natürliche Kraft zertrennt werden“ könnten, „und deren jedes für sich irgend ein Räumlein von uns unbekannter Größe und Figur“487 einnehme. Es ist für Knoblauch also unvorstellbar, dass ein materieller Körper durch die Zusammensetzung immaterieller Teilchen entstehen könnte. Von dieser Sichtweise und seiner Kritik war Knoblauch spätestens im Jahr 1794 in seinem letzten Werk Ueber einige Grundbegriffe der Ontologie, Kosmologie und Grössenlehre. Ein philosophischer Kommentar von einem Eklektiker abgerückt: In einem ebenfalls die Geometrie thematisierenden Kapitel schrieb er nun, dass es möglich sei, dass „aus unausgedehnten physischen Punkten, durch ihre Verbindung, ausgedehnte physische Linien, Flächen, Körper, entstehen können, und wirklich“488 entstünden. Ebenso sei es möglich, dass „aus unausgedehnten geometrischen Punkten, ausgedehnte geometrische Linien, Flächen und Körper“489 gebildet würden. In einer Anmerkung fügt er hinzu, man solle ihm „hier nicht die Gründe entgegen[setzen]“, die auch die Mathematiker Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800) und Johann Andreas von Segner (1704–1777) vorbrachten: Diese und andere hätten „die Zusammensetzung der geometrischen Linie aus Punkten u. s. f. bestritten“. Dieser Ansicht habe auch er selbst, wie er selbstkritisch ergänzt, „in einer kleinen Broschüre“490 beigestimmt. Auch von Spinoza ist in seinem späten Werk an dieser Stelle keine Rede mehr. Stattdessen belegt Knoblauch seine Aussagen mit ausführlichen Verweisen auf die 1789 von ihm noch vehement abgelehnte Metaphysik Baumgartens und die Aetiologie seines Freundes Georg Friedrich Werner. So gibt es aus Knoblauchs Sicht nicht 485 Ders.: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 9 – Knoblauch meint Basedows Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung, Altona 1764. 486 Ebd., S. 10, Hervorh. i. Orig. 487 Ebd., S. 11, Hervorh. i. Orig. 488 Knoblauch: Grundbegriffe (wie Anm. 251, S. 55), S. 15, Hervorh. i. Orig. 489 Ebd., S. 15 f., Hervorh. i. Orig. 490 Ebd., S. 16.
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mehr nur eine Substanz, sondern mehrere: „Alle Substanzen“, so beginnt er seine Darlegung, seien „einfach, und mithin untheilbar“, was so viel heiße, dass sie keine anderen Teile besäßen. Die Aussage, der Knoblauch 1789 noch widersprochen hatte, ist nun Bestandteil seiner Theorie: „Mithin ist jede Substanz unausgedehnt“,491 da Ausdehnung mit sich bringe, dass man etwas teilen könne. Eine dieser vielen möglichen einfachen und unausgedehnten Substanzen wird von Knoblauch als Element bezeichnet, welches neben der Einfachheit als weiteres wesentliches Merkmal auch Kraft besitze. Genauer: „Substanz ist Kraft.“ Ein Element stelle also einen „physischen Punkt“ dar, der – trotz seiner fehlenden Ausdehnung – mehrdimensionale Objekte, physische Linien, Flächen und Körper bilden könne. Hierzu müssten sich mehrere Elemente zusammenschließen. Diese „Verbindung von mehrern Elementen“ werden von Knoblauch als „Materie“ bezeichnet. Neben der Kraft, die sie von den sie zusammensetzenden Elementen erhalte, besitze diese Materie nun Ausdehnung und stelle kein „bloß passives, aller Energie beraubtes Wesen“492 dar. Beide, Element und Körper, sind undurchdringlich, da ein physischer Punkt „jeden andern physischen Punkt von der Stelle aus[schließt], wo er sich befindet. Er widersteht also dem Eindringen eines andern Punktes, und äußert mithin Kraft.“493 Hierdurch wird deutlich, weshalb von Werner und Knoblauch die Kraft mit dem Element als identisch betrachtet wird. Die letzte wichtige Eigenschaft der Elemente und Körper ist Bewegung. In Berufung auf die Aetiologie steht für Knoblauch fest, dass „alles Handeln […] Bewegen“ ist. An dieser Stelle wird Knoblauchs beziehungsweise Werners Argumentation jedoch geradezu metaphysisch, da diese Bewegung nicht nur eine physikalische Bewegung zu beinhalten scheint: Auch „alles Leiden – welches immer ein Handeln voraussetzt – “ stelle ein „Bewegtwerden“ dar. „Dieser innere Trieb, dieses Bestreben, zu handeln, heißt, insofern es mit Gefühl seiner selbst verbunden ist, Wille.“ Knoblauch führt nicht weiter aus, was Werner seiner Meinung nach damit meinte, da dieser seinen Gedanken erst „zu beweisen angefangen“ hätte. Zudem würde Werner „in der Folge noch klärer darthun, daß alle Elemente der Materie leben und empfinden, daß sie alle Willen haben, und in dieser Rücksicht gleichartig sind.“494 Neben der Berufung auf Baumgarten und Werner zieht Knoblauch auch den kroatischen Physiker und Mathematiker Rugjer Josip Bošković (1711–1787) heran. Auch nach dessen Theorie bestehe „die Materie aus einfachen, unausgedehnten und untheilbaren Punkten.“ Diese Teile würden sich, entsprechend der Physik Isaac Newtons (1643–1727), gegenseitig anziehen. Jedoch „in der kleinsten Entfernung“, also ab einer bestimmten Nähe der jeweiligen Teilchen zueinander, würden diese nicht mehr den newtonschen Gesetzen gehorchen und sich die vormalig anziehende Kraft zu einer zurückstoßenden verändern. Aus diesem Grund könne es „zwischen zwei 491 492 493 494
Knoblauch: Grundbegriffe (wie Anm. 251, S. 55), S. 12, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 13, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 25, Hervorh. i. Orig. Ebd., Hervorh. i. Orig.
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sich nähernden Punkten nie zur Berührung, noch zur Compenetration kommen“,495 woraus Bošković die Undurchdringlichkeit der Teilchen hergeleitet habe. Ob Bošković mit dieser Theorie Recht habe, wollte Knoblauch im zweiten Teil seines Buches erörtern, zu welchem es aufgrund seines Todes nicht mehr kommen sollte. Bošković, der von Rudolf Werner Soukup als der „eigentliche Begründer einer differenzierten Einsicht in den Bau und die Funktion der Atome“496 bezeichnet wird und der mit seiner „Theorie der Wechselwirkung der Atome […] maßgeblich den englischen Chemiker und Physiker Michael Faraday (1791–1867)“497 beeinflusst hatte, wurde mit seiner Atomtheorie von Knoblauch bereits in einem 1787 erschienen Artikel ausführlich vorgestellt. Nach Ansicht Knoblauchs ist Boškovićs Gesetz der anziehenden und abstoßenden Kraft zwischen Atomen „so einfach, daß es durch eine stetige, krumme Linie, oder eine simple algebraische Formel, ausgedrückt werden“498 könne. Diese beschriebene Linie ist nach Soukup noch heute „in gültigen Lehrbüchern zur Quantenchemie“ zu finden und beschreibt „die Gesamtenergie eines Moleküls in Abhängigkeit vom Bindungsabstand“.499 Im zweiten Teil seiner Betrachtung von 1787 befasst sich Knoblauch unter anderem mit Argumenten, die gegen Boškovićs Theorie vorgebracht wurden und denen dieser selbst antwortete. So habe Bošković gegen den Einwand, man könne sich unteilbare Punkte nicht vorstellen, argumentiert, dass wir „alle unsere Ideen materieller Beschaffenheiten durch die Sinne“ erhielten. Unsere Sinne seien jedoch nicht in der Lage, „einzelne Elemente“ wahrzunehmen, „deren Kräfte allzuklein sind, unsere Fibern zu bewegen, und die Bewegung bis ins Hirn fortzupflanzen.“ Daher könnten nur die Verbindungen dieser Elemente „unsere Sinne merklich affiziren.“500 Für Knoblauch scheint Boškovićs Theorie einen gewissen Reiz ausgeübt zu haben, da er dessen Werk einen ausführlichen Artikel widmete und auch noch sieben Jahre später darauf zurückkam. Dennoch war man im 18. Jahrhundert noch weit davon entfernt, Boškovićs Ideen auch nur in Teilen zu belegen oder ihnen wenigstens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einen Wahrheitsgehalt zuschreiben zu können. Dies war auch Knoblauch bewusst, weshalb er in seinem Artikel festhält, dass alles, was Bošković geschrieben habe, „sehr sinnreich, und in gewißem Verstande wahr“ sei. Knoblauch schien jedoch „der Beweis von der objektiven Realität dieser Punkte zu fehlen“ und er sah keine Möglichkeit, wie „man sich von derselben überzeugen“ könne. Dies sei weder à priori möglich, da Boškovićs Hypothese „gänzlich auf willkührlichen Begriffen“501 beruhe: Eine Sache, die man sich mit gewissen Eigenschaf495 Ebd., S. 26, Hervorh. i. Orig. 496 Rudolf Werner Soukup: Chemie in Österreich. Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Wien 2007 (Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung 7), S. 491. 497 Ebd., S. 493. 498 [Karl von Knoblauch]: Boscowich’s Philosophie. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 30–41, 152–166, hier S. 35, Hervorh. i. Orig. 499 Soukup: Chemie (wie Anm. 496), S. 492. 500 Knoblauch: Boscowich’s (wie Anm. 498), S. 155, Hervorh. i. Orig. 501 Ebd., Hervorh. i. Orig.
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ten lediglich vorstelle, sei – außer in der Imagination – kein real existierendes Ding. Ebenfalls sei es nicht möglich, à posteriori, „durch den Weg der Erfahrung“ die objektive Realität dieser Theorie festzustellen oder „von dem Daseyn jener unausgedehnten, untheilbaren Punkte Erfahrung [zu] haben“.502 Abschließend vergleicht Knoblauch in seinem 1787 erschienenen Artikel die Theorie Boškovićs mit der Immanuel Kants in dessen 1786 erschienenen Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Auch Kant sei wie Bošković von einer abstoßenden und anziehenden Kraft ausgegangen. Die abstoßende, „[r]epulsive Kraft“ enthalte ebenfalls „den Grund der Undurchdringlichkeit.“503 Würde jedoch alleine diese Kraft existieren, so müsste sich „die Materie ins Unendliche zerstreuen“. Daher müsse eine „der ausdehnenden entgegengesetzt[e] […], d. h. anziehende Kraft“ existieren, welche nach Kant eine „zum Wesen der Materie gehörige Grundkraft“504 darstelle.505 Im Gegensatz zu Bošković sei Kant jedoch davon ausgegangen, dass „die Materie ins Unendliche“ geteilt werden könne „und zwar in Teile, deren jeder abermals Materie ist.“ Bei Bošković, der „die unendliche Theilbarkeit der Materie“ verworfen habe, sei jeder „Körper aus einer endlichen Zahl untheilbarer Punkte“506 zusammengesetzt, die „immer in kleinen Entfernungen gehalten werden.“507 Auch wenn Kants Behauptung ebenfalls „nicht empirisch erkannt werden“ konnte und daher – wie bei Bošković – auch bei ihm „die phänomenale Welt auf einem übersinnlichen Substrat“508 ruhte, gab Knoblauch „der Kantschen Vorstellungsart den Vorzug“,509 da sie ihm plausibler erschien. Letztendlich scheint für Knoblauch vor allem die Frage entscheidend gewesen zu sein, ob aus unkörperlich vorgestellten Teilchen durch eine Zusammensetzung Körper entstehen können. In diesem Punkt scheint seine Meinung deutlich von seinem Freund Georg Friedrich Werner beeinflusst worden zu sein. Wie schon zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit aus seinen Artikeln hervorgeht, setzte sich Knoblauch intensiv mit den vielfältigen physikalischen Theorien der frühneuzeitlichen Forschung auseinander. Hierbei versuchte er die verschiedenen Ansätze mit seinen persönlichen Überzeugungen, was an theoretischen Überlegungen am wahrscheinlichsten sei, in Einklang zu bringen. Als skeptischer Philosoph war ihm jedoch bewusst, dass zumindest zu seinen Lebzeiten keine der möglichen Erklärungen mit ‚objektiver Realität‘, also empirisch, nachgewiesen werden könnte. 502 503 504 505 506 507 508 509
Knoblauch: Boscowich’s (wie Anm. 498, S. 187), S. 156, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 163, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 164, Hervorh. i. Orig. Zu den Kräften in Kants Theorie der Materie, vgl.: Gian Franco Frigo: Bildungskraft und Bildungstrieb bei Kant. In: Ernst-Otto Jan Onnasch (Hg.): Kants Philosophie der Natur. Ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung. Berlin u. Boston 2009, S. 9–23, hier S. 13–15. Knoblauch: Boscowich’s (wie Anm. 498, S. 187), S. 164, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 165. Frigo: Bildungskraft (wie Anm. 505), S. 22. Knoblauch: Boscowich’s (wie Anm. 498, S. 187), S. 165, Hervorh. i. Orig.
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Bis in die 1790er-Jahre lautete seine Überzeugung, dass aus unkörperlichen Teilen keine körperlichen Objekte entstehen könnten. Wann genau Knoblauch Werner kennenlernte und ab wann er sich mit ihm auch über physikalische Themen austauschte, kann nicht bestimmt werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird dies jedoch erst nach 1790 geschehen sein. Im darauffolgenden Jahr erklärte Knoblauch in einem Artikel die Theorie der „undurchdringlich[en], aber unausgedehnt[en]“510 Elemente seines „illustren Freundes, des Herrn Ingenierhaubtmann, Professor Werner zu Gießen“511 erstmals – lange bevor überhaupt der Titel der 1792 erscheinenden Aetiologie feststand. Werner scheint Knoblauch überzeugt zu haben, dass „Ausdehnung“ ein Ergebnis von „Zusammensetzung“ und „Vielheit“ darstellt, die „dem einzelnen Element […] nicht zukommen“ könne. Hierdurch näherte sich Knoblauchs Ansicht nach Werners Darstellung der „Theorie der Elemente der Leibnizschen, Wolfischen, Baumgartenschen, und Boskowich’schen [an], ob sie sich gleich in manchen Stücken von diesen unterscheidet.“512 Weiterhin besteht für Knoblauch die Frage, woher die einfachen Elemente der Natur kämen. Er stellt fest, dass man „[w]eiter, als bis zu diese[n]“ einfachen Elementen, aus denen alles zusammengesetzt sei, „nie zurücksteigen“ könne. Diese Frage stelle „das für sich bestehende, das an sich unauflösbare, das letzte“ dar. Wenn man den Ursprung dieser Elemente nicht „aus Nichts herleiten“ wolle, müsse man „seinen Ursprung läugnen“ und „ein ewiges, unabhängiges Seyn“ annehmen. Die beiden Begriffe „des Bestehens und Vergehens“ könne man „nur auf zusammengesezte Dinge, auf Verbindungen der Substanzen, auf Formen der Materie – nicht auf die Elemente der Materie selbst“513 anwenden. Daher müsse man, wolle man mit der Entstehung der ursprünglichen Elemente keine unbelegbare Schöpfung postulieren, die Unzerstörbarkeit und folglich auch die unendliche Existenz der Elemente annehmen. So stellt er abschließend die Frage: „Sollte das, was immer seyn kann, nicht auch immer gewesen seyn? “514 Der Einfluss Werners auf Knoblauch hatte also die Folge, dass für Knoblauch die Philosophie Spinozas in den Hintergrund rückte und eine ‚materialistischere‘ Theorie, die undurchdringliche, aber dafür unausgedehnte Teilchen postulierte, für ihn wahrscheinlicher wurde. Für Knoblauch als Philosophen bereitete weiterhin die Kategorie des Unendlichen unter Verweis auf Wolffs Ausführungen Probleme. Hierdurch scheint für ihn vor allem das spinozistische Postulat einer unendlich ausgedehnten Substanz dazu beigetragen zu haben, dass er sich vom Spinozismus entfern-
510 Ders.: Apfel (wie Anm. 245, S. 55), S. 231. 511 Ebd., S. 239, Hervorh. i. Orig. 512 [Karl von Knoblauch]: Ueber körperliche und unkörperliche Substanz. In: Schleswigsches ehem. Braunschweigisches Journal 3 (1793), S. 495–499, hier S. 497, Hervorh. i. Orig. 513 Ebd., S. 498, Hervorh. i. Orig. 514 Ebd., S. 499, Hervorh. i. Orig.
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te.515 Eine Unzerstörbarkeit der Materie, was deren Existenz ins Unendliche verlängert, war für ihn hingegen akzeptabel. Eine ewig existierende Materie schien ihm wahrscheinlicher und damit einfacher zu akzeptieren als eine Schöpfung aus dem Nichts. Während sich Werner in seiner Selbststilisierung geradezu damit brüstete, bei anderen Philosophen nichts Sinnvolles gefunden zu haben und sich sowieso lieber und einfacher „ein System selbst“516 erdacht habe, versuchte Knoblauch, die Überlegungen seines Freundes in sein bestehendes philosophisches und physikalisches Weltbild einzufügen. Er erkannte – im Gegensatz zu seinem Freund – die Parallelen zu anderen bekannten Theorien, sodass er nicht einfach Werners postulierte Thesen übernahm, sondern sie in ihrer Wahrscheinlichkeit prüfte und erst nach diesem genauen Abwägen aufnahm. Seine euphorische Einschätzung von 1791, Werners „unerwartete[s], unübertreffliche[s] System“ stelle „ein[en] eben so große[n] Sieg für die Wissenschaften wie für die Menschlichkeit“517 dar, wäre möglicherweise drei Jahre später weniger überschwänglich ausgefallen – wenn auch Knoblauch weiterhin von Werners Aetiologie überzeugt gewesen zu sein scheint. Dennoch hat Werner Knoblauch wohl dabei geholfen, sich von der Vorstellung unkörperlicher, aber dafür undurchdringlicher Teilchen überzeugen zu können. Diese Veränderung in Knoblauchs Theorie, die um das Jahr 1791 stattgefunden haben muss, wird auch bei der weiteren Untersuchung seiner philosophischen Ideen zu beachten sein. 3.1.2.1 Die Seele, das Denken und das Bewusstsein seiner selbst Die Auseinandersetzung mit der Seele hatte in der Philosophie der Aufklärung einerseits aufgrund ihres zerstörerischen Potenzials gegenüber Religionen eine besondere Bedeutung: Ohne eine, die subjektive Persönlichkeit des Menschen ausmachende Seele, die den Tod des Körpers überdauern könnte, ist kein Fortbestehen dieses Individuums möglich. Andererseits wurde die Seele – unabhängig von weiteren theologischen Implikationen – mit ganz profanen Funktionen, wie beispielsweise dem Denken, in Verbindung gebracht. Während sich Johann Christian Schmohl bezüglich religiöser und philosophischer Spekulationen zurückhielt, wie im nachfolgenden Kapitel näher behandelt wird, thematisiert er unter dem Eindruck des Todes seines Freundes Johann Jakob Mochel in dessen Biographie die Frage, was es mit der menschlichen Seele auf sich haben könnte. Für ihn existieren „[i]n unsern Organen und Nerven […] tausenderley Kräfte, die in ihren Wirkungen zweckmässig in einander greifen“,518 sich gegenseitig ergänzen oder unterstützen, um so einen größeren Zweck zu erfüllen, „der nur durch die Vereinigung so vieler Kräfte erreicht werden“ könne. „Diese tausenderley Kräfte von verschiedener Stärke zu einer einzigen grossen Totalkraft zusam515 516 517 518
Vgl. Knoblauch: Grundbegriffe (wie Anm. 251, S. 55), S. 83 f. Werner: Aetiologie (wie Anm. 244, S. 55), S. X. Knoblauch: Apfel (wie Anm. 245, S. 55), S. 240. Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 239 f.
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mengesetzt, nennt man Seele, das Ich, das alles auf sich und sich auf alles in Beziehung bringt.“519 Durch dieses Zusammenspiel der verschiedensten menschlichen Kräfte werden Schmohls Ansicht nach die verschiedenen Talente des jeweiligen Menschen hervorgebracht und in ihrer Wirkungsmächtigkeit begünstigt: Je harmonischer sich diese Kräfte gegenseitig unterstützen, „desto edler heißt die Seele.“ Nicht nur durch die gegenseitige Unterstützung, sondern auch durch die eigentliche Stärke der Kräfte werde der Wirkungskreis der Seele „weitreichender und vielumfassender“, wodurch sich ebenfalls ihre „Talente, Anlagen, Genie“ vergrößerten. Die von Schmohl postulierten Kräfte, aus denen sich die Seele zusammensetzt, haben ihren Ursprung in den Organen des Menschen. Ihre Ausprägung korrespondiert mit dem Zustand der Kräfte. Sowohl Harmonie im Zusammenwirken der verschiedenen Kräfte als auch ihre Stärke an sich „hängt von den Organen ab: je feiner, stärker, vollkommner gebildet diese mit ihren Lebensgeistern sind, je besser ihre Verrichtungen von Statten gehn, und je mehr sie deren fähig und durch Uebung fertig darinn sind; desto grösser die Kräfte.“ Daher gilt auch für die Organe des Menschen: Je stärker sie sich gegenseitig harmonisch stützen, „und eins des andern Vervollkommnung fördert“,520 desto mehr Kräfte besitzt der Mensch. Für den umgekehrten Fall gilt jedoch auch, dass sich die Kräfte und Organe, statt sich gegenseitig zu verstärken, auch gegenseitig behindern und schwächen können: [W]enn die Organen, eins wider das andere stossen und kämpfen, wenn ihre Wirksamkeit wider einander gerichtet ist; wenn Disharmonie unter ihnen herrscht, so ist der Mensch lasterhaft; und die edelsten und vollkommensten Organen und Kräfte reiben sich auf, die größte Seele wird durch Zerstörung ihrer Organe mit zerstört.521
Für Schmohl scheint es, wie aus seiner Schrift hervorgeht, keine unsterbliche, über den Tod des Menschen hinausreichende Seele zu geben. Was er als Seele bezeichnet, ist das Zusammenspiel der menschlichen Organe und der daraus entstehenden Kräfte: die Sinneswahrnehmungen und das jeweilige Denkvermögen. Sie stellen die Persönlichkeit des Menschen dar, die – je nach Zusammenspiel – von Schmohl als ‚vollkommen‘ angesehen wird oder – bei Disharmonie – als ‚lasterhaft‘. Was Schmohl genau unter diesen beiden Bewertungen versteht, wird von ihm nicht ausgeführt, sodass er vermutlich auf das allgemeine Begriffsverständnis seiner Zeitgenossen rekurrierte. Es kann jedoch auch angenommen werden, dass er die Wertung der beiden Begriffe bewusst für den Leser offen lässt, da er zuvor schon die jeweils subjektive Sicht auf das, was individuell als ‚Wahrheit‘ angesehen werde, formuliert hat. Schmohls Bild des Menschen knüpft damit einerseits an gängige materialistische Ansichten seiner Zeit an und ist andererseits weiterhin mit deistischen Vorstellungen kompatibel. Die materialistische Komponente besteht in der Beschreibung des 519 Ebd., S. 240, Hervorh. i. Orig. 520 Ebd. 521 Ebd., S. 240 f., Hervorh. i. Orig.
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menschlichen Körpers als eine durch die ineinandergreifenden Organe funktionierende Maschine. Der Mensch stellt damit eine „aus so vielen komplicirten kleinern Kräften vereinte grössere Kraft“ dar, die „aus so vielen kleinern Maschinen zu einer grössern komplicirten Maschine“522 zusammengesetzt ist. Diese menschliche Maschine selbst stellt jedoch lediglich „ein Rad, ein Organon, eine Kraft in der grossen Weltmaschiene“ dar und muss daher „in die andern sämtlichen Organe und Räder dieser grossen Weltmaschiene harmonisch eingreifen“.523 Hieraus ergeben sich die Anknüpfungspunkte an den Deismus: Entsprechend der im Menschen zusammenwirkenden Kräfte, die den größeren Zweck der menschlichen Selbsterhaltung erfüllen, wirkt auch der Mensch als „Rad nun auf die Räder um sich“, um – wie es Schmohl mit einem deistischen Bild darstellt – den „grossen Zweck[]“ zu erreichen, „zu dem der Schöpfer diese ungeheure Maschine kombinirt hat.“524 Mit Blick auf seinen verstorbenen Freund wünschte sich Schmohl, dessen gesamte Persönlichkeit zu kennen. Diese Persönlichkeit beinhaltet für Schmohl „die oder jene Kraft und Tugend, Unfähigkeit und Laster seiner Seele mit der oder jener seines Leibes, im Zusammenhang aller Ursachen und Wirkungen, individuell und lokal“. Aufgrund der Komplexität dieser Zusammenhänge ist Schmohl jedoch sicher, dass dies niemals vollständig erkannt werden könne. Hierbei macht er sich sogar über die Vorstellung einer immateriellen, unsterblichen Seele lustig, die für eine gewisse Zeit mit dem sterblichen Körper verbunden sein soll: Wie könne man eine Aussage über das komplexe Wirken der einzelnen Kräfte treffen, aus denen sich die Seele zusammensetze, wenn man nicht einmal genau wisse, „was Seele ist, an welchem Zipfel sie am Körper, oder der Körper an ihr so fest angenäht worden, daß man uns in der immateriellen, unsterblichen Seele weh thut, wenn man uns in die materiellen und sterblichen Ohrlappen zwickt“.525 Statt dass unsere Persönlichkeit und unser Bewusstsein körperlos weiter existiere, meinten wir uns, so Schmohl, „selbst mit der Seele zu verlieren […], wenn man uns den Körper nehmen will.“526 Da die Seele nach Schmohls Vorstellung lediglich das Spiel unterschiedlicher Kräfte darstellt, stellt er sich die Frage, ob nicht auch „das unorganisirteste seelloseste Geschöpf, ein Mineral, ein Stein“ eine Seele besitzen könnte, die „in der Schwere, Anziehungskraft, inneren Bewegung u. s. w.“ mit seinen „Zwecken und Verrichtungen“527 korrespondiert. Nach Schmohls Vorstellung bestehen Steine „wie Pflanzen, Thier und Mensch“ aus allen vier Elementen, wobei sie „von den beiden feinern, Luft und Feuer, weniger und von den gröbern, Erd und Wasser mehr und auch gröbere Theile“ enthalten. Daher habe er ebenfalls, seinem Innern entsprechend, „weniger inneres Leben, Geist u. s. w.“ Je komplexer ein Geschöpf werde – auf Mineralien 522 523 524 525 526 527
Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 241. Ebd., S. 241 f. Ebd., S. 242. Ebd., S. 266, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 267. Ebd., S. 274, Hervorh. i. Orig.
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und Steine folgen nach Schmohl die Pflanzen – desto mehr „innere Bewegung, eine Art Umlauf seiner Theile“ finde in ihnen statt und „desto seelenvoller“528 werde es. Entsprechend sei auch bei den Tieren, die „Kraft der Thierseele grösser, als die der Baum- und der Steinseele“.529 Der Mensch wiederum stehe noch ein kleines Stück über den Tieren, da „seine[] körperlichen Bestandtheile[] aus dem Thier- Pflanzen- und Mineralreich genommen“ würden und er zudem „aus den besten Theilen der vier Elemente zusammen gesetzt“530 sei. Hierdurch sei „der Menschengeist und Körper“ das „Extract aus tausend Mineral- Pflanzen- und Thiergeistern und Körpern“ und würde „im Tod […] in 1000 verschiedne Mineral- Thier- und Pflanzengeister und Körper“531 zurückkehren, aus welchen wieder „Menschen, […] Thiere, Pflanzen und Minerale, und so in ewigem Zirkel fort“532 entstünden. Aufgrund dieser Überlegung stellt Schmohl ebenfalls die Frage, ob hierdurch in der Natur überhaupt „ein einziger guter Gedanke, eine einzige gute Empfindung“533 verloren gehen könnte. In der Natur würden „alle neue[n] Leben und Wesen […] aus alten, zerstörten entstehn“ die wiederum zerstört würden „und wieder zur Herfürbringung Neuer“ dienten. Jedes dieser Lebewesen sei „indeß in seiner Lebensperiode so wirksam“ und lasse „sichs so gut seyn […], als möglich“.534 Während Schmohls Beschreibung von Stein-, Pflanzen-, Tier- und Menschenseelen in naturmystische Vorstellungen übergeht, bleibt die grundsätzliche Idee von diesen Seelen weiterhin eine Komposition aus verschiedenen Kräften. Diese Kräfte werden von Schmohl zwar nicht weiter ausgeführt, da sie für den Menschen nicht vollständig erkannt werden können und daher seiner Meinung nach in ihrem Zusammenhang unbekannt bleiben müssen. Indem die Kräfte jedoch vor allem Wirkungen der Organe darstellen, wird ebenfalls deutlich, dass die von Schmohl genannten Kräfte mit den Sinneswahrnehmungen gleichzusetzen sind. Aus ihrer Summe, dem harmonischen Zusammenspiel aller Sinneseindrücke und Kräfte, ergibt sich die „Totalkraft“,535 welche das ‚Ich‘ – also das Selbstbewusstsein – darstellt, was für Schmohl wiederum mit der Seele identisch ist. Da die Totalkraft eine Wirkung der Organe darstellt, muss sie ebenfalls in ihrer Summe zerstört werden, wenn die Organe der ‚Maschine‘, die das Lebewesen darstellt, zerstört werden. Auch wenn Schmohl kein konkretes materialistisches System vertritt, hat er dennoch die in seiner Zeit populäre These aufgegriffen, dass nichts in der Natur verloren geht: Stirbt ein Lebewesen, können seine zerfallenden Bausteine mit den ihren Kräften entspre528 529 530 531 532 533 534 535
Ebd., S. 276, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 280. Ebd. Ebd., S. 282. Ebd., S. 282 f. Ebd., S. 282. Ebd., S. 283. Ebd., S. 240.
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chenden Seelen in andere Lebewesen übergehen. Sie leben dort gleichsam weiter oder tragen ihren Teil zur Bildung und zum Erhalt einer neuen ‚Maschine‘ bei. Andreas Riems materialistische Seelenmystik Für Andreas Riem ist die Seele dafür verantwortlich, dass ein Körper belebt wird. Sie ist, wie er in Christus und die Vernunft formuliert, „unsterblicher Natur“ und kann „nur durch die Organe wirken“. So stellt sich für ihn die Frage, an welchen Ort sie nach Verlassen des irdischen Körpers gelangt: Er rekurriert hierbei auf „die Vernunftmäßigkeit der Lehre von der Seelenwanderung, die Pythagoras aus Indien nach Griechenland verpflanzt“ haben soll. Riem griff damit eine Theorie auf, für die sich zu seiner Zeit ebenfalls Lichtenberg interessierte. Dieser behandelte dieses „‚System‘ gänzlich undurchdacht“, sodass es vor allem „durch innere Widersprüche“536 gekennzeichnet war. „[D]ie griechische Lehre der Seelenwanderung ist der christlichen deutlich entgegengesetzt oder zumindest mit ihr unvereinbar“, da sie den Tod lediglich „als eine Befreiung der unsterblichen Seele aus dem Kerker des Körpers“537 begreift. Nach der Meinung Riems hat diese griechische Lehre nur „den leicht zu entschuldigenden Fehler“, dass man die Wanderung der Seele „auf diese Erde begränzte, weil man zu der Zeit die Weltkörper noch nicht kannte, deren Bewohnbarkeit nun so gut wie völlig erwiesen ist.“538 Riem formuliert die Hypothese, dass die Seele bei dieser Wanderung in einen höheren Zustand übergehe, dessen „sinnliche[r] Genuß uns jetzt völlig unbekannt[]“ sei und dessen „bessere[] sinnliche[] Güte von Stufe zu Stufe, von Welt zu Welt immer schöner und schöner, immer besser und besser“539 werde. Weiterhin werde jedoch der Mensch über diese Unsterblichkeit der Seele im Ungewissen gelassen. Dies begründet Riem damit, dass niemand „ein Leben schätzen“ würde, von welchem er durch dieses Wissen Gewissheit hätte, „daß es wirklich nicht so gut sey, wie das, was er vor sich“ habe. Dieser Mensch könnte versuchen, „früher zum Besitz des höchsten Gutes zu gelangen“ und hierdurch viele der irdischen „Freuden […] verlieren“ und ebensoviele „Arten von Glückseligkeit nicht kennen lernen“. Daher ist es nach Riems Ansicht „die höchste Wohlthat für uns, immer von dem zukünftigen Zustande nur Ahndung und nie Gewißheit zu erhalten.“ Diese Unwissenheit wirke „nicht unberuhigend, sondern beruhigend.“540 Gleichzeitig ist es nach Riems Auffasung nicht dramatisch, wenn Menschen zu früh sterben: „[D]ie Frühsterbenden“ entbehrten nicht „den Genuß dieses Lebens“, da ihnen damit etwas fehle, „das sie nicht kennen“ könnten. Was man nicht kenne, stelle „im Grunde nichts“ dar. Statt ihres menschlichen Lebens würden sie „sogleich
536 537 538 539 540
Joost: Lichtenbergs (wie Anm. 95, S. 119), S. 314. Ebd., S. 315. Riem: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 246. Ebd., S. 247. Ebd., S. 248.
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[in] den Genuß eines anderen“ kommen, das „ihnen mindere Freude, als dem reifen Verstande, aber immer so viel gewährt, als er hier gehabt würde.“541 Seelen durchlaufen laut Riem eine Entwicklung, die mit der Kindheit beginnt und bei der sie – wie ein Mensch – mit der Zeit erwachsen werden. In welcher dieser Welten die Seele nun ihre ‚Kindheit‘ durchlaufe – in der menschlich-irdischen oder in einer ‚höheren‘ Welt der posthumen Seelen –, ist nach Riem egal. Stattdessen stelle es „das höchste Gut des Menschen“ dar, sich im „moralisch Guten“ sowie „zur Tugend“ zu bilden. Dies könne eine Seele ebenso gut „hier oder in einem andern Planeten“. Riem sieht auch in der nachfolgenden Aussage keinen Widerspruch, dass „[m]it dem Verlust des Sinnlichen“ alle Kenntnis dieses Sinnlichen verginge, wodurch wiederum auch „der Verlust so gut als vernichtet ist.“542 Letztendlich sei jedoch „jede Bemühung vergeblich“, wie Riem im Anschluss an diese spekulativen Hypothesen feststellt, „die man auf einen überzeugenden Beweis von der Unsterblichkeit der Seele verwenden“543 würde, da dies nicht objektiv „unter die Erfahrung gebracht werden“ könne. Stattdessen müsse man sich „mit dem philosophischen Glauben behelfen, der auf vielen Gründen der Wahrscheinlichkeit beruht, und gegen welche nichts, das gegründeter wäre, eingewendet werden“544 könne.545 Plausibler sei hingegen, dass es keine unsterbliche Seele gibt, da sich „in der empirischen Welt“ nichts finden lasse, „das Veranlassung zur Idee ‚Unsterblichkeit‘ geben könnte“546 : Würde man einen toten menschlichen Körper nehmen, so hätte man „Blut und Alles, was dem Körper erforderlich ist, um die Funktionen des Lebenden fortzusetzen.“ Doch auch wenn man „ein Mittel erfinden [würde], den Kreislauf des Blutes wieder herzustellen, so würde es im todten Körper umlaufen, wie in einer andern Maschine.“ Trotz des wiederhergestellten Blutkreislaufes würde der tote Körper nicht wieder zum Leben erweckt werden. Daher müsse es zusätzlich eine Kraft geben, die im Körper „gewahr wurde, die hörte, die fühlte, die die Bewegung unsichtbar bestimmte und lenkte“ und die mit dem Tod „durchaus hinweggewichen“547 sei. Aus diesem Grund nahm Riem „nothwendig eine Kraft“ an, welche „nicht Wirkung der körperlichen Bewegung“ sei, sondern selbst im Körper Bewegung hervorbringe. „Man nenne nun diese Kraft wie man will, Seele, Geist, Leben, es scheint, als müßte nothwendig ein Wesen vorhanden seyn, das jene Wirkungen hervorbringe, welche die bloße Materie nie für sich selbst hervorbringt.“548
541 542 543 544 545 546 547 548
Ebd., S. 249. Ebd. Ebd. Ebd., S. 250. Zu Riems Verständnis des ‚philosophischen Glaubens‘ siehe Kap. 3.1.1.1. Ebd., S. 250 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 251. Ebd., S. 252, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Ähnlich wie es Johann Christian Schmohl formulierte, vereinigen sich Riems Meinung nach in diesem Wesen „viele Kräfte“, die sich „nach den verschiednen Arten seiner Fähigkeit“ tätig zeigten. Im Gegensatz zu Schmohl geht Riem jedoch davon aus, dass „[d]ieses Wesen unkörperlicher Natur, oder feinartiger unzerstörbarer materieller Art“ sein müsse. Riem postuliert zusätzlich, dass die Seele vom Körper verschieden sein müsse, da sie ansonsten „eben so allmälig vergehen müßte, wie [der Körper] selbst.“ Die Seele löse sich, so Riem, jedoch nicht sukzessiv auf, sondern das Leben ende schlagartig „in allen Menschen durch den Tod, in den gesundesten Körpern, wie in den schwächsten“.549 Diesem Wesen, wie auch immer es genannt werden soll, schreibt Riem ebenfalls die Fähigkeit des Denkens zu. Wäre das „Denken eine Folge“ der Ordnung der Materie und somit in dieser zu finden, müsste auch ein toter Körper fähig sein zu denken: Stattdessen gehe man jedoch allgemein davon aus, dass „mit Aufhörung des Lebens“550 auch das Denken still steht. Während es Riem aufgrund dieser Überlegungen für wahrscheinlicher erachtet, dass die Seele, der Geist oder das Leben vom Körper unabhängig und ewig existieren müsse, stellt er zusätzlich eine weitere, gegenteilige Hypothese auf, da weder die eine noch die andere Möglichkeit belegt werden könnten. Bei dieser Annahme geht Riem davon aus, dass die Seele doch sterblich sei. Hierbei stellt er fest, dass „[d]as Allerschlimmste und Aeußerste“, was passieren könnte, „der Untergang der Seele mit dem Körper zugleich“ sei. Dieser Zustand sei jedoch ebenfalls kein unglücklicher, da er mit „einem ewigen tiefen Schlaf“ vergleichbar wäre, „wo alles Bewußtseyn aufhört.“551 Das Thema der Seele greift Riem ebenfalls in seinem Neuen System der Natur auf, das 1792, im gleichen Jahr wie Christus und die Vernunft erschien. Er führt hier seine Vorstellung der Seele systematischer und weniger mystisch aus – auch wenn Riem es im Endeffekt ebenfalls bei Vermutungen, die er nicht belegen kann, belassen muss. Auch im Neuen System sieht er die „Seele des Menschen oder seine[] Fähigkeit denken zu können“ als eine Eigenschaft an, die unabhängig vom menschlichen Körper fortbestehe. Daher müsse man sie sich „unter zwey Gesichtpunkte[n]“ vorstellen: Einerseits „vor ihrer Vereinigung mit dem Körper“ und andererseits „nach ihrer Entfernung von dem Körper.“552 Zuvor hatte Riem schon dargelegt, dass seiner Meinung nach „[d]ie Bedingung, denken zu können“ auf der Fähigkeit beruhe, „sich etwas Wirkliches, oder als wirklich vorstellen zu können.“ Hiermit meint er, dass das Denken nur im Bezug auf „alles Physische“ möglich ist, „weil das Denken in der Bemerkung vorhandener Ob549 550 551 552
Riem: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 252. Ebd., S. 253. Ebd., S. 250. Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 78, Hervorh. i. Orig.
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jekte besteht“553 und die Vernunft „nothwendig einen Gegenstand des Denkens“554 erfordere. Physisches wiederum könne nur von Organen wahrgenommen werden. Somit setzt „[d]ie Vorstellungskraft“, welche für Riem mit dem Denken identisch ist, „Organe voraus, die Dinge bemerken“. Ein Blinder könne von Farben keine Vorstellung haben, genauso wie ein Tauber nicht wisse, was „Ton und Harmonie der Musik“ sei. Das Denken ist daher nach Riems Meinung nicht unabhängig von der Organisation des Körpers möglich. Ohne die durch die Organe stattfindende Wahrnehmung, die er als „Empirismus der Organisation“ bezeichnet, wären sowohl „die Communikation zwischen Objekten, die gedacht werden sollen“ als auch die „Kraft, wirkliche Dinge sich vorzustellen“,555 nicht möglich. Aus diesem Grund könne die Seele, bevor sie mit dem Körper vereinigt wird, aus Ermangelung der organischen Wahrnehmung „sich keiner vorhandenen Dinge, wie sie dem Menschen erscheinen […] bewußt sey[n]“. Die Seele sei in diesem Zustand lediglich in „ihrer damaligen Vereinigung mit einer anders construirten Materie vorhanden“556 gewesen. Von den Empfindungen dieser andersartigen Materie könne im „menschlich construirten Körper“557 aufgrund dieser Andersartigkeit keine Kenntnis erlangt werden. Die Seele könne also, wenn sie sich schließlich im menschlichen Körper befinde, keine Idee davon haben, „wie sie ehemals“, also vor der Vereinigung mit dem menschlichen Körper, existiert habe. Dieser vor-menschliche Zustand sei der menschlichen Existenz zu unähnlich, um für einen Menschen vorstellbar zu sein: „Die Seele des Menschen ist also ohne menschliche Organe keiner Vorstellung fähig, wie die Geseze der menschlichen Organisation sie nothwendig in ihrer Art vorstellen lassen.“558 Sie kann nicht auf die Art und Weise denken, wie es der Fall ist, wenn sie mit den menschlichen Organen vereinigt ist, da ihr dazu ebendiese Organe fehlen. Dieses „Wesen ohne Vorstellungen vorhandener Dinge ist sich also keiner Dinge ausser sich bewusst“ und existiert „in Beziehung auf die Körperwelt, nach menschlicher Art, gar nicht.“559 Wird die Seele vom Körper entfernt, „tritt sie gerade in denselben Zustand wieder zurück, d. i. sie erkennt die vorhandenen Dinge nicht mehr nach menschlicher Art, sondern nach derjenigen, die dem Zustande angemessen ist, in den sie übergeht.“ Die – nun nicht mehr menschliche – Seele erkennt in diesem neuen Zustand alles „sodann ihrem künftigen Zustande angemessen.“ Dieser neue „so stark veränderte Zustand“560 unterscheide sich von dem menschlichen und setze eine „voll-
553 554 555 556 557 558 559 560
Ebd., S. 77, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 76, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 77, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 78. Ebd., S. 78 f. Ebd., S. 79. Ebd., S. 80. Ebd.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
kommnere Organisation“561 voraus. Da diese Organisation der Seele vollkommen neu erscheine, müsse sie alle Kraft aufwenden, um zu erkennen und zu lernen, wie sie nun nur noch nach dieser neuen, nicht mehr menschlichen Ordnung wirken, erkennen und tätig sein könne. „Diese neue Art gewahr zu werden, und die völlige Entfernung von ihrer vorigen Organisation, erlöscht also alle vorhergehende Vorstellungen, weil sie nach der vorhergehenden Art, aus Mangel der verlohrnen Organe“562 nicht mehr auf menschliche Art denken könne. Sie müsse sich erst – wie ein Kind – in dieser neuen Situation zurechtfinden und deren Regeln erneut lernen, wie es Riem schon in Christus und die Vernunft im Bezug auf eine neue Existenz der Seele formuliert hatte. Wenn Riem nach diesen Überlegungen die Existenz einer Seele erwähnt, meint er damit hauptsächlich eine den Körper belebende Kraft beziehungsweise verschiedene, ineinandergreifende Kräfte. Diese sind in einem toten Körper nicht vorhanden, sodass dieser folglich ohne ‚Seelenkraft‘ ist. Da in der Natur nichts zerstört werden kann, muss diese Kraft an einem anderen Ort sein. Da das menschliche Selbstbewusstsein – also das Denken und die Wahrnehmung – nur durch die Organe und in Bezug auf materielle Dinge stattfinden kann, ist eine Seelenkraft ohne Körper weder zu Wahrnehmungen noch zu Handlungen fähig. Da sie selbst ohne Körper ist, kann sie selbst ebenfalls nicht wahrgenommen werden. „[E]ine Existenz ohne Beziehungen auf etwas, ohne Kraft, ohne Möglichkeit etwas reales zu operiren, [fasse] gerade nichts weiter als den Begrif der ‚Nichtexistenz‘ in sich“.563 Da in der Natur nichts – und damit auch keine Kräfte – verloren gehen kann, muss auch die Kraft, die zuvor als ‚Seele‘ einen Menschen belebt hat, weiterhin vorhanden sein. Da sie jedoch keinen Menschen mehr belebt, existiert sie nicht mehr in der Form, die als ‚Seele‘ des Menschen bezeichnet werden könnte. Das Denken und die Individualität bei Karl von Knoblauch Auch bei Karl von Knoblauch nimmt die Frage nach der Seele – ob, in welcher Form und wo sie existieren kann – eine zentrale Rolle ein. Er beschäftigte sich mit verschiedenen Theorien zur Seele und beschreibt in diversen Texten – meist mit ironischem Kommentar –, was ihm an den jeweiligen Modellen unschlüssig zu sein schien. Diese Texte boten ihm die Möglichkeit, seine eigene Vorstellung der ‚Seele‘ anzuführen und argumentativ zu belegen. Hierbei berief sich Knoblauch immer darauf, keine ‚Wahrheit‘ zu postulieren, sondern lediglich „[w]ahrscheinlichen Lehren der Physik Beifall [zu] geben“.564 Auch wenn sich Knoblauch mit fortschreitender Zeit immer sicherer wurde, dass die Hypothesen, denen er Beifall spendete und welche das Grundgerüst seines eigenen Seelenbegriffes darstellen, mit hoher 561 Riem: Neues System (wie Anm. 350, S. 72), S. 80 f. 562 Ebd., S. 81. 563 Ebd., S. 84, Hervorh. i. Orig. – Vgl. hierzu auch Riems Argumentation in Bezug auf ein körperloses göttliches Wesen in Kapitel 3.1.2. 564 [Karl von Knoblauch]: Natur. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 71–76, hier S. 75.
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Wahrscheinlichkeit zutreffend sein könnten, war ihm weiterhin die eigene Unfähigkeit bewusst, endgültige Antworten zu geben. Auch bei diesem Umstand wird sein Selbstverständnis als Philosoph und die von ihm erachteten Möglichkeiten der Philosophie deutlich: So verspreche die „christliche Religion“ zwar „[d]enen, welche sie glauben“,565 ewiges Leben, indem ihre persönliche Identität nicht zerstört werden könne. „[D]ie prophane Philosophie“ hingegen sei zu solchen definitiven Aussagen nicht in der Lage. Sie wage sich „mit ihren kühnsten Vermuthungen nicht“ so weit, „weil sie sich auf dem bezauberten Felde dieser glänzenden Erwartungen weder auf den Stab der Erfahrung stüzen, noch sich der Analogie bedienen“ könne, die sie ansonsten gebrauche, um eine Lösung „zu errathen“.566 Die in Kapitel 3.1.2 für Knoblauch festgestellte Entwicklung durch den Einfluss seines Freundes Georg Friedrich Werner in den 1790er-Jahren lässt sich auch in den Texten zur Seele in einer Veränderung seiner Argumentation erkennen. So bezieht er sich in einigen seiner frühen Texte auf Spinoza und dessen Philosophie. Diese besondere Argumentationsform lässt sich nach 1790 nicht mehr feststellen, wie nachfolgend gezeigt wird. Mit Theorien, die sich mit der Beschaffenheit der Seele beschäftigen, also der Frage, welche Form und welches Aussehen ihr zukommen könnten, setzt sich Knoblauch in seinem Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer von 1790 auseinander. Der Text ist in einem lockeren, der Unterhaltung und dem einfachen Verständnis dienenden Stil geschrieben, welcher für alle Artikel des Taschenbuchs üblich ist. Bezogen auf die begleitende Darstellung entschuldigt sich Knoblauch zuerst, dass er den Kupferstecher ein Bild der Seele habe stechen lassen, welches den Umriss eines menschlichen Körpers darstelle, der aus vielen kleinen Punkten zusammengesetzt sei. Hierdurch könnte „gegen den Zeichner und Kupferstecher der Verdacht des Materialismus entspringen.“ Knoblauch versichert jedoch, dass „bloß die Schwierigkeit, die Seele auf eine andere Art zu konterfeyen, den Kupferstecher genöthigt“567 habe, das Bild auf diese Weise zu zeichnen. Er habe damit eine Darstellungsart gewählt, die schon vorher verwendet worden wäre: So verweist er auf das, seit dem 17. Jahrhundert weit verbreitete Schulbuch von Johann Amos Comenius (1592–1670), den Orbis sensualium pictus, in welchem „das Konterfey einer Seele, welche der unsrigen – ich meyne, der auf der Kupfertafel – so ähnlich sieht“,568 weil sie ebenfalls als Ansammlung von Punkten dargestellt worden war.569
565 Ders.: Theophron an Xiphilin. Ueber den Phädonism. In: Hyperboreische Briefe 6 (1790), S. 55– 63, hier S. 57. 566 Ebd., S. 58. 567 Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 82, Hervorh. i. Orig. 568 Ebd., S. 81, Hervorh. i. Orig. 569 So beispielsweise in: Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus. Noribergae [= Nürnberg] 1698, S. 88.
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Kritiker hätten nun angeführt, dass die Seele „ein unsichtbares Ding [sei] und daher keiner Abbildung für das Auge fähig.“570 Knoblauch gibt jedoch ironisch mit einem Seitenhieb auf die katholische Dogmatik und der Lehre des Fegefeuers zu bedenken, „daß Seelen nur gewöhnlich unsichtbar“ seien: Es habe „in den Jahrbüchern der christlichen Kirche“ nämlich eine Zeit gegeben, in welcher die „Erscheinungen armer Seelen so selten nicht waren.“ Hier erkenne man jedoch „bei mäßigem Nachdenken“, dass „gewisse Leute ein wichtiges Interesse“571 beim Auftauchen dieser ‚armen Seelen‘ gehabt hätten, da sie von den Befürchtungen der Menschen profitierten, selbst zu einer ‚armen Seele‘ zu werden und im Fegefeuer zu landen. Eine weitere Theorie „der allersubtilsten Weltweisen“ besage hingegen, dass „die Seele nur Ein Punkt, aber kein Aggregat von Punkten“ sei. Diese Seele hätte nur „durch einen Tüpfel von der Größe ungefähr, wie die Loosung einer über das Papier gelaufene Fliege oder Spinne“ dargestellt werden können, was jedoch „das Auge des Betrachters“ nicht dazu gereizt hätte, bei diesem Bild „zu verweilen“, um sich dazu „zu überreden, das das Gemälde seinem Original gleiche.“572 Die letzte Vorstellung der Seele, welcher sich Knoblauch annimmt, ist die, dass es sich bei ihr um einen „sehr subtilen Körper“ handle, welcher „in dem gröbern Körper, wie eine Nürnberger Schachtel in der andern, jedoch unsichtbarer Weise verborgen steckt, und ein vollkommner Abdruck von unserer äusserlichen Gestalt seyn soll.“ Gegen diese Annahme habe sich, so Knoblauch, „einer der größten Anatomiker“ ausgesprochen, da man überhaupt keine Vorstellung „von dem Gewebe unsers Körpers“ hätte, wenn man die „Muskeln, Adern, Nerven“ nur für eine „Kapsel, worin ein anderer Körper verschlossen ist“,573 hielte. Zur Rettung dieser Theorie habe man „eine Erscheinung“ angeführt, „welche ein abwesender Sohn von seinem todkranken Vater, der viele Meilen weit entfernt war, erhalten“574 habe. Der Vater sei dem Sohn „mit einer Nachtmütze und eben dem Kamisol,575 welches er auf auf seinem Krankenbete anhatte“ in dessen Zimmer erschienen, wobei niemand „[d]en gröbern Körper des Kranken […] im Bette vermißt“ habe. Dieser sei also, so Knoblauch, nicht „in der Stube des Sohnes gewesen“, sondern es habe sich hierbei um den „feinere[n] Körper“ des Vaters gehandelt. Entsprechend der Lehre dieser feineren Seele müsse ebenfalls – wie Knoblauch ironisch bemerkt – „in der gröbern Nachtmütze, welche der im Bette liegende Sterbende aufhatte, […] auch eine feinere Nachtmütze, und in seinem groben Kamisol, welches nicht aus
570 571 572 573 574 575
Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 81 f. Ebd., S. 82, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 83, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 84, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 84 f. Ein Kamisol bezeichnete im 18. Jahrhundert bei Männern meist eine ärmel- und kragenlose Weste, die beispielsweise unter dem zivilen oder militärischen Justaucorps getragen wurde.
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dem Bette kam, noch ein subtiles Kamisol gesteckt haben, womit der Sterbende in das Zimmer des abwesenden Sohnes trat“.576 Knoblauch hält, wie aus seinen Ausführungen hervorgeht, eine materielle Seele für unwahrscheinlich, also dass sie – und mit ihr das Denken – aus einem oder vielen Teilchen besteht, die sich unabhängig von den sonstigen Bestandteilen des Körpers für eine gewisse Zeit in diesem aufhalten. Ebenso sieht er die Existenz einer feineren Substanz, die quasi einen Abdruck des Körpers darstellt, als geradezu lächerlich an, wie er durch sein angeführtes Beispiel erkennen lässt: Wäre dies der Fall, müssten die Seelen, von deren Erscheinung in populären Berichten die Rede ist, ebenfalls auf die ‚Seelen‘ ihrer Kleidungsstücke zurückgreifen können, da sie ansonsten nackt erscheinen müssten. Der Artikel wird mit der Aussage abgeschlossen, dass derartige „und einige[] ander[e] Schwierigkeiten“ bei der materiellen Vorstellung der Seele ihn davon abhalten, „denen Unrecht zu geben, welche mit den Layen und Einfältigen noch immer dafür halten, daß jeder Mensch nur Einen Körper jedesmal habe und daß dieser Körper ein Ganzes, eine physische Einheit sey, welche durch den Tod in unzählige Bruchtheilchen“577 zersetzt werde und damit auch seine „Individualität“578 verliere. Aus dieser knappen Aussage geht hervor, dass für Knoblauch die Vorstellung der Seele eng mit weiteren Begriffen zusammenhängt: So scheint sie ebenfalls für die Individualität oder Identität des Menschen mitverantwortlich zu sein. Diese Individualität bezieht sich ausschließlich auf den jeweiligen Körper. Dieser besteht zwar aus verschiedenen Teilen, ist aber dennoch als physische Einheit zu betrachten. Kein Wesen könne „mit Beibehaltung seiner Identität, zweimal entweder an zween Orten zugleich, oder in zwo Zeitperioden“ existieren, da die „persönliche Identität“ auf der „Fortsetzung einer und ebenderselben stetigen Reihe von Empfindungen und Perzeptionen gegründet sei“,579 die vom „ersten, dunklen Anfange des Bewußtseyns bis zum Ende des menschlichen Seyns“580 das Leben des Menschen ausmache. Was Knoblauch meint, wenn er den Körper aus verschiedenen Teilen bestehen lässt, die jedoch gleichzeitig als ein Ganzes, als eine physische Einheit betrachtet werden müssen, macht er in seinem frühen, am 25. September 1786 an Lichtenberg gesandten, aber nie veröffentlichten Artikel Beweis, daß keine Materie denken kann deutlich. Seine Ausgangsthese ist hierbei, dass der Körper keine „einzelne Substanz“ darstelle, sondern als ein „Aggregat von Substanzen“581 anzusehen sei. Aufgrund dieser Annahme müsse die Substanz, in welcher das Denken nachgewiesen werden 576 577 578 579 580 581
Ebd., S. 85, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 85 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 86. Knoblauch: Phädonism (wie Anm. 565, S. 199), S. 58. Ebd., S. 59. Karl von Knoblauch: Beweis, daß keine Materie denken kann. Anhang zum Brief Karl von Knoblauch an Georg Christoph Lichtenberg, 25. September 1786, Niedersächsische Staats- und Uni-
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könne, die menschliche Seele darstellen. Für Knoblauch sind nun drei Fälle vorstellbar: Es denke „a. entweder nur Eine von diesen Substanzen, oder b. jede denkt für sich, oder c. keine denkt für sich.“582 Denke nur eine der Substanzen im Körper, so stelle auch alleine diese die Seele dar. Wenn im zweiten Fall jede der gedachten Substanzen für sich denken könne, so fänden sich im Körper „so viel Seelen, so viel es substanzielle Theile des Körpers gibt.“ Weil man aber sowohl von sich selbst als auch von jedem Begriff in jedem Augenblick nur eine Vorstellung habe, die dann „nur Einmal vorhanden“583 sei und ebenfalls „nur Einmal […] gedacht“ werde, stelle das ‚Ich‘ beziehungsweise die Seele „also nur Eine von diesen denkenden Substanzen“584 dar. Diese denkende Substanz ist nach Knoblauchs Darstellung nur in diesem Sinne einfach, weil sie nur einmal – neben den anderen denkenden Substanzen – vorhanden ist. Diese übrigen, ebenfalls denkenden Teile stellen kein Bestandteil des denkenden Subjektes dar.585 Im dritten Fall, in welchem „[k]eine der vereinigten Substanzen“ für sich denke, könnten „auch alle zusammengenommen“ nichts denken. Hierfür führt Knoblauch die bereits beschriebene Argumentation an, welche er bis 1790 vertrat und die bis zu diesem Zeitpunkt in den meisten seiner Texte als Grundvoraussetzung präsent ist: „So wie aus noch so vielen geometrischen Punkten, deren Ausdehnung = 0. ist, kein ausgedehntes Ganzes – Linie, Fläche, Körper – entspringen kann, so kann aus der Zusammensezung noch so vieler ideenloser Atome, deren Denkkraft = 0. ist, kein denkendes Ganzes resultiren.“ Wenn es der Fall sei, dass „viele ideenlose Dinge“ plötzlich denken könnten, „so bald sie in einer gewißen Ordnung neben einander seyn, näher beysammen seyn“, müsste es ebenfalls möglich sein, dass „viele Blinde zusammen eine sehende Gesellschaft ausmachen können.“586 Entgegen seiner anfänglichen Aussage, es gebe nur diese drei dargestellten Optionen, formuliert Knoblauch am Ende seines Artikels eine vierte Position: Er fragt, was denn wäre, „wenn die einzelnen Elemente des Körpers nur dunkle Vorstellungen“, aber kein subjektives Bewusstsein hätten. Könnten aus diesen, wenn sie sich an einer Stelle häuften und zusammen genommen würden, „im Ganzen, deutliche Begriffe entspringen?“587 Diese deutlichen Begriffe, die man hierdurch selbst hät-
582 583 584 585
586 587
versitätsbibliothek Göttingen (= NSuUB Göttingen) Cod Ms Lichtenberg III, 118, p. 1 – Aufgrund der uneindeutigen Paginierung des Archives verwende ich die von Knoblauch angegebene Blattzählung. Knoblauch: Beweis NSuUB Göttingen Cod Ms Lichtenberg III, 118 (wie Anm. 301, S. 64), p. 2. Ebd., p. 3. Ebd., p. 2. Dies schließt jedoch nicht aus, dass man von einem Objekt nicht mehrere Vorstellungen haben könne: Diese sich unterscheidenden Vorstellungen habe man dann jedoch nicht parallel, sondern sukzessive. Auch von sich selbst könne man daher mehrere Vorstellungen haben, wobei aber das ‚Ich‘, also das denkende Subjekt – sofern gesund –, nur einmal vorhanden ist. Ebd., p. 3. Ebd.
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te, säßen folglich „[n]icht in den Theilen! – Aber im Ganzen!“588 Erklärbar sei dies, weil „das Ganze nur eine Vorstellungsart unseres Geistes“ darstelle: Dieser könne „viele Dinge in Einem Totalbegriff“ zusammenfassen und sich diese – auch wenn er aus vielen Teilen bestehe – „als Ein Ding vorstell[en].“ Indem dieses Objekt als Einheit vorgestellt wird, verschmilzt es nicht zu einem einzigen ‚Ding‘, sondern besteht weiterhin aus seinen Einzelteilen: Durch dieses Zusammenfassen zu einem ‚Totalbegriff‘ würden genauso „wenig, viele Dinge in Ein Ding verwandel[t]“, wie wir alleine durch unser Vorstellungsvermögen „aus Einem Ding, viele Dinge machen können.“ Ohne „jene Wirkung (Vorstellungsart) unsers Geistes“589 wäre das vorgestellte Ganze kein Ganzes mehr. Ein vergleichbarer Artikel, der einen Großteil der Argumente des nicht veröffentlichten Textes von 1786 aufgreift, erschien 1792 im Philosophischen Archiv. Da Knoblauch – beeinflusst durch Werner – zu diesem Zeitpunkt bereits zu dem Schluss gekommen war, dass sich Materie und Objekte aus körperlosen, aber undurchdringlichen Teilen zusammensetzen ließen, fehlt in diesem späten Artikel der entsprechende Kommentar, dass aus unausgedehnten, geometrischen Punkten kein ausgedehntes Ganzes entstehen könne, zu welchem sich Knoblauch noch 1786 im Bezug auf die Vorstellung körperloser Teilchen veranlasst sah. Stattdessen findet sich in einer Anmerkung ein Verweis auf Werners Aetiologie. In dieser Anmerkung berichtet Knoblauch von der Idee seines „scharfsinnigen Freundes, daß alle Elemente der Materie leben und empfinden“ und „daß es keine wirklich leblosen Dinge“590 gebe, die bloß passiv seien und keine Energie hätten. Auch der letzte Abschnitt unterscheidet sich leicht von der Darstellung von 1786. Während in dieser die Frage aufgeworfen wird, ob aus der Summe der ‚dunklen‘ Vorstellungen die deutlichen Begriffe entstehen, entscheidet Knoblauch 1792 anders: „Wenn weder A, noch B, noch C klare Begriffe hat, so sind in dem Ganzen ABC keine klaren Begriffe zu finden, sondern die Vorstellungen von ABC sind nichts als: die Summe der dunklen Vorstellungen in A, in B, und in C zusammen genommen.“ Die klaren Begriffe entstehen nach Knoblauchs Sichtweise ab 1792 also nicht aus der Summe dunkler Begriffe, wie er es noch 1786 formulierte. Dies würde nämlich bedeuten, dass den entsprechenden Teilen – auch wenn sie nicht richtig denken können – dennoch eine primitivere Form der Gedanken innewohne. Entsprechend seiner neuen Überzeugung könne sich also „[d]as Subjekt der klaren Begriffe“,591 deren man sich bewusst sei, nicht in der Summe aus A, B und C finden. Daher sei das ‚Ich‘ „nur als (reelle, physische) Einheit“ und „nicht als zusammengesetzt, denkbar.“592 Wie zwei Jahre zuvor im Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklä588 589 590 591 592
Ebd., p. 3 f. Ebd., p. 4. Knoblauch: Versuch (wie Anm. 251, S. 55), S. 117. Ebd., S. 119, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 119 f.
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rer formuliert, handelt es sich beim ‚Ich‘ um eine Kraft, die nur durch Erfahrung erkannt werden könne. Knoblauchs grundlegende Argumentation von 1792 stimmt folglich mit dem Vorgehen und der Schlussfolgerung von 1786 überein. Die Veränderung, die sich aus seiner Entwicklung ergibt, wirkt sich nur marginal auf seinen späten Artikel aus: Für Knoblauch ist das Denken – oder wie es im Artikel von 1792 heißt: das ‚Ich‘ – weiterhin einfach: Dies bedeutet, dass es in jedem Individuum nur ein denkendes ‚Ich‘ gibt – auch wenn dessen Körper aus vielen verschiedenen Einzelteilen zusammengesetzt ist. Das ‚Ich‘ stellt eine Kraft dar, deren Wirkung aus der eigenen Erfahrung, nämlich aus den Handlungen dieser Kraft, erkannt wird, „indem es auf andere Dinge wirkt, ihren Zustand seinem Willen gemäß, ändert, und diese auf es zurückwirken.“ Dem ‚Ich‘ ist „Leben und Empfindung […] wesentlich, nicht aber Gedächtniß und Erinnerungsvermögen“. Diese haben in den „Hirnsubstanzen ihren physischen Grund“ und fallen weg, wenn deren „Verbindung zerstört wird“.593 Denken als emergente Eigenschaft des Gehirns Knoblauch wendet sich somit ausdrücklich gegen die Vorstellung, dass das Denken außerhalb der Materie stattfinden müsse. In seinem satirischen Milbenmonolog lässt Knoblauch die metaphysisch philosophierende Milbe, bevor sie gegessen wird, auch das Thema des Denkens aufgreifen: Sie betont, dass „[d]ie sublimen Gedanken, die“ ihren Geist beschäftigten, „mehr als Wirkungen [ihrer] Organisation“594 darstellten. Der Milbe kommt an dieser Stelle die Aufgabe zu, die Position gegen die sich Knoblauch aussprach, zu formulieren, nach welcher das Denken über das hinausgehen müsse, was die Konstruktion des Körpers zu leisten in der Lage sei. Zwar gibt die Milbe zu, dass sie ihren „Körper, die innere Natur seiner Elemente, die Art ihrer Zusammensetzung beinahe gar nicht“595 kenne und daher im Grunde nicht in der Lage sei, über dessen Fähigkeiten eine sichere Auskunft zu geben. Trotzdem nimmt sie sich heraus, alleine durch Vermutung „à priori [zu] bestimmen, welche Wirkungen aus dieser Zusammensetzung möglich sind, und welche nicht.“596 Da es also dem Menschen – beziehungsweise in diesem Beispiel: der Milbe – lediglich so erscheint, als würde die Fähigkeit des Denkens über die Konstruktion des Körpers hinausgehen, schreibt er – oder: sie – das Denken einem außerkörperlichen Geist zu. Knoblauch lässt die Milbe folglich eine Art der menschlichen Hybris formulieren, die den Körper in seinen möglichen Wirkungen unterschätzt und die beobachteten Fähigkeiten sich selbst, aber in einer geistig ‚mächtigeren‘ Form, zuschreibt. Dieser höhere, durch den Körper nicht vollständig repräsentierte Geist wird – da seine Fähigkeiten derart hoch eingeschätzt werden – als so wertvoll erachtet, dass er selbst nicht mit dem Körper untergehen kann und das Individu593 594 595 596
Knoblauch: Versuch (wie Anm. 251, S. 55), S. 120, Hervorh. i. Orig. Ders.: Monolog (wie Anm. 419, S. 174), S. 90. Ebd., S. 90 f. Ebd., S. 91, Hervorh. i. Orig.
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um somit den Tod des Körpers überlebt. Knoblauch stellt, ob dieser „Vergötterung der Denkkraft“, welche „eine unserer Schwachheiten“ darstellt, die Frage, weshalb der Mensch ausgerechnet seine Denkkraft nicht verlieren solle: Während er „seiner Sehkraft, seines Gehörs, seines Gefühls beraubt“597 werde, wenn die entsprechenden Organe verletzt würden, halte er es nur bei der Denkkraft für unmöglich. „Was priviligirt die Denkkraft vor allen andern bekannten Kräften der Natur? Nichts als unser Stolz, und unsere Eigenliebe.“598 Aus Knoblauchs Sicht ist also auch das Denken von der körperlichen Organisation abhängig und verhält sich daher wie das Sehen zum Auge: Auch das Auge ist zusammengesetzt, aber „[s]einer Zusammensezung ungeachtet liefert es nur ein Sehen.“ Dieses Sehen ist die Kraft, also die ‚Sehkraft‘, die das Auge durch die Gesamtheit seiner Konstruktion hervorzubringen in der Lage ist. Zusätzlich sehen wir, obwohl wir meist zwei Augen besitzen, „nicht getheilt, nicht doppelt“,599 sondern – im gesunden Zustand – nur ein Bild. Ohne die „künstliche Zusammensezung“ der Augen „würden wir gar Nichts sehen“ und für alle anderen „Verrichtung[en] des Menschen werden gewiße [andere] Organe erfordert.“600 Entsprechend findet, wie sich Knoblauch sicher ist, das Denken im Gehirn statt, sodass nicht jeder Teil des Körpers „für sich“ denkt. Wäre dies der Fall, müsste auch „der Fuß, den wir uns abschneiden lassen, der Zahn, den wir verlieren, fortdenken“.601 Ließe man sich „ein Glied nach dem andern ausbrechen“,602 so denke „der Kopf noch immer“. Hierbei trage jeder Teil des Gehirns „das Seinige bei, damit die Denkkraft entstehe. Viele zarte Fäserchen machen eine Fiber, mehrere Räder einen Zeitmesser.“603 Die Uhr, die man als Einheit betrachtet, ist trotzdem aus den verschiedenen Einzelteilen zusammengesetzt. Diese verschmelzen nicht unwiderruflich zu einem einzigen, neuen Objekt, sondern werden nur in ihrer Gesamtheit als neues Objekt angesehen, indem sie durch eine bestimmte Zusammensetzung eine Funktion erfüllen, die sich nicht in den jeweiligen Einzelteilen finden lässt: Niemand könne erwarten, „daß ein einzelnes Stük einer Uhr der Bewegung der ganzen Uhr fähig“ sei. Diese Bewegung entstehe erst durch die „Verbindung mehrerer Räder, deren jedes – an seinem Plaze – das Ganze bestimmen hilft. Aber nur die ganze Uhr mißt die Zeit, und zeigt die Stunden. Man lähme ihre Feder: die Maschine stokt. Man zerbreche ihre Räder: sie ist keine Uhr mehr. Wo ist ihre Bewegungskraft?“604 Auch könne eine Linse für sich alleine nicht sehen. Befindet sie sich jedoch in einem Auge, kann aus dieser Konstruktion, deren Teil sie dann ist, eine neue Kraft 597 598 599 600 601 602 603 604
[Karl von Knoblauch]: Der Körper. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 81–83, hier S. 81. Ders.: Natur (wie Anm. 564, S. 198), S. 73. Ders.: Theophron an Paulin. Antwort. In: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 197–203, hier S. 199. Ebd., S. 200. Ebd., S. 198. Ebd., S. 198 f. Ebd., S. 199, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Natur (wie Anm. 564, S. 198), S. 75 f.
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hervorgehen, die als ‚Sehen‘ bezeichnet wird: Sie entsteht „aus dem künstlichen Organism des Auges“. Diese Sehkraft lernen wir durch unsere tägliche Erfahrung kennen. Sie ist keine von der Materie unabhängige, übernatürliche Kraft, die sich zum Auge gesellt und sich auch wieder von diesem trennen kann, um unabhängig von diesem zu existieren. Die Sehkraft entsteht im Auge und durch dessen Konstruktion. Sie existiert nicht, bevor nicht das Auge existiert. Gleichzeitig „[ü]berlebt sie dessen Zersöhrung“ auch nicht: „Ohne eine so künstliche Zusammensezung vieler Theile, deren keiner für sich allein sehen kan, würden wir diesen Sinn gar nich haben.“605 Indem Knoblauch aus bestimmten Zusammensetzungen neue Eigenschaften und Kräfte hervorgehen sieht, verweist er auf etwas, das ab dem 19. Jahrhundert als ‚Emergenz‘ bezeichnet wurde. Dieses Phänomen stellte, so Falk Wunderlich, zu Knoblauchs Zeit zwar keine vollkommen neue Idee dar, wurde jedoch vor allem von diesem in seine Theorie des Denkens eingearbeitet.606 So führt Knoblauch beispielhaft „[d]ie Kraft des Kanonenpulvers“ an, dessen explosive Eigenschaften „weder dem Schwefel allein, noch dem Salpeter, noch den Kohlen“ zugeschrieben werden könne, „sondern ihrer Zusammensezung.“ Während die „isolierten Wirksamkeiten dieser Bestandteile“ von denen des Schwarzpulvers verschieden ist, entsteht sie jedoch „aus der Verbindung derselben.“607 Ausführlicher beschrieb Knoblauch dies schon zwei Jahre zuvor als Erweiterung einer theoretischen Überlegung Boškovićs, nach welcher auch ein unteilbarer Gedanke mit einer zusammengesetzten, also teilbaren Materie vereinbar sei.608 Hieran anknüpfend erklärt Knoblauch, dass „Physiker und Chymisten“ bewiesen hätten, „daß ein auf gewisse Art zusammengesetztes Ganzes gar wohl eine Kraft haben könnte, die sich in den einzelnen Bestandtheilen, vor ihrer Verbindung zu einem Ganzen, wenigstens nicht durch uns bemerkbare Erscheinungen“ äussere. Diese Kraft – die Explosivität des Schwarzpulvers im Beispiel von 1789 – sei das „Produkt einer gewissen Zusammensetzung“. Ihre Wirkung könne man nur „durch Erfahrung kennen lernen, nicht a priori bestimmen“.609 Auf diese Weise scheint Knoblauch ebenfalls Passagen aus Kants Kritik der reinen Vernunft verstanden zu haben, welche er, aus dem Zusammenhang gerissen,610 in seine Theorie einfügt, die wiederum vor 1791 noch spinozistisch geprägt war. So habe Kant Knoblauchs Ansicht nach wie Spinoza gedacht, als er formulierte, dass „eben dasselbe, was in einer gewissen Beziehung körperlich heißt, in einer andern
605 606 607 608
Knoblauch: Körper (wie Anm. 597, S. 205), S. 82. Vgl. Wunderlich: Materialism (wie Anm. 198, S. 47), S. 12. Knoblauch: Antwort (wie Anm. 599, S. 205), S. 199. Vgl. Ders.: Ueber das Denken der Materie. In: Der Teutsche Merkur 3 (1787), S. 185–197, hier S. 187 f. 609 Ebd., S. 188, Hervorh. i. Orig. 610 Vgl. Wunderlich: Materialism (wie Anm. 198, S. 47), S. 13.
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zugleich ein denkendes Wesen seyn [müsse], dessen Gedanken wir zwar nicht, aber doch die Zeichen derselben in der Erscheinung, anschauen können.“611 Wie Wunderlich hervorhebt, übernimmt Knoblauch aus Spinozas Philosophie in diesem Artikel eine Art des Eigenschaftsdualismus, nach welcher der Substanz gleichzeitig Ausdehnung und die Fähigkeit des Denkens zukomme. Durch die vorherige Erwähnung Kants schreibt Knoblauch diesem ebenfalls die Theorie zu:612 So besage „Spinosens Theorie“, dass „Seele und Leib ein und dasselbe Ding“ darstellen: „In so fern man es blos als ausgedehnt, u. s. f. betrachtet, heißt es Leib; in so fern es aber sich seiner selbst bewußt ist, oder unter der Eigenschaft des Denkens wahrgenommen wird – – Seele.“613 Entsprechend existiere die Seele „nicht ohne ihren Körper, [und] der Körper nicht ohne seine Seele“, da letztere „dieser Theorie zufolge, das Bewußtseyn einer Sache oder der Begrif, den sie von sich hat“,614 darstelle. Gleichzeitig scheint es, als habe Knoblauch an dieser Stelle Spinozas Philosophie aufgegriffen, da diese vor allem mit seiner, zu diesem Zeitpunkt noch vorherrschenden Überzeugung kompatibel war, dass Materie immer körperlich sein müsse, da aus unkörperlichen Teilchen keine Körper entstehen könnten. Diesen Umstand erwähnt er auch an zwei Stellen seines Artikels von 1787: So könne man weder „wegen der Theilbarkeit der Materie, die Unendlichkeit der körperlichen Substanz“615 leugnen. Noch lasse sich daher „der Materie, wegen ihrer Ausdehnung und Zusammensetzung (Theilbarkeit) die Fähigkeit zu denken absprechen“,616 worauf er den auf Spinoza basierenden Eigenschaftsdualismus formuliert. Aus einer zweiten Anmerkung geht ebenfalls Knoblauchs bis 1791 bestehende Überzeugung hervor: „Wir können uns – die orthodoxen Metaphysiker mögen sagen, was sie wollen – Substanz ohne alle Ausdehnung, unendliche Substanz ohne unendliche Ausdehnung, unmöglich denken.“ Die Vorstellung „absolute[r] Unausgedehntheit“ – undurchdringliche Punkte ohne Ausdehnung nach Boškovićs Theorie – sei „nur ein abstrakter, verneinender Begrif. Wie man diesen auf für sich bestehende Dinge, als eine wirkliche Beschaffenheit derselben, übertragen, wie man diese und andere, ähnliche, Abstraktionen realisiren kann, ist beynahe unbegreiflich.“617 Unmittelbar vor dieser Aussage hatte Knoblauch, nachdem er Spinozas Gedanken dargelegt hat, deren Einzigartigkeit gegenüber „anderen materialistischen Systemen“618 hervorgehoben. Gegen diese äußerte er sich – wie Falk Wunderlich betont – in bemerkenswerter Weise ablehnend: „[A]ligning himself with one of the 611 Knoblauch: Denken (wie Anm. 608), S. 188 f., Hervorh. i. Orig. Knoblauch zitiert hierbei: Kant: Kritik (AA Bd. IV) (wie Anm. 15, S. 4), S. 226. 612 Vgl. Wunderlich: Materialism (wie Anm. 198, S. 47), S. 14. 613 Knoblauch: Denken (wie Anm. 608), S. 190, Hervorh. i. Orig. 614 Ebd., S. 191, Hervorh. i. Orig. 615 Ebd., S. 189. 616 Ebd., S. 190. 617 Ebd., S. 192, Hervorh. i. Orig. 618 Ebd., S. 191, Hervorh. i. Orig.
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common anti-materialist arguments according to which the heterogeneity of motion and thought precludes that they mutually cause each other.“619 Denken könne, so Knoblauchs Kritik an dieser Stelle, keine Folge der Bewegung sein, da nach Spinozas Philosophie sowohl Ausdehnung als auch Denken als jeweils ein Attribut der einzig möglichen Substanz anzusehen seien: Bewegung stellt wiederum eine Modifikation des Attributes ‚Ausdehnung‘ dar und ist somit dieser untergeordnet. Da nach Spinoza das Denken ebenfalls als ein Attribut der einen Substanz anzusehen ist, steht es quasi auf derselben Stufe wie die Ausdehnung und kann deshalb keine Modifikation der Modifikation des Attributes ‚Ausdehnung‘ sein. Hierdurch sei Bewegung als „Veränderung des Ortes […] ganz verschieden“ von einem Gedanken. Gleichzeitig könne daraus nicht logisch geschlossen werden, „daß sie einander ganz entgegensesetzt wären“620 und sich gegenseitig ausschließen: Indem sie jeweils Attribute derselben Substanz darstellen, können sie zusammen in einer Substanz angetroffen werden. Sie unterscheiden sich daher als Attribut, sind aber durch die Substanz miteinander verbunden, die beide Attribut in sich vereinigen kann. Knoblauchs strenge Argumentation in diesem Artikel erweckt den Eindruck, er habe die Vorstellung des Eigenschaftsdualismus als Grundlage seiner Theorie des Denkens angenommen. Seine beiden Einwände, die gegen die Hypothese von unkörperlichen, aber dennoch undurchdringlichen Teilchen gerichtet sind, lassen jedoch auch die Vermutung zu, dass er sich deswegen dieser spinozistischen Interpretation bediente, da es aus ihrer Sicht ebenfalls als unmöglich galt, dass etwas keine Ausdehnung haben könnte. Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, war Knoblauch bis 1790 davon überzeugt, dass Teilchen immer eine Ausdehnung besitzen müssten, da aus Nichts (nicht-ausgedehnten Teilchen) durch Zusammensetzung nicht plötzlich Etwas (ausgedehnte Körper) entstehen könnte. Da er sich in dieser Hinsicht auf Spinoza berief, konnte er die Eigenschaft des Denkens ebenfalls mit dessen Substanzbegriff in Verbindung bringen, ohne gleichzeitig das Denken als Wirkung von Ausdehnung ansehen zu müssen. Da durch Knoblauchs veränderte Überzeugung diese Prämisse wegfällt und er sogar – zusammen mit Werner – davon ausgeht, dass Bewegung ein wesentliches Merkmal von Materie darstellt,621 lässt sich erklären, weshalb er nach seinem Artikel von 1787 keinen weiteren Text verfasst hat, in dem er sich auf einen spinozistischen Eigenschaftsdualismus beruft. Weil Knoblauchs Verständnis des Denkens als eine, im Gehirn entstehende emergente Eigenschaft von dem ebenfalls beschriebenen spinozistischen Eigenschaftsdualismus unabhängig ist, hielt er auch nach 1790 an der Vorstellung fest, das Denken entstehe durch die spezielle Zusammensetzung des Gehirns. Die dualistische, sich auf Spinoza berufende Begründung verwarf er hingegen. 619 Wunderlich: Materialism (wie Anm. 198, S. 47), S. 15. 620 Knoblauch: Denken (wie Anm. 608, S. 206), S. 192, Hervorh. i. Orig. 621 Vgl. Ders.: Grundbegriffe (wie Anm. 251, S. 55), S. 104.
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Inwieweit Knoblauch seine Hypothese, welche Vorstellung von der Seele am wahrscheinlichsten anzunehmen sei, letztendlich entwickelte, kann den beiden Werken, die 1794 in seinem Todesjahr erschienen, entnommen werden: In Ueber den Pan und sein Verhältnis zum Sylvanus stellt er zum Tod des „großen Pan“ die Frage, ob dieser, „als ein Individuum, von vergänglicher Natur“, mit seinem Tod „aufgehört [habe], Pan zu seyn“.622 Für den Pan wird folglich von Knoblauch erörtert, was ebenso auf den Menschen, der Frage nach dessen Seele und deren Fortbestehen nach dem Tode übertragbar ist: „Ist nicht etwa der auf eine gewisse bestimmte Weise organisirte Körper des Pan ein wesentlicher Theil von ihm, mit welchem zugleich seine Panheit, d. i. das, was ihn eben zum Pan macht, wegfällt?“623 In diesem Beispiel ist für Knoblauch – ähnlich wie in Riems Diktion – die Seele lediglich eine „für sich bestehende Kraft“, die jedoch nicht, wenn sie vom Körper getrennt wird, als „eine Fortsetzung des Lebens des Pan anzusehen“ ist. Zur Fortsetzung von dessen Leben hätte es die „Verrichtungen und Funktionen“ der Organe des Pan’schen Körpers erfordert, welche jedoch „der Tod zerstöhrt hat“. Sein Körper löste sich folglich „in unzählige Theile“ auf, die sodann nicht mehr als ‚Pan‘ anzusehen sind, sondern sich „nach und nach mit andern Körpern vereinigen.“624 Für die vom Körper getrennte Kraft, welche die Pan-Seele darstellen soll, beschreibt Knoblauch nachfolgend verschiedene Möglichkeiten, was mit dieser geschehen könnte. Er gelangt jedoch zu dem Schluss, dass „alle diese Fragen unnüz“ seien, „wenn etwa die Kraft, die dem lebenden Pan, als Pan, zukömmt, diese Kraft eines zusammengesezten Wesens [sei], welche folglich aus der – nicht bloß mechanischen, sondern chymischen – Verbindung vieler Elemente resultir[e]“. Statt also von einer Seele zu sprechen, betont Knoblauch die „Sensibilität“ als die wichtigste körperliche Eigenschaft, die im Gehirn und den „mit ihm im Zusammenhange stehenden, Nerven“625 entstehe. Diese Sensibilität stelle „die Grundkraft unseres Gemüthes“626 dar, ohne welche „weder Gedächtniß, noch Verstand im Menschen seyn könnte.“ So entstehen durch die „Vergleichung und Association“627 der, von den Nerven aufgenommenen, und im Gedächtnis ‚aufbewahrten‘ vorangegangenen Eindrücke unsere Begriffe, ohne die kein Denken stattfinden könne. Indem Knoblauch die Bedeutung des Gedächtnisses für das Denken und der damit verbundenen Persönlichkeit betont, ähnelt seine Argumentation nicht nur der Michael Hißmanns. Darüber hinaus zitiert er in diesem Zusammenhang auch erstmals ausführlich aus dessen 1777 erschienenen Werk Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik: Auch aus Hißmanns Sicht hängen Bewusstsein, Sensibilität, Gedächtnis und Verstand von den körperlichen Verbindungen ab und sind 622 623 624 625 626 627
Ders.: Pan (wie Anm. 218, S. 50), S. 63, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 63 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 64. Ebd., S. 66, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 66 f. Ebd., S. 67.
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proportional zu deren Beschaffenheit. Kommt es aufgrund von Krankheiten oder durch das Alter zu Veränderungen im Gehirn, können sich all diese Eigenschaften des Menschen „verdunkeln, und ganz ausgelöscht werden“.628 Auch in seinen frühen Artikeln lässt Knoblauch erkennen, welchen Stellenwert er dem Gedächtnis zuschreibt: „Du kannst kein Gedächtnis haben ohne Hirn, und nicht denken, nicht erinnern ohne Gedächtnis. Bonnet [Charles Bonnet (1720–1793), Anm. M. L.] sagt rund: unsere Persönlichkeit sey auf’s Gedächtnis gegründet.“629 Dass die Leistung des Gedächtnisses, „seine Stärke oder Schwäche“ proportional zur „guten oder schlechten Beschaffenheit des Hirnes“630 sei, formuliert er ebenfalls 1790 in seinen Nachtwachen. So könne auch die kleinste Störung des Gehirnes das menschliche Individuum zerstören oder ihm wenigstens nachhaltig schaden: „Ein wenig Blut, welches aufs Hirn drükt, löschet der Seele göttliches Licht aus. Ein von Winden aufgetriebener Darm, ein Klumpen Koth im Unterleibe, macht den größten Geist zum Dummkopf.“631 Neben Hißmann bezog sich Knoblauch bei diesen Aussagen außerdem auf Joseph Priestley (1733–1804) und die beiden deutschen Ärzte Christian Gottlieb Selle (1748–1800) und Melchior Adam Weikard (1742–1803). So merkt er 1787 ironisch an: „Ihr bauet zu viel auf die trügerische Erfahrung, und wenn ihr dieser trauen wollet, so könnt’ ihr auch mit Priestley, D. Selle und Weikard – und andern Höllenbrändten – annehmen, daß man ohne Hirn unmöglich denken, ohne Nerven gar nicht empfinden könne.“632 Ebenfalls ausführlich mit dem Gedächtnis und Erinnerungsvermögen des Menschen beschäftigt sich Knoblauch im Anhang seines Werkes Ueber einige Grundbegriffe der Ontologie, Kosmologie und Grössenlehre. Hierbei legt er zuerst – im deutlichen Gegensatz zu seinem spinozistischen Ansatz von 1787 – dar, dass „ohne Bewegung […] keine Wirkungen auf unsere Sinne“ erfolgen würde, dadurch „keine sinnlichen Eindrücke, mithin keine Wahrnehmungen, keine Begriffe“ entstehen könnten „und folglich auch kein Denken statt[fände].“ Während Knoblauch mit Spinozas Philosophie argumentierend darauf insistierte, dass Denken nichts mit Bewegung
628 Knoblauch: Pan (wie Anm. 218, S. 50), S. 68. 629 Ders.: Aristogiton an Phädrias. Etwas von Polypen. In: Hyperboreische Briefe 3 (1788), S. 195– 200, hier S. 199 f., Hervorh. i. Orig. 630 Ders.: Nachtwachen (wie Anm. 215, S. 50), S. 39. 631 Ebd., S. 39 f. 632 [Karl von Knoblauch]: Beweis, daß man ohne Augen sehen kan. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 185–188, hier S. 188 – Aufgrund Knoblauchs Verweis auf Hißmann und Priestley dürfte er mit deren Arbeiten über die von David Hartley (1705–1757) stammende Assoziationstheorie bekannt gewesen sein, ohne diese jedoch selbst zu thematisieren oder Details zu nennen. Zur dieser Assoziationstheorie, vgl. Falk Wunderlich: Assoziation der Ideen und denkende Materie. Zum Verhältnis von Assoziationstheorie und Materialismus bei Michael Hißmann, David Hartley und Joseph Priestley. In: Heiner Klemme, Gideon Stiening u. Falk Wunderlich (Hg.): Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Berlin 2013 (Werkprofile 2), S. 63–84.
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zu tun haben könne, ist er sich 1794 sicher, sagen zu können: „[D]ie Bewegung bringe unsere Gedanken hervor.“633 Um einen Gegenstand wahrzunehmen, müsse er auf die Sinne wirken, was wiederum nur durch Bewegung geschehen könne. So setzen nach Knoblauchs Vorstellung alle sinnlichen Eindrücke Bewegung voraus: „Ohne die Bewegung würde ich nie einen Körper gesehen und gefühlt, und, ohne jemals einen Körper gesehen und gefühlt zu haben, würde ich nie den Begriff der Materie, d. h. der undurchdringlichen Ausdehnung, erlangt haben.“634 Diese Sichtweise ist identisch mit der Darstellung in Werners Aetiologie.635 In den letzten Anhängen seines Buches befasst sich Knoblauch – teilweise leicht redundant – mit dem Erinnerungsvermögen und dem damit verbundenen Selbstbewusstsein. Hierbei verweist er ebenfalls mit Rückgriff auf Werners Aetiologie und vergleichbar mit seinen vorangegangenen Ausführungen darauf, „[d]aß das Gedächtniß körperlich sey“636 und mit dem Körper zerstört werde: Wir traten also ohne Gedächtniß in dieses Leben ein, und unser Gedächtniß entstand erst, wie Sehkraft, mit der Entwicklung und Ausbildung unserer gegenwärtigen Organen zugleich. Es ist also: das Produkt aus einer gewissen organischen Zusammensetzung – d. h. aus der Verbindung des Ich’s mit gewissen andern, ihm mehr oder weniger analogen, Substanzen.637
Knoblauch versuchte in den letzten Abschnitten dieses Werkes die Verwendung des Begriffes ‚Seele‘ zu vermeiden. Vermutlich tat er dies aus demselben Grund wie sein Freund Werner, der in seiner Aetiologie ausführte, dass er „[d]as Wort Seele […] mit Vorbedacht vermieden“ habe, da „damit bisher so sehr von einander abweichende Begriffe verbunden worden“ seien. Stattdessen verwendet Knoblauch die Bezeichnung ‚Ich‘, die bei Werner „ein im Gehirn des Menschen wohnendes Princip“638 darstelle. Diese Definition fällt bei Knoblauch anders aus: Er versteht unter dem ‚Ich‘, wie er in seinem Werk ausführt, quasi die Summe aller Teilchen, aus denen der Körper besteht. Er beschreibt, dass es „etwas unzerstörbares im Menschen – wie in allen anderen Körpern –“ gebe. Aus der Verbindung der „Elemente, oder einfachen Substanzen“ werde durch „deren Verbindung oder Aggregat“ das gebildet, was als ‚Körper‘ bezeichnet werde. „Unter diesen Elementen, deren unzerstörbares Daseyn der Grund von der Erhaltung und ewigen Fortdauer der Welt ist, findet sich auch unser Ich.“639 Ein Mensch, der zu Lebzeiten seines Gedächtnisses beraubt werde, könnte, so Knoblauch in seinem vorletzten Anhang, keine Urteile mehr über das fällen, was 633 Knoblauch: Grundbegriffe (wie Anm. 251, S. 55), S. 106, Hervorh. i. Orig. 634 Ebd., S. 105, Hervorh. i. Orig. 635 So wird bei Werner das Gefühl ausschließlich durch Bewegung erregt. Vgl. Werner: Aetiologie (wie Anm. 244, S. 55), S. 98. 636 Knoblauch: Grundbegriffe (wie Anm. 251, S. 55), S. 117. 637 Ebd., S. 119, Hervorh. i. Orig. 638 Werner: Aetiologie (wie Anm. 244, S. 55), S. 2, Hervorh. i. Orig. 639 Knoblauch: Grundbegriffe (wie Anm. 251, S. 55), S. 88, Hervorh. i. Orig.
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er wahrnimmt. Vergangene Eindrücke habe er vergessen und somit keinen Vergleich mit dem Aktuellen: „[U]m über zwei aktuelle Empfindungen urtheilen zu können, muß sie das Organ des Gedächtnisses wenigstens so lange continuiren, oder aufbewahren, daß man Zeit gewinnt, sie zu vergleichen, sich ihrer Aehnlichkeit oder Verschiedenheit bewußt zu werden.“640 Daher gebe es also „kein Urtheil, keine Ideen, keinen Verstand ohne Gedächtniß.“641 Deshalb sei man sich ohne die Erinnerung auch nicht der eigenen Existenz bewusst: „[D]ieses Bewußtseyn setzt Verkettung successiver Begriffe, mithin Gedächtniß, voraus.“642 Verliert die Seele – womit Knoblauch hier die Denkkraft meint – das Gedächtnis, „so muß sie sich in eben dem gedankenlosen, stupiden Zustande befinden, worinn sie im Keim des Menschen lag.“643 Mit diesem Zustand meint Knoblauch ein frühes Stadium des Lebens, in welchem es dem Menschen noch nicht möglich war, Wahrnehmungen zu haben und daraus Gedanken zu entwickeln. Diese Überlegungen rekapituliert Knoblauch nochmals in seinem letzten Anhang: „Das Bewußtseyn unsers Ich’s“ werde „auf das Bewußtseyn unserer Kraft“ und unseres Willens reduziert. Alles, was durch den Willen hervorgebracht wird, „davon ist mein Ich Ursache“.644 Alles andere habe seine Ursache außerhalb des ‚Ichs‘. Hierzu gehöre das Gedächtnis, weil man sich oft einer Sache nicht erinnern könne, obgleich man es wolle. Ebenfalls bekämen wir oft „Vorstellungen, die wir gar nicht haben wollen.“ Daher müsse das Gedächtnis „in der Verbindung der, (es umgebenden, und auf das Ich zunächst einwirkenden) Hirnsubstanzen, also im Spiel innerer Organe“645 liegen. Wie die Sehkraft gehört es zu den „schon im Leben verlierbaren Dingen“. Das Gedächtnis könne ebenso durch Arzneien gestärkt, aber auch „durch einen Fall, einen Schlag auf den Kopf, eine Apoplexie [plötzlicher Bewusstseinsverlust, Anm. M. L.], eine Krankheit, oft ganz vernichtet“646 werden. Abschließend kommentiert Knoblauch, dass manche Philosophen es als unbegreiflich empfänden, dass das menschliche Bewusstsein der Zusammensetzung eines Organs entspringen solle. Ihm hingegen erscheine es unbegreiflicher, wie das Bewußtseyn – welches doch keine einfache und unveränderliche, immer sich selbst gleich bleibende, sondern offenbar eine veränderliche, bald zu- bald abnehmende, nie ganz auf einmal vorhandene, sondern successive, und bisweilen fast ganz verschwindende Größe ist, einem einfachen – und also unveränderlichen, keines Wachsthums, und keiner Abnahme fähigen – Dinge inhäriren [könne.]647
Er meint damit, dass etwas, das wie das Bewusstsein einer solchen andauernden Veränderung unterlegen ist, seine Ursache nicht in einer Seele, einem ‚einfachen 640 641 642 643 644 645 646 647
Knoblauch: Grundbegriffe (wie Anm. 251, S. 55), S. 122. Ebd., S. 122 f. Ebd., S. 123. Ebd., S. 123 f. Ebd., S. 125, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 126, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 127, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 128, Hervorh. i. Orig.
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Ding‘, haben könne: Einer Seele sei es aufgrund ihrer unveränderlichen Einfachheit nicht möglich, zu- oder abzunehmen. Deshalb könne die Ursache eines wandelbaren Bewusstseins nicht in einer unwandelbaren Seele gesucht werden. Um unter keinen Umständen falsch verstanden zu werden, verdeutlicht Knoblauch dieses Fazit mit einer abschließenden Fußnote. In dieser hebt er seine Intention nochmals eindeutig hervor und stellt fest, dass [d]as Bewußtseyn […] aus Organveränderungen zu resultiren, und mit ihnen in entsprechendem Verhältniß zu stehen [scheint]. Es ist eine Qualität, die eine Quantität der Größe haben muß, und die Quantität des Bewußtseyns ist in verschiedenen Momenten der Zeit nicht immer eben dieselbe, so, wie wir, je nachdem unsere Organe verändert werden, nicht zu allen Zeiten gleich scharf sehen oder hören können.648
Spätestens 1794 ist in Knoblauchs Schriften die Frage nach der Seele endgültig in den Hintergrund gerückt. Stattdessen beschäftigt er sich aus seiner philosophischen Perspektive mit naturwissenschaftlichen Erklärungen, durch welche das menschliche Individuum, dessen ‚Ich‘, Bewusstsein und Gedächtnis plausibel erklärt werden könnten. Nachdem er sich ab 1791 von einer spinozistischen Philosophie distanziert hatte, formuliert er 1794 eine deutlich materialistische Sichtweise, nach welcher alle menschlichen Kräfte ihren Ursprung in den jeweiligen Organen des Körpers haben müssen. Das Konzept einer Seele kommt in seinen beiden letzten Werken aus dem Jahr 1794,649 kaum vor: In Ueber den Pan und sein Verhältnis zum Sylvanus stellt sie die Lebenskraft dar, welche als ‚Sensibilität‘ ein Resultat der Zusammensetzung des Körpers ist und daher auch mit diesem vergeht. An ihrer statt hebt Knoblauch in diesem Werk und ebenso in Ueber einige Grundbegriffe der Ontologie, Kosmologie und Grössenlehre die Bedeutung des Gedächtnisses hervor. Ohne dieses können keine Sinneseindrücke aufbewahrt werden, die wiederum mit unmittelbaren Eindrücken verglichen werden können, wodurch letztendlich erst das Denken ermöglicht wird. Aus diesem Denken, dem Vergleich gespeicherter Erfahrungen, besteht das Bewusstsein des Menschen. Da es durch Alter, Krankheit oder Medikamente einer steten Veränderung unterworfen ist, kann es seinen Ursprung nicht in einer außerkörperlichen, einfachen und dadurch zu keiner Veränderung möglichen Sache – einer ‚Seele‘ in metaphysisch-religiöser Vorstellung – haben. Knoblauch verbindet hierbei populäre materialistische Theorien, die davon ausgingen, dass das Gedächtnis des Menschen vom Gehirn abhängig sei,650 mit seiner eigenen Emergenztheorie, nach welcher die menschlichen Kräfte, das Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen – und eben auch das Denken – den jeweiligen Organen entspringen. Diese Kräfte lassen sich in den einzelnen Bestandteilen, aus denen die Organe zusammengesetzt sind, nicht finden und entstehen in ihrer Kombination – wie auch aus Kohle, Schwefel und Salpeter Schießpulver entsteht. Diese Fähigkeit des 648 Ebd. 649 In dem ebenfalls 1794 erschienenen Buch Das Uebernatürliche geprüft von einem Freiwilligen beschäftigt sich Knoblauch hingegen ausschließlich mit den Themen Aberglaube und Wunder. 650 Vgl. Wunderlich: Materialism (wie Anm. 198, S. 47), S. 9 f.
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Denkens und seine Kombination mit dem Gedächtnis als Vergegenwärtigung vergangener Eindrücke ist das Bewusstsein des Menschen. Dieses steigt und fällt mit dem Zustand seines Organs und muss am Ende auch mit diesem vergehen. Eine Seele wird nach dieser Theorie nicht mehr benötigt, denn die Fähigkeiten des Gehirns genügen vollkommen. Dieser aus heutiger Sicht gut nachvollziehbaren Sichtweise hing Knoblauch nicht nur 1794, sondern auch schon 1787, zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere, an. Er stellte in der Rezension eines Essais des französischen Chirurgen Pierre Fabre (1716–1791) die rhetorische Frage, was sich verändern würde, nähme man an, dass ein Mensch – wie oftmals bei Tieren angenommen – nicht im Besitz einer Seele wäre. Seine schlichte Antwort hierauf lautet: nichts. Der Mensch würde, so Knoblauch, weiterhin „den Gesezzen des organischen Mechanism zu Folge, leben, athmen, sich reproduziren. Alle seine natürlichen Funktionen würden nach eben denselben mechanischen Gesezzen erfolgen, seine Handlungen würden ihm einen Schein von Verstand und Absicht geben, der sich auf das Spiel seiner Organe gründen würde. Wirklich sind auch die meisten Handlungen seines Lebens nur das Resultat seiner Organisation, ohne daß die Seele den mindesten Antheil daran hat.“651 3.1.2.2 Moral trotz Fatalismus Auch wenn im Laufe des 18. Jahrhunderts „das Problem der Strafbarkeit des Atheismus allmählich aus den Naturrechtslehrbüchern zu verschwinden“652 scheint, ist in dieser Zeit weiterhin die Meinung weit verbreitet, dass ein ‚gottloser‘ Mensch nicht zu einem moralischen Leben fähig sei.653 So sieht Moses Mendelssohn Kirchen, Synagogen und Moscheen als gleichberechtigte religiöse Institutionen an, welche die gesellschaftliche Aufgabe hätten, die moralische Gesinnung der Menschen erzieherisch auszubilden. Hierdurch ist nachvollziehbar, weshalb Mendelssohns „Verständnis von Toleranz als Religionsfreiheit nicht mit religiöser Indifferenz oder radikaler Religionskritik einhergehen mußte“ und seine Vorstellung von Gewissensfreiheit
651 [Karl von Knoblauch]: Analyse über eine Analyse, d.i. über das Essai analytique sur les facultés de l’ame des Herrn Fabre. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 343–360, 12 (1787), S. 56–65, 189– 200, 339–351, hier S. 347 f. 652 Hüning: Grenzen (wie Anm. 19, S. 5), S. 249. 653 Vgl. Forst: Toleranz (wie Anm. 44, S. 112), S. 294 f., 387; Hermann E. Stockinger: Die ,Bedrohung‘ des Atheismus: Kampf gegen Windmühlen? In: Hubertus Busche (Hg.): Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700). Hamburg 2011, S. 994–1012, hier S. 998–1000; Jürgen Weitzel: Der „Ungläubige“ im Recht des 18. Jahrhunderts. In: Kronauer u. Deutsch (Hg.): Ungläubige (wie Anm. 95, S. 119), S. 29–45, hier S. 30 f. – Karl von Knoblauch fasste diese allgemein verbreitete Meinung folgendermaßen zusammen: „Ohne Religion, glaubt man, lasse sich keine bürgerliche Verfassung denken; ohne Religion würde es keine folgsamen Unterthanen, keine Redlichkeit, keine Tugend geben; mit Wegnehmung der religiösen Meinungen würde eine wohlgeordnete bürgerliche Gesellschaft sich in eine Räuberbande verwandeln, Folglich sey die Religion ein Hauptgegenstand der Gesezzgebung.“ Knoblauch: Formul (wie Anm. 36, S. 111), S. 156.
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dennoch mit einer „Verpflichtung auf religiöse Wahrheit“654 verbunden war. Entsprechend ist auch der aufgeklärt-deistische Versuch zu verstehen, einen ‚Schnittmengenkonsens‘ der monotheistischen Religionsparteien zu erarbeiten, wie es beispielsweise Basedow in seinem Programm der Reformschule versuchte: Auf der einen Seite sollte „auf trennende Religionsdogmen“ verzichtet werden, um die Schüler – im Sinne „der aufgeklärten Toleranzbotschaft“ – auf eine ‚Weltbürgerschaft‘ vorzubereiten. Auf der anderen Seite ist dieser Versuch, einen interreligiösen Konsens herzustellen, ambivalent, da er „nahezu durchweg die utilitäre Funktion der Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Sozietät als konstitutiv ansetzt und ‚Ungläubige‘ (Atheisten) als Gemeinschaftsschädlinge toleranztheoretisch ausgrenzt.“655 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde ein popularisierter Spinozismus in Form eines „Kokettieren[s] mit einzelnen spinozistischen Ideen“656 als besonders schädlich erachtet: Die spinozistische Philosophie, die das göttliche Wesen mit der unendlichen Substanz gleichsetzte, oder der Materialismus, der Gott in der Summe aller Materie sah, negierten Gott als Instanz für eine übernatürliche und dadurch außerhalb der körperlichen Welt existierende Moral. Wenn alles als Substanz oder Folge der materiellen Bewegung angesehen und hierdurch erklärt werden könne, sei jedes Ereignis und jede menschliche Handlung quasi durch diese Gesetzmäßigkeiten vorbestimmt. Dies führte für die Kritiker dieser Haltung zu einem Wegfall der Willensfreiheit hin zu einem Fatalismus, da der Mensch, als Getriebener dieser Gesetzmäßigkeiten nicht mehr frei zwischen moralisch guter und schlechter Handlung entscheiden könne. Einerseits entstand hierdurch die Befürchtung, dass durch die Aussage, man sei durch die determinierenden Naturgesetze zu einem Verbrechen genötigt worden, jede Handlung gerechtfertigt und nicht mehr bestraft werden könnte. Andererseits wäre damit ebenfalls aus theologischer Sicht ein strafendes jenseitiges Gericht über die menschlichen Taten und Entscheidungen obsolet gewesen. Mit Blick auf die Folgen des Spinozismus hielt es vor allem Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) „für unbedingt nützlich, das Lehrgebäude des Spinoza ‚nach dem nothwendigen Zusammenhange seiner Theile öffentlich‘ darzustellen, um insbesondere durch den Erweis des Fatalismus und den Verzicht auf die Willensfreiheit die abschreckende Wirkung gegen den wachsenden Einfluss Spinozas zu erneuern.“657 Sein 1785 hierzu veröffentlichtes Buch Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn sollte ironischerweise zur weiteren Verbreitung der spi-
654 Zurbuchen: Entwicklung zur Religionsfreiheit (wie Anm. 5, S. 1), S. 26. 655 Klaus Bleeck: J. B. Basedows Pädagogische Konzepte. In: Beetz, Garber u. Thoma (Hg.): Physis (wie Anm. 24, S. 19), S. 237–252, hier S. 238. 656 Ursula Goldenbaum: Kants Stellungnahme zum Spinozismusstreit 1786. In: Emundts (Hg.): Kant (wie Anm. 43, S. 10), S. 98–115, hier S. 109. 657 Ebd., S. 110.
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nozistischen Philosophie beitragen, sodass Jacobi auch von Karl von Knoblauch als „der beste Ausleger Spinoza’s“658 bezeichnet wurde. Karl von Knoblauch: Eigenliebe als Triebfeder des Menschen Aufgrund dieser in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreiteten Sichtweisen ist es auch für Knoblauch ein wichtiges Anliegen festzustellen, dass eine Philosophie, welche sich in erster Linie auf die Menschen, statt auf göttliche Macht bezieht, nicht zum Niedergang der gesellschaftlichen Moral führen wird. Dies betont er in einem 1786 abgedruckten Artikel über Bernard le Bovier de Fontenelles (1657–1757) 1686 erschienenes Werk Histoire des oracles: Es sei nicht vereinbar mit „dem Glauben an gute, menschenliebende, wohlthätige Götter“, wenn man Philosophen wie Lucilio Vanini (1585–1619) und „andre Märtirer ihrer Unüberlegtheit“ wegen verbrenne, nur weil sie die „große Ungereimtheit und Impertinenz, zu sagen“ besessen hatten, „daß keine Götter sind.“ Sollten nämlich Götter existieren, so ist sich Knoblauch sicher, dass nicht derjenige einen Mord an ihnen begehe, „der ihr Nichtseyn aus Eigensinn oder falschen Gründen“ behaupte: „Sie sind unabhängig von unsern Sillogismen da, und ihre Natur ist zu sehr über die unsrige erhaben, als daß wir ihren Zustand alteriren, und ihre Seligkeit durch einen Trugschluß stöhren könnten.“659 Während folglich die Götter660 – sofern es sie geben sollte – nicht von einem eventuellen menschlichen ‚Unglauben‘ an sie beeindruckt wären, ist sich Knoblauch zudem sicher, dass mit einem schwindenden Glauben an die Götter nicht „zugleich die ganze menschliche Gesellschaft zu Grunde gehen“661 würde. Es sei für alle Menschen von Interesse, die Gesellschaft – und nicht die Götter – zu erhalten, denn das menschliche „Privatinteresse“ sei untrennbar mit dem „öffentlichen Interesse“ verwoben. Die Motivation, an Götter zu glauben, wiege hingegen nicht so stark. An dieser Stelle schließt sich Knoblauch Nathans sinnhaft wiedergegebenen Aussage aus Lessings Nathan der Weise an: „‚Der Mensch‘, sagt Lessing, ‚liebt doch den Menschen mehr, als einen – Engel!‘“662 Da die Moral der Menschen nicht durch oder aufgrund der Götter aufrecht erhalten werde, stellt sich Knoblauch die Frage, was stattdessen als Grundlage und 658 Knoblauch: Anti-Taumaturgie (wie Anm. 170, S. 131), S. 40. 659 Ders.: Analyse der Schrift des Herrn von Fontanelle über die Orakel. Mit Zusäzen. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 82–89, 209–214, 217–222, 285–293, hier S. 213. 660 Knoblauch verwendet in seinen Texten gerne den Plural, statt von einem ‚Gott‘ zu sprechen. Dies machte er sicherlich einerseits, um sich abzusichern, da er damit hätte behaupten können, dass er nicht den christlichen Gott meine. Andererseits ist es auch als Provokation zu verstehen, indem er in seinen Texten ‚die Götter‘ anführt und sich somit selbst in einer eventuellen Negation göttlicher Macht demonstrativ von einem monotheistischen Gott abwendet. 661 Ebd., S. 213 f. 662 Ebd., S. 214, Hervorh. i. Orig. – „Nathan: Macht dann / Der süße Wahn der süßern Wahrheit Platz: – / Denn, Daja, glaube mir; dem Menschen ist / Ein Mensch noch immer lieber, als ein Engel – / So wirst du doch auf mich, auf mich nicht zürnen, / Die Engelschwärmerin geheilt zu sehn?“ Nathan der Weise, I/2, V. 161–168.
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Ursache des moralischen Verhaltens angesehen werden könne und warum diese Moral – von den Göttern unabhängig – stabil bleibe. Auch im Falle der Moral ist Knoblauchs Meinung nach die Ursache wieder im jeweiligen Menschen zu finden: So habe es die Menschheit ebenfalls geschafft, in der Mathematik die Algebra zu erfinden, „ohne daß uns die Götter sie lehrten“. Ebenso sollten die Menschen in der Lage sein, „den Katechism der socialen Pflichten [zu] schreiben, die Maximen der Moral [zu] entdecken, ohne daß ein Gott uns dort die Feder führte, und uns hier die Kenntnis des Rechts und Unrechts einblies.“663 Indem also komplexe Erfindungen in der Mathematik dem Verstand der Menschen entspringen konnten, sei es erst recht denkbar, dass sie ebenfalls fähig waren, „die, an sich, so einfache Moral [zu] erfinden“,664 da jeder Mensch die entsprechenden Werte in sich trage und daher instinktiv wisse, was für sich selbst und die Gesellschaft das Beste darstelle. Diese Selbst- oder Eigenliebe ist nach Knoblauchs Ansicht die allgemeine und wichtigste Triebfeder der menschlichen Handlungen: So stelle „alle Liebe unter dem Monde im Grunde nur Selbstliebe“ dar, welche „in tausend verschiedenen Formen, Modifikationen und Verkleidungen“ daherkomme und so als „Erste[r] Beweger in der moralischen Welt“665 zu verstehen sei. Analog zur physischen Welt, die ausnahmslos den Gesetzen der Bewegung unterworfen ist, „folgt die moralische Welt nothwendig und ohne Ausnahme den Gesetzen des Interesse.“ Dieses Interesse ist durch Beweggründe gekennzeichnet, die für den Menschen Ausschlag zum Handeln oder zum Nichthandeln geben. Diese Entscheidung ist nicht frei, sondern determiniert. Sie hängt folglich nicht von unserem „Willen, oder von unserer Wahl ab.“ Stattdessen sind „[t]ausend uns selbst verborgene Ursachen“ für die jeweilige Entscheidung verantwortlich. Sie liegen „außer unserer Gewalt“ und „vereinigen sich in und außer uns, um den Menschen zu demjenigen zu machen, was er ist.“666 Um zu verdeutlichen, dass die Eigenliebe des Menschen der menschlichen Natur entspricht und damit „der ganzen Art eigen und wesentlich“667 ist, bedient sich Knoblauch erneut des zur Zeit der Aufklärung beliebten Vergleichs des Menschen mit einer Uhr: Die Selbstliebe als Triebkraft ist vergleichbar mit „der Feder in der Uhr, ohne welche die Maschine ihre bestimmungsmäßige Bewegung nicht fortsetzen könnte.“668 Indem also ausschließlich die Eigenliebe für die menschlichen Handlungen verantwortlich ist, wäre es aus Knoblauchs Sicht ungerecht, wenn man diese „Eigennützigkeit zum Verbrechen“669 erklären würde. Sie ist als Ursache für das moralische Handeln keinesfalls negativ zu bewerten: Taten, die aus menschlicher Eigenliebe ge663 664 665 666 667 668 669
Ebd. Knoblauch: Koran (wie Anm. 368, S. 165), S. 77. Ders.: Liebe der Eltern (wie Anm. 310, S. 66), S. 62, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 61, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 61 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 61, Hervorh. i. Orig. Ebd., Hervorh. i. Orig.
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tätigt werden, verdienten nur dann „den Namen lasterhafter Handlungen“, wenn sie dem Interesse der Mitmenschen nachteilig würden. In diesem Fall haben sie jedoch nicht Knoblauchs Eigenliebe als Grundlage, sondern stellen die „Wirkungen einer unerleuchteten und egoistischen Selbstliebe“ dar, „d. h. eines isolirten und dem öffentlichen Wohl entgegengesetzten“670 Interesses.671 So habe man auch, wie Knoblauch 1786 schreibt, oftmals Louis-Alexandre de La Rochefoucauld (1743–1792) und Helvétius den Vorwurf gemacht, dass sie die „Eigenliebe zum Ressort der moralischen Welt“ gemacht hätten: „Aus Misverstand hat man ihrer Theorie, welche sich auf die Beobachtung der Natur gründet, die Erhabenheit des zärtlichen Wohlwollens gegen Andere, die Aufopferung des Lebens für Andere, welche die uneigennüzigste Handlung zu seyn scheint, als ein Argument ohne Replik gegen sie gesezt.“672 Doch „die Einbildung der Uneigennützigkeit bey seinem Thun und Lassen“ stelle lediglich eine „Illusion“ und einen „Zauber“ dar, mit welchen sich der Mensch – sich den eigentlichen Motiven seiner Handlung unbewusst – aus „selbstgefällige[m] Stolz“673 selbst blende: Der Mensch kenne die Ursachen nicht, die ihn zu einer bestimmten Handlung verleitet haben, da sie äußerst vielfältig seien und nicht überblickt werden könnten. Dass er jedoch eigentlich aus Selbstliebe handele, wolle der Mensch nicht zugeben, da Uneigennützigkeit – die „Abwesenheit des eigenen Interesse[s]“674 – als wertvoller erachtet werde: „Da die Uneigennützigkeit für eine Tugend gilt, gelobt und bewundert wird, so möchten wir durch ihr glänzendes Phantom gern die Summe unserer eingebildeten Vollkommenheiten vermehren, oder unsere Ansprüche auf Beyfall und Hochachtung verstärken.“675 Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern Vor allem Eltern würden sich oft selbst damit schmeicheln, „ihre Kinder auf die uneigennützigste Art von der Welt, ohne alle Rücksicht auf ihren eignen persönlichen Vortheil, und auf ihr eigenes Vergnügen, zu lieben.“ – Dies ist Knoblauchs Meinung nach bloß „Irrthum und Selbstbetrug“.676 Er macht stattdessen mehrere Gründe für die Liebe zu den eigenen Kindern aus, welche der Selbstliebe entspringen. Hierbei führt Knoblauch zuerst die sogenannte ‚Postéromanie‘ an, die er aus Helvétius’ De 670 Knoblauch: Liebe der Eltern (wie Anm. 310, S. 66), S. 62, Hervorh. i. Orig. 671 Knoblauchs Verständnis von falsch verstandener Selbstliebe ähnelt an dieser Stelle Francis Hutchesons (1694–1746) Moralphilosophie: „Allein wenn die Selbstliebe die oben erwähnte Gränzen überschreitet, und zu Handlungen verleitet, die andern, und dem Ganzen schädlich sind: dann erscheint sie lasterhaft, und wird gemißbilligt.“ Francis Hutcheson: Franz Hutchesons, der Rechte Doctors und der Weltweisheit Professors zu Glasgow, Untersuchung unsrer Begriffe von Schönheit und Tugend in zwo Abhandlungen. Übers. v. Johann Heinrich Merk. Frankfurt u. Leipzig 1762, S. 185, Hervorh. i. Orig. Vgl. hierzu auch: Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, Bd. 1. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 78 f. 672 Knoblauch: Seinige (wie Anm. 69, S. 116), S. 325. 673 Ders.: Liebe der Eltern (wie Anm. 310, S. 66), S. 60 f., Hervorh. i. Orig. 674 Ebd., S. 60, Hervorh. i. Orig. 675 Ebd., S. 62. 676 Ebd.
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l’Esprit entnommen hat, ohne darauf direkt zu verweisen: Als Postéromanie werde „die Begierde“ bezeichnet, „Nachkommen zu hinterlassen, die unsern Namen tragen, uns repräsentieren und unser hochansehnliches Geschlecht fortpflanzen.“ Hierbei würden die Eltern ihr eigenes Dasein in ihren Kindern und Enkeln fortgesetzt sehen. Sie lieben folglich „in ihren Kindern eigentlich nichts, als die Fortdauer ihres Namens und Andenkens.“677 Einigen Menschen würde es gefallen, andere Menschen zu kommandieren und ihnen Befehle zu geben. Sie hätten mit ihren Kindern Personen, „die in einer gänzlichen Abhängigkeit von ihnen stehen, und alle ihre Kaprizen ohne Widerrede ertragen müssen.“ Bei keinem zwischenmenschlichen Verhältnis sei die Abhängigkeit größer als zwischen Eltern und ihren noch nicht erwachsenen Kindern. Ein Bediensteter könne, „wenn er Ursache hat, sich über die Härte und den Eigensinn seines Herrn zu beklagen, […] ihn verlassen, und sein Glück sonstwo suchen.“ Ein Kind sei hingegen an die Eltern „gekettet“ und „[b]isweilen lieben herrschsüchtige Eltern“ ihre Kinder nur als „Sklaven und […] Märthyrer ihres Eigensinns.“678 Eine Verbindung, wie die zwischen Kind und Eltern, welche „sich blos auf gegenseitiges Bedürfnis“ gründe, würde sich auflösen, wenn dieses Bedürfnis verschwinde. Als Beispiel führt Knoblauch die Vaterliebe an, welche „in den Herzen der meisten Menschen erkaltet, wenn die Kinder erwachsen, und durch ihr Alter oder durch ihren Stand ihre eigne Herrn geworden, d. h. die Unabhängigkeit von der elterlichen Gewalt erlangt haben.“ So seien Väter „bey allen ihren guten Eigenschaften“ meist „kleine häusliche Despoten“ und könnten den Verlust ihrer „Gewohnheit, zu Kommandiren“679 oft nur schlecht verkraften. Mütter hingegen würden die Kinder meist so lieben, wie ein „Kind seine Puppe liebt“: Sie spielen „mit diesen lebendigen Puppen“, um mit ihnen „zu tändeln, und sich die Zeit damit zu verkürzen“, da sie ansonsten „oft zu Hause vom Ennui gequält werden würden.“ Außerdem seien sie in Gesellschaft ihrer Kinder „weniger genirt“ und könnten sich durch ihre Kinder „von tausend kleinen Attentionen dispensiren“, die man in anderen Gesellschaften „als eine Art von konventioneller Pflicht“680 fordern würde.681 Als letzten Grund für die Liebe von Eltern zu ihren Kindern nennt Knoblauch „das Vergnügen, welches der Anblick schöner Formen“ in uns hervorrufe. Diese Freude sei generell schon sehr groß, wenn man Schönes betrachte. Wenn man jedoch sich 677 678 679 680 681
Ebd., S. 63. Ebd. Ebd., S. 64, Hervorh. i. Orig. Ebd., Hervorh. i. Orig. Diese konventionellen Pflichten bezeichnet Knoblauch, dem seine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in Dillenburg selbst lästig erschien und was ihm negativ ausgelegt wurde, als unangenehmen Zwang, der letztendlich „unsern Trieb zur Geselligkeit schwächt.“ (Ebd.) Mit seiner Argumentation bedient Knoblauch gleichzeitig zeittypische Stereotype, welche die Frau vor allem als liebevolle Hausmutter sahen. Vgl. hierzu Kap. 3.2.2.
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„selbst als die Urheber einer so liebenswürdigen Kreatur“ sehe, mische sich dieses Interesse vor allem mit „unserer Eitelkeit“.682 Während für Knoblauch also auch eine als selbstlos stilisierte Liebe zu den eigenen Kindern ihren Ursprung in der natürlichen, menschlichen Selbstliebe hat, gilt dies erst recht für Liebe an sich: Sie ist „– was auch gewisse Schwärmer unter den Moralisten sagen mögen! – nichts als eine mehr oder weniger maskirte Begierde nach Genuß.“ Diese Behauptung könnte sogar nach Knoblauchs Meinung als Definition für den Begriff Liebe verstanden werden, wenn sie nicht von „einigen überspannten Sittenlehrern“ als anstößig verschrien worden wäre: Diese hätten nämlich dem Genuss nur die Bedeutung beigelegt, den er „in der Sprache des Bordells zu haben pflegt.“ Hier hält Knoblauch dagegen, dass ebenfalls in einer platonischen oder zynischen Liebe „eben um dieses Vergnügens willen“683 geliebt würde. Dieses Vergnügen wird als Gut verstanden, welches man sich als nützlich oder erstrebenswert vorstellt und es daher zu erreichen versuche. Für Knoblauch steht fest, dass „[d]as eigene Interesse, als Principium der Handlungen“ nicht aus der moralischen Philosophie verbannt werden sollte. Zumal man dies, da es die grundlegende Ursache für menschliche Handlungen darstelle, auch gar nicht könne: Die Vorstellung, die Selbstliebe als moralische Handlungsursache zu verbannen, sei „ungefähr so philosophisch […], als wenn uns einfiele, die Lehre von der Sollicitation [Einwirkung, Anm. M. L.] zur Bewegung aus der Mechanik auszuschließen.“684 Knoblauch über den Selbstmord Mit der Selbstliebe als grundlegendem Handlungsprinzip des Menschen ist für Knoblauch sogar eine drastische Tat wie eine Selbsttötung erklärbar. Hierbei legt Knoblauch besonderen Wert auf die Formulierung, den Selbstmord als ‚erklärbar‘ darzustellen, statt für ihn eine „Erklärung“ zu liefern: Etwas zu erklären würde seiner Ansicht nach bedeuten, eine „Apologie der That“ zu beschreiben. Wenn man hingegen eine „That erklärbar“685 mache, versuche man lediglich die Gründe, die zu der jeweiligen Tat führten, verständlich darzulegen, ohne sie direkt apologetisch oder beschönigend zu beschreiben. „In jedem Fall“ verdiene ein Selbstmörder, wie er betont, „unser Mitleid.“ Die Religion betrachte seine Tat als „ein Verbrechen vor Gott“.686 Knoblauch stellt hingegen die Frage, ob es sich nicht um ein Verbrechen gegen den Staat handle. Eine Selbsttötung sei immer „Effekt unserer Unzufriedenheit“, welche ein „tiefgefühltes, nie wegzuräsonirendes Elend zur tristen Ursach“ habe: Solange man ge682 683 684 685
Knoblauch: Liebe der Eltern (wie Anm. 310, S. 66), S. 65, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 66, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 67, Hervorh. i. Orig. [Karl von Knoblauch]: Zu einem seltnen Selbstmord. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 107– 114, hier S. 109. 686 Ebd., S. 108.
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sund sei, „die Plagen des Lebens nicht“687 fühle, sei der Mensch mit seinem Leben auch zufrieden. „Er hat, solang die reizende Illusion, der Morgentraum eines schönen Maitages, dauert, kein Motif sterben zu wollen; und ohne Motif giebt’s keine Handlung.“688 Dieses Motiv erhalte der Mensch, wenn ihn „unerträgliche Leiden drükken“, sodass „[d]er Betrogene zum einzigen Asyl, das den Elenden übrig bleibt, von der Folterbank des Lebens weg in die kalten Arme des Todes“689 fliehe. Hierdurch werde den Leidenden „nur die Alternativ gelassen […], entweder zu leiden oder zu sterben!“690 Auch führe Verzweiflung, die nicht durch eine Krankheit hervorgerufen wurde, dazu, dass sich Menschen umbrächten, da sie aus ihrer Situation keinen Ausweg mehr sehen könnten: „Versetzt euch auf jene Inseln Westindiens, wo Negern, durch die Grausamkeit des Verhängnisses und der Menschen in Verzweiflung gebracht, haufenweis sich entleiben!“ Diese, durch die Grausamkeit der Europäer verzweifelten Menschen würden zwar, wie es „alle Reisebeschreiber“ sagten, den Tod fürchten, „[a]ber der Haß des Lebens überwindet bei ihnen noch die Furcht des Todes.“ Somit sei ihre Selbsttötung keine Bosheit, sondern „Beweis und Wirkung ihres äussersten Elendes“691 Während es bei diesen Menschen andere gebe, die für das Leid verantwortlich gemacht werden könnten, könne das Leid hingegen auch eingebildet, also psychologischer Natur sein. Hier führt Knoblauch Goethes Die Leiden des jungen Werther an. Werther habe sich „nicht aus uneigennütziger Liebe zu Lotten“ erschossen, da ihr „mit seinem gewaltsamen Tode wenig gedient war.“692 Stattdessen, so Knoblauchs Interpretation, habe ihn die Sehnsucht nach einem Genuss, die Nähe zu Lotte, die ihm nicht erfüllt werden konnte, derart gequält, dass er den Tod vorzog. Durch seinen Schmerz habe sich Werther in eine „unsichtbare Welt […] hineinphantasiert“, die zwar lediglich „seiner Einbildungskraft“ entsprang, aber dennoch die „einladende[] Gestalt eines Asyls für leidende Liebe“693 hatte: „Es war also Flucht vor tiefgefühlten oder gefürchteten Uebeln, Sehnsucht nach Ruhe, es war eigenes Interesse, was ihm den Entschluß zu sterben in den Kopf, und die Pistole in die Hand gab.“694 Knoblauch schließt sich bei seinen Texten zum Selbstmord vor allem an die Argumentation Montesquieus, Humes und Holbachs an: Ihnen „ist gemeinsam, dass sie das Recht des ‚freiwilligen Todes‘ einforderten für den Fall, dass das Leben unerträglich geworden war.“695 Knoblauch argumentiert jedoch nicht mit einem 687 688 689 690 691 692 693 694 695
Ebd. Ebd., S. 108 f. Ebd., S. 109. Ebd., S. 110. Ebd. Knoblauch: Liebe der Eltern (wie Anm. 310, S. 66), S. 65, Hervorh. i. Orig. Ders.: Seinige (wie Anm. 69, S. 116), S. 326. Ders.: Liebe der Eltern (wie Anm. 310, S. 66), S. 65, Hervorh. i. Orig. Andreas Bähr: Der Richter im Ich. Die Semantik der Selbsttötung in der Aufklärung. Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 180), S. 324.
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verletzten Vertrag, der zwischen der Gesellschaft und dem jeweiligen Menschen geschlossen wurde. Durch ihn könne, nach der Argumentation der drei anderen Philosophen, der Mensch von der Gesellschaft zum Leben verpflichtet werden, solange diese ebenfalls ihre festgelegten Pflichten dem Menschen gegenüber erfülle. „War die Gesellschaft vertragsbrüchig geworden, so verlor der Vertrag seine Gültigkeit.“696 Zwar sieht auch Knoblauch „Regenten, Gesezzgeber, [und] Aerzte“ in der Pflicht, das „Menschenelend zu vermindern, und die phisischen Ursachen des Selbstmords wegzuräumen“.697 Es handelt sich bei Knoblauch aber nicht um einen abgeschlossenen beziehungsweise verletzten Vertrag, sondern eher um eine Pflicht der Regierenden (und des medizinischen Fachpersonals), die Ursachen in Form des existentiellen Elends oder von Krankheiten zu beseitigen. Es liegt jedoch nicht immer in ihrer Macht, diesen Gründen Abhilfe zu verschaffen: Da ein Mensch aus Knoblauchs Sicht ebenfalls einen nachvollziehbaren Grund zur Selbsttötung hat, wenn er sich – wie Werther – ein Übel nur einbildet, handelt es sich um etwas, das in keiner Weise von Regenten, Gesetzgebern oder Ärzten (des 18. Jahrhunderts!) hätte aus der Welt geschafft werden können. Hier kann nach Knoblauchs Auffassung also kein Vertrag bestehen, der vonseiten der Gesellschaft gebrochen werden könnte. Er betont stattdessen die Pflicht einer sorgenden Regierung, Elend zu beseitigen, wo dies in ihrer Macht steht. Die Schuld liegt folglich nicht bei der Person, die den Selbstmord begeht: „War es deine Schuld, daß du nichts zu essen hattest? Daß du, von allen Seiten gedrängt und geängstet, keinen andern Ausweg vor dir sahest, als den blutigen Pfad, der zu deinem frühen Grabe dich führte?“698 Ausdrücklich schließt sich Knoblauch Cesare Beccaria (1738–1794) an, den er bezüglich dieser Thematik nicht grundlos als „italienischen Montesquieu“699 bezeichnet: Beide, Beccaria und Montesquieu, kritisierten wie Knoblauch in seinen Schriften die Bestrafung von Selbstmördern. Montesquieu ließ in seinen 1721 erschienenen Persischen Briefen seinen außereuopäischen Beobachter die Ahndung der Selbstmörder kommentieren, die sie quasi ein zweites Mal sterben lasse.700 Beccaria, auf den sich Knoblauch ausdrücklich bezog und aus dessen Schriften er auch zitierte, forderte „die völlige Abschaffung der Selbstmordstrafen“:701 Diese könnten entweder nur einen Toten oder Unschuldige treffen, welche diese Tat nicht begangen hätten. Eine Selbsttötung ließe sich durch Gesetze zudem nicht verhindern, wie auch Knoblauch ausführt:
696 697 698 699 700
Bähr: Richter (wie Anm. 695, S. 221), S. 324 f. Knoblauch: Selbstmord (wie Anm. 685, S. 220), S. 110. Ders.: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 97 f., Hervorh. i. Orig. Ders.: Selbstmord (wie Anm. 685, S. 220), S. 113. Vgl. Vera Lind: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 146), S. 47–49. 701 Ebd., S. 55.
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Gesezze gegen den Selbstmord gehören zu den Armseligkeiten. Was ist ein Gesezz, welches durch Strafe nicht sanzirt werden kan? Oder wann wollt ihr den Selbstmörder strafen? – Ehe er die That vollbracht hat? Er lebt noch, hat sich also nicht umgebraucht, verdient die Strafe der Autochirie [Selbsttötung, Anm. M. L.] nicht. – Im Augenblick, da er sie vollbringt? Könnt ihr bei jeden Bürger eine Schildwache stellen? Wollt ihr den Mord, den er beginnt, vollenden helfen? 702
Wenn der Mensch den Selbstmord vollbracht habe, sei er nur noch „ein fühlloser Kloz, der Strafe, des Schmerzens, der Beschimpfung unfähig“ sei. An einer Leiche könne man die Strafe, die das Verbrechen des Selbstmordes vorsehe, nicht vollziehen. Stattdessen treffe sie die Familie, was eine zusätzliche Ungerechtigkeit zu dieser Unsinnigkeit darstelle: „Nur seine unschuldige, in Kummer versenkte Familie empfindet die Schmach, und weint blutige Thränen.“703 Doch nicht nur der Staat verhalte sich mit seiner Gesetzgebung gegenüber dem Selbstmörder und dessen Angehörigen ungerecht, sondern auch die Kirche, welche Knoblauch in seiner Argumentation ansonsten konsequent ausblendet. So zolle zwar „der Samariter“ dem Selbstmörder im „zärtliche[n] Andenken“ eine „Thräne“, wohingegen der „Priester und Levit, sich segnend, und dich verdammend, fühllos“704 vorübergehe. Der Katechismus der Moral Mit dem Thema der gesellschaftlichen Moral befasste sich Knoblauch ebenfalls in seinen Politisch-philosophischen Gesprächen, die 1790 in Wielands Der neue Teutsche Merkur veröffentlicht und 1792 unverändert von Knoblauch als eigenständiges Werk herausgegeben wurden. Die fiktiven Gesprächspartner stellen ein anhaltbernburgischer Baron705 und dessen Freund, ein Marquis – von Knoblauch ‚Markis‘ geschrieben – dar, der ursprünglich aus der Provence stammt. Zu Beginn des Gespräches über Moral stellt der Marquis unter Bezug auf Helvétius fest, dass die verschiedensten Moralisten meist nicht beachtet hätten, dass „die verschiedenen Laster der Nationen als nothwendige Folgen der verschiedenen Formen ihrer Regierung“706 zu betrachten seien. Der Grund eines eventuell unmoralischen Verhaltens der Bevölkerung ist folglich nicht bei den Menschen zu suchen, da die Sitten, wie sich auch der Baron sicher ist, vor allem eine Wirkung der jeweiligen Landesgesetze darstellten. Entsprechend müsse ein „Katechismus der Moral“, wie ihn der Baron wünscht, „nicht von Pedanten, Sylbenstechern und Formelkrämern, sondern – von ächten Philosophen“ abgefasst werden und ein „zweckmäßiges Gesetzbuch“707 darstellen.
702 703 704 705
Knoblauch: Selbstmord (wie Anm. 685, S. 220), S. 111. Ebd., S. 112. Knoblauch: Skeptische Abhandlungen (wie Anm. 382, S. 167), S. 98, Hervorh. i. Orig. Vermutlich diente hierbei Knoblauchs Schwager Ludwig Heinrich Friedrich von Brandenstein als Vorbild, der in anhalt-bernburgischen Diensten stand. 706 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 75. 707 Ebd., S. 76.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Auch bei dieser Argumentation bezieht sich Knoblauch auf Beccaria, denn der Baron schließt sich dessen Aussage an, dass eine dauerhafte Gesetzgebung nur möglich sei, wenn sie das Gefühl der Menschen beachte. Aus der Sicht des Barons „scheint die Erfahrung für diesen Satz zu plaidieren“, da „[j]edes Gesetze, welches jenen natürlichen Empfindungen entgegen ist“, einen Widerstand in den Menschen erwecke. Dieser werde „zuletzt unüberwindlich“, da auch „die kleinste Kraft, wenn sie beständig angewendet wird“708 einen noch so großen Körper hemmen könne. Bei dieser Aussage wird Knoblauch – der Artikel erschien 1790 – die im Vorjahr begonnene Französische Revolution vor Augen gehabt haben. Folgt man seiner Argumentation, habe die Gesetzgebung des Ancien Régime einerseits die Verantwortung für eine schlechte Moral des Volkes zu tragen gehabt. Andererseits habe sie, da sie den ‚natürlichen Empfindungen‘ der Menschen widersprochen haben muss, den Widerstand gegen sich und die sie hervorgebrachte Ordnung selbst provoziert.709 Zu seiner Idee eines Katechismus der Moral führt der Baron weiter aus, dass es seiner Meinung nach eine Moral des Bürgers und eine Moral des Philosophen gebe: Beide unterschieden „sich durch gewisse feinere Nüancen“, dennoch kann die Moral des Philosophen – trotz aller Unterschiede – nicht der des Bürgers entgegengesetzt werden. Die Moral des Philosophen beschäftige sich damit, wie man denken muß, um – unabhängig von andern – glücklich, oder, (wenn die Glückseligkeit auf dieser Sphäre nicht zu Hause ist) so wenig zu werden, als es bei dem Streite der Elemente, bei dem Kampfe mit unsern eigenen Leidenschaften und mit den Vorurtheilen oder dem Eigensinn unserer moralischen Gegenfüßler, möglich ist.
Diese philosophische Unabhängigkeit sei „fast nur allein in der Einsamkeit möglich.“710 Das Postulat einer philosophischen Sittenlehre, die den Philosophen „unabhängig von anderen, glücklich machen“711 sollte, wird Knoblauch hauptsächlich aus seiner persönlichen Situation entlehnt haben: Er selbst beschrieb im Briefwechsel mit Mauvillon die Philosophie seines Onkels Viktor August Wilhelm von Röder, bei welchem er in Dillenburg wohnen musste, als „die erklärte Gegenfüßlerin der unsrigen“.712 Zwar habe er sich, wie er im Januar 1792 berichtete, etwas Freiheit erkämpfen können, dies sei jedoch nur „Schritt für Schritt“ möglich gewesen. Aufgrund seines „natürlichen Widerwillens gegen alle Arten des Zwanges“ war Knoblauch vor allem die „Einsamkeit zum Bedürfnis“ geworden. Nur in dieser Einsamkeit konnte er ungestört seiner eigenen Vorstellung eines philosophischen Lebens nachgehen. In der Gesellschaft habe er sich hingegen nur mit Argumenten verteidigt, „die nicht gerade die stärksten waren“, da er ansonsten hätte „zu weit […] ausholen 708 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 77. 709 Mit der Gesetzgebung, der Auslegung von Gesetzen und der Argumentation im Spiegel der Französischen Revolution befasst sich das Kapitel 3.4.1. 710 Ebd., S. 79. 711 Ebd. 712 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 199.
3.1 Philosophie versus Religion
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müssen“. Zudem hätte er seinen „ewigen Widerspruch zwischen [s]einen Neigungen und [s]einen Schicksalen“ nur gegenüber „einem Tribunale von vorurtheilsfreien Philosophen“713 darlegen können, zu welchem sein unmittelbares Umfeld nicht gehörte. Durch diese Selbstaussagen Knoblauchs wird deutlich, welche Personen er im Sinn hatte, als er den Baron zwischen einer Moral des Bürgers und des Philosophen unterscheiden ließ. Hierbei handelt es sich nicht um eine Elite, die durch ihre adlige Abstammung oder durch eine universitäre Bildung an der Spitze der damaligen Gesellschaft stand. Unter diesen Umständen hätte er seinen Onkel und andere Personen aus seinem Dillenburger Umfeld, mit welchem er höchstwahrscheinlich standesgemäß – seiner Selbstdarstellung nach: widerwillig – verkehrt haben wird, auch zu dieser philosophischen Elite zählen müssen. Stattdessen handelt es sich um wenige, die sich in eine Art innere Emigration vor dem Trubel der Welt zurückziehen, um mit ihrem „Genius zu conversiren“, wie es der Baron formuliert, „und jene erhabene wollustvolle Ruhe zu genießen, wovon Tausende keinen Begriff haben, und die man im Getümmel der Welt und unter dem Druck undankbarer Geschäfte entbehrt.“ Es handelt sich um eine besondere Form des zurückgezogenen, empfindsamen Philosophen, welcher dennoch dem Selbstgefühl und Geniekult der Stürmer und Dränger huldigt, da er nicht „alle Eigenheit verlieren, [und] zur faden Kopie elender Originale herabsinken“ möchte, was „seinem Genius Gewalt anthun, [und] seine geprüftesten Grundsätze verläugnen“714 würde – ohne jedoch im entferntesten stürmerisch und drängend zu sein. Sowohl bei der bürgerlichen als auch der philosophischen Moral werde der Mensch durch die Selbstliebe und die Leidenschaften angetrieben. Knoblauch betont, dass die menschlichen Handlungsgründe hierdurch vielfältig und unterschiedlich seien, wodurch auch die Moral sehr heterogen ausfallen könne. „Die gemeinen Moralisten“, welche die „menschliche Natur“ lediglich „aus theologischen Romanen“715 kennen würden, würden dennoch „von allen Menschen einerlei fordern. Sie setzen voraus: was einigen möglich ist, sei allen möglich; was man zu einer Zeit, und unter gewissen gegebenen Umständen – deren Bestimmung oft nicht in unserer Gewalt ist – kann, das müsse man zu allen Zeiten, und unter allen Umständen können.“716 Da Knoblauch nicht davon überzeugt ist, dass alle Menschen die gleichen natürlichen Bedürfnisse haben, aus denen ein identisches moralisches Verhalten resultiert, ist er ebensowenig der Meinung, dass ein moralischer Grundsatz, auf welchen sich möglicherweise eine Mehrheit als Kompromiss einigen könnte, für alle Zeit seine Richtigkeit behält: Die Moral kann also weder von Person zu Person ausgetauscht werden, noch bis in alle Zeiten Gültigkeit besitzen. Daher dürfe im Bezug auf die Moral des Bürgers in einem Gesetzbuch nur 713 714 715 716
Ebd., S. 204, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 80. Ebd., S. 81. Ebd., S. 82.
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die „den Staat interessierenden Handlungen der Bürger“ als Norm vorgeschrieben werden, „ohne sie darum einer mönchischen Regelmäßigkeit zu unterwerfen.“717 Innerhalb der folgenden zwei Gespräche konkretisiert der Baron gegenüber dem Marquis seine Vorstellung eines Moralkatechismus. Dies geschieht vor allem vor dem Hintergrund der revolutionären Zustände in Frankreich des Jahres 1790 und ihrer breiten Reaktion in Deutschland, die anfangs größtenteils von einem anerkennenden Wohlwollen bis hin zu einer offenen Revolutionsbegeisterung geprägt war.718 Der Marquis, welcher der Dramaturgie wegen in der Zwischenzeit sein Heimatland besuchte, aber auch der Baron stehen den entfesselten Kräften der revolutionären Bewegung skeptisch gegenüber, da sie aufgrund der unberechenbaren Dynamik befürchten, es könne sich ein System der populistischen Anarchie entwickeln.719 Unter dem Eindruck des „Unverstand[es] und [der] Raserei der Bauern von Tollmannshausen, welche auch in Deutschland sich – an gewissen Orten – ihrer rechtmäßigen und offenbar nicht tyrannischen Obrigkeit widersetzen“720 würden, wünscht sich der Marquis für sein Land und die Heimat des Baron „einen zweckmäßigen Katechismus der Moral für den gemeinen Mann.“721 Während zuvor lediglich von einem Moralkatechismus des Philosophen und des Bürgers – also des Restes, der sich selbst nicht als zurückgezogener Philosoph verstand – unterschieden wurde, thematisiert der Marquis einen Teil der Gesellschaft, dem man zuerst „die Nothwendigkeit der Gesetze und ihrer Handhaber auf eine eben so faßliche als überzeugende Art darthun“ müsse. In diesem Fall fehlt Knoblauch das Vertrauen in die Selbstliebe und die Leidenschaften, die sonst dafür sorgen, dass man die Gesellschaft, deren Mitglied man zu seinem eigenen Vorteil ist, nicht schade. Stattdessen müsse dem ‚gemeinen Mann‘ beigebracht werden, was ihm ‚zweckmäßig‘ gut tue: Dass ohne Gesetze „die Bande der Gesellschaft bald aufgelöst, und alle Übel und Schrecken der Anarchie zurückgebracht werden würden“. Er müsse lernen, dass dies in seinem eigenen Interesse sei und „die wesentliche Bedingung seiner Sicherheit und Glückseligkeit“. Auf „eine simple Art“ müsse ihm begreiflich gemacht werden, dass er beispielsweise Abgaben leisten müsse, ohne die „kein Staat bestehen kann, u. d. m.“722 Knoblauchs, durch den Marquis formulierte Idee des zweckmäßigen Moralkatechismus unterscheidet sich nicht nur durch seinen erzieherischen Hintergedanken grundlegend von seinen sonst geäußerten Vorstellungen der Moral. Was hier im 717 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 98. 718 Vgl. Axel Kuhn: Die Französische Revolution. Stuttgart 2009, S. 173 f. 719 Zu Knoblauchs Sicht der revolutionären Vorgänge in Frankreich und die Kritik, die er daran äußert, vgl. v.a. Kapitel 3.4.2.1. 720 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 108. 721 Ebd., S. 109 – Auf die hier deutlich werdende Sicht des Bauernstandes und Knoblauchs Verständnis der Volksaufklärung wird ausführlicher in Kapitel 3.2.2 eingegangen. 722 Ebd.
3.1 Philosophie versus Religion
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Gespräch zwischen Baron und Marquis dem ‚gemeinen Mann‘ nicht zugestanden wird, stellt in Knoblauchs sonstigen Artikeln die wichtigste Grundlage der menschlichen Moral dar: So unterliegen die Selbstliebe und die mit ihr verbundenen Leidenschaften ausschließlich der natürlichen Ordnung, gegen die kein Mensch verstoßen kann. Durch die natürliche Ordnung werden die Handlungen der Menschen determiniert, auch wenn es unmöglich ist, alle natürlichen Gründe aufzuzählen, die zu einer bestimmten Entscheidung geführt haben. Durch ihre Natürlichkeit sind diese Entscheidungen ebenfalls von der Entwicklung und den Erfahrungen des jeweiligen Menschen abhängig, sodass es nicht möglich ist, ein für alle Menschen und alle Zeiten einheitliches Moralgesetz festzulegen. Knoblauchs Kritik wendet sich hierbei vor allem gegen theologische Forderungen einer asketischen, die Leidenschaften verdammenden Moral, die einen Lebenswandel erfordern würden, zu welchem nur wenige Menschen in der Lage seien. Für Knoblauch hat die Vorstellung der durch die Natur determinierten Moral des Menschen überdies einen positiven Aspekt: Hier schließt er sich sogar La Mettrie an, den er ansonsten als „ein[en] Narr bezeichnet“, dessen System man aus philosophischer Sicht „nicht Beifall geben“ könnte. Dieser habe jedoch den Materialismus und damit die durch die Natur determinierte Moral des Menschen als „das Gegengift der Misanthropie“ betrachtet: „Wer sich überspannte Begriffe von der Freiheit des Willens macht: wer von den Menschen allzuviel erwartet, und die nezessären Wirkungen ihrer Eigenliebe auf die Rechnung ihrer Bosheit und des theologischen Verderbens kreidet, wird fast überall Anstösse finden, überall Stos zum Klagen und Seufzen.“ Wer aber „wie Helvet“ davon ausgehe, dass der Mensch in seinen Handlungen nicht anders könne, als nach den Gesetzen der Natur zu handeln und hierdurch alle Handlungen die natürliche Mechanik enthalten, kann der „menschlichen Komoedie so gleichgültig [zusehen], wie der Mechaniker dem Spiel der Maschine!“723 Der Charakter eines, diesen natürlichen Fatalismus erkennenden Atheisten zeige „nicht das Porträt eines Ungeheuers, welches den Abscheu der Sozietät verdient.“ Stattdessen erkennt man in einer solch gelassenen Charakterhaltung „das Bild eines Weisen, eines Fontenelle, eines Helvet’s.“ Zu erkennen und zu akzeptieren, dass die menschliche Selbstliebe der Natur entspringt und die Grundlage der Moral darstellt, ist „[d]ie Sittenlehre eines Philosophen“. Die Erkenntnis des Fatalismus lässt den Philosophen nicht verzweifeln, sondern macht ihn „unabhängig von andern glücklich“.724 Sinnliches und sittliches Gefühl bei Andreas Riem Während Andreas Riem in seinem Neuen System der Natur hauptsächlich sein materialistisches System darlegt und dies mit einer theologischen Sprache verknüpft, sodass genuin christliche Begriffe mit den Bedeutungen seines eigenen Systems ver723 [Karl von Knoblauch]: Verkannte Philosophie. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 159–162, hier S. 161, Hervorh. i. Orig. 724 Ebd., S. 160.
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bunden werden, stehen im Mittelpunkt des Reinen Systems der Religion für Vernünftige ‚menschlichere‘ Themen: Zentral ist vor allem die Moral, welche nach Riems Ansicht den „vornehmste[n] Zweck“725 eines Menschen darstellt. Für Riem seht fest, dass der Mensch generell dazu tendiert, gut zu handeln. Dieses Handeln sei moralisch, „wenn er ohne andere Rücksichten das Gute um des Guten halben thut“, was deswegen meist geschehe, da der guten Tat ein untrennbares „sittliches Interesse“ anhänge. Das bedeutet: Moralisch wertvolles Handeln „belohnt sittlich, oder macht in dem Verhältnis glücklich, als das Gute, das gethan wird, innern Werth hat.“726 Riem unterscheidet folglich zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit bzw. (sittlicher) Moral. Während die Sinnlichkeit den Bedürfnissen des Menschen zugeordnet wird, steht die Sittlichkeit aufseiten des Verstandes und wünscht „das Gute um des Guten halben“.727 Beide widersprechen sich jedoch nicht, denn die Sinnlichkeit sei nicht die Feindin des Moralischen, wie es die Moralisten meinten.728 Nach Riem solle der Mensch statt rein rational ein „moralisch-sinnliches Wesen“ sein. Handele er nur rational, befinde sich „die Moralität im Eißmeere kalter Anschauung“, in welchem „umfrohren von der nachdenkenden Kälte […] pathologische Theilnehmung“ ausgeschlossen werde. Für Riem steht fest, dass die Moral in dieser rationalen Umgebung schlechter gedeihe, „als in der behaglichen Existenz des warmen theilnehmenden Gefühls des Herzens, der innigen Begehrung“, und Leidenschaft. Daher stelle sich die Frage, warum der „Schöpfer der Welt“729 dem Menschen „ein fühlendes Herz, und die volle überfließende Neigung [der] Empfindung“730 gegeben habe, wenn „unsere Sittlichkeit darin ein tödtendes Gift findet, und durch sie alle Aussichten auf Glückseligkeit vertilgt werden“731 sollen. Innerhalb dieses Moralkonzeptes geht Riem sehr differenziert auf angeblich negative Handlungen ein. Diese sind seiner Ansicht nach als „reine Immoralität sch[l]echthin nothwendig unmöglich“.732 Selbst wenn ein Mensch nach einer Tat als Verbrecher erscheine, da er eine scheinbare Untat begangen habe, habe er dennoch „nach dem augenblicklich am stärksten wirkenden Grunde des Rechts, und vermeynter Pflicht gegen sich selbst, oder andere“733 und in gutem Interesse gehandelt. Ist dieses Interesse jedoch nur augenscheinlich und nicht wirklich gut, so ist dies aufgrund eines Irrtums geschehen, der „bei dem Irrenden die Stelle der Wahrheit“734 vertritt. Die „einzige Quelle“ dieser Irrtümer sei, wie es Riem unmiss725 726 727 728 729 730 731 732 733 734
Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 6. Ebd., S. 7, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 8. Ebd., S. 10. Ebd., S. 10 f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 22. Ebd., S. 19. Ebd., S. 43.
3.1 Philosophie versus Religion
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verständlich ausdrückt, der „Mangel an gehöriger Bildung […], nicht die Absicht, Pflichten gegen kalte Ueberzeugung, höhnend zu verlezzen.“735 Hauptverantwortlich für diese Unbildung sind die herkömmlichen Religionen, vor allem die christliche Volksreligion, indem sie ihren Anhängern „Wege zu einer falschen Beruhigung zeigt, wobei Pflicht und Moralität nicht in Anschlag kommen, und den Glauben an fremdes Verdienst für hinlänglich erklärt, Glückseligkeit zu erwerben, die doch allein aus der Moralität entstehen kann.“736 Generell könne nur der jeweilige Mensch seine eigenen Handlungen zuverlässig und richtig bewerten, da nur er die hierfür nötigen persönlichen „summarischen Einsichten über das Moralische und seinen Werth“737 in sich selbst trage. Die Gründe, die andere Menschen zu Taten veranlassten, könnten einem selbst nie vollständig bekannt sein, was es letztendlich unmöglich mache, über fremde Handlungen zu urteilen. Hierdurch sind „alle Urtheile über andre“, wie es Riem deutlich ausdrückt, „schlechthin nothwendig Falsch“.738 Nach dieser Theorie verabscheuen Menschen Handlungen, welche sie, wären ihnen alle Beweggründe bekannt gewesen, die zu ihr führten, unter diesen Umständen bewundert hätten. Außerdem könnten Menschen nicht zuverlässig einschätzen, was die menschliche Kraft in bestimmten Fällen zu leisten in der Lage ist. „Unser Stolz verwechselt dann oft Tendenz mit der Kraft, und schmeichelt sich selbst mit der Idee: Daß er mehr würde vermocht haben, wenn er ernstlicher gewollt hätte.“739 Ebenso würden Taten, die aus sinnlichen Gründen begangen wurden, getadelt oder – hat man sie selbst begangen – ihretwegen Reue empfunden. Diese Missbilligung von sinnlichen Taten entspringe in erster Linie nicht daraus, dass man sie für unmoralisch halte – sondern für sinnliche: Ueberzeugt, daß es eine edlere Handlungsart gebe, wenn die Zügel der Imagination angehalten werden, und das moralische Gefühl wirken kann, bereut der Mensch solche Handlungen, blos aus dem Grunde, weil er edler und seiner höhern Natur hätte handeln sollen, und sich vom untern Begehrungs-Vermögen und einem sinnlichen Gute verleiten ließ, ein höheres moralisches, dadurch zu entbehren.740
Es sei jedoch nicht zu rechtfertigen, dass die Moralität die Sinnlichkeit beschränke und „die Bedürfnisse der physischen Natur für böse Neigungen“ erkläre. Auch das Fordern von Kasteiungen oder nach Fasten sei vernunftwidrig – sogar dann, „wenn ihr Zweck die Erleichterung moralischer Gefühle wäre.“741 Selbst eine Handlung, die ausschließlich auf die Sinnlichkeit zurückzuführen sei, entspräche immer der Gesetzmäßigkeit der Natur, die alleine nach ihrem Gesetz und nicht gegen dieses 735 736 737 738 739 740 741
Ebd., S. 19. Ebd., S. 54. Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Ebd., S. 44. Ebd., S. 47.
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handeln könne. Aus diesem Grund sind auch diese, rein sinnlich bedingten Handlungen ausnahmslos als gut zu bezeichnen.742 Es wird deutlich, dass auch für Riem keine absolute Moral existiert, sondern lediglich eine subjektive, die von den Moralvorstellungen des jeweiligen Menschen abhängt. Diese relative Abhängigkeit von der jeweiligen Persönlichkeit und ihrer moralischen Bildung führe zwar dazu, dass subjektive Kategorisierungen wie ‚schlechtere‘ und ‚bessere‘ Moral vollzogen würden, aber gerade aufgrund ihrer Subjektivität könnten sie keine absolute Moralinstanz darstellen. Riem ist davon überzeugt, dass der Mensch, wäre er im Besitz von absoluter Moral, nicht imstande sei, sich weiter zu entwickeln. Der Mensch „muß also nothwendig auf der Stufenleiter seiner Bildung zur Vollkommenheit oder im Fortschritt zu derselben, immer vorher schlechter gewesen seyn, als er in einem jeden spezifischen Falle vollkommener geworden ist.“743 Die Perfektibilität des Menschen, also die Fähigkeit zur Vervollkommnung, die Riem an dieser Stelle aufgreift, stellte einen Grundgedanken der Aufklärung dar, der – wenn seine Ursprünge auch bis in die Antike verfolgt werden können – sich besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts großer Popularität erfreute.744 Analog zu Riems reinerem Materialismus ist auch in seinem Religionssystem Gott als Gesamtheit der natürlichen Materie die Ursache „der moralischen Welt und ihrer zweckmäßigen Harmonie mit der physischen.“745 Die Erkenntnis dieser Ursache ist die einzige Aufgabe der reinen Theologie. Da im reineren Materialismus der Grund der Existenz eines Teiles nur in dem jeweiligen Teil selbst gefunden werden kann, enthält der Mensch nach dem Reinen System der Religion „den Grund seiner Tugend und Glückseligkeit, frey und unabhängig von irgend einer [äußeren] Gesezgebung“746 einzig in sich selbst. Gott ist bei Riem – in Bezugnahme auf Kant747 – kein oberster Gesetzgeber, dem man Gehorsam schuldig ist oder von welchem aus die Moralität abgeleitet wird. „Die reine praktische Vernunft schließt blos aus dem Vorhandenseyn einer freien unabhängigen Gesezgebung in uns selbst, auf einen höchst gütigen Grund und Mittheiler des Vermögens, sich selbst Gesezze zu geben.“748 Entgegen Kant besteht Riem jedoch darauf, dass die menschliche Gesetzgebung nicht 742 Vgl. Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 33. 743 Ebd., S. 52. 744 Vgl. die trotz ihres Alters weiterhin grundlegende Studie: Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur. In: Archiv für Begriffsgeschichte 24.2 (1980), S. 221–257. 745 Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 56. 746 Ebd., S. 57. 747 Riem zitiert ausführlich den letzten Absatz des Kapitels Von dem Ideal des höchsten Guts der Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1787). In: AA Bd. III. Berlin, S. 530 f.) und interpretiert diesen seinem eigenen System entsprechend. Vgl. Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 59. 748 Ebd., S. 59.
3.1 Philosophie versus Religion
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mit göttlichen Geboten gleichgesetzt werden dürfe. Dies führe nämlich dazu, dass nicht Tugend, sondern Heiligkeit das höchste Ziel der Moral werden würde. Heiligkeit sei dem Menschen aufgrund seiner „unvollkommenen Natur“749 nicht möglich. Eine Religion, die sich auf göttliche Gebote berufe, verleite zu Schwärmerei und würdige sich somit selbst herab. Während die reine Theologie auszeichnet, dass sie die Erkenntnis über Gott als Mittler „des moralischen Vermögens im Menschen“ enthält, zeichnet die reine Religion alleine „das Gefühl einer gränzlosen Dankbarkeit für die Mittheilung jenes Vermögens“750 aus. Die Religion ist frei von jeglichem Interesse, da der Mensch das höchste Interesse, nämlich Tugend und Glückseligkeit, durch die Moral schon in sich selbst findet. Sie ist außerdem frei von Pflichten, welche die „Nothwendigkeit einer Handlung um eines Gesezzes willen“751 darstellt. Sie basiert einzig und allein auf einem „uneigennüzzige[n] Gefühl der Bewunderung, Anbetung, Dankbarkeit und Erkenntlichkeit moralischer Wesen für die Mitteilung alles Guten, das sie vom ewigen Urquell desselben erhielt, und dessen, das sie im Verfolge nicht mehr hoffet, sondern dessen sie bereits völlig gewiß ist.“752 Dieses religiöse Gefühl der Bewunderung ist nach Riem bei Menschen aller Kulturen vorhanden. Selbst „[d]ie wildesten Völker, wenn sie nur einige Grade der Cultur zurückhaben, beten eine Gottheit an, fühlen Bewunderung ihrer Größe, der Weisheit ihrer Weltordnung und Empfindungen des Dankes für die Mittheilung des Guten.“753 Je höher die Geistesbildung eines Menschen sei, desto reiner sei die Bewunderung und das religiöse Gefühl, das keinerlei Eigennutz der Bewunderung beifügt und damit „die Gottheit mit unnöthigen Wünschen behelligt.“ Entsprechend kritisiert Riem das Gebet, das „unter der Würde der reinen Vernunft, selbstsüchtig, eigennüzzig [und] unvernünftig“754 sei. Die reine Religion bestehe lediglich aus Anbetung und nicht aus Gebet. „Ersteres entspricht allein der Vernunft; Letzteres würdiget sie herab: – Ersteres ist Religion, Letzteres Schwärmerey und Aeusserung eines eingebildeten, irrenden Verstandes.“755 Um sie so rein wie möglich zu halten, solle die Anbetung außerdem nur im Geiste stattfinden. Da für Riem die menschliche Moral vollkommen unabhängig von der Religion ist, kann diese auch nicht zur Moralität bzw. zu besserem moralischen Handeln beitragen. Es sei mystisch, schwärmerisch und im Grunde völlig unmöglich, „[s]ich Gott als Ideal der Heiligkeit vor[zu]stellen, und aus Nachahmung desselben Gutes zu thun“.756 Eine Handlung auf Grundlage der Religion ist Riems Ansicht nach schlicht 749 750 751 752 753 754 755 756
Ebd., S. 94. Ebd., S. 70. Ebd., S. 112. Ebd., S. 105. Ebd., S. 114 f. Ebd., S. 116. Ebd., S. 117. Ebd., S. 129.
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unmöglich. Dennoch könne die reine Religion der Moral hilfreich sein, wenn auch nur relativ und indirekt, indem sie auf die Gefühle des Menschen wirke und zu somit einer „hohe[n], und zugleich ruhige[n] Stimmung“757 beitrage. In seiner Religionsvorstellung sei, so Riem, all das, was sich bei den herkömmlichen Religionen oder dem Deismus negativ auf die Moral der Menschen auswirke, nicht vorhanden, sodass sie notwendigerweise der Moral hilfreich sein müsse: „Die Reinigung der Religion wird Reinigung der allgemeinen Quelle des religiösen und moralischen Gefühls zugleich.“758 Da die Moral nicht aus der Religion hergeleitet werden kann, sondern Moral und Religion lediglich auf die gleiche Quelle (um bei Riems Bild zu bleiben) zurückzuführen sind, kann eine vorhandene reine Religiosität diese Quelle nicht trüben. Ist die Religion hingegen „unrichtig und schwärmerisch“, hat dies auch Einfluss auf die Quelle, was zu „unreine[n] moralische[n] Handlungen“ führt. Ist jedoch überhaupt keine Religion vorhanden, bleibt die Quelle, wie sie ist: „Ist nun diese Intelligenz gebildet und reiner moralischen Gefühle fähig, so entspringen auch reine moralische Handlungen aus ihr, ohne Zutritt aller Religion.“759 Riem relativiert an dieser Stelle also nicht die „Einflusslosigkeit der Religion auf die Moral“,760 wie es Dirk Fleischer darstellt, sondern betont lediglich eine eventuelle Nützlichkeit seiner Religion auf die Moral, indem durch diese die schädlichen Auswirkungen aller anderen Religionen verhindert werden. Auch in Riems Reinen System der Religion wird betont, dass der Mensch als Teil der Natur vollkommen den natürlichen Gesetzen unterworfen ist, was es ihm unmöglich macht, von ihnen abzuweichen oder gar gegen sie zu handeln. Daher stellt er selbst die Frage, ob durch diese Theorie nicht ein „gränzenloser Fatalismus oder Determinismus“ eingeführt werde. Dies beantwortet er eindeutig uneindeutig: „Ja! und Nein! wie wir es nehmen müssen.“761 Der Mensch stellt ein Teil des Ganzen, das heißt der Natur beziehungsweise des Universums, dar. Er ist als Teil dieses Ganzen eingeschränkt, da er „unter den nothwendigen Gesezzen der Welt-Einrichtung“762 steht. Das Universum trage hingegen den Grund seiner Existenz in sich selbst. Es ist von keiner äußeren Ursache hervorgebracht und hierdurch in keiner Abhängigkeit von etwas. Diese Unabhängigkeit des Ganzen führt dazu, dass es „auch in allen seinen Theilen selbst bestimmt“ ist. Diese Unabhängigkeit gilt nach Riem auch für den Menschen: Er ist, als Teil des Ganzen, „keinem Gesezze der Nothwendigkeit unterworfen“, da er die Gesetze „cooperierend mit dem Ganzen selbst giebt, und frey giebt.“763 Mit anderen Worten: Der Teil muss zwar dem Gesetz des Ganzen folgen; da jedoch das Ganze nur so viel wie 757 758 759 760 761 762 763
Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 133. Ebd., S. 134. Ebd., S. 135. Fleischer: Religion und Gefühl (wie Anm. 348, S. 71), S. 219. Riem: Reines System (wie Anm. 349, S. 71), S. 218, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 218 f. Ebd., S. 279, Hervorh. i. Orig.
3.1 Philosophie versus Religion
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die Summe seiner Teile ist, ist auch jeder dieser Teile mitverantwortlich für dieses Gesetz. Es handelt sich also nicht um ein fremdes Gesetz, weshalb der Teil – der Mensch – nicht fremd-, sondern selbstbestimmt ist. Durch diese Argumentation kann Riem die Abhängigkeit des Menschen von den natürlichen Gesetzen in eine menschliche Freiheit umdeuten und dies dem Vorwurf des Determinismus oder Fatalismus entgegensetzen. Wenn ein Mensch eine Entscheidung treffe, ist er Riems Ansicht nach so lange frei, wie er überlege: Seine Entscheidung ist durch die „gewisse Lage“ eingeschränkt, „welche durch die Weltordnung“ bestimmt wird. Treffen nun „alle Umstände so zusammen“, dass die Gründe für eine Handlung „stärker sind, als die dagegen“,764 entscheide sich ein Mensch, entsprechend zu handeln. Er scheint nun nach den Gesetzen der Natur determiniert zu sein, ist es jedoch nicht, da er sich ihnen „selbst d. i. freywillig unterwirft, weil er durch freyen Gebrauch seiner Natur sich zugleich dazu bestimmt.“ Die freie Entscheidung des Menschen müsse, nachdem sie getroffen wurde, ebenfalls realisiert werden. Der Mensch muss also „Etwas thun, das ihr [der Entscheidung] entspricht, sonst wäre sie ein leeres Gedankending.“ Handelt der Mensch, „hört der Gebrauch der Freyheit auf, weil er sich in ihrem Gebrauch zu Etwas bestimmen muß, und nach der Vollendung zu nichts anderm mehr bestimmen kann.“765 Während Karl von Knoblauch die Entscheidungen eines Menschen vollkommen den natürlichen Gesetzen unterworfen sieht, spricht Andreas Riem dem Menschen wenigstens während des Entscheidungsprozesses eine gewisse Freiheit zu. Dennoch geben auch bei Riem letztendlich die durch die Weltordnung bestimmten Umstände den Ausschlag zur eigentlichen Entscheidung. Die Argumentation, dass der Mensch zwar den Gesetzen des Ganzen unterworfen sei, welche aber – da er Teil des Ganzen ist – auch seine Gesetze darstellten und er hierdurch frei von fremden Gesetzen ist, würde aus Knoblauchs Sicht wahrscheinlich keine Geltung finden: Für ihn ist der Mensch „ein gebohrner Sklave – der Natur – der Gesezze – und der Götter, die Er sich gemacht hat.“766 Der Determinismus einer abgeschlossenen Handlung, der sich in Riems wie auch in Knoblauchs Argumentation finden lässt, wird bei Knoblauch ohne Umschweife zugegeben, da er hierbei auf die beruhigende Wirkung dieser Erkenntnis verweist: Statt sich bei einer Handlung, die einem nicht gefalle, über die Bosheit oder – aus theologischer Sicht – über eine angeblich verkommene Moral dieses Menschen zu ärgern, bestünde kein Grund dazu, wenn man wisse, dass ein Mensch nicht anders handeln konnte. Knoblauch hätte vermutlich Riems Aussage – hätten sie sich jemals ausgetauscht – zugestimmt, dass man selbst eine Tat, die man verachte, nachvollziehen könnte, würde man alle Gründe, die einen Menschen hierzu veranlasst haben, kennen. 764 Ebd., S. 219. 765 Ebd., S. 220. 766 [Karl von Knoblauch]: Freiheit. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 197–202, hier S. 197.
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Ebenfalls einig dürften sich beide bei dem Punkt gewesen sein, dass Handlungen, die aus der triebhaften Sinnlichkeit entspringen, nicht als verwerflich, sondern als vollkommen natürlich angesehen werden sollten. Während Riem jedoch den Menschen bei seiner Entscheidung zwischen dem sinnlichen und dem sittlichen Gefühl schwanken lässt, wobei die rationale Sittlichkeit niemals die Sinnlichkeit dominieren oder herabwürdigen dürfe, betont Knoblauch die Selbstliebe des Menschen als einzigen und grundlegenden Antrieb des Menschen. Einen deutlichen Unterschied gibt es bei Riem und Knoblauch im Bezug auf die Bewertung, welche Bedeutung die Religion für die Moral hat. So erwähnt Knoblauch die Religion in seinen moralphilosophischen Texten – wenn überhaupt – nur am Rande. Vermutlich möchte er hiermit einerseits ihre Bedeutungslosigkeit verdeutlichen, die er der Religion zuschreibt – während sie in anderen Philosophien die klassische Garantin der Moral darstellt. Andererseits betont er, wenn er religiöse Vorstellungen erwähnt, vor allem deren negativen Einfluss. Diesen hätten sie dadurch, dass sie die Selbstliebe und die mit dieser verbundenen Leidenschaften als ‚lasterhaft‘ verdammten und somit die natürliche Moral der Menschen stören würden. Zudem sei es nicht möglich, einheitliche moralische Normen aus religiösen Vorstellungen abzuleiten: Die natürliche Moral unterscheide sich von Mensch zu Mensch, sodass eine Norm, die für einen Menschen Gültigkeit habe, nicht einfach auf einen anderen Menschen übertragen werden könne. Eine asketische Moral sei beispielsweise nur für Menschen denkbar, die keine Probleme mit einer asketischen Lebensweise hätten. Keinesfalls könne man allen Menschen aus religiösen Gründen ein asketisches Leben durch ein einheitliches Moralgesetz aufzwingen. Wenn auch Riem ebenfalls die menschliche Moral aus einer eigenen Quelle entspringen sieht, wird eine eventuell vorhandene religiöse Vorstellung nicht gezwungenermaßen als negativer Einfluss betrachtet. So ist es seiner Ansicht nach möglich, dass eine Religion die Moral nicht beeinflusse und rein lasse, so als sei überhaupt keine religiöse Überzeugung vorhanden. Da dies jedoch ein sehr unwahrscheinliches Szenario darstellt und es seiner Ansicht nach wahrscheinlicher ist, dass eine Religion negative Auswirkungen auf die Moral hat, plädiert er dafür, die religiöse Vorstellung quasi präventiv durch eine ungefährliche Religion – idealerweise sein ‚reines System der Religion‘ – zu ersetzen. Hierdurch sei die Gefahr gebannt, dass eine falsch aufgefasste, schwärmerische oder menschenfeindliche Religion das moralische Gefühl des jeweiligen Menschen trübe. Wie Knoblauch sieht also auch Riem die Gefahr eines negativen Einflusses der Religion auf die Moral. Statt Religionen jedoch pauschal zu verdammen, scheint er aus der Überzeugung heraus, dass religiöse Vorstellungen zu einem menschlichen Grundbedürfnis gehören, dieses Bedürfnis lieber durch eine ‚entschärfte‘ Religion ersetzen zu wollen. Letztendlich fällt Knoblauchs Argumentation zwar philosophisch konsequenter, aber auch kompromissloser gegenüber anderen Ansichten aus. Während dies in Knoblauchs (Selbst-)Bild des zurückgezogenen Philosophen passt, der, ohne sich um die ihn umgebende Gesellschaft zu kümmern, einer stoischen Selbstverwirkli-
3.1 Philosophie versus Religion
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chung entgegenstrebt, versucht Riem auf die Gesellschaft einzuwirken. Daher scheinen Riems philosophische Überlegungen näher an einer potenziell zu verwirklichenden Realität angesiedelt zu sein. Dennoch bleiben seine Schriften aufgrund der meist verwirrenden Verquickung einer spinozistisch-materialistischen Philosophie mit theologischer Begrifflichkeit nur schwer verständlich und entsprechend unzugänglich. Dieser Umstand alleine wird dazu beigetragen haben, dass Riem in Preußen durch seine theologisch-philosophischen Schriften nicht mit Problemen rechnen musste und die Verbreitung seiner philosophisch-theologischen Ideen nicht weit über ihren Autor hinaus reichte. 3.1.3 Johann Christian Schmohl: die private ‚Herzensreligion‘ des Sturm und Drang Wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, hat sich Johann Christian Schmohl zu den behandelten Themen nur am Rande geäußert: So stand er abergläubischen Vorstellungen zwar kritisch, aber auch mit einer gewissen belustigten Gelassenheit gegenüber. In seinen Schriften betreibt er daher keine umfangreiche Religionskritik. Dennoch geht aus seinen Aussagen hervor, dass eine übertriebene religiöse Tugendvorstellung sowie Selbstüberhöhung und die Behauptung, im Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein, zu Intoleranz und Aberglaube führe. Schmohls Vorstellung der menschlichen Seele, die sich grob beschrieben in der Biographie seines Freundes Johann Jakob Mochel finden lässt, ist zwar vergleichbar mit verbreiteten Hypothesen der damaligen Zeit. Gleichzeitig lässt sie auch noch die Möglichkeit zu, dass Schmohl Anhänger einer deistischen Gottes- und Religionsvorstellung war. Dennoch reicht die Bemerkung, dass der Mensch ein Rad in der großen Maschine darstelle, die „der Schöpfer […] kombinirt“767 habe, nicht aus, um Schmohl zu einem Anhänger des Deismus zu erklären: Denn sollte dies der Fall sein, müsste diese Tatsache auch für Karl von Knoblauch angenommen werden, der häufiger als Schmohl – meist mit eindeutig ironischer Absicht – auf einen Schöpfer rekurrierte. Vermutlich hat sich Schmohl einer unter Stürmern und Drängern verbreiteten privatisierten Religionsvorstellung anschließen können. Diese zeichnete sich durch eine Ablehnung eines kirchlich verfassten und nach außen getragenen Glaubens aus und stellte den „Gipfel- und Endpunkt“ eines „in die Aporie führenden Privatisierungsprozesses“ dar. Diese private Gefühlsreligion konnte ihre „Authentizität nur noch durch die Negation aller positiven Religion“ behaupten und hatte damit „jede Vermittlungs- und Tradierfähigkeit eingebüßt.“768 Durch diese fehlende Tradier- und Vermittlungsfähigkeit unterschied sie sich von der ebenfalls zur Zeit der Aufklärung verbreiteten Vorstellung, dass jeder Mensch seine persönliche Religion habe: Hierbei handelte es sich um individuelle Variationen bestehender Religionen, 767 Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 242. 768 Albrecht Beutel: Religionsgeschichte. In: Matthias Luserke (Hg.): Handbuch Sturm und Drang. Unter Mitarb. v. Vanessa Geuen u. Lisa Wille. Berlin u. Boston 2017, S. 45–50, hier S. 49.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
bei denen sich aus der unterschiedlichen Gewichtung einzelner Glaubensinhalte eine persönliche Religionsvariation ergab. Die privatisierte Religionsvorstellung der Stürmer und Dränger ist hierbei tiefgreifender: Sie gewichtet nicht nur die Glaubensinhalte einer Konfession und lehnt einige gegebenenfalls auch ab, sondern erstellt auf Grundlage des privaten Gefühls ein persönliches, eklektisches Gebilde aus den unterschiedlichsten Quellen. Da bei dieser Auswahl das Gefühl und nicht der Verstand eine tragende Rolle spielte, war es der jeweiligen Person kaum möglich, ihre privatisierte Religion zu erklären. Zudem widerstrebte es den Stürmern und Drängern, sich auf definitive Positionen festzulegen, was vor allem für die Religion galt.769 Hieraus entsprang ein gewisses Desinteresse der Stürmer und Dränger gegenüber herkömmlichen theologischen Fragen, was gleichzeitig eine tolerante Einstellung gegenüber den Mitmenschen sämtlicher Religionen und Konfessionen begünstigte: Wenn die Religion eines Menschen „nach seinem Herzen zusammengesetzt“770 ist, wie es in Jakob Michael Reinhold Lenz’ Der Landprediger beschrieben wird, rücken nicht mehr der äußerlich dargestellte Glaube eines Menschen, sondern dessen Persönlichkeit, seine Talente, Handlungen und sonstigen Überzeugungen in den Vordergrund.771 So lässt sich auch Schmohls Unverständnis gegenüber den herkömmlichen theologischen Grundsätzen und religiösen Praktiken an vielen Stellen seiner Schriften finden. Aufschlussreich ist beispielsweise auch hier die Biographie Mochels, in welcher Schmohl das Leben und die Entwicklung seines Freundes mit eigenen Überlegungen kommentiert. Als Mochel in der Dorfschule im elsässischen Traenheim772 mit den „drey Personen in der Gottheit bekannt gemacht“ wurde, suchte dieser sich, aufgrund der mangelnden Vorstellung darüber, was dies bedeuten könnte und auch wegen „der in Holz geschnittenen Abkonterfeyung in seinem Katechismus, unter den Bauern seines Dorfs die drey ehrwürdigsten an Ansehn und Bart aus, und nannte den einen Gott den Vater, den andern Gott den Sohn, und den dritten Gott den heiligen Geist“. Dies nimmt Schmohl als Anlass, den, „dem Individuum so schädlichen Mißbrauch“ zu kritisieren, der daraus entstehe, wenn man Kindern, die noch kaum wüssten, „was ein Vogel in der Hand ist“, erklären wolle, was ein „ein unsichtbares Wesen im Himmel“773 sei, das sich zudem aus drei Personen zusammensetze. Dies und andere theologische Grundsätze würden das Verständnis und die Erfahrung eines Kindes vollkommen übersteigen: „Wenn man kaum gefühlt hat, wie die Heilung eines geschnittenen oder gebrannten Fingers thut, geschweige die Er769 Vgl. Katja Mellmann: „Ich fühle mich! Ich bin!“ Zur literarischen Anthropologie des Sturm und Drang. In: Aufklärung 14 (2002), S. 49–74, hier S. 56. 770 Jakob Michael Reinhold Lenz: Erzählungen. Hg. v. Friedrich Voit. Stuttgart 1988, S. 70. 771 Vgl. Mellmann: Ich fühle (wie Anm. 769), S. 49. 772 Mochel war lutherischer Konfession, zu welcher ein Teil der Bevölkerung in der Gegend um Straßburg – im Gegensatz zum restlichen Frankreich – gehörte. 773 Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 62.
3.1 Philosophie versus Religion
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lösung von Sünde, Tod, Teufel und Hölle? und die Heiligung zum ewigen Leben? das man für eine einzige Rosine mit allen sinen Herrlichkeiten hingäbe?“774 Durch diese „Treibhausähnliche[] Methode“ hätten die meisten Menschen eine Gottesvorstellung, die einer Schreckgestalt entspreche, einem „Popanz, einen Bruder vom Knecht Ruprecht, wenn sie den einmal gesehen“.775 Statt den Kindern einen abstrakten Begriff wie den der ‚Schöpfung‘ beizubringen, unter welchem sie sich nichts vorstellen könnten, wäre es sinnvoller, ihnen die praktische Welt nahezubringen. So stellt Schmohl die rhetorischen Fragen: „Lernt man Gott aus seinen Werken kennen, warum lehrt ihr sie nicht die Werke kennen? Lernt man ihn wegen seiner Wohlthaten lieben, warum macht ihr ihnen nicht wohl durch all seine Werke rings in der weiten Gottes Welt?“ Hierdurch würden die Kinder jedoch zum aufgeklärten Selbstdenken angeleitet und könnten ebenfalls zu dem Schluss gelangen, dass es möglicherweise einen Gott, wie ihn sich die Christen vorstellten, nicht geben könnte. Die Antwort auf seine Fragen gibt Schmohl kurz darauf: „Und wenn man Gott einen kennen lehrt, eh man noch durch seine Werke sich glücklich fühlt, wie in aller Welt kann ein Christen-Mensch ihn lieben? da wir nur lieben können, was uns nach unserer eigenen vollen starken Empfindung glücklich macht!“776 Die Entstehung der Sturm-und-Drang-typischen Privatreligion Mochels, welche sich Schmohl höchstwahrscheinlich ebenfalls zusammengestellt hatte, habe während Mochels Theologiestudium in Jena stattgefunden. Dort habe er jeden theologischen Grundsatz mühsam geprüft und „die reinen Körnchen, die in der Spreu versteckt lagen“, heraus gesiebt. „Da er fertig war, nannte er, was übrig geblieben war, seine christliche Religion, und überließ die Theologie dem Winde, der von Kanzeln und Professorstühlen saust.“ Diese Privatreligion Mochels bezeichnet Schmohl als „die einzig wahre, practische Religion, die Religion des Herzens, des Lebens, des wahren guten glücklichen Menschen“.777 Die eklektische Verknüpfung dieser persönlichen Herzensreligion mit den populären Religions- und Gottesvorstellungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird deutlich, wenn Schmohl beklagt, wie viele „tausend gute edele Seelen“ nicht zu einer solchen persönlichen Religion gelangen und stattdessen „in diesem Labyrinthe […] dem Minotaurus“ – also den herkömmlichen Religionen – „in den Rachen“778 fielen. Diese Menschen könnten jedoch nicht anders, „weil man sie nicht von Jugend auf angewiesen [habe], selbst zu denken, selbst zu erfinden, und alles sinnlich anschauend deutlich, und mit der Natur umher harmonisierend sich vorzustellen.“ An dieser Stelle mischt sich die für die Aufklärung und auch für die Stürmer und Dränger wichtige Betonung des Selbstdenkens mit der deistischen Herleitung 774 775 776 777 778
Ebd., S. 62 f. Ebd., S. 63. Ebd. Ebd., S. 101. Ebd.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
eines Weltbaumeisters aus der Beobachtung der Natur: „Nur auf der Beobachtung der Naturgesetze“ und durch die „Kenntniß der Natur und des Zusammenhanges der Dinge, wie sie Gott von Ewigkeit her, zu unserer Glückseligkeit in der Glückseligkeit des Ganzen geordnet hat“, könne „die vernünftige oder offenbarte Religion“779 erkannt werden. Um die Natur besser erkennen und verstehen zu können, habe sich Mochel der „Physik, Naturgeschichte, Botanik, u. s. w.“ zugewandt. Eine derartige Ausbildung sollten Schmohls Meinung nach „alle unsre künftigen Priester“ durchlaufen, die jedoch stattdessen während ihres Studiums „so viel unnützen Scheidewegplunder voriger Jahrhunderte und Welten mit ihren Ketzereyen und Narrentheidungen aufsammel[te]n“.780 Wie schon bezüglich Schmohls Aussagen zum medizinischen Aberglauben beschrieben wurde,781 betont er auch an dieser Stelle die Wichtigund Nützlichkeit, die Pfarrer aus Kenntnissen von „etwas Anatomie, Physiologie, Pathologie“ ziehen könnten, um hierdurch größere Einsicht „in die innere Machination unsers Leibes und die von ihr abhängigen Seelenzustände“ zu erhalten, „damit sie nicht mit Beschwörungen und geistlichen Flüchen, wies noch häufig geschieht, einen Teufel aus Kranken zu treiben versuchen, gegen den oft eine gute Porzion englisch Salz782 mehr vermag, als das ganze Wort Gottes.“783 Die umfassende und vor allem praktische Bildung, die ausdrücklich nicht die christliche Theologie umfasst, scheint ebenfalls Schmohls Vorstellung eines idealen Landpredigers auszuzeichnen. Für dieses Ideal war Mochel sein Vorbild.784 Aus eigener Erfahrung kann Schmohl berichten, dass es sich bei den meisten Geistlichen, die gleichzeitig noch die Dorflehrer seien, oft nur um „Halbgebildete“ handele. Diese bildeten sich auf ihr „weniges Wissen ein großes“ ein und nähmen es jedem übel, der ihnen „einen richtigen Begriff von einer Sache mittheil[e]“.785 So berichtet Schmohl in seinen Briefen an Pestalozzi von einem Treffen mit dem Pülziger Katecheten, welcher der Lehrer seines kleineren Bruders war. Aus Spaß habe Schmohl – ganz im Sinne der praktischen Basedow’schen Pädagogik des Dessauer Philanthropins786 – seinen Bruder über dessen Messingknöpfe ausfragen wollen, um hierdurch auf die Metalle des Bergbaus zu kommen. Dabei bemerkte er, dass 779 780 781 782 783 784
Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 102. Ebd. Vgl. hierzu Kapitel 3.1.1.1. Das auch als ‚Bittersalz‘ bezeichnetes Magnesiumsulfat wurde als Abführmittel verwendet. Ebd., S. 103. Obwohl sich Schmohl, wie in Kapitel 3.2.2 beschrieben wird, gegen die Volksaufklärung aussprach, wenn hierbei Aufklärer, die sich nicht mit landwirtschaftlicher Ökologie auskannten, dennoch die Bauern über diesen Gegenstand belehren und ‚aufklären‘ wollten, beschreibt er mit den Aufgaben, die seiner Ansicht nach ein idealer Landpfarrer zu erfüllen habe, ein volksaufklärerisches Ideal. Wie aus der Urne hervorgeht, stieß Mochel, der dieses Landprediger-Ideal im Elsass umsetzten wollte, bei den etablierten Geistlichen auf Unverständnis. Vgl. ebd., S. 107–109. 785 Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 283. 786 Basedow sprach sich gegen das reine Auswendiglernen in Schulen aus. Seine Pädagogik sah eine spielerische Wissensvermittlung in Form des Gespräches vor. Vgl. hierzu: Jürgen Overhoff:
3.1 Philosophie versus Religion
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weder sein Bruder noch der Lehrer eine Ahnung von dieser Materie gehabt hätten. Diese unwissenden Schulmeister könnten den Kindern nicht mehr beibringen, „als ein bischen Lesen“ und „zur Noth auch“ ihren Namen zu schreiben sowie „noch just das, was vom Christenthum Gedächtniskram ist“. Hierbei handele es sich höchstens um „[t]odte Gelehrsamkeit, Gedächtnis-Gelehrsamkeit“, welche „keine taube Nuß werth“787 sei. Ein umfassend gebildeter Pfarrer könnte den ihm anvertrauten Kindern hingegen „lebendige Kentnisse von den Kräften und der Beschaffenheit der Dinge“788 beibringen und hierdurch der Allgemeinheit von großem Nutzen sein. Aus Schmohls Sicht kann sich eine Religion nur dadurch legitimieren, wenn sie der Gesellschaft einen allgemeinen Nutzen bringt. Dieser Punkt stellt somit ebenfalls einen wichtigen Bestandteil seiner persönlichen Religionsvorstellung dar, wie er deutlicher im letzten Brief an Pestalozzi ausführt: So stellt Schmohl zuerst fest, dass die Religion die Menschen oft zu den „thörichsten und boshaftesten“ Taten antreibe, da „Habsucht, Ehrgeiz, Fanaticismus und jede schändliche Leidenschaft unter ihrem Deckmantel verübt“ werden könne. Mit dieser Annahme stellt Schmohl die Frage, ob man überhaupt etwas als „zur Ehre Gottes gethan“ bezeichnen könne, „das nicht die höchstmögliche Glückseligkeit des Menschengeschlechts, des Vaterlands und der ganzen Welt befördert“ hätte und ob „nicht allein diese Beförderung wahre practische Religion“ darstelle. Er selbst erträume sich oft, „daß die Europäische Religions und Staatsverfassung einer Reformazion entgegen reis[e]“.789 Schmohl spielt hierbei auf eine persönliche Auslegung einer aufgeklärten natürlichen Religion an, welche er jedoch „itzt nur [bei] wenige[n] Weise[n]“ verwirklicht sah. So wie er in der Urne gefordert hatte, man solle Kindern statt eines Abstraktums wie der Schöpfung lieber direkt die Werke Gottes nahebringen, ist es auch Inhalt der Franklin’s Philadelphia Academy and Basedow’s Dessau Philanthropine. Two Models of Nondenominational Schooling in Eighteenth-century America and Germany. In: Paedagogica Historica. International journal of the history of education 43.6 (2007), S. 801–818, hier S. 814. 787 Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 284. 788 Ebd., S. 284 f. 789 Ebd., S. 333, Hervorh. i. Orig. – Schmohls Unterscheidung zwischen einer schädlichen Religion und einer Religion, die der Gesellschaft nützt, erinnert an David Humes Ausführungen zu der Vorstellung von religiösen Pflichten: So haben nach Meinung Humes religiöse Menschen lediglich die Möglichkeit, ihre Religiosität zu beweisen, wenn sie Handlungen oder Rituale vollzögen, bei denen sie sich explizit unmoralisch verhielten. Rituale seien „entweder im Leben unnütz“ oder sie würden den „natürlichen Neigungen [des Menschen] die stärkste Gewalt“ antun, weshalb dieser Mensch sie „jener Umstände wegen desto bereitwilliger annehmen wird, als sie ihn veranlassen sollten, es unbedingt abzulehnen. Es scheint ganz und gar religiös zu sein, weil es aus keiner Mischung mit anderen Motiven oder Erwägungen hervorgeht.“ (David Hume: Die Naturgeschichte der Religion. Hg. u. übers. v. Lothar Kreimendahl. Hamburg 1984, S. 66). Eine Handlung, die man hingegen aus natürlichen Beweggründen tätige, sei nicht geeignet, eine religiöse Handlung darzustellen, da sie gerade aufgrund ihrer Natürlichkeit getätigt werde und jeder Mensch so gehandelt hätte. (Vgl. hierzu auch Gerhard Streminger: Religiosität. Eine Gefahr für Moralität? Bemerkungen zu einem kaum beachteten Aspekt der Humeschen Religionsphilosophie. In: Aufklärung und Kritik 1.1 (1994), S. 28–44). Auf einen derartigen Konflikt scheint Schmohl ebenfalls anzuspielen, wenn er die Frage stellt, weshalb man nicht einfach positive, der Menschlichkeit entsprechende Handlungen als gottgefällig ansehen könnte.
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zukünftigen, noch zu reformierenden Religion, dass „auch das Volk Gott aus der Natur kennen und anbeten“ lerne. Diese utopische Vision würde für Schmohl „den herzerfreuenden Anblick [eines] Himmels auf Erden“ darstellen, wofür er gerne sein „ganzes junges Leben geben“790 würde. Während sich Schmohls und Mochels Ansichten einer sinnvollen Predigerausbildung zu decken scheinen, wirkt es, als sei Schmohl auch mit der persönlichen ‚Herzensreligion‘ seines Freundes einverstanden gewesen. Für andere religiöse Vorstellungen innerhalb des Sturm und Drang gilt dies nicht. So kritisiert er vor allem die Selbstüberschätzung Christoph Kaufmanns, der Schmohls Beschreibung nach glaubte, „daß er zu einem zweyen Christus geboren wäre, der das ganze Weltsystem durch eine neue Religion verbesserte; ohne vielleicht zu wissen, ob man die Welt hauen oder stechen müsse, um sie zu bessern.“791 Kaufmanns „Projecte des ausschweifendsten Ehrgeizes, des übergeschnapptesten Gehirns oder doch eines in der übelsten Richtung sich befindenden guten Herzens“ habe dieser als eine eigene ‚Herzensreligion‘ ausgegeben: „[A]ls die reinsten edelsten Absichten der Religion, der Menschenliebe, und des Patriotismus, wenn nicht als Eingebung Gottes“.792 Dass Schmohl Kaufmanns religiöse Ansichten ablehnte, ist aufgrund seiner Abneigung gegenüber Kaufmann nicht verwunderlich. Von seiner Antipathie zeugen vor allem die allgemeinen Kommentare zu Kaufmann sowie ein Vergleich von dessen Charakter mit dem Mochels.793 Aufgrund Schmohls generellen Sympathie gegenüber seinem Freund und auch wegen ihrer charakterlichen sowie biographischen Parallelen wird bei Mochels Darstellung auch unbewusst sehr viel von Schmohls eigenen Überzeugungen eingeflossen sein. So geht aus Schmohls Kommentaren zu Kaufmann und der Beschreibung von dessen Charakterzügen hervor, dass Schmohl hierbei Parallelen zum Christentum sah: So habe sich Kaufmann nicht nur selbst als Christus bezeichnet, sondern auch in den Physiognomischen Fragmenten Lavaters werde Schmohl zufolge „die Silhouette dieses Schweizers […] schier so oft wie Christus Silhouette beweihraucht“.794 Während sich ebenfalls Mochels Meinung, „daß alle Wahrheiten unter der Sonne subjectiv“ seien und „daß jeder verschieden vom andern denken und handeln könne und müsse, und als derselbe feurige Wahrheitsfreund etwas ganz anders für wahr halten könne, als der andere“795 mit Schmohls Ansicht der Subjektivität von Überzeugungen deckt,796 entspricht die Beschreibung Kaufmanns dem genauen Gegenteil: Er habe „in der Borniertheit seines Verstandes, ohne Natur- Welt- Menschen- und Selbstkenntnis sich mit rasendem Stolz, als einen Halbgott über alle andere Menschen wie über 790 791 792 793 794 795 796
Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 333. Ders.: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 115 f. Ebd., S. 116. Vgl. ebd., S. 122–134. Ebd., S. 121. Ebd., S. 126. Vgl. hierzu Kapitel 3.1.1.1.
3.1 Philosophie versus Religion
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Insectengeschmeis hinwandelnd phantasirt[]“.797 Diese Überheblichkeit, die das eigene Gefühl als absolute Wahrheit darstellt, verbindet Schmohl an anderer Stelle eindeutig mit den herkömmlichen Religionsvorstellungen.798 Mit dieser Interpretation steht Kaufmann durch seine Intoleranz exemplarisch für eine schädliche und falsch verstandene religiöse Überzeugung. Diese ist Schmohls Darstellung nach sowohl bei Vertretern des Sturm und Drang als auch bei den monotheistischen Religionen anzutreffen. Auch eine äußerliche Darstellung von Religiosität lehnte Schmohl ab und begegnete ihr, wenn er sie antraf, mit Unverständnis oder ablehnendem Spott. So beobachtete er, wie er in seinem Reisebericht durch das Elsass beschreibt, die Wallfahrenden am Odilienberg und berichtet ironisch: „Ich fand den Berg mit Andächtigen belagert, die ihre Rosenkränze und Ave Maria mit einer Schnelligkeit herunter beteten, welche genugsam bewies, daß die Leute auf ihr Handwerk ausgelernt waren.“ Als besonderen Aspekt bemerkt Schmohl, dass es sich bei den Menschen, die er hierbei getroffen habe, größtenteils um Arme gehandelt habe, „die von reichen Sündern abgeschickt und dafür besoldet werden.“ Diesem und anderen „Wallfahrtcommerz“ schenkt Schmohl in seiner Beschreibung nur knapp bemessene Aufmerksamkeit und betont stattdessen, wie in Kapitel 3.1.1.2 ausgeführt, die besondere Qualität der Odilienmilch als „[d]as beste, was der Berg“799 zu bieten habe. Bei deren Produzenten, dem Pächter der Wiese auf dem Odilienberg, der auch dadurch einen besonders guten Stand gehabt habe, „da er zugleich Wirth der Wallfahrenden“800 gewesen sei, handelte es sich zudem, wie Schmohl ausdrücklich hervorhebt, um einen Wiedertäufer. Diese Anhänger einer radikal-reformierten christlichen Konfession haben in Schmohls Schriften einen besonderen Stellenwert, wie sich aus seinen Reiseberichten und auch der Sammlung von Aufsätzen, hier speziell dem Fragment aus der Lebensgeschichte eines Elsaßer Wiedertäufers, entnehmen lässt. Auffällig ist hierbei, dass zwar deren Konfession hervorgehoben wird, dies aber auch nur deshalb, weil es sich bei ihnen nach Schmohls Urteil um besonders fleißige Bauern gehandelt habe. Nach seiner Ansicht seien gerade die Höfe der Wiedertäufer durch eine geschickte Bewirtschaftung besonders ertragreich gewesen: So habe man zwar im Wasgau801 mehr Viehzucht und vor allem bessere Rinderzucht, diese sei jedoch auch im restlichen Elsass ansehnlich, „besonders wenn sie [von] Wiedertäufer[n] oder Schweizer[n] bewirthschafte[t]“ würden. Wie Schmohl anerkennend betont, wurden der Käse und die Butter eines Wiedertäufers, der den „Münchhof, hinter
797 798 799 800 801
Ebd. Vgl. ebd., S. [233] f. und Kapitel 3.1.1.1. Schmohl: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 227. Ebd., S. 228. Der Wasgau umfasst den südlichen Pfälzerwald und die nördlichen Vogesen zwischen dem Fluss Queich bei Annweiler am Trifels und der Zaberner Steige.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Westhofen, nach Haslach zu“802 bewirtschaftete, aufgrund ihrer ausgesprochenen Güte von den „Gastwirthe[n] in der Gegend […] den Reisenden für Schweizer-Waare“, also Produkte von besonderer Qualität, angeboten. Bei diesem Bauern bemerkte Schmohl „eine große Liebe zur Ordnung und Genauigkeit“, aber daneben auch „viele Strenge gegen Kind und Gesinde“ sowie „eine sehr grade aber etwas zu herbe Rechtschaffenheit“.803 Zwar fand Schmohl bei diesem Wiedertäufer „keine besondere[n] Naturkenntnisse, oder richtigere Einsichten als bey andern Leuten.“ Doch sei das, „was dieser Leute Wirthschaft so vorzüglich auszeichnet, was sie reich“ gemacht habe, als Nebeneffekt ihrer, durch ihre Religion bedingten Lebensweise anzusehen: Diese sei vor allem durch den „Geist der Ordnung, […] anhaltende[n] Fleiß, […] Sparsamkeit, die Einschränkung des Aufwandes, das immer nüchterne mäßige Leben“804 bestimmt, was sie zu besonders guten Bauern mache. Ebenfalls habe die prekäre konfessionelle Position der Wiedertäufer, welche sie im zu einem Teil evangelisch-lutherisch und zum anderen Teil katholisch geprägten Elsass hatten, indirekt mit dazu beigetragen, dass sie zu besonderem Fleiß angetrieben wurden: So habe zwar einerseits dieser konfessionelle Druck, wenn er – wie bei der jüdischen Bevölkerung – extrem sei, negative Folgen, da er „den Menschen zum Schurken“805 mache.806 Andererseits treibe derselbe Druck, wenn er in weitaus geringerem Maße ausgeübt werde, „zu besserer, und vortheilhafterer Wirksamkeit“ an, was „schon die bessere Denkungs- und Handlungsart [beweise], die fast jede gedrückte Kirche in Vergleich mit der herrschenden“807 habe. Diese Situation habe auf die Wiedertäufer im Elsass zugetroffen, da sie, wie Schmohls fiktiver Wiedertäufer seine Lebensbeschreibung in der Sammlung abschließt, auch hier von den anderen Konfessionen diskriminiert worden seien – wenn auch nicht so stark wie die Juden. Den elsässischen Wiedertäufern habe „man die Kinder mit Gewalt“ weggenommen, um sie zu taufen und zu nötigen, „sie in die anders gläubigen Schulen zu schicken“. Deshalb seien die Wiedertäufer geradezu gezwungen worden, zu den „rechtschaffensten und verständigsten Oekonomen“ des Elsass zu werden. Hierdurch sei, so der fiktive Wiedertäufer, ihr „religiöses, bürgerliches und häusliches Verhalten, als Geschöpf Gottes, Unterthan des Königs, Mitglied der Gesellschaft, Mann der Frau, Vater der Kinder, Herr des Gesindes, Mensch unter Menschen und lebendiges und wirksames Wesen unter lebendigen und wirksamen Wesen, das beste […], das man an diesem Platz“808 kenne.
802 Schmohl: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 368 – Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um den heute noch existierenden Muenchhof bei Still zwischen Oberhaslach und Balbronn. 803 Ebd. 804 Ebd., S. 369. 805 Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 101. 806 Zu Schmohls Forderung nach Gleichberechtigung der Juden vgl. Kapitel 3.2.3. 807 Ebd. 808 Ebd.
3.1 Philosophie versus Religion
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Auch in Schmohls weiterer Beschreibung des Münchhofer Bauern in seinem Reisebericht wird deutlich, dass er die Konfession der Wiedertäufer nur aufgrund dieser direkten (Ordnung, Sparsamkeit, nüchternes Leben) und indirekten (Ehrgeiz der Unterdrückten, sich zu beweisen) Nebeneffekte für erwähnenswert erachtet: Das von ihm geschätzte landwirtschaftliche Geschick wird, da es sich bei diesen Bauern meist um Wiedertäufer handelt, mit diesen, der Konfessionen zugeschriebenen Eigenschaften in Verbindung gebracht und nur deshalb erwähnt. Einen ähnlichen Fall stellen die Bauern dar, die aus der Schweiz stammen:809 Diese führten Schmohls Ansicht nach ihre Höfe ebenfalls vorbildlich, wie er am Beispiel eines besuchten Bauernhofes darlegt. Dessen Besitzer hatten sich als Knecht und Magd „durch Fleiß und Sparsamkeit etwas Vermögen erworben“, was es ihnen letztendlich ermöglichte, im Elsass selbst ein kleines Gehöft zu pachten, mit welchem sie es wiederum zu „eine[r] annehmliche[n] Einkunft“810 gebracht hätten. Dass diese Bauern der reformierten Konfession angehörten, wird lediglich an einer anderen Stelle und in einem anderen Zusammenhang erwähnt. Ihr Fleiß und das landwirtschaftliche Geschick werden hingegen von Schmohl mit deren Schweizer Herkunft verknüpft. Da es Schmohl also nicht um die Wiedertäufer in ihrer Eigenschaft als Wiedertäufer, sondern als Bauern geht, thematisiert er deren Glaubensinhalte auch nur kursorisch, wenn er den Inhalt der kleinen Hausbibliothek des Münchhofer Bauern beschreibt: „Er hatte nichts als Bibel, Homilien, Gebet- und Gesangbücher.“ In Letzteren seien viele Märtyrergeschichten der Wiedertäufer enthalten gewesen. Inhaltlich kann Schmohl diesen Büchern nur an einigen Stellen beipflichten, die mit seiner aufgeklärten Privatreligion kompatibel gewesen zu sein scheinen: „Ich fand Stellen darinn, des Inhalts: ‚daß alle Völker eine Familie Gottes ausmachten, alle Nationen Theil am Himmelreich hätten, wenn sie nur Gott erkennten und rechtschaffen wären.‘ Sonst war eben so viel unsinniges Zeug darinn, als in unsern Gesang- Gebet- und Predigt-Büchern.“811 Diese Aussage zeugt einerseits deutlich von Schmohls mangelnder Überzeugung gegenüber den Grundsätzen der lutherischen Theologie, mit welcher er in Anhalt-Zerbst aufwuchs und nach der er in der Schule erzogen wurde. Auch wenn er behauptet, er „erweise der Geistlichkeit allen verdienenden Respect“,812 scheint dies zu implizieren, dass er dieses Verdienst und den davon abhängigen Respekt möglicherweise nicht allzu hoch einschätzte. Auch führt bei Schmohl eine eindeutig entgegengebrachte Achtung gegenüber Vertretern anderer Konfessionen nicht automatisch zu einer Wertschätzung ihrer Glaubensgrundsätze: 809 Neben der oben genannten Stelle, dass die beste Viehzucht im Elsass dort angetroffen werden könne, wo sie von Wiedertäufern und Schweizern betrieben werde, finden sich ähnliche Kommentare auch an anderen Stellen: „Es sind in Straßburg mehrere Vorwerke und Melkereyen, welche Wiedertäufer oder Schweizer gepachtet haben. Die erstern sind ohne Widerrede die besten Land- und Hauswirthe im Elsaß, und die letztern treiben eine besonders gute Viehzucht.“ Schmohl: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 241. 810 Ebd., S. 142. 811 Ebd., S. 369. 812 Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 288.
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Selbst wenn dieser Glaube, wie bei den elsässischen Wiedertäufern, maßgeblich zu einem Lebenswandel beitrug, der die landwirtschaftlichen Fähigkeiten dieser Menschen förderte und Schmohl diese Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten im Landbau bewunderte, gilt dies nicht für die damit in Verbindung gebrachte Religion. Seine Ablehnung des christlichen Glaubens verknüpft Schmohl zudem einerseits mit seiner familiären Geschichte und andererseits mit seiner sorbischen Herkunft. So habe er „keinen schwarzen Rock an [sich] leiden“ können, hätte also – trotz seines vorgeblichen Respekts gegenüber Geistlichen – niemals ein geistliches Amt übernommen. Diese Abneigung sei ihm „von [s]einen Vätern ins Blut mitgegeben“813 worden, da schon sein Urgroßvater, sein Großvater wie auch sein Vater langjährige und teilweise auch handgreifliche Auseinandersetzungen mit diversen Pfarrern ausgetragen hätten.814 Dass sich auch die Sorben lange Zeit der Christianisierung widersetzt hätten, zieht Schmohl ebenfalls für seine ablehnende Haltung heran. So begründet er das Vorhaben, seinen sorbischen Ahnen ein Denkmal auf einem ihrer Grabhügel in Form von Weinreben zu setzen, mit dem emphatischen Ausruf: „Sorben! Sorben! welch Volk wehrte sich länger gegen Uebermacht, länger gegen Aufdringung eines schändlichen Jochs, zeigte den fanatischen Bekehrern und Aposteln mit dem Schwert in der Faust, einen härtern Nacken, so, daß mans für infam erklären mußte, weils die christliche Religion nicht annehmen wollte?“815 Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob Johann Christian Schmohl einer religiösen Vorstellung anhing und falls ja, inwieweit diese aufgeklärt deistischer Natur war oder Merkmale anderer Religionen und Konfessionen aufwies. Die Indizien weisen darauf hin, dass er sich eine internalisierte ‚Herzensreligion‘ zurechtgelegt hatte, die aus einer eklektischen Mischung der verschiedensten Vorstellungen bestand. Hierbei ist es sehr wahrscheinlich, dass neben Anleihen aus der lutherischen Konfession, unter der er aufgewachsen war, ebenfalls Aspekte des Deismus in diese Zusammenstellung eingeflossen sind und sich hierdurch in seinen Texten finden lassen. Theologische Versatzstücke, die Schmohls Texte aufweisen, können jedoch auch den zeitgenössischen Kommunikationsgepflogenheiten entsprechen: Hiernach wäre ein Verweis auf ‚christliche Nächstenliebe‘ als sprachliche Chiffre zu verstehen, welche mit komplexen Bedeutungszusammenhängen aufgeladen ist, aber nicht zwangsweise auf eine christliche Überzeugung desjenigen hinweisen muss, der diese Begriffe verwendet. Ebenfalls könnte das Erwähnen eines ‚Weltbaumeisters‘ auf eine scheinbar intelligente Einrichtung der Natur hinweisen, über deren Entstehung jedoch keine zufriedenstellende Aussage getroffen werden kann, weshalb auf das offene Bild eines ‚Baumeisters‘ zurückgegriffen wird. 813 Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 288. 814 Ausführlicher zum Rechtsstreit zwischen Schmohls Vater und dem Pülziger Pfarrer um einen Garten, vgl. Niedermeier: Thu Recht (wie Anm. 23, S. 19), S. 131 f. 815 Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 224.
3.1 Philosophie versus Religion
245
Dass man aufgrund fehlender Selbstzeugnisse zu keinem abschließenden Urteil gelangen kann, kann jedoch im Fall der privaten Gefühlsreligion gleichzeitig als Indiz für eine solche gesehen werden: Da sie ein äußerst privates, gefühlsbetonendes Gebilde darstellt, ist es der jeweiligen Person kaum möglich, diese lediglich als ‚wahr‘ gefühlte Religion zu äußern. Diese Unfähigkeit zur Äußerung und Erklärung der eigenen Religionsvorstellung stellt die anfangs erwähnte ‚Aporie des Privatisierungsprozesses‘ der Gefühlsreligion dar, die für einige Ausformungen des Sturm und Drang als typisch angesehen werden kann.816 Gerade deshalb ist es wahrscheinlich, dass Schmohl – wie sein Freund Mochel – einer privaten ‚Herzensreligion‘ anhing, da er in seinen Schriften kein Bekenntnis darüber ablegt: Ihm war bewusst, dass er seine private Religionsvorstellung nie zufriedenstellend in Worte fassen könnte. Zudem hatte er kein Interesse daran, andere mit seiner persönlichen Vorstellung zu behelligen. Die sich hieraus ergebende Toleranz zeigt sich besonders in Schmohls Kritik an Basedows Religionskritik: So gab Schmohl zu, dass er es nicht verstanden habe, weshalb Basedow, „um seine eigne Religion durchzusetzen, die andern mit Feuer und Schwerdt verwüstet[e]“.817 Durch diese persönliche Religionsvorstellung, die sich kaum in den Aussagen Johann Christian Schmohls wiederfinden lässt, konzentriert er sich statt auf religiöse Differenzen in erster Linie auf die Persönlichkeit des jeweiligen Menschen. Gleichzeitig geht Schmohl davon aus, dass gewisse Verhaltensmuster religiösen Traditionen entspringen können und so den Menschen beeinflussen. Die Auswirkungen meint er in beobachteten Gemeinsamkeiten ausmachen zu können: So führt er die Genauigkeit, Strenge und „sehr grade aber etwas zu herbe Rechtschaffenheit“818 der Wiedertäufer auf deren Religion zurück. Letztendlich ist er sich bei einem derartigen Urteil jedoch nicht immer sicher: Als sich beispielsweise sein Wanderführer, der ihn durch das Schneethal führte, weigerte, ihn zum Hof des reformierten Bauern zu begleiten, der wegen eines angeblichen Mordes gesucht würde, stellt Schmohl lediglich fest, dass er nicht wisse, „[o]b das sein Katholicismus machte, oder warum er sich sonst so sperrte“.819 Bei dieser Aussage scheint zudem eine gewisse Skepsis gegenüber Katholiken mitzuschwingen, was als Überbleibsel seiner protestantischen Erziehung angesehen werden kann. Dennoch führte Schmohls private, nicht in die Öffentlichkeit getragene Religion dazu, dass er anderen Menschen mit einem vorurteilsfreien Interesse begegnete, auch wenn diese offensiver als er mit ihren religiösen Vorstellungen umgingen.
816 817 818 819
Vgl. Beutel: Religionsgeschichte (wie Anm. 768, S. 235), S. 49. Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 191. Ders.: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 368. Ebd., S. 141 f.
246
3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
3.1.4 Zwischenfazit: Philosophie versus Religion Inwiefern eine aufgeklärte Position im Bezug auf religiöse Überzeugungen als ‚radikal‘ bezeichnet werden kann, scheint einfach beantwortet werden zu können, sofern der jeweilige Aufklärer die Religion vorbehaltlos und ergebnisoffen untersucht. Dies ist in den Texten Karl von Knoblauchs und Andreas Riems eindeutig der Fall: Beide Aufklärer sehen die Religion weder als grundlegend für die menschliche Moral noch würden ihrer Meinung nach negative Konsequenzen eintreten, sollten Religionsvorstellungen ihre Bedeutung verlieren. Im Gegenteil lässt sich aus den Schriften beider Autoren herauslesen, dass sie ein Fehlen religiöser Vorstellungen sogar als positiv erachten würden, da aus ihrer Sicht eine Gefahr für die Moral der Menschen eher vom Vorhandensein der Religionen ausgeht, statt von ihrem Fehlen. Zwar unterscheiden sich Riems und Knoblauchs religionskritische Überzeugungen, wenn man sie en detail vergleicht: So ist aus Knoblauchs Sicht jede religiöse Überzeugung der menschlichen Moral schädlich, wohingegen für Riem eine philosophisch ‚reine‘ Religion die Moralvorstellungen eines Menschen sogar unterstützen kann. Beide Positionen sind folglich aufgrund ihrer konsequenten Missachtung theologischer Autorität, also dem vorurteilsfreien Untersuchen der Religion in ihren Ursprüngen, ihrer Entwicklung und Auswirkungen auf den Menschen als ‚radikal‘ zu bezeichnen. Sie unterscheiden sich jedoch leicht in ihrer unterschiedlichen Ausprägung, Gewichtung und Argumentation, sodass in Knoblauchs Philosophie keinerlei Religionsvorstellungen mehr benötigt werden, die von Riem hingegen – in philosophisch geläuterter Variante – als hilfreich erachtet werden. Auch bezüglich ihrer philosophischen Ansichten lassen sich Knoblauch und Riem auf der Seite einer radikalen Aufklärung einordnen. So formulieren beide beispielsweise eine Vorstellung der Seele, die sich nicht mit der herkömmlichen, theologischen Position in Einklang bringen lässt. Ebenfalls lehnen sie die religiöse Vorstellung eines immateriellen, von den Naturgesetzen unabhängigen Schöpfergottes ab und verorten den Begriff der Gottheit – wenn überhaupt – in der Gesamtheit des Universums. Beide sehen die menschliche Moral, auch wenn sie diese jeweils aus unterschiedlichen (menschlichen) Ursachen herleiten, als vollkommen individuell an, sodass es ihrer Ansicht nach keine absolut gültigen Moralvorstellungen geben kann. Vor allem bei Knoblauch lässt sich ein besonders tiefgreifendes Verständnis von aufgeklärter (Selbst-)Kritik erkennen, da er auch die eigenen Positionen einer kritischen Revision unterzieht. Einerseits ist ihm bewusst, wenn sich eine philosophische Hypothese, wie im Fall der Entstehung des Lebens, nicht empirisch belegen lässt. Entsprechend vorsichtig argumentiert er bei solchen Themen und warnt sogar vor vorschnellen, nicht belegbaren Aussagen. Andererseits ist er sogar bereit, eigene, zuvor für sicher gehaltene Annahmen zu korrigieren, wenn er davon überzeugt wurde, andere Sachverhalte für wahrscheinlicher zu erachten.
3.1 Philosophie versus Religion
247
Da Johann Christian Schmohl keine systematische Religionskritik betrieb und sich auch bezüglich philosophischer Konzeptionen zurückhielt, fällt es schwer, seine Positionen einer radikalen Aufklärung zuzuordnen. – Dies bedeutet jedoch auch nicht, dass er Ansichten vertrat, die nicht als ‚aufgeklärt‘ bezeichnet werden könnten: Im Feld seiner religionskritischen Ansichten lassen sich bei ihm vor allem die ‚klassischen‘ Themen der Aufklärung ausmachen: Beispielsweise die Kritik des Aberglaubens, welcher ursächlich mit der Religion in Verbindung gebracht wird oder die Forderung nach umfassender Toleranz, welche gegen den religiösen Universalitätsanspruch durchgesetzt werden muss. Dennoch ist das Ausklammern einer tiefergehenden Religionskritik kein Hinweis auf eine moderate Aufklärungsvorstellung. Stattdessen zeigt sich Schmohls Radikalität gerade in seiner privaten Religionsvorstellung, die mit einem konsequent umgesetzten Toleranzverständnis erklärt werden kann und sich hierdurch lediglich umschreiben lässt: Aufgrund ihres persönlichen, eklektischen Zuschnitts war sie genauso individuell wie die Persönlichkeit des jeweiligen Menschen. Hierdurch waren ihr keine religiösen Dogmen oder althergebrachte Traditionen eigen. Durch ihre eklektische Zusammenstellung auf Grundlage des Gefühls konnte sie weder umfassend beschrieben werden noch ließe sie sich auf einen anderen Menschen übertragen. Eine solche Vorstellung stand damit dem universalen Geltungsanspruch klassischer Religionen diametral gegenüber. Ohne diesen Geltungsanspruch bestand keine Notwendigkeit, andere religiöse Vorstellungen herabzuwürdigen, um dem universalgültigen Verständnis der eigenen Religion gerecht zu werden. Damit war es einem Aufklärer wie Johann Christian Schmohl möglich, das Phänomen der religiösen Überzeugungen in großen Teilen zu ignorieren, sofern sie nicht seine persönliche Freiheit durch Intoleranz gefährdeten oder anderen Menschen durch abergläubische Praktiken Schaden zufügten. – Nicht ohne Grund betrachtete Schmohl die meisten abergläubischen Traditionen mit einem distanzierten Spott, welcher jedoch vollkommen verschwand, wenn er medizinischen Aberglauben thematisierte, da dieser statt zu heilen dauerhaftes Leid verursachen kann. Besonders deutlich wird dieser Grundsatz auch bei Schmohls Kritik an der in Kapitel 3.2.3 dargestellten Diskriminierung der Juden, indem er den Grund hierfür ausschließlich der Intoleranz und dem Aberglauben der Christen zuschrieb. Es bleibt festzuhalten, dass Schmohl die Religionskritik aufgrund seines Toleranzverständnisses ausklammerte. Es gibt keine Anhaltspunkte, dass er Religion – etwa wie moderate Religionsaufklärer – aufgrund einer angenommenen Bedeutung für das menschliche Zusammenleben als besonders schützenswert erachtete. Er ignorierte sie also nicht, weil er die Religion als ein hohes Gut ansah, sondern weil er die Toleranz als weitaus wichtiger einschätzte: Ohne Toleranz könnte es zu unüberwindbaren Konflikten zwischen den Menschen kommen und dies würde stattdessen das Zusammenleben unmöglich machen. Diese konsequente Toleranz ist in gewisser Weise ebenfalls eine radikal verstandene Aufklärung.
248
3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
3.2 Soziale Verhä ltnisse 3.2.1 Vom ‚Wilden‘ zur Zivilisation? Die geschichtsphilosophische Entwicklung der Menschheit Vom 16. bis ins 18. Jahrhundert stellten Universalhistorien die grundlegende Lektüre an den Universitäten dar. Sie vermittelten „die jüdisch-christliche Geschichtstheologie, beginnend mit der Schöpfung der Welt und der Erschaffung des Menschen auf Grundlage der Bibel, deren Auslegung die Epochengliederung sowie den chronologischen Leitfaden der Gesamtgeschichte vorgab.“1 Diese Universalhistorien konnten jedoch auf die Fragen der Frühen Neuzeit nach „den Ursprüngen von Herrschaft, Gesellschaft, Zivilisation und Wissenschaft“ keine befriedigende Antwort geben. Stattdessen versuchte man, den Mythos der Bibel zu umgehen und entwickelte „eigenständige, auf Vernunft setzende, mithilfe historischer Kritik und anthropologischen Prämissen konstituierte Ursprungsgeschichten“.2 Während viele dieser Geschichtsschreibungen die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft thematisierten und somit voraussetzten, dass hierzu der Mensch als vollständig entwickeltes menschliches Lebewesen existieren musste, war für Aufklärer, die nicht von einer göttlichen Schöpfung ausgingen, auch die Frage relevant, ob es möglicherweise eine Zeit gegeben habe, in der keine Menschen existierten. Sofern dies der Fall wäre, müssten die Vorfahren der modernen Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden sein. Da Knoblauch bereits im Zusammenhang mit der Entstehung des Lebens deutlich gemacht hatte, dass er weder die Schöpfungsmythen der Theologie noch die zeitgenössischen wissenschaftlichen Hypothesen als haltbar betrachtete,3 hielt er eine Schöpfung des Menschen für ebenso unwahrscheinlich: Nur weil es einen Zeitraum gebe, für den sich keine schriftlichen oder anderweitigen Zeugnisse der Menschheit ausfindig machen ließen, könnte man nicht darauf schließen, dass zu diesem Zeitpunkt keine Menschen existiert hätten, die erst durch eine göttliche Schöpfung entstanden seien. Karl von Knoblauch: ‚erstlich waren’s Kalibane‘ Diese Aussage formuliert Knoblauch in einem Artikel, der auf den ersten Blick nichts mit dem Thema der Entwicklung und Entstehung der Menschheit zu tun hat: 1787 verteidigte er die vom Dillenburger Bergkommissarssekretär Johann Philipp Becher (1752–1831) in dessen Mineralogischen Beschreibung des Westerwaldes (1786) aufgestellte These, es habe dort – wie in anderen an den Rhein grenzenden Gebieten – Vulkane gegeben. Becher hatte den Beleg dieser These in Form von Bimsstein
1 2 3
Helmut Zedelmaier: Anfang der Geschichte. In: Lucas Marco Gisi u. Wolfgang Rother (Hg.): Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung. Basel 2011 (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel 6 (N.F.)), S. 17–28, hier S. 18. Ebd., S. 24. Siehe Kapitel 3.1.2.
https://doi.org/10.1515/9783110693102-010
3.2 Soziale Verhä ltnisse
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gefunden, was Knoblauchs Schwager von Brandenstein, ebenfalls mineralogisch interessiert, bestätigt hatte.4 Nun argumentiert Knoblauch, dass „das Stillschweigen alter Annalen“, also „der Mangel schriftlicher Nachrichten“, nicht als „Beweis gegen das Daseyn alter Vulkane“ gesehen werden könnte. Selbst wenn diese noch brannten, als die Gegend des Westerwaldes bereits von Menschen bewohnt war, „so ist die Schreibkunst, so sind Annalen doch weit jünger als das Menschengeschlecht.“ Vorzivilisatorische Menschen, Knoblauch nennt sie „Barbaren“, würden die Besonderheiten, „die Merkwürdigkeiten ihres Wohnsitzes nicht auf[zeichnen].“5 Entsprechend habe man aus dieser Zeit der Menschheitsgeschichte keine zuverlässigen Zeugnisse. Daher könne man zum einen nicht sagen, dass im Westerwald, als es dort noch Vulkane gegeben haben soll, keine Menschen lebten, weil man von ihnen keine schriftlichen Zeugnisse als Existenzbeleg besitze. Zum anderen sei das Fehlen von schriftlichen Zeugnissen ebenfalls kein Beleg für die Nichtexistenz menschlichen Lebens zu diesem Zeitpunkt, da dieses Fehlen auch schlicht darauf zurückzuführen sein könne, dass diese Wesen noch nicht in der Lage waren, ihre eigene Geschichte schriftlich und zusammenhängend aufzuzeichnen. Dementsprechend lässt Knoblauch 1790 in Ueber Faunen, Satyrn, Panen und Silenen. Einige Gespräche einen seiner fiktiven Dialogpartner bezüglich der „uralten Menschen oder Anthropomorphen“ feststellen, dass diese „weder schreiben noch auf Stein oder Erz graviren“ konnten: „Sie hinterließen uns, ihren Urenkeln, nichts, woraus auch nur die dürftigste Geschichte zusammenzusezen wäre.“6 Auf der Grundlage antiker Autoren beschreibt Knoblauch einen Naturzustand, in welchem die Menschen von Kräutern und Wurzeln leben und auf der Erde unter einem geflochtenen Laubdach schlafen.7 Gleichzeitig zeugt Knoblauchs Formulierung, es habe sich um ‚uralte Menschen oder Anthropomorphen‘ gehandelt, von der Vorstellung, dass die Menschen zu einer bestimmten Zeit noch nicht menschlich, sondern lediglich anthropomorph – menschenähnlich – gewesen sein könnten. In einem anderen Artikel formuliert er diese Idee unter Bezugnahme auf Holbachs Système de la nature noch deutlicher: Wenn man sich einerseits vorstellen könne, dass die Menschheit durch eine Schöpfung geschaffen wurde und andererseits Theorien für wahrscheinlich erachtet würden, dass die Menschen schon ewig existieren würden, könne man sich ebenfalls vorstellen, „das menschliche Geschlecht sei in der Zeit erst hervorgebracht worden.“8
4 5 6 7 8
Vgl. [Karl von Knoblauch]: Demüthige Bitte der Volkane an Herrn Berg-Akademie-Inspektor Werner zu Freiberg. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 115–137, hier S. 134. Ebd., S. 136, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Ueber Faunen 1 (wie Anm. 306, S. 65), S. 31, Hervorh. i. Orig. Vgl. ebd., S. 31 f. [Karl von Knoblauch]: Böoz an Amyntor. Ueber Varro de re rustica. In: Hyperboreische Briefe 1 (1788), S. 200–207, hier S. 202, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Auf eine derartige Hypothese, dass die Menschen durch allmähliche Entwicklung von menschenähnlichen Wesen schließlich zu Menschen wurden, verweist Knoblauch in einem Artikel von 1791. In diesem lässt er eine mögliche Theorie zur Entwicklung des Menschen als eine Art Preisfrage in einer fiktiven Abendgesellschaft aufwerfen: „Was mögen wohl unsere Ahnen, die Urmenschen, für Figuren gewesen seyn?“ Die zuerst gegebene Antwort, „daß es Währwölfe waren“,9 wird vom Wortführer der Gesellschaft, einem öfter in Knoblauchs Erzählungen auftauchenden fiktiven Abbé Palmerin, teilweise zurückgewiesen: „Die Währwölfe sind nur die zwote Verwandlung, welche das menschliche Geschlecht erfuhr; erstlich waren’s Kalibane.“10 Nach Palmerin sei das Wesen Caliban aus William Shakespeares (1564–1616) Der Sturm „nicht so ganz und gar ein Geschöpf der Einbildungskraft, wie seine Kommentatoren meynen“.11 Bei der Ausarbeitung Calibans, der als Sklave des Magiers Prospero als wild und missgestaltet – „in physischer wie moralischer Hinsicht“12 – beschrieben wird, habe sich Shakespeare an einem Lamantin, einer Seekuh, orientiert. Damit verweist Palmerin auf eine ebenfalls im 18. Jahrhundert populäre Interpretation, welche sich parallel zur Entstehung der vergleichenden, anthropologischen Menschheitsgeschichtsschreibung herausbildete. In dieser bildet Caliban als ‚Grenzfigur‘ zwischen Mensch und Tier „den Gegenentwurf zum ‚edlen Wilden‘ […]. Gerade die Verknüpfung von ‚Missgestaltetem‘ und ‚Wildem‘ erhält im 18. Jahrhundert erneute Aktualität.“13 Stellvertretend lässt Knoblauch Palmerin auf eine „vortrefliche Ausführung des Herrn Chodowieki im Göttingenschen Almanach“ verweisen, die man mit der Zeichnung vergleichen solle, „welche man uns vom Lamantin liefert“. Auf diese Weise würde man sehen, „daß Shakespear entweder tiefer in die Naturgeschichte geschauet hatte, als seine Ausleger; oder daß Herr Chodowieki ihn besser errieth, als jene.“14 In Neapel habe Palmerin selbst eine solche Seekuh beobachten können und gesehen, dass sie sowohl im Wasser als auch auf dem Land leben konnte: Der Lamantin 9 10 11
12 13 14
[Karl von Knoblauch]: Nerine’ns Abendgesellschaft. In: Paragrafen 1 (1791), S. 244–249, hier S. 244. Ebd., S. 244 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 245 – Knoblauch bezieht sich hierbei womöglich auf eine auf John Drydens (1631–1700) zurückgehende Interpretation, der davon ausging, „bei Caliban handele es sich um eine der Phantasie und nicht eine der empirischen Wirklichkeit entsprungene Figur“. Hierdurch „wird ein zentraler Aspekt der Shakespeare-Diskussion und der Rezeption des Monsters“ der damaligen Zeit berührt, indem Caliban „zur Reflexionsfigur für das Verhältnis von dichterischer Einbildungskraft und Mimesis, von Phantastisch-Märchenhaftem und deformierter Wirklichkeit“ (Urte Helduser: Imaginationen des Monströsen. Wissen, Literatur und Poetik der „Missgeburt“ 1600–1835. Göttingen 2016, S. 110) wird. Ebd., S. 109. Ebd., S. 154 f. Knoblauch: Abendgesellschaft (wie Anm. 9), S. 245, Hervorh. i. Orig. – Chodowiekis Graphiken zum Sturm befinden sich im Göttinger Taschen-Calender des Jahres 1788. Eine weitere Beschreibung Calibans, die ihn als ein Wesen zwischen Mensch und Meerkalb beschreibt, lässt sich ebenfalls bei Wieland finden. Vgl. hierzu: Helduser: Imaginationen (wie Anm. 11), S. 161–177.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
251
„hatte große, schöne, lebhafte Augen, und einen großen, runden Kopf. Die Arme waren klein. Die Hände hatten fünf Finger mit drei Gelenken, die durch eine Haut verbunden waren, wie die Fußzehen der Enten und anderer Schwimmvögel. Der Schwanz spaltete sich in zween Theile, welche eine Art von ungestalten Füßen bildeten.“ Neben dieser anatomischen Ähnlichkeit scheint der Lamantin in Palmerins Augen auch eine gewisse Intelligenz besessen zu haben, da „er Alles verstand, was ihm sein Herr befahl, und daß er ihm sehr genau gehorchte.“15 Neben diversen Kunststücken habe er auch ansatzweise seinem Willen Ausdruck verleihen können, so Palmerin: „Fühlte er sich endlich müde, so blökkte er ein deutliches No (Nein!) und rührte sich nicht weiter.“16 Bei der Überlegung, die Seekuh aufgrund anatomischer Parallelen als Vorläufer des Menschen in seiner Entwicklung zu betrachten, spielt Knoblauch auf eine frühe Evolutionstheorie von Charles Bonnet und dem Enzyklopädisten Jean-BaptisteRené Robinet (1735–1820) an. Beide vertraten „ein an Leibniz anschließendes Entwicklungsmodell von in graduellen Abstufungen ineinander übergehenden organischen Formen, die ausgehend von einem ‚Prototyp‘ nach dem Rousseau’schen Prinzip der Vervollkommnung organisiert sind.“17 In diesem Modell, einer „Karte der Schöpfung“, in welcher Robinet „die Uebergänge der Natur (nähmlich der organischen Materie) von den Fossilien an bis zum Engel“ beschrieb, stelle, so Palmerins Ausführung, „der Lamantin [die] Brüke vom Thier- und Menschenreich“18 dar. Im Gegensatz zu Charles Darwins Evolutionstheorie, bei der die Entwicklung der Lebewesen nicht auf ein festgelegtes Ziel zuläuft und Veränderungen zufällig auftreten, gingen Bonnet und Robinet von einer festen scala naturae, einer Kette der Wesen, aus. Die Natur wurde vor allem von Robinet als „von den Planeten über die Mineralien bis zum Menschen“19 beseelt angesehen, wodurch die Einteilung in Gattungen verworfen wurde. Gleichzeitig stellte der Mensch als Prototyp das Ziel von Robinets Entwicklungskette dar, indem er in seiner Gestalt „die elaborierteste Form der Natur“20 abbildete und damit alle anatomischen Merkmale des Tierreichs in ihrer optimalen Ausformung in sich vereinigte. Diese Merkmale tre15 16 17
18 19 20
Knoblauch: Abendgesellschaft (wie Anm. 9), S. 246. Ebd., S. 247, Hervorh. i. Orig. Helduser: Imaginationen (wie Anm. 11), S. 178 f., Hervorh. i. Orig. – Helduser ordnete den Artikel Nerine’ns Abendgesellschaft dem Herausgeber der Paragrafen, Wilhelm Ludwig Wekhrlin und nicht Knoblauch zu. Die Zuordnung der Autorschaft zu Knoblauch stammt hingegen von Jean Mondot (Vgl. Mondot: Wekhrlin (wie Anm. 181, S. 44), S. 727) und ist meiner Ansicht nach – abgesehen von sprachlichen Merkmalen, die für Knoblauch als Autoren sprechen – auch deswegen plausibel, da er eine entsprechende Gesellschaft um den Abbé Palmerin in mehreren Artikeln der Hyperboreischen Briefe entwarf (so beispielsweise: [Karl von Knoblauch]: Klindor an Aramintha. Eine Lection vom Abbee Palmerin. In: Hyperboreische Briefe 6 (1790), S. 171–186; Ders.: Belinde an Phaon. Gartengespräch. In: Hyperboreische Briefe 6 (1790), S. 226–235) und auch in anderen Texten der Name ‚Klindor‘ von ihm gerne verwendet wurde. Ders.: Abendgesellschaft (wie Anm. 9), S. 247 f. Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950. Göttingen 2015, S. 124. Ebd., S. 218.
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ten nach Robinets Theorie bei Vorformen des Menschen besonders deutlich hervor, wenn man sich diese vom menschlichen Prototyp ausgehend betrachtet: „Auf der Suche nach solchen Vorformen des Menschlichen unter den niedrigeren Rängen der Schöpfung ließ sich Robinet unseligerweise zur Auffindung von gesichtsartigen sowie arm- und beinartigen Zügen bei Rettichen und anderen Pflanzen verleiten und veröffentlichte Zeichnungen solcher pflanzlicher Anthropoiden.“21 Nach dieser Entwicklungstheorie stellten „Monstren“ wie die Seekuh mit ihren an den Menschen erinnernden Gliedern „das ‚Stehenbleiben‘ auf einer früheren Entwicklungsstufe“ hin zum Menschen dar. Sie wurden somit „nicht mehr als ‚Störungen‘ der Ordnung der Natur betrachtet“, sondern besetzten jeweils „eine notwendige Position in der“22 Entwicklungsgeschichte. In einer Anmerkung kommentiert Knoblauch, dass Robinets „Karte der Schöpfung“ nicht ganz „so lächerlich“ sei, wie man glaube, da sie besser zusammenhänge, „als manches moralische System.“23 Ausgehend von den Steinen schreite Robinet in analogischer Progression, durch Pflanzenreich hindurch bis zum Polypen; von diesem, durch einen einfachen Uebergang, auf die Insekten, Amphibien etc. etc. bis zum Lamantin; vom Lamantin auf den Seemenschen (dessen Existenz nimmer paradox ist,) bis zum Chimpanse, dem menschenähnlichsten unter den Affen. Hierbei geht er beständig mit der Meßschnur in der Hand, blikt immer auf seinen Festpunkt, daß die Materie organisch, beseelt, lebendig, thierisch sey – nicht todt; und daß sie Thätigkeit und Elastizität besize.24
Trotz dieser Zustimmung scheint Knoblauch der Theorie Robinets und Bonnets – wohl aufgrund ihrer Annahme, auch Steine könnten beseelt sein – eher ablehnend gegenüber gestanden zu haben. Dies geht besonders aus den beiden Bänden seiner 1790 und 1791 erschienenen Gespräche Ueber Faunen, Satyrn, Panen und Silenen hervor. So lässt er 1790 einen der Dialogpartner, Lienhard genannt, über das „von Bonnet und einigen andern erdachte[]“ System feststellen: Diese „Kette der Naturwesen“ welche „vom Staube an“ über die „Körper des mineralischen, vegetabilischen und animalischen Reichs, bis zum Menschen“ und über diesen hinaus „durch alle Ordnungen der Geister bis“ zu den Göttern verlaufe, sei „ein Geschöpf der Einbildungskraft, ein Unding.“25 Im Anhang zum zweiten Teil dieser Gespräche
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22 23 24 25
Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Übers. v. Dieter Turck. Frankfurt a.M. 1993, S. 338 – Zum Modell Bonnets und vor allem Robinets, vgl.: ebd., S. 324–340; Michler: Kulturen (wie Anm. 19, S. 251), S. 123 f., 216–222; Annette Graczyk: Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert. Theorien zwischen Aufklärung und Esoterik. Berlin u. Boston 2015 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 51), S. 95 f. Einen umfassenden Überblick bietet zudem: Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Berlin u. Boston 2013 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 23), S. 56–74. Helduser: Imaginationen (wie Anm. 11, S. 250), S. 180. Knoblauch: Abendgesellschaft (wie Anm. 9, S. 250), S. 247 f. Ebd., S. 248. Knoblauch: Ueber Faunen 1 (wie Anm. 306, S. 65), S. 83, Hervorh. i. Orig.
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wird Knoblauch noch deutlicher: „[D]ie stetige Kette der Naturwesen“ sei lediglich „ein philosophisches Hirngespinnst“.26 Seine eigene Argumentation macht er anhand der titelgebenden Faunen und Satyrn deutlich: Zwar könnte man nicht einfach ohne Begründung die mögliche Existenz dieser mythischen Wesen leugnen. Gleichzeitig sei es aber nicht zulässig, aufgrund einer angeblichen Lücke zwischen verschiedenen Arten, beispielsweise beim „Uebergang vom Affen zum Menschen, oder vom Menschen zu den völlig unbekannten höhern Wesen“27 ein „Dagewesenseyn“ solcher Verbindungen einfach zu postulieren: Zwar gebe es „einige Arten von Kreaturen, die ehemals existierten“,28 aber dann „durch uns unbekannte Revolutionen der Natur vernichtet“29 worden seien. Die Faunen und Satyrn würden hingegen nicht benötigt „um die scheinbare Lücke, die sich in der Kette der Natur zwischen Affen und Menschen befindet, auszufüllen.“30 Knoblauch geht an dieser Stelle sogar weiter und relativiert die angebliche Lücke, die augenscheinlich zwischen Menschen und Affen bestehe: „Der Orang-Outang mag manches stockdumme Individuum unserer Gattung an Genie übertreffen, oder ihm wenigstens an Fähigkeit nichts nachgeben.“31 Möglicherweise habe man bisher nur „zu wenig Gelegenheit“ gehabt, „die Oekonomie und die Handlungen jener Anthropomorphen […] in der Nähe zu beobachten. Wären wir dazu im Stande, so würden wir vielleicht Spuren der Vernunft bei ihnen entdecken, welche gewisse – den Thieren allzuwenig einräumende – Philosophen, mit der Natur der Thiere unbekannt, in ihrem Studierzimmer nicht erwarten.“32 Hierdurch stellt der Orang-Utan nicht nur das „Mittelglied […] zwischen dem Menschen und den übrigen Thieren“33 dar, sondern Knoblauch traut diesem Verwandten des Menschen sogar zu, an der – sonst nur auf den Menschen beschränkten – Vernunft Teil zu haben.34 In seinem Artikel von 1788, in welchem Knoblauch die Überlegung aufstellt, „das menschliche Geschlecht sei“ erst im Laufe der Zeit „hervorgebracht worden“,35 26 27 28 29 30 31 32 33 34
35
Ders.: Ueber Faunen 2 (wie Anm. 306, S. 65), S. 155 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 156. Ebd., S. 155. Ebd., S. 156. Ebd., S. 158. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 158 f. Ebd., S. 84. Als besonderer Beleg für Vernunft galt die Fähigkeit zu reden (Vgl. Hoorn: Dem Leibe (wie Anm. 21), S. 74–79). Wie schon im Bericht zur Seekuh, deren sprachähnliche Laute Knoblauch besonders hervorhob, scheint er auch bei Orang-Utans nicht vollkommen ausgeschlossen zu haben, dass diese sprechen könnten. So berichtet er „daß noch jezt gewisse Negervölker“ davon ausgingen, der Orang-Utan könne sprechen, dieser wolle dies jedoch „bloß aus Eigensinn“ (Knoblauch: Ueber Faunen 2 (wie Anm. 306, S. 65), S. 202, Hervorh. i. Orig.) nicht tun. Durch seine positive Bewertung des Orang-Utan widersprach Knoblauch ausdrücklich seinem ehemaligen Lehrer Lichtenberg. Vgl. Hoorn: Dem Leibe (wie Anm. 21), S. 62 f. Knoblauch: Ueber Varro (wie Anm. 8, S. 249), S. 202.
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bringt er diese Theorie mit den Veränderungen von Wildtieren bei ihrer Domestizierung in Verbindung: So werde das Mufflon auf Sardinien entweder als ursprüngliche Form des Hausschafes angesehen oder – wie von dem Mathematiker und Zoologen Francesco Cetti (1726–1778) vermutet wurde – „für ein wildgewordenes, ausgeartetes Schaaf“36 gehalten. Eine derartige Veränderung scheint Knoblauch auch im Falle des Menschen angenommen zu haben. Anhand der vom Menschen herbeigeführten Veränderung von Tieren durch gezielte Zucht macht Knoblauch deutlich, dass er es ebenfalls für denkbar hält, dass auch der Mensch sein Aussehen und bestimmte Eigenschaften im Laufe der Zeit verändert habe. Die Entwicklung hin zum heutigen Menschen, welche sich dann über „Zwischenwesen“ vollzogen haben muss, zieht jedoch nicht die „Zugehörigkeit“ dieser Wesen „zur Gattung Mensch […] aus naturkundlicher Sicht in Zweifel“,37 wie es Helduser im Falle Calibans kritisiert. Stattdessen macht Knoblauch in seinem Artikel deutlich, dass „Schaaf und Mufflon […] Eine Gattung“38 ausmachen und dies ebenso für „Gemsen oder Steinböke“ gelte: „[S]ie gehören mit der Hausziege zu Einem und demselben Geschlecht.“39 Genauso gehörten Menschen unterschiedlichen Aussehens nicht zu verschiedenen Gattungen, Arten oder Rassen, sondern seien schlicht als ‚Mensch‘ anzusehen. In Verbindung mit der Diskussion in Knoblauchs fiktiver Abendgesellschaft hat dies nicht nur für unterschiedliche menschliche Phänotypen Geltung, sondern ebenfalls für frühere Entwicklungsstufen des Menschen – und somit auch für menschliche Vorgänger wie ‚Kalibane‘ oder ‚Währwölfe‘. Hierdurch wird auch vorstellbar, Affen wie den Orang-Utan zur Gattung des Menschen zu zählen, da es denkbar sei, dass auch diese Lebewesen eine Art von Vernunft besäßen, die ihnen von den meisten Philosophen nicht zugesprochen werde. Daher schließt Knoblauch seinen Text mit der Bemerkung, dass die „Rassen […] und Abstammungen der Thiere, die Verwandtschaft ihrer Arten, ihre Wanderungen, ihre Natur, Ausartung oder Veredelung in den Händen der Menschen […] der Aufmerksamkeit“40 all derjenigen wert seien sollte, die für sich beanspruchten, Philosophen zu sein. Die Entstehung der menschlichen Gesellschaft aus geschichtsphilosophischer Perspektive Mit Blick auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, bei welcher die Existenz moderner Menschen vorausgesetzt und ihre Entstehung folglich vernachlässigt werden konnte, lieferten im 18. Jahrhundert die zahlreichen Entdeckungs- und Forschungsreisen in alle Teile der Welt neue Erkenntnisse über die Vielfalt des 36 37 38 39 40
Knoblauch: Ueber Varro (wie Anm. 8, S. 249), S. 204 – Die Frage, ob das Mufflon die Urform des Hausschafes darstellt oder eine ausgewilderte Form von diesem, scheint bis heute nicht eindeutig geklärt zu sein. Helduser: Imaginationen (wie Anm. 11, S. 250), S. 182. Knoblauch: Ueber Varro (wie Anm. 8, S. 249), S. 205. Ebd., S. 205 f. Ebd., S. 207.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
255
menschlichen Lebens. Durch diese Informationen erhoffte man sich, Rückschlüsse auf die Entwicklung der Menschheit ziehen zu können: Wichtigstes Instrument war dabei „[d]ie Methode des systematischen Vergleichs“, welcher als „Grundlage zur Erschließung der zeitlichen Dimension einer Naturgeschichte der Menschheit“ diente. Als Grundvoraussetzung galt „[d]ie Annahme von der Uniformität der menschlichen Natur und der sie bestimmenden Gesetze“,41 weshalb man im 18. Jahrhundert davon ausging, von existierenden Völkern auf die vorangegangenen Entwicklungsstufen anderer Völker schließen zu können, ohne auf historische Spekulationen zurückgreifen zu müssen.42 Nicht durch „historische Überlieferung oder archäologische Funde“ wurde versucht, die Menschheitsgeschichte herzuleiten, sondern auf Grundlage der „Lebensformen und -gewohnheiten gegenwärtiger ‚wilder‘ und ‚barbarischer‘ Völker.“43 Gleichzeitig wurden hierdurch das ‚barbarische‘ und ‚wilde‘ dieser Völker zum Teil relativiert, da sie mit diesem Hintergrund nicht mehr als grundlegend verschieden betrachtet werden konnten, sondern lediglich eine andere zivilisatorische Entwicklungsstufe einnahmen.44 Bei dieser geschichtsphilosophischen Betrachtung der Menschheit nimmt für den deutschsprachigen Raum Isaak Iselins ab 1764 erschienenes zweibändiges Werk Philosophische Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit eine besondere Rolle ein. Diese stellte den ersten umfassenden Versuch einer anthropologischen Beschreibung der Menschheitsgeschichte im deutschen Sprachgebiet dar. Sein Werk wurde nicht nur zur Lehre an den Universitäten verwendet, sondern war aufgrund seiner allgemeinen Verbreitung auch das erfolgreichste deutschsprachige geschichtsphilosophische Buch der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.45 So schien es Johann Reinhold Forster (1729–1798) nur als konsequent, Iselins Werk in seine Reisebibliothek aufzunehmen, welche er auf James Cooks (1728–1779) zweiten Südseereise (1772–1775) mitführte: Während das ebenfalls mitgenommene Standardwerk Systema Naturæ Carl von Linnés (1707–1778) dazu dienen sollte, die beobachtete Natur in ihre Systematik einzuordnen, spielte Iselins Geschichte der Menschheit „eine ähnliche Rolle im Begreifen fremder Kultur“.46 Der von Rousseau als Verfall beschriebenen Entwicklung der menschlichen Zivilisation, welche von einem paradiesischen Naturzustand ausgehend, sich durch Phantasie und Vernunft immer weiter von diesem entfernt, setzte Iselin das Modell 41 42 43 44 45 46
Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 36), S. 140. Vgl. ebd. Zedelmaier: Geschichte (wie Anm. 1, S. 248), S. 27. Vgl. Meyer: Wahrheit (wie Anm. 41), S. 141; Zedelmaier: Geschichte (wie Anm. 1, S. 248), S. 28. Vgl. Lucas Marco Gisi u. Wolfgang Rother: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Iselin (wie Anm. 1, S. 248), S. 9–15, hier S. 10; Lucas Marco Gisi: Die anthropologische Basis von Iselins Geschichtsphilosophie. In: Gisi u. Rother (Hg.): Iselin (wie Anm. 1, S. 248), S. 124–152, hier S. 124. Vgl. Thomas Nutz: Varietäten des Menschengeschlechts. Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung. Köln 2009, S. 143.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
der schrittweise voranschreitenden Weiterentwicklung des Menschen entgegen.47 Hierdurch stellten diese „Menschheitsgeschichten im Unterschied zu Rousseau optimistische Zukunftsaussichten“48 dar. Während Iselins Geschichtsschreibung jedoch auch die Möglichkeit von Verzweigungen offenhält, „an der sich von der Entwicklungslinie von der Wildheit zur Gesittetheit, ein zur Barbarei hinführender Strang abspaltet“,49 gab es auch die Möglichkeit einer linear verlaufenden Entwicklung: Diese Theorie wird „als stetiger Ausbau der Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit interpretiert und fällt mit dem Genre ‚Geschichte des menschlichen Verstandes‘ in eins zusammen“. Dieses Verständnis der Menschheitsentwicklung wird zudem oftmals auch analog zu den „Lebensphasen des einzelnen Menschen – Kindheit, Jugend, Reife, Alter – umschrieben“.50 Neben der Stufenfolge hin zu einer immer ‚vernünftigeren‘ Zivilisation und der in einer Baumstruktur resultierenden Entwicklungsgeschichte, stellt die variabel als Verfall oder Fortschritt charakterisierte Verlaufsgeschichte, wie sie vor allem Nicolas Antoine Boulanger (1722–1759) beschrieb, einen dritten Typus dar. Ein vierter Typus, nach welchem die Menschheit verschiedene Ursprünge habe, wurde „bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur von wenigen Ausnahmefällen wie etwa Henry Home Lord Kames in Betracht gezogen“.51 Ebenfalls konnten die Bezugspunkte der jeweiligen Untersuchung variieren, nach welchen die Menschen in ihrer Entwicklung bewertet wurden. So entwickelten sich die Völker von der „Stufe der Wildheit und Barbarei, in der die Völker unter dem Gesetz sinnlicher Begierden und erhitzter Einbildung stehen“, durch die Ausbildung der Vernunft „nur allmählich mit großer Langsamkeit“52 hin zu einer gesitteteren Gesellschaft. Statt der Vernunft betrachteten vor allem französische Autoren wie Boulanger die Entwicklung des Menschen mit Blick auf die Entwicklung der Religion. Schottische Philosophen, wie Adam Smith (1723–1790) oder Adam Ferguson (1723–1816), stellten hingegen die Ökonomie in den Vordergrund. So beschrieb Ferguson, dessen An Essay on the History of Civil Society 1767, drei Jahre nach Iselins Geschichte der Menschheit, erschien, die Menschheitsgeschichte als „Abfolge ökonomisch und sozial bestimmter Zivilisationsstufen.“53 Für Adam Smith ließ sich am Grad der Arbeitsteilung „auch der Grad wirtschaftlicher wie zivilisatorischer Entwicklung ablesen“.54
47 48 49 50 51 52 53 54
Vgl. Gisi: Anthropologische Basis (wie Anm. 45, S. 255), S. 129–133. Zedelmaier: Geschichte (wie Anm. 1, S. 248), S. 25. Nutz: Varietäten (wie Anm. 46, S. 255), S. 146. Ebd., S. 147. Ebd., S. 146. Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. Hamburg 2003 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 27), S. 251. Ders.: Geschichte (wie Anm. 1, S. 248), S. 25. Nutz: Varietäten (wie Anm. 46, S. 255), S. 169.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
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Schmohls Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie Eine derartige Beschreibung der Menschheitsgeschichte scheint auch Johann Christian Schmohl im Sinn gehabt zu haben, als er am 17. Mai 1781 ein 29-seitiges Artikelmanuskript mit dem Titel Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie. Wahre Geschichte der Menschheit an Georg Christoph Lichtenberg schickte.55 Ohne auf die schottischen Entwicklungstheorien einzugehen, behauptet Schmohl zu Beginn dieses Aufsatzes, man habe die Völker schon „nach ihrer Sprache, Farbe, Merkwürdigkeit in der Geschichte und andern Verhältnißen eingetheilt“, aber, soviel er wisse, „noch nie nach ihrer Oekonomie.“ Gerade diese Einteilung erschien Schmohl jedoch die wichtigste zu sein, welche „ein Philosoph, ein Staatsmann und besonders der Geschichtsschreiber der Menschheit machen“56 könne. Über den Grund, weshalb Schmohl entsprechende, schon vorhandene Versuche nicht erwähnt, kann nur spekuliert werden. Adam Smiths 1776 erschienenes Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations kannte er jedenfalls mindestens seit 1780, wie aus seinen, 1781 in der Sammlung von Aufsätzen veröffentlichten Antiphysiokratischen Briefen an Herrn Rathsschreiber Iselin hervorgeht.57 Auch ist es sehr wahrscheinlich, dass Schmohl ebenfalls Adam Fergusons On the History of Civil Society aufgrund ihrer großen Wirkung kannte. Ein möglicher Beweggrund, diese und andere schon bekannte Ansätze der ökonomischen Einteilung zu ignorieren, lässt sich gegen Ende des Aufsatzes finden: Hier setzt sich Schmohl ausführlich mit Iselins Geschichte der Menschheit auseinander und kritisiert diese auf sieben der 29 Manuskriptseiten heftig. Hierdurch entsteht der Eindruck, als habe gerade diese Kritik an Iselin den Hauptgrund dargestellt, den Artikel zu verfassen.58 55
56 57 58
Das Anschreiben war mit der Bitte versehen, Lichtenberg möge den Aufsatz in seinem Göttingischen Magazin der Wissenschaften und Litteratur „wo möglich unterstükt“ aufnehmen und ihn „im andern Fall aber […] sogleich wieder“ (Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel 1780–1784. Hg. v. Ulrich Joost u. Albrecht Schöne. Bd. 2. München 1985, S. 213) zurücksenden. Obwohl der Artikel nicht veröffentlicht wurde, kam Lichtenberg dieser Aufforderung – wie im Falle Knoblauchs (Vgl. Kapitel 2.2.2) – jedoch nicht nach. Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 3r, Hervorh. i. Orig. Vgl. hierzu Kapitel 3.3. Diese Kritik an Iselin wird später in diesem Kapitel beschrieben. Schon vor diesem Artikel hatte sich Schmohl mit seinen Antiphysiokratischen Briefen an Iselin gewandt. Zwar waren diese Briefe eigentlich gegen Jakob Mauvillons Physiokratische Briefe gerichtet. Mit ihrer Adressierung an Iselin und der Kritik am Physiokratismus wandten sie sich eindeutig gegen Iselin als einen der wichtigsten Vertreter dieser Wirtschaftstheorie im deutschsprachigen Raum. Die Ursache für diese gehäufte Kritik könnte in einer allgemeinen Enttäuschung Schmohls gegenüber Iselin gelegen haben, da dieser – anders als versprochen – Schmohls Urne nicht in seiner Zeitschrift Ephemeriden der Menschheit besprochen und beworben hatte. Ebenfalls vermutete Schmohl, dass Iselin den offenen Brief, welchen ihm seine ehemaligen Straßburger Freunde geschickt hatten, um sich bei Schmohl über einige, ihnen missfallende Passagen der Urne zu beschweren, vorab erhalten und gebilligt hatte. Vgl. hierzu: Johann Christian Schmohl an Isaak Iselin, 29. Dezember 1780, StABS Nachlass Isaak Iselin PA 98a 38 p. 113. sowie: Niedermeier: Philanthrop (wie Anm. 22, S. 19), S. 239 f. In seinem letzten Brief an Iselin, den er am 19. Mai 1781 abschickte – also zwei Tage, nachdem er den Aufsatz an Lichtenberg gesandt hatte – gab Schmohl zu, dass es möglicherweise zu dreist und egoistisch von ihm gewesen wäre, durch das
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Zu Beginn seines Textes legt Schmohl dar, was er unter dem Begriff Ökonomie versteht: Hierbei handele es sich einerseits um die Subsistenz des Menschen, also um alle Geschäfte, „durch die sich der Mensch, was zu seiner Erhaltung, Bequemlichkeit und Vergnügung dient, die Befriedigungsmittel seiner körperlichen und geistigen Bedürfniße verschafft“. Gleichzeitig stelle die Ökonomie „die Spannfeder aller Triebe und Thätigkeiten des Menschengeschlechts“ dar, und werde somit zur „Quelle aller Erfindungen, Kunst und Wißenschaften.“59 Je niedriger sich ein Volk auf der Stufe der Ökonomie befinde, desto weiter sei es in „Sitten, Gesetzgebung, Justiz, Arzneikunst, Theologie, in allen Wißenschaften, in allem was man Kultur des Geistes und Poizierung nennt, zurük.“60 Je höher es hingegen auf diesen Stufen einzuordnen sei, desto weiter fortgeschritten sei dieses Volk auch in den genannten Bereichen. Hierbei betont Schmohl, dass er diese Stufenleiter der ökonomischen Entwicklung „nicht auf der Stube aus spekulativen Prinzipien abstrahirt“ habe, sondern stattdessen durch „historische Beobachtung und Thatsachen der wirklichen Erfahrung“ zu dieser Erkenntnis gelangt sei: Er habe „zum Behuf einer Geschichte des Akkerbaus den ganzen ökonomischen, politischen, physischen, moralischen, und intellektuellen Zustand der Völker […] nach Anleitung der besten Geschichtsbücher und bewährtesten Reisebeschreibungen“61 durchgearbeitet. Hierbei habe er herausgefunden, dass sich alle Völker auf einer bestimmten Stufe ihrer Ökonomie befänden, die sich jeweils in ihrem Fortschritt voneinander unterschieden. Auf der obersten Stufe sei das Volk anzusiedeln, „welches die vollkommenste am weitsten getriebene Oekonomie“62 besitze, wobei dieses Volk vorher alle vorherigen Epochen der Ökonomie durchlaufen habe. In seinem Artikel führt Schmohl aus, dass er insgesamt vier Epochen beziehungsweise Entwicklungsstufen unter den Völkern ausmachen konnte: So entwickeln sich die menschlichen Völker von der ersten Stufe, in welcher sie sich als Jäger und Sammler damit ernähren, was sie in der Natur finden, über die Viehzucht (zweite Stufe) zur Landwirtschaft (dritte Stufe). Die letzte und vierte Stufe ist bei Schmohl dadurch charakterisiert, dass sich Handwerker und Händler als eigenständige Stände herausbilden. Mit seiner Annahme von vier Entwicklungsstufen schließt sich Schmohl einer Vielzahl von Geschichtsschreibungen der Menschheitsentwicklung an, welche ebenfalls von einem vierstufigen Modell ausgingen. Diese Vertreter der
59 60 61 62
direkte und öffentliche Adressieren Iselins eine Antwort von diesem zu erzwingen. Trotzdem kündigte er Iselin an, seine Untersuchungen weiterzuführen und in einer weiteren Sammlung (Vgl. Kapitel 2.1.2.) Johann August Schlettweins (1731–1802) 1779 erschienenes Werk Grundfeste der Staaten oder die politische Oekonomie auf die gleiche Weise zu untersuchen und zu widerlegen. Vgl. Johann Christian Schmohl an Isaak Iselin, 19. Mai 1781, StABS Nachlass Isaak Iselin PA 98a 38 p. 116–117. Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 3r. Ebd., p. 3r f. Ebd., p. 3v, Hervorh. i. Orig. Ebd., Hervorh. i. Orig.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
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‚Vier-Stufen-Theorie‘ hatten gegen Ende des 18. Jahrhunderts zusammen mit anderen Verfahren, „die zur Beschreibung menschlicher Kulturformen“ dienten, „bereits den Status eines transnationalen Paradigmas erreicht“.63 Interessant ist Schmohls Darstellung vor allem aufgrund seiner Bewertung der ersten Entwicklungsstufe der Menschheit, die in zeitgenössischen Werken meist als die primitivste und ‚wildeste‘ äußerst pejorativ dargestellt wurde. Neben Schmohls Beschreibung und dem Vergleich mit seinem hauptsächlichen Bezugspunkt Iselin, wird vor allem das Verhältnis dieser ersten Entwicklungsstufe zu den folgenden, höheren Stufen zu beachten sein. Der ‚so genannte Wilde‘ bei Johann Christian Schmohl Wie bereits angedeutet, besteht nach Schmohl die erste und niedrigste Stufe aus Jägern, „Rizophagen“ (Wurzelessern) sowie „Ichthyophagen“ (Fischessern). Diese Menschen ziehen das zu ihrer Ernährung heran, „was die gastfreie Erde von selbst an Kräutern, Früchten, Wurzeln hervorgebracht hat und was darauf von Thieren aller Art, die zu Lebensmitteln dienen können, sich vorfinden läßt.“64 Wie andere zeitgenössische Autoren65 geht Schmohl davon aus, dass schon in dieser Stufe verschiedene Handwerke entwickelt wurden, „die zur Erwerbung, Genießbarmachung und Zubereitung der Lebensmittel und Naturprodukte nöthig sind“. Während bei anderen Entwicklungsgeschichten diese handwerklichen Fähigkeiten jedoch erst dann einsetzen, wenn der Mensch als Fischer oder Jäger Haken oder Speere benötigt, steht für Schmohl fest, dass schon der wurzelessende Mensch das Handwerk benötigt: „Denn ohne Handwerk können die Menschen nicht – leben!“66 Vor allem aus der Sicht Iselins geht „[d]er Mangel an geistigen Fähigkeiten und Begriffen“ bei diesen ‚wilden‘ Völkern einher „mit einer Rohigkeit im ‚Gemüthe‘“ und einem Mangel an menschenfreundlichen Gefühlen, was sich sogar „bis zur Bösartigkeit steigern kann.“67 Dieses Verhalten verschlimmere sich nach Iselin sogar, wenn sich der Sammler zum Jäger wandle, da er hierdurch listiger, aber auch gewalttätiger werde.68 Ein derartig negatives Bild eines ‚wilden‘ Volkes lässt sich in Schmohls Beschreibung nicht finden. Zwar ist auch er sich sicher, dass die damaligen Handwerke „noch sehr roh und einfach“ gewesen seien. Hierfür hat er jedoch Verständnis, da dies nicht anders bei Menschen sein könne, welche „sich 63 64 65 66 67 68
Nutz: Varietäten (wie Anm. 46, S. 255), S. 152. Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 4r. Vgl. hierzu auch im folgenden Vergleich: Nutz: Varietäten (wie Anm. 46, S. 255), S. 152–159. Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 4r, Hervorh. i. Orig. Nutz: Varietäten (wie Anm. 46, S. 255), S. 154. „Erst wenn dieser [‚Wilde‘, Anm. M. L.] seine Emsigkeit zur Jagt erhebet, so verfällt er in die Wahre Wildheit, so wird er ein Barbar im vollkommensten Verstande. Es ist alsdenn als ob alle seine Empfindsamkeit, als ob jede seiner Fähigkeiten nur erhöhet würden, um ihn in den Stand zu setzen, mehr Greuel zu verüben. Die lebhafteste Einbildungskraft kann kaum etwas abscheuliches erdenken, davon wir nicht Beyspiele bey solchen Völkern finden.“ Isaak Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Basel 1779, S. 252 f.
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alles selbst lehren mußten“ und somit „vom Nichtswißen anfingen.“69 Trotzdem seien die erlernten Handwerke und Künste stetig „in der Selbstvervollkomnungsbahn vorwärts“70 geschritten und hätten sich hierdurch verbessert. Ebenfalls sind die sich entwickelnden Handwerksarten aus Schmohls Sicht schon zu dieser frühen Zeit äußerst differenziert und zahlreich: So sei seiner Meinung nach „der Ursprung der Koch- und Bakkunst, der Schiffarth, der Baukunst, des Zimmerns, Webens, Gerbens, Strikkens, Drechselns, Schreinerns, der Schuster und Schneiderey p p unter Jägern und Rizophagen“71 zu suchen. Neben „diesen Handwerken und Künsten“ haben ihm zufolge sogar schon bei den Jägern und Sammlern „verschiedne sogenannte Wißenschaften als Arzneikunde, Sternkunde, Physik, Naturgeschichte, Mechanik, Theologie, Rechtskunde und selbst Politik die erste Wurzel zu schlagen“72 begonnen. So sei beispielsweise die Rechtskunde und Politik entstanden, weil sich die Menschen im Krieg oder bei einer gemeinsamen Jagd auf einen gemeinsamen Anführer verständigen mussten, welcher wiederum Gesetze erlassen habe, nach welchen sich diese Menschen richteten. Die Theologie sei dadurch entstanden, dass man negative Ereignisse einem bösen Geist zugeschrieben habe und diesen durch Opfer zu besänftigen versuchte: Nach dieser frühen Gottesvorstellung sei „Theufel und Gott“ in eins zusammengefallen, da man erst „bei höhern Einsichten“ dazu komme, „auf die günstigern Begebenheiten aufmerksamer“ zu werden und ihretwegen einen guten Geist zu verehren, so Schmohl. Wissenschaften wie „Naturgeschichte, Naturkunde, Mechanik“ wären seiner Meinung nach neben den sich entwickelnden „Nahrungs- und Handwerkskenntnißen erfunden“ worden und die „Arzneikunst“ wie auch die „Sternkunde aus dem Trieb der Selbsterhaltung und beglükkung, der den Verstand in Bewegung sezt“.73 Selbst die „sogenannten schönen Wißenschaften“, wie die „freien Künste und [die] Kunst des Luxus“ hätten sich zu dieser Zeit entfaltet, da selbst „[d]iese so genannte Wilden“74 sich „in müßigen Stunden mit Gesang, Instrumentalmusik als Trommeln, Flöten“75 beschäftigt hätten. Schmohls Beschreibung von archaischen Tänzen, dem Bemalen des Gesichts und verschiedenen Gegenständen sowie das Schmücken des Kopfes, von Ohren, Nase und Lippen mit Federn, Knochen und Steinen ist ebenfalls kein Ausdruck einer Ablehnung dieser ‚wilden‘ und ‚ungesitteten‘ Verhaltensformen, wie es bei anderen zeitgenössischen Autoren der Fall war.76 Stattdessen löst er die durch seine Beschreibung aufgebaute Distanz noch im selben Satz auf, da 69 70 71 72 73 74 75 76
Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 4r. Ebd., p. 4v. Ebd., p. 4r, Hervorh. i. Orig. Ebd., p. 4v, Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., p. 4v f., Hervorh. i. Orig. Vgl. Nutz: Varietäten (wie Anm. 46, S. 255), S. 157.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
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es sich „im Grund [um] daßelbe“ handele, „was bei uns unter Namen des Luxus vorkommt; Wißenschaften des Vergnügens!“77 Im Gegensatz zu Iselin setzt Schmohl die Herausbildung des gesellschaftlichen Lebens schon in dieser ersten Epoche an: Hier habe sich „aus mehrern einzelnen Familien die erste gesellschaftliche Verfaßung; häusliche und gesellige Tugend“ gebildet. In Übereinstimmung mit Iselin kritisiert er hingegen die Situation der Frauen, da in dieser frühen Gesellschaft „die Weiber wie Sklavinnen gehalten“78 worden seien. Während jedoch bei Iselin direkt der große Unterschied zum „gesitteten Menschen“ aufgezeigt wird, welchem „das Leben dieser Gehilfinn […] so theuer ist“ und im Gegensatz dazu der ‚Barbar‘ „[i]hren Ungehorsam, ihre Untreu […] wol gar nach Gutbefinden mit dem Tode“79 bestrafe, schätzt bei Schmohl der Mensch auf der ersten Entwicklungsstufe hingegen „doch schon ehliche Treue“.80 Kann Iselin nicht oft genug erwähnen, wie ‚roh‘, ‚wild‘ und ‚barbarisch‘ die Menschen in diesem „abscheulichen Stande[]“81 der Wildheit gewesen wären, betont Schmohl ausdrücklich das Gegenteil: Auch wenn er zugeben muss, dass es auf dieser Entwicklungsstufe vorkomme, dass „Feinde vom fremden Stamm gefreßen“ würden, so könne er „doch selbst die Menschen dieser untersten Klaße weder Wilde noch Barbaren nennen“. Schließlich sei es selbst bei den gesittetsten Völkern üblich, ihre „Feinde todtzuschlagen“. Letztendlich bestünde dann auch kein „so greulicher Unterschied“ darin, ob man einen „Ermordeten in der Erde oder im Magen“82 begrabe. Aufgrund der schlechten Nahrungsversorgung habe man es sich nicht leisten können, die Gefangenen als Sklaven zu behalten. Ebenfalls sei das Risiko einer Freilassung zu hoch gewesen, da man hierbei Gefahr lief, von den Freigelassenen erschlagen zu werden. Trotzdem hätten oft Familien, so Schmohl, Gefangene anstelle von erschlagenen oder gestorbenen Familienmitgliedern aufgenommen. Diese „außerordentliche Ehrlichkeit gegen einander, ihre Freundschaft, ihre Gastlichkeit, ihre Gemeinschaft“ stellten Tugenden dar, die man „nicht verkennen oder verkennen lehren“ sollte, indem man diese Menschen als „Barbaren oder Wilde“ bezeichne. Vor allem die Bezeichnung ‚Wilde‘ würde, da sie nach Schmohls Meinung etymologisch vom Wild hergeleitet sei, implizieren, dass es sich eher um „unvernünftige Thier als [um] vernünftige Menschen“ handle. Diese fälschlicherweise als ‚Wilde‘ bezeichneten Menschen seien „doch so gut […] als wir“.83 Der einzige Unterschied bestünde darin, 77 78 79 80 81 82 83
Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 5r, Hervorh. i. Orig. Ebd. Iselin: Menschheit 1 (wie Anm. 68, S. 259), S. 257. Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 5r. Iselin: Menschheit 1 (wie Anm. 68, S. 259), S. 241. Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 5r, Hervorh. i. Orig. Ebd., Hervorh. i. Orig.
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„daß ihre Vernunft noch lange nicht soweit kultivirt ist als unsere.“84 Ebenso könne man diese Menschen nicht mit dem Adjektiv wild als „etwas, das regellos herumstreift“, bezeichnen und dessen Gegensatz als zahm darstellen, da auch die „gesellschaftliche und Familienverfaßung“ dieser ‚wilden‘ Menschen „ihre guten Regeln“ besessen habe – auch wenn sie noch dem Stand der späteren Stufen entsprochen habe. Dennoch seien „jene, wenn wir zahm sind, nur weniger zahm, und sind jene wild, wir nur weniger wild.“85 Diese Argumentation behält Schmohl, wenn auch nicht so detailliert ausgeführt, in seinem Werk Ueber Nordamerika und Demokratie bei. Hier betont er, dass eine „Dorfregierung“ auf dem Lande „die auffallendste Aehnlichkeit mit der den sogenannten Wilden“ habe, „wie sie und hellere und vorurtheilslosere Reisebeschreiber geschildert“86 hätten. Trotz ihrer Kürze geht aus dieser Passage eindeutig hervor, dass Schmohl die Verunglimpfung von Völkern einer frühen Entwicklungsstufe eindeutig als die vorurteilsbelastete, einseitige Beobachtung reisender Europäer erachtet. Was von anderen Schriftstellern aufgrund der Fremdheit hervorgehoben wird, vergleicht Schmohl mit dem ihm Bekannten. Hierbei ist er zur Transferleistung in der Lage, dieses bekannte, als ‚normal‘ erachtete Eigene im Fremden wiederzufinden. Es wird deutlich, dass die Menschen der ersten Entwicklungsstufe für Schmohl keine ‚Menschentiere‘ darstellen, welche sich – wie bei Rousseau – lediglich auf die Selbsterhaltung und die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse konzentrieren,87 oder die – wie bei Iselin – nur als roh, grausam und unmenschlich charakterisiert werden. Ebenso nimmt er keine Unterscheidung zwischen guten ‚Edlen Wilden‘ und den ‚bösen Wilden‘ vor.88 Stattdessen betont Schmohl stets die Gemeinsamkeiten, welche die Menschen seiner – also der höchsten – Entwicklungsstufe mit den Menschen der ersten Stufe hätten. Hierbei ähnelt seine positive Beschrei84 85 86 87
88
Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 5r f., Hervorh. i. Orig. Ebd., p. 5v, Hervorh. i. Orig. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 138. Deutlicher schreibt dies Schmohl in seinem Werk Ueber Nordamerika und Demokratie: „Mir scheint Rousseau in keinem Aufsatz mehr unhistorische übelräsonirte Hirngespinste als in dem über die Ungleichheit vorgetragen zu haben, wo er in einem erdichteten Stand der Natur, den er zum Theil aus dem Leben der sogenannten Wilden entwirft, eine natürliche Gleichheit nicht nur, sondern auch äusserste Glückseligkeit des Thiers und Entfernung von allen Lastern annimmt; so daß ich wenn irgendwo hier bezweifle, ob er nicht vielmehr Satyre auf seine Zeiten, als ein treues Bild vergangener, hat machen wollen.“ Ebd., S. 126. Vgl. hierzu auch: Hinrich FinkEitel: Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. Hamburg 1994, S. 172 f. Zum Topos des ‚Edlen Wilden‘ vgl. ebd., S. 9 f., 97–103; Monika Fludernik: Der „Edle Wilde“ als Kehrseite des Kulturprogressivismus. In: Fludernik, Haslinger u. Kaufmann (Hg.): Alteritätsdiskurs (wie Anm. 383, S. 76), S. 157–176; Jörg Robert: Ethnofikation und Klassizismus. Poetik des Wilden und Ästhetik der ,Sattelzeit‘. In: Jörg Robert u. Friederike F. Günther (Hg.): Poetik des Wilden: Festschrift für Wolfgang Riedel. Würzburg 2012, S. 3–39; Carola Hilmes: Georg Forsters Wahrnehmung und Beschreibung der fremden Frauen auf Tahiti. In: Beetz, Garber u. Thoma (Hg.): Physis (wie Anm. 24, S. 19), S. 139–155, hier S. 141.
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bung der anthropozentrisch-pluralistischen Sichtweise des Michel de Montaigne des 16. Jahrhunderts und seiner äußerst positiven Darstellung außereuropäischer Kulturen. Montaigne scheint hierbei jedoch eher an einem kritischen Vergleich interessiert gewesen zu sein, statt an einer neutralen Darstellung, um ein eurozentrisches Menschen- und Weltbild aufzubrechen: „Wie bei Jean de Léry [1536–1613] werden die Begriffe ‚Barbarei‘ und ‚Wilde‘ relativiert durch Bezugnahme auf die noch größere Barbarei der Europäer.“ Hierdurch sprach er den „Europäern die Legitimität ab[], aus einer übergeordneten Perspektive zu urteilen.“89 Schmohl scheint es bei seiner Darstellung hingegen eher um die Überwindung der Differenz zwischen ‚niederen‘ und ‚höheren‘ Entwicklungsstufen gegangen zu sein. Bei ihm rückten die Völker der ersten Entwicklungsstufe an die Menschen der späteren Stufen heran – und umgekehrt. Diese Nähe lässt sich auch in der Poetik des Sturm und Drang finden: So wurde beispielsweise für Herder das ‚Wilde‘ zu einer „transnationale[n] Kategorie“,90 indem er den vermeintlichen keltischen Barden Ossian91 mit den ‚Wilden‘ Nordamerikas gleichsetzte. Hierdurch stellte das ‚Wilde‘ „nicht mehr das Fremde und Exotische [dar], sondern das verdrängte, vergessene und schließlich verlorene Eigene.“ Das Ursprüngliche kann hierdurch in der Volksdichtung gefunden werden, wodurch für Herder „das ‚Volksmäßige‘ das Wilde und Unzivilisierte“92 darstellt und eine positive Konnotation erhält. Damit schließt das Volksliedkonzept Herders und des Sturm und Drangs „als Poetik des eigenen Wilden […] an die vergleichende Anthropologie der Zeit an.“93 Wie bei Schmohl wird so die Kluft zwischen der ursprünglichen ‚wilden‘ Kultur zur eigenen ‚modernen‘ Gesellschaft geschlossen: Diese ist im Vergleich zur ‚wilden‘ nur ein kleines bisschen weniger ‚wild‘. Hierbei findet die Bewertung dieser ersten Stufe und aller folgenden Epochen aus der Perspektive der ersten Entwicklungsstufe statt: Während für Iselin die Menschen in ihrem frühen Zustand aus der Perspektive der Neuzeit als ‚barbarisch‘, ‚roh‘ und ‚wild‘ erscheinen, bewundert Schmohl die menschlichen Errungenschaften, die in seiner Vorstellung schon zu dieser Zeit vorhanden gewesen sein müssen. Natürlich erscheinen auch aus diesem Blickwinkel alle ‚höheren‘ Stufen als entwickelter und fortgeschrittener – sie werden von Schmohl jedoch nicht mit den Attributen ‚besser‘ oder ‚wertvoller‘ versehen, um sie qualitativ aufzuwerten. Menschen ‚niederer‘ Entwicklungsstufen haben aus 89
90 91
92 93
Jurt: Kannibalen (wie Anm. 66, S. 115), S. 60; vgl. ebenso: Fink-Eitel: Philosophie (wie Anm. 87), S. 118–128; Alexander Košenina: Kausalpoetik des Wilden. Fälle von Kannibalismus in Thüringen (1771) und Neuseeland (1773). In: Robert u. Günther (Hg.): Poetik (wie Anm. 88), S. 248– 259, hier S. 257. Robert: Ethnofikation (wie Anm. 88), S. 37. Bei dem Epos Ossian handelte es sich nicht – wie im 18. Jahrhundert angenommen – um die Verschriftlichung mündlich überlieferter, keltischer Lieder des Barden Ossian, sondern um ein Werk des Autors James Macpherson (1736–1796). Vgl. Meyer: Wahrheit (wie Anm. 41, S. 255), S. 169 f. Robert: Ethnofikation (wie Anm. 88), S. 37, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 38, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Schmohls Sicht genau den Punkt ihrer Entwicklung erreicht, den sie benötigen, um ein gutes Leben zu führen: Hätten sie sich aufgrund der äußeren Bedingungen weiter entwickeln müssen, um zu überleben, wären sie dazu auch in der Lage gewesen. Ausdrücklich ablehnend betrachtet Schmohl Isaak Iselins Ausführungen zum Naturzustand des Menschen im zweiten Buch der Geschichte der Menschheit.94 Dieser ist noch vor der ersten Entwicklungsstufe der Menschheit angesiedelt und wurde von Iselin in Auseinandersetzung mit Rousseaus Naturzustand konzipiert. Da für einen solchen jedoch ethnographische Belege fehlten, betonte Iselin im bewussten Gegensatz zu Rousseau, dass diesem angenommenen Zustand keine Empirie, sondern nur Vermutung zugrunde liege. Auch „im Gestus der Sprache“ weist Iselins Darstellung diesen Naturzustand „als eine konditionale, nur hypothetische Geltung beanspruchende Konstruktion aus.“95 Obwohl Iselin am Ende seines zweiten Buches den Naturzustand ausdrücklich als eine „philosophische Hypothese[]“ bezeichnet, die keinesfalls als „historische Wahrheit[]“96 angesehen werden solle, kritisiert Schmohl mit Blick auf den Naturzustand, er habe mit seiner „Eintheilung der Menschheit in [den] Stand der Natur, Stand der Wildheit und Stand der Sitten, ein wahres Poem“97 verfasst. Schmohl wüsste „in der ganzen unfabelhaften Geschichte (Offenbarung ausgenommen) schlechterdings keine Date zu finden“,98 mit denen sich Iselins Menschheitsgeschichte belegen ließe. Problematisch ist Schmohls Kritik dahingehend, da er Iselin im Bezug auf dessen Naturzustand einerseits fehlende Empirie vorwirft, obwohl dies dem Autor bewusst war und offen dargelegt wird. Andererseits setzt Schmohls Argumentation Prämissen voraus, die sich derart in Iselins Text nicht finden lassen: Da die Menschen von diesem in ihrem Naturzustand als friedliche und harmonisch zusammenlebende Individuen beschrieben werden, müsste es in diesem Zustand nach Schmohls Auffassung schon Landwirtschaft gegeben haben, „denn ohne das“ – so Schmohls Bedingung – „konnten sie die Iselinsche Geselligkeit und Gesittetheit nicht haben“.99 Nun widerspräche es dem „von Iselin selbst angenommene[n], Gesez der Natur, [dem] Gesez der Selbstvervollkommnung“,100 dass diese Menschen, „die im ersten Stand der Natur Akkerbau und Viehzucht treiben – […] wieder in einen Stand der Wildheit, wo man sich blos von den freiwilligen Gaben der Natur nährt“,101 zurückgefallen seien. 94 95
Vgl. Iselin: Menschheit 1 (wie Anm. 68, S. 259), S. 149–234. Zedelmaier: Anfang (wie Anm. 52, S. 256), S. 262 – Zu Iselins Intention bei der Beschreibung des Naturzustandes, vgl. ebd., S. 258–266. 96 Iselin: Menschheit 1 (wie Anm. 68, S. 259), S. 232. 97 Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 12r. 98 Ebd., p. 12r f. 99 Ebd., p. 12v. 100 Ebd., p. 12ar. 101 Ebd., p. 12v.
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Zwar geht Iselin in seinem Buch zum Naturzustand nicht davon aus, dass die Menschheit in dieser Phase bereits Ackerbau betrieben habe. Es handelt sich also nicht um einen gesetzmäßigen Rückschritt in der Menschheitsentwicklung, wie er von Schmohl unterstellt wird. Schmohls weitere Kritik an Iselins Entwicklungsmodell wird von dieser Fehlinterpretation jedoch nicht beeinträchtigt: So wirft Schmohl Iselin vor, er habe mit der Unterteilung der Menschheit in einen Stand der Wildheit und einen Stand der Sittlichkeit eine ebenfalls nicht belegbare und daher unzulässige Einteilung und Bewertung vorgenommen: „Nach HE. Iselin entwikkelt sich erst das Gute im Stand der Natur, dann das Böse im Stand der Wildheit“.102 Schmohl, der einerseits nicht von einem hypothetischen Naturzustand ausgeht und andererseits den ersten Stand der Menschheitsentwicklung nicht pauschal negativ bewertet, sieht „die ersten Keime“ von Gut und Böse „zugleich im Stand der Rhizophagen, Jäger und Fischer.“103 Für ihn existieren keine „abscheulichen“104 ‚Wilden‘, die durch ihre Wildheit das Schlechte darstellen und denen das Gute in Form der ‚gesitteten‘ Menschen gegenüber steht. Für ihn sind die Menschen der ersten Entwicklungsstufe weder absolut gut noch absolut schlecht oder böse, sondern im Graubereich dazwischen anzusiedeln. Schmohls Ansicht nach führe Iselins Bewertung hingegen zu einer Einteilung „alle[r] Völker 1) in lasterhafte [und] 2) in tugendhafte“,105 was Iselins Aufteilung in „zwei differente historische Verlaufsstränge“106 treffend beschreibt.107 Iselin komme zu dieser, nach Schmohls Ansicht der „unpartheiliche[n] Wahrheitsfoschung“108 widersprechenden Ein- und Aufteilung, weil er „die Geschichte der Menschheit nach vorgefaßten Prinzipien und nicht nach dem Leitfaden der Erfahrung und der Oekonomie“109 zusammengestellt habe. Er habe, so Schmohls Vorwurf, „der Offenbarung nicht widersprechen wollen“ und deshalb „die Philosophie der Theologie untergeordnet“. Hierdurch sei Iselins „Stand der Natur, Stand der Wildheit, Stand der Sitten“ analog zum „Stand der Unschuld, Stand der Sünde, Stand der Gnade gebildet“ worden. Dem setzt Schmohl den Anspruch seiner eigenen Untersuchung entgegen: „Ich will der Offenbarung auch nicht widersprechen, aber als Philosoph suche ich nach Anleitung der Geschichte und der Vernunft – Wahrheit!“ Die Theologen sollten hingegen „selbst zusehn, wies zu machen sey, daß die Kolli-
102 103 104 105 106 107
Ebd., p. 12ar. Ebd., p. 12av. Iselin: Menschheit 1 (wie Anm. 68, S. 259), S. 241. Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 12av. Zedelmaier: Anfang (wie Anm. 52, S. 256), S. 153. Vgl. ebd., S. 252 f.; Nutz: Varietäten (wie Anm. 46, S. 255), S. 146; Wolfgang Rother: Geschichte als Trost – Geschichte als System. Zur Typologie der Geschichtsphilosophie der Aufklärung. In: Gisi u. Rother (Hg.): Iselin (wie Anm. 1, S. 248), S. 29–52, hier S. 38 f. 108 Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 12ar. 109 Ebd., p. 12av.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
sion ihres Systems mit Vernunft, Geschichte und Wahrheit ihnen keinen Schaden bringe.“110 Hirten, Bauern, Handwerker und Händler Dieser Kritik entsprechend stellt Schmohls zweite von ihm angenommene Entwicklungsstufe der Menschheit eine graduell fortschreitende Entwicklung dar. Auf dieser Stufe erlernen die Völker, die nun zu „sogenannten Hirtennazionen“ werden, die „Viehzucht: Erziehung von Thieren!“ Während der Jäger die Tiere direkt schlachtet und verzehrt, macht der Züchter „die Thiere zahm, ist ihr Freund und Wolthäter, weidet sie, füttert sie, benuzt meist nur etwas von ihnen, da sie leicht mißen können als Milch, Wolle, Eyer, oder läßt sie ihr Futter durch Arbeit verdienen, spannt sie vor seinen Wagen, seinen Schlitten, läßt sich von ihnen tragen, geht mit ihnen auf die Jagd“.111 Waren beim vorangegangenen ersten Stand aus Schmohls Sicht schon Anfänge der Gesetzgebung, Künste und Wissenschaften vorhanden, sind sie spätestens in dieser zweiten Stufe deutlich entwickelt: Im Gegensatz zum Jäger sei beim Hirten bei „der Kleidung, der Wohnung, dem häuslichen Leben, der Ehe, der Kinderzucht, den Handwerken, den Wißenschaften, den Sitten, der gesellschaftlichen Einrichtung, der Justiz, Gesezgebung, Regierung, Religion, kurz [bei] allem was der Mensch ist und thut, ein soviel schönerer Grad von Vollkommenheit“112 vorhanden. Völker der ersten Entwicklungsstufe ließen sich Schmohls Ansicht nach vor allem in Asien, Afrika113 und Amerika finden. Ebenfalls seien die „Einwohner der Falklandsinseln, Neubritannier, Neuguineer, Neuholländer, Neuseeländer, überhaupt viele in dem sogenannten fünften Welttheil, auch Grönländer p p“114 auf der ersten Stufe einzuordnen. Während sich in diesen Weltteilen ebenfalls Völker der zweiten Epoche befänden, seien „selbst noch in Europa ein Theil Finnen, auch Lappen, Isländer, und in der Südsee so halb und halb die Bewohner der Freundschaftsund Gesellschaftsinseln und von Tanna“115 Hirten und Viehzüchter. Auch wenn also in Europa keine Völker mehr vorhanden seien, die sich rein durch Sammeln und Jagen ernährten, gebe es dort noch welche, deren hauptsächlicher Lebensunterhalt durch das Züchten von Tieren bestritten werde. Dass die Viehzucht als zweite Entwicklungsstufe unter der dritten, in welcher sich die Menschen durch landwirtschaftliche Erzeugnisse ernährten, stehe, liegt nach Schmohl auch daran, dass die Aufzucht von Tieren für den Menschen einfacher zu verstehen sei: „Die menschliche Natur hat mit der Thierischen mehr Ae110 Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 13v, Hervorh. i. Orig. 111 Ebd., p. 6v, Hervorh. i. Orig. 112 Ebd., p. 7r. 113 Bezüglich der afrikanischen Völker gibt Schmohl zu, dass dieser Kontinent noch sehr schlecht erforscht und beschrieben sei und die meisten der hier ansässigen Völker schon zur zweiten Entwicklungsstufe zählen dürften. Vgl. ebd., p. 5v. 114 Ebd. 115 Ebd., p. 7r.
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hnlichkeit als mit der vegetabilischen.“ Hierdurch sei es für den Menschen leichter verständlich, wie Tiere entstünden oder wie man sie zu erziehen habe. Bei der „Erzeugung und Erziehung der Pflanzen“ sei dies für den Menschen jedoch nicht so naheliegend: „Hier wirkt uns die Natur lange nicht so in die Sinne fallend, so analogisch begreiflich als dort. Hüner, Schafe, Kühe ließen sich eher zähmen als man begreifen könnte, woher die Pflanzen so auf einmal aus der Erde kämen.“116 Während die tierische Reproduktion dem Menschen, der selbst ein Teil dieser Tierwelt ist, durch Analogie und eigene Erfahrung verstanden werden könne, bleibe die pflanzliche Vermehrung weiterhin ein wundersames Rätsel. Da die Völker der dritten, landbauenden Epoche nicht mehr so viel herumziehen müssten, gewöhnten sie sich daran, an einem festen Ort zu leben. Das hierdurch entstehende „gesellige Leben befördert immermehr die wißenschaftliche Aufklärung und sittliche Verfeinerung.“ Durch eine bessere Nahrungsversorgung arbeite „man mehr für Bequemlichkeit und Vergnügen“, wodurch im Vergleich zu den Hirten „alle Handwerke und Künste schon unendlich vollkommen betrieben“117 würden. Die größer werdende Anzahl von Menschen würde dafür sorgen, dass man eine höhere Anzahl an „Häupter[n] und Richter[n]“ benötige. Die Gewalt des Oberhauptes werde größer und ebenso „die Regierungsgeschäfte […] verwikkelter und manigfaltiger“, wodurch „das Oberhaupt […] viel Unterbediente“118 benötige. Diese würden durch erhobene Abgaben versorgt. Die wichtigste Errungenschaft stellte jedoch dar, dass die Menschen der dritten Stufe „in der Regel bereits schreiben“ lernten und hierzu „Schulen errichtet[en]“. Während man zuvor „meist nur bei öffentlichen Verhandlungen eingebrannte Zeichen, Kerbstökke, Wampums“119 verwendet habe, sei man nun ebenfalls dazu übergegangen, zur Erleichterung des Handels Münzen zu prägen. In diese dritte Entwicklungsstufe fallen nun die Menschen sehr vieler Landstriche Europas: So zählen dazu die meisten Landschaften Rußlands, Rußen selbst, Wotjaken, Tschermeißen, Tschuwaschen pp, Landschaften der Europäischen Turkey, Istrien, Dalmazien, Kroatien, Bosnien, […] manche Provinz in Ungarn und Pohlen und Preußen, die Liefsche- und Finnland zum Theil, manche Landschaft in Schweden, Norwegen, Dännemark, Spanien, Schottland, in Böhmen, Schlesien, Mähren, Kärnthen, Kraine, Tyrol, auch wol in Jütland und Hollstein und Distrikte in manchem andern deutschen Land.120
In Asien würden manche Völker von der zweiten Stufe in die dritte oder von der dritten in die vierte Stufe übergehen. Auch wäre es hier der Fall, dass manche von der vierten auf die dritte Entwicklungsstufe zurückfielen. Auch in Afrika gebe es 116 117 118 119
Ebd., p. 8r. Ebd., p. 9r. Ebd. Ebd., p. 9v – Bei einem ‚Wampum‘ handelt es sich um eine mit Perlen oder Muscheln besetzte Kette oder einen Gürtel, welcher in Nordamerika als Tauschmittel eingesetzt wurde. 120 Ebd., p. 10r.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
ebenfalls einige Völker auf der dritten Stufe, wobei hier, wie Schmohl anmerkt, „[d]och […] die meisten von den Afrikanern noch nicht weit in der dritten Klaße vorwärts gerükt“ seien. Durch Kolonien würden zudem in Afrika, Asien und Amerika viele Europäer leben, die wiederum zur dritten Entwicklungsstufe zu zählen seien. In Amerika nährten sich „selbst schon einige sogenannte Wilde als Huroer, Chileser und selbst Galibis der dritten“ Entwicklungsstufe. In diese könnten auch im Südpazifik („Südindien“) „mit allem Recht die Bewohner einiger Gesellschaftsund Freundschaftsinseln“121 gezählt werden. Während in der dritten Entwicklungsstufe der Bauer als Erzeuger der Nahrungsmittel selbst für deren „Genießbarmachung und Zubereitung“ zuständig sei, würden diese Aufgaben und „derselben nöthigen Geschäfte“ nun in der vierten Entwicklungsstufe von einem „eigne[n] Handwerks- und Kaufmannsstand“ betrieben. Aufgrund der großen Bevölkerungszahl blühten hier „auch die meisten Künste und Wißenschaften.“122 Die Regierung wird „weit mannigfaltiger“ als in einem einfachen Bauernstaat, sodass sich „Gesezgebung, Justiz, Kameral- und Polizeywesen, Schul- und Kirchenordnungen […] in ein unendliches Detail“ auffächern. Hierbei bildete sich zudem ein eigener Stand der Staatsbeamten heraus: „Die zu solchen Aemtern angestellten Gelehrten bilden selbst einen eignen Stand, der mehrere Untergattungen hält.“ Daneben müssten die Bauern nicht mehr selbst Kriegsdienst leisten. Dies werde stattdessen von einem „stehende[n] Soldatenheer“ übernommen, „zu deßen Unterhaltung wie zur Unterhaltung der Gelehrten und Staatsbedienten BauerHandwerks- und Kaufmannsstand kontribuiren müßen.“123 Durch die Trennung des Handels und des Handwerks von den Aufgaben des Bauern kommt es also aus Schmohls Sicht zu einer größeren Arbeitsteilung. Hierbei seien die Aufgaben, „die zur Erhaltung, Bequemlichkeit und Vergnügung“ nötig sind, „unter so viele tausend einzele vertheilt“, dass eine Person ihre „Kräfte nur auf einen, größeren oder geringeren, Theil wenden darf“. Aufgrund dieser Spezialisierung könnten „alle Künste und Wißenschaften“, die zur Erzeugung von Nahrung, ihrer Verarbeitung und ihres Handels dienen, aber auch die öffentlichen Einrichtungen, die „zur Justiz, Polizey, Gesezgebung, Kriegsführung, zum Volksunterricht, Schulwesen gehören, in unendlich höhere Vollkommenheit angewandt und ausgebildet“ werden. Hierdurch seien bei diesen Völkern „die Wißenschaften und Künste“ stets mit dem „Flor der Oekonomie“124 verbunden und ein Abbild des jeweils anderen. Zu dieser vierten und letzten Entwicklungsstufe zählen Schmohls Ansicht nach neben den „meisten Europäischen Staaten“ ebenfalls „Distrikte des Rußischen Reichs, und auch unter den Türken noch mancher Theil Griechenlands, in Asien China, Japan, Korea, Bucharey, Indostan, Persien, Arabien, Syrien Levante, doch in allen diesen Bändern nur einige Provinzen und Gegenden, in Afrika noch großen121 122 123 124
Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 10v. Ebd. Ebd., p. 11r. Ebd., Hervorh. i. Orig.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
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theils Egypten.“ Wie schon im Falle der dritten Stufe sind ebenfalls die europäischen Siedler in Amerika, Afrika und Asien teilweise zur vierten Entwicklungsepoche zu zählen. Ob auf den Südseeinseln „N[i]ihau und Waihi“ (Hawaii), welche „weit beßer als Tahiti kultivirt“ seien, zu dieser Stufe zu rechnen seien, ob also „dort schon ein eigner Handwerks- und Kaufmannsstand vorhanden sey“, erwartete Schmohl „noch zu erfahren.“125 Während Schmohls Darstellung der zweiten bis zur vierten Entwicklungsepoche den Beschreibungen seiner Zeitgenossen ähnelt,126 unterscheidet sie sich dennoch, wie im Zusammenhang der ersten Entwicklungsstufe festgestellt, durch ihre Bewertungsperspektive: Die Geschichte bis zur vierten Epoche wird nicht, wie bei Iselin, als ein Fortschritt hin zur größtmöglichen Vernunftherrschaft gewertet.127 Der Aussage, dass die Menschen früherer Epochen im Vergleich zu den höheren Stufen über eine geringere Vernunftfähigkeit verfügten, wird bei Schmohl ausdrücklich widersprochen: Als „vernünftige Menschen“ seien sie „doch so gut […] als wir“.128 Da jedoch die Menschen der höheren Entwicklungsstufe unzweifelhaft eine etwas länger andauernde kulturelle Entwicklung hinter sich hätten, sei deren Vernunft hierdurch als etwas kultivierter zu bewerten.129 Die ‚Kunst des Luxus‘ Ein weiterer Unterschied bei Schmohls Beschreibung besteht darin, dass aus seiner Sicht in der vierten Stufe nicht die Gefahr des Niedergangs von Staat und Gesellschaft durch übermäßigen Luxus besteht, wie ihn David Hume im Falle des antiken Roms angenommen hatte.130 Für Schmohl entwickelt sich die „Kunst des Luxus“131 als „Wißenschaften des Vergnügens“132 schon bei den Jägern und Sammlern, sodass der Luxus hierdurch – wie alle anderen Künste und Wissenschaften – zur grundlegenden Natur des Menschen gehört. Luxus und Vergnügen sind somit weder negativ konnotiert noch führen sie zum Verfall der menschlichen Kultur. Im Gegenteil werden die Luxusbedürfnisse mit fortschreitender Menschheitsentwicklung erweitert und komplexer. Sie wachsen von Stufe zu Stufe der Menschheitsentwicklung an und sorgen somit sogar dafür, dass sie zur allgemeinen Entwicklung der Menschen beitragen. Dies erklärt Schmohl damit, dass jeder Mensch „bequem und vergnügt leben“133 wolle: Für seine eigene Bequemlichkeit und sein Vergnügen könne er jedoch erst arbeiten, wenn er sich „die sogenannten Nothwendigkeiten, seine Erhaltungs125 126 127 128 129 130 131
Ebd., p. 11v. Vgl. Nutz: Varietäten (wie Anm. 46, S. 255), S. 159–174. Vgl. ebd., S. 174. Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 5r. Vgl. ebd., p. 5r f. Vgl. Nutz: Varietäten (wie Anm. 46, S. 255), S. 173. Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 4v, Hervorh. i. Orig. 132 Ebd., p. 5r, Hervorh. i. Orig. 133 Ebd., p. 14r.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
mittel“ erarbeitet hätte. Dies bedeutet: Egal, ob ein Mensch für seine Arbeit bezahlt wird oder seine Subsistenz als Bauer direkt aus seiner Tätigkeit bezieht, muss er zuerst so lange tätig sein, bis seine Grundbedürfnisse, also mindestens Nahrung, Kleidung und eine Wohnstätte, befriedigt werden können. Der Erwerb, der über diese Grenze hinausgeht, kann zur Befriedigung der nicht-notwendigen Bedürfnisse, also zur Bequemlichkeit und zum allgemeinen Vergnügen eingesetzt werden. Im Laufe der Zeit werden auch diese „Bequemlichkeiten und Vergnügungen […] endlich gar selbst [zur] Nothwendigkeit“ und „so sehr als die Erhaltung des Lebens geliebt“.134 Hierdurch steigt der Aufwand, der betrieben werden muss, um die vergrößerten Grundbedürfnisse zu befriedigen und auch die angestrebten Bequemlichkeiten und Vergnügen verändern und erweitern sich. Mit den erweiterten Bedürfnissen wachsen gleichzeitig „alle Künste und Wißenschaften“, da diese „entweder Künste und Wißenschaften der Nothwendigkeiten, oder der Bequemlichkeiten oder der Vergnügung sind“. Durch diese Verknüpfung von Grundbedürfnissen und Luxus (in Form von Bequemlichkeit und Vergnügen) werden die Ergebnisse der Künste und Wissenschaften, die sich mit der Befriedigung all dieser Bedürfnisse befassen, zu „wahre[n] Gegenstände[n] der körperlichen und geistigen Oekonomie.“135 Auch wenn sich das Hervorheben von Wissenschaften elaboriert anhört, wodurch der Eindruck erweckt wird, für den eigentlichen Fortschritt der Menschen sei eine hohe Klasse von gebildeten Menschen zuständig, widerspricht Schmohl bei dieser Vorstellung. Für ihn sind „Jäger, Hirten, Bauern, Handwerker, Kaufleute […], a priori die Erfinder, und ersten Innhaber der Künste und Wißenschaften.“ Selbst Jäger der ersten und die Hirten der zweiten Entwicklungsstufe erhielten ihre Erkenntnisse durch „Genie und Zufall“. Somit existierten die Wissenschaften schon lange, bevor sich „ein eigner Gelehrtenstand“ gebildet hatte. Dieser Gelehrtenstand hat dieses Wissen „nur in Zusammenhang, in Bücher gebracht“, aber mit der Zeit und durch seine Spezialisierung auf die Wissenschaft auch „immer mehr vervollkommnet und erweitert.“136 Damit wird durch Schmohl nicht nur die Differenz zwischen hoch entwickelten Kulturen und Völkern aus Jägern, Sammlern oder Hirten relativiert, sondern ebenfalls der Abstand zwischen hohen Herrschafts- und Gelehrtenständen der eigenen Gesellschaft mit niedriger angesiedelten Ständen: „Der Gelehrtenstand und alle andern höhern Stände haben sich selbst aus diesem Urstand entwikkelt. Könige Fürsten, Gesezgeber, Richter, Priester waren einst Handwerker Bauern, Hirten, Jäger.“137 So habe die „Arzneykunst“ existiert, „eh es medizinische Fakultäten gab“. Ebenso Naturkunde vor der Gründung von „Physikalische[n] und Naturforschen-
134 135 136 137
Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 14v. Ebd. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., p. 14v f.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
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de[n] Gesellschaften“ und „Kinder wurden erzogen und unterrichtet, eh Schulleute da waren.“138 Zwar wurden Schmohls Ansicht nach die Wissenschaften, als sie noch nicht von einem professionalisierten Stand übernommen wurden, „nur unvollkommen betrieben“. Dennoch dürfe die Wissenschaft keinen Selbstzweck dieses Standes darstellen: „Keine einzige Wißenschaft, die nicht für Landwirthschaft, Gewerke, Handel p p Nutzen hat, nicht die körperliche und geistige Oekonomie begründet und erhöht, hat Werth für die Gesellschaft.“ Die Gelehrten und alle hohen Stände erhielten ihre Daseinsbegründung daraus, dass sie ihre Tätigkeit „nur aufs allgemeine höchste Wol der Gesellschaft“ konzentrieren. Ihr Dasein wird von Schmohl folglich utilitaristisch begründet, weshalb die Gelehrten und hohen Stände ihre Existenzberechtigung verlieren, wenn sie nicht der Allgemeinheit dienen: „Wo ihr dies nicht thut, verdient ihr euren Namen nicht, und es wäre beßer, ihr wärt selbst noch Handwerker und Bauern.“ Ohne den „Flor der Landwirthschaft, der Gewerke, des Handels p p.“ könne es auch „keinen Flor namwürdiger Wißenschaften und Künste“139 geben. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bei Knoblauch Auch Karl von Knoblauch beschäftigte sich – wenn auch nicht so ausführlich wie Johann Christian Schmohl – mit den Theorien zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Hierbei scheint er sich vor allem einer Auswahl gängiger Thesen dieses Entwicklungsverlaufs anzuschließen. Im direkten Vergleich mit Schmohl geht Knoblauch bei seiner Darstellung weniger vergleichend vor und zieht kaum Beispiele der zeitgenössischen Entdeckungsreisen heran. Stattdessen leitet er seine Aussagen meist aus antiken Quellen ab. So verortet Knoblauch in Bezugnahme auf den Historiker Justin (ca. 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr.) den Beginn der Gesellschaftsentwicklung nach Skythien und versteht darunter ein nicht näher bestimmtes, an das Schwarze Meer angrenzendes Gebiet.140 Von dort hätten sich die „Tatarn […] [a]us ihren unermeslichen Flächen“ ausgebreitet und seien „nach China, Japan, Persien und, durch Thra[k]ien, bis nach Deutschland und in andere Länder“141 gelangt. In einem 1792 erschienenen Artikel, der es als Fortsetzung der Politisch-philosophischen Gespräche nicht mehr in Knoblauchs gleichnamige und ebenfalls 1792 erschienene Monographie geschafft hatte, geht er auf diesen Aspekt genauer ein. Hier hält er ausdrücklich fest, dass die Menschheit ihren Ursprung aller Wahrscheinlichkeit nach in Skythien habe. Von dort aus hätten sie nicht nur Europa, Afrika und Asien 138 Ebd., p. 15r. 139 Ebd. 140 Justin könnte hingegen ein bei den Römern entsprechend bezeichnetes Gebiet in Nordindien gemeint haben, was aufgrund dessen Nähe zu Ägypten in der von Knoblauch zitierten Textstelle plausibler wäre. 141 [Karl von Knoblauch]: Tatarn, Eichelfresser, Jäger, Hirten und Akkerleute. Ein Versuch über die älteste Menschengeschichte. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 5–16, 10 (1787), S. 168–174, hier S. 7 f.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
besiedelt, sondern auch den amerikanischen Kontinent: „Das nordwestliche Amerika liegt so nahe bey dem nordöstlichen Asien, daß man sich die Möglichkeit leicht denken kann, daß ersteres seine Ureinwohner aus letzterem erhalten konnte.“142 Während der ersten Stufe der Entwicklung hätten sich diese „Urmenschen“ oder ‚Anthropomorphen‘ durch „Eicheln, wildwachsende Kräuter, Wurzeln, Früchte“ ernährt. Aufgrund der Fülle an Wild wären sie zu Jägern geworden: „Man fieng und erschlug Thiere. Auch hatte man ein Thier das andere, den Wolf das Reh, fressen sehen. Nun erkannte man die Unschädlichkeit dieser Nahrung, und fras Fleisch, roh oder auch überhin gebraten.“143 Im Gegensatz zu Schmohl traut Knoblauch in seiner knappen Beschreibung den ersten Sammlern und Jägern weitaus weniger zu. So resümiert er: „Die Menschen lernten eher kochen als denken.“144 Auch seien seiner Ansicht nach zu dieser Zeit „[k]örperliche Stärke, Hurtigkeit, scharfe Sinne den Feind oder das Wild auszuspähen, […] die einzigen Qualitäten [gewesen], die man schäzte, weil man sie brauchte.“145 Dennoch betont Knoblauch zu Beginn des zweiten Teiles seines Artikels, dass es sich bei diesen frühen Menschen auch um die Ahnen der europäischen Völker gehandelt habe. Hierdurch wird diese etwas negativere Beschreibung des ersten Teiles relativiert: „Wir sind also Skythen, und wollen uns unserer Väter nicht schämen.“146 Solange für die Sammler und Jäger genügend Nahrung vorhanden war, lebten die Menschen dieser Zeit nach Knoblauchs Ansicht aufgrund ihrer geringen Anzahl friedlich zusammen. Daher befanden sie sich noch nicht im „Naturkrieg“,147 zu welchem es erst später gekommen sei, als die natürlichen Ressourcen geringer wurden und die Menschen zuerst mit wilden Tieren und dann mit anderen „Horden“148 darum konkurrierten. Hierbei unterscheidet sich Knoblauch bewusst von Thomas Hobbes’ Beschreibung des menschlichen Naturzustandes, wie er in einer Anmerkung hervorhebt: „Hobbesens bellum omnium, Folge des Eigennuzes, der Habsucht, ist wohl nicht Prinzip des Naturrechts, aber – allgemeines Faktum.“149 Der natürliche Krieg, den jeder Mensch gegen den anderen aus egoistischen Beweggründen geführt habe, ist für ihn folglich nicht mit den Prinzipien des Naturrechts zu begründen. Dennoch stellt für Knoblauch der menschliche Egoismus ein ‚allgemeines Faktum‘ – aber kein naturrechtliches Prinzip – dar und ist somit auch zu dieser frühen Zeit vereinzelt anzutreffen. Vergleichbar mit Iselins Darstellung ist bei Knoblauch der erste Naturzustand als weitgehend friedlich anzusehen, was sich auch nicht direkt mit dem Wandel vom Sammler zum Jäger verändert. 142 143 144 145 146 147 148 149
Knoblauch: Wälder 2 (wie Anm. 240, S. 54), S. 317. Ders.: Tatarn (wie Anm. 141, S. 271), S. 8. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd., S. 168. Ebd., S. 169. Ebd., S. 171. Ebd., S. 170, Hervorh. i. Orig.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
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Durch diesen friedlicheren Urzustand fällt die allgemeine Bewertung der frühen Menschen in Knoblauchs Darstellung weniger negativ aus, als es bei Iselins Geschichte der Menschheit der Fall ist. Gleichzeitig ist sein beschriebenes Menschenbild in letzter Konsequenz pessimistischer: Das menschliche Verhalten, das zum bellum omnium contra omnes führt, ist Knoblauchs Meinung nach nicht zwangsweise als verachtenswert, ‚wild‘ oder ‚barbarisch‘ einzustufen, sondern liegt als ‚allgemeines Faktum‘ schlicht in der Natur des Menschen. Pessimistisch ist es dennoch, weil die Menschen anfangs nur deswegen friedlich nebeneinander lebten, weil sie sich aufgrund ihrer geringen Anzahl entweder aus dem Weg gehen konnten oder durch das Überangebot an Nahrung nicht gegenseitig töten mussten, um selbst zu überleben. Fallen diese günstigen Voraussetzungen weg, ist Gewalt in Form des natürlichen Krieges die Antwort hierauf. Auch nach Knoblauchs Entwicklungsgeschichte werden die Menschen, nachdem sie Jäger wurden, zunächst Hirten und danach Bauern. Der Ackerbau ist nach seiner Sichtweise ebenfalls der Beginn der menschlichen Kultur: Der Ackerbau ist die Mutter der Künste. Der Kultur der Erde haben wir unsere sittliche Kultur, die Existenz der Städte, der Gesezze, die sanftere Sitten der Rurikolen [Landbewohner, Anm. M. L.], in Vergleichung mit der Wildheit der Jäger in hundertmeiligen Wäldern, und mit der Barbarei mongolscher Nomaden, zu danken.150
Dennoch hätten auch schon „Jäger und Hirten […] Gesänge“ gehabt: „Dichtkunst war im frühen Alter schon Tochter der Liebe. Nichts kan zärtlicher seyn, als das kleine Lied eines karibischen Jägers, welches Montagne [sic.] uns aufbehalten und Kleist vortreflich übersezt hat.“151 Indem er betont, dass sich schon diese frühen Menschen auf eine ästhetische Art und Weise betätigen konnten, die selbst in der modernen Welt von seinen Zeitgenossen als wertvoll erachtet werde, wendet sich Knoblauch gegen eine pauschale Degradierung von Völkern, die einer frühen Entwicklungsstufe zugeordnet wurden. An dieser Stelle verweist Knoblauch ebenfalls auf den angeblichen keltischen Barden Ossian,152 um damit den Unterschied zwischen den europäischen, ehemals ‚wilden‘ Völkern und den ‚Wilden‘ anderer Kontinente zu relativieren. Dieser Vergleich wird von Knoblauch jedoch direkt im Anschluss leicht abgewertet: Hierbei ist der höher entwickelte Bezugspunkt, gegen welchen das Lied des Kariben oder das des keltischen Barden nicht ankommen kann, nicht die eigene europäische Kultur, sondern die des antiken Griechenlands und Roms: 150 Ebd., S. 13. 151 Ebd., S. 14 f. – Knoblauch meint hierbei Ewald Christian von Kleists (1715–1759) Gedicht Lied der Kannibalen, das durch ein Lied in Montaignes 31. Essay Über die Menschenfresser inspiriert wurde. Diese Vorlage Montaignes erlangte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch eine Vielzahl an Übersetzungen und Variationen im deutschsprachigen Gebiet eine hohe Bekanntheit. Vgl. Paul J. Smith: Montaigne in the World. In: Philippe Desan (Hg.): The Oxford Handbook of Montaigne. New York, NY 2016, S. 287–305, hier S. 303 f. 152 Vgl. Anmerkung 91.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Aber die sanfte, elegante Muse Theokrits und Anakreons bildete sich im Schooß a[c]kerbauender Gesellschaft, als Schafhürden oder die Scene der Idylle schon nah am Weizenfeld und den Mauren der ruhigen Stadt war, under dem schönen sizilischen oder griechischen Himmel, dessen wohlthätige Einflüsse aufs Genie unläugbares Faktum sind.153
Dennoch kann bei dieser Gegenüberstellung ‚wilder‘ und kultivierter Völker nicht von einer pauschalen Degradierung der Menschen früherer Entwicklungsstufen gesprochen werden, wie aus einer eher beiläufigen Bemerkung hervorgeht: So erwähnt Knoblauch in einem wunderkritischen Artikel die Leichtgläubigkeit von ‚Hottentotten‘, Mitgliedern der „südafrikanischen Khoisan-Völker“, von welchen im 18. Jahrhundert oftmals angenommen wurde, sie „seien beinahe so dumm wie ihr Vieh“.154 Dieses aufgerufene negative Bild relativiert er jedoch im direkten Anschluss, indem er betont, man solle nicht vergessen, „daß alle Völker der Erde Hottentoten sind, oder es ehemals waren.“ In einer Anspielung auf den zu Knoblauchs Zeiten bekannten Zauberkünstler Jacob Philadelphia (1735–1795) kommentiert er zudem: „Jedes Zeitalter hatte seine Philadelphia’s: nur waren sie nicht immer so gewandt wie der unsrige.“155 Hierdurch wird die vorherige Relativierung, auch augenscheinlich kultivierte Völker hätten einmal auf der gleichen Stufe der ‚Hottentotten‘ gestanden und daher kein Recht, sich über diese lustig zu machen, nochmals verstärkt, da die unterstellte Leichtgläubigkeit des Volkes lediglich von der Gewandtheit derjenigen abhängig ist, die sie zu täuschen versuchen. Entsprechend werden die Menschen eines kultivierten europäischen Volkes durch den Einfluss eines besonders geschickten Zauberkünstlers auf die gleiche intellektuelle Stufe wie ‚Hottentotten‘ gestellt, indem sie sich durch Tricks täuschen lassen. Deutlicher fällt hingegen Knoblauchs Vergleich zwischen zeitgenössischen Herrschern und denen ‚wilder‘ Völker aus. So könnten zwar die „Hirten und Jägervölker […] Gengiskane und Timurlengs, nie aber Josephe, Friederiche, Catharinen, KienLongs haben. Diese Gaben des Himmels sind für Völker aufgehoben, deren Beruf es ist, die Erde zu verschönern, nicht zu verwüsten.“156 Bei dieser Aufzählung verwundert weder die negative Charakterisierung der beiden Herrscher Dschingis Khan (1155–1227) und Timur (um 1336–1405), die zu Knoblauchs Zeit „[a]ls Inbegriffe asiatischer Zerstörungswut und Blutgier galten“.157 Noch überrascht es, dass ihnen die europäischen Herrscher Joseph II. (1741–1790), Friedrich II. oder Katharina II. (1729–1796) entgegengestellt werden, die als mustergültige Beispiele aufgeklärter Herrscher galten. Einzig der chinesische Kaiser Qianlong (1711–1799) scheint hierbei auf den ersten Blick nicht in diese Reihe zu passen. Doch wie Jürgen Osterhammel hervorhebt, lassen sich im 17. und 18. Jahrhundert nur wenige Beschreibungen von asiatischen Herrschern finden, in denen diese ausnahmslos 153 154 155 156 157
Knoblauch: Tatarn (wie Anm. 141, S. 271), S. 15. Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 14, S. 3), S. 131. Knoblauch: Blauen Wundern (wie Anm. 72, S. 116), S. 79, Hervorh. i. Orig. Ders.: Tatarn (wie Anm. 141, S. 271), S. 15, Hervorh. i. Orig. Osterhammel: Entzauberung (wie Anm. 43, S. 112), S. 218.
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als Tyrannen charakterisiert wurden.158 Die Nennung Qianlongs verweist auf ein äußerst positives Chinabild der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wodurch der europäische Ethnozentrismus in Knoblauchs Darstellung – höchstwahrscheinlich unbewusst – aufgebrochen wird. Zudem zeigt die Kontrastierung des mongolischen und des chinesischen Herrschers, dass eine negativ bewertete Herrschaft nicht an einen bestimmten Kontinent gebunden ist: So konnten die Gebiete, über die Dschingis Khan – nach Knoblauchs Darstellung – mit Zerstörungswut und Blutgier herrschte, mit dem Kaiserreich China ein Land werden, das in eine Reihe mit ‚aufgeklärten‘ Ländern Europas gestellt werden konnte. Hierdurch wird nochmals die kulturelle Differenz zwischen den verschiedenen Entwicklungsstufen, aber auch der mögliche Fortschritt verdeutlicht, der für ‚blutgierige‘ Völker zurückliegender Stufen möglich ist. Die Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Menschen unterscheidet sich bei Schmohl und Knoblauch in der Beschreibung und Wertung des menschlichen Naturzustandes. Knoblauchs Theorie hat hierbei eine größere Ähnlichkeit mit der Geschichtsphilosophie Isaak Iselins, da sich das menschliche Zusammenleben im Naturzustand weitestgehend friedlich gestaltet und erst mit Eintritt in die nächste Entwicklungsstufe Grausamkeit zwischen den Menschen entsteht. Im Gegensatz zu Iselin wird bei Knoblauch das Entstehen von Gewalt jedoch durch die höhere Konkurrenz um Nahrung zwischen den Menschen erklärt. Iselin hingegen führt das Entstehen von Gewalt auf eine allgemeine Bosheit und Tücke des ans Töten gewöhnten Jägers zurück. Bei Johann Christian Schmohls Darstellung wird der Naturzustand dagegen weder als völlig paradiesisch und friedlich noch als ausschließlich böse charakterisiert: Seinem Artikel zufolge konnten schon unter Jägern und Sammlern Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen herrschen, welche die Wahl von Häuptlingen notwendig machten, was wiederum den Beginn von Herrschaft und Gesetzgebung darstellte. Nach der Sichtweise Knoblauchs und Iselins sind die Menschen im Naturzustand weit von diesen Errungenschaften entfernt. Dass sich Knoblauch gängigen frühneuzeitlichen Deutungsmustern der Menschheitsentwicklung anschloss, dürfte vor allem dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass er sich damit im Vergleich zu anderen Themen in seinen Texten kaum beschäftigte: Lediglich zwei Artikel und knappe Erwähnungen in zwei Monographien zeugen bei Knoblauch davon, dass er sich über die geschichtsphilosophische Entstehung Gedanken gemacht hat. Wiederum ist interessant, dass er seine Argumentation vor allem auf antike Quellen stützte. Hierdurch kann erklärt werden, weshalb Knoblauchs entwicklungsgeschichtliche Stufenleiter in der Antike stehen bleibt und die Beschreibung einer weiteren Entwicklungsstufe ausbleibt: So stellte natürlich einerseits die antike Gegenwart aus Sicht der damaligen Autoren den kulturellen Höhepunkt dieser Zeit dar, sodass diese Autoren vorangegangene Entwick158 Vgl. ebd., S. 273 f.
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lungen ausschließlich unter diesem Aspekt bewerteten. Andererseits dürfte diese Sichtweise Knoblauchs Begeisterung für die Kultur der griechischen und römischen Antike entsprochen haben: Somit bewertet er sowohl die menschliche Frühzeit als auch seine eigene Gegenwart mit dem Bezugspunkt der von ihm als vollkommen gesittet angesehenen Antike: „Anakreons und Theokrite sangen. Die Empfindungen wurden feiner, die Sitten sanfter – die Götter selbst schienen menschlicher zu werden.“159 Im Falle Johann Christian Schmohls zeigen sich hingegen größere Differenzen zwischen der äußerst populären Darstellung Iselins in der Geschichte der Menschheit und seinen eigenen Überlegungen: Schmohl lehnt einerseits Iselins Naturzustand ab und interpretiert andererseits auch dessen ‚Stand der Wildheit‘ nicht – wie bereits erwähnt – als Hort der Barbarei. Seine Konzentration auf die Ökonomie erinnert an die Darstellung der Menschheitsgeschichte der schottischen Philosophen und hier vor allem Adam Fergusons, der seinem Vergleich die menschliche Subsistenz zugrunde legte. Ebenfalls erinnert Schmohls äußerst positive Bewertung der ersten Entwicklungsstufe an die Sichtweise Fergusons, dem es ein Anliegen war, „die ‚Gleichheit‘ bestehender und historischer Völkerschaften zu betonen und damit Naturzustandstheorien und die Überhöh[]ung des Ursprungs der eigenen Nationen zu relativieren.“160 Schmohl bewertet die Jäger und Sammler nicht unter dem Gesichtspunkt, wie ‚primitiv‘ ihre Lebensweise aus der Sicht des aufgeklärten Europäers des 18. Jahrhunderts ausgesehen haben muss. Stattdessen beschreibt er mit Begeisterung die Anfänge des menschlichen Zusammenlebens mit allen Aspekten, die seiner Meinung nach in dieser Zeit ihren Anfang gehabt haben müssen. So gab es, als der Mensch noch Sammler war, schon Künste und Wissenschaften und zwar dergestalt, wie sie in Relation zur damaligen Lebensweise möglich und nützlich waren. Zu einer Verbesserung hierbei kommt es zwar bei den nachfolgenden Stufen der Entwicklung – dies jedoch nicht, weil der Mensch nun weniger ‚primitiv‘ wäre, sondern schlicht, weil die Notwendigkeit hierzu durch eine höhere Bevölkerung, gesteigerte Bedürfnisse oder veränderte Interessen bestand. Hierdurch ist Schmohls Darstellung der Menschheitsgeschichte weder eine Geschichte des Verfalls, wie sie Rousseau durch den Einfluss von Phantasie und Vernunft und ausgehend von einem verklärten, paradiesischen Naturzustand postuliert hatte.161 Noch handelt es sich um eine apologetische Entwicklungsgeschichte des menschlichen Verstandes, wie es bei Iselin zu lesen ist.162 Stattdessen könnte Schmohls Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie als ein Versuch verstanden werden, die Menschheitsgeschichte nach den Möglichkeiten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so neutral wie möglich zu interpretieren und zu beschreiben. Er erkannte und kritisierte an Iselin, dass eine Distanzierung von einer biblisch geprägten Geschichtsschreibung „nicht un159 160 161 162
Knoblauch: Tatarn (wie Anm. 141, S. 271), S. 174. Meyer: Wahrheit (wie Anm. 41, S. 255), S. 141. Vgl. Gisi: Anthropologische Basis (wie Anm. 45, S. 255), S. 133. Vgl. Zedelmaier: Geschichte (wie Anm. 1, S. 248), S. 25.
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bedingt schon zu einer Emanzipation von der biblischen Chronologie [führte], wie sie für die Einbeziehung der alten Kulturen, besonders Chinas, nötig“163 gewesen wäre. Schmohl hingegen insistiert, „als Philosoph“ die Wahrheit „nach Anleitung der Geschichte und der Vernunft“ suchen zu wollen. Widerlegungen seiner Darstellung sollten nicht theologisch, sondern „historisch und gründlich“164 vorgebracht werden. Während Schmohls (und Knoblauchs) Entwicklungsgeschichte der Menschheit mit dem ersten Stand beginnt, in welchem die Menschen schon als ‚Menschen‘ gesehen werden können, beschäftigte Knoblauch in seinen Artikeln auch die Möglichkeit einer ‚Menschwerdung‘, also der Entwicklung hin zum Menschen. Hierbei grenzt er sich von den frühevolutionären Theorien Bonnets und Robinets ab, die eine kontinuierliche Kette der Wesen postuliert hatten, die lückenlos vom irdischen Staubkorn bis zu den Göttern führen sollte. Diese Kette hält Knoblauch aufgrund der Unüberwindbarkeit der beiden zu verbindenden Extreme – der Staub mit den Göttern – für „ein philosophisches Hirngespinnst“,165 wie er unverhohlen zugibt. Stattdessen geht Knoblauch davon aus, dass sich der Mensch erst im Laufe der Zeit zum Menschen entwickelt habe und vergleicht diese Entwicklung mit der Domestizierung von Wildtieren durch den Menschen. Man könne die wilden Formen dieser Tiere noch finden und sie bezugnehmend auf ihr Aussehen deutlich von ihren domestizierten Verwandten unterscheiden. Dennoch handele es sich bei einem Mufflon wie auch bei einem Hausschaf jeweils um ein Schaf. Entsprechend könnte auch Vorformen des Menschen – egal ob sie ausgestorben seien oder überlebt hätten – nicht abgesprochen werden, Mensch zu sein. Da es Knoblauch nicht für abwegig erachtete, dass selbst ein Orang-Utan eine gewisse, wenn auch vom Menschen unterschiedliche Vernunft besäße, könnte er diesen Affen ebenfalls als eine Urform des Menschen betrachtet haben, welche in bestimmten Erdteilen – wie das Mufflon auf Sardinien – überleben konnte. 3.2.2 Die Stä ndegesellschaft: Über Untertanen und Herrscher Die paradoxe gesellschaftliche Situation besonders der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts treffend auf den Punkt bringend, stellt Barbara Stollberg-Rilinger die Frage, inwiefern „man das 18. Jahrhundert ein Jahrhundert des Bürgertums nennen [könne], obwohl doch die politische Macht noch immer in den Händen des Hochadels lag?“166 Zwar begann sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders in den Städten ein selbstbewusstes Bürgertum herauszubilden, trotzdem hatte die mittelalterliche Ständeordnung weiterhin Bestand. Diese Ständestruktur, 163 Wolfgang Proß: Geschichte als Provokation zu Geschichtsphilosophie. Iselin und Herder. In: Gisi u. Rother (Hg.): Iselin (wie Anm. 1, S. 248), S. 201–265, hier S. 218. 164 Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 13v. 165 Knoblauch: Ueber Faunen 2 (wie Anm. 306, S. 65), S. 155 f., Hervorh. i. Orig. 166 Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 68.
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in welche man hineingeboren wurde, unterscheidet sich von einem modernen Gesellschaftsverständnis „wesentlich dadurch, dass die vielfältigen sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede – Unterschiede der wirtschaftlichen Erwerbsform, der politischen Partizipation, der Bildung und Lebensführung – aufs engste mit der Ungleichheit der Rechte verbunden waren.“167 Auch wenn vereinzelt Freiräume innerhalb dieser Ordnung möglich waren, wurde die Legitimität dieser strukturellen, sozialen wie rechtlichen Ungleichheit nur langsam infrage gestellt.168 Johann Christian Schmohl: Die Stände als ‚Kolonien des Bauernstandes‘ Obwohl sich das Bürgertum erst entwickelte und eine Gesellschaft nach heutigem Verständnis169 noch nicht vorhanden war, lässt sich eine beinahe selbstverständliche Verwendung der Begriffe Bürgertum und Gesellschaft bei Johann Christian Schmohl Anfang der 1780er-Jahre finden, wie der 1783 erschienene, aber wahrscheinlich schon 1781 vor seiner Flucht aus Halle verfasste Artikel Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft zeigt. Gleichzeitig geht aus seinen Äußerungen hervor, dass Schmohl weiterhin von der bestehenden Ständeordnung ausging. Diese wird jedoch, wie für Schmohl üblich, aus der Perspektive der landbauenden Bevölkerung betrachtet und bewertet, wenn er in seinem 1781 in der Sammlung erschienenen Aufsatz Die Erziehungsanstalten von der Finanzseite betrachtet betont: „Die andern Stände im Staat sind Kolonien des Bauerstandes.“170 Bei Schmohls Ausführung handelt es sich jedoch nicht um eine Überhöhung der Landwirtschaft, wie sie für die im 18. Jahrhundert populäre Wirtschaftstheorie des Physiokratismus galt. Das physiokratische System lehnte er, wie in Kapitel 3.3 beschrieben wird, ab und begründete dies unter anderem damit, dass die Wirtschaftsleistung eines Landes nicht alleine auf den Ertrag der Erde zurückzuführen sei und damit kein Produkt der Landwirtschaft oder des Bergbaus darstellen könne. Stattdessen sind seiner Ansicht nach alle Bewohner eines Landes mit ihrer jeweiligen Arbeit daran beteiligt, den Reichtum ihres Landes zu erschaffen: Unmittelbar bereichern den Staat nur der Bauer- Handwerks- und Kaufmannsstand, wenn vom körperlichen Reichthum die Rede ist. Unmittelbar werden die Finanzen des Staats nur durch verbesserte Erziehung dieser Stände vermehrt. In so fern aber Kirchen und Schulen, Polizey und Justiz zur Entwicklung und Richtung der Kräfte des Menschen, mit denen körperliche Pro167 Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 70. 168 Vgl. ebd., S. 68–71. 169 „Schon der Begriff ‚Gesellschaft‘ ist, bezogen auf das 18. Jahrhundert, irreführend. Unser Begriff von Gesellschaft ist durch die Verfassungsverhältnisse geprägt, die sich durch die Französische Revolution erst herausbildeten: Unter Gesellschaft versteht man heute gemeinhin die Gesamtheit der Privatleute und deren Organisationen, vor allem die Sphäre des wirtschaftlichen Austauschs, der die hoheitliche Sphäre des Staates gegenübersteht. Der Staat ist der einzige Hoheitsträger, während die Gesellschaft aus prinzipiell rechtlich gleichen Bürgern besteht. Ein solches klares Gegenüber von Staat und Gesellschaft, öffentlicher und privater Sphäre gab es in der frühen Neuzeit noch nicht.“ Ebd., S. 69. 170 Johann Christian Schmohl: Die Erziehungsanstalten von der Finanzseite betrachtet. In: Ders. (Hg.): Sammlung (wie Anm. 35, S. 21), S. 25–39, hier S. 36.
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dukte hervorgebracht werden, wirksam sind, wird auch durch Verbesserung der Erziehung der Kirchen- und Schullehrer, der Polizey- und Justizbeamte das Einkommen des Staats vermehrt.171
Somit könnten weder „Ackerbau, Fabriken und Handel“ ohne „Kirchen- und Schulwesens, Justiz- und Polizey“ bestehen, noch sei dies im umgekehrten Fall möglich. Doch obwohl, wie Schmohl betont, „[d]ie Kräfte und Tugenden des Menschen […] die sichersten und größesten Kapitale des Staates“ seien und somit „[d]ie Verbesserung der Erziehung […] unter allen Finanzquellen die ergiebigste“ darstelle, plädiert er dennoch dafür, sich vor allem der Verbesserung des Bauernstandes zu widmen: „An dem Bauernstand gleichsam der ursprünglichen Organisazion des Staatskörpers muß alle Bildung anfangen.“172 Diese Forderung widerspreche zwar, so Schmohl, der Behauptung „großer Männer, man müsse“ bei der Bildung der Stände, statt beim Bauern, lieber „von oben anfangen, weil sich einmal die niedern Stände nach den obern, die Unterthanen insgesammt nach dem Fürsten bildeten“. Nach der Aussage dieser Männer würden zudem, „wenn die niedern Stände edler wie die obern wären“,173 die Oberen die Bauern aufgrund dieser Differenz nur noch mehr unterdrücken, um den bestehenden Unterschied auszugleichen. Um seine Kritik an diesen Aussagen zu verbildlichen, führt Schmohl an, dass man bei einem baufälligen Gebäude ebenfalls „zuerst bessere Schwellen“ unterlegen würde. Wolle man stattdessen „[d]ie Erziehung der sogenannten gesitteten Stände zuerst verbessern […], wäre [das] so viel als Dach, Giebel und Schornstein eines Hauses ohne Mauern, Unterstockwerk und Grund in die Luft hinsetzen [zu] wollen.“174 Entsprechend könne man, sollten die Bauern in einem Land über eine schlechte Bildung verfügen, auch auf den Zustand der „anderen Stände im Staat“ schließen, bei denen es sich schließlich nur, wie anfangs erwähnt, um „Kolonien des Bauerstandes“ handele: „Aus je schlechterm Ton und Kalk der Bauer in einem Lande gebildet ist; desto unvortheilhafter werde ich, seltne Ausnahmen zugestanden, vom Handwerks- und Kaufmannsstand, von den Gelehrten, dem Adel, und besonders dem Fürstlichen Hause darinn urtheilen.“175 Auffällig ist bei Schmohls Aussagen die offene Geringschätzung des Adels bis hin zu den Landesfürsten, die sich auch in anderen Texten finden lässt: So bemängelt Schmohl, dass in Anhalt-Zerbst das Amt des Dorfschulzen vererbbar sei und nicht, wie beispielsweise in Baden, der fähigste Bewerber zum Schulzen gewählt werden würde. „Allein“, so quittiert er lakonisch diese Aussage, „so lang Edelleute und Fürsten selbst auch geboren werden, ist di[e]s doch immer noch eins der geringern Uebel.“ Zwar wäre es aus Schmohls Sicht besser, „wenn der geschickteste, bravste, klügste, arbeitsamste, verdienstvollste Mann, sowohl zum Edelmann und 171 172 173 174 175
Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd., S. 36. Ebd.
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Fürsten, als auch zum Dorfschulzen gewählt würde; aber so lang der Fürstensohn sein Geburtsrecht behält, wäre der Schulz ein Thor, der sich des seinigen berauben ließe!“176 Dieses, sowohl für Schulzen als auch für die Fürsten ungünstige Urteil untermauerte Schmohl in seinen Briefen an Pestalozzi mit seinen in Anhalt-Zerbst gemachten negativen Erfahrungen,177 die ihn in seiner Aussage stärkten, es wäre sinnvoller für ein Land, sich einen kompetenten Fürsten zu wählen – was für die damalige Zeit eine ungeheuerliche Forderung darstellte. Ebenfalls möchte sich Schmohl mit der Formulierung der ‚sogenannten gesitteten Stände‘, die er auch an anderer Stelle178 verwendet, vor allem sprachlich von der aufgeklärten Bildungselite der Frühen Neuzeit distanzieren. Die sich selbst als ‚gesitteter Stand‘ verstehende Trägerschicht der Aufklärung widersetzte sich ihrerseits mit ihrem elitären Selbstverständnis der damaligen geltenden Ständeordnung, indem sie sich vom vor allem aus Nichtadligen, Nichtklerikern und Nichtakademikern bestehenden ‚Volk‘ absetzte. Gleichzeitig grenzte sie sich ebenso vom Adel ab, wodurch „[n]icht ständische Herkunft, sondern das Maß an Aufgeklärtheit“ zum Gradmesser des elitären Selbstbewusstseins wurde. Das wichtigste „Kriterium für die Abgrenzung zum ‚Volk‘ war [somit] das Bildungsniveau.“179 Es ist wahrscheinlich, dass sich Schmohl selbst nicht zu diesem ‚gesitteten Stand‘ zählte, obwohl er sich sowohl durch seine schriftstellerische Tätigkeit als auch aufgrund seiner vormaligen Beschäftigung am Dessauer Philanthropin sowie seiner hier geknüpften Kontakte in Kreisen der damaligen Bildungselite bewegte. Auch kann vermutet werden, dass er einerseits durch sein nicht abgeschlossenes Studium und andererseits aufgrund seiner ‚niederen‘ Herkunft nicht als vollwertiges Mitglied dieser Elite betrachtet wurde. Exkurs: Die Volksaufklärung Schmohls Äußerungen, die sich auf die frühneuzeitlichen Versuche der sogenannten ‚Volksaufklärung‘180 beziehen, lassen zudem eine weitere Erklärung seiner ablehnenden Haltung zu. So war zwar seine Forderung nach einer eindeutigen Bevorzugung der Bauern bei der Bildungsvermittlung mit Versuchen der frühen Volksaufklärung verinbar, die auf eine emanzipierende Wirkung von Bildung innerhalb 176 Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 269, Hervorh. i. Orig. 177 Vgl. Kapitel 2.1.2. 178 So in der Urne Mochels, wenn er betont, dass die physische Erziehung der Kinder von Bauern noch immer besser sei als die „unter den sogenannten gesitteten Ständen.“ Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 32. 179 Conrad: Aufgeklärte (wie Anm. 22, S. 6), S. 6 – Zum, sich ab den 1770er-Jahren herausbildenden Begriffsverständnis und der damit verbundenen Zugehörigkeit zum ‚Volk‘, vgl. Reinhart Siegert: Volk/Gemeiner Mann/Pöbel. In: Schneiders: Lexikon (wie Anm. 102, S. 121), S. 432–434. 180 Auch wenn der Begriff Volksaufklärung erst 1784 durch Moses Mendelssohn und Carl Leonhard Reinhold (1757–1823) eingeführt wurde, kann diese Bezeichnung für die entsprechende Ausprägung der Aufklärung vor der ‚Erfindung‘ dieses Begriffes verwendet werden. Vgl. Ders.: Volksaufklärung. In: Holzhey u. Mudroch (Hg.): Grundriss (wie Anm. 192, S. 46), S. 416–424, hier S. 422.
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der Landbevölkerung setzte und sogar forderte, der Bauer solle zum Selbstdenken angehalten werden. Bis in die 1770er-Jahre hinein stand bei dieser Popularisierung von aufgeklärtem Wissen jedoch größtenteils die Ökonomie im Vordergrund und man glaubte, die ökonomischen und landwirtschaftlichen Erkenntnisse könnten problemlos an die Bauern weitergegeben werden. Weder war in den jeweiligen Schriften ein „herablassend-väterliche[r] Gestus“ zu erkennen, „der einen Teil der späteren volksaufklärerischen Literatur kennzeichnet. Die sachliche Information und die Aufforderung zur eigenständigen Beurteilung der Vorschläge stehen ganz im Vordergrund.“ Noch war diese Kommunikation über die Ökonomie der Landwirtschaft einseitig intendiert, da die Autoren mit der „Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Leser“ rechneten und sie sogar den jeweiligen Bauern „um die Einbringung seiner praktischen Erfahrungen“181 baten.182 Diese optimistische Haltung, „der Bauer werde die neuen Lehren gern annehmen, teile man sie ihm nur endlich mit“,183 änderte sich ab den 1770er-Jahren langsam, als die Volksaufklärer damit konfrontiert wurden, dass die Bauern andere als die vermuteten Bedürfnisse hatten. Hierdurch pädagogisierte sich die Volksaufklärung, sodass sich die gebildete Schicht als Volkslehrer begriff und ihr Gegenüber – das ‚Volk‘ – als zu erziehendes und belehrendes Kind ansah. Hierbei bediente man sich unter anderem auch traditioneller Mittel der religiösen Volkserziehung.184 Die Zielgruppe dieser zweiten Entwicklungsstufe der Volksaufklärung stellten neben den Bauern die Handwerker dar, aber auch die unteren Ränge des Militärs, der Landesverwaltung oder die Dienstboten.185 Trotz dieser breiten und vielfältigen Adressaten konzentrierte sich ein Großteil der Aufklärungsbemühungen auf die Bauern, da diese in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch etwa 80% der Gesamtbevölkerung ausmachten.186 Beispielhaft für den Umbruch innerhalb der Volksaufklärung und den Beginn des Versuches, die Aufklärung dem ‚gemeinen Mann‘ nahezubringen, steht Johann 181 Holger Böning: Entgrenzte Aufklärung. Die Entwicklung der Volksaufklärung von der ökonomischen Reform zur Emanzipationsbewegung. In: Holger Böning, Hanno Schmitt u. Reinhart Siegert (Hg.): Volksaufklärung: eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007 (Presse und Geschichte. Neue Beiträge 27), S. 13–50, hier S. 18. 182 Überblicksartig zu den Anfängen der Volksaufklärung, vgl. ebd., S. 14–18 sowie: Holger Böning u. Reinhart Siegert: „Volksaufklärung“. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum – Ausgewählte Schriften. Ein Werkstattbericht. In: Conrad, Herzig u. Kopitzsch (Hg.): Volk (wie Anm. 22, S. 6), S. 17–34. Von der gemeinnützig-ökonomischen Aufklärung vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Vorläuferin der Volksaufklärung, vgl. Christian Kohlfeldt: Die gemeinnützig-ökonomische Aufklärung als Wegbereiterin für die Volksaufklärung. In: Böning, Schmitt u. Siegert (Hg.): Volksaufklärung (wie Anm. 181), S. 127–139. 183 Siegert: Volksaufklärung (wie Anm. 180), S. 420. 184 Vgl. Böning: Entgrenzte (wie Anm. 181), S. 23 f. 185 Vgl. Heidrun Alzheimer: Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780–1848. Berlin u. New York 2004, S. 51 f. 186 Vgl. Thorsten Sadowsky: Agrarromantik und Großstadtkritik im Zeitalter der Aufklärung. In: Conrad, Herzig u. Kopitzsch (Hg.): Volk (wie Anm. 22, S. 6), S. 103–120, hier S. 115.
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Georg Schlossers (1739–1799) 1771 anonym erschienenes Werk Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk. Schlosser konzentrierte sich nicht mehr auf die Vermittlung ökonomischer Verbesserungen, sondern wollte – dem Titel entsprechend – auf die sittlichen Werte der Landbevölkerung durch die von ihm skizzierten Volkslehrer einwirken. Verständlich und eingängig sollte das Werk durch die Verwendung einer populären Sprache sein. Auch von der populären Kultur und den Vertretern des Sturm und Drang wurde die Begeisterung für das Landleben aufgegriffen und in ihren Werken – oftmals verklärend – behandelt.187 Zusammen mit dieser Entwicklung setzte die Diskussion um die Grenzen der Volksaufklärung ein. Während sich diese Frage bei der Vermittlung rein naturwissenschaftlicher Kenntnisse nicht stellte, wurde nun ebenfalls überlegt, welche Kenntnisse dem ‚Volk‘ problemlos – das heißt: ohne Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung – vermittelt werden konnten. Einen Höhepunkt erreichte die Antwortsuche mit der 1779 von der Preußischen Akademie der Wissenschaften ausgeschriebenen Preisfrage, ob es dem Volk nutze, wenn es betrogen werde. Diese, zuerst aufgrund ihrer angeblich unakademischen Themenstellung kritisierte Frage fand großen Widerhall und wurde aufgrund der zahlreich eingesandten Antworten zu einer der erfolgreichsten Preisfragen der Akademie.188 Stellvertretend für die diese Frage bejahenden Antworten steht das auch ansonsten gerne verwendete Bild, nach welchem man dem als ‚krankes Kind‘ personifizierten ‚Volk‘ „die nützlichen Lehren wie ein mit Zuckerguss versüßtes Medikament verabreichen müsse“,189 damit es die bittere Medizin zuerst nicht bemerke und zu seinem Besten schlucke. Eine den Volksbetrug ablehnende Position nahm der spätere Autor des ab 1788 erscheinenden Noth- und Hülfs-Büchleins für Bauersleute, dem „am weitesten verbreitete[n] weltliche[n] Buch des 18. Jahrhunderts“,190 Rudolph Zacharias Becker (1752–1822), ein. Für seine Aussage, das Volk aufzuklären sei keinesfalls staatsgefährdend, sondern würde den Staat sogar stützen, da ein aufgeklärtes Volk nie ohne guten Grund gegen einen Herrscher rebellieren würde, ein unaufgeklärtes sich hingegen leicht und grundlos aufwiegeln lasse, wurde Becker „von seinem Landesherrn als Radikaler von jeglicher Berufung in den Staatsdienst ausgeschlossen“.191 Ebenfalls forderte Becker eine ungehinderte öffentliche Kommunikation und lehn-
187 Vgl. Siegert: Volksaufklärung (wie Anm. 180, S. 280), S. 420–422. 188 Zur dieser Preisfrage sowie ein zusammenfassender Überblick der verschiedenen Antworten, vgl. Hans Adler: Volksaufklärung als Herausforderung der Aufklärung, oder: Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Die Preisfrage der preußischen Akademie für 1780. In: Böning, Schmitt u. Siegert (Hg.): Volksaufklärung (wie Anm. 181, S. 281), S. 51–72. 189 Böning: Entgrenzte (wie Anm. 181, S. 281), S. 25. 190 Reinhart Siegert: Rudolph Zacharias Becker – der „Erfinder der Publizität“ und sein Einsatz für die Volksaufklärung. In: Böning, Schmitt u. Siegert (Hg.): Volksaufklärung (wie Anm. 181, S. 281), S. 141–161, hier S. 148. 191 Ders.: Volksaufklärung (wie Anm. 180, S. 280), S. 221.
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te Privilegierungen sowie eine arkane, unverständliche Politik ab.192 Doch selbst Becker verfolgte „keine umfassende Emanzipation des Landmanns […], sondern erklärte zum Ziel seiner unterhaltenden Bildungsbücher, diesem ‚seine Bestimmung als Mensch und Bauer‘ deutlich“193 machen zu wollen, wie er es in einer 1785 erschienenen Ankündigung des Noth- und Hülfs-Büchleins beschrieb: Zwar hebt Becker im gleichen Satz auch das Selbstdenken des Bauern hervor, relativiert dieses aber direkt im Anschluss, indem der Bauer hierzu von anderen Personen angeführt werden müsse.194 Dieses Degradieren des Bauern zum bloßen, hochgradig renitenten Objekt volksaufklärerischer Bemühungen wird bei Becker vor allem sprachlich vollzogen, indem deutlich wird, dass der Bauer ohne fremdes Einwirken zu keinerlei vernünftiger Handlung in der Lage zu sein scheint. Vor allem dürfe man aber „nicht einmal den heiligen und profanen Aberglauben des Landmanns […] angreifen“, sondern müsse, um „fürs erste Zusammenhang in sein Gedankensystem zu bringen, seine Denkkraft zur Thätigkeit zu erwecken suchen“. Danach müsse man lediglich noch „den Erfolg abwarten […], wenn man nicht vergebens an seiner Aufklärung arbeiten, oder ihn durch unverdaute Kenntnisse unglücklich machen will.“195 Schmohls Kritik an der Volksaufklärung Auch wenn Schmohl nicht mehr lebte, als Rudolph Zacharias Beckers Noth- und Hülfs-Büchlein erschien, wird er möglicherweise auf seinem elterlichen Bauernhof frühe Versuche einer praktischen ökonomischen Aufklärung erlebt haben. Die zunehmende Pädagogisierung der Volksaufklärung ab den 1770er-Jahren wird er hingegen, da er sich zu dieser Zeit „fast von aller Welt abgesondert“196 auf einer Fürstenschule befand und ab 1775 mit seinem Theologiestudium begonnen hatte, nur indirekt durch Erzählungen seiner Eltern oder ausschnitthaft bei vereinzelten Besuchen des heimatlichen Hofes erlebt haben. Schmohls generelles Interesse für landwirtschaftliche Themen sorgte jedoch vermutlich dafür, dass er die allgemeine Entwicklung dieser Zeit sehr interessiert und reflektiert verfolgt haben wird. Seine Schriften zeugen jedenfalls davon, dass ihm die intensive Bemühung des ‚sogenannten gesitteten Standes‘ um die Aufklärung der Bauern deutlich vor Augen stand und er mit vielen Methoden dieser Aufklärer nicht einverstanden war. In Fragen der Volksaufklärung dürfte Schmohl besonders von seinen elsässischen Lehrerkollegen und Freunden am Dessauer Philanthropin, Johannes Schweighäuser, Johann Friedrich Simon und besonders Johann Jacob Mochel beeinflusst worden sein. Diese hatten sich, bevor sie nach Dessau an das Philanthropin gingen, in Straßburg zusammen mit Johann Christian Ehrmann und Christoph Kaufmann 192 Vgl. Adler: Herausforderung (wie Anm. 188), S. 62. 193 Sadowsky: Agrarromantik (wie Anm. 186, S. 281), S. 144. 194 Vgl. Rudolph Zacharias Becker: Versuch über die Aufklärung des Landmannes. Nebst Ankündigung eines für ihn bestimmten Handbuchs. Dessau und Leipzig 1785, S. 35. 195 Ebd., S. 37. 196 Johann Christian Schmohl an N. N. [vermutl. Christian Heinrich Wolke, M. L.], 10. November 1775, Nachlass Philanthropin Dessau, III. 4, p. 16r.
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zu einem Bruderbund zusammengeschlossen, mit dem langfristigen Plan, ein Landphilanthropin zu gründen. „Dabei wollten sie ohne Rangunterschiede auf einem physiokratisch genutzten Landgut eine Erziehungskommune errichten, wobei sie Volksaufklärung mit Erziehung zu verknüpfen hofften.“197 Diesen Ansatz verfolgten sie weiter, nachdem sie 1777 das Philanthropin verlassen hatten und stellten den Plan einer derartigen Schulanstalt in ihrem gemeinsamen Werk Einiger vom Dessauischen Philanthropin abgegangenen Lehrer Gedanken über die wichtigsten Grundsätze der Erziehung und die darauf gegründete Einrichtung einer Erziehungsanstalt dar: So sollten die „Hauptgegenstände“, mit denen sich diese Anstalt „vorzüglich beschäftigen wird […] 1. Landwirthschaftliche Oeconomie und 2. Erziehung des Menschen“ sein. Ihr „einziger Hauptzweck“ sei „die vernünftige Verbesserung beider wichtigen Angelegenheiten für das Glück des geselligen Lebens“.198 Bei der Verbesserung der Landwirtschaft solle das Landinstitut „zu einem practischen Beispiel öffentlich dargestellt werden“, sodass es „Jeder der Lust“ habe, nachahmen könne: „Es soll ein redendes Besipiel seyn das durch Erfahrung“199 überzeuge. Den Bauern sollten Wege gezeigt werden, wie sie nicht durch erhöhte Arbeitskraft, aber aufgrund „einer vernünftigeren Arbeitsamkeit […] zwey [bis] dreymal so viel Producte zum allgemeinen Wohl des Landes und besonderen Vortheil der Familien ziehen als [es] gewöhnlich“200 der Fall sei. Während sich Schmohl nach dem Tod Mochels und dem Bruch mit Simon und Schweighäuser von der Pädagogik abwandte, vertrat er viele dieser 1779 gefassten Grundsätze zur ökonomischen Verbesserung der Landbevölkerung weiter. Er spricht sich gegen die Aussage aus, die Aufklärung würde dem Bauern schaden, auch wenn er gleichzeitig zugibt, dass man wohl schon negative Erfahrungen gemacht habe, ohne konkrete Beispiele zu nennen. Man solle jedoch nicht „aus ein paar einzelnen unglüklichen Erfahrungen einen nachtheiligen Schluß aufs Ganze“201 ziehen. Auch ist Schmohls hier geäußertes, allgemeines Verständnis von Aufklärung deutlich auf die Landwirtschaft ausgerichtet, da „[b]ei keinem Handwerk, keiner Kunst, […] so viele Wissenschaften nüzlicher angewendet werden“ könnten, „als beim Akkerbau“. So hebt Schmohl hervor, dass er „unter Aufklärung nicht die Einsicht in die Falschheit und Ungereimtheit der meisten Religionslehren; sondern
197 Niedermeier: Mitteldeutsche Aufklärer (wie Anm. 20, S. 18), S. 96. 198 Schmohl u. a.: Einiger (wie Anm. 62, S. 25), S. 92, Hervorh. i. Orig. – Ich verzichte bei den wörtlichen Zitaten dieses Werkes auf die Übernahme der besonderen, extra von den vier Lehrern entwickelten Zeichensetzung, welche im Vorbericht des Werkes erklärt wird und „die richtige Declamation“ (ebd., S. VI) des Textes ermöglichen sollte. 199 Ebd., S. 154. 200 Ebd., S. 155. 201 Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 39.
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bessere theoretische und praktische Einsicht und Geschicklichkeit in seinem Fach, in der Landwirtschaft“202 verstehe. Ähnlich wie Rudolph Zacharias Becker ist Schmohl der Meinung, dass ein aufgeklärter Bauer für die anderen Stände keine Gefahr darstelle. Im Unterschied zu Becker verbindet Schmohl diese Aussage mit einer eindeutigen Bedingung hierzu, die gleichsam als unverhohlene und selbstsichere Drohung formuliert ist. So müssten sich, wenn der Bauer eine höhere Aufklärung erlange, auch die restlichen Stände beziehungsweise die Herrschenden einer höheren Aufklärung unterziehen. Nur wenn sie den Bauern angemessen behandelten, könnten sie mit diesem in Ruhe zusammenleben: Daß der vernünftigere und bravere Bauer mit seinem Stand unzufrieden sein und seine Wissenschaften und höhern Kräfte misbrauchen wird, ist nur dann zu fürchten, wenn die höhern Stände nicht zugleich mit vernünftiger und braver werden. Hört der Bauer auf, Vieh zu sein, und der Fürst will nicht auch aufhören; so ist der freilich mehr in Gefahr als jezt, da der Bauer seine Menschenrechte so wenig kent, als der Fürst.
In den Augen „böse[r] Christen“ und „tolle[r] Fürsten“203 sei es hingegen nicht schlimm, wenn die Bauern die ihnen zustehenden Rechte nicht so genau kennen würden. Auch in seinem Artikel von 1781 spricht sich Schmohl in diesem Zusammenhang für eine Einrichtung landwirtschaftlicher Erziehungsanstalten aus. Eine Verbesserung der Landwirtschaft sei nicht ohne die gleichzeitige Verbesserung der Landschulen möglich, die den Bauern zu einer besseren Wirtschaft ausbildeten. Zwar könne auch sehr viel über „Polizeianstalten, Preisaussezungen, Belohnungen“ erreicht werden; dieser Weg führe jedoch immer „langsamer zum Zweck und nie so weit, als wenn Erziehung vorangeht.“204 Gleichzeitig übt Schmohl gerade an der pädagogischen Volksaufklärung heftige Kritik. So schreibt er in der Urne Mochels, dass den Bauern gerne zum Vorwurf gemacht werde, sie wären steif oder hartnäckig, weil sie gerne Neuerungen verwürfen, selbst „wenn man ihren Verstand auch noch so sehr von ihrer Vernünftigkeit und Nutzen überzeugte.“205 Schmohl vertrat jedoch auch hier einen verständnisvolleren Standpunkt und hebt hervor, dass es nicht die Schuld des Bauern sei, wenn er eine als sinnvoll angesehene Neuerung nicht annehme. Statt die Ablehnung dem Bauern anzukreiden, solle man stattdessen „die Schuld auf seine eigene Unfähigkeit“ schieben, da man nicht in der Lage war, dem Bauern die Nützlichkeit verständlich genug zu machen. So könne der Bauer nur nach seiner Natur handeln und sei hierbei wie „[e]ine Jahrhunderte lang in Felsen gewurzelte Eiche“. Der Volksaufklärer, der verzweifelt versuche, den Bauern zu überzeugen, sei wie ein Knabe, der versuche, diese Eiche „mit seinem stumpfen Taschenmesser ab[zu]schneiden.“ Da dies 202 203 204 205
Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd. Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 77 f.
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nicht funktionieren könne, solle man nicht über die Stärke der Eiche schimpfen, sondern lieber „die Worte Plumpheit, Grobheit, Unsittlichkeit, Flegeley“ auf jenes eigene Schimpfen übertragen. Zudem solle man, wie Schmohl ironisch hinzufügt, „Gott um mehrere Kräfte“ bitten, damit diese den augenscheinlich höheren Kräften „des Bauers wenigstens, das Gleichgewicht halten“206 könnten. Um einen Bauern umstimmen zu können, müsse man ihn, statt ihn überreden zu wollen, von einem Ziel überzeugen: „[E]ntwickelt ihm nur die beglückenden Seiten eures werthen Gegenstandes, so fühlbar für sein Herz, daß er alle Welt dafür hingäbe, und ihr werdet sehn, der Bauer kann für das Gute, das er kennt, sobald ers kennt, eher Leib und Leben lassen, als ihr.“207 Eine weitere Möglichkeit bestehe darin, ähnlich wie es der Plan des Landphilanthropins vorsah, eine Verbesserung direkt vorzuführen, um den ihr innewohnenden Vorteil zu demonstrieren. Wie Schmohl in seiner Kameralistischen Reise durch das Fürstenthum Anhalt beschreibt, habe er zuerst mit Argumenten und Appellen seine eigenen Eltern davon zu überzeugen versucht, eine versumpfte Wiese, die zum Hof seines Vaters gehörte, trocken zu legen, um besseres Futter für das Vieh zu bekommen. Seine gut gemeinten Vorschläge seien jedoch nicht angenommen worden: „So oft ich, seitdem ich etwas Einsichten in die Oekonomie gekriegt, nach Hause gekommen war, hatte ich immer getrieben, man solle die Gräben erneuern, Sand über das Moos führen, […] und den Fleck dann mit Klee und Grassamen besäen – aber immer umsonst.“ Bei derartigen Rückschlägen solle man es „sich gar nicht verdrießen lasen, daß der Bauer sich vor jeder Neuerung scheut, und lieber auf dem alten Weg des Schlendrians bleibt. Vorarbeiten muß man ihm, und Beyspiel geben.“208 Da Schmohl „den Anblik des versumpften Gartens durchaus nicht länger mehr ertragen“ konnte, griff er „endlich […] selbst zum Spaden und zur Schüppe“ um zu beweisen, dass „diese Gartenbesserung weit nützlicher sey, als die heurige Erndte von einigen Aeckern“.209 Sein Vater, der zuvor „immer andere Arbeiten vorschützte“, ließ nun, nachdem Schmohl „beynah den halben Sumpf heraus[geteicht]“ und bewiesen hatte, welchen Vorteil diese Entwässerung bringen könne, „sobald man mit bloßen Füßen es im Wasser aushalten konnte, Knechte und Tagelöhner hinterher seyn, und die Gräben nach meinem Plan tiefen und breiten, wie ichs haben wollte.“210 Nicht nur eine gewisse Hartnäckigkeit ist nach Schmohls Ansicht dafür verantwortlich, dass sich Landwirte gegen Neuerungen sträubten. In seinen 1781 im Deutschen Museum erschienenen Vermischten land- und staatswirtschaftliche Ideen beschreibt er, dass es auch der Fall sein könnte, dass „die klügern, arbeitsamern, ordentlichern Wirte von den dümmern, faulern und liederlichern beeinträchtigt und 206 207 208 209 210
Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 78, Hervorh. i. Orig. Ebd. Schmohl: Kameralistische Reise (wie Anm. 40, S. 21), S. 357. Ebd., S. 357 f. Ebd., S. 358.
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gehindert“ würden. Ein landwirtschaftlicher „Verbesserer“ könne „nicht ohne Feinde und [N]eider existieren. Letztere geben ihrem Widerwillen den Schein des Rechten, und suchen die bessere Kultur wieder zu ruinieren, unter dem halb unverständigen, halb boshaften Vorwand, als schade sie ihnen.“211 Doch auch auf der Ebene der Landesverwaltung gäbe es oft Kräfte, die eine sinnvolle Neuerung verhinderten. Zwar seien es nicht immer „Schurken von Advokaten“, die eine Partei aufhetzten, wie es Schmohl mit wenig Sympathie für Juristen ausdrückt. Auch in den landesherrlichen Behörden könne es grundlos zu Widerstand kommen: „Es finden sich immer in der Kammer einige, die etwas Gutes blos deswegen nicht wollen, weil andere es wollen.“212 In Folge eines solchen, sich immer ausweitenden Konfliktes, würde, „nachdem alle Verbesserungskosten verloren gegangen“ seien, letztendlich doch alles „beim Alten“ bleiben „und die unglücklichen Folgen der Neuerung geben den Vorurtheilen dagegen eine neue Kraft.“213 Bei derartigen Verwerfungen wäre es zudem kein „Wunder, wenn sich nicht auch die Geistlichkeit drein mengt, Gründe aus der Religion, aus dem Kirchenrecht und jede piam fraudem [frommer Betrug, Anm. M. L.] darwider ins Spiel bringt.“214 Nach Schmohls Argumentation führen also bei den Bauern nicht aufgeklärte Neuerungen an sich beziehungsweise die Angst vor diesen zu einer Ablehnung. Stattdessen sieht er vor allem die Missgunst und den Neid anderer Bauern als einen Grund an, dass sich Bauern bei Veränderungen zurückhielten. Ebenfalls würden die „meisten Verbesserungsanstalten“ die finanziellen Vorteile, die Bauern von einer Verbesserung hätten, „nicht genug fühlbar und reizend“ machen. Doch auch hier sei „Edikt, Beschreibung der Vortheile, und selbst Preis und Belohnung […] nie so mächtig als Beispiel“.215 Da es jedoch aufgrund des potenziellen Neides nicht sinnvoll wäre, einen einzelnen Bauern als ‚Vorreiter‘ einzuspannen, um an dessen Wirtschaft die verbesserten Methoden zu demonstrieren, sieht Schmohl den Landesherren in der Pflicht: „Alle gute[n] Verbeserungen solten die Fürsten zuerst auf ihren Domänen einführen lassen.“ Es sei „ausserordentlich“, welchen Einfluss der Fürst nach Schmohls Meinung hierdurch auf die Verbesserung der Landwirtschaft nehmen könnte und doch würde „keine Reformationsmethode weniger befolgt als diese, die vernünftigste, einfachste, natürlichste und zugleich unmittelbar für den Fürsten die vortheilhafteste!“216 Statt eine Verbesserung der Landwirtschaft durch eine vorbildhafte Lehranstalt zu demonstrieren, wie noch 1779 zusammen mit seinen ehemaligen Freunden vorgeschlagen, fällt diese Aufgabe nach Schmohls Plan nun den Domänengütern des Landesherrn zu. Die hier vorgeführten landwirtschaftlichen Verbesserungen öffne211 212 213 214 215 216
Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 40. Ebd. Ebd., S. 40 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 41, Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd.
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ten „den Bauern in der Nachbarschaft zuverlässig die Augen, und die augenscheinlichen glüklichen Folgen reizen sie zur Nachahmung, und ein Dorf das andere.“217 Da es sich hierbei um staatliche Einrichtungen gehandelt hätte, scheint Schmohl nicht davon ausgegangen zu sein, dass es zu Neid oder Missgunst gekommen wäre. Während hiermit die Aufklärung zwar auch ‚von oben‘ zu den Bauern weitergereicht worden wäre, sollte die Annahme der landwirtschaftlichen Verbesserungen freiwillig bleiben und alleine durch die praktische Demonstration überzeugen. Ein weiterer Grund, weshalb landwirtschaftliche Verbesserungsvorschläge von Bauern abgelehnt würden, sei daneben auch bei den Volksaufklärern selbst zu suchen. So seien es zwar, wie Schmohl am Anfang seines Artikels schreibt, „[n]icht immer […] die Mängel der Bücher über die Landwirtschaft, die den praktischen Landwirt wider sie eingenommen“ hätten. Diese Aussage revidiert er jedoch direkt, da es seiner Ansicht nach „in keiner Art Schriften mehr“ falsche „Erfahrungssäze und erbärmliche[] Beobachtungen“218 gäbe als in den ökonomischen Ratgebern zur Landwirtschaft. Wenn diese einmal nicht falsch seien, so ständen ihre „vorgeschlagenen Verbesserungen“ oft in einem „ungleiche[n] Verhältniß“ zu den „Kräfte[n] des Bauers […], das die besten Schriften unnüz für ihn“ mache. Meist sei der Bauer auch „nicht einmal im Stande“, sich die ökonomischen Schriften „anzuschaffen und zu lesen.“ Dies sei nach Schmohls Meinung auch nicht nötig, wie er ironisch mit Blick auf die gelehrten Volksaufklärer anmerkt, da der Bauer „freilich kein Professor der Kameralien werden [solle], der, vor lauter theoretischer Weisheit, weder Futterklinge, noch Flegel, noch Pflug zu führen“ wisse. Gleichzeitig könne man sich aber auch keinen Bauern wünschen, der „immer ohne die geringste Kentnis von der Natur der Erdarten, Pflanzen und Thieren […], in der grösten Unwissenheit des inländischen Handels, ohne alle Spekulationen, nach der Väter Weise, maschinenmässig sein Tagwerk“219 betreibe. Eine ähnliche Inkompetenz derjenigen, die eigentlich ihr Wissen verbreiten wollen, kritisiert Schmohl ebenfalls in seiner Rezension eines Werkes zum Dorf- und Bauernrecht. Dieses Recht stellte in Schmohls „Augen de[n] wichtigste[n] Theil der ganzen ungeheuerlichen Rechtsgelehrsamkeit“ dar, weil er besonders den Bauernstand betreffe und dieser – wie er erneut hervorhebt – „unter allen der verdienstvolleste und der verehrungswürdigste“ sei. Leider sei es jedoch so, dass die Angehörigen dieses Standes von ihren „Rechten und den Rechtsformalitäten, besonders als Mitglied des Staats“, kaum Kenntnis hätten und dadurch „ewig ein Schlachtopfer geldbegieriger Advokaten und langwieriger Prozesse seyn“ müssten. Gleichzeitig hätten auch die Richter, welche über diese Fälle urteilen müssten, keinerlei Ein-
217 Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 41. 218 Ebd., S. 37. 219 Ebd., S. 38.
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sicht in die „Gegenstände und Umstände der Streitigkeiten“,220 sodass sie selten zum Wohl der Landwirtschaft und des Landes selbst entscheiden würden. Um diesen Missstand zu beheben, schlägt Schmohl vor, dass das Dorf- und Bauernrecht einerseits in Landschulen gelehrt werden müsse, um diesen juristischen Bereich der Landbevölkerung nahezubringen. Andererseits müsse auch den Jurastudenten an der Universität dieses Recht gelehrt werden. An dieser Stelle wird besonders deutlich, was Schmohl darunter versteht, wenn er davon spricht, dass die Landbevölkerung und die restlichen, ‚höheren‘ Stände im gleichen Maße aufgeklärt werden müssten. Ein Lehrbuch zum Dorf- und Bauernrecht könnte nach Schmohls Meinung aufgrund der großen territorialen Heterogenität Deutschlands entweder nur das Recht eines Landes enthalten oder müsste, um überall Geltung zu haben, alle Regelungen aufzählen und hierbei auch genau vermerken, wo dieses Recht Geltung habe. Außerdem müsste es besonders aktuell sein, da sich „auch die positiven Gerechtsame und Verbindlichkeiten der Menschen […] mit den Zeiten immer veränder[te]n, und die heutigen Richter nur nach den heutigen Gesetzen entscheiden müssen“. Zudem müsse sich der Autor mit der Landwirtschaft auskennen: „Daß man aber kein Dorfund Bauernrecht schreiben, darüber keine Collegien lesen könne, wenn man keine Sylbe von der ganzen Landwirthschaft versteht, und weder Kix noch Kax vom Bauernstand weiß, bedarf wohl keiner langen Beweisführung.“221 Diese Bedingungen – und besonders die letzte – erfüllte der Autor der von Schmohl rezensierten Grundsätze des Dorf- und Bauernrechts, Ludwig Friedrich Gabcke (1756–1785), nicht. Auch wenn Schmohl schreibt, dass er dieses Werk verschlungen habe, da er „[e]in solches Buch zu kennen, […] schon lange begierig gewesen“ sei, könne er „doch nichts weiter daran als den Fleis“ des Verfassers loben, mit dem dieser „hunderterley Schriften, in denen die Materialien zerstreut lagen, kompilirt“222 habe. Hierin liege jedoch auch das Problem der Arbeit, „[d]er Herr Doktor Gabke“ schien, wie Schmohl bemerkte, „seine ganze Kenntnis“ zu diesem Thema lediglich „aus Büchern gesammelt zu haben, die bey der größten Unvollständigkeit schon über hundert Jahre alt“ gewesen seien und daher „viel Dinge enthalten, die heut zu Tag nicht mehr gelten“. Zudem konnte sich Schmohl den Seitenhieb auf das Lateinische, das selbst im 18. Jahrhundert oft noch als ‚Gelehrtensprache‘ angesehen wurde, nicht versagen, wenn er kommentiert, dass Gabcke die Werke nicht deshalb „gar nicht einmal verstanden“ habe, „weil sie zum Theil Lateinisch geschrieben waren, sondern weil ihm die Landwirthschaft so wild fremd“223 gewesen sei.
220 Johann Christian Schmohl: Vom Dorf- und Bauernrecht. Eine Rezension. In: Ders. (Hg.): Sammlung (wie Anm. 35, S. 21), S. 421–433, hier S. 421. 221 Ebd., S. 422. 222 Ebd., S. 423. 223 Ebd.
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Geradezu genüsslich zählt Schmohl in seiner Rezension die zahlreichen Fehler auf, die Gabcke seiner Meinung nach aus reiner Unwissenheit bezüglich landwirtschaftlicher Themen begangen habe. Der Ton dieser Widerlegung ist meist voll beißender Häme dem Autor gegenüber. Besonders persönlich wird Schmohl im Bezug auf die falsche Definition der Kossäten, was ihn, aufgrund seiner Herkunft, direkt betraf. Hier könne bewiesen werden, dass Gabcke die „alte[n] und sehr unvollständige[n] Bücher“, die er „bey seinem Kompiliren gebraucht hat, […] gar nicht verstanden [habe], und nicht einen Funken lebendiger praktischen Erkenntnis von den Gerechtsamen des Bauerstandes und der Landwirthschaft“ besitze. So habe er, wie Schmohl mit einer weiteren Spitze gegen das Lateinische ausführt, die Kossäten wohl deswegen mit den Häuslern verwechselt, „weil die lateinischen Hanse beyde Casatos“224 genannt hätten. Nun hätte es jedoch gereicht, wenn Gabcke hinaus gegangen wäre, wie Schmohl „den Herrn Doctor“ auffordert, und den erstbesten „Ochsenjungen“225 nach der Definition des Kossäten gefragt hätte. Dass seine Kritik aufgrund ihrer Häme und den persönlichen Angriffen Gabcke gegenüber zu hart gewesen sein könnte, scheint auch Schmohl am Ende seiner Rezension aufgefallen zu sein: „Es dauert mich übrigens, daß ich von dem Mann, von dem ich, weil ich ihn gar nicht kenne, eben so wenig Böses als Gutes weiß, nicht schoneneder habe reden können.“ Seine Entscheidung, dennoch diese harte Kritik verfasst zu haben, begründet er mit dem Argument, Gabckes Buch sei letztendlich „zum Gebrauch für junge oft gleich unwissende Leute bestimmt, die einst als Richter nach den darinn enthaltenen Sätzen urtheilen möchten“ und dadurch „wirklich Schaden verursachen könnte[n].“226 Auch dürfe man den in Halle lehrenden Professor der Jurisprudenz, Daniel Nettelbladt (1719–1791), unter anderem Lehrer von Johann Heinrich Casimir von Carmer, Carl Gottlieb Svarez (1746–1798) und Ernst Ferdinand Klein (1744–1810), nicht dafür kritisieren, dass er als Autor der Vorrede „die Deutlichkeit, Gründlichkeit und Vollständigkeit des Buchs gerühmt“ habe. Man solle deswegen keinesfalls, wie es Schmohl erneut spitz formuliert, „an der Richtigkeit seines Begriffs von Deutlichkeit, Gründlichkeit und Vollständigkeit, oder gar an seinem denkenden sachkundigen Kopfe zweifeln“, denn Nettelbladt habe „sich offenbar nicht die Mühe genommen“, das Buch Gabckes durchzublättern. Gleichzeitig konnte er diesem auch nicht einfach ein entsprechendes Zeugnis „abschlagen, je mehr er wußte, daß es der Herr Doktor brauchte.“ Seine Rezension schließt Schmohl mit dem weiterhin ironischen Kommentar, man könne das fehlerhafte Urteil in Nettelbladts Vorwort „auch von einer andern Seite ansehn, und was er oft im Scherz sagt, daß der Jurist gewissenlos seyn muß, so endlich für seinen baaren Ernst annehmen.“227 224 225 226 227
Schmohl: Bauernrecht (wie Anm. 220, S. 289), S. 425, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 426. Ebd., S. 433. Ebd., Hervorh. i. Orig.
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Neben Schmohls Anliegen, durch seine Rezension künftige Juristen davor zu bewahren, sich bei Fällen zum Dorf- und Bauernrecht auf Gabckes Werk zu stützen, dürfte ihn ebenfalls seine Ablehnung des ‚sogenannten gesitteten Standes‘ zu dieser mokanten Kritik veranlasst haben. Das Bedürfnis der damaligen Bildungselite, die Landbevölkerung aufzuklären, weil sie davon ausging, sie würde sich durch ihre höhere Bildung mit der Materie besser auskennen als die Bauern – sei es in der Landwirtschaft selbst oder im juristischen, den Bauern betreffenden Bereich –, scheint Schmohl verärgert und zu diesen despektierlichen Texten veranlasst zu haben. Sie zeigen, dass er fest davon überzeugt war, nur dann zur Forschung und zum Fortschritt beitragen zu können, wenn man wirkliche – das heißt: praktische – Erfahrung in einem Feld erlangt hatte. Lediglich auf Grundlage von Lektüre war dies – jedenfalls im Bereich der Landwirtschaft – nicht möglich, sondern erforderte die Praxiserfahrung durch unmittelbare Arbeit auf dem Land. Schmohl selbst war aufgrund seiner Herkunft, seines Zugangs zu und seines Verständnisses für Bauern davon überzeugt, diese Verbindung von bäuerlicher und wissenschaftlich-universitärer Welt leisten zu können. Diese Art des praktisch versierten, landwirtschaftlichen Wissenschaftlers könnte für ihn in diesem ökonomischen Bereich ein zukünftig zu erreichendes Ideal dargestellt haben. Gleichzeitig erklärt dies auch, weshalb Schmohl selbst nicht allen Forderungen der ökonomischen Aufklärung ablehnend gegenüberstand, sofern sie ihm als umsetzbar und vorteilhaft erschienen: Er selbst war, wie viele seiner Aussagen belegen, fest von den Vorteilen der Stallfütterung von Nutztieren überzeugt, was mit einer Ablehnung der Hut und Trift einherging. Diese Überzeugung deckte sich mit den Bemühungen vieler landwirtschaftlicher Volksaufklärer. Entsprechend konsequent ist es also, wenn für Schmohl feststand, dass man im akademischen Bereich zwar „viel Verdienst“ haben könne, es einem aber dennoch unmöglich sei, „Sachen, zu deren Erkenntnis sinnliche und praktische Erfahrung nöthig sind, nimmermehr in der Stube und blos aus Büchern“228 zu erlernen. Ebenfalls fände man „den besten Vortrag eines akademischen Lehrers trocken und ekelhaft“, wenn man „nicht auf dem Lande erzogen, nicht viel in den Werkstätten der Handwerksleute herumgegangen [sei], und noch gar keine lebendige deutliche Ideen von den Gegenständen“ erworben hätte. Zudem würde „sich mancher den Cameralwissenschaften widmen, der noch nicht Gerste von Haber zu unterscheiden weiß, und gar keine Lust zu diesem Studium“ habe. Würden diese Personen, die möglicherweise in „andern Fächern oft äußerst geschickt[]“ seien, erst nach und nach in ihrem Bereich die entsprechenden praktischen Qualifikationen erwerben, könne „das nicht anders als auf große Unkosten der Unterthanen geschehen“.229 Im Umkehrschluss wäre es nach Schmohls Theorie wohl sinnvoller und günstiger gewesen, die Landwirtschaft direkt von Menschen erforschen zu lassen, die in einem 228 Schmohl: Anmerkungen (wie Anm. 86, S. 29), S. 446. 229 Ebd., S. 447.
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landwirtschaftlich-bäuerlichen Umfeld aufgewachsen waren: Bei ihnen wäre – im Vergleich zu bürgerlichen Studenten – das nötige Vorwissen vorhanden gewesen und mit höherer Wahrscheinlichkeit auch das allgemeine Interesse, sich mit diesem Thema zu befassen. Neben der Kritik an der landwirtschaftlichen Inkompetenz von Akademikern scheint Schmohl – anders als viele Vertreter des ‚sogenannten gesitteten Standes‘ – nicht die Notwendigkeit empfunden zu haben, dass die Bauern von anderen aufgeklärt werden müssten. Er traut ihnen stattdessen zu, dass sie hierzu alleine in der Lage seien, wenn sie die entsprechende Möglichkeit erhielten. Auch hierbei schätzte er die praktische Erfahrung als wertvoller ein als das theoretische, durch Lektüre vermittelte Wissen. Diesen Zweck erfüllten in seiner Theorie die vorbildlichen Domänen eines Landes oder der Bauer reiste in seiner Jugend selbst, durch die Aufklärung dazu in die Lage versetzt, wie ein walzender Handwerksgeselle durch das Land, um bei erfahrenen Bauern Wissen zu akquirieren. So berichtet Schmohl in seinem Reisebericht durch das Elsass von einem aufgeklärten Bauern bei Straßburg, der zwar im Besitz einer Bibliothek mit „viele[n] vortreffliche[n] Schriften von der Landwirthschaft“ gewesen sei, aber dennoch „sehr heftig auf die ökonomischen Bücher“ geschimpft habe: „Das beste, sagte er, ist das Reisen, gute Landwirthe aufsuchen, sich mit ihnen unterreden, ihre Methode studiren, und sie mit ihren Anmerkungen sich aufnotiren.“230 Eine Vorbildfunktion könnten einerseits die bereits erwähnten Domänen erfüllen. Andererseits scheint Schmohl jedoch den Typus des aufgeklärten Bauern zu bevorzugen, welcher bereits in der frühen ökonomischen Aufklärung als Experte im landwirtschaftlichen Bereich ‚entdeckt‘ wurde.231 Schmohls Kritik an der Überheblichkeit der nicht-bäuerlichen Volksaufklärer konnte die weitere Pädagogisierung der landwirtschaftlichen Aufklärung nicht dämpfen. Im Gegenteil verstärkte sich diese Entwicklung nach seinem Tod noch weiter, da die Stimmen, die vor einer unkontrollierten Aufklärung des Bauern gewarnt hatten, unter dem Eindruck der Französischen Revolution sowohl Verstärkung als auch Bestätigung fanden. Daher wurde stärker darauf geachtet, welches Wissen dem Bauern vermittelt wurde und welches ihm besser vorzuenthalten sei.232 Eine mit Schmohls Positionen vergleichbare Kritik, die zudem nicht aus der gebildeten Schicht, sondern von einem Landwirt stammte, lässt sich erst lange nach seinem Tod im 19. Jahrhundert finden. So kritisierte in den 1830er-Jahren, wie Verena Lehmbrock in einem ausführlichen Artikel darstellt, der bayrischer Halbbauer Michael Irlbeck (1786–1869) in einem, dem bayrischen landwirtschaftlichen Verein vorgelegten Manuskript die Inkompetenz der ökonomischen Volksaufklärer, die „in Wahrheit“ nur versuchten, mit ihren „landwirtschaftlichen Schriften die eigene ge230 Schmohl: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 240. 231 Vgl. Böning: Entgrenzte (wie Anm. 181, S. 281), S. 17. 232 Vgl. Adler: Herausforderung (wie Anm. 188, S. 282), S. 69; Siegert: Volksaufklärung (wie Anm. 180, S. 280), S. 423 f.
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scheiterte Existenz zu sanieren“, aber sich noch nie zuvor „je durch Landwirtschaft selbst ernährt“233 hätten. Wie Schmohl sah auch Irlbeck den Bauern als alleinigen Experten auf dem Gebiet der Landwirtschaft an.234 ‚Alle Unterthanen sind Knechte oder Sklaven‘ Dass überhaupt etwas an der Landwirtschaft – oder auch an den Lebensbedingungen der Bauern – verändert und verbessert werden könne, müsse den zukünftigen Bauern schon in der Landschule beigebracht werden. Hierbei sieht Schmohl die Geschichte als das wichtigste hier vermittelte Fach an, wie er in seinen Vermischten land- und staatswirtschaftliche Ideen schreibt: Die Kenntnis der Geschichte „entflammt zu Thaten; Vorgang reizt zur Nachfolge.“235 Für seine eigene Zeit konstatiert Schmohl, dass der Bauer davon ausginge, es sei „immer so gewesen, wies ist“. Daher denke er auch, es müsse „immer so bleiben, wies war. Weiß er aber, daß es nicht immer so gewesen ist, daß die Vorfahren, wenn sie etwas fehlerhaft fanden, es mutig geändert haben, weis er gar, wie andere, die von denselben Fehlern, welche ihn drükken, auch gedrükt worden sind, sich davon befreiten; er wird sich schon eher helfen.“236 Nach Schmohls Vorstellung griffen die Bauern zu dieser Selbsthilfe, wenn sich die restlichen Stände – wie bereits erwähnt – nicht ebenfalls im gleichen Maße aufklärten und daher die Bauern schlecht behandelten. Worin diese schlechte Behandlung bestand und zu welchen negativen Lebensumständen sie bei der Landbevölkerung führte, verdeutlicht er in seinem Artikel Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft, welcher zuerst 1783 in der Berlinischen Monatschrift erschien und im gleichen Jahr ebenfalls in den Jahrbüchern des Geschmacks und der Aufklärung 237 abgedruckt wurde. Fünf Jahre nach seinem Erscheinen wurde er zudem als Übersetzung in einer dänischen Textsammlung veröffentlicht,238 und erreichte damit von Schmohls Aufsätzen die wohl weiteste Verbreitung. Ausgangspunkt dieses Artikels ist das 1780 erschienene Buch Abhandlung von dem Geldsumlauf Johann Georg Büschs (1728–1800), einem Professor für Mathematik des Hamburger akademischen Gymnasiums sowie Leiters der dortigen Handelsakademie. In seinem Werk hatte Büsch die These aufgestellt, Knechtschaft habe sich aus dem Umstand ergeben, dass sich Menschen eigennützig der Versorgung är233 Verena Lehmbrock: Agrarwissen und Volksaufklärung im langen 18. Jahrhundert. Was sehen historische Gewährsleute und was sehen ihre Historiker/innen? In: Martin Mulsow (Hg.): Was als wissenschaftlich gelten darf. Frankfurt a.M. u.a. 2014 (Campus Historische Studien 70), S. 485–514, hier S. 492. 234 Vgl. ebd., S. 495. 235 Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 38. 236 Ebd., S. 38 f. 237 Schmohl: Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft (wie Anm. 113, S. 33). 238 Ders.: Om Oprindelsen til Trœldom i det borgerlige Selskab (wie Anm. 113, S. 33).
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merer Menschen angenommen hätten. Diesen Menschen sei es jedoch in der Folge nicht mehr erlaubt gewesen, die Person, die sie versorgt habe, zu verlassen, da diese nun im Gegenzug die Erfüllung von Diensten erwartete. Somit stellte nach Büschs Ansicht die Knechtschaft ein wirksames Mittel für arme Menschen dar, zu einem sicheren Einkommen zu gelangen. Diese Abhängigkeit sei nicht durch Gewalt entstanden, sondern ist nach Büschs Argumentation als frei abgeschlossener Vertrag anzusehen, der nicht nur die eigene Lebenszeit umfasste, sondern – zu ihrer Sicherheit – auch die aller Nachkommen.239 Dieser Darstellung widerspricht Schmohl, da ihm keine Fälle bekannt seien, bei denen sich Menschen „freiwillig in eines Andern Knechtschaft“ begeben hätten: „[M]an gab sich nie hinein, um ein sicheres fortdauerndes Auskommen zu haben, sondern um Verfolgung, Tyranneien, Mishandlungen auszuweichen, die weit fürchterlicher als die Knechtschaft waren.“ Den Menschen sei es nach Schmohls Meinung schon immer lieber gewesen, frei zu leben und ihren eigenen Boden zu bewirtschaften, statt „sich einem Andern freiwillig ins Joch [zu begeben] – wenn dies freiwillig heißen kann.“240 Seine Argumentation belegt Schmohl mit historischen Beispielen. So habe Gaius Iulius Caesar (100–44) in seinen Commentarii de Bello Gallico beschrieben, wie die Gallier ihren Oberhäuptern alle Macht übertragen hätten, um im Gegenzug Schutz von ihnen zu erhalten. Hierdurch habe das Volk keinerlei Selbstbestimmung mehr gehabt und sei „zum Sklavenstande herabgesunken“,241 wie Schmohl das 11. und das 13. Kapitel des sechsten Buches der Commentarii sinngemäß zusammenfasst. Schmohl kommentiert weiterführend, er gehe davon aus, dass „solche selbstgewählte[n] Verteidiger“ sich natürlicherweise „zuletzt in Unterdrükker“ verwandelten: Zuerst sei den Menschen ihr Landbesitz genommen worden, der „zu Feudal- oder gar Domanialgütern“ umgewandelt wurde. „Die allgemeinen Gewaltthätigkeiten zwangen den Schwächern, seine Freiheit aufzuopfern, um Leben und Sicherheit, nicht gegen Mangel, sondern gegen die Eingriffe des Mächtigen zu retten.“ Danach hätten „despotiesüchtige Fürsten“242 in den von ihnen gegebenen Gesetzen einen großen Unterschied zwischen freien Landbesitzern und den eigenen, nun unfreien Lehnsträgern zugunsten der Letzteren gemacht. Auch dieser Umstand hätte die Menschen in die Knechtschaft gedrängt, da sie Angst gehabt hätten, als Freie aufgrund der rechtlichen Benachteiligung nicht überleben zu können. Zusammenfassend konstatiert Schmohl: „Mangel an Gebrauch seiner Menschenrechte und Kräfte wars, was die Knechtschaft, wie den Mangel der Nahrung, verursachte.“243 239 Vgl. Johann Georg Büsch: Abhandlung von dem Geldsumlauf in anhaltender Rücksicht auf die Staatswirtschaft und Handlung. Hamburg u. Kiel 1780, S. 8–12; sowie die entsprechenden Stellen in Schmohls Text: Schmohl: Ursprunge (wie Anm. 113, S. 33), S. 336–338. 240 Ebd., S. 338. 241 Ebd. 242 Ebd., S. 339. 243 Ebd., S. 339 f.
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Auch sieht Schmohl im Gegensatz zu Büsch keinen Zusammenhang zwischen der Einführung von Geld und der Abnahme von Sklaverei. Stattdessen behauptet Schmohl: „Wir wissen im Gegentheil, daß in der alten Welt nach der Einführung des Gelds die Knechtschaft viel gemeiner ward; wie denn das Geld überhaupt mit der Knechtschaft in wenig andrer Verbindung steht, als daß je mehr Geld in einem Lande ist, desto mehr Knechtschaft darin entsteht.“244 Zuvor hatte Schmohl ausgeführt, dass bei Gesellschaften, die ihren Lebensunterhalt vor allem mit der Jagd bestreiten würden, kaum mit Knechtschaft vergleichbare Abhängigkeiten der Menschen untereinander zu finden wären, da sie alle ähnlich wenig Eigentum besäßen. Mit zunehmendem Unterschied des Besitzes sei es ebenfalls zu einer Zunahme der Knechtschaft gekommen. Dieses Urteil belegt Schmohl nicht nur mit historischen Beispielen, nach denen beispielsweise in Griechenland mit zunehmendem Reichtum auch die Zahl der Sklaven gestiegen sei,245 sondern weitet es ebenfalls auf seine eigene Zeit aus. Hierbei nimmt er eine interessante Gleichstellung von bäuerlicher Knechtschaft und Sklaverei vor: „In Europa ist itzt die Sklaverei – nicht namentlich, aber der Sache nach – größer als ehemals. Alle Unterthanen sind Knechte oder Sklaven; da ist kein Unterschied mehr.“ Dieser Umstand sei für die Soldaten der stehenden Heere „schon lange behauptet“ worden. Schmohl führt nun dasselbe für die Situation der unfreien Untertanen eines Landes an: Diesen habe „man ja auch schon in manchem Lande verboten, aus ihrem Stande herauszutreten; man verbietet ihnen, außer Landes zu gehn; was fehlt denn an Leibeigenschaft, da der Fürst sie verkaufen kann, und Recht hat über ihr Leben und Tod?“246 Bei dieser rhetorischen Frage wird Schmohl in erster Linie die frühneuzeitliche Praxis des Soldatenhandels im Sinn gehab haben.247 So hatte er einen Fall dieses Verkaufs der eigenen Soldaten als Söldner nach Amerika in Anhalt-Zerbst erlebt, wie er in seinen kameralistischen Reisebeschreibungen durch seine Heimat berichtete. Hierbei kann er sich jedoch einen ironischen Unterton nicht verkneifen, da seines „Erachtens […] die Kompletierung und das Werbegeld weit mehr“ gekostet hätten als der Verkauf dem Fürsten eingebracht habe. Nach Schmohls Informationen konnte das verkaufte Regiment niemals vollzählig gewesen sein: „[D]ie meh244 Ebd., S. 342 f. 245 Welche Autoren Schmohl herangezogen hat, um seine Aussagen und Zahlen zu belegen, wird von ihm nicht erwähnt. Zudem ist die Gültigkeit der angegebenen Zahlen an dieser Stelle zweitrangig, da das Augenmerk auf der Art und Weise liegt, mit der Schmohl diese Zahlen argumentativ instrumentalisiert. 246 Ebd., S. 343. 247 Das Mieten von Kompanien oder Regimentern stellte, entgegen der allgemein entrüsteten Darstellung im Zusammenhang mit der Amerikanischen Revolution, keine ‚Erfindung‘ dieser nordamerikanischen Auseinandersetzung dar, sondern war vielmehr eine fest etablierte Institution der Kriegsführung des 18. Jahrhunderts. Im Falle der englischen Versuche, in Kontinentaleuropa Soldaten zu mieten, setzte jedoch in der aufgeklärten Publizistik empörte Kritik ein. Vgl. Michael Hochgeschwender: Die Amerikanische Revolution: Geburt einer Nation 1763–1815. München 2016, S. 213–214.
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resten die hintransportiert“ wurden, seien „unterwegens und vorher schon wieder desertier[t].“248 Mit den desertierten Söldnern sei nicht nur das Werbegeld verloren gegangen, sondern auch das Geld, das an den Fürsten ausgezahlt wurde, geringer gewesen als vorgesehen.249 Der Umstand, dass ein Herr das Recht über Leben und Tod seines Sklaven habe, beweist aus Schmohls Sicht ein weiteres Mal, „daß nur gewaltthätige Unterdrükkung, nicht freiwillige Ergebung um der Nahrung willen, die Knechtschaft erzeugt habe.“250 Es sei eine Beleidigung der Vernunft, wenn man davon ausgehe, der die „Freiheit gewohnte Mensch“ sei dazu fähig, sein „Leben für – Brot zu verkaufen.“251 So verlieren die Menschen – und Schmohl meint in diesem Zusammenhang im Selbstverständnis des 18. Jahrhunderts natürlich nur Männer mit ihrer Familie als ‚Anhängsel‘252 – unter dem Gesichtspunkt des frühneuzeitlichen Soldatenhandels nicht nur ihre Freiheit, sondern ebenfalls die Entscheidungshoheit über ihr eigenes Leben. Ihnen kann nicht nur untersagt werden, sich frei zu bewegen, sich eine andere Beschäftigung zu suchen oder den Lebenspartner frei zu wählen. Sie werden ebenfalls – unfreiwillig – als Söldner verkauft, wobei hingenommen wird, dass sie in ihren sicheren Tod verkauft werden könnten. Die Vergleichbarkeit der Situation der verkauften Soldaten mit der von Sklaven auf amerikanischen Zuckerplantagen erwähnt Schmohl eher am Rande. Auch diese Menschen hätten sich nicht „des sichern Auskommens wegen in die Sklaverei gegeben, sie wurden verkauft.“ In diesem Zusammenhang merkt Schmohl jedoch an, dass es gerade im Falle der Sklaven, die nach Amerika verschifft wurden, euphemistisch beziehungsweise zynisch sei, von einem ‚Auskommen‘ zu sprechen. So wendet er ein: „wenn man das Auskommen nennen kann, was dem Sklaven vom Herrn gelassen wird.“253 Dass Schmohl die amerikanische Sklaverei nur am Rande erwähnt, ist kein Indiz dafür, dass er diese Form der Sklaverei als weniger schlimm erachtete. Im Gegenteil 248 Schmohl: Kameralistische Reise (wie Anm. 40, S. 21), S. 406. 249 Bei den hohen Desertionszahlen, die in der frühneuzeitlichen Literatur angegeben werden, scheint es sich um einen populären Mythos gehandelt zu haben, dessen Ursprung – wie bei Schmohl – vermutlich in der Häme gegenüber den ihre Soldaten vermietenden Fürsten zu suchen ist. Vgl. Hochgeschwender: Amerikanische Revolution (wie Anm. 247, S. 295), S. 217. 250 Schmohl: Ursprunge (wie Anm. 113, S. 33), S. 343. 251 Ebd., S. 344. 252 Allgemein und pointiert zum Bild der Frau zur Zeit der Aufklärung mit besonderem Schwerpunkt auf der ‚radikalen‘ Sichtweise Diderots: Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 14, S. 3), S. 153–172. – In Einklang mit Iselin schreibt Schmohl jedoch in seinem unveröffentlichten Artikel Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie, dass „die Weiber“ in der ersten menschlichen Entwicklungsstufe von den Männern „wie Sklavinnen gehalten“ (Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 5r) worden seien. Ob dies in den späteren Zeiten ebenfalls der Fall sei, lässt Schmohl hingegen offen. In diesem Fall wird eine bestehende Unfreiheit jedoch sicherlich nicht als Sklaverei oder Knechtschaft angesehen worden sein. 253 Ders.: Ursprunge (wie Anm. 113, S. 33), S. 345, Hervorh. i. Orig.
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führt er dieses Beispiel eher in Form eines unzweifelhaften Beleges von eindeutig existierender Sklaverei an: So sind Bauern, die als potenzielle Söldner von ihrem Landesherren verkauft werden können, Schmohls Ansicht nach gerade deswegen ‚wahrer‘ Sklaverei unterworfen, weil auch die nach Amerika versklavten Menschen ihrer Freiheit beraubt und verkauft wurden. Diese Menschen werden von Schmohl nur deswegen mit knappen Worten bedacht, da er den Fakt, dass es sich bei ihnen um Sklaven handelt, als unzweifelhaft gegeben ansieht. Mit diesem für Schmohl über jeden Zweifel erhabenen Vergleich und mit der Untermauerung seiner Argumentation durch – seiner Ansicht nach – historisch gesicherte Belege aus der griechischen und römischen Antike, zeichnet er sein Gesellschaftsbild der europäischen Monarchien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese teilten sich zum einen in die Gruppe der freien Menschen auf, die größtenteils mit den Herrschenden und deren Familie identisch sind. Der Rest – die Untertanen – sind durch die Gesetzgebung „despotiesüchtige[r] Fürsten“254 in Abhängigkeit und Unfreiheit getrieben oder gezwungen worden. Diese Unfreiheit sei letztendlich als Sklaverei zu betrachten, „wenn man nicht auf Worte, sondern auf die Sache sehen will.“255 Somit ist für Schmohl die Situation der europäischen Untertanen, welche die Verfügungsgewalt über ihr eigenes Leben verloren hatten, mit der amerikanischer Sklaven vergleichbar. Durch das Heranziehen historischer Beispiele möchte Schmohl ebenfalls darauf verweisen, dass aus seiner Sicht der Ursprung dieser ‚versteckten‘ Sklaverei ein gewachsenes Phänomen darstellt und weiter zurück liegt, als das historische Erinnerungsvermögen der Menschen für gewöhnlich reicht. Hieraus ergibt sich die Verbindung zu seiner Forderung, die Aufklärung nicht ‚von oben‘ beginnen zu lassen, sondern ‚unten‘ bei den Bauern anzufangen und ihnen vor allem historische Bildung zugute kommen zu lassen. Durch diese werde es den Bauern ermöglicht, die Kette, durch welche sie in der Knechtschaft beziehungsweise der Sklaverei gehalten wurden und die man ihnen gegenüber über die Jahrhunderte hinweg als wohlgemeinte Notwendigkeit darstellte, zu erkennen: „Die Kette bleibt Kette, man vergolde und versilbere sie wie und soviel man will.“256 Seine Drohung, die Fürsten könnten es sich dann nicht mehr leisten, die Landbevölkerung ‚wie Vieh‘ – also wie Sklaven – zu behandeln, da die aufgeklärten Bauern sich ihrer Wirkungsmacht bewusst seien, ist dennoch mit der Hoffnung verbunden, die Lebensbedingungen der Bauern könnten im Einvernehmen mit den Herrschenden verbessert werden. Von einem unaufgeklärten Bauernstand gehe hingegen die Gefahr aus, dass dieser immer, also auch wenn es keinen Grund gebe, aufgewiegelt werden könnte. Für den Fall, dass keine derart aufgeklärte Übereinkunft zwischen den Untertanen und den Herrschern getroffen werden könne, sei diese alte Ordnung überholt. Für eine Veränderung würde in diesem Fall dann der aufgeklärte Bauer sorgen. 254 Ebd., S. 339. 255 Ebd., S. 347. 256 Ebd.
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Noch deutlicher beschreibt Schmohl sein ideales Gesellschaftsbild in dem auf der Flucht in Königsberg veröffentlichten Werk Ueber Nordamerika und Demokratie. Hier stellt er zuerst fest, dass es in einer Monarchie seiner Meinung nach überhaupt kein Volk gebe: „Uns erscheinen unter dem Volk wirklich leibeigne oder es kürzlich noch gewesene, der Sklaverey noch gewohnte Frohnbauern, Tagelöhner, Stadtgesindel, Bedienten, schmuzige Handwerker“, welche jedoch nicht als ‚Volk‘ bezeichnet werden könnten, sondern „mit den übrigen in den gemeinsamen Namen Unterthanen geworfen“257 werden müssten. Sie seien „der Landesherrlichen Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit unmittelbar unterthan“, worin ihr gesamtes Bürgerrecht bestehe. Unter dem ‚Volk‘ versteht Schmohl hingegen „die sämtlichen Glieder der Gesellschaft, die ihre Stimme bey der Staatsgesetzgebung haben“. Daher gebe es „nur in der Demokratie“ ein Volk, „unter Monarchen“ sei hingegen „nichts als Pöbel.“258 Nun steht für Schmohl in Ueber Nordamerika und Demokratie jedoch fest, dass es „[a]uch in der besteingerichteten Demokratie […] Pöbel geben“ werde. Diesen stellten diejenigen Menschen dar, die nach Schmohls Ansicht „zu schlecht sind, um Bürgerrecht zu verdienen“. So könnten „von aussen gekaufte und gemiethete Knechte“ nicht zum Volk gehören, da sie als Außenstehende keinen Anteil an der Gesetzgebung hätten. Doch nicht nur angestellte Arbeiter aus dem Ausland könnten keine Bürger sein, wie Schmohl mit drastischen Worten erläutert: Wer sich also einbildet, Demokratie sey, wo jeder der ein Menschengesicht hat, Theil an der gesetzgebenden Gewalt habe, und nun, unsre Schneider, Schuster, Schinder, Juden und Zigeuner sich als Staatsgesetzgeber denkend, das Wesen der Demokratie nicht übel und lächerlich genug finden kann; der belacht eine Mißgeburt seines eignen Gehirns.
Bei diesen Menschen handele es sich um den eigenen „verdorbne[n] Pöbel“, der schlicht nicht „zur Demokratie fähig“259 sei. Bei dieser Aussage überrascht besonders Schmohls harsches Urteil im Bezug auf Juden, da es im deutlichen Widerspruch zu seiner, für die Literatur der damaligen Zeit besonders weitreichenden Gleichberechtigungsforderung steht, die er noch in einem Artikel seiner Sammlung geäußert hatte.260 Andererseits stellte dieses Ausklammern großer Teile der Einwohner eines Landes für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts (und lange Zeit danach) die als vollkommen normal angesehene politische Realität dar. So wurde zwar mit der amerikanischen Unabhängigkeit der „radikal aufklärerische[] Grundsatz“ postuliert, „dass alle Menschen als Menschen gleich seien“. Dennoch genossen auch hier lediglich „erwachsene weiße Männer mit einem bestimmten Einkommen oder Grundbesitz […] gleiche Rechte, nicht aber Frauen, Sklaven, Arme oder wirtschaftlich Abhängige.“261 Dieser verfassungsmäßige Ausschluss von den Rechten der Bürger galt ebenso für die späteren Konstitu257 258 259 260 261
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 153 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 154. Ebd. Vgl. hierzu das folgende Kapitel 3.2.3. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 236, Hervorh. i. Orig.
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tionen der Französischen Revolution.262 Entsprechend stand auch für Schmohl fest, dass in einer Demokratie wie „in den ursprünglichen gesunden Staaten jeder Mann von gewissem Alter, wie jeder Hausvater Theil an der gesetzgebenden Gewalt“263 habe. Alle weiteren Personen gehörten hingegen „nur zu den Familien, nicht zum Staat“. Für diese stehe der Hausvater, sodass „[d]ie uralte Demokratie“,264 wie sie Schmohl als Ursprung des politischen Systems betrachtete,265 bestehen blieb. Während für Schmohl die Gleichheit aller (männlichen) Bürger ein Bestandteil einer demokratischen Gesellschaftsstruktur darstellt, wird Ungleichheit hingegen als Indikator einer monarchischen Gesellschaft angesehen, in welcher es keine Bürger, sondern lediglich Untertanen gebe. Ebenfalls führt Ungleichheit in seinen Augen innerhalb einer demokratischen Gesellschaft zu deren Verfall, was eine Veränderung hin zu einer Monarchie als Folge habe: So entstünde vor allem durch „Sklaven, Reichthum, [und] Adel“ eine große „Ungleichheit unter den Gliedern“ eines Staates. Durch diese könne sich wiederum einer endlich zum Monarchen, zum Alleingesetzgeber machen“, wodurch wiederum „Volk und Pöbel endlich natürlich in eine Klasse“266 gelange und gemeinsam zu einfachen Untertanen werde. Um diese Entwicklung zu verhindern, forderte Schmohl, wie in Kapitel 3.4.1 näher dargestellt, eine staatliche Kontrolle und ein Eingreifen bei zur Ungleichheit tendierenden Besitzverhältnissen. In Europa sei diese Schere des ungleich verteilten Besitzes, gefördert durch die Monarchen, bereits weit auseinandergegangen: Hier herrschten aus Schmohls Sicht „ungeheure Klüfte“, bei denen „einer 30 Milionen Thaler hat, 5 nur 20 000 Thaler, 30 nur 8 000 Thaler, 500, 4 000 Thaler, 6 Millonen 50 bis 100 jährlich, 20 Millionen aber nichts haben als was der erste ihnen giebt oder läßt. Das sind oben Teufel des Reichthums, unten Teufel der Armuth und in der Mitte von Teufeln müssen die Engel endlich auch Sünder werden.“267 Mit seiner Vorstellung einer demokratischen Gesellschaft, an deren politischer Öffentlichkeit die Männer (beziehungsweise Familienoberhäupter) partizipierten, war Schmohls Position mit denen anderer, zur gleichen oder späteren Zeit die Demokratie befürwortenden Aufklärer vereinbar. Indem er viele Bewohner eines Landes von der Politik ausschloss und ihnen damit innerhalb der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle zuschrieb, vertrat er auch hier ein zeitgemäß akzeptiertes Bild. Sieht man hierbei von Schmohls demokratischer Grundtendenz ab, welche die Aufhebung der Ständeunterschiede voraussetzte, wäre der Ausschluss großer Bevölkerungsteile als ‚Pöbel‘ – ganz abgesehen von der generellen Unmündigkeit von Frauen – auch in ständisch geordneten Ländern zustimmungsfähig gewesen: „Unter Pöbel stellte man sich in der Regel einen vernunftlosen und gewalttätigen 262 263 264 265 266 267
Vgl. ebd., S. 227. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 154 f. Ebd., S. 155. Vgl. hierzu die Darstellung Schmohls politischer Vorstellungen im Kapitel 3.4. Ebd. Ebd., S. 133.
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sozialen Organismus vor, der weder Kenntnisse noch Bildung des Geschmacks vorzuweisen hatte, überhaupt ohne Tugend und von beschränktem Horizont war und deshalb auch keinen berechenbaren Handlungsmaximen Folge leistete.“268 Andreas Riem: Der freie Untertan unter dem ‚Vater des Vaterlandes‘ Andreas Riem thematisiert die Situation von unfreien Bauern sehr früh, wenn auch äußerst knapp in seinem zweiten, 1773 erschienene Roman Dorset und Julie. Eine Geschichte der neuern Zeiten. Dass hierbei die Lebensbedingung der Landbevölkerung ein Thema werden konnte, scheint vor allem dem Umstand geschuldet zu sein, dass Riem, wie er in seinem Vorwort hervorhebt, der Geschichte keinen Plan zugrunde gelegt hatte: „Ich fand Vergnügen darinn, den auf einander folgenden Empfindungen zu folgen, und mich meinen Ideen blind zu überlassen, wohin sie mich führten.“269 Riems Roman erscheint damit einerseits auf dem 1773 zu datierenden Höhepunkt der empfindsamen Literatur in Deutschland.270 Andererseits ermöglichte dies Riem, von der eigentlichen Handlung, in der Dorset, ein von einem Einsiedler aufgezogener englischer Adliger, mit seinem Hofmeister Arist durch Europa reist, in kleinere Exkurse abzuweichen. Ein derartiger Exkurs über einen vorbildlichen Herrscher und eine ideale Gesellschaft lässt sich finden, nachdem die beiden Reisenden Riems Heimat, die Pfalz, erreichten: Dorset zeigt sich überwältigt von der Schönheit des „elysische[n] Land[es]“ und erkundigt sich bei seinem Begleiter Arist nach dem „Charakter seinen Beherrschers“. Dieser erklärt ihm darauf, dass es sich bei diesem Herrscher zwar um den „gütigste[n]“ und „leutseligste[n] Fürste[n]“271 handle, es den Untertanen jedoch nicht gut gehe, da sie von einer verkommenen Beamtenschaft – ohne das Wissen des Fürsten – unglücklich gemacht würden. Wie bei diesem Missstand Abhilfe geschaffen werden könne und der Fürst zum wohlwollenden ‚Vater des Vaterlandes‘ aufsteige, erläutert Arist seinem Schüler daraufhin:272 So wird unter anderem „[d]er Landmann“ als „die Stütze des Reiches“ angesehen. Aus diesem Grund müsse „dem Lande seine Freyheit wieder“ geschenkt werden, welches „der schimpfliche Name der Leibeigenschaft entehret“273 habe. Als Beispiel führt der Hofmeister die Schweiz an, in welcher durch die Gleichheit ihrer Bürger kein Neid zwischen diesen herrsche. Die Obrigkeit stehe hier nicht über den Gesetzen, sondern unterwerfe sich ihnen „und macht sie dadurch heilig.“ Auch werde hier der Bauer „von seinen Beherrschern aufgemuntert“ und im Bezug auf die Landwirtschaft nicht belehrt, sondern als Experte „um Rath gefraget“. Hierdurch erreiche der Staat einen zweifachen Nutzen, da einerseits – durch das 268 269 270 271 272
Sadowsky: Agrarromantik (wie Anm. 186, S. 281), S. 115. Riem: Dorset und Julie. Bd. 1 (wie Anm. 372, S. 74), Vorrede, ohne Seitenzählung. Vgl. Sauder: Empfindsamkeit (wie Anm. 671, S. 218), S. 56. Riem: Dorset und Julie. Bd. 1 (wie Anm. 372, S. 74), S. 159. Auf die politischen Aspekte von Riems Sichtweise auf einen idealen Staat wird in Kapitel 3.4 näher eingegangen. 273 Ebd., S. 164.
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landwirtschaftliche Wissen des Landwirts – „das Beste des Staates“ befördert werde. Durch die dem Bauern entgegengebrachte Wertschätzung werden andererseits auch „durch die Liebe des Unterthanen gegen die Obern die Gesetze heilig gehalten, und das Vaterland vertheidigt.“ In einem solcherart idealen Land ist „[d]er Unterthan […] frey.“ Er wird durch „[k]eine zu strenge Abgaben“ bedürftig gemacht oder durch „gezwungene Frohndienste“274 an seiner eigenen Feldarbeit gehindert. An „despotische Fürsten“ gerichtet, lässt Riem seine Romanfigur fragen, welche Ehre es sei, „einem Haufen von Sklaven zu gebieten, oder dürftige Unterthanen zu haben?“275 Ähnlich wie Johann Christian Schmohl, der vom Zustand des Bauernstandes eines Landes ausgehend über dessen „Handwerks- und Kaufmannsstand, von den Gelehrten, dem Adel, und besonders dem Fürstlichen Hause darinn“276 urteilte, könne man Arists Ansicht nach auch „[v]on der Armuth der Unterthanen […] auf den Fürsten“ schließen und feststellen, „ob er wollüstig ist, oder den Zepter verdienet.“277 Trotz der positiven Beschreibung dieses utopischen Landes mit seiner Freiheit sowie der Wertschätzung der Landwirte, bleibt die gesellschaftliche Ordnung bestehen: Zwar ist der Bauer kein Sklave mehr, aber er bleibt Untertan, welcher der Obrigkeit mit dem Fürsten an der Spitze unterworfen ist. Von diesen wird er dazu gebracht, sich der Ordnung freiwillig zu unterwerfen. Diese Obrigkeit ist dem Gesetz hingegen nicht unterworfen, sondern sie unterwirft sich diesem lediglich selbst, wodurch die Unterwerfung ein freiwilliger Akt bleibt, der genauso gut rückgängig gemacht werden kann. In den folgenden Jahren, in denen sich Riem vor allem mit theologischen Themen beschäftigte, scheint das Thema der gesellschaftlichen Ordnung eher in den Hintergrund gerückt zu sein. Dies ändert sich kurz vor Beginn der Französischen Revolution, als Riem beginnt, sich neben der Theologie verstärkt politisch-philosophischen Themen zu widmen. So lässt sein erstes Fragment Ueber Aufklärung, das 1788, 15 Jahre nach Dorset und Julie erschien, erkennen, dass Riem weiterhin am Bild des vorbildlichen Herrschers festhielt, indem er betont, dass sich bisher gerechte und aufgeklärte Herrscher immer „die Liebe ihrer Unterthanen erworben“278 hätten. Dennoch unterscheidet sich seine Aussage, da er betont, dass die Art der Herrscher letztendlich egal sei, sofern sie gut und aufgeklärt seien: „Nennt sie Kaiser, Könige, Aristokraten, Demokraten, wie ihr wollet; der Name thut hierbey nichts“.279 Hierdurch bleibt offen, ob eine veränderte Herrschaft, beispielsweise eine demokratische Ordnung, ebenfalls mit einer veränderten Gesellschaftsordnung einherginge. 274 275 276 277 278 279
Ebd., S. 165. Ebd. Schmohl: Erziehungsanstalten (wie Anm. 170, S. 278), S. 36. Riem: Dorset und Julie. Bd. 1 (wie Anm. 372, S. 74), S. 165. Ders.: Aufklärung 1 (wie Anm. 422, S. 82), S. 31. Ebd., S. 35.
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Auffällig ist auch, dass Riem in diesem Zusammenhang nicht mehr ausschließlich von Untertanen spricht, sondern ebenfalls von „Bürger[n] des Staates“,280 was darauf schließen lässt, dass er den Menschen als Bürgern eines Landes nun mehr Rechte zugesteht als es lediglich bei Untertanen der Fall ist. Hierdurch wird von Riem die klassische Ständeordnung – jedenfalls was den Adel und den dritten Stand anbelangt – nicht direkt in Zweifel gezogen. Dass Riem dennoch vor allem dem ersten Stand, zu welchem er als Prediger bis zu seiner Amtsniederlegung im Januar 1789 selbst gehörte, besonders ablehnend gegenüberstand, wird ebenfalls in seinem zweiten Aufklärungs-Fragment deutlich. So sei nichts für einen Staat schlimmer als „die Macht des geistlichen Standes“: Zwar gebe es auch „Uebel für den Staat, die groß sind; aber so unermeßlich, wie der Umfang dieses Uebels ist, giebt es Nichts.“281 1789 versuchte Riem – nun nicht mehr als Prediger arbeitend – im Berlinischen Journal für Aufklärung in einer „philosophische[n] Untersuchung“ die Frage zu beantworten, ob „der geistliche Stand mehrere Achtung, als ein anderer“ verdiene, da dadurch „entweder die Rechte der ungeistlichen Menschheit, oder jene der geistlichen leiden“282 könnten. Diesen Sonderstatus der Geistlichkeit lehnt Riem kategorisch ab: Nur durch große und nützliche Verdienste für die Menschen könnte es gerechtfertigt werden, dass man der Geistlichkeit einen besonderen Stand, „den ersten Rang unter allen Menschen“283 einräume. Dies sei jedoch nicht der Fall, wie Riem schon in seinem zweiten Fragment anklingen ließ. Er wendet sich hierbei ausdrücklich nicht gegen die katholische Kirche, sondern gegen die Lehre der Protestanten und Reformierten, indem er auf die religiöse Intoleranz ihrer Reformatoren hinweist: „Der gute Luther hielt es für verdienstlich, gegen Türken und Juden zu predigen, und der Stifter der reformirten Parthey fand in Verbrennung eines Philosophen nichts Ungerechtes.“284 Riems drei Stände der Bauern, Bürger und des Adels Nachdem Riem der Geistlichkeit den Status eines eigenständigen Standes abgesprochen hatte, scheint sich sein Bild der Gesellschaft im Laufe der 1790er-Jahre weiter verändert zu haben. So geht aus seinen Reisebeschreibungen durch Deutschland, die 1796 nach seiner Verbannung aus Preußen erschienen sind, hervor, dass er das sich emanzipierende Bürgertum als neuen Stand betrachtete, der zwischen Adel und der übrig gebliebenen ländlichen Bevölkerung verortet wurde. Die Untertanen eines Landes setzen sich nun aus dem Stand der Bürger und der Bauern, aber auch – wie es den Anschein erweckt – aus den Mitgliedern des Adels zusammen, die unter dem Regenten stehen. Das Verhältnis zwischen diesen Ständen sowie das zum Herrscher thematisiert Riem in seinen Reiseberichten: So ist der 280 Riem: Aufklärung 1 (wie Anm. 422, S. 82), S. 36. 281 Ders.: Aufklärung 2 (wie Anm. 24, S. 110), S. 43, Hervorh. i. Orig. 282 Ders.: Verdient der geistliche Stand mehrere Achtung, als ein andrer? In: Berlinisches Journal für Aufklärung 2 (1789), S. 155–172, 244–256, hier S. 155. 283 Ebd., S. 169. 284 Ebd., S. 251.
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Untertan eines Feudalstaates, wie ihn Preußen darstelle, aus seiner Sicht nun nur etwas „weniger Leibeigen als der Sclave, aber er tritt nicht außer alle Verhältnisse der Leibeigenschaft.“ Ein Monarch sei durch die feudale Staatsverfassung „berechtigt, nach freyem Willen über die Existenz und das Eigenthum des Unterthans zu gebieten“285 und der Untertan sei verpflichtet, dem Herrscher Folge zu leisten. Hierdurch sei der Untertan „dem Leibeigenen ähnlich, der mit Gut und Existenz in der Willkühr seines Herrn steht.“286 Die Bürger und Bauern seien „unbestimmten Lasten unterworfen“ oder hätten die „angebohrne[] Pflicht“ ihre Pferde unter Wert an die Armee abzugeben oder „unbezahlte Zufuhren und Frohndienste“ zu leisten. Diesen Zustand würde man im Orient als ‚Despotismus‘ bezeichnen; in Polen und Russland hingegen als ‚Leibeigenschaft‘, im Okzident als ‚unumschränkte Monarchie‘ und in Preußen als ‚Feudalverfassung‘, wie Riem schreibt. All diese Systeme würden die „Kinder Eines Vaters“, der Leibeigenschaft, darstellen. Diese sei zwar in Preußen „erträglicher“, bliebe jedoch „[i]n der Sache und den Folgen […] dasselbige“,287 sodass der Bauer beispielsweise in Brandenburg „der elende armseligste Sklave von der Welt“ sei. Hieran hätten vor allem die „königliche[n] Domänenämter“288 Schuld: „Seine Frohndienste, seine Getreidefuhren, seine Spanndienste, zur Zeit des Pflügens und der Erndte, ruinieren ihn [den Bauern] allenthalben, wo der Reichthum der Natur ihm nicht Schadenersatz giebt.“289 Auch außerhalb Preußens würden vor allem die Bauern nicht gut behandelt. Als Grund führt Riem die Verachtung des Adels gegenüber dem bäuerlichen Stand an. So sei es ein Fehler der „vornehmern Sachsen[], in soferne sie zum Adel gehören“, dass diese sich zu selten mit den anderen Bürgern – dem neuen bürgerlichen Stand – vermischten: „Der Adeliche mengt sich selten unter bürgerliche Gesellschaften, sondern unterhält dergleichen unter sich.“ Dies führe „zu einiger Antipathie zwischen den Ständen des Adels und des Bürgers“, woraus letztendlich „ein großen Uebel“ entstehe, da „[d]er A[d]el, der den Bürgerstand“ verachte, „in der Regel der Tyrann des Landmanns“ werde. Nach „dem fast allgemeinen Vorurtheil“ stelle zudem der Bauer die „unterste Caste im Volke“290 dar. Für den Bauern bleibe vonseiten des Adels „kein Funke von Achtung übrig“, da schließlich die Adligen selbst für den bürgerlichen Stand, „der sich an Cultur und Reichthum dem Adel am meisten nähret“,291 schon keine Wertschätzung hätten. Besonders die Bezeichnung der Bauern als ‚unterste Caste‘ drückt Riems Sichtweise auf den Konflikt zwischen dem bäuerlichen und dem bürgerlichen Stand so285 286 287 288 289 290 291
Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. Ebd., S. 113. Ebd., S. 113 f. Ebd., S. 153. Ebd., S. 153 f.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
wie dem Adel aus, der vor allem durch gegenseitige Verachtung geprägt war. So wurde der Begriff der ‚Kaste‘ im Laufe des 18. Jahrhunderts für die Beschreibung von asiatischen und vor allem der indischen Gesellschaftsverhältnisse geprägt. Außerhalb dieses Kontextes wurde er kaum oder überhaupt nicht verwendet. Vor allem mit einer Bemerkung Montesquieus, durch das religiös geprägte Kastenwesen werde in Indien gegen die natürliche Ordnung verstoßen, begann 1748 „eine Linie der Kritik, die in der Fesselung der Individuen durch Geburtslage, Tradition und geistigen Partikularismus und in der Grundannahme einer natürlichen Ungleichheit der Menschen die schroffste aller möglichen Antithesen zu einer freiheitlichen Organisation des gesellschaftlichen Lebens sah.“292 Indem Riem die adlige Missbilligung der Bauern mit dem Kasten-Begriff verbindet, scheint es ebenfalls in seinem Interesse gelegen zu haben, die negative, zeitgenössische Deutung dieses außereuropäischen Systems auf den Konflikt übertragen zu wollen: Obwohl die Bauern mit den restlichen Untertanen nach der frühneuzeitlichen Ständeordnung nach wie vor aus rechtlicher Sicht zum dritten Stand gehörten, verwendet Riem, um das sich emanzipierende Bürgertum zu beschreiben, den herkömmlichen Standesbegriff. Wenn jedoch eine Wertbeurteilung zwischen den Ständen gefällt werden soll, die nach ‚fast allgemeinen Vorurtheil‘ vorgenommen wird und die Landbevölkerung zum am geringsten angesehensten Teil der Bevölkerung degradiert, verwendet Riem für die Bauern den Begriff der Kaste. Durch das Bild, das mit diesem Begriff evoziert wird, wird deutlich, dass der Bauer aus diesem Zustand, in den er hineingeboren wurde und in welchem er auch durch religiös-transzendente Vorstellungen – in diesem Fall: das Vorurteil – gehalten wird, nicht ausbrechen kann, um in eine höhere ‚Kaste‘ aufzusteigen und dadurch sein Ansehen und seine Lebensbedingungen zu verbessern. Erneut wird die Kasten-Bezeichnung von Riem in seiner Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland 293 aufgegriffen. Auch hier fächert er den dritten Stand noch weiter auf, als es rein rechtlich der Fall war oder von ihm in seinem Reisebericht vorgenommen wurde. Zudem ist in dieser Aufzählung wieder der erste Stand vertreten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Riem in der Apologie, statt seine idealisierte Sichtweise zu beschreiben, vielmehr versuchte, die ständische Realität abzubilden: „Der Adel, der Clerus, der Bürger, der Bauer, der Leibeigene, sind im Grunde lauter isolierte Casten.“ Diese würden sich streng voneinander abgrenzen und daher auch nicht untereinander heiraten: „Der Adel heirathet keine Leibeigene – der Bürger nicht die Tochter des Scharfrichters, der Priester nicht die Wittwe eines Schinderknechts, und wenn sie die gläubigste Christin wäre – jeder Stand hat sogar im Staate ein isoliertes Interesse.“294 In diesem Text wird von Riem, anders als bei der ersten Verwendung des Kasten-Begriffs, auf dessen Herkunft verwiesen, da 292 Osterhammel: Entzauberung (wie Anm. 43, S. 112), S. 339 – Ausführlicher zu den verschiedenen Deutungen und Beschreibungen des Kastensystems, vgl. ebd., S. 330–340. 293 Zur Apologie, vgl. Kapitel 3.2.3. 294 Riem: Apologie 1 (wie Anm. 521, S. 97), S. 112.
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Riem erwähnt, dass es in Indien nach seinen Informationen 84 verschiedene Kasten gäbe, die sich ebenfalls nicht vermischten.295 Um diesen von Riem wahrgenommenen Ständekonflikt zu lösen und „den Adel zu bescheidener Stimmung gegen den Stand des Bürgers und Landmanns“ zu bewegen, schlägt Riem vor, einen vom Fürstenhof privilegierten Kreis zu schaffen. In diesen „Cirkel“, auf welchen „der Hof den ausschließenden Einfluss“ habe, sollten dann „die verdienstvollen Männer des Bürgerstandes“ aufgenommen und „mit gleicher Achtung behandelt“ werden wie es „bereits in einzelnen Fällen“296 geschehe. Hierdurch könnte der Hof vor allem den Bürgerstand sich annähern, wodurch nach Riems Vorstellung einerseits „das Steife vom Adel“ genommen und andererseits „das zu Geschmeidige des Bürgers gegen den Adel“ gemäßigt werden könnte.297 Durch diese Maßnahme käme „mehr Gemeingeist in die Nation“ und es entstünde „die nothwendige Einheit eines gemeinsamen Interesse[s]“, das bisher durch die Konkurrenz zwischen „dem Adlichen, Bürgerlichen und Bauernstande“ nicht der Fall gewesen sei. Zudem war sich Riem sicher, dass „[d]em Regenten […] alle seine Untertanen gleich lieb und wert“ seien. Daher komme es lediglich darauf an, die „Stimmung von Achtung der verschiedenen Stände unter sich zu bewirken, was zu allen Zeiten einer Regierung vortheilhaft wird.“298 Um diesen Vorteil zu verdeutlichen, führt Riem den Fall eines hypothetischen Krieges an. Hierbei bestünde die Gefahr, dass in Gegenden, in welchen der „Bauernstand mit seinen Lehnsherren unzufrieden“ sei, dieser „aufgebrachte Bauernstand“ die Gelegenheit nutzen könnte, „sich an seinen Herrn zu rächen; sich mit dem Feinde zu verbinden, und die Schlösser und Güter des Adels [zu] verwüsten.“ Mithilfe dieses Szenarios, das an die Grande Peur während der Französischen Revolution erinnert,299 möchte Riem vor allem auf den Adel einwirken, um diesen zu einer „mildern Gesinnung[] gegen seine Lehnsträger zu stimmen“.300 Gleichzeitig sieht Riem im Adel auch das größte Hindernis dieser Annäherung der drei Stände: So müsste diese Anpassung nämlich „durch unmerkliche Schritte und einen allmähligen Gang geschehen, weil sonsten der auf seine ständischen Vorrechte eifersüchtige Adel erbittert werden könnte.“ Daher müsse er selbst einsehen, „daß seine Existenz nur auf sehr prekären Grundpfeilern ruhe, so lange ein übertriebener Unterschied der Stände vorhanden ist.“ Dem Adel die Geschehnisse der Französischen Revolution vor Augen rufend, betont Riem, er solle sich bewusst sein, dass sich auch „der ganze Tiers-Etat“ – Riem fasst an dieser Stelle wieder Bau295 Im Gegensatz zu seinem Reisebericht wird jedoch in der Apologie nicht direkt diese Abgrenzung der kastenähnlichen Stände kritisiert, da er dieses Beispiel heranzieht, um eine jüdische Abgrenzung gegenüber der christlichen Kritik zu verteidigen, wie in Kapitel 3.2.3 dargestellt wird. 296 Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 154. 297 Ebd., S. 154 f. 298 Ebd., S. 155 – Von dieser Aussage kann ebenfalls abgeleitet werden, dass auch der Adel zu den Untertanen gezählt wird. 299 Zur Grande Peur und weiterführender Literatur siehe Kapitel 3.4.2.1. 300 Ebd., S. 156.
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ern und Bürger zum Dritten Stand zusammen – gegen den Adel vereinigen könnte, was „alsdann der Verlust aller Privilegien des Adels“301 zur Folge haben würde. Besonders interessant ist an dieser Stelle, dass sich Riem sicher ist, dass sich bei einer solchen Revolution „die gerechte Regierung“ auf die Seite der „große[n] Mehrheit der Nation“302 stellen würde. Davon, dass jedenfalls die Bauern in den deutschen Ländern zu einem derartigen Schritt bereit und zu großen Teilen auch in der Lage gewesen wären, gibt sich Riem in seinen Reiseberichten überzeugt. Als Beispiel dieses Selbstbewusstseins und der Gewissheit über die eigene Macht, berichtet er von einem Gespräch zwischen ihm und einer Gruppe Bauern, welches in einem Gasthaus in Hessen-Kassel stattgefunden haben soll, das er auf der Durchreise besuchte. Die Bauern geben zu, dass es ihnen derzeit recht gut gehe, da sie durch die große Menge an Geld, die durch den Krieg mit Frankreich in ihr Land geflossen sei, die Möglichkeit gehabt hätten, zu etwas Wohlstand zu gelangen. Hierdurch hätte sich ihre Situation zum Besseren gewandt, sodass sich „die Zeiten“ ändern würden: „S’wär’ auch nicht gut, wenn der Bauer ewig der Packesel von Fürsten und Edelleuten seyn sollte“.303 Wenn der Fürst sein Wort nicht halte, wäre der Bauer auch nicht dazu gezwungen, sich seinerseits an Abmachungen zu halten. Zusammenfassend stellt Riem fest, dass der Bauer bereits fühle, „daß alle Kraft von den Regenten gewichen, und zum Theil auf sie übergegangen“304 sei. Ein derartig selbstbewusster Ton sei überall dort anzutreffen, wo es dem Bauern möglich gewesen sei, sich zu bereichern. Riem beschreibt diese Situation des gewachsenen bäuerlichen Selbstbewusstseins aus einem eigenen Selbstverständnis des sich entwickelnden Bürgertums heraus und der Distanz, die sich hierdurch zur Landbevölkerung entwickelt hatte. Zwar scheint seine Sympathie eher aufseiten der Bauern zu sein, dennoch erkennt er auch für seinen ‚Stand‘ eine gewisse Gefahr im neuerworbenen Selbstvertrauen des Bauern, das ihn um der Stabilität willen stärker zur Seite der Landesregierung tendieren ließe. So vermutet Riem, dass der „ungewöhnlich blühende Wohlstand“ den Bauern „eine Reizbarkeit gegeben [habe], die nur eines geringen Stoßes“ bedürfe, um zu einem Aufstand zu werden: „Zu einer großen Explosion kann vielleicht eine geringe Ursache Veranlassung geben.“305 Der neue Reichtum des Bauern bliebe nicht alleine in dessen Händen, was die Gefahr eines Aufstandes vergrößere und nicht vermindere: So blieben die Abgaben, welche die Bauern zu leisten hätten, gleich hoch wie zu der Zeit, in der die Bauern noch nicht so viele Einnahmen gehabt hätten. Hierfür würden die Landwirte, so ist sich Riem sicher, schon Sorge tragen. Während dieses Geld in der Kasse der Fürsten fehle, würde es stattdessen 301 302 303 304 305
Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 156. Ebd., S. 157. Ebd., S. 265. Ebd., S. 268. Ebd.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
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in „die Hände der Handwerker“ fließen, welche im Fall eines Konfliktes dann eher bereit seien „dem Landmanne beyzustehen, als gegen ihn zu streiten.“306 Während Riem bezogen auf Sachsen und der dortigen, von ihm sehr positiv bewerteten Regierung davon ausging, dass sich der sächsische Landesherr bei einem eventuellen Aufstand des dritten Standes gegen den Adel mit ersterem solidarisieren würde, hält er ein solches Bündnis für die restlichen deutschen Länder für weitaus unwahrscheinlicher. Eine Möglichkeit, diese unsichere Lage zu entschärfen wäre zwar, das Geld, das sich bei den Bauern angesammelt hatte, „ohne daß es der Landmann bemerke, in Circulation und durch Speculation sie von da in die Staatscassen zu bringen.“ Gleichzeitig geht Riem aber davon aus, dass das Geld durch die geringen Grundbedürfnisse der Bauern nur sehr langsam in den Kreislauf des Handels und letztendlich zurück in die fürstlichen Kassen gelangen würde. In dieser Zeit würde dieses Geld „ein eisernes Capital für die Nothwehr“307 des Bauern gegen seinen Herrscher bleiben. Riems Sympathie für die Landwirte steht folglich in den Jahren um 1796 in einem Gegensatz zu seinem persönlichen Bedürfnis an staatlicher Beständigkeit und Sicherheit. Hierdurch spricht er sich im Falle der sächsischen Bauern weitaus deutlicher für eine Besserung ihrer Situation aus und betont lediglich die Gefahr, was möglich wäre, würden sich diese Bauern ihrer gemeinsamen Macht bewusst werden. Haben hingegen die Bauern dieses Bewusstsein bereits internalisiert und darüber hinaus eine größere finanzielle Macht, werden sie ihm suspekt: Im Fall „einer großen Explosion“308 – worunter Riem sehr wahrscheinlich ein revolutionäres Aufbegehren wie in Frankreich verstand – hätte die Gefahr bestanden, dass sich die Wut der aufgebrachten Bauern nicht nur an ihrer Obrigkeit, sondern ebenfalls am sich emanzipierenden Bürgertum entladen hätte. Eine ähnliche Haltung gegenüber der Landbevölkerung lässt sich bei Riem im Bezug auf sein Verständnis von landwirtschaftlicher Aufklärung beziehungsweise der Volksaufklärung erkennen. Er changiert einerseits zwischen Sympathie für die Landwirtschaft und denen, die sie betreiben. Andererseits ist sie durch eine gewisse (bürgerliche) Distanzierung charakterisiert, die vor allem in der Befürwortung ökonomischer Gesellschaften ihren Ausdruck findet. Hierbei scheint Andreas Riem vor allem von seinem Bruder Johann beeinflusst worden zu sein. So scheint die Hochschätzung des wirtschaftlichen Nutzens der Landwirtschaft für ein Land der Tatsache geschuldet gewesen zu sein, dass Riems Bruder ein überzeugter Anhänger des physiokratischen Systems war, nach dessen Theorie der Wohlstand eines Landes alleine aus den landwirtschaftlichen Erzeugnissen hervorging.309 Durch seinen Bruder wurde er ebenfalls Mitglied zweier ökonomischer Gesellschaften: 1769 wurde 306 307 308 309
Ebd., S. 269. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 268. Vgl. Paul: Johann Riem (wie Anm. 327, S. 69), S. 26. – Die Kritik am physiokratischen System, der sich vor allem Johann Christian Schmohl anschloss, wird in Kapitel 3.3 dargestellt.
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er als außerordentliches Mitglied in die von Johann Riem in Kaiserslautern gegründete Physikalisch-Ökonomische und Bienengesellschaft aufgenommen. Ab 1787 war er zudem korrespondierendes Mitglied der Leipziger ökonomischen Societät, zu dessen Sekretär sein Bruder 1785 ernannt worden war,310 sodass es nicht verwundert, dass er diese ökonomische Gesellschaft in seinen Schriften als besonders verdienstvoll hervorhebt. Dass auch Andreas Riem von Teilen der physiokratischen Wirtschaftstheorie überzeugt war, die zu einer Aufwertung der Landbevölkerung geführt hatte,311 zeigt seine Aussage, „daß Ackerbau und Landwirthschaft überhaupt der Nerf der Energie aller Staaten“ darstelle. Zur „Aufmunterung“ und „Verbesserung“ der Landwirtschaft habe sich die ökonomische Gesellschaft in Leipzig „unter dem Schutze der Regierung“ gegründet. Sie habe „unstreitig großen Einfluß auf alle Zweige der Landwirthschaft in Sachsen und andern Ländern gehabt“,312 wie es Riem in seinem Reisebericht durch Deutschland darstellt. Eine ökonomische Gesellschaft sei für einen Staat weitaus nützlicher als andere Akademien, „die in der Regel mehr imponiren, als wirkliche Nutzen [zu] stiften.“ Während Gelehrte anderer Wissenschaften ihre Erkenntnisse meist „cultiviren“ würden, indem sie sie mitteilten, habe „es mit den landwirthschaftlichen Erfahrungen, Versuchen und Beobachtungen“ eine andere Bewandtnis: Diese würden „entweder untergehen, oder äusserst langsame Fortschritte machen“, würde nicht in ökonomischen Gesellschaften „für ihre Erhaltung und raschere Ausbreitung gesorgt“313 werden. Anders als Schmohl geht Riem nicht davon aus, dass die Bauern selbstständig zu einer solchen Aufklärung in der Lage seien: „Der Landwirth bildet sich selten zum Schriftsteller, und kann sich also nur wenig mittheilen.“ Diese Funktionen, das Feststellen und Tradieren ökonomischer Verbesserungen, muss folglich aus Riems Sicht der Staat übernehmen, für den „nichts interessanter [sei] als Erfindungen, wodurch der Ackerbau zu reichern und ergiebigern Erndten gebracht, oder […] wodurch der Landmann Zeit gewinnt, und Mittel kennen lernt, den Mängeln der Natur und Gewohnheit abzuhelfen.“314 Riem schließt sich, wie aus seinen Ausführungen hervorgeht, einer Volksaufklärung an, die einerseits versucht, dem Bauern ihre landwirtschaftlichen Verbesserungsvorschläge nahezubringen. Andererseits soll der Landwirt dazu gebracht werden, effektiver zu arbeiten und mit den Widrigkeiten der Natur oder den eigenen, negativen Gewohnheiten besser umgehen zu können. Es handelt sich folglich ausschließlich um eine Aufklärung, die ‚von oben‘ nach ‚unten‘ an die Bauern vermittelt wird. Indem das erklärte Ziel der ökonomischen Gesellschaften auch das Be310 311 312 313 314
Vgl. Anm. 470. Vgl. Sadowsky: Agrarromantik (wie Anm. 186, S. 281), S. 111. Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 199, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 200. Ebd.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
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seitigen von angeblichen „Mängeln der […] Gewohnheit“315 darstellt, befürwortete Riem ebenfalls „die Disziplinierungstendenzen und Kontrollmechanismen“,316 welche vor allem die zweite, pädagogische Phase der Volksaufklärung kennzeichnete. Hierbei gingen die Volksaufklärer von der Grundannahme aus, „daß sich die Bauern in einer Situation sozioökonomischer und meist auch psychischer Unmündigkeit befanden.“ Sie sollten jedoch nicht zu „spekulierende[n], sich selbst aufklärende[n] Bauer[n]“ erzogen werden. Stattdessen ging es eher darum, dem Bauern „eine umfassende Berufsbildung“ angedeihen zu lassen, „die zu allererst seine Arbeitsproduktivität steigern sollte“.317 Hierbei zeigt sich ebenfalls Riems Prägung durch das sich emanzipierende Bürgertum, das vor allem auf die Berliner Aufklärung großen Einfluss hatte. Diese Aufklärer standen generell „dem potentiellen Bildungs- und Lesebedürfnis der Landbevölkerung“318 besonders misstrauisch gegenüber und teilten diese Einstellung mit ihrer Obrigkeit. Dies zeichnete sich auch schon im Aufklärungsverständnis Friedrichs II. ab, der sich dafür aussprach, der Landbevölkerung nur das nötigste Wissen zu vermitteln, damit diese nicht auf die Idee käme, sie könnte aus der Stellung, in die sie hineingeboren wurde, ausbrechen.319 Andreas Riem steht mit seinen Vorstellungen für eine ökonomische Volksaufklärung, gegen die sich Johann Christian Schmohl schon Anfang der 1780er-Jahre wandte. Während zwar bei Schmohl die fürstlichen Domänen dazu dienen sollten, die nachgewiesenen Vorteile landwirtschaftlicher Verbesserungen zu demonstrieren, wohnte dieser Demonstration lediglich der pädagogische Hintergedanke inne, dass sie schon angenommen würden, sofern die Bauern von den Vorzügen überzeugt seien. Die Domänen dienten damit in Schmohls Vorstellung nicht dem gleichen Zweck, den die ökonomischen Gesellschaften bei Riem erfüllten: Die Gesellschaften hatten – nicht nur aus Riems Sicht – eine klare erzieherische Aufgabe gegenüber dem ‚Landmann‘ und sollten die Verbesserungsideen vermitteln, welche sich die meist selbst ernannten Landwirtschaftsexperten in Gesellschaften oder an Universitäten (deren Expertentum innerhalb dieser Kreise von ebenfalls selbst ernannten Experten bestätigt wurde) ausgedacht hatten. Diese Art der Gelehrsamkeit, die lediglich „in der Stube und blos aus Büchern“320 erlernt worden war, lehnte Schmohl strikt ab. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Schmohl ökonomische Gesellschaften grundsätzlich ablehnte: Wenn diese von kompetenten Personen – also: Landwirten – betrieben würden, hatte er nichts gegen diesen Gedanken einzuwenden. So berichtete er, dass ein Straßburger Bauer, „ein sehr menschenfreundlicher, patriotisch-gesinnter Mann, Voll Bescheidenheit, Offenherzigkeit und ohne Geiz“, die Idee verfolgte, „eine ökonomische Gesellschaft für das Elsaß zu errichten, wenn 315 316 317 318 319 320
Ebd. Conrad: Aufgeklärte (wie Anm. 22, S. 6), S. 13. Vgl. Sadowsky: Agrarromantik (wie Anm. 186, S. 281), S. 113. Ebd., S. 114. Vgl. ebd.; zur Berliner Aufklärung: Conrad: Aufgeklärte (wie Anm. 22, S. 6), S. 9 f. Schmohl: Anmerkungen (wie Anm. 86, S. 29), S. 446.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
er Männer darzu fände, welche ihm anständig wären.“321 – Es darf davon ausgegangen werden, dass es sich bei diesen ‚anständigen Männern‘ mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls um Landwirte gehandelt haben dürfte. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Kompetenz der selbstständigen Beschäftigung mit der ökonomischen Verbesserung der Landwirtschaft, welche Riem und die meisten Volksaufklärer den Bauern nicht zutrauten, von Schmohl den ‚Gelehrten‘ aufgrund der fehlenden Praxis abgesprochen wurde. Beide Positionen stehen sich somit in ihren Prämissen und Schlussfolgerungen grundsätzlich gegenüber. Karl von Knoblauch: Die Gesellschaft der Bürgerklassen und die Verschiedenheit der Rechte und Mittel Die Volksaufklärung oder die ökonomische Verbesserung der Landwirtschaft stellte kein Thema dar, mit welchem sich Karl von Knoblauch unmittelbar oder ausführlich beschäftigte. Dennoch lassen seine Äußerungen erkennen, dass er wohl Unterstützer einer pädagogischen, von ‚oben‘ gesteuerten Volksaufklärung war.322 In einem erstmals 1789 erschienenen323 und unverändert in den Politisch-philosophischen Gesprächen abgedruckten Dialog zur damals als ‚Konsolidation‘ bezeichneten Flurbereinigung, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts in vielen Ländern des Reiches angestrebt wurde,324 lässt Knoblauch einen der Gesprächsteilnehmer feststellen: „Noch einmal, Wißlieb; wenn die Bauern ihren wahren Vortheil im Ganzen je würden kennen lernen, so würden sie einsehen, daß die Landwirthschaft im Ganzen bei der Consolidation gewinnt, und daß die Regierungen, welche man so oft und so unverständig tadelt, ihren Dank verdienen.“325 Trotz dieser gesteuerten Aufklärung ist es Knoblauch wichtig, dass es „nicht bloß darauf an[komme], daß man etwas thut, sondern oft auch noch auf die Art und Weise“,326 wie etwas getan werde. Da der Bauer „im Allgemeinen […] sicherer, als alle Bücherbelehrung“ durch seinen Instinkt geführt werde, müsse einerseits „das Schulund Erziehungswesen verbessert“, er „über gewisse Zweige seines Interesse[s] richtiger belehrt, und dem ihm nützlichen Grade der Aufklärung durch zweckmäßigen Unterricht näher gebracht“ werden. Andererseits lässt Knoblauch den fiktiven Ge321 Schmohl: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 240, Hervorh. i. Orig. 322 Mit einem der bekanntesten Vertreter der Volksaufklärung, Rudolph Zacharias Becker, dem Autor des Noth- und Hülfs-Büchleins für Bauersleute, scheint Knoblauch sogar in Kontakt gestanden zu haben. Wie aus einem Schreiben Knoblauchs vom 1. November 1793 hervorgeht, hatte Becker Knoblauch um Unterstützung bei einem, von Knoblauch nicht näher ausgeführten Plan gebeten, bei dem es sich um die Einrichtung eines neuen Journals gehandelt haben könnte. Knoblauch konnte Becker hierbei aus Zeitmangel nicht helfen und sandte Beckers Bitte an einen unbekannten Briefpartner. Diesem pries er Becker als einen der „gemeinnüzigsten Schriftsteller und Populär-Philosophen unserer Nazion“ (Karl von Knoblauch an Unbekannt, 1. November 1793, GStA PK VIII. HA. Rep. C Nr. 187 Bd. 33, p. 146r) an. 323 [Karl von Knoblauch]: Die Consolidation. In: Der Teutsche Merkur 4 (1789), S. 284–295. 324 Vgl. Walter Demel: Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus. 2., um ein Nachw. erw. Aufl. München 2010 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 23), S. 13. 325 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 195. 326 Ebd., S. 195 f.
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sprächspartner ebenfalls vorschlagen, man müsse „dem Landmann“ ebenfalls „einen einleuchtenden ökonomisch-moralischen Katechismus in die Hände geben“,327 auf dessen Grundlage er sich dann wohl auch selbst hätte bilden dürfen. Da dieser Katechismus jedoch ebenso einen von höherstehenden Aufklärern ausgesuchten Inhalt hätte, ist diese ‚freie‘ Bildung letztendlich ebenfalls gesteuert. Auch wenn Knoblauch die Landbevölkerung mit einer gewissen Distanz und scheinbaren Skepsis gegenüber ihren Fähigkeiten betrachtete, macht er schon 1786 in seinen ersten Artikeln deutlich, dass es seiner Meinung nach Menschenrechte gibt, die ausnahmslos allen Menschen – also auch den Bauern – zukommen.328 Diese Annahme zieht sich als Grundkonstante durch all seine Artikel und veröffentlichten Bücher. So ist er sich auch 1792 sicher: „Alle Menschen, von einem Pol bis zum anderen, sind sich in Ansehung dieser bisher erwiesenen Rechte – deren Theorie der geometrischen Evidenz fähig scheint – gleich.“329 Diese Menschenrechte sind unabhängig von natürlichen, also körperlichen Unterschieden, beispielsweise von größerer oder minderer Stärke: „Wäre der eine an Kräften ein Lilliputaner, und der andere ein Gigant, oder Hercules, so wäre doch der Lilliputaner nicht weniger Mensch, als der kraftvolle Coloß.“330 Es ist also nicht zulässig, einem Menschen die vollen Menschenrechte zu gewähren und einem anderen einen Teil dieser vorzuenthalten, „weil der eine nicht mehr und nicht weniger Mensch ist, als der andere.“331 Ebenfalls habe der Mensch seine grundlegenden Menschenrechte sowohl im Naturzustand, das heißt ohne jegliche „sociale[] Verhältnisse[]“332 als auch innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft: „Ich könnte Mensch seyn, ohne Bürger zu seyn. Aber Bürger kann ich nicht seyn, ohne Mensch zu seyn.“333 Dass innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft dennoch keine vollkommene Gleichheit ihrer Mitglieder herrsche, obwohl sie mit Blick auf ihre natürlichen Rechte gleich sein sollten, versucht Knoblauch wiederum durch gesellschaftliche Gefüge zu erklären: So sei eine eventuell bestehende „Ungleichheit der Rechte“ nur durch die „gesellschaftliche[n] und bürgerliche[n] Verhältnisse“ entstanden. Sie könne jedoch „nie eine Ungleichheit jener [natürlichen] Urrechte“ darstellen oder diese Urrechte außer Kraft setzen. Darüber hinaus kann Knoblauch dieser gesellschaftlichen Ungleichheit positive Aspekte abgewinnen: Als Beispiel einer solchen Ungleichheit nennt er die Monopolisierung einer Handelsware, wobei er betont, dass es sich lediglich um ein theoretisches Beispiel handelt und er nicht „Monopole überhaupt vertheidige[n]“ wolle: So könne, indem der Staat einer gewissen Anzahl 327 Ebd., S. 196. 328 Knoblauchs Herleitung und Begründung dieser allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte wird in Kapitel 3.4.1 beschrieben. 329 Karl von Knoblauch: Gibt es wirklich Rechte der Menschheit? und sind die Menschen in Ansehung derselben völlig gleich? In: Philosophisches Magazin 4.4 (1792), S. 424–446, hier S. 437. 330 Ebd., S. 428. 331 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 178. 332 Ders.: Rechte (wie Anm. 329), S. 426 f. 333 Ebd., S. 427, Hervorh. i. Orig.
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von Bürgern den ausschließlichen Handel mit einer bestimmten Ware gewähre, sichergestellt werden, dass „der Staat mittelbar auch seinen Nutzen davon ziehet“. Dies wäre nicht der Fall, würden „alle gleichen Handel und Gewerbe treiben, und jeder den Profit des andern verhinder[n].“334 Die durch Handelskonzessionen und durch andere gewährte Rechte hervorgebrachte Ungleichheit wird von Knoblauch als notwendig erachtet, „da das Vermögen der Gesellschaft, so wie das Vermögen jedes einzelnen Gliedes derselben beschränkt“335 sei. Indem Knoblauch davon ausgeht, dass es beim allgemein verfügbaren Vermögen eine bestimmte Obergrenze gibt, zeigt er, dass er – auch wenn er sich in anderen Texten strikt gegen eine Peuplierungspolitik aussprach – wenigstens in diesem Punkt ein Anhänger der merkantilistischen Wirtschaftstheorie war.336 Nach seiner Vorstellung einer idealen Gesellschaft besteht diese zwar aus gleichen Bürgern, diese stellen jedoch verschiedene „Bürgerclassen“ dar, welche sich durch eine „Verschiedenheit der Functionen“ innerhalb dieser Gesellschaft auszeichnen. Indem diese Menschen verschiedenen Bürgerklassen angehören, in denen sie ihre jeweilige, zum Wohle des Staates beitragende Funktion erfüllen, haben sie ebenfalls unterschiedlich hohe Ausgaben, was letztendlich die befürwortete „Verschiedenheit der Mittel“337 notwendig macht. Knoblauch scheint bewusst gewesen zu sein, dass er mit dieser Theorie den Eindruck hervorgerufen hat, die klassische Ständegesellschaft zu rechtfertigten – lediglich mit dem Unterschied, dass nun nicht mehr verschiedene Stände existieren sollten, sondern unterschiedliche Klassen von Bürgern. So, wie der Bauer und jeder andere Untertan seinen Stand und Platz innerhalb der Ständegesellschaft kennen musste, von welchem er sich – aus der Sicht der Herrschenden: zum Wohle der Gesellschaft – nicht entfernen durfte, begründet Knoblauch die notwendige Ungleichheit seiner Bürgerstände, über welche „kein Vernünftiger sich mit Grunde beklagen“ könne: „Denn sie ist so nothwendig, als es nothwendig ist, daß im menschlichen Körper ein Zahn kein Auge, eine Hand kein Ohr, der Magen kein Fuß u. d. ist. Die Functionen der einzelnen Glieder und ihre respectiven Beyträge zur Vollkommenheit, oder zum Zweck des Ganzen, müssen nothwendig verschieden seyn.“338 Daher macht Knoblauch ebenfalls deutlich, worin er den Unterschied zwischen seiner aus Bürgerklassen bestehenden Gesellschaft und der Ständegesellschaft liegen sieht: So könne die „obrigkeitliche und politische Ungleichheit im Staate“ nicht allein durch einen Unterschied der Güter, also dem „Geld oder Landeigenthum“ gerechtfertigt werden, „[w]ie etwa im Mittelalter, und in Ländern, wo das Feudalsystem in seinem
334 Knoblauch: Rechte (wie Anm. 329, S. 311), S. 443, Hervorh. i. Orig. 335 Ebd., S. 444, Hervorh. i. Orig. 336 Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 64. – Auf Knoblauchs knappe Aussagen zur Wirtschafts- und Handelstheorie wird in Kapitel 3.3 eingegangen. 337 Knoblauch: Rechte (wie Anm. 329, S. 311), S. 444, Hervorh. i. Orig. 338 Ebd., Hervorh. i. Orig.
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ganzen Umfange herrschte.“339 Stattdessen müsse „bey der Bestimmung“ des „politischen Werths“ eines Bürgers ebenfalls auf dessen „persönliche Actie“340 geachtet werden. Diese stelle dessen „Grad der Talente, Einsichten, Kenntnisse u. d.“341 dar. Er befürwortet also, dass in einem Land die wichtigen ‚hohen‘ Stellen nicht mehr nach der Geburt, also dem Stand oder dem ererbten Wohlstand der Eltern vergeben werden, sondern nach der jeweiligen Qualifikation beziehungsweise dem ‚Genie‘. Er zieht zu seiner weiterführenden Begründung keine Herrscher oder andere Staatsbediensteten heran, sondern bewusst einen Wissenschaftler: So brauche ein Staat möglicherweise nur „Einen großen Mathematiker“, aber dafür eben auch „100,000 hinter dem Pfluge gehende Bauern“. Wäre dieses Verhältnis umgekehrt, könnte dieser Staat nicht bestehen. „Er [der Staat] braucht ungleich mehr Aerme als Köpfe, mehr Bauern, welche mäßige Grundstücke besitzen und cultiviren, als Algebraisten, die das Feld der Speculationen anbauen.“ Der Dienst, den ein Mathematiker dem Staat leiste, sei „unter gewissen Umständen […] ungleich schwerer zu leisten, und von höherem Werthe“, als der des Bauern. Hierdurch werde erneut die Ungleichheit der Mittel, die dieser Person zustünden, gerechtfertigt: Es sei leichter, „tausend arbeitsame Bauern, als Einen Leibniz, Newton, Euler, Bernoulli oder Archimedes zu finden.“342 Daher müsse ein Mathematiker, der als einzelne Person für den Staat sehr wertvoll sei, auch besser entlohnt werden als ein Bauer, der lediglich einer unter vielen darstellte. Entscheidend, ob ein Bürger Bauer oder Mathematiker werde, ist also nicht nur die Herkunft und das Vermögen. Vielmehr ist das ausschlaggebend, was Knoblauch als ‚politischen Wert‘ bezeichnet. Betrachtet man diese Bezeichnung außerhalb ihres Zusammenhanges, wird durch sie ein kalt-berechnender Eindruck erweckt. Da es sich hierbei jedoch in erster Linie um die Bildung und die Talente eines Menschen handelt, ist dieses Konzept sogar offener, als eine reine Meritokratie, bei der ein Bürger seinen Wert zuerst beweisen muss, um in höhere Stellungen zu gelangen. Bei Knoblauch hingegen ist es lediglich notwendig, dass das Potenzial eines Menschen erkannt wird, damit ihm eine entsprechende Förderung entgegengebracht werden kann. Hierdurch besteht die Möglichkeit, dass dieser geförderte Mensch zu einem großen Wissenschaftler heranreift und so zum allgemeinen Wohl des Staates beiträgt. Im Gegensatz zu dieser Position Knoblauchs plädierte Riem 1796 in seinem ersten Reisebericht – wie oben dargestellt – noch dafür, dass der sächsische Hof verdiente Bürger in eine vom Hof privilegierte Stellung aufsteigen lassen sollte. Anstelle der alten Ständeordnung schlug er eine neugeordnete Dreigliederung vor, die der Entwicklung des Bürgertums Rechnung zu tragen scheint. In seinem letzten Reisebericht aus dem Jahr 1801 scheint sich Riem jedoch von einer 339 340 341 342
Ebd., S. 445, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 445 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 446. Ebd., Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
meritokratischen Sichtweise abgewandt zu haben und hätte mit seiner neuen Position möglicherweise Knoblauchs Aussagen von 1792 zugestimmt. So lobt Riem in diesem, zu seinen letzten Veröffentlichungen zählenden Werk die Aufhebung der Stände in Frankreich, durch welche „[d]ie französische Nation […] gleichsam zu einer einzigen Familie“ geworden sei, „in welcher alle Glieder gleiche Rechte“343 gehabt hätten. In einem solchen Staat könne jeder „die Früchte seiner Klugheit und derjenigen Art Thätigkeit erndten, der er sich ergeben“ habe, wodurch „[k]ein Talent […] mehr unangebaut oder unter dem Miste einer stinkenden Hoffarth begraben“344 bliebe. Durch die gegenseitige „unermeßliche Konkurrenz“ sei der Bürger zur „höchstmögliche[n] Ausbildung seines Talents“ verpflichtet, wodurch wiederum dem Staat eine „unerschöpfliche Quelle der Industrie eröffnet“345 werde. Im Bezug auf ihr Gesellschaftsbild ähnelten sich vor allem die Positionen Johann Christian Schmohls und Karl von Knoblauchs dahingehend, dass sie letztendlich eine Gesellschaft gleichberechtigter Bürger bevorzugen. Dass hierbei ausschließlich Männer zu politischen Wesen – also zu Bürgern – werden können, entspricht dabei dem bis weit in das übernächste Jahrhundert hineinreichenden Konsens. Während Riem bis in die 1790er-Jahre hinein mit einer, den veränderten gesellschaftlichen Umständen angepassten ‚neuen‘ Ständeordnung von Adel, Bürgertum und der Landbevölkerung zufrieden ist, scheint er Anfang des neuen Jahrhunderts – nun selbst Bürger der französischen Republik – von einer ständischen Ordnung abgerückt zu sein. Für Knoblauch, bei welchem sich schon zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit erkennen lässt, dass er jeden Menschen mit universellen und allgemeinen Menschenrechten ausgestattet sah, gewinnt die Frage, wie Ungleichheit in einer Gesellschaft erklärt und gerechtfertigt werden könne, mit Beginn der Französischen Revolution an Bedeutung. Hierdurch entsteht bei ihm das Konzept verschiedener Bürgerklassen innerhalb eines Staates: Je nach gesellschaftlicher Aufgabe und ‚politischem Wert‘ gehören die Bürger unterschiedlichen Klassen an, mit welchen wirtschaftliche Privilegien – beispielsweise Handelskonzessionen – einhergingen. Durch diesen Zusammenhang konnte Knoblauch die unterschiedlichen bürgerlichen Rechte innerhalb einer Gesellschaft für sich zufriedenstellend erklären und legitimieren. Johann Christian Schmohl bewertete unterschiedliche Besitzverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft, verglichen mit Knoblauch, komplett gegenteilig: Ungleich verteiltes Vermögen führte seiner Ansicht nach zu einer Diskrepanz der gesellschaftlichen Machtverteilung und musste zwangsläufig in der Auflösung der von ihm angenommenen demokratischen Gesellschaftsform resultieren. Aus Schmohls Sicht ist daher nicht die Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft nützlich und notwendig, sondern mit aller Kraft zu vermeiden. 343 Riem: Reise, Frankreich 3 (wie Anm. 530, S. 98), S. 226, Hervorh. i. Orig. 344 Ebd., S. 227. 345 Ebd., S. 227 f.
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Kein Thema: Die Gleichberechtigung von Frauen Auffällig – aber letztendlich nicht verwunderlich – ist, dass in den Schriften aller drei Autoren Frauen auf keine besondere, also dem zeitgenössischen Frauenbild widersprechende Weise erwähnt werden. Gerade eine feministisch-emanzipatorische Sichtweise auf die Situation der Frauen macht aber hingegen nach der Überzeugung einer teleologischen Aufklärungsforschung einen zentralen Aspekt der ‚Radikalaufklärung‘ aus.346 Dies kann jedoch für keinen der drei Aufklärer bestätigt werden.347 Aus ihren Schriften geht – sofern Frauen überhaupt erwähnt werden – ein Frauenbild hervor, das die Rolle der Frau auf die der liebevollen Hausmutter oder freundschaftlichen Partnerin des Mannes und damit auf den häuslichen Bereich beschränkt.348 So ist für Schmohl der Mann das einzige Oberhaupt der Familie und für deren Repräsentation in der Öffentlichkeit verantwortlich: Der Familienvater „sey über seine Weiber, Söhne und Töchter Gesetzgeber, Richter, willkührlicher Monarch, das ist, Familie“.349 Tätigkeiten, die als weiblich angesehen werden, sind in Schmohls Augen negativ konnotiert und disqualifizieren zur politischen Teilhabe. Besonders drastisch formuliert er: Unter unserm Volk, wo die Männer größtentheils Weiberbeschäftigung treiben, und die Weiber blos Buhlerey – da sollte man gar nicht fragen, ob Schneider, Schuster, Weber, Bettler, Abtrittaus346 Vgl. hierzu die Kritik an Jonathan Israel, Margaret Jacobs und Siep Stuurmans: Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde (wie Anm. 14, S. 3), S. 156. 347 Auch bei anderen Aufklärern lassen sich nur schwer Positionen finden, die eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an der gesellschaftlichen wie politischen Öffentlichkeit über die Familie hinaus fordern. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine Ausnahmen gab; sie sind nur sehr selten, wie beispielsweise der Übersetzer und Herausgeber von Mary Wollstonecraft (1759–1797), Georg Friedrich Christian Weißenborn (1764–1834): „Wie bei der Rousseau-Kritik Wollstonecrafts attackiert Weißenborn die Argumentation von der physischen Unterlegenheit der Frau und bestreitet jegliche Unterschiede im physiologischen Aufbau des Gehirns und der Sinnesorgane zwischen den Geschlechtern. Weißenborn zieht ohnehin jeglichen Determinismus zwischen biologischen Anlagen und Ausbildung von moralischen Haltungen und intellektuellen Fähigkeiten zur Charakterisierung einer ganzen Gruppe, Klasse oder eines Geschlechts in Zweifel. Er betont vor allem die Rolle des jeweilig bedingten kulturellen und sozialen Umfelds. Die Zurücksetzung der Frauen bei der Ausbildung, die Verhinderung des Zuganges des weiblichen Geschlechts zu Wissen und Beruf habe – auch hier das Wollstonecraft-Argumentationsmuster – zu den beklagenswerten Mängeln in der körperlichen und geistigen Verfassung ihres Geschlechts geführt. […] Noch entschiedener als die Wollstonecraft […] besteht Weißenborn auf der ökonomischen Unabhängigkeit der Frau und ihrem Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit, ja zur gesamten bürgerlichen Öffentlichkeit, als Voraussetzung für ihre Emanzipation.“ Michael Niedermeier: Die Wollstonecraft-Salzmann-Legende. Mary Wollstonecraft und ihr bisher unbekannter deutscher Herausgeber und Übersetzer Georg Friedrich Christian Weißenborn. In: Zeitschrift für Germanistik 3 (1993), S. 606–618, hier S. 612. Die Beschränkung der Frau auf den Haushalt, die oft als ‚Mitherrschaft‘ geschönt wurde, kritisierte Weißenborn, da der Mann die Frau nur als Bedienstete betrachte und diese durch die Abhängigkeit zu Boden drücke, was ihm selbst ein Überlegenheitsgefühl gebe. Diese erzwungene Unmündigkeit verhindere die selbstbestimmte Entwicklung eines Menschen. „Die Beschränkung auf den häuslichen Bereich ziehe eine Verkrüppelung der intellektuellen Anlagen nach sich, was wiederum […] verhindere, daß wahre Freundschaft zwischen den Ehepartnern entstünde.“ Ebd. 348 Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 145–160. 349 Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 112.
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räumer, Schinder, Stimme bey der Gesetzgebung haben sollten. Im Freystaat sind die Geschäfte, die sich für Männer nicht schicken, weil sie weibisch sind, ein Geschäft der Weiber, die dann, wenn sie weben, schneidern, und andre für ihr häußliches sitzendes Leben schickliche Geschäfte treiben, viel braver seyn werden, als unsre beym Müßiggang, Romanelesen, Buhlen.350
Gleichzeitig sind in Schmohls Augen Frauen, die einem ‚weiblichen‘ Handwerk nachgehen und damit eine produktive Beschäftigung haben, als ‚braver‘ anzusehen als diejenigen, die – wie in Europa – aus Langeweile Romane lesen oder buhlen. Dagegen empfindet es Schmohl in seinem Reisebericht durch das Elsass positiv und erwähnenswert, dass sich hier auch Männer der Gartenarbeit gewidmet hätten. Diese kannte er bisher hauptsächlich als Aufgabenbereich der Frauen. Auch bei dieser – zuerst harmlos erscheinenden Beschreibung – lässt er ein negatives Frauenbild erkennen. So seien die elsässischen Gärten viel ordentlicher, denn hier verfahre der Bauer „viel sorgfältiger im Anbau des Gemüses, als bey mir, wo es bloß ein Geschäft der Weiber“351 darstelle. Die vernünftige Ordnung, die sich in Schmohls Augen in der Bewirtschaftung des Gartens erkennen lasse, wird hierdurch mit den gärtnernden Männern in Verbindung gebracht. Eine derartig vernünftige Ordnung könne, wo ‚bloß Weiber‘ damit beschäftigt seien, nicht erreicht werden. Auch bei Riem lassen sich vergleichbare Formulierungen und Bewertungen finden. Wie bei Schmohl ist auch bei ihm Weiblichkeit deutlich negativ konnotiert: Seiner Meinung nach sollen sich Frauen keinesfalls in die Politik einmischen. So sieht er 1797 den Einfluss von „Pfaffen und Weiber[n]“ in der Politik der Batavischen Republik als zu groß an. Beide seien „gleich uncultivirt, was die Mehrheit anlangt, und gleich wenig geschickt zu einem Einflusse, der überhaupt nicht statt finden sollte.“352 Auch hielt er es für sinnvoll, dass alle Republiken und Monarchien „ihren Gesandten es zur Pflicht machten: ‚Ihre Weiber zu Hause zu lassen.‘ “353 Ein Gesandter, der in Begleitung seiner Frau gewesen sei, habe noch nie „was Großes, Gutes, für den Staat, oder sich selbst Nützliches gestiftet“. Weder Geistliche noch Frauen gehörten an einen Ort, „wo es darauf ankommt, die Ehre des Staats und der Gesandtschaft zu befestigen. Weiber sind am allerwenigsten dienlich bei geheimnißreichen Posten, denn sie sind zu neugierig, und zu verbuhlt; und im letzteren Falle ein wahres Gift für den Staat und die diplomatischen Geschäfte.“354 Dies habe besonders für die niederländischen Frauen Geltung, die nach Riems Ansicht über ihre Männer herrschten. Seine Frau in eine Gesandtendelegation aufzunehmen, bewertet er als unglaubliche Schwäche des Mannes. In England, in welchem auch „[d]ie Weiber […] ihre Männer“ beherrschten, bewertet er diesen Umstand im Bezug auf das gesellschaftliche Leben etwas positiver: Bei „große[n] und gute[n] Handlungen“ könne man hier davon ausgehen, „daß sie 350 351 352 353 354
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 184. Ders.: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 367. Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 68. Ders.: Reise, Holland 2 (wie Anm. 513, S. 96), S. 398, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 399.
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dem guten Gefühl eines weiblichen Herzens ihr Daseyn verdanken“, welches diese guten Taten „vorbereitete und bewirkte.“355 Hier übertreffe „weibliches Geschlecht das männliche an Vernunft und gutem Gefühle bei weitem“, wodurch die Frauen sich England zum „Paradies der Weiber“356 gemacht hätten, als das es – vor allem von Engländern selbst – gerne bezeichnet wurde.357 Diese positivere Beschreibung ist jedoch lediglich relativ, da Riems Bild der englischen Männer durchweg negativ ist: So kennt Riem keine andere europäische Nation, „bei welcher der menschliche Verstand“ – und hierbei ist ‚menschlich‘ synonym mit ‚männlich‘ zu verstehen – „weniger auf solide Grundsätze des Denkens und Handelns befestigt wäre, als bei den Engländern.“358 Als Beleg nennt Riem Charaktereigenschaften, welche er im Falle der Batavierinnen als spezifisch weiblich bezeichnet hatte: Eine große Neugierde und das Bestaunen von Ungewöhnlichem sowie eine Unstäte bei Meinungen und Empfindungen. Hierdurch sei die „Mehrheit der Nation von der Würde eines beharrlichen Charakters“ weit entfernt „und zwar oben von der Politik an, bis aufs Kleinste herab“.359 Durch dieses charakterliche Defizit seien nur Engländer und „die wilden Russen“ dazu fähig gewesen, „sich dem Weiberregiment zu unterwerfen“, was Riem als äußerst schändlich erachtet: „Männer ließen sich, von Maria, Elisabeth und Anna, wie Drathpuppen regieren.“360 Während Riem den stärkeren Einfluss von Frauen auf die gesellschaftliche Sphäre weniger negativ bewertet, empfindet er weibliche politische Macht als geradezu verwerflich. Was in Ländern mit männlichen Herrschern selbstverständlich ist, nämlich dass die Untertanen ‚wie Drahtpuppen‘ regiert werden, ist im Falle, da Frauen an der Spitze eines Staates stehen, für Riem ein undenkbarer Angriff auf das männliche Selbstverständnis. Da sich bei Karl von Knoblauch keine vergleichbaren Aussagen finden lassen, scheint er generell ein etwas positiveres Frauenbild gepflegt zu haben. Zwar werden in seinen Artikeln zur Wunderkritik immer wieder – meist ältere – Frauen als besonderes Beispiel für Leichtgläubigkeit herangezogen. Dennoch lassen sich in seinen Schriften auch andere Beispiele finden. So sind einige seiner philosophischen Artikel in der fiktiven Abendgesellschaft des Abbé Palmerin angesiedelt, die von diesem nach der antiken griechischen Lyrikerin Sappho (ca. 630–570) als „sapphische[r] Zirkel“ bezeichnet wurde. Bei diesem durfte sich „[a]lles was denkt und empfindet, das heist die schöne Welt“361 einschreiben und teilnehmen, was ausdrücklich Frauen mit einschloss: „[D]as Auditorium besteht aus beiden Geschlechtern“.362 Knoblauch beschränkt Weiblichkeit folglich nicht nur auf das Gefühlvolle oder Empfind355 356 357 358 359 360 361 362
Riem: Reise, England 2 (wie Anm. 29, S. 110), S. 64. Ebd., S. 65. Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 159. Riem: Reise, England 2 (wie Anm. 29, S. 110), S. 148. Ebd., S. 149. Ebd., S. 151, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Sapphischen Zirkel (wie Anm. 17, S. 108), S. 299. Ebd., S. 300.
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same363 und sieht ebensowenig Denken oder Verstand als ausschließliche Eigenschaften der Männer an. Stattdessen gesteht er Männern wie Frauen zu, sowohl Gefühl als auch Verstand in sich zu vereinigen. Dies spiegelt sich auch in den Themen wider, die in Palmerins sapphischen Zirkel besprochen werden. Sie sind keinesfalls nur schöngeistig-gefühlvoll, sondern behandeln beispielsweise die historische Instrumentalisierung von Religion zur Durchsetzung von Gesetzen und zur Beeinflussung von Menschen.364 Ebenfalls thematisiert Knoblauch seine bis 1792 gültige, spinozistische Philosophie365 sowie die Entwicklung des Menschen.366 Auch verehrte er zeitgenössische Dichter- und Philosophinnen wie Marie Anne Henriette Payan de l’Etang (D’Autremont/Bourdic-Viot)367 (1746–1802), welche – wie Knoblauch selbst – „das Geschrei mürrischer, eigensinniger Censoren“ verachtet habe und „ohne durch ihren [der Zensoren] ungerechten Tadel gekränkt zu werden, den liebenswürdigen Caprizen eines lebhaften und flüchtigen Geschmacks“368 folgte. Auch thematisiert Knoblauch, dass Frauen in der Geschichtsschreibung oftmals nach anderen Maßstäben bewertet würden als Männer. Geschichte entstehe meist „[u]nter den Zeitgenossen: das heist in der Mitte der Vorurtheile, der Leidenschaften, der Unbilden und des Neids.“369 Vor allem mit Frauen in Herrscherpositionen verfahre „die Geschichte vornehmlich gern übel“.370 Als Quellen zur Bewertung historischer Frauen würden Aussagen – gerne von Männern – herangezogen, die nicht als objektiv bezeichnet werden könnten und daher keine zuverlässige Quelle darstellten.371 Frauen seien in der Geschichtsschreibung oft „Nichts als ein Opfer der 363 364 365 366 367
368 369 370 371
Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 156 f. Vgl. Knoblauch: Sapphischen Zirkel (wie Anm. 17, S. 108). Vgl. Ders.: Lection (wie Anm. 17, S. 251). Vgl. Ders.: Abendgesellschaft (wie Anm. 9, S. 250). Während sich über Marie Anne Henriette in der modernen Forschung nichts Gesichertes finden lässt, scheint sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert recht bekannt gewesen zu sein. Sie wurde 1746 in Dresden geboren und wuchs in Frankreich auf. Sie scheint jung an einen Marquis d’Antremont verheiratet worden zu sein, unter dessem Namen sie Knoblauch als Schriftstellerin und Philosophin kannte. Früh entwickelte sich ihr Interesse für Lyrik und Philosophie. Eine breitere Bekanntheit erlangte sie vor allem durch die Veröffentlichung ihrer schriftstellerischen Arbeiten im Almanach des Muses in den Jahren 1769–1787. Sie korrespondierte mit Voltaire und wurde in die Académie des sciences, belles-lettres et arts de Lyon aufgenommen. 1799 veröffentlichte sie mit Éloge de Montaigne eine Lobrede auf Michel de Montaigne. Ebenfalls verfasste sie eine Oper in zwei Akten, La Forêt de Brama. Nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes heiratete sie noch zwei weitere Male und war hierdurch unter den Namen Bourdic und Viot bekannt. Vgl. Frau von Bourdic Viot. In: Allgemeines Intelligenzblatt für Literatur und Kunst 49 (25. Dez. 1802), S. 398–400; Pascal Jean-Noël: Présence Des Femmes Poètes Dans l’Almanach Des Muses, de La Prise de La Bastille à Thermidor. In: Orages 12 (2013), S. 267–282, hier S. 268 f. Knoblauch: Ueber Faunen 2 (wie Anm. 306, S. 65), S. 128, Hervorh. i. Orig. Ders.: Wahrmund an Wißlieb. Eine historische Lektion. In: Hyperboreische Briefe 5 (1789), S. 109–113, hier S. 109. Ebd., S. 110. Unter anderem am Beispiel Eleonores von Aquitanien (1122–1204) führt Knoblauch aus, dass über diese „sehr verdächtig“ geschrieben wurde. Ihre negative Bewertung entspringe jedoch den Aussagen ihres Mannes Ludwig VII. (1120–1180) und denen des Hofes. Hierbei seien we-
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Eifersucht, der Kabale, der weiblichen Bosheit.“372 Da Männer nicht so stark Objekt von nach Geheimnissen lechzenden Phantasien seien, würden sie nicht auf eine derart verzerrende Art und Weise betrachtet. Knoblauch resümiert daher: „So oft die Geschichte auf Königin[ne]n stöst, so macht sie sich verdächtig.“373 Diese Aussage wird Knoblauch wahrscheinlich auch auf die zeitgenössische Berichterstattung bezogen haben, welche vor allem Marie-Antoinette (1755–1793) für den Moralverfall am französischen Hof und Frauen allgemein für alles Schlechte an den Fürstenhöfen verantwortlich machte.374 Die Revision zeitgenössischer, ungerechter Urteile sieht Knoblauch als Aufgabe der Nachwelt an, der es möglich sei, ohne persönliche Interessen auf historische Persönlichkeiten und damit auch Frauen zu schauen: „Die Nachwelt wird uns eben diesen Dienst leisten. Sie wird unsere Denkschriften recidiren. Und Dies gewährt Den jenigen, so darinn mishandelt sind, einen sublimen Trost.“375 Da Knoblauch Frauen in seinen Texten nicht eingehender thematisierte, kann kein abschließendes Urteil darüber gefällt werden, inwiefern sich sein Frauenbild von dem des 18. Jahrhunderts unterschied. Er scheint Frauen allgemein vernünftiges und logisches Denken zugetraut zu haben und beschränkte sie nicht alleine auf das Empfindsame. Dennoch werden alte, als leichtgläubig und abergläubisch angesehene Frauen von ihm gerne als Bild in wunderkritischen Texten herangezogen, was jedoch einem gängigen frühneuzeitlichem Topos entspricht. In seinem privaten Umfeld hatte Knoblauch stets Kontakt zu selbstsicher auftretenden Frauen, wie seiner Mutter, die Knoblauch und seine Schwester nach dem frühen Tod ihres Mannes alleine aufzog, oder seiner Schwägerin Caroline von Bodé, die als Hofdame und später Staatsdame am Darmstädtischen Hof Einfluss auf die dortige Politik nahm. Auch diese persönliche Erfahrung dürfte dazu beigetragen haben, dass er Frauen keine intellektuellen Defizite oder Unfähigkeit zur politischen Teilhabe unterstellte. 3.2.3 Die Juden als benachteiligte Minderheit Auch wenn es in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert keine schweren, mit dem Spätmittelalter vergleichbaren Pogrome gab, war die Situation der Juden auch während der Aufklärung weiterhin prekär. Zwar wurde wohlhabenden Juden, da sie intensiv zur Finanzierung des Staates und von Kriegen herangezogen wurden, eine relative Sicherheit gewährt, welche jedoch ebenfalls von diesen selbst durch Schutz-
372 373 374 375
der „die Eifersucht eines Königs“ noch die „Schlangenzüngig[keit]“ des Hofes „ein historischer Beweis“ ebd. Ebd., S. 111. Ebd. Vor allem bei Andreas Riem lässt sich eine derartige Argumentation finden, wie in Kapitel 3.4.3 dargestellt wird. Ebd., S. 112 f.
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geld bezahlt werden musste.376 Dennoch waren die Juden überall „stets nur geduldete, jederzeit von Ausweisung bedrohte Außenseiter ohne sicheren rechtlichen Status.“377 Die Debatte um die prekären Umstände, unter denen die Juden leben mussten, begann Anfang des 18. Jahrhunderts. So wurde schon 1714 in der Schrift des irischstämmigen Philosophen John Toland (1670–1722), Gründe für die Einbürgerung der Juden in Großbritannien und Irland, die Forderung erhoben, die Lebenssituation der Juden zu verbessern: Dies konnte aus „wirtschaftlichen Gründen“ oder aufgrund von „Menschenliebe, die vor den Juden nicht haltmachen konnte“, geschehen, aber „auch aus der Überzeugung, daß alle Probleme des menschlichen Gemeinschaftslebens nur durch menschliches Verständnis und gegenseitige Duldung und nur auf der Basis einer für alle geltenden gleichen Rechtsordnung sich lösen ließen.“378 Daneben war ebenfalls das aufgeklärte Interesse für die exotische Andersartigkeit der Juden und ihrer meist auf Ghettos begrenzten Lebensweise ein Faktor für diese Beschäftigung. Dieses Interesse fiel jedoch nicht immer zugunsten der Juden aus: Auch während der Aufklärung waren „die Kräfte der Beharrung und Tradition meist stärker“, sodass die selbsterklärten „Verfechter der neuen Gedanken oft selbst nicht von den alten Vorurteilen loskamen“. Hierdurch beherrschten „die überkommenen Vorstellungen, gegen die doch sonst die Aufklärer mit allen Kräften ankämpften, in der Judenfrage weiter die Gedanken und Gefühle“379 vieler Aufklärer. Aus aufgeklärtdeistischer Sicht konnten die Juden auch aufgrund des Festhaltens an Brauchtum und Traditionen, die als überholt angesehen wurden, der Kritik anheimfallen.380 Speziell für den deutschsprachigen Raum stellt zwar die durch Christian Konrad Wilhelm Dohm 1781 veröffentlichte Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden aufgrund der von ihr hervorgerufenen positiven wie negativen Reaktionen einen gewissen Fixpunkt dar, der als Auslöser eines breiteren Diskurses anzusehen ist. Dennoch war die Thematisierung jüdischer Themen und der prekären Situation der Juden vor 1781 nicht vollkommen unbekannt in Deutschland.381 Einen Teil trug hierzu die als Haskala bezeichnete jüdische Aufklärung bei, die ihr intellektuelles Zentrum um Moses Mendelssohn in Berlin hatte. Aufgrund der dortigen, relativ jungen und daher eher traditionslosen Gemeinde bestand hier die Möglichkeit, sich aus einem jüdischen Selbstverständnis heraus mit Aufklärung – auch im 376 Vgl. Christian Konrad Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kritische und kommentierte Studienausgabe. Kommentar. Hg. v. Wolf Christoph Seifert. Bd. 1.2. Göttingen 2015, S. 26 f., 34–38; Julius H. Schoeps: Aufklärung, Judentum und Emanzipation. In: Vorstand der Lessing-Akademie (Hg.): Judentum im Zeitalter der Aufklärung. Bremen u.a. 1977 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 4), S. 75–102, hier S. 79–85. 377 Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 264. 378 Alex Bein: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems. Bd. 1. Stuttgart 1980, S. 166 f. 379 Ebd., S. 167. 380 Vgl. ebd. 381 Vgl. hierzu zusammenfassend: Jacob Toury: Toleranz und Judenrecht in der öffentlichen Meinung vor 1783. In: Vorstand der Lessing-Akademie (Hg.): Judentum (wie Anm. 376), S. 55–73.
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Zusammenhang mit der eigenen Religion – zu beschäftigen, während Aufklärer jüdischer Herkunft sich ansonsten von ihrer Herkunft und Gemeinde zu distanzieren versuchten.382 Ebenso befasste sich Gotthold Ephraim Lessing schon in seinem 1749 uraufgeführten Lustspiel Die Juden mit den Vorurteilen seiner Zeitgenossen gegenüber Juden und prangerte diese an. Das heute weitaus bekanntere, erstmals 1779 veröffentlichte Drama Nathan der Weise ist mit seiner jüdischen Hauptfigur Nathan ebenfalls als Plädoyer für eine Neuordnung der menschlichen Beziehungen über alle Konfessions- und Religionsgrenzen hinweg zu verstehen.383 Johann Christian Schmohls Forderung nach vollkommener Gleichberechtigung der Juden Im gleichen Jahr, aber noch vor Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, veröffentlichte Johann Christian Schmohl im Frühjahr 1781 seine Sammlung von Aufsätzen verschiedener Verfasser.384 Hierin ist als dritter Artikel das Fragment aus der Lebensgeschichte eines Elsaßer Wiedertäufers enthalten. Schmohl kündigte als Titelzusatz an, dass dieser Text ebenfalls eine Untersuchung der Frage umfassen sollte, „[o]b und in welchen Umständen man den Juden nicht nur freyes Religionsexerzizium, sondern selbst gleiche Rechte des Menschen und Bürgers mit den Christen einräumen könne und zum Vortheil des Staats müsse.“385 Schmohl wurde beim Abfassen seines Textes also weder durch Dohms Text noch durch die Debatte, die er auslöste, beeinflusst. Da nicht bekannt ist, ob Dohm wiederum Schmohls Artikel vor der Fertigstellung seiner Bürgerlichen Verbesserung gelesen hatte, kann über einen eventuell umgekehrten Einfluss Schmohls auf Dohm nur spekuliert werden. Dass Dohm wiederum Schmohls Sammlung kannte, lässt sich durch eine Rezension, auf die weiter unten ausführlicher eingegangen wird, belegen. Bei Schmohls Fragment handelte es sich nicht um den ersten Text, in welchem er die Lebensumstände von Juden thematisierte. Eine kurze Passage hierzu lässt sich ebenfalls in der 1780 veröffentlichten Urne finden: So kritisierte er Basedow und den Fürsten von Anhalt-Dessau, Leopold III. Friedrich Franz, die sich beide bisher noch nicht genügend für die Juden eingesetzt hätten. Weder seien neue „Luthe382 Vgl. Christoph Schulte: Kant und die jüdische Aufklärung in Berlin. In: Emundts (Hg.): Kant (wie Anm. 43, S. 10), S. 80–95, hier S. 80–85; zusammenfassend zur Haskala, der jüdischen Aufklärung: Ders.: Zur Debatte um die Anfänge der jüdischen Aufklärung. In: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 54.2 (2002), S. 122–137. 383 Vgl. Forst: Toleranz (wie Anm. 44, S. 112), S. 404–408. 384 Schmohls Buch erschien auf der Leipziger Jubilate-Messe, die 1781 – entsprechend dem dritten Sonntag nach Ostern – um den 6. Mai 1781 stattgefunden haben muss. Ebenfalls geht aus einem Brief an Isaak Iselin vom 19. Mai 1781 hervor, dass die Sammlung zu diesem Zeitpunkt schon erschienen war. Vgl. Schmohl: Rezension (wie Anm. 107, S. 32), S. 261; Johann Christian Schmohl an Isaak Iselin, 19. Mai 1781, StABS Nachlass Isaak Iselin PA 98a 38 p. 116–118. Dohms Bürgerliche Verbesserung erschien Ende des Jahres: Zwar ist das Vorwort auf den 3. August 1781 datiert, es war jedoch erst Ende August fertig. Erst am 24. August schickte Dohm den Schluss des Werkes zur Korrektur an Moses Mendelssohn. Vgl. Dohm: Bürgerliche Verbesserung (Studienausgabe) (wie Anm. 376), S. 45. 385 Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 41.
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raner[], Katholiken und Juden ins Land gekommen“ noch seien die, die schon im Land lebten, zu einer „brüderlichen Gesinnungsart gegen einander“ gebracht worden. Weiter bemängelte Schmohl besonders mit Blick auf die Juden: „Noch treiben die Juden in Dessau keinen Ackerbau; sind noch keine zunftmäßigen Handwerker, keine Kaufleute, keine Professoren, keine Hofräthe – sondern immer noch die alten Schächers, die sie waren.“386 Ausführlicher – und durch die Unterüberschrift: ausdrücklich – widmete sich Schmohl mit seinem Fragment den jüdischen Lebensumständen. Der Text selbst ist mehrfach verschachtelt: Der eigentliche Text enthält als Vorrede ein fiktives Schreiben an „Johann Hübel, Pächter des W. Landguts zu R. in Oberelsaß“.387 Der Absender ist dessen „Freund Wbr.“388 Zwar wird der Brief auf den Odilienberg verortet, es scheint sich jedoch nicht um den dortigen Wiedertäufer-Pächter zu handeln, in dessen Position sich Schmohl als Autor des Textes versetzte, da sich diese unbekannte Person selbst als Lutheraner bezeichnete.389 Datiert ist der Brief auf den 29. Juni 1779, wobei sowohl der Ort als auch die Datierung als fiktiv angesehen werden können, da sich Schmohl im Juni 1779 in Basel beziehungsweise im benachbarten Weil aufhielt. Seine Reise durch das Elsass, die ihn auch auf den Odilienberg führte, fand im Frühjahr desselben Jahres statt, was zusätzlich zu Schmohls eigener Angabe auch durch einen Eintrag in Gottlieb Konrad Pfeffels Fremdenbuch belegt werden kann.390 Der Absender gibt zu Beginn dieses Schreibens an, von Hübel eine biographische Handschrift erhalten zu haben, die er von Hübels „provinzielle[r] Volkssprache in die hochdeutsche und in der gelehrten Welt modischere verwandelt habe“,391 um es danach drucken zu lassen. Das Fragment beginnt mit einem von Schmohl leicht veränderten Zitat aus Paulus’ Römerbrief, das mit der Intention angeführt wurde, den Anspruch der alleinigen Gültigkeit der verschiedenen Religionen zu relativieren: „Oder ist Gott allein der Christen Gott? ist er nicht auch der Juden, Türken, Heiden und aller Völker Gott? ja freylich auch der Juden, Türken, Heiden und aller Völker Gott.“392 Da es sich um ein Fragment handeln soll, beginnt der Text nach Auslassungszeichen in medias res. Der Wiedertäufer, von welchem der Text stammen soll, berichtet von zwei Preisfragen, die von der „neuerichtete[n] philantropische[n] Gesellschaft zu Straßburg“ gestellt worden seien.393 Die erste Frage um386 387 388 389 390 391 392
Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 165. Ders.: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 43. Ebd., S. 55. Vgl. ebd., S. 49. Vgl. Hertzog: Besuch (wie Anm. 7, S. 16), S. 382. Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 43. Ebd., S. 58 – Im Original (Röm. 3,29) bezieht sich diese Stelle lediglich auf Juden und Heiden: „Oder ist Gott alleine der Juden Gott? Ist er nicht auch der Heiden Gott? Ja freilich auch der Heiden Gott.“ Das Zitat wird abgeschlossen durch Röm. 2,30 sowie Röm. 11,1–2. 393 Diese Gesellschaft wurde wohl 1770 gegründet und hatte sich einer „praktisch orientierte[n] Aufklärungs- und Wohlfahrtsarbeit“ verschrieben, die den Philanthropismus mit landwirt-
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fasste „die Verbesserung der Landwirthschaft in [sic.] Elsaß, und die andere den Zustand der Juden“.394 Beide Fragen hätten dem Wiedertäufer keine Ruhe gelassen, sodass er begonnen habe, seine Antwort darauf aufzuschreiben. Er beginnt mit der Beantwortung der Frage nach der Situation der Juden, da hierüber „die Stimme der Menschlichkeit […] am lautesten und unaufhörlich über uns Christen schrey[en]“395 müsste. Auch diese durch den Wiedertäufer berichtete Entstehungsgeschichte dürfte fingiert sein. Schmohl wird jedoch auf seiner Reise durch das Elsass die dortige Judenfeindschaft unmittelbar erlebt haben, die in den Jahren 1778 und 1779 ihren Höhepunkt fand.396 Die in diesem Zusammenhang entstandene Denkschrift Mémoire sur l’état des Juifs en Alsace, die Dohm veranlasste, seine Bürgerliche Verbesserung zu verfassen und die im Anhang derselben veröffentlicht wurde, konnte Schmohl jedoch nicht kennen.397 Er wurde aber für seinen Text von den gleichen Ereignissen beeinflusst. Am Anfang des Textes widmet sich Schmohl den theologischen Begründungen, mit welchen aus christlicher Sicht die Lebenssituation der Juden theologisch zu rechtfertigen versucht wurde. Die Thesen, gegen die Schmohl argumentiert, scheinen vor allem der lutherisch geprägten Theologie beziehungsweise den judenfeindlichen Äußerungen Luthers zu entspringen.398 Zu Beginn seiner Antwort macht
394 395 396
397 398
schaftlicher Aufklärung verbinden wollte – ähnlich wie es das Konzept eines Landphilanthropins vorsah, das Schmohl und seine Freunde nach ihrer Abreise aus Dessau geplant hatten. Der Straßburger Gesellschaft ging es „darum, Anbaumethoden zu verbessern, neue Erfahrungen und Errungenschaften in der Landwirtschaft zu übernehmen und damit die Ertragsquoten zu steigern. In der Zielsetzung der Straßburger ‚Société des Philanthropes‘ verpflichteten sich die Mitglieder zu Gleichheit und Brüderlichkeit und bekannten sich zu einer deistischen Naturreligion.“ Barbara Richter: Franz Heinrich Ziegenhagen. Leben, Werk und Wirken eines engagierten Kaufmanns und Philanthropen im Zeitalter der Aufklärung. Münster 2003 (Veröffentlichungen des Hamburger Arbeitskreises für Regionalgeschichte 15), S. 56. Auf einer Mitgliederliste aus dem Jahr 1777 werden 53 Mitglieder genannt, unter anderem auch Isaak Iselin und Christian Wilhelm Dohm. Schmohls Freunde Johann Friedrich Simon und Johann Schweighäuser sind zwar nicht auf dieser Liste verzeichnet, da sie erst 1778 zurück nach Straßburg kamen, waren jedoch ebenfalls Mitglieder dieser Gesellschaft. Vgl. ebd., S. 56 f. Die angeblich gestellten Preisfragen lassen sich nicht nachweisen und sind vermutlich von Schmohl fingiert. Vgl. Jacob Toury: Emanzipation und Judenkolonien in der öffentlichen Meinung Deutschlands (1775–1819). In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 11 (1982), S. 17–53, hier S. 22. Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 59. Ebd., S. 60. Vorausgegangen war eine Schuldenaffäre: Christliche Bauern hatten, um die Rückzahlung ihrer Schulden vorzutäuschen, entsprechende Quittungen gefälscht. Eine judenfeindliche Stimmung wurde durch den oberelsässischen Landvogt François Hell (gest. 1794) aufgeheizt, welcher zudem 1779 eine antijüdische Hetzschrift veröffentlichte. Durch die unterschlagenen Rückzahlungen gerieten die kreditgebenden Juden in eine finanzielle Notlage und baten um Hilfe. Infolge einer Untersuchung wurde Hell als Drahtzieher zwar bestraft und versetzt. Die judenfeindliche Stimmung blieb in der Bevölkerung jedoch bestehen. Vgl. Paul Assall: Juden im Elsass. Moos 1984, S. 149–153. Vgl. Dohm: Bürgerliche Verbesserung (Studienausgabe) (wie Anm. 376, S. 320), S. 39–43. Vgl. hierzu zusammenfassend: Bein: Judenfrage (wie Anm. 378, S. 320), S. 125–129.
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der fiktive Wiedertäufer jedoch deutlich, welch wohlwollendes Bild er von den Juden habe: So betont er ohne jede Ironie, dass es sich, schaue man sich die religiöse Überlieferung an, bei den Juden um „das auserwählte Volk Gottes“ handele, „das er würdigte, selbst als König zu regieren, dem er sich in einer Herrlichkeit offenbarte, wie keiner anderen Nation“. Dieser aus theologischer Sicht erhabene Zustand, dessen Legitimität der religiöse Wiedertäufer nicht absprechen möchte, wird von ihm direkt mit der schlechten Situation der Juden in seinem Land und zu seiner Zeit kontrastiert: Die Menschen, „die also die Herren der ganzen Welt seyn und über alle andere Völker leuchten sollten, wie der Mond unter den Sternen; sind im Gegentheil unter allen Völkern das elendeste, das verworfenste, der Koth, auf dem wir treten.“399 Sie hätten keine Königreiche oder Republiken mehr, „sondern sind Sklaven und Fußschemel von uns Heiden“.400 Der Wiedertäufer führt an, dass er in Predigten gehört habe, dieser miserable Zustand sei die „Strafe für ihre Verwerfung und Creutzigung des Herrn“ und „daß sie zum ewigen Beweis der Wahrheit unserer allerheiligsten Religion durch die Welt herumlaufen, und in Knechtschaft leben müßten“.401 Um diese theologische Begründung für die prekäre Lage der Juden zu entkräften, lässt Schmohl den Wiedertäufer religionskritische Argumente gegen das Christentum anführen, die aus Sicht eines Theologen wahrscheinlich hochgradig blasphemisch erscheinen mussten.402 Der Wiedertäufer könne sich nämlich nicht vorstellen, weshalb die „Zerstreuung“ der Juden über viele Länder „übernatürlich seyn sollte[].“403 Hierfür seien vielmehr auf der einen Seite die jüdische „Religions- und Staatsverfassung“ sowie ihr „Nationalcharakter und ihre[] Denkart“ und auf der anderen Seite das „Betragen der übrigen Nationen und vorzüglich der christlichen gegen sie“404 verantwortlich. Hätte die Wahrheit der christlichen Religion durch die Juden bewiesen werden sollen, hätte Gott, wie Schmohl den Wiedertäufer ironisch anmerken lässt, „seinen Zweck eher erreicht […], wenn er sie alle hätte lassen Christen werden“. Wolle man jetzt hingegen die Juden „von irgend einer Sache als“ Zeugen gelten lassen, so zeugten sie durch ihre schlimme Lage „mehr von der Ungöttlichkeit Christi und der Falschheit der christlichen Religion, als von seiner Gottheit und der Wahrheit seiner Lehre.“405 Gerade die Christen gingen schließlich mit den Juden so um, als wollten sie die Ungöttlichkeit und Falschheit ihrer eigenen christlichen Religion beweisen.
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Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 61. Ebd., S. 62. Ebd. Was als ausschlaggebend für die mehrmalige Verschachtelung und die damit verbundene Verschleierung der Autorschaft des Textes betrachtet werden kann. 403 Ebd., S. 62 f. 404 Ebd., S. 63. 405 Ebd., S. 64, Hervorh. i. Orig.
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Es könne ebenfalls nicht behauptet werden, die Juden seien bestraft worden, um sie dadurch zu bessern. Wäre dies der Fall, würden darüber hinaus die Christen durch die schlechte Behandlung der Juden alles daran setzen, „die Absicht Gottes zu vereiteln“, indem sie den Juden die Möglichkeit nähmen, sich zu bessern. Gleichzeitig wäre dies ebenfalls der Fall, wenn behauptet werde, sie sollten ‚gebessert‘ werden, indem sie zu Christen ‚gemacht‘ würden. Dann hätte Gott „sie müssen unter Leute setzen, die mit ihnen umgiengen, wie sichs Christen geziemt und sie durch Liebe und Wohlthun gewönnen. Sind wir das? thun wir das?“406 Auch wenn Schmohl den Wiedertäufer die Juden wenig schmeichelhaft als den „Koth, auf dem wir treten“407 oder auch als „Spitzbuben“408 bezeichnen lässt, dient diese Wortwahl – die überwiegende Mehrzahl der Bezeichnungen ist nicht negativ konnotiert – vor allem zur Verdeutlichung der prekären Lage, in welche die Juden durch die Christen gebracht wurden. Hauptbestandteil dieses ersten Teiles ist nicht die Beschreibung der Juden als verkommene Charaktere oder als eine Gruppe boshafter Menschen, deren Opfer die Christen seien, wie es in der Darstellung Luthers der Fall war.409 Stattdessen dreht Schmohl diese Argumentation um und stellt die Verkommenheit der Christen in den Vordergrund, da diese die Juden unmenschlich behandeln, während ihnen ihre Religion eigentlich ‚Nächstenliebe‘ vorschreibt. Dass hierbei selbstverständlich der ‚Nächste‘ auch der gleichen Religion – und sogar der gleichen Konfession! – angehören muss, deckt sich mit Schmohls Kritik, die er in den Briefen an Pestalozzi bezüglich der religiösen Erziehung der Landbevölkerung geäußert hatte: Dieser werde beigebracht, dass „so weit Deutsch gesprochen wird“, seien auch „Christen in der Welt“. Hierzu würden diejenigen, die so dachten, jedoch nicht einmal reformierte oder katholische Christen zählen und einen ebenfalls anerzogenen „herzlichen Haß gegen diese“ hegen, „ob sie gleich so gut wie unser Pfarrer von der christlichen Liebe gegen Feinde zu schwatzen wissen“.410 Wenn also selbst mit Christen ‚unchristlich‘ verfahren werde, verwundert es nicht, dass Schmohl dieses Fehlverhalten erst recht im Bezug auf die Juden – nur in weit gesteigerter Form – konstatiert. Hierbei verlässt der Text die hauptsächlich theologische Argumentation des Beginns und wendet sich den ‚weltlichen‘ Miss406 407 408 409
Ebd. Ebd., S. 61. Ebd., S. 64. „Ihr [der Juden] Sinnen und Trachten geht nur darauf aus, die Christen zu quälen, auszubeuten und zu vernichten. Ihre Herrschaft über die Christen ist auch Sinn und Ziel ihres Messiasglaubens.“ Bein: Judenfrage (wie Anm. 378, S. 320), S. 127. „Den Geistlichen empfiehlt Luther, ohne Unterlaß von der Bosheit der Juden zu warnen, den Herrschern, sich mit ihnen nicht einzulassen, sondern sie aus ihren Ländern zu vertreiben[.] […] In den derbsten Worten wird hier also der Judenhaß gepredigt, immer wieder kommt Luther in seinen Kanzel- und Tischreden darauf zurück und fordert die Vertreibung und Vernichtung der Juden – manchmal mit dem Zusatz, daß sie ja in ihr altes Vaterland Palästina zurückkehren könnten, ein Zusatz, der unter den damaligen politischen Verhältnissen wohl mehr als Spott gemeint ist denn als ernsthafter Rat.“ Ebd., S. 129. 410 Schmohl: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 286.
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ständen zu, wenngleich die Stoßrichtung des Textes gleich bleibt. So sind es auch hier ausschließlich die Christen, die an der Situation der Juden Schuld tragen: Wir zwingen sie, Bösewichter zu werden und zu bleiben, indem wir ihnen [i]mmer mit der größten Verachtung begegnen, sie von allen Freyheiten und Rechten eines Menschen und Bürgers in unsern Staaten ausschließen, ihren oft nicht einmal Gewissensfreyheit und ungestörten Dienst Gottes nach ihrer Väter Weise gestatten, ja wohl gar bey Todesstrafe den Eintritt in unser Land verbieten.411
So räche sich nicht Gott an den Juden, sondern allein die Christen. Der Grund hierzu sei ebenfalls nicht, wie oft argumentiert werde, die „Creuzigung des Sohnes Gottes“, sondern lediglich – und als Beweggrund profaner – dass „sie nicht die Religion haben, die wir haben, und unsre für falsch halten.“412 All das, was den Juden widerfahre, geschehe nicht, weil es ein göttliches Wesen so bestimmt habe, sondern alleine aufgrund der niederen, boshaften Triebe „des Hasses und der Rache“413 der Christen, die nicht verkrafteten, dass es neben ihnen Gläubige einer andere Religion geben könnte. Als zweiten großen Punkt beschäftigt sich Schmohl mit der rhetorischen Frage, „welche Lehren, welche Grundsätze“ die Juden hätten, mit denen sie den christlichen „Gesellschaften hinderlich seyn“414 könnten. Hierbei fasst Schmohl in einem knappen, einführenden Absatz gängige antisemitische Argumentationen zusammen, wie er sie in den Diskursen dieser Zeit wiedergefunden haben muss. Sie sind einerseits sprachlich mit antisemitischer Pflanzen-, Krankheits- und Seuchenmetaphorik gepaart und zeigen andererseits Ansätze früher Vernichtungstheorien. Mit diesem Potpourri an antisemitischer Metaphorik, die er aufgreift, zeigt Schmohl, dass er sich ausführlich mit der Thematik beschäftigt hatte. Vor allem aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist ebenfalls interessant, dass die Biologisierung der Sprache, wie sie in diesem Zusammenhang vor allem im 19. und 20. Jahrhundert wichtig werden sollte, schon in den 1780er-Jahren stark ausgeprägt war.415 So führt Schmohl seine Frage weiter aus: [W]elch pestilenzialisches Verderben ist denn in ihre religiöse civile und häusliche Sitten so unausrottbar tief eingewurzelt und wie ein nothwendiger Bestandtheil ihres Körpers und ihrer Seele anzusehn, daß wir verzweifeln dürfen an ihrer Besserung und kein Mittel mehr versuchen wollen, um sie als Räder in der Staatsmaschine zum allgemeinen Besten mitwirken zu lassen?416
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Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 64 f. Ebd., S. 65, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 66, Hervorh. i. Orig. Ebd. Vgl. v. a. zur angesprochenen Metaphorik: Rainer Erb u. Werner Bergmann: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860. Berlin 1989, S. 210–216. 416 Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 66 f.
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Die eingangs gestellte Frage wird im folgenden Absatz direkt und eindeutig beantwortet: Juden unterscheiden sich weder geistig noch körperlich von Christen.417 Sie sind Menschen wie wir! haben Bildung, Anlagen und Kräfte des Leibes und der Seelen wie wir. Ihr Geist ist desselben Scharfsinns und Verstandes, derselben Penetration in die Verhältnisse, Beschaffenheiten, Unterschiede und Aehnlichkeiten der Dinge fähig, kann das Gute und Böse, das Wahre und Falsche, das Schöne und häßliche in gleichen feinen Nüanzen unterscheiden als unser!418
Um dem Vorurteil zu begegnen, die Juden könnten keinen Ackerbau betreiben, betont Schmohl: „Sie haben alle die Kräfte und Eigenschaften Leibes und der Seelen, der Sinnen, Nerven, Eingeweide und aller Glieder, die man braucht, um ein braver Bauer zu seyn, wie sie denn in Asia noch heut zu Tag hin und wieder Ackerbau treiben.“419 Gleiches gelte für das Handwerk: „Unter uns Christen bringen sie in Holland als zunftmäßige Handwerksleute den hochmögenden Herren große Vortheile, und in Prag nicht minder.“420 Daneben besitzen sie „Talente und Genie“, um als Künstler, „Tänzer, Musikanten, Mahler, Baumeister, Bildhauer, u. s. w. und in den Wissenschaften aller Art groß zu werden. Wir haben Philosophen, Poeten, Geschichtsschreiber, Aerzte, Theologen, Naturkundige, Redner, Astronomen u. s. w. unter ihnen, denen viel tausende der Christen das Wasser nicht reichen.“421 An dieser Stelle geht Schmohl sogar noch einen Schritt weiter und stellt die Frage, weshalb es unter diesen Umständen unter den Juden auch keine „weisen und gerechten Richter[]“, Polizeibeamte, Staatsmänner oder sogar Könige und Fürsten geben sollte, „wenn sie in Umständen wären, wo sie ihre Naturkräfte dazu entwickeln und sich auf diese Stufen hinauf schwingen könnten?“ Passend hierzu stellt der Wiedertäufer im Anschluss an diese Stelle die Frage, warum man nicht „von all diesen herrlichen Kräften und Talenten derselben keinen besseren Gebrauch machen [könnte], als wir bisher davon machen?“422 Stattdessen erlaube man den Juden lediglich manchmal und „unter den unmenschlich harten Beschwerden des Schutzgeldes, der Zölle und Taxen“, etwas Handel zu treiben. Ebenfalls sei ihnen das „Metzgerhandwerk“ erlaubt, da sie „nicht alles Fleisch essen“. Würde ihnen dennoch an manchen Orten genehmigt, etwas Handwerk oder Ackerbau zu betreiben, geschehe dies nur „unter Auflagen, die 417 Dass sich Juden körperlich deutlich von Nichtjuden unterscheiden würden, wurde nicht nur im Mittelalter, sondern vor allem in der Frühen Neuzeit postuliert. Hierbei wurde neben anatomischen Unterschieden auch von einem ‚Judengestank‘ gesprochen, der ebenfalls von den Nationalsozialisten als wichtiges rassistisches ‚Argument‘ verwendet werden sollte. Vgl. Wulf D. Hund: Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus. Stuttgart 2017, S. 39–44. 418 Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 67. 419 Ebd., Hervorh. i. Orig. 420 Vgl. ebd., S. 68 f. – Auch lasse sich nicht, wie vom Herausgeber ‚Wbr.‘ in einer Fußnote ausgeführt wird, anhand von Darstellungen der Bibel belegen, es habe in Israel keine Handwerker gegeben. Vgl. ebd. 421 Ebd., S. 69 f., Hervorh. i. Orig. 422 Ebd., S. 70.
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einer ehrlichen Handthierung unerschwinglich sind.“ Bedenke man diesen Druck, sei es kein Wunder, wenn diese Menschen einerseits zu positiven Handlungen fähig seien, wie sie „in Leßings Juden [Die Juden, 1749, Anm. M. L.] mit Himmelsfarben geschildert werden“, aber andererseits auch zu solchen negativen, wie sie „Shakespears Jude von Venedig aus der schwarzen Hölle heraufgestohlen hat“.423 Rhetorisch stellt Schmohl am Ende dieses Abschnittes die Frage, wer an diesen Zuständen Schuld trage. Gleichzeitig das Thema des dritten Teiles seiner Untersuchung vorwegnehmend, beantwortet er diese Frage selbst: „Ihre [der Juden] Religion gewiß nicht.“424 Um dies zu belegen, fasst Schmohl die aus seiner Sicht wichtigsten Bestandteile der jüdischen Religion zusammen, die sie von anderen Religionen unterscheide. Hierzu zählt er beispielsweise das Warten und die Hoffnung auf einen Erlöser, besondere Nahrungsregeln, die Beschneidung von Jungen oder den Sabbat. Das Warten auf einen Erlöser ist jedoch nach Schmohls Meinung keine negative Komponente des Judentums, da es zu „Muth und Rechtschaffenheit“ ansporne, da „ihr Erlöser, nach ihrem sehr vernünftigen Glauben aus der bravsten Familie und dann erst kommen wird, wenn sie wirklich die besten Menschen geworden“ seien. Ob die Beschneidung „der Reinlichkeit wegen, oder um entmannenden Ausschweifungen der Jugend vorzubeugen“425 vorgenommen werde, kann Schmohl nicht beantworten. Ob es sich bei der abgeschnittenen Vorhaut um ein gottgefälliges Opfer handeln solle, vermag er ebenfalls nicht zu beantworten: „Ob das Opfer Gott gefalle, ist eine andere Frage, und mir kommts nicht zu, sie auszumachen.“ Ein derartiges Opfer sei jedoch „besser als die Kastration des Pater Origines oder der Cölibat unter den katholischen Christen.“426 Der Sabbat sei hingegen überhaupt nicht zu kritisieren, da die Christen an seiner statt den Sonntag hätten. Lediglich „unser Kommerz und gesellschaftlicher Verkehr“ sei mit den Juden an diesem Tag gestört, „wie unsere Feyer am Sonntag das Ihrige mit uns am Sonntag aufhebt“. Positiv lässt Schmohl den Wiedertäufer jedoch hervorheben, dass die Juden „die Muße ihres Sabbaths bey weitem nicht zu so extremargen Ausschweifungen in Spiel, Trunk u. s. w. misbrauchen, […] wie die Christen an den Tagen, die sie Gott heiligen.“427 Nahrungsregeln und andere „morgenländische[] Gebräuche“ seien ebenfalls nichts, was den Juden oder ihrer Religion schlecht angerechnet werden könne. So habe aufgrund ihrer Regeln „noch kein Schwein ungenossen verfaulen dürfen, das – die Franzosen nicht hatte.“ Sich wie manche Christen über derartige Regeln
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Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 71, Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd., S. 72. Ebd., S. 74. Ebd., S. 75.
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aufzuregen sei „in den Augen eines Staatsmannes so unbedeutend als [das] Durcheinanderschreyen in den Schulen.“428 Gleiches gelte für die jüdischen Feiertage. Als kritisch wird hingegen der Grundsatz bewertet, „daß alle Völker, die sich nicht beschneiden“ ließen oder nicht Jehova anbeteten, als Heiden anzusehen seien und „von aller Kirch- und Staatsgemeinschaft ausgeschlossen werden“ müssten. Dies sei jedoch, wie Schmohl den Wiedertäufer im direkten Vergleich mit dem Christentum relativierend feststellen lässt, „das einzige Böse, in dem sie – uns gleich sind.“ Der christliche Grundsatz, der jeden Menschen, der kein Christ sei, als verdammt ansehe und davon ausginge, dass er in die Hölle kommen müsse, sei „um kein Haar besser“429 und sei im Grunde mit dem jüdischen identisch. Ebenfalls unterschieden sich auch „der moralische practische und seligmachendste Theil“430 beider Religionen nicht voneinander, wie im darauffolgenden Abschnitt erörtert wird. Bis auf die Meinung, dass Juden im Gegensatz zu den Christen Jesus nicht als ihren Erlöser betrachteten, seien sich Juden und Christen so ähnlich, dass selbst Lavater, „der große Physiognomien und Menschenkenner […] selbst den itzt orthodoxesten unchristlichsten Juden für den orthodoxesten unjüdischsten Christen ansehn“431 würde.432 Schmohl betont, dass die Christen gut daran täten, den Juden zu vergeben, wie es Jesus schließlich auch im Sterben getan hätte, und sie nicht weiterhin aus der Gesellschaft auszuschließen. Auf die Relativität von religiösen Überzeugungen hinweisend, appelliert Schmohls Wiedertäufer in Richtung der Christen: „Ihr wißt, daß sie durch eben so wenig Schuld zu Juden geboren worden, als es euer Verdienst ist, daß ihr von christlichen Eltern abstammt“. Diese Christen wären „eben so eifrige Juden“ wie sie jetzt Christen seien, wenn ihre Eltern und Lehrer ihnen von Kindesbeinen an statt des Christentums die jüdische Religion als einzige Wahrheit gelehrt hätten. Hierdurch wäre so eindringlich auf ihr Herz und Verstand gewirkt worden, dass diesen „so eine Richtung gegeben“ worden wäre, die einzig und alleine „zur Bestätigung dieser angenommenen Wahrheit“433 – der jeweils vermittelten Religion – beigetragen hätte.
428 429 430 431 432
Ebd., S. 76, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 78, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 81. Ebd., S. 82. Vermutlich handelt es sich bei der Verwendung der Bezeichnung ‚orthodox‘ in Zusammenhang mit Lavater um eine Anspielung Schmohls auf die sogenannte Lavater-Affäre. Auslöser dieser Affäre war Lavaters Aufforderung an Mendelssohn, dieser solle entweder das Judentum öffentlich verteidigen oder zum Christentum konvertieren. In diesem Zusammenhang wurde in einem 1770 erschienenen, von Johann David Michaelis (1717–1791) verfassten Artikel ‚orthodox‘ erstmals von einem Aufklärer im Zusammenhang mit Juden – in diesem Fall: Mendelssohn – verwendet. Eigentlich ist dieser Begriff, der wörtlich übersetzt ‚rechter Glaube‘ bedeutet, christlich geprägt und wurde bis dahin auch nur in diesem Zusammenhang, vor allem mit Blick auf den Protestantismus, verwendet. Vgl. Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München 2002, S. 188 f. 433 Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 84.
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Obwohl es also keine großen Unterschiede zwischen den Religionen gebe und es lediglich dem Zufall geschuldet sei, ob ein Mensch als Christ oder Jude erzogen werde, würden die Christen die Juden verachten und verfolgen. Gleichzeitig wäre den Christen bewusst, dass diese Verachtung und Verfolgung nicht rechtens sei. Sollten sie sich also, so der Wiedertäufer, dazu durchringen können, freundlicher zu den Juden zu sein und sie als gleichberechtigte Menschen zu akzeptieren, würde das auch die jüdische Meinung von den Christen bessern. Wenn dies geschehen sollte, hält es Schmohl sogar für wahrscheinlich, dass sich beide Religionen annähern und vielleicht sogar irgendwann vereinigen könnten. Da es die Christen seien, welche die Juden unterdrückten und damit deren Gleichberechtigung verhinderten, sei es auch deren Aufgabe, die Juden in den Genuss gleicher Rechte kommen zu lassen: „Und ihr seyds, die ihnen noch einmal nicht nur freyes Religionsexerzizium, sondern selbst alle Rechte und Vortheile des Menschen und Bürgers in euren Staaten verschaffen werdet.“434 Diese der Gleichberechtigung entspringenden Vorteile seien, wie es Schmohl im nächsten Abschnitt ausführt, „den christlichen Staaten […] gewiß nicht unbeträchtlich.“ Der erste Vorteil ergebe sich daraus, was sich wie ein Zirkelschluss anhört, „daß die meisten Nachtheile, die“ den Staaten bisher durch die Benachteiligung erwachsen seien, „aufhörten.“435 Zu diesen Nachteilen gehörten die allgemeinen und „gut gegründeten Klagen“,436 die es über die Juden gebe: „[D]aß sie ohne Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Treue alle List und Bosheit, deren sie fähig sind, aufwendeten, uns zu betrügen und zu bestehlen, wo sie nur wissen und können“.437 Statt sich jedoch dem allgemein angenommenen Fehlverhalten der Juden ausführlich zu widmen, thematisiert Schmohl lieber das Benehmen der Christen gegenüber den Juden: Dieses sei für das jüdische Fehlverhalten ursächlich, weshalb die Christen auch an dem kritisierten Verhalten die alleinige Schuld tragen: Sie traktierten die Juden ausschließlich „tyrannisch und unmenschlich“ und begegneten ihnen lediglich „mit der äußersten Verachtung, Beschimpfung und Verfolgung […] wie Schurken und Bösewichtern“.438 Hierbei handele es sich, wie Schmohl den Wiedertäufer in einer Fußnote ausführlich darlegen lässt, nicht nur um zufällige und unzusammenhängende Taten einzelner, böswilliger Personen. Stattdessen beschreibt er, dass hinter diesen Übergriffen ein allgemein verbreiteter Antisemitismus steht: Auch wenn ein „Bube“ willkürliche Misshandlungen betreibe oder ein paar Menschen jüdische Kinder einer Zwangstaufe unterzogen hätten, handele es sich nicht um Einzelfälle: [W]o ist eine Stadt, wo ist ein Dorf in der Christenheit, wo nicht erwachsene Menschen, die sich Christen nennen, eben so bubenmäßig mit den Juden umgegangen sind und wohl noch umge434 435 436 437 438
Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 85. Ebd. Ebd., S. 86. Ebd., S. 85 f. Ebd., S. 86.
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hen? Ists nicht eine allgemein angenommene Regel, der Jud ist ein Spitzbub! nicht ein allgemeiner Grundsatz im Handel und Wandel; der ehrliche Jude ist nicht werth, daß man ihn hängt? Nein, wenn man euch so tractirte, wie ihr sie tractirt, würdet ihr nicht auch solche Spitzbuben werden? Und wer ist in dem Fall wohl der größere Hundsvott, der unmenschliche Tyrann oder der durch ihn niederträchtig gewordene Sklav? der Christ oder der Jude? 439
Ein Land profitiere nicht nur von einem Wandel des jüdischen Verhaltens, wenn man ihnen gleiche Menschen- und Bürgerrechte gewähre. Durch die Erlaubnis, durch Landwirtschaft und Handwerke ihr eigenes Brot zu verdienen, würde auch die Wirtschaft eines Landes gestärkt: So müsste für jeden Juden eines Landes, dem es verwehrt sei, als Landwirt zu arbeiten, ein Christ für seinen Lebensunterhalt aufkommen. Wenn nun jedoch den Juden erlaubt werde, hierfür selbst zu sorgen, gewänne nicht nur der Staat durch ihre Arbeit, sondern könne zusätzlich durch den nun frei gewordenen christlichen Bauern profitieren. Eine solche Politik würde zudem weitere Juden in das Land ziehen, mit denen der Fürst „wüste unangebaute Plätze“ besiedeln könne, auf denen sie „zur Vergrößerung seiner Macht wirksam seyn könnten.“440 Mit den neuen Bauern kämen ebenfalls Handwerker sowie Kaufleute und mit diesen wiederum „ein[] Haufen Schullehrer und Geistliche[,] Richter und Aerzte“. So könne man durch das mitgebrachte Entwicklungspotenzial auch von Migranten profitieren, die als „arme und nakte, nur an Leib und Seel gesunde und starke Leute“ in ein Land gekommen waren. Dies sei mit „Fabriken“ vergleichbar, „deren Anlegung in jedem Land von gewaltigem Vortheil seyn würde, wenn sie auch anfangs noch so viel Einrichtungskosten verursachten.“441 Der letzte und vierte Vorteil stellt die Zivilisierung der Christen dar. Diesen würde, wenn sie Toleranz gegenüber den Juden lernten, „so manche Schuppen von den Augen fallen“, wodurch sie „einander“, also der Allgemeinheit, „mehr nutzen würden!“442 Schmohls Wiedertäufer ist davon überzeugt, dass die Juden bei dieser Veränderung, die mit der vollkommenen Gleichberechtigung ihren Anfang nehmen würde, „uns weniger Hinderniß“ in den Weg legen würden, „als wir Christen!“443 Zwar seien die Juden durch die diversen Berufsverbote oft „von Ackerbau und Handwerksgeschäften“ entwöhnt. Dies sei jedoch nur eine Gewohnheit und „[w]as angewöhnt worden ist, kann auch wieder abgewöhnt werden.“ Schmohl geht jedoch auch davon aus, dass es sich hierbei nicht um eine schlagartige Veränderung handle. Es gehörten möglicherweise „mehrere Generazionen und ganze Jahrhunderte dazu“. In dieser Zeit könnten die Juden zwar auch „nicht die Unschuld des goldnen Zeitalters“ erreichen, aber doch „deutsche Ehrlichkeit“.444 439 440 441 442 443 444
Ebd., S. 88. Ebd., S. 91 f. Ebd., S. 92. Ebd., S. 92 f. Ebd., S. 93. Ebd. – Mit dem goldenen Zeitalter spielt Schmohl auf ein fiktives, manchmal in der Antike verortetes Zeitalter an, in welchem zwischen den Menschen eine absolute, wohlwollende Gleichheit geherrscht haben soll. Das Adjektiv ‚deutsch‘ soll in diesem Fall die ‚Ehrlichkeit‘ verstär-
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Auch diese, auf den ersten Blick eher für die Juden ungünstig ausfallende Passage wendet sich im direkten Anschluss vor allem gegen die Christen. Denn auch wenn die Veränderung bei den Juden länger dauern sollte, könne „jenes selbst eher geschehen […], als wir Christen dahin gebracht werden, uns als vernünftige und rechtschafne Menschen gegen sie zu betragen, und Menschenliebe gegen sie auszuüben.“ Die Beseitigung dieses christlichen Fehlverhaltens stelle „die größte Schwierigkeit“ dar. Sie zu toleranten Menschen zu erziehen, damit die Juden einerseits ihre Religion frei ausüben und andererseits auch alle Menschen- und Bürgerrechte genießen könnten, stelle ein „mehr als herkulisch[es] Unternehmen“445 dar. Schmohl bezweifelt, dass zur Änderung der Christen ein einfaches Edikt ausreichen würde, auch wenn dieses „noch so edel gründlich und politisch abgefaßt wäre“ oder „Gefängniß- Galeeren- und Todesstrafen auf die Uebertreter lauerten, und Preußische Kriegsheere ihnen auf dem Fuße nachfolgten, und die Haltung des Gesetzes mit Donnern und Blitzen empföhlen“.446 Stattdessen sei es hilfreicher, die Geistlichkeit, die „Konsistorien und Priester auf seiner Seite“ zu wissen. Diese könne ein Fürst möglicherweise „durch wichtige Geschenke an Geld, Ehren und andern Dingen“447 von seinem Vorhaben überzeugen. Um den „Unterthanen die Güte der Sache“ ebenfalls fühlbar zu machen, schlägt Schmohl vor, dass gleichzeitig mit der Gleichberechtigung der Juden auch für die christliche Bevölkerung Erleichterungen eingeführt werden sollten: „Im Justiz- Polizey- Schul- Kirchen- Kameral und Acciswesen sollte sich für jeden Stand manches ausfinden lassen, dessen Abschaffung ihm so viel Vortheil brächte, als dem Bauernstand die Abschaffung der Frohndienste“.448 Beides, das Einführen von Erleichterungen und die Gleichberechtigung der Juden, müsse so miteinander in natürliche Verbindung gebracht werden, dass die eine Neuerung nur im Zusammenhang mit der anderen denkbar sei. Dennoch hofft Schmohl auch hier, dass „die Toleranz in unserm Jahrhundert“ derart fortschreiten könne, damit ein Bauer „ohne toll zu werden […] an die Thüre eines Juden klopfen, und mit ihm am Tisch des Schulzen gemeinschaftlich übers allgemeine Wohl des Dorfs berathschlagen und Entschlüsse fassen“449 könne. Solange dies nicht möglich sei, sei es ebenso undenkbar, dass ein „christlicher Handwerker
445 446 447 448 449
ken und hervorheben. Als ‚deutsch‘ werden in diesem Sinn konstante, als typisch betrachtete Wesensmerkmale angesehen, die mit Tugenden wie Redlichkeit, Treue und Fleiß in Verbindung gebracht werden. Es ist hierbei auch zu beachten, dass Schmohl in der Rolle eines französischen, im Elsaß wohnenden Wiedertäufers schreibt. Vgl. Goethe-Wörterbuch: deutsch. URL: http://www.woerterbuchnetz.de/GWB?lemma=deutsch [12. 12. 2017], sowie: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: deutsch. URL: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=deutsch [12. 12. 2017]. Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 94. Ebd., S. 94 f. Ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Ebd., S. 96 f.
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bey einem Jüdischen Altmeister“450 erscheine und ertrage, dass der jüdische Meister die Zunftlade öffne, womit dieser die wichtigste Handlung innerhalb einer Zunft ausführte. Daher hält es Schmohl für wahrscheinlich, dass in dieser Übergangszeit, in der die Juden aufgrund der Intoleranz der Christen noch keine öffentlichen oder zünftigen Ämter zusammen mit den Christen übernehmen könnten, Parallelstrukturen geschaffen werden müssten. Aber auch wenn es keine optimale Lösung darstelle, sei dies ein Fortschritt und ein Gewinn für den Staat. Selbst wenn der Fürst aufgrund der „Bosheit seiner Christen“ dazu genötigt werde, selbst den Juden „anfangs alle Werkzeuge“ einzukaufen und ihnen die erzeugten Waren abzunehmen, würde sich das wohl nach einiger Zeit ändern: „Der eigne Nachteil der Christen, würde sie von dieser lächerlichen Narrheit schon kuriren, und ihr eigner Vortheil, der aus Verkehr mit den Juden entsprungen, sie gescheuter machen!“ Sollten die Christen diese Veränderung erreicht haben, sei es auch möglich, den Juden Zugang „zu Militär- Civil und allen Staatsbedienungen“451 zu verschaffen. Um „[d]en mistrauischen Juden Lust zu dieser Neuerung zu machen“, seien – „wie zu jeder andern Sache“ – einerseits „Güte und Gewalt, Lohn und Strafe, eigner Nachtheil und Vortheil“ geeignete Mittel. Andererseits dürfe man diesen Prozess „nicht auf einmal erzwingen“, da es unmöglich sei, „eine Sache, die erst nach Jahrhunderten völlig zu Stande kommen kann, in einigen Jahren ausführen zu wollen.“452 Schmohl sieht gleichzeitig einen sanfteren Weg als einen erfolgreicheren an: Man müsse einen Oberrabbi für diese Verbesserung gewinnen, welchem dank seines Einflusses eine Vielzahl der Juden folgen würde. Am Ende seiner Ausführungen lässt Schmohl den Wiedertäufer betonen, dass mit der Gleichberechtigung nicht nur gleiche Rechte einhergingen, sondern ebenfalls gleiche bürgerliche Pflichten. Die Juden müssten sich „allen Verordnungen und Anstalten“ sowie „allen Zöllen, Auflagen und Lasten eines Unterthanen und Bürgers so gut fügen, wie die Christen“. Da diese Verordnungen und Abgaben die Gewissens- und Religionsfreiheit der Juden genauso wenig einschränkten wie die der Christen, könne man nur davon ausgehen, dass auch die Pflichten von den Juden „mit Lust“453 erfüllt würden. Wie eingangs erwähnt, erschien Christian Konrad Wilhelm Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden mindestens vier Monate nach Schmohls Sammlung. Ebenfalls lässt sich durch eine Rezension der Sammlung, die Anfang 1782 in der Allgemeinen deutschen Bibliothek erschien und deren Autor Dohm war, belegen, dass dieser Schmohls Werk gelesen hatte. Ob dies vor der Veröffentlichung der Bürgerlichen Verbesserung der Fall war, lässt sich nicht feststellen. Da Dohm jedoch in den Antiphysiokratischen Briefen, die als viertes Kapitel auf die Schrift des Wiedertäufers 450 451 452 453
Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100, Hervorh. i. Orig.
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folgen, im Titel des Kapitels namentlich genannt wird, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Dohm rasch nach ihrem Erscheinen auf Schmohls Sammlung aufmerksam wurde. Auf Schmohls Aussagen zur Physiokratie legte Dohm in seiner Rezension auch ein größeres Augenmerk. Aus seiner knappen Einlassung zum Fragment geht jedoch hervor, dass er diesem Text und seinem Inhalt – die „[w]iedertäuferische[n] Schwärmereyen abgerechnet“ – nicht ablehnend gegenüberstand. So enthalte „dieser Aufsatz viel Wahres und der Beherzigung werthes.“454 Was ihre grundlegenden Aussagen anbelangt, ähneln sich Schmohls Schriften und die Dohms sehr. So betont auch Dohm, dass es vor allem das Werk der Christen und der christlichen Regierungen darstelle, die Juden davon abzuhalten, „ein guter Bürger, ein geselliger Mensch zu seyn“.455 Zu guten Bürgern könnten sich die Juden jedoch bei „gerechtere[r] Behandlung“ bessern, auch wenn manche tief verwurzelten „Fehler […] erst in der dritten oder vierten Generation ganz verschwinden werden.“456 Auch von Dohm werden die Lehren der jüdischen Religion nicht ausschließlich negativ bewertet. Er hebt, wie auch Schmohl, einen positiven Einfluss auf das moralische und gesellschaftliche Zusammenleben der Juden hervor.457 Zudem bringt auch Dohm Verständnis dafür auf, dass Juden – wie auch Christen – an den Lehren festhalten, die ihnen in ihrer Kindheit von ihren Eltern beigebracht und anerzogen wurden.458 Damit die Juden wieder zu „glücklichere[n] und bessere[n] Glieder[n] der bürgerlichen Gesellschaft werden könnten“, steht auch bei Dohm die rechtliche Gleichstellung „mit allen übrigen Unterthanen“ an erster Stelle. Wie alle anderen Menschen müssten sie die „unpartheyische Liebe und Vorsorge des Staates“ erfahren, von der „[k]eine beschimpfende Unterscheidung“459 geduldet werden könne. Auch dürfe es keine Einschränkungen im Bezug auf ihren Erwerb geben oder Sondersteuern von ihnen erhoben werden. Auch zum Handel müssten die Juden Zugang haben.460 Da jedoch der Handel bisher die bevorzugte – da geduldete – Beschäftigung der Juden darstellte, befürwortet Dohm, ihnen Anreize zu Beschäftigungen abseits dieses Metiers zu geben.461 Diese eingreifende Steuerung des jüdischen Besserungsprozesses stellt den deutlichsten Unterschied der beiden Texte dar. Bei Schmohl wird lediglich – vielleicht 454 Dohm: Rezension: Sammlung (wie Anm. 130, S. 36), S. 238 – Um dieses äußerst knappe Urteil etwas anzureichern, machte Dohm auf einen formalen Fehler aufmerksam, der Schmohl in seinem neunten Kapitel, der Kameralistischen Reise, unterlaufen war. Hier hatte er behauptet, der Schutz von Juden sei ein kaiserliches Privileg. Dieses Regal wurde jedoch auf die Landesfürsten übertragen, was Dohm verbessernd anmerkt. 455 Ders.: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin u. Stettin 1781, S. 39. 456 Ebd., S. 87. 457 Vgl. ebd., S. 94 f. 458 Vgl. ebd., S. 92–94. 459 Ebd., S. 110. 460 Vgl. ebd., S. 116 f. 461 Vgl. ebd., S. 111 f.
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auch aufgrund des geringen Umfangs – eine rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Juden gefordert. Jede weitere Veränderung, die zu einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen führe, fände dann – jedenfalls mit Blick auf die Juden – automatisch statt: Diese würden die gleichen Rechte dankbar annehmen und sich nichts anderes wünschen, als zu guten und treuen Bürgern (beziehungsweise Untertanen, was von Schmohl in diesem Artikel nicht problematisiert wird) zu werden. Das eigentliche Problem liegt aus Schmohls Sicht bei den Christen: Diese müssten mühsam umerzogen werden, damit sie von ihrer über Jahrhunderte internalisierten Intoleranz, die sich im Laufe dieser Zeit zu einem boshaften Hass gegenüber den Juden entwickelt habe, abgebracht werden könnten. Hierdurch sind in Schmohls Text die Christen das verkommene Volk, das sich von aller Menschlichkeit entfernt hat und zu einem friedlichen Zusammenleben mit Menschen anderer Weltanschauungen in seinem jetzigen Zustand nicht fähig ist. Dohm stellt insgesamt seine Aussagen weniger polemisch dar und kann damit die allgemeine Sachlage objektiver beschreiben. Auch wenn bei ihm die Gleichberechtigung den ersten Schritt zur ‚Besserung‘ der Juden darstellt, sieht er die hauptsächliche Notwendigkeit der Veränderung eher aufseiten der Juden, da für ihn ebenfalls feststeht, dass sich vor allem die Juden verändern müssten, um zu guten Mitgliedern einer bürgerlichen Gesellschaft werden zu können. Zwar kommt auch den Christen die Aufgabe zu, toleranter zu werden. Diese Veränderung wird jedoch nicht als das ‚herkulische Unternehmen‘ angesehen, das es in Schmohls Augen ist. Gleichzeitig leiten die Christen die ‚Besserung‘ der Juden in die Wege, womit ihnen auch das Lenken dieser bürgerlichen Verbesserung obliegt. Sprachlich bezeichnend, leitet Dohm seine Aufzählung der Reformvorschläge mit der Formulierung: „Um sie dazu [zu ‚besseren Gliedern der bürgerlichen Gesellschaften‘, Anm. M. L.] zu machen“,462 ein. Auch im Bezug auf die sprachliche Kodierung unterscheiden sich die beiden Texte deutlich: Während Schmohl konstant aus der Perspektive eines elsässischen Wiedertäufers – also aus einer, wenn auch besonderen, christlichen Sicht – schreibt, ist Dohms Blickwinkel – analog zur seiner objektiven Darstellung – eher neutral. Diese Neutralität wird lediglich an wenigen Stellen aufgebrochen, an denen Dohms Ausführungen denen Schmohls am meisten ähneln: So sei es die Schuld der Regierungen gewesen, die es nicht geschafft hätten, „in der Brust des Juden und des Christen ein Gefühl des Bürgers“463 zu entfachen. Im Anschluss hierzu wechselt die neutrale sprachliche Perspektive hin zu einer subjektiveren, und Dohm appelliert als Mitglied einer christlich geprägten Gesellschaft direkt an diese Gemeinschaft: Diese Regierungen waren christliche, und wir können also, wenn wir unpartheyisch seyn wollen, den Vorwurf nicht von uns ablehnen, daß wir zu den ungeselligen Gesinnungen beyder Partheyen das Meiste begetragen haben. Wir waren immer die herrschenden, uns lag es daher ob, dem Juden menschliche Gefühle dadurch einzuflössen, daß wir ihm Beweise der unsrigen 462 Ebd., S. 110. 463 Ebd., S. 38, Hervorh. i. Orig.
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gäben; wir mußten, um ihn von seinen Vorurtheilen gegen uns zu heilen, die eignen zuerst ablegen. Wenn diese also noch itzt den Juden abhalten, ein guter Bürger, ein geselliger Mensch zu seyn, […] so ist dieß Alles unser Werk.464
Bei Schmohl hingegen ist die christliche Subjektivität das vorherrschende Stilmittel, das höchstens in einigen Anmerkungen aufgebrochen wird und die besonders polemische Zuspitzung des Textes ermöglicht. Gleichzeitig gewinnt dieser Appell durch seine reflexive Perspektive auch eine besondere Eindringlichkeit gegenüber den Glaubensgenossen. So kann Schmohl glaubwürdiger auf die Doppelzüngigkeit der Christen verweisen, indem er einen solchen Vorwurf von einem Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft selbst formulieren lässt. Dass er zusätzlich seine Vorwürfe nicht nur in den Mund eines religiösen Laien, sondern auch in den eines Nicht-Akademikers legt, verstärkt diesen Effekt. Hätte Schmohl seine Beschuldigungen aus seiner eigenen Perspektive als aufgeklärter Philosoph formuliert, der sich im Zweifelsfall eher zu einer aufgeklärten Gefühlsreligion statt zum Christentum bekennen würde, wäre seine Botschaft weniger glaubwürdig und eindringlich gewesen. Ein christlicher Leser hätte unter diesen Umständen möglicherweise eine geringere Bereitschaft gezeigt, sich auf Schmohls Argumentation einzulassen. Eine weitere Ebene der Eindringlichkeit ergibt sich aus der allgemeinen Situation der Wiedertäufer im Elsass: Auch diese lebten durch eine ungesicherte rechtliche Lage in einem gewissen Ausnahmezustand, wie Schmohl den Wiedertäufer am Ende seiner Ausführungen darlegen lässt. Hierdurch setzt sich eine benachteiligte Minderheit bei der Mehrheitsgesellschaft für eine andere, noch benachteiligtere Minderheit ein und stellt damit ausdrücklich eine Toleranz und Solidarität dar, zu welcher die Mehrheit nicht fähig ist. Indem der Wiedertäufer an die anderen Christen appelliert, nicht ihn und seine Glaubensgenossen von ungerechter Unterdrückung zu befreien, sondern die Juden, setzt diese demonstrative Selbstlosigkeit die Mehrheitsgesellschaft unter gewissen Zugzwang. Ein inhaltlicher Unterschied, der jedoch als möglicher Bezug Dohms auf Schmohls Text gesehen werden kann, ist dessen Plädoyer gegen ausschließlich jüdische Kolonien: „Einige haben auch den Vorschlag gethan, daß man den J[u]den ganz abgesonderte Districte und Orte anweisen, und daselbst von den übrigen Unterthanen getrennt erhalten möchte.“465 Diesen Vorschlag lehnt Dohm ab, da er die Gefahr sieht, dass sich durch diese räumliche Separation die gesellschaftliche Trennung von Juden und Christen noch vergrößern würde. Dies könnte als Antwort auf Schmohls Vorschlag angesehen werden, der anmerkte, dass „[j]eder Fürst […] noch so viel wüste unangebaute Plätze“ in seinem Land habe, durch welches, wenn es urbar gemacht würde, „sich mehrere Tausend darauf nähren“466 könnten. Wahrscheinlich hielt Schmohl diesen Vorschlag einerseits für ein geeignetes Argument, 464 Dohm: Bürgerliche Verbesserung der Juden (wie Anm. 455, S. 334), S. 38 f., Hervorh. i. Orig. 465 Ebd., S. 115. 466 Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 91.
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um aufgeschlossene Fürsten mit entsprechend unterbevölkerten Gebieten von seinen Plänen zu überzeugen. Andererseits wird er hierbei auch die leitmotivische Intoleranz der Christen miteinbezogen haben. Diese hätte es seiner Ansicht nach erfordert, dass die Juden zuerst in einer auf sich selbst gestellten Gemeinschaft arbeiteten, bis die Christen soweit ‚verbessert‘ seien, um mit ihnen in eine engere Gemeinschaft einzutreten.467 Schmohls an dieser Stelle aufscheinende utilitaristische Argumentation nimmt jedoch nur einen Bruchteil seiner allgemeinen Ausführungen ein. So soll nicht nur den Fürsten, sondern ebenfalls den Christen deutlich vor Augen geführt werden, welche Nachteile ihnen entstehen, wenn sie die Juden weiterhin unterdrücken und diskriminieren. Dieses pädagogische Vorgehen steht analog zu Schmohls Forderungen bezüglich der landwirtschaftlichen Aufklärung, bei welcher er betonte, den Bauern müssten, um sie zu überzeugen, vor allem ihre finanziellen Vorteile verdeutlicht werden. Unter dieser Voraussetzung muss auch seine Ausführung in den Fragmenten interpretiert werden: Da Schmohl bewusst ist, dass sich die Menschen nicht durch vernunftbetonte Argumente überzeugen lassen, versucht er stattdessen, ihre egoistischen Triebe anzusprechen. Wie einem Landwirt auch demonstrativ und fühlbar die Vorteile einer Neuerung vorgeführt werden müssten, damit er wirklich davon überzeugt wird, müssten auch die Christen fühlen, welche Vorteile sie haben, mit den Juden in einer gleichberechtigten Gemeinschaft zu leben. Diese Argumentation entspringt folglich in erster Linie einer pädagogischen Überlegung. Ohne diesen Hintergrund können Schmohls Ausführungen hingegen äußerst utilitaristisch wirken. Davon abgesehen nehmen sie jedoch innerhalb des Textes nur einen geringen Raum ein: Die überwiegende Zahl der angesprochenen Themen widmet sich der Widerlegung antisemitischer Thesen des späten 18. Jahrhunderts. Wird Schmohls pädagogischer Hintergedanke außer Acht gelassen, wäre es also dennoch nicht korrekt, ihm ausschließlich utilitaristische Interessen zu unterstellen, wie es Gerda Heinrich in einem Artikel konstatiert: Nach dieser Interpretation leiden Schmohls Fragmente unter einem „penetranten Primat des Nutzens“, wie ihn „Dohms Argumentation hingegen“ nicht kenne. Dieser habe vor allem „egalitären Ideen Priorität“468 eingeräumt: „Was sich bei Dohm“ und Mendelssohn „auf ein taktisch klug gewähltes Anknüpfen an Argumentationsmuster reduziert, welche dem christlichen Publikum vertraut waren – der Hinweis auf 467 Schmohl geht es hierbei nicht, wie es bei späteren, eher judenfeindlichen Äußerungen der Fall sein wird, um eine Segregation der Juden von den christlichen Gemeinschaften. Im Zusammenhang mit der Forderung nach jüdischen Koloniegründungen findet Schmohls Aufsatz auch in einem 1976 erschienenen Artikel von Jacob Toury kurz Beachtung: Jacob Toury: Die Behandlung jüdischer Problematik in der Tagesliteratur der Aufklärung (bis 1783). In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 5 (1976), S. 13–47, hier S. 34. 468 Gerda Heinrich: „…man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten“. Die Debatte um „bürgerliche Verbesserung“ der Juden 1781–1786. In: Ursula Goldenbaum u. Frank Grunert (Hg.): Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. Bd. 2. Berlin 2004, S. 813–895, hier S. 817.
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allgemeinen, aus staatsbürgerlicher Gleichstellung der Juden erwachsenden ökonomischen Nutzen –, bleibt beim Elsässer das Zentrum aller Reformerörterungen.“469 Selbst Schmohls politische „Vorschläge zugunsten der Juden“ seien lediglich aus dem „leitmotivisch beschworenen Nutzenprinzip abgeleitet“.470 Abgesehen davon, dass das utilitaristische Prinzip von Heinrich als Leitmotiv überbewertet wird, hat sie hingegen die Klage über die Christen, die sich weit deutlicher leitmotivisch durch den Text zieht, komplett ignoriert. Ebenfalls beschränkt sich Schmohls Forderung nicht auf eine partielle Gleichstellung von Juden, wie es – nach Heinrichs Darstellung – der utilitaristischen Argumentation bis 1781 entsprach.471 Stattdessen fordert Schmohl, wie gezeigt wurde, eine ausnahmslose Gleichberechtigung. Eine vergleichbare Forderung nach rechtlicher Gleichstellung, die nicht als eine Anpassung der Juden an die christliche Bürgerlichkeit verstanden werden kann, bietet in der folgenden Zeit lediglich Saul Ascher (1767–1822).472 In Schmohls Ausführungen lassen sich auch keine Vergleiche der Juden mit den sogenannten ‚Zigeunern‘ finden, wie sie bei Dohm angeführt werden. In der Bürgerlichen Verbesserung dient das Heranziehen der „rohe[n] und verwilderte[n] Zigeuner“473 vor allem dem Zweck, darzustellen, dass die Juden schneller und einfacher zu zivilisieren seien als die ‚Zigeuner‘. Wie aus Dohms Ausführungen deutlich hervorgeht, standen die ‚Zigeuner‘ in der damaligen gesellschaftlichen Akzeptanz noch niedriger als die Juden: Diese „sehr verwilderte Nation“474 sei sehr schwer an „festen Aufenthalt und bleibende Beschäftigung zu gewöhnen“, da sie „dem bequemen und ruhigeren Leben das unsichere und beschwerliche Umherstreifen“ vorzögen, wie „[d]ie Erfahrung“475 gelehrt habe. Auch wenn ‚Zigeuner‘ von Schmohl in dessen Fragmenten nicht genannt werden, setzt er Juden und „Zigeuner, Afghanen oder Sindi, wie sie der Sprache und Geschichte nach heißen sollten“,476 in seinem 1781 verfassten Manuskript Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie in einen Zusammenhang. Beide Völker hätten sich seiner Ansicht nach in ihrer Heimat mindestens bis zur Stufe der Landwirtschaft
469 470 471 472
473 474 475 476
Heinrich: man sollte (wie Anm. 468, S. 337), S. 816 f. Ebd., S. 817. Vgl. ebd. Ausführlicher auf Ascher wird später in diesem Kapitel eingegangen. Einen Überblick bieten zudem die Einleitung seiner Werkauswahl von Renate Best. Renate Best: Der Schriftsteller Saul Ascher. Im Spannungsfeld zwischen innerjüdischen Reformen und Frühnationalismus in Deutschland. In: Ders. (Hg.): Saul Ascher: Ausgewählte Werke. Köln 2010 (Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts Werkausgaben 2), S. 7–52, hier S. 7–49 und äußerst ausführlich: Bernd Fischer: Ein anderer Blick: Saul Aschers politische Schriften. Wien 2016. Für die detaillierten Informationen und Einschätzungen zu Saul Ascher danke ich zudem Michelle Stoffel. Dohm: Bürgerliche Verbesserung der Juden (wie Anm. 455, S. 334), S. 91. Ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 16r, Hervorh. i. Orig.
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mit den „dazu nöthigen Handwerken selbst“477 entwickelt. Juden wie Sinti „hatten ihre Davids und Salomos, ja selbst Könige, die Münzen schlugen“, bevor sie „nach abwechselndem Schiksal“ verdrängt wurden und dadurch gezwungen gewesen seien, zuerst als Nomaden „und endlich von Weiden und Vieh entblöst, auf Wahrsagen, Tanz, und allerlei Künste sich legend, durch alle Welt“478 zu ziehen. Beide Völker hatten also eine hohe Entwicklungsstufe erreicht und waren – ohne eigenes Verschulden – gezwungen, ihr Land zu verlassen und ihre hoch entwickelte Lebensweise aufzugeben. Da Schmohl die Information, die ‚Zigeuner‘ seien nach ihrer Herkunft eher als ‚Sindi‘ zu bezeichnen, durch Kontakt mit dem in Halle lehrenden Johann Christian Christoph Rüdiger erhalten haben muss, ist davon auszugehen, dass Schmohl neben Rüdigers Erkenntnissen zur Herkunft wahrscheinlich auch von dessen wohlwollenderen Sichtweise auf die Sinti beeinflusst wurde. So formuliert Rüdiger in seinem 1782 erschienenen Artikel, es mangele den Sinti noch an einem „Fürsprecher und mächtige[n] Helfer“, wie ihn die Juden „jetzt eben zugleich an Dohm und dem Kaiser gefunden haben“.479 Aufgrund der Kürze des abschließenden Absatzes seines Manuskripts kann über Schmohls Haltung gegenüber den Sinti keine sichere Aussage getroffen werden. Da sie jedoch im Zusammenhang mit den Juden thematisiert und ihre Geschichten als ähnlich dargestellt werden, lässt sich vermuten, dass Schmohl auch bezüglich ihrer Benachteiligung eine ähnliche Meinung vertreten haben könnte. Allerdings schließt sein Manuskript mit einem problematischen, tiermetaphorischen Vergleich: Nach ihrer Vertreibung aus ihrem Ursprungsland seien die Sinti bis nach Anhalt-Zerbst gekommen. Dort würden sie nun „wie Raupen auf dem Obstbaum, von dem kein Gärtner die Nester abliest“,480 wimmeln. Eine derartige Beschreibung wurde auch im antisemitischen Diskurs zur Beschreibung der großen Verbreitung von Juden und der damit verbundenen ‚Schädlichkeit‘ verwendet: „Mit ‚Heuschrecken‘ und ‚Raupen‘ sollten polemisch gleichermaßen Gefräßigkeit, Massenhaftigkeit, periodischer Befall, starke Vermehrung und weltweite Verbreitung umschrieben werden.“481 Schmohl scheint also weiterhin die gängigen Stereotypen der damaligen Zeit geteilt zu haben. Gleichzeitig kann diese Beschreibung auch ungewollt aufgegriffen und nicht mit dem ausdrücklichen Ziel verwendet worden sein, Sinti oder Juden zu ‚Schädlingen‘ herabzusetzen. Diese Annahme bestärkt eine Passage aus dem Frag477 Ebd., p. 15v. 478 Ebd., p. 16r. 479 Rüdiger: Sprache und Herkunft (wie Anm. 89, S. 29), S. 48 – Mit seiner Anspielung auf den Kaiser bezieht sich Rüdiger auf Joseph II. und dessen Toleranzpatent vom Januar 1782, mit welchem den Juden in Österreich zwar größere Freiheiten gewährt wurden, während jedoch die Zahlung eines Schutzgeldes weiter bestehen blieb. Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 269. Zu Rüdigers positiver Sicht auf die Sinti, vgl. außerdem die Ausführungen in Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit. 480 Schmohl: Klaßen NSuUB Göttingen Cod Ms Licht VI 6 (wie Anm. 87, S. 29), p. 16r. 481 Erb u. Bergmann: Nachtseite (wie Anm. 415, S. 326), S. 202.
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ment, die gleichzeitig aufzeigt, dass die Tiermetaphorik negativ wie positiv verwendet werden konnte: Schmohls Rechnung über die Vorteile eines Landes, in welchem die Juden als Landwirte selbst für ihren Unterhalt aufkommen könnten, schließt er mit einem ähnlichen Bild. Er stellt die Frage: „Wollt ihr denn lieber eure Obstbäume mit ihren Schätzen von 600 000 Raupen zernagen sehen, als euch von 12 000 000 Seidenwürmern die theuersten Kostbarkeiten erspinnen lassen?“482 Da im Falle einer Gleichberechtigung sowohl die neuen jüdischen Bauern als auch die christlichen Landwirte, die zuvor die Lebensmittel der von der Landwirtschaft ausgeschlossenen Juden anbauen mussten, zur Gesamtwirtschaft des Staates beigetragen hätten, sind hierbei Juden wie Christen mit den Seidenraupen gemeint. Mit diesem Bild im Hinterkopf hätte Schmohls Beschreibung der in Anhalt-Zerbst wimmelnden Sinti eine andere, etwas harmlosere Bedeutung – die so jedoch nicht aus dem Manuskript hervorgeht, lässt man es für sich alleine stehen. Andreas Riem: Die feinen Züge jüdischer Schönheit Inwiefern Andreas Riem in Berlin mit der dortigen Haskala, der jüdischen Aufklärung und ihren Schriftstellern, in Berührung kam, kann aufgrund fehlender Quellen nicht genau festgestellt werden. Da er, wie bereits in Kapitel 2.3.2 dargestellt wurde, spätestens seit seinem Umzug nach Berlin den Salon von Henriette Herz besucht hatte und Riems Frau nach dessen Ausweisung aus Preußen auch von der Salonnière unterstützt wurde, ist davon auszugehen, dass ihre Familien befreundet waren. Dass Riem Salomon Maimon persönlich kannte, lässt sich durch eine Anmerkung belegen.483 Riems Wissen um die jüdische Kultur zeugt davon, dass er sich schon lange für dieses Thema interessierte und sich intensiv damit beschäftigt hatte.484 Dieses Interesse scheint sich nicht nur auf das Judentum und seine Traditionen beschränkt zu haben. In Riems 1796 erschienenem Reisebericht durch Deutschland lässt sich ebenfalls eine geradezu überschwängliche Würdigung eines angeblich spezifisch jüdischen Aussehens finden. So trage dieses Volk, wie er zu Beginn des Kapitels Die Juden schreibt, „das Gepräge seines Alterthums in seinen Zügen und Gebräuchen.“485 Während man einen katholischen Mann „an seinem heiligen Gesichte, und ein katholisches Mädchen an der Madonnenphysionomie“ erkennen könne, besitze der Protestant hingegen „überall nichts Eigenthümliches“,486 das ihn auszeichne und woran man ihn erkennen könnte. Bei den Juden sei hingegen alles charakteristisch und lasse sich weder durch Philosophie oder „die weitgehendste 482 Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 91. 483 Diese Anmerkung befindet sich am Ende eines Artikels gegen Maimon, der im von Riem herausgegebenen Berlinischen Journal für Aufklärung erschienen ist. Diesen Artikel hatte Riem ausführlich mit Kommentaren versehen, welche wiederum Folge „einer Unterredung des Herausgebers [Riem, Anm. M. L.] mit [dem] Hrn. Maimon“ (Johann Heinrich Tieftrunk: Ueber Wahrheit, an den Herrn S. Maimon. In: Berlinisches Journal für Aufklärung 8 (1790), S. 115–158, hier S. 158) waren. 484 Vgl. Grab: Riems Weg (wie Anm. 324, S. 69), S. 195. 485 Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 131. 486 Ebd., S. 131 f.
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Cultur aus[treiben]“: So habe sich Moses Mendelssohn „so sehr gebildet, als man es immer vermag, doch behielt sein Gesicht, seine Mienen die ganze Charakteristik seines Volks.“ Auch Salomon Maimon, dessen Philosophie Riem, wie er hier anmerkt, der Mendelssohns vorzog,487 habe man seine Herkunft angesehen. In Berlin gebe es zwar Familien, die „von der israelitischen Physionomie aus[ge]arte[t]“ seien, aber dennoch würden sie „die glücklichen Reste ihrer Abkunft verrathen.“488 Bei Riems geradezu euphorischer Beschreibung der aus seiner Sicht bestehenden äußerlichen Charakteristika von Juden handelt es sich nicht direkt um eine Spiegelung rassistisch-antisemitischer Vorurteile, die hierdurch ins Positive verkehrt würden. So zeichnete sich das antisemitische Bild von Juden anfangs gerade dadurch aus, dass sie gerade nicht aufgrund von körperlichen Merkmalen erkannt werden konnten, woraus spätestens ab dem 11. Jahrhundert die Kennzeichnungspflicht von Juden entstand. Entsprechend wurde das Aussehen von Juden aufgrund seiner Uneindeutigkeit von Antisemiten eher als Problem denn als Merkmal betrachtet und spielte auch in der Frühen Neuzeit eine eher nebensächliche Rolle.489 Riem betont jedoch die Existenz verschiedener „Menschenarten aus allerley Völkern“, die durch ihre Vermischung vor allem den Christen „das Unterscheidende, das Charakteristische, das so sehr gefällt“,490 genommen hätte. Hierdurch könne man „[d]ie feinern Züge der Schönheit […] häufiger bey jüdischen, als christlichen Frauenzimmer[n]“ finden: „Der Ausdruck der Empfindung und des Gefühls zeigt sich in allen Mienen, und die Lebhaftigkeit derselben bringt etwas Gewisses in dieselbigen, das ausdrucksreich ist, und Ueberdruß von Ideen verräth.“491 Es scheint sich bei Riems Ausführungen also vielmehr um eine Verehrung einer ansonsten verloren geglaubten Ursprünglichkeit zu handeln, die er bei Juden zu erkennen meinte und die der Verehrung des ‚Ursprünglichen‘ bei Herder ähnelt.492 In Berlin und in den restlichen preußischen Landesteilen hätten die dort lebenden Juden nach Riems Ansicht „im Durchschnitt eine finstere, launige Gemüthsart.“ Diese bringt Riem mit der allgemeinen Lebenssituation der dortigen Juden in Ver487 Vermutlich gefiel Riem der eklektische Charakter von Maimons Philosophie, die Aspekte der Philosophien Spinozas, Leibniz’, Kants und David Humes Skeptizismus vereinigte. Vor allem bei der Rezeption Immanuel Kants unterschieden sich Mendelssohn und Maimon: „Wä hrend Mendelssohn Kant wegen seiner vernichtenden Kritik an der traditionellen Metaphysik den ‚alles zermalmenden Kant‘ genannt hatte, nimmt Maimon die Metaphysikkritik der Kritik der reinen Vernunft positiv auf und fü gt sie in sein eigenes System ein.“ Florian Ehrensperger: Lebensgeschichte. In: Dan Diner (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Stuttgart 2011, S. 483–487, hier S. 486, Hervorh. i. Orig. 488 Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 132. 489 Vgl. Marion Neiss: Kennzeichnung. In: Wolfgang Benz u. Werner Bergmann (Hg.): Handbuch des Antisemitismus: Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien. München 2008, S. 174–176; Hund: Wie die Deutschen (wie Anm. 417, S. 327), S. 34– 40. 490 Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 132. 491 Ebd., S. 133. 492 Vgl. Kapitel 3.2.1.
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bindung: So sei „[d]er aufgeklärte Jude“ in Berlin „mißlaunisch, daß er zu einem Volke gehört, das der Unsinn aller Zeiten verachtete.“ Mit dieser Aussage kritisiert Riem einerseits die allgemein den Juden entgegengebrachte Verachtung, unterscheidet andererseits jedoch selbst zwischen diesen ‚aufgeklärten Juden‘ und den „gemeine[n] Jude[n]“. Letztere würden seiner Meinung nach die Gelegenheit bieten, „wirklich manchmal verachtet zu werden“.493 Mit einer derartigen Unterscheidung beschreibt Riem – wahrscheinlich ohne sich dessen bewusst zu sein – die sozialen Unterschiede, die in der Frühen Neuzeit zwischen den verschiedenen jüdischen Familien herrschten: So hatten es nur wenige geschafft, „in die höchsten Schichten der Gesellschaft“ aufgenommen zu werden; die große Mehrzahl der armen Juden musste hingegen weiterhin versuchen, als „Hausierer und Bettler“494 zu überleben. Diese Darstellung spiegelt jedoch auch Riems allgemeines Gesellschaftsbild wider, das den dritten Stand in eine bürgerliche Sphäre, zu welchem dann auch die ‚aufgeklärten Juden‘ gehörten, und die restliche Bevölkerung aufteilte. Während die bürgerlichen, aufgeklärten Juden nach Riems Ansicht – wie alle anderen Bürgerlichen – die entsprechende Vernunft und Bildung besaßen, um vertrauensvoll am Staat teilzunehmen, steht er den ‚gemeinen Juden‘ wie auch den Bauern skeptisch gegenüber und traut ihnen nicht dieselbe ‚bürgerliche‘ Rationalität zu. Riem stellt sogar die These auf, dass einige dieser bürgerlichen, aufgeklärten Juden zu einer „allgemeine[n] Staatsreligion“ übertreten würden, wenn es sich bei dieser um eine philosophische „Vernunftreligion“ handeln würde, „die bloß auf die einzige Quelle des Lebens und Daseyns“495 zurückginge. Da Riem die Verbreitung einer allgemeinen Vernunftreligion, die er in seinen theologischen Schriften als reine Religion bezeichnete, generell – und somit auch für Christen – als vorteilhaft für das gesamte gesellschaftliche Zusammenleben ansah,496 betrifft die positive Bewertung einer darauf folgenden gesellschaftlichen Entwicklung letztendlich jegliche Loslösung von Religionsvorstellungen. Riem wendet sich folglich nicht speziell gegen die jüdische Theologie und sieht auch nicht die Loslösung von jüdischen Traditionen als ein besonderes Maß einer hohen Aufklärung, sondern generell jedes Ablegen theologischer Traditionen. In seinem Bericht vergleicht Riem die preußischen Juden mit denen in AnhaltDessau, das er nach eigener Angabe 1795 durchreiste. Diese ‚gemeinen Juden‘ seien in Dessau „ungleich gebildeter, als dieselbe Art in Berlin etc.“ Sie seien heiter, gesprächig sowie freundlich und – was Riem als besonders erwähnenswert erachtet – „gegen den Christen offen und sich mittheilend.“497 Riem lobt zwar oberflächlich die allgemeine Lebenssituation der Juden in Dessau, da hier „[d]ie Industrie der Juden […] ohne Grenzen“ sei. Dennoch scheint sich diese ‚Industrie‘ lediglich auf den 493 494 495 496 497
Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 133. Bein: Judenfrage (wie Anm. 378, S. 320), S. 192. Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 133 f. Vgl. hierzu Kapitel 3.1.2.2. Ebd., S. 134, Hervorh. i. Orig.
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Handel beschränkt zu haben – also auf ebendieselbe Beschäftigung, die den Juden ansonsten auch erlaubt war, was seine vorherige Aussage wiederum einschränkt: Kaum ist man im Wirthshause abgestiegen, so drängen sich Verkäufer, Wechsler und allerley Handelsjuden um den Fremden her […]. Das dieses etwas unbequem sey, ist nicht zu läugnen; aber welcher vernünftige Reisende wird nicht lieber diese kleine Unbequemlichkeit dulden, als wünschen, daß die betriebsame Thätigkeit dieser Volksklasse deßhalb eingeschränkt werde?498
In einem nachfolgenden Kapitel beschreibt Riem dieses Erlebnis mit den jüdischen Händlern ausführlicher. Abgesehen davon, dass der Name des Gasthauses Zum Ring als eine Anspielung auf Lessings Ringparabel aus Nathan der Weise gesehen werden könnte, hat diese Szene durch das Verhalten aller Beteiligten eher einen komödienhaften Charakter. Riems Darstellung seiner Reisebeschreibung deckt sich weitgehend mit den Ergebnissen der historischen Forschung zur Situation der Juden in Anhalt-Dessau. Zwar war es für Juden dort – in Relation zu anderen Ländern und vor allem zum benachbarten Preußen – möglich, etwas freier zu leben. Dennoch beschränkten sich diese Zugeständnisse auf ein Minimum und stellten lediglich eine relative Zustandsverbesserung dar. So war weiterhin das Schutzgeld ein Bestandteil der Judenpolitik in Anhalt-Dessau, das von Leopold III. Friedrich Franz mehrmals drastisch erhöht wurde. Auch war ihnen – bis auf wenige Ausnahmen – bis in das 19. Jahrhundert hinein verboten, einem Handwerk oder der Landwirtschaft nachzugehen. Dass der Kleinhandel eine der wenigen Erwerbsmöglichkeit für Juden darstellte, zeigen neben Riems Darstellung ebenfalls die Klagen anderer Reisender, die den Fürsten 1802 zu einem Verbot des direkten Handels in Gasthäusern veranlassten. Letztendlich kam es in Anhalt-Dessau unter Leopold III. auch nie zu einer rechtlichen Gleichstellung der Juden. Der Fürst hatte zwar 1810 eine Untersuchung über die Gleichstellung in Auftrag gegeben, die der Rat ausdrücklich begrüßte. Dennoch unterschrieb Leopold III. bis zu seinem Tod kein entsprechendes Gesetz.499 In seinem 1797 erschienenen Reisebericht durch die niederländische Batavische Republik beschreibt Riem die dortige Diskussion um die Gleichstellung der Juden 498 Ebd., S. 131. 499 Vgl. zur Judenpolitik während der Regierungszeit (1758–1817) von Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau: Antje Faßhauer: Fragmente des jüdischen Alltags in Dessau um 1800. In: Holger Zaunstöck (Hg.): Das Leben des Fürsten. Studien zur Biografie von Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740–1817). Halle a.d.S. 2008, S. 95–105; Frank Kreißler: „Die Toleranz ist in Dessau ganz zu Hause …“ – Fürst Franz und die jüdische Gemeinde in Dessau im Spiegel der fürstlichen Verordnungen. In: Zaunstöck (Hg.): Leben des Fürsten (wie Anm. 499), S. 82– 94. – Riems Aussagen stehen wie auch diese Forschungsdarstellungen im Widerspruch zu den Artikeln Erhard Hirschs, welcher die Situation der Juden in Anhalt-Dessau entgegen der Quellengrundlage beschönigend darstellt. Dieser Umstand wird zusammen mit inhaltlichen Erweiterungen der zuvor genannten Artikel (beispielsweise zum eingeschränkten Hauserwerb) sehr ausführlich anhand der entsprechenden Quellen in der als Masterarbeit eingereichten historischen Studie von Miriam Mathias dargestellt. Vgl. Miriam Mathias: Die „pädagogische Provinz“ Anhalt-Dessau und ihr „Friedensfürst“: eine Analyse des historischen Bildes von Leopold III.
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im Bezug auf die Menschen- und Bürgerrechte. Diese Debatte sei von der Nationalversammlung „so lebhaft“ geführt worden, dass die Gleichberechtigung nur „mit Noth durchgesetzt“500 wurde. Den Grund für diese Abneigung gegenüber der Gleichberechtigung sah Riem im tiefverwurzelten Pietismus: An dieser Religion hänge der Bataver „mit ganzer Seele, und zwar so sehr, daß die Lehre von der Prädestination, der freien Gnade Gottes, der Verdammung von Juden und Heyden, die gewöhnliche Unterhaltung von Männern und Weibern auf Postkutschen“501 ausgemacht habe. Entsprechend hätten manche Abgeordnete der Nationalversammlung auch im Sinne ihrer religiösen Überzeugung gegen eine Gleichberechtigung plädiert. Letztendlich konnten jedoch „viele aufgeklärte, hellsehende Männer“ in der Versammlung, zu denen auch Riems Freund Jacob George Hieronymus Hahn gehörte, „über die Schwärmerei der Priester schlechter Art“ siegen. Die hierbei von Hahn gehaltene Rede übersetzte Riem und druckte sie in seinem Reisebericht ab, damit sie und ihre Argumente weitere Verbreitung fänden. Mit besonderem Blick auf Preußen bemängelte Riem nämlich, dass selbst dort, wo man auf so vielen Gebieten „so weit vor andern voraus“ sei, gerade im Bezug auf die Gleichberechtigung der Juden „nicht gänzlich ins Reine kommen konnte.“502 Auch Hahn unterteilt die Juden – ähnlich wie Riem – in seiner Rede in einen aufgeklärten, patriotischen Part, die sich der Republik mit Freuden anschließen würden. Die übrigen Juden, die nach Hahns Ansicht den weitaus größeren Teil ausmachten, müssten jedoch „von ihren Thorheiten“ geheilt werden, um „sie für Freiheit und Vaterland zu gewinnen […] und in ihrem Herzen die Flamme des Nationalsinnes zu entzünden“.503 Den Grund für diese nötige Überzeugungsarbeit sieht Hahn jedoch nicht in einer mangelnden Bildung. Stattdessen macht er hierfür eine besondere Dankbarkeit der Juden gegenüber dem Hause Nassau verantwortlich: Unter der vorangegangenen nassauischen Regierung seien viele dieser Juden vor der Verfolgung in ihren Heimatländern – es werden ausdrücklich Spanien, Portugal und Deutschland genannt – gerettet worden. Diese Dankbarkeit habe sich gegenüber dem Königshaus als eine Art Vorurteil eingeprägt und „sich vom Vater zum Sohne fortgepflanzt“. Diesem Umstand sei letztendlich „die sklavische Gefälligkeit der Juden für die Grillen des Fürsten und der Regierung, so wie ihre dauernde Ergebenheit gegen dieselben, zuzuschreiben.“504 Gleichzeitig ist sich Hahn deshalb auch sicher, dass die Anhänglichkeit der Juden an die Batavische Republik nur umso grö-
500 501 502 503 504
von Anhalt-Dessau. Masterarbeit. Dortmund: TU Dortmund, 2014. url: http://hdl.handle.net/ 2003/34378 [18. 12. 2017], S. 11–16. Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 75. Ebd., S. 73. Ebd., S. 76. Ebd., S. 82 f. Ebd., S. 82.
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ßer sein würde, sollten die Juden den Unterschied „zwischen ihrem vorigen Loose und der ganzen Würde von Mensch und Bürger, die sie nun genießen“,505 erkennen. Als Vorbilder für die Batavische Republik verweist Hahn auf Nordamerika, in welchem mit der Unabhängigkeit 1776 die dortigen Juden gleiche Bürgerrechte erhielten, und auf Frankreich. Hier wurden diese nach langer Diskussion, nachdem 1789 die Frage nach einer Gleichberechtigung vertagt worden war, schließlich 1791 gewährt.506 Entsprechend gelte auch für die Revolution in den Niederlanden, dass hier „die natürliche, vollkommene Gleichheit in den Rechten der Menschen überhaupt, und der Mitglieder des niederländischen Volks insbesondere“507 ihre Geltung habe. Es sei außerdem „entehrend für eine freie Gesellschaft“, dass Juden als „Mitglieder des niederländischen Volks“ bisher weder ein Stimmrecht hätten noch zu den Zünften zugelassen seien oder für den Versuch, sich „ein saures Stückchen Brod zu verdienen“, unrechtmäßig bestraft „oder mißhandelt“ würden, „bloß weil sie Juden sind“.508 In seiner Rede stellt Hahn ebenfalls die Frage, wie diese „wüthendste Schwärmerei“ des Judenhasses „seit Jahrhunderten“ als „eingewurzelte Volksvorurtheile durch Gelehrte und Geistliche genährt und gereizt“ entstehen und weiter bestehen konnten. „So tief [sei] dieser verdammliche Menschenhaß“ in Europa verwurzelt, dass er einerseits „von Vielen für unauflöslich, wenigstens für unübersteiglich gehalten“ werde. Andererseits hätten selbst bekannte Aufklärer den Hass auf Juden geteilt, wie Hahn kritisiert: „Selbst Rousseau und Voltaire sind vom allgemeinen Abscheu gegen die Juden nicht frey.“ Auch habe man „[d]em deutschen Plato“ – Moses Mendelssohn – und „dem geistvollen Pinto“ – Isaac de Pinto (1717–1787) – nie verziehen, „daß sie von jüdischen Aeltern gebohren waren“.509 Gegen diese tiefe Verwurzelung des Antisemitismus in Europa hätten selbst „[d]ie Schriften einiger aufgeklärte[r] Menschenfreunde in Frankreich und Deutschland, und die allgemach sich verbreitenden philosophischen Begriffe“ nichts anhaben können: Zwar habe man durch diese Entwicklung „wirklich in unserem Welttheil […] zu glauben“ angefangen, „daß die Juden auch Menschen sind, und gute Bürger werden können; doch das alles war so beschaffen, daß noch ein Jahrhundert nöthig gewesen wäre“,510 um diese Veränderung endgültig durchzusetzen. Doch „durch die Revolutionen von Nordamerika und Frankreich [sei] zum Glücke der ganzen Menschheit der Aufklärung“511 zu einem schnelleren Fortschritt verholfen worden, sodass es nun doch bereits Ende des 18. Jahrhunderts möglich sei, den Juden gleiche Rechte zu gewähren. 505 506 507 508 509 510 511
Ebd., S. 83. Bein: Judenfrage (wie Anm. 378, S. 320), S. 195–197, 201–204. Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 83. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 88. Ebd., S. 88 f.
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Wie auch Johann Christian Schmohl sieht ebenfalls Hahn und mit ihm Andreas Riem, der Hahns Rede zustimmend abdruckte, die verbreitete Abneigung der breiten (christlichen) Bevölkerung als hauptsächlichen Hemmschuh für die Gleichberechtigung der Juden an. Schmohl ging jedoch 1781 noch davon aus, dass eine Gleichberechtigung eher in Deutschland als in Frankreich erreicht werden könnte. In Frankreich sei man nämlich, wie er den Wiedertäufer in einer Fußnote ausführen lässt, mit Blick auf die „Größe des Geistes und […] Menschlichkeit, die zur Ausführung eines solchen Projektes gehört, noch zu weit“512 von einer Gleichberechtigung entfernt. Für Hahn – und ihm zustimmend Riem – stand hingegen rückblickend auf die vorrevolutionäre Zeit fest, dass eine Gleichberechtigung der Juden in Europa alleine durch die Aufklärung nur sehr langsam hätte durchgesetzt werden können. Diese Durchsetzung wäre aus ihrer Sicht in allen europäisch geprägten Ländern ähnlich langsam vorangegangen, da in allen judenfeindliche Überzeugungen ähnlich stark verbreitet waren – und, wie aus Hahns Ausführungen hervorgeht, auch weiterhin verbreitet seien. Lediglich die Französische Revolution ermöglichte als große und rasche Umwälzung eine schnellere Veränderung, die sich zunächst, aufgrund der lokalen Begrenzung des Ereignisses, nur auf Frankreich auswirkte. Riems Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland an den Kongress von Rastatt Eine solche rasche Veränderung der bestehenden Ungerechtigkeit – wenn auch von Staatsmännern auf einem Kongress herbeigeführt – scheint sich Riem erhofft zu haben, als er sich – neben anderen politischen Eingaben – mit seiner Schrift Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland 513 an den in Rastatt tagenden Gesandtenkongress wandte. Nachdem Frankreich 1795 in Basel mit Preußen und 1797 in Campo Formio mit Österreich Frieden geschlossen hatte, war in Rastatt der Friedensschluss mit den restlichen deutschen Reichsständen das angestrebte Ziel. Dieser wurde jedoch nicht erreicht und der ab Dezember 1797 tagende Kongress nach eineinhalb Jahren im April 1799 ergebnislos abgebrochen.514 Wenn auch in Deutschland keine Revolution zu erwarten war, die der Gleichberechtigung der Juden wie in Frankreich Vorschub leisten konnte, so scheint Riem gehofft zu haben, wenigstens durch einen im Zuge der Französischen Revolution stattfindenden Kongress auf die politische Lage in den deutschen Fürstentümern einwirken zu können. Abgesehen davon, dass Riems Eingaben zur Gleichberechtigung der Juden – wie der Kongress selbst – ohne Wirkung blieben, machen seine 512 Schmohl: Fragment (wie Anm. 129, S. 36), S. 95. 513 Riem veröffentlichte seine Schrift 1798 in zwei Teilen zuerst im siebten und achten Heft seiner eigenen Zeitschrift Europens Politische Lage und Staats-Interesse, auf welche die Seitenangaben in den folgenden Ausführungen verweisen: Riem: Apologie 1 (wie Anm. 521, S. 97); Ders.: Apologie 2 (wie Anm. 521, S. 97). Beide Teile erschienen kurz danach und – bis auf einige Zeilenverschiebungen – druckgleich als eigenständige Ausgaben: Ders.: Apologie (wie Anm. 520, S. 97). Die Apologie wurde 1998 mit einer Einleitung von Walter Grab neu herausgegeben: Ders.: Apologie (1998) (wie Anm. 520, S. 97). 514 Vgl. Kuhn: Französische (wie Anm. 718, S. 226), S. 143–147.
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Ausführungen deutlich, dass durch die Debatte um eine Gleichberechtigung, die vor allem mit Dohms Schrift 1781 begonnen hatte, keinerlei Verbesserungen erreicht worden waren. Diesen Umstand führt Riem in der Einleitung seiner Schrift an, wobei vor allem die Ähnlichkeit zu Hahns Rede auffällt: Obwohl „am Ende des aufgeklärtesten Jahrhunderts“ die „Wissenschaften ihre höchste Stufe“ erreicht hatten und auch der Verstand, die Kultur und die Bildung sich „weit über die vergangene[n] Jahrhunderte“515 erheben konnten, wurden allein die Juden bei diesen Verbesserungen vergessen. Diese würden weiterhin „mit einer Art von Barbarei“ behandelt, „die in den grausamen Zeiten der Kreuzzüge, und des verächtlichsten Vorurtheils, ihre vorzügliche Entstehung fand“, obwohl ansonsten „barbarische Vorurtheile der Zeiten des Faustrechts“ von Fürsten als entehrend abgelehnt wurden. Mit der „Verachtung und Unterdrückung der Juden“ werde jedoch das „armseligste“516 aller Vorurteile – vor allem in Deutschland – weiterhin aufrecht erhalten. Bei der Beibehaltung dieser Vorurteile handele es sich einerseits um „ein sprechendes Monument der Wildheit und des Unsinns jener alten Zeiten“.517 Andererseits stelle es die Schande des menschlichen Geistes dar, dass sich „der Haß gegen die Juden“518 so hartnäckig halten könne. Die Gründe, weshalb die Juden weiterhin verachtet und unterdrückt werden, möchte Riem zu Beginn seiner Schrift untersuchen. Hierzu stellt er zunächst die Frage, ob diese Verachtung aus den religiösen Grundsätzen des Judentums entspringen könnte. Ähnlich wie auch Schmohl verneint er dies: Da der „Heiland Jesus ein gebohrner Jude“ gewesen sei und dieser sich öffentlich zum Gesetz des Moses bekannt habe, sei das Judentum als „die Religion Jesu“519 anzusehen. Auch die christlichen Bräuche „und selbst die Sakramente“ seien lediglich „von den Juden entlehnt, und in das Rituale der Christen übertragen.“520 Hierdurch habe das Christentum – als Kind des Judentums – keinerlei Grund, dessen Theologie oder Bräuche zu verachten. Riem betont wie zuvor Schmohl in seiner Schrift, dass es lediglich dem Zufall entspringe, welcher Religion man selbst angehöre: „Die Geburt bestimmt die Erziehung; die Erziehung die Religions-Meinungen, und nur der Zufall ist Schuld, daß der elendeste Jude nicht Erzbischof zu Mainz […] ist.“521 Dass die Fürsten nun die Juden, „die doch geborne Bürger des Staats“ seien, von eben jenen Rechten des Bürgers ausschließen, bezeichnet Riem als „eine Anomalie – einen außerordentlichen Widerspruch zwischen erleuchteten Grundsätzen und zwischen Handlung nach denselben.“522 515 516 517 518 519 520 521 522
Riem: Apologie 1 (wie Anm. 521, S. 97), S. 99 f. Ebd., S. 100, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 100 f. Ebd., S. 101, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 103 f. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105 f. Ebd., S. 106 f.
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Auch im politischen Bereich gebe die Existenz der Juden keinen Grund zu dieser Diskriminierung. Dies führt Riem im zweiten Kapitel seiner Apologie aus. So bildeten Juden keinen Staat im Staate, wie ihnen vorgeworfen würde, da sie weder eigene Regenten hätten noch eine Landeshoheit ausübten. Unterschiede zwischen Juden und Christen bezögen sich lediglich auf religiöse Fragen. „Der Religions-Meinungen halben Zoll und Geleit geben, ist abgeschmackt, vernunftwidrig und tyrannisch.“ So würden auch katholische Geistliche keine „Zoll- und Geleits-Abgaben“ leisten, welche zwar nicht den Ehestand duldeten, aber trotzdem „gegen alle Gesetze des Staates und der Moral, Concurbinen und Maitressen“523 hätten. Ebenfalls dürfe ein Protestant in einem katholischen Land der Meinung sein, „daß die Messe im Grunde eine vermaledeyte Abgötterei sey, ohne Zoll und Geleit zu entrichten“.524 Weshalb, so stellt Riem die rhetorische Frage, sollten nicht auch die Juden ihren religiösen Gebräuchen nachgehen können, die die Interessen eines Christen nicht beeinträchtigten? Dass die Juden sich selbst isolierten, da sie nur untereinander heirateten oder nicht mit Christen äßen, sei ebenfalls kein Grund, sie zu diskriminieren. Dies sei genauso bei den verschiedenen Ständen Usus, die Riem an dieser Stelle erneut als Kasten bezeichnet. Auch diese christlichen ‚Kasten‘ würden sich nicht untereinander vermischen und beispielsweise der Adel keine Leibeigenen heiraten.525 Im Gegensatz zu seinem Reisebericht steht in der Apologie jedoch nicht die Kritik an der Abschottung der Stände im Vordergrund. Stattdessen werden die verschiedenen, sich nicht vermischenden, kastenähnlichen Stände mit der Intention herangezogen, den Christen vor Augen zu führen, dass sie keinen Grund hätten, den Juden aufgrund deren – oft erzwungener – Abschottung Staatsfeindlichkeit zu unterstellen. In den folgenden Kapiteln spricht sich Riem gegen den Geleit- und Leibzoll aus, welcher von Juden auf Reisen bei Grenzübertritt verlangt wurde. Verlasse man beispielsweise auf dem Weg von Frankfurt am Main nach Homburg vor der Höhe die Landstraße, könne man auf einem Feldweg auf einer Strecke von 200 Fuß kurmainzisches Gebiet durchqueren. Juden müssten auf dieser kurzen Strecke für ihr sicheres Geleit Geld zahlen. „Hunde, und alles Vieh kann unbesteuert über diesen und andere Nebenwege gehen, nur der Mensch nicht, wenn zufällige Geburt ihn zum Juden bestimmte.“526 Derartiges würde zeigen, wie gering die Fürsten „diese Menschenklasse“ schätzten. Gleichzeitig brauche man sich in diesem Fall auch nicht wundern, „wenn die christliche[n] Unterthanen das Beispiel ihrer Fürsten zum Muster nehmen, und den Juden aufs verächtlichste mißhandeln.“527 Vor allem mit Blick auf Frankreich, die Batavische Republik und sicherlich auch die Vereinigten Staaten betont Riem, dass es sich bei dieser Diskriminierung um die „Gräuel des Despotismus“ 523 524 525 526 527
Riem: Apologie 1 (wie Anm. 521, S. 97), S. 109. Ebd., S. 109 f., Hervorh. i. Orig. Vgl. ebd., S. 112. – Zudem zu Riems Kasten-Begriff vgl. Kapitel 3.2.2. Ebd., S. 125 f. Ebd., S. 125.
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handele, auf die man deutlich hinweisen müsse, „um zu beweisen, daß nur edle Fürsten und Republiken ihrer nicht fähig“528 seien. Auch wenn sie sich selbst als ‚Republiken‘ bezeichneten, fielen hierunter keine deutschen Reichsstädte, wie Riem besonders hervorhebt. Diese fühlten sich nämlich „so erhaben“,529 dass von ihnen ebenfalls keine Juden geduldet würden. In anderen Städten würden die Juden in Ghettos eingesperrt, „als wären sie eine Räuberbande, die man fürchten, und des Nachts, um die Polizei nicht in der Ruhe zu stöhren, in einen großen Kerker verschließen müsse.“530 Als besonders unrühmliches Beispiel nennt Riem hierbei Frankfurt am Main und dessen Ghetto. Der französische General Jean-Baptiste Jourdan, in dessen Hauptquartier sich Riem 1796 aufhielt, habe in Frankfurt die Juden „aus dem Gefängniß der Judengasse“ befreit, indem er diese Straße „größtentheils im Bombardement vernichtete.“531 Neben derartigen Argumenten, die an die Vernunft und Toleranz der Christen appellieren, argumentiert Riem ebenfalls aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten gegen eine Diskriminierung von Juden. So ist für ihn das Frankfurter Beispiel, von auswärtigen Juden selbst für einen weniger als einen Tag dauernden Aufenthalt eine hohe Steuer zu verlangen, einerseits aus Vernunftgründen verachtenswert. Andererseits sieht er hier auch „die dümmste Ignoranz“ am Werk, da durch eine solche Taxe die „Concurrenz im Handel“532 einer Stadt geschwächt werde, indem man Juden daran hindere, die Stadt zu besuchen. Diese würden selbst Waren einkaufen und somit den städtischen Manufakturen zu Umsatz verhelfen oder Waren liefern, welche die Manufakturen wiederum weiterverarbeiten oder an Händler weiterverkaufen könnten. Diesen Verkehr zu bremsen oder zu verhindern, schade der gesamten Stadt. Auch mit einem wirtschaftlichen Hintergedanken, aber eher auf die aktuelle politische Situation der Französischen Revolution bezogen, ist Riems Argument, das als Prämisse „den fast nicht einmal mehr zweifelhaften Fall“ annimmt, „daß das linke Rheinufer der großen fränkischen Republik zufallen werde“.533 Da die Juden dann in den zur französischen Republik gehörenden Rheinlanden das volle Bürger528 529 530 531
Ebd., S. 126. Ebd. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128 – Während der Bombardierung, welche die österreichischen Truppen, die Frankfurt besetzt hielten, zur Aufgabe der Stadt zwingen sollte, geriet „der nördliche Teil der Judengasse in Brand. Die Bewohner mussten in anderen Teilen der Stadt Unterkunft suchen. Obwohl der Magistrat die Judengasse wieder aufbauen wollte, scheiterten alle Pläne. Nach der endgültigen Auflösung der Judengasse 1796 und nach dem Ende des Alten Reiches 1806 wurde den Juden zwar unter der neuen Frankfurter Obrigkeit von Dalberg im Januar 1808 der Wiederaufbau der Gasse ‚nach einem allgemeinen, nach und nach auszuführenden Plane‘ auferlegt, doch kam es nicht mehr zur Wiedereinrichtung des Ghettos.“ Marina Stalljohann-Schemme: Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs. Berlin u. Boston 2017 (Bibliothek Altes Reich 21), S. 98. 532 Riem: Apologie 1 (wie Anm. 521, S. 97), S. 129. 533 Ebd., S. 131.
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recht genießen würden, sei eine Übersiedelung der in Deutschland unterdrückten Juden wahrscheinlich. Neben dem Besitz, den sie dann auf der linken Rheinseite investieren würden, entfielen in vielen Ländern auch die verbreiteten Groß- und Kleinhändler. Auf jüdische Trödler seien jedoch besonders die „Armen und Tagelöhner unter den Christen“ angewiesen, deren „Tagewerk nie so viel abwirft, [um] in einem christlichen Kramladen neue Kleider etc. zu kaufen.“534 Eine Gleichberechtigung der Juden würde einem Land jedoch nicht nur wirtschaftliche Vorteile bringen. Da die Juden in Anbetracht ihrer Situation keine Bürger darstellten, seien sie lediglich „geduldete Fremdlinge im Staate.“535 Hierdurch hätten sie ebenfalls „keine Unterthanen-Pflichten gegen den Staat“536 und könnten diesem nicht wie andere Bürger nützlich werden. Zu Beginn des zweiten Teiles der Apologie geht Riem ausführlich auf den Vorwurf ein, die Juden würden sich durch Wucher bereichern. Den Umstand, dass Juden wucherten, erklärt sich aus Riems Sicht alleine dadurch, dass sie beinahe ausschließlich auf das Handelsgeschäft angewiesen seien, da ihnen keine andere Beschäftigung erlaubt werde. Die schädlichen Folgen des Handels sehe man hingegen nicht nur bei den Juden, denn der Handel mache „bekanntlich alle Nationen zu Betrügern und Wucherern, die sich demselben ganz eigentlich ergeben.“ Als handelnde Nationen hebt Riem Armenier, Russen sowie Polen hervor; aber „vorzüglich die Engländer“, welche „gleichsam gebohrne Betrüger“537 seien. Während Riem also das vorgeworfene Delikt des Wuchers nicht abstreitet, relativiert er es dennoch auf zwei Arten. Zum einen sei es nicht die ausschließliche Schuld der Juden, wenn man ihnen keine andere Möglichkeit lasse, als sich durch Handel den Lebensunterhalt zu verdienen. Zum anderen gehe Handel quasi automatisch mit unmoralischem Verhalten einher. Hierbei seien die Vergehen der christliche Handelsnationen weitaus schwerwiegender als die der Juden: „So weit, wie der christliche Handelsmann die Abscheulichkeiten der Gewinnsucht trieb, hat es doch die jüdische Nation noch nicht getrieben.“538 In diesem zweiten Teil richtet Riem sein Wort öfter direkt an die Herrscher und beschreibt die Verbesserungen, die sie für ihr Land durch eine Gleichstellung der Juden erwarten könnten. Hierauf dürfte auch zurückzuführen sein, dass der Ton, den Riem gegenüber den Fürsten anschlägt, verglichen mit dem ersten Teil weitaus gemäßigter und weniger polemisch erscheint. So unterstellt er ihnen gegen Ende des ersten Teils ein geradezu teuflisch-böses Verhalten, indem er ihnen vorwirft, sie wirkten von ihrem Thron herab weder Güte noch Gerechtigkeit, sondern „wie vom Throne des Fürsten der Hölle“ nur „Unmenschlichkeit, Verfolgung, Druck und 534 535 536 537 538
Riem: Apologie 1 (wie Anm. 521, S. 97), S. 133. Ebd., S. 140, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 140 f. Riem: Apologie 2 (wie Anm. 521, S. 97), S. 6. Ebd.
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Elend.“539 Mit einer ähnlich beißenden Polemik bedenkt Riem neben den Fürsten auch die Bevölkerung ganzer Landstriche: So bemerkt er ironisch, dass es beispielsweise in Westphalen nicht ratsam sei, Juden zuzulassen, da dort „die Schweine ihr eigentliches Vaterland“ hätten, deren „abgesagte[n] Feinde“540 schließlich die Juden seien. Derartige Spitzen lassen sich im zweiten Teil der Apologie nicht mehr finden. Im Gegensatz hierzu schlägt Riem einen beinahe schmeichelnden Ton an: „Ich würde den Regenten unseres Zeitalters ein schlechtes Kompliment machen, wenn ich die zahlreiche Menge großer Politiker, Philosophen etc, dieses [des jüdischen] Volkes herrechnen wollte.“541 Trotz dieses gemäßigten Tones steht für Riem weiterhin außer Frage, dass die Juden keine Schuld an ihrem Schicksal tragen. So sei es zwar der Fall, dass die jüdische Kultur im Vergleich mit der christlichen „vernachlässigter“ erschiene oder auch ihrer Sprache „etwas verächtliches“ anhinge. Diese harschen Urteile würden jedoch aus Unkenntnis der Christen gegenüber der jüdischen Kultur und Sprache härter ausfallen, als es zu rechtfertigen wäre: „Zuerst wird vieles bei uns auffallend, weil wir wenig oder gar keinen geselligen oder freundschaftlichen Umgang mit diesem Volke haben. Dadurch fällt das uns ungewöhnliche immer unter den Schein des Neuen und erhält dadurch Lächerlichkeit.“542 Mit Blick auf die christlichen Gebräuche und Traditionen wäre dies dasselbe für Außenstehende: Diesen würde das Beweihräuchern einer Oblate und eines geschnitzten Holzstückchens „oder die ehrfurchtsvolle Mine, womit ein Protestant in einer Kirche ein Stück Brod ißt und einen Schluck Wein nimmt, eben so lächerlich und abgeschmackt vorkommen müssen, als uns die Gebräuche der Juden.“543 All dies – jüdische wie christliche Tradition – sei mit „dem reinen gesunden Menschenverstand unverträglich“, weshalb es für die meisten „ins Lächerliche und Verächtliche“ falle – nur denen nicht, die glaubten, „ohne die Vernunft zu Rathe zu ziehen.“544 Riems Behemoth und Leviathan Im Bezug auf die jüdisch-theologischen Aspekte seiner Apologie wird Riems Zurückhaltung bei diesem Thema von Gerda Heinrich betont und gelobt. Er, der radikale Religionskritiker, habe sich bei der Betrachtung der jüdischen Religion sehr stark zurückgehalten. Diese „Selbstverleugnung und Behutsamkeit“ sei ihm besonders hoch „anzurechnen“. Riem habe, so Heinrich weiter, seine sonst verwendeten „publizistische[n] Normen und Vorlieben, die ihn zuweilen in bedenkliche Nähe zu gängigen Klischees des christlich religiös oder aufklärerisch religionskritisch moti-
539 540 541 542 543 544
Riem: Apologie 1 (wie Anm. 521, S. 97), S. 137. Ebd., S. 126 f. Riem: Apologie 2 (wie Anm. 521, S. 97), S. 22. Ebd., S. 32. Ebd., S. 32 f. Ebd., S. 33.
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vierten Antijudaismus geraten lassen“,545 in diesem Werk im Gegensatz zu seinen anderen völlig zurückgestellt. Derartige ‚Normen und Vorlieben‘ meint Heinrich vor allem in zwei Werken Riems ausmachen zu können: So zum einen in Riems 1796 erschienener und gegen den preußischen Hof gerichteten Erzählung Behemoth. Der Roman über alle Romane. Oder Leben, Thaten und Meynungen des irrenden Ritters Orthodox welcher gegen 2000 Jahre lebte und jetzo an der Auszehrung gar jämmerlich und gefährlich darnieder liegt. Eine Feen- und Popanzen-Geschichte fürs ganze Volk. Zum anderen in Riems letztem religionskritischen Werk von 1801 Leviathan oder Rabbinen und Juden. Mehr als komischer Roman und doch Wahrheit. Voll der kurzweiligsten Erzählungen und doch Ernst. Vom Verfasser des Behemoth. Auch wenn beide Werke sich implizit durch die namensgebenden mythologischen Wesen aufeinander beziehen und diese Verbindung im Titel des Leviathan explizit hervorgehoben wird, sind sie doch äußerst unterschiedlich. Nach Heinrich zeige sich jedoch gerade in diesen Schriften Riems ansonsten „ausgeprägte, oft derb grobianische satirische Neigung“, die sich in seiner „bornierte[n] Sicht beziehungsweise völligem Unverständnis der rabbinisch-talmudischen Tradition und ihrer dialektischen und poetisch-metaphorischen Momente“ äußere. Hierbei hebt Heinrich „die exzessive Rabbinerschelte“ des Leviathan sowie im Behemoth „die Verspottung des Talmud“546 hervor. Diesem Urteil kann im Bezug auf beide Werke selbst bei einer nur oberflächlichen Betrachtung der von Riem intendierten Aussage und Wirkung widersprochen werden. So handelt es sich bei Riems Behemoth und den zwei anschließenden Teilen Der Substitut des Behemoth oder Leben, Thaten und Meinungen des kleinen Ritters Tobias Rosemond. Eine Geschichte aus uralten Zeiten aus demselben Jahr und Infernale. Eine Geschichte aus Neu-Sodom dramatisiert von 1798 um bissige Satiren auf das preußische Herrscherhaus. Friedrich II. wird hierbei als vorbildlicher Herrscher dargestellt, dessen Land nach seinem Tod von den Nachfolgern politisch, wirtschaftlich und moralisch abgewirtschaftet wird. „Auf dem Tiefpunkt dieses Niedergangs stand ein Friedrich Wilhelm II. verkörpernder König, der seinen Vorgängern unterlegen war.“547 Hierbei verortet Riem vor allem die Handlung des Behemoth in ein fiktives biblisches Israel, dessen Figuren hierdurch der jüdischen Religion anhängen. Gleichzeitig ist dies lediglich eine Verfremdung der Welt und Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, die eine überspitzte Kritik eines christlichen Herrscherhauses zulässt und eine bizarre Handlung mit zahlreichen Sprüngen und Wendungen ermöglicht. Beispielsweise lässt Riem den als selbstsüchtig und dümmlich dargestellten König David seine Priester Zadok und Ahimelech loben, dass sie ihm „allen Willen“548 ließen. Im Gegenzug lässt David sie „auch unter den Leviten schalten und walten, wie sie wollen“. Auch wenn dies bedeute, dass die Priester „die Ammoniter unter ei545 546 547 548
Heinrich: Riems Apologie (wie Anm. 332, S. 69), S. 104. Ebd. Maaser: Literarisches Werk (wie Anm. 323, S. 68), S. 45. Riem: Behemoth (wie Anm. 500, S. 94), S. 33.
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serne Sägen legten, an Haken aufhiengen, mit Keilen spalteten, oder im Ziegelofen verbrennten“. Bis an diese Stelle belässt Riem die Handlung in der biblischen Welt, was er mit den entsprechenden alttestamentarischen Namen der Priester Zadok und Ahimelech und der Nennung der beiden Stämme der Leviten und Ammoniter verdeutlicht. Dass seine Priester jedoch mit den feindlichen Ammonitern grausam verfahren dürfen, begründet David mit der Aussage, es handele sich bei diesen „Kerls [um] Ketzer und Neologen, lumpichte Aufklärer, derer Irrthümer längst widerlegt“549 seien. Hierbei durchbricht Riem den biblischen Ort und die Zeit seiner Erzählung und verknüpft sie mit seiner eigenen Gegenwart, womit er die aufklärungsfeindliche Politik Friedrich Wilhelms II. kritisieren kann. Andere Eigenschaften Friedrich Wilhelms II. lassen sich in der Hauptfigur der Erzählung, dem „dickfäustige[n], speck- und fettreiche[n], unvergleichliche[n] Ritter Orthodox“,550 dessen Beinamen „Ketzer-Fresser“551 lautet, finden. Orthodox wird am Hof König Davids erzogen. Als er von seinem Hofmeister gefragt wird, wie man „der allein wahren und seligmachenden Religion am besten“ helfen könne, antwortet er: Dadurch, daß man die sogenannten Aufklärer nach Weimar, Hamburg und Dänemark ins Exilium schickt, die Oberhofprediger censiren, und die Copisten nicht alles abschreiben und die Buchhändler nicht alles drucken läßt, was sie wollen. Das beste Mittel wäre, den Buchhandel ganz zu zerstöhren, die Druckereyen als Erfindungen des Satans, sämtlich zu demoliren, denn sie werden bald demokratische Grundsätze ausbreiten, welche den Fürsten und Edelleuten gefährlich werden.552
Ähnliche Beispiele lassen sich in der gesamten Erzählung finden. Sie richten sich nicht gegen das Judentum, wie es Heinrich darstellt,553 da die Religion der Protagonisten vielmehr ein stark verfremdetes Christentum darstellt. Zwar werden vereinzelt Namen oder Bezeichnungen aus der jüdischen Theologie und Tradition beziehungsweise aus dem Alten Testament entliehen. Diese dienen jedoch auch dann in erster Linie dazu, dieses verfremdete Christentum satirisch darzustellen, und richten sich nicht gegen das Judentum oder Juden. Hierzu sind die theologischen sowie zeitgenössisch-politischen Anspielungen nur allzu deutlich. Riems Leviathan ist hingegen in die Reihe seiner religionskritischen Schriften einzuordnen. Da Riem als Religionskritiker weder dem Christentum noch einer anderen Religion den Vorzug gibt, ist die Kritik an den seiner Ansicht nach abergläubischen Lehren des Judentums durchaus konsequent. Ebenso ist es konsequent, dass 549 Ebd., S. 34. 550 Ebd., S. 7, Hervorh. i. Orig. 551 Ebd., S. 13, Hervorh. i. Orig. – Insgesamt ist es im Behemoth aufgrund der zahlreichen Zeitund Ortssprünge sowie der großen Anzahl an fiktiven Figuren und deren undurchsichtigen Familienverhältnissen sehr schwer, diese Figuren einem jeweiligen realen Pendant zuzuordnen. Entsprechend scheinen sich negative Charakterisierungen Friedrich Wilhelms II. sowohl in der Figur des König Davids als auch im Ritter Orthodox finden zu lassen. 552 Ebd., S. 115, Hervorh. i. Orig. 553 Vgl. Heinrich: Riems Apologie (wie Anm. 332, S. 69), S. 104.
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er im Leviathan statt der christlichen Geistlichen, „den Meuchelmörder[n] im Priestergewande“,554 ihr jüdisches Pendant, die Rabbiner, für die Verbreitung von Aberglauben verantwortlich macht. Hierbei gilt seine Kritik, wie er im Vorwort seines Werkes deutlich hervorhebt, nicht dem Judentum an sich. Stattdessen kritisiert er – ähnlich wie beim Christentum –, dass vor allem die Tradierung und Auslegung abergläubischen Tendenzen Vorschub geleistet habe: So seien Rabbiner als „Bewahrer der jüdischen Religion“ ebensowenig empfänglich für die Philosophie gewesen wie christliche Priester. Auch Rabbiner hätten „es für ein Verbrechen gehalten […], die Philosophie zu studieren.“ Daher seien für die jüdischen Gesetze „600 000 verschiedene Auslegungen“ entstanden, da alle „ihre[] eigene[] Meynung [in] Gottes Wort fanden“.555 Nicht nur durch den ähnlich lautenden Titel, sondern auch durch Riems Kritik an religiösen Vorstellungen der jüdischen Theologie, die aus aufgeklärter Sicht abzulehnen seien, ähnelt sein Werk der 1792 erschienenen Schrift Saul Aschers Leviathan oder Ueber Religion in Rü cksicht des Judenthums. Auch Ascher sprach sich für eine theologische Reform des Judentums aus. Er war „in diesem Zusammenhang dazu bereit, jene Traditionsbestä nde der Halacha und der Tora ü ber Bord zu werfen, die de[n] Eintritt der jü dischen Minderheit in die bü rgerliche Gesellschaft potentiell verhindern kö nnten.“ Ascher beschreibt in diesem Zusammenhang ein reformiertes Judentum, in welchem „die von den Emanzipationsgegnern immer wieder in die Diskussion eingebrachten jü dischen Speisegesetze oder das Verbot der Mischehe“556 keine Rolle mehr spielten. Während Schmohl und Riem beide Aspekte als nichtig und ungefährlich verteidigten, um die Argumente der judenfeindlichen Diskussionsbeiträge zu entkräften, verwirft Ascher kurzerhand diese Lehren, um die Kritik ins Leere laufen zu lassen. Dennoch ähneln sich Aschers und Riems Schriften dahingehend, dass beide Autoren das Judentum nicht abschaffen, sondern im Falle Aschers reformieren oder im Falle Riems vom rabbinischen Aberglauben befreien wollten.557 Dass sich Riem hierbei genauso religionskritisch mit dem Judentum beschäftigte, wie er es mit dem Christentum tat, wird durch seine Aussage gestützt, dass es für Juden keine Lösung sei, zum Christentum zu konvertieren. Dies bedeute nämlich lediglich, „einen Aberglauben mit dem andern [zu] verwechseln.“558 Folglich wird von Riem keine der beiden Religionen als eine vernünftigere – oder: weniger abergläubische – angesehen und hierdurch besser bewertet. Für Riem handelt es sich bei den christlichen Kirchen im Vergleich zum Judentum nur um „Wohnplätze[] einer 554 Riem: Aufklärung 1 (wie Anm. 422, S. 82), S. 58. 555 Ders.: Leviathan (wie Anm. 524, S. 97), S. V. 556 Marco Puschner: Antisemitismus im Kontext der politischen Romantik. Konstruktionen des „Deutschen“ und des „Jüdischen“ bei Arnim, Brentano und Saul Ascher. Tübingen 2008 (Conditio Judaica 72), S. 450. 557 Ausführlich zu Aschers Leviathan, vgl. Fischer: Blick (wie Anm. 472, S. 338), S. 29–52. 558 Riem: Leviathan (wie Anm. 524, S. 97), S. X, Hervorh. i. Orig.
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andern Art [des] Aberglaubens, Abgötterey, und hie und da gleich abgeschmackter Thorheiten“.559 Dies korrespondiert mit Riems religionskritischen Aussagen zur menschlichen Moral, nach denen eine unrichtige oder schwärmerische Religionsvorstellung eine negative Auswirkung auf die Moral haben könne, eine reine ‚aufgeklärte‘ Religion jedoch nicht.560 Riem hat auch bei dieser Aussage die allgemeinen religiösen Vorstellungen jeder Religion und Konfession im Blick. Hierdurch gilt sowohl für das Christentum als auch für das Judentum, dass Riem diese Religionsvorstellungen von der Moral schädlichen Aspekten zu befreien versucht, wenn es zu ihnen für einen Menschen aus persönlichen Gründen keine Alternative gibt. Riem macht sein Vorgehen – anders als andere Autoren dieser Zeit – sehr transparent: So gibt er einerseits zu Beginn eines jeden Kapitels die hierfür verwendete Literatur an. Sie besteht vor allem aus mittelalterlichen und frühneuzeitlichen rabbinischen Schriften.561 Andererseits belegt Riem seine Aussagen auch im Text mit genauen Literaturverweisen in Fußnoten, die hierdurch nachvollzogen werden können. Irritieren könnte hingegen der erste Teil des Leviathan, welcher in Dialogform abgefasst ist. Der hierdurch entstehende ironische Unterton dieser Darstellungsweise wird von Riem am Ende seines Werkes kommentiert: Er habe lediglich „das Lächerliche der rabbinischen Thorheit, und eines Unsinnes sonder Gleichen, ins Licht gestellt, […] wie man lächerliche Gegenstände behandelt“. Bewusst habe er auf solche Themenkomplexe verzichtet, die „mehr dazu gedient haben würde[n], gegen diese Parthey Haß zu erwecken. – Verachtung und Lachen thut seiner Natur nach stärkere Wirkungen, als Verfolgung und Haß.“562 Durch die Verachtung unsinniger Lehren würden die Menschen versuchen, sich von diesen Lehren zu lösen. Betrachtet man zudem eine Sache amüsiert mit einem Lachen, unterdrücke dies „den Haß, und macht dem Mitleiden Raum.“563 Auch im Leviathan versuchte Riem, die Unterdrückung und Ungleichberechtigung der Juden kritisch zu thematisieren. Interessant ist hierbei seine Kritik, dass die verschiedenen Forderungen nach Gleichberechtigung der Juden immer einseitig auf die Christen als Ideal fixiert gewesen seien. So sei es nicht das Ziel der meisten Bemühungen gewesen, den Juden Menschen- wie auch Bürgerrechte zu gewähren, damit diese sich frei zu jüdischen Bürgern entfalteten. Stattdessen sei versucht worden, sie zu einer Art ‚jüdischen Christenbürgern‘ zu ‚verbessern‘: „Es war und ist noch eine Zeit, wo die fast allgemein auf der Menschheit christlichen Antheils brütende Barbarey, den Juden zuförderst zum Wunsche nöthigte: die Rechte der Christen erringen zu können. […] Man sprach überall von der Pflicht, daß der 559 560 561 562 563
Ebd., S. 327. Vgl. hierzu Kapitel 3.1.2.2. Vgl. Grab: Riems Weg (wie Anm. 324, S. 69), S. 195. Riem: Leviathan (wie Anm. 524, S. 97), S. 447. Ebd., S. 448 – Bei seiner Kritik des rabbinischen Aberglaubens wurde Riem vermutlich auch von Salomon Maimon beeinflusst, der ebenfalls ein abergläubisches und despotisches Verhalten der Rabbiner als ein Hindernis der aufgeklärten Reform der jüdischen Religion hin zu einer natürlichen Vernunftreligion betrachtete. Vgl. Fischer: Blick (wie Anm. 472, S. 338), S. 135 f.
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Jude sich auch den Pflichten der Christen unterwerfen müsse, wenn er an ihren Rechten Theil nähme.“564 Grund für diese Annahme sei „eine gewöhnliche Verirrung des Verstandes“, durch welche die Christen davon ausgingen, „Menschen- und Bürgerrecht [seien] an den Glauben an einen gekreuzigten Gott, Sakramente etc.“565 gebunden. Ein guter Mensch und Bürger könne nur ein Christ, niemals ein Jude sein. Daher müssten die Juden zuerst an das christliche Ideal angepasst werden, um sich der Menschen- und Bürgerrechte würdig zu erweisen. Das Ziel war folglich keine Integration, sondern eine Assimilation an die christliche Kultur. Jüdische Bürger, die ebenso selbstverständlich und frei ihre Religion, Sitten und Gebräuche ausleben dürften wie die Christen die ihrigen, seien zwar aufgrund der aufgeklärten Religionstoleranz zu tolerieren. Sie stellen jedoch nicht das Ideal des Christen dar. Wie es seinem radikalen religionskritischen Selbstverständnis entspricht, betont Riem ausdrücklich, dass Menschen- und Bürgerrechte zum Christentum „gerade am wenigsten gehörten.“566 Da sie also „mit Christen-Rechten und Pflichten nichts zu thun haben“, und man unabhängig von seiner Religion ein guter Bürger sein könne, bedürfe „der Jude, Heide und Türke überall keine Dispension“,567 um Menschenrechte zu besitzen und an der bürgerlichen Gesellschaft teilzunehmen. Vergleicht man Riems Zustandsbeschreibungen und seine Vorschläge zur Gleichberechtigung mit den lange vorher erschienenen Texten Johann Christian Schmohls, lassen sich die deutlichsten Unterschiede lediglich auf der stilistischen Ebene der jeweiligen Schriften finden. Inhaltlich ähneln sie sich stark: Weder theologisch noch politisch oder wirtschaftlich sei eine Benachteiligung der Juden zu rechtfertigen. Der Grund, dass diese dennoch benachteiligt oder bewusst unterdrückt würden, liege in den tief verwurzelten, judenfeindlichen Vorurteilen der Christen. Schmohl wie Riem gehen in ihren Schriften fest davon aus, dass lediglich die Gleichberechtigung der Juden durchgesetzt werden müsse und die Juden dann freiwillig, freudig und reibungslos ihre Situation der Benachteiligung überwinden würden. Als problematisch wurde von beiden Autoren hingegen das Verhalten der Christen betrachtet: Als treibende Kraft dieser Benachteiligung und durch ihre jahrelang internalisierte Verachtung für die Juden gingen Riem und vor allem Schmohl davon aus, dass sich vor allem die Christen gegen eine Gleichberechtigung der Juden sträuben würden. Im Vergleich zu Dohm wird diese Komponente der kulturell verankerten Diskriminierung aufseiten der Christen von beiden Autoren stärker betont und problematisiert. Gleichzeitig muss bei beiden Texten mit Blick auf ihre Entstehung die Differenz von beinahe zwei Jahrzehnten stärker berücksichtigt werden: Schmohl schrieb sein Fragment, ohne Dohms Werk und die rege Debatte, die sich nach dessen Veröffent564 565 566 567
Riem: Leviathan (wie Anm. 524, S. 97), S. 328, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 329 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 330. Ebd., S. 331, Hervorh. i. Orig.
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lichung entwickelte, zu kennen. Ebenfalls wurde es knapp ein Jahr vor den österreichischen Bemühungen Josephs II. veröffentlicht, die eine Verbesserung der Lebenssituation der Juden in Österreich versprachen. Als unmittelbares Ereignis war Schmohl folglich nur die amerikanische Unabhängigkeit von 1776 bekannt, bei welcher die rechtliche Gleichstellung der Juden eine Folge der Religionsfreiheit darstellte. Riem hingegen erlebte nicht nur die amerikanische Unabhängigkeit, sondern ebenfalls die elf Jahre später erfolgte Verabschiedung der amerikanischen Verfassung sowie der 1789 beschlossenen Verfassungszusätze (Bill of Rights), mit deren erstem Zusatz die Religionsfreiheit unwiderruflich festgeschrieben wurde. Ebenfalls nahm er die öffentliche Debatte, die sich im Zuge von Dohms Veröffentlichung entwickelte, wahr und verfolgte sie intensiv und kritisch, wie vor allem aus seinem 1801 erschienenen Werk Leviathan hervorgeht. Nachhaltig prägte ihn, dass er 1792 die rechtliche Gleichstellung der Juden in Frankreich und 1796 in den Niederlanden beobachten beziehungsweise sogar direkt miterleben konnte: In der Batavischen Republik war Riem durch den Abgeordneten Hahn mit einer wichtigen treibenden Kraft der dortigen Gleichberechtigung befreundet. Bereits in Berlin wird Riem über den Salon von Henriette Herz mit den Vertretern der Haskala bekannt gewesen sein. Für die Kritik des durch die Rabbiner verbreiteten Aberglaubens griff Riem in seinem Leviathan ausführlich auf die ab 1792 erschienene autobiographische Lebensgeschichte Salomon Maimons zurück.568 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass es sich bei Riems Forderung nach einer rechtlichen Gleichstellung der Juden um eine absolute und bedingungslose handelte. Dass Schmohl dies schon 1781 forderte und ausdrücklich keine ‚verbessernde‘ Assimilation der Juden als Bedingung für die Gewährung gleicher Rechte vorsah, hebt seinen Text aufgrund dieser zeitlichen Komponente hervor. Trotz der Entwicklungen in Amerika, Frankreich und den Niederlanden bleibt Riems Forderung bezogen auf die rechtliche Situation der deutschen Juden im 19. Jahrhundert weiterhin die Ausnahme.569 Auch in diesem Jahrhundert wurde die Anpassung der Juden an das christliche Ideal, die sogar bis zur Verschmelzung des Judentums mit der Mehrheitsgesellschaft gehen sollte, als – wenn auch unerreichbar hohes – Emanzipationsziel angesehen. Diese Option zur ‚Lösung‘ des Problems, das ausschließlich vonseiten christlicher Antisemiten bestand, blieb darüber hinaus – neben den Möglichkeiten der Vertreibung oder Auslöschung – bis in das nationalsozialistische Deutschland des 20. Jahrhunderts beinahe unverändert be-
568 Überblicksartig zur Lebensgeschichte, ihrer Rezeption aber auch biographisch zu Salomon Maimon, vgl. Ehrensperger: Lebensgeschichte (wie Anm. 487, S. 341). 569 Vgl. Toury: Emanzipation (wie Anm. 393, S. 323), S. 38. – Entgegen Tourys Darstellung bekämpfte Riem jedoch nicht das gesetzestreue Judentum, sondern – wie beschrieben – abergläubische Traditionen, wie es auch in seinen religionskritischen Betrachtungen des Christentums der Fall war.
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stehen.570 Mit seiner Kritik, die frühneuzeitliche Gleichberechtigungsdebatte habe als Ziel nie gleichwertige jüdische Bürger, sondern immer nur die Assimilation der Juden an das Christentum vorgesehen, trifft Riem den Kern eines Großteils der im 18. Jahrhundert erscheinenden Beiträge. Da auch in den folgenden Jahrhunderten die Gewährung von Rechten meist mit der Forderung nach einseitiger Anpassung und Umerziehung einherging, sollte Riems Kritik weiterhin Bestand haben. 3.2.4 Zwischenfazit: Die Kritik der sozialen Verhältnisse Die aufgeklärte Kritik an den sozialen Verhältnissen konnte als Konsequenz der philosophischen Schlussfolgerungen das Potenzial zu tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderung bergen. Hierbei kann eine eventuelle Radikalität der jeweiligen Aussagen meist daran gemessen werden, wie deutlich sich diese Veränderungen von der gesellschaftlichen Gegenwart des 18. Jahrhunderts unterscheiden. Gleichzeitig kann eine Radikalität auch darin liegen, wie sehr sich die philosophischen Überlegungen von den verbreiteten und akzeptierten zeitgenössischen Lehrmeinungen abwichen. Dieser Aspekt wird vor allem mit Blick auf den ersten untersuchten Teilbereich deutlich: So wendet sich Johann Christian Schmohl bei den Beschreibungen der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft speziell gegen die im deutschsprachigen Raum weit verbreitete Darstellung Isaak Iselins. Diese war durch die Annahme eines paradiesischen Naturzustandes, nach dessen Überschreitung die Menschen erst grausam und böse geworden seien, in gewisser Weise sogar mit religiösen Vorstellungen kompatibel. Vor allem gegen diese Instrumentalisierung geschichtsphilosophischer Überlegungen zur Untermauerung einer theologischen, aber nicht empirisch belegbaren Überzeugung, wandte sich Schmohl vehement. Deutliche Differenzen lassen sich auch bei der Bewertung der verschiedenen Entwicklungsstufen, nicht nur zu Iselins Darstellung, sondern auch zu ähnlichen, damals gängigen Theorien ausmachen. So sticht besonders Schmohls positive Bewertung der frühen Entwicklungsstufen, der Sammler, Jäger und Viehzüchter hervor: Wurden diese Menschen meist als äußerst primitiv beschrieben und ihnen hierdurch jegliche Kultur abgesprochen, betont Schmohl diese Fähigkeiten geradezu euphorisch. Durch das menschliche Bedürfnis, vergnügt und bequem zu leben, sei bereits in dieser Phase der Wunsch nach Luxus aufgekommen. Luxus als ein Grundbedürfnis des Menschen wird entgegen der gängigen Meinung zur Zeit der Aufklärung von Schmohl weder negativ noch als Zeichen des gesellschaftlichen Verfalls gewertet. Selbst Frühformen der Arbeitsteilung, die sonst ebenso als Zeichen einer besonders fortgeschrittenen Entwicklung angesehen wurden, hielt Schmohl schon bei Jägern für wahrscheinlich. Er wendet sich folglich nicht nur gegen die Beschreibung dieser Menschen als ‚primitiv‘, sondern spricht sich auch deutlich dagegen 570 Vgl. Erb u. Bergmann: Nachtseite (wie Anm. 415, S. 326), S. 36–65. – Speziell für das 19. Jahrhundert: Thomas Stamm: Vernichtung durch Anpassung. Judentum und Staatsbürgerrecht im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts. Bonn 1985, bes. S. 28–36.
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aus, sie als ‚Wilde‘ zu bezeichnen: Ein solcher Name setze den Wert dieser Menschen unnötig herab und überhöhe gleichzeitig den eigenen. Dabei sei man selbst – wenn Jäger und Sammler ‚wild‘ seien – nur ein kleines bisschen weniger ‚wild‘. Auch Karl von Knoblauch vertrat eine derartige Theorie zur stufenhaften Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Ein größeres Augenmerk legte er jedoch nicht wie Schmohl auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, sondern auf die Entwicklung des Menschen selbst. Indem Knoblauch aufgrund seiner philosophischen Überzeugungen weder von einer göttlichen Schöpfung ausgehen konnte noch annehmen wollte, die Menschheit hätte ewig bestanden, versucht er die Theorie einer sukzessiven Entwicklung hin zum Menschen zu durchdenken und theoretisch zu untermauern. Hierbei ist ihm der spekulative Charakter einer solchen Untersuchung stets bewusst, weshalb er seine Überlegungen hierzu äußerst vorsichtig formuliert. So kann er sich der von Robinet und Bonnet postulierten Kette der Naturwesen, die ausgehend von Mineralien bis hin zu übernatürlichen Wesen eine stete kettenartige Verknüpfung der möglichen Existenzen annahmen, nicht anschließen. Stattdessen vergleicht er die Entwicklung des Menschen eher mit der Domestizierung von Wildtieren: Durch diese habe sich innerhalb einer großen Zeitspanne das Aussehen und einige Eigenschaften von Wildtieren drastisch verändert, sodass es beinahe so erscheine, als handele es sich bei der Urform und dem domestizierten Tier um zwei verschiedene Arten. Eine derartige Urform des Menschen meinte Knoblauch beim Orang-Utan gefunden zu haben. Diesen zählte er damit nicht nur zur menschlichen Art, sondern traute ihm sogar zu, ein vernunftbegabtes Wesen zu sein – was auch während der Aufklärung und noch lange danach als ausschließliches Privileg des Menschen betrachtet wurde. Während weder Schmohl noch Knoblauch in ihren entwicklungsgeschichtlichen Texten die frühneuzeitliche Klimatheorie heranziehen, um beobachtete Unterschiede zwischen verschiedenen Völkern zu erklären, ist diese Theorie fester Bestandteil der Werke Andreas Riems. So skizzierte er 1779 beispielsweise das Vorhaben einer groß angelegten Studie zur Beschreibung der verschiedenen Klimazonen und ihrer Auswirkung auf „den Werth des Nationalgeistes, der Staatskunst, und der Religion.“571 Auch wenn Riem den Plan zu diesem Werk niemals verwirklichte, vertrat er bis zu seinen späten Werken weiterhin die Überzeugung, das Klima beeinflusse sowohl einzelne Menschen als auch den Charakter ganzer Völker. So schreibt er beispielsweise in seinem Reisebericht durch die Batavische Republik, die Menschen seien wie das dortige feuchte Klima: „Ein wäßriger Boden voll Seen, Kanäle, Gewässer und Moräste bringt viele Fische, Frösche, Insekten und dergl. hervor, nicht den muthvollen Löwen – der Bataver ist seinem Klima gemäß – muthlos, und nichts weniger als von Löwennatur.“572 Hiermit schloss sich Riem dem seit der Anti571 Riem: Verträglichkeit (wie Anm. 382, S. 76), S. 44. 572 Ders.: Reise, Holland 2 (wie Anm. 513, S. 96), S. 320 f. – Die etwas eindimensionale Charakterisierung der Niederländer wird zusammenfassend dargestellt in: Siebers: Geizige Bataver (wie Anm. 335, S. 70).
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ke bestehenden und von Montesquieu zur Zeit der Aufklärung popularisierten und weit verbreiteten klimatheoretischen Modell zur Erklärung menschlicher Varietät und sogenannter Volks- oder Nationalcharaktere an.573 Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Klima nur für Andreas Riems Überlegungen wichtig war. Auch in Knoblauchs Theorie kam es vor, da er in Übereinstimmung mit antiken Autoren davon ausging, in Skythien wäre es schon zu früher Zeit so warm gewesen, dass die Entwicklung der Menschen von dort ihren Ausgang nehmen konnte. Er spricht sich jedoch klar dagegen aus, „das famose Problem von der Schöpfung des Nationalcharakters, des Genies und der Sitten, durch Klima“574 zu erklären. Auch für Schmohl ist das Klima zwar mitverantwortlich, ob sich ein Land ‚nur‘ für Viehzucht oder sogar für den Ackerbau eignet. Hiervon ist wiederum abhängig, wie viele Menschen in diesem Gebiet leben und sich ernähren können. Der Unterschied zur Klimatheorie, wie sie Andreas Riem übernommen hatte, ist, dass hierbei nicht alle Eigenschaften eines Volkes – Aussehen, Charakter, allgemeines Verhalten und Subsistenz – auf das Klima zurückgeführt werden, sondern lediglich die Subsistenz in dem Maße, in dem es das Klima eines Landes zulässt. Für Anhänger der Klimatheorie lassen sich beinahe alle Eigenschaften eines Volkes durch das Klima erklären: So wird „der Bewohner der heißen Zone“ durch die Einwirkung der „Sonnenhitze […] ermattet – träge, feig und unthätig“.575 Hier könne „der Geist der Industrie nie die freye zwanglose Höhe des erfinderischen Genies“ erreichen, „da die Sonne, die zwar seine Einbildungskraft erhitzt, auch zu gleicher Zeit, die Aktivität bis zur Faulheit niederdrückt, daß alle seine Künste in Statu quo bleiben müssen.“ Dieses Bild der faulen, aber dennoch (oft sexuell) feurigen Südländer hat sich meist bis heute gehalten und wird zudem ebenso mit der Einwirkung des Klimas in Verbindung gebracht. Da sich die zugeschriebenen Vorurteile durch selektive Beobachtung generalisierend ‚belegen‘ lassen, war es für Riem und andere Vertreter der Klimatheorie nur allzu logisch, dass die Menschen der kühleren, gemäßigteren Regionen denen der heißen Regionen überlegen waren: Daß die Eroberer vom mitternächtlichen Theile des Erdbodens ihre Siege über alle mittäglich liegende Länder ausbreiteten, – weil die Kälte ihren Nerven und Körpern eine größere Festigkeit 573 Überblicksartig zur Klimatheorie und ihrer allgemeinen Popularität im 18. Jahrhundert, vgl. Hoorn: Dem Leibe (wie Anm. 21, S. 252), S. 26–34. Ebenfalls: Gonthier-Louis Fink: Vom universalen zum nationalen Literaturmodell im deutsch-französischen Konkurrenzkampf (1680–1770). In: Wilfried Barner u. Elisabeth Müller-Luckner (Hg.): Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. München 1989 (Schriften des Historischen Kollegs 15), S. 33–67, hier S. 42–45, auch wenn der Autor die Wirkung der Klimatheorie für den deutschsprachigen Raum zu gering einschätzt. Vgl. hierzu: Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin u. New York 2007 (spectrum Literaturwissenschaft 11), S. 83 f. Dieses Werk bietet zudem auf S. 80–149 einen äußerst ausführlichen Überblick über die frühneuzeitliche Klimatheorie. 574 [Karl von Knoblauch]: Florion an Selanor. Gegen Montesquieu. In: Hyperboreische Briefe 3 (1788), S. 276–285, hier S. 277. 575 Riem: Verträglichkeit (wie Anm. 382, S. 76), S. V f.
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gab, und das Resultat dieser größern Festigkeit, Muth, Thätigkeit und Härte war, – wird dem Kenner des physischen Theils der Geschichte weniger zum Wunder werden.576
Das Bild, das Johann Christian Schmohl, Karl von Knoblauch und Andreas Riem von ihrer zeitgenössischen Gesellschaft hatten, weist bei allen dreien, aber besonders bei Knoblauch und Schmohl eine deutliche Differenz zur rechtlich bestehenden Ordnung der damaligen Zeit auf. Dies zeigt ganz allgemein, dass die dreigeteilte Ständeordnung nicht mehr zum Beschreiben der gefühlten Wirklichkeit taugte. Diese Differenz zwischen Wunsch und historischer Wirklichkeit spiegelt sich auch in den idealen Gesellschaftsvorstellungen, die alle drei Autoren formulierten, wider. Was die Bewertung einzelner Teile der Gesellschaft anbelangt, fällt die Differenz zwischen seiner Position und der gesellschaftlichen Wirklichkeit bei Karl von Knoblauch am geringsten aus. So zeugen seine Schriften von einem geringen Verständnis für die Lebenswirklichkeit der Bauern. Da er an ihrer Fähigkeit zur Aufklärung Zweifel hegt, steht er der Landbevölkerung allgemein skeptisch gegenüber. Deshalb vertritt er in seinen Schriften – auch wenn er dieses Thema nur flüchtig streift – ein klassisches Verständnis einer gelenkten Volksaufklärung ‚von oben‘. Diese Lenkung soll seiner Ansicht nach durch einer Art Katechismus vonstattengehen und sowohl eine ökonomische als auch moralische Aufklärungslehre enthalten. Trotz dieses Unverständnisses gegenüber Bauern ist Knoblauchs geäußertes gesellschaftliches Ideal keiner Ständeordung mehr unterworfen. So betont er einerseits schon in seinen ersten Schriften von 1786, dass er von der Existenz und Gültigkeit allgemeiner und gleicher Menschenrechte ausgeht. Innerhalb einer Gesellschaft, deren Mitglieder alle Bürger seien, verteidigt er jedoch eine gewisse Ungleichheit: Diese sei seiner Meinung nach notwendig, um das Funktionieren einer Gesellschaft und ihren Wohlstand zu gewährleisten. So trage beispielsweise ein großer Mathematiker mehr zum gesellschaftlichen Wohlstand bei als ein einfacher Bauer oder Handwerker. Daher müsse das Genie dieses Mathematikers auch höher vergütet werden als die Mühen eines Bauern. Auch könne es sich nach Knoblauchs Ansicht für einen Staat als Vorteil herausstellen, wenn man bestimmten Händlern oder Handwerkern das Privileg zuspreche, mit bestimmten Waren zu handeln oder diese herzustellen. Gegen eine gesellschaftliche Ungleichheit, die auf Grundlage von Besitz oder Geburt festgelegt wird, spricht sich Knoblauch deutlich aus. Stattdessen betont er – wie das Beispiel des Mathematikers verdeutlicht –, dass bei einer Bewertung des politischen Wertes eines Bürgers dessen Talente und seine Bildung die eigentlichen Kriterien darstellen. Entsprechend spricht Knoblauch nicht mehr von Ständen, sondern von Bürgerklassen: Bürgern, die zwar rechtlich gleich sind, aber – je nach ihren Talenten – einer anderen Klasse angehören können. Durch die Betonung der Bildung und der Talente eines Menschen kann davon ausgegangen werden, dass in Knoblauchs idealer Gesellschaft nicht die Geburt über die Klassen576 Ebd., S. VI, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
zugehörigkeit bestimmt hätte, sondern ebendiese Eigenschaften. Die Zugehörigkeit zu einer Bürgerklasse wäre folglich durchlässig gewesen. Bei Andreas Riem lässt sich im Laufe seiner schriftstellerischen Tätigkeit eine stete Entwicklung seines Gesellschaftsbildes erkennen. So beinhaltet eines seiner ersten literarischen Werke einen Exkurs über einen idealen Staat. In diesem werde ein besonderes Augenmerk auf die Bauern gelegt, welche von staatlicher Seite gefördert, und in Sachen der Landwirtschaft um Rat gefragt und nicht belehrt würden. Obwohl die Menschen in diesem Land allgemeine Freiheit genießen, keine hohen Abgaben oder Frondienste entrichten müssten, scheint es sich bei ihnen nach Riems Vorstellung weiterhin um Untertanen und verschiedene Stände zu handeln, an deren Spitze ein vorbildlicher Fürst steht. Die Freiheiten der Untertanen dieses idealen Landes scheinen ihnen jedoch lediglich von der Obrigkeit gewährt worden zu sein. Auch scheint die Obrigkeit selbst nicht dem Gesetz zu unterstehen. Sie hat sich diesem lediglich – aufgrund ihres vorbildlichen Charakters – freiwillig unterworfen. In den folgenden Jahren sollte sich Riems Idealbild verändern. Mit der Aufgabe seines Predigeramtes hinterfragte Riem ebenfalls die Rolle des geistlichen Standes innerhalb der Gesellschaft. Dieser stelle durch seine Macht ein größeres Übel dar als er dem Staat nutzen könne. Aufgrund dieser Überlegung lehnte Riem den geistlichen Stand kategorisch ab. Dennoch blieb sein Gesellschaftsbild in den 1790erJahren weiterhin von drei Ständen geprägt, indem er das Bürgertum, welches sich in dieser Zeit entwickelte, einen eigenen gesellschaftlichen Stand neben dem weiterhin existierenden Adel und dem Rest des dritten Standes einnehmen ließ. Die Abneigung dieser Stände untereinander und teilweise auch ihre fehlende gegenseitige Durchdringung, die zu einer gegenseitigen Abschottung führten, bemängelte Riem. Er bezeichnete diese Stände angesichts dieser Vorwürfe als ‚Kasten‘ und rekurrierte hierbei auf das indische Kastensystem. Erst nachdem sich Riem sicher war, nicht mehr nach Deutschland und vor allem Preußen zurückkehren zu können, wurden seine Äußerungen bezüglich der dortigen Länder kritischer. So schreibt er in seinem Reisebericht durch England 1798, bei Deutschland handele es sich im Grunde um eine große, von Aristokraten beherrschte Republik, in der sich einzelne Herrscher herabließen, ihre Untertanen auf eine Stufe mit den Tieren zu stellen und als Söldner an andere Nationen zu verkaufen.577 Mit Blick auf die Bauern kritisierte Riem in seinem Reisebericht durch Deutschland einerseits – wie auch in seinem frühen Werk – deren Unfreiheit. Sie seien durch Abgaben und Frondienste eingeschränkt. Auch würden sie vom Rest der Gesellschaft schlecht behandelt und wenig beachtet werden. Andererseits steht auch Riem – ähnlich wie Knoblauch – den Bauern skeptisch gegenüber, wenn diese andeuten, sie könnten politisch aufbegehren und hierzu sogar die materiellen Mittel haben. Beide, Knoblauch wie Riem, scheinen in diesem Punkt vor allem von 577 Vgl. Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 574, 609 f.
3.2 Soziale Verhä ltnisse
363
der Französischen Revolution geprägt worden zu sein. Ihre Skepsis gegenüber den Bauern bezieht sich in diesem Fall nicht auf deren Wohlstand oder ihr aufgeklärtselbstbewusstes Auftreten. Vielmehr fürchten sie sich vor einem unkontrollierten Umsturzversuch, der statt einer langsamen, durchdachten – aufgeklärten – Veränderung zu einer plötzlichen Revolution führe, deren Auswirkungen unvorhersehbar seien. Dieser Aspekt wird in den Kapiteln zu den politischen Aussagen der Aufklärer eine Rolle spielen. Ein vollkommen anderes Bild von der Landbevölkerung hat – wohl vor allem aufgrund seiner eigenen Herkunft – Johann Christian Schmohl. Er betrachtet die Gesellschaft ausgehend von den Bauern. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine physiokratische Überhöhung der Landwirtschaft, da Schmohl den Physiokratismus strikt ablehnte, wie das folgende Kapitel 3.3 zeigt. Dennoch teilte er die Meinung, dass die Wirtschaft eines Landes von der landbauenden Bevölkerung ausginge und daher auch hier die Aufklärung ansetzen müsse. Da er den Bauern zutraut, dass diese zu einer umfassenden Aufklärung fähig seien, befürwortete er, dass diese nicht ‚von oben‘ gesteuert werden sollte. Stattdessen strebte er eine umfassende Erziehung von Bauernkindern auf philanthropischen Landschulen an und eine Umwandlung staatlicher Domänen in Musterlandgüter, deren fortschrittliche Methoden anschaulich demonstriert werden könnten. Im Gegensatz hierzu übte Schmohl Kritik an der ökonomischen Volksaufklärung, deren Vertreter seiner Ansicht nach entweder an der Kommunikation mit den Bauern scheiterten oder schlicht keine Ahnung von der Landwirtschaft hätten. Auch die gesellschaftliche Ordnung unterzog Schmohl aus der Perspektive der Bauern der Kritik. So sei ihre Unfreiheit gleichbedeutend mit Sklaverei. Nicht nur sei die Landbevölkerung unfrei, indem sie zu unbezahlten Diensten herangezogen werde. Ebenfalls werde willkürlich über ihr gesamtes Leben bestimmt und über ihren Tod verfügt, indem sie – wie Sklaven – als Soldaten verkauft werden würden. Die potenzielle Macht der unterdrückten Bauern, welche Knoblauch und Riem aufgrund ihrer Erfahrungen skeptisch betrachteten, setzt Schmohl strategisch als Drohung für den Fall ein, dass die anderen Stände ihr Verhalten gegenüber den Bauern nicht bessern sollten. Das gesellschaftliche Ideal, das Schmohl in seinem letzten Werk für das zukünftige Nordamerika vorschwebte, sollte im Gegensatz zur europäischen Gesellschaft seiner Zeit demokratisch geordnet sein. Hier sollte die Gleichheit der Mitglieder dieser Gesellschaft zum Schutz der Demokratie staatlich gewährleistet werden. Trotz Schmohls strikter Betonung von Gleichheit herrscht auch in seinem Idealzustand Ungleichheit: So schloss Schmohl beispielsweise einen Großteil der Menschen – nicht nur Frauen – vom Bürgerrecht aus, da sie dessen seiner Meinung nach unwürdig seien. Für eine bedingungslose Gleichberechtigung der Juden sprachen sich sowohl Schmohl als auch Riem aus. Beide waren der Meinung, dass der Grund für die
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Unterdrückung und Verachtung der Juden alleine im unbegründeten Hass und der Boshaftigkeit der Christen zu suchen sei. Nicht die Juden müssten ‚gebessert‘ werden, sondern hauptsächlich die Christen von ihrem boshaften Hass geheilt. Erst hierdurch könne es zu einer wirklichen Gleichberechtigung der Juden und zu einer Verbesserung ihrer Lebenssituation kommen. Indem die Christen ‚verbessert‘ würden und nicht die Juden und diese sich auch nicht an die Christen anpassen müssten, unterscheiden sich beide Beiträge von der ab 1781 im deutschsprachigen Raum geführten Debatte zur ‚bürgerlichen Verbesserung‘ der Juden. Für Schmohl ist bemerkenswert, dass er seinen Text vor Beginn dieser Debatte veröffentlichte und seine Forderungen der persönlichen Anschauung entsprangen. Für den später zu diesem Thema publizierenden Riem ist hingegen hervorzuheben, dass er den aus seiner Sicht unbefriedigenden Verlauf der vorangegangenen öffentlichen Diskussion kritisierte, die zu keinem zukunftsträchtigen Ergebnis geführt habe. Bei dieser Diskussion sei es nach seiner Ansicht stattdessen nur darum gegangen, dass sich die Juden an die Christen anpassten und nicht vorgesehen war, dass sie sich als gleichberechtigte jüdische Bürger in einen Staat integrieren durften. Diese Kritik sollte über das 18. Jahrhundert hinaus seine Gültigkeit behalten. Während sich Schmohl und Riem ausführlich mit der rechtlichen Situation der Juden auseinandersetzten, ist dieses Thema bei Knoblauch nicht zu finden. Er zieht Juden nur heran, wenn er sich mit der Religionskritik befasst. Hierbei wird das Judentum jedoch gleichermaßen abschätzig thematisiert, wie sich Knoblauch mit allen anderen Religionen befasste. Eine ähnliche Differenz, aber quasi mit umgekehrter Bewertung, lässt sich im Falle der Thematisierung von Frauen finden. Hier zeigen Schmohl und Riem, dass sie keine hohe Meinung von den Fähigkeiten der Frauen besaßen – wobei sie sich meist im Rahmen des zeitgenössischen Frauenbildes bewegten. Als geradezu katastrophal bewerteten sie einen weiblichen Einfluss auf die Politik, welche durch die weibliche Neugierde und ständige ‚Buhlerei‘ entehrt und entwertet würde. Knoblauch lässt in seinen Texten hingegen erkennen, dass er kein derart negatives Bild von Frauen hatte. In seinem fiktiven ‚sapphischen Zirkel‘ traut er ihnen sogar den Diskurs über komplizierte philosophische Themen zu, der weit über eine gefällige Konversation hinausgeht. Dass Frauen vor allem im Kontext der Geschichtsschreibung als besonders lasterhaft beschrieben wurden, um ihnen politische wie moralische Verfehlungen anzulasten, bemängelte Knoblauch ebenfalls und hoffte auf eine vorurteilsfreiere Betrachtung der Nachwelt.
3.3 Wirtschafts- und Handelssystem
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3.3 Wirtschafts- und Handelssystem Wird Radikalität als konsequente Infragestellung bestehender Systeme verstanden, stößt man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf das Konzept des Physiokratismus, das in Reaktion auf die vorherrschende merkantilistische Wirtschaftslehre entworfen wurde. Die Entstehung dieser ökonomischen Schule ist als Antwort auf die problematische Wirtschaftslage in Frankreich zu sehen, die ihren Ursprung einerseits im Verfall der Landwirtschaft hatte, was der merkantilistischen Konzentration auf das Manufakturwesen geschuldet war. Andererseits verlor Frankreich im Zuge des Siebenjährigen Krieges Kolonien in Indien und Nordamerika, was für das Land Einbußen im Fernhandel bedeutete. Vor dieser Ausgangslage verwundert es nicht, dass die physiokratische Wirtschaftslehre das genaue Gegenteil des Merkantilismus ausmachte.1 So stellte der Begründer des Physiokratismus, der Arzt und Sohn eines Bauern, François Quesnay (1694–1774), die Landwirtschaft als die einzige und damit wichtigste Grundlage für das gesamte Wirtschaftssystems eines Landes dar. Nur aus der Erde – das heißt: aus wachsenden Pflanzen, Produkten des Bergbaus, aber auch aus der Fischerei – könne ein Wert entstehen beziehungsweise hervorgebracht (lat. producere) werden. Das Hervorbringen von landwirtschaftlichen Produkten bildet damit einen Schlüsselaspekt zum Verständnis der physiokratischen Theorie: Da nach Ansicht der Physiokraten alle nachfolgenden Stationen, wie beispielsweise das Handwerk oder die Manufaktur, lediglich die natürlich hervorgebrachten Produkte umformten, ihnen damit keinen neuen Wert hinzufügten, wurde ihnen die Fähigkeit abgesprochen, Produkte hervorzubringen. Während die landarbeitende Bevölkerung aufgrund der Produktion eines wahren, durch die Erde hervorgebrachten Wertes zur produktiven Klasse (classe productive) gezählt wurde, gehörte der restliche Teil, der diese Produkte lediglich verarbeitete, zur sogenannten sterilen Klasse (classe stérile) oder zu den Landeigentümern, der classe des propriétaires.2 Durch eine derartige Betonung der landwirtschaftlichen Bedeutung sahen es die Anhänger des Physiokratismus als das oberste Ziel des Staates an, die Landwirtschaft und damit die Stärke der eigenen Wirtschaft zu fördern. Analog hierzu sollten von staatlicher Seite alle Maßnahmen ergriffen werden, die Landbevölkerung von Einschränkungen zu befreien. Als eine solche wurde von den Physiokraten vor allem der durch Schutzzölle erschwerte, protektionistische Handel des Merkantilismus angesehen. Gleichzeitig forderten Physiokraten eine Reform des Steuersystems, die auf den ersten Blick der Bevorzugung der Landwirtschaft zu widersprechen schien, aber dennoch mit der physiokratischen Theorie begründet werden 1
2
Vgl. Susan Richter: Pflug und Steuerruder. Zur Verflechtung von Herrschaft und Landwirtschaft in der Aufklärung. Köln 2015 (Archiv für Kulturgeschichte. Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 75), S. 286–293; Dies.: Was ist Freiheit? Eine historische Perspektive. Frankfurt 2016, S. 47–49. Vgl. Dies.: Pflug (wie Anm. 1), S. 286–293; Birger P. Priddat: Physiokratie. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 9: Naturhaushalt–Physiokratie. Stuttgart 2009, Sp. 1188–1194.
https://doi.org/10.1515/9783110693102-011
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
konnte: Durch die Argumentation, dass alleine die Bauern als produktive Klasse wahren Wert hervorbringen, konnte dargelegt werden, dass auch nur die Bauern Steuern zu zahlen hätten. Diese und weitere physiokratische Forderungen werden im Zuge der von Johann Christian Schmohl an ihnen geäußerten Kritik genauer dargestellt. Im deutschsprachigen Raum wurde das physiokratische System recht schnell nach seiner Entstehung in den 1760er-Jahren bekannt und rezipiert. Hierdurch etablierte es sich vor allem am Oberrhein und hier besonders in der Schweiz, im Elsaß, Baden und der Pfalz, wo es von vielen Anhängern als Alternative zur herkömmlichen Wirtschaftstheorie des Merkantilismus angesehen wurde. Für seine ursprüngliche Verbreitung in diesem Gebiet war der aus Basel stammende, französische Offizier Johann Rudolf Frey (1727–1799) verantwortlich, der sowohl seinen Jugendfreund Iselin als auch den Markgrafen Karl Friedrich von Baden (1728–1811) auf die physiokratischen Schriften aufmerksam machte. Vor allem für den Markgrafen des ländlich geprägten Baden „war die physiokratische Lehre wahrscheinlich deshalb attraktiv, weil ihre These von der alleinigen Produktivität der Landwirtschaft mit seinem schon seit der Jahrhundertmitte wachen Interesse für agrarische Fragen und mit seiner aufgeklärten Reformpolitik korrespondierte.“3 Er selbst stand mit Quesnays Schülern Honoré-Gabriel de Riquetti de Mirabeau (1749–1791) und Pierre Samuel Du Pont de Nemours (1739–1817) in brieflichem wie persönlichem Kontakt.4 Durch das Vorbild ihres Landesherren verbreitete sich auch unter der badischen Beamtenschaft das Interesse am Physiokratismus. Hieran hatte maßgeblich Johann August Schlettwein Anteil, der ebenfalls die erste öffentliche Diskussion physiokratischer Thesen im deutschsprachigen Raum verantwortete. Der Auslöser dieser Diskussion war eine französische Polemik zu den praktischen physiokratischen Versuchen, die Anfang der 1770er-Jahre in drei badischen Dörfern gestartet wurden. Diese Polemik sowie Johann Jakob Mosers (1701–1785) 1771 erschienener Anti-Mirabeau, veranlassten Schlettwein im darauffolgenden Jahr mit seinem Werk Erläuterung und Verthaidigung der natürlichen Ordnung in der Politik zu einer Verteidigung des Physiokratismus. Eine breitere Debatte setzte jedoch erst gegen Ende des Jahrzehntes „und damit zu einem Zeitpunkt ein, als die badischen Versuche schon weit fortgeschritten und zum Teil schon gescheitert waren.“5 So veröffentlichte Christian Wilhelm Dohm 1778 im Deutschen Museum einen Artikel Über das physiokratische System, in welchem er die theoretischen Grundlagen der Physiokraten einer syste-
3 4 5
Metzler: Markgraf (wie Anm. 98, S. 31), S. 38. Vgl. ebd., S. 38–45; Klaus Gerteis: Bürgerliche Absolutismuskritik im Südwesten des Alten Reiches vor der Französischen Revolution. Trier 1983 (Trierer historische Forschungen 6), S. 100– 103. Metzler: Markgraf (wie Anm. 98, S. 31), S. 57.
3.3 Wirtschafts- und Handelssystem
367
matischen Kritik unterzog.6 Auf diesen Artikel antwortete 1780 Jakob Mauvillon mit der Abhandlung Physiokratische Briefe an Herrn Professor Dohm. Schmohls Antiphysiokratische Briefe In Zusammenhang dieser beiden Veröffentlichungen ist auch Johann Christian Schmohls kritische Untersuchung der Physiokratie einzuordnen, wie alleine ihr etwas sperriger Titel Antiphysiokratische Briefe an Herrn Rathsschreiber Iselin über Mauvillons physiokratische Briefe an Herrn Kriegsrath Dohm deutlich macht. Sie erschien ebenfalls in Schmohls Sammlung von Aufsätzen, wobei auch in anderen, hierin enthaltenen oder später erschienenen Artikeln Aspekte der physiokratischen Theorie thematisiert werden. Schmohl wird vermutlich vor allem über seine von Isaak Iselin beeinflussten elsässischen Freunde mit der Physiokratie in Berührung gekommen sein. Seine pädagogische Überzeugung, dass in Sachen Aufklärung vor allem bei der Schulausbildung der bäuerlichen Jugend angesetzt werden sollte, war somit mit dem Plan eines physiokratischen Landphilanthropins, wie ihn Mochel, Simon, Schweighäuser und er 1779 formulierten, vereinbar. Welche Haltung er in dieser Zeit bezüglich des physiokratischen Systems einnahm, kann nicht gesagt werden. Hierdurch lässt sich ebenfalls nicht feststellen, ob seine Kritik und Ablehnung der Physiokratie, wie sie ab 1781 der Sammlung entnommen werden kann, eine Folge des Bruchs mit seinen elsässischen Freunden darstellte oder von ihm vorher, den Freunden zuliebe, zurückgehalten wurde. Nach seinen eigenen Angaben am Anfang des ersten Briefes an Iselin, hatte Schmohl, obwohl er die Werke Schlettweins und Mirabeaus hierzu gelesen hatte, „die ersten Grundsätze des ganzen Systems nie“ begriffen. Dass er seine Briefe direkt an Iselin richtete, begründete er mit dem Versäumnis, nie mit diesem über die Physiokratie gesprochen zu haben, als er selbst sich in Basel aufhielt. Gerade „die Belehrung eines Iselins“, also eines führenden Vertreters und Unterstützers der physiokratischen Theorie im deutschsprachigen Raum, musste aus Schmohls Sicht „kostbarer als Gold seyn“. Trotz seines Unverständnisses betrachte Schmohl die physiokratische „Materie für eine der wichtigsten, die den menschlichen Verstand je beschäftigt haben“.7 Inwiefern es sich bei diesen Aussagen um Ernsthaftigkeit oder Koketterie handelt, kann an dieser Stelle lediglich vermutet werden. Schmohl scheint erst nach Veröffentlichung der Antiphysiokratischen Briefe in seiner Sammlung der Gedanke gekommen zu sein, dass es vielleicht zu dreist wäre, durch die persönliche Adressierung eine Antwort von Iselin erzwingen zu wollen. Gleichzeitig kritisierte Schmohl Iselin auch in seinem – letztendlich nicht veröffentlichten – Artikel Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie. Wahre Geschichte der Menschheit deutlich, sodass der 6 7
Christian Konrad Wilhelm Dohm: Ueber das physiokratische System. In: Deutsches Museum 2 (1778), S. 289–324. Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 107.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Eindruck entsteht, es habe sich um ein persönliches Anliegen Schmohls gehandelt, Iselins Werk und Überzeugungen zu kritisieren.8 Anstatt dieser Briefe wollte sich Schmohl, wie er weiter ausführt, zuerst in direkten, nicht in Druckform veröffentlichten Briefen zum Physiokratismus an Iselin wenden. Ihm seien dann jedoch die kurz zuvor erschienenen physiokratischen Briefe Mauvillons an Dohm in die Hände geraten. Schmohl befürchtete, Iselin würde ihn „wegen eines und des anderen auf das verweisen, was Mauvillon darüber gesagt hat.“ Dies veranlasste Schmohl wiederum, sich stattdessen direkt mit einer Widerlegung der Thesen Mauvillons zu befassen: Noch keiner habe sich nämlich zuvor „so tief zu den Antiphysiokraten herabgelassen“ und zugleich „die Geheimnisse des Physiokratismus so exoterisch und zum Theil auch Uneingeweihten faßlich vorgetragen“ als Mauvillon. Hierdurch war nach Schmohls Ansicht vor allem eine Kritik der Schrift Mauvillons dazu geeignet, „den Physiokratismus selbst zu treffen und nicht lauter unzeitige Geburten des Mißverständnisses zur Welt zu bringen“,9 was bisher nach Iselins Urteil die meisten Gegner der Physiokratie getan hätten. Schmohl verspricht im Anschluss an diese Widerlegung, seine eigenen Vorstellungen zu „der Natur der Auflagen und den richtigen Begriffen von Produktion, Werth, Arbeit und reinem Ertrag […] mit geziemender Bescheidenheit“ vorzutragen, was bislang seines „Ermessens nach gar nicht, oder doch noch sehr unvollständig“10 gemacht worden sei. Schmohls Ansinnen steht folglich direkt zu Beginn fest: Er möchte die physiokratische Theorie und die Argumente ihrer Anhänger einer gründlichen, kritischen Untersuchung unterziehen. Dass er daraufhin verspricht, seine eigenen Überlegungen zu Steuern und den Begriffen wie Produktion, Arbeit und Wert darzulegen, verdeutlicht noch vor der eigentlichen Kritik, dass er eine vollkommen konträre Vorstellung bezüglich dieser Begriffe entwickelt hatte. Hierdurch gibt Schmohl nicht nur vor, die Physiokraten widerlegen zu wollen, um das alte System des Merkantilismus zu verteidigen, sondern betont zudem das Vorhaben, an die Stelle beider Systeme neue – und vor allem: eigene – Überlegungen zu setzen. Indem Schmohl verspricht, sich alle Briefe Mauvillons gründlich vorzunehmen, bekräftigt er darüber hinaus sein Anliegen einer umfassenden Kritik. Schmohl schickt seiner Untersuchung voraus, dass er, wenn er vom physiokratischen System spricht, damit lediglich das physiokratische Postulat des reinen Ertrages der Landwirtschaft und der damit begründeten alleinigen Besteuerung dieses Ertrages meint. Andere Forderungen könne man auch als Gegner der Physiokraten billigen. Hierunter fallen die Abschaffung von Zöllen und der Akzise,11 Zünften, Gilden, Universitäten und Schulen (womit Schmohl und Mauvillon an den Staat ge8 9 10 11
Vgl. hierzu Anm. 58, S. 3.2.1. Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 108. Ebd., S. 109. Die Akzise (bzw. frz. Accise) „war ein Bü ndel von Verbrauchsteuern; sie lag auf ziemlich allen gä ngigen Produkten, die die stä dtische Bevö lkerung benö tigte, vor allem auf Geträ nken,
3.3 Wirtschafts- und Handelssystem
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bundene oder von diesem betriebene Universitäten und Schulen meinen) sowie die Beschränkung der Beamtenzahl.12 Diese Punkte werden im Verlauf seiner Darstellung eingehender erläutert. Der Wichtigkeit entsprechend, widmet sich Schmohl zuerst dem „Hauptpfeiler des physiokratischen Systems“, nämlich der Aussage, „daß die landbauende Klasse allein die hervorbringende sey“.13 Hiergegen sei schon 1778 in einem Artikel14 des Hannoverischen Magazins vorgebracht worden, dass „nicht die Erde, sondern die Arbeit […] de[n] Fond der Güter“15 ausmache, da ansonsten nur Jäger, Fischer und Sammler reinen Unterhalt hätten. Gegen diese Aussage habe Mauvillon argumentiert, dass ‚Hervorbringen‘ bedeute, einen Körper, einen Stoff oder eine Materie zu erzeugen, die vorher noch nicht vorhanden gewesen sei. Nach diesem Verständnis sei es logisch, dass nur ein landbauender Mensch etwas hervorbringe: Ein Tischler erschaffe keinen einzigen Span des Holzes, das er verarbeitet und ein Tuchmacher keine Faser der Wolle, die er verwebt. Sie erhielten ihre Rohstoffe immer aus den Händen derjenigen, die das Land bearbeiteten. Hierbei werde auch nicht geleugnet, dass zum Tischlern oder Weben Arbeit nötig sei. Da diese Handwerker jedoch nichts hervorbrächten, was vorher nicht schon da gewesen wäre, wird ihre Arbeit nach der Sichtweise der Physiokraten nicht als produktiv angesehen: „Wenn aus einem Korn zwanzig entstünden, so wären nun neunzehn da, die vorher für uns nicht da gewesen. Wenn aber ein Bildhauer einen Block zu einer Statüe umarbeitete, so wär nichts hervorgebracht worden, das nicht schon vorher für uns da gewesen sey.“16 Für den ersten Schritt seiner Widerlegung dieses physiokratischen ‚Hauptpfeilers‘ ist Schmohl bereit, die Prämisse der Physiokraten zu übernehmen, dass nur durch natürliches Wachstum und den Landbau (Roh-)Stoffe hervorgebracht werden könnten, wenn man ‚Hervorbringung‘ in der oben dargestellten Art und Weise definiere. In diesem Zusammenhang stellt Schmohl die Frage nach dem Wert von unverarbeiteten und verarbeiteten Produkten: So könne man einen handwerklich ver-
12 13 14 15 16
Branntwein, Getreide, Fleisch, Lebensmitteln und sog. Kaufmannswaren, wie Gewü rze, Kaffee, Tabak, Textilien, Baumaterialien. Das Erhebungsprinzip war: Ausdehnung der Akzise auf mö glichst viele Artikel bei mö glichst niedrigem Steuersatz. Die Binnenzö lle auf Land- und Binnenwasserstraßen, an Brü cken und Stadttoren wiesen eine enge Verwandtschaft mit den Akzisen auf und variierten von Provinz zu Provinz. Die Abgrenzung von Akzise und Zoll war, wie in anderen Staaten auch, unscharf. Kaufte ein Landbewohner Waren in der Stadt, wurde er mit beiden indirekten Abgaben belastet.“ Eckart Schremmer: Steuern und Staatsfinanzen während der Industrialisierung Europas. England, Frankreich, Preußen und das Deutsche Reich 1800 bis 1914. Berlin 1994 (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, Abteilung Rechtswissenschaft), S. 112. Vgl. Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 110. Ebd., Hervorh. i. Orig. [Anonym]: Etwas über das Steuerwesen und die physiocratischen Grundsätze, die Einrichtung desselben betreffend. In: Hannoverisches Magazin 16 (1778), Sp. 753–816. Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 111, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 111 f.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
arbeiteten Rohstoff – zu Leinwand verarbeiteter Flachs – gegen eine größere Menge des unverarbeiteten Rohstoffes eintauschen als für die Herstellung der entsprechenden Menge Leinwand benötigt werde. Deshalb habe die Leinwand eindeutig einen größeren Wert als die gleiche Menge des unverarbeiteten Flachses. Dieser Umstand wurde auch von Physiokraten nicht geleugnet, aber wiederum mit Blick auf die Hervorbringung von Rohstoffen erklärt: So führt Mauvillon den höheren Wert von verarbeiteten Produkten auf die Lebensmittel zurück, die ein Handwerker verbraucht habe, während er das entsprechende Endprodukt herstellte. Der Endpreis einer Leinwand setzt sich nach der physiokratischen Theorie zu einem großen Teil aus der Menge des Flachses zusammen, der für diese Leinwand benötigt wurde und ist genauso groß wie der Wert des Rohstoffes. Der zusätzliche Wert der Leinwand entspringt nun aus Sicht der Physiokraten aus allen Lebensmitteln und sonstigen Dingen, die der Handwerker in der Zeit der Herstellung verbraucht hat. Da sowohl der Rohstoff Flachs als auch die verbrauchten Lebensmittel zuvor von den Bauern hervorgebracht wurden, sei letztendlich auch der Bauer für den höheren Wert des Endproduktes verantwortlich und nicht der Handwerker. Hierdurch kann Mauvillon die Frage, ob der höhere Wert einer verarbeiteten Ware „wohl durch diese Verarbeitung […] hervorgebracht“17 wurde, ausdrücklich verneinen: Der Handwerker habe schließlich die Nahrung nur verspeist und nicht hervorgebracht, indem er etwas anderes umformte. In diesem Zusammenhang hebt Schmohl hervor, dass dieser Schluss der physiokratischen Argumentation einerseits unlogisch sei und andererseits nicht der eigentlichen Ausgangsfrage entspreche: „Die Rede war davon, ob das Material durch die Verarbeitung wirklich einen neuen Werth erhalte? und nicht ob der Verarbeiter die Produkte produzire, die er für seine Arbeit erhält?“ Nach der Theorie der Physiokraten sei ein Klafter Holz, das man für einen Dukaten kaufe, nicht diesen Dukaten wert, da man das Holz nicht mit diesem Geld produziert, also hervorgebracht habe. Diesem Verständnis von hervorbringender Produktion stellt Schmohl seine eigene Vorstellung entgegen. Hierbei macht er vom Begriff der Arbeit Gebrauch, welcher für seine eigene Vorstellung eines wirtschaftlichen Kreislaufes auch im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen wird: „Heißt Produziren etwas anders, als durch seine Arbeit machen, daß etwas wird, was es vorher nicht war?“18 Hätte ein Rohstoff, dem durch Umarbeitung eine andere Gestalt gegeben werde, in dieser bearbeiteten Gestalt genau den gleichen Wert wie vor der Verarbeitung, wäre es nach Schmohls Argumentation sinnlos, die Gestalt eines Rohstoffes zu verändern. Stattdessen könnten, so Schmohl, nur die wenigsten landwirtschaftlich erzeugten Naturprodukte ohne weitere Verarbeitung von den Menschen genossen werden. Aus diesem Grund seien sie auch in diesem unverarbeiteten Zustand von ge17 18
Jakob Mauvillon: Physiokratische Briefe an den Herrn Professor Dohm. Oder Vertheidigung und Erläuterungen der wahren staatswirthschaftlichen Gesetze die unter den Nahmen des Physiokratischen Systems bekannt sind. Braunschweig 1780, S. 16. Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 113.
3.3 Wirtschafts- und Handelssystem
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ringerem Wert. Von Handwerkern und Manufakturen, die Schmohl in seinem Text auch zusammenfassend als ‚Fabrikanten‘ bezeichnet, welche jedoch nichts mit ‚Fabriken‘ im modernen Sinne zu tun haben, müssten die landwirtschaftlichen Rohstoffe erst weiter verarbeitet werden: „Kochen und Backen, Mahlen und Brauen, ist alles Manufactur. Fast alles wird erst zu einem genießbaren Lebensmittel oder zum Befriedigungsmittel eines Bedürfnisses der Menschen, indem es die Hände der Kunst durchwandert.“19 Den Aspekt des Wertes von unverarbeiteten Naturprodukten thematisiert Schmohl auch im Artikel Vermischte land- und staatswirtschaftliche Ideen, der im selben Jahr erschienen ist. In diesem stellt er – ebenfalls im Kontext der Physiokratismuskritik – fest, dass der Wert eines Produktes nicht aus seinen unverarbeiteten Rohstoffen entspringen könne. Wäre dies der Fall, dass „die Naturprodukte allein wahre Reichthümer wären, so müßten die Bauern auch am reichsten sein.“ Ein Goldschmied hingegen, der mit 100 Talern sein gesamtes Vermögen in eine Werkstatt investiert hätte, könne „auf sein Lebenlang und wenn er so viel tausend Jahre lebte, als die Welt steht, in Ewigkeit nicht über seine hundert Thaler reich werden“.20 Auch würde der Physiokrat Schlettwein nach Schmohls Darstellung „für hunderttausend Zentner Flachs und Hanf nicht ein einziges Hemde geben, wenn weder er noch sonst jemand die Berarbeitung versteht, durch die beide geschikt werden, ihm zu nüzen.“ Ohne ihre Verarbeitung hätten weder Flachs noch Hanf einen praktischen Nutzen für ihn und erst dadurch erhielten sie ihren eigentlichen Wert, da sie nun erst dazu genutzt werden könnten, „angenehme Empfindungen zu verschaffen, oder zu unserer Erhaltung beizutragen.“21 Gäbe es nun in einem Land keine handwerklichen Manufakturen, müssten die Bauern alle ungenießbaren Rohstoffe selbst weiterverarbeiten, um sie nutzen zu können. In dieser Zeit könnten sie sich nicht ihrer eigentlichen landwirtschaftlichen Arbeit widmen. Die Folge wäre, dass insgesamt weniger Naturprodukte hervorgebracht würden, da die Bauern vor allem mit der Weiterverarbeitung beschäftigt wären. Die Produkte, die ein Fabrikant als Lohn für seine Arbeit erhält, hätten also nach Schmohls Meinung nicht ohne die Arbeit des Handwerkers von den Bauern produziert werden können. Hierdurch ist der Fabrikant „die wahre Ursach“ der produzierten Dinge, da „der Landmann blos durch ihn dazu in Wirksamkeit gesetzt ward.“22 Entgegen der physiokratischen Theorie kann Schmohl mit dieser Überlegung argumentieren, dass „der Fabrikant die Produkte die er für das verarbeitete mehr bekommt, wirklich hervorgebracht“23 habe. Die vom Handwerker hergestell19 20 21 22 23
Ebd., S. 114. Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 51. Ebd., S. 50. Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 114. Ebd., S. 113.
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ten Dinge würden nämlich „gar nicht existiren, ich will sagen, produzirt worden seyn, wenn er [der Handwerker] nicht gearbeitet hätte.“24 Auf dieser Grundlage ist es Schmohl nun möglich, seine eigene Vorstellung einer arbeitsteiligen und voneinander abhängigen Wirtschaft zu formulieren. Sie basiert nicht auf der physiokratischen Differenz von Hervorbringung und Verbrauch landwirtschaftlicher Produkte. Ebenfalls wendet sich Schmohl gegen die Aussage Adam Smiths, die dieser in seinem nur fünf Jahre zuvor veröffentlichten Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations formuliert hatte: Ein Fabrikant veranlasse die Produktion, da diese „zur beständigen Erhaltung seines Kapitals nöthig“25 sei – um also das Geld, das in die Herstellung eines Produktes geflossen ist, wieder zu erhalten.26 Stattdessen produziere ein Fabrikant nach Schmohls Meinung, um den Bauern in die Lage zu versetzen, seiner eigenen Arbeit nachzugehen und landwirtschaftliche Produkte herzustellen, die dann wiederum in Manufakturen zu genießbaren Konsumgütern weiterverarbeitet werden. In Anlehnung an Smiths Diktion stellt Schmohl die rhetorischen Fragen: „Und was ist denn des Fabrikanten Kapital? Ist es nicht blos seine Arbeit?“27 Hierbei bezieht er die Bedeutung des Begriffs Arbeit weder auf das Hervorbringen von Stoffen wie in der Theorie der Physiokraten noch auf die produktive Arbeit im Sinne Adam Smiths, deren Ergebnis fabrizierte Waren darstellten. Stattdessen ist sein Begriffsverständnis unabhängig von einem materiellen Endprodukt und bezieht sich lediglich auf die tätige Wirksamkeit eines Menschen, eine Aufgabe innerhalb eines Wirtschaftssystems zu bewältigen: Er beschreibt Arbeit als abstraktes Tätigsein, ohne ein physisches Ergebnis vorauszusetzen und setzt damit Arbeit mit der Arbeitskraft einer Person gleich. Diese Arbeitskraft ist für ihn das Kapital eines Handwerkers und jedes arbeitenden Menschen, nämlich das Vermögen, das ihm zur Bewältigung seines Lebensunterhaltes zur Verfügung steht. Indem sich Handwerker und Bauer gegenseitig in die Lage versetzen, ihren jeweiligen Aufgaben nachzugehen, wird der Wert beider Arbeiten von Schmohl als gleichwertig angesehen. Diese Aussage drückt Schmohl in zwei weiteren rhetorischen Fragen aus: „Ist nicht zwischen ihm [dem Fabrikanten] und dem Landmann die Convention geschlossen worden, daß beyde füreinander arbeiten wollen, damit beyde besser leben können? Wiegt des einen Arbeit also nicht gleich viel, als die
24 25 26
27
Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 113 f. Ebd., S. 114. Auch in Mauvillons Schrift wird diese Passage aufgegriffen, von ihm jedoch zum Vorteil des physiokratischen Systems interpretiert. So wird von ihm das ‚Kapital des Fabrikanten‘ als die Menge der Rohstoffe und verzehrten Nahrungsmittel angesehen, die diesem vom Käufer ersetzt und vom Bauern zuerst wieder hervorgebracht werden müssten. Dies ist nach Mauvillon folglich kein Widerspruch oder „Fehler, wenn man nur seinen [Adam Smiths] Ausdrücken eine Wendung geben will“ (Mauvillon: Physiokratische Briefe (wie Anm. 17, S. 370), S. 17), sondern nach entsprechender Interpretation mit dem Physiokratismus vereinbar. Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 114.
3.3 Wirtschafts- und Handelssystem
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des andern?“28 Belegt werde dies, wie Schmohl zu Beginn seines zweiten Briefes ausführt, durch den „Gebrauch des Geldes“, welcher täglich zeige, dass man „Arbeit gegen Arbeit vertauschen“ könne. Folglich müsse, „wenn der Landmann nicht etwas für nichts geben sollte“,29 die eine Arbeit den gleichen Wert haben wie die andere. Wie Adam Smith zieht Schmohl nicht den Wert eines verarbeiteten Rohstoffes zur Bestimmung eines Produktwertes heran, sondern die abstrakte Vorstellung der Arbeit. Auch für Smith war der Wert der aufgebrachten Arbeit das ursprüngliche und „wirkliche Maß des Tauschwertes aller Waren.“30 Der allgemeinen Einfachheit halber konzentriere man sich aber beim Tauschhandel direkt auf die Waren, die man tausche, oder ersetze Tauschwaren mit der Zeit durch Geld. Geld beziehungsweise Tauschware stelle einen einfachen „handgreifliche[n] Gegenstand“ dar, wohingegen Arbeit „eine abstrakte Vorstellung [sei], die zwar genügend klar gemacht werden kann, aber doch nicht ganz so natürlich und naheliegend ist.“31 Indem Schmohl den jeweiligen Wert der Arbeit von Bauern und Handwerkern gleichsetzt, widerspricht er einerseits dem merkantilistischen Wirtschaftssystem, bei welchem eine monopolisierte Manufakturproduktion in Verbindung mit einem auf einen Handelsüberschuss abzielenden Außenhandel das Ziel aller Arbeit innerhalb eines Landes sein sollte. Andererseits wendet er sich damit erneut gegen die physiokratische Sichtweise, indem er nicht den reinen Ertrag der landwirtschaftlichen Arbeit als einzige hervorbringende Arbeit gegenüber allen anderen ‚sterilen‘ Arbeiten betont. Stattdessen entstehen aus der Arbeit – und nicht aus dem Boden eines Landes – „die wahren Befriedigungsmittel menschlicher Bedürfnisse“. Sie erhalten ihren Wert erst durch Arbeit. Hierdurch habe „[d]er Arbeiter […] reinen Ertrag, er mag Bauer oder Handwerker seyn!“32 Die Relativität von Wert und Reichtum Da die handwerkliche Arbeit den Wert eines Produktes entsprechend seiner Verarbeitung anreichert, setzt sich dessen Wert einerseits aus der gesamten Arbeit zusammen, die für die Herstellung benötigt wurde. Andererseits hat dieser Wert auch eine relative Komponente, wie Schmohl ebenfalls in den Vermischten land- und staatswirtschaftlichen Ideen ausführt, welche sich daraus bemisst, inwiefern ein Produkt zur Befriedigung der individuellen menschlichen Bedürfnisse beiträgt. Wie bereits erwähnt, ist nicht der Mensch am reichsten, „der die meisten Naturprodukte hat“, da diese ohne Verarbeitung keine Bedürfnisse befriedigen. Stattdessen kann derje-
28 29 30 31 32
Ebd., S. 114 f. Ebd., S. 119. Adam Smith: Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker. Hg. v. Erich Streissler. Übers. v. Monika Streissler. Tübingen 2012, S. 111. Ebd., S. 112. Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 124.
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nige als ‚reich‘ bezeichnet werden, der „einen Ueberfluß von Befriedigungsmitteln seiner Bedürfnisse“33 besitzt. Diese Bedürfnisse sind jedoch von vielen verschiedenen Faktoren abhängig, die sowohl kultureller Prägung als auch der menschlichen Unterschiedlichkeit entspringen: So verschieden und millionenfältig die menschlichen Bedürfnisse sind; so sind es auch Reichthum, oder Befriedigungsmittel. Des Lappländers Reichthum besteht in Rennthieren, des Sinesers in Reis, des Egypters in Palmbäumen – und bei uns macht bald einen der Staat in Kleidern, bald ein Weinkeller, bald die Liebe eines Mädchens zum reichsten Mann unter der Sonne; niemand nennt aber blos seine Lebensmittel Reichthum.
Somit könne „jeder Gegenstand aus der Körper und Geisterwelt“, jeder natürlich erzeugte oder künstlich hergestellte Gegenstand, zu Reichtum werden, „in sofern Bedürfnisse dadurch befriedigt werden.“34 Während Lebensmittel als Grundbedürfnis der menschlichen Selbsterhaltung nicht als Reichtum, sondern von Schmohl als „die notwendigsten Stükke“ angesehen werden, müssen dennoch auch diese verarbeitet werden, da die Menschen „nicht Eicheln und Wurzeln fressen“, wodurch sie zu „Produkte[n] der Kunst“ würden. Neben diesen und anderen körperlichen Produkten gibt es „auch einen geistigen Reichthum, der aus Produkten der Geisterwelt besteht“. Dies bringt Schmohl zusammengefasst auf die knappe Formel: „Reichthum ist alles, wofür wir Geld ausgeben!“35 Wenn nach der Theorie der Physiokraten für Objekte mehr Geld ausgegeben werde als es ihr eigentlicher Wert erfordere, entspringe dies einem imaginären ‚inneren Wert‘ dieser Dinge. Schmohl ist jedoch von diesem Konzept des ‚inneren Wertes‘ nicht überzeugt: „Inrer Wert? Was ist das? was soll uns der? wer kennt ihn? “36 Er kritisiert, dass dieser imaginäre Wert niemals eine feste Größe haben könne und immer relativ zu den jeweiligen Bedürfnissen eines Menschen ausfalle: So hätten Südamerikaner oder Afrikaner „vor Zeiten so viel Gold“ besessen, dass man damit „in Frankreich eine ganze Spiegelfabrik“ hätte kaufen können. Sie selbst hätten diesem Geld jedoch nicht so viel Wert beigemessen als für sie ein einziger Spiegel an Wert besessen hätte. Somit ist ein Wert entweder „konventionell“, wenn er durch gesellschaftliche Bedingungen gebildet wird oder er ist „imaginär“, wenn er für einen Menschen aus persönlichen Gründen besteht. „Nichts ist für einen wirklicher Wert, das nicht für den andern imaginärer wäre.“37 Der durch konventionelles oder imaginäres, also irrationales Interesse bedingte Wert bestimmt die Nachfrage, aber auch das Angebot eines Produktes. So ist es für Schmohl „die Konkurrenz der Käufer und Verkäufer“, die letztendlich über den ge33 34 35 36 37
Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 49. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 50.
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samten „Werth einer Sache bestimme“. Das Minimum dieses Gesamtwertes stellt den Wert der Arbeit dar, die zur Herstellung des Produktes benötigt wurde. Dieser Wert ist – von veränderten Herstellungsbedingungen abgesehen – konstant. Übersteigt der Verkaufspreis des Produktes dieses Minimum des aufgebrachten Arbeitswertes, ist seine Herstellung sehr lukrativ. Hierdurch trete der Fall ein, dass sich der Arbeit zur Herstellung dieses Artikels „so lange mehrere Menschen widmen würden, bis sie durch die Vermehrung der Arbeiter auf den Preis, den sie ihrer Natur nach erfordert, herabgesunken sey!“38 Durch die zahlreicher hergestellten Produkte steigt wiederum das Angebot und kann die hohe Nachfrage besser bedienen. Auch diese Theorie des Warenwertes ist mit der Theorie Adam Smiths kompatibel.39 ‚Produkzion im Geisterreich‘ Wenn auch Schmohl seine Werttheorie nicht so detailliert ausarbeitete wie Smith, wird dennoch deutlich, dass der Gesamtwert einer Sache von der Arbeit abhängt, die zu ihrer Produktion aufgewandt werden musste. Die zweite, aufgrund ihrer Varianz schwer einschätzbare Komponente des Gesamtwertes ist ihr konventioneller oder imaginäre Wert. Indem diese Wertvorstellung unter anderem auf der aufgewandten Arbeit basiert und damit unabhängig von körperlichen Objekten ist, kann auch Immateriellem ein variabler, von diesen beiden Prämissen abhängiger Wert zugeordnet werden. Dieses Verständnis wirkt sich auch auf die Bewertung von Arbeiten aus, die bei Adam Smith ebenfalls als ‚unproduktiv‘ bezeichnet werden, da sie keine produzierte Ware als Ergebnis haben beziehungsweise ihre Arbeit einer Ware keinen Wert hinzufügt. Diese Dienstleistungen werden für die Wirtschaft eines Landes zwar als unverzichtbar angesehen. Dennoch haben sie im Gegensatz zu produktiver Arbeit nach Smiths Theorie einen geringeren Stellenwert, da sie die Ausgaben, die nötig sind, eine Dienstleistung zu entlohnen, nicht wieder einbringen. So koste ein Arbeiter, obwohl man ihm einen Lohn vorstrecken müsse, nichts, sondern man könne mit ihm sogar einen Gewinn erwirtschaften, da er durch seine Arbeit einem Gegenstand Wert hinzufüge, den man danach wieder zu diesem höheren Wert verkaufen könne. „Der Unterhalt eines häuslichen Dienstboten jedoch wird niemals hereingebracht. Reich wird einer, der eine Vielzahl von gewerblichen Arbeitern beschäftigt; arm wird der, der sich eine Vielzahl von Dienstboten hält.“ Während der Wert, der ein Arbeiter einer Ware hinzufüge, die Fertigstellung dieser Arbeit überdauere, kann sich die Arbeit einer Dienstleistung nicht derart materialisieren: „Dienstleistungen gehen in der Regel im Augenblick ihrer Erbringung unter und hinterlassen selten eine Spur oder einen Wert, für den später die gleiche Menge Dienstleistungen erworben werden könnte.“40 Zu diesen unproduktiven Arbeitern zählt Smith 38 39 40
Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 123. Wie sich beispielsweise der Marktpreis von Waren durch Angebot und Nachfrage verändert, beschreibt Smith in seinem siebten Kapitel Der natürliche Preis und der Marktpreis von Waren des ersten Buches. Vgl. Smith: Untersuchung (wie Anm. 30, S. 373), S. 132–139. Ebd., S. 363.
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die Dienstleistenden des Landesherren mit all seinen Justizbeamten, aber auch Soldaten, „Geistliche[n], Juristen, Ärzte[n], Gelehrte[n] aller Art, Schauspieler[n], Komiker[n], Musiker[n], Opernsänger[n], Ballettänzer[n] usw.“41 Diese Überlegungen Smiths waren mit der Theorie der Physiokraten kompatibel, auch wenn Letztere ihre Vorstellung von steriler Arbeit, wie bereits dargestellt, aufgrund ihrer Prämissen auch auf die Handwerker ausdehnten. Auch sie hoben „die Unfruchtbarkeit des besoldeten Standes“ hervor: „Ihre Arbeit ist weg, sagt Herr Mauvillon, sobald sie geschehen ist, ohne daß die geringste Spur davon übrig bleibt. Wenn Richter heute ein Urtheil gesprochen, wenn Soldaten heute exerzirt oder gefochten, wenn Zollbediente heute ihren Dienst verrichtet haben; was ist noch davon vorhanden, das jemand verlangte?“42 Diese Theorie quittiert Schmohl mit der Aussage: „Welch ein Statistiker, der die Produkzion im Geisterreich für nichts achtet!“ Wenn Mauvillon damit lediglich aussagen wollte, dass ein „Richter oder Lehrer unmittelbar keine körperlichen Produkte aus dem Mineral- Planzen- und Thierreich“ hervorbringe, oder diese „wie der Handwerker verarbeitete, oder der Kaufmann verhandle“,43 könne man ihm nicht widersprechen. Die Theorie der Physiokraten reiche jedoch über diese logische Feststellung hinaus, indem sie behaupte, der Wert einer Dienstleistung übersteige nicht den Wert ihrer Entlohnung und bringe darüber hinaus nichts Höherwertiges hervor. Diesen Umstand bezweifelt Schmohl und hält es sogar für „augenscheinlich“, dass die Dienstleistungen „im Grund die wahre wirkende Ursach“ des Daseins aller Waren seien: Ein Lehrer könne beispielsweise erreichen, „daß ein Mensch, statt sein Vermögen zu verschwenden, es vielmehr vervielfältigt, und tausend Menschen Wohlthaten damit erzeigt, und sie in Stand setzt, mehr zu produziren und zu erwerben als vorher“. Auch ein Richter könne durch seine Arbeit und seine juristische Entscheidung verhindern, dass eine Fehde zwischen zwei Familien deren Eigentum zerstöre. Die Lehre eines Kameralisten, eines wissenschaftlichen Gelehrten, könne dafür sorgen, „daß hundert Leute Haus und Hof bekommen, daß nun so viel Produkte mehr existiren, als hundert Leute erzeugen können.“44 Diese Dienste würden dazu beitragen, dass nicht nur die Waren, sondern insgesamt „Macht und Reichthum“ eines Landes vermehrt würden. Mehr noch: Schmohl sieht den „Lehrer und Richter und Kameralist“ sogar als „die prinzipale Ursach“ dieser Waren, der Macht und der Reichtümer an, indem sie alle anderen, also Bauern und Handwerker, in die Lage versetzten, ihrer Arbeit erfolgreich nachzugehen. Hierdurch sind nach Schmohls Theorie diese Dienstleister „mittelbar die wirklichen Produzenten“45 der Wirtschaftsleistung. 41 42 43 44 45
Smith: Untersuchung (wie Anm. 30, S. 373), S. 364. Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 117. Ebd. Ebd., S. 118. Ebd.
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Seine Vorstellung verdeutlicht Schmohl mittels einer damals beliebten Maschine zur Stromerzeugung, deren elektrischen Stöße vor allem als Kuriosität und gesellschaftlicher Zeitvertreib beliebt waren. Hierbei stellen „[d]ie elektrischen Funken“ die hergestellten Produkte dar. „Wer sie zunächst hervorbringt, ist derjenige, der den Drath berührt.“46 Ohne dass die Maschine betrieben werde, könne jedoch keine Elektrizität erzeugt werden und damit auch kein Produkt in Form des Funkens. Somit setzt derjenige, „[d]er die Elektrische Maschine dreht“, die andere Person „durch sein Drehen in Stand, daß er durch die Berührung der Stange Blitze erwecken kann.“ In diesem Zusammenhang wäre es falsch zu behaupten: „Was ist das für ein steriler Arbeitsmann! Nicht einen einzigen Funken kann er hervorbringen, alles kommt vom Finger des, der die Stange berührt, dieser ist der wahre Produzent der elektrischen Blitze!“47 Die Arbeit der Bediensteten – Lehrern, Richtern oder Boten – findet nach dieser Theorie vor allem im Hintergrund statt und ist dadurch nicht direkt zu erkennen. Auch scheint es, als würden sie nichts produzieren, da die Elektrizität, die sie durch ihre Arbeit erzeugen – um Schmohls Bild aufzugreifen –, unsichtbar ist. Dennoch erzeugen erst sie das Potenzial, das sich durch die Arbeit der Bauern und Handwerker manifestiert und als Blitz sichtbar wird. Hiermit gesteht Schmohl den Bediensteten, deren Arbeit nach Ansicht der Physiokraten oder der Smith’schen Nationalökonomie verschwindet, sobald sie abgeschlossen ist, nicht nur eine stärkere Wirksamkeit als diese zu, sondern sieht in ihnen eine Schlüsselposition, ohne die eine Wirtschaft nicht funktionieren könne. Die Ungerechtigkeit physiokratischer Steuern Da nach dem physiokratischen System der reine Ertrag alleine von den Bauern hervorgebracht wird, wurde mit dieser Theorie auch begründet, dass alleine die Bauern Steuern zu zahlen hätten. Da aus der Sicht der Physiokraten auch der Lohn der Handwerker ursprünglich von den Bauern hervorgebracht wird, würde man bei einer Besteuerung der Handwerker die Arbeit der Bauern doppelt besteuern: Sie müssten, um die Arbeit von Handwerkern zu bezahlen, eine größere Menge an Waren als Lohn der handwerklichen Arbeit hervorbringen und den Handwerkern weitergeben. Dieses Konzept ist nach Schmohls Ansicht unhaltbar, da ein Handwerker nicht von der landbauenden Bevölkerung unterhalten werde, wie er bereits dargestellt hatte, sondern sich selbst unterhält.48 Er unterstellt Mauvillon zu wenig praktische Erfahrung auf dem Gebiet der ökonomischen Wissenschaft zu haben, weshalb er ihn bittet, „aus [seiner] Stube“ zu gehen und „die Handwerksleute“ zu fragen, „woher sie das Geld haben, das sie an den Landesherrn geben. Seyn sie selbst Augenzeuge vom Verdienst desselben. Sie werden sehn, der Fabrikant muß, um die Abgaben zu erschwingen, mehr arbeiten, und 46 47 48
Ebd. Ebd., S. 118 f. Vgl. ebd., S. 169.
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seinen Aufwand einschränken.“49 Indem die Handwerker durch ihre Arbeit ihren eigenen Gewinn erwirtschaften und diesen nicht als ‚sterile‘ Arbeitskräfte von den Bauern erhalten, müssen sich auch die Handwerker selbst bemühen, die Abgaben zu bezahlen, die ihnen auferlegt werden. Die Paradoxie der physiokratischen Abgabenlehre behandelt Schmohl ebenfalls in seinen Vermischten land- und staatswirtschaftlichen Ideen: Es stehe fest, dass „[j]edes Mitglied der Geselschaft, das durch sie glücklicher ist, als ohne sie, […] auch zu ihrer Erhaltung, zu ihrem Besten beitragen“ müsse. Es ist aus Schmohls Sicht weder gerecht, wenn nur ein kleiner Teil der Bevölkerung für die Steuerlast aufkommen müsse. Noch könne es gerecht sein, würden alle Mitglieder einer Gesellschaft in gleicher Höhe ihre Steuern entrichten müssen. Stattdessen müssten die Steuern an das Maß angepasst werden, das allen Menschen ermöglicht, die Vorteile der Gesellschaft genießen zu können: „Der niedrigste Stand, der die wenigsten Bequemlichkeiten und Vergnügen des gesellschaftlichen Lebens genießt, sich fast allein mit dem Notdürftigsten begnügen muß, solte immer am wenigsten, und der höchste, der im grösten Ueberfluß von Allem lebt, auch am meisten abgeben.“ Nach der Vorstellung der Physiokraten würden hingegen „die Aermsten alles und die Reichen nichts [geben] – damit die Armen reich werden“,50 wie er ironisch anmerkt. Der Staat darf nach Schmohls Überzeugung nicht mehr Steuern erheben, als die Bürger zu leisten in der Lage seien. Daher müsse der Staat „zugleich nach seinen Bedürfnissen und nach seinen Kräften einnehmen und ausgeben“. Keinesfalls dürften die Bedürfnisse des Staates „seine Kräfte […] übersteigen“51 und er seinen Bürgern die Finanzierung von staatlichen Projekten abverlangen, die sie nicht bezahlen könnten. Während Schmohl einerseits für eine ausgeglichene und progressive Steuerbelastung eintritt, kann er sich auch vorstellen, dass das komplette Gegenteil der physiokratischen Forderung, nämlich die vollständige Befreiung der Bauern von jeglichen Abgaben, sinnvoll sein könne: Was man an Wasser einer „Quelle entziehe, entziehe [man] dem Bach. Der unansehnlichere geringere wird auch weniger Krebse und Schmerlen halten.“ Alleine die Landwirtschaft zu besteuern, habe das Potenzial, diese zu ruinieren, was gleichzeitig den Ruin des Landes bedeute: „Der theuere Preis der natürlichen Produkte vermindert ihren Absatz, der verminderte Absatz hat verminderte Reprodukzion zur Folge.“52 Vermutlich führte Schmohl die Forderung nach Abschaffung aller Abgaben für die Bauern vor allem deswegen an, um auf logische Widersprüche der physiokratischen Argumentation hinzuweisen. Diese forderten beispielsweise auch, dass „auf Fabrikate, die zur [landwirtschaftlichen] Hervorbringung nothwendig sind, z. E. auf Pflüge, Eisen u. s. w.“ keine Abgaben erhoben werden sollten, da dies „den Ertrag 49 50 51 52
Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 169, Hervorh. i. Orig. Ders.: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 51. Ders.: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 145. Ders.: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 52, Hervorh. i. Orig.
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für den Landeigenthümer“53 vermindern würde. Nach dieser Argumentation dürfe man jedoch auch aus Schmohls Sicht, „auf die Naturprodukte keine Auflagen legen […], wenn man die Kultur nicht unterdrücken wollte. Vielmehr sollte man die Landleute ganz damit verschonen, damit sie um desto mehr Staatsreichthümer hervorbringen können.“54 Statt einer alleinigen Besteuerung der Landwirtschaft oder dem Gegenteil, ihrem vollständigen Ausschluss, scheint Schmohl einen Vorteil bei der Erhebung von Verbrauchsteuern gesehen zu haben: „Zölle und Accise[n] haben sehr viel gute Seiten, die die Phisiokraten verkennen.“ Auch durch Verbrauchsteuern würden nämlich Menschen unterschiedlichen Einkommens nur diesem entsprechend belastet. Selbst wenn die Bürger so ihre Abgabe „in unmerklichen kleinen Sümchen“ zahlten, würden „die reichsten und grösten Schwelger am meisten davon getroffen werden“, wenn diese Steuern „vernünftig eingerichtet sind.“55 In seinem 1782 erschienenen Werk Ueber Nordamerika und Demokratie zeigt sich Schmohl nicht mehr derart von Verbrauchsteuern überzeugt. In den frühen Zeiten der Menschheitsentwicklung, in denen es nur „knechtische[] Bauer[n]“ gegeben habe und noch kein eigenständiger „Handwerks- und Kaufmannsstand existirte“, habe es an Abgaben und Leistungen nur „Grundsteuern und Frohndienste“56 gegeben. Als „freye Handwerker und Kaufleute große Städte formirt“ hätten, habe man ebenfalls versucht, diese zu besteuern. Aufgrund der Macht der Handwerker und Händler habe man sich vor diesen Stadtbewohnern gefürchtet und keine „Vermögen- und Gewerbssteuern, die blos von ihnen selbst getragen würden“ verlangt. Stattdessen habe man „die Accise gewählt, und immer mehr erhöht und ausgebreitet, an der die Bauern, ihrer Natur nach, gleich viel, wenn nicht noch mehr als die Stadtleute, tragen müssen.“ Durch diese Belastung sei der Bauernstand so arm geworden, „daß er jedes Stadtschufts Beute werden muß.“57 Die Lösung des Problems, die bäuerliche Bevölkerung vor Verarmung und Ausbeutung zu schützen, erinnert stark an Schmohls Forderung einer progressiven Besteuerung in seinen Vermischten land- und staatswirtschaftlichen Ideen: Führen Sie eine mäßige, mit den Auflagen der Handwerker und Kaufleute proportionirte Auflage auf den Bauernstand ein, und Sie werden sehen, sein Wohlstand wird sich mit dem der Handelsleute messen können; er wird an innerer Festigkeit und Dauer und so an wahrem Wert immer den des Handelsmanns übertreffen, der eben so plötzlich zur Hölle fährt, als er gen Himmel stieg.58
In Verbindung mit Schmohls Furcht vor zu großer Ungleichheit, die aus seiner Sicht direkt in eine Despotie führe, scheint es nur plausibel zu sein, dass er sich ebenfalls 53 54 55 56 57 58
Ders.: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 142. Ebd., S. 143. Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 52. Ders.: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 91 f. Ebd., S. 92. Ebd.
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vorstellen konnte, eine große Einkommensungleichheit durch eine entsprechend angepasste progressive Steuererhebung abzudämpfen. Vermutlich ging Schmohls 1782 in Ueber Nordamerika und Demokratie geäußerte Vorstellung einer gerechten Verteilung von Besitz jedoch weit über eine einfache Besteuerung von Einkünften hinaus. So stellte er ausdrücklich fest, dass es „keine Tyranney“ darstelle, wenn man das Vermögen eines „Gewerbmann[es], auf […] den Werth des Landguts eines Bürgers“59 einschränke. Genauso könne man verhindern, dass jemand zwei Landgüter besitze. Bei dieser Vermögens- und Besitzangleichung handele es sich um „eine Sache, woran jedes Bürgers wahres großes Wohl hängt.“ Letztendlich stelle „Gewinnsucht, Geldgeiz, Streben nach Reichthum, die unedelste, verderblichste, der Freyheit entgegenste Leidenschaft [dar], bey der wirklich gar keine grossen edlen Kräfte entwickelt werden, sondern meist nur Betrug und Kleinheit des Geistes und Herzens.“60 Vorteile freien Handels, ausländischer Produktion und gemeinschaftlicher Kooperation Obwohl sich Handel und Wirtschaft eines Landes gegenseitig beeinflussen, betont Schmohl stets, dass beide Bereiche unabhängig voneinander betrachtet werden müssten. Deshalb kann er die Forderungen der Physiokraten unterstützen, den Handel zwischen Ländern so wenig wie möglich durch Zölle zu beschränken. Da Schmohl Zölle und Akzise jedoch weiterhin als sinnvolle Werkzeuge erachtet, um mit ihnen „den Gang des Handels zum Vortheil des Staats zu lenken“,61 möchte er diese folglich nicht vollkommen abschaffen. Seine Vorstellung eines sinnvollen Handels hat insofern mit den Forderungen der Physiokraten gemeinsam, dass sich beide gegen die merkantilistische Doktrin eines protektionistischen Handels aussprechen: Um einen Handelsüberschuss zu erzielen, was Merkantilisten als die einzige Möglichkeit betrachteten, Reichtum zu erlangen, wurde die Ausfuhr von verarbeiteten Produkten gefördert und gleichzeitig versucht, die Einfuhr von ausländischen Produkten durch hohe Importzölle zu unterbinden. Für Schmohl ist es hingegen nicht einfach „damit […] gethan, daß man das Geld“ durch entsprechende Handelsschranken „im Lande behält“. Stattdessen müsse ein Landesherr auch darauf achten, dass man „auch das beste und meiste damit ausrichte[]“.62 Es sei zwar korrekt, dass man, wenn man ausländische Produkte kaufe, nicht den inländischen, sondern einen ausländischen Fabrikanten unterstütze. Dies könne jedoch gesamtwirtschaftlich von Nutzen sein, wenn eine Ware im Ausland günstiger hergestellt werden könne: „Wenn man den Einheimischen 40 000 Thaler für eine Waare zahlte, die man von Ausländern für 30 000 hätte haben können, so würden den Leuten jährlich 10 000 entzogen, die sie zu Vermehrung ihrer Produk59 60 61 62
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 185 f. Ebd., S. 186 – Vgl. zu Schmohls Bewertung von Ungleichheit und die daraus entstehende Gefahr für eine Gesellschaft Kapitel 3.4.1. Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 52 f. Ebd., S. 48.
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te und zu ihrem Genuß hätten anwenden können.“63 Dass eine ausländische Ware günstiger sei als eine im Inland hergestellte, sei zudem äußerst selten und „müßte […] ganz besondre Ursachen haben, da sie nach der Regel theurer seyn sollten, weil sie mehr Transportkosten verursachen.“64 Während diese Argumentation an Adam Smiths Theorie eines freien Handels erinnert, geht Schmohl an dieser Stelle etwas weiter und argumentiert mit der Qualität einer hergestellten Ware, was bei Smith nicht direkt thematisiert wird: So könne es unter bestimmten Umständen von Vorteil sein, eine ausländische Ware zu kaufen, obwohl diese teurer sei als eine inländisch produzierte: „Wenn ein Pflugeisen aus schwedischem Eisen ein halbmal soviel kostet, als aus inländischem“, aber der schwedische Pflug doppelt oder sogar dreimal solange halte als der im Inland produzierte Pflug, wäre es nützlicher, diesen hochwertigeren, aber teureren Pflug zu importieren und zu kaufen. „Es gibt Fälle, wo man gewint, wenn man mehr Geld hinaus gehen läßt als herein, und mehr Waaren herein als heraus. Wenn man nemlich sein Geld für Waaren von mehr innerm Wert, höherer Kraft, längerer Dauer und weitläufigerm Nuzen ausgibt, hingegen für Spielzeug und Tändeleien weniger löst.“65 Zwinge unter diesen Umständen ein Landesherr seine Untertanen durch Handelsbeschränkungen die günstigeren, aber dennoch qualitativ schlechteren Waren zu kaufen, raube er ihnen damit das Geld, das sie zusätzlich auszugeben gezwungen seien. Nicht durch einseitigen, sondern nur durch gegenseitigen Handel kann aus Schmohls Sicht Reichtum vergrößert werden: Dies gelte sowohl auf der Ebene eines Landes, indem Einzelpersonen ihre Waren untereinander austauschen, als auch beim Handel zwischen Staaten: Hat ein Schuster nichts als Schuhe, der Tuchmacher nichts als Tuch, der Bekker nichts als Brod, […] so groß auch der Ueberfluß sein mag, wird doch jeder, wofern er nicht seinen Ueberfluß […] vertauschen kan, der ärmste Mensch von der Welt sein. […] Und was für den einzelnen Menschen der Handel ist, das ist er auch für den ganzen Staat im Verkehr mit Ausländern.66
Indem Schmohl die Wirtschaft eines Landes als Ganzes betrachtet, in welcher nicht jeder arbeitende Mensch für sich selbst – und höchstens noch für die eigene Familie – arbeitet, kann er diese Betrachtungsweise auch auf den Handel zwischen Ländern übertragen. Hierbei gewinnt ein Land nicht nur, weil ein anderes mit Blick auf seine Handelsbilanz verliert. Stattdessen interpretiert Schmohl die Handelsbeziehungen zweier Länder als einen gemeinsamen Handel, der den größtmöglichen Vorteil beider Seiten zum Ziel hat. Indem dieser gemeinsame Handel zwischen Ländern herrscht, unterhält ein Land dadurch zwar auch ausländische Handwerker, deren Produkte es importiert. Im Gegenzug kann der Handelspartner jedoch auch 63 64 65 66
Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 160. Ebd., S. 162. Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 48. Ebd., S. 51 f.
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selbst Waren importieren und ebenfalls Produzenten unterhalten, womit der eigene Import es so dem anderen Land ermöglicht, selbst Produkte zu importieren. Wäre dies nicht der Fall oder hätten „fremde Staaten kein Bedürfniß“ an den Waren des eigenen Landes, „so müssen wir mitten im Ueberfluß verkümmern.“67 Um eine inländische Produktion zu fördern oder deren Qualität zu verbessern, war es damit aus Schmohls Sicht keine sinnvolle Methode, Handelsschranken oder sogar -verbote zu verstärken – wie es in merkantilistischen Wirtschaftssystemen üblich war. Eine solche Verbesserung könne nicht alleine dadurch erreicht werden, dass man auf dem inländischen Markt nur die eigene, schlechte Ware zulasse. Stattdessen müsse man hierbei vor allem bei der Ursache der minderen Qualität ansetzen und diese verbessern. Zudem sei es viel zu teuer, ein entsprechendes Handelsverbot für eine bestimmte Ware aufrecht zu erhalten. Hierdurch würden nicht nur die Menschen gezwungen, schlechtere und teurere Produkte zu kaufen. Stattdessen müsste ein Land noch mehr Geld aufbringen, um den Grenzhandel zu überwachen. Diese Überlegung demonstriert Schmohl anhand der Papierherstellung. So würden die Niederlande in Deutschland Lumpen kaufen, diese zu hochwertigem Papier verarbeiten und zurück nach Deutschland schicken. „Wollte man die Ausfuhr der Lumpen und die Einfuhr des fremden Papiers zugleich verbieten, so müßte man zur Wachsamkeit über das Verbot Leute halten, deren Besoldung mehr kostete, als der ganze Papierhandel, wenigstens der Handel mit dem feinern bessern Papier werth wäre.“68 Seine Überlegung zur Ursachenbekämpfung von schlechten Produkten verbindet Schmohl geschickt mit der Forderung nach der Abschaffung von Handwerkergilden und -zünften. Hiermit griff er ebenfalls eine Forderung der Physiokraten auf und wandte sich mit diesen gegen die herkömmliche, merkantilistische Wirtschaftsordnung. So stellt Schmohl die Frage, worin die Ursache für das schlechte und dennoch teure deutsche Papier liege. „Liegt sie im Wasser, in der Trägheit, in der Pacht, oder in den zu kostbaren Gildengebräuchen der Papiermacher? Man sagt, das letztere wäre Schuld“. Ein Handwerker, der als Meister neu in eine Gilde aufgenommen werde, müsse „so viel an die Gilde verschwenden, daß er nachmals keine rechte Auslage mehr hätte.“ Somit sei „[d]as beste Mittel, fein und wolfeil Papier im Lande zu erhalten, […] die Abschaffung der ganzen Gilde oder doch der schädlichen Gildengebräuche“.69 Eine schlechtere Qualität von Waren ergebe sich ebenfalls aus der mit dem Zunftzwang einhergehenden Monopolstellung der jeweiligen Produzenten. Allgemein stellt Schmohl fest, dass Handwerker, „die Privilegien und Monopolien besäßen, […] immer schlechtere Sachen [lieferten] als man in Gewerbfreyheit erhielte.“70 67 68 69 70
Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 52. Ders.: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 165. Ebd., S. 166, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 162.
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Monopolstellungen, die zwar nicht durch eine rechtliche Privilegierung, sondern durch Kumulation von Besitz oder Macht entstanden seien, könnten auch für einzelne Handwerker oder Bauern problematisch werden – selbst wenn diese durch Freihandel die Möglichkeit hätten, einen Händler zu meiden, der ihnen zu wenig für ihre Produkte zahle.71 Eine derartige Monopolisierung und wie sich Bauern dagegen zur Wehr setzten, konnte Schmohl auf seiner Reise durch das Elsass beobachten. So versuchten örtliche Hanfbauern, sich auf einen gemeinsamen Verkaufspreis ihres Produktes zu einigen, damit sie nicht von einem Verkäufer gegeneinander ausgespielt werden konnten. Durch diese Einigung wurde „[d]ie große Concurrenz der Verkäufer“ beseitigt, sodass „die personificirte Gemeinde“ gegenüber dem kaufenden „Monopolisten, mit denen gar keine [anderen] Käufer concurriren, […] einigermaassen das Gegengewicht halten“ konnte. Dieses gemeinschaftliche Verhalten hielt Schmohl für hilfreich, sodass er in seinem Bericht den Bauern der Länder, „wo Monopolien grassiren“, riet, ihre Waren zu ihrem Vorteil „gemeinschaftlich zu verkaufen.“72 Auf seiner Kameralistischen Reise durch Anhalt konnte Schmohl ebenfalls die Vorteile von bäuerlicher Kooperation beobachten. Hier hatten im Dorf Wulfen vier Bauern das dortige Vorwerk „in Gemeinschaft gepachtet.“ Schmohl meinte zuerst, dass jeder dieser vier Bauern „einen besondern Theil von Ackerland allein bewirthschaften“ würde, sodass ihre Betriebe letztendlich doch geteilt seien. „Aber nicht so. Es ist eine wahre Gütergemeinschaft. Sie ackern gemeinschaftlich und theilen auch Gewinn und Schaden.“ Obwohl das Vorwerk nicht all zu groß gewesen sein muss, da die Bauern noch zusätzliches Land hinzu pachten mussten, war Schmohl optimistisch, dass sie aufgrund ihrer genossenschaftlichen Arbeit „vielleicht doch noch – ohne Schaden fertig werden“73 und ihr Land erfolgreich bewirtschaften könnten. Wenn auch über den Ausgang dieses gemeinschaftlichen Projektes nichts gesagt werden kann, wird dennoch Schmohls Sympathie für derartige Kooperationen deutlich: Er lobt ausdrücklich die Vorteile, die durch einen solchen Zusammenschluss mehrerer Bauern oder ganzer Dörfer auf der untersten Organisationsebene einer Wirtschaft entstehen, indem die Beteiligten ihre Durchsetzungsfähigkeit durch eine gemeinsame Verhandlungsbasis erhöhen. Dieses Prinzip des gemeinschaftlichen Handelns zum Wohle aller ist für ihn ebenfalls integraler Bestandteil seines Wirtschafts- und Handelssystems. Gleichzeitig lässt Schmohl erkennen, dass es sich bei diesen Idealen eher um Utopien handelte, zu welchen die Menschen noch nicht bereit seien. So hält er am Ende seiner Vermischten land- und staatswirtschaftlichen Ideen fest: „Eh wir Menschen nicht [zu] allgemeiner politischer Freiheit fähig sind,
71 72 73
Vgl. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 89. Ders.: Bemerkungen (wie Anm. 66, S. 25), S. 366 – Schmohls Beobachtung dieses gemeinschaftlichen Hanfverkaufes wird ausführlicher in dessen Biographie, Kapitel 2.1.2, beschrieben. Ders.: Kameralistische Reise (wie Anm. 40, S. 21), S. 410.
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werden wir auch nicht völlige Gewerbsfreiheit74 zu unserm Besten brauchen.“75 Wie auch für seine demokratische Utopie benötigt Schmohl für seine Wirtschaftsutopie besonders tugendhafte Menschen, welche als „[w]irklich rechtschafne Patrioten“ niemals auf die Idee kämen, „reicher zu werden, als andere“76 und stattdessen lieber Ärmeren etwas abgeben würden.77 Da ein solches Maß an Tugend nie erreicht werden könne, aber Schmohl dennoch sowohl „wider die zu große politische Einschränkung“ als auch „wider die zu große Gewerbseinschränkung“ ist, muss weiterhin staatliche Beschränkung die Bürger zu Tugendhaftigkeit lenken. Ein absoluter Freihandel ist unter diesen Voraussetzungen aus seiner Sicht nicht möglich. Sein sowohl auf die Wirtschaft als auch auf die Politik bezogenes Motto lautet daher: „Je mehr Freiheit, desto besser; aber doch nie unbeschränkte.“78 Andreas Riems Konzept einer progressiven Vermögens- und Einkommenssteuer Aus Andreas Riems Schriften scheint auf den ersten Blick hervorzugehen, dass er von den Prinzipien des physiokratischen Systems beeinflusst war. So schlägt er 1796 in seinem Reisebericht durch Deutschland bezüglich der Frage, wie der preußischen Wirtschaft geholfen werden könne, vor, dass vor allem die Landwirtschaft gefördert werden müsste: „Vorzüglich muß das Augenmerk des Finanziers auf den Ackerbau, die Quelle alles Staatsreichthums, gerichtet werden.“79 Riem führt außer dieser knappen Anspielung nicht weiter aus, inwiefern er den Physiokratismus als Wirtschaftstheorie und sinnvolles System befürwortete oder auch selbst durchdacht hatte. Da seine Aussagen bezüglich den verschiedenen Abgaben teilweise weit von den Vorschlägen der Physiokraten abweichen, darf vermutet werden, dass er lediglich den oben zitierten physiokratischen Grundsatz seinen eigenen Anschauungen inkorporiert hatte. Riem geht es bei seinen Überlegungen zur Steuergesetzgebung in erster Linie weder um die Landwirtschaft noch um die gesamte Wirtschaft eines Landes. Stattdessen ist aus seiner Sicht das Wohl der ärmeren Schichten der Bevölkerung ausschlaggebend für die Bewertung der verschiedenen Abgaben eines Landes. So be74
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Schmohl verwendet in diesem Zusammenhang ‚Gewerbsfreiheit‘ nicht nur im Sinne von ‚Gewerbefreiheit‘, also der Freiheit, sein eigenes Gewerbe und Handwerk ohne Zunftzwang und andere Einschränkungen auszuüben. Stattdessen bezieht er sich, wie aus dem Kontext seiner Schrift hervorgeht, auf eine Freiheit, die einerseits den beschriebenen Sinn von ‚Gewerbefreiheit‘ umfasst, andererseits aber zusätzlich noch auf den freien Handel und somit auf Zölle und Steuern ausgeweitet wird. Diese Begriffsbedeutung wird auch im Kontext der PapiermacherGilden deutlich. Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 53. Ders.: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 186. Zu Schmohls demokratischer Vorstellung und der hierzu nötigen gleichmäßigen Verteilung von Besitz, vgl. Kapitel 3.4.1. Schmohl: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 53. Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 84, Hervorh. i. Orig.
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wertet er ebenfalls in seinem Reisebericht durch Deutschland Zölle und die Akzise negativ, „weil die die Nothwendigkeiten des Lebens vertheuern, und gerade den Armen am härtesten treffen“.80 Während Johann Christian Schmohl den Vorteil der Akzise als eine auf die Konsumenten umgelegte Verbrauchsteuer darin sah, dass bei hohem Konsum auch entsprechend viele Steuern zu zahlen waren, kritisiert Riem gerade diese Allgemeinheit der Abgabe: Geht man davon aus, dass sowohl arme als auch reiche Menschen die gleichen Grundbedürfnisse haben, müssen sie zur Befriedigung dieser ‚Notwendigkeiten des Lebens‘ die gleiche Summe aufwenden. Für wohlhabende Menschen macht diese Summe nur einen kleinen Teil der ihnen zur Verfügung stehenden Gelder aus. Hierdurch haben die durch die Verbrauchsteuer erhöhten Preise eine geringere Relevanz in Relation auf das Gesamteinkommen, als wenn für die gleichen, grundlegenden Bedürfnisse ein Großteil oder sogar das gesamte Einkommen aufgebracht werden muss. An diesem Grundsatz hielt Riem auch mit Blick auf die Batavische Republik fest: Hier habe es zwar ein Dekret gegeben, „welches auf Torf, Butter etc. die Abgaben aufhebt, insofern sie nicht eine gewisse Grenze der Consumtion übersteigen, aber ich glaube nachweisen zu können, daß die Staats-Kassen mehr dabei gewinnen würden, wenn man sämmtliche Abgaben auf die Lebensbedürfnisse aufhöbe“.81 Als Alternative sieht er vor allem die Besteuerung von Vermögen an. Dies sei deswegen gerecht, da es in einem großen Staat unterschiedliche Bodenqualitäten und damit verbunden unterschiedliche „Fruchtbarkeit und die Ergiebigkeit seiner Hülfsquellen“82 gebe. Im Falle eines fetten, also fruchtbaren Bodens müsse ein Bauer oder Winzer wenig arbeiten und hätte trotzdem einen hohen Ertrag, wohingegen selbst bei einer weitaus höheren Arbeitsleistung bei unfruchtbaren Böden der Ertrag geringer sein könnte. Hierbei jeweils die gleichen Abgaben zu verlangen, sei ungerecht: „Wer da von dem Vermögen des Unglücklichen, das zehnmal mehr Fleiß, Arbeit und Thätigkeit zu erwerben kostet, eben so viel nehmen wollte, als von jenem, dem es die Natur freiwillig darbietet, der verletzte die Rechte der Gleichheit und Gerechtigkeit.“83 Dass Riem bei dieser Argumentation nicht auf einen physiokratisch-landwirtschaftlichen reinen Ertrag abzielte, macht er im darauffolgenden Absatz deutlich. In diesem führt er an, dass der Wohlstand eines Landes und seiner Provinzen von weitaus vielschichtigeren Faktoren abhänge als allein von der Landwirtschaft. Wichtig sei außerdem eine „Lage an Ufern des Meeres und der Flüsse, [die] Ausgedehntheit ihres Handels, und des langen Genusses eines Friedens“.84 Aufgrund dieser Unterschiede sei es gerechter, wenn die Abgaben einer Provinz und ihrer Bewohner auf 80 81 82 83 84
Ebd., S. 69. Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 265. Ebd., S. 253. Ebd., S. 254. Ebd.
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Grundlage „des Vermögens, oder, wie in Frankreich, nach der Summe der Einkünfte überhaupt festgesetzt“85 würden. Ärmere Bürger, deren „Einnahmen eine gewisse festzusetzende Summe des nothwendigen jährlichen Bedarfs nicht übersteigt“, sollten nach Riems Vorstellung „ganz frey von Abgaben zu machen“ sein. Ab dieser Untergrenze sollte die Steuerbelastung auf „alles Vermögen oder Einkommen“ angerechnet werden und „in immer größeren Verhältnissen“ in Schritten von 1 000 Gulden ansteigen. Hierdurch werde von diesem „steigenden Ueberfluß“ das genommen, was sich immer weiter „von der Grenze des Bedürfnisses“86 entferne. Bei dieser Art der Besteuerung sieht Riem mehrere Vorteile: So ergebe sich einerseits aus der „steigenden Gradation[] der Einnahme vom Vermögen der Reichen“87 höhere Einkünfte für den Staat. Andererseits würden „die unbemittelten Bürger“ durch ihre Ausnahme von der Steuer oder ihrer geringeren Belastung ebenfalls in den „Stand gesetzt […] zu einem Vermögen zu gelangen“ und außerdem „durch die Gerechtigkeit der Gesetze und die Wohlthat des Staates“ zu größerer „Industrie und Fleiß“88 ermuntert. Hierdurch können sie selbst wohlhabender werden, sodass ihre Einkünfte und ihr Vermögen „bald über die Grenze des Bedürfnisses hinausgeht, wo dann der glücklichere Staatsbürger mit Vergnügen, die ihn treffenden Abgaben, und mit Dankbarkeit gegen den Staat entrichten wird, dessen Weisheit und Civismus ihn in den Stand setzte, als wohlhabendes Staatsglied, zu seinen Bedürfnissen beizutragen.“89 Ein besonderes Negativbeispiel stellte in Riems Augen die Steuergesetzgebung in Großbritannien dar.90 Normalerweise, so stellt er zu Beginn der Kritik nochmals seine eigene Vorstellung von gerechten Abgaben dar, bemühe sich eine Regierung, „den Abgaben alles Gehässige zu benehmen, und sie so wenig drückend zu machen, als immer möglich.“ So sei es „[d]er oberste Grundsatz einer zweckmäßigen und weisen Finanz-Verwaltung […], einen jeden Staats-Bürger nach dem Verhältnisse seines Vermögens – ich setze hinzu – von einem gewissen Grade an, zu besteuern.“91 Eine Besteuerung ohne eine entsprechende Untergrenze nötige die Bürger, „den Bettelstab zu ergreifen“, was ebenfalls auf alle Auflagen zutreffe, „welche auf die nothwendigen Bedürfnisse des Lebens gelegt sind“.92 Die britische Regierung ha85 86 87 88 89 90
91 92
Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 255, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 265. Ebd. Ebd., S. 265 f. Ebd., S. 266. Allgemein zum Aufbau und zur Entwicklung des britischen Steuersystems bis zum Ende des 18. Jahrhunderts: Schremmer: Steuern (wie Anm. 11, S. 369), S. 1–13. – Riems Analyse der britischen Wirtschaft und Finanzen wird außerdem dargestellt in: Rölker: Ansichten (wie Anm. 334, S. 70), S. 125–128. In diesem Artikel werden außerdem Riems übrige Darstellungen zu den Finanzen der verschiedenen europäischen Länder zusammengefasst. Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 39, Hervorh. i. Orig. Ebd.
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be bei Riems genannten Aspekten „gerade den entgegen gesetzten Weg eingeschlagen“93 und stellte damit das genaue Gegenteil seines eigenen Ideals dar. Insgesamt würden, wie er mit Verweis auf Gebhard Friedrich August Wendeborn (1742–1811) anführt,94 die Armen mehr Steuern als die Reichen zahlen, wobei die Reichen im Parlament säßen und damit für die Besteuerung selbst zuständig seien. Sie tragen nach Riems Ansicht daher nicht nur die Verantwortung an diesem Missstand, sondern ebenfalls daran, dass er nicht verändert und in ein gerechteres System umgewandelt wird. Einen Teil der Steuerlast machten die direkten Steuern aus. Hier zeige sich der größte Posten, die britische Land-Taxe, für eine Verarmung von Landbesitzern verantwortlich. Die kleineren dieser Pächter könnten sich, so Riems Kritik, aufgrund der Steuerlast nicht lange auf ihrem Land halten und würden durch größere und reiche Pächter aufgekauft und vertrieben, wodurch diese ihren Reichtum und ihre Macht weiter vermehrten.95 Weitaus deutlicher seien jedoch die indirekten Steuern für eine Steuerungerechtigkeit und Verarmung der Bevölkerung verantwortlich. Besonders sei dies bei der Bier-Taxe96 der Fall: Vor allem hier seien die Abgaben für „das geringe Volk“ am höchsten, das sich „sein Bier [k]annenweise aus den Wirthshäusern holen läßt“.97 Reiche, die es sich leisten könnten, selbst zu brauen, seien hingegen von allen diesbezüglichen Abgaben befreit. Gerade die Befreiung der Reichen von der Bier-Taxe stelle, wie Riem sich auf Adam Smith berufend darstellt, den Grund dar, weshalb die Armen, die sich das Bier in kleinen Portionen kaufen müssten, besonders viel Abgaben darauf zu zahlen hätten. Ähnliches gelte für den Tee: Hier seien die „feinen Sorten […], welche[] die Vornehmen trinken“ mit ‚nur‘ 75% besteuert worden, wohingegen für die minderwertigeren Sorten, „welche die gemeinen Leute verbrauchen“,98 100% aufgeschlagen worden seien. Leidtragender dieser ungerechten Steuern sei, wie Riem wiederum Adam Smith zustimmend schreibt, der ‚gemeine Mann‘: Nur dieser, nur der fleißige Handarbeiter, der Manufakturirer, der Landmann, der Soldat, der Matrose, der Kohlengräber und der Bettler trinken die schlechten Arten von Branndtweine; diese sind es also, welche die Regierung wahrhaftig durch diese Auflage plündert. Sie ist es, die sich
93 94 95 96
97 98
Ebd., S. 38. Zu Wendeborn, auf welchen Riem in seinen Werken ausführlich verweist, vgl. Michael Maurer: Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. Göttingen 1987 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 19), S. 218–252. Vgl. Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 43 f. Die Steuer auf den britischen Alkoholkonsum stellte Ende des 18. Jahrhunderts die „mit Abstand größte einzelne Steuerquelle“ (Schremmer: Steuern (wie Anm. 11, S. 369), S. 14) dar. Die Steuern auf alkoholische und nichtalkoholische Getränke umfassten ganze 39,7% der gesamten britischen Steuereinnahmen von 1792/93, wohingegen alle direkten Steuern lediglich 22,1% ausmachten. Vgl. ebd., S. 15 f. Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 50 f. Ebd., S. 57.
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vom Gewinn des Arbeiters, und dem erbettelten Almosen des Armen bereichert; die den Reichen schont, und dem Armen den kleinsten Rest seines Besitzes raubt.99
Auch die Finanzierung eines Teils des britischen Staatshaushaltes durch die Aufnahme von Schulden wurde von Riem kritisiert, womit er auch hier einen Teil des britischen Staatshaushaltes korrekt beschreibt: Die Ursache dieses Systems war „das Bemühen, Kriege nicht mit Steuern zu finanzieren“, woraus eine Staatsverschuldung resultierte, die 1792 beinahe das 13-fache der Staatseinnahmen ausmachte. Ein derartiges Verhältnis zwischen Einnahmen und Verschuldung wäre „bei kontinentalen Staaten“ ohne Staatsbankrott „nahezu undenkbar“100 gewesen. Vermutlich sah Riem diese Art der Haushaltsfinanzierung gerade aufgrund seiner kontinentaleuropäischen Prägung kritisch: So seien die Darlehen unter dem Hause Stuart noch zeitlich begrenzt gewesen, sodass sich daraus eine absehbare Grenze der finanziellen Belastung für den Staat ergeben hätte. Durch diese zeitliche Begrenzung wurden nach Riems Ansicht nicht „künftige[] und spätere[] Generationen und Regierungen ihrer Bedürfnisse dadurch [beraubt], daß sie dieselben für längst verwendete Summen und längst verflossene Staatsbedürfnisse bezahlen ließ.“101 Mit diesem Prinzip sei seit der Regentschaft des ersten britischen Herrschers aus dem Hause Hannover, Georg I. (1660–1727), gebrochen und ein System eingeführt worden, „nach welchem keine Kapitalien mehr abgetragen, und kaum die Zinsen bezahlt werden“ konnten. Diesem „System der immerwährenden Zinsen“ habe der Reiz innegewohnt, sich nicht darum kümmern zu müssen, „ob die Nachkommenschaft erhalten oder ruinirt werden würde“,102 da man lediglich die jährlich zu zahlenden Zinsen und nicht die Rückzahlung des gesamten Darlehens im Auge haben musste: „[Z]u fünf Procent Zinsen konnte man für diese eine Million, zwanzig Millionen aufnehmen, denn es war nicht die Rede, je diese zwanzig Millionen abzutragen, sondern bloß alle Jahr eine Million zu ewigen Zeiten den Gläubigern zu bezahlen.“103 Sogar das französische Auflagen-System der vorrevolutionären Zeit ist nach Riems Meinung im Vergleich zum britischen mit seinen immerwährenden Zinsen, wenn zwar nicht das bessere, aber dennoch „das am wenigsten gefährlichste“ gewesen, da „es nicht immerwährende Lasten auf den Nacken der Nationen“104 gelegt habe. – Selbst wenn Riem die „Gährungen“, die durch die „Zerrüttung“ der französischen Finanzen entstanden seien, als „das Vorspiel der Revolution“105 betrachtete. Statt Kredite aufzunehmen, seien zur Kriegsführung in Frankreich Sondersteuern erhoben worden, nach deren Wegfall sich „[d]er Staat wieder erholen“ konnte: „Eine allgemeine Kriegs-Steuer drückt zwar sehr, aber, wenn sie endlich beendiget 99 100 101 102 103 104 105
Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 55. Schremmer: Steuern (wie Anm. 11, S. 369), S. 5. Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 242. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 243, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 240, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 268.
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wird, wenn diese Auflage aufhört, so hat auch der Druck ein Ende, und die künftigen Generationen verarmen nicht.“106 Nur eine Regierung, die sich weder für die Armen noch für künftige Generationen interessiere, könne einen Haushalt haben, der zu einem großen Teil auf der Aufnahme von Krediten basiere. Während Riems Kritik an der britischen Praxis, vor allem zur Finanzierung von Kriegen Kredite aufzunehmen, auch aus seiner generellen Ablehnung des britischen Staates und dessen Politik motiviert war, beachtet er nicht, dass ein Teil dieser Staatsschulden aus staatlichen Wertpapieren bestand. Hierbei war es vor allem von einer Schicht reicherer Bürger, die einen Teil ihres Vermögens in derartigen Anleihen angelegt hatten, intendiert, auf eine unbegrenzte Zeit eine jährliche Rente daraus zu erhalten. Auch der britische Staat hatte ein großes Interesse an dieser Praxis und finanzierte seine Schulden „ganz überwiegend aus dem freiwilligen Transfer von privaten Einkommensteilen seiner eigenen Bü rger“.107 Diese Form der Staatsverschuldung erwies sich für Großbritannien als recht stabil. Riems Befürchtungen eines baldigen Staatsbankrottes,108 der vor allem ärmere Schichten getroffen hätte, trat daher nicht ein. Dennoch ergab sich aus diesen Staatsschulden auf lange Sicht ein Nachteil für ärmere Bürger, den Riem nur indirekt beschrieb: Indem die Renten der reicheren Bevölkerungsschicht durch die Steuereinnahmen aus indirekten Abgaben beglichen wurden, die – wie Riem korrekt dargestellt hatte – vor allem von der ärmeren Hälfte der Bevölkerung aufgebracht wurden, kam es hierdurch zu einer verdeckten Umschichtung des Vermögens der ärmeren Bevölkerung hin zu den wohlhabenderen Bürgern, die ihr Geld in Anleihen angelegt hatten. Auch der von Riem beschriebene Einfluss der reichen Bevölkerungsteile auf das Parlament wird vor allem mit Blick auf die Kapitalrenten deutlich: So wurde 1799 vom Parlament erfolgreich der Versuch vereitelt, Erträge aus Kapitalanlagen zu besteuern, was sich bis 1842 nicht änderte.109 Bezüglich des Handels vertritt Riem in seinen Reiseberichten eine ähnliche Meinung wie Schmohl, wenn er davon ausgeht, dass ein Einfuhrverbot ausländischer Waren dem Bürger eines Lande schade, wenn die im Inland hergestellten Waren von schlechter Qualität seien. Während Schmohl jedoch eine vollständige Aufhebung von Handelsbeschränkungen nicht gutheißen mag, da seiner Meinung nach für eine vollständige Freiheit – politischer wie wirtschaftlicher Art – die Menschen absolut vernünftige und selbstlose Wesen sein müssten, sieht Riem in jeder „Hemmung der Konkurrenz“ einen „unmittelbare[n] Angriff auf [s]ein Eigenthum und [s]ein Bürgerrecht“: „Die Konkurrenz, sie komme, woher sie wolle, aus dem Innern oder dem Auslande, macht die Preise billig und dem Verhältnisse des Werths der Effek106 107 108 109
Ebd., S. 240. Schremmer: Steuern (wie Anm. 11, S. 369), S. 5. Vgl. Kraus: Ansichten (wie Anm. 336, S. 70), S. 154 f. Vgl. Schremmer: Steuern (wie Anm. 11, S. 369), S. 5–8.
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ten angemessen, da Niemand unter dem Werthe verkauft.“110 Eine Hemmung dieser Konkurrenz führe hingegen dazu, dass „der begünstigte Manufakturier“ den Warenpreis durch einen „wirklichen oder künstlichen Mangel[]“ nach eigenem Gutdünken manipulieren kann und damit „den Konsumenten oder Käufer [zwingt,] sich betrügen zu lassen und von seinem Eigenthume mehr dahin zu geben, als er schuldig ist“.111 Entsprechend sei der freie Handel die beste Möglichkeit eines Staates, den Wohlstand seiner Bürger – und damit den Wohlstand des Landes insgesamt – zu vergrößern. Daher bedürfe der Handel „aller möglichen Ermunterung, und das oberste Gesetz eines handelnden Staates sollte unbegrenzte Zollfreiheit seyn.“112 Ebenfalls dürfe nicht in die freie Entwicklung der Preise eingegriffen werden, denn auch die Festlegung von Warenpreisen stelle ein „despotisches Maximum [dar], das allen Handel“ ruiniere. Sowohl staatlich festgelegte Preise als auch „alle Gesetze der Einfuhr und Ausfuhr“ sind nach Meinung Riems daher „äußerst unphilosophisch und antimerkantilisch.“113 Eine Ausnahme hiervon stelle dar, wenn durch eine schlechte Ernte ein Mangel an Nahrung drohe. In dieser Situation sei ein Verbot des Handels mit Nahrungsmitteln jedoch nur nötig, wenn es ein Land verpasst habe, eine Nahrungsreserve von mindestens einem Jahr anzulegen. Eine solche Vorsorge habe nach Riems Wissen jedoch nur Preußen getroffen: „Es giebt fast keinen Staat von Beträchtlichkeit, wo man nicht Banken zur Bequemlichkeit der Kaufleute errichtet hätte; aber außer Preußen kenne ich keinen, der dafür gesorgt hätte, daß bei Mangel ein großer Theil der Nation nicht durch die Theuerung verhungere oder verarme.“114 Knoblauch: Macht der Ackerbau oder die Bevölkerung den Reichtum eines Landes aus? Auch Karl von Knoblauch beschäftigte sich mit der Theorie der Physiokraten und stellte Thesen auf, worin der Reichtum eines Landes liegen könnte. Wie so oft in Knoblauchs Werk, stellt er diese Debatte meist in Form von Dialogen dar, in denen zwei Diskutanten unterschiedliche Positionen einnehmen. So auch in einem erstmals 1789 erschienenen Artikel Ob der Ackerbau wirklich den Grund des Reichthums der Staaten ausmacht? 115 , der 1792 in Knoblauchs Politisch-philosophische Gespräche aufgenommen wurde.116 In diesem nimmt ein mit A bezeichneter Gesprächsteilnehmer die Position ein, dass nur der Ackerbau den Staat bereichere und Getreide und Vieh „die einzigen reelen Güter“ darstellten, wohingegen selbst „Gold und Silber […] nur willkührliche 110 111 112 113 114 115
Riem: Reise, Frankreich 3 (wie Anm. 530, S. 98), S. 256. Ebd., S. 256 f. Ebd., S. 279, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 257, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 261, Hervorh. i. Orig. [Karl von Knoblauch]: Ob der Ackerbau wirklich den Grund des Reichthums der Staaten ausmacht? Ein Dialog. In: Der Teutsche Merkur 3 (1789), S. 139–151. 116 Ders.: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 197–214.
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Güter [seien], vorstellende Zeichen, Münzen des Kredits, die nur den Werth haben, welchen der Ertrag der Erde ihnen giebt.“117 Sein Gegenüber, B, gibt daraufhin zu bedenken, er „kenne keinen bloß Ackerbautreibenden Staat, welcher sehr reich wäre. Hingegen giebt es einige ziemlich reiche Staaten, welche beinahe keinen Ackerbau haben, und wo man von Ihren Stützen des Staates auch nicht viel mehr hält, als gerade nöthig ist, den bemittelten Bürgern die erforderlichen Milch zu Thee und Kaffee zu produciren.“118 Als Beispiel nennt er die Niederlande, die beinahe keinen Ackerbau hätten, mit dem sie nur einen Bruchteil ihrer Bevölkerung ernähren könnten. „Gleichwohl ist es, nach Verhältniß seiner Größe, das volkreichste Land in Europa und – eines der reichsten.“119 Das zweite Beispiel, Genua, habe „eine unfruchtbare Küste, wenig Äcker, und so wenig Ochsen, daß man diesen unmöglich die große Last aufbürden kann, die Stütze des genuesischen Staates zu seyn. Manufakturen – die Öhlpressen mit eingerechnet – und Kommerz – diese sind die Basis der politischen Existenz der Genueser, der Quell ihres Reichthums.“120 An diesem Punkt verweist A auf England, das unter allen europäischen Staaten den erfolgreichsten Ackerbau habe und man in keinem anderen Land eine größere Marine und größeren Reichtum finden könne. Hierauf antwortet der Antiphysiokrat B, dass es sich hierbei lediglich um eine Koexistenz und nicht um eine Kausalverknüpfung handele. Selbst wenn zwischen Landwirtschaft und dem Reichtum der Briten ein Zusammenhang bestünde, sei dennoch die Frage: „[M]acht der Ackerbau in England die Marine so glänzend, und den Reichthum der Britten so überwiegend? oder, hat der Ackerbau daselbst seinen Flor den Manufakturen und dem Handel, als den Hauptursachen des britischen Nationalreichtums, zu danken? Mich dünkt, letzteres dürfte der wirkliche Fall seyn.“121 So habe Großbritannien der Landwirtschaft zwar einen Teil, aber nicht den größten Teil seines Reichtums zu verdanken. Die Produktion von Brot sei zwar für ein Land wichtig, da es sich hierbei weiterhin um „das erste Bedürfniß der Menschen“ handele. Dennoch scheint Brot, wie sich A und B einig sind, „nicht mehr so sehr, wie ehemals, den Grund des Reichthums der Staaten auszumachen.“122 Ausschlaggebend ist vielmehr die richtige Mischung, die sich aus einer ertragreichen Landwirtschaft und einem produktiven Handwerksbeziehungsweise Manufakturwesen ergebe. Auch kann B der physiokratischen Abgabe von 40%, die nur die Bauern aufgrund ihres reinen Ertrags zu leisten hätten, nichts abgewinnen. Geradezu empört spricht er sich gegen dieses „Übermaaß der Auflagen“ von einigen „seynwollenden Staatsmännern“ aus, die diese Steuer – nach seiner Interpretation – als „souveraines Mittel“ ansehen würden, um „den Landmann zum größtmöglichen Fleiße in Bearbei117 118 119 120 121 122
Ebd., S. 198 f. Ebd., S. 199. Ebd., S. 199 f. Ebd., S. 200. Ebd., S. 301. Ebd., S. 203.
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tung seiner Äcker zu zwingen, und dadurch den Ackerbau blühend zu machen.“ Es sei „[e]in abscheulicher Grundsatz“, diese Bürger zuerst arm zu machen, damit diese angetrieben würden, mehr zu arbeiten, um wenigstens etwas zu haben. Statt zu „gemeinnützige[r] Thätigkeit“ führe „Druck und Armuth viel leichter [zu] Trägkeit und Verzweiflung“.123 Bedürftigkeit mache arme Menschen nicht automatisch fleißig, was in der Natur des Menschen liege: „Wenn man aus Geiz oder Vorurtheil ihn die Früchte seines Fleißes und seiner Industrie nicht genießen läßt“, gehe er davon aus, „man werde ihn die Früchte seines verdoppelten Fleißes, seiner vermehrten Industrie, eben so wenig genießen lassen. Er arbeitet also lieber gar nicht, als ohne ein für ihn selbst fruchtbares Resultat.“124 Dieses Verhalten wird mit dem menschlichen Prinzip der Eigenliebe begründet.125 Während sich letztendlich beide Dialogpartner im Falle des Physiokratismus einig sind, dass Unterdrückung – egal „unter welchem prächtigen griechischen oder französischen Titel sie auch in ein System gebracht“126 wurde – niemals ein Mittel sein könnte, „die Menschen zu beglücken“,127 gehen ihre Meinungen bei der Frage, ob die Macht eines Staates von der Größe seiner Bevölkerung abhänge, wieder auseinander. So bringt A knapp die Formel der merkantilistischen Peuplierungspolitik auf den Punkt, nach welcher „von der Volksmenge die Macht eines Staates, und von dieser zum Theil seine mögliche Glückseligkeit“128 abhänge. Auch hierbei widerspricht B: Eine hohe Bevölkerung bedeute nicht gleichzeitig eine große Macht und gehe auch nicht automatisch mit dem Glück seiner Bewohner einher. „Wie glücklich müssten Franzosen, Chineser, Türken seyn? Glauben Sie, daß die Republikaner des heil. Marino, […] unglücklicher sind, als die Kalabresen und die Unterthanen des Pabstes, deren Beherrscher doch mächtiger sind, als das Völkchen von San-Marino?“129 Nicht die Größe einer Bevölkerung, sondern die „Glückseligkeit der vorhandenen Bürger – es mögen ihrer viel oder wenig seyn –“ müsse als „Endzweck des Staates angenommen werden.“130 Als glücklich seien nur „wohlgenährte[] Bürger“131 anzusehen. Hierdurch stelle die Zahl der Menschen, die durch die lokale Landwirtschaft ernährt werden könnten, auch die Grenze dar, über welche hinaus eine Bevölkerung erhöht werden könne. Auf keinen Fall könne diese Größe aufgrund der Endlichkeit der Landwirtschaft unendlich erweitert werden.
123 124 125 126 127 128 129 130 131
Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 204. Ebd., S. 205. Vgl. zu Knoblauchs Theorie der Selbst- bzw. Eigenliebe Kapitel 3.1.2.2. Ebd. Ebd., S. 206. Ebd., S. 208. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 210. Ebd.
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‚Glückliches Land, dessen Bewohner den Frost nicht fürchten dürfen!‘ Einen besonderen Stellenwert in Knoblauchs wirtschaftlichen Überlegungen, die im Vergleich zu Schmohls und Riems Darstellungen weniger systematisch ausfielen, nimmt der Erhalt der Wälder ein. So sind sich beide Gesprächspartner einig, dass nichts widersinniger sei, als „[d]em Ackerbau die Wälder auf[zu]opfern, damit das Land einige Menschen mehr kümmerlich ernähren“132 könne. Mit diesem Plädoyer für die Erhaltung der Wälder kommt Knoblauch gegen Ende des Dialoges zu einem seiner Lieblingsthemen: So stellt der idyllische, friedliche Wald einerseits ein beliebtes und häufig verwendetes Motiv in seinen Texten dar und zeugt davon, wie gerne sich der Philosoph Knoblauch in die ruhige Sicherheit der Wälder zurückzog.133 Andererseits ist die Erhaltung der Wälder für ihn auch aus wirtschaftlicher Sicht ein wichtiges Anliegen, da diese seiner Meinung nach für die Bevölkerung einen größeren Nutzen besitzen, als wenn sie in landwirtschaftliche Nutzfläche umgewandelt würden. So formulierte Knoblauch in vielen seiner Texte die Befürchtung, dass die „wenigen Wälder […], die uns in Europa noch übrig geblieben sind, […] bald zu Grunde gehen werden, da es bewiesen ist, daß sie nicht nach dem Maß der Holzkonsumzion wieder nachwachsen“.134 Während „es vor mehreren Jahrhunderten ein Verdienst war, Wälder auszurotten, um Platz zu Äckern und Wiesen, Städten und Dörfern zu gewinnen“ sei es nun im 18. Jahrhundert und in manchen Gegenden eher angebracht, neue Wälder anzupflanzen, um „das Wohl unserer Enkel zu befördern“.135 Dennoch sei es vor allem „die unselige Bemühung gewißer neuern Oekonomen [Physiokraten, Anm. M. L.] und Kameralisten, die Wälder immer kleiner zu machen, und ihren Boden in lauter Aecker und Wiesen zu verwandeln.“136 Sowohl der unüberlegte Umgang mit den Wäldern als auch der unreflektierte Holzverbrauch der Menschen erhöhe die Nachfrage nach Holz. Da diese nicht mehr gedeckt werden könne, führe dies wiederum zu hohen Holzpreisen. Hierdurch ergebe sich für die Bevölkerung die gleiche Gefahr, die auch durch zu wenig – und dadurch zu teure – Nahrung entstehe: „Hätten wir mehr Holz, so würde dieses unentbehrliche Produkt wolfeiler seyn. Wäre es wohlfeiler, so würden in unsern gräulichen Wintern weniger Elende erfrieren.“137 Indem das Erfrieren „fast eine eben so
132 Ebd., S. 213 f. 133 So habe er sein Studienjahr in Gießen größtenteils phantasierend in einem Wäldchen verbracht. Vgl. Kapitel 2.2.2. 134 Karl von Knoblauch: Politisch philosophische Gespräche. Beschluß des Gesprächs: Die Wälder. In: Der neue Teutsche Merkur 2 (1792), S. 329–340, hier S. 338. 135 Ders.: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 215. 136 Ders.: Xiphilin an Damöt. Den 23 Eismond. In: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 111–114, hier S. 111 – Während Knoblauchs Argumentation aus heutiger Sicht als äußerst nachhaltig und ‚modern‘ erscheint, wird diese Aussage von Zeitgenossen – und nicht nur von Physiokraten – wohl eher als rückständig angesehen worden sein. 137 Ebd., S. 111 f.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
schlimme Sache, wie das Hungerleiden“138 darstelle, werde Holz nach Nahrung zur zweitwichtigsten Notwendigkeit für das Überleben der Menschen. Statt mit Holz mit Steinkohle zu heizen, sei, wie Knoblauch in einem Gespräch zwischen dem Baron und dem Marquis schreibt, auch keine Lösung: „Ist nicht der Steinkohlendampf eine Hauptursache von der Schwindsucht so vieler Engländer?“139 Zudem sei es nicht „so gewiß, daß die fossilen Kohlen sich überall in einer großen, dem Bedürfniß proportionierten Menge finden“140 würden. Dasselbe gelte für Torf. Zwischenfazit: Wirtschafts- und Handelssystem Auch wenn Knoblauch keine systematischen Überlegungen zur Wirtschaftstheorie anstellte, wird dennoch deutlich, dass er sich weder als Anhänger der Physiokraten noch der Kameralisten verstand. Knoblauch widersprach sowohl den physiokratischen als auch den kameralistischen Hypothesen, welche Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaft eines Landes vonnöten seien. So könne nicht nach dem Ansatz der Kameralisten die Wirtschaftsleistung und Macht eines Landes durch den Versuch vergrößert werden, zusätzliche Bürger als Arbeitskräfte im eigenen Land anzusiedeln. Wenn ein Land nicht in der Lage sei, diese zusätzliche Bevölkerung zu ernähren, würde nicht das Glück vergrößert, sondern durch den Nahrungsmangel bloß das Unglück des Landes. Da nach Knoblauchs Ansicht das Wohlergehen beziehungsweise das Glück der Bürger das oberste Ziel eines Staates darstellte, sei eine solche kameralistische Maßnahme weder für das Land noch für dessen Wirtschaft zielführend. Auch könne ein Land nicht durch die alleinige Förderung der Landwirtschaft in seiner wirtschaftlichen Macht gestärkt werden, da diese niemals nur der Landwirtschaft entspringe. Hierfür seien die Niederlande beispielhaft, deren landwirtschaftliche Erzeugnisse nur für das Nötigste ausreichen, aber das Land und seine Bevölkerung dennoch sehr wohlhabend, zufrieden und mächtig sei. Beide Maßnahmen, die Peuplierungspolitik der Kameralisten und die physiokratische Vergrößerung der Landwirtschaft, trügen zudem zu einer Geringschätzung und Vernichtung der Wälder eines Landes bei. Hierbei handelte es sich für Knoblauch nicht (nur) um ein sentimentales Bedauern des Verschwindens idyllischer Wälder, sondern – da für ihn der Schutz vor Kälte unmittelbar der Notwendigkeit der Nahrungsversorgung folgte – um eine existenzielle Furcht, die seiner Ansicht nach die gesamte Bevölkerung eines durchschnittlich kühlen Landes betreffen konnte. Da Holz sehr lange wachsen muss, bevor es die menschlichen Bedürfnisse befriedigen kann, kritisierte er somit den unüberlegten, kurzsichtigen und dadurch wenig nachhaltigen Verbrauch von Wäldern. Für ebenso kurzsichtig hält er den Versuch, Brennholz durch Steinkohle zu ersetzen: Seiner Meinung nach ist einer138 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 15. 139 Ebd., S. 18 f. 140 Ebd., S. 19.
3.3 Wirtschafts- und Handelssystem
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seits nicht gewährleistet, dass es hiervon genug gibt. Andererseits war er skeptisch, ob die Belastung der Umwelt, die durch das Verbrennen von Kohle entstehe, nicht zu stark die menschliche Gesundheit belaste. Einen entsprechenden Beleg für diese Befürchtung meinte er in England zu sehen. Mit weiteren Feldern der Wirtschaft eines Landes, beispielsweise der Freiheit des Handels und der damit verbundenen Abschaffung von Zöllen, beschäftigte sich Knoblauch nicht. Im Bezug auf die Abgaben, die Bürger in einem Land zu leisten hatten, kritisiert er lediglich die physiokratische Abgabe, die sich nur auf die Bauern beschränkte, als ungerecht. Ein alternatives System, das seiner Ansicht nach zu mehr Steuergerechtigkeit beitragen könnte, entwirft Knoblauch nicht. Somit gibt es kaum Parallelen zu den Darstellungen von Andreas Riem und Johann Christian Schmohl. Schmohl und Riem waren in ihrem Blick auf Wirtschaft und Handel stark durch die Nationalökonomie Adam Smiths beeinflusst. Auch wenn Smiths Schrift kurz nach ihrer Veröffentlichung 1776 in deutscher Übersetzung erschien und sich diese erste Auflage sehr gut verkaufte, setzte die breite öffentliche Diskussion der Smith’schen Thesen erst viel später in den 1790er-Jahren ein. Ihren Höhepunkt erreichte sie in Deutschland jedoch erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.141 Mit Blick auf diesen zeitlichen Aspekt ist es daher nicht überraschend, dass sich Riem, dessen Werke zu diesem Thema zwischen 1796 und 1801 erschienen, auf Adam Smiths Nationalökonomie berief. Auch inhaltlich konnte er sich bei seinem Plädoyer für Freihandel und der Kritik des britischen Wirtschaftssystems auf Smiths Aussagen stützen, da dieser selbst sein Werk in erster Linie „als scharfen Angriff auf das ganze britische Handelssystem“142 verstand. Wie viele andere Autoren dieser Zeit reihte sich Riem somit in den vorherrschenden Konsens für Handelsfreiheit und gegen die als irrational empfundenen Wirtschaftsinterventionen der kameralistischen Staaten ein. Neben vielen anderen von Smith behandelten Themen verhalf vor allem dieser breite inhaltliche Konsens der Nationalökonomie zu großer Popularität.143 Johann Christian Schmohl zählte hingegen durch seine frühe Beschäftigung mit Adam Smiths Nationalökonomie nicht nur zu einem der ersten Schriftsteller im deutschsprachigen Raum, der von dessen Wirtschaftsphilosophie Kenntnis nahm und sie in seinen Texten behandelte, sondern auch zu einem der ersten, der Smiths Theorie in den von ihm behandelten Aspekten auch korrekt wiedergegeben und – was sich darauf aufbauend schließen lässt – verstanden hatte. Wie für Smith entsteht nach Schmohls Theorie Wert erst aus geleisteter Arbeit. Somit ist er der „erste[] deutsche[] Wirtschaftstheoretiker“, der Wert unabhängig von Materiellem, 141 Vgl. Norbert Waszek: Adam Smith in Germany, 1776–1832. In: Hiroshi Mizuta u. Chuhei Sugiyama (Hg.): Adam Smith. International Perspectives. Houndmills u. London 1993, S. 163–180, hier S. 165–168; Karl Ballestrem: Adam Smith. München 2001, S. 183–185. 142 Ebd., S. 183. 143 Vgl. ebd., S. 183 f.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
„sondern wie Adam Smith allein aus der Arbeit definierte.“144 Dennoch schließt er sich nicht einfach Smith an und hält den Physiokraten entgegen, dass alle Arbeit, die einem Produkt Wert hinzufügt, produktiv ist, sondern sieht ebenfalls – in Smiths Augen unproduktive – Dienstleistungen als wertvoll beziehungsweise mit Blick auf die Gesamtwirtschaft als unbedingt notwendig an: Ohne Lehrer würde niemand lernen, mit seinem Besitz vernünftig umzugehen; ohne Richter würden Konflikte ausufern und im schlimmsten Fall Menschen nachhaltig geschädigt. Daher ist für ihn eine als Dienst geleistete Arbeit nicht einfach „weg, […] sobald sie geschehen ist, ohne daß die geringste Spur davon übrig bleibt.“145 Sie ist vielmehr integraler Bestandteil eines Wirtschaftssystems, zu welchem ebenso die Arbeit der Bauern und die Arbeit der Handwerker gehört. Sie alle tragen dazu bei, dieses komplexe Wirtschaftsgefüge zu ermöglichen und aufrecht zu erhalten. Daher kann keine der jeweilig notwendigen Arbeiten als wertvoller über die andere gestellt werden. Von einer Radikalität im Sinne einer grenzenlosen Kritik zeugen in diesem Sinne vor allem Schmohls wirtschaftliche Überlegungen. Weder schließt er sich den Kameralisten oder den Physiokraten als populäre, zu seiner Zeit vorherrschenden Wirtschaftspolitiken oder -theorien an. Noch verwirft er die kameralistischen oder physiokratischen Thesen ungeprüft: So kann er beispielsweise Jakob Mauvillons Forderung nach einer Privatisierung von Schul- und Universitätsbildung zustimmen.146 Auch übernimmt Schmohl nicht einfach Adam Smiths Theorie und dessen Kritik am Physiokratismus oder Kameralismus. Stattdessen unterzieht er auch dessen Aussagen einer kritischen Prüfung und entwickelt das bei Smith angeführte Arbeits- und Wertverständnis weiter und wendet es, wie oben dargestellt, auf seine eigene Sichtweise des Wirtschaftssystems an. Entsprechend spricht sich Schmohl auch für eine Freiheit des Handels aus. Seine Kritik eines protektionistischen Handels ähnelt den Aussagen Andreas Riems: Im Falle von Schutzzöllen seien vor allem die Bürger die Leidtragenden, sodass ein Fürst, der entsprechende Handelsschranken aufbaue, sein eigenes Volk bestehle. Hierbei bedenkt Schmohl im Gegensatz zu Riem die persönlichen und oft auch egoistischen Interessen der Menschen. Genauso, wie er die Menschen durch diesen 144 Niedermeier: Philanthrop (wie Anm. 22, S. 19), S. 243. 145 Schmohl: Antiphysiokratische Briefe (wie Anm. 99, S. 31), S. 117. 146 Diese staatlichen Einrichtungen seien nach Mauvillons Meinung aufgrund der Verbeamtung von Lehrern und Professoren nicht so effektiv, wie wenn diese nach ihrer Leistung bezahlt würden: „Ich bin fest überzeugt daß wenn man das Erziehungsgeschäft der eignen Industrie überliesse; wenn man weder Professoren, noch Rektoren und Konrektoren, weder öffentliche Schulen noch Universitäten hätte; wenn der Staat das Geld, das er dafür ausgiebt, in die Hände der Privatpersonen liesse, um die Lehrer der Kinder nach Verdienst und nach der Konkurrenz zu belohnen, so würde dieses Geschäft einen ganz andern und viel vortreflichern Schwung bekommen. Die Industrie würde solche Methoden erfinden, alles so sehr auf das wahre Nützliche und Brauchbare bringen, daß viel mehrere Menschen das Licht wahrer und nützlicher Wissenschaften erlangen könnten; daß die allermeisten es viel weiter darinn bringen würden als heut zu Tage geschiehet, wo ein Lehrer seinen Gehalt immer fort bekömmt, und gleich bequem lebt, seine Schüler mögen viel oder wenig bey ihm lernen[.]“ Mauvillon: Physiokratische Briefe (wie Anm. 17, S. 370), S. 265 f.
3.3 Wirtschafts- und Handelssystem
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manchmal auftretenden Egoismus nicht zu vollkommener politischer Freiheit in der Lage sieht, hält er sie ebenfalls nicht zu völliger Freiheit im Handel fähig, wodurch eventuell weiterhin Handelsbeschränkungen benötigt würden. Doch auch Riems Überlegungen enthalten radikale Aspekte: So konzentriert er sich hinsichtlich der Steuerpolitik vor allem darauf, dass arme Teile der Bevölkerung nicht weiter in Armut getrieben werden. Seine Kritik wendet sich vor allem gegen bestehende Steuersysteme; ausführlich demonstriert er die Ungerechtigkeit der indirekten Steuererhebung Großbritanniens, was problemlos auch auf andere europäische Länder und steuerpolitische Entwicklungen seiner Zeit angewendet werden konnte: So führte die französische Republik 1798, im Erscheinungsjahr des England-Reiseberichtes, ebenfalls eine Fenstersteuer ein, die Riem in seinem Reisebericht als indirekte Steuer kritisierte, da sie vor allem Landbewohner diskriminiere.147 Riems Alternativkonzept sah einen progressiven Steuersatz vor, der erst ab einem bestimmten Vermögen oder Einkommen zu zahlen war. Möglicherweise hätte Riem diesen Ansatz in der britischen Steuerreform von 1798 verwirklicht gesehen. Deren „Grundkonzeption war so neuartig mit der Deklarationspflicht eines persö nlichen Gesamteinkommens, dem steuerfreien Existenzminimum, […] dem progressiven Steuersatz und vor allem mit der Besteuerung von Kapitaleinkü nften, daß dieser Steuertyp in Europa letztlich erst im spä ten 19. und frü hen 20. Jahrhundert durchsetzbar war.“ Erst zu dieser Zeit führte die Entwicklung der europäischen Steuersysteme dazu, dass erstmals „eine Steuer derart auf das persö nliche Einkommen eines steuerpflichtigen Individuums zugeschnitten [war]: Das liberale Prinzip der Individualisierung war in das ö ffentliche Finanzwesen eingedrungen.“148 Vermutlich hätte Riem eine derartige Reform William Pitts, den er in seinen Schriften mit leidenschaftlichem Hass überzog, dennoch niemals mit lobenden Worten erwähnt.
147 Vgl. Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 74 f.; zur französischen Tür- und Fenstersteuer vgl. Schremmer: Steuern (wie Anm. 11, S. 369), S. 80 f. 148 Ebd., S. 22.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
3.4 Politische Ordnung Aufgrund der zahlreichen politischen Umbrüche gegen Ende des 18. Jahrhunderts bot sich besonders dieser Bereich als ein reichhaltiges Feld aufgeklärt-kritischer Betätigung an. Entsprechend unterschiedlich sind die Themenbereiche, mit welchen sich die drei Autoren beschäftigten: Sie reflektierten das zeitgenössische politische und juristische System mit seinen garantierten oder nicht gewährten Rechten und Freiheiten. Mit Blick auf die revolutionären Umstürze stellten sie die Frage nach deren Legitimität und erörterten, welches politische System ihrer Ansicht nach ein Ideal darstellen könnte. Da die Meinungen der drei Aufklärer von tagespolitischen Erlebnissen geprägt wurden und sich unter diesem Eindruck (weiter-)entwickelten, werden besonders in diesem Bereich Veränderungen ihrer politischen Überzeugung deutlicher zutage treten, als es in den vorherigen Kapiteln der Fall war. Gleichzeitig sind die Parallelen zu den zuvor betrachteten Themenbereichen beträchtlich, indem beispielsweise eine veränderte politische Ordnung eine Veränderung innerhalb der Gesellschaftsstruktur (und umgekehrt) bedingen kann. Hierdurch sind Aussagen zum politischen System nicht immer trennscharf von denen zur Gesellschaft zu unterscheiden. Da weder Johann Christian Schmohl noch Andreas Riem oder Karl von Knoblauch ein öffentliches Amt bekleideten, blieben ihre Möglichkeiten der politischen Betätigung auf die Versuche schriftlicher Einflussnahme beschränkt. Sie verharrten damit – wie auch bei ihrer Beschreibung der politischen Ereignisse – in der Rolle des beschreibenden und reflektierenden – also: philosophierenden – Beobachters. 3.4.1 Rechte, Freiheiten und deren Einschrä nkung Als studierter Jurist und in seiner täglichen Arbeit setzte sich Karl von Knoblauch ausführlich mit rechtsphilosophischen Themen auseinander. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete dabei stets das Naturrecht, dessen Hauptaufgabe gegen Ende des 18. Jahrhunderts vor allem in der „genaue[n] Bestimmung des Verhä ltnisses zwischen Staat und Bü rger“1 gesehen wurde. Die Einschränkung eines dem Menschen natürlicherweise zustehenden Rechts vonseiten eines Staates wurde hierbei von Knoblauch als unzulässig angesehen. Die Untersuchung des Naturrechts handelte für ihn von der Lehre „der natürlichen angebornen und unveräußerlichen Rechte des Menschen – die ihm als Mensch, nicht als Bürger oder Mitglied dieser oder jener politischen Gesellschaft, mithin unabhängig von willkührlichen Verträgen, menschlichen Concessionen und positiven Gesetzen, zukommen“.2 Für Rechte und Freiheiten, die nicht durch diese natürliche Grundlage begründet werden konnten, galt eine solche Sonderstellung nicht. Bei diesen wurde es somit nicht als Ver1 2
Diethelm Klippel: Naturrecht/Rechtsphilosophie. In: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Stuttgart 2015, S. 371–384, hier S. 375. Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 169, Hervorh. i. Orig.
https://doi.org/10.1515/9783110693102-012
3.4 Politische Ordnung
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stoß gegen das Naturrecht angesehen, wenn sie durch Gesetze eingeschränkt oder sogar vollständig verwehrt wurden. Karl von Knoblauch: Die Urrechte der Menschheit Karl von Knoblauch war es daher ein besonderes Anliegen, die Menschenrechte, wie er sie schon 1786 bezeichnete, naturrechtlich zu begründen und sie somit gegen eine Beschränkung zu schützen. Die Menschenrechte selbst werden von ihm auf ein einfaches „physisches Faktum – auf [die] Existenz selbst“ zurückgeführt und damit begründet. Durch seine bloße Existenz sei der Mensch berechtigt, sich „in seinem bestimmten Seyn [zu] erhalten.“ Hiermit legitimiert Knoblauch den menschlichen „Erhaltungstrieb“ als „der erste, der wesentlichste in unserer Natur“, der damit „den allgemeinen und besondern Naturgesezzen gemäß“ sei und „also im höchsten philosophischen Verstand [als] legal“3 angesehen werden müsste. Ähnlich wie Locke ist nach Knoblauchs Argumentation die Existenz des Menschen und die Erhaltung dieser Existenz grundlegend für seine Begründung der Menschenrechte. Das Recht der Selbsterhaltung ergibt sich bei Knoblauch jedoch direkt aus der Tatsache der menschlichen Existenz, während es sich bei Locke um eine Verpflichtung gegenüber dem göttlichen Schöpfer handelt, dessen Absicht in Bezug auf die gesamte Menschheit nicht zuwidergehandelt werden dürfe.4 Aufgrund seiner Natürlichkeit wird das Recht zur Selbsterhaltung von Knoblauch als „[u]nveräußerlich“ bewertet: „So lang ich mich fühle, so lang bleibt mein Recht, dem primitivsten aller Instinkte gemäs zu handeln, das ist, mich zu erhalten.“5 Indem dieses Recht einem Menschen von Natur aus zusteht und es ihm also nicht von anderen Menschen gewährt wurde, kann es ihm auch nicht durch andere Menschen genommen werden. Alle Gesetze, Verordnungen und Verträge, die dies versuchten, verlören aufgrund dieses Verstoßes automatisch ihre Gültigkeit. Ein Mensch könne diese Rechte, wie Knoblauch noch 1792 betont, ebenfalls nicht durch seine Zugehörigkeit zu einer bürgerlichen Gesellschaft verlieren. Stattdessen stellen die natürlichen Menschenrechte für Knoblauch eine conditio sine qua non der bürgerlichen Existenz dar: „Ich könnte Mensch seyn, ohne Bürger zu seyn. Aber Bürger kann ich nicht seyn, ohne Mensch zu seyn.“ Auch geht das Recht zur Selbsterhaltung mit dem Recht zur Selbstverteidigung einher, also dem Recht, „Uebel von sich abzuhalten, welche sich der Erreichung jenes naturgesetzmäßigen Zwecks – d. i. der Selbsterhaltung, widersetzen“.6 Während diese Ausführungen schon in Knoblauchs 1786 erschienenen Artikeln enthalten sind und sich ebenfalls in seinen 1792 veröffentlichten Überlegungen fin3 4
5 6
Ders.: Erste Menschenrechte (wie Anm. 302, S. 65), S. 153. Vgl. Sebastian Laukötter u. Ludwig Siep: John Locke. In: Arnd Pollmann u. Georg Lohmann (Hg.): Menschenrechte. Stuttgart 2012, S. 30–36, hier S. 31; Jürgen Hüllen: Die Entstehung des individualistischen (personenhaften) Naturrechtsdenkens: John Milton und John Locke als Wegbereiter. In: Menschenrechte. Berlin 1981, S. 71–79, hier S. 76 f. Knoblauch: Erste Menschenrechte (wie Anm. 302, S. 65), S. 153. Ders.: Rechte (wie Anm. 329, S. 311), S. 427, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
den lassen, leitet er in diesem späteren Artikel aus dem Selbsterhaltungsrecht weitere, damit zusammenhängende Rechte ab. So habe man, wenn man das Recht besitze, sich selbst zu erhalten, ebenfalls das Recht, „sich diejenigen Güter zu verschaffen, ohne welche wir nicht leben und uns erhalten können.“7 Hierbei argumentiert Knoblauch, dass trotz eines natürlichen Selbsterhaltungsrechts dessen Zweck – die Selbsterhaltung – nicht erreicht werden kann, wenn man nicht die Möglichkeit hat, an notwendige Güter zu gelangen oder man nicht berechtigt ist, diese auch zu verwenden. Ebenfalls müsse man die Möglichkeit haben, Übel zu vermeiden. Unter den notwendigen Gütern versteht Knoblauch nicht nur Waren, die wie Lebensmittel zur Lebenserhaltung benötigt werden. Stattdessen falle hierunter alles, „was unserm Zwecke gemäß ist, [und] was unsern (äußern oder innern) Zustand vollkommner machen kann.“ Als Übel versteht er hingegen all das, was dem „Urzwecke hinderlich ist, oder unsern Zustand unvollkommner macht.“ Hierdurch existiert für Knoblauch neben dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb ein „Vervollkommnungstrieb“, der analog „das Recht sich zu vervollkommnen“8 miteinschließt. Auch dieser Aspekt stellt eine Parallele zu John Locke dar, nach dessen Theorie die Selbsterhaltung den Menschen ebenfalls berechtige, sich „so viel an ä ußeren Dingen anzueignen, wie fü r seine Selbsterhaltung notwendig und fü r die der Anderen nicht schä dlich“9 sei. Da die Vervollkommnung bei Knoblauch sowohl innerlich als auch äußerlich vollzogen wird, handelt es sich bei ihm jedoch nicht nur um materielle – äußere – Dinge, die hier herangezogen werden und unter denen Knoblauch eine vollkommene Existenz versteht. Stattdessen zählt er hierunter auch immaterielle – innere – Werte, wie beispielsweise die Bildung, die dazu beiträgt, einen Menschen vollkommener zu machen. Dass jeder Mensch diese natürlichen Rechte in gleichem Maße besitzt, betont Knoblauch in jedem seiner Artikel ausdrücklich: So seien „alle Menschen in Ansehung dieser primitiven und inalienabeln [unveräußerlichen, Anm. M. L.] Rechte einender völlig gleich […], weil sich hier gar kein Grund irgend einer Ungleichheit denken läßt.“ Da die Menschenrechte „dem Menschen als Menschen“ zustehen und nicht „von den Graden oder Einschränkungen seiner Kraft“ abhängen, ist es nicht möglich, dass ein Mensch mehr Menschenrechte als ein anderer hat: „Wäre der eine an Kräften ein Lilliputter, und der andere ein Gigant, oder Hercules, so wäre doch der Lilliputter nicht weniger Mensch, als der kraftvolle Coloß.“10 Dies habe ebenfalls, wie Knoblauch ausdrücklich hervorhebt, für die verschiedenen Ethnien und sozialen Herkünfte Geltung, da „[a]lle Menschen, von einem Pol bis zum anderen, […] in Ansehung dieser bisher erwiesenen Rechte […] gleich“11 seien. 7 8 9 10 11
Knoblauch: Rechte (wie Anm. 329, S. 311), S. 427, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 430, Hervorh. i. Orig. Laukötter u. Siep: Locke (wie Anm. 4, S. 399), S. 31. Knoblauch: Rechte (wie Anm. 329, S. 311), S. 428, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 437.
3.4 Politische Ordnung
401
Zum Zweck der Vervollkommnung werden, wie Knoblauch in den Politisch-philosophischen Gesprächen ausführt, die Gesellschaft und der Staat benötigt. Beide sind jedoch „nicht Zweck, sondern Mittel“,12 um das Ziel der Vervollkommnung zu erreichen. Knoblauch macht in diesem Zusammenhang auch deutlich, dass der Staat als Mittel dem Zweck – die Selbsterhaltung und -vervollkommnung des Menschen – stets untergeordnet ist. Hierdurch entfällt ein Aspekt, der sich noch in Knoblauchs frühen Artikeln finden lässt. So führte Knoblauch noch 1786 an, dass auch ein Staat eine „moralische Person“ darstelle, die ebenfalls das Recht besitze, „sich in [ihrem] bestimmten Seyn zu erhalten, welches jede physische Person im Naturstande, unabhängig von allen Verordnungen und Verträgen, hat.“ Demnach besitze der Staat – wie jeder Mensch – ein Selbstverteidigungsrecht, das es ihm erlaube, „böse, gefährliche Bürger in gewißen – obgleich ziemlich seltnen – Fällen (z.E. wenn seine Erhaltung es durchaus nothwendig macht), zu tödten.“ In einem solchen Falle gerieten die Rechte des Staates mit denen „des Einzelnen [in] Kollision“ und der Staat sollte „sich Selbst einem Einzelne[n], das Ganze dem Theil, vorziehen dörfen“.13 Dieses Personifizierung des Staates deutet darauf hin, dass Knoblauch zu diesem Zeitpunkt eher zu einem klassisch aufgeklärt-absolutistischen Staatsverständnis tendierte. Es ging von der Übertragung der Herrschaftsgewalt an einen Souverän aus, der damit beauftragt wurde, die „gemeinschaftliche[] Sicherheit und Wohlfahrt, ja ‚Glückseligkeit‘“14 aller Untertanen und somit des gesamten Staates zu fördern. Hierdurch wurde „dem staatlichen Gestaltungswillen Tür und Tor“ geöffnet, sodass nach Ansicht der „meisten ‚älteren‘ deutschen Naturrechtler“ der Staat damit die Aufgabe hatte, „alles zur Erreichung dieses gemeinschaftlichen Zweckes Nötige zu tun, wobei dem einzelnen Untertanen über die Angemessenheit der Mittel kein Mitspracherecht zugestanden wurde.“15 Dies entspricht Knoblauchs Auffassung von 1786: Hier ist die staatliche Gewalt berechtigt, das Glück eines Einzelnen zu zerstören – das heißt: ihn zu töten –, wenn dieser einzelne Mensch ‚böse‘ ist und eine Gefahr für das Wohl des Staates und damit für alle Untertanen darstellt. Auch wenn hierbei das Ziel des Einzelnen, das eigene Überleben, in ‚Kollision‘ mit den Interessen des Staates gerät, muss sich der Staat durchsetzen und verteidigen. Zwar werden auch in Knoblauchs späten Artikeln unterschiedliche Interessen thematisiert, die miteinander in ‚Kollision‘ geraten. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen Konflikt zwischen mächtigem Staat und einzelnem Menschen, sondern um die miteinander konkurrierenden Interessen zweier Menschen: Befinden sich diese in einer Situation, in welcher nur einer von beiden überleben kann, aber beide durch ihr natürliches Recht „zum Seyn gleich berechtigt[]“ sind, ergibt sich hieraus eine Pattsituation: 12 13 14 15
Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 173. Ders.: Erste Menschenrechte (wie Anm. 302, S. 65), S. 158. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 202. Ebd., S. 202 f.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Die Rechte (der beiden Personen), welche, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit gleichen Kräften gegen einander wirken, hindern sich einander gegenseitig und befinden sich im Gleichgewicht. Auf keiner Seite kann das Recht des einen oder andern durch einen homogenen Zusatz verstärkt, d. h. seine intensive Größe vermehrt werden.16
Damit dieser Konflikt aufgelöst werde, müsse ein heterogener Faktor hinzukommen: „Dieses dazwischen tretende Heterogene ist die Stärke.“ Da in diesem Szenario „die größere Kraft obsieg[e]“, entstehe eine „Ungleichheit der Kräfte“ sowie eine „Unsicherheit des Schwächern“, welche letztendlich „die Menschen in den Staat“17 treibe. Dieser klassische Staat wende nun „seine, aus vielen vereinigten Kräften resultirende, und von Einem Interesse zu Einem Zweck dirigirte Macht zur Beschützung des Schwächern gegen die Usurpation des Stärkern“18 an. Nach diesem Konzept hat folglich der Staat nicht mehr die ausschließliche Funktion, mit allen Mitteln für das größtmögliche Glück seiner Glieder zu sorgen, was letztendlich auch das Unglück einiger seiner Teile zur Folge haben könnte. Stattdessen ist nun die Sicherung der natürlichen Rechte aller zu diesem Staat gehörigen Menschen das ausgesprochene Ziel staatlicher Politik. Hierbei wandte sich Knoblauch der Konzeption eines liberalen Staatszweckes nach John Locke zu. Nach diesem liberalen Verständnis war der Staat zur Sicherung des Lebens jedes seiner Mitglieder geschaffen worden. Sein Zweck bestand einerseits in der „Sicherung der Freiheitsrechte, insbesondere des Lebens und des Eigentums des Einzelnen“.19 Andererseits musste der Staat den guten „Umgang der Bürger miteinander durch gesetzlichen Zwang“20 gewährleisten.21 Für Knoblauch stand vor allem die Sicherung des persönlichen Besitzes im Vordergrund des Staatszweckes: „In der That, der einzige Beweggrund, entweder in den Staat zu treten, oder, wenn man darin ist, darin zu bleiben, scheint mir die gehoffte Sicherheit und Unverletzlichkeit meines Eigenthums zu seyn.“22 Könnte hingegen der Staat willkürlich das Eigentum nehmen oder geben, „so befinde ich mich im Walde, oder unter den Naturmenschen des ehrlichen Hans Jakob von Genf [Jean-Jacques Rousseau, Anm. M. L.], wenigstens eben so gut.“23 Nach dieser liberalen Staatsvorstellung war es für Knoblauch schwer vorstellbar, das natürliche Recht eines einzelnen Menschen dem Interesse des gesamten Staates mit der – möglicherweise willkürlich getroffenen – Begründung unterzuordnen, er stelle für den Staat eine Gefahr dar. Hierbei verletze der Staat seinen ursprünglichen Zweck, zu welchem die Menschen ihn gegründet hätten, nämlich 16 17 18 19 20 21 22 23
Knoblauch: Rechte (wie Anm. 329, S. 311), S. 440, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 441, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 441 f., Hervorh. i. Orig. Klippel: Naturrecht (wie Anm. 1, S. 398), S. 376. Hüllen: Entstehung (wie Anm. 4, S. 399), S. 74. Vgl. hierzu die ebenfalls auf Locke basierende Sichtweise Kants: Richter: Was ist Freiheit? (wie Anm. 1, S. 365), S. 73–76. Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 188 f. Ebd., S. 189.
3.4 Politische Ordnung
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das natürliche Recht jedes Einzelnen zu schützen. Da sich die natürlichen Rechte weder „durch Verträge und willkührliche Concessionen, [noch] Gewalt“ einschränken oder nehmen ließen, war es für Knoblauch undenkbar, dass man seinen „unveräußerlich[en]“ Rechten einerseits selbst entsage oder sie andererseits „in der bürgerlichen Gesellschaft, die nur zum Schutze und zur Sicherstellung jener der Menschheit so wichtigen Rechte zusammengetreten ist“,24 verliere. Hierbei steht der Schutz des Einzelnen deutlich über der Existenz des Staates, der seine Existenzberechtigung schließlich nur aus ebendiesem Schutz herleitet. Dennoch besaß der Staat weiterhin das Recht, sich selbst zu verteidigen und „Beleidiger zu strafen.“25 So stelle die „Übertretung der Gesetze, die dem Zweck des Staates als Mittel untergeordnet“ seien, eine „Beleidigung der ganzen, zu jenem Zwecke vereinigten, Gesellschaft“26 dar und müsse daher auch geahndet werden.27 Auch andere Texte dieser Zeit zeugen von Knoblauchs allgemeiner Skepsis gegenüber staatlicher Ordnung und inwiefern sie die Rechte ihrer Untertanen zu schützen bereit waren. So wird von dem aus Frankreich stammenden Marquis in einem Dialog zur Bewertung des stehenden Heeres, auf welches im späteren Verlauf genauer eingegangen werden soll,28 die Maxime des ‚allgemeinen Besten‘, nach welchem ein Staat zu streben habe, eindeutig negativ bewertet: Durch dieses Diktum werde es ermöglicht, willkürliche und unrechtmäßige Taten gegen die Freiheit der Bürger augenscheinlich zu legitimieren. So schütze zwar eine stehende Miliz innerhalb eines Staates vor „Empörungen, Räubereien, Mord, Gewaltthätigkeiten“, was insgesamt „die Straßen sicherer“ mache. Dennoch schütze sie das Volk nicht „[g]egen Eine Art von Räubern“, die eine weitaus „gefährlichere Sorte“ darstelle: Diese würden „den Völkern ihre Rechte und Privilegien, unter dem Prätext des gemeinen Besten, rauben, und diese Völker, wenn sie es wagen sich der Usurpation zu widersetzen, aus zärtlicher Liebe zu erdrücken drohen“.29 Diese Aussage kann nicht direkt mit den Ereignissen der Französischen Revolution in Verbindung gebracht werden, da die Terreur 30 der Jakobiner, die ihre Terrorherrschaft ebenfalls mit der Durchsetzung des allgemeinen Willens (Volonté générale) zum Allgemeinwohl der bisher unterdrückten Mehrheit rechtfertigten, erst Mit24 25 26 27 28 29 30
Knoblauch: Rechte (wie Anm. 329, S. 311), S. 442, Hervorh. i. Orig. Ders.: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 132. Ebd., S. 132 f. Knoblauch lehnte als Ahndung frühneuzeitliche ‚Ersatzstrafen‘ in Form von lebenslänglicher Arbeit als besonders grausame Alternative zur Todesstrafe ab, wie auch auf den nachfolgenden Seiten des Kapitels erläutert wird. Vgl. Kapitel 3.4.2.2. Ebd., S. 72, Hervorh. i. Orig. Zum Begriff der Terreur, zu dessen Entwicklung und vor allem der Instrumentalisierung der Terreur als Symbol, das fälschlicher Weise und verkürzend mit der gesamten Französischen Revolution gleichgesetzt wird, vgl. Jean-Clément Martin: Repräsentationen der terreur. In: Barbara Stollberg-Rilinger, Tim Neu u. Christina Brauner (Hg.): Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. Köln 2013, S. 201–218.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
te 1793 begann.31 Dennoch scheint ein indirekter Einfluss der Revolution – der sich jedoch unmittelbar auf Knoblauch auswirkte – zu seiner veränderten Wertung der Ziele eines Staates geführt zu haben, indem er selbst zum Opfer staatlicher Überwachungsmaßnahmen wurde. Diese waren aus Angst vor angeblich revolutionären Umtrieben in einigen deutschen Ländern initiiert worden. Durch die Korrespondenz mit seinem Briefpartner Jakob Mauvillon geriet auch Knoblauch aufgrund eines abgefangenen Briefes in den Kreis der Verdächtigen.32 In seinen Artikeln, die er zu diesem Fall veröffentliche, argumentierte Knoblauch streng mit der „Beschützung [des] Eigenthumsrecht[s]“, welche „die erste Pflicht des Staates“ darstelle: So stelle es „einen schrecklichen Eingrif in das geheiligte Eigenthumsrecht des Einzelnen, in die Rechte des Menschen und des Bürgers“33 dar, wenn ein Staat die Briefe als Eigentum dessen, der sie geschrieben habe, öffne und unterschlage. Auch in diesem Zusammenhang macht Knoblauch deutlich, dass der Staat niemals über den natürlichen Menschenrechten des Einzelnen stehen könne: So dürfe „die Landesherrschaftliche Aufsicht“ sich nie „weiter erstrecken, als es – die Sicherheit des Staates“34 erfordere. So könne es zwar Fälle geben, in denen es einem Staat erlaubt werden könne, „Briefe zu eröfnen, d. h. eine Ausnahme von der allgemeinen Regel zu machen, daß die Heiligkeit der Posten unverlezt, und die Privatkorrespondenz, so wie jedes andere Eigenthum des Bürgers, gesichert bleiben müsse“.35 Dennoch müsse hierbei der starke Verdacht vorausgesetzt werden, „daß der Verfasser des Briefes eine Unternehmung gegen den Staat intendiert habe“, die eine solche Verletzung des Privateigentums rechtfertige. Keinesfalls dürfe dieser Verdacht bloß „aus der Luft gegriffen[]“ sein oder „durch eine unrechtmäßige Handlung, z. B. durch Eröfnung des Briefes eines bis dahin ganz unverdächtigen Gelehrten“36 eine entsprechende Überwachung eingeleitet werden. Genauso wenig reiche die Vorgabe „irgend eines politischen Zwecks“ zur Rechtfertigung einer „solche[n] Gewaltthätigkeit[]“37 aus. Dennoch hoffte Knoblauch, wie er in einem 1792 erschienenen Artikel schrieb, dass die Veröffentlichung „jene[r] schändliche[n] Betrügereyen und Eingriffe in unläugbare Menschenrechte, [die] vielleicht noch lange unerörtert ge-
31
32 33 34 35 36 37
Bei der Deutung des allgemeinen Willens unterschieden sich die Jakobiner deutlich von der Bedeutung, die ihm Rousseau zudachte: „Nach Rousseau ging der Riß zwischen dem Allgemeinsinn und dem Privatinteresse durch jeden einzelnen Menschen. Jeder kann sich nach der volonté générale richten, wenn er nur von seinem Privatinteresse absieht. Für Robespierre verkörpert das bisher unterdrückte Volk die volonté générale, während die Aristokraten nach ihrem Privatinteresse handelten.“ Kuhn: Französische (wie Anm. 718, S. 226), S. 106. Vgl. hierzu Kapitel 2.2.2. Knoblauch: Recht eines Staats (wie Anm. 253, S. 56), S. 140, Hervorh. i. Orig. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 140 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 141, Hervorh. i. Orig. Karl von Knoblauch: An die Herren Herausgeber der Deutschen Monatsschrift. In: Deutsche Monatsschrift 1 (1792), S. 339–342, hier S. 340, Hervorh. i. Orig.
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blieben wären“, dennoch „wenigstens den zufälligen Nutzen haben“ könnten, „zur Entwicklung und genauern Bestimmung“38 des Eigentumsbegriffes beizutragen. Die Ungültigkeit von Testamenten nach dem Naturrecht Mit der naturrechtlichen Begründung von Besitz hängt ebenfalls eine Fragestellung zusammen, mit der sich Knoblauch ab 1788 beschäftigte: Er problematisierte, ob es ein Naturrecht darstelle, dass ein Mensch seinen Besitz durch ein Testament posthum einem anderen übertragen könne oder ob dieser Vorgang ein gesondertes Gesetz vonseiten des Staates notwendig mache. Auch hierbei gilt Knoblauchs übergeordnetes Interesse der Frage, ob ein Staat das Recht habe, seine Bürger in bestimmten Bereichen – hier bei der Weitergabe ihres Besitzes nach ihrem Tode – zu beschränken. Eine staatliche Einschränkung des Testierens wäre von ihm als unzulässig angesehen worden, sofern es sich hierbei auch um ein natürliches Recht gehandelt hätte, wie es von einigen Juristen des 18. Jahrhunderts behauptet wurde.39 Im Falle von Testamenten und Erbfällen hätte dies nach Knoblauch die Frage aufgeworfen, ob „der Staat seinen Bürgern überhaupt durch ein die Erbschaften und Successionsfälle regulierendes Gesetz das Recht zu testiren entziehen könne. Wäre aber dieses Recht ein Recht, welches wir von der Natur, oder – was im Grunde eins ist – von Gott, haben, so könnte uns der Staat dasselbe nicht entziehen.“40 In seinem Dialog zwischen Baron und Marquis lässt Knoblauch die Fragen nach der Rechtmäßigkeit von Eigentumsbesitz und dessen Übertragung an andere Personen erörtern. Hierbei gelangt er zum Schluss, dass das naturrechtlich gewährte Eigentumsrecht und die damit verbundene Befugnis „über meine Sachen nach Willkühr zu disponiren“41 – sie also nach freiem Willen zu verkaufen oder zu verschenken – nur einem lebenden Menschen zugestanden werden kann. Diese naturrechtlich garantierte Fähigkeit entfalle mit dem Tod eines Menschen. Bei seiner Argumentation konzentriert sich Knoblauch nicht wie Samuel Pufendorf (1632–1694) auf das Zustandekommen eines Rechtsübergangs, bei welchem beide Seiten die „geforderte Willensvereinigung als zeitliches Zusammentreffen des Veräußerungsund des Annahmewillens“42 äußern müssen – was durch den Tod des veräußernden Menschen unmöglich wird. Stattdessen beruft sich Knoblauch auf die mit dem Tod wegfallende Fähigkeit, Besitz zu haben und über diesen zu bestimmen. Diese Begründung ist eng mit Knoblauchs philosophischem Verständnis des menschlichen Selbstbewusstseins und dessen Auslöschung durch den Tod verknüpft. So höre der Mensch mit dem Tod auf, der Eigentümer seines Besitzes zu sein, wie er den Baron ausführen lässt: 38 39 40 41 42
Ebd., S. 342, Hervorh. i. Orig. Vgl. Klippel: Naturrecht (wie Anm. 1, S. 398), S. 377. Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 153. Ebd., S. 157. Jan Ulrich: Der Erbvertrag als Problem von Rechtswissenschaft. Eine rechtswissenschaftsgeschichtliche Untersuchung vor dem Hintergrund der Geschichte eines allgemeinen Vertragsbegriffs. Tübingen 2017 (Grundlagen der Rechtswissenschaft 33), S. 139.
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Ich bin aller meiner Sinne, die ich als Mensch hatte, und wodurch ich Eindrücke von der mich umgebenden Welt erhielt, beraubt; also unfähig der Vorstellungen oder Begriffe, welche aus der Vergleichung jener Eindrücke resultiren und zuletzt immer concrete Sensationen, mithin den Gebrauch unserer Sinne voraussetzen. Die Organe, vermittelst deren ich auf die Außendinge durch Bewegung wirke, sie mir zueignete, sie meinen Absichten, d. h. meinen Wünschen und Bedürfnissen gemäß, modificirte, sind in ihre Elemente, welche unvergänglich sind und in neue Kombinationen und Gestalten eingehen, aufgelöst worden.43
Entsprechend sei es auch nicht mehr möglich, „eine Gewalt über diese ehemaligen Güter aus[zu]üben“. Die Besitztümer eines Menschen würden im Augenblick des Todes „herrenlos (res nullius) und zwar deswegen, weil ich bisher ihr alleiniger Eigenthümer war, und nun es zu seyn aufgehört habe.“44 Durch ihre Herrenlosigkeit würden diese Dinge naturrechtlich in den Besitz desjenigen übergehen, der sich ihrer zuerst bemächtige. Dies hält Knoblauch jedoch für „Mängel[] des Naturzustandes“, die automatisch zu „Unordnungen“ führten, wenn Besitztümer durch den Tod ihres Besitzers „völlig herrenlos würden.“ Daher habe der Staat ein Interesse daran, „seinen Bürgern, jedoch unter gewissen Restriktionen, das Recht zu testieren“45 zuzugestehen. Hierbei handelt es sich jedoch hauptsächlich um ein Zugeständnis des Staates, der durch „das positive Recht, dessen Endzweck das Beste der Societät ist“,46 die drohende ‚Unordnung‘ im Eigentumsrecht „zu einem succesicen Continuum, worin es keine Unterbrechung, keine Lücke giebt“, macht. Es bestimmt die Personen, deren neues Eigentum die ehemaligen Besitztümer des Verstorbenen werden oder „ernennt endlich den Fiscus zum Universalerben solcher Personen, welche weder testirt, noch Anverwandten und Blutsfreunde zurückgelassen haben.“47 Knoblauch spricht sich zudem ausdrücklich dagegen aus, Testamenten lediglich deswegen rechtliche Geltung zuzusprechen, da es sich um den ‚letzten Willen‘ eines Verstorbenen handele. Er betont damit nochmals, dass es sich bei der testamentarischen Vererbung um ein staatlich gewährtes Recht handelt, das zum Wohle der Gesellschaft vor einer Unordnung der Besitztümer bewahren soll. Genauso wie ein Verstorbener nicht mehr in der Lage sei, Besitz zu haben oder zu übertragen, sei es ebenso unzulässig, dass Menschen „nach ihrem Tode gebieten“48 könnten. Diese Vorstellung gründe sich bloß auf der Meinung, „der letzte Wille eines Sterbenden müsse uns heilig seyn und pünktlich befolgt werden“. Dies sei nicht der Fall und schmeichele lediglich „unserer Eigenliebe, die uns bis an die Urnen hin durch alle Perioden und Auftritte des Lebens“49 begleite. Daher testiere man, „um, durch eine Art von Anticipation der Zukunft, an dem künftigen Schicksal der Sachen, die man 43 44 45 46 47 48 49
Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 159. Ebd., S. 160, Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd., S. 165. Ebd. Ebd., S. 161. Ebd., S. 162, Hervorh. i. Orig.
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ungern verläßt, noch einen Antheil zu nehmen, und vorher zu wissen, in welchen Händen sie sich nach unserm Hintritt befinden werden.“50 Dies habe ebenfalls für politische Herrscher Geltung, da auch ein „Regent nicht über die Gränzen seines Lebens hinaus herrschen“51 könne. Jeder seiner Nachfolger sei in der Lage, die Gesetze und Erlasse des verstorbenen Vorgängers zu annullieren und eine andere Politik zu verfolgen: Die Gesetze des unumschränktesten Souverains gelten nur, d. h. haben nur verbindende Kraft und Autorität, so lange ihr Geber lebt. Werden sie länger respektirt, so geschiehet das nur durch den Consens der Nation, die beizubehalten, oder durch den Willen des neuen Regenten, der sie – wenigstens stillschweigend – konfirmirt, so, daß sie nun als von neuem gegeben angesehen werden können.
Entsprechend könne jede „willkührliche Verordnung eines Menschen“52 nicht über dessen Tod hinaus Gültigkeit besitzen. Auch bei dieser Überlegung klingt Knoblauchs allgemeine Furcht vor obrigkeitlicher Willkür an, die sich in seinen gesamten politischen Texten finden lässt. Genauso wie es nicht zulässig sei, Bestimmungen zu erlassen, wie posthum mit dem eigenen Besitz verfahren werden solle, sah es Knoblauch als ebenso problematisch und unzulässig an, wenn der politische Wille – beziehungsweise: die politische Willkür – eines Einzelnen als unwiderruflich festgeschrieben angesehen werden sollte. Die ‚Willkür des Richters‘ – Gesetzgebung und Auslegung von Gesetzen Eine derartige Festschreibung konnten nach Knoblauchs Ansicht Gesetzestexte darstellen. Diese beruhten in einem Land, das annähernd absolut von einem Herrscher regiert werde, alleine auf dessen veränderbaren Willen: Hier habe man kein anderes Gesetz als den souverainen Willen, d. i. die wandelbare Laune des Despoten. Seine Blähungen, Hämorrhoiden, oder Indigestionen [Verdauungsstörungen, Anm. M. L.] erhalten den zureichenden Grund der Schicksale der Völker, entscheiden es in der höchsten, alle Appellation ausschließenden, Instanz, ob wir fünf, oder dreißig vom Hundert abgeben sollen? ob wir Krieg oder Frieden, oder essen oder zu fasten haben? ob die Philosophen, wie weiland bei Friedrich dem Einzigen in Sans-Souci, deliciöse Soupers genießen, oder Schiffe ziehen werden?53
Dieses Verständnis sei ursprünglich durch den „politischen Aberglauben […] an die legale Allmacht des tel est nôtre plaisir“ entstanden, bei der es sich anfangs um nicht mehr als „eine unschuldige Floskel im Kanzleistil“ gehandelt habe, die „von keiner schlimmern Bedeutung gewesen“ sei als: „so will ich!“54 Während es sich alleine hierbei schon um Willkür handele, da ein einzelner Mensch beliebig über die Gesetze bestimmen könne, entwickele sich daraus mit der Zeit eine willkürliche Interpretation dieser Gesetze, die entsprechend der persönlichen Interessen 50 51 52 53 54
Ebd., S. 162 f. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 77 f. Ebd., S. 148 f., Hervorh. i. Orig.
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der Auslegenden verbogen werden könne: So verändere sich im Laufe der Zeit bei einigen Wörtern dieser Gesetzestexte deren eigentliche Bedeutung, „welche ohnehin bisher nur selten mit derjenigen Genauigkeit festgesetzt worden ist, die den durch Mißbrauch der Wörter veranlaßten Irrthümern zuvorkommen könnte.“ Gerade hierdurch werde eine Auslegung der Texte begünstigt, die ausschließlich durch den persönlichen Vorteil motiviert sei: „Exegeten von einer gewissen Art forschen in den Buchstaben der Schrift, und ohne sich um den vermuthlichen Sinn der ersten Urheber zu bekümmern, schieben sie den geduldigen Formeln ihre Gedanken unter, und – beweisen alles daraus, was sie zu beweisen dienlich erachten.“55 Damit deckt sich Knoblauchs Darstellung einer annähernd absolutistischen Gesetzgebung mit der Bewertung des vorrevolutionären französischen Staates: „Wollte man versuchen, die Bewertung des Ancien Régime in einem einzigen Terminus zusammenzufassen, so wäre es unzweifelhaft derjenige der ‚Willkür‘. Willkür des Fiskus, Willkür der Verwaltung, Willkür des Rechts“.56 Eine juristische Willkür lässt sich nach Knoblauchs Ansicht jedoch nicht nur in den Gesetzestexten absolutistischer Monarchien und der persönlich intendierten Auslegung durch die Richter finden, wie er in einem erstmals 1790 erschienenen Dialog verdeutlicht. In diesem berichtet der Marquis von einem Besuch in seiner revolutionären Heimat und der Furcht, sein Heimatland werde „nie eine gute Gesetzgebung erhalten“. Hierbei werden von ihm die revolutionären Gesetzgeber als ebenso willkürlich angesehen als vormals die königlichen Gesetze: „Wir flottiren beständig zwischen der Willkühr unserer Könige, oder ihrer Souffleurs auf dem politischen Theater, und – der vielleicht noch fataleren Willkühr einiger hundert Zaunkönige, welche den, seiner Gewalt beraubten, Einen König ersetzen sollen“.57 Während die Willkür der monarchischen Gesetzgebung durch intransparente Fest- oder Auslegung entstehe, ergab sich die Willkür im revolutionären Frankreich nach Knoblauchs Ansicht aus der Uneinigkeit der dortigen Gesetzgeber. Hierbei handelt es sich jedoch keinesfalls um ein Misstrauen gegenüber demokratischen Strukturen und dem daraus resultierenden größeren Personenkreis, welcher an der Abfassung der Gesetzestexte beteiligt war. Stattdessen macht Knoblauch für die Uneinigkeit der Deputierten die revolutionär-anarchistische Gesamtsituation verantwortlich, die einem falschen Verständnis von ‚Freiheit‘ entspringe, welche von der breiten Bevölkerung mit ‚Gesetzlosigkeit‘ verwechselt werde: Hierdurch müssten die Verfasser der Gesetze immer fürchten, gelyncht zu werden, „sobald sie etwas verfügen, was den vom Pöbel mißverstandenen Ideen von der égalité impr[e]scriptible des hommes entgegen“58 sei. In einer solchen anarchischen Situation werde 55 56 57 58
Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 149, Hervorh. i. Orig. Pierre Rosanvallon: Der Staat in Frankreich: von 1789 bis in die Gegenwart. Münster 2000 (Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft 15), S. 19. Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 87. Ebd., Hervorh. i. Orig.
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nicht respektvoll miteinander diskutiert; stattdessen verträten „die Laternenpfähle […] bei der betrognen Menge die Stelle der guten Gründe.“59 Trotz dieser revolutionsbedingten Gesetzlosigkeit und der, aus der Angst der Beteiligten herrührenden Unsicherheit bei der Findung von Gesetzen, erklärt der Marquis, dass es seiner Meinung nach keine Lösung darstelle, zur alten Ordnung zurückkehren zu wollen. Diese würde „ihre alten Rechte, oder […] die alten Anmaßungen wieder aus dem Staube der Vergessenheit“ hervorholen und – in Anbetracht der erlebten Revolution – „bessere Maßregeln“60 ergreifen, um eine erneute Revolution zu unterbinden. Mit Blick auf die rechtlichen Zustände der vorrevolutionären Zeit ist er sich jedoch sicher, dass bei der Rechtssprechung absolut „[n]ichts der Willkühr des Richters“ überlassen werden dürfe. In diese Richtung tendierten seiner Ansicht nach auch aus gutem Grund die bürgerlichen Gesetze seines revolutionären Landes: „Die Fundamentalgesetze eines Reiches sollten dafür sorgen, daß der Willkühr der Vorsteher des Staates so wenig als möglich überlassen bliebe.“61 Damit kommt dem Marquis im Dialog die Rolle des Unterstützers einer frührevolutionären Position zu. Diese zielte – bedingt durch die Erfahrungen des Ancien Régimes – auf eine „Ausschaltung jeder Form von Willkür“ innerhalb des Strafrechtes und besonders auf dessen „radikale ‚Entsubjektivierung‘“62 ab. Der erste Schritt hierzu stellte die Abschaffung der Käuflichkeit von Ämtern am 4. August 1789 dar. „Dadurch sollte der Unterschied zur früheren Ordnung der Dinge markiert und deutlich gemacht werden, daß die Ämter niemals wieder durch Intrigen oder Kriechereien zu erlangen sein würden, daß sie nie käuflich sein sollten.“63 Auf Grundlage der Rechtsphilosophie Cesare Beccarias sollte die juristische Inkonsequenz beseitigt werden, die einerseits zu Justizirrtümern und andererseits zu willkürlichen Urteilen führte. In Beccarias „Augen war der Interpretationsspielraum der Richter für diese verderblichen Schwankungen verantwortlich.“64 Das subjektive Element könnte seiner Meinung nach durch eine „buchstabengetreue Anwendung der [Gesetzes-]Texte“ minimiert werden, wozu „das allgemeine Gesetz mit den Fakten passgenau zur Deckung“65 gebracht werden musste. Dies führte in Frankreich ab 1789 zu einem regelrechten ‚Kult der Unpersönlichkeit‘, der sowohl die Judikative als auch die Exekutive massiv beschränkte und stattdessen die parlamentarische Legislative als Ausdruck des allgemeinen Willens über die beiden anderen staatlichen Kräfte stellte. Das Gesetz wurde damit Ausdruck des durch das Parlament geäußerten allgemeinen Willens. Aufgrund seiner Unpersönlichkeit 59 60 61 62 63 64 65
Ebd., S. 113. Ebd., S. 89. Ebd., S. 90. Rosanvallon: Regierung (wie Anm. 103, S. 31), S. 35. Ders.: Staat (wie Anm. 56), S. 36. Ders.: Regierung (wie Anm. 103, S. 31), S. 35 f. Ebd., S. 36.
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sollte es jede Verbindung zum einzelnen Bürger tilgen und damit in seiner „reduktionistischen Einfachheit [eine] vollkommen gerechte und wohlgeordnete Welt entwerfen.“66 Die mechanische, wortgetreue Anwendung der Gesetze wurde als ausreichend angesehen, „um alle Probleme des gesellschaftlichen Lebens zu regeln.“67 Während der Marquis diese Position seines Heimatlandes vertrat, machte sich sein Gegenüber, der Baron, für das genaue Gegenteil stark: Seiner Ansicht nach war es im Falle der bürgerlichen Gesetze „durchaus nothwendig, daß diese vieles der Willkühr des Richters überlassen“.68 Gesetze seien immer fehlerhaft oder wiesen Lücken auf, da „diese Unvollkommenheit […] von den Werken der Menschen unzertrennlich“ sei. Daher müsste bei der Rechtsprechung vieles „der Vernunft und dem Billigkeitsgefühl des Richters“69 überlassen werden, um diese Fehler auszugleichen. Nie sei es der Fall, so die Argumentation des Barons, dass ein Gesetzestext für alle Eventualitäten als zureichend angesehen werden könne. Jeder spezielle Fall bräuchte deshalb ein besonderes Gesetz. Diese „allzugroße Vervielfältigung der Gesetze [sei] dem Staate fast so nachtheilig […], wie die Vervielfältigung der Laster. Je mehr Gesetze, je mehr Schwierigkeit, sie zu kennen, sie mit richtiger Unterscheidung in Kollisionsfällen anzuwenden, und – für den Unterthan! – sie zu halten!“70 Auch wenn sich der Marquis ebenfalls gegen eine zu große Anzahl von Gesetzen ausspricht, bemängelt er dennoch, dass dann die Richter bei nicht ausdrücklich abgedeckten Fällen darauf angewiesen seien, „nach der Analogie der für andere, etwas ähnliche Fälle gegebenen Gesetze zu entscheiden“. Diesen Einwand quittiert der Baron mit der Frage, ob es denn – wenn man die ausdrückliche Absicht habe, den Richtern „einen Ring in die Nase zu legen“ – möglich sei, sie ebenfalls „auf diesen oder jenen so bestimmten Gebrauch, […] schwören zu lassen“, wenn es sich letztendlich um „nicht vorherzubestimmende[] Fälle[]“ handele. Die eigentliche Entscheidung, welches Gesetz und welche ähnlichen Fälle „die Basis […] der Anwendung des analogischen Schlusses ist“, müsse man „der, durch Philosophie hoffentlich aufgeklärten, Vernunft des Richters überlassen“.71 Ansonsten würde man die aufgeklärte Vernunft des Richters „in ein[en] Automat[en] verwandeln, dessen einzige Springfeder“ das Diktat des positiven Gesetzes als „einer andern, oft weit armseligern, Privatvernunft“ darstelle, „dessen Unzulänglichkeit für alle erdenklich[en] Fälle“72 man entweder bereits erkannt habe oder leicht demonstrieren könne. Statt die Auslegung von Gesetzestexten nur im Falle fehlender Eindeutigkeit oder Lückenhaftigkeit zu erlauben, plädiert Knoblauch eindeutig dafür, allgemein formu66 67 68 69 70 71 72
Rosanvallon: Regierung (wie Anm. 103, S. 31), S. 40. Ders.: Staat (wie Anm. 56, S. 408), S. 39. Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 90. Ebd., S. 91. Ebd. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93.
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lierte Gesetze stets durch einen aufgeklärten Richter auslegen zu lassen. Auch wenn ein ausführlich formuliertes Gesetzbuch den Eindruck von Objektivität erwecke, weil es alle erdenklichen Vergehen abzudecken versuche und – einheitlich angewandt – auf gleiche Verbrechen immer mit gleicher Strafe antworte, könne auch ein solches Gesetzbuch niemals objektiv sein, da sich die menschlich-subjektive Komponente und damit die Anfälligkeit für Fehler nie ausschließen lasse. Daher fordert Knoblauch die Auslegung zur Regel und nicht zur Ausnahme zu machen, da letztere wiederum die Gefahr willkürlicher Entscheidungen in sich trage. Da der Baron in seiner Argumentation einen aufgeklärten und vernünftigen Richter voraussetzt, betont er ebenfalls, dass „[d]ie aufgeklärte allgemeine Vernunft […] die eigentliche legitime Gesetzgeberin denkender Wesen“ ausmache und für jeden „gut organisirten, und durch Nachdenken und Beobachtung aufgeklärten Menschen“73 zu begreifen sei. Ein mit der menschlichen Vernunft zu vereinbarendes, „einigermaßen vollständiges, und NB. durchaus zweckmäßiges Gesetzbuch“ müsse folglich in „allen den Staat interessierenden Handlungen“ den Bürgern eine gültige Norm vorschreiben, „ohne sie darum einer mönchischen Regelmäßigkeit zu unterwerfen.“ Bei dieser Darstellung wird Knoblauchs wiederum auf Locke basierendes Verständnis von Freiheit deutlich. Für den Staat seien Handlungen, die „weder merklich gute, noch merklich schlimme Folgen“ hätten, schlichtweg irrelevant, da sie ihn nicht in der Erreichung seines Zwecks – der „Beförderung [des] zeitlichen Wohls“ seiner Bürger – behinderten. Sie dürften daher „von ihm weder geboten noch verboten werden“.74 Diese Ausnahme von staatlicher Regulation betreffe, wie Knoblauch schon in einem Artikel von 1789 betont, ganz besonders die Gedanken der Bürger. So könnte ein Staat nur von den äußeren Handlungen des Bürgers Kenntnis, aber nicht von deren Innenleben, ihren „Meinungen und Vorstellungsarten“, haben. Diese müssten frei von jeglicher staatlicher Sanktion bleiben, auch wenn „diese Meinungen dem Ansehn nach noch so sonderbar ausfallen, sie gehen den Staat Nichts an.“75 Da eine Kontrolle von Vorstellungen und Gedanken besonders im Bezug auf die Religionen verbreitet sei – Knoblauch nennt ausdrücklich „alle Religionsedikte“ –, werde vor allem hier die Schädlichkeit einer Sanktionierung der Meinungen und Gedanken deutlich. Sie führe unter den Betroffenen zu Heuchelei und zu einer inneren Zensur, die „dem Untersuchungsgeist drükende Fesseln“ anlege. „Manche Selbstdenker aus diesem Stande [der Geistlichkeit] haben es mir ins Ohr vertraut, daß sie sich von der Wahrheit gewisser Systemslehren durchaus nicht überzeugt fühlen, daß sie aber gezwungen wären, gegen ihr inneres Gefühl orthodox zu scheinen.“76 Doch nicht nur zu Heuchelei, innerer Zensur und einer Beschränkung des intellektuellen Potenzials führe diese Überwachung der Gedanken. Sie stelle ebenfalls 73 74 75 76
Ebd., S. 94. Ebd., S. 98, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Zwote Lektion (wie Anm. 123, S. 124), S. 310. Ebd., S. 309.
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„ein immer geschliffenes Messer in den Händen der Regierung“ dar, wenn sie „Jeden, der sich über gewisse Punkte seines Gewissens erkläre, ins Narrenhaus“77 sperren könne. Ein solches Vorgehen eröffne der Politik die ungehinderte Möglichkeit zu willkürlichen staatlichen „Mißbräuchen und Gewaltstreichen“ sowie zu Denunziationen durch „Polizeiaufseher, Gedankenspione, Gewissensjäger“.78 Hierbei war sich Knoblauch sicher, dass alleine die Möglichkeit zum Missbrauch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dazu führe, dass jemand, der im Besitz von Macht sei, immer auch geneigt wäre, „sie zu mißbrauchen.“79 Die Vorstellung eines zweckmäßigen, idealen Gesetzbuches, wie es der Baron in den Dialogen forderte, kann aufgrund seines ausführlichen und den Marquis überzeugenden Plädoyers mit der Position Knoblauchs gleichgesetzt werden. Knoblauch hätte damit mit hoher Wahrscheinlichkeit seine Forderung im 1804 eingeführten Code civil des Français verwirklicht gesehen. Ob er einen ersten, 1793 vorgestellten Entwurf dieses 1791 von der Nationalversammlung in Auftrag gegebenen Gesetzbuchs kannte, ist nicht überliefert. Mit den Grundsätzen des Autoren dieses ersten Entwurfes, Jean-Jacques Régis de Cambacérès (1753–1824), hätte Knoblauch jedenfalls übereingestimmt: So entsprach es Cambacérès’ Zielsetzung, ein einheitliches, auf dem Naturrecht basierendes und allgemein verständliches Recht zu entwerfen. Während sein erstes Konzept von 1793 genauso wie folgende Entwürfe abgelehnt wurde, konnte das Projekt eines neuen Gesetzbuchs erst mit Napoleon – unter der Federführung Cambacérès’, der zum zweiten Konsul aufgestiegen war – verwirklicht werden.80 Aufgrund „seiner handwerklich-juristischen wie sprachlichen Eleganz“ war der Code civil äußerst kompakt und entsprechend leicht verständlich und einfach anwendbar. Diese Tatsache „verdankte er der intellektuellen Anstrengung, die Vielfalt der zivilrechtlichen Tatbestände durch Abstraktion, Vereinfachung und Systematisierung zu reduzieren.“81 Er stand damit der Tendenz im deutschsprachigen Raum entgegen, den Richter „an ein als möglichst umfassend konzipiertes Gesetzbuch“82 zu binden, wie es besonders das 1794 eingeführte Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten zeigte. Während der Code civil mit 2281 Artikeln sehr übersichtlich war, stellte das preußische Gesetzbuch „mit seinen fast 20 000 Artikeln […] ein[] unförmige[s] Monstrum“83 dar. 77 78 79 80 81 82 83
Knoblauch: Zwote Lektion (wie Anm. 123, S. 124), S. 310, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 310 f. Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 104. Vgl. Helga Schnabel-Schüle: Französische Geschenke: Verfassung und Recht. In: Elisabeth Dühr u. Christel Lehnert-Leven (Hg.): Unter der Trikolore. Trier in Frankreich – Napoleon in Trier. 1794–1814. Trier 2004, S. 349–363, hier S. 353–355. Ebd., S. 355. Demel: Reformstaat (wie Anm. 324, S. 310), S. 10. Schnabel-Schüle: Französische Geschenke (wie Anm. 80), S. 358.
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Knoblauchs Sicht des Strafrechts: Das Übel des Schiffeziehens Genauso wie sich Knoblauch gegen die allgemeine zeitgenössische Tendenz hin zu einem umfassenden Gesetzbuch wandte, sah er auch die damalige Praxis der Verbrechensbestrafung kritisch. Durch den Einfluss Beccarias tendierten die europäischen Länder gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Abschaffung der Todesstrafe. Dies erweckt auf den ersten Blick – und vor allem aus der heutigen Perspektive – den Eindruck einer ‚Humanisierung‘ der Bestrafung. Diese Reform wurde jedoch nicht unter dem Gesichtspunkt einer „menschenwürdigeren Behandlung des Täters“ durchgeführt, sondern sollte aus utilitaristischer Sicht „der Nutzung von dessen Arbeitskraft und der wirksameren Abschreckung potentieller Verbrecher dienen.“ Entsprechend wurde in Österreich 1781 „die Todesstrafe im Regelfall durch die Strafe des Schiffeziehens“84 ersetzt. Gegen diese „große Erfindung“, welche ihren Grund „in der Menschenliebe des Erfinders“ habe, sprach sich Knoblauch aus. Der Erfinder des Schiffeziehens wollte, wie er es den Baron ironisch darstellen lässt, das „Menschenleben, welches dem Staate so wichtig ist, erhalten“. Stattdessen habe er, wie der Marquis antwortet, aus der Todesstrafe „ein Übel [gemacht], welches größer als der Tod“ sei: „Gott bewahre uns vor den sichtbaren Wirkungen einer solchen unsichtbaren Menschenliebe!“85 Die zeitgenössische Sichtweise führt der Baron – mit Verweis auf die Argumentation Voltaires – genauer aus: Während ein hingerichteter Dieb der Allgemeinheit nichts nutze und lediglich „ein Schmaus, den der Staat den Krähen, Raben und Geiern giebt“, darstelle, könne er als „Schiffzieher […] den Vorüberreisenden ein lebendes Bild des größten menschlichen Elends“ bieten und so als Abschreckung dienen. Gleichzeitig sei „mit der Lektion, die er giebt, auch noch Arbeit“86 verbunden, welche der Staat gerne nutze. Mit seinem Dialog möchte sich Knoblauch jedoch nicht generell gegen Strafen aussprechen. Stattdessen wendet er sich – wiederum im Sinne Beccarias – gegen eine Unverhältnismäßigkeit, die zwischen Strafe und Vergehen entstehen könnte, wenn Menschen beispielsweise durch das Schiffeziehen auf besonders grausame Weise bestraft würden. In diesem Zusammenhang stellt der Baron den dreifachen Zweck von Strafen nach dem römischen Juristen und Schriftsteller Aulus Gellius dar, welche dieser in seinen Noctes Atticae anführte: 1. die Besserung des Bestraften, 2. Rache und 3. die Statuierung eines Exempels. In ihrer ersten Funktion, der Besserung, stelle die Strafe „in der moralisch-politischen Welt ungefähr das [dar], was in der physisch-medizinischen und respective chirurgischen, eine Dosis Rhabarber, Sennesblätter, oder etwa die Amputation im Falle der Unheilbarkeit eines Gliedes ist“.87 Letzteres falle jedoch beinahe schon in den dritten Bereich des Exempels. 84 85 86 87
Demel: Reformstaat (wie Anm. 324, S. 310), S. 11. Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 119. Ebd., S. 120. Ebd., S. 135, Hervorh. i. Orig.
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Der zweite Zweck der Strafe, die Rache, wird von beiden Diskutanten ausdrücklich abgelehnt. So echauffiert sich der Marquis: „Pfui, Baron! das ist ein häßlicher Zweck. Man vermehrt die Summe der Übel, die der Verbrecher gestiftet hat, durch ein neues Übel. Das kommt mir vor, als ob ein Arzt einem Fleckfieberpatienten, der das Unglück gehabt hätte, einige Leute mit seinem Gifte zu inficiren, die Pest einimpfen wollte.“88 Aus philosophischer Sicht falle jedoch darunter, wie der Baron erklärend hinzufügt, „die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des gekränkten Ansehens und der Würde einer Person, welche man, um des gemeinen Bestens willen, als heilig, d. i. unverletzlich, betrachten“ müsse. Entsprechend sei auch abzuwägen, wie schwer eine Strafe ausfallen müsse: „Wenn ein Bauerntölpel einem andern von derselben Art eine Ohrfeige giebt, so verdient er wohl, auf eine Weile in den Thurm gesteckt zu werden.“ Würde die Ohrfeige jedoch einem Staatsbediensteten, „dem fungirenden Prätor“, gegeben, so müsste er „hoffentlich auf einige Jahre in das Zuchthaus“.89 Das Ansehen des Staates, „ohne welches alle Greuel der Selbstrache und Anarchie eintreten würden“, sei wichtiger einzuschätzen als das „Fell eines einzelnen Bauern“.90 Die Statuierung eines Exempels ziele als dritter Zweck der Strafen auf „die beiden zwei wirksamen Triebfedern unseres Thuns und Lassens“, der Hoffnung und der Furcht. Diese Leidenschaften würde ein weiser Gesetzgeber zu seinem Zwecke
88 89 90
Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 135 f. Ebd., S. 136. Ebd., S. 136 f. – Diese Stelle gab Wieland, in dessen Neuen Teutschen Merkur das Gespräch Ende 1790 erstmals erschien, Anlass zu einem Kommentar, in welchem er kritisierte, der Marquis scheine „noch etwas Aristokratischen Sauerteig im Magen zu haben“, wenn er zu einer solchen Aussage komme: Man könne jedoch „ohne Bedenken seiner Meynung seyn, in so fern er uns zugesteht, daß ein hochadelicher Flögel, der einem Bauertölpel eine Ohrfeige giebt, eben so, und von Rechtswegen noch strenger gezüchtiget werden soll, als der Bauertölpel: zumahl da dem Staat an dem Fell manches einzelnen Edelmanns nicht mehr gelegen ist, als an dem Fell eines Bauers.“ Karl von Knoblauch: Politisch philosophische Gespräche. Achtes Gespräch. Das Recht zu strafen und Endzweck der Strafen. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1790), S. 217–232, hier S. 231 f., Hervorh. i. Orig. Wie aus einem Brief von Knoblauchs Schwager Brandenstein an Wieland hervorgeht, war Knoblauch über diese Anmerkung Wielands sehr verärgert (Vgl. Christoph Martin Wieland: Wielands Briefwechsel. Bd. 11. Berlin 2001, S. 124 f.). Diesem Ärger machte sich Knoblauch Luft, indem er 1791 eine 24 Druckseiten umfassende Gegendarstellung mit dem Titel Noten über eine sehr merkwürdige Note des teutschen Götterboten. Ein Gespräch, aber kein Göttergespräch veröffentlichte. Hier betonte er, dass weder ein adliger ‚Flegel‘ noch ein ‚Bauerntölpel‘ andere schlagen dürfte. Dennoch dürfe es nicht akzeptiert werden, wenn die Obrigkeit – und damit der Staat – angegangen werde, da hieraus Anarchie entstehe. Zudem „war ausdrücklich von fungirenden Prätor, welcher, wie man weiß, auch von bürgerlichem Stande seyn kann, nicht von einem ahnenstolzen Edelmann, die Rede.“ [Karl von Knoblauch]: Noten über eine sehr merkwürdige Note des teutschen Götterboten. Ein Gespräch, aber kein Göttergespräch. [Marburg] 1791, S. 10, Hervorh. i. Orig. Auch würde der Marquis vermutlich „einräumen, daß der Hochadliche, der dem Bauern die Ohrfeige gibt, noch ungesitteter handelt, als der Bauer, wenn er an seines Gleichen das nämliche tut. Aber darum begehet er noch kein grösseres Verbrechen, als der Bauer, und verdiente also auch nicht noch härter gestraft zu werden, als dieser.“ Ebd., S. 8, Hervorh. i. Orig.
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nutzen, da „die Furcht des Galgens oder des Staupenschlages die Stelle des Gewissens, oder des sittlichen Gefühls“91 vertrete. Für gewöhnlich würden diese drei Aspekte der Strafe kombiniert und hierdurch im Idealfall versucht werden, den Täter zu bessern, das Ansehen und die Würde des Opfers wiederherzustellen und zudem ein Beispiel zu bieten, das davon abhalte, eine ähnliche Tat zu begehen. Lediglich bei den Todesstrafen falle „der erste, oder eigentlich nur zuerst genannte Zweck, die Besserung des Bestraften“,92 weg. Knoblauchs Argumentation ähnelt somit stark der Beccarias, welcher dafür plädierte, die Menschenwürde eines Verbrechers ausnahmslos zu achten, aber den Gestraften dennoch seinen Mitmenschen ein mahnendes Exempel sein zu lassen. Hierbei dürfe nie die Verhältnismäßigkeit verletzt werden, indem die Strafe das durch das Verbrechen zugefügte Leid übersteige.93 Damit wird von Knoblauch auch das Exempel als „Abschreckung potentieller Täter und damit einhergehend als positiver Begleitaspekt die Festigung der Normtreue in der Gesellschaft“94 als eigentlich oberster frühneuzeitlicher Strafzweck nicht vollkommen infrage gestellt, aber dennoch mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit kritischer bewertet. Hingegen wird von ihm die Arbeitsstrafe, die im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „optimal allen von den Aufklärern propagierten Strafzwecken“95 genügte, von Knoblauch als besonders grausame verschleierte Todesstrafe abgelehnt. Während Knoblauchs Ansichten meist mit der Philosophie John Lockes kompatibel waren und auf dieser aufzubauen schienen, unterscheidet sich seine Argumentation bei der Frage, mit welcher Legitimation ein Staat das Recht zu strafen habe. Dass der Staat dieses Recht besitze und ausübe, um einerseits sich selbst – und damit seine Mitglieder – zu schützen und dabei das Übertreten von Gesetzen ahnde und bestrafe, sei unzweifelhaft. Bei seiner Begründung verwirft Knoblauch jedoch Lockes Theorie einer vertraglichen Übertragung des natürlichen Rechts eines jeden Menschen, selbst zu strafen, an den Staat.96 Seiner Ansicht nach sei „das ewige Spiel gewisser Doktoren mit ihren eingebildeten Verträgen“ unsinnig, da es willkürlich sei, „Verträge zu dichten“, wenn der Grund dieser Verträge ausschließlich im natür91 92 93
94 95 96
Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 137. Ebd. Vgl. Edoardo Tortatolo: Aufgeklärte Gerechtigkeit. Einheit der Vernunft und Vielfalt der Lebensformen. In: Gert Melville, Gregor Vogt-Spira u. Mirko Breitenstein (Hg.): Gerechtigkeit. Köln, Weimar u. Wien 2014 (Europäische Grundbegriffe im Wandel. Verlangen nach Vollkommenheit 1), S. 161–173, hier S. 170. Helga Schnabel-Schüle: Anprangern. Ehrverlust als Strafe. In: Reiner Schulze u. a. (Hg.): Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung. Münster 2008 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 25), S. 133–143, hier S. 133. Hans Schlosser: Motive des Wandels in den Erscheinungsformen und Strafzwecken bei der Arbeitsstrafe. „Opus publicum“ und richterliches Strafänderungsrecht. In: Schulze u. a. (Hg.): Strafzweck (wie Anm. 94), S. 145–158, hier S. 153. Vgl. Laukötter u. Siep: Locke (wie Anm. 4, S. 399), S. 32.
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lichen und „allgemeinen Interesse der Menschen“97 liege. Vor allem im Naturrecht stellte die Theorie der stillschweigend vollzogenen Verträge einen „Generalschlüssel“ dar, mit welchem „sich schlechthin alle gewohnheitsrechtlichen Gegebenheiten rationalisieren“98 und legitimieren ließen.99 Indem Knoblauch Gesellschaftsverträge ablehnt, muss er das Recht des Staates, Gesetzesverstöße zu bestrafen, auf eine andere Weise begründen. Er erreicht dies, indem er den Staat als ein natürliches „Aggregat“ beziehungsweise „ein System von sub- und coordinirten Kräften“ darstellt, das einzig zum Zweck der „Erhaltung des Ganzen“100 wirke. Er meint damit, dass das staatliche Recht, sich selbst zu erhalten, zu verteidigen und damit das Übertreten der Gesetze, die das Mittel zur Erhaltung der Gemeinschaft darstellen, zu ahnden, alleine in den natürlichen Rechten einer organisierten Gesellschaft zu suchen seien. Dieses Recht werde weder willkürlich zugeteilt noch bewusst übertragen oder verliehen. Stattdessen handele es sich bei einem Staat um ein natürliches Wesen, bei dessen Bildung „Vernunft und Willkühr so wenig Antheil [haben], wie an der Bildung der Bienenrepublik, des Ameisenstaates, der Bibersocietäten.“101 Knoblauchs staatlicher Leviathan entspringt somit keinem Gesellschaftsvertrag, sondern dem natürlichen Drang des Menschen, sich zu einer Gemeinschaft zusammenzutun, um gemeinsam sicherer und wirkungsmächtiger zu sein. Seiner Ansicht nach handelt es sich hierbei um den gleichen natürlichen Drang, der auch Bienen, Ameisen oder Biber zur Bildung einer größeren Gemeinschaft veranlasst. Genau wie ein einzelnes Wesen, hat auch dieses Aggregat von Wesen das Recht, sich selbst zu verteidigen und Rechtsbrüche zu ahnden. Für Knoblauch steht somit nicht die Sicherung von Herrschaft als wichtigste Funktion des Strafrechts im Vordergrund,102 sondern der Fortbestand der gesamten Gesellschaft. Andreas Riem: Gerechtigkeit als einzige Staatstugend Andreas Riem beschäftigte sich nicht philosophisch und theoretisch mit dem Thema der Menschenrechte. Sie stellen in seinem Werk jedoch eine Größe dar, die für ihn zweifelsfrei existierte und über allem stand. So machte er der christlichen Lehre den Vorwurf, diese würde den Rechten der Menschen, die einander völlig gleich seien, zuwiderlaufen. Er argumentiert, dass jemand, der „im Ernste“ fordere „‚nicht zu widerstehen dem Uebel‘ […] nicht den Leidenden“ mit diesem Grundsatz begünstige, 97 98
Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 133. Barbara Stollberg-Rilinger: Vom Volk übertragene Rechte? Zur naturrechtlichen Umdeutung ständischer Verfassungsstrukturen im 18. Jahrhundert. In: Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts (17.–19. Jahrhundert). München 2006 (Schriften des Historischen Kollegs 57), S. 103–117, hier S. 109. 99 Vgl. zu dieser Instrumentalisierung des naturrechtlichen Vertrages: Ebd., S. 109–113. 100 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 133 f. 101 Ebd., S. 133. 102 Vgl. Harriet Rudolph u. Helga Schnabel-Schüle: Rahmenbedingungen von Strafjustiz in der Frühen Neuzeit. In: Dies. (Hg.): Justiz = Justice = Justicia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa. Trier 2003 (Trierer historische Forschungen 48), S. 7–37, hier S. 28.
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„sondern den Unterdrücker. Er nimmt nicht die Sache des Gekränkten in Schutz, sondern des Beleidigers“ und damit das Recht des Stärkeren, der ungestraft mit seiner größeren „Macht den Schwächern unterdrücken“103 könne. Ebenfalls hebe das Christentum mit seiner Lehre „die Gleichheit der Rechte“ auf, indem es „dem Duldenden das Recht“ versage, „von seinem Nächsten dasselbe zu fordern, was doch dem Duldenden Pflicht sein sollte.“104 Für Riem stellt vor allem die Gleichheit aller Menschen die wichtigste Komponente seines Verständnisses von Gerechtigkeit dar. So ist auch für ihn naheliegend, Willkür als Verletzung dieses Gleichheitsgrundsatzes zu kritisieren. Hierbei übernimmt Riem jedoch die zeitgenössische Sichtweise, dass nur eine alle anderen politischen Bereiche überragende Legislative eine wirkliche Gleichberechtigung der Menschen und damit Gerechtigkeit sicherstellen könne. Somit stellt Gerechtigkeit für Riem die einzige Staatstugend dar: In einem derart gestalteten Staat „muß Ernst und unveränderliche Gleichgestimmtheit den Richter des Volks leiten. Hier muß jeder Unterschied des Standes und aller bürgerlichen Verhältnisse von Ungleichheit weichen. Hier muß das Gesetz nur herrschen, und die ausübende Gewalt nur seine Dienerin seyn.“105 Als besonderes Negativbeispiel führt Riem die Vergabe von Richterstellen in Frankreichs Ancien Régime an. So habe man dort zu dieser Zeit „den reichen Adel […] in den höchsten Richterstellen der Nation“106 gesehen, wo dieser seine Interessen durchsetzen konnte. Hierdurch waren in Frankreich „[d]ie Parliamente107 und Richterstühle […] nichts weiter als Trödel-Buden, in welchen die Gerechtigkeit gegen baare Bezahlung ausgeboten wurde, und wo man auch Ungerechtigkeit unter jenem Namen haben konnte.“108 Auch in anderen Monarchien – interessanterweise stellt Riem Preußen ausdrücklich als Ausnahme dar – sei diese Praxis der Rechtsbeugung nach dem Willen des Adels üblich. Hier seien adlige Interessen selbst von „bürgerlichen Richtern, obgleich diese eine Art von Seltenheit sind“,109 durchgesetzt worden. Dieser Umstand, dass Bürgerliche sich für die Anliegen der Adligen instrumentalisieren ließen, quittiert Riem mit besonderer Verachtung.110 103 104 105 106 107
Riem: Christus (wie Anm. 183, S. 133), S. 667, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 668. Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 153. Ders.: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 51, Hervorh. i. Orig. Bei den französischen vorrevolutionären parléments, die Riem hier erwähnt, handelte es sich nicht um Parlamente nach heutigem Verständnis, sondern um „Gerichtshöfe, die für den Teil des Landes, in dem sie sich befanden, zuständig waren. Deren Mitglieder stammten zumeist aus dem Adel, hatten das Richteramt geerbt und konnten nicht abgesetzt werden.“ Kuhn: Französische (wie Anm. 718, S. 226), S. 31. 108 Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 51 f. 109 Ebd., S. 52. 110 Derartig „speichelleckerische Schurken“ handelten lediglich „im niederträchtigen Gefühle ihrer Unterthänigkeit“ und könnten „den Verlust adlicher Gnade nicht ertragen“, was sie dazu veranlasste, dass sie „für einige Dukaten, und die Ehre an hoher Tafel zu speisen, nicht nur
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Aufgrund dieses Zustandes wird für Riem der bereits bei Knoblauch angesprochene ‚Kult der Unpersönlichkeit‘, welcher für Frankreich bis zur Herrschaft Napoleons maßgebend war, zum Bollwerk gegen Willkür. Nur das Gesetz könne durch seine Allgemeinheit und Unpersönlichkeit „befehlen ohne zu unterdrücken“, da es „als strukturell objektiv, unparteiisch, losgelöst von allen eigennützigen Bestrebungen“ galt. Die Legislative wurde als „der gerechte Herr schlechthin“ angesehen, als „eine Ordnungsmacht, die die Menschen zwingt, ohne sie zu knechten, sie nötigt, ohne ihnen Gewalt anzutun oder diejenigen zu erniedrigen, die ihm gehorchen.“111 Entsprechend ist auch bei Riem „[d]as Gesetz […] durch seine Heiligkeit ewig unabänderlich“112 und erhält damit „eine totalisierende Dimension.“113 Ihren Ausdruck fand dieses Verständnis beispielsweise darin, dass im revolutionären Frankreich gerichtliche Revisionsverfahren als Übel – wenn auch als notwendiges – angesehen wurden. Obwohl gerade diese Verfahren die Einheitlichkeit der Rechtssprechung gewährleisten, bestand dennoch die Furcht, „dass ein Gericht, das zum Hüter und Beschützer der Gesetze bestellt sei, unter der Hand zu ihrem Gebieter werden könne.“114 Letztendlich war die Arbeit der Kassationsgerichte auf das Aufheben von Urteilen beschränkt, die gegen Formalia verstießen oder bei welchen der Wortlaut eines Gesetzes ausdrücklich falsch angewandt worden war.115 Ein derartiges Verständnis der aus absoluter Unpersönlichkeit entstehenden Gleichheit und Gerechtigkeit lässt sich auch bei Riem finden, wenn er selbst Begnadigungen als „Abweichung von strenger Gerechtigkeit zu einem Staatsverbrechen“116 erklärt: Da die Gesetze „ewig unabänderlich“ seien, würden „Nachsicht und Begnadigung“ sie als „unvollständig und mangelhaft“ charakterisieren. Das Gesetz und dessen Heiligkeit würden alleine durch diese negative Zuschreibung – es handelt sich nach Riems Aussage um keine wahrhaftigen Mängel oder Unvollständigkeiten – beeinträchtigt, was „eine strafbare Beeinträchtigung des Menschenrechts der Gleichheit“ nach sich ziehe. Das Gesetz sei nicht in der Lage zu verzeihen. Sollten Verurteilte dennoch begnadigt werden, würde das Gesetz mit der Zeit langsam „von seiner Achtung verlieren und am Ende einer Verhandlung bloßer Willkühr ähnlich werden, und die Rechte der Menschen in das Belieben der ausübenden Macht stellen.“117 Hierbei sei es nach Riems Ansicht letztendlich egal, ob es sich bei diesem willkürlich die Exekutive dominierenden Herrscher um einen König wie Ludwig XVI. (1754–1793) oder einen Politiker wie Maximilien de
111 112 113 114 115 116 117
das Recht, sondern den Bürger obendrein mit Weib und Kind aufopfern würden.“ Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 52. Rosanvallon: Regierung (wie Anm. 103, S. 31), S. 47. Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 152, Hervorh. i. Orig. Rosanvallon: Regierung (wie Anm. 103, S. 31), S. 39. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 40–42. Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 151. Ebd., S. 152, Hervorh. i. Orig.
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Robespierre (1758–1794) handelt, der zwischen 1793 und 1794 den mit absoluten Machtbefugnissen regierenden Wohlfahrtsausschuss dominierte.118 Auch wenn Riem die Gesetze Großbritanniens aufgrund ihrer Strenge und Unverhältnismäßigkeit als ‚barbarisch‘ ablehnt, lobt er dennoch allgemein „die Observanz, wonach lediglich der Buchstabe eines Gesetzes“ entscheidend sei: Es sei gut, „die Auslegung der Gesetze nicht dem Privaturtheile oder der Hermeneutik und Auslegung jedes vernünftigen und unvernünftigen Richters zu überlassen“.119 Diese buchstäbliche Auslegung hatte Riem jedoch im ersten Band seiner EnglandReiseberichte kritisiert: Die Gesetze hätten „in England keinen Geist, und keine weitere Bedeutung“, da sie lediglich auf „dem Wortverstand“ beruhten. Einerseits würden selbst wichtige Prozesse aufgrund „erbärmliche[r] Kleinigkeiten“,120 wie kleiner formaler Fehler, eingestellt. Andererseits führe die wortwörtliche Auslegung der Gesetze auch zu Ungerechtigkeit in der Rechtssprechung.121 In seiner Kritik des britischen Justizwesens lassen sich bei Riem bezüglich der dortigen Strafgesetzgebung ähnliche Aussagen finden, wie sie auch Knoblauch in seinen Schriften formulierte. So hat nach Riems Ansicht „jedes Strafgesetz bei vernünftiger und gebildeten Nationen eine unverkennbare Absicht, Verbrechen zuvor zu kommen, oder sie der öffentlichen Sicherheit halber zu bestrafen.“ Eine derartig vorbeugende Absicht, wie sie auch Knoblauch als das Ziel eines umsichtigen Gesetzgebers betrachtete, sei bei der Gesetzgebung in Großbritannien nicht zu finden: „Die peinlichen Gesetze sind entweder Werkzeuge der Habsucht oder der Rache, oder dienen, die Verbrechen, indem man sie vergrößert, unbestrafbar zu machen.“122 Die Strafen seien ungerecht, da sie nicht im richtigen „Verhältniß zwischen Verbrechen, seiner Moralität und dessen Bestrafung“123 stünden. Besonders deutlich werde dieses Missverhältnis bei der rigiden Bestrafung von Diebstählen. Diese würde in Großbritannien nach dem einfachen Prinzip gehand118 Obwohl der Wohlfahrtsausschuss „eine echte Regierungsgewalt, ja eine diktatorische Macht ausübte, war er im Prinzip nichts anderes als ein Ausdruck der repräsentativ-legislativen Körperschaft.“ Rosanvallon: Regierung (wie Anm. 103, S. 31), S. 50. Seine Funktion und Hierarchie innerhalb der politischen Ordnung entsprach damit theoretisch dem aus 24 Mitgliedern bestehenden Exekutivrat, der mit der republikanischen Verfassung von 1793 hätte eingeführt werden sollen. „Die anfängliche Perspektive [des Exekutivrats] war die einer reinen Versammlungsregierung, die Exekutive sah sich unmissverständlich auf die untergeordnete Stellung eines ‚Arms der [National-]Versammlung‘ verwiesen.“ Ebd. 119 Riem: Reise, England 2 (wie Anm. 29, S. 110), S. 247. 120 Ders.: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 492, Hervorh. i. Orig. 121 Riem erwähnt hierbei das nicht überprüfbare Beispiel eines Mannes, der wegen Bigamie angeklagt wurde: „Daß die Gesetze nur Buchstabensinn ohne Geist haben, beweist das Beispiel des Engländers, der zwei Weiber geheirathet hatte, und nach den englischen Gesetzen die Todesstrafe verdient hatte, welche auf die Bigamie gesetzt ist. Der Advokat des Beklagten gab ihm den Rath, eilends die dritte zu heirathen. Er thats, und die Gesetze, die bloß von Bigamie sprachen, sprachen den Schuldigen frei, den sie vorher aufs Blutgerüste gebraucht haben würden. So entgeht man, durch Häufung der Verbrechen, der Bestrafung für mindere.“ Ebd., Hervorh. i. Orig. 122 Riem: Reise, England 2 (wie Anm. 29, S. 110), S. 247, Hervorh. i. Orig. 123 Ebd., S. 248.
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habt: „Wer so viel stiehlt, als der Strick werth ist, womit man ihn hängen kann, der verdient den Tod.“ Nach Riems Meinung gebe es „kein scheußlicheres und nichtswürdigeres Gesetz, als dieses, das weder auf Gerechtigkeit, noch Moralität des Verbrechens, noch auf Proportion zwischen Verbrechen und Strafe“124 abziele. Anhand von zwei Beispielen schildert Riem die Ungerechtigkeit, die aus der unverhältnismäßigen Bestrafung einfacher Diebstähle im Vergleich zu schwereren Vergehen, beispielsweise der Veruntreuung, entstehe: So sei nach seiner Darstellung eine Frau, deren Mann in die britische Marine gepresst wurde, wegen des Diebstahls eines Tuches für ihr Neugeborenes vom „Gericht der Geschworenen zum Galgen“125 verurteilt worden. Nachdem der König „den Justizmord“ bestätigt hatte, wurde sie gehängt. Das Wohl des Kindes sei nicht beachtet worden, da es hierzu kein entsprechendes Gesetz gegeben habe. Eine andere Frau, die für ihre notleidenden Kinder gestohlen hatte, wurde hingegen begnadigt, sollte jedoch ohne ihre Kinder nach Australien deportiert werden, worauf sie die Todesstrafe wählte. Im Gegensatz hierzu sei einem Staatsbeamten, der öffentliches Geld veruntreut hatte, nur dessen „ungerechte[r] Gewinn“ abgenommen und er sei zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden: „Master Bembridge, der über eine halbe Million entwendete, lebte dafür im Ueberfluß und herrlich in Freuden in seinem Gefängnisse, das diesen Namen nicht verdiente.“126 Auch wenn Riems Vergleich dieser Fälle dahingehend problematisch ist, da es sich bei letzterem juristisch um eine Veruntreuung handelte, wird dennoch deutlich, was er mit dieser Gegenüberstellung bezwecken wollte. So unterstreichen diese Fälle Riems generelles Urteil, dass es nach den englischen Gesetzen möglich sei, durch die „Häufung [von] Verbrechen“127 die Bestrafung minimieren oder ihr sogar ganz entgehen zu können. Bei vergleichsweise geringen Vergehen, die häufiger in ärmeren Schichten auftraten, würde hingegen die Todesstrafe konsequent umgesetzt: „Die dummen, wenig routinierten Verbrecher werden aufgehangen. Die klugen, großen Räuber werden freigesprochen, und es findet über dasselbe Verbrechen keine weitere Anklage statt.“128 Diese Kritik an der strukturellen Benachteiligung der niederen Schichten wurde bereits bei Riems Darstellung des britischen Steuersystems deutlich.129 Während zudem die Fälle der beiden zum Tode verurteilten Frauen nicht auf ihre Authentizität überprüft werden können, greift Riem mit seiner Darstellung einen 124 Riem: Reise, England 2 (wie Anm. 29, S. 110), S. 248. 125 Ebd., S. 249. 126 Ebd., S. 250, Hervorh. i. Orig. – Der Veruntreuungsfall um Charles Bembridge (gest. 1794) gilt in der Rechtssprechung Großbritanniens als ein Grundstein des modernen Strafgesetzes bezüglich der Veruntreuung von öffentlichen Geldern. Bembridges Prozess wird ausführlich dargestellt in: Jeremy Horder: R v Bembridge. In: Phil Handler, Henry Mares u. Ian Williams (Hg.): Landmark Cases in Criminal Law. Oxford u.a. 2017, S. 81–101, hier S. 81–94. 127 Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 492. 128 Ders.: Reise, England 2 (wie Anm. 29, S. 110), S. 252. 129 Vgl. Kapitel 3.3.
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wesentlichen Charakter des damaligen englischen Strafrechts auf. Dessen besonderes Merkmal stellte die häufige Anwendung der Todesstrafen auch bei geringen Eigentumsdelikten dar, was sich jedoch erst Anfang des 17. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Vor dieser Zeit handelte es sich lediglich bei 15 Delikten um Kapitalverbrechen, wobei diese Zahl zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunahm. Diese Zunahme kann vor allem mit den politischen und sozialen Veränderungen im Zuge der Glorious Revolution in Zusammenhang gebracht werden: „In dieser Zeit ä nderten sich in England die Machtverhä ltnisse grundlegend. Das Kö nigtum verlor weit gehend an Kompetenzen, Adel und Großgrundbesitz – und damit das Parlament – wurden die machtvollsten Gruppen im Staat.“130 Hierdurch kann vor allem die Verschärfung der Ahndung von Eigentumsdelikten, was im Interesse der ländlichen Großgrundbesitzer lag, erklärt werden. Dennoch entwickelten sich auch viele Strategien, mit denen Verurteilte einem Todesurteil entgehen konnten. Obwohl zudem eine große Zahl der wegen Diebstahls zu Tode Verurteilten begnadigt wurde, blieb diese Strafform weiterhin eine Maßnahme der Abschreckung.131 Auch wenn Riem das preußische Gerichtswesen in seinen Schriften ausdrücklich nicht in eine Reihe mit Justizsystemen anderer Monarchien stellte, in denen nach seiner Meinung das Recht nach dem Willen des Adels gebeugt wurde, wird seine persönliche Meinung dennoch durch seine Verbannung aus Preußen geprägt worden sein. Während Riem aller Wahrscheinlichkeit nach keine gesicherten Beweise zur Hand hatte, dass er bei seiner Ausweisung selbst Opfer von massiver Rechtsbeugung geworden war,132 scheint ihm dennoch bewusst gewesen zu sein, dass dieser Bann keine rechtliche Grundlage hatte: So schrieb Riem nach seiner Verbannung, während er sich in Dresden bei seinem Bruder befand, an Philipp Karl Graf von Alvensleben, er sei das Opfer einer Verschwörung gegen den König geworden. Ohne ihm selbst ein Verbrechen vorwerfen zu können oder ihm die Gründe für seine Ausweisung zu nennen, habe man den König auf diesem Weg einen seiner patriotischsten Diener rauben wollen.133 Zwei Jahre später erklärte Riem, er sei aufgrund einer falschen Aussage „für den gefährlichsten Jakobiner“134 erklärt und deswegen verbannt worden. Hierdurch ist auch nachvollziehbar, dass Riem die strikte Trennung von Justiz und Verwaltung lobte, wie sie in Frankreich ab 1789 bestand und im Laufe der Revolution mehrmals bestätigt wurde.135 Durch diese Trennung wurde „der Bürger gegen jede Art von Unterdrückung und persönlicher Verfolgung übelgesinnter
130 Dieter Reicher: Staat, Schafott und Schuldgefühl. Was Staatsaufbau und Todesstrafe miteinander zu tun haben. Wiesbaden 2003 (Figurationen 5), S. 70. 131 Vgl. ebd., S. 70–72. 132 Vgl. hierzu die Darstellung und vor allem das entsprechende Gutachten in Kapitel 2.3.2. 133 Vgl. Bürger: Andreas Riem (wie Anm. 342, S. 70), S. 251 f. 134 Riem: Reise, Holland 2 (wie Anm. 513, S. 96), S. 460. 135 Vgl. Rosanvallon: Staat (wie Anm. 56, S. 408), S. 51.
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Beamte[r] […] gesichert“136 und die Möglichkeit, die lokale Verwaltung vor einem unabhängigen Gericht anzuklagen, habe „die Freiheit der Bürger und ihre Rechte alleine [ge]schützt“.137 Ebenfalls lässt sich bei aller Kritik an der englischen Rechtssprechung Riems Lob des englischen Habeas-Corpus-Gesetzes erklären. Dieses galt „als eine der Schlüsselinstitutionen zum Schutz der englischen (zivilen wie politischen) Freiheitsrechte“138 und sah unter anderem vor, dass innerhalb einer kurzen Frist richterlich über die Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung entschieden werden musste. Riem hob daneben besonders hervor, dass einem Bürger „die Ursache seiner Gefangennehmung“ mitgeteilt werden musste und er zudem – sofern es sich nicht um ein Kapitalverbrechen handelte – unter Nennung eines Bürgen, „der dafür haftet, daß [der Beschuldigte] sich zu jedem Verhör stellen“ werde, unmittelbar freigelassen werden müsse. Unter dem Gesichtspunkt dieses Gesetzes steht für Riem fest, dass die Briten „wirklich freie Menschen“139 sind. Zudem sei das Habeas-Corpus-Gesetz „wirklich einer republikanischen Verfassung würdig“.140 Dass dieses Gesetz „[m]anchmal schon, und noch in diesen Jahren, […] unter einem sehr nichtigen Vorwande“ von der Regierung eingeschränkt worden sei, empfindet Riem geradezu als Bestätigung seiner positiven Bewertung des Habeas-Corpus-Gesetzes. Wahrscheinlich auch im Bewusstsein seiner eigenen Biographie stellt Riem diese Suspendierung als Instrument der Regierung dar, „wodurch sie die Gewalt erhält, alle Bürger, deren Patriotismus ihr verdächtig oder auch gefährlich dünkt, mit freier Willkühr einkerkern zu lassen, wie irgend ein unumschränkter Monarch [es] zu thun pflegt.“141 Dieser Akt willkürlicher Festsetzung ist nur möglich, wenn dieses die Freiheiten des Volkes schützende Gesetz temporär aufgehoben wird. Könnte ein Herrscher trotz des bestehenden Gesetzes willkürlich verfahren, wäre dies wiederum ein Anzeichen für bestehende Lücken und der Fehlerhaftigkeit des Gesetzes. Hierdurch wird der Versuch, das Gesetz zu suspendieren, zum Beleg von dessen Wirksamkeit. Zugleich kann Riem anhand dieses Beispiels sein Plädoyer für die Unverletzlichkeit und absolute Geltung von Gesetzen unterstreichen, welche durch ihre „Heiligkeit ewig unabänderlich“142 sein müssten: So zeige die Aufhebung des HabeasCorpus-Gesetzes, „daß nur ein Gesetz dann ganz gut ist, wenn keine Gewalt seine wohlthätigen Wirkungen hemmen kann.“ Ein Gesetz, das durch den Herrscher 136 137 138 139 140 141
Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 99. Ebd., S. 101. Rosanvallon: Regierung (wie Anm. 103, S. 31), S. 228. Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 500. Ebd., S. 501. Ebd., S. 502 – Entsprechend Riems Darstellung diente die Aufhebung des Habeas-Corpus-Gesetzes in den Jahren von 1794–1795 und 1798–1801 „zur Verfolgung von Verdä chtigen, also von radikalen Demokraten […]. Jedes Eintreten für eine Parlamentsreform wurde als Hochverrat deklariert, was die Todesstrafe zur Folge hatte.“ Reicher: Staat (wie Anm. 130, S. 421), S. 193. 142 Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 152, Hervorh. i. Orig.
3.4 Politische Ordnung
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oder die Regierung eingeschränkt werden könne, „sichert bloß gegen die Mitbürger des Staats“,143 nicht aber gegen den Herrscher oder die Regierung selbst. Mit Blick auf Riems Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich behandelt werden müssen, wird deutlich, dass dies vor allem nach Gesetzen geschehen müsse, die nicht – und nicht einmal von den Herrschenden – verändert werden können. Eine Gleichbehandlung, die nur solange gilt, bis sie willkürlich aufgehoben wird, garantiert somit letztendlich keine gerechten juristische Verfahren, sonder gewährt sie lediglich auf Zeit. Folglich kann ein Staat die Gerechtigkeit nur dann garantieren, wenn er sich selbst vorbehaltlos den eigenen Gesetzen unterwirft. Schmohl: Künstliche Ungleichheit als Gefahr für Gerechtigkeit und Freiheit Auch in den Schriften Johann Christian Schmohls – vor allem in seiner letzten Veröffentlichung Ueber Nordamerika und Demokratie. Ein Brief aus England – sind Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit wichtige und grundlegende Begriffe. Sie werden von ihm ebenfalls mit dem Konzept der Sicherheit verknüpft, die aus der Herrschaft der Gesetze entsteht. Nur durch Gesetze könne Schutz vor Willkür und damit verbundener Despotie geboten werden, wie Schmohl am Anfang seines ersten Briefes verdeutlicht, den er am 29. November 1781 in London geschrieben zu haben vorgibt: „Gott sey Dank, da bin ich nun, im Hafen der Sicherheit, geschützt vom Obdach der Gesetze gegen den Sturm der Willkühr, in dem großen Lande, wo allein noch nicht despotisches Gouvernement eines Einzigen oder Weniger die Ursouverainität des Volks in Knechtschaft verwandelt“144 habe. Trotz der augenscheinlichen Übereinstimmung dieser Begriffe unterscheiden sich Schmohls Vorstellungen deutlich von denen Andreas Riems und Karl von Knoblauchs. Dies wird, wie im Verlauf gezeigt werden soll, vor allem bei seinem Verständnis von Freiheit deutlich. Ähnlich wie für Knoblauch steht auch für Schmohl fest, dass Recht nicht aus Stärke entspringen kann: Niemand könne „dauernd stark seyn […] als durch Recht“ wodurch deutlich werde, dass „das Recht also nicht erst Wirkung der Stärke, sondern“145 die Ursache von Stärke darstelle. Darüber hinaus zieht Schmohl in Ueber Nordamerika und Demokratie eine naturrechtliche Argumentation heran, auf deren Grundlage er – ebenfalls wie Knoblauch – darlegt, dass es Rechte gebe, die von anderen Menschen (sowie von staatlicher Seite) nicht eingeschränkt werden dürften. Während er die individuelle Freiheit eines Menschen in seinem Artikel Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bü rgerlichen Gesellschaft noch damit begründete, dass sich ein Mensch noch nie freiwillig in die Position des Unterdrückten begeben hätte,146 führt er in seinem ersten Brief aus England anstelle der freien Willensentscheidung eine Begründung an, die an eine naturrechtliche Argumentation erinnert: 143 144 145 146
Ders.: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 502. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 3. Ebd., S. 6. Vgl. Kapitel 3.2.2.
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So habe die Natur „keinem Menschen gegen den andern ein unbeschränkt willkührliches Recht gegeben“,147 damit dieser mit seinem Mitmenschen machen könne, was er wolle. Die Freiheit der Menschen stellt für Schmohl damit in erster Linie die Abwesenheit von Fremdbestimmung beziehungsweise -herrschaft dar. Sie steht für ihn in einer direkten Relation zum Besitz der Menschen und vor allem zu dessen Verteilung innerhalb der Gesellschaft. So hatte Schmohl beobachtet, dass es vor allem in „sehr bevölkerten Staaten, wo viele große Städte und eine allverschlingende Hauptstadt sind“, große Unterschiede bei der Besitzverteilung gebe. Daher treffe man besonders oft armes, „[e]lendes Volk […] in den großen Städten, wie Paris, Berlin u. s. w.“ an, da dort „die äußerste Ungleichheit in Glücksgütern“ vorzufinden sei. In solchen durch Städte geprägten Ländern könne es vorkommen, dass eine Person alleine „30 Millionen und mehr jährliche Einkünfte“ habe, aber dafür „viele tausend andere nicht 30 Thaler.“ Hierdurch sei vor allem in diesen dicht bevölkerten Gebieten Unfreiheit und „Knechtschaft“148 vorzufinden. Ursächlich für die Unfreiheit ist folglich nicht die Bevölkerungsdichte, sondern die ungleiche Verteilung von Besitz, die mit höherer Wahrscheinlichkeit dort auftrete, wo viele Menschen auf geringem Raum zusammenleben. Eine homogene Verteilung von Besitz und damit ein geringerer Unterschied zwischen Arm und Reich ließe sich nach Schmohl eher in dünn besiedelten, ländlichen Gebieten finden. Auch herrsche zwischen Menschen, die sich in einer frühen kulturellen Entwicklungsstufe befänden, ein sehr hohes Maß an Gleichheit: So seien „die Begriffe von Reichthum und Armuth, welche wir itzt haben“, grundlegend verschieden zu denen von Jägern und Sammlern, aber auch von Menschen, die bereits Viehzucht oder frühe Formen des Ackerbaus betrieben. Zwar gebe es auch hier keine vollkommen gleiche Verteilung von Reichtümern: „Es hatte wohl Einer etwas mehr, und Einer etwas minder, als der Andre;“149 dieser geringe Unterschied sei jedoch nicht im Ansatz mit der Diskrepanz vergleichbar gewesen, wie sie zwischen armen und reichen Menschen im 18. Jahrhundert in Europa herrschte. Aufgrund ihres hohen Grades an Gleichheit sieht Schmohl die Verbindung dieser „Naturmenschen“150 – womit Schmohl indigene Volksgruppen in Afrika, Asien und Amerika meint151 – als „ursprünglich […] republikanisch“ an. Dies bedeutet nach seinem Verständnis, dass jedes Mitglied dieser Gemeinschaft „förmlich gleiche Rechte mit dem andern“152 habe. Hier ist jeder Mensch, der an der politischen Öffentlichkeit partizipieren darf – also meist das männliche Familienoberhaupt153 – 147 148 149 150 151 152 153
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 21. Ebd., S. 66. Schmohl: Ursprunge (wie Anm. 113, S. 33), S. 341. Ders.: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 108. Zu Schmohls Verortung der frühen Entwicklungsstufen von Völkern, vgl. Kapitel 3.2.1. Ebd., Hervorh. i. Orig. Vgl. Kapitel 3.2.2.
3.4 Politische Ordnung
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„Glied des Gesetzgebungskörpers“ und damit „mit aller ihm möglichen Freyheit“154 ausgestattet. Ausdruck dieser rechtlichen Gleichheit unter den Naturvölkern ist nach Schmohls Meinung besonders die Art und Weise, wie diese im Falle eines Krieges einen Anführer bestimmten. Dieser werde nur für diese Aufgabe gewählt und habe seine Macht „also nur von Zeit zu Zeit“ inne. Außerdem müsse er in dieser Zeitspanne „nach den Gesetzen aller verfahren“155 und könne bestraft werden, wenn er sich nicht an diese gemeinsam gegebenen Gesetze halte. Ist der Krieg beendet, hört die Gewalt des Kriegsführers auf und er wird „wieder einer ihres gleichen“.156 Bei manchen Völkern – besonders „bey vielen Indianern in Amerika“ – würde sogar der Kriegsherr nicht gewählt; stattdessen entscheide dort „das Loos“157 über ihn. Dieses Verfahren stellt für Schmohl ein ganz besonderes Merkmal von menschlicher Gleichheit dar: Während bei einer Wahl – selbst unter Gleichen – davon ausgegangen werde, dass es fähigere und weniger fähige Kandidaten für ein Amt gebe und durch das Wählen der Beste bestimmt wird, werde diese Auswahl beim Losen dem Zufall überlassen. Hierdurch wird jeder Teil der Gemeinschaft als gleich fähig und würdig angesehen, das notwendige Amt auszufüllen.158 Über die Gesellschaftsform dieser Naturvölker hinaus bestehe der größte Sinn des Wortes ‚Freiheit‘ darin, sich selbst als Glied des Staats Gesetze [zu] geben, seine Einwilligung in das [zu] geben, was man der Gemeinheit wegen befolgen muß, sich nur der Mehrheit der Stimmen, was jedes eigner Wille ist, [zu] unterwerfen, sich mit Güte, und nicht mit Gewalt zur Annahme eines Gesetzes bewegen [zu] lassen, und das Recht [zu] behalten, selbst welche zu machen.159
In einer unfreien Gesellschaft könne hingegen ein einzelner Mensch, der meist selbst nicht in der Lage sei, zu wissen, was das Beste für ihn persönlich darstelle, diesen persönlichen Wunsch als allgemeinen Willen ausgeben und alle anderen mit Gewalt zwingen, ihn umzusetzen. Ähnlich wie Knoblauch geht auch Schmohl davon aus, dass die Menschen mit einer „natürliche[n] Ungleichheit der Kräfte“ und den daraus resultierenden unterschiedlichen Eigenschaften geboren werden. Er könne der Aussage, die „besonders in den Schulen der französischen Philosophen“ vertreten werde, dass sich die 154 155 156 157 158
Ebd. Ebd. Ebd., S. 109. Ebd. In den antiken Demokratien stellte das Auslosen von Ämtern ein grundlegendes, demokratisches Prinzip dar, welches kaum Eingang in die modernen demokratischen Systeme fand, obwohl wirkungsmächtige Philosophen wie Rousseau im Auslosen ein bedeutendes Mittel zur Bekämpfung von Korruption sahen. Vgl. hierzu und auch als allgemeine Darstellungen zu diesem Thema: Hubertus Buchstein: Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU. Frankfurt a.M. u. New York 2009, S. 199–207; Yves Sintomer: Das demokratische Experiment. Wiesbaden 2016, S. 106. 159 Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 165.
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Menschen dem Wesen nach „immer und überall gleich“ seien und sich nur ihre „Form“160 – also ihr Aussehen – unterscheide, nicht viel abgewinnen. Stattdessen würden sich die Menschen von Natur aus genauso voneinander unterscheiden, wie auch „kein Blatt am Baum dem andern“161 gleiche. Dennoch könne aus dieser natürlichen Ungleichheit der menschlichen Kräfte niemals eine derartige künstliche Ungleichheit an Besitz und Macht entspringen. Träfe der Fall zu, dass die künstliche Ungleichheit als Ausdruck der natürlichen Anlagen eines Menschen anzusehen wäre, hätten sich niemals auch nur bei einer Gesellschaft demokratisch-freiheitliche Strukturen entwickeln können. „Immer wäre Ein Despot und Millionen Sklaven das Verhältnis unter den Menschen“ gewesen, wenn „die natürliche Ungleichheit durch sich selbst wirken“162 sollte. Da sich in der Vergangenheit in einigen Ländern jedoch demokratische Strukturen entwickelt hätten, könne nicht ausgehend von „gemachten künstlichen Ungleichheiten unter den Menschen, wie Geld, Reichthum, Adel u. s. w.“ auf angeblich überlegene, natürliche Fähigkeiten eines Menschen geschlossen und damit dessen Recht legitimiert werden, dass er „nothwenig allen andern förmlich Gesetze geben müsse“.163 Diese künstliche Ungleichheit sei erst viel später in höheren Entwicklungsstufen der Menschheit entstanden und könnte auch „erst in großen verdorbenen Staaten so groß“ werden, wie sie Schmohl im 18. Jahrhundert beobachtete. Während großer Reichtum und erbliche Macht nicht als Indikator für natürlich angeborene, überlegene Fähigkeiten herangezogen werden können, ist sich Schmohl ebenso sicher, dass es zwischen den Menschen – trotz ihrer angeborenen Heterogenität – keine derart herausragenden Unterschiede ihrer jeweiligen Fähigkeiten gebe: Die Eigenschaften, „die das Wesen des Menschen“ ausmachten, seien „sich immer weit ähnlicher“ als die künstlichen Eigenschaften „wie Reichthum, Geburtsehre“ und die gesellschaftlichen Privilegien, die sich daraus ergeben. Dennoch habe durch die ererbten Privilegien „jetzt mancher 20 Millionen unter sich, der in Betreff der erstern [natürlichen] Eigenschaften unter allen 20 Millionen wäre, wenn diese noch gälten.“164 Nach Schmohl sei kein Mensch in der Lage, alleine „durch seine persönlichen Kräfte und Tugenden“ auch nur „20 andern von der Straße aufgegriffnen Menschen“ durch das „Stärkerecht[] und mit Zwang im Fall des Ungehorsams, Zeitlebens Gesetze geben zu können“.165 160 161 162 163 164
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 108. Ebd., S. 126. Ebd., S. 128 f. Ebd., S. 129. Ebd. – Diese Aussage untermauert Schmohl mit mehreren Vergleichen: „Noch nie hat ein Mensch wie eine Mastbaumtanne empor geragt, in dem der andere wie Moos an der Erde klebte. Noch nie hat einer tausendjährige Eichen mit dem Arm entwurzelt, indem ein andrer gesunder Mensch beym Brechen einer Mayblume in allen Sehnen laß [matt, Anm. M. L.] ward. Noch nie lief einer unpoetisch mit Blitzschnelle, da jeder andere schildkrötete. Noch nie hat Einer das allein gewußt, was Tausende zusammen wissen.“ Ebd. 165 Ebd., S. 130.
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Um nun zu verhindern, dass durch ungleich verteilten Besitz ein Mensch in die Lage gebracht werde, über andere willkürlich zu regieren und ihnen damit ihre Freiheit zu entziehen, sollte nach Schmohls Meinung die künstliche Ungleichheit ebenso geringe Unterschiede aufweisen wie die natürlichen heterogenen Kräfte der Menschen. In einer Gesellschaft müssten die Besitztümer aller ihrer Mitglieder „so unmerklich von Nachbar zu Nachbar“ abgestuft sein, „daß sich alle für ihres gleichen halten und keiner es wagt, den andern für ungleich zu behandeln, ihm nicht dieselben Rechte zuzugestehen, sich für ein Wesen höherer Art zu halten.“ Schmohl hält „[e]ine solche sanfte allmähliche Abstufung“ beim Besitz sinnvoller „als die ungeheure[n] Klüfte bey uns, wo einer 30 Milionen Thaler hat, 5 nur 20 000 Thaler, 30 nur 8 000 Thaler, 500, 4 000 Thaler, 6 Millonen 50 bis 100 jährlich, 20 Millonen aber nichts haben als was der erste ihnen giebt oder läßt.“166 Auf Grundlage dieser Argumentation und unter Berücksichtigung von Schmohls Verständnis von Freiheit als uneingeschränkte Selbstbestimmung des Menschen verwundert es nicht, dass er „Gewinnsucht, Geldgeiz, Streben nach Reichthum, [als] die unedelste, verderblichste, der Freyheit entgegenste Leidenschaft“ ansah. Hierbei könnten „keine grossen edlen Kräfte entwickelt werden, sondern meist nur Betrug und Kleinheit des Geistes und Herzens.“ Schmohl war sogar davon überzeugt, dass „[w]irklich rechtschafne Patrioten“ niemals versuchen würden, reicher als ihre Mitmenschen zu werden: Der Raub von Dingen könne niemals Teil der menschlichen Freiheit sein, „und ist alles, was ich, ohne daß ichs brauchte, mir zueigne, nicht andern geraubt?“167 Deswegen sah es Schmohl auch nicht als Tyrannei oder Despotie an, wenn von staatlicher Seite – zum Schutz der Freiheit – der Besitz der Bürger kontrolliert und reguliert würde: „Es ist keine Tyranney, dem Gewerbmann, auf ein den Werth des Landguts eines Bürgers, gleiches Vermögen einzuschränken, so weinig als es Tyranney ist, den Besitz zweyer Landgüter zu verwehren“.168 Stattdessen stelle dies einen Umstand dar, an dem „jedes Bürgers wahres großes Wohl“169 hänge, da sie hierdurch vor unrechtmäßiger, unfreier Herrschaft – aus Schmohls Sicht: Knechtschaft und Sklaverei – geschützt seien. Mit seiner Forderung nach staatlicher Kontrolle des Besitzes der Bürger war Schmohl mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Rousseaus zweiten, 1754 erschienenen Discours beeinflusst worden. Rousseau sah ebenfalls „im Eigentum die Ursache der Ungleichheit unter den Menschen“170 und forderte zur Vermeidung von Ungleichheit eine gleichmäßige Verteilung des Besitzes. Beide, Rousseau und Schmohl, plädierten jedoch nicht für eine vollständige Abschaffung das Privateigentums, 166 167 168 169 170
Ebd., S. 133. Ebd., S. 186. Ebd., S. 185 f. Ebd., S. 186. Kuhn: Französische (wie Anm. 718, S. 226), S. 50.
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was in Frankreich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts vereinzelt gefordert wurde.171 Im deutschsprachigen Raum forderte dies beispielsweise zehn Jahre nach Schmohl Carl Wilhelm Frölich (1759–1828) in seinem Werk Über den Menschen und seine Verhältnisse. Dieser sah das Privateigentum nicht nur als Gefahr für die Gleichheit und Gerechtigkeit an, sondern betrachtete es ebenfalls als Ursprung einer „ungeheure[n] Menge von Verbrechen, mehr noch der lichtscheuen Vergehungen“ und einer „unzählige[n] Schar von moralischen Unvollkommenheiten“, die meist durch Neid und „jenem Triebe zum Eigenthum“172 hervorgerufen würden. Bei Schmohl sollte das Privateigentum hingegen erhalten werden und ebenfalls auch gesichert sein – solange die staatliche Besitzkontrolle nicht zum regulativen Eingreifen gezwungen wurde. Ein Schmohls Darstellungen sehr ähnliches Konzept lässt sich in Adolph Freiherr Knigges 1791 erschienenen Roman Benjamin Noldmann’s Geschichte der Aufklärung in Abyssinien finden. Auch Knigge sah eine Gefahr darin, dass angehäufter Besitz, der sich von Generation zu Generation vererbt, immer weiter vergrößern konnte, was dazu führe, dass möglicherweise „auf diese Weise zuletzt aller Reichthum eines Landes, und sogar das Land selbst, in die Gewalt eines einzigen schlechten Menschen käme, indeß alle Edlen darben, oder seine Sclaven werden müßten“. Insgesamt stifte „der unmäßige Unterschied zwischen zufällig reich und arm gewordnen Leuten unendlich viel Unheil“, weshalb auch Knigge konstatiert: „Wie schön wäre es daher, wenn man eine neue, gleiche Vertheilung der Güter vornehmen […] könnte!“ Weitreichender als Schmohl forderte Knigge sogar, dass es untersagt sein solle, „sein Vermögen auf Andre zu vererben“.173 Stattdessen sollte jeder mündig gewordene Bürger vom Staat mit einem neuen Haushalt ausgestattet werden und der Besitz seiner Eltern nach deren Tod an den Staat zurückfallen. Dem Argument, Eltern könnten sich durch dieses Verbot entmutigt fühlen, fleißig und gewinnbringend zu arbeiten, da sie mit Sicherheit wüssten, nichts davon an ihre Kinder weitergeben zu können, entgegnet Knigge, dass „[d]er thätige, betriebsame Mann“ nicht aus solchen Gründen „faul und nachlässig“ würde, da ihm schließlich die „Arbeit ein Bedürfniß“174 sei. Darüber hinaus könne eine derartige staatliche Ausstattung der mündig gewordenen Kinder auch eine gewisse Beruhigung darstellen, da die Eltern sicher sein könnten, ihren Kindern auch keine Schulden zu vererben, wenn sie aufgrund einer falschen Entscheidung verarmen sollten. Letztendlich plädiert Knigge in seinem Werk jedoch für einen Mittelweg: Jeder Landbewohner sollte – wie bei Schmohl175 – einen Landbesitz von einer be171 Vgl. Kuhn: Französische (wie Anm. 718, S. 226), S. 50–52. 172 [Carl Wilhelm Frölich]: Über den Menschen und seine Verhältnisse. Berlin 1792, S. 200. 173 [Adolph Freiherr Knigge]: Benjamin Noldmann’s Geschichte der Aufklärung in Abyssinien, oder Nachricht von seinem und seines Herrn Vetters Aufenthalte an dem Hofe des großen Negus, oder Priesters Johannes. Frankfurt u. Leipzig 1791, S. 217. 174 Ebd., S. 218. 175 Vgl. Kapitel 3.4.3.
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stimmten Größe erhalten; dürfe jedoch nicht mehr als diesen besitzen. Während bei Schmohl dieses Land auch nach dem Tod der Eltern im Besitz der Familie bleiben und nur sichergestellt werden sollte, dass durch einen erblichen Zusammenfall nicht ein Mensch mehrere dieser Grundstücke besäße, sollten nach Knigges Vorstellung die Ländereien wieder an den Staat fallen. Die Güter jedoch, welche die Eltern durch Fleiß und Geschick über das normale Maß hinaus zu erwirtschaften in der Lage waren, sollten – als Motivation des Landbesitzers – an die Kinder vererbt werden können. Hierdurch war jedoch auch Knigge bewusst, dass durch seinen Kompromiss „nicht aller Unterschied zwischen armen und reichen Leuten“ entfallen würde. Dennoch sei es den Reichen nicht mehr möglich, „die Gewalt des Geldes zu[r] Unterdrückung ihrer Mitbürger an[zu]wenden“, indem sie „viel Grundstücke zusammen kaufen, große, mächtige Herren im Lande werden und viel Menschen zu Sclaven und Knechten machen.“176 Aufgrund ihrer großen Ähnlichkeit hätte Knigge Schmohls Vorstellung von Freiheit, Gleichheit und seinen Vorschlägen zu deren Sicherung wahrscheinlich zugestimmt. Bei Knoblauch und Riem wäre dies mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der Fall gewesen. Beide hätten Schmohl vermutlich vehement bei dessen Forderung widersprochen, die Einschränkung des bürgerlichen Besitzes als Garantie für die persönliche Freiheit eines Menschen anzusehen, die ein Staat zu gewährleisten habe. Für Knoblauch und Riem wäre stattdessen eine Freiheit ohne die Garantie der Eigentumsrechte undenkbar gewesen: So stellte für Knoblauch die ungleiche Verteilung von Besitz – also das, was von Schmohl als das größte Übel überhaupt angesehen wurde – eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft – und somit den Staat – dar: Nur so könnten die größeren Leistungen eines ‚Genies‘ für die Gemeinschaft gegenüber den gewöhnlichen Leistungen aller anderen ausreichend honoriert werden.177 Auch sah Knoblauch die Befugnis, über diesen Besitz „nach Willkühr zu disponiren“,178 als naturrechtlich gesichert an, wie vor allem aus seinen Ausführungen zur Unverletzlichkeit von Briefen sowie zum Testieren hervorgeht. Schon Montesquieu und vor ihm „der Mann von Tuskulum“ – Marcus Tullius Cicero (106–43) – hätten gefordert, „daß der Staat so wenig als möglich mit dem Privateigenthum“ seiner Bürger spiele, sodass „der einzige Beweggrund“, sich in einem Staat zusammenzufinden, „die gehoffte Sicherheit und Unverletzlichkeit“179 des bürgerlichen Eigentums sei. Ein Staat, der den Besitz seiner Bürger nicht schützte, sondern ihnen diesen wegnehme, um ihn durch Verteilung zu regulieren, bezeichnete Knoblauch als Despotie. So kritisierte er den Eingriff der französischen Nationalversammlung in das Eigentum seiner ehemals adligen Bürger, wie er in seiner Antwort auf Wielands Anmer176 177 178 179
Ebd., S. 222. Vgl. Kapitel 3.2.2. Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 157. Ebd., S. 188.
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kung zu einem seiner politisch-philosophischen Gespräche180 ausführte: Diese hätten über den „Verlust des größten Theils [ihrer] Einkünfte, Lehngüter, u. d.“ geklagt, die ihre „Vorfahren seit Jahrhunderten, unter der Garantie des Staates, besessen“ und sie selbst es von diesen „gesetzmässig ererbt“ zu haben meinten. Auch hätten diese Adligen gemeint, dass sie das Ihrige „mit eben dem Rechte“ besäßen, „womit jeder andere Bürger das Seinige besizt.“ Mit ihrem Eingriff in diese natürlichen Besitzrechte, habe die Nationalversammlung die „feierlichen Verträge“ der Menschen verletzt und „den Despotismus weiter“ getrieben, als es „kaum der souverainste Monarch thun würde“.181 Knoblauchs Verständnis, das er für französische Adlige aufbringen konnte, die ihren Besitz gefährdet sahen, kann ebenso mit seiner Biographie und Sozialisation erklärt werden, wie es im Falle des Bauernsohns Schmohl verständlich ist, dass er es begrüßt hätte, wenn die Bürger eines Staates gleichmäßig und gerecht mit Land ausgestattet worden wären.182 Für Riem, der sogar Zollschranken oder anderweitige Hemmungen der wirtschaftlichen Konkurrenz als einen „unmittelbare[n] Angriff auf [sein] Eigenthum und [sein] Bürgerrecht“183 betrachtete, war es sogar egal, welche Regierungsform ein Staat habe, sofern in ihm nur die fundamentalen Rechte der Menschen – die „Sicherheit der Personen, des Eigenthums, der Ehre etc.“ – geachtet würden. Deren Wahrung stelle „[d]er Zweck aller guten Verfassungen, so wie der demokratischen Republik“ dar. Finde man diese guten Gesetze zur Wahrung der natürlichen Rechte hingegen „unter einem gute Fürsten, so wäre es doch wohl eine Albernheit, diese zu verlassen“.184 3.4.2 Die Auseinandersetzung mit politischen Umbrüchen 3.4.2.1 Revolution(en) und ihre Legitimation Die Bedeutung des Begriffs ‚radikal‘ als rücksichtslose Durchsetzung von Interessen hat die Annahme zur Folge, dass Vertreter einer radikalen Politik eine vollständige Umwälzung der politischen Verhältnisse mit allen Mitteln anstrebten und hierfür selbst vor Gewalt nicht zurückschreckten. So stellte es in der Jakobinerforschung ein charakteristisches Merkmal von ‚revolutionären Radikaldemokraten‘ dar, dass diese angeblich die „Bereitschaft zur Akzeptanz von Gewalt zur Durchsetzung freiheitlicher Ziele“185 auszeichnete. Eine derartige Zuspitzung bei der Definition sogenannter ‚deutscher Jakobiner‘ führt zu einer Verengung der historischen Analyse, 180 181 182 183 184 185
Vgl. Anmerkung 90 in diesem Kapitel. Knoblauch: Noten (wie Anm. 90, S. 414), S. 14, Hervorh. i. Orig. Vgl. hierzu auch Kapitel 3.4.2.1. Riem: Reise, Frankreich 3 (wie Anm. 530, S. 98), S. 256 – Vgl. Kapitel 3.3. Ders.: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 144, Hervorh. i. Orig. Günter Birtsch: Naturrecht und Menschenrechte. Zur vernunftrechtlichen Argumentation deutscher Jakobiner. In: Otto Dann u. Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht, Spätaufklärung, Revolution. Hamburg 1995 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert Bd. 16), S. 111–139, hier S. 113.
3.4 Politische Ordnung
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die gezielt nach der Befürwortung von Gewalt suchen muss, um den eigenen Kriterienkatalog zu erfüllen. Eine solchermaßen verengte Analyse soll durch die offene Definition einer radikalen Aufklärung vermieden werden. Daher konzentriert sich dieses Unterkapitel auf die Frage, inwiefern Revolutionen in den Schriften der drei Aufklärer als Veränderung der politischen Verhältnisse innerhalb eines Staates theoretisch und praktisch legitimiert wurden und welche Reaktion real stattfindende Umwälzungen bei ihnen auslösten. Zwar ist auch hierbei die Problematik von Gewalt zur Umsetzung von politischen Zielen relevant. Eine Befürwortung dieser wird jedoch nicht als konstitutiv für die Bewertung von eventueller Radikalität angesehen. Vielmehr soll darauf geachtet werden, auf welche Weise gewaltsam verlaufende Revolutionen mit der eigenen Vorstellung von politischer Veränderung in Einklang gebracht wurden oder ob sich die Autoren von ihnen distanzierten. Johann Christian Schmohl als Befürworter der Amerikanischen Unabhängigkeit Die Amerikanische Revolution mit ihrem von 1775 bis 1783 geführten Unabhängigkeitskrieg zwischen den Dreizehn Kolonien und ihrem Mutterland Großbritannien, von welchem sich diese 1776 unabhängig erklärten,186 wurde in der deutschsprachigen Öffentlichkeit kaum beachtet. Der Grund hierzu kann einerseits in der Zensur der jeweiligen Länder gesucht werden, welche die Diskussion über die politische Bedeutung der amerikanischen Unabhängigkeit bremste. Andererseits wird es auch an der mangelnden politischen Vorbildung der deutschsprachigen intellektuellen Öffentlichkeit gelegen haben, dass die Ereignisse in Amerika meist abschätzig als ‚Rebellion‘ heruntergespielt wurden. Das allgemeine Wissen um die politische Sachlage in Amerika, auf deren Grundlage Befürworter und Gegner über die Legitimität der Unabhängigkeit diskutierten, war äußerst dünn. Alleine der Soldatenhandel einiger deutscher Fürstentümer wurde in der öffentlichen Diskussion thematisiert und machte einen Großteil der Darstellungen der amerikanischen Ereignisse aus.187 Erst nach dem „Ausbruch der französischen Revolution spielte […] die Information über die amerikanische Revolution und Republik eine bisher ungeahnte Rolle, sobald sie nach vorübergehendem Blackout wieder entdeckt worden waren.“188 In diesem Umfeld stellt Johann Christian Schmohls Darstellung und Plädoyer für die amerikanische Unabhängigkeit „[t]he one notable exception“189 dar, wie es Horst Dippel in seiner ausführlichen Untersuchung zur deutschsprachigen Rezep186 Eine umfangreiche Darstellung der komplexen Historie der Amerikanischen Revolution bietet: Hochgeschwender: Amerikanische Revolution (wie Anm. 247, S. 295). 187 Vgl. Gonthier-Louis Fink: Die amerikanische Revolution und die französische Revolution: Analogien und Unterschiede im Spiegel der deutschen Publizistik (1789–1798). In: Modern Language Notes 103.3 (1988), S. 540–568, hier S. 540–543; Dippel: Germany (wie Anm. 14, S. 17), S. 90. 188 Fink: Amerikanische Revolution (wie Anm. 187), S. 543. 189 Dippel: Germany (wie Anm. 14, S. 17), S. 90.
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tion der Amerikanischen Revolution konstatierte. Zwar konnte Schmohl entgegen Dippels Darstellung sein großes Vorbild John Adams erst nach Veröffentlichung seines Werkes Ueber Nordamerika und Demokratie in Den Haag kennen gelernt haben. Auch ist fraglich, ob er in London wirklich Zugang zu dem im Tower inhaftierten Henry Laurens hatte.190 Dennoch zeugt Schmohls Werk davon, dass er auch ohne diese Treffen bestens über die amerikanischen Argumentationen zur Begründung und Rechtfertigung der Unabhängigkeit informiert war: Nach Dippel hat Schmohl mit Abstand die radikalste Publikation über die Amerikanische Revolution geschrieben, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland erschienen ist. Mit seiner Verteidigung der Unabhängigkeit habe er sich zudem strenger an die Argumente ihrer amerikanischen Führer gehalten als viele andere deutschsprachige Autoren.191 Beinahe leitmotivisch scheint die Unabhängigkeitsparole ‚No taxation without representation‘ für sein Werk zu stehen. Zudem geht aus seiner Schrift hervor, dass Schmohl sehr stark durch das Völkerrecht, wie es von Emer de Vattel (1714–1768) gelehrt wurde, beeinflusst worden zu sein scheint.192 In Vattels Lehre des Völkerrechts „fließen Gesellschaftsvertragslehre, die Idee der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, die Prä misse der unverä ußerlichen Menschenrechte und der Kodifikationsgedanke zusammen.“193 Hierbei ist jedoch vor allem eine indirekte Beeinflussung Schmohls durch die Verantwortlichen der amerikanischen Unabhängigkeit denkbar, die sich im Gegensatz zu kontinentaleuropäischen Völkerrechtswissenschaftlern intensiv mit den Theorien Vattels auseinandersetzten, um sie als Grundlage für ihre Verfassung zu verwenden.194 Schmohls Schrift Ueber Nordamerika und Demokratie geht von der Leitfrage aus, ob die Dreizehn Kolonien zur Erklärung ihrer Unabhängigkeit „zur Aufkündigung des Gehorsams und Zusammenkörperung eines unabhängigen Staats berechtigt waren“195 und woraus die Souveränität eines beziehungsweise dieses neuen Staates entstehe. Wie schon im vorherigen Kapitel dargestellt, lehnt Schmohl – ähnlich wie Knoblauch – das Stärkerecht ab, obwohl er es nach eigener Angabe „selbst mit den besten Staatsmännern und Lehrern eine Zeitlang geglaubt habe“.196 Durch dieses Ablehnen kann Souveränität nicht durch eine Differenz der Stärke hergeleitet werden: Wäre dies der Fall, „so dürfte man vor dem Ausgang des Kriegs über die 190 191 192 193
Vgl. Kapitel 2.1.2. Vgl. Dippel: Germany (wie Anm. 14, S. 17), S. 91, 334, 358. Vgl. ebd., S. 91–105. Birgit Enzmann: Der demokratische Verfassungsstaat. Entstehung, Elemente, Herausforderungen. Wiesbaden 2012, S. 17. 194 Vgl. ebd., S. 17 f.; Karl-Heinz Ziegler: Emer de Vattel und die Entwicklung des Völkerrechts im 18. Jahrhundert. In: Markus Kremer u. Hans-Richard Reuter (Hg.): Macht und Moral – Politisches Denken im 17. und 18. Jahrhundert. Stuttgart 2007 (Theologie und Frieden 31), S. 321–341, hier S. 339 f. – Zieglers Artikel bietet zudem einen guten Überblick über Vattels Völkerrecht. Enzmann (S. 90–92) liefert zudem einen knappen Überblick über Vattels Verfassungsbegriff. 195 Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 5. 196 Ebd., S. 5 f.
3.4 Politische Ordnung
433
Rechtmäßigkeit des Kolonienverfahrens gar nicht urtheilen; die Zweckerreichung würde ihr Recht, die Verfehlung desselben ihr Unrecht beweisen.“197 Stattdessen betont Schmohl, dass Gesellschaften ausdrücklich berechtigt seien, „ihre Obrigkeiten, im Fall sie die ihnen anvertraute Gewalt mißbrauchen und Tyrannen werden, den Gehorsam aufzukündigen und neue zu machen.“198 Die Bestimmung eines neuen Oberhauptes oder eines neuen politischen Systems könne nur von allen Teilen dieser Gesellschaft ausgehen, die generell die Souveränität eines Staates ausmachten. Schmohl ist, wie er betont, schon immer überzeugt gewesen, „daß die Obrigkeiten bey allen Völkern ursprünglich (und historisch!) mit aller unter Menschen möglichen Freyheit von den Gliedern der Gesellschaft selbst gewählt worden sind“.199 Die zu Schmohls Zeit existierenden Demokratien waren seiner Meinung nach bei dieser ursprünglichen Form der Wahl geblieben oder wieder zu ihr zurückgekehrt. Schmohl wunderte sich nicht darüber, wenn bezüglich der amerikanischen Unabhängigkeit in Europa argumentiert wurde, „daß die Unterthanen in keinem Fall das Recht haben, ihren Landesherrn ungehorsam zu werden, ja daß jeder, der nur verächtlich und wahr von ihnen schreibt, ein Todeswürdiges Verbrechen begeht“. Lakonisch entgegnet er diesen Argumenten, dass sich „für despotisch beherrschte Länder“ auch „kein ander[es] Recht“200 als dieses schicke. Die amerikanischen Kolonien hätten hingegen von ihrem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch gemacht. Berechtigt hätten sie hierzu die britischen Angriffe auf die „natürlichen und bürgerlichen Rechte“ der amerikanischen Gesellschaft, sich selbst „als gesetzgebende[n] Staatskörper“ zu betrachten. Der König und das Parlament hätten ihnen das Recht verweigert, das ihnen eigentlich als britische Bürger zugestanden habe, „sich selbst Gesetze zu geben und zu besteuern“ oder „ein eignes Parlament zu haben“. Daher wollten sich die Amerikaner nicht weiter „von fremder Willkühr guberniren und besteuern lassen“.201 Dass die Amerikaner das Recht zur Aufkündigung der Zugehörigkeit zu ihrem Mutterland besaßen, da dieses ihnen geltendes Recht verweigerte, versucht Schmohl aus der Entstehungsgeschichte der Kolonien historisch herzuleiten. Hierdurch möchte er zeigen, dass niemals Verträge zwischen den Kolonien und England geschlossen wurden, die der englischen Krone das Recht gegeben hätten, „den sogenannten Kolonien willkührlich Gesetze zu geben und Auflagen aufzulegen“.202 Hierbei legt Schmohl dar, dass die meisten Menschen, „die sich nach Amerika verpflanzten“, dorthin ausgewandert seien, „um sich den politischen und religiö-
197 198 199 200 201 202
Ebd., S. 6. Ebd., S. 6 f. Ebd., S. 7, Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd. Ebd., S. 9.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
sen Bedrückungen der Englischen Krone zu entziehen“.203 Da alle Kolonien, die durch England in Amerika angelegt wurden, nach einer gewissen Zeit untergingen, seien alle Menschen, die dennoch auswanderten und sich „auf ihre eigene Kosten […] hier niederließen“, alle „freye sich selbst allein gesetzgebende Leute“ geworden. Freiwillig hätten sie „den Namen der englischen Bürger“ beibehalten und die Könige im Gegenzug ihre Rechte als ebendiese Bürger anerkannt, „sich selbst Gesetze zu geben, sich selbst zu besteuern.“ Diese Rechte wurden nach Schmohls Ansicht anfangs geachtet, sodass selbst in „Provinzen, wo der König noch am meisten zu sagen hatte, wo er den Statthalter und den Rath selbst, […] setzte“, dennoch „immer das Volk Mitgesetzgeber“204 geblieben sei. Erst mit den Navigation Acts, die Mitte des 17. Jahrhunderts eingeführt wurden, um den alleinigen Handel der Kolonien mit England festzuschreiben und so Zwischenhandel zu unterbinden, sei mit diesem Prinzip gebrochen worden. Hierdurch „entstand in Virginien wegen des tyrannischen Gesetzes ein Aufruhr“,205 was Schmohl als Beginn der amerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen wertete. Da die Navigation Acts gegen den Willen der in Amerika lebenden Bürger gegeben wurden, habe es sich hier um eine unrechtmäßige – und daher despotische – Gesetzgebung gehandelt. Alleine aufgrund der Kolonialkriege, die im Laufe des 18. Jahrhunderts in Nordamerika ausgetragen wurden, sei es nicht schon viel früher zu einer eindeutigen Loslösung der Kolonien von ihrem Mutterland gekommen.206 Indem Schmohl die in Nordamerika lebenden Menschen als souverän betrachtet, die sich lediglich freiwillig der englischen Krone zugehörig fühlten, solange diese die Rechte der Amerikaner achtete, gesteht er ihnen auch das Recht zu, sich nach eigenem Belieben für unabhängig zu erklären. Briten hätten sich genauso wie alle anderen Menschen, die aus europäischen Ländern nach Nordamerika ausgewandert seien, von ihren ehemaligen Herrschern losgesagt, um Mitglieder einer neuen Gesellschaft zu werden: „Diese Leute, indem sie ihr Vaterland verließen, machten sich auch von allen dortgehabten Pflichten los, und indem sie Bürger in Amerika wurden, eigneten sie sich auch die Rechte derselben, sich selbst Gesetze geben und besteuern zu können, zu.“207 Schmohl ist damit der erste deutschsprachige Schriftsteller, der das Prinzip der Volkssouveränität als Begründung und Legitimation für die Loslösung Amerikas von Großbritannien anführte. Verglichen mit den Akteuren der amerikanischen Unabhängigkeit, ähnelt seine Argumentation hierbei vor allem Thomas Jefferson (1743–1826), wie Horst Dippel anmerkt.208 Indem die Amerikaner nun durch ihr erlittenes Unrecht dazu berechtigt waren, sich zu wehren, waren sie „eben dadurch auch genöthigt, sich für einen unabhän203 204 205 206 207 208
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 13. Ebd., S. 16. Vgl. Dippel: Germany (wie Anm. 14, S. 17), S. 172 f.
3.4 Politische Ordnung
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gigen Staat zu erklären.“209 Hierbei argumentiert Schmohl auf Grundlage des Naturrechts, nach welchem nur ein unabhängiger Staat berechtigt sei, gegen einen anderen Krieg zu führen.210 Gleichzeitig wurden nach Schmohls Argumentation die Amerikaner, indem die englische „Krone zum Recht der Natur, zu den Waffen grif“,211 automatisch zu einem unabhängigen Staat anerkannt: „Unmöglich kann sich doch ein Mensch mit einem andern schlagen, ohne sich ihm gleich zu stellen. Selbst der Sklav der die Hand an seinen Herrn legt, thut dies nicht als Sklav, sondern als Mensch gegen Mensch, Kraft gegen Kraft, Recht gegen Recht, in aller der Natur möglichen Gleichheit!“212 In diesem Zusammenhang betont Schmohl, dass Gesellschaften nur dazu berechtigt seien, „tyrannische Vorsteher abzusetzen“. Im Falle eines „gerechten Obere[n]“ dürfe ein Volk nicht „ungehorsam werden“, sodass dies „in einer erblichen Monarchie[] vielleicht nie geschehn“ könne. Bei einem unrechtmäßigen Herrscher, sei dies jedoch nicht der Fall: „Ein Mensch, der kein Recht hat zu herrschen, dies hat nur der weisere, bessere, gerechtere, der hat auch keins, Gehorsam zu fordern.“213 Neben dieser historischen Herangehensweise thematisiert Schmohl die Frage nach der Souveränität einer Gesellschaft und ihrem Recht zum Widerstand gegenüber unrechtmäßigen Herrschern auch auf theoretischere Weise. Wie im vorherigen Kapitel dargestellt wurde, geht er davon aus, dass die ursprüngliche Regierungsform einer Gesellschaft demokratisch ist, in der gleichberechtigte Familienoberhäupter sich gemeinsam nach dem Mehrheitsprinzip Gesetze geben oder Anführer wählen. Gleichzeitig besteht aus Schmohls Sicht die Gefahr eines steten Verfalls dieser ursprünglichen Demokratien. Ihr Niedergang entsteht durch eine ungleiche Verteilung von Besitz, wodurch ein einzelner Mensch in die Lage versetzt wird, über das Schicksal der anderen Menschen zu bestimmen und ihnen seine Gesetze zu geben. Diese Demokratien werden durch den Verfall zu Monarchien.214 Hierdurch habe es in „der ganzen Welt keinen einzigen Staat“ gegeben, in dem „die gesetzgebende Monarchie eher als Demokratie“215 existiert habe. Als das entgegengesetzte Extrem der ursprünglichen Demokratie wird somit von Schmohl die absolute Monarchie angesehen, wie sie seiner Ansicht nach in allen „europäischen despotischen Alleinherrschaften“ zu finden sei: Diese „wahre Monarchie“ sei nur dort anzutreffen, „wo weder Aristokratie noch Demokratie die gesetzgebende und ausübende Gewalt participirt“. Lediglich diese Monarchen einer alleingesetzgebenden Herrschaft könnten als Despoten bezeichnet werden: „[F]ür Könige, die die gesetzgebende Gewalt nicht 209 210 211 212 213 214 215
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 26. Vgl. Dippel: Germany (wie Anm. 14, S. 17), S. 105. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 25, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 26. Ebd., Hervorh. i. Orig. Vgl. hierzu die Darstellung in Kapitel 3.4.1. Ebd., S. 110.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
allein in Händen“216 hielten, sei der Name ‚Monarch‘ lediglich ein Ehrentitel. Die Demokratie würde Schmohl aufgrund der in ihr die Gesetze bestimmenden Menschen „lieber Bürgerstaat“ und die Monarchie stattdessen „Königreich nennen“. Zwischen beiden liegt – quasi auf dem Weg zur alleinigen Königsherrschaft – der aristokratische „Adelsstaat“,217 in welchem die Gesetzgebung noch nicht vollständig auf eine einzige Person übergegangen ist. Die Entwicklung von einer natürlichen demokratischen Ordnung hin zu ihrem entgegengesetzten Extrem ist für Schmohl ein lang andauernder Verfallsprozess: So „mußten Jahrtausende schlafen gehn“, bis ein Einzelner es sich erlauben konnte, „gleich dem Familienvater mit Willkühr Gesetze zu geben und zu richten, und Eigenthum und Freyheit der Staatsmitglieder so in Nichts zu schränken“.218 In dieser Zeit „mußte die ursprünglich gesunde, edle Staatsorganisation erst ganz verderben, daß Volk erst so ungleich an Reichthümern, angebornen Ehren, so geschwächt, arm, elend, sklavisch werden, als im dermaligen Europa alle Völker unter ihren Despoten sind.“219 Bei diesem Verfall handelt es sich aus Schmohls Sicht nicht nur um einen Prozess der einseitigen Unterdrückung durch Despoten, sondern auch um die Zunahme der Bereitschaft aller anderen, sich unterdrücken zu lassen. So sei die Demokratie als „ursprüngliche“ und „vollkommenste Staatsverfassung“ auch durch „die Verschlechterung des Volks […] zerstört“220 worden. An die Europäer gerichtet, führt er weiter aus, dass es diesen daher nur so erscheine, als sei die Menschheit unfähig, in einer Demokratie zu leben. Stattdessen sei es der Fall, „daß nur gerade wir nicht so gut und groß sind, als die Griechen einst waren, unsre Vorfahren einst waren, und noch viele Völker sind.“221 Im umgekehrten Fall und verbunden mit Vattels Lehre der verfassunggebenden Souveränität des Volkes bedeutet dies jedoch auch, dass ein Volk, das sich wieder ‚verbessert‘, die Rechte, die ihm entwunden wurde, wieder einfordern könne. 216 217 218 219
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 111. Ebd., S. 137 f. Ebd., S. 111. Ebd., S. 112 – Da dieser Vorgang so langsam vonstatten gehe, stelle es den „Communsense des Pöbels“ dar, dass dieser „von dem Grundsatz“ ausgehe, eine willkührliche Monarchie stamme von Gott, sodass „ganze Millionen Menschen von Natur leibeigne Sklaven Eines sind, wenn der Eine auch ein Kind ein Greis ohne Sinne, oder ein Verrückter ist.“ (Ebd., S. 61, Hervorh. i. Orig.) Hierdurch wird auch deutlich, weshalb Schmohl in seinen Vermischten land- und staatswirtschaftliche Ideen forderte, die Landbevölkerung sollte in der Schule in erster Linie die Geschichte vermittelt bekommen, da sie dann erkennen könnte, dass ihre Lebenssituation kein gottgegebenes Übel darstelle und daher auch nicht unverändert bleiben müsse. Vgl. Kapitel 3.2.2. 220 Ebd., S. 183. 221 Ebd., S. 184, Hervorh. i. Orig. – Dieser Mangel an Güte und Größe wird in Schmohls Augen vor allem dadurch gekennzeichnet, dass Männer negativ konnotierten ‚weibischen‘ Beschäftigungen nachgehen und Frauen sich mit „Müßiggang, Romanelesen, Buhlen“ (ebd.) beschäftigten. Zu diesem, für die Aufklärung und besonders für den Sturm und Drang typischen Frauenbild, vgl. Kapitel 3.2.2.
3.4 Politische Ordnung
437
Das wertvollste Recht, das sich die Monarchen anzueignen versuchten, stellt nach Schmohls Ansicht die Steuergesetzgebung dar: Diese sei immer das letzte Recht gewesen, das – „wenn des Staats Verderben aufs äußerste gekommen“ – von allen Teilen der Gemeinschaft auf einen Menschen übergegangen sei. Erst nach Jahrhunderten hätten die Monarchen „das Volk so schwach gemacht, um sich durch ihre willkührliche Steuer und Accise von seinem Eigenthum wegnehmen zu lassen, soviel den Monarchen gelüstet.“ Doch obwohl dieses Recht, selbst über die Höhe der Steuern zu bestimmen, nach Schmohls Ansicht erst über lange Zeit hinweg der Gesellschaft abgerungen werden musste, würden „[u]nsre Politiker“ dennoch stets davon ausgehen, „daß Könige und Fürsten ihre Unterthanen willkührlich beherrschen und beschatzen“222 könnten. In Europa sei es noch nicht allzu lange her, „daß die gesetzgebende Gewalt […] noch wenigstens zum Theil in den Händen des Volks, das ist, der Landstände, des Adels, der Städte und Freyen“223 gelegen habe. Zudem macht Schmohl in vielen Ländern einen deutlichen Widerstand gegen den Versuch der Herrscher, die gesamte Macht in einem Staat in sich zu vereinigen, aus: „England hat vor nicht gar langem, zur Warnung für alle Nachfolger einen seiner Könige, der willkührliche oder Alleingesetzgebung usurpirte, nach Urtheil und Recht auf dem Schavot köpfen lassen.“224 In Polen und auch in anderen Ländern handelte es sich nach Schmohls Ansicht sogar um Republiken, da hier die Edelleute die Gesetzgebung innehätten. Und auch in Deutschland gebe es noch Länder, in denen „die Landstände noch hin und wieder ihr Recht an Auflagenbestimmung und Gesetzgebung nicht blos in Form, sondern in Kraft“ besäßen und damit von der „Form der Volksgesetzgebung“ in „ihrer ehemaligen Existenz“225 zeugten. Mit dieser Rundumschau konstatiert Schmohl, dass „nur in wenig europäischen Staaten […] heut zu Tag, die Krankheit der Despotie völlig ausgebrochen“ sei und sich die meisten Länder „noch Reste von der ehemaligen Gesundheit“226 bei der Gesetzgebung bewahrt hätten. Indem Schmohl die demokratische Ordnung, bei welcher die Gesetzgebung in der Hand des Volkes liegt, als ursprünglich und vor allem mit dem wertenden Adjektiv ‚gesund‘ der ‚Krankheit der Despotie‘ gegenüberstellt, wird deutlich, dass er eine derartige Machtverschiebung nicht als wünschenswertes Szenario betrachtete. Durch den Verweis auf die Hinrichtung des englischen Königs Karls I. (1600–1649), die von ihm damit begründet wird, Karl habe die Alleingesetzgebung an sich reißen wollen, verdeutlicht er, dass er den Übergang zu einer absoluten Monarchie mit dem Übergang zu einer unrechtmäßigen Herrschaft gleichsetzt. Da die Steuergesetzgebung in seinen Augen das am härtesten umkämpfte Recht darstellt, welches den Bürgern immer erst zuletzt entrungen werden könne, scheint dies für ihn 222 223 224 225 226
Ebd., S. 8. Ebd., S. 145 f. Ebd., S. 146. Ebd., S. 146 f. Ebd., S. 147.
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ein besonderes Zeichen dafür zu sein, ob eine despotische Herrschaft bevorsteht. Ein Herrscher, der auf eine solche Art die Souveränität seiner Bürger, denen er ursprünglich vollkommen gleichgestellt war, missachtet, herrscht nicht nach allgemein anerkanntem, natürlichen Recht und hat dadurch kein Recht, Gehorsam zu fordern. Genauso, wie sich die Bürger der Dreizehn Kolonien gegen den König Großbritanniens auflehnten, als dieser ihre Rechte missachtete, spricht Schmohl somit allen Bürgern ein Widerstandsrecht zu, wenn der Herrscher ihre Souveränität verletzt. Dennoch hielt es Schmohl für unwahrscheinlich, dass es in den europäischen Ländern eine mit der amerikanischen Unabhängigkeit vergleichbare Bewegung geben könnte. Zwar habe hier, wie er anmerkt, „das grosse Beyspiel Nordamerikas“ die europäischen Gemüter erschüttert. Dennoch habe „Europa nicht mehr Stärke genug, sich zu reformiren“,227 womit Schmohl auf die parallel zum Aufstieg eines Despoten ablaufende Verschlechterung der Bürger anspielt, die sich nicht mehr vorstellen könnten, in einer ‚gesunden‘ Demokratie zu leben. Schmohl war jedoch auch davon überzeugt, dass diese Paralyse Europas durch das amerikanische Beispiel und dessen „fremde Hülfe“ aufgelöst werden könnte: „Amerika ists, aus dem es [Europa] seine Rettung empfangen wird. Es [Amerika] wird die Tyranneyen und Verwüstungen, die es von Europa erlitten, edel vergelten, wird ihm dafür Freyheit und Wohlstand schenken.“228 So, wie Athen dabei geholfen habe, die Tyrannen der griechischen Staaten zu verjagen, „so wird das von seinem Tyrannen befreyte grosse Nordamerika“ auch Europa von seinen Tyrannen befreien helfen. Hierbei war er sich sicher, dass dies früher oder später – und ohne dass man vorher davon gewahr werde – geschehen werde: „Der Mob sieht grosse Revolutionen in der Weltgeschichte nicht eher, als bis sie da sind, wie ein reifes Kind am Tageslicht.“229 Die Französische Revolution bei Karl von Knoblauch Karl von Knoblauchs Haltung zur Französischen Revolution kann als ambivalent beschrieben werden. Einerseits geht aus seinen Schriften nicht hervor, dass er sich als ausgesprochener Gegner der Revolution auszeichnete und aus seinen späten schriftlichen Zeugnissen kann sogar eine gewisse Sympathie herausgelesen werden. Andererseits stand er den Entwicklungen in Frankreich mit einer gewissen Skepsis gegenüber, als deren Ursache seine Angst vor einer ungezügelten Anarchie ausgemacht werden kann. Dieser Zwiespalt wird auch dadurch deutlich, dass Knoblauch die Revolution meist in Dialogen – seinem Lieblingsgenre – thematisierte. Dies ermöglichte es ihm, auch Meinungen zu äußern, die sich möglicherweise von der vieler Revolutionsbegeisterter der frühen Revolutionszeit unterschieden. Gleichzeitig kann er durch die Form des Dialogs seine eigene Zerrissenheit darstellen. Es 227 Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 189. 228 Ebd. 229 Ebd., S. 190.
3.4 Politische Ordnung
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scheint Knoblauchs politischer Überzeugung entsprochen zu haben, dass man sich auch mit solchen, der eigenen Überzeugung widersprechenden Aussagen beschäftigen sollte und diese im Zweifelsfall zu akzeptieren hatte. Dass dies zu Konflikten oder Missverständnissen führen konnte, zeigt – wie später näher ausgeführt wird – Knoblauchs Auseinandersetzung mit Wieland, die durch dessen Kommentar zu einem von Knoblauchs Dialogen ausgelöst wurde. Die ersten Schriften Knoblauchs, in denen er die Französische Revolution thematisiert, erscheinen ab 1790. So lässt er in einem, seinem Werk Anti-Taumaturgie oder die Bezweiflung der Wunder angehängten Dialog, in welchem sich der Marquis mit einem Vorläufer des Barons der späteren Gespräche, dem Chevalier, über Wunder unterhält, den Marquis erklären, dass er die Geschichte nicht lieben könne, da er „sie für ein ennüjantes Trauerspiel“230 halte. Die Geschichte – und vor allem die des Mittelalters – stelle „uns ein detestables Gemälde der Ausschweifungen der Völker, und der Sottisen gekrönter Taugenichtse dar.“231 Hier habe es nur Gesetzlosigkeit und ein Volk gegeben, das durch diese Anarchie grenzenlose Schrecken verbreiten konnte. Auf der Seite der Herrscher sehe man hingegen „den menschenwürgenden Unsinn so vieler alte[r] und neue[r] Tyrannen, die ihren eigensinnigen Willen für das einzige und höchste Gesez, und jeden Widerspruch gegen ihre Sultanereien für Hochverrath und Majestätsverbrechen halten.“232 Dieser pessimistischen Sichtweise auf die Geschichte hält der Chevalier besonnen entgegen, dass jemand, der starke Nerven besitze, die Geschichte als „Gemälde der menschlichen Sottise nicht ohne Nutzen“ betrachte: Dieser Mensch könne aus ihr „gewisse Regeln und Maximen“ abstrahieren, um die Gegenwart einzuordnen, gute Regierungen und Regenten wertzuschätzen und Tyrannen zu missbilligen. Mit einem historischen Verständnis könne man auch, so die Überleitung zu den Ereignissen der Französischen Revolution, zur Zeit dieses Gesprächs darüber froh sein, „daß es keine Bastille mehr“233 gebe. Ein derart historisch gebildeter Mensch müsse mit Blick auf die Ereignisse in Frankreich „seine Stirne nicht in zornvolle Falten [legen], wenn eine zur äussersten Verzweiflung gebrachte Nation ihre kauderwelsche Verfassung zu korrigiren, oder sich im Besiz ihrer alten Rechte und Privilegien zu schüzen sucht.“234 Ein ähnlich zurückhaltendes und um Verständnis werbendes Bild ergibt sich aus einem weiteren, im Januar 1790 erschienenen Gespräch zwischen einem Walther und seinem, den sprechenden Namen ‚Wahrmund‘ tragenden, Gegenüber. Interessant ist dieses Gespräch, da es – genauso wie viele andere, ebenfalls 1790 erschienene Gespräche – zwei Jahre später von Knoblauch in erweiterter Form in die Poli230 231 232 233 234
Knoblauch: Anti-Taumaturgie (wie Anm. 170, S. 131), S. 139. Ebd., S. 139 f. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141. Ebd., S. 141 f.
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tisch-philosophische Gespräche aufgenommen wurde.235 Aus diesen hinzugefügten Passagen geht Knoblauchs gewachsene Skepsis gegenüber den Ereignissen der Revolution hervor. Der Beginn beider Gespräche ist gleich: Walther beziehungsweise der Marquis äußern ihre Abscheu gegenüber dem „Gemälde der gegenwärtigen Unordnungen in Frankreich, und der Excesse [1792: Ausschweifungen], die der rasende Pöbel ohne alle Scheu der Gesetze verübt“. Auch die Antworten von Wahrmund und dem Baron ähneln sich anfangs: Beide verabscheuen „die vielen unnöthigen Grausamkeiten“ und „mißbillige[n] die tollen Ausschweifungen des Pöbels“.236 Wahrmund belässt es jedoch dabei, Walther davor zu warnen, nicht „der ganzen Nation, oder ihren ehrwürdigen Repräsentanten das zum Verbrechen anzurechnen, was bloß Folge des äußersten Elends und der Verzweiflung ihrer – bisher am meisten gedückten – Glieder ist.“237 Stattdessen sollten sie „vielmehr jenen unseligen Aristokraten Vorwürfe machen, welche durch Mißbrauch der königlichen Autorität zur Befriedigung ihrer schnöden Leidenschaften, das unglückliche Volk zu diesen Tiefen des Elends und der Verzweiflung herabgebracht“238 hätten. Auch in diesem Gespräch wirbt Knoblauch um Verständnis für die noch junge Französische Revolution und die ‚tollen Ausschweifungen‘, die in diesem Zusammenhang geschehen sind. Zwei Jahre später spricht sich der Baron zwar weiterhin dafür aus, nicht die gesamte Nation und ihre Repräsentanten zur Verantwortung zu ziehen. Gleichzeitig verschärft Knoblauch sein Urteil, weil nach seiner Meinung die Ausschweifungen nicht vorübergehend gewesen, sondern in lang anhaltende Anarchie abgeglitten seien. Während Frankreich vor der Revolution von einer despotischen Regierung und später durch die Anarchie „wechselweise unglücklich gemacht[]“ wurde und der Marquis „mit vielem Rechte sich gegen die gewaltthätigen Übertreter der Gesetze ereifern“239 könne, tragen hieran weiterhin vor allem die Aristokraten Schuld, welche das Volk für ihre Beweggründe missbraucht hätten. Seine Kritik gegenüber dem Adel machte Knoblauch schon in einem anderen Artikel, den er seinem 1790 erschienenen Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer anhängte, deutlich. In diesen Klagen eines französischen Bürgers, am 14ten Jul. 1790 führt er an, den politischen Führern der Revolution wäre „alles daran gelegen, das Volk in der ihren Absichten beförderlichen Illusion zu erhalten“, um „seines Beifalls sich zu versichern.“ Diese Politiker affektierten „die größte Uneigennützigkeit“, 235 Walther wurde in der Version von 1792 durch den Marquis ersetzt und Wahrmund, der meist Knoblauchs Alter Ego zu sein scheint, durch den Baron. Letzterer könnte auch, da er aus Bernburg stammen soll, von Knoblauchs Schwager Ludwig Heinrich Friedrich von Brandenstein inspiriert worden sein. 236 [Karl von Knoblauch]: Ueber reelle und persönliche Majestät. In: Der neue Teutsche Merkur 1 (1790), S. 48–58, hier S. 48; Ders.: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 138. 237 Ders.: Majestät (wie Anm. 236), S. 48, Hervorh. i. Orig. 238 Ebd., S. 48 f., Hervorh. i. Orig. 239 Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 138 f.
3.4 Politische Ordnung
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indem sie „dem Anschein nach von selbst, allen Vorzügen, welche Geburt, Herkommen und Stand ihnen gaben“,240 entsagten. Namentlich nennt er Louis Philippe II., Herzog von Orléans, (1747–1793), der sich trotz seiner adligen Herkunft zu Beginn der Revolution dem Dritten Stand anschloss. Eine solche freiwillige Entsagung treibe „die Nüstern unserer Posaunenengel auf, und setz[e] die blinde Menge in Entzücken.“241 Knoblauch hingegen steht dieser Wendung der ehemaligen Adligen hin zum Volk skeptisch gegenüber und vermutet sogar einen Komplott, sich mithilfe des Volkes Macht zu sichern. Ebenfalls beklagte Knoblauch in diesem Artikel, dass es ein Jahr nach Beginn der Revolution noch keine neue Konstitution gebe. Statt eines planvollen Gestaltens einer neuen Verfassung habe sich die Politik auf das situative Reagieren beschränkt, was keine durchdachten Gesetze erbracht habe. In diesem Zusammenhang warnte er davor, dass durch die aufgeheizte Stimmung niemand mehr bereit sei, „die nothwendige und heilsame Herrschaft der Gesetze ohne Widerstrebung zu ertragen“.242 Somit befinde man sich, wie Knoblauch ebenfalls in einem Text von 1790 erwähnte, in einem Interimszustand „zwischen der zerrütteten alten und der noch nicht fixierten neuen Verfassung“. Dieser Zustand erinnere eher an „die Zeiten der Fehden, der Bauernkriege und des Faustrechts“. Der Grund hierfür sei wiederum in der falsch verstandenen Freiheit und den „mißverstandene[n] Begriffe[n] von der natürlichen und unveräußerlichen Gleichheit aller Menschen“ zu suchen, die dazu führe, dass alle, die nicht hierzu qualifiziert seien, an der Konstitution mitschreiben wollten. Hierbei führt Knoblauch abfällig Handwerker – „[j]ede[n] Friseur, jede[n] Hosenschneider“243 – an. In den Klagen bedient er hingegen auch die beliebten und verbreiteten negativen Stereotype der Revolution, die vor allem Frauen, die sich an der Revolution beteiligten, lächerlich machen sollten: Poissarden, also ‚Fischweiber‘ sowie Grisetten, womit junge, arbeitende, unverheiratete und daher allein lebende Frauen niederen Standes bezeichnet und aufgrund ihrer Lebensumstände skeptisch betrachtet wurden. Diese und „[j]eder Geck“ – womit dann nicht nur Frauen gemeint sind – wolle „in Sachen der Regierung mitsprechen. Keiner will regiert seyn. Voilà le commencement de l’Anarchie!“244 Kritisch erwähnt Knoblauch zudem in seinen kurzen, gegen Wieland gerichteten Noten,245 die Abschaffung der feudalen Privilegien adliger und auch bürgerlicher Großgrundbesitzer zu Beginn der Französischen Revolution im November 1789. Diese Abschaffung war eine Reaktion auf die seit der Erstürmung der Bastille andauernden, als Grande Peur bezeichneten Unruhen, die auf dem Land aus Angst vor 240 241 242 243
Ders.: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 117, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 118. Ebd., S. 119. Karl von Knoblauch: Politisch philosophische Gespräche. Fünftes Gespräch. Gesetzgebung. Moral. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1790), S. 180–211, hier S. 207, Hervorh. i. Orig. 244 Ders.: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 120. 245 Vgl. Anmerkung 90, Kap. 3.4.1.
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einer aristokratischen Verschwörung ausgebrochen waren. In beinahe allen Landesteilen bewaffneten sich Bauern, um die Güter, Schlösser und Klöster zu erstürmen und die Akten zu vernichten, die über ihre zu leistenden Dienste Auskunft gaben. Letztlich handelte es sich jedoch nur um eine restlose Abschaffung der persönlichen Privilegien. Die „mit dem Boden verbundenen Abgabenrechte, die ein wichtiges Element in einer grundherrlichen Eigentumsverfassung waren“, wurden hingegen beibehalten: „Sie wurden zu unverletzlichem Eigentum im bü rgerlich-rechtlichen Sinne erklä rt und mußten darum durch die Leistung von Entschä digungen abgelö st werden“,246 die das zwanzigfache der jährlichen Abgaben betrugen. Folglich kam es weder zu Enteignungen oder einer pauschalen Befreiung der Bauern aus ihren Diensten, was zwischen 1789 und 1790 für erneute Unruhen sorgte.247 Im Juni 1790 wurde zudem der Erbadel abgeschafft und das Führen der Adelstitel verboten, was wiederum bei Adligen – vor allem im Militär – für Empörung sorgte.248 Trotz des eigentlich zwischen 1789 und 1792 noch vorhandenen Schutzes des adligen und bürgerlichen Besitzes, wirbt Knoblauch in seinen Noten um Verständnis für seinen französischstämmigen Marquis, der sich über den „Verlust des größtern Theil seiner Einkünfte, Lehnsgüter, u. d.“ beklagte. Dieser sowie alle anderen französischen Adligen hätten ihre Privilegien von ihren Vorfahren „gesetzmässig ererbt“, welche diese wiederum „seit Jahrhunderten, unter der Garantie des Staates“249 besessen hätten. Da diese Privilegien aus Sicht der Adligen rechtmäßig in den eigenen Besitz übergegangen seien, appelliert Knoblauch bei seiner Ausführung vor allem an die Empathie des Lesers: „Man denke sich ganz, wenn das möglich ist, an seinen Platz hin!“ Der Adlige habe „das Seinige mit eben dem Rechte, womit jeder andere Bürger das Seinige besizt“, besessen. Die französische Nationalversammlung habe jedoch mit ihren „vielen Ungerechtigkeiten und Sottisen“, welche vor allem „Eingriffe in Eigenthumsrechte, [und] die Verlezung der feierlichen Verträge“ darstellten, „den Despotismus weiter“ getrieben, als es „kaum der souverainste Monarch thun würde“.250 Dass Karl von Knoblauch hierbei nicht nur mit der mitleidenden Sympathie eines deutschen Adligen nach Frankreich blickte,251 sondern es ihm um eine prinzipielle Rechtssicherheit durch die Einhaltung der hergebrachten Ordnungen ging, verdeutlicht eine andere Aussage. So lässt er einen der Gesprächsteilnehmer in den 246 247 248 249 250 251
Hans-Ulrich Thamer: Die Französische Revolution. 4., durchges. Aufl. München 2013, S. 38. Zur Grande Peur, vgl. ebd., S. 36–38, sowie: Kuhn: Französische (wie Anm. 718, S. 226), S. 68 f. Vgl. Thamer: Französische Revolution (wie Anm. 246), S. 44 f. Knoblauch: Noten (wie Anm. 90, S. 414), S. 14, Hervorh. i. Orig. Ebd., Hervorh. i. Orig. Dass Knoblauch selbst in Hatzbach Grundeigentum besaß, ihm die dortigen Bauern Abgaben zu leisten hatten und somit zu seinem Haushalt beitrugen, wird wohl auch eine Rolle gespielt haben, dass Knoblauch Verständnis für die französischen Adligen und Grundbesitzer hatte. Gleichzeitig scheint ihm der Hatzbacher Grundbesitz nicht viel bedeutet zu haben, da er Teile dieses Besitzes 1786 an seinen Onkel verkaufte. Vgl. Knoblauch: Ausführliche, GNM Hs59285 (wie Anm. 171, S. 43), p. 25r.
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Noten betonen, es habe sich trotz dieser Missachtung der Privilegien um „eine Wohlthat“ gehandelt, dass „die neue Regierung in Frankreich […] die Vernichtung des so unnüzen, und gehässigen Adels“ vorangetrieben hätte. Dieser Aussage stimmt sein Gegenüber zu und betont, dass auch er den Adel „für entbehrlich“252 halte. Dennoch gebe es „viel entbehrliche Dinge und Personen in der Welt, die es doch auch mit einigem Recht übel empfinden würden, wenn man sie – nachdem sie einmal durch den Willen des Staates, oder derer, die ihn repräsentiren, in den Besiz gewisser Güter oder Vorzüge gekommen sind – derselben bloß um ihrer Entbehrlichkei halber, u. s. f. berauben wollte.“253 Aus den Dialogen gehe auch hervor, wie Knoblauch in den Noten an Wieland seine eigenen Texte interpretierend einordnet, „daß die beyden Interlokutoren“ keine Anhänger „und Lobredner der vorigen französischen Regierung“ gewesen seien. Dennoch sei der Marquis „aus dem Lande der Aufklärung, der Freiheit, der Excesse und der Laternenpfähle“ desillusioniert zurückgekehrt. Er denke deshalb „nicht ganz mehr so günstig von der Revolution, und ihren heilbringenden Folgen […], als im Anfange, und ehe er den jezigen Zustand der Nation näher kennen lernte“.254 Bei dieser Einordnung der veränderten Sichtweise des Marquis scheint Knoblauch wiederum seine eigene Ambivalenz im Bezug auf nicht erfüllte Erwartungen an die Französische Revolution beschrieben zu haben, wie sie sich in den Erweiterungen der politisch-philosophischen Gesprächen von 1792 niederschlugen. Doch auch schon 1790 ließ Knoblauch den Marquis auf eine ähnliche Weise, wie er es später in den Noten formulierte, erwähnen, dass die Revolution „im Anfang die Stimme der meisten Philosophen für sich“ gehabt habe. Damals seien sie noch der Meinung gewesen, die neue französische Regierung „hätte, unter gewissen Voraussezungen, für die schönste Monarchie in der Welt wohlthätig werden können.“255 Nach der langen Zeit der Anarchie und der steten Angst der Gesetzgeber, aus falsch verstandener Freiheit an „die Laternenpfähle“256 geknüpft zu werden, könne Frankreich nach Knoblauchs Meinung nun nur noch schwer zu dieser wohlgeordneten und gerechten Monarchie werden. Ähnlich formulierte es Knoblauch im darauffolgenden Jahr: Die „großen Gebrechen“ der „vorigen Regierung“, hätten zwar „das Glück von Frankreich zerstö[rt]“. Dennoch scheine es so, als könne dieses Glück auch „durch die Nationalversammlung nicht wieder hergestellt werden“.257 Deshalb habe „[d]er alte Despotismus in Frankreich […] die gegenwärtige Anarchie und Gesetzlosigkeit, die das größte Uebel ist, zur traurigen Folge“258 gehabt.
252 253 254 255 256 257 258
Knoblauch: Noten (wie Anm. 90, S. 414), S. 17, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 18, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 16, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Gesetzgebung (wie Anm. 243, S. 441), S. 188. Ebd., S. 189. Knoblauch: Noten (wie Anm. 90, S. 414), S. 22, Hervorh. i. Orig. Ders.: Ueber Faunen 2 (wie Anm. 306, S. 65), S. 136, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Indem der durch fehlende Gesetze zügellos gewordene Pöbel „tausend, in ihren Folgen für ihn selbst verderbliche Narrenstreiche [begehe], die eine Wirkung seiner fanatischen Begeisterung“ darstellten, versetzt dieser Zustand nach Knoblauchs Meinung „ein ganzes Land in Aufruhr“. Die Folgen einer solchen Revolution seien daher meist unmittelbar „Mord und Todtschlag, Räubereien, Plünderungen, Proskriptionen, Gewaltthätigkeiten aller Art, Verheerung der Felder, Vernachlässigung des Ackerbaues und anderer Gewerbe, mithin allgemeine Unsicherheit, Verarmung und Elend“.259 Einerseits könne man diese zu Bürgerkriegen abgleitenden Revolutionen in der Geschichte finden. Andererseits müsse man lediglich nach Frankreich, vor allem aber nach Brabant schauen, das sich 1790 von Österreich lossagte, da es sich von Joseph II. in seinen Rechten beschnitten sah. Auch wenn Knoblauch zugibt, dass Joseph die Brabanter zwar „unbillig und unpolitisch“ behandelt habe, zeigte er sich überzeugt, dass es „kaum halb so viel Elend über dieses Land gebracht [hätte], als die gegenwärtige Unordnung und Gesetzlosigkeit“ der Anarchie und der „Excesse einer rohen, an Subordination nicht gewöhnten Miliz.“260 Trotz dieser sich sehr früh äußernden, pessimistischen Sichtweise auf die Entwicklungen der Französischen Revolution betont Knoblauch auch, dass man als Philosoph „die Folgen der Revolution“ auf keinen Fall „nach dem jetzigen Zustande der Nation, welcher ein Zeitpunkt der brausenden Gährung ist“,261 beurteilen dürfe. Eine Situation, die für den unmittelbaren Betrachter unübersichtlich und daher wenig wünschenswert erscheine, könne sich dennoch auf lange Sicht zum Positiven entwickeln. Entsprechend war sich Knoblauch auch im Falle der Französischen Revolution sicher, dass der von ihm wahrgenommene Zustand der Anarchie wie „alle Zustände, vorübergehen“ und die „entfernteren, jezt noch bloß möglichen“ Folgen erst für ihre „Enkel oder Urenkel“262 sichtbar werden würden. Ebenfalls war Knoblauch davon überzeugt, dass sich die politische Ordnung in Frankreich um ein weiteres verschlimmern sollte, würde es zu seiner alten, vorrevolutionären Ordnung zurückkehren. Was er – mehr oder weniger – verschlüsselt in seinen politisch-philosophischen Gesprächen äußerte,263 schrieb er umso deutlicher in einem Brief vom 17. September 1792 an Jakob Mauvillon: So beteuerte Knoblauch, dass er „keine Stunde länger zu leben“ wünschte, „[s]ollte die französische Revolution ein unglückliches Ende nehmen“. Hierdurch würde der Despotismus in Frankreich und in allen anderen Ländern „wüthender und unerträglicher werden, als er es in Europa je“264 der Fall gewesen sei. 259 Knoblauch: Gesetzgebung (wie Anm. 243, S. 441), S. 208. 260 Ebd., S. 209 – Knoblauchs Aussagen zum Militär – besonders seine Bewertung des stehenden Heeres und der Bedeutung der militärischen Subordination – werden zusammen mit den Ausführungen der beiden anderen Aufklärer im folgenden Unterkapitel gebündelt betrachtet. 261 Knoblauch: Noten (wie Anm. 90, S. 414), S. 16. 262 Ebd., S. 16 f., Hervorh. i. Orig. 263 Vgl. Kapitel 3.4.1. 264 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 219.
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Knoblauch spricht sich daher nicht ausdrücklich gegen Revolutionen beziehungsweise das Absetzen unrechtmäßiger oder despotischer Herrscher aus. Im Falle Brabants zeigte er sich zwar davon überzeugt, dass es für das Land besser gewesen wäre, das ‚geringere Übel‘ zu ertragen und unter der Regierung Josephs II. zu bleiben.265 Die Französische Revolution nimmt er jedoch an dieser Stelle ausdrücklich von dieser Feststellung aus. Damit wird deutlich, dass das französische Ancien Régime nicht – analog zur Revolution in Brabant – das kleinere Übel darstellte. Auch wenn die Wirren, die durch die Revolution hervorgerufen wurden, groß gewesen seien, waren sie aus Knoblauchs Sicht nicht so groß wie die Ungerechtigkeit der alten Ordnung Frankreichs. Auch auf theoretischer Grundlage untersuchte Knoblauch die Legitimation des Widerstandes gegenüber einem ungerechten Herrscher. So unterscheidet er in einem Text von 1790 zwischen der persönlichen und reellen Majestät eines Herrschers: Die persönliche Majestät wohne lediglich „dem sichbaren Oberhaupt der Nation“ bei und stelle daher nur einen „Abglanz der Herrlichkeit der reellen Majestät der Nation“ dar. Bei der reellen Majestät handele es sich hingegen nicht um eine „Sache, sondern [um] ein Aggregat von Personen“.266 Sie besitzt eine dem Volk übergeordnete Bedeutung und kann von keiner Person als Eigentum okkupiert und missbraucht werden. Da die reelle Majestät „selbst in der Monarchie, nirgends anders, als bey dem Volk anzutreffen“ ist beziehungsweise aus der Nation abgeleitet wird, macht Knoblauch deutlich, dass er das Volk eindeutig mit der reellen Majestät gleichsetzt. Damit besitzt das Volk auch die volle Souveränität bei der Wahl seiner Regierungsform: Indem das Volk in seiner Gesamtheit die reelle Majestät darstellt, wird der Regent und Herrscher – also die persönliche Majestät – auch durch dieses gesamte Volk „creirt, an[ge]setzt, oder bestellt“. Hierdurch hat das Volk „in gewissen Fällen auch das Recht […], unfähige oder unwürdige Regenten zu dethronisieren.“267 Diese 1790 formulierte und in den Gesprächen von 1792 bekräftigte Aussage betonte Knoblauch ebenfalls gegenüber Mauvillon: Die Fürsten seien „bisher die Stärkern“ gewesen, „weil die gemeine Meinung sie dafür hielt.“ Nach der Revolution in Frankreich würden hingegen langsam die Nationen anfangen „einzusehen, oder zu fühlen, daß sie die stärkern sind“.268 Knoblauch würde den Herrschern folglich raten, wenn er „in ihrem Cabinette eine Stimme zu geben hätte“, sich nicht gegen den 265 Knoblauchs Vermutung, die Brabanter würden besser „unter den friedsamen Zepter des weisen und gerechten Leopolds [Leopold II. (1747–1792), Anm. M. L.] zurückkehren“, da dieser „– den zuverlässigsten Nachrichten zufolge – kein Geheimniß daraus [mache], daß er die Grundsäze seines Bruders mißbillig[e]“ (Knoblauch: Gesetzgebung (wie Anm. 243, S. 441), S. 209), verwirklichte sich später, indem Leopold die Reformen seines Bruders Joseph II. zurücknahm. Vgl. Johannes Süßmann: Vom Alten Reich zum Deutschen Bund. 1789–1815. Paderborn 2015, S. 161; Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 242 f. 266 Knoblauch: Majestät (wie Anm. 236, S. 440), S. 55, Hervorh. i. Orig. 267 Ebd., Hervorh. i. Orig. 268 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 223, Hervorh. i. Orig.
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souveränen Willen der Nation zu stellen und zu versuchen, „von einer Macht Gebrauch zu machen, die bloß auf einer nun verschwundenen Meinung beruhete.“269 Während zuvor allgemein davon ausgegangen worden sei, die Souveränität des Staates läge bei den Fürsten und Königen, habe vor allem die Französische Revolution auch außerhalb Frankreichs die Bevölkerung darauf aufmerksam gemacht, dass dies nicht der Fall sei und die wahre Macht bei ihnen liege. Daher sollten sie sich auch nicht wegen des „Privatinteresse[s] einiger Despoten […] den Uebeln eines fürchterlichen Krieges“ aussetzen, der „über kurz oder lang unfehlbar mit dem Untergang der Despoten endigen“270 werde. Für diesen ersten, 1792 begonnenen Revolutionskrieg zwischen Frankreich und der Koalition aus (zunächst) Österreich und Preußen lässt Knoblauch in seinen Briefen an Mauvillon eine unverhohlene Sympathie für die Ende September 1792 proklamierte französische Republik erkennen. Gleichzeitig warnt er weiterhin vor den unüberschaubaren Folgen einer solchen kriegerischen Handlung: So würden „[d]ie Waffen der combinirten Höfe“ einerseits auf französischer Seite bei der kriegsbefürwortenden Partei der Girondisten nicht zu einem Meinungsumschwung führen. Andererseits könnte jedoch „dieser Kreutzzug den Geist des Mißvergnügens in Deutschland verbreiten“271 und damit auch die Stimmung des Volkes gegenüber seiner Fürsten verschlechtern. Verbunden mit der Erkenntnis, dass die Souveränität beim Volk liege, könne es hierdurch auch in den Ländern der Koalition zu Aufständen kommen. Der Versuch, die Französische Revolution zu bekämpfen, hätte dann das genaue Gegenteil als Folge und stattdessen zur Verbreitung derselben beigetragen. Auch vom für Preußen und Österreich ungünstigen Kriegsverlauf berichtet Knoblauch an Mauvillon mit unverkennbarer Genugtuung: So hätten sich die „zwey mächtige[n] feindliche[n] Heere“ der Koalition zurückziehen müssen, „ohne dasjenige in Frankreich wieder hergestellt zu haben, was gewisse Leute bald Ordnung, bald die Rechte des Königs nennen“.272 Bei den österreichischen und preußischen Soldaten handele es sich um die „rohesten und nichtswürdigsten aller Barbaren“, die rauben, morden und vergewaltigen würden: „Das sind die Leute, welche uns gegen – ich weiß nicht was? – schützen sollen.“273 Demgegenüber sei man „[m]it dem Betragen der fränkischen Truppen“, die von den deutschen „venalen [käuflichen, Anm. M. L.] Zeitungsschreiber[n] immer als regellose Horden undisciplinirter und ungeübter Fanatiker“ beschrieben würden, in Mainz, in Frankfurt und in den nassauischen Gebieten „sehr zufrieden.“ Diese würden im Gegensatz zu den Truppen der Koalition „gar keine Excesse“ begehen und sich „ihre Aufführung […] sehr zu ihrem Vortheile“274 kontrastieren. 269 270 271 272 273 274
Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 223 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 223. Ebd., S. 222. Ebd., S. 223, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 225. Ebd., S. 226.
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Seine eigene Haltung zur Revolution beschrieb Knoblauch im Dezember 1792 gegenüber Mauvillon als „neutral“. Auch sei er „ein großer Verehrer weiser und guter Fürsten“. Diese Aussage wird jedoch durch den Nachsatz „deren es doch auch jetzt einige gibt“ relativiert, da, so scheint es, derartig gute und weise Fürsten seiner Meinung nach so rar gesät seien, dass er sich zur Betonung veranlasst sieht, es gebe sie wirklich noch. Trotz seiner Neutralität gesteht er hingegen „als Weltbürger“, dass er den sehr unwahrscheinlichen „Untergang der neuen französischen Konstitution als eine der größten Calamitäten betrachten würde, welche ein übelthätiger Dämon über das, zu so manchen Plagen verurtheilte menschliche Geschlecht herbeyführen könnte.“275 Wie schon in seinen Dialogen, hebt Knoblauch auch in seinen Briefen hervor, dass „alle[n] ächten politischen Philosophen“ stärker „das Wohl der allgemeinen Menschheit […] als das Privat-Interesse einiger Großen am Herzen“276 liege. Diese weder guten noch weisen Fürsten „eil[t]en – durch ihre Schuld – einem Schicksal entgegen, welches in der anfangslosen Reihe der (von Ewigkeit her verketteten) Ursachen und Wirkungen längst vorbereitet war, und nun unvermeidlich ist.“277 Eine solche Entwicklung, die Knoblauch mit fatalistischer Konsequenz beschreibt, werde einerseits durch den ewigen und die „nothwendigen Gesetze bestimmten, Gang der Dinge“ herbeigeführt. Da diese Entwicklung jedoch am französischen Beispiel erkennbar sei, liege es andererseits alleine an der „Thorheit“ der deutschen Fürsten und dem „Unverstand ihrer Rathgeber“, wenn ihnen ein ähnliches Schicksal wie dem des französischen Herrschers bevorstehe, weil sie schlicht nicht in der Lage seien, diese Ereignisse zu begreifen und zu deuten. Hierdurch seien „[w]ir Schriftsteller“, wie Knoblauch gegenüber Mauvillon zu verstehen gibt, „nicht die Urheber, sondern die Propheten ihres Schicksals“, womit er auch auf die Unterstellung anspielt, die Aufklärer seien für den Ausbruch der Revolution verantwortlich. Die prophetischen Schriftsteller, die im Gegensatz zu den Fürsten und ihren Beratern in der Lage seien, aus den politischen Ereignissen zu lernen, könnten nichts dafür, wenn die Fürsten nicht den „Weissagungen, deren Gründe aus der Natur der Dinge genommen sind, nicht eher Gehör geben wollten, bis sie die Erfüllung derselben mit ihren Augen sehen mußten“.278 Um sich selbst ein Bild von der Lage und der Stimmung in den von Frankreich besetzten Rheingebieten zu machen, unternahm Knoblauch im Frühjahr 1793 eine Reise, die ihn in die Südpfalz „bis in die Gegend von Landau“ führte. Hier wollte er „die von unsern Zeitungsschreibern so gerühmten Progressen derjenigen Mächte […], welche die jetzt so wenig galanten Franken les déspotes coalisés zu nennen belieben“279 mit eigenen Augen betrachten. 275 276 277 278 279
Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd., S. 227. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 228, Hervorh. i. Orig.
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Dass sich durch diese Reise seine vorher geäußerte Sympathie gegenüber den Franzosen nicht geändert hatte, gab er gegenüber Mauvillon in einem nach seiner Rückkehr verfassten Brief zu verstehen. Hier und ebenfalls in einem 1793 abgedruckten Reisebericht betonte er, dass sich die Aufklärung und damit das Bewusstsein der Bevölkerung über die eigene Souveränität nicht durch Gewalt oder Unterdrückung beseitigen lasse. Diese hätten stattdessen genau die gegenteilige Folge: So scheine „trotz aller Religionsedicte, Katechismen, Glaubenskommissionen, und trotz alles Bücherverbots, das verteufelte Raisonniren und Grübeln selbst unter den niedern Volksklassen überhand zu nehmen. Mit dem Prügel drein zu schlagen, oder gar die Leute todt zu schlagen“ erscheine wenig ratsam und führe eher dazu, dass durch „[d]ergleichen Plattitüden […] das ganze Publikum“ keinesfalls „umgestimmt, nur irritirt“,280 entrüstet und erbittert werde. In seinem Bericht, der unter Angabe von Knoblauchs Namen veröffentlicht wurde, führte er die „Ursachen [des] Misvergnügens“281 der Bevölkerung gegenüber dem Mainzer Kurfürsten Friedrich Karl Joseph von Erthal ebenfalls darauf zurück, dass hier die Errungenschaften der Aufklärung eingeschränkt worden waren: „[W]enn der Geist des Zeitalters einmal eine gewisse Richtung und Energie bekommen“ habe, sei es nicht mehr möglich „in ihren Wirkungen fast immer mehr schädliche, als nützliche – Vorkehrungen und Veranstaltungen“ vorzunehmen, welche „die Freiheit im Denken, Lesen, Schreiben, und Sprechen“282 einschränkten. Dennoch betont Knoblauch mit Blick auf die „Ereignisse[] dieser Zeit“, dass man auch aus diesen lernen könne und müsse: Aus ihnen ließen „sich wenigstens große heilsame Lehren ziehen, und der Schutzgeist unseres Vaterlandes möge es wollen, daß man sie wirklich daraus ziehet!“283 Im Schreiben an Mauvillon äußerte sich Knoblauch nicht ganz so optimistisch, dass die deutschen Fürsten in der Lage seien, aus der Geschichte zu lernen. Stattdessen wünschte er sich „[n]ach der jetzigen Lage der Dinge […] aufrichtig, daß die Franken aus Deutschland fort wären“. Ihre „bisherigen Feinde“ müssten die Souveränität der französischen Nation anerkennen und nicht den Versuch unternehmen, dem größten Teil der dortigen Menschen „eine andere Verfassung und Gesetzgebung aufdringen zu wollen“.284 Nur wenn sie Frankreich „als eine unabhängige Republik anerkenn[t]en“, könnte der Krieg beendet werden, dessen „Folge[] unabsehliches Elend“285 sei. Über die Hinrichtung Ludwigs XVI., die andauernden Unruhen in Frankreich oder den für die Franzosen nachteiligen Kriegsverlauf des Jahres 1793286 verlor Knoblauch kein Wort. In einem seiner letzten erhaltenen Briefe vom 1. Novem280 281 282 283 284 285 286
Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 229, Hervorh. i. Orig. Knoblauch: Reise (wie Anm. 282, S. 62), S. 26, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 26 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 27, Hervorh. i. Orig. Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 229, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 229 f., Hervorh. i. Orig. Vgl. Thamer: Französische Revolution (wie Anm. 246, S. 442), S. 66–76.
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ber 1793 an einen unbekannten Empfänger berichtete Knoblauch von steigenden Fleisch- und Brotpreisen bei gleichzeitiger Kürzung seiner Besoldung. Zu diesen Belastungen sei zudem „noch die beliebte Neufrankenhezze“ gekommen, „zu deren Fortsezung man das Hezgeld bezahlen“ müsse. Hierfür würde man dann aber auch, wie Knoblauch diese Situation mit ironischem Unterton kommentiert, „das Vergnügen haben […], zu seiner Zeit zu erfahren, daß sie (wofern alles aufs beste gehet!) in Paris wider einen König haben“.287 Dass hierbei der Preis, den die deutsche und französische Bevölkerung für den Krieg zur Wiederherstellung des Königtums in Frankreich zahlen müsste, unverhältnismäßig hoch wäre, machte Knoblauch auch deutlich: So würde nämlich der neue König, sollte denn nach einem Sieg der französische Thron restituiert werden, „weder Frankreich noch Deutschland für all das Elend, welches der Krieg über beide Länder gebracht hat und bringen wird, auch nur mit einem Pfennig entschädigen“.288 Stattdessen dürfte der Mann, der als französischer König seinem Volk die gewonnene Freiheit wieder nehme, „für seine Person der unglücklichste Mann in der Welt seyn“,289 weshalb Knoblauch niemals mit ihm tauschen wollte. Trotz seiner deutlichen und auch sehr früh geäußerten Kritik an der Französischen Revolution, die sich besonders auf die (weiterhin drohenden) Gefahren einer enthemmten Masse konzentrierte, die zu willkürlichen Gewalttaten instrumentalisiert werden konnte, geht aus Knoblauchs Briefen aus den Jahren 1792 und 1793 dennoch seine persönliche Sympathie für die Revolution hervor. Verschlüsselt kann diese Sympathie auch in der allgemeinen Gestaltung seiner zu dieser Zeit herausgegebenen Monographien gefunden werden: So wurden – neben den Nachtwachen von 1790 – drei der fünf, zwischen 1792 und 1794 erschienenen Bücher nicht in Fraktur, sondern in Antiqua-Schriftarten gesetzt, die als modern und fortschrittlich angesehenen und deshalb mit der Revolution in Frankreich in Verbindung gebracht wurden.290 Gleichzeitig lässt sich in Knoblauchs Aussagen Kritik an der zeitgenössischen deutschsprachigen Berichterstattung finden, die seiner Ansicht nach einseitig im Sinne der alliierten Revolutionsgegner ausfiel, weshalb er ihnen Käuflichkeit unterstellte. An dieser Stelle scheint Knoblauch vor allem eine ausgeglichene Berichterstattung vermisst zu haben, die weder die französische Seite besonders negativ noch die deutschen Revolutionsgegner übermäßig positiv darstellte. Während Knoblauch selbst aufgrund seiner früh geäußerten Bedenken im Bezug auf die – aus seiner Sicht – anarchischen Zuständen zu Beginn der Revolution von Wieland öffentlich in Form einer Fußnote gerügt wurde,291 scheint ihn selbst in den nach287 Karl von Knoblauch an Unbekannt, 1. November 1793, GStA PK VIII. HA. Rep. C Nr. 187 Bd. 33, p. 146r. 288 Ebd. p. 146r f., Hervorh. i. Orig. 289 Ebd. p. 146v. 290 Vgl. Kapitel 2.2.2. 291 Vgl. Anmerkung 90, Kap. 3.4.1.
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folgenden Jahren eine übermäßig negative Darstellung der revolutionären Auswirkungen in der deutschsprachigen Presse gestört zu haben. Andreas Riems Anfänge als Kritiker von Revolutionen Während Andreas Riem die Französische Revolution erst sehr spät, mehrere Jahre nach ihrem Beginn, explizit in seinen Schriften erwähnt, beschäftigte er sich – anders als Knoblauch – mit der amerikanischen Unabhängigkeit und anderen Aufständen, die sich vor 1789 gegen die Regierung eines Landes richteten. So behandelte Riem in seinem 1788 erschienenen Fragment Ueber Aufklärung die Frage, ob „die schädlichen Staatsrevolutionen“ eher „aus Aufklärung oder aus Täuschung“292 entsprungen seien. Hierbei geht schon aus der Formulierung der ‚schädlichen Staatsrevolutionen‘ deutlich hervor, welche Meinung Riem zu diesem Zeitpunkt im Bezug auf revolutionäre Proteste hatte. Er beschrieb es sogar als geradezu „[s]chändlich […], wenn ein vermeinter Aufklärer gegen Monarchen und ihre Diener öffentlich“ aufstünde „und gehäßig ihre Absichten“ schildere. Selbst bei Regierungen, die durch Irrtümer Schaden anrichteten, sage „die Aufklärung: Schone den Menschen um des Königs willen, der er ist, seiner Majestät wegen, die selbst im Tyrannen noch Achtung verdient, da die Gesetze und das öffentliche Wohl ihrer bedürfen.“293 Entsprechend habe auch die „Täuschung des englischen Ministeriums“, aber auch die „Täuschung der Colonien“ – und nicht die Aufklärung! – „den Freystaat der vereinigten Colonien“294 hervorgebracht: Hätten nach Riems Meinung die britischen Minister die Lage der amerikanischen Kolonien besser – also nach seiner Vorstellung: aufgeklärter – eingeschätzt, hätten sie auf andere, eben aufgeklärte Weise gehandelt. Und auch wenn „die Colonien ohne Täuschung gehandelt“ hätten, „wären sie itzt nicht eine Art von anarchischem Staate“.295 Die amerikanischen Staaten, die im Jahr vor Riems Veröffentlichung ihre Verfassung verabschiedeten und im Laufe des Jahres 1788 ratifizierten, stellten in seinen Augen lediglich einen Zusammenschluss dar, der sich „durch schwache Bande“ halte und „ohne alle Majestät, ohne wahre innere Größe seiner Verfassung, und ohne das Gewicht“ dastehe, das „ein gut eingerichteter Staat unter einem Oberhaupte“ erhalten müsse. Jeder der amerikanischen Staaten sei „Souverain, und also jede[r] für sich ohnmächtig! Kein Geist einträchtiger Einigkeit, und falsche Begriffe von Freyheit allenthalben!“296 Auch in den Niederlanden habe „Thorheit und Täuschung“297 und nicht Aufklärung das Land, dessen Generalstaaten sich ab 1785 gegen die „quasi-monarchistische Zentralregierung“298 des Erbstatthalters Wilhelm V. von Oranien auflehnten, „zum Balle der Cabale, zum Schauplatze des Aufruhrs, der Rebellion und des 292 293 294 295 296 297 298
Riem: Aufklärung 1 (wie Anm. 422, S. 82), S. 41. Ebd., S. 39, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 41. Ebd., S. 41 f. Ebd., S. 42. Ebd. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 241.
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Bürgerkriegs“299 gemacht. Die niederländische Patriotenbewegung, die inspiriert durch die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung unter anderem Volkssouverä nitä t forderte, hätten nach Riems Ansicht als „unaufgeklärte[] Demagogen“ das Land „an den Rand des Abgrundes“ geführt, „von welchem es in die Tiefen der wuthvollsten Anarchie sich gestürzt haben würde, wäre nicht Preußens aufgeklärterer Genius ihm zu Hülfe geeilt“.300 Einerseits kann Riems negative Bewertung von Aufständen gegen den Monarchen eines Landes unter dem Gesichtspunkt interpretiert werden, dass hier ein überzeugter preußischer Bürger versuchte, nach dem Tod Friedrichs II. im eigenen Land die Aufklärung zu protegieren, um diese für Friedrichs Nachfolger Friedrich Wilhelm II. attraktiver zu machen. Dieser Zielsetzung wäre es mit hoher Wahrscheinlichkeit nachteilig gewesen, den Aufstand in den Niederlanden, zu dessen Niederschlagung der preußische Fürst schließlich beitrug, in Verbindung mit der Aufklärung zu bringen. Auch die negative Bewertung der Amerikanischen Revolution, deren Folgen nur Zerrüttung und Anarchie gewesen sein sollen, wäre durch Riems Ziel erklärbar, in einer Monarchie für die Ziele der Aufklärung zu werben. Im Umkehrschluss führt ausschließlich unaufgeklärtes Verhalten des Herrschers zu Gewalt gegen seine Person.301 Andererseits scheint seine Aussage, dass selbst bei Tyrannen die Majestät des Herrschers geachtet werden müsse, da von ihr die Wahrung der Gesetze und damit das gesamte öffentliche Wohl abhänge, schwer mit aufgeklärten Prinzipien vereinbar zu sein: Nach diesem Verständnis war ein Tyrann wie ein Despot gerade dadurch definiert, dass er alles, was der Aufklärung entgegenstand, in sich vereinigen konnte und er somit durch seine schlechte Herrschaft den Untertanen, ihren Rechten und damit der Allgemeinheit Schaden zufügte. Es erscheint widersprüchlich, dass ein, dem öffentlichen Wohl schadender Tyrann gleichzeitig durch die Majestät, die er vertrat, ebenjenes öffentliche Wohl durch die Wahrung der Rechte sichern soll. Wenn jedoch Riem die ‚Majestät‘ – ähnlich wie Knoblauchs reelle Majestät – als unabhängig von der Person des Herrschers annimmt, sie aber nicht wie Knoblauch in der Gesamtheit des Volkes zu finden meint, sondern wiederum mit der Herrscherperson statt mit dem Volk verknüpft, erscheint die obige Argumenta299 Riem: Aufklärung 1 (wie Anm. 422, S. 82), S. 42. 300 Ebd., S. 42 f. – Der preußische König Friedrich Wilhelm II., dessen Schwager der niederländische Statthalter Wilhelm V. war, griff 1787 militärisch in den Aufstand ein. Hierdurch wurden gewaltsam die alten Verhältnisse wiederhergestellt. Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 241 f.; Michael North: Geschichte der Niederlande. 3., durchg. und aktual. Aufl. München 2008, S. 68–71. 301 Vgl. hierzu auch: Rainer Godel: Vorurteil, Anthropologie, Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert. Tübingen 2007 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 33), S. 389. – Allerdings lassen sich Riems Ausführungen, auf welche Godel anspielt, weniger als ‚düstere Prophezeiung‘ auf die Französische Revolution verstehen, sondern eher als weiteren Versuch, die Regenten davon zu überzeugen, dass die Aufklärung ihrer Untertanen nicht zu einem Staatsumsturz führen würde.
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tion etwas schlüssiger – selbst wenn sie dennoch ihre logische Widersprüchlichkeit behält. Da es von Riem aus der vorrevolutionären Zeit keine vergleichbaren Aussagen gibt, muss davon ausgegangen werden, dass er um das Jahr 1788 nicht als Befürworter von revolutionären Herrscherwechseln – selbst wenn es sich bei ihnen um Tyrannen handelte – betrachtet werden kann. Dass er sich mit diesem Thema und vor allem mit der weit fortgeschrittenen Französischen Revolution erst einige Jahre nach ihrem Beginn befasste, kann jedoch nicht auf Grundlage dieser 1788 festgestellten Ablehnung von ‚schändlichen Staatsrevolutionen‘ erklärt werden. Stattdessen erscheint es wahrscheinlicher, dass sich Riem aufgrund der Untersuchung, welche die Veröffentlichung seiner beiden Fragmente nach sich zog und der Niederlegung seines Predigeramtes in dieser Zeit mit politischen Aussagen zu seiner eigenen Sicherheit zurückhielt.302 In seinem 1793 erschienenen, religionsphilosophischen Werk Ueber Religion als Gegenstand der verschiedenen Staatsverfassungen beschäftigte sich Riem fünf Jahre nach Erscheinen der Fragmente wieder etwas ausführlicher mit der Frage nach der Entstehung von revolutionären Bewegungen. Ähnlich der Leitfrage der Fragmente, versuchte er auch in diesem Werk herauszuarbeiten, dass eine gesetzlich festgeschriebene Religionstoleranz keine Gefahr für einen Staat und dessen Herrscher darstelle. So habe beispielsweise der „geistliche[] Dissensus“ wie er „[i]n den Nordischen Monarchien“ bestanden habe, „noch keine Einzige Staatsverfassung angegriffen“. Die Ausübung der Religionsfreiheit sei folglich in „diesen Monarchien nicht gefährlich“ gewesen. In anderen aristokratischen Staaten seien Revolutionen ebenfalls nicht durch praktizierte religiöse Toleranz hervorgerufen worden, sondern meist durch „die Eifersucht des Bürgers gegen den Adel oder die patricische Familien.“303 Auch Frankreich habe „seine Revolution nicht der religiösen Kultur zu verdanken, sondern alleine der politischen.“ Hierunter fallen nach Riems Ansicht die Schriften Montesquieus, Rousseaus, Voltaires und Jacques Neckers (1732–1804), welche „die Grenzen der verschiedenen Regierungsformen, und die Rechte der Unterthanen so genau bezeichnet [hätten], daß dadurch die Reforme der politischen Mißbräuche nothwendig“304 vorbereitet worden sei. Letztendlich habe in Frankreich „der usurpirte Despotismus durch lettres de cachet, Bedrückung der Bürger, übermäßige Abgaben, so wie zugleich der Druck des Lehnsystems, diese Reform[]“305 – also die Revolution – herbeigeführt. Riem verdeutlicht damit, dass die Aufklärung zwar dazu beigetragen habe, die Franzosen für die politischen Missstände zu sensibilisieren. Verantwortlich für den Ausbruch der Revolution könne die Aufklärung jedoch nicht 302 303 304 305
Zum Fall der beiden Fragmente, vgl. Kapitel 2.3.2. Riem: Religion (wie Anm. 234, S. 142), S. 30, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 42. Ebd., S. 42 f., Hervorh. i. Orig.
3.4 Politische Ordnung
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gemacht werden. Dies macht Riem auch durch den Umstand deutlich, dass er die Revolution nicht als solche, sondern – harmlos klingender – als ‚Reform‘ bezeichnet: Damit hebt er auch sprachlich hervor, dass alleine das verkommene politische System des Ancien Régime dafür verantwortlich gemacht werden könne, dass es einer dringenden Reform bedurfte. Die Aufklärung habe lediglich dazu beigetragen, dass dieser offensichtliche Missstand sichtbar wurde. Am meisten hätten jedoch – und mit dieser kuriosen Deutung erweist sich Riem als überzeugter Preuße – „die Schriften Friedrichs des Großen“ zum Ausbruch der Französischen Revolution beigetragen: Er, „der als Monarch die Rechte der Souverainität am sichersten kennen mußte und mit einer Seelengröße ohne Beyspiel, die Rechte der Unterthanen in ihr größtes Licht setzte“ sei es gewesen, „der dem Monarchen zeigte, daß die Ehre eines Königs dadurch nicht befleckt werde, wenn er sich für den obersten Diener des Staats ansehe.“306 Somit habe er anderen Fürsten ein Beispiel gegeben, dass es auch möglich sei, im Sinne der Untertanen zu regieren, ohne hierfür an Ansehen zu verlieren. Während Riem fünf Jahre nach seinen Fragmenten mit anderen Augen auf Aufstände und Revolutionen blickte und sie, statt sie zu verdammen, neutral darstellte, wird die Französische Revolution von ihm geradezu euphorisch thematisiert und legitimiert, indem sie von ihm als das politische Erbe Friedrichs II. dargestellt wird. Doch obwohl dieser nach Riems Darstellung den größten Einfluss auf die Revolution von 1789 hatte, führt er den Ursprung der Revolution auf die Révocation des Ediktes von Nantes im Jahr 1685 zurück, mit welchem die den französischen Protestanten307 zugesicherte Religionsfreiheit widerrufen wurde. Die daraus resultierende religiöse Intoleranz habe zur Folge gehabt, dass „die Franzosen vorzüglich an[fingen], sich den politischen Betrachtungen zu überlassen“. Weitere „Einschränkungen der Preß- und Denkfreyheit durch willkührliche Verordnungen“ hätten sodann „die Wissenschaft über die Politik, und die Einsichten über die Rechte der Fürsten und Unterthanen“ vollendet, „bis eine gewaltthätige Revolution die Staatsverfassung über einen Haufen warf, und die noch nicht reif gewordene politische Kultur den Geist der Faktionen zum Verderben Frankreichs entzündete.“308 Wenn Riem in seinen Fragmenten Revolutionen verdammen musste, da er belegen wollte, dass diese keine Folge von Aufklärung darstellten, bedient er sich in seinem 1792 erschienenen Werk Ueber Religion einer entgegengesetzten Argumentation: Hier ist die Revolution die Folge eines Zustandes der religiösen Intoleranz. Um dafür zu werben, eine größere Religionsfreiheit zu ermöglichen, weist er darauf hin, welche negativen Folgen eine Einschränkung der unterschiedlichen Religionen und Konfessionen habe und welche positiven Entwicklungen aus einer toleranten Poli306 Ebd., S. 43. 307 Überblicksartig zum Protestantismus in Frankreich, vgl. Simon Karstens: Frankreich. In: Helga Schnabel-Schüle (Hg.): Reformation. Historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2017, S. 248–254. 308 Riem: Religion (wie Anm. 234, S. 142), S. 50.
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tik hervorgehen könnten. Beide Thematisierungen revolutionärer Zustände stellen damit beispielhaft Riems operativ eingesetzte Publizistik dar, die in dieser Zeit vor allem auf die deutschen Verhältnisse wirken wollte. Daher betrachtete Riem in dieser Zeit Revolutionen – und damit auch die Revolution in Frankreich – nicht als Anhänger dieser politischen Veränderungen, sondern hauptsächlich aus der Perspektive des preußischen Bürgers, der sich die Frage stellte, was er daraus für sein Land lernen könne. Damit ging es ihm meist um ein konkretes politisches Anliegen: Er suchte „[m]al durch Schmeichelei, dann wieder durch Drohung, hier durch Erörterung, dort durch Polemik […] die Adressaten in seinem Sinn zu agitieren, jedes Beispiel und Argument, jedes Urteil und jeder Bericht wurde von ihm strategisch gebraucht.“309 Obwohl er zu dieser Zeit Revolutionen vermeiden wollte und die Fürsten in diesem Sinne zu beeinflussen suchte, lieferte Riem schon 1792 – wenn auch eher indirekt – eine gewisse Legitimation von revolutionärem Widerstand. Dieser Widerstand sei gerechtfertigt, wenn ein Fürst einerseits seine Pflicht vernachlässigte, die Freiheitsrechte seiner Untertanen zu wahren und es andererseits verpasste, eine „Reperatur der Staatsmaschine“ vorzunehmen, um „Mißbräuche der Politik, [und] Fehler der Staatsverfassung“ zu beseitigen, welche die „Grundursachen des Revolutionsgeistes“310 seien. Entsprechend liege „die Ursache zu Revolutionen gewöhnlich in der Verdorbenheit der Staatsverwaltungen, und in den Mitteln welche man anwendet, sie zu unterdrücken“. Je höher der hierdurch erzeugte politische Druck auf der Bevölkerung laste, „der die Masse der Völkerrechte darniederhielt“, desto „plötzlicher und gewaltiger“311 breche eine Revolution hervor. Eine Revolution ist damit nach Riems Meinung von ihrer Wirkung mit Naturkatastrophen wie Erdbeben vergleichbar, die leichter und schwerer ausfallen können und somit kaum Zerstörung anrichten oder ein ganzes Land verwüsten könnten. Zudem könne ihr Ausbruch nicht vorhergesagt werden, so wie auch Revolutionen „selten auf lange vorher angelegten Planen der Unterthanen“312 beruhten. Regenten finden den Grund für Revolutionen ‚ohne Gefahr zu irren, in sich selbst‘ Drei Jahre nach diesem Werk, im ersten Jahr seiner Ausweisung aus Preußen, verortete Riem die Verantwortung für den Ausbruch von Revolutionen noch deutlicher bei den Fürsten: Würden von diesen „Grundpfeiler aller Constitutionen erschüttert“, mache dies sogar „die schrecklichste Revolution“ als Reaktion eines „aufs äusserste und zur Verzweiflung gebrachten Volke[s] nothwendig […], wenn es anders für seine Uebel kein besseres Mittel finden“313 könne. Auch ob die Nation zufrieden oder 309 310 311 312 313
Süßmann: Französische Revolution (wie Anm. 333, S. 70), S. 110. Riem: Religion (wie Anm. 234, S. 142), S. 52 f. Ebd., S. 210. Ebd., S. 211. Riem: Reise, Deutschland (wie Anm. 359, S. 73), S. 226.
3.4 Politische Ordnung
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unzufrieden sei, hänge „nicht von zufälligen Ursachen, sondern lediglich von der Regierungsart“314 ab. Entsprechend habe ein guter und gesetzestreuer Fürst keine Umstürze zu befürchten: „der Hang zu Revolutionen entwickelt sich lediglich aus dem Despotismus; nirgends, und chathegorisch unmöglich, aus einer Gesetze achtenden Verwaltung.“315 Da „[d]erjenige Regent, der bey seinem Volke eine Neigung zu Revolutionen“ entdecke, die Ursache hiervon „zuverläßig, und ohne Gefahr zu irren, […] in sich selbst finden“316 könne, lässt Riem einen langen inneren Monolog eines, aus seiner Sicht vorbildlich regierenden, Fürsten folgen: Dieser könne sich sagen, er habe weder durch Willkür noch durch Despotismus geherrscht und niemandem verboten, nach der eigenen Überzeugung zu denken und zu reden. Er habe sich selbst den Gesetzen unterworfen und nicht in die Rechtsprechung eingegriffen. Zudem habe er immer die „Schätze und [das] Blut“ seiner Untertanen „zu kostbar gehalten, sie in ungerechten, den Staat nicht angehenden Kriegen zu vergießen und wegzuwerfen“.317 Ein Fürst der all die genannten Punkte bejahen könne, habe „wohl von seinen Unterthanen [nichts] zu fürchten“.318 Wie schon zuvor, betont Riem auch im Jahr 1796 weiterhin, dass es vor allem die Mittel zur Unterdrückung einer Revolution seien, die letztendlich dazu führten, eine Revolution zu befördern. Bezogen auf seine eigene Verbannung weist er darauf hin, dass die „Entfernung der Patrioten und Vernünftigen […] den Staat zu einem Residuum von Unwissenden und leicht Irrenden“ mache. Wenn man diese Patrioten verbanne, könne man als Despot jedoch umso „sorgenloser das Volk“ drücken und entwürdigen; ihr „Gewissen, ihre Meynungen, ihre Worte und Ausdrücke“ beherrschen; sie mit Lasten belegen und „vor ihren Augen in Ueppigkeit, Wollust und durch falsche Politik ihre Staatsabgaben“ verschwenden. Wenn man dann noch mit Willkür die Gerechtigkeit misshandle, müsse nur „noch ein Funke des Selbstgefühls in den Unterthanen“ stecken, der ausreiche, dass „die Masse der Nation wie ein wüthender Löwe“ aufstehe und aus der „Tyranney die goldne Frucht der Freyheit hervorgehe[].“319 Da bei einer solchen Revolution „alle Männer von Vernunft“ verbannt seien, ist sich Riem sicher, dass „[d]er sich selbst überlassene, seine Fesseln zerbrechende Sklave […] den Freyheitsbaum mit“320 dem Blut des Herrschers begießen würde, statt ihn nach Gesetzen zu richten: „[E]r zerfleischt seine Tyrannen in der Wuth, und niemand ist da, der sie mildern könnte.“321
314 315 316 317 318 319 320 321
Ebd., S. 226 f. Ebd., S. 227, Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd., S. 229, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 231. Ebd., S. 233. Ebd. Ebd., S. 234.
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Vor dem Hintergrund seiner veränderten Meinung verwundert es nicht, dass Riem Aufstände, die er 1788 noch als schändlich ansah, in späterer Zeit – und vor allem nach seiner Verbannung aus Preußen – positiver bewertete. Diese verbesserte Meinung bezog sich auch auf die Tatsache, dass sich ein Volk aus einer ihm ungünstigen Lage befreien konnte und einer neuen Regierungsform zuwandte. So charakterisiert Riem im Jahr 1799 rückblickend die vorrevolutionäre Zeit in Frankreich als eine Zeit großer gesellschaftlicher Unterschiede und Ungerechtigkeit, in der die „französische[] Regierung […] den Geist des unbegrenzten Despotismus“ an den Tag gelegt habe. Dies wiederum habe zur „charakteristische[n] Resignation [der] Unterthanen“ geführt, wie es „das höchste Ideal despotischer Sklaverei“322 darstelle. In diesem Staat sei es üblich gewesen, den Adel gegenüber dem Bürgerstand zu bevorzugen, während die Geistlichkeit durch ihren außerordentlichen Reichtum in die Lage versetzt wurde, „Galanterie, die in der Praktik oft zum Extrem der ausschweifendsten Liebe“ ausartete mit „dem grausamsten Verfolgungsgeiste[, …] der größten Intoleranz und einer Nichts verschonenden Grausamkeit gegen alle Andersdenkende“323 zu verbinden. Eine weitere Spaltung der vorrevolutionären Gesellschaft habe es in Frankreich auch mit Blick auf die Bildung und Aufklärung gegeben. So seien einige der Stände einerseits „in Bildung, Wissenschaften und Aufklärung vorwärts“ gegangen, während andererseits und im gleichen Maße, in welchem diese Stände sich aufklärten, „die größte Masse derselben darinnen zurück“324 geblieben sei. Durch diese Schwere zwischen gebildeten und ungebildeten; aufgeklärten und unaufgeklärten Ständen sei Frankreich „der einzige Staat in der Welt [gewesen], wo man Philosophen und Schauspieler kaum vor einem Begräbniß auf dem Schindanger retten konnte, und wo Voltaire kein ehrlichen Begräbniß anders, als durch List zu erhalten vermochte.“325 Besondere Beachtung widmet er der Beschreibung Marie-Antoinettes, welche mit all ihren Taten dahin gearbeitet habe, „den König, ihren Gemahl, in die Hände des Nachrichters [Scharfrichter, Anm. M. L.] zu bringen“.326 Damit rekurrierte Riem auf den verbreiteten, aufgeklärten Topos der schlechten, den König manipulierenden Herrscherin.327 Auch wenn der Aufstand gegen das französische Ancien Régime aufgrund dieser Sachlage, die Riem besonders ausführlich am intoleranten Verhalten des geistlichen Standes erläutert, gerechtfertigt wird, bewertet er Revolutionen beziehungsweise die Revolution in Frankreich aufgrund ihrer unabsehbaren Folgen ähnlich kritisch wie Knoblauch: Es werde „in unsern Tagen“, wie Riem 1799 festhielt, „nicht leicht ein Wort gleichgültiger ausgesprochen als das Wort ‚Revolution‘ “. Riem meint nicht 322 323 324 325 326 327
Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 9. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 28. Vgl. Süßmann: Französische Revolution (wie Anm. 333, S. 70), S. 112.
3.4 Politische Ordnung
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zu übertreiben, wenn er konstatiert, dass nichts „schrecklicher in seinen Wirkungen für halb Europa“ gewesen sei als die Revolution in Frankreich: Wegen ihr seien „Millionen Schlachtopfer“ gefallen, während weiterhin (1799) „alle Greuel eines schrecklichen Krieges“328 wüteten, der gegen das revolutionäre Frankreich geführt worden sei. Hierdurch stelle eine Revolution generell „ein Uebel in sich“ dar, da sie „die Ordnung der Dinge“ zerstöre und durch ihren Ausbruch „das Glück von viel Tausenden“329 umstürze. Durch die politische Situation nach einem Umsturz käme „[n]icht der große Mann, nicht der Weise“ an die Position, an der er zur positiven Entwicklung eines Landes beitragen könnte. Stattdessen könnten durch die in Frankreich nach der Revolution geltende „Gleichheit in reinen Demokratien“ auch die „Ehrsüchtigen gleiche Ansprüche“ geltend machen, nach ihrer „Denkungsart, an der Regierung des Ganzen“ teilzunehmen: Diese Selbst- und Habsüchtigen bedienten sich „dieser Gleichheit der Rechte der Bürger, um an Aemter zu gelangen, wo sie den Staat plündern und sich selbst bereichern können, ohne Hinsicht, ob das Ganze dabei leide oder nicht.“330 Hierdurch hätten sich während der Französischen Revolution solche weisen Politiker – Riem nennt an dieser Stelle vor allem Mitglieder der bürgerlich-gemäßigten Girondisten – gegen „verabscheuungswürdige Blutmenschen“, Jakobinern wie Maximilien de Robespierre, Jean Paul Marat (1743–1793) oder Georges Jacques Danton (1759–1794), durchsetzen müssen und seien dennoch von Letzteren hingerichtet worden. Unterstützt wurden die Jakobiner hierbei „vom elenden Pöbel der Vorstädte“, welcher alle Gräuel begangen habe, „deren die ausgeartete, vadalisirte und sanskülottisirte Menschheit irgend nur fähig seyn“331 mochte. Diese in Frankreich während der Terreur beobachteten Ereignisse stellen nach Riem Folgen dar, „welche jede Revolution, da sie immer Anarchie zur Seite [habe], überall und allenthalben hervorbringen“ könne, sofern es nicht gelinge, diejenigen Akteure „zu vertilgen oder zurückzuhalten“, die sich wie die Jakobiner, ohne auf die Allgemeinheit Rücksicht zu nehmen, an Macht bereichern wollten. Jede Nation, die durch eine Revolution „eine Regierungsform despotischer oder monarchischer Art umstößt“, durchlaufe, bis sie eine stabile Konstitution erhalte, „interimisch […] einen Zustand der Gesetzlosigkeit“.332 In den Niederlanden habe es hingegen einen derartigen Zustand der Anarchie nicht gegeben: Da hier, wie Riem 1797 bemerkte, keine förmliche Revolution stattgefunden habe, deren Folge „eine ganz neue Ordnung und Staatsverfassung“333 gewesen wäre, findet er es in diesem Zusammenhang schwierig, sowohl von einer Revolution als auch von einer ‚Batavischen Republik‘ zu sprechen: Bei Letzterer 328 329 330 331 332 333
Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 141, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 151 f. Ebd., S. 152, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 153. Ebd., Hervorh. i. Orig. Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 129, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
handele es sich um einen „ganz sonderbar zusammengesetzte[n] Staat“, dessen verschiedene „Staatsgewalten sich durchkreuz[t]en“ und für die batavische Nationalversammlung nicht feststehe „wie weit ihre Gewalt gehe, oder wo ihre Grenzen statt finden.“ Hierdurch befinde sich die batavische Nation mit ihrer Nationalversammlung einerseits in einem Revolutionszustand und sei andererseits „der Macht souverainer Provinzialadministrationen unterworfen“.334 Da durch „das Reglement der Generalstaaten, welche die Glieder der Nationalversammlung beschworen haben, […] Eingriffe in die souverainen Rechte der Provinzen“ untersagt wurden, hätte „die Nationalversammlung den Charakter einer Revolutionsrepräsentation“335 verloren. Sie stehe damit ohne Macht und lediglich „consultativ, oder berathschlagend“336 neben den Regierungen der Provinzen. Letztendlich sollte man statt von der ‚Batavischen Republik‘, die es noch nicht gebe, lieber weiter von der ‚Republik der vereinigten Niederlande‘ sprechen, da an deren Verfassung nichts geändert worden sei: Alles sei so geblieben, „wie es war, mit der geringen Ausnahme, daß ein Staatsbeamter“, der Erbstatthalter, fehle. Doch auch dieser fehle „nur dem Namen nach, denn seine Stelle ist durch die Nationalrepräsentation etc. ersetzt“337 worden, deren Macht so eingeschränkt sei wie zuvor die des Statthalters.338 Da viele von Riems Zeitgenossen über Revolutionen wie „von einem leicht zu realisirenden Gegenstande“ sprächen und nicht wüssten, „daß bloß tausend von allen Seiten zusammenströmende Zufälle diese Realisirung möglich“ machten, sah er 1799 die Notwendigkeit gegeben, die „verschiedene[n] Arten von Revolutionen“ darzulegen, die es seiner Meinung nach „in Beziehung auf die Ursachen, von welchen sie ausgehen“,339 gebe. So stellten die „Revolutionen des Orients, Indiens, Rußlands etc. […] nichts weiter, als Ermordungen von Despoten [dar], um sich einem andern Despoten zu unterwerfen.“ Die Verfassungen dieser Länder blieben dabei unangetastet. Die staatlichen Veränderungen, denen wiederum Schweden innerhalb des 18. Jahrhunderts unterworfen war, nährten sich Riems Meinung jedoch „ungleich mehr der französischen, da sie die Verfassung wirklich veränderten.“ Ähnlich seien zudem die britischen Revolutionen gewesen, „welche theils Veränderungen der Dynastieen“ oder „Abänderungen in gewissen Punkten der Staatsverfassungen enthielten, wodurch die Nation mehrere scheinbare Vorrechte, und auch wirkliche erhielt.“340 Da eine „totale Abänderung“ der Konstitution folglich „allein […] eine Revolution charakteristisch“ mache und es sich bei allen „Veränderungen in Nebensachen“ 334 335 336 337 338
Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 124, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 124 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 125, Hervorh. i. Orig. Ebd. Riems Einschätzung deckt sich mit der Darstellung, die niederländische Republik sei 1795 lediglich in die ‚Batavische Republik‘ umbenannt worden. Vgl. North: Niederlande (wie Anm. 300, S. 451), S. 71. 339 Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 141 f., Hervorh. i. Orig. 340 Ebd., S. 142.
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stattdessen lediglich um „Veränderungen [handele], die den Ehrennahmen Revolution“ nicht verdienten, glaubten die Niederländer nur, sich in einem Zustand der Revolution zu befinden. Sie haben hierbei nach Riems Meinung „vergessen, daß sie zu allen Zeiten eine föderative Republik waren“. Entsprechend habe auch in Frankreich die „eigentliche Revolution“ erst am 10. August 1792 begonnen, als „die königliche Gewalt sofort abgeschaft, alle Souveränität Frankreichs im Nationalconvente vereiniget, und durch Ministers etc. ausgeübt“341 wurde. 1789 stellte für ihn nur die Veränderung einer despotischen Monarchie hin zu einer konstitutionellen Monarchie dar. Da es sich jeweils um Monarchien handelte, war die Abänderung nicht ‚total‘ und folglich nicht vollkommen revolutionär. Drei Jahre später stellte Riem hingegen auch den 4. August 1789 als den ersten Tag der Revolution dar, da an ihm mit der Abschaffung der Adelsprivilegien ein „große[r] Theil der alten Verfassung über den Haufen“342 geworfen worden sei. Revolutionäre Administrationen als Interimszustand Um einer revolutionären Anarchie zuvorzukommen, sieht Riem eine revolutionäre Administration als notwendig an. Hierbei handelt es sich um „eine strenge, gesetzliche Regierung“, durch welche der revolutionäre Staat „ad interim, bis eine Constitution vollendet ist“,343 regiert wird. Diesen Zustand vergleicht er mit dem Staatsnotstand, der durch den Senat der Römischen Republik im äußersten Notstandsfall ausgerufen werden konnte. Dieser Senatsbeschluss zur Verteidigung des Staates (senatus consultum ultimum) umfasste – im Gegensatz zur Diktatur – den gesamten römischen Beamtenapparat, der mit dem Beschluss zur Rettung des Staates aufgerufen war. Hierdurch war der Senat als Regierung weiterhin in der Lage, über die politische Ordnung zu verfügen.344 Zwar sei „Robespierre’s revolutionaire Administration […] freilich wenig geschickt“ gewesen, eine solche Regierung „angenehm und wünschenswerth zu machen“. Dieser „[d]emokratische[] Despoitism“ Robespierres unterschied sich dennoch sehr von der „altrömischen Diktatur“ und von Riems eigener Vorstellung einer streng reglementierten und begrenzten Revolutionsadministration. Wenn aus ihr dennoch „Demagogen“ hervorgingen, wie sie die Jakobiner während der Terreur darstellten, liege „dieses nicht im Wesen der revolutionairen Gewalt, sondern [im] Mangel eines hinreichenden Arrangements.“345 Würden die Administratoren regelmäßig ausgetauscht und die rechtlichen Grenzen deutlich festgelegt, „so könne [die Revolution] nicht anders als höchst vortheilhaft für jeden Staat werden, wo
341 342 343 344
Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 126, Hervorh. i. Orig. Ders.: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 20. Ders.: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 142. Vgl. Jochen Bleicken: Die Verfassung der römischen Republik. Grundlagen und Entwicklung. Paderborn 1975, S. 92 f. 345 Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 142.
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sie bis zur Eintretung der Regierung nach Gesetzen, die die Nation sancirte, das große Mittel zur Feststellung der Freiheit der Nationen wird.“346 Obwohl Riem in vielen seiner Schriften die Herrschaft Robespierres kritisierte und ihn im Sinne der deutschsprachigen Publizistik dieser Zeit als blutdurstiges Monster darstellte, stellt seine Beurteilung Robespierres ein weiteres „Musterbeispiel für Riems operative Rhetorik“347 dar. So relativiert er in seinem vorletzten Reisebericht von 1800 die Zeit der Terreur, indem er sie der Politik der europäischen Fürsten gegenüberstellt: „Wäre Robespierre ein Monarch in irgend einem Königreiche von Europa gewesen; hätte er alles was er that, gegen Unterthanen gethan, die sich den Feßeln des Despotismus entziehen wollten“.348 Unschuldige zu ermorden, sei, wie Riem polemisch anmerkt, das „anerkannte[] Vorrecht der Könige und Selbst-Herrscher“, wohingegen dies bei einem Republikaner nicht hingenommen werde. Da er zudem „die Anhänger des Königthums, die fanatischen Priester, den hochfahrenden Adel“ habe hinrichten lassen, habe er sich auch gerade deshalb bei den Fürsten und Befürwortern einer Monarchie diskreditiert. Daher entspringe die negative Bewertung Robespierres nur gewöhnlichen Vorurteilen, „welche über den Werth und Unwerth der Menschen“349 entschieden. Zwar gibt Riem an, dass er Robespierre nicht „zum Heiligen“ machen wolle und alle, die – „gekrönt oder im Kleide des Bürgers“ – so handelten wie er, „Geiseln der Menschheit“ darstellten. Er „verabscheue ihn“ sogar, „weil er überhaupt mordete, Schuldige und Unschuldige“ – aber: Robespierre erschien ihm weniger schlimm als sein besonders verhasstes Feindbild, der britischen Premierminister William Pitt oder „die Menschen-Schlächter der Coalition.“350 Außerdem könne man, da er ermordet wurde, nicht abschließend bewerten, was Robespierre wirklich vorgehabt hätte: Entweder vereitelte seine Hinrichtung nach Riems Vorstellung einen schlechten Plan zur Alleinherrschaft oder aber einen guten, der zum Wohle der Republik beigetragen hätte. „Wir haben nur seine Greuelthaten kennen gelernt, und wenn er etwas Gutes bezweckte, so ging es mit ihm zu Grabe.“351 Zudem kann Riem der Herrschaft Robespierres zahlreiche gute Aspekte abgewinnen: Seine Grausamkeit habe beispielsweise dazu beigetragen, dass Frankreich „entschlossene Generäle, [und] eine brave Armee“352 erhalten hätte. Auch „reinigte“ Robespierre das Innere des Staates „von seinen Blutsaugern und Feinden, stützte die Pfeiler der Gleichheit der Menschenrechte, vertilgte viele Vorurtheile des Aberglaubens und der Religion, und setzte die Verfassung in eine Lage, daß die Tugend der Mäßigung und der Gerechtigkeit nun ohne schädlich zu werden, aufs allgemei346 347 348 349 350 351 352
Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 143. Süßmann: Französische Revolution (wie Anm. 333, S. 70), S. 115. Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 221, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 223. Ebd., S. 222, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 224. Ebd.
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ne Beste wirken konnte.“353 Riem übernahm damit die Argumentation, Gewaltakte nachträglich durch das angestrebte Wohl der Republik und der Revolution zu rechtfertigen und dadurch zu legitimieren.354 Die Terreur wird hierdurch zum kurzen Zwischenakt der „Tyrannei der Demagogen“355 und zum „blutige[n] Lehrgeld, das eine Nation“356 zu zahlen habe, bevor sie sich nach Riems „naiv fortschrittsgläubigen“357 Optimismus den „künftigen Aussichten [des] blühenden Nationalglücks“358 zuwendet. Dass Riem jedoch Robespierres Herrschaft auch positive Aspekte zuschrieb, verwundert darüber hinaus nicht, wenn man beachtet, welche Maßnahmen er selbst im Bezug auf angebliche Feinde der Revolution befürwortete. Diese Feinde sah er generell im Adel und dem Klerus, die er beide „durch angebohrne und erworbene Prinzipien“ als vollkommen unfähig ansah, „in den Stand des Bürgers herabzutreten“. Während der Adel die Bürger verachtet habe und sich daher niemals mit ihnen gemein gemacht hätte, sahen beide Stände sie zudem „als eine Heerde Schaafe [an], die bestimmt wäre, von ihnen geschoren zu werden.“359 Rückblickend plädierte Riem für die ‚Lösung‘, die Angehörigen des Adels und des Klerus als potenzielle Feinde der Revolution präventiv auf eine westpazifische Inselgruppe mit dem sprechenden Namen der „Diebsinseln“360 zu deportieren. Hier würde der Adel „von keinem Umgange mit Bürgern befleckt“, wie Riem ironisch darstellt und könne „seine ganze Nachkommenschaft von allen Mißheirathen, Unstiftsfähigkeiten und allem unreinen Blute bewahren“. Da höchstens der niedere den höheren Adel bedienen müsste, wäre er darüber hinaus gezwungen, alle Arbeiten selbst zu erledigen, die ihm ansonsten vom dritten Stand abgenommen würden: „Sie würden ihre eigene Schuhflicker und Schneider seyn. Sie würden für die erlauchte Aristokratie Brodt backen, Pferde beschlagen und, mit einem Worte, alles selbst verrichten, was der in ihren Augen so verächtliche Bürgerstand bisher für sie leistete.“361 Hierdurch würden sie davon überzeugt werden, „daß unter allen Ständen nur derjenige der vorzüglichste sey, dessen Thätigkeit, Arbeitsamkeit und Fleiß das Meiste zur Erhaltung der menschlichen Gesellschaft beitrage.“362 Der adlige Stolz und Hochmut, ihre Intrigen und Tyrannei gegenüber allen anderen Menschen würden somit nach Riems Vorstellung vernichtet werden: Der Adel würde sich sodann „schämen, ehemals anders gedacht und gehandelt zu haben; sie 353 354 355 356 357 358 359 360
Ebd., S. 225. Vgl. Thamer: Französische Revolution (wie Anm. 246, S. 442), S. 87. Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 60. Süßmann: Französische Revolution (wie Anm. 333, S. 70), S. 116. Kaiser: Deutsche Paris-Bilder (wie Anm. 345, S. 71), S. 128. Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 60. Ebd., S. 125, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 126, Hervorh. i. Orig. – Mit den ‚Inseln der Diebe‘ beziehungsweise ‚Diebesinseln‘ wurden die heutigen Marianen bezeichnet. 361 Ebd., S. 128. 362 Ebd., S. 130.
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würden ihre Adelsdiplome vernichten, da sie sie nicht über die Nothwendigkeit erheben können, unter sich selbst alle Arbeiten zu verrichten, die keinen Bürger entehren.“363 Um zu überleben, müsste sich der Adel zu einer bürgerlichen Gesellschaft zusammenfinden und würde somit in den Bürgerstand umerzogen werden, den er – da er selbst seine Tätigkeiten ausführe – nicht mehr verachten könne. Unter Rückgriff auf Begriffe, die mit Krankheit und Genesung verbunden sind, sah Riem diesen Vorgang als ‚Heilung‘ des Adels an.364 Der Klerus wurde von Riem hingegen als unfähig betrachtet, auf eine ähnliche Weise zu vorbildlichen Bürgern umerzogen zu werden. Für Geistliche müsste eine nahrungsreiche Insel eine „paradiesische Glückseligkeit“ darstellen, da sie sich hier vollkommen ihren Lieblingsbeschäftigungen „Essen, Trinken und Beten“ widmen könnten. Alle ihre „Werke der Liebe“ könnten sie hier zudem alleine „[g]egen sich selbst“ ausüben und außerdem ihrer Vorliebe für „Hierarchie“ frönen, indem „in ihrem Theile der Insel alles nur einem geistlichen Oberhaupte unterworfen seyn würde.“365 Ohne Frauen würden der geistliche Stand hier jedoch „inkorrigibel in seiner Natur […] in die ihm eigenthümliche Laster der Pädasterie etc. ausarten“ und so „entweder wie Sodom von einem Feuermeere vulkanischer Art verschlungen; oder wenn der Allbarmherzige sie dulden will, durch Aussterben von der Oberfläche der Erde vertilgt werden.“366 Riem legitimierte diese Umerziehung – oder nach seinem Duktus: ‚Heilung‘ – des Adels und die Vernichtung der Geistlichkeit utilitaristisch mit dem Wohle der Republik und der Sicherung ihres Fortbestandes: „Die Republik würde auf diese Weise von Menschen befreit werden und geworden seyn, die gegenwärtig in ihrem Innern eine schleichende Pestillenz sind, die den ganzen Staatskörper zu vergiften drohen.“367 Wie aus seiner Formulierung hervorgeht, handelt es sich hierbei nicht nur um ‚Lösungsvorschläge‘, die er aus seiner rückschauenden Position zu Beginn der Französischen Revolution als sinnvoll erachtet hätte: Da aus seiner Sicht weder 1789 noch im Zuge der ‚richtigen‘ Revolution 1792 entschieden gegen Adel und Klerus vorgegangen worden war, sah er deren angebliche Verschwörung gegen die Republik auch 1799 noch als problematisch an. Somit bleibt für Riem auch in dieser Zeit eine vorsorgliche und umfassende Deportation weiterhin als Möglichkeit bestehen. Er wird sich hierbei an der Deportation von katholischen Priestern orientiert haben, die vermutlich aus seiner Sicht nicht konsequent genug verfolgt wurde. Riems Ideal einer bürokratisierten Revolution Entgegen seiner eigenen, skrupellos wirkenden Vorschläge favorisierte Riem jedoch ein geradezu bürokratisches Vorgehen als revolutionäres Ideal. Dieses hätte 363 364 365 366 367
Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 131. Vgl. ebd., S. 130. Ebd., S. 129, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 131 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 132, Hervorh. i. Orig.
3.4 Politische Ordnung
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nach seiner Meinung mit der Batavischen Republik verwirklicht werden können, welche „in der glücklichsten Lage“ gewesen sei, „die weisesten revolutionairen Mittel zu wählen“, die ihr von „ihrer großen Vorgängerin“368 als Beispiel vorgegeben worden waren. Diese Chance hätten die Niederländer jedoch nicht genutzt, da sie sich aus Angst vor einem „Ultra-Revolutionsgeist“ einem „überfurchtsame[n] UltraModerantismus“ zugewandt hätten. Dieser habe den Widerstand der Revolutionsgegner erleichtert und hierdurch „einer künftigen Conspiration alle Wege [geebnet], um die neue Ordnung der Dinge mit Nachdruck zu stürzen.“369 Obwohl Riem auf der ultra-revolutionären Seite keine Jakobiner verortete, sondern Patrioten „von Geist, Grundsätze[n] und Talente[n], Kraft und Nachdruck“, die „Maaßregeln vor[schlugen], welche zur Ehre des Staats“370 hätten ausfallen müssen, befürwortete er stattdessen einen Mittelweg zwischen der revolutionären und moderaten Strömung. Auch dieser Mittelweg sei in den Niederlanden verpasst worden. Um ihn zu erlangen, sei keine besondere Grausamkeit notwendig, denn „[d]ie Gründung eines Freistaats [bedürfe] weder der Guillotine, noch des Bürger-Bluts“.371 Stattdessen sei lediglich eine „revolutionaire[] Administration“ vonnöten, welche auf die „nachdrückliche Handhabung der Gesetze unverrückt“ achte, „ohne welche die Revolution nicht möglich ist.“372 Die Behauptung, dass lediglich durch das Vergießen von Blut eine Revolution und ihre revolutionäre Regierung aufrecht erhalten werden könnten, bis beide durch eine Verfassung beendet würden, stelle „eine die Menschheit schändende Voraussetzung“ dar. Es sei stattdessen lediglich notwendig, „gefährliche, antirepublikanische Männer außer Stande“ zu setzen, die der Revolution „entweder durch ihre Talente oder ihre Reichthümer gefährlich“ werden könnten. Diese „geschwornen Feinde der Freiheit“ müssten nach Riems Ansicht „so lange aus dem Staate, mit einer hinlänglichen Unterhaltung aus ihren eignen Mitteln“,373 entfernt werden, bis die Revolution beendet und eine Verfassung verabschiedet worden sei. Wie ebenfalls aus seiner Darstellung der Französischen Revolution hervorgeht, werden von Riem wohlhabende Menschen alleine aufgrund ihres Reichtums zu den Gegnern einer republikanischen Revolution gezählt. Da sie sich ihren Wohlstand nur durch das Ausnutzen des Dritten Standes aneignen konnten, unterstellt ihnen Riem, dieses System, das ihnen die Bereicherung ermöglichte, schützen und erhalten zu wollen. Auch wenn Riem keine pauschale, auf den reinen Verdacht begründete Enteignung oder sogar Ermordung von Wohlhabenden befürwortete,374 verurteilte er dennoch nicht ausdrücklich entsprechende Prosktiptionslisten der „mächtige[n] Klasse der General-Pächter der Finanzen des Reichs“, der Adligen und Geistli368 369 370 371 372 373 374
Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 149. Ebd., S. 147, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 145. Ebd., S. 149. Ebd., S. 149 f. Ebd., S. 150, Hervorh. i. Orig. Vgl. Süßmann: Französische Revolution (wie Anm. 333, S. 70), S. 114.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
chen, „welche Marat angelegt hatte, und Robespierre vermehrt[e]“.375 Er relativiert stattdessen auch dieses Vorgehen, indem er die rhetorische Frage stellt, ob „wenigsten für einen Robespierre, noch ein anderes Mittel, die Republik zu retten“, denkbar gewesen wäre, als die Wohlhabenden Revolutionsgegner „in Schrecken zu setzen, und zur allgemeinsten Emigration durch die Furcht vor dem Tode, zu nöthigen?“376 Demgegenüber spricht sich Riem mit Blick auf die Batavische Republik und im Zusammenhang mit seiner Vorstellung des idealen Ganges einer Revolution lediglich dafür aus, das Vermögen und die Güter der nur auf Zeit entfernten ‚Feinde‘ „durch eine Commission [aus] rechtschaffen[en] bewährte[n] Oekonomie-Beamten administrirt, und bei ihrer Zurückkunft und Unterwerfung ihnen, aufs strengste berechnet, zurück gegeben werden.“ Riem, der ansonsten den Schutz des Eigentums als höchstes Ziel des Staates befürwortete, wendet sich in diesem Zusammenhang lediglich dagegen, dass es ungerecht wäre, „Menschen ihrer Meinungen halben verfolgen, oder ins Elend stürzen [zu] wollen.“377 Sie jedoch lediglich auf den Verdacht hin, sie seien aufgrund ihres Besitzes Gegner der Revolution und der daraus entstehenden Republik, ihrer Freiheit zu berauben, hält Riem für legitim, da es sich dabei nur um temporäre Maßnahmen handele. Er argumentiert damit erneut aus utilitaristischer Sicht zum Schutze der Republik: Diese „würde despotisch werden, und sicher zu weit gehen, wenn sie mehr thäte, als solche Bürger dem Staate, so lange er noch von ihnen gefährdet wird, unschädlich zu machen.“378 Noch willkürlicher und schwerer nachvollziehbar ist Riems Argumentation, wenn er dafür plädiert, Menschen nicht wegen ihres Reichtums, sondern aufgrund ihrer Talente für die Zeit einer revolutionären Administration zu verbannen. Während bei Reichen durch ihre kontrollierte Festsetzung verhindert werden soll, dass sie unter Zuhilfenahme ihrer finanziellen Mittel gegen die republikanische Revolution opponieren und auf ihren Verlauf und Ausgang Einfluss nehmen, gilt dasselbe für Menschen mit den entsprechenden naturgegebenen Talenten: Ihnen könnte es auch ohne pekuniäre Argumente alleine durch ihre Rhetorik gelingen, andere Menschen und mit ihnen die Revolution in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken. Hierbei wird Riem vermutlich an populäre Politiker wie die Jakobiner unter Robespierre gedacht haben, die – wie er es 1797 kritisierte – den ‚Pöbel der Vorstädte‘ für ihre Interessen mobilisierten. Da Riem eine entsprechende Mobilisierung vonseiten ‚vernünftiger Männer‘ begrüßt hätte, die damit die Masse ebenfalls gelenkt, aber dafür in eine von Riem favorisierte Richtung dirigiert hätten,379 wird 375 376 377 378 379
Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 212 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 217. Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 150. Ebd., S. 150 f., Hervorh. i. Orig. Vgl. hierzu in diesem Kapitel seine Ausführung zu den Folgen der Entfernung aller ‚Männer von Vernunft‘ aus einem Staat. Siehe zudem seine Darstellung von einer ‚Pöbel-‘ beziehungsweise ‚Bürger-Republik‘, die sich alleine dadurch zu unterscheiden scheinen, wer im Verlauf des politischen Prozesses die Oberhand gewinnt: Obsiegen die Populisten, die das Volk für ihre Interessen mobilisieren, entsteht eine negativ bewertete ‚Pöbel-Republik‘. Schaffen es hinge-
3.4 Politische Ordnung
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deutlich, wie eng bei Riem ‚Vernunft‘ und ‚Demagogie‘ zusammenliegen. So ist es auch ihm nur mit einem entsprechenden zeitlichen Abstand möglich zu bewerten, ob ein politischer Akteur einen vernünftigen oder einen der Allgemeinheit schädlichen Plan verfolgte. Und selbst wenn es sich wie bei Robespierre nach allgemeinem Urteil um einen gefährlichen Populisten handelte, ist sich Riem nicht sicher, ob er vielleicht nicht doch einen Plan verfolgte, welcher möglicherweise zum Wohle der Republik und Revolution beigetragen hätte. Wie schmal bei Riems Darstellung der Grat zwischen dem Lob oder der Verurteilung einer revolutionären Regierung und der aus ihr entstandenen Verfassung ist, zeigt das Beispiel des nach dem Sturz der Jakobiner eingeführten Direktoriums. Dessen Verfassung wird von Riem erstmals 1798 in seinen Reiseberichten durch Großbritannien lobend erwähnt: Seiner Meinung nach stelle der dort vorgesehene Rat der Alten ein sinnvolles Mittel dar, um einen eventuellen Missbrauch des Parlamentes zu verhindern, da die Aufgabe des Rats darin bestand, die Gesetze zu prüfen, die durch die erste und weitaus größere Parlamentskammer angenommen worden waren. In diesem Zusammenhang – und um wahrscheinlich auch vor allem die britische Legislative zu kritisieren – wird die Direktorialverfassung als ideale und wünschenswerte Verfassung dargestellt.380 Nicht in diese positive Bewertung aus dem Jahr 1798 scheint hingegen der Staatsstreich des 18. Fructidor des Jahres V (4. September 1797) eingegangen zu sein. Diesen thematisierte er erst 1801 und kritisierte, dass das Direktorium durch seinen Staatsstreich „die Konstitution gleichsam vertilgt“ habe. Hieraus sei „[e]in ärgerer Despotismus als der monarchische“381 entstanden. Über seine positive Meinung, die Riem vor dem Staatsstreich von der Direktorialverfassung zu haben schien, verliert er kein Wort. Stattdessen führt er aus, dass „[d]ie Direktorial-Verwaltung“, also die Exekutive der Direktorialverfassung, „sich selbst für eine Parthei“ erklärt und alle Bürger verfolgt habe, „die ihren Planen und Absichten nicht beitraten.“ Das Direktorium habe eine „Parthei der Demagogen“ gebildet und sei „in der That die Faktion der Anarchisten“ gewesen, die „ohne Ordnung, ohne Wirkung der Gesetze“382 regiert hätte. Dieses „anarchische[] Chaos“ des Direktoriums und „[d]as ganze System mußte zu einer neuen Gestalt regenerirt werden“, was auch „wie mit raschem pfeilschnellen Gange“ und durch neue Gesetze vonstatten gegangen sei: Durch die Aufnahme von Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836) in das Direktorium im Jahr 1799 sei der „Despotism der Diktatoren“ wieder verändert worden. Zudem habe sich Sieyès „mit dem größten Helden aller Zeiten“ – Napoleon – verbunden: Beide hätten „gemeinschaftlich mit den aufrichtigsten Anhängern der guten Sache der Freiheit“, so Riems parteiische Interpretation, „dem Staate zu einer solidern Verfassung gen die ‚vernünftigen Männer‘ an die Macht, entsteht hingegen eine ‚Bürger-Republik‘, die in Riems Augen positiv zu betrachten ist. Vgl. Kapitel 3.4.3. 380 Auf diese Darstellung wird detaillierter im nachfolgenden Kapitel 3.4.3 eingegangen. 381 Riem: Reise, Frankreich 3 (wie Anm. 530, S. 98), S. 32, Hervorh. i. Orig. 382 Ebd., S. 328, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
[verholfen], welche die Kräfte desselben mehr concentrirte, ohne den Gewalten jene willkührliche Gewalt zu lassen, welche das unglückliche Gesetz des 19. Fruktidors den Direktoren eingeräumt hatte“. Dies hätte nach Riems Vorstellung in den unmittelbaren Untergang des Staates gemündet. Stattdessen sei durch das Wirken Sieyès’ und Napoleons das genaue Gegenteil eingetreten: „Dieses ist der Zeitpunkt, wo sich die Lage der Fränkischen Republik mit der Gestalt ihrer Verfassung änderte, der Zeitpunkt, in welchem die Lage der meisten europäischen Staaten, zugleich eine andere Richtung und ein besseres Interesse und hellere Aussichten erhielten.“383 Letztendlich scheint für Riem eine ungerechte, schlechte und selbst eine anarchistische Interimsadministration kein Hindernis für einen positiven Ausgang des Revolutionsprozesses mit dem Ergebnis einer guten und gerechten republikanischen Konstitution darzustellen. Er betont zwar, dass „[d]as Wort Unterdrückung“ einen Freistaat entehre: Wer sage, „daß der Freiheitsbaum nur dann gedeihe, wenn er mit Bürgerblut begossen wird, ist entweder im Irrthum der gefährlichen Art oder ein demagogischer Tyrann.“ In diesem Fall sei es „gleichgültig, ob der Tyrann König oder Demagoge heiße.“ Eine Unterdrückung außerhalb eines Freistaates, also innerhalb einer Revolutionsregierung, die sich schließlich noch auf dem Weg hin zu einer Republik befindet, scheint hingegen nach Riems Überzeugung in Kauf genommen werden zu müssen. Eine derartige schlechte Revolutionsregierung steht zudem nicht im Widerspruch mit einer wohlgeordneten Konstitution: „Auch revolutionärer Despotismus kann der Freiheit und Gleichheit in der Republik nichts anhaben, enthält deren Verfassung doch in sich die Maßstäbe, um Fehlentwicklungen zu erkennen und die Prinzipien, sie zu korrigieren.“384 Da Riem auch in seinen letzten Werken versuchte, auf die deutschsprachige Öffentlichkeit – und besonders auf die deutschen Fürsten – einzuwirken, schlagen all seine Argumente letztlich, wie es Johannes Süßmann korrekt darstellt, „in ein Plädoyer für Reformen von oben“385 um. Da ein Fürst entsprechende Veränderungen entweder selbst initiiere oder durch seine despotische Herrschaft für einen politischen Umsturz verantwortlich sei, betont Riem, dass die erstere Variante einer geleiteten, wohlgeordneten, ‚bürokratischen‘ Revolution aus seiner Sicht sowohl für die Fürsten als auch für das Land das sinnvollste sei: Man müsse, Riems „Grundsätzen zufolge, […] das Werk der Befreiung der Völker den Regenten selbst überlassen.“386 Handele es sich bei ihnen um verantwortungsvolle Herrscher, würden sie diese Veränderung alleine um des Staates Willen durchsetzten. Auch für die Bevölkerung selbst sei eine solche vom Herrscher eingeleitete Revolution zu bevorzugen, wie 383 Riem: Reise, Frankreich 3 (wie Anm. 530, S. 98), S. 54, Hervorh. i. Orig. – Zu Riems parteiischer Sichtweise auf Sieyès und Napoleon, vgl. Kaiser: Deutsche Paris-Bilder (wie Anm. 345, S. 71), S. 127 f. 384 Süßmann: Französische Revolution (wie Anm. 333, S. 70), S. 117. 385 Ebd. 386 Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 147, Hervorh. i. Orig.
3.4 Politische Ordnung
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Riem schon 1797 formulierte: „Der Mann von guten Grundsätzen wird also leicht einsehen, daß alle Revolutionen nicht von unten hinauf, sondern vom Throne herab bewirkt und eingeleitet werden müssen.“387 Schlechten Herrschern werde es hingegen wie Ludwig XVI. gehen, „der durch Schwachheit, Meineid und Mißbrauch von Macht die französische Revolution selbst bewirkte und vollendet[]“388 habe. In diesem Fall ginge nach Riems Ansicht die Revolution auch ‚von oben‘ aus: „Der Thron muß sich selbst erschüttern, selbst einen Pfeiler nach dem andern zertrümmern, bis er endlich durch die Schuld des Monarchen selbst vernichtet wird.“389 In einer Monarchie, welche aufgrund einer wohleingerichteten Herrschaft keiner Revolution bedürfe, sei diese weder erlaubt noch praktisch durchführbar: „Wer Freiheit wünscht, muß sich wirklich über Knechtschaft zu beschweren Ursachen haben, sonst lachen die Vernünftigen seiner, die den Grundsatz haben, daß man unter jeder gesetzlichen Regierung, sie habe Namen, wie sie wolle, frei sey.“390 Der Sturz eines solchen weisen Fürsten stelle Hochverrat gegen diesen, aber vor allem „gegen das Glück einer gut regierten Nation“391 dar. Riems politische Philosophie seiner späten Werke lässt sich somit nicht eindeutig einer Meinung zuordnen, die eine Revolution pauschal ablehnt. Dergestalt äußerte er sich zwar noch 1788 vor den Eindrücken der Französischen Revolution. Auf Grundlage dieser Aussagen, aber ohne sie in ihren näheren Kontext einzuordnen, beschreibt Jonathan Israel Riem pauschal als Gegner von politischen Umstürzen.392 Während diese ungenaue Charakterisierung nicht haltbar ist, war Riem dennoch in der späteren Zeit auch kein überzeugter Befürworter einer unbeschränkten Revolution. Sein, sich in dieser Differenz äußernder „etatistischer Egalitarismus“ lässt sich somit keiner Seite eindeutig zuschlagen. Darüber hinaus erschwert auch seine situative Instrumentalisierung historischer Ereignisse zur Untermauerung der eigenen Publizistik eine entsprechende Bewertung. Riems „sozialrevolutionäre“ und gleichzeitig „autoritäre Agitation“, welche er nach Johannes Süßmanns Bewertung „im Brustton der Überzeugung zum Regentendienst“393 trifft, sagt damit vor allem etwas über sein Selbstverständnis als überzeugter ehemaliger preußischer Untertan Friedrichs II. aus. 3.4.2.2 Die Rolle des Militärs Aufgrund seiner zentralen Bedeutung für die politische Struktur des 18. Jahrhunderts nimmt die Thematisierung des Militärwesens und besonders des stehenden, 387 388 389 390 391 392 393
Ders.: Reise, Holland 2 (wie Anm. 513, S. 96), S. 413. Ders.: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 148, Hervorh. i. Orig. Ders.: Reise, Holland 2 (wie Anm. 513, S. 96), S. 141. Ders.: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 171, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 151, Hervorh. i. Orig. Vgl. Israel: Democratic Enlightenment (wie Anm. 187, S. 45), S. 744 f. Süßmann: Französische Revolution (wie Anm. 333, S. 70), S. 118.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
ständig bewaffneten Heeres394 auch in den Schriften der drei Autoren – besonders vor dem Hintergrund der revolutionären Umbrüche – eine besondere Rolle ein. So konnte das Militär im Falle des eigenen Landesheers einerseits für die Garantie einer gewissen Sicherheit und Ruhe sowohl für den Fürsten als auch für die Untertanen stehen. Im Falle Frankreichs hielt es Andreas Riem der Zeit der jakobinischen Terreur zugute, dass das französische Heer gestärkt aus dieser Zeit hervorgegangen und zugleich „furchtbar und groß in den Augen seiner Feinde“395 geworden sei, was wiederum Frankreich nach Außen absicherte. Andererseits stellt ein fremdes Heer eine unmittelbare Bedrohung für einen Staat und dessen Bevölkerung dar. Hierbei musste es sich noch nicht einmal um einen Angriff handeln, sondern es reichte bereits der Durchzug alliierter Truppen, wie sich aus Knoblauchs Klagen über die österreichischen Truppen aus Ungarn und Serbien schließen lässt, die für ihn abschätzig aus „Sklavonien“396 kamen. Das stehende Heer als Stütze monarchischer Macht Knoblauchs Auseinandersetzung mit der Thematik des stehenden Heeres beginnt mit einem Gespräch zwischen Wißlieb und Wahrmund über den miles perpetuus in seinen 1789 erschienenen Dialogen über einige Gegenstände der politischen Oekonomie und Philosophie. Aufgrund dieses frühen Erscheinungsdatums – die Dialoge wurden am 21. Oktober 1789 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung angekündigt397 – ist es als wahrscheinlich anzunehmen, dass die Französische Revolution nur einen geringen Einfluss auf den Inhalt des Textes hatte. Direkt zu Beginn des Gespräches bemerkt Wißlieb, dass die stehende Miliz und deren „Errichtung und Unterhaltung“ von den zeitgenössischen „politischen Schriftsteller[n]“ und besonders von den „Kraftsmänner[n] und Freiheitsbarden“398 als eines der größten Übel angesehen werde. Das stehende Heer stelle den „Triumph des Despotismus, dieses scheußlichen Ungeheuers [dar], welches auch in unserm Europa sein fürchterliches Haupt immer mehr zu erheben beginnt“ und welcher „die Rechte der Menschheit, […] mit Füßen tritt, und Hunderttausende von Menschen, der Habsucht, dem Stolz und Konquerantenkizzel [Eroberungsdrang, Anm. M. L.] eines Einzigen aufopfert.“399
394 Zur Bedeutung des stehenden Heeres im 18. Jahrhundert: Ralf Pröve: Stehendes Heer und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen und seine Militärbevölkerung 1713–1756. München 1995 (Beiträge zur Militärgeschichte 47), S. 1–10. Zur Entwicklung der stehenden Miliz nach dem Dreißigjährigen Krieg, vgl. Bernhard Sicken: Der Dreißigjährige Krieg als Wendepunkt: Kriegführung und Heeresstruktur im Übergang zum miles perpetuus. In: Historische Zeitschrift. Beihefte Bd. 26: Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte 1998, S. 581–598. 395 Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 225. 396 Mauvillon (Hg.): Briefwechsel (wie Anm. 201, S. 48), S. 226. 397 Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung. Bd. 4. Jena 1789, Sp. 1017. 398 Knoblauch: Dialogen (wie Anm. 303, S. 65), S. 51 f., Hervorh. i. Orig. 399 Ebd., S. 52, Hervorh. i. Orig.
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Vor allem das Opfern des Wohles der eigenen Untertanen auf Wunsch einer einzelnen Person werde von der „neueste[n] Geschichte“400 bestätigt, wie sich beide Gesprächspartner einig sind. Hierbei dachte Knoblauch vermutlich an den 1788 begonnenen Krieg zwischen Russland und Schweden, der für beide Seiten verlustreich geführt, aber 1790 relativ ergebnislos beendet wurde.401 Doch auch wenn es, wie Wahrmund zugibt, „die europäischen Sultane“ gebe, die ihre Untergebenen schlecht behandelten, möchte er „lieber das Gute in unserm Zustand aufsuchen, [und] die Vortheile berechnen, welche aus gewissen – wenn Sie wollen! – Uebeln entspringen oder mit ihnen verbunden sind.“402 So habe man durch ein stehendes Heer den Nutzen, in „innere[r] Ruhe im Staat“ leben zu können. Diese Ruhe sei jedoch eher mit „der Stille in Polyphems Höhle“ vergleichbar, in welcher der mythische Held Odysseus mit zwölf seiner Gefährten festgesessen habe und sechs von diesen dem Zyklopen Polyphem zum Opfer fielen, bevor die übrigen entkommen konnten. Dennoch sei diese Höhle, so Wißlieb, dem „tobenden Sturm vielleicht vorzuziehen“,403 der außerhalb dieser herrsche. So müsse man zwar, wenn es in einem Land ein stehendes Heer gebe, immer dessen Missbrauch fürchten oder für die Unterhaltung der Soldaten hohe Abgaben leisten. Dennoch biete diese gefährliche und ungemütliche ‚Höhle des Zyklopen‘ den Vorteil, wie Knoblauch Wahrmund aufzählen lässt, „[g]egen die Einfälle und Wanderungen barbarischer Völker […] nun gesichert“ zu sein. Ebenfalls sei Europa als „der kleinste Welttheil“ neben seinem Handel und der Politik auch durch das stehende Heer in den „Stand gesetzt worden, allen übrigen zu widerstehen.“404 Die Bauern würden durch den Dienst im Militär „an die ihnen so nöthige Subordination gewöhnt, und etwas gesitteter und biegsamer“405 gemacht. Neben Knoblauchs eurozentrischer Argumentation, die das Verhältnis der europäischen Expansion in andere Weltteile mit einer angeblichen Verteidigung gegen diese verzerrt, wird im Bezug auf die gelobte Unterordnung und ‚Biegsamkeit‘ der Bauern Knoblauchs ge400 Ebd. 401 Vgl. Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. München 2009, S. 312. – In seinem Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer auf das Jahr 1791 erwähnte Knoblauch diesen Krieg in einem kleinen Artikel mit dem kurios anmutenden Titel Reverien [Träumereien, besonders als Bezeichnung für träumerische Instrumentalstücke verwendet, Anm. M. L.] eines Weltbürgers bei Gelegenheit des russischen Krieges mit Schweden erneut. In diesem lobt er, dass das Eingreifen Schwedens Kurland und Polen vor dem Zugriff Russlands gerettet habe. Auf ähnliche Weise habe Gustav II. Adolf (1594–1632) die Konstitution und Freiheit Deutschlands während des Dreißigjährigen Krieges vor Österreich gerettet, das durch seine Bündnisverbindung mit Russland von Knoblauch zu einem Block gezählt wurde. Nach Gustav Adolf sei Friedrich II. „[d]er zweite Erretter“ gewesen, „welcher dem Reiche Bayern erhielt, und die Plane des ehrgeizigen Josephs scheitern machte.“ Knoblauch: Taschenbuch (wie Anm. 305, S. 65), S. 113, Hervorh. i. Orig. 402 Ders.: Dialogen (wie Anm. 303, S. 65), S. 53, Hervorh. i. Orig. 403 Ebd., S. 54, Hervorh. i. Orig. 404 Ebd. 405 Ebd., S. 55.
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nerelle Distanz gegenüber diesen deutlich, die auch schon bei seinem Verständnis der Volksaufklärung zu erkennen war.406 Wirtschaftliche Vorteile, die sich durch eine ständig bewaffnete Armee ergeben würden, stellen die vielen Fabriken dar, welche „durch die ununterbrochene Arbeit für die Armeen beschäftigt“ werden, wodurch wiederum „wie viel[e] Arbeiter ernähret“ würden. Darüber hinaus erhielten „[v]iele tausend Menschen […] als Offiziere und Soldaten ihren Unterhalt.“ Innenpolitisch sei zudem von Vorteil, dass man mit einer stehenden Miliz „weniger von Empörungen, gewaltsamen Räubereien, Mord, u. d.“ höre und ebenfalls „[d]ie Straßen […] sicherer geworden“407 seien. Insgesamt wird das stehende Heer in diesem ersten Teil des Gesprächs überwiegend wohlwollend bewertet. Zwar wird es von den Gesprächspartnern eindeutig mit despotischen Herrschern in Verbindung gebracht, die „ein grosses Uebel“408 darstellten. Dennoch sehen Wahrmund und Wißlieb in der „Anarchie, und [der] stete[n] Furcht vor den Einfällen und Plünderungen barbarischer Völker, ein noch grösseres“409 Übel. Nachdem Knoblauch hierdurch zuerst größeres Gewicht auf den gesellschaftlichen Wert des stehenden Heeres legte, wechselt das Gespräch in seiner zweiten Hälfte die Vorzeichen: So trügen die Menschen einerseits durch ihr wenig friedvolles Verhalten selbst daran Schuld, dass es weiterhin zu Konflikten komme und somit das Militär benötigt werde.410 Zudem fielen „die Urtheile gewisser Autoren im Fache der Politik und Staatswirthschaft“ im Bezug auf die Bewertung des stehenden Heers meist „etwas einseitig“411 aus. Um nicht derselben Einseitigkeit anheim zu fallen und das stehende Heer ausschließlich zu loben, erläutert Wahrmund, wie seiner Ansicht nach das Militär zur Stärkung despotischer Herrscher beitrage. So höre, indem ein Herrscher „an der Spize eines wohlexerzirten Corps“ stehe und niemand außerhalb dieses Corps Waffen tragen dürfe, „das Gleichgewicht zwischen der Macht des Regenten, und dem Ansehen der Stände, oder des Volks auf.“ Indem alleine das Militär Waffen trage, sei abgesehen von diesem innerhalb des Volkes niemand vorhanden, der einem „Misbrauch einer mit aufgepflanzten Bajo406 407 408 409 410
Vgl. Kapitel 3.2.2. Knoblauch: Dialogen (wie Anm. 303, S. 65), S. 55. Ebd., S. 56. Ebd., S. 56 f. Dies lässt Knoblauch Wahrmund verschlüsselt durch den Verweis auf eine Ode von Horaz äußern. So würde dieser denjenigen, „welche über die großen stehenden Heere zürnen, aus dem Horaz zurufen: – – neque / Per nostrum patimur scelus, / Iracunda Iouem ponere fulmina.“ Ebd., S. 57, Hervorh. i. Orig. Frei übersetzt bedeutet dies, dass die Menschen es aufgrund ihres Verbrechens nicht zuließen, dass Jupiter seine Zornesblitze niederlegen könne. Im nicht von Knoblauch zitierten Part der Ode wird deutlich, dass das Verbrechen der Menschen darin besteht, durch Dummheit den Himmel erstreben zu wollen. Durch diesen Teil hätte das Zitat jedoch eher eine theologische Bedeutung erhalten. Knoblauch ging es jedoch um Verbrechen generell und um die Unfähigkeit der Menschen, friedlich zusammen zu leben, was kriegerische Konflikte provoziere. 411 Ebd.
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nets unterstüzten Gewalt einen Damm entgegensetzen k[ö]nnte.“ Der Fürst, der durch seine Soldaten gewohnt sei, dass seinen Befehlen blinder Gehorsam geleistet werde, erwarte nun von allen anderen Ständen „eine eben so maschinenmäßige Folgeleistung“.412 Selbst dort würde er von den zivilen Untertanen diesen militärischen Gehorsam fordern, wo er durch die „alte Konstitution und hergebrachte Rechte“ nicht dazu berechtigt sei. Hierdurch erhalte ein solcher Herrscher einen falschen Begriff „von der Quelle oder dem Ursprunge seiner [Herrschafts-]Gewalt“ und den Schranken, die dieser durch die Gesetze gegeben sind. Vor allem für aufgeklärt und frei denkende Untertanen stelle ein solcher Fürst, der es gewohnt sei, dass seine Befehle unhinterfragt ausgeführt würden, ein Problem dar, sodass dieser „die Raisonneurs nicht leiden“413 könne. Dieser Dialog zur stehenden Miliz wurde von Knoblauch 1790414 – diesmal als Gespräch zwischen dem Baron und dem Marquis – in einer stark veränderten und erweiterten Fassung veröffentlicht. Er fand darüber hinaus Eingang in die 1792 veröffentlichten Politisch-philosophischen Gespräche. Bei dieser Version des Gesprächs, das mit Die stehende Miliz betitelt ist, spiegelt sich der Einfluss der Französischen Revolution – wie bei allen nach 1790 erschienenen Gesprächen Knoblauchs – deutlich im Inhalt des Textes wider. So wird mit Blick auf das Militär des französischen Ancien Régime zu Beginn festgehalten, dass dieses die Könige Frankreichs seit Ludwig XIV. (1638–1715) in die Lage versetzte, unbescholtene Menschen willkürlich ins Unglück zu stürzen. Entsprechend habe man die Schriftsteller Raynal und Mercier als „Sachwalter und Fürsprecher der insultirten Menschheit“ verfolgt und „ihre unsterblichen Werke“ verbrannt. Diese Werke seien aber, wie der Baron auf die Klagen des Marquis erwidert, „wie ein Phönix, aus ihrer Asche auferstanden“, sodass man sie „noch in Ehren halten [werde], wenn die gerechte Nachwelt ihre Verfolger längst mit ewiger Infamie gebrandmarkt haben wird.“ Dem Marqis gibt er zudem Recht, dass es zahlreiche Beispiele gebe, bei denen „die Miliz den Despotismus begünstigt und die Unterdrückung befördert“415 habe. Darüber hinaus wird das Militär nicht nur mit Despotien – und damit mit ungerechten Herrschern – in Verbindung gebracht, sondern mit dem Königtum überhaupt. So betont der Baron, dass sich „das Militair in monarchischen und despotischen Staaten in seinem eigentlichen und angemessensten Elemente“416 befinde. Für eine besondere Rolle, welche die Armee eines Landes in der Politik von Republiken einnimmt, kann er hingegen nur zwei Beispiele nennen, die sich mit Sparta und Rom auf die antike Geschichte beschränken. 412 Ebd., S. 58. 413 Ebd., S. 59, Hervorh. i. Orig. 414 Karl von Knoblauch: Politisch philosophische Gespräche. Viertes Gespräch. Die stehende Miliz. In: Der neue Teutsche Merkur 2 (1790), S. 298–309. 415 Ders.: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 62. 416 Ebd., S. 63.
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Trotz dieser Ausführungen und der erneuten Betonung vonseiten des Barons, er sei weiterhin davon überzeugt, „daß die stehende Miliz den Despotismus in vielen größern und kleinern Ländern befördert“ habe, behauptet er dennoch, dass das stehende Heer „nicht etwa bloß ein nothwendiges Übel, sondern eine Wohlthat für die Societät“417 darstelle. Die bereits im Gespräch von 1789 erwähnten negativen Einfüsse des stehenden Heeres als Förderer von despotischen Herrschaften werden im Text von 1790 mit Blick auf Russland infrage gestellt: Dieses Land sei, so der Baron, „vor der Errichtung und Vermehrung seiner jetzigen stehenden Miliz viel despotischer regiert“ worden. Dennoch wird auch dieser Zusammenhang von stehendem Heer und einer besseren Regierung direkt relativiert, da der Baron ebenfalls erwähnt, dass hier mit Katharina II. „[d]ie Philosophie auf dem Throne“ sitze. Zudem habe „der wohlthätige Genius der Künste und Wissenschaften“ durch seine „heilbringende[n] Einflüsse die Sitten der Nation gemildert“, sodass von „der alten Barbarei“418 Abstand genommen wurde. Nicht nur für Russland, „sondern auch für einen großen Theil des übrigen Europa [stelle] die Existenz eines zahlreichen und disciplinierten Heeres“419 eine Wohltat dar, da es nicht mehr von fremden Völkern überfallen werden könnte. Dennoch müssten die „ungeheuren Abgaben“, mit denen die Herrscher ihre Untertanen zur Unterhaltung des Heeres „belästigen“,420 der Größe des Landes und „dem Vermögen der Bürger eben so sehr proportionirt“421 sein. Es folgen die positiven Argumente des ersten Gespräches von 1789, welche jedoch in diesem Dialog vom Marquis angezweifelt werden, den Knoblauch – wahrscheinlich aufgrund seiner französischen Herkunft – als größeren Gegner des Militärs konzipierte. So führt der Baron auch 1790 an, dass die Bauern durch das Militär „etwas mehr an die ihnen so nöthige – Subordination gewöhnt, und etwas gesitteter und biegsamer gemacht“ würden. Dies quittiert der Marquis jedoch mit der ironischen Bemerkung, man habe „sie durch diese Methode zur Sklaverei vorbereitet.“422 Auch im Sinne Knoblauchs damaliger Überzeugung führt der Baron hierauf wiederum aus, dass der Respekt vor Ordnung und Gesetzen grundlegend für ein erfolgreiches Zusammenleben in einer Gesellschaft und einem Staat sei: „Einen rohen unbändigen Haufen von unwissenden und unerzogenen Bauern zu regieren, welche für Obrigkeit und Gesetze – diese so ehrwürdigen und nothwendigen Dinge! – keinen Respekt haben, ist eine Plage, die ich kaum meinem ärgsten Feinde wünschen möchte.“423 Analog zu seiner frühen Kritik der Französischen Revolution nennt Knoblauch auch hier als Ursache die Verwechslung von Freiheit mit der 417 418 419 420 421 422 423
Knoblauch: Politisch-philosophische Gespräche (wie Anm. 304, S. 65), S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd., S. 69 f.
3.4 Politische Ordnung
473
„Unabhängigkeit von der Autorität der Gesetze“,424 die in mangelndem Respekt für Gesetze und Obrigkeit resultiere. Zweifel äußert der Marquis auch bezüglich des in diesem Gespräch erneut angeführten Arguments, das Militär schaffe zahlreiche Arbeitsplätze in Fabriken und sichere damit den Unterhalt vieler Familien: „Wenn Sie nur beweisen könnten, daß es unmöglich sei, diese Tausende auf andere Art zu beschäftigen und zu ernähren!“425 Diesen Beweis zu erbringen, stelle jedoch nach Ansicht des Barons die Aufgabe desjenigen dar, der die Behauptung aufstellt, man könne die gleiche Anzahl an Personen ohne das Militär auf eine andere Art in Beschäftigung bringen. Auch das dritte erneut angeführte Argument, die Länder seien durch ein stehendes Heer im Innern sicherer geworden, wird vom Marquis bezweifelt: So sei man zwar „[g]egen Eine Art von Räubern […] etwas mehr gesichert, als in den Zeiten der Fehde.“ Dennoch stehe man der „gefährlichere[n] Sorte, welche den Völkern ihre Rechte und Privilegien, unter dem Prätext des gemeinen Besten“ beraubten, hilflos gegenüber: „[G]egen diese schlimmere Art von Räubern sichert uns der miles perpetuus nicht.“426 Drei Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen des zweiten Gespräches widmete sich Knoblauch erneut – diesmal in Form eines kleinen Aufsatzes – der Thematik des stehenden Heeres. Begonnen wird dieser Text mit Knoblauchs Betonung, dass äußere Bedrohungen weiterhin den Schutz nötig machen, den ein stehendes Heer biete. Als Bedrohung werden nun jedoch nicht mehr ‚barbarische‘ Völker angeführt, sondern Russland, das trotz „der Unermeßlichkeit seiner Besitzungen, noch immer nach Vergrößerung“ strebe. Da er hierzu „die neueste Geschichte von Rußland“427 als Beleg seiner Aussage anführt, wird Knoblauch wahrscheinlich an die zweite polnische Teilung vom Januar 1793 gedacht haben. Bei dieser bediente sich neben Preußen auch Russland am polnischen Territorium und verschob seine Grenze im Vergleich zur ersten Teilung von 1772 noch weiter nach Westen.428 Auch dass ein stehendes Heer für die innere Ruhe „in jeder Monarchie notwendig“ sei, wird mit der Einschränkung: „aber nicht ein sehr zahlreiches“, angeführt. 424 425 426 427
Ebd., S. 70. Ebd., S. 71. Ebd., S. 72, Hervorh. i. Orig. [Karl von Knoblauch]: Etwas über stehende Heere. In: Minerva 8 (1793), S. 257–266, hier S. 259, Hervorh. i. Orig. 428 Vgl. Winkler: Geschichte (wie Anm. 401, S. 469), S. 173. – Die zweite Teilung war eine Reaktion auf „die erste schriftliche Verfassung Europas überhaupt“, welche am 3. Mai 1791 verabschiedet wurde und somit „auf den Tag genau vier Monate älter als die Constitution française vom 3. September 1791“ war. Polens Konstitution wurde in Westeuropa – trotz einiger „vormoderner Relikte“ – bewundert, da sie unter anderem die Souveränität der polnischen Nation sowie die Trennung von legislativer, exekutiver und judikativer Gewalt festlegte. Von Russland wurde sie jedoch „als Provokation empfunden.“ Es „reagierte auf die gewohnte Art, nämlich mit militärischer Gewalt und der einheimischen Hilfe einer aus St. Petersburg gesteuerten altkonservativen Magnatengruppe, der Konföderation von Targowitz.“ Ebd.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Zudem weist Knoblauch darauf hin, dass selbst ein großes stehendes Heer nichts nutze, wenn es sich – wie im vorrevolutionären Frankreich – um eine „unweise[], despotische[] Regierung“ handele, die das Volk unterdrücke: Hier versagte das Militär, als es gegen die Nation eingesetzt werden sollte, „ihren Chefs den Gehorsam, und schlugen sich, vom Unrecht der Regierung überzeugt, auf die Seite des Volks.“ Ebenfalls sei es Spanien nicht möglich gewesen, trotz seines Heeres „das kleine rebellische Holland“ zu bezwingen oder Österreich die „Helvetischen Bauern.“429 Schon zu Beginn des Artikels hob Knoblauch am Beispiel des zu Dänemark gehörenden Norwegens hervor, dass es vor allem auf das Interesse der Einheimischen ankomme, für „die Fortdauer der bisherigen Constitution des Staates“ zu kämpfen, „wenn diese ihre Regierung und aktuelle Verfassung“ liebten. Dass dieses Interesse in Norwegen gegeben sei, stand für Knoblauch mit hoher Sicherheit fest, da Dänemark „indes in der Aufklärung und Menschlichkeit Riesenschritte“ gemacht habe. So war den Dänen „Denk- und Preßfreyheit“ gestattet worden, während beide Freiheiten, „dieses Palladium der Menschheit in andern Staaten aus überlverstandner Politik vernichtet“430 würde. Entsprechend betont Knoblauch, dass „ein Regent seine Sicherheit“ – analog zum Königreich Dänemark – „in der Liebe und Zuneigung seiner Bürger, in der Weisheit und Gerechtigkeit seiner Regierung“, aber keinesfalls „in einer Menge besoldeter Sklaven“ suchen sollte. Der Zweck dieser als ‚Sklaven‘ umschriebenen Soldaten stelle schließlich „nur die Beschützung des friedlichen Bürgers“ und nicht dessen „Unterjochung“431 dar. Dem Argument, durch ein stehendes Heer werde die „Versorgung und Beschäftigung einer Menge müsiger Leute, die sonst – kein Brod, und nichts zu thun hätten, und also dem Staat gefährlich werden könnten“,432 sichergestellt, widerspricht Knoblauch 1793 vehement: Da dies vor allem „die Bauernsöhne [betreffe], die als Gemeine“ dienten, müsste es stattdessen „in einem wohleingerichteten Staate“ möglich sein, diese anderweitig zu versorgen: Man müsse ihnen nur den Ackerbau, die Viehzucht, den Bergbau oder die Fischerei ermöglichen oder sie in Fabriken beschäftigen. „Wer Kräfte und Lust zur Arbeit hat, wird selten in den Fall des Müssiggehens kommen. Versorgen müssen sie sich selbst, durch Fleiß und Arbeit.“433 Sei die Bevölkerung zu groß, um jedem Menschen – ohne die Armee – eine Arbeit und ein sicheres Auskommen zu ermöglichen, müsse man ihnen die Auswanderung gestatten und erleichtern, damit sie in die Lage versetzt werden, diese Möglichkeit in einem anderen Land zu finden. Darüber hinaus würden durch stehende Heere „dem Landbau eine Menge von Händen“ entzogen, die – könnten sie sich in Ruhe der Landwirtschaft widmen – „weit nützlicher für den Staat“434 werden könnten. 429 430 431 432 433 434
Knoblauch: Stehende Heere (wie Anm. 427, S. 473), S. 260. Ebd., S. 258, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 260. Ebd., S. 260 f., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 261, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 263.
3.4 Politische Ordnung
475
Der eigentliche Grund, weshalb weiterhin stehende Heere unterhalten würden, stellt nach Knoblauchs Ansicht jedoch der „zahlreiche[] und arme[] Adel“ dar. Dieser benötige die Armee „um seiner jüngern Söhne willen“, mit welchen er selbst nichts anfangen könne: „Geld und Güter kann man ihnen nicht hinterlassen. Es ist unter ihrer Würde, den Pflug zu führen, Garben zu binden, zu dreschen, eine Profession zu lernen.“435 Auch könnten nicht alle dieser Adligen studieren, weshalb sie eben „unter das Militär“436 müssten. Noch 1791 verteidigte und rechtfertigte Knoblauch in seinen Noten an Wieland das Bestreben des Adels, die Monarchie zu stützen, mit der Argumentation, dies stelle das ureigene Interesse des Adels dar und mache nach Montesquieu „den Wert und Nuzen desselben in monarchischen Staaten“437 aus. Daher dürfe es von Revolutionsanhänger dem Adel nicht zur Last gelegt werden, wenn dieser seiner ursprünglichen Funktion nachkomme, den Thron zu stützen und so als Mittler zwischen diesem und dem Volk zu dienen. Zwei Jahre später ist Knoblauch von diesem Argument abgerückt. Er führt lediglich mit ironischem Spott an: „Der Adel sagt man, ist die Stütze des Thrones. Seine Leidenschaft ist die Ehre, sein Gewerbe der Krieg. – – Eigentlich ist es wohl mehr der Hunger, als die Ehre, was den Adel heut zu Tage an den Thron ketten.“438 Wenn der Adel in einigen „despotischen Staaten, und von Seiten des Hofes“ noch immer „eine gewisse Achtung“ genieße, liege dies schlicht an deren Eigeninteresse: „Man hat den Adel an die Höfe zu ziehen, ihn zu großem Aufwande, und zur Vernachlässigung seiner Landökonomie zu nöthigen, und arm zu machen gewußt.“ Geködert habe man ihn mit leeren Titeln und Positionen und ihn dadurch „immer abhängiger vom Hofe“439 gemacht. Hierdurch verlor der Adel seine Mittlerrolle zwischen Herrscher und Volk, welche Knoblauch noch 1791 als legitime Funktion des Adels anführte. Er sei nun ausschließlich vom Herrscherhof abhängig und kämpfe daher nicht mehr für das allgemeine Interesse des Staates, sondern nur noch für das des Hofes. Somit höre der Adel endgültig auf, „dem Volke nützlich zu seyn“, weshalb Knoblauch dafür plädiert, „die große Vermehrung des Adels“ zu verhindern: Man müsse nicht alles „nobilitieren, was sich keinen andern und reellen Vorzug zu erwerben“440 wisse. Ohne überflüssigen Adel entfiele auch die Notwendigkeit eines stehenden Heeres zu dessen Versorgung. Knoblauch schließt diesen Artikel mit der ausführlichen Thematisierung des Arguments, der Militärdienst sei wichtig, um „die jungen Leute an die so nöthige Subordination“ zu gewöhnen. Während Knoblauch diese Aussage im Gespräch von 1789 noch voll unterstützte und er 1790 zwar knappen Widerspruch durch den Mar435 436 437 438 439 440
Ebd., S. 261, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 262. Knoblauch: Noten (wie Anm. 90, S. 414), S. 18, Hervorh. i. Orig. Ders.: Stehende Heere (wie Anm. 427, S. 473), S. 262, Hervorh. i. Orig. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 263.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
quis zuließ, aber dennoch den Baron ausführlich auf die Notwendigkeit der Subordination für die Achtung und das Bestehen der Gesetze und der Gesellschaft eingehen ließ, widerspricht er diesem Argument 1793 vehement. Neben der Subordination sei nämlich auch die Gewöhnung „an Müssiggang“ die Folge, die zu „Liederlichkeit und Sittenverderbnis“441 führe. In diesem Sinne lobte Knoblauch auch nach seiner Rheinreise im Frühjahr 1793, dass es in der Mannheimer Garnison den pfälzischen Truppen gestattet wurde, „Grundstücke, unter dem Namen der militairischen Gärten, zum Anbau und zur eigenen Benutzung“ zu unterhalten. Hierdurch seien „diese Soldaten haufenweise mit Graben, Pflanzen, u. d. beschäftigt“ gewesen, wodurch die Soldaten einerseits „sehr dabei (in ökonomischer Rücksicht) profitiert[en]“,442 indem sie ihre eigene Versorgung aufbessern konnten. Andererseits wurden sie auch „durch die Kultur des Feldes an die sanftern Sitten und nützlichen Beschäftigungen der Landleute“443 gewöhnt. Zudem würden die Soldaten „vom Müssiggang, der in Friedenszeiten unter starken Garnisonen so gewöhnlich ist, und von denen daraus entspringenden Lastern, in etwas abgehalten.“444 Die Vorteile, die man – wie auch Knoblauch selbst – der Gewöhnung an militärische Unterordnung zugeschrieben habe, seien meist „allzuhoch angeschlagen“ worden, wie er 1793 zugibt: „Käme es bloß darauf an, die Menschen zu Automaten, oder zu einer Heerde willenloser Sklaven zu erziehen, so hätte ich gegen die militairische Methode, sie zu bilden, nichts einzuwenden.“445 Eine sklavische Unterordnung der Menschen stelle jedoch nicht das oberste Ziel des Staates dar, sondern stattdessen die Sicherung der menschliche „Kultur zur Freiheit“. Somit sieht Knoblauch „[d]ie Anwendung der Maximen des militärischen Despotismus auf Stände, und Volksklassen, zu deren Beschützung das Militair eigentlich nur da ist“,446 als ungerecht an, da der militärische Zwang dem Staatszweck – die Freiheit der Bürger – in unvernünftiger Weise entgegenstehe: Das Militär, dessen Aufgabe es sei, den Staat und die Freiheit seiner Bürger zu schützen, dürfe dies nicht tun, indem es einen Teil seiner eigenen Bürger – zum eigentlichen Schutz ihrer Rechte – gleichzeitig einem System der Grausamkeit und Sklaverei unterwerfe. Hierbei wird erneut Knoblauchs verändertes Staatsverständnis hin zu einer liberalen Ordnung sichtbar, in welcher die Rechte des Individuums geschützt und nicht dem Interesse der Allgemeinheit geopfert werden dürfen.447 Statt durch militärische Unterwerfung – auch wenn diese nur einen Teil der Gesellschaft betreffe – werde das Staatsziel der menschlichen Freiheit einzig durch die 441 442 443 444 445 446 447
Knoblauch: Stehende Heere (wie Anm. 427, S. 473), S. 263. Ders.: Reise (wie Anm. 282, S. 62), S. 22. Ebd., S. 22 f. Ebd., S. 23. Knoblauch: Stehende Heere (wie Anm. 427, S. 473), S. 263, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 264. Vgl. Kapitel 3.4.1.
3.4 Politische Ordnung
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Achtung des Gesetzes erreicht. Vor dem Gesetz müsse sich nämlich jeder einzelne Mensch – „vom ersten Diener des Staates an, bis zum geringsten Bürger“448 – beugen. Eine solche „pflichtmäßige, nothwendige, unerläßliche Ehrfurcht für das Gesez“ könne, so Knoblauchs Überzeugung, „der Jugend durch verbesserten Unterricht und zweckmäßige Erziehung weit wirksamer, als durch mechanisches Abrichten zum Militairdienst, eingeprägt werden.“449 Wenn die Jugend eines Landes so durch schulische Bildung „zu vernünftigen Menschen und guten Bürgern“ gebildet werde, komme dies einerseits dem freiheitlichen Staatszweck entgegen und führe andererseits dazu, in Friedenszeiten „die vielen, […] müssigen, Soldaten entbehren“ zu können, da niemand zur Einhaltung der Gesetze gezwungen werden müsste. Aus wirtschaftlicher Sicht könne der Unterhalt des stehenden Heeres, welcher „den größten Theil der Staatseinkünfte absorbirt“ und „die der Geber doch so ungerne bezahlt“,450 eingespart werden. Knoblauchs Wandlung von einem Befürworter stehender Heere hin zu ihrem überzeugten Kritiker innerhalb von nur vier Jahren wird in der zeitlichen Überschneidung mit der Französischen Revolution und ihren kriegerischen Auswirkungen zu suchen sein. Da Knoblauch, wie er Jakob Mauvillon berichtete, im Laufe des Jahres 1792 auch in Dillenburg mit in der Nähe stationierten oder durchziehenden Truppen konfrontiert war, rückte er vermutlich in dieser Zeit von seiner früheren Überzeugung ab, die Achtung der Gesetze werde durch die Gewöhnung an militärische Unterordnung gefördert. Auch wird ihm vor allem in dieser Zeit die finanzielle Belastung, die ein stehendes Heer für ein Land – und damit für dessen abgabenpflichtige Bewohner – darstellte, bewusst geworden sein.451 Sein Verständnis der Rolle, die das Militär aus innenpolitischer Perspektive in einem monarchisch regierten Land einnahm, änderte sich ebenfalls deutlich in dieser Zeit. Während von ihm das stehende Heer 1789 noch als Garant von Ordnung und Ruhe angesehen wurde und er auch 1790 betonte, das stehende Heer habe nicht immer zum Aufstieg despotischer Herrscher beigetragen, scheint er es 1793 größtenteils als Machtinstrument eines willkürlichen Herrschers anzusehen. Während Knoblauch die Bemühungen des Adels um den französischen Thron 1791 noch mit der Begründung verteidigte, es handele sich um die Existenzgrundlage des Adels innerhalb einer Monarchie, diese zu unterstützen und zu verteidigen, sieht Knoblauch ihn 1793 nur noch als unselbstständiges ‚Anhängsel‘ des jeweiligen Herrscherhofes an. Diese Sichtweise scheint auch für die deutschen Fürstentümer Geltung zu haben. Die Adligen seien auf das stehende Heer angewiesen, da nicht alle der nichterbenden Nachkommen an die Universität geschickt werden könnten, um danach – wie Knoblauch selbst – in fürstliche Dienste zu treten. Daher stelle das stehende Heer – ähnlich der Klöster im Mittelalter – eine Institution zur Aufnahme und Ver448 449 450 451
Ebd., S. 265, Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd., S. 266. Diesen Umstand sprach er in einem Brief aus dem Spätjahr 1793 an. Vgl. hierzu Kapitel 3.4.2.1.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
sorgung dieses ‚überflüssigen‘ Adels dar, welcher der Allgemeinheit unrechtmäßig hohe Kosten verursache. Die restlichen nicht-adligen Glieder dieser Armee seien durch den militärischen Despotismus ihrer natürlichen Freiheitsrechte beraubt, zu deren Schutz sie sich in die staatliche Gesellschaft zusammengefunden hätten, was ebenfalls eine Ungerechtigkeit darstelle. Andreas Riem: Stehende Heere als Vergrößerung der Kriegsgefahr Im Gegensatz zu Karl von Knoblauch spricht Andreas Riem das Militär und vor allem die Thematik der stehenden Heere erst in seinen ab 1796 erscheinenden Reiseberichten – und auch hier nur am Rande – an. Es ist daher nicht möglich festzustellen, ob er vor Beginn der Französischen Revolution und der Revolutionskriege ähnlich wie Knoblauch eine andere Meinung hierzu vertrat. Dennoch ist an Riems ab 1796 vereinzelt gestreuten Aussagen zum Militär und zu kriegerischen Auseinandersetzungen interessant, dass er sich in ihnen auch kritisch mit der Politik Friedrichs II. auseinandersetzte, der für ihn ansonsten das politische Ideal eines aufgeklärten Herrschers darstellte. So führte Riem im ersten Band seiner englischen Reiseberichte von 1798 an, dass es „gegenwärtig in einem sehr großen Theile von Europa Mode geworden“ sei, „stehende Heere zu halten.“ Hierzu habe „wohl unstreitig“ Friedrich II. „den wichtigsten Grund“ gegeben, wobei schon, wie Riem zugeben muss, sein Vater Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) eine „Liebhaberei daran“452 gefunden hatte. Dennoch sei Friedrichs „größter Fehler“ sein „Hang zu Eroberungen, und zum Heldenruhm“453 gewesen: Er eroberte unter der „gewaltsame[n] Anstrengung militairischer Kräfte“ Schlesien, habe jedoch danach nicht das Militär auf „die gehörige Proportion, zwischen Bevölkerung, und was der Staat von ihr allenfalls zum todtschlagen entbehren kann“,454 reduziert. Stattdessen musste er zur Erhaltung und Verteidigung des eroberten Landes „immer ein furchtbares Heer […] in Bereitschaft“ halten, was wiederum die Nachbarn, die „sich mit einer furchtbaren, vortrefflich disciplinirten Macht umgeben“ sahen, „zu einer gleichen Prozedur“455 nötigte. Bei dieser Kritik könnte Riem von Immanuel Kants 1796 erschienener Schrift Zum ewigen Frieden beeinflusst worden sein, der im Bezug auf stehende Heere ebenfalls die Gefahr eines Wettrüstens von Nachbarstaaten anführt.456 452 453 454 455 456
Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 600, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 600 f. Ebd., S. 601. Ebd., S. 601 f. Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: AA Bd. VIII. Berlin, S. 341–386, hier S. 345. – Im deutlichen Gegensatz zu Riem führt Kant darüber hinaus an, dass die „zum Tödten, oder getödtet zu werden in Sold genommen[en]“ Menschen zu „bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines Andern (des Staats)“ gemacht würden. Dieser Umstand lasse „sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen“ (ebd.). Hierbei argumentiert Kant ähnlich wie Knoblauch und ebenfalls wie Schmohl bei dessen Vergleich der Sklaverei mit dem Verkauf von Soldaten.
3.4 Politische Ordnung
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Abgesehen davon, dass die stehenden Truppen die Staatsfinanzen der Länder selbst in Friedenszeiten schwer belastet hätten, sei das Ergebnis dieses Wettrüstens der Siebenjährige Krieg gewesen. Dieser sei alleine deshalb begonnen worden, weil „stehende Heere in Bereitschaft waren, [und] beschäftigt werden“457 konnten. Im Umkehrschluss drückt Riem damit aus, dass es ohne stehende Heere in ihrer damaligen Größe wahrscheinlich nicht zu einem derartigen Krieg gekommen wäre. Somit wird von ihm allein die Existenz von stehenden Heeren als Faktor angesehen, der die Wahrscheinlichkeit von kriegerischen Auseinandersetzungen erhöht, indem diese Handlungsoption unmittelbar zur Verfügung steht und das Heer nicht erst langwierig aufgestellt werden muss. Trotz aller Kritik an Friedrichs militärischem ‚Eroberungsdrang‘ schwingt auch bei diesen Ausführungen weiterhin Riems tiefe Bewunderung für Friedrich II. mit: Dieser habe die horrenden Ausgaben für das Heer mit dem Staatshaushalt in Einklang bringen können, indem er die Ausgaben des preußischen Hofes entsprechend eingeschränkt habe. Hierdurch habe „sich zu den Lebzeiten des großen Königs die künstliche Staats-Maschine in vollkommner Ordnung“458 erhalten. In allen anderen Ländern habe das stehende Heer jedoch „[d]ie Summe aller Staatsschulden vermehrt[]“, weshalb all diesen Mächten, so Riems Prophezeiung, der „Untergang der Finanzen“ drohe. Gleichzeitig vermutete Riem, dass diese finanzielle Situation auch „eine Convention zur Truppen-Reduktion zur Folge haben könnte.“ Hiermit würde nach Riems vorangegangener Argumentation auch das allgemeine Risiko eines erneuten Krieges in Europa sinken, nachdem 1797 mit dem Frieden von Campo Formio der erste Koalitionskrieg beendet worden war. Darüber hinaus verband Riem die Thematisierung des Militärs mit der Kritik am Adelsstand,459 da dieser, wie er zu Beginn seiner Kritik ausführt, seine Standesprivilegien ursprünglich nicht besessen habe, ohne eine entsprechende Leistung für die Gesellschaft zu erbringen. Der größte Teil dieser Pflichten habe darin bestanden, dass der Adel die Gesellschaft „im Kriege auf eigene Kosten“460 verteidigte. Hierdurch habe „[b]ei der Einführung der Ungleichheit der Stände“461 kein Ungleichgewicht zwischen den gewährten Rechten und geforderten Pflichten geherrscht. Dieses Verfahren habe jedoch mit der „Aufklärung der Zeiten“462 ein Ende gefunden, da man dazu übergegangen sei, die Nation Kriegsdienst leisten zu lassen, statt den Adel hierzu – wie es seine eigentliche Pflicht gewesen wäre – heranzuziehen. 457 Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 602. 458 Ebd., S. 603. 459 Auch wenn sich Riems und Knoblauchs Argumentation deutlich unterscheiden, fällt dennoch auf, dass beide das Militär thematisch mit dem Adel verbinden. Beide beschreiben den Adel als überflüssig und daher nicht erhaltenswert. Im Gegensatz zu Knoblauch konnte Riem seine Kritik jedoch aus einer deutlich ungefährlicheren Position äußern – nämlich im Jahr 1800 als Bürger der neuen linksrheinischen Departements. 460 Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 36 f. 461 Ebd., S. 37, Hervorh. i. Orig. 462 Ebd., S. 38, Hervorh. i. Orig.
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Der Grund dieser Entscheidung lag nach Riems Ansicht in der angeblichen Unzuverlässigkeit des Adels, weshalb sich die Regenten auf die Seite des besseren Teils der Nation geschlagen und die Hilfe dieser Menschen „der oft sehr falschen, des Adels vor[ge]zogen“463 hätten. Da somit die Nation selbst für ihren Schutz aufkomme, sei der Adel „ein bloßer Usurpator der ehedem mit diesem Amte begleiteten Vorrechte. Die Nation, welche gegenwärtig seine Pflichten übernehmen, die Heeres-Folge leisten, und die Kriegs-Kosten zahlen muß“,464 habe daher auch keine weitere Pflicht, den Adel zu ehren. Ebenfalls könne dem Adel sein Besitz genommen werden, da er ihn nur unter der Bedingung des Schutzes der Nation erhalten habe: „Wer den Dienst thut, wer zahlt, dem gehören die Belohnungen und Entschädigungen.“465 Obwohl Riem zuvor das stehende Heer negativ bewertet hatte, da es allgemein die Hemmschwelle senkte, es während einer Auseinandersetzung als mögliche, zur Eskalation führenden Handlungsoption einzusetzen, spricht er sich nicht prinzipiell gegen das Militär aus. Pragmatisch, wenn auch recht zynisch, mutet seine Empfehlung an, die Größe der Armee solle sich nach der Menge der Bürger richten, die ein Land notfalls entbehren könne, sollten sie getötet werden. Hieraus und vor allem aus seiner Adelskritik geht hervor, dass die Armee, die Riem vorschwebte, vor allem aus Landeskindern bestehen sollte. Dass dies beispielsweise im Fall der britischen Armee zutraf, ist einer der wenigen Aspekte, die Riem mit Blick auf Großbritannien lobend hervorheben konnte: Da hier die Truppen zur Landesverteidigung nicht aus Söldnern bestehen durften, sondern nur aus Einheimischen, „die auf ihre Verfassung stolz sind“, sei es undenkbar, „daß sie sich gegen ihre Mitbrüder und ihre eignen Vorrechte zu streiten werden gebrauchen“ ließen. Daher sei es beinahe ausgeschlossen, „daß die Krone nur je den Versuch dazu wagen werde“,466 da dies zu ihrem eigenen Untergang führen würde. Als Beleg führte Riem den Englischen Bürgerkrieg unter Oliver Cromwell (1599–1658) an, welchem sich das Militär „als dem vorgeblichen Vertheidiger der Volksrechte und einer englischen Republik“467 gegen Karl I. anschloss. Auch die aus französischen Bürgern bestehende Revolutionsarmee, zu deren Größe vor allem Robespierre beigetragen habe,468 fällt für Riem in diese positive Kategorie. Die eventuelle Größe einer solchen Armee wurde von ihm nicht als problematisch für die Vermehrung der Kriegsgefahr angesehen. Da Riem sich jedoch mehrmals im Gefolge der französischen Revolutionsarmee und dort wohl auch in der Nähe einiger Generäle aufgehalten hatte, scheint sich dies auf seine positive Sichtweise ausgewirkt zu haben, sodass von ihm kein neutrales Urteil zu erwarten war. 463 464 465 466 467 468
Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 39, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 40, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 41. Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 513. Ebd., S. 514. Zu Riems Bewertung Robespierres, vgl. Kapitel 3.4.2.1.
3.4 Politische Ordnung
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Johann Christian Schmohl: die ‚Missgeburt‘ des stehenden Soldatenheers Für eine Armee, die sich ebenfalls aus Landeskindern zusammensetzen sollte, sprach sich auch Johann Christian Schmohl in seiner 1780 erschienenen Urne Johann Jacob Mochels aus. In dieser erwähnt er, dass sich viele französische Bauernsöhne lieber selbst verstümmelten und sich somit „auf Zeitlebens und auf Ewigkeit in manchem Betracht unbrauchbar und unglücklich“ machten, statt „Soldat [zu] werden“. Der Grund hierfür sei in der „Schuld der Staaten und der Miliz Ordnung selbst“zu suchen. Auch wenn diese drastische Reaktion zur Vermeidung des Militärdienstes nach Schmohls eigenen Aussagen nachvollziehbar sei und ihr dadurch eine gewisse Berechtigung zugesprochen wurde, betont er dennoch, dass es nach Mochels und seiner eigenen Meinung „für den Bauer selbst äusserst vortheilhaft“ sein könnte, „wenn er ein Paar Jahr diente“. Welche Vorteile es für einen Bauernjungen persönlich habe, wenn er Soldat werde, führt Schmohl nicht an. Stattdessen konzentriert er sich auf Argumente, die vor allem für den Staat besonders vorteilhaft seien, wie er selbst zugibt. So müsste dieser, wenn „jeder Bauer Soldat wär“, nicht zwei Drittel der Staatseinkünfte für „untreue[] Soldaten“ ausgeben, da jeder Bauer „sich für sein Eigenthum, fürs Vaterland, für seinen Fürsten mehr aus Patriotismus todtschlagen lassen würde, als jeder andere!“469 Dass Armeen, die sich nicht aus einheimischen Soldaten zusammensetzten, nachteilig für ein Land sein konnten, in dem sie dauerhaft stationiert waren, machte Schmohl am Beispiel seiner Heimat Anhalt-Zerbst deutlich. Hier müssten, wie er in seinen in der Sammlung veröffentlichten Briefen an Pestalozzi beschrieb, „immer ein paar Regimenter Soldaten von aller Sorte, Grenadier, Musketier, Jäger, Reuter, Husaren, Dragoner, Canoniers und was sonst zur Infanterie, schweren und leichten Kavallerie und Artillerie gehört, auf den Beinen gehalten werden“. Da die meisten dieser Soldaten „wie sie geworben worden, wieder desertierten“, müsste „unaufhörlich von den Werbern in den Reichsstädten und im Lande das Geld – weggeworfen“470 werden. Während dieser „fressende[] Krebs von stehenden Soldaten“471 von Schmohl für beständig hohe Ausgaben verantwortlich gemacht wurde, die auf die Bevölkerung in Anhalt-Zerbst umgelegt wurden, ergab sich hier eine weitere Belastung aus dem Verhalten der Soldaten selbst. So bestehe deren „Endzweck“ vor allem darin, „daß sie Bürger und Bauern bestehlen und mishandeln, (wenigstens haben sie nie etwas bessers gethan)“.472 Darüber hinaus sei das Leben der „Soldaten in den stehenden Heeren“ mit dem Zustand von Sklaven vergleichbar, wie es andere Schriftsteller
469 470 471 472
Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 80. Ders.: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 258. Ders.: Vermischte (wie Anm. 114, S. 33), S. 46. Ders.: Briefe (wie Anm. 35, S. 21), S. 258 – Aus diesem Grund seien diese Soldaten, als die Klagen über sie „zu viel wurden, […] in Engländischen Sold nach Amerika gegeben worden“ (Ebd.), wie Schmohl den Soldatenhandel an dieser Stelle begründet.
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„schon lange behauptet“473 hätten, da willkürlich über ihr Leben und ihren Tod entschieden werden könne.474 Besonders deutlich führte Schmohl seine Abneigung gegenüber stehenden Heeren in Über Nordamerika und Demokratie aus. Hier verbindet er die in seinen früheren Werken angeführte Forderung, dass die Soldaten, die zur Landesverteidigung aufgestellt werden, aus der Bevölkerung dieses Landes selbst stammen sollten, mit der nur knapp angesprochenen Aussage, ein stehendes Heer führe zu einer unrechtmäßigen und despotischen Regierung. So führt er zu Beginn seines Werkes aus, dass die britische „willkührliche gesetzgebende und Auflagen fordernde Monarchie“ in Nordamerika durch die Missachtung der amerikanischen Souveränität „eine Usurpation“ dargestellt habe, die vor allem von einer „Misgeburt [des] stehenden Soldatenheers“475 gestützt worden sei. Eher allgemein versucht Schmohl zu belegen, dass stehende Heere als Instrument gesetzgebender Monarchien nur mit diesen vereinbar seien oder die Einführung eines solchen politischen Systems begünstigten. Hierdurch möchte er hervorheben, dass stehende Söldnerheere mit einer demokratischen Republik unvereinbar seien und stattdessen ein aus Landeskindern bestehendes nicht-ständiges Heer zu bevorzugen sei. Er führt aus, dass „[d]ie Miliz […] fast immer und überall mit der gesetzgebenden Gewalt Hand in Hand“476 gegangen sei. Hierbei setzt Schmohl die Verteidigung des Staates, also den (verteidigenden) Kriegsdienst, mit der politischen und gesetzgebenden Souveränität gleich: „Wer sie [die Soldaten] zu Gebote hat, ist Fürst.“477 In einem Land, in welchem alle Menschen, „die an der Gesetzgebung participiren“ – also nach Schmohls Vorstellung: männliche Familienoberhäupter –, auch „die Kriegsmänner“ darstellten, sei die „Freiheit des Staats und Gesetzgebung des Volks“ hierdurch „an die eigne Kriegsführung der Bürger gebunden.“ Wenn die Bürger jedoch nicht mehr selbst ihr Land verteidigten und „ein eigner Soldatenstand“ entstünde, gehe mit diesem Vorgang auch die „Freiheit und Gesetzgebung verloren“ und „in die Hände dessen [über], der den Lohnkriegern den Sold giebt.“478 Schmohl führt sein Gedankenspiel weiter aus und beschreibt, dass in einem solchem Szenario nicht der neu entstandene Monarch die Gesetzgebung innehabe, sondern der neu gebildete Soldatenstand: Wenn nämlich diese Monarchen „nicht mehr Geld genug haben, und [sie] ihren Ländern, die durch die sterile Miliz ausgesaugt worden [sind], nichts mehr auspressen können, um das Heer ordentlich zu bezahlen; dann werden vom Heer Kaiser und Könige wie zum Spiel ab- und eingesetzt“.479 473 474 475 476 477 478 479
Schmohl: Ursprunge (wie Anm. 113, S. 33), S. 343. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.2.2. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 45. Ebd., S. 64 f. Ebd., S. 65. Ebd. Ebd.
3.4 Politische Ordnung
483
Dadurch befinden sie sich in einer Abhängigkeit von ihrem eigenen stehenden Heer und müssen ihre Entscheidungen nicht zum Wohl ihrer Untertanen, sondern zum Wohl des Heeres fällen. Da Monarchen ohne ein ständig zu ihrer Verfügung stehendes Heer vollkommen machtlos seien und „eh sie starke stehende Heere haben, um Steuern sogar bitten müss[t]en“,480 sei in keinem Land eine „gesetzgebende Monarchie dauernd gewesen, ohne ein gemiethetes Heer stehender Krieger.“ Im Umkehrschluss bedeutet dies für Schmohl jedoch auch, dass in einem Land, in welchem der Bürger nicht aufgehört habe, „selbst Kriegsdienst zu thun“, sich keine „dauerhafte[] Einzelherrschaft“481 etablieren könnte. Auch in Über Nordamerika und Demokratie führt Schmohl die finanziellen Nachteile an, die aus einer stehenden Miliz entstünden. Im Gegensatz zu seinen früheren Ausführungen konzentriert er sich hier stärker auf die Abgaben, welche die Bevölkerung zum Erhalt eines stehenden Heeres leisten müsse, und geht somit nur indirekt auf die Staatsausgaben ein. Schmohl führt an, dass eine Bevölkerung, die sich nicht eigenständig verteidige, „auch bald“ dazu gebracht werde, „die Dienstleute, die zu ihrer Unterjochung gebraucht wurden, selbst zu unterhalten, und darzu Steuern und Gaben zu geben“. Dadurch müssten sie nicht nur die Nachteile eines willkürlich begonnenen Krieges ertragen, sondern „auch alle Einschränkungen ihrer Freyheit, ihres Eigenthums, allen Raub des Einzigen sich gefallen […] lassen.“482 Dieser Alleinherrscher müsste aufgrund der Macht des ihm zur Verfügung stehenden Heeres, nicht mehr um die Festlegung und Höhe der Steuern bitten und verhandeln. Er könne sie sich stattdessen einfach nehmen – selbst wenn sie weit über die Bedürfnisse seiner Soldaten und der Regierung reichten. Dieses Vorgehen der willkürlichen und eigenmächtigen Steuererhebung zur persönlichen Bereicherung sah Schmohl als ‚Raub‘ an. Schmohl zeigt sich zudem davon überzeugt, dass eine derartige Selbstverteidigung der Bürger keine Gefahr für den Bestand einer Gesellschaft darstelle, weil sie eventuell zu schwach oder im Kriegshandwerk zu ungeübt sein könnte. Er schrieb den nordamerikanischen Siedlern im Vergleich zu Söldnern sogar eine moralische wie körperliche Überlegenheit zu, die sich im Kampf um die amerikanische Unabhängigkeit schon bewiesen hätte. Diese Nordamerikaner hätten, so Schmohl, seit ihrer Ankunft in Amerika, „fast ununterbrochne siegreiche Kriege geführt“. Jeder Siedler habe dort von Anfang an Soldat sein müssen, „weil er immerdar mit wilden Menschen und Thieren umgeben war.“ Hier hätten sie freiwillig „für Haus, Eigenthum, Weib und Kind“ gekämpft, was „doch ein ganz ander Ding“ darstelle, „als für Gold die Muskete [zu] tragen, und sich vom Tod hinter sich, in den Tod vor sich treiben [zu] lassen.“483 Dieser Überlebenskampf habe den Mut der Siedler erhöht 480 481 482 483
Ebd., S. 110. Ebd., S. 172. Ebd. Ebd., S. 64.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
und – wie Schmohl den Topos des männlich-heroisch-kämpferischen Kraftkultes der Stürmer und Dränger aufgreift484 – auf „Mannheit und Adel der Seele [ge]wirkt“. Die europäischen Söldnertruppen „von Engländern, Hannoveranern, Hessen u. s. w.“ hätten in diesem Krieg deutlich erfahren, „daß sich die amerikanischen Provinzialtruppen aus Jägern, Hirten, Fischern, Ackerleuten, Handwerkern, Kaufleuten bestehend, nicht ungestraft verachten lassen.“485 Um den europäischen Untertanen zu verdeutlichen, dass sie ebenfalls ihre politische Souveränität in den Händen hielten und damit nicht auf die stehenden Heere ihrer Landesherren – mit allen negativen Auswirkungen – angewiesen seien, appelliert er besonders an diese Europäer: „Es giebt keinen einzigen Staat in Europa, ja in der ganzen Welt, dessen Bürger ihre Freiheit, wenn sie Waffen tragen dürften, nicht selbst vertheidigen konnten, es sey mit Pulver und Donnerkeil oder Pfeil und Lanze. Nirgends war zu Erhaltung des Eigenthums, des Weiber- und Kinderlebens stehendes Heer nöthig.“ Diese Menschen, die noch nicht durch ein „grosses Gefolge von Dienstleuten und Miethlingen […] geschreckt wurden“, hätten auch niemals „blos nach Gelüst des Einzigen“486 einen Krieg begonnen. Bei einem direkten Vergleich der drei Positionen ergibt sich besonders bei Johann Christian Schmohl und Andreas Riem eine gewisse Überschneidung, da sich beide dafür aussprachen, eine Armee solle sich nicht aus Söldnern, sondern ausschließlich aus Landeskindern zusammensetzen. Während sich Schmohl deutlich gegen die Existenz von stehenden Heeren positionierte, scheint Riem mit ihrem Bestand – jedenfalls in einem gewissen Rahmen – einverstanden gewesen zu sein. Dennoch sah er in (großen) stehenden Heeren die ständige Gefahr eines gegenseitigen Wettrüstens benachbarter oder verfeindeter Länder. Zudem betonte er, dass die alleinige Existenz eines stehenden Heeres es für Herrscher attraktiv werden ließ, dieses auch einzusetzen. 484 Vgl. Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Stuttgart 2010, S. 10–14; Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. Köln 2005 (Literatur, Kultur, Geschlecht. Große Reihe 34), S. 78; Mellmann: Ich fühle (wie Anm. 769, S. 236), S. 62–65. 485 Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 64 – Schmohls Darstellung ist dahingehend korrekt, dass die amerikanische Kontinentalarmee ihren Ursprung in den kolonialen Milizen hatte. Ihre Mitglieder entstammten der kleinbäuerlichen Schicht und verpflichteten sich meist nur für kurze Dienstzeiten. Die Desertionsquote scheint jedoch bei diesen Soldaten weitaus höher gewesen zu sein als bei der gegnerischen Armee, die zudem meist aus Söldnern bestand. Der Grund hierfür scheint gerade in der lokalen Herkunft der Kleinbauern zu suchen zu sein, da hierdurch „familiäre Loyalitäten, lokale Interessen und in erster Linie die Umstände der Feldarbeit auf dem eigenen Hof stets und ständig im Vordergrund“ standen, was die Pflichten des Militärdienstes überdeckte. „Das Problem der Desertionen in der Kontinentalarmee ist von der amerikanischen Forschung aus weltanschaulichen Gründen lange vernachlässigt oder heruntergespielt worden. Man konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Freiwillige im Einsatz für die Freiheit und gegen die Tyrannei nur unwesentlich besser motiviert waren als europäische Söldner. Dennoch war es offenkundig so.“ Hochgeschwender: Amerikanische Revolution (wie Anm. 247, S. 295), S. 226. 486 Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 172.
3.4 Politische Ordnung
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Eine Entwicklung und damit eine konkrete Auseinandersetzung, die zu einem Gesinnungswandel führte, ist lediglich bei Karl von Knoblauch zu erkennen: Obwohl er schon in seinen ersten Texten, in denen er sich mit diesem Thema beschäftigte, davon überzeugt war, dass ein stehendes Heer förderlich für despotische Herrschaften sein könnte, gestand er dennoch den Vorteilen ein höheres Gewicht zu, die in Form der Sozialdisziplinierung der Bevölkerung aus dem stehenden Heer hervorgingen. Knoblauch erlebte die Auswirkungen des Revolutionskrieges nicht nur als ‚Revolutionstourist‘, sondern auch in seiner Heimat aus nächster Nähe, als dieses und benachbarte Gebiete entweder von französischen Truppen besetzt oder von den Alliierten durchzogen wurden. Hierdurch verkehrte sich seine Überzeugung, das Militär trage zur Disziplinierung bei, in das komplette Gegenteil, sodass er in seinen späten Texten davon überzeugt war, der Militärdienst bringe nur Sklaven hervor. Stattdessen betonte er nun, dass die Achtung vor Gesetzen, was aus seiner Sicht vorher das Ziel eine Sozialdisziplinierung darstellte, viel besser durch die zivile Schulbildung erreicht werden könnte. Wie im folgenden Kapitel dargestellt wird, ging Knoblauch sogar zu der Forderung über, eine vorbildliche Politik müsse einen Krieg konsequent ablehnen, wenn er nicht der Landesverteidigung nach einem feindlichen Angriff diene. 3.4.3 Eigenschaften einer ‚guten‘ Regierungsform Auch wenn sich Johann Christian Schmohl in seinen Schriften, abgesehen von Ueber Nordamerika und Demokratie. Ein Brief aus England, kaum mit demokratischen – oder von ihm meist synonym verwendet: republikanischen – Themen beschäftigte, lassen die Pläne des Landphilanthropins, die er zusammen mit seinen elsässischen Freunden entwarf, darauf schließen, dass er sich auch in dieser frühen Zeit schon mit der Theorie demokratisch-republikanischer Strukturen auseinandergesetzt hat. Schon in Dessau hatten die aus dem Elsass stammenden Junglehrer einen Brüderbund gegründet, dem sich Schmohl, nachdem er in den Dienst des Philanthropins getreten war, anschloss. Nach der Verfassung dieses Bundes, die wohl auch als Grundlage für den späteren Plan des Landphilanthropins diente, sollten alle Entscheidungen durch Mehrheitsbeschlüsse getroffen werden. Durch diese demo487 Vgl. hierzu: Niedermeier: Gartenreich (wie Anm. 19, S. 18), S. 61 f. – Vgl. außerdem: Kapitel 2.1.2. 488 Schmohl beschreibt die zu seiner Zeit verbreitete Meinung, dass „eine republikanische Verfassung […] nichts in einer Erziehungsanstalt“ tauge und man stattdessen an ihrer Spitze „einen Curator haben“ müsse, der ähnlich wie Basedow am Dessauer Philanthropin eine autoritäre Position innehabe und dort „despotir[e]“ (Schmohl: Urne (wie Anm. 36, S. 21), S. 249, Hervorh. i. Orig.). Auch wenn aus seinen Ausführungen nicht eindeutig hervorgeht, ob er diese Meinung teilte, kann vermutet werden, dass er weiterhin eine demokratische Schulordnung befürwortete. Dass eine solche Schule in Europa unter den obrigkeitszentrierten Systemen des 18. Jahrhunderts schwer zu etablieren sei, führt Schmohl ebenfalls an: Es könne „eine republikanische Erziehungsanstalt in keinem monarchischen und keinem republikanischen Staat“ errichtet werden, außer wenn ihre „Glieder Engel oder Götter wären“. Selbst unter einem republikanisch gesinnten Fürsten vermutete Schmohl, „würde es nicht leicht besser damit stehen, als in einem despotischen oder anarchischem“ (Ebd., S. 250.) Staat.
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kratische Struktur gerieten die ‚verbrüderten‘ Lehrer in Konflikt mit der hierarchischen Gliederung, welche der kurzzeitige Leiter des Philanthropins, Joachim Heinrich Campe, einzuführen versuchte. Dies führte letztendlich zu ihrem, aber auch zu Campes Weggang vom Dessauer Philanthropin.487 Während sich Schmohl in der Urne Mochels nur vorsichtig zu diesem Vorgang äußerte und eher allgemein die Umsetzbarkeit einer demokratisch-republikanisch organisierten Institution innerhalb einer Monarchie anzweifelte,488 wagte er es erst, sich ausführlich und öffentlich mit dem Thema der Demokratie zu befassen, als seine Entscheidung zur Flucht nach Amerika gefallen war. Provokativ setzte er sie nicht nur in den Titel seines Werkes, sondern führte direkt zu Beginn gegenüber dem fiktiven oder wenigstens unbekannten Empfänger seiner Briefe unmissverständlich aus, was er in seinem nicht abgedruckten Manuskript Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie lediglich angedeutet hatte: „Sie wissen, bin ich überzeugt, daß die Obrigkeiten bey allen Völkern ursprünglich (und historisch!) mit aller unter Menschen möglichen Freyheit von den Gliedern der Gesellschaft selbst gewählt worden sind, so wie noch in mancher Demokratie, wo man entweder die alte Form beybehalten hat, oder zu ihr zurückgekehrt ist.“489 Somit wird eine repräsentative Demokratie von Schmohl zum Idealzustand erklärt, von welchem die menschliche Gesellschaft in ihrer ursprünglichen Konstitution ausging und in den sie auch wieder zurückkehren kann, wenn sie in der Zwischenzeit durch eventuell entstandene Ungleichheit und der damit verbundenen Unterdrückung großer Bevölkerungsteile davon abgewichen ist. Diese Ursprünglichkeit drückt sich vor allem dadurch aus, dass die Gesetzgebung und die Bestimmung der Steuern sowie die Festlegung des Haushaltes bei allen Gliedern dieser als ‚gesund‘ und ‚natürlich‘ konnotierten Gemeinschaft gelegen haben.490 Daher bestehe auch nur dort, „wo das Volk die gesetzgebende Gewalt“ inne habe, die „einzig gesunde[] Gesellschaftsorganisation“491 einer freiheitlichen und gerechten Ordnung, womit für Schmohl nur eine Demokratie als ‚gute‘ Regierungsform angesehen wird. Während nach Schmohls Vorstellung innerhalb einer Gesellschaft größtmögliche Gleichheit an Besitztümern herrschen sollte, damit keiner durch diese sogenannte ‚künstliche Ungleichheit‘ ärmere Bürger dominieren und unterdrücken könne, besteht die sich aus den biologischen Unterschieden ergebende ‚natürliche Ungleichheit‘ weiterhin. Diese Stärke wird im Sinne des gesamten Staates genutzt, da „auch in der Demokratie […] der Stärkere auf gewisse Art“ herrsche, jedoch „nicht despotisch durch Reichthum, Geburtsehre und daher gewirkten Anhang, wie in gesetzgebenden Monarchien, sondern durch eigne persönliche Kräfte und Tugenden“.492
489 490 491 492
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 7, Hervorh. i. Orig. Vgl. Kapitel 3.4.2.1. Ebd., S. 45. Ebd., S. 134 f.
3.4 Politische Ordnung
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Es stelle „wahre Demokratie“ dar, „wo jeder soviel als er nach seinen natürlichen Kräften, seinen wesentlichen Tugenden wirken“493 könne, auch bewirke. So würden in einem demokratischen System die „Ersten der Demokratie“ aufgrund ihres Verdienstes und ihrer Tugend in die jeweiligen Positionen gewählt und nicht wie die „gesetzgebenden Monarchen“ durch „lauter falsche künstliche Vorzüge“. Während einem Monarch, der seine Überlegenheit nur auf künstliche Ungleichheit gründe, nur „mit Zwang“ Gefolgschaft geleistet werde, folge man in einer wahren Demokratie „dem Stärksten d. h. dem Tugendhaftesten […] mit Lust“. Zudem habe hier jeder einzelne Bürger die Möglichkeit, am Staat zu partizipieren und „die höchsten gesellschaftlichen Ehren“ zu erlangen, sobald er sich auch „die größten innern Vorzüge erwirbt“.494 Gleichzeitig ist es nach Schmohls idealisierter Vorstellung demokratischer Wahlen geradezu unmöglich, dass eine Person, die es nicht verdient hat oder nicht intellektuell dazu befähigt ist, ein Amt zu bekleiden, in dieses gewählt wird. Die Vorstellung des von der Perfektibilität überzeugten Aufklärers lässt hierbei nur zu, dass aus demokratischen Wahlen ausschließlich derjenige hervorgeht, der bewiesen hat, optimal für ein Amt geeignet zu sein. Schmohls Ideal wäre damit eine durch Wahl bestimmte Meritokratie. Schmohl stellt in diesem Zusammenhang fest, dass seine eigene Vorstellung von einer idealen Demokratie nicht von Rousseaus Contract Social abweiche, da dieser „Demokratie, Aristokratie und Monarchie nicht, wies die Sache erfordert, [nach] der gesetzgebenden“ Gewalt unterteilt habe, sondern nach der Exekutive: So sei nach Rousseau eine Demokratie dadurch charakterisiert, dass hier „das Volk selbst die Gesetze“495 ausübe. In einer Aristokratie hätten hingegen „wenige“ und in einer Monarchie nur „einer“ diese Exekutive inne, wohingegen auch hier nach Rousseau weiterhin das Volk selbst „beständig die gesetzgebende Gewalt“496 besitze. Die Vertreter der Exekutive stellten nach Schmohls Meinung lediglich „Beamtete des Volks“ dar. Durch die weiterhin bestehende Legislative aller Bürger ergebe sich ein Zustand, „wie [er] seyn sollte“,497 aber meistens – und jedenfalls in Europa – nicht der Realität entspreche. Ausdrücklich widerspricht Schmohl Rousseau bei dessen Ablehnung von repräsentativer Gesetzgebung, da Rousseau die Abgeordneten eines Parlamentes nicht als die Vertreter des Volkes und daher auch nicht als Sachwalter des allgemeinen Willens ansah.498 Schmohl betont stattdessen, dass er diesen Widerspruch Rousseaus nicht nachvollziehen könne: Er sehe „in den Deputirten das Freyheitswidrige 493 494 495 496 497 498
Ebd., S. 135. Ebd. Ebd. Ebd., S. 135 f. Ebd., S. 136. Vgl. Winkler: Geschichte (wie Anm. 401, S. 469), S. 216 f.; Helmut Reinalter: Aufklärung, Liberalismus und Demokratie. In: Ders. (Hg.): Aufklärungsprozesse seit dem 18. Jahrhundert. Würzburg 2006, S. 27–54, hier S. 52–54.
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nicht, was Rousseau darinn findet“.499 Damit hebt er hervor, dass Gesetze, die von gewählten Abgeordneten angenommen wurden, nach seiner Überzeugung auch die Zustimmung aller Bürger besitzen, die für die Wahl der Deputierten verantwortlich waren. Schmohls Fundamentalgesetze der ‚guten Demokratie‘ Indem als Grundlage von Schmohls Vorstellung einer idealen Demokratie vor allem die Gleichheit der Bürger gewahrt werden muss, damit niemand die anderen Bürger durch ‚künstliche Ungleichheit‘ überragen kann, formuliert er in seiner Abhandlung Ueber Nordamerika und Demokratie eine Art Verfassung, welche die „Fundamentalgesetze der guten Demokratie“500 umfasst. Da Schmohl, wie bereits dargestellt wurde, keinen Widerspruch darin sah, zur Garantie dieser Gleichheit, das Eigentum aller Bürger staatlich zu reglementieren, befasst er sich zuvorderst mit der allgemeinen Landvergabe. Hierbei scheint Schmohl im Falle der Landbevölkerung den Grundbesitz mit dem Vermögen des jeweiligen Besitzers gleichzusetzen, sodass das erste Augenmerk des Staates die „gleiche Austheilung des Landes“ und des „Eigenthum[s] der Privatpersonen“ darstellen sollte. Das meiste Land sollte hierbei jedoch „in Gemeinheit bleiben, um jeder neuen Familie“501 bei entsprechendem Bedarf einen Teil dieses Landes zuweisen zu können. Das Vermögen von Handwerkern und Stadtbürgern wird in Relation zum Wert der an die Landbevölkerung ausgegebenen Landgüter ebenfalls staatlich verwaltet und verteilt. Die Volksvertreter, also die „Bevollmächtigte[n] der Versammlung, in der die Gesetze gegeben werden“,502 werden – wie auch die gewählten Magistrate der Exekutive – jährlich neu gewählt. Dieser Ratsversammlung der Deputierten müsse „aus Männern über vierzig Jahre bestehn“.503 Die zu wählenden Ämter umfassten nach Schmohls Plan „etwa Präsidenten der Volksversammlung“, wobei Schmohl hierbei nicht verdeutlicht, ob es sich um einen Präsidenten oder mehrere handelte. Darüber hinaus sollten jährlich gewählt werden: „Generale, Richter, Schatz- oder Proviantmeister, Oberpriester, auch wohl Sittenrichter.“ Nach Schmohls Vorstellung sollte nach jeder Legislatur vom Volk in einer entsprechenden „Versammlung oder von ihren Repräsentanten“ geprüft werden, ob die „obrigkeitlichen Personen, wie [die] Deputierten“ ihr jeweiliges Amt „nach den Gesetzen verwaltet“504 hätten. Bei der Betonung des Annuitätsprinzips, wie auch bei anderen Punkten, welche die Amtszeit von Beamten und Repräsentanten der Exekutive betreffen, scheint Schmohl durch die Verfassung der Römischen Republik inspiriert worden zu sein. 499 500 501 502 503 504
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 178. Ebd., S. 177, Hervorh. i. Orig. Ebd. Ebd., S. 178. Ebd., S. 181. Ebd., S. 178.
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Bei dieser stellte die Annuität der Magistratsämter das Prinzip dar, welches die Republik eindeutig von der Zeit der römischen Könige abgrenzte, wobei die königliche Macht unter eine kollektive Verwaltung der adligen Familien gestellt wurde.505 Auch eine Kontrolle der Beamten, die während ihrer Amtszeit nicht rechtlich belangt werden konnten, scheint Schmohl aus der römischen Verfassung entlehnt zu haben,506 da er darüber hinaus forderte, dass niemand „zwey mal nach einander zur obrigkeitlichen Würde befördert werden könnte“. Stattdessen müsse zwischen zwei Ämtern immer „eine gewisse Anzahl“ an Jahren liegen, in welcher der Bürger „wieder Privatmann“507 werde. Dasselbe sollte für die Deputierten des Rats gelten.508 Von diesen Einschränkungen abgesehen dürfen nach Schmohls Vorstellung alle Bürger in Ämter gewählt werden, die sich nicht „gewisser Verbrechen schuldig gemacht, Stimmen bestochen“ haben oder „vom Sittenrichter verworfen“,509 also abgelehnt wurden.510 Worin die ‚gewissen‘ Verbrechen bestehen, lässt Schmohl offen. Auch, dass der beamtete Sittenrichter durch diese Entscheidungsgewalt eine sehr mächtige Position innerhalb von Schmohls idealer Republik einnimmt, scheint für ihn nicht problematisch zu sein. Darüber hinaus nimmt der Sittenrichter die Funktion wahr, die „Geburts- und Todtenlisten“ zu führen: Hierbei registriert er „die Namen der Bürger Zunftweise, belohnt und bestraft durch Versetzungen aus einer Zunft in die andere, oder letztere auch durch Ausstreichung.“511 Daneben stellte der 505 Vgl. Bleicken: Verfassung (wie Anm. 344, S. 459), S. 75 f.; Ders.: Geschichte der römischen Republik. 6. Aufl. München 2004, S. 16 f. 506 Vgl. Ders.: Verfassung (wie Anm. 344, S. 459), S. 128. 507 Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 178. 508 Vgl. ebd., S. 181 f. 509 Ebd., S. 179. 510 Beim Amt des Sittenrichters orientierte sich Schmohl vermutlich an den römischen Censoren, die einerseits die Aufsicht über die Sitten (regimen morum) hatten und den Stand der Bürger entsprechend ihrer positiven wie negativen Taten erhöhen oder verringern konnten. Andererseits hatten sie die Aufgabe der Volkszählung, was dem weiter unten angesprochenen Registrieren von Geburten und Todesfällen entsprach. In Rom handelte es sich bei den Censoren jedoch – im Gegensatz zu Schmohls Sittenrichtern – um außerordentliche Beamte, die nur bei Bedarf gewählt wurden und deren Amtszeit sehr lange – bis zu fünf Jahren – dauern konnte. Aufgrund ihrer eigentlichen Aufgabe der Vermögensschätzung wurde das Amt des Censors nur besonders vertrauenswürdigen Bürgern überlassen, die schon eine Amtszeit als Konsul inne gehabt hatten. Die Censur galt damit noch vor dem Konsulat als das vornehmste Amt. Vgl. Bleicken: Verfassung (wie Anm. 344, S. 459), S. 59 f., 88–90. 511 Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 179 – Bei diesen von Schmohl angesprochenen Zünften handelte es sich nicht eindeutig um handwerkliche Vereinigungen, die in der Frühen Neuzeit neben der „wirtschaftliche[n] Tätigkeit ihrer Mitglieder“ auch ihr „gesamtes soziales und religiöses Alltagsleben regelten und auch die Grundlage der politischen Organisation darstellten.“ (Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 21, S. 5), S. 86 f.) Schmohl stand wohl eher eine von wirtschaftlichem Interesse und handwerklicher Zugehörigkeit unabhängige, alternative Ordnungsstruktur vor Augen, die in Städten anstelle von dörflichen Strukturen bestehen sollte. Somit stellt die ‚Zunft‘ in der Stadt das dar, was das ‚Dorf‘ als Zusammenschluss einer gewissen Zahl an Menschen mit den entsprechenden organisatorischen Strukturen auszeichnet. Da Menschen, wie aus Schmohls Zitat hervorgeht, jedoch auch nach der Güte ihres Verhaltens – also wie sie sich ziemten – zugeordnet oder sogar daraus verbannt werden konnten, scheint
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„Verlust des Bürgerrechts und Verbannung aus dem Vaterland“ die „höchste Strafe“512 dar, die über einen Verbrecher verhängt werden konnte. Mit Blick auf Schmohls Befürwortung einer Armee, die sich aus den jeweiligen Bürgern des Landes zusammensetzt, muss nach seinem Fundamentalgesetz „[j]eder Bürger […] Kriegsmann“ sein. Um die Einsatzfähigkeit dieser Bürgerarmee zu gewährleisten, sollten die Bürger „zur Unterhaltung des kriegerischen Muthes und der Mannszucht, durch Kriegsspiele, Jagd, [und] Gymnastik immer bearbeitet werden.“513 Indem der Militärdienst die Pflicht eines jeden Bürgers darstellt, hat dies aus Schmohls Sicht nicht nur den Vorteil, dass diese Bürger-Soldaten ihre Heimat mit einer größeren Motivation verteidigen.514 Der soldatische Dienst eines jeden Bürgers diene darüber hinaus auch der „Verhütung aller gewaltthätigen Unterdrückungen, von Seiten des Magistrats sowohl, als einzelner Stände“, wie dem „Kriegsstand[], der sich in Europa zum Adel gemacht“515 habe. Alle militärischen Fragen – von der Dauer des Soldatendienstes über Kriegerklärungen sowie Friedens- und Bündnisschlüsse – müssten das „beständige[] Vorrecht des versammelten Volks, durch sich selbst, oder seine abgeschickten Repräsentanten seyn.“ Da eine Verteidigung des Landes auch schnell und unbürokratisch in die Wege geleitet werden könne, „so muß Einer der Magistrate, etwa der jährliche Gesetzgebungspräsident bevollmächtigt seyn, die Bürger, die in den Krieg ziehn sollen, nach vorgeschriebenen Reglements zusammen zu berufen“. Hierbei betont Schmohl, dass dieser Präsident zwar das Recht der Truppeneinberufung habe, jedoch nicht der „Kriegsführer[] selbst seyn“516 dürfe. Dieser kriegsführende General müsse, da Schmohl ihn zu den gewählten Magistraten zählte, jährlich sein Amt niederlegen und ein neuer Oberbefehlshaber gewählt werden. Schmohl betrachtete es nicht als Nachteil, dass die Stelle des obersten Generals einer Armee jährlich – und damit recht häufig – wechseln würde. Ein neuer Feldzug müsste schließlich „immer nach einem andern Plan angelegt werden, da sich die ganzen Umstände verändert“ hätten. Dieses Prinzip der wechselnden Heeresführer habe es auch in Rom und Griechenland gegeben, welche sich „gerade durch die öftere Abwechslung der Generale am längsten erhalten“517 hätten. Während die wichtigen Ämter im Staat durch Wahl bestimmt werden, um sie – im Sinne von Schmohls Wahl-Meritokratie – hierdurch nur den fähigsten Männern zuzuteilen, werden stattdessen im Heer „[a]lle Ehrenstellen […] ausser die des Ge-
512 513 514 515 516 517
Schmohl den Zünften über die reine staatliche Organisation hinausgehend noch weitergehende, sozialdisziplinierende Funktionen zugedacht zu haben. Hierauf geht er jedoch nicht näher ein. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 181. Ebd., S. 178. Vgl. Kapitel 3.4.2.2. Ebd., S. 179. Ebd. Ebd., S. 180.
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nerals und seines Repräsentanten, […] durchs Loos gezogen.“ Schmohl führt beispielhaft die Armee Preußens an, welche unter Friedrich II. die „Furchtbarste Armee“ darstelle, „die es dermalen giebt“. Dort seien „die Unter- und Oberbefehlshaberstellen nach der Anciennetät [sic.]“, also nach der Dauer der Dienstzeit besetzt worden. Dieses Prinzip scheint Schmohl als gleichwertig mit einer zufälligen Stellenbesetzung durch Verlosung angesehen zu haben: In der preußische Armee seien die Posten „im grunde eben so, wie ichs in der Demokratie haben will, durchs Loos besetzt“518 worden. Während Schmohls Forderung, die militärischen Posten innerhalb der Armee per Los zu verteilen, um aus seiner Sicht ein Höchstmaß an objektiver Gerechtigkeit zu gewährleisten, eine eindeutige Anforderung an seine ideale Armee darstellt, ist unklar, weshalb er hierbei als Beispiel das preußische Heer heranzieht. In diesem stellte zwar die Anciennität das Prinzip dar, welches die „Verweildauer der Offiziere in ihrem jeweiligen Dienstgrad“519 regelte. Es wurde jedoch – auch unter Friedrich II. – gerne übergangen, um dem Adel vonseiten des Herrschers die eigene, weiterhin bestehende Entscheidungsmacht zu demonstrieren.520 Verlost, wie es sich Schmohl wünschte, wurden hierbei keine Stellen. Genauso, wie sich jeder Bürger potenziell für ein staatliches Amt bewerben und gewählt werden kann, wenn er sich dafür auszeichnet, taugt nach Schmohls Plan „[i]n einem solchen Staat […] auch beynah jeder Gemeine zum General“ – während im Europa des Adels und der Monarchen „die Generals weder zu Generals noch zu Gemeinen taug[t]en.“521 Hierdurch könne auch jeder Bürger, der „Thaten von gewissem Verdienst thut“, mit einer „öffentliche[n] Ehrensäule“ belohnt werden, sofern seine Taten von einem Sittenrichter anerkannt wurden. Ihre Familien sollten als zusätzlicher Dank „auf öffentliche Kosten erhalten“ werden, wohingegen ein Soldat, der „in der Schlacht fürs Vaterland stirbt“, lediglich eine „ehrenvollere Begräbnisfeyer“522 erhalten solle. Bezüglich der Gesetzgebung sieht Schmohl zwei Ausschüsse vor. Einer sollte „aus den Zünften, Stadtschaften u. s. w. gewählt“ werden, der über die alten, bereits eingeführten Gesetze wache und darauf achte, „daß kein, der gemeinen Freyheit und alten Konstitution nachtheiliges“ Gesetz eingeführt werde. Der zweite Ausschuss sollte hingegen vor allem die Einführung neuer Gesetze zur Aufgabe haben. Nach Schmohls Vorstellung sollten seine Mitglieder mit Blick auf „die veränderten Zeitumstände und neuen Begebenheiten“523 neue Gesetzesvorschläge ausarbeiten. Bei den Gesetzen des Landes war sich Schmohl also bewusst, dass diese keinen Ewigkeitswert besitzen sollten und an geänderte gesellschaftliche und politische Um518 Ebd. 519 Carmen Winkel: Im Netz des Königs. Netzwerke und Patronage in der preußischen Armee 1713–1786. Paderborn 2013 (Krieg in der Geschichte 79), S. 36. 520 Vgl. ebd., S. 69. 521 Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 180. 522 Ebd., S. 181. 523 Ebd.
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ständen angepasst werden müssten. Gleichzeitig sollte jedoch auch gewährleistet werden, dass die Grundlage des Staates – die freiheitliche und demokratische Konstitution – nicht durch neue Gesetze in Mitleidenschaft gezogen wird. Auch bei der Gesetzgebung kommt nach Schmohls Willen dem ansonsten schon mächtigen Sittenrichter erneut eine zentrale Rolle zu: Da eine Kommission, die sich entsprechend der veränderten Zeitumstände mit der Erstellung eines neuen Gesetzes befassen sollte, aus zwei Personen bestehen sollte, müsse die dritte, gleichberechtigte Stimme eines Sittenrichters hinzugezogen werden, der den Gesetzesentwurf ebenfalls zu bewerten hatte. Erst wenn sich mindestens zwei dieser drei Personen für das neue Gesetz oder eine Gesetzesänderung aussprechen, sollte es nach Schmohls Vorstellung „dem Volk oder seinen Repräsentanten von ihnen, als dem Rath“524 zur Abstimmung vorgelegt werden. Schmohls ideale Republik sollte eine föderale Ordnung haben, sodass hierdurch sogar „ein ganzer Welttheil eine Republik ausmachen“525 könnte, ohne dass ihre Handlungsfähigkeit oder die Freiheit jedes ihrer Teile eingeschränkt würde. Hierbei positioniert sich Schmohl knapp aber eindeutig bezüglich der im 18. Jahrhundert kontrovers diskutierten Frage, ob ein Land, dessen Größe über die eines Stadtstaates hinausgehe, überhaupt als Republik regiert werden könne. Für ein so großes Gebiet, wie es insgesamt die ehemaligen Dreizehn Kolonien darstellten, wurde diese Frage meist verneint.526 Nach Schmohl kann die Republik jedoch entweder aus verschiedenen Stadt- oder Landkreisen bestehen, deren Deputierte über „die Gesetze für das Ganze“ abstimmten und „die Civil- und Militärstellen der Republik“ besetzten, aber ansonsten im jeweiligen „Kreis mit seinen Dörfern oder Zünften, seine eigne Gesetzgebung, unabhängig von andern“,527 haben könnten. Ist die Republik jedoch größer, stehen über den Stadt- oder Landkreisen wiederum Provinzen, welche über „Provinzialdeputierte als Repräsentanten der Generalversammlung die Gesetzgebung der Republik“528 ausübten. Auch hierbei sind alle Teile dieser – möglicherweise sehr großen – Republik, ihre Provinzen und Kreise mit den Dörfern oder Stadtzünften voneinander unabhängig. Um die mögliche Kritik seiner Gegner vorwegzunehmen, betont Schmohl, dass diese föderale Republik kein Zusammenschluss voneinander unabhängiger Freistaaten darstelle, die wiederum vollkommen undemokratisch regiert sein könnten. Das Negativbeispiel hierbei stellte die Schweiz des 18. Jahrhunderts dar, deren jeweilige Freistaaten „nicht rein demokratisch“ gewesen seien, „sondern mehrere erbliche Aristokratien“ darstellten, „die so übel wirthschaften als erbliche Monarchien“. Diese Stadtrepubliken, „Basler, Züricher, [und] Berner“ missbrauchten nach Schmohl hierbei „den heiligen Namen eines Freystaats […], wenn sie ihre Verfas524 525 526 527 528
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 181. Ebd., S. 182. Vgl. Hochgeschwender: Amerikanische Revolution (wie Anm. 247, S. 295), S. 365. Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 181. Ebd., S. 182.
3.4 Politische Ordnung
493
sung so nennen“. Auch handele es sich bei ihnen nicht um Demokratien, „da in den Schweizer Aristokratien das Volk keinen Theil an der gesetzgebenden Gewalt“529 gehabt habe. Stattdessen zeichne es den „bewunderungswürdige[n] Karakter der Demokratie“ – seiner eigenen föderal-republikanischen Vorstellung – aus, dass jeder einzelne Teil dieser Republik ein „System von Freystaaten“ darstelle, in welchem „jede Familie gleichsam ein Freystaat ist“.530 So bestehe die alles umfassende Republik – der „Generalstaat“ – aus jeweils demokratischen „Provinzialstaaten“, die wiederum aus demokratischen „Kreisstaaten“ und diese aus „Zunft- und Dorfstaaten“ bestünden. Die beiden Letzteren ließen sich wiederum in ihre kleinste Kategorie, die „Familienstaaten“, unterteilen: Diese „einzelne[n] Familienhäupter“ seien, auch wenn sie insgesamt Millionen umfassten, „souverain in ihren Hütten, mit gleichen positiven Menschheits- und Bürgerrechten [ausgestattet], und demohngeachtet die grösseste herrlichste reizendste Mannigfaltigkeit in der edelsten Einheit!“ Gegenüber dieser idealen Föderation, die Schmohl in den „dreyzehn vereinigten Staaten in Amerika“ zu finden hoffte, stelle jede noch so gute Monarchie „nur ein Denkmal menschlicher Verderbtheit“531 dar. Trotz Schmohls Betonung, dass in der nach seinem Ideal geplanten Republik selbst ihre kleinsten Teile – die Familien und ihre Oberhäupter – gleichberechtigt seien, schließt er selbst in seinen Ausführungen große Teile der Bevölkerung von der politischen Partizipation aus.532 Diese Abwertung großer Bevölkerungsteile lässt sich durch Schmohls Theorie des Verfalls ‚ursprünglicher‘ Demokratien zu einem autoritären System erklären: Während in einem ‚natürlichen‘ System jedes Familienoberhaupt entweder selbst die Gesetze gebe oder seine jeweilige Stimme beim Gesetzgebungsprozess mit allen anderen gleichberechtigt einbringe, haben die meisten Menschen in den – nach Schmohls Diktion: ‚verdorbenen‘ – Staaten hierbei keine Stimme mehr bei der Gesetzgebung. Damit fallen sie für Schmohl unter die Kategorie der ‚Untertanen‘, da sie „der Landesherrlichen Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit unmittelbar“533 unterstünden, ohne selbst einen Beitrag dazu leisten zu können. Sie werden von ihm als „physisch schwache, moralisch ungesunde, und intellektuell verschrobene Menschen, von elender Leibs- und Seelenkonstitution“ beschrieben. Mit diesen verringerten Fähigkeiten stünden sie weit unter den Menschen, die in einer „natürlichere[n] gesunde[n] Staatsorganisation“ lebten. Deshalb werden von Schmohl auch ‚Wilde‘ im Vergleich zum untertänigen ‚Pöbel‘ in Monarchien als „natürlicher, gesünder, edler“534 angesehen. 529 530 531 532 533 534
Ebd. Ebd., S. 182 f. Ebd., S. 183. Vgl. hierzu auch Kapitel 3.2.2. Ebd., S. 154. Ebd., S. 153.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Während es daher in einer Monarchie „nichts als Pöbel“ gebe und Bürger nur unter einer demokratischen Ordnung existieren könnten, führt Schmohl an, dass es selbst „in der besteingerichteten Demokratie“ – also auch in seiner eigenen idealen demokratischen Republik – „Pöbel geben“ werde, welche er als „Leute“ versteht, „die zu schlecht [seien], um Bürgerrecht zu verdienen“. Hierzu zählen neben ausländischen Knechten und den Frauen (wobei Schmohl Letztere nicht einmal der Erwähnung wert findet) vor allem „schmuzige Handwerker“ wie „Schneider, Schuster, [und] Schinder“ und ebenso „Juden und Zigeuner“. Man belachte daher die „Mißgeburt seines eignen Gehirns“, wenn man davon ausgehe, dass in einer Demokratie „jeder der ein Menschengesicht“ besitze, „Theil an der gesetzgebenden Gewalt habe“.535 Zu diesem ausschließenden Urteil gelangt Schmohl, indem er davon ausgeht, dass nicht alle Menschen, die nach der ‚natürlichen‘ Demokratie Teilhabe an der Gesetzgebung hatten, sich von diesem ‚verkommenen‘ Zustand erholen könnten. Sobald diese Menschen durch das „Kriegsrecht [zu] Sklaven“536 geworden seien, könnten sie sich kaum oder nur noch schwer von diesem Zustand erholen. Daher sei der europäische „verdorbne[] Pöbel […] so wenig zur Demokratie fähig, als das deutsche Volk vor ein paar tausend Jahren fähig“ gewesen sei, „monarchisch beherrscht zu werden.“537 Da nach Schmohls Theorie die Menschen, die er verkürzend als das ‚deutsche Volk‘ bezeichnet, zu der von ihm angesprochenen frühen Zeit noch nicht durch eine Alleinherrschaft ‚verdorben‘ gewesen seien, hätten sie niemals zugelassen, auf eine andere Weise als demokratisch regiert zu werden. Daher sei auch „erbliche Aristokratie und Monarchie […] nie unter einem edlen Volk[] […] Mode gewesen“, wie es diese ‚Deutschen‘ nach Schmohls Vorstellung dargestellt haben sollen, sondern immer nur „unter elendem Pöbel“. In diesen ‚verdorbenen‘ Staaten seien „Obrigkeit und Unterthan aus gleich verdorbnem Teige geformt“. Die obrigkeitlichen Herrscher erhielten ihren höhergestellten Status nur durch „Reichthum und Tyranney“, wohingegen der Pöbel „durch Armuth und Sklavensinn“538 verdorben bleibe. Durch diesen ‚Sklavensinn‘ würden sich die Untertanen – an „nichts als Tyranney gewohnt“ – ausschließlich und „immer als Sklav zeigen“.539 Hierdurch sei es in diesen unfreien Ländern zum „Communsense des Pöbels“ geworden, vom Grundsatz auszugehen, „daß willkührliche Monarchie von Gott [komme], und daß ganze Millionen Menschen von Natur leibeigne Sklaven“540 eines einzigen Menschen sein müssten.
535 536 537 538 539 540
Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 154. Ebd., S. 155. Ebd., S. 154. Ebd., S. 158. Ebd., S. 173. Ebd., S. 61.
3.4 Politische Ordnung
495
Mit dieser Argumentation meint Schmohl auch erklären zu können, weshalb in Europa die öffentliche Begeisterung für die amerikanische Unabhängigkeit bestenfalls eher zurückhaltend blieb. So gehörte nach seiner Meinung für das Verständnis der nordamerikanischen Vorgänge einerseits „ein nicht allen gegebener Sinn und Gefühl“ für Freiheit und Demokratie und andererseits auch eine bestimmte „Lebenssituation.“ Beides sei in den europäischen Monarchien kaum vorhanden, sodass sich hier nur wenig Menschen finden ließen, „die jene grosse Wahrheit“ erkannt hätten, welche die Nordamerikaner letztendlich in die Unabhängigkeit führte. Eine solche Einsicht ließe „sich nur in Freystaaten“541 finden, weshalb es nach Schmohls Ansicht nur Republikanern möglich sei, Verständnis für republikanisches Bestreben aufzubringen. Die europäischen Kolonisten hingegen, welche nach Schmohl vor allem vor politischer und religiöser Verfolgung nach Amerika geflohen seien, hätten aufgrund ihrer eigenen Unterdrückungserfahrung – verbunden mit der neu erworbenen Freiheit – in Nordamerika zu den alten republikanischen Idealen einer natürlichen Demokratie zurückgefunden. Hierdurch wurden bei den neuen Amerikanern die „Gefühle der Freyheit und der Souverainität im Busen“ genährt, sodass bei ihnen „diese Flamme“ der Unabhängigkeitsbestrebungen „lange schon im Verborgenen gelodert“ habe. Daher hätten „[a]merikanische Patrioten […] lange schon von Unabhängigkeit“542 geträumt. Emphatisch und vor allem an die Untertanen der europäischen Monarchien gerichtet, ruft Schmohl aus: „Wo ist einem elenden Volk je dergleichen eingefallen? Schleppt dies nicht seine verwundenden Ketten, trägt es nicht die blutsaugende Geisselschläge mit Geduld und kriecht vor seinen Tyrannen, um Gnade winselnd, auf allen Vieren?“543 Karl von Knoblauch als Befürworter eines parlamentarischdemokratischen Entscheidungsprozesses Im Gegensatz zu Johann Christian Schmohl äußerte sich Karl von Knoblauch nur vage und indirekt, was seine Vorstellung eines idealen Staates beziehungsweise einer idealen Politik anbelangte. Wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt, beobachtete Knoblauch lieber die Ereignisse, welche die Französische Revolution in Frankreich selbst und in den restlichen europäischen Ländern auslöste, um diese danach einzuordnen. Knoblauchs Beobachtungen und Reflexionen lösten bei ihm eine erkennbare Veränderung seiner persönlichen politischen Sichtweise aus, die besonders deutlich bei der Thematik des stehenden Heeres zu erkennen ist. Trotz dieser deutlichen Reflexionen äußerte er sich in seinen politischen Dialogen und Artikeln sowie in seinen Briefen nur vage zu der Frage, ob er eher eine republikanische oder eine monarchische Regierungsform bevorzugte.
541 Ebd. 542 Ebd., S. 62. 543 Ebd., S. 63.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Der einzige Text, der in diesem Zusammenhang eine gewisse Ausnahme darstellt, stammt ebenso wie der Artikel Etwas über stehende Heere, in welchem Knoblauch stehende Heere anders als zuvor als überflüssig bewertete, aus dem Jahr 1793. Auch in diesem Artikel beschäftigte sich Knoblauch – wie schon aus dem Titel Zufällige Gedanken über die Frage: kann ein Fürst, ohne Einwilligung der Nazion, einen Krieg anfangen? hervorgeht – mit einem militärischen Thema. In ihm nimmt Knoblauch allgemein zu einer politischen Frage Stellung und trifft damit eine konkrete Aussage darüber, wie aus seiner Sicht die Politik idealerweise im Falle eines Krieges entscheiden sollte. Beide Artikel ähneln sich in ihrer Grundtendenz, sowohl Militär als auch Kriege als schädlich für die Bevölkerung zu betrachten und dem Adel sowie den fürstlichen Herrschern vorzuwerfen, beides für ihre privaten Zwecke missbräuchlich einzusetzen. Zu Beginn seines Artikels gibt Knoblauch ironisch zu verstehen, dass die von ihm aufgeworfene Frage von „[d]en meisten […] durch das Herkommen und die gewöhnliche Lehre des Staatsrechts schon längst für die Affirmative [Bestätigung, Anm. M. L.] entschieden“ worden wäre, was „jede neue Untersuchung darüber unnüz [er]scheinen“544 lasse. Diese Personen würden argumentieren, dass nur in Ländern, in denen sich die Nation ein entsprechendes Recht vorbehalten habe, der Fürst ohne die Einwilligung der Nation keinen Krieg beginnen dürfe. In diesem Zusammenhang führt Knoblauch an, dass es ihm bei der Beantwortung dieser Frage nicht direkt um bestehende Verfassungen gehe oder um das „Herkommen“, für welches „gewisse Leute“ ohnehin „ohne anderweitige Rücksicht, eine so blinde Verehrung hegen [würden], wie die Negern für ihre Fetische.“545 Stattdessen möchte er diese Frage allgemein unter dem Gesichtspunkt beantworten, „was bey Errichtung eines neuen Staates am rathsamsten, d. h. dem Endzweck der gesellschaftliche[n] Vereinigung, dem Wohl des Volkes, am angemessensten und zuträglichsten seyn würde.“546 Trotz Knoblauchs Versicherung, es handele sich lediglich um Überlegungen, die nur mit Blick auf neu eingerichtete Verfassungen Bestand hätten, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit auch darauf spekuliert haben, dass seine Aussagen mit den bestehenden Landesverfassungen verglichen würden. Dass diese Transferleistung letztendlich vom Leser bewerkstelligt wurde, begünstige darüber hinaus eine angemerkte Frage des Herausgebers des Neuen Teutschen Merkurs,547 weshalb das Thema 544 [Karl von Knoblauch]: Zufällige Gedanken über die Frage: kann ein Fürst, ohne Einwilligung der Nazion, einen Krieg anfangen? In: Der neue Teutsche Merkur 1 (1793), S. 167–174, hier S. 167, Hervorh. i. Orig. 545 Ebd., Hervorh. i. Orig. 546 Ebd., S. 167 f., Hervorh. i. Orig. 547 Offiziell handelte es sich auch 1793 noch um Christoph Martin Wieland, wobei angenommen werden kann, dass die Arbeit des Herausgebers und federführenden Redakteurs zu dieser Zeit vor allem von dessen Mitarbeiter Karl August Böttiger (1760–1835) wahrgenommen wurde. Vgl. hierzu: Thomas C. Starnes: Bertuch und „Der Teutsche Merkur“. In: Gerhard R. Kaiser u. Sieg-
3.4 Politische Ordnung
497
des Artikels nicht auch zur „Verbesserung eines alten“548 Staates und dessen Konstitution dienen könne. Knoblauch selbst merkte in einer dem Artikel angehängten Nachschrift ironisch und etwas kokettierend an, dass es ihm „nur in so wenigen Fällen wiederfahren [sei], über eigentlich politische Verhältnisse und Affairen konsultiert zu werden“. Knoblauch war sich zudem als Autor bewusst, „wie schwer es sei, einen den Umständen völlig angemessenen, und mithin wirklich guten Rath zu ertheilen“. Darüber hinaus sei er selbst nicht von der „sonst nicht gar seltenen Krankheit, welche Helvetius la Manie de conseiller tout le monde“549 – die Besessenheit, die gesamte Welt zu beraten – genannt habe, befallen. Deshalb sei es auch sehr unwahrscheinlich, dass er selbst einmal dazu berufen werde, wie Rousseau in Korsika eine völlig neue Staatsverfassung zu entwerfen. Doch selbst wenn dieser „schlimmste[] Fall angenommen“ werden müsste und er wirklich der Verfasser einer Konstitution würde, wäre sein „Einfluß auf den Gang der Dinge in den bereits längst gebildeten Staaten“ so gering, „als einem Könige der Pelew-Inseln die Störung des Gleichgewichts von Europa, Schuld gegeben [werden] könnte.“550 Dennoch – oder gerade aufgrund dieser Beteuerungen – lassen sich Knoblauchs Argumente auch als direkte Kritik an den ‚längst gebildeten‘ Verfassungen der europäischen Länder und ihren Fürsten ansehen. Ein Aspekt, den Knoblauch in seinem Artikel als kritikwürdigen Verfassungsfehler darstellt, ist die Möglichkeit von Fürsten, sich an Kriegen zu beteiligten, ohne die Bedürfnisse und das Wohl ihrer Untertanen zu beachten. In diese Richtung zielt auch sein erstes Argument, nach welchem „[d]ie Kosten des Krieges […] aus dem Beutel der Nazion bestritten“ würden und Staaten schon durch die „Führung der Kriege verarmt[]“ seien. Hierbei sei es nicht zulässig zu behaupten, dass ein Krieg vollkommen aus dem Staatsschatz finanziert werde und somit die Bevölkerung nicht „mit neuen Auflagen und Abgaben“ belästigt würde. Letztendlich liege auch „die Quelle, woraus dieser Schatz geflossen [sei], abermals in den Beuteln der Nation“. Hierdurch handele es sich beim Staatsschatz nicht um die „Privat-Chatoulle“ des Herrschers: Der Fürst sei stattdessen lediglich als Verwalter dieses, von der Nation „zum Besten des Ganzen abgegebenen“551 Schatzes anzusehen und müsse daher auch der Nation Rechenschaft über die Verwendung des Staatsschatzes ablegen.
548 549 550
551
fried Seifert (Hg.): Friedrich Justin Bertuch. (1747–1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar. Tübingen 2000, S. 465–479, hier S. 476 f. Knoblauch: Zufällige Gedanken (wie Anm. 544), S. 167. Ebd., S. 173, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 173 f., Hervorh. i. Orig. – Die von Knoblauch erwähnten pazifischen Pelew-Inseln (heute: Palauinseln) wurden durch eine 1788 erschienene Reisebeschreibung des britischen Schriftstellers George Keate (1729–1797) bekannt, die auf den Berichten des britischen Kapitäns Henry Wilson (1740–1810) basierten. 1789 erschien im deutschsprachigen Raum eine Übersetzung Georg Forsters, was auch hier zu einem regen Interesse an dieser Inselgruppe führte. Vgl. Bernard Smith: European Vision and the South Pacific. 2. Aufl. New Haven 1985, S. 133. Knoblauch: Zufällige Gedanken (wie Anm. 544), S. 168, Hervorh. i. Orig.
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Weitaus schwerer als diese Argumentation, die nur auf die finanzielle Hauptlast des Krieges abzielte, wiegt nach Knoblauch drüber hinaus die Tatsache, dass ein Krieg im schlimmsten Falle auch „die Zerstöhrung der Gesellschaft zur Folge haben“552 könnte. Der Ausgang eines Krieges sei – entsprechend „der Ungewißheit der menschlichen Dinge“ – meist ungewiss und der Nation könne nichts „in der Welt […] weniger gleichgültig seyn“ als die Frage, ob ihr Vermögen – statt zu ihrem Besten – „zu ihrem Verderben“ verwendet werde. Als historisches Beispiel führt Knoblauch die Kriege des französischen Königs Ludwig XIV. an, der „das Vermögen seiner Nazion“ lediglich „zur Befriedigung seines Ehrgeizes und zur Führung unnöthiger Kriege, welche das Volk ruinierten, mißbraucht“553 habe. Um zu entscheiden, ob sich ein Land an einem Krieg beteiligen solle, müssten die Stände oder deren Repräsentanten „nach dem Grundgesetze der Mehrheit der Stimmen“ über „die Beschließung oder Nichtbeschliessung eines Krieges“554 entscheiden.555 Dem als rhetorische Frage angeführten Einwand, diese „Volks-Repräsentanten“ besäßen möglicherweise nicht genügend Kenntnis „von dem Interesse der Nazion, um in dergleichen Fällen vernünftig votieren zu können“, begegnet Knoblauch mit der Gegenfrage, ob denn „die Minister und Rathgeber der Regenten immer tiefe und richtige Einsichten in die Natur der Dinge“ besäßen, „welche die politische Welt“ ausmachten. Generell könne jedoch davon ausgegangen werden, dass „die Repräsentanten der Stände aufgeklärte, sachkundige, d. h. vom wahren Interesse der Nazion unterrichtete Männer seyn“ können – vor allem „wenn die öffentliche Erziehung verbessert, und die Lehrsätze des allgemeinen Staatsrechts und der ächten Politik keine tremenda mysteria mehr“556 darstellten. Darüber hinaus handle es sich beim eigentlichen „Interesse einer Nazion“ meist nicht um einen „so verwickelte[n] und schwer zu deschiffirende[n] Gegenstand“, wie es gerne als „Interesse der Kabinetter“557 beschrieben werde. Auffällig ist an dieser Stelle zudem die Parallele zu Knoblauchs im selben Jahr erschienenem Artikel zum stehenden Heer, die sich aus der hohen Wertschätzung und Befürwortung einer allgemeinen und besseren Verbreitung von aufgeklärter 552 553 554 555
Knoblauch: Zufällige Gedanken (wie Anm. 544, S. 496), S. 168, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 169. Ebd., S. 169 f., Hervorh. i. Orig. Die angeführten Stände sind hierbei nicht als Plädoyer für die frühneuzeitliche Ständegesellschaft zu verstehen. Knoblauch selbst befürwortete wie in Kapitel 3.2.2 dargestellt wurde, eine Ordnung nach ‚Bürgerklassen‘, welche jedoch grundsätzlich die gleichen Rechte besitzen sollten. Vermutlich wird er in diesem Artikel eine ständisch organisierte Gesellschaft thematisiert haben, um einerseits seine Leser nicht mit einem weiteren Konzept zu beschäftigen, welches den geringen Umfang des Textes gesprengt hätte. Darüber hinaus könnte argumentiert werden, dass Knoblauch – trotz seiner anderslautenden Zusicherung zu Beginn des Artikels – speziell auf die bestehenden ständischen Ordnungen der europäischen Länder einwirken wollte. 556 Ebd., S. 170, Hervorh. i. Orig. 557 Ebd., Hervorh. i. Orig. – In einer Anmerkung erwähnt Knoblauch „zur Ehre der Menschheit“, dass es auch Kabinette gebe, „deren Interesse mit dem ihrer Nazion identifizirt“ (ebd., S. 171, Hervorh. i. Orig.) sei.
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Bildung ergibt. Während Knoblauch im Bezug auf das Heer betonte, es werde nicht gebraucht, um das Volk zu folgsamen Bürgern zu erziehen, sofern es eine sinnvolle Bildung gebe, die das Volk zu gesetzestreuen Bürgern bilden könnte, verbindet er an dieser Stelle mit der allgemeinen Bildung die Entwicklung zum aufgeklärten Bürger. Dieser ist dahingehend emanzipiert, dass er in der Lage ist, seine eigene Situation in Relation zu seinen Mitmenschen und damit ebenfalls die allgemeine politische Situation eines Landes einzuschätzen und zu bewerten.558 Am Ende seines Artikels führt Knoblauch aus, wann aus seiner Sicht das Führen eines Krieges als legitim anzusehen sei. Hierbei macht er deutlich, dass dies nur auf zwei Arten von Kriegen zuträfe: So ziehe einerseits der Verteidigungskrieg seine „Zuläßigkeit offenbar aus dem Rechte der Selbsterhaltung“, das – wie jeder Mensch – auch jeder Staat besitze. Andererseits sieht er „nur solche Offensiv-Kriege“ als ‚gerecht‘ an, „welche die Erhaltung des Staates, oder eine mit einem andern Staate geschlossene Allianz durchaus nothwendig“ mache. In allen anderen Fällen sei ein Krieg „die Schande der menschlichen Natur.“559 Dass hierbei vor allem die letzte Bedingung für einen legitimen Krieg sehr weit ausgelegt und missbraucht werden könne, wie es beispielsweise bei den drei von Friedrich II. begonnenen Schlesischen Kriegen der Fall war, scheint Knoblauch bewusst gewesen zu sein. So führt er aus, dass man einen Verteidigungsfall recht eindeutig feststellen könne, da er immer durch einen „wirklichen Angriff von Seiten eines andern Staates“ gekennzeichnet sei. Mit Blick auf einen Offensivkrieg zur Erhaltung des Staates bliebe eine solche Begründung jedoch immer sehr unsicher. Ein rechtmäßig geführter offensiver Verteidigungskrieg sei sehr selten, da es äußerst wenige Fälle gebe, in denen „ein Staat seine Existenz als dergestalt mit Gefahr bedrohet ansehen könnte, daß er dadurch sich zum Offensiv-Kriege völlig berechtigt halten müßte.“ Auch im Bündnisfall müsse „dieser Bundesgenosse [in] ungerechter Weise zuerst angegriffen worden“560 sein, damit dieser Krieg als ‚gerecht‘ betrachtet werden könne. Auch hier war Knoblauch bewusst, dass diese Bedingung zur Manipulation einladen konnte, da er eine russische, an Schweden gerichtete, „geforderte Hülfe an Landtruppen und Kriegsschiffen“ erwähnt, die von der „jetzige[n] Schwedische[n] Regierung“561 unter Berücksichtigung des von Knoblauch angesprochenen Grundsatzes abgeschlagen worden sei. Aus Knoblauchs knappen Artikel geht hervor, dass er eine Versammlung, die aus legitimen Vertretern aller Bevölkerungsteile zusammengesetzt sein sollte, um damit den Willen der gesamten Bevölkerung widerzuspiegeln, als die Grundlage einer gerechten politischen Ordnung betrachtete. Entscheidungen, welche die Zukunft und den Fortbestand eines Landes und seiner Gesellschaft betrafen, sollten – statt 558 559 560 561
Vgl. Kapitel 3.4.2.2. Ebd., S. 172, Hervorh. i. Orig. Ebd., Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 172 f.
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in einer fürstlichen Regierung – alleine in dieser Versammlung unter Beachtung des allgemeinen Willens gefällt werden. Aus seinem vehementen Plädoyer für eine parlamentarische Ordnung macht er deutlich, dass er die Befugnisse einer monarchischen Exekutive beschnitten und zurückgedrängt sehen wollte. Hierbei geht Knoblauch sogar soweit, die Entscheidungskompetenz eines solchen fürstlichen Rates in Frage zu stellen: Ein Beschluss, der sich nach dem allgemeinen Willen des Volkes zu richten habe, werde mit höherer Wahrscheinlichkeit in einer Versammlung aus Vertretern des gesamten Volkes getroffen, statt in einem Kabinett. Da das Interesse einer Nation keine Arkanwissenschaft darstelle, die – wie nach Knoblauchs Aussage gerne behauptet werde – nur fürstliche Minister durchschauten, könne eine alle befriedigende Entscheidung auch von den Vertretern gefasst werden. Dies sei besonders dann der Fall, wenn die Bevölkerung nach Knoblauchs Forderung besser und umfassender gebildet und das Staatsrecht wie auch die Politik nicht vor ihnen verheimlicht würde. Durch diese breite öffentliche Bildung und der umfassenden und freien Information über politische Begebenheiten könne selbst eine so schwierige Frage über Krieg oder Frieden von der gesamten Bevölkerung entschieden werden. Gerade im Falle eines Krieges, der von Knoblauch ausschließlich als defensives Handeln akzeptiert wurde, bestand nach seiner Überzeugung eine besondere Notwendigkeit, die allgemeine Meinung des gesamten Volkes zu erfahren, da hier einerseits auch der Bestand des ganzen Landes in Gefahr gebracht werden könnte und andererseits der Staatsschatz, der von allen zusammengetragen wurde, im schlimmsten Falle aufgebraucht würde. Auch wenn aus Knoblauchs Ausführungen kein systematisches Bild einer idealen Staatsvorstellung hervorgeht und von ihm auch kein Entwurf einer Verfassung zu erwarten war, wird dennoch deutlich, dass er ein parlamentarisch-demokratisches System als politische Grundlage eines Landes befürwortete, das sich in einer Republik, aber auch in einer konstitutionellen Monarchie umsetzen ließe. Die Entscheidungen sollten jedoch keinesfalls von einzelnen Personen, sondern ausschließlich von denjenigen getroffen werden, die im Besitz der Souveränität – oder in Knoblauchs Worten: der ‚reellen Majestät‘562 – waren: dem Volk. Andreas Riems Konzept von Pöbel- und Bürger-Republiken Auch wenn Andreas Riem Revolutionen ablehnte, sofern in einem Land ein Fürst herrschte, der alle freiheitlichen Rechte seiner Bürger beachtete und schützte,563 lässt sich daraus keine pauschale Befürwortung einer Monarchie ableiten. So führte er 1797 in seiner Reisebeschreibung durch die Niederlande an, sein eigener politischer Grundsatz laute, dass „[e]ine jede Regierungsform, wo nach guten Gesetzen geherrscht [werde], gut sei“. Hierbei sei es egal, ob diese Regierungsform als ‚Republik‘ oder als ‚Monarchie‘ bezeichnet werde, da es „[d]em vernünftigen Cosmopo562 Vgl. Kapitel 3.4.2.1. 563 Vgl. Kapitel 3.4.2.1.
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liten“ lediglich darauf ankomme, „[f]rey unter guten Gesetzen zu seyn.“564 Während Riem also einer Königsherrschaft, die nach aufgeklärten Maßstäben zufriedenstellend die Bürgerrechte schützte, nicht abgeneigt gegenüberstand, äußerte er sich – wenn auch verstreut in seinen Schriften – ebenfalls dazu, wie seiner Ansicht nach eine ideale Demokratie gestaltet sein müsste. Auch hier sind diese Aussagen erneut eng mit Riems auf Instrumentalisierung abzielender Argumentation verwoben, mit welcher er als politischer Publizist versuchte, vor allem auf die öffentliche Meinung im deutschsprachigen Raum einzuwirken.565 Wie aus seinem Reisebericht durch die als ‚Batavische Republik‘ bezeichneten revolutionären Niederlande hervorgeht, betrachtete es Riem als grundlegend, dass in einem republikanischen Staat verschiedene politische Interessensgemeinschaften miteinander konkurrierten. Eine solche Konkurrenz um die richtigen politischen Konzepte sah er in den Niederlanden nicht gegeben, weshalb er bedauernd feststellte: „Welch ein trauriges Ding ist es um Republiken ohne Faktionen566 und Partheien!“567 Diese positive Einschätzung Riems hebt sich von der verbreiteten Meinung gegenüber Parteien, parlamentarischen Fraktionen und Faktionen innerhalb der Gesellschaft ab. Parteien wurden seit der Antike bis in das 19. Jahrhundert hinein meist als Faktor der Uneinigkeit oder Unruhe und damit als große Gefahr für den inneren Landesfrieden angesehen.568 Dieser Meinung folgte auch Johann Christian Schmohl, der neben Söldnern, „Tyrannen- und Sklavensinn“ auch „Uneinigkeit und Partheyen im Volk“ als „die wichtigsten Beförderungsmittel und Ursachen der förmlichen gesetzgebenden Monarchie“569 ansah. Daneben kann als beispielhaft für die verbreiteten negativ-skeptische Bewertungen von Parteien die Meinung David Humes herangezogen werden. Dieser ging in seinem Essay Über Parteien im allgemeinen davon aus, dass politische Parteien nie oder nur schwer zu einem Konsens fähig seien und es ihnen kaum möglich sei, eine politische Niederlage hinzunehmen, ohne direkt zu oppositioneller Gewalt zu greifen, um trotzdem die eigenen Prinzipien 564 Riem: Reise, Holland 2 (wie Anm. 513, S. 96), S. 407, Hervorh. i. Orig. 565 Vgl. Kapitel 3.4.2.1. 566 Mit ‚Faktionen‘ werden von der Parteilinie abweichende Strömungen innerhalb einer Partei bezeichnet. Hierunter fallen beispielsweise Parteiflügel, aber auch weniger organisierte Gruppierungen. 567 Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 46. 568 In der Antike gruppierte man sich in Versammlungen meist in Abhängigkeit zu den jeweils diskutierten Sachfragen, um weiterhin seine persönliche Freiheit zu bewahren. Parteien als fester Zusammenschluss wurden als Gefahr für das Gemeinwesen erachtet, da man ihnen nachsagte, dauerhaft Zwietracht zu säen. Die Bildung von größeren und kleineren Parteien gegen Ende der Römischen Republik wurde von den Zeitgenossen als Missstand wahrgenommen. Die Einschätzung, dass sich in Parteien eine Gruppe von Menschen von der Allgemeinheit abgrenzte und somit auf verschwörerische Art ein Ziel zu erreichen versuchte, blieb bis in die Frühe Neuzeit bestehen. Vgl. hierzu: Christian Meier: Die parlamentarische Demokratie. München 1999, S. 136–140. 569 Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 160.
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durchsetzen zu können: „Wer meint, daß ein Mann oder eine Familie das wahre Anrecht auf Regierungsgewalt habe, wird schwerlich einem Mitbürger zustimmen, der dieses Recht einem anderen Mann oder einer Familie zuspricht. Jeder möchte natürlich, daß Recht gemäß seiner eigenen Vorstellung davon geschehe.“570 Eine rein republikanische Regierungsform müsste daher bei jeder Wahl aufgrund der Uneinigkeit der Parteien unweigerlich zu einem Bürgerkrieg führen und „schließlich nach vielen Erschütterungen und Bürgerkriegen Ruhe in einer absoluten Monarchie finden, die wir besser und friedlicher gleich zu Beginn hätten errichten sollen.“571 Riem sah hingegen die „Nichtexistenz fester Partheien“ als „eine Art von Unordnung“572 innerhalb einer parlamentarischen Versammlung an. In einem parteilosen Parlament folge jeder Abgeordnete „nur dem momentanen Eindrucke jede[s] Augenblick[s]“573 und lege sich nicht auf eine eindeutige politische Position fest. Dies führe zu dem Nachteil, dass es „gewöhnlich so viele besondere Meinungen über einen und denselben Gegenstand der Tagesordnung als Repräsentanten“ gebe. Müsse nach einer solchen Diskussion ein Beschluss gefasst werden, wisse „der Präsident oft selbst nicht, was er zum Apell-Nominal vorschlagen“ solle, da es zu viele verschiedene Forderungen gegeben habe. Die Geschäfte des Parlamentes würden hierdurch „langsamer abgemacht“ und gerieten während „der Discussion in Verwirrung“.574 Hierdurch verginge oft „eine ganze Sitzung“ durch die „bloße[] Ausmittlung der Frage, wie die vorzunehmende Sache zu stellen sey“ und damit ginge „[a]lle republikanische Energie […] durch dieses große Uebel verlohren.“575 Bei seiner Argumentation lehnt Riem jedoch nicht pauschal die politische Diskussion ab und stellt einen politischen Konflikt nicht generell als eine gefährliche 570 David Hume: Über Parteien im allgemeinen. In: Ders.: Essays 1 (wie Anm. 36, S. 9), S. 51–60, hier S. 56. 571 Ders.: Zur Frage (wie Anm. 36, S. 9), S. 49 – Hume unterteilte in seinen Schriften drei Arten von Parteien: „Bei realen Fraktionen kann man solche aus Interesse, aus Prinzip und aus Affekt unterscheiden.“ (Ders.: Parteien (wie Anm. 570), S. 55). Bei Parteien aus Interesse handele es sich beispielsweise um verschiedene Stände, die jeweils unterschiedliche Interessen verfolgten. „Parteien aus Prinzip, insbesondere abstrakten spekulativen Prinzipien, sind nur aus der Moderne bekannt und vielleicht die außergewöhnlichsten und unberechenbarsten Erscheinungen, die in menschlichen Angelegenheiten jemals aufgetreten sind.“ (Ebd., S. 56). Bei diesen Prinzipien meint Hume sowohl politische Prinzipien – beispielsweise den Einsatz für bürgerliche Freiheit, die Einrichtung einer Republik oder die Stärkung der Monarchie – als auch Unterschiede im religiösen Glauben, wobei letztere Parteien sehr gefährlich seien: „Zwei Reisende auf einer Landstraße – der eine unterwegs Richtung Osten, der andere gen Westen – können leicht aneinander vorbei, wenn die Straße nur breit genug ist. Zwei Männer, die über gegensätzliche religiöse Prinzipien streiten, können einander jedoch nicht so leicht ohne Erschütterung passieren, obwohl man davon ausgehen kann, daß der Weg auch in diesem Fall breit genug wäre und jeder ohne Unterbrechung auf seinem eigenen Kurs fortfahren könnte.“ (Ebd., S. 56 f.). Parteien aus Affekt bilden sich aus dem irrationalen Wunsch mancher Menschen, von einer bestimmten Person regiert zu werden, obwohl sie diese Person nicht kennen (Vgl. ebd., S. 59 f.). 572 Riem: Reise, Holland 1 (wie Anm. 506, S. 95), S. 50. 573 Ebd., S. 49. 574 Ebd., S. 50. 575 Ebd., S. 50 f., Hervorh. i. Orig.
3.4 Politische Ordnung
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Uneinigkeit innerhalb einer Gesellschaft dar. Stattdessen betont er, dass ein politischer und gesellschaftlicher Prozess nur aus einem „wohlthätige[n] Reiben der verschiedenen Kräfte zu einem Zwecke“576 hervorgehen könne. Eine derartige Vorstellung, dass ein Fortschritt nur durch das „Reiben des menschlichen Verstandes“ möglich sei, formulierte Riem bereits in seiner 1786 erschienenen Gedächtnißrede auf Friedrich den Einzigen, auch wenn er an dieser Stelle auf eine Entwicklung der Religion und nicht der Politik abzielte und für eine Pluralität der religiösen Meinungen warb. In seinem Reisebericht ist diese ‚wohltätige Reibung‘ eindeutig mit dem politischen Bereich verbunden. Damit dieser politische Prozess nicht „ein bloßes Disputieren über einen Gegenstand“577 darstelle, müsse es allerdings Parteien geben. Unter diesen verstand Riem Vereinigungen, die „unter sich selbst für einen gemeinschaftlichen Zweck ein System“ entworfen haben und sich für dessen Durchsetzung „vereinigte[n], und verabredete[n]“.578 Hierdurch entsteht im parlamentarischen Prozess keine „Unordnung“ der verschiedenen Meinungen, sondern stattdessen eine zielführende Reibung mit erkennbaren Zielen, da die Abgeordneten der verschiedenen Parteien „übereinstimmend über ein entworfenes System zusammen halten“.579 Statt dass die Meinungen der Parlamentarier, die „so verschieden, als die Köpfe [seien], die sie vortragen“, ohne Parteien in alle möglichen Richtungen ausschweiften, können sie durch das gemeinsame Parteiziel ihre Anstrengungen „in einen oder zwei Centralpunkte zusammenfließen“ lassen. Diese „Vernünftigern“, die durch diesen „systematische[n] Gemeingeist“ beseelt seien, „den man Parthei nennen mag“,580 könnten so besser zum Vorteil der Republik beitragen und handeln. Statt Parteien also zu verdammen, weil sie sich gegenseitig – mit Worten oder im schlimmeren Fall auch mit Taten – bekämpften, wird dieser Wettstreit für Riem zum Antrieb für gesellschaftlichen Fortschritt. Während seine Zeitgenossen beim Gedanken an streitende Parteien nur Zwietracht erkennen konnten, die ihrer Meinung nach unweigerlich zu einem Auseinanderbrechen der Gesellschaft und eines Landes führen musste, ist für Riem gerade dieser Streit ein Ausdruck der Stabilität. So war er sich schon 1795 mit Blick auf das revolutionäre Frankreich sicher, dass sich Parteien in einem republikanischen System „immer untereinander bekämpfen und aufreiben“ würden. Doch würde „eben dadurch […] die Republik erhalten werden“, da diese Streitereien „jenen Meeresstürmen ähnlich [seien], die den Ozean in Bewegung erhalten, daß er nicht ein unermeßlicher stinkender Sumpf werde.“581
576 577 578 579 580 581
Ebd., S. 50. Ebd., S. 50 f. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50. Ebd., S. 51. [Andreas Riem]: Politische Lage und Staatsintresse des Königreichs Preußen. Von einem Staatsbürger desselben. 2. Auflage. [Berlin] 1795, S. 66.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Im Gegensatz zu Johann Christian Schmohl, welcher ‚Demokratie‘ nach seinem Verständnis mit einer repräsentativen Republik gleichsetzte, differenzierte Riem zwischen zwei demokratischen Systemen: Einer direkten Demokratie, an welcher jeder Mensch unmittelbar teilnimmt und die er als ‚reine Demokratie‘ beziehungsweise pejorativ als „reine[n] Demokratismus, oder die Regierung des Pöbels“582 bezeichnet. Dieser stehe ein „Bürger-Demokratismus“ entgegen, eine „Regierung weiser und gerechter Bürger, die die Aristokratie des Standes eben so stark verabscheute, als den Vandalismus der Pöbel-Regierung“.583 Zu einer direkten ‚reinen Demokratie‘ sei es in Frankreich nach Riems Ansicht während der Terreur gekommen.584 Aufgrund der Gleichheit, die mit der damals herrschenden ‚reinen Demokratie‘ einherging, sei es auch jedem Menschen – den „Ehrsüchtigen“ wie den „Volksfreunden“ – möglich gewesen, „zu Aemtern zu gelangen“ in denen die Selbst- und Habsüchtigen „den Staat plündern und sich selbst bereichern“585 konnten. Das Volk, das „beherrscht werden“ müsse, habe nach Riems Meinung „nicht immer Verstand genug, seine Repräsentanten so zu wählen, daß es durch sie gut regiert werde.“586 Wenn es lange unter einem Monarchen gelebt habe, sei es meist noch zu ungebildet, „seine wahren Bedürfnisse zu kennen und nach ihnen seine Constitution zu beurtheilen.“587 Daher stellten „Wahlen und [die] Geschäfte in den Urversammlungen“, deren „Gang“ Riem aus eigener Anschauung in den Niederlanden „sehr genau“ gekannt zu haben angab, ein Problem dar: Hier behielten „[d]ie größten Schreier […] gewöhnlich das Feld.“ Auch fände „die Intrigue und Cabale leichtes Spiel“, sodass das Volk bei einer Wahl „im Grunde nichts [tue], sondern die Intriguanten alles.“588 Bei dieser Darstellung ist jedoch der Unterschied von einer Pöbel- zur BürgerRepublik, also einer nach Riems Ansicht wünschenswerten republikanischen Ordnung, nicht all zu groß, da sie sich lediglich darin zu unterscheiden scheint, wer auf dem politischen „Kampfplatze“ die Oberhand erlangt und „auf welche Seite sich das Volk oder der bessere Theil der Nation schlägt“.589 Wenn „die vernünftigen, wahrhaft für die Nation gesinnten, Männer in der größern Zahl“ sind oder diese es verstehen, „das Volk auf ihre Seite zu bringen, und für die gute Sache zu gewinnen“, kann selbst eine direkte ‚reine‘ demokratische Regierung, wie sie auch während ei582 Riem: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 186, Hervorh. i. Orig. – Bei dieser Bezeichnung ist interessant, dass das ‚reine‘ nicht wie im Falle von Riems eigenem Religionssystem (Vgl. Kapitel 3.1.2.2) und Materialismus (Vgl. Kapitel 3.1.2) mit einer positiven Bewertung einhergeht, sondern eindeutig als schlecht angesehen wird. 583 Ebd., S. 187, Hervorh. i. Orig. 584 Vgl. hierzu auch Kapitel 3.4.2.1. 585 Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 152, Hervorh. i. Orig. 586 Ders.: Reise, Holland 2 (wie Anm. 513, S. 96), S. 414. 587 Ebd., S. 414 f. 588 Ebd., S. 415. 589 Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 155, Hervorh. i. Orig.
3.4 Politische Ordnung
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ner Revolution Bestand haben konnte, „gut in ihren Erfolgen seyn“.590 Auch könne als Regulativ ein „Rath der Alten“ eingesetzt werden, der „mäßigen oder verwerfen kann, was die übereilte Hitze der Jüngern oft entwarf, u[n]d [die] der guten Sache oft schädlicher als nützlich ist.“591 Bei dieser Darstellung wird Riem vermutlich an eine Verfassung gedacht haben, die ähnlich gestaltet war wie die des französischen Direktoriums. Dessen Parlament war in zwei Kammern gegliedert, sodass neuen Gesetzen auch der ‚Rat der Alten‘ zustimmen musste, der aus 250 über vierzigjährigen, verheirateten oder verwitweten Männern bestand.592 Riem lobte das Direktorium in seinem 1798 erschienenem England-Reisebericht gerade aufgrund der „bürgerlichen Kammer der Alten“, welche „die Revision der Gesetze“ vornahm, die in England hingegen vom König, dem Oberhaus oder sogar den Ministern durch „das verderbliche Veto“ verhindert werden konnten. Dank der Direktorialverfassung gebe es in Frankreich „keine gebohrnen Alten oder Gesetz-Revisoren, die bereits im ein und zwanzigsten Jahre dasjenige mißbilligen können, was die alten Graubärte im Unterhaus nach vielen Debatten für Gut gefunden haben.“ Auch bestimme die Zugehörigkeit zur Exekutive, dem Direktorium, „kein Erbrecht irgend einer Caste“.593 Riem thematisierte die Direktorialverfassung nach seiner detaillierten Würdigung in seiner Reisebeschreibung von 1798 nicht mehr. Stattdessen lehnte er das Direktorium aufgrund des 1797 stattgefundenen Staatsstreiches als demagogisch und anarchistisch ab.594 Dennoch deutet seine Ausführung von 1799, ein Rat von Alten könne mäßigend auf die ‚hitzigen‘ Vorschläge jüngerer Abgeordneter wirken, darauf hin, dass seine positive Bewertung einer moderierenden Parlamentskammer weiterhin Bestand hatte. Wenn sich anstelle der von Riem favorisierten „bessern Freunde[] der Nation“595 – so vage und austauschbar diese Bezeichnung auch ist – die „Stolzen, Herrschsüchtigen und Geizigen“ durchsetzen, da man verpasst habe, „die Gesellschaften von dem Ueberspannten, dem Intriguanten, und dem Pöbelhaften“596 zu ‚reinigen‘, entwickele sich mit diesen die Republik in eine negative Richtung: Die von den ‚Besseren‘ geforderte Mäßigung wird hier vom „Enthusiast [als] Schwachheit“ desavouiert und „Beharrlichkeit und Festigkeit in den Beschlüssen [als]
590 Ebd., S. 154, Hervorh. i. Orig. 591 Ebd., S. 154 f. 592 Vgl. Kuhn: Französische (wie Anm. 718, S. 226), S. 126–128. – Aufgrund des Zensuswahlrechts und der zwischengeschalteten Wahlmänner, die nicht an die Wahlergebnisse der Aktivbürger gebunden waren, war die Direktorialverfassung jedoch „keine demokratische Verfassung mehr, wohl aber eine republikanische.“ Ebd., S. 126. 593 Riem: Reise, England 1 (wie Anm. 393, S. 77), S. 567, Hervorh. i. Orig. – Zu Riems pejorativer Verwendung des Begriffs Kaste für die verschiedenen Stände, vgl. Kapitel 3.2.2. 594 Zur Entwicklung von Riems Sichtweise des Direktoriums, vgl. Kapitel 3.4.2.1. 595 Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 154. 596 Ders.: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 188.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Diktatordespotismus.“597 Die von den Populisten verunglimpften „edelsten Bürger“ hätten daraufhin „die Gesellschaften“ verlassen, wodurch „Robespierres Helfershelfer – die Hefe des Volks, und der Auswurf der Nation“ in die Lage versetzt worden seien, die Gesellschaften „unter seiner Despotie“598 anzuführen. Durch seinen Verweis auf die Herrschaft der Jakobiner unter Robespierre scheint für Riem keine Notwendigkeit bestanden zu haben, die Struktur dieser von ihm als schlecht bewerteten ‚reinen Demokratie‘ weiter zu erläutern. Dass sie jedoch das konzeptionelle Gegenstück zu seiner ‚Bürgerrepublik‘ darstellt, geht deutlich aus seinen negativen Bemerkungen hervor: In dieser „Pöbelrepublik“ sind es schlicht „die Enragirten und Wüthenden“, die sich gegen „die Vernünftigen“ durchsetzen können und das gesamte Volk auf ihre Seite ziehen. Während in seiner idealen Republik „der Pöbel […] nie eine Stimme haben“599 dürfe, ist dies folglich in der ‚reinen Demokratie‘ der Fall. Um die Auswirkungen dieser negativ konnotierten Republik zu beschreiben, ruft Riem den Lesern „die unmenschlichen Greuel der Anarchie“ ins Gedächtnis, die den Zeitgenossen vermutlich schon längst vor Augen standen, wenn die Terreur der Jakobiner angesprochen wurde: „[D]ie Eiskeller von Avignon“, welche „mit zerhackten Leichen“ angefüllt gewesen sein sollen, die von Jean-Marie Collot d’Herbois (1750–1796) in Lyon befohlenen Massenerschießungen durch mit Kartätschen geladenen Kanonen oder die als „republikanische[] Hochzeiten“ bezeichneten Massenertränkungen in der Loire durch Jean-Baptiste Carrier (1756–1794), der hierdurch den ebenfalls von Riem verwendeten Beinamen „Wütherich[] Carrier“600 erhielt. Theoretisch hielt Riem eine reine Demokratie nur bei einer „aufs höchste moralisch gebildete[n] Nation“601 für möglich. Praktisch sah er die Verbreitung einer solchen moralischen Bildung jedoch als eine utopische und damit unerreichbare Vorstellung an: Eine derart gebildete Nation müsse „so über alles erhaben; so rein tugendhaft [sein], daß sie nicht einmal für den Himmel“ passen würde, „wie ihn die Theologen“ beschrieben. In dieser reinen Demokratie müssten selbst diejenigen mit den niedersten Berufen – „jeder Karrenschieber, jeder Hundepeitscher – jeder Schornsteinfeger“ – das gleiche Recht und vor allem die gleiche Kompetenz „zur Regierung des Staats haben.“602 Alleine die Auswahl der von Riem angeführten Berufe macht deutlich, dass er dies als unmöglich erachtete. Um seine Ablehnung und die von ihm angenommene Unfähigkeit dieser Menschen zu rationaler Politik erneut zu demonstrieren, führt Riem auch an dieser Stelle „Robespierre’s und Marats Vandalismus“ an, unter welchem „die Gerichtstellen mit Peruckenmachern u[n]d Ohnehosen jeder Art besetzt“ gewesen seien, welche „die 597 598 599 600 601 602
Riem: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 154. Ders.: Reise, Frankreich 2 (wie Anm. 527, S. 98), S. 188, Hervorh. i. Orig. Ders.: Reise, Frankreich 1 (wie Anm. 235, S. 142), S. 155, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 156, Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 177 f. Ebd., S. 178.
3.4 Politische Ordnung
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besten Helfershelfer der Tyrannen darstellten“, da sie alles zum Tode verurteilten, „was besser war, wie sie“.603 Nach der ‚reinen Demokratie‘ der Jakobiner sei Frankreich „zu einer Art von Aristokratie über[gegangen], welche das Recht des Bürgers allen denen versagte, die nicht lesen und schreiben“604 konnten oder kein Gewerbe betrieben. Auch seien alle, die keine Steuern zahlten, „alle Arme[n], alle, die um Lohn arbeiteten“ vom Bürgerrecht, „den Wahlversammlungen und den Aemtern in der Republik völlig ausgeschlossen“ worden. Diese Darstellung Riems lässt an dieser Praxis jedoch keine Kritik erkennen, da er diese Armen als diejenigen Menschen zusammenfasst, „die unter den Demagogen jene Werkzeuge waren, womit die Tyrannei der Despoten alles um sich her unterdrückte“,605 sodass ein entsprechender Ausschluss von allen Rechten der Bürger von ihm als gerechtfertigt und notwendig angesehen wurde. Für Riems politisches Menschenbild ist dabei bezeichnend, dass er den jeweiligen, an der Höhe der Steuerabgaben bemessenen Wohlstand einiger Menschen pauschal mit deren Befähigung zu ‚vernünftigen‘ politischen Entscheidungen gleichsetzt und ihnen damit zugesteht, als Bürger an der Politik teilzuhaben. Im Umkehrschluss hält er es für gerechtfertigt, dem weitaus größeren Teil der ärmeren Bevölkerung aufgrund ihres Mangels an Besitz, politische Unfähigkeit zu attestieren und sie zur Unmündigkeit zu verdammen: Da ihnen die entsprechende moralische Bildung fehle – die er jedoch den Wohlhabenden allein aufgrund ihres Wohlstandes zuspricht –, würden sie lediglich von Populisten und Demagogen verführt werden und wären zu keiner selbstständigen politischen Willensbildung fähig. Durch diese Argumentation überträgt er ihnen außerdem die Hauptlast an der Schuld der Terreur, da sie die Jakobiner gewählt und deren Herrschaft aktiv unterstützt hätten. Auf diese vereinfachte Gleichsetzung von Wohlstand mit rationaler Moral und Armut mit moralischer Unbildung lässt sich folglich Riems politisches Menschen- und Gesellschaftsbild reduzieren, das die Beschneidung der politischen Entfaltungsmöglichkeiten des als ‚Pöbel‘ diskreditierten ärmeren Teils der Gesellschaft legitimiert. Ob der eventuelle Mangel an moralischer und anderer Bildung dahingehend mit Armut verbunden gewesen sein könnte, dass sie einen Hindernisgrund für die Menschen darstellte, sich entsprechende Bildung anzueignen und folglich eine verbesserte Schulbildung das Problem des ‚Pöbels‘ hätte lösen können, thematisiert Riem – anders als Schmohl, Knoblauch und viele andere Aufklärer dieser Zeit – nicht. Da Riem eine entsprechend tiefgreifende Bildung aller Bevölkerungsteile sogar als utopisch verwirft, kann davon ausgegangen werden, dass er das bildungsferne Volk im Vergleich zu den ‚vernünftigen‘ Bürgern als feste Größe betrachtete, die auch weiterhin Bestand haben würde.
603 Ebd., Hervorh. i. Orig. 604 Ebd., S. 178 f., Hervorh. i. Orig. 605 Ebd., S. 179, Hervorh. i. Orig.
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3 Untersuchung: Radikale Kritik in den Werken der drei Aufklärer
Die Frage, ob Andreas Riem letztlich eine eingeschränkt-demokratische, von ‚vernünftigen‘ – also: wohlhabenden – Bürgern geführte Republik oder eine durch einen aufgeklärten Pater Patriae beherrschte Monarchie bevorzugte hätte, scheint sich für ihn in dieser Art nie gestellt zu haben. Sicher war er sich hingegen, dass eine – aus seiner Sicht – schlechte Republik, womit er eine direkt-demokratische ‚Pöbel-Republik‘ meinte, „einer guteingerichteten Monarchie vorzuziehen“606 sei. Im Falle einer Republik bezeichnete er ein an die Direktorialverfassung angelehntes System, bei welchem nur ein Teil der Bevölkerung eine Stimme haben sollte, als Demokratie – auch wenn sie das genau genommen aufgrund des Zensuswahlrechts nicht mehr war.607 Somit ist Walter Grabs Einschätzung, Riem sei Anhänger einer „radikaldemokratischen Überzeugung“608 gewesen, nicht haltbar. Riem plädierte dafür, dass das „Corps von Volksvertretern […] durch demokratische Ephoren sürvelliert“, also durch demokratisch gewählte Aufseher überwacht werden sollten. Hierbei verweist er auf einen gescheiterten Plan von Sieyès, der 1795 die Einrichtung einer jury constitutionnaire vorgeschlagen hatte, welcher unter anderem die Aufgabe zugedacht war, „die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu überprüfen und die von ihr für verfassungswidrig befundenen Akte für nichtig zu erklären.“609 Riem führte zwar an, dass eine solche Verfassung mit einer abwechselnden „aristokratische[n]“ – also bürgerlich-elitären – exekutiven Gewalt und streng überwachten Volksvertretern „nicht die beste zur Sicherung der Freiheit“610 darstellte. Aufgrund seiner Skepsis bezüglich der Bildungsfähigkeit der Bürger, schien ihm dies jedoch die einzig sicher durchführbare Form einer Republik zu sein: So könne man nicht davon ausgehen, „daß man auf ein Volk stoßen werde, das vollkommen genug gebildet [sei], um die Nützlichkeit solcher [politischer] Anordnungen einsehen zu können“,611 um mit ihnen einverstanden zu sein. Dass die Notwendigkeit von Gesetzen und Verordnungen nicht eingesehen würde, liege vor allem daran, dass man „leider in einer so unvollkommen gebildeten Welt [lebe], daß fast alles in ihr von“ entsprechend ungebildeten Gruppierungen bestritten werde. Dies sei selbst bei den „sogenannten Wahrheiten der Vernunftlehre“ der Fall, die „nie und nirgends unangefochten geblieben“ seien. Hierfür ver606 607 608 609
Riem: Reise, Holland 2 (wie Anm. 513, S. 96), S. 415. Vgl. Anmerkung 592 in diesem Kapitel. Grab: Riems Weg (wie Anm. 324, S. 69), S. 193. Friederike Valerie Lange: Grundrechtsbindung des Gesetzgebers. Eine rechtsvergleichende Studie zu Deutschland, Frankreich und den USA. Tübingen 2010 (Grundlagen der Rechtswissenschaft 16), S. 101 – Ausführlich zu Sieyès’ Plan der jury constitutionnaire, vgl. Gerhard Robbers: Emmanuel Joseph Sieyes. Die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit in der Französischen Revolution. In: Ulrich Thiele (Hg.): Volkssouveränität und Freiheitsrechte. Baden-Baden 2009 (Staatsverständnisse 29), S. 243–260. – Während Napoleons Konsulat wurde die jury constitutionnaire in veränderter Form mit dem sénat conservateur verwirklicht. Dieser kam jedoch seiner vorgesehenen Funktion als Organ zur Überprüfung von Gesetzen nicht nach. Vgl. Lange: Grundrechtsbindung (wie Anm. 609), S. 101. 610 Riem: Reise, Holland 2 (wie Anm. 513, S. 96), S. 415. 611 Ebd., S. 416.
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antwortlich sind ein weiteres Mal diejenigen, die nicht rational entscheiden, aber dennoch ihr persönliches Urteil als reine Vernunftschlüsse ansehen würden: „Die Menschen stehen allenthalben noch auf den untern Stufen der Kultur, so hoch und vollendet sie auch jedem Zeitalter vorkommen mag.“612 In einer derart unvollkommen gebildeten Welt müsse die Wahrheit stets als relative und subjektive Privatmeinung angesehen werden: „Die Vorurteile sind eben sowohl ein Reich der Wahrheit bei denen, die sie glauben, als es eine kritische Vernunftlehre bei denen seyn mag, die sie zu besitzen vermuthen.“ Hierdurch gebe es auch auf die Frage, ob nur einer oder doch besser viele herrschen sollten, obwohl doch „die Vernunft gewöhnlich in der Minorität“ sei, keine befriedigende Antwort. Stattdessen glaubte Riem, „daß nichts besser ist, als daß ein jeder da bleibe, wo es ihm am besten gefällt“ und dass „jede Verfassung“ geehrt werden solle, „die den Bürger nicht zum Sklaven macht.“613 Man solle sich in einem Land aufhalten, „wo entweder ein guter Fürst seine Unterthanen als Vater regier[e], oder in einer Republik, die mit wahrem Bürgersinn und Ehrfurcht gegen die Gesetze“ herrsche. Wer die beste Verfassung suche, werde „sie leicht da finden, wo er frohe und zufriedene Staatsbürger“ antreffen könne. Dennoch vermutet Riem auch hier noch einen Mangel an Bildung, da die Völker erst „[n]ach dem Ablaufe von Jahrtausenden vielleicht […] so gebildet seyn“ würden, dass sie durch „das Geschenk der Freiheit nicht“ direkt der „ungebundenste[n] Zügellosigkeit der Sitten“ verfallen und eine Monarchie „nicht mehr Despotismus und Knechtschaft zur Folge haben“614 würde. Sowohl von seiner Überzeugung der Nützlichkeit von parteipolitischer Reibung als auch von der toleranten Auffassung, jeder solle sich die Verfassung aussuchen, unter der er am liebsten leben wolle, scheint Riem in seinen letzten politischen Schriften abgerückt zu sein. So lobte er 1801 die Konsulats-Regierung unter Napoleon, die nach dem negativ bewerteten, als eigene Partei auftretenden Direktorium „keine herrschende Parthei“615 mehr gekannt habe. Unter dem Konsulat hätten nur noch „Talent und Einsicht“ den Anspruch „auf öffentliche Achtung und Theilnahme an Aemtern“616 garantiert. Hier habe „[d]er Patriot“ sich nicht mehr – wie innerhalb einer Parteiorganisation – auf „das Wohl einer Korporation oder Gesellschaft“ konzentriert, sondern stattdessen auf „das Ganze.“617 Statt sich in Parteien zu organisieren und durch parlamentarische ‚Reibung‘ zum politischen Diskurs beizutragen – was Riem Mitte der 1790er-Jahre noch ausdrücklich befürwortet hatte – wird dieser Streit nun von Riem als „Zerstreuungspunkt des Faktionsgeistes“618 diskreditiert: „[D]er Partheigeist“ wirke lediglich „auf sich selbst“ sowie „auf Gleichgesinn612 613 614 615 616 617 618
Ebd. Ebd. Ebd., S. 417. Riem: Reise, Frankreich 3 (wie Anm. 530, S. 98), S. 329. Ebd., S. 329 f. Ebd., S. 330. Ebd., S. 331.
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te“ und verbreite daher hinter sich den „Geruch des Grabes und der Verwesung.“619 Die patriotischen, nicht in Parteien organisierten Bürger würden hingegen „einen Streit“ vergessen, „der keine Vortheile“ gewähre. Stattdessen würden sie „sich zum gemeinsamen Plane des ächten Patriotismus, der wohlthätigen Kraftäußerung“ zusammenschließen, wodurch „[d]er getheilte Staat […] ein einziger“ werde und „[d]ie Feindschaften“ in dem Verhältnis abnehmen könnten, „als der Geist der Faktionen erlischt“.620 Riem selbst glaubte, als „ächte[r] Philosoph“ keiner Partei angehören zu können, sondern „nur der Wahrheit“. Während er zuvor Parteien gerade deshalb begrüßte, weil sich in ihnen unterschiedliche Menschen zum Erreichen eines gemeinsam gesteckten Zieles zusammentaten, verrät nach seiner 1801 geäußerten Ansicht „[d]as Anhängen an eine Parthei […] einen kleinen subordinirten Geist.“621 Hiervon müsse jedoch „ein großer Mann“ und Politiker unabhängig sein: Seine Talente dürften „durch keine Schranken, die dem Guten widerstreben, begrenzt“ sein. Er müsse „im Umfange des allgemeinen Ganzen, ohne Hinderungen nach allen seinen Linien und Richtungen frei“ wirken können und – was beinahe als Reminiszenz an den ‚Sonnenkönig‘ Ludwig XIV. verstanden werden könnte – „wie die Sonne des Himmels“ seinen Weg gehen, um „einen Tag wie den andern, wohlzuthun und zu erwärmen alles was lebt und beglückender Wirkungen“622 bedürfe. Diese, aus Riems Sicht begrüßenswerte Politik habe „das gegenwärtige Gouvernement“ unter Napoleon aufgegriffen und daher zur „Vereinigung der Bürger des Staats, den einzigen richtigen, und den von dem vorigen gewählten entgegen gesetzten Weg“623 eingeschlagen. Statt einer Bürger-Republik, in der einige, als ‚vernünftig‘ angesehene Bürger in Parteien organisiert in einem parlamentarischen Prozess den allgemeinen Willen aushandelten, bevorzugte Riem 1801 also einen charismatischen, unbeschränkten Herrscher, wie er ihn in Napoleon – „mit dem größten Helden aller Zeiten“624 – zu erkennen glaubte. 3.4.4 Zwischenfazit: die politische Ordnung Auch wenn sich alle drei Aufklärer auf den Grundsatz hätten einigen können, dass ‚Gerechtigkeit‘ eine der wichtigsten Grundlagen des Staates darstelle, wären sie wahrscheinlich bei der genaueren Bedeutungsdefinition dieses Begriffs uneins gewesen: So war für Johann Christian Schmohl die Gerechtigkeit unmittelbar mit der Gleichheit aller Bürger verbunden, wobei er dies nicht lediglich auf eine Gleichheit vor dem Gesetz reduzierte – einer Aussage, der auch Andreas Riem und Karl von 619 620 621 622 623 624
Riem: Reise, Frankreich 3 (wie Anm. 530, S. 98), S. 333. Ebd., S. 331. Ebd., S. 332. Ebd., S. 333. Ebd., S. 333 f. Ebd., S. 54.
3.4 Politische Ordnung
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Knoblauch zugestimmt hätten. Stattdessen führte nach seiner Theorie jegliche Ungleichheit – und nicht nur eine juristische Ungleichbehandlung – zu einem gesellschaftlichen Ungleichgewicht und dadurch zwangsläufig zu Ungerechtigkeit. Hierbei bewertete er eine ‚natürliche‘ Ungleichheit, also die Unterschiedlichkeit angeborener Kräfte, als zu gering, als dass sie sich auf das Zusammenleben der Menschen hätte auswirken können. In seinen Augen war es die ‚künstliche‘ Ungleichheit in Form von Besitz und Reichtum, die dafür sorgte, dass sich jemand zu einem Herrscher über andere Menschen aufschwingen konnte. Das deutlichste Merkmal für eine aus dieser Ungleichheit entstandene Ungerechtigkeit war für Schmohl, dass Gesetze – und hier besonders die Steuergesetze – nicht mehr von allen Familienoberhäuptern eines Landes, sondern von einer einzelnen und von diesen Oberhäuptern unabhängigen Macht gegeben wurden. Durch eine solche Gesetzgebung wurden nach Schmohls Ansicht die Menschen in Nordamerika durch ein ungleiches Machtverhältnis in ihrer Freiheit beschnitten, sich an der öffentlichen politischen Willensfindung zu beteiligen. Deshalb stellte er die Unabhängigkeitserklärung nicht als rebellischen Aufstand gegen einen legitimen Herrscher dar, sondern als Wiederherstellung der ursprünglichen und gerechten Ordnung, nach der das gesamte Volk eines Landes in seiner Gesamtheit den Staat bildete und dessen Gesetze bestimmte. Detailliert führte er aus, in welchen Stufen und unter welchen Bedingungen die Macht von den Bürgern auf die Herrscher übertragen wird. Missbrauchten diese Herrscher nun die ihnen anvertraute Macht, ergab sich für die Bürger, welche in ihrer Summe die Souveränität in sich vereinigten, geradezu die Pflicht, einen gerechteren Herrscher und ein gegen Missbrauch gesichertes politisches System zu suchen. Im Gegensatz zu den meisten deutschsprachigen Beobachtern, welche die Amerikanische Unabhängigkeit zwar wahrgenommen hatten, aber nur im Bezug auf den Soldatenhandel mit Großbritannien kommentierten, hebt sich Schmohl schon alleine aufgrund seiner ausdrücklichen Parteinahme von einem Großteil seiner Zeitgenossen ab. Bezeichnend ist hierbei die Reaktion Johann Georg Hamanns, der Ueber Nordamerika und Demokratie nur deswegen kaufte, da ihm gesagt wurde, es sei von seinem Freund, der unter dem Decknamen Becker einige Zeit bei ihm gewohnt hatte. Ansonsten hätte er, wie er Johann Friedrich Reichardt brieflich mitteilte, ein Buch zu Nordamerika oder zur Demokratie niemals gekauft: „Das erste ist ganz gleichgiltig [sic] für mich, und das zweite hatte auch nicht viel Reiz.“625 Abgesehen von seiner ausdrücklichen Parteinahme, zu deren Bestimmtheit mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Schmohls Entschluss beigetragen haben mag, den europäischen Kontinent zu verlassen, ist auch seine inhaltliche Argumentation bemerkenswert, da er ausdrücklich von der politischen Souveränität aller Bürger ausgeht und somit monarchische Herrscher – wie bereits oben angerissen – per se als Usurpatoren dieser souveränen Macht betrachtet. Somit entwickelte sich für 625 Hamann: Briefwechsel. Bd. 4 (wie Anm. 45, S. 22), S. 390.
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Schmohl der Staat nicht nach dem Modell der Familie mit einem Oberhaupt an der Spitze, sondern aus dem gleichberechtigten Nebeneinander freier Oberhäupter aller Familien. Diese in Ueber Nordamerika und Demokratie ganz offen formulierte Position findet sich ansatzweise und etwas vorsichtiger formuliert schon in Schmohls früheren Werken und dort vor allem in seinem unveröffentlichten Manuskript Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie. Daher kann mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sich Schmohl schon vor seiner Flucht und vor der Veröffentlichung von Ueber Nordamerika und Demokratie damit auseinandergesetzt haben muss, wer seiner Ansicht nach ursprünglich im Besitz der politischen Macht eines Landes war und wie man sich eine solche Herrschaft aller souveränen Bürger vorzustellen habe. Da der Begriff der Gerechtigkeit für Schmohl, wie zu Beginn erwähnt, vor allem mit der größtmöglichen Gleichheit aller Bürger zusammenhing, stellte die Sicherung dieser Gleichheit – was damit gleichbedeutend mit der Sicherung der Gerechtigkeit war – nach Schmohls Vorstellung die wichtigste Aufgabe eines Staates dar. Hierdurch unterscheidet sich seine Ausführung nicht nur eindeutig von den Positionen Riems und Knoblauchs, sondern ebenfalls von der Sichtweise der meisten aufklärerischen Autoren, für welche ohne eindeutige Eigentumsrechte kein gerechter und freier Staat gewährleistet sein konnte. Da für Schmohl jedoch aus ungleich verteiltem Besitz auch eine ungleiche Verteilung von Macht folgen musste, was nach seiner Theorie unweigerlich zur Beschneidung der Freiheit der meisten Menschen geführt hätte, war eine staatliche Kontrolle der allgemeinen Besitzverteilung eine unbedingte Notwendigkeit zur Sicherung staatlich gewährter Gerechtigkeit. Hierbei handelte es sich zwar nicht um eine Forderung nach Abschaffung des Privateigentums wie sie sich bei Carl Wilhelm Frölich finden lässt. Dennoch stellte Schmohls Konzept der staatlichen Kontrolle und Regulierung des privaten Besitzes zur Sicherung der Freiheit – vor allem in den 1780er-Jahren – eine Ausnahme dar. So lässt sich im deutschsprachigen Raum ein vergleichbares Konzept mit ähnlich tiefgreifenden Forderungen erst nach Beginn der Französischen Revolution mit Adolph Freiherr Knigges 1791 erschienener Benjamin Noldmann’s Geschichte der Aufklärung in Abyssinien wiederfinden. Während sich Karl von Knoblauch weniger mit dem Entwurf einer idealen Staatsverfassung beschäftigte, machte er schon sehr früh und noch vor der Französischen Revolution die Erörterung der Menschenrechte zu seinem Thema. Während die naturrechtliche Beschäftigung mit den Menschenrechten – vor allem für einen studierten Juristen – in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nichts Außergewöhnliches darstellte, stechen auch hier Knoblauchs Texte aufgrund ihrer systematischen und tiefgreifenden Analyse hervor: So ist für ihn jedes menschliche Lebewesen unabhängig von seiner körperlichen Größe und Stärke, seiner Ethnie oder sozialen Herkunft im Besitz vollkommen gleicher, unteilbarer und unveräußerlicher Menschenrechte. Aufgrund seiner Existenz ist jeder Mensch berechtigt, sein Leben zu
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erhalten und zu vervollkommnen, was ihm von keinem anderen Menschen streitig gemacht werden dürfe. Hierbei ging Knoblauch weit über die materielle Existenz des Menschen hinaus und fasste unter ‚Vervollkommnung‘ ebenfalls Immaterielles, wie beispielsweise Bildung, die in Knoblauchs Texten in den 1790er-Jahren einen immer höheren Stellenwert einnahm. Mit der ausführlichen Betrachtung natürlicher, also unveräußerlicher Rechte ging auch die Frage einher, wie weitreichend die Gesetze eines Staates sein durften oder – wie am Beispiel von Erbschaften von Knoblauch dargestellt – auch sein mussten. Verbunden mit der übergeordneten Frage, was Willkür darstelle, beschäftigte sich Knoblauch in diesem Zusammenhang auch damit, wie detailliert die Gesetzestexte eines Landes ausformuliert sein sollten. Hierbei lehnte Knoblauch entgegen der Ende des 18. Jahrhunderts verbreiteten Meinung ein detailliert ausformuliertes Recht ab. Bei diesem stellte der Richter lediglich das ‚Sprachrohr‘ dieser Texte dar, was vor richterlicher Willkür schützen sollte, wie sie vor allem mit dem vorrevolutionären Frankreich verbunden wurde. Knoblauch bevorzugte hingegen ein Gesetzbuch mit einer überschaubaren Anzahl an einfach formulierten Gesetzen, die die Auslegung eines aufgeklärt gebildeten Richters nötig machten. Knoblauch versprach sich davon den Vorteil, dass die Gesetze aufgrund des geringeren Umfangs einfacher zu merken waren und dadurch auch eher eingehalten werden konnten. Zudem bestand für ihn auch bei ausführlich formulierten Gesetzestexten aufgrund der menschlichen Fehlbarkeit immer die Gefahr, dass diese Lücken aufweisen konnten, sodass letztendlich auch hier immer ein gewisser Grad an Auslegung nötig war. Diese Auslegung von vornherein Richtern zu überlassen, die durch die Philosophie der Aufklärung gebildete Menschen darstellten, sah Knoblauch daher als sinnvoller an. Zudem konnte durch eine solche richterliche Auslegung verhindert werden, dass ein Gesetz zum Machtinstrument eines einzelnen gesetzgebenden Herrschers missbraucht werden konnte. Durch das richterliche Auslegen konnte der Herrscher nicht mehr seinen persönlichen – und willkürlichen – Willen diktieren, den die Richter wortwörtlich wiederzugeben gezwungen waren. Andreas Riem sprach sich hingegen für das genaue Gegenteil aus und schloss sich damit der verbreiteten Meinung während der Französischen Revolution an: Um sich auf die größtmögliche Art vom französischen Ancien Régime abzugrenzen und den Einfluss von Privatinteressen auf die Rechtssprechung zu verhindern, sollte das Recht von jedem subjektiven Einfluss befreit werden. Im Sinne dieses regelrechten ‚Kultes der Unpersönlichkeit‘ lehnte Riem selbst den Akt der Begnadigung ab. Da eine Begnadigung nur einzelne Personen betreffen konnte, sah Riem hierin eine ungerechte Willkür liegen, da andere Menschen, die wegen des gleichen Verbrechens verurteilt wurden, nicht von der Begnadigung betroffen waren. Dass eine Strafe für eine Person aufgehoben werden konnte, die jedoch eine andere Person – möglicherweise aufgrund fehlender Beziehungen – absitzen musste, widersprach Riems Verständnis von Gerechtigkeit und offenbarte nach seiner Meinung Willkür und somit einen Mangel, der bei ‚ewig unabänderlichen‘ Gesetzen nicht auftreten
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durfte. Bedenkt man, dass Riem durch seine Verbannung aus Preußen selbst zum Opfer willkürlicher Rechtsauslegung beziehungsweise -beugung wurde, wird sein Insistieren auf die absolute Geltung und Unabänderlichkeit von Gesetzen nachvollziehbar. Im Bezug auf den Aspekt der Bestrafung sprach sich Knoblauch gegen die frühneuzeitliche Praxis der Arbeitsstrafe anstelle der Todesstrafe aus. Im Sinne des italienischen Rechtsphilosophen Cesare Beccaria und mit Blick auf seine eigenen Aussagen zur Unveränderlichkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte, plädierte Knoblauch für die absolute Achtung der menschlichen Würde auch im Bezug auf Verbrecher. Außerdem sollte immer eine gewisse Verhältnismäßigkeit zwischen Vergehen und Strafe gewahrt werden. Beide Anforderungen würden bei einer Arbeitsstrafe nicht gewährleistet, sodass es sich hierbei hauptsächlich um eine Methode handle, die unverhältnismäßig großes Leid verbreite. Gegen die Todesstrafe sprach sich Knoblauch in diesem Zusammenhang nicht aus, sondern erwähnte lediglich, dass hierbei ein wichtiger Zweck der Strafe, die Besserung des Bestraften, wegfalle. Riem hätte Knoblauch bei seiner Forderung, Strafen sollten immer im Verhältnis zur begangenen Tat stehen, wahrscheinlich zugestimmt: So kritisierte auch er im Bezug auf das britische Justizsystem, dass hier meist kein richtiges Verhältnis zwischen dem Verbrechen und seiner Bestrafung bestehe. Dies führe in den meisten Fällen lediglich dazu, die begangenen Verbrechen nur durch die unverhältnismäßige Bestrafung zu vergrößern. Während Riem zwar Begnadigungen als eine willkürliche Entscheidung ablehnte, befürwortete er hingegen, dass bei der Höhe der Strafe immer die jeweiligen Lebensumstände der Täter berücksichtigt werden sollten. Hierbei waren sich Riem und Knoblauch näher als im Bezug auf die Notwendigkeit der Auslegung von Gesetzen. Während Johann Christian Schmohl revolutionäre Aufstände gegen ungerechte Herrscher und Regierungen begrüßte und sich auch anstelle einer Monarchie eine demokratische Republik wünschte, äußerten sich Riem und Knoblauch im Bezug auf politische Aufstände zurückhaltender. So sprach sich Andreas Riem in seinen frühen Schriften eindeutig gegen Revolutionen aus. Er begründete dies damit, dass mit Blick auf das öffentliche Wohl immer die Rechte der Bewohner eines Staates gesichert und gewährt sein müssten, was er wiederum mit der Majestät des Herrschers verknüpfte. Hierdurch gelangte er zu der geradezu paradoxen Schlussfolgerung, dass selbst Tyrannen aufgrund dieser, die Gesetze garantierenden Majestät geachtet werden müssten und nicht gegen sie vorgegangen werden dürfte. Von dieser Meinung scheint sich Riem erst im Zuge der Französischen Revolution abgewandt zu haben. Entsprechend führte er drei Jahre nach ihrem Beginn vorsichtig an, dass ein revolutionärer Widerstand durch politische Missbräuche des Herrschers und fehlerhafte Verfassungen begründet werden könnte. Ausdrücklich im Bezug auf Revolutionen äußerte sich Riem jedoch erst nach seiner Verbannung aus Preußen: Nun führte er an, dass ein politischer Umsturz nie gerechte und weise
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Herrscher ereilen würde, sondern nur ungerechte Despoten. Wiederum mit Blick auf die eigene Ausweisung versuchte Riem darüber hinaus aufzuzeigen, welche Gefahr daraus entstehe, wenn alle ‚vernünftigen Patrioten‘ – wie es Riems Selbstwahrnehmung als preußischem Bürger entsprach – aus einem Land verwiesen würden: Dadurch sei es diesen ‚Vernünftigen‘ im Falle einer Revolution nicht mehr möglich, auf den unvernünftigen ‚Pöbel‘ mäßigend einzuwirken. Indem Riem Revolutionen als Folge einer ungerechten Herrschaft oder allgemein einer schlechten politischen Verfassung betrachtete, wird verständlich, weshalb er in seinen späten Schriften davon ausging, dass Revolutionen ursprünglich immer ‚von oben‘, von der Spitze einer politischen Ordnung ausgingen: Während unter einer guten Verfassung oder unter der Herrschaft eines gütigen und gerechten Monarchen eine Revolution Hochverrat darstellte und nach Riems Theorie vorbildlich regierte Untertanen auch niemals auf die Idee eines Aufstandes kämen, wird von ihm eine Revolution innerhalb einer Despotie als geradezu unausweichlich angesehen. Damit ein revolutionärer Staat nicht in Anarchie abrutsche, betont Riem, dass zu Beginn einer Revolution eine revolutionäre Interimsadministration eingesetzt werden müsse, um eine Grundlage an Gesetzen sowie deren Durchsetzung zu garantieren. Dies führt dazu, dass Riems Vorstellung eines idealen Revolutionsverlaufes eine geradezu utopische Revolutionsbürokratie vorsah: Diese sollte einerseits den gefährlichen ‚Pöbel‘ durch Gesetze einhegen und andererseits bis zur Beendigung der Revolution durch das Inkrafttreten einer neuen Verfassung alle gegenrevolutionären Agitationen unterbinden. Als Gegner der Revolution wurden von Riem pauschal adlige, geistliche oder einfach nur reiche Personen abgestempelt, deren zeitweise Internierung – bei ausdrücklichem Schutz ihres Besitzes – er als notwendig ansah. Im Gegensatz zu Riem beschäftigte sich Knoblauch sehr früh, wenn auch sehr kritisch mit der Französischen Revolution. Während er sich nicht als ausdrücklicher Gegner der Revolution auszeichnete, machte Knoblauch dennoch schon innerhalb des ersten Revolutionsjahres deutlich, welche schlimmen Folgen er aus einer revolutionären Anarchie erwachsen sah. Ähnlich wie Riem betrachtete Knoblauch folglich das Fehlen von gültigen Gesetzen und den bewährten Instanzen, um diese durchzusetzen, als große Gefahr für die Menschen und das Allgemeinwohl insgesamt. Er kritisierte auch in dieser frühen, beinahe noch als ‚friedlich‘ zu bezeichnenden Phase das revolutionäre ‚Laternisieren‘ als willkürliche Hinrichtungen, welche beim Abweichen von der führenden Meinung die Stelle der guten Argumentation einnehmen würden. Auch warb er für Verständnis, dass Adlige, denen Titel und Privilegien genommen wurden, welche sie – aus ihrer Perspektive – rechtmäßig zu besitzen glaubten, sich über diesen ‚Raub‘ beklagten. Dennoch scheint Knoblauch bereit gewesen zu sein, über diese Widrigkeiten hinweg zu sehen, wenn ein rasches Inkrafttreten einer neuen, besseren Verfassung nicht zu lange dauerte, da die Vortei-
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le, welche die Revolution mit der Überwindung des Ancien Régime mit sich brachte, von ihm als wertvoller eingeschätzt wurden. Hierdurch unterscheidet sich Knoblauchs Sichtweise der Revolution auch deutlich von der anfangs herrschenden Revolutionsbegeisterung in Deutschland: Während diese mit dem Verlauf der Revolution abebbte und sich vor allem mit der Hinrichtung Ludwigs XVI. – welche Knoblauch mit keinem Wort erwähnte – und dem Beginn der Terreur in ihr Gegenteil verkehrte, konnte Knoblauch durch seine tiefe Skepsis kaum desillusioniert werden. Aber auch wenn ihm der gegenwärtige revolutionäre Zustand missfiel, scheint Knoblauch auf längere Sicht optimistischer gewesen zu sein: So war er überzeugt, dass selbst der schlimmste Zustand der Anarchie vorübergehen müsse und möglicherweise die Enkel und Urenkel seiner Zeitgenossen in der Lage sein würden, die positiven Errungenschaften zu genießen, die aus dieser schlimmen Zeit erwachsen waren. Bezüglich seiner unmittelbaren persönlichen Zukunft war er jedoch nicht so optimistisch. So konnte er sich zwar als ‚Revolutionstourist‘ bei einer Rheinreise in die besetzte Pfalz und nach Mainz selbst ein Bild von den Auswirkungen der Revolution machen. Die Folgen des Krieges und der französischen Besetzung des Rheinlandes erlebte er jedoch auch in seiner Heimatstadt Dillenburg. So beklagte er beispielsweise die Teuerung der Lebenshaltungskosten, an welche sein Gehalt nicht angepasst wurde. Viel schwerer wogen für ihn jedoch die Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit als Bürger und Aufklärer. Diese spürte er in Form der Überwachung seiner Korrespondenz mit Jakob Mauvillon, des Prozesses gegen seinen Freund Georg Friedrich Werner und der durch die Zeitschrift Eudämonia initiierten Verleumdungskampagnen gegen die Mitglieder der Deutschen Union. Knoblauch befürchtete, dass es sich hierbei lediglich um den Beginn einer restriktiveren Politik vor allem gegen aufgeklärte Schriftsteller handeln könnte. Diese wurden, wie er gegenüber Mauvillon beklagte, seiner Ansicht nach gerade deswegen für den Ausbruch der Französischen Revolution verantwortlich gemacht, weil sie beinahe prophetisch auf die Missstände aufmerksam gemacht hätten, die in Frankreich zur Revolution geführt hätten: unterdrückende Despotie, mangelnde Freiheit und Toleranz sowie generelle Ungerechtigkeit. Diese Problemfelder seien durch die Aufklärer aufgezeigt, aber von den Herrschern und ihren Beratern nicht wahrgenommen worden. Daher sei die Verantwortung für die Revolution – und mögliche Revolutionen der Zukunft – eindeutig nicht bei den aufgeklärten Schriftstellern, sondern bei den ignoranten Herrschenden zu suchen. Indem diese jedoch die Schuld nicht sich, sondern den Schriftstellern gaben, war auch zu erwarten, dass eventuelle Maßnahmen vor allem die Aufklärer treffen würden. Als Auswirkung des Krieges erlebte Knoblauch auch, was die Stationierung fremder Soldaten für die jeweiligen Länder und ihre Bevölkerung bedeutete. In diesem Zusammenhang scheint sich besonders seine Meinung des stehenden Heeres im Laufe der Revolution und der einhergehenden Kriege verändert zu haben. Während er anfangs das stehende Heer als eine Art ‚Schule der Nation‘ betrachtete, in
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welcher den Bauern die Unterwerfung unter die Gesetze antrainiert werden konnte, verkehrte sich auch diese Meinung in einem seiner letzten Artikel ins vollkommene Gegenteil: 1793 war Knoblauch nicht mehr davon überzeugt, dass das Militär den Bauern ‚Subordination‘ beibringe, sondern dass es sie lediglich zu willenlosen Sklaven mache. Entsprechend des höheren Stellenwertes, den aufgeklärte Bildung in Knoblauchs späten Texten einnahm, betonte er, dass den Menschen die Ehrfurcht vor dem Gesetz sinnvoller durch einen verbesserten Unterricht und eine zweckmäßige Erziehung – also insgesamt eine bessere Bildung – nahegebracht werden könne und solle: Wer seine Jugend zu vernünftigen Menschen bilde, könne sich das teure stehende Heer sparen. Auch bewertete Knoblauch 1793 das stehende Heer nicht mehr wie in seinen frühen Schriften positiv als einen Garant für die innere Ruhe eines Landes oder als Absicherung gegen fremde Überfälle, sondern als Werkzeug in den Händen eines Herrschers zur Unterjochung seiner Untertanen. Auch der wirtschaftliche Vorteil des stehenden Heeres in Form von Arbeitsplätzen zählte für Knoblauch in seinem späten Artikel nicht mehr: Wer arbeiten wolle, könne dies, so seine Einschätzung, für sich und die Allgemeinheit sinnvoller in der Landwirtschaft. Daher bliebe das Militär lediglich als Versorger für Adelssprösslinge bestehen, die aufgrund ihrer Menge nicht alle erben oder studieren konnten. Um auch dieses ‚Problem‘ zu lösen, plädierte Knoblauch – selbst Adelsspross und Erbe von Ländereien – schlicht für die Abschaffung des überflüssigen Adels: Wenn die Adelssprösslinge gezwungen seien, wie alle anderen Bürger für ihre Existenz zu sorgen, sei auch aus dieser Perspektive das stehende Heer nicht mehr nötig. Knoblauchs Forderung nach einer Abschaffung des stehenden Heeres hätte Johann Christian Schmohl zugestimmt: Er selbst bewertete die (stehende) britische Armee als Stütze der unrechtmäßigen Herrschaft Großbritanniens über Nordamerika. Statt eines solchen stehenden Heeres, das immer von Herrschern missbraucht werden konnte, bevorzugte er eine Armee, die ausschließlich aus Einheimischen bestehen und lediglich zur Verteidigung eingesetzt werden sollte. Auch Knoblauch betrachtete die Verteidigung gegen Angriffe auf den eigenen Staat oder auf einen Verbündeten als einzige legitime Voraussetzung für die Führung eines defensiven Krieges. Im Gegensatz zu Knoblauch legte Schmohl jedoch großen Wert auf eine durch Kriegsübungen militarisierte und kampftrainierte Gesellschaft, um allzeit zur Landesverteidigung gegen Angriffe auf die demokratische Verfassung bereit zu sein. Er scheint hierbei sehr stark von den Argumentationsmustern beeinflusst worden zu sein, die sich ebenfalls 1791 im zweiten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung niederschlugen und der bis heute das umstrittene Recht auf den Besitz und das Tragen von Waffen festschreibt. Auch wenn Andreas Riem die Abschaffung von Söldnerheeren forderte, sprach er sich nicht – wie Schmohl und Knoblauch – eindeutig gegen die Existenz stehender Heere aus. Er forderte lediglich deren Reduzierung auf ein vertretbares Maß, um im Falle eines Krieges die Bevölkerung eines Landes nicht all zu sehr
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zu dezimieren. Zudem sah er in großen stehenden Heeren die Gefahr eines Wettrüstens zwischen Nachbarländern, was durch die hohen Kosten einerseits einen wirtschaftlichen Nachteil bedeutet, aber andererseits auch die allgemeine Kriegsgefahr erhöht hätte. Hierbei könnte Riem von Kants 1796 erschienener Schrift Zum ewigen Frieden beeinflusst worden sein, wobei sich andere Anleihen dieser Schrift nicht in seinen Werken finden lassen. Im Bezug auf das Aussehen und die Struktur eines idealen Staates wären sich vermutlich alle drei Autoren nicht einig geworden. So schwebte Schmohl eine föderal geordnete demokratische Republik vor, bei der jeder wahlberechtigte Bürger von der kommunalen Ebene ausgehend bis hin zur höchsten Staatshierarchie teilhaben können sollte. Diese Partizipation sollte durch demokratisch gewählte Repräsentanten gewährleistet werden, worin Schmohl keinen die Demokratie einschränkenden und den Wählerwillen verzerrenden Widerspruch sah, wie ihn beispielsweise Rousseau populär anführte und der nur eine direkte demokratische Willensbildung als ‚wahre‘ Demokratie gelten ließ. Schmohl orientierte sich beim Entwurf seiner demokratischen Verfassung stark an der Römischen Republik. So übernahm er beispielsweise als Schutzmechanismus vor dem Missbrauch von Amtsimmunität das römische Prinzip der Annuität. Auch scheint seine Vorstellung der militärischen und zivilen Ämterstruktur an das republikanische Rom angelehnt gewesen zu sein. Während wichtige Stellen in der Armee ausgelost werden sollten, was für Schmohl ein besonderes Merkmal von Gleichheit und Unparteilichkeit darstellte, war er in einem idealisierten Verständnis von Demokratie davon überzeugt, dass durch allgemeine und gleiche Wahlen nur die fähigsten Männer, welche sich die größten Verdienste innerhalb des Landes erworben hatten, in die jeweiligen Ämter gewählt würden. Für Andreas Riem scheint hingegen gerade der Aspekt der Wahlen dazu geführt zu haben, dass er einem demokratischen System skeptisch gegenüberstand. Für ihn war bei der politischen Bewertung einer Republik ausschlaggebend, wie groß bei Wahlen der Einfluss der als ‚Pöbel‘ bezeichneten Menschen ausfiel, die Riem zu einer großen Masse pauschalisierend zusammenfasste: Aufgrund eines geringen Einkommens und ‚niederer Berufe‘, was von ihm mit fehlender Bildung gleichgesetzt wurde, seien diese Menschen zu keiner selbstständigen politischen Entscheidung fähig und könnten deshalb von wenigen geschickten Politikern gelenkt und instrumentalisiert werden. Schafften es hierbei die von ihm als ‚schlecht‘ bewerteten Populisten, die laut Riem nur das eigene Interesse im Sinn hatten, diese Masse zu beeinflussen, entstand daraus eine ‚Pöbel-Republik‘. Zu einer solchen sei es während der Französischen Revolution unter der Herrschaft Robespierres gekommen, womit Riem im Sinne des zeitgenössischen Topos der Terreur 626 seinen Lesern stets die blutigen Auswirkungen einer solchen ‚Pöbel-Herrschaft‘ vor Augen zu führen 626 Vgl. hierzu: Martin: Repräsentationen der terreur (wie Anm. 30, S. 403).
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suchte. Schafften es hingegen die ‚besseren‘ Politiker, den ‚Pöbel‘ so zu beeinflussen, dass er sich auf ihre Seite schlug, erhielt man nach Riems Meinung hingegen eine gemäßigte und von ihm positiv bewertete ‚Bürger-Republik‘. Als ideale politische Ordnung scheint Riem hierbei vor allem an die Struktur der französischen Direktorialverfassung des Jahres 1795 gedacht zu haben. Diese schloss den von Riem skeptisch beäugten ‚Pöbel‘ aufgrund des Zensuswahlrechts von vornherein von der politischen Partizipation aus. Als positiv bewertete er darüber hinaus die kontrollierende und mildernde Funktion einer parlamentarischen ‚Kammer der Alten‘, welche dafür sorgen sollte, dass keine neuen Gesetze erlassen wurden, die der Verfassung widersprachen. Dies sollte nach Riems Meinung für eine strukturelle Sicherheit und Stabilität bei der Gesetzgebung sorgen. Eine vergleichbare Kammer, die neue Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit untersuchen sollte, lässt sich ebenfalls in Schmohls Konzeption einer idealen demokratischen Republik finden. Ebenfalls lassen Passagen in Schmohls Ueber Nordamerika und Demokratie erahnen, dass auch er nicht allen Männern in seiner idealen Demokratie das Wahlrecht zugestehen wollte. Gleichzeitig scheint jedoch die Gruppe dieser, auch von Schmohl als ‚Pöbel‘ bezeichneten Menschen nicht ganz so groß gewesen zu sein wie bei Riem. Dennoch fielen auch bei Schmohl Menschen darunter, die negativ bewerteten Handwerken und Berufen nachgingen. Welche Vorstellung einer politischen Ordnung Knoblauchs persönliches Ideal dargestellt haben könnte, lässt sich nur anhand vereinzelter, verstreuter Aussagen ermitteln. Dies scheint vor allem dem Umstand geschuldet zu sein, dass er – wie er im Bezug auf seine eigene Person etwas kokettierend hervorhob – nicht von der weit verbreiteten ‚Krankheit‘ befallen gewesen sei, die gesamte Welt in Sachen der Politik beraten zu wollen. Trotz dieser Zurückhaltung, die zu großen Teilen auch einer persönlichen Vorsicht geschuldet gewesen sein dürfte, kann aufgrund von Indizien darauf geschlossen werden, dass Knoblauch eine parlamentarische Demokratie als politisches System begrüßt hätte. So plädierte er in einem seiner letzten Artikel dafür, dass eine schwerwiegende Entscheidung, wie die, ob ein Land einen Krieg führen solle, nur vom gesamten Volk in einer parlamentarischen Versammlung getroffen werden könnte. In diesem Parlament sollten die demokratisch gewählte Repräsentanten, die den Willen des gesamten Volkes widerspiegelten und die Majestät – also die Souveränität – eines Landes darstellten, nach dem Mehrheitsprinzip ihre Entscheidungen treffen. Hierbei ähneln sich Knoblauchs und Schmohls Sichtweisen, da beide die Souveränität eines Landes beim gesamten Volk und nicht bei einem einzelnen Herrscher verorteten. Im Vergleich zu Schmohl und Riem scheint Knoblauch jedoch keine Ausnahmen bei der politischen Partizipation vorgesehen zu haben. Im Gegenteil scheint er alle Menschen bei einer entsprechend aufgeklärten und früh vermittelten Bildung in der Lage gesehen zu haben, eine rationale politische Entscheidung zu treffen. Trotz seiner knappen Beschreibung würde in diesem Fall Knoblauchs demokratisch-parlamentarisches Ideal verglichen mit den Ideen Riems und Schmohls die egalitärste
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Ordnung der drei Konzepte darstellen. Schmohls Konzept hätte hingegen – wäre es umgesetzt worden – vor allem durch seine strikte Gleichheitsphilosophie die größte politische und gesellschaftliche Veränderung mit sich gebracht. Andreas Riems politische Überzeugung zeugte hingegen eher von Skepsis, was eine breite politische Partizipation anbelangte. Einzig seine anfängliche Bewertung von Parteien, die durch ihren politischen Diskurs zum Fortschritt innerhalb eines Landes beigetragen hätten, hebt sich von der zeitgenössisch negativen Sichtweise auf Parteibildungen innerhalb der Gesellschaft ab. Da Riem jedoch nach seinen Erfahrungen während der Zeit des Direktoriums Napoleon als durchsetzungsfähigen, charismatischen Führer begrüßte, scheint er ebenfalls davon abgerückt zu sein, den Diskurs zwischen Parteien zu unterstützen. Stattdessen nahm er sogar von seiner Überzeugung abstand, auch der Herrscher eines Landes müsste sich einer Verfassung unterwerfen, die niemals willkürlich verändert werden dürfe, um die Bürger vor dem eigenen Staat zu beschützen. Dies scheint Riem im Falle Napoleons nicht mehr als nötig erachtet zu haben. Zusammen mit seinen Forderungen, die in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurden, hätte wohl Johann Christian Schmohls politisches Ideal für die größte politische wie auch gesellschaftliche Veränderung zugunsten des größeren, aber weitaus ärmeren Teils der frühneuzeitlichen Gesellschaft gesorgt. Bei einer konsequenten Umsetzung hätten hierbei die vormals höheren Schichten von ihrem übermäßigen Besitz abgeben müssen, damit sie nicht mehr – aber auch nicht weniger – als alle anderen Menschen besäßen. Ebenso hätten sie sich die politische Partizipation mit den anderen Bürgern teilen müssen. Ihr höherer Lebensstandard wäre damit zwar gesunken und auch ihr Einfluss auf das politische Geschehen geringer geworden; jedoch nicht geringer als der Standard und der Einfluss aller anderen Menschen. Dass Schmohl kompromissloser für eine umfangreiche Umverteilung von Reichtum und politischer Macht eintreten konnte, kann mit seiner Herkunft in Verbindung gebracht werden: So war er der einzige der drei Aufklärer, der aufgrund seiner kleinbäuerlichen Abstammung aus eigener Erfahrung wusste, was die Zugehörigkeit zur ‚niederen‘ Gesellschaft bedeutete. Zwar stellten diese Menschen den weitaus größten Teil der damaligen Gesellschaft dar, genossen jedoch das geringste Ansehen und konnten kaum politischen Einfluss geltend machen. Gleichzeitig erhielt er durch seine Begabung Zugang in höhere Schichten der Gesellschaft und Einblick in das Leben wohlhabenderer Menschen, wodurch ihm der Unterschied zwischen der ländlichen Bevölkerung, die zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit und den Abgaben noch Frondienste zu leisten hatte und einer höhergestellten städtischen Gesellschaft besonders deutlich bewusst geworden sein wird. Sein Plädoyer für eine Ausweitung der demokratischen Partizipation und der gleichmäßigeren und gerechteren Verteilung des Besitzes konnte Schmohl mit der Gewissheit vorbringen, dass es hierdurch auch der ‚niederen‘ Bevölkerung besser gehen würde.
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Karl von Knoblauch und auch Andreas Riem hätten dies vermutlich aufgrund ihrer Herkunft und ihrer damit verbundenen gesellschaftlichen Stellung anders bewertet. Als Adliger scheint Knoblauch zwar keinen Wert darauf gelegt zu haben, einen verhältnismäßig größeren Einfluss auf die Politik auszuüben als die durchschnittliche Bevölkerung, da er sich für eine repräsentative parlamentarische Mitbestimmung aller Bürger aussprach. Dies korrespondierte auch mit seiner Vorstellung von unteilbaren und unveräußerlichen Menschenrechten. Dennoch war Knoblauch als Vertreter einer liberalen Staatsidee davon überzeugt, dass die Aufgabe eines solchen Staates nicht in der Verhinderung von gesellschaftlicher Heterogenität, sondern vielmehr in deren Schutz – bei Garantie der gleichen Rechte des Individuums – bestehen konnte. Riem, der aus einem wohlhabenden Haushalt stammte und auch in Berlin einen entsprechenden Lebensstandard gehabt haben wird, sah den Erhalt des Eigentums ebenfalls als wichtige Aufgabe des Staates an. Da er jedoch anders als Knoblauch die politische Partizipation beschränkt sehen wollte, hätte es ihm sicherlich Probleme bereitet, den politischen Einfluss nicht nur in den Händen ‚vernünftiger Männer‘ – zu denen er auch sich selbst zählte – zu wissen.
4 Schlussbetrachtung In den Schriften von Johann Christian Schmohl, Karl von Knoblauch und Andreas Riem lassen sich bei detaillierter Analyse nur sehr wenige Themen finden, bei denen alle drei Aufklärer eine ähnliche Meinung vertraten. Ausnahmen stellen hierbei ihre Plädoyers für eine umfassende Toleranz und gegen den verbreiteten Aberglauben dar. Da beide Themenbereiche jedoch zu einem aufgeklärten Selbstverständnis zu zählen sind, ohne welches es schwer fiele, die drei Autoren als Aufklärer zu bezeichnen, verwundern diese Schwerpunkte nicht. Dennoch lassen sich auch hier Unterschiede finden: So ist besonders Johann Christian Schmohls Toleranzverständnis bemerkenswert, auf welches wiederum seine Zurückhaltung bei religiösen und philosophischen Themen zurückgeführt werden kann. Schmohl war davon überzeugt, dass alle menschlichen Überzeugungen – religiös wie areligiös – vor allem auf subjektive Anschauungen zurückzuführen seien. Hierdurch könne es keine richtigen oder falschen Meinungen geben, da jeder Mensch ausschließlich die eigene für die einzig wahre Überzeugung ansehen könne. Deutlich wird dies im Falle von Schmohls persönlicher, durch den Sturm und Drang geprägten Religionsvorstellung, die sich als private Gefühlsreligion durch ein besonderes Maß an Subjektivität auszeichnete. Sie war durch ihre subjektive Zusammenstellung nicht auf andere Menschen übertragbar und konnte nur von der Person verstanden werden, die für ihre Komposition verantwortlich war. Im Gegensatz zu Johann Christian Schmohls Rücksichtnahme aus Gründen der Toleranz sprachen sich Karl von Knoblauch und Andreas Riem vehement gegen die verbreiteten Religionsvorstellungen der damaligen Zeit aus. Bei der Kritik beider Aufklärer ist auffallend, dass sie sich nicht gegen eine bestimmte Religion oder Konfession wandten, sondern konsequent jede religiöse Vorstellung aufgrund der damit verbundenen Intoleranz und des religionsbedingten Aberglaubens als Gefahr für das menschliche Zusammenleben betrachteten. Knoblauch versuchte besonders mit dem Verweis auf nicht-christliche und außereuropäische Religionen und Bräuche, die aufgrund ihrer Fremdheit von vielen Europäern belächelt oder sogar abschätzig als minderwertig betrachtet wurden, den Christen zu demonstrieren, wie ähnlich – und damit genauso lächerlich – ihre eigenen christlichen Überzeugungen und Bräuche seien. Riem, der sich als studierter Theologe ausführlicher mit den Ursprüngen der monotheistischen Religionen auseinandersetzte, unterstellte sogar dem Christentum, aufgrund der von Jesus gelehrten Feindesliebe nur die Unterdrücker der Menschen und nicht die Unterdrückten zu unterstützen.
https://doi.org/10.1515/9783110693102-013
4 Schlussbetrachtung
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Beide Autoren entwickelten eigene Philosophien, die sie den religiösen Vorstellungen entgegensetzten und mit denen sie versuchten, rationale Antworten auf Fragen zu geben, die zuvor lediglich unbefriedigend von der Theologie beantwortet worden waren. Sie beriefen sich hierbei auf philosophische Theorien, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts populär waren. So wird schon in Knoblauchs ersten Artikeln deutlich, dass vor allem der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza einen besonders starken Einfluss auf seine philosophischen Konzepte hatte. Knoblauchs grundlegende Vorstellung von Substanz beziehungsweise Materie basierte während dieser Zeit auf der Annahme, dass ausgedehnte Körper nicht aus dem Nichts – also nicht aus etwas Unkörperlichem oder Unausgedehntem – entstehen könnten und man im Umkehrschluss Materie unendlich in immer kleinere Teilchen zerlegen können müsste. Im Laufe der 1790-Jahre veränderte sich Knoblauchs Meinung und die spinozistische Substanz-Theorie trat zugunsten einer ‚materialistischeren‘ Teilchen-Vorstellung in den Hintergrund: Spätestens ab 1792 sah es Knoblauch unter Rückgriff auf die Theorie des kroatischen Physikers und Mathematikers Rugjer Josip Bošković als möglich und wahrscheinlich an, dass aus unkörperlichen Punkten körperliche Materie entstehen könne: Als kleinste Einheit der Materie wurden hierbei unkörperliche Punkte angenommen, die trotz ihrer Unkörperlichkeit auf andere Teilchen nicht nur anziehend wirkten, sondern ab einer gewissen Nähe auch abstoßend. Auch wenn es Knoblauch nicht wissen konnte, wurde er somit zum Befürworter einer Theorie, die in den folgenden Jahrhunderten zu der Vorstellung beitrug, welche die heutige Physik von Atomen hat. In die Bereiche sowohl der Religionskritik als auch der philosophischen Erörterung fallen Knoblauchs ausführliche Überlegungen zur menschlichen Seele. So versuchte er anfangs vor allem zu beantworten, ob es so etwas wie eine Seele geben könne, wie sie vorzustellen sei und wo sie im menschlichen Körper gefunden werden könnte. Damit verbunden war für ihn ebenfalls die Frage, wie und vor allem wo das Denken – das nach der Philosophie Descartes’ zusammen mit der Seele in der unkörperlichen Sphäre des Geistes verortet wurde – stattfinde. Hierbei war Knoblauch davon überzeugt, dass das Denken eine Kraft darstelle, die emergent aus der speziellen Zusammensetzung des Gehirns entstehe und in Verbindung mit dem Gedä chtnis als Vergegenwä rtigung vergangener Eindrü cke das Bewusstsein beziehungsweise das ‚Ich‘ eines Menschen ergebe. Er führte damit das, was den Menschen als ein über seine eigene Existenz bewusstes Individuum ausmachte, alleine auf körperliche beziehungsweise biologische Faktoren zurück. Eine metaphysische Seele als Träger einer menschlichen Identität, die den biologischen Tod des Körpers überstehen könne, wurde von ihm somit ausgeschlossen. Die theologische Legitimation der monotheistischen Religionen war damit aus Knoblauchs Sicht obsolet. Andreas Riem bezog sich ebenfalls in seinen philosophischen Darstellungen auf den zeitgenössischen Materialismus. Auch lassen sich bei ihm – vor allem bei der Gleichsetzung der Gesamtheit alles Existierenden mit ‚Gott‘ – Parallelen zu Spino-
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4 Schlussbetrachtung
zas Philosophie finden, obwohl er sich – nach eigener Beteuerung – vehement von der spinozistischen Tradition abgrenzen wollte. Im Gegensatz hierzu bezeichnete er seine eigene Philosophie in seinem Neuen System der Natur ausdrücklich als ‚reineren Materialismus‘ und stellte sich damit direkt in die Tradition einer als ‚atheistisch‘ verschrienen Philosophie. In seinen philosophischen Werken folgte er größtenteils einer zeitgenössisch populären, materialistischen Interpretation des Spinozismus, wobei seine Innovation darin bestand, diese mit christlich-theologischen Begriffen zu verbinden. Dies sollte vermutlich die Anknüpfung überzeugter Christen an seine philosophisch ‚gereinigte‘ Religion erleichtern und sie zur Übernahme dieser Philosophie bewegen. Die Notwendigkeit hierzu bestand aus Riems Sicht in der Sicherstellung eines guten moralischen Verhaltens. Zwar war nach seiner Überzeugung der Ursprung der menschlichen Moral nicht in der Religion zu finden, sondern in einer von der Religion unabhängigen Quelle. Trotz dieser Unabhängigkeit konnte sich nach seiner Theorie eine Religionsvorstellung negativ auf die Moral der Menschen ausüben. Daher hielt Riem es für notwenig, diesen potentiell schädlichen Einfluss zu minimieren und präventiv durch eine ‚gereinigte‘ und philosophische Religionsvorstellung zu ersetzen, die eine entsprechend negative Beeinflussung verhinderte. Riem wie Knoblauch betrachteten den Menschen als Teil der Natur und gingen somit auch davon aus, dass jeder Mensch nur nach und nicht gegen die natürlichen Gesetze handeln könne. Knoblauch argumentierte hierbei streng materialistisch: Für ihn war ausnahmslos jede Handlung des Menschen durch die natürlichen Gesetze determiniert, sodass jede menschliche Entscheidung – gesetzt des unmöglichen Falles, man könne alle wirkenden natürlichen Einflüsse erkennen – ausschließlich durch die Naturgesetze erklärbar gewesen wäre. Diese Erkenntnis wertete Knoblauch zudem nicht wie viele Kritiker des Materialismus als pessimistischen Fatalismus, der keinen Platz für den freien Willen des Menschen lasse, sondern im Gegenteil äußerst positiv: Wenn man selbst bei schlimmen Taten der Menschen diese lediglich dem Gang der Natur zuschreiben könne und nicht einer bewussten menschlichen Bosheit, schütze dies vor Misanthropie. Der Natur, gegen deren Gesetze sich nichts und niemand widersetzen könne, könne man schließlich nicht zürnen. Auch nach Riems Vorstellung unterlag der Mensch vollkommen den Gesetzen der Natur. Dennoch sah er die Entscheidungen der Menschen nicht wie Knoblauch im Vorfeld als unumkehrbar determiniert an: Solange ein Mensch über seine Handlungsoptionen nachdenke, sei die letztendliche Entscheidung vollkommen offen. Erst wenn sich der Mensch für eine der Optionen entschlossen und deren Umsetzung eingeleitet habe, stehe seine Entscheidung unumkehrbar fest. Letztendlich ist Riem jedoch einem durch die Naturgesetze bedingten Determinismus, wie ihn auch Knoblauch vertrat, näher als er zuzugeben bereit war: Auch die jeweiligen Gründe, die von den Menschen zur Entscheidungsfindung abgewogen wurden, mussten ihren Ursprung in der Natur haben. Da hierbei nach Riems Ansicht im Sinne der gewichtigeren Argumente entschieden wurde, wäre die Entscheidung nach Knob-
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lauchs Darstellung – bei Wissen über die jeweiligen Gründe – schon im Vorfeld erkennbar. Eine ähnliche Argumentation verfolgte Riem selbst mit Blick auf seine Aussage, es gebe keine schlechten menschlichen Taten: Da sie nach den Gesetzen der Natur getätigt würden, stellten sie für den jeweiligen Menschen im Augenblick ihrer Entscheidung die einzig richtige Handlungsoption dar. Auch Riem legte in diesem Zusammenhang dar, dass selbst Taten, die man aus der persönlichen Perspektive als schlimm bewerte, verständlich und nachvollziehbar wären, würde man alle Gründe kennen, die einen Menschen zu dieser Handlung verleitet hatten. Als Triebfeder des menschlichen Handelns wie auch der menschlichen Moral betrachtete Knoblauch die Selbst- bzw. Eigenliebe der Menschen. Da auch sie von ihm als Teil der Naturgesetze angesehen wurde, war sie nicht negativ konnotiert, wie beispielsweise egoistische Selbstliebe, die nur auf den eigenen Vorteil abzielt. Am Beispiel der Liebe von Eltern zu ihren Kindern, welche oft als vollkommen uneigennützige und aufopfernde Liebe stilisiert wurde, verdeutlichte Knoblauch, dass es sich bei dieser Deutung schlicht um eine bewusste – ebenfalls der Eigenliebe entspringenden – Selbsttäuschung handele. Mit dieser Selbsttäuschung wolle sich der Mensch lediglich selbst ob seiner aufopfernden Uneigennützigkeit schmeicheln. Auf Grundlage der Eigenliebe sprach sich Knoblauch ebenfalls dafür aus, Verständnis für Menschen zu haben, die sich selbst töteten: Da die menschliche Angst vor dem Tod von ihm als sehr mächtig eingeschätzt wurde, war für ihn der Todeswunsch eines Menschen geradezu der Beweis für dessen übergroße physische oder psychische Leiden: Diese mussten weit größer als selbst die Angst vor dem Tod sein, damit ein Mensch zur Selbsttötung veranlasst werde. Für die Gesellschaft wäre es zudem angebrachter, diesen leidenden Menschen zu bedauern, statt ihn oder gar seine Familie zu verurteilen und damit das bestehende Leid nur zu vergrößern. Obwohl Knoblauch im Vergleich zu Riem weitaus strenger an die Position materialistischer und spinozistischer Philosophie anknüpfte und sich nicht nur auf Lukrez, Spinoza oder das anonym erschienene Traktat über die drei Betrüger berief, sondern auch ausführlich zeitgenössische Autoren wie Diderot, Holbach oder Helvétius zitierte, unterzog er deren Aussagen stets einer aufgeklärt-skeptischen Untersuchung. Während beispielsweise die französischen Materialisten die im 18. Jahrhundert bereits eindeutig widerlegte Hypothese der Urzeugungslehre aufgriffen, um die Entstehung des Lebens ohne göttliche Schöpfung erklären zu können, lehnte Knoblauch diese ab. Stattdessen betonte er zurückhaltend, dass die Entstehung des Lebens mit dem Kenntnisstand der damaligen Wissenschaft ein unauflösliches Rätsel bleiben müsse: Die atheistische Urzeugungslehre bezeichnete er ausdrücklich als ‚Unsinn‘ und lehnte auch eine göttliche Schöpfung vehement ab, da diese erfordere, an ein Wunder zu glauben. Ohne die Frage nach der Entstehung des Lebens beantworten zu können oder zu wollen, ging Knoblauch dennoch davon aus, dass es eine Zeit gegeben haben musste, in der keine Menschen – aber dennoch Lebewesen – existierten, aus denen sich wiederum die Menschen entwickelt hätten. Er bezog sich hierbei auf frühneu-
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zeitliche Theorien, die noch vor Darwins Evolutionstheorie von einer natürlichen Veränderung der Lebewesen ausgingen. Besonders war Knoblauch von der Vermutung des italienischen Zoologen Francesco Cetti angetan, der die Theorie aufgestellt hatte, dass es sich bei den sardinischen Mufflons um ausgewilderte Hausschafe handele. Analog hierzu vermutete Knoblauch, dass sich das Aussehen der Menschen ebenso mit der Zeit entwickelt habe. Als Vorläufer dieser Entwicklung des Menschen und damit als direkten Verwandten betrachtete Knoblauch den Orang-Utan. Diesen Anthropomorphen gestand er eine gewisse Intelligenz und Vernunft zu, die möglicherweise so hoch sei, dass sie sogar einige Menschen übertrumpfen könne. Knoblauchs Überlegung zur Entwicklung des Menschen stand nicht nur dahingehend mit seiner materialistischen Philosophie in Einklang, dass sie konsequent das mögliche Wirken eines übernatürlich-göttlichen Wesens ausschloss und sich stattdessen auf die Beobachtung der Natur beschränkte. Darüber hinaus bezweifelte Knoblauch stets die zentrale Stellung des Menschen innerhalb der Natur, die ihm aus Sicht der Theologie als ‚Krone der Schöpfung‘ zustehen sollte. Für Knoblauch stellte der Mensch innerhalb der Natur – wie er besonders bildlich in seinem Monolog einer Milbe verdeutlichte – nicht mehr als eine zufällige Kreatur dar, die sich aufgrund ihres beschränkten Blickwinkels und ihrer steten Konzentration auf die eigene Existenz hartnäckig einbildete, die Welt müsse sich ausschließlich um sie drehen. Durch diese Selbstzentrierung seien die Menschen auch nicht in der Lage gewesen, die eventuelle Vernunft eines Orang-Utans zu erkennen, da sich diese Vernunft von der menschlichen unterscheide und ihr somit die Legitimation pauschal – da nicht-menschlich – abgesprochen wurde. Während sich Schmohl mit religionskritischen Aussagen zurückhielt, beschäftigte er sich besonders ausführlich mit Fragen der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Auch wenn diese Themenbereiche in dieser Arbeit separat betrachtet wurden, waren sie in Schmohls Darstellungen meist eng miteinander verknüpft. Obwohl Schmohl nicht wie Knoblauch die Entwicklung des Menschen thematisierte, beschäftigte er sich dennoch ausführlich mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. In seinem unveröffentlichten Manuskript Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie stellte er detailliert dar, dass sich die Gesellschaft der Menschen in vier Stufen von den Jägern und Sammlern über Viehzüchter und Bauern bis zu den modernen Kulturen entwickelt hätte. Bemerkenswert ist Schmohls Artikel dahingehend, da er sich ausdrücklich dagegen aussprach, Kulturen einer frühen Entwicklungsstufe als minderwertig oder rückständig zu betrachten. Selbst die Bezeichnung dieser Völker als ‚Wilde‘ fand Schmohl problematisch, da ihr eine negative Wertung anhänge und man selbst als Angehöriger einer höher entwickelten Gesellschaft verglichen mit den ‚Wilden‘ nur ein kleines bisschen weniger ‚wild‘ sei. Wenn auch die Ausführungen gegen Iselin einerseits von einem harschen Ton gekennzeichnet sind, scheint es Schmohl hierbei weniger um eine vernichtende Kritik Iselins gegangen zu sein, als vielmehr um den Versuch, einen aufgeklärten
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Diskurs zu führen und mit Iselin über die von ihm kritisierten Positionen zu diskutieren. Diese Strategie scheint Schmohl ebenfalls bei seinen Antiphysiokratischen Briefen verfolgt zu haben. Andererseits wollte sich Schmohl vermutlich mit der Aufwertung von Jägern, Sammlern, Hirten und Bauern gegen ein Überlegenheitsgefühl der Bevölkerungsschichten wenden, die sich aufgrund ihrer vermeintlich aufgeklärten Bildung gegenüber anderen Menschen als überlegen betrachteten. Hierbei wird eine Rolle gespielt haben, dass auch Iselin zu den ‚gesitteten Ständen‘ zählte, deren Überlegenheitsgefühl gegenüber ‚niedereren‘ Menschen Schmohl missfiel. Schmohls generelle Gelehrtenkritik bestand vor allem darin, dass er dem aufgeklärten Diskurs und den ihn führenden Experten vorwarf, nichts von den Themen, mit denen sie sich befassten, aus praktischer Erfahrung zu verstehen. So wurde in seinen Augen die Volksaufklärung beziehungsweise die wissenschaftliche Beschäftigung mit landwirtschaftlichen Themen vor allem von Gelehrten bestimmt, die weder mit Landwirtschaft noch mit der ländlichen Bevölkerung vertraut waren. Er warf in diesem Zusammenhang den sogenannten ‚gesitteten Ständen‘ vor, nicht mit den Bauern kommunizieren zu können und generell die Landbevölkerung in ihren Fähigkeiten zu unterschätzen. Die Volksaufklärung zeichnete sich in seinen Augen vor allem durch die missglückten Versuche aus, den Bauern moderne und angeblich hilfreiche sowie fortschrittliche Methoden des Landbaus vermitteln zu wollen, über deren praktischen Nutzen wenig gesagt werden konnte oder welcher nicht ersichtlich war. Stattdessen sah er es als sinnvoller an, den Bauern neue Methoden und deren ökonomischen Nutzen praktisch zu demonstrieren, um sie davon zu überzeugen. Ließe sich ein Bauer selbst dann nicht von der Nützlichkeit dieser Methoden überzeugen, brächten sie entweder keinen praktischen Nutzen oder man habe es verpasst, die Vorteile deutlicher darzustellen. Das Ideal eines aufgeklärten Bauern bestand nach Schmohls Ansicht darin, dass sich dieser selbstständig über neue Methoden des Anbaus informieren können sollte. Er solle hierzu wie ein walzender Handwerker übers Land ziehen, um auf diese Weise verschiedene Landwirte besuchen zu können, um von ihnen zu lernen. Um die Bauern frühzeitig hierzu in die Lage zu versetzen, befürwortete Schmohl die Einrichtung von philanthropischen Lehranstalten im ländlichen Raum, in denen die Kinder der Bauern umfassende Bildung erfahren sollten. Genauso wie Schmohl den Abstand von Menschen der verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungsstufen relativierte, wollte er auch die niederen Bevölkerungsschichten aufwerten. Er verglich die Lebenssituation der Landbevölkerung aufgrund ihrer Unfreiheit mit der Sklaverei und forderte die höheren Stände auf, hierbei Abhilfe zu schaffen. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drohte Schmohl sogar, dass es für die Bauern aufgrund ihrer großen Zahl kein Problem sein sollte, selbst die geforderten Rechte zu erlangen, wenn sich die herrschenden Stände weigern sollten, die Bauern menschlicher zu behandeln. Ebenfalls kritisierte Schmohl scharf die prekäre Lebenssituation und die Unterdrückung der Juden durch die christliche Mehrheitsbevölkerung. Schmohls Plädoy-
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er für eine kompromisslose Gleichberechtigung der Juden als vollkommen gleichgestellte Bürger sticht dahingehend hervor, dass es noch vor Christian Konrad Wilhelm Dohms Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden erschien, welche für gewöhnlich als Beginn der öffentlichen Diskussion über die Benachteiligung der Juden angesehen wird. Weitaus deutlicher als Dohm hob Schmohl hervor, dass er ausnahmslos die Christen als die Verantwortlichen für die Unterdrückung der Juden ansah. Folglich lag es seiner Ansicht nach auch ausschließlich in der Verantwortung der Christen, die Juden als gleichberechtigte Menschen und Bürger zu behandeln. Anders als Dohm verlangte er keine ‚Besserung‘ der Juden, bevor ihnen das Bürgerrecht zugestanden werden sollte. Vielmehr sah er die christliche Intoleranz als die größte Hürde an, die für eine Gleichberechtigung beseitigt werden müsse. Trotz seiner biographisch bedingten Hochschätzung der Bauern war Schmohl kein Anhänger der physiokratischen Wirtschaftstheorie, welcher zugeschrieben werden kann, für eine allgemeine Aufwertung der Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts innerhalb vieler europäischer Länder gesorgt zu haben. Auch in diesem Bereich warf er den führenden Experten vor, sich lediglich theoretisch mit der Wirtschaft beschäftigt zu haben und keine praktische Erfahrung zu besitzen. Er selbst setzte sich ausführlich mit der Frage auseinander, welchen Wert verschiedene Arten von Arbeit hatten. Während die Physiokraten davon ausgingen, dass nur die Arbeit von Landwirten als produktiv und wertschaffend angesehen werden konnte, da sie etwas produzierten, das vorher noch nicht existierte, betrachtete Schmohl jede Arbeit als gleichwertig: Da die Rohstoffe, die ein Bauer produzierte, ohne weitere Verarbeitung durch einen Handwerker keine menschlichen Bedürfnisse befriedigen konnten, erhielten sie ihren eigentlichen Wert erst durch diese Verarbeitung. Schmohl betrachtete nun dieses wirtschaftliche System aus Rohstoffproduktion und deren Weiterverarbeitung als Gesamtkomplex, bei welchem die Arbeit der einen Seite nicht ohne die der anderen möglich wäre, sodass der Bauer den Handwerker in die Lage versetzte, seiner Arbeit nachzugehen und umgekehrt. Da ohne die Arbeit des einen die des anderen nicht in der gleichen Art und Weise erledigt werden könne, bewertete Schmohl den Wert beider Arbeiten als gleichwertig. Mit starkem Bezug auf die Diktion Adam Smiths, durch dessen damals noch neue Nationalökonomie Schmohl als einer der ersten deutschsprachigen Autoren stark in seinen wirtschaftlichen Überlegungen beeinflusst worden war, stellte er fest, dass alleine die Arbeitskraft das Kapital eines Handwerkers darstelle, die er zur Bewältigung seines Lebensunterhaltes aufbringen könne. Da es durch die Gleichwertigkeit und die gegenseitige Abhängigkeit letztendlich egal sei, ob ein Arbeiter seine Arbeitskraft zur Hervorbringung von landwirtschaftlichen Rohstoffen oder zu deren Weiterverarbeitung einsetzte, macht Schmohl alleine die Arbeit zur Grundlage seiner wirtschaftlichen Philosophie. Indem von ihm so der Begriff der Arbeit von der Herstellung materieller Produkte abstrahiert wurde, war es ihm ebenfalls möglich, den Wert von geistiger und
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dienstleistender Arbeit anders als Adam Smith oder die Physiokraten zu bewerten: Beide Theorien maßen geistigen oder dienstleistenden Arbeiten keinen bleibenden Wert bei, da sie schließlich keine materiellen Dinge produzierten. Schmohl behauptete hingegen – wieder mit Blick auf die gesamte Wirtschaft – dass die Arbeit eines Dienstleistenden alle anderen Arbeitenden erst dazu befähige, ihrer eigentlichen Arbeit nachzugehen. Am Beispiel eines Richters führte er aus, dass es ohne dessen schlichtenden Spruch bei der kleinsten Unstimmigkeit innerhalb der Gesellschaft zu chaotischen Zuständen kommen könne, wodurch die Lebensgrundlage vieler Familien vernichtet würde. Die Arbeit des Richters trage folglich nachhaltig zur Funktion einer Gesellschaft bei. Sie sei nicht erledigt und ihre Wirkung schlagartig verpufft, wenn er sein Urteil gefällt habe, wie es Smith formulierte. Auf Grundlage von Smiths Überlegungen zur Arbeitsteilung plädierte Schmohl für eine Abschaffung von Handelsschranken. Hierbei stützte er sich jedoch nicht nur auf die preislichen Vorteile, die durch eine ausländische Produktion im Vergleich zu einer inländischen erreicht werden könnten, sondern betonte ebenfalls die Bedeutung von qualitativen Vorteilen: So sei es auf lange Sicht sinnvoller, einen Pflug aus hochwertigem Eisen aus ausländischer Produktion zu kaufen, selbst wenn dieser teurer als ein günstiger, im Inland hergestellter Pflug sei, der jedoch lediglich aus minderwertigem Eisen bestehe. Ähnlich wie die Arbeit von Landwirten und Handwerkern sah Schmohl die Produktion in unterschiedlichen Ländern und den Handel zwischen diesen nicht als ein Gegeneinander an. Stattdessen betrachtete er auch hier den größeren Zusammenhang und argumentierte, dass die ausländische Arbeit und der Import der hierdurch produzierten Waren gleichzeitig die inländische Produktion ermögliche – und umgekehrt. Dennoch sprach sich Schmohl nicht für eine vollständige Aufhebung von Handelsbeschränkungen aus, da er davon ausging, die Menschen seien zu vollkommener Freiheit zu unvernünftig, sodass immer etwas Beschränkung nötig sei. Auch Schmohls politische Überlegungen drehten sich stets um die Frage, wie Gerechtigkeit und Gleichheit unter den Menschen erreicht und aus Ungleichheit entstehende Ungerechtigkeit vermieden werden könne, um eine größtmögliche Freiheit aller Menschen zu gewährleisten. Als Ursache von Ungerechtigkeit sah er dabei weniger die biologische Ungleichheit der Menschen an. Diese Unterschiede, die sich beispielsweise in unterschiedlicher Stärke äußerten, seien im Gegensatz zu einer künstlich erzeugten Ungleichheit zu vernachlässigen. Unter künstlicher Ungleichheit verstand Schmohl ungleich verteilten Besitz, der nach seiner Meinung zu einer Akkumulation von Macht und damit zu einer Unterdrückung von ärmeren und weniger mächtigen Menschen führte. Daher sah es Schmohl als die wichtigste Aufgabe eines Staates an, diese künstliche Ungleichheit zu vermeiden oder zu minimieren, was durch eine möglichst gleichmäßige Verteilung von Besitz gewährleistet werden sollte. Hierdurch könne sich kein Einzelner als Herrscher über die anderen Menschen aufschwingen und ohne deren Zustimmung regieren: Steuern erheben, Gesetze erlassen oder Kriege führen. Schmohls Verständnis von Freiheit ging folg-
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lich einher mit einer Beschränkung und Kontrolle des Privatbesitzes zur Sicherung von politischer Partizipation. Da Schmohls Konzept zum Schutz der bürgerlichen Freiheit die Beschränkung der Eigentumsrechte bedeutete, hätten seine Aussagen vermutlich den vehementen Widerspruch der meisten seiner Zeitgenossen – hierunter auch Riem und Knoblauch – hervorgerufen. Schmohl hingegen sah die Freiheit der Menschen nur dann als umfassend an, wenn es ihnen ermöglicht wurde, ihren rechtmäßigen Teil zur politischen Willensbildung beizutragen. Dieses Freiheitsverständnis ist darauf zurückzuführen, dass Schmohl – beeinflusst durch die Akteure der amerikanischen Unabhängigkeit und deren Beschäftigung mit den Völkerrechtstheorien Emer de Vattels – die verfassungsgebende und politische Macht in der Gesamtheit des Volkes liegen sah. Er schloss sich konsequent an die Argumentation der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung an und betonte, dass diese Unabhängigkeit notwendig gewesen sei, weil Großbritannien ihren nordamerikanischen Bürgern keine gerechte politische Partizipation – No taxation without representation – gewährt habe. Insgesamt favorisierte Schmohl, wie besonders aus seinem letzten Werk Ueber Nordamerika und Demokratie hervorgeht, eine vollständige – und damit: radikale – Veränderung der politischen wie gesellschaftlichen Ordnung des 18. Jahrhunderts zugunsten der bisher benachteiligten Bevölkerungsschichten. Ihm war bewusst, dass eine solche Gesellschaft und Politik einfacher in einem neu entstehenden Land wie den Vereinigten Staaten erreicht werden konnte und in den europäischen Ländern aufgrund der fest verwurzelten Strukturen schwieriger umzusetzen sei. Dennoch hoffte er, dass auch in Europa – mit amerikanischer Hilfe – das bestehende Gefüge verändert werden könnte. Dass Schmohl diese Veränderung befürwortete, die letztendlich eine große Umverteilung von politischer wie gesellschaftlicher Macht und materiellem Besitz bedeutet hätte, lässt sich durch seine Herkunft und Sozialisation erklären: Er kannte aus eigener Erfahrung die Lebensbedingungen der Landbevölkerung. Er wusste, dass diese Menschen oft den obrigkeitlichen Entscheidungen hilflos ausgeliefert waren, wie es bei seinem Vater im Streit mit dem Schulzen des Dorfes um einen Garten und die Hut- und Triftrechte der Fall war. Da Schmohl früh sein anhalt-zerbster Heimatdorf verließ, die sächsische Fürstenschule St. Afra und danach kurz die Universität in Wittenberg besuchte, am Philanthropin in Dessau arbeitete und von dort in den südwestlichen Teil Deutschlands, in das Elsass und die Schweiz reiste, war es ihm außerdem möglich, die Besitzverhältnisse der bäuerlichen Bevölkerung in Relation zu anderen Ständen, Bevölkerungsschichten und Landesteilen zu bewerten. Ob Schmohl bei Bekannten, die durch ihre Geburt einen höheren sozialen Status besaßen, aufgrund seiner Herkunft auf Ablehnung stieß, ist nicht bekannt. Versagt wurde ihm jedoch eine Anstellung in seinem Heimatland, die nach seiner Selbsteinschätzung seinem Bildungsstand entsprochen hätte; mit der in Aussicht gestellten Stelle eines Schreibers wollte er sich nicht begnügen. Auch Schmohls ebenfalls aus einem Bauernhaus stammender Freund Johann Jakob Mochel stieß aufgrund
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seines unangepassten Verhaltens auf Widerstand, wodurch er sich beruflich nicht als Prediger etablieren konnte. Es kann daher vermutet werden, dass Schmohl wie auch Mochel trotz ihrer höheren Bildung und ihrer gesellschaftlichen Kontakte, zu denen viele prägende Persönlichkeiten der damaligen Zeit zu zählen sind, sich habituell von den aufgeklärt-bürgerlichen Schichten unterschieden. Während dieser Unterschied einerseits Bewunderung hervorgerufen haben kann, dass sie es als Bauernsöhne geschafft hatten, sich höhere Bildung anzueignen, werden sie andererseits diesen habituellen Unterschied – bewusst oder unbewusst – in Form einer gläsernen Decke gespürt haben. Vor allem während seiner Flucht aus Halle könnte Schmohl bewusst geworden sein, wie groß die Differenzen der Machtverhältnisse zwischen ihm und den politisch mächtigen Mitgliedern der damaligen Gesellschaft waren: So reichte der ‚lange Arm‘ seines Landesfürsten, der sich im selbstgewählten Exil in der Schweiz aufhielt, bis in das preußische Halle und zwang Schmohl zur Flucht, da er weder in Preußen noch in Anhalt-Zerbst mit einer fairen Behandlung und einem gerechten Prozess rechnete. Aufgrund seiner niederen Herkunft konnte er nicht mit der Unterstützung eines wohlhabenden und einflussreichen Elternhauses rechnen oder über deren Verbindungen verfügen und hatte das Gefühl, sich der fürstlichen Unbill nur durch Flucht entziehen zu können. Auch hierbei wird Schmohl deutlich das frühneuzeitliche Machtgefälle, die daraus resultierende rechtliche Ungleichbehandlung und der Zusammenhang von Besitz und gesellschaftlichem wie politischem Einfluss bewusst geworden sein, was ihn in Ueber Nordamerika und Demokratie zu seinem einleitenden Stoßseufzer veranlasste, sich nun endlich „im Hafen der Sicherheit, geschützt vom Obdach der Gesetze gegen den Sturm der Willkühr“1 zu befinden. Damit wird verständlich, dass Schmohl der Gerechtigkeit einen höheren Stellenwert zusprach als dem Privatbesitz. Es wird nachvollziehbar, dass er unter Freiheit in erster Linie den Schutz der Rechte aller Menschen verstand, ohne Berücksichtigung ihres Ranges oder ihres Besitzes. Die Gleichberechtigung aller Menschen musste in seinen Augen dazu führen, dass es einem Großteil der Gesellschaft ermöglicht wurde, ein freies und vor allem rechtlich abgesichertes Leben zu führen, ohne sich irgendeiner Fremdbestimmung unterwerfen zu müssen. Während wohlhabende Menschen von ihrem übermäßigen Besitz abgeben müssten und sie somit genauso viel politische Macht besessen hätten wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft, konnte die ärmere und rechtlose Mehrheit bei einer Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung nur gewinnen. Eine solche grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen wie politischen Verhältnisse, aber auch Schmohls wirtschaftliche Überlegungen, können somit eindeutig einer radikalen Aufklärung zugeordnet werden.
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Schmohl: Nordamerika (wie Anm. 128, S. 35), S. 3.
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Ähnlich wie Schmohl, aber im Gegensatz zu Knoblauch, beschäftigte sich auch Andreas Riem mit den Lebensumständen der jüdischen Bevölkerung. Der größte Unterschied zwischen Riems und Schmohls diesbezüglichen Werken lässt sich nicht auf inhaltlicher Ebene finden, sondern stellte den Zeitpunkt ihres Erscheinens dar: Während sich Schmohl noch vor der breiten Debatte um die jüdische Lebenssituation ausführlich mit diesem Thema befasste, schrieb Riem seine Apologie fü r die unterdrü ckte Judenschaft in Deutschland 17 Jahre und den Leviathan 20 Jahre nach ihrem Beginn. Alleine die inhaltlichen Schnittpunkte mit Schmohls Kritik zeigen, dass sich in dieser Zeit kaum etwas zur Verbesserung der Lebenssituation der Juden verändert hatte: Wie Schmohl führte Riem aus, dass die Unterdrückung der Juden ihren Ursprung ausschließlich im irrationalen Hass der Christen habe, welcher zuerst beseitigt werden müsste. Daher sah es Riem auch nicht als Notwendigkeit an, die Juden zuerst zu einer ‚Besserung‘ zu bewegen, bevor sie mit allen anderen Menschen gleichgestellt werden konnten. Damit einher geht Riems interessante Reflexion im Leviathan, in welcher er kritisierte, dass während der zwanzigjährigen Debatte eine ‚Verbesserung‘ der Juden immer als eine Assimilation an christliche Verhaltensmuster verstanden worden sei, welche die Christen selbst als bürgerliches Ideal propagierten. Diese Verknüpfung kritisierte Riem vehement und betonte, dass Menschen- wie Bürgerrechte areligiös und nicht mit dem Glauben an einen gekreuzigten Gott verbunden seien. Im Gegensatz zu Schmohl konnte sich Riem in seinen Schriften auf zahlreiche Beispiele der praktischen Gleichberechtigung von Juden in verschiedenen europäischen Ländern, beispielsweise in Frankreich oder in den Niederlanden, stützen. Hierbei wurde er vor allem durch seinen Freund, den Abgeordneten der batavischen Nationalversammlung, Jacob George Hieronymus Hahn, beeinflusst. Hahn kritisierte den tiefverwurzelten Judenhass in Europa, der sich auch in den Überzeugungen vieler Aufklärer finden ließ. Zudem sah er es als entehrend für eine freie Gesellschaft an, einigen Menschen alleine aufgrund ihrer Religion die vollen Bürgerrechte zu verweigern. Riem kam darüber hinaus auch in seiner Apologie seinem Bedürfnis nach, auf die Politik der deutschen Fürsten einwirken zu wollen, was sich als häufiges Motiv in seinen Schriften finden lässt. Aus diesem Grund verwendete er einen Teil seiner Schrift darauf, die Herrschenden direkt anzusprechen und ihnen die Vorteile einer Gleichberechtigung der Juden zu erläutern. Trotz seines Bedürfnisses, Einfluss zu nehmen und sich durch seine zahlreichen Publikationen Gehör zu verschaffen, scheint Riem vor allem deshalb versucht zu haben, auf die Verhältnisse der damaligen Gesellschaft und Politik einzuwirken, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Es scheint weniger in seinem Interesse gewesen zu sein, die vorhandenen politischen wie gesellschaftlichen Strukturen grundlegend zu verändern. Entsprechend schwierig ist es, aus Riems Schriften sein eventuelles politisches wie gesellschaftliches Ideal herauszulesen, da er – um Einfluss zu nehmen – auf die vorhandenen Strukturen rekurrierte und darauf aufbauend konkrete Verbesserungen vorschlug. Hierdurch zweifelte er
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beispielsweise in seinen Schriften, in denen er sich mit den Ländern des Heiligen Römischen Reiches beschäftigte, nicht die Rechtmäßigkeit der dort herrschenden Fürsten an oder plädierte nicht für eine generelle Abschaffung der Ständegesellschaft, sondern sah diese Strukturen als Grundlage für seine Vorschläge. Dennoch lassen sich in seinen Beschreibungen Tendenzen erkennen, die einen Rückschluss auf seine persönliche Überzeugung zulassen. So geht beispielsweise aus seinen Reisebeschreibungen hervor, dass Riem dem geistlichen Stand, welchem er bis zur Aufgabe seines Predigeramtes selbst angehört hatte, keine große Bedeutung beimaß, ihn als überflüssig und aus religionspolitischer Sicht wohl auch als schädlich für ein Land erachtete. Auch wenn sich Riems Plädoyer für eine konsequente Toleranz gegenüber allen Religionen und Konfessionen früh in seinen Schriften finden lässt, wird sein persönlicher Konflikt, der sich aus dem preußischen Religionsedikt von 1788 ergab, zu seiner Überzeugung beigetragen haben, dass Geistliche keine öffentlichen, politischen wie gesellschaftlichen Funktionen einnehmen sollten. So bestand nach Riems Vorstellung die frühneuzeitliche Gesellschaft zwar weiterhin aus drei Ständen. Bei diesen bildete jedoch nicht mehr die Geistlichkeit einen eigenen Stand. Stattdessen wurde von ihm das Bürgertum, das sich im Laufe der Frühen Neuzeit herauszubilden begonnen hatte, vom restlichen dritten Stand separiert und in den Status eines bürgerlichen Standes erhoben. Riem plädierte nun am Beispiel Sachsens dafür, diesen bürgerlichen Stand nicht zugunsten des Adels zu vernachlässigen und die Bürger als eine Art tüchtigeren Adel an den Hof zu binden. Riem, der sich als (verbannter) Angehöriger der höheren Berliner Gesellschaft zu diesem bürgerlichen Stand zählte, erblickte in den Bürgerlichen die eigentlichen, patriotischen und vernünftigen Stützen des Herrschers. Sie sollten zum Wohle des Staates einen hohen Einfluss erhalten, da alleine diese ‚vernünftigen Männer‘, wie Riem sie gerne bezeichnete, nach seiner Überzeugung in der Lage wären, ein revoltierendes Volk im Zaum zu halten und es in eine Richtung zu lenken, die dem Herrscher und dem Staat zugute käme. Diese Haltung deckt sich mit Riems Ablehnung von revolutionären Umstürzen und dem daraus folgenden Zustand der Anarchie. Käme es trotzdem zu einer Revolution, sollte diese nach Riems Vorstellung möglichst bürokratisch ablaufen und die bürgerlichen Rechte der Einwohner – besonders ihren Privatbesitz – schützen, wie aus seinen Bewertungen der Revolution in Frankreich und in den Niederlanden hervorgeht. Eine Nationalversammlung sollte zügig eine neue, republikanische Verfassung ausarbeiten. Bis zur Ratifizierung dieser Verfassung sollten alle Bürger, die aufgrund ihres übermäßigen Besitzes oder ihrer adligen Abstammung von Riem pauschal verdächtigt wurden, die zukünftige Ordnung zu ihren Gunsten beeinflussen zu wollen, verhaftet werden. Da auch der ‚Pöbel‘ keinen Einfluss auf die Verfassung haben sollte, blieben lediglich die ‚vernünftigen Männer‘ des Staates übrig, die weiterhin die politischen Geschicke lenken sollten. Riems bürgerlich-elitäre Haltung ging darüber hinaus einher mit einer gewissen Skepsis gegenüber der ländlichen Bevölkerung. Zwar zeugen Riems Schriften auch
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von einer Sympathie gegenüber der Landbevölkerung, die jedoch vor allem einer physiokratischen Überzeugung geschuldet gewesen sein dürfte. Einen Zuwachs der Bauern an Besitz und Einfluss sah er hingegen als bedenkliche Entwicklung. Er empfahl den Herrschern den Versuch zu unternehmen, das Geld der Bauern – ohne dass diese es bemerkten – wieder in die Staatskassen umzuleiten, damit die Bauern nicht in der Lage seien, einen Aufstand gegen den Herrscher zu finanzieren. Aus der Distanz des Bürgers befürwortete Riem eine Art von klassischer Volksaufklärung, gegen welche sich Schmohl vehement aussprach: Gefiltert durch die ‚vernünftigen Männer‘ und von den gelehrten Gesellschaften vermittelt, sollte dem Bauern gezielt erklärt werden, was er zu verbessern habe. Im Sinne der physiokratischen Wirtschaftstheorie sollten die Bauern zu einer effektiveren Arbeit angeleitet werden und augenscheinliche, der Gewohnheit geschuldete ‚Mängel‘, abtrainiert werden. Da Riem schon in jungen Jahren in die ökonomische Gesellschaft seines Bruders in Kaiserslautern aufgenommen wurde und auch in seinen späteren Jahren Mitglied in mehreren dieser Gesellschaften war, erscheint diese distanzierte Sichtweise der Landwirtschaft verständlich. Bemerkenswert ist hingegen, dass sich Riem mit Blick auf die Frage, wie eine gerechte Steuergesetzgebung auszusehen habe, deutlich für eine progressive Steuererhebung und gegen Verbrauchsteuern aussprach. Letztere lehnte er ab, da sie zwar kaum bemerkt, doch insgesamt Menschen mit niedrigem Einkommen weitaus mehr belasten würden als Wohlhabende. Für eine progressive Steuererhebung, die sich nach dem jeweiligen Einkommen richtete, sprach aus Riems Sicht, dass hierdurch ärmere Menschen weniger – oder durch eine Untergrenze sogar überhaupt nicht – belastet würden. Ihnen sollte durch diese Entlastung ermöglicht werden, sich zu entwickeln, um mehr zu verdienen und um irgendwann einmal mehr Steuern zahlen zu können. Reiche, die genug verdienten, um ihre Grundbedürfnisse und alle darüber hinausreichenden Bedürfnisse zu decken, sollten entsprechend mehr von ihrem Einkommen abgeben. Hierdurch würde nach Riems Ansicht den Reichen der Überfluss genommen, der die Grenzen ihres Bedürfnisses übersteige. Während Schmohl, der ebenfalls eine gestaffelte Steuererhebung befürwortete, die sich am jeweiligen Einkommen und Besitz orientierte, damit alle Unterschiede des Besitzes minimieren wollte, sollten diese Besitzunterschiede bei Riem nur abgefedert werden und sich die Pflichten gegenüber der Gesellschaft an den jeweiligen Möglichkeiten der Bürger orientieren. Im Bezug auf Adam Smiths Theorie der Arbeitsteilung und seiner mit den Physiokraten übereinstimmenden Forderung nach einem Abbau der Handelsschranken befürwortete auch Riem diese Maßnahmen. Anders als Schmohl forderte er, Handelsbeschränkungen vollständig abzubauen. Riems Argument, dass der Staat sich geradezu am Besitz seiner Bürger vergehe, wenn er sie zwinge, teurere Waren aus inländischer Produktion zu kaufen, zeugt erneut vom Stellenwert, den der Privatbesitz in Riems Philosophie einnahm.
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Während auch für Riem die Gleichheit der Menschen den wichtigsten Bestandteil seiner Vorstellung von Gerechtigkeit ausmachte, verstand er hierunter vor allem die Gleichheit vor dem Gesetz. Seine Vorstellung der Jurisdiktion entsprach damit vollkommen der der französischen Revolutionäre: Auch für sie stellte die juristische Gleichbehandlung aller Bürger die höchste Staatstugend und ein Bollwerk gegen Willkür dar, die nur durch eine strenge Befolgung der Gesetzestexte gewährleistet werden konnte. Eine Revision von Gerichtsverfahren wurde nur bei formellen Fehlern akzeptiert, da das Gesetz an sich keine andere Geltung als seinen Wortlaut zulassen konnte. Für Riem sollten Gesetze eine ewig unabänderliche Gültigkeit besitzen. Er sah in Begnadigungen einen Verstoß gegen diese ewige Unabänderlichkeit der Gesetze und – da sie nur auf Einzelne angewendet wurden – auch gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Bürger. Mit Blick auf die Rechtssprechung in Großbritannien kritisierte Riem die Härte, mit der – ohne das individuelle Schicksal zu beachten – Todesurteile selbst für geringe Delikte verhängt wurden. Gelobt wurde hingegen von ihm das englische Habeas-Corpus-Gesetz, das eine willkürliche Verhaftung verhindern sollte. Da bei diesem Gesetz jedoch der Grundsatz der Unabänderlichkeit verletzt wurde und es der Regierung gestattet war, es aufzuheben, handelte es sich nach Riems Ansicht lediglich um einen unzureichenden Schutz vor Willkür. Analog zu seiner Skepsis gegenüber niederen Bevölkerungsschichten zweifelte Riem auch die Fähigkeit dieser Menschen an, sich im Zuge der politischen Partizipation eine eigenständige Meinung zu bilden. Stattdessen sah er den ‚Pöbel‘ als große Masse an, die sehr leicht von Populisten für deren Zwecke instrumentalisiert werden konnte. Wenn dies der Fall war, erhielt man nach Riems Ansicht ‚Pöbel-Republiken‘, wohingegen positiv bewertete ‚Bürger-Republiken‘ dann entstehen sollten, wenn statt der Populisten die ‚vernünftigen Männer‘ die breite Masse beeinflussten oder der ‚Pöbel‘ überhaupt keinen Einfluss hatte. Letztendlich war Riems politisches Ideal ein exklusives System verdienter Männer, was auch seine Sympathie für die französische Direktorialverfassung erklärt: Diese konnte zwar noch als republikanisch angesehen werden, war aber aufgrund des Zensuswahlrechts nicht mehr demokratisch, da nur noch Männer mit einem steten und vor allem großen Einkommen wählen durften. Riem scheint hierbei dem Kurzschluss unterlegen zu sein, dass Reichtum und Wohlstand auf Fleiß, Leistung und vor allem Vernunft hindeuten. Ein interessanter Aspekt ist Riems Verständnis und Bewertung von Parteien. Mit Blick auf die Nationalversammlung der Batavischen Republik führte er aus, dass es für einen parlamentarischen Diskurs sinnvoller sei, wenn nach Parteien geordnet und nicht jeder Abgeordnete für seine Partikularinteressen streiten würde. Riems Definition von Parteien scheint dabei sehr nah am heutigen Parteienverständnis gewesen zu sein: Er verstand hierunter eine Vereinigung von Menschen, die sich unter einem zum gemeinschaftlichen Zweck entworfenen System versammelten, mit dem sich alle Mitglieder identifizieren konnten. Den Streit zwischen verschiedenen
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solcher Parteien betrachtete Riem als produktive und dem politischen Prozess wohltätige Reibung, durch die Fortschritt erzeugt wurde. Riems Auffassung widersprach damit der negativen Vorstellung, welche seine Zeitgenossen von politischen Parteien hatten, da sie damit vor allem Zwietracht säende Uneinigkeit verbanden, die unweigerlich zum Auseinanderbrechen der Gesellschaft führen musste. Von dieser positiven Einschätzung von Parteien und deren positiven Reibung scheint Riem erst in seinen letzten Jahren als politischer Publizist – unter der Herrschaft Napoleons – abgerückt zu sein: Er selbst meinte als Philosoph keiner Partei angehören zu können und unterstellte Parteianhängern pauschal politische Unselbständigkeit und einen Hang zur Subordination. Besonders uneingeschränkt sollte seiner späten Ansicht nach vor allem der Politiker sein, der die Staatsführung innehabe. So scheint sich Riem vom Anhänger einer – wenn auch für den ‚Pöbel‘ eingeschränkten – Republik mit einer parlamentarischen Streitkultur zwischen verschiedenen Parteien zu einem Befürworter einer größtenteils autoritär gelenkten politischen Ordnung entwickelt zu haben. Gleichzeitig kann jedoch bezweifelt werden, ob es sich hierbei um eine wirkliche Entwicklung gehandelt hat: Da die zuletzt beschriebene Position auch kompatibel mit der untertänigen Sichtweise des preußischen Bürgers Andreas Riem war, scheint vielmehr die Befürwortung der – wenn auch eingeschränkten – parlamentarischen Demokratie ein kurzzeitiges Zwischenspiel gewesen zu sein. Während Riems religionskritisches Werk aufgrund seiner eindeutigen Ablehnung sowohl der ‚klassischen‘ monotheistischen Religionen als auch der aufgeklärten, natürlichen Religion des Deismus einer radikalen Aufklärung zuzuordnen ist, fällt diese Zuordnung mit Blick auf seine ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Positionen schwerer. Dass er mit Blick auf die frühneuzeitliche Gesellschaftsordnung den geistlichen Stand ablehnte, kann mit seinen eigenen Erfahrungen und seiner religionskritischen Überzeugung in Verbindung gebracht werden. Auch entspricht die ‚Aufwertung‘ des Bürgertums eher einer Beschreibung der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich seit Beginn der Französischen Revolution und im Übergang zum 19. Jahrhundert immer deutlicher abzeichnete. Es wäre folglich zu weit gegriffen, Riem hierbei einer radikalen Position innerhalb des entsprechenden Diskurses zuzuordnen, wenn seine Beschreibung der Gesellschaft somit einer – wenn auch sehr aufmerksamen – Beobachtung entsprang. Riems Position zur Lebenssituation der Juden und seine Forderung zu ihrer konsequenten rechtlichen Gleichstellung sind hingegen deutlich als radikal zu bewerten. So hätte die von Riem geforderte Gleichberechtigung eine grundlegende Veränderung und Verbesserung für das Leben der Juden in den Ländern des Heiligen Römischen Reiches bedeutet. Darüber hinaus kann auch als radikal bezeichnet werden, dass Riem den von Dohm angestoßenen Diskurs über die jüdische Gleichberechtigung einer grundlegenden Kritik unterzog. Durch diese kritische Auseinandersetzung entwickelte er einen eigenen Standpunkt, der sich deutlich von anderen Beiträgen unterschied.
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Seine politischen Forderungen oder Riems Vorstellung einer idealen Jurisdiktion decken sich wiederum meist mit dem, was seine Zeitgenossen in Frankreich umzusetzen versuchten. Die bürgerlich-elitäre Vorstellung einer exklusiven politischen Partizipation, die nur leistungsfähigen ‚vernünftigen‘ Männern vorbehalten sein sollte, lässt sich durch sein bürgerliches Selbstverständnis erklären: Bis zu seiner Verbannung im Jahr 1795 betrachtete er die Französische Revolution nur aus der Perspektive eines preußischen, zum Berliner Bürgertum gehörenden Untertans, der einer parlamentarischen Demokratie ablehnend gegenüberstehen musste. Nach seiner Verbannung befand er sich in einem Frankreich, das durch die Direktorialverfassung geprägt war, welche den Besitzbürgern einen exklusiven Zugriff auf den Staat gewährte. Auch hier war es eher angebracht, sich gegen eine breite politische Partizipation auszusprechen. Hierdurch waren Riems politische Positionen weder neu noch hätte ihre Umsetzung zu einer vollkommen anderen Politik geführt. Durch ihre Konzentration auf eine beschreibende Vermittlung sind sie eher als Selbstzeugnis von Riems politischer Wahrnehmung zu begreifen. Im Gegensatz zu Riem lassen sich in Knoblauchs Überlegungen zu Politik und Gesellschaft keine Reste der frühneuzeitlichen Stände mehr finden. Ähnlich wie Schmohl zählte er alle Menschen, die innerhalb eines Landes lebten, am politischen Prozess partizipierten und im Genuss bürgerlicher Rechte standen, zu den Bürgern. Diese sollten rechtlich gleichgestellt sein und ihre Geburt nicht darüber bestimmen, ob sie innerhalb der Gesellschaft einen hohen oder einen niederen Status einnahmen. Es sollte bei dieser Gruppe der Bürger nach Knoblauchs Verständnis – von Frauen natürlich abgesehen – keine Ausnahmen geben und somit die gesamte Gesellschaft bei den sie betreffenden Sachfragen mitbestimmen. Im Unterschied zu Schmohls Vorstellung einer vollkommen gleichen Gesellschaft vermutete Knoblauch, dass sich eine Ungleichheit des Besitzes nicht beseitigen lasse und sogar für das Funktionieren einer Gesellschaft notwendig sei. Da sich die Menschen jeweils nach ihrem politischen Wert qualifizierten, worunter er die persönlichen Fähigkeiten verstand, die ein Mensch zum Wohle der Allgemeinheit in die Gesellschaft einbringen konnte, musste dieser politische Wert auch unterschiedlich vergütet werden. Hierbei wurde von Knoblauch beispielsweise das Genie eines Mathematikers und dessen hierdurch entstehender Beitrag im Vergleich zu dem eines Bauern als wertvoller für die Gesellschaft erachtet, weshalb er daher auch in einem höheren Maß vergütet werden sollte. Gleichzeitig sollte es hierdurch auch jedem Menschen – egal welcher Herkunft – offen stehen, entsprechend seiner Qualifikation innerhalb der Gesellschaft aufzusteigen. Im Gegensatz zu Riems meritokratischem Ansatz musste sich nach Knoblauchs Konzept ein Bürger nicht erst durch herausragende Taten beweisen, sondern lediglich dessen politischer Wert, die ‚persönliche Actie‘ erkannt werden. Eine solche politische wie gesellschaftliche Ordnung hätte eine deutliche – und damit: radikale – Veränderung zu den Bedingungen bedeutet, die Knoblauch aus seiner Heimat und den angrenzenden Ländern kannte.
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Auch wenn sich Knoblauch nicht direkt mit der Diskriminierung der Juden auseinandersetzte, kann aufgrund seiner Argumentation zugunsten der unveräußerlichen und universell gültigen Menschenrechte verbunden mit seiner konsequenten Religionskritik vermutet werden, dass er Juden in erster Linie als gleichberechtigte Menschen betrachtete. Schon in seinen frühen Artikeln von 1786 leitete er die Menschenrechte aus dem Naturrecht ab. Neben dem Recht der Selbsterhaltung beinhalteten diese natürlichen Menschenrechte seiner Meinung nach auch das Recht, sich selbst zu vervollkommnen. Da Knoblauch bei dieser Vervollkommnung ausdrücklich neben der äußeren, materiellen auch die innere, geistige Vervollkommnung hervorhob, besaßen die Menschen auch seiner Ansicht nach das unveräußerliche Naturrecht, sich zu bilden. Darüber hinaus nahm die Bedeutung, die Knoblauch in seinen Schriften der Bildung zusprach, in seinen späten Veröffentlichungen zu. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit seiner Kritik am stehenden Heer, die sich innerhalb von vier Jahren von einer beinahe noch wohlwollenden Betrachtung zu einer strikten Ablehnung alles Militärischen wandelte: So war Knoblauch noch 1789 der Meinung, dass die Vorteile, die ein Land durch ein stehendes Heer erhalte – nämlich innere wie äußere Sicherheit, gesicherte Arbeitsplätze und vor allem eine Gewöhnung der Bauern an disziplinierte Unterordnung – die Nachteile deutlich übertreffen. Als nachteilig für die Bewohner eines Landes betrachtete Knoblauch die hohen Steuerabgaben, die von ihnen zum Unterhalt des Heeres aufgebracht werden mussten und eine eventuelle Instrumentalisierung des Heeres durch den Herrscher, um eigene Interessen gegen die Untertanen durchzusetzen. Auch wenn Knoblauchs zweiter Artikel zum stehenden Heer, der im darauffolgenden Jahr erschien, weitaus kritischer formuliert war, schienen für ihn weiterhin die Vorteile des stehenden Heeres zu überwiegen. Hiervon war er 1793 – unter dem Eindruck der Feldzüge gegen das revolutionäre Frankreich – gänzlich abgerückt: Das Heer stellte für ihn nichts mehr als eine Institution zur Versorgung überflüssiger Adelssprösslinge dar, die aufgrund ihrer großen Zahl nicht mit sinnvollen Arbeiten beschäftigt werden konnten. Alle nicht-adligen Militärangehörigen wurden seiner Ansicht nach unterdrückt. Die Herrscher würden ihre Heere ausschließlich dazu einsetzen, ihre persönlichen Interessen durchzusetzen und ihre Macht mit Gewalt abzusichern, da das Volk mit Blick nach Frankreich in der Zwischenzeit erkannt habe, dass es selbst – und nicht die Fürsten – im Besitz der souveränen Macht sei. Auch der Aussage, das Militär trainiere den Bauern die ihnen so nötige Subordination an und habe damit eine disziplinierende Wirkung auf den unteren Stand, damit dieser die Gesetze achte und der Obrigkeit gehorche, widersprach Knoblauch nun vehement. Er betonte, dass es ein größerer Nutzen für ein Land sei, wenn dessen Bürger sich aufgrund ihrer Bildung an die Landesgesetze hielten, weil sie den Nutzen der Gesetze erkannt und daher zu ihrer Einhaltung freiwillig bereit seien. Von Automaten, denen durch das Militär lediglich blinder Gehorsam beigebracht wurde, erwartete Knoblauch eine derart rationale Einsicht nicht.
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Insgesamt setzte Knoblauch große Hoffnung in die Verbreitung von Bildung und die daraus entstehenden aufgeklärten Überzeugungen und Einsichten der Menschen. Während Gesetze aufgrund der Erkenntnis ihres Nutzens und ihrer Notwendigkeit befolgt werden sollten, war er ebenso überzeugt, dass eine gerechte Jurisdiktion vor allem von aufgeklärten Richtern umgesetzt werden könne. Anders als Riem und die Mehrheit seiner Zeitgenossen befürwortete Knoblauch nämlich keine ausführlichen Gesetzbücher, bei welchen der Richter lediglich dazu benötigt wurde, den jeweiligen Vergehen die richtigen Paragraphen zuzuordnen und sie bei der Verhandlung vorzulesen. Ein sinnvolles Gesetzbuch sollte stattdessen so schmal und einfach zu verstehen sein wie möglich, aber dennoch umfassende Anwendbarkeit und Gültigkeit besitzen. Knoblauch versprach sich davon, dass sich die Menschen diese Gesetze einfacher merken und durch dieses Wissen auch sicherer befolgen könnten. Gleichzeitig setzte es im Falle eines Verfahrens die Auslegung durch einen Richter voraus. Dies sollte jedoch nach Knoblauchs Vorstellung kein Problem darstellen, da es sich nach seinem Ideal bei den Richtern um vernünftige und aufgeklärte Männer handelte, die über jeden Zweifel erhaben und das Recht niemals willkürlich zu jemandes Vor- oder Nachteil beugen würden. Auch diese Vorstellung Knoblauchs kann als radikal bezeichnet werden, da sie sich von der verbreiteten Sichtweise der damaligen Zeit deutlich unterschied: So entsprach ein ausführliches Gesetzbuch einerseits der Vorstellung der Revolutionäre in Frankreich, welche die Jurisdiktion und damit das Volk vor der Willkür der Richter schützen wollten. Andererseits wurde ein ausführliches Gesetzbuch und dessen wortgetreue Umsetzung auch in den deutschen Ländern favorisiert, da hierdurch das niedergeschriebene Wort des Fürsten – oder der in seinem Namen beauftragten Kommission – das absolute Recht darstellen konnte, an das sich jeder Bürger wortwörtlich zu halten hatte. Das noch unter Friedrich II. in Auftrag gegebene Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten zeugte von diesem Willen der absoluten Gültigkeit des fürstlichen Willens. Im Gegensatz hierzu hätte Knoblauch vermutlich den unter Napoleon eingeführten Code civil begrüßt, der aufgrund seiner präzisen Formulierung knapp, aber dennoch äußerst umfassend war und damit das Novum darstellte, das sich Knoblauch schon 1789 gewünscht hatte. Ebenfalls sticht Knoblauchs Einschätzung der Französischen Revolution aus den Urteilen seiner Zeitgenossen hervor. Während diese dem Revolutionsausbruch vor allem Begeisterung entgegenbrachten, war Knoblauchs Haltung anfangs weitgehend von Skepsis geprägt. So sah er vor allem Gewalt als negative Folge einer revolutionären Anarchie, die Leid und Ungerechtigkeit über viele Menschen bringen konnte. Er plädierte dafür, dass das Recht, seine Meinung frei zu äußern, für alle Menschen Gültigkeit besitzen müsse und somit auch Adlige berechtigt seien, den Verlust ihrer Privilegien und ihres Besitzes zu beklagen. Dennoch zeigte sich Knoblauch auch schon zu dieser frühen Phase der Revolution vorsichtig optimistisch, indem er vermutete, dass aus dieser Anarchie trotz aller Widrigkeiten – und möglicherweise auch erst in der fernen Zukunft – eine gute und gerechte politische Ord-
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nung hervorgehen könne. Auch herrschte für ihn kein Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Revolution, da er die politische Souveränität eines Landes bei dessen Bevölkerung verortete. Hierdurch sah er das Volk auch im Besitz des Rechts, schlechte Regenten abzusetzen und sich neue und gerechtere Herrscher auszuwählen. Während bei vielen Befürwortern der Revolution nach der Verurteilung und Hinrichtung Ludwigs XVI. und der Terreur der Jakobiner die anfängliche Begeisterung verschwand, scheinen diese Ereignisse bei Knoblauch nicht zu einer Verstärkung seines Pessimismus geführt zu haben. Wie aus seinen Briefen hervorgeht, lag seine Sympathie, die er – nach seiner Selbstbezeichnung – als ‚Weltbürger‘ gegenüber der Revolution hegte, in dieser Zeit deutlich aufseiten der Franzosen. Er vermisste eine neutrale und objektive Berichterstattung über die Ereignisse in Frankreich und den Kriegsverlauf zwischen den Revolutionären und der Koalition. Auch befürchtete er, dass die deutschen Fürsten aus Angst vor revolutionären Umstürzen im eigenen Land die Errungenschaften der Aufklärung zurückdrängen würden. Nach seiner Meinung könnten jedoch gerade diese Beschränkungen den Unmut der Bevölkerung gegen die Herrscher wecken, da sich das Volk bereits an diesen aufgeklärten Fortschritt gewöhnt hatte. Auch wehrte sich Knoblauch gegen den Vorwurf, die aufgeklärten Philosophen und Schriftsteller seien für den Ausbruch der Revolution verantwortlich. Stattdessen argumentierte er, dass es gerade die aufgeklärten Schriftsteller gewesen seien, die die politischen Missstände erkannt und niedergeschrieben hätten. Weder die Fürsten noch ihre Berater seien jedoch in der Lage gewesen, diese Schriften zu ihrem Vorteil zu nutzen oder aus den Ereignissen in Frankreich zu lernen, sodass die Schuld für den Revolutionsausbruch sowie eventuell folgender Revolutionen in anderen Ländern bei den Herrschenden und nicht bei den Schriftstellern zu suchen sei. Dass Knoblauch anfangs ein gewisses Verständnis für die Klagen der französischen Adligen aufbringen konnte, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit auf seine eigene Herkunft zurückgeführt werden. Seine Kritik an den anarchischen Zuständen und den Ausschreitungen gegen französische Landadlige wird sich vermutlich auch aus der Frage gespeist haben, ob er mit ähnlichen Übergriffen hätte rechnen müssen, wenn sich eine revolutionäre Bewegung auf die deutschen Länder ausgeweitet hätte. Dass sich bei Knoblauch diese Furcht mit der Zeit legte, kann eventuell auf das Nachlassen der allgemeinen Revolutionsbegeisterung zurückgeführt werden, da es hierdurch auch unwahrscheinlicher wurde, dass in Deutschland selbst eine Revolution – unabhängig von einem französischen ‚Revolutionsexport‘ – ausbrechen könnte. Trotz dieser nachlassenden Begeisterung kam es jedoch aufgrund des Krieges mit Frankreich nicht zu einer politischen Entspannung. Damit die restriktiven Reaktionen der verunsicherten deutschen Herrscher keinen schwerwiegenderen negativen Einfluss auf seine Freiheit als Bürger und aufgeklärten Schriftsteller haben würden, befürwortete Knoblauch – trotz aller Sympathie für die Revolution – einen Abzug der französischen Truppen aus dem Rheinland. Dass sich Knoblauch besonders durch den Vorwurf bedroht fühlte, er sei als Aufklärer mit am Ausbruch
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der Revolution verantwortlich, kann ebenfalls durch seine persönliche Erfahrung dieser Zeit erklärt werden: Denn dass Knoblauchs Furcht vor Repression und Verfolgung berechtigt war, zeigen die Verfahren gegen seinen Freund Georg Friedrich Werner, in deren Zusammenhang Knoblauch selbst mehrmals verhört wurde, wie auch das Vorgehen gegen die Mitglieder der Deutschen Union oder die überwachte und abgefangene Korrespondenz mit Jakob Mauvillon. Auch wenn Knoblauch die wahrgenommene Anarchie zu Beginn der Revolution vermutlich nicht als das ‚kleinere Übel‘ gesehen haben wird, überwog nun vor allem die Furcht vor scharfen Restriktionen, die ihn als Aufklärer beschränkten oder sogar gefährdeten. Knoblauchs Ablehnung des Adels, die sich sowohl in seinen militärkritischen Texten als auch in seiner Vorstellung einer Bürgergesellschaft finden lässt, kann hingegen nur schwer auf seine Biographie und Sozialisation zurückgeführt werden. Sie scheint vor allem Knoblauchs tiefer philosophischen Überzeugung, dass alle Menschen – egal welcher Herkunft – gleich seien, geschuldet zu sein. Ein biographischer Faktor könnte Knoblauchs Abneigung gegenüber gesellschaftlichen Verpflichtungen gewesen sein, die sich vielfach in seinen Selbstzeugnissen oder den Berichten seines Herborner Mentors Wolrad Burchardi an Knoblauchs Mutter finden lassen. Vermutlich könnte es dem Wunschdenken Knoblauchs entsprungen sein, dass derartige Verpflichtungen, die er als adliger Bürger und hochrangiger Beamter seiner Heimatstadt wahrnehmen musste, in einer gleichberechtigten Bürgergesellschaft ohne adlige Privilegien wegfallen müssten. Da er große Teile seines ererbten Hatzbacher Besitzes an seinen stets als ‚Onkel‘ bezeichneten Vetter Heinrich Ludwig Wilhelm von Knoblauch veräußerte, scheint ihm dieses Erbe auch eher eine Last als ein gesichertes Einkommen gewesen zu sein. Knoblauchs eigene Zugehörigkeit zum Adel milderte folglich nicht seine radikalen politischen wie gesellschaftlichen Forderungen, sondern ist mit als Ursache für diese anzusehen. Das Konzept der radikalen Aufklärung Wie in dieser Arbeit und zusammenfassend auf den vorangegangenen Seiten deutlich wurde, lassen sich in den Schriften der Aufklärer Johann Christian Schmohl, Karl von Knoblauch und Andreas Riem Aspekte finden, die aufgrund ihrer grundlegenden Kritik und ihres weitreichenden Charakters eindeutig als ‚radikal‘ bezeichnet werden können. Mit Blick auf die vielfältigen Aussagen der Aufklärer kann zudem bestätigt werden, dass es kein einheitliches Konzept einer radikalen Aufklärung gab, sondern viele verschiedene aufgeklärte Positionen, die trotz ihrer Unterschiede jeweils für sich Radikalität beinhalteten. Hierdurch ist es auch auf der Ebene einzelner Themen nicht möglich, eine radikale Religionskritik, Gesellschaftskritik oder Kritik der zeitgenössischen Politik als einheitliches, alle drei Aufklärer verbindendes Konzept herauszuarbeiten. Freilich lassen sich in den Schriften Parallelen ausmachen, welche sich jedoch plausibler aus dem jeweiligen Diskurs des entsprechenden Themas erklären lassen und somit keinen Hinweis auf eine einheitliche Konzeption oder ein gemeinsames Ziel dieser Aufklärer geben. Um zu be-
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stimmen, ob ein Autor radikale Thesen vertrat, reicht es folglich nicht, sich auf bestimmte Stichworte als eventuelle ‚Marker‘ von Radikalität zu konzentrieren. Stattdessen ist es notwendig, eine mögliche Radikalität immer in direkter Relation zum jeweiligen Thema und ausführlich anhand der konkreten Aussagen eines Autors zu bewerten. Im Bezug auf die Religion kann beispielsweise nicht die einfache Frage gestellt werden, ob sich ein Aufklärer als Gegner der Religion verstand, um seinen Aussagen – wenn sie dieses Kriterium erfüllten – das Label ‚radikal‘ zu verleihen. Nach diesem Verständnis wären lediglich Karl von Knoblauchs religionskritische Schriften mit entsprechender Eindeutigkeit als ‚radikal‘ anzusehen, da er schließlich ausnahmslos alle religiösen Vorstellungen für die Menschen als schädlich und gefährlich erachtete. Andreas Riem sprach sich hingegen für eine philosophisch ‚geläuterte‘ Religion aus und empfahl hierbei seine eigene ‚reine‘ Religion: Durch sie würde einerseits das eventuell vorhandene menschliche Bedürfnis nach religiösen Vorstellungen befriedigt und andererseits die menschliche Moral durch die philosophische Reinheit seiner Religion nicht negativ beeinflusst. Wäre nun das Ablehnen jeglicher Religionsvorstellungen die Voraussetzung für eine radikale Religionskritik, dürfte Riems Philosophie nicht darunter gezählt werden. Da sich jedoch Riems wie auch Knoblauchs Aussagen deutlich gegen eine herkömmliche, von den monotheistischen Religionen vertretene Vorstellung von Religion wandten und Riems Konzept einer ‚reinen‘ Religion nicht dem unter Aufklärern populären Deismus entsprach, beinhalten beide Ausführungen eindeutig Radikalität. Bei Johann Christian Schmohl stößt man hingegen auf einen ganz anders gelagerten Fall: Da er die Religionen und Konfessionen in seinen Schriften kaum erwähnte, unterzog er sie auch keiner systematischen Kritik. Diese ‚Schonung‘ der Religion lässt sich bei ihm jedoch nicht damit begründen, dass er religiöse Vorstellungen als besonders schützenswert erachtete. Diese Vorstellung, einen Bereich des menschlichen Denkens zu seinem Schutz pauschal von Kritik auszunehmen, wäre nicht mit dem zugrunde gelegten Verständnis von Radikalität vereinbar und würde aufgrund dieser Beschränkung der Kritik auf eine moderate Ausformung der Aufklärung hindeuten. Stattdessen entspringt Schmohls Ausklammern der Religion seinem konsequenten Toleranzverständnis, das sich wiederum auf seine Überzeugung der absoluten Subjektivität menschlicher Meinungen zurückführen lässt. Dieses konsequente Toleranzverständnis verband sich mit Schmohls durch den Sturm und Drang geprägten Vorstellung einer privaten Gefühlsreligion: Aufgrund ihrer gefühlsbetonten und eklektischen Zusammenstellung stellt diese Religionsvorstellung ein vollkommen subjektives Konstrukt dar, das bei jedem Menschen anders ausgeformt sein muss. Indem folglich auch hier die Subjektivität die Grundlage von Schmohls Gefühlsreligion darstellte, wird einem dogmatischen Anspruch auf absolute Gültigkeit, wie er den herkömmlichen und besonders den monotheistischen Religionsvorstellungen zugrunde liegt, quasi per definitionem widersprochen. Auch dieses Verständnis der Subjektivität von Meinungen und der damit einhergehenden
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Toleranz gegenüber menschlichen (Glaubens-)Überzeugungen kann mit Schmohls aus dieser Subjektivität resultierenden Vorstellung einer persönlichen, sich dem religiösen Wahrheitsanspruch widersetzenden Gefühlsreligion als ‚radikal‘ bezeichnet und verstanden werden. Bezogen auf das Beispiel der Religionskritik kann folglich eine radikale Ausformung der Aufklärung darin erkannt werden, wenn die Gültigkeit eines bestehenden und allgemein akzeptierten Konzepts – in diesem Fall: die monotheistische Religionsvorstellung – im Zuge einer kompromisslosen aufgeklärten Kritik infrage gestellt oder durch ein alternatives, mit aufgeklärten Prinzipien zu vereinbarendes Konzept abgelöst wird, das sich deutlich von einer auf absolute Gültigkeit pochenden Religion absetzt. Somit lässt sich, obwohl er keine ausdrü ckliche Religionskritik betrieb, selbst bei Schmohl Radikalitä t finden. Diese differenzierende Einordnung der radikalen, religionsbezogenen Aussagen aller drei Autoren macht im Umkehrschluss auch deutlich, dass sich der Inhalt, der ihre Kritik ausmacht, nicht alleine durch das beschreibende Adjektiv ‚radikal‘ zusammenfassen lässt: Wenn sowohl Knoblauchs als auch Riems religionskritische Aussagen – und sogar Schmohls zurückhaltende Thematisierung der Religion – als ‚radikal‘ bezeichnet werden können, gibt diese Bezeichnung lediglich die Tendenz ihrer Kritik wieder, die auf das Infragestellen eines etablierten Themenkomplexes hinausläuft. Welche genauen inhaltlichen Aussagen die drei Aufklärer jedoch jeweils formulierten, lässt sich allein anhand der Zuschreibung ‚radikal‘ nicht erkennen. Auch dies kann wiederum als weiterer Beleg dafür gesehen werden, dass es letztendlich kein homogenes inhaltliches Konzept einer radikalen Aufklärung gegeben hat. Das differenzierende Konzept einer Aufklärung mit radikaler oder moderater Tendenz lässt sich auch auf die anderen Themenfelder anwenden, mit denen sich Schmohl, Knoblauch und Riem beschäftigten. So wurde deutlich, dass die Ideen Johann Christian Schmohls zu einer vollkommenen Veränderung der frühneuzeitlichen Gesellschaft und Politik geführt hätten. Auch Karl von Knoblauchs Vorstellungen unterschieden sich in diesem Bereich deutlich von der Ordnung, wie sie zu seinen Lebzeiten und in seiner Heimat herrschte. Obwohl sich Knoblauch und Schmohl vermutlich in manchen ihrer Forderungen einig gewesen wären – beispielsweise lehnten beide ein stehendes Heer als Stütze unrechtmäßiger Herrschaft ab –, verfolgten sie dennoch verschiedene Ziele und vertraten sogar sich deutlich unterscheidende Konzepte. Dies wird besonders im Kontext ihres Verständnisses von Freiheit deutlich, deren Sicherung in den Augen beider Autoren das oberste Ziel des Staates darstellte: Während aus Knoblauchs Sicht diese Freiheit nicht ohne die garantierte Sicherheit des Privateigentums möglich gewesen wäre, war für Schmohl Freiheit nicht ohne eine staatliche Kontrolle und ein eventuelles Eingreifen in die Besitzverhältnisse der Bürger denkbar. Riem hätte hierbei hingegen Knoblauch zugestimmt und betrachtete selbst eine staatliche Steuerung des Handels als Angriff auf das Privateigentum der Bürger.
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Trotz dieser Übereinstimmung mit Knoblauch lassen sich gerade in Riems politischen und gesellschaftlichen Darstellungen die geringsten Unterschiede zur Ordnung der damaligen Zeit feststellen: Weder forderte er für die deutschen Länder eine Abschaffung der Ständeordnung noch war er generell mit der Herrschaftsform der Monarchie unzufrieden. Der Demokratie stand er hingegen skeptisch gegenüber und wollte die politische Partizipation so begrenzt wie möglich wissen, die idealerweise nur in den Händen ‚vernünftiger‘ Männer liegen sollte. Seine Beschreibung der bürgerlichen Schicht als ein eigenständiger Stand entsprang keiner revolutionären Haltung, sondern einer genauen Beobachtung und Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Riems Forderung nach umfangreich ausformulierten Gesetzestexten, die von den Richtern wortwörtlich angewandt werden mussten, entsprach sowohl der Forderung der französischen Revolutionäre als auch der Vorstellung vieler Fürsten. Um Riems politisches wie gesellschaftliches Ideal durchzusetzen, hätte es zwar Reformen bedurft, jedoch keiner vollkommenen Veränderung der Verhältnisse. Mit Blick auf Riems letzte Schriften, die angesichts der praktischen Alleinherrschaft Napoleons verfasst wurden, bricht Riem sogar mit seinem Prinzip, dass sich jeder Herrscher den Gesetzen seines Landes beugen müsse, da die Handlungen eines Politikers wie dem ‚größten Helden aller Zeiten‘ keinesfalls durch Schranken begrenzt werden dürften. Mit dieser politischen Überzeugung zeigt Riems Beispiel, dass auch eine radikale Religionskritik verbunden mit einer materialistischen Philosophie nicht automatisch zu einer radikalen Überzeugung in Sachen Gesellschaft oder Politik führen musste. Während es Riem folglich ein Anliegen war, bestimmte Teile der frühneuzeitlichen Ordnung beizubehalten und die von ihm vertretene Aufklärung als ‚moderat‘ charakterisiert werden kann, lassen sich bei ihm dennoch – von der Religion abgesehen – auch radikale Tendenzen finden. So hätte seine Forderung nach einer kompromisslosen Gleichstellung der Juden zu einer deutlichen Veränderung der bestehenden Verhältnisse geführt. Auch Riems Vorstellung einer progressiven Verteilung der Steuerlast zugunsten der Ärmsten hätte einen klaren Unterschied zur frühneuzeitlichen Praxis der Steuererhebung bedeutet. Gerade an Riems sehr unterschiedlich zu bewertender Philosophie zeigt sich der Vorteil einer offenen Definition von radikaler Aufklärung: So kann er im Bezug auf die meisten seiner Aussagen, die auf die frühneuzeitliche Gesellschaft und Politik abzielten, keiner radikalen, sondern eher einer moderaten Ausprägung der Aufklärung zugeordnet werden. Es wäre jedoch verkürzend, ihn deswegen als ‚moderaten Aufklärer‘ zu bezeichnen, da dies seine radikalen Aussagen im Bereich der Religionskritik vernachlässigen würde. Aus dem gleichen Grund kann Riem jedoch wegen seiner radikalen Religionskritik nicht pauschal als ‚radikaler Aufklärer‘ oder ‚Radikalaufklärer‘ aufgefasst werden. Stattdessen muss seine jeweilige Haltung, wie oben vorgenommen, differenziert im Kontext der damaligen Verhältnisse beschrieben und mit Blick auf ihre radikale oder moderate Ausprägung bewertet werden.
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Dieses Bild eines sowohl radikalen als auch moderaten Aufklärers ist zwar komplizierter darzustellen, verhindert jedoch pauschale Urteile und verkürzende Beschreibungen, wie sie sich besonders im Falle Riems in der bisherigen Forschungsliteratur finden lassen: So ist es nicht haltbar, Riem als radikaldemokratischen Autor zu charakterisieren. Eine solche Bezeichnung lässt vollkommen außer Acht, dass Riem einer demokratischen Ordnung skeptisch gegenüberstand und unter einer ‚Republik‘ keine Demokratie, sondern eine Regierung in Art einer meritokratischen Bürger-Aristokratie verstand. Genauso ist es zu verkürzend, Riem allein auf Grundlage eines seiner frühen Werke, dem Fragment Ueber Aufklärung von 1788, pauschal als moderaten Aufklärer zu kennzeichnen – selbst wenn Riem zu vielen politischen und gesellschaftlichen Themen einen moderaten Standpunkt vertrat. Mit Blick auf Riems Lebensumstände von 1788 ist es zwar verständlich, dass er als preußischer Bürger, der in seinem Land für die Verbreitung der Aufklärung werben wollte, sich von politischen Umbrüchen distanzierte. Eine solche Beschreibung ignoriert aber, dass sich gerade Riems Haltung bezüglich Revolutionen in den folgenden 13 Jahren, in welchen er weiterhin als Autor tätig war, deutlich änderte. Sie unterschlägt, dass Riem – trotz seiner moderaten Haltung gegenüber dem Ständesystem – für eine radikale Veränderung der jüdischen Lebensverhältnisse plädierte. Beschränkt man darüber hinaus Riems religionsphilosophische Schriften auf die Charakterisierung, es seien die Werke eines Neologen oder reformierten Theologen, ignoriert man ihre radikale religionskritische Tendenz. Zudem wird hierdurch Riems Ablehnung der Offenbarungsreligionen marginalisiert, die deutlich aus seinen beiden – von der Forschung kaum wahrgenommenen – philosophischen Schriften hervorgeht. Eine pauschale Beschreibung Riems entweder als radikaler oder moderater Aufklärer ist folglich nicht möglich. Stattdessen bietet es sich an, ihn als Aufklärer zu bezeichnen, der in bestimmten thematischen Bereichen eine radikale Aufklärung vertrat. Innerhalb dieser speziellen Themenkomplexe war Riem somit auch ein radikaler Aufklärer. In vielen anderen Bereichen tendierte er hingegen zu einer moderaten Aufklärung, da seine Konzepte zwar Reformen vorsahen, er sich jedoch nicht für Veränderungen aussprach, welche die Grundlagen der damaligen Ordnung abgelöst hätten. Hier zeigte er sich als moderater Aufklärer. Auch wenn Karl von Knoblauch und Johann Christian Schmohl im Gegensatz zu Andreas Riem deutlich häufiger zu einer radikalen Kritik tendierten, ist auch bei ihnen die Bezeichnung ‚radikale Aufklärer‘ aufgrund ihrer Pauschalität unangebracht: Versucht man damit ihr schriftstellerisches Gesamtwerk zu beschreiben, liefert das Adjektiv ‚radikal‘ keinen deskriptiven Mehrwert. Denn darüber hinaus müsste ausgeführt werden, ob dieses Urteil für alle der von ihnen behandelten Themenbereiche getroffen werden kann. Im Bezug auf spezifische Themen kann die Unterscheidung von ‚radikal‘ oder ‚moderat‘ jedoch einen Hinweis darauf geben, welche Tendenz ihre Kritik hatte. Diese Tendenz ist bei beiden Autoren mit Blick auf die Gesellschaft und Politik, aber auch im Bezug auf die Religion – trotz ihrer inhaltlichen Differenz – eindeutig radikal. Hierbei deutet ‚radikal‘ darauf hin, dass
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sich ihre entsprechenden Positionen am radikalen Rand des diskursiven Feldes der Aufklärung verorten lassen, der die Grenze des Sagbaren ausmacht. Ihre genaue Positionierung ergibt die inhaltliche Analyse. Damit wird auch im Vergleich von Schmohls und Knoblauchs Positionen besonders deutlich, dass es insgesamt kein einheitliches Konzept einer ‚radikalen Aufklärung‘ gibt, die sich durch bestimmte inhaltliche Merkmale von einer ‚moderaten Aufklärung‘ unterscheidet. Daher bleibt weiterhin das Bild einer heterogenen Aufklärung bestehen, deren jeweilige Ausprägung individuell untersucht und bewertet werden muss und die als Kritik, der sich alles unterwerfen muss, weder thematisch noch inhaltlich festgelegt ist.
Quellen- und Literaturverzeichnis Vorbemerkung
Um den Überblick über die veröffentlichten Schriften der drei Autoren zu erleichtern, sind die gedruckten Quellen von Karl von Knoblauch, Andreas Riem und Johann Christian Schmohl separat aufgeführt. Zudem wird zwischen selbstständigen Publikationen sowie Artikeln und Aufsätzen unterschieden, um auch hier die Übersicht zu gewährleisten. Darüber hinaus werden auch die Gedichte Johann Christian Schmohls gesondert aufgeführt.
Ungedruckte Quellen Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) • I. HA. GR, Rep. 11, Akten Nr. 146, Verbot von Johann Christian Schmohls Sammlung von Aufsä tzen verschiedener Verfasser. • I. HA Rep. 9, Allg. Verw. Nr. F 2 a, Fasz. 24. • I. HA Rep. 49, Fiscalia, Q Nr. 48, Verbot von Andreas Riems Zeitschrift Europa in seinen politischen und Finanzverhä ltnissen und anderer Schriften sowie Ausweisung aus Preußen. • I. HA Rep. 78 alt III Nr. 80. • VIII. HA. Rep. C Nr. 187 Bd. 33, Briefe Karl von Knoblauchs. Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM) • 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 36, Briefe Karl von Knoblauchs. • 340 von Knoblauch zu Hatzbach Nr. E III 37. • 17d Knoblauch Nr. 27. Staatsarchiv Basel-Stadt (StABS) • Nachlass Isaak Iselin, PA 98a 38 p. 97; 101–118, Briefe Johann Christian Schmohls an Isaak Iselin. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (GSA) • GSA 119/20, Karl von Knoblauch an Christian Joseph Jagemann, 3. 12. 1787. • GSA 105/142, Karl von Knoblauch an Christian Wilhelm Büttner, 2. 5. 1788. Stadtarchiv Halle (StdA Halle) • Verlagsarchiv Gebauer & Schwetschke, A 6.2.6 Nr. 18179 (Kartonnr. 67), Schreiben von Johann Christian Schmohl aus Halle, 4. 12. 1780.
https://doi.org/10.1515/9783110693102-014
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (SBB PK) • Nachlass Decker. Bd. 9, p. 122–149, Briefe Andreas Riems an Georg Jacob Decker. • Nachlass Decker. Bd. 9, p. 175, Johann Christian Schmohl an Georg Jacob Decker, 20. 2. 1781. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (NSuUB Göttingen) • Cod Ms Licht VI 6, Johann Christian Schmohl: Klaßen der Völker nach ihrer Oekonomie. Wahre Geschichte der Menschheit. • Cod Ms Lichtenberg III, 118, Karl von Knoblauch: Beweis, daß keine Materie denken kann. Anhang zum Brief Karl von Knoblauch an Georg Christoph Lichtenberg, 25. 9. 1786. Zentralbibliothek Zürich (ZBZ) • Ms Bodmer 4c.12, Johann Christian Schmohl an Johann Jakob Bodmer, 27. 10. 1779. Germanisches Nationalmuseum (GNM) • Hs59285, Karl Damian Achaz von Knoblauch: Ausführliche Geschichte der Familie von Knoblauch zu Hatzbach. Nach den archivalischen Papieren derselben und andern Quellen zusammengestellt. Optisch verfilmt: Nachlass Philanthropin Dessau • III. 4, p. 15–16, Johann Christian Schmohl an N. N. [vermutl. Christian Heinrich Wolke], 10. 11 1775, Nachlass Philanthropin Dessau. • III. 7, 27, p. 1–4, Johann Christian Schmohl an Christian Heinrich Wolke, 9. 3. 1776 und 3. 5. 1776.
Gedruckte Quellen Karl von Knoblauch
Selbstständige Publikationen
[Knoblauch, Karl von]: Anti-Hyperphysik zur Erbauung der Vernünftigen. [ohne Druckort] 1789. [– ]: Dialogen über einige Gegenstände der politischen Oekonomie und Philosophie. [Marburg] 1789. [– ]: Skeptische Abhandlungen über wichtige Gegenstände der menschlichen Erkenntniß. [Marburg] 1789. [– ]: Anti-Taumaturgie oder die Bezweiflung der Wunder. Loretto [Berlin] 1790. [– ]: Beitrag zur Erläuterung einiger mathematischen, ontologischen und philosophischen Wahrheiten. Amsterdam [Berlin] 1790. [– ]: Die Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos. Germanien [Nürnberg] 1790. [– ]: Taschenbuch für Aufklärer und Nichtaufklärer auf das Jahr 1791. Berlin 1790. [– ]: Ueber Faunen, Satyrn, Panen und Silenen. Einige Gespräche. Erster Teil. Berlin 1790. [– ]: Noten über eine sehr merkwürdige Note des teutschen Götterboten. Ein Gespräch, aber kein Göttergespräch. [Marburg] 1791.
Quellen- und Literaturverzeichnis
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[– ]: Ueber Faunen, Satyrn, Panen und Silenen. Einige Gespräche. Zweiter Teil. Berlin 1791. [– ]: Ueber Feerei. Auch ein Beitrag zu den Theorien des Wunderbaren. Berlin 1791. – Politisch-philosophische Gespräche. Erster Theil [kein zweiter Teil]. Berlin 1792. [– ]: Ueber Sylphen, Gnomen, Salamander und Ondinen. Einige Gespräche. Zwei Teile. Weissenfels u. Leipzig 1793. [– ]: Das Uebernatürliche geprüft von einem Freiwilligen. Germanien [Weißenfels] 1794. [– ]: Ueber den Pan und sein Verhältnis zum Sylvanus. Eine antiquarisch-philosophische Abhandlung. Biel [Gießen] 1794. [– ]: Ueber einige Grundbegriffe der Ontologie, Kosmologie und Grössenlehre. Ein philosophischer Kommentar von einem Eklektiker. Weissenfels u. Leipzig 1794.
Artikel und Aufsätze
[Knoblauch, Karl von]: Advise an Heidenprediger. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 324–327. [– ]: Aehnlichkeit der Religionen. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 91–100. [– ]: Analyse der Schrift des Herrn von Fontanelle über die Orakel. Mit Zusäzen. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 82–89, 209–214, 217–222, 285–293. [– ]: Beitrag zur Geschichte der Theologie. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 231–239. [– ]: Bileam der zweite/Schwester Philosophie. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 334– 340, 10 (1787), S. 177–181, 281–285, 12 (1787), S. 109–114. [– ]: Einige Regeln zur Prüfung angeblicher Wunder. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 329–333. [– ]: Erste Menschenrechte, auf den Kodex der Natur gegründet. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 152–159. [– ]: Etwas von blauen Wundern. Oder Nachtichten aus der Feenwelt. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 77–82, 169–177, 255–259. [– ]: Freiheit. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 197–202. [– ]: Jedem das Seinige! Oder über die Herrschaft der Eigenliebe. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 325–329. [– ]: Noch Etwas von Mirakeln: oder ein Paragraf aus der Kritik der reinen Vernunft. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 329–333. [– ]: Tatarn, Eichelfresser, Jäger, Hirten und Akkerleute. Ein Versuch über die älteste Menschengeschichte. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 5–16, 10 (1787), S. 168–174. [– ]: Ueber den Begriff der Abderitheit. Eine Vorlesung. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 47–62. [– ]: Ueber die Kunst in der Geschichte zu muthmassen. Aus dem Französischen des Herrn von Alembert. Mit einigen Zusäzen. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 168– 180. [– ]: Ursprung der Theologie. In: Das graue Ungeheur 8 (1786), S. 5–12. [– ]: Zu einem seltnen Selbstmord. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 107–114. [– ]: Analyse über eine Analyse, d.i. über das Essai analytique sur les facultés de l’ame des Herrn Fabre. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 343–360, 12 (1787), S. 56–65, 189–200, 339–351. [– ]: Anthropomorphism. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 146–152. [– ]: Aphorismen für Selbstdenker. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 5–13.
550
Quellen- und Literaturverzeichnis
[Knoblauch, Karl von]: Auch etwas über Wunder. Vom Dritten. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 237–251. [– ]: Aufmunterung an’s Ungeheur. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 261–267. [– ]: Beweis, daß man ohne Augen sehen kan. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 185– 188. [– ]: Boscowich’s Philosophie. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 30–41, 152–166. [– ]: Demüthige Bitte der Volkane an Herrn Berg-Akademie-Inspektor Werner zu Freiberg. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 115–137. [– ]: Der Körper. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 81–83. [– ]: Etwas von Naturgesetzen. In: Der Teutsche Merkur 3. Vierteljahr (1787), S. 197–203, 4. Vierteljahr (1787), S. 82–94. [– ]: Heidenbekehrer. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 107–111. [– ]: Katastrophen. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 41–44. [– ]: Mohämmeds Traktament. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 301–307. [– ]: Monolog einer Milbe in siebenten Stockwerk eines Edamerkäses. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 88–91. [– ]: Montaigne. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 320–329. [– ]: Mysterien. In: Das graue Ungeheur 12 (1787), S. 66–71. [– ]: Natur. In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 71–76. [– ]: Natur ist unser Gesezz. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 296–301. [– ]: Ueber Aberglauben. In: Der Teutsche Merkur 4 (1787), S. 193–200. – Ueber das Denken der Materie. In: Der Teutsche Merkur 3 (1787), S. 185–197. [– ]: Ueber Wunder. In: Der Teutsche Merkur 2 (1787), S. 85–91. [– ]: Verkannte Philosophie. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 159–162. [– ]: Was ist der unerträglichste Despotismus. In: Das graue Ungeheur 11 (1787), S. 64– 66. [– ]: Wo ist der Teufel? In: Das graue Ungeheur 10 (1787), S. 116–127. [– ]: Aristogiton an Phädrias. Etwas von Polypen. In: Hyperboreische Briefe 3 (1788), S. 195–200. [– ]: Böoz an Amyntor. Ueber Varro de re rustica. In: Hyperboreische Briefe 1 (1788), S. 200–207. [– ]: Evander an Palemon. Ueber einen Vers des Horaz. In: Hyperboreische Briefe 3 (1788), S. 78–82. [– ]: Florion an Selanor. Gegen Montesquieu. In: Hyperboreische Briefe 3 (1788), S. 276– 285. [– ]: Mesrour an Al-Mamun. Ueber den Koran. In: Hyperboreische Briefe 1 (1788), S. 77– 81. [– ]: Phädon an Kallias. Meine Genese. In: Hyperboreische Briefe 2 (1788), S. 161–165. [– ]: Tisander an Philomedon. Ueber Virgil’s Silen. In: Hyperboreische Briefe 2 (1788), S. 43–48. [– ]: Die Consolidation. In: Der Teutsche Merkur 4 (1789), S. 284–295. [– ]: Ein Beitrag zu den Prüfungen der Wunder. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 12,3 (1789), S. 21–26. [– ]: Hippias an Xantus. Formul zu einem politisch-chymischen Prozeß. In: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 153–161. [– ]: Klindor an Araminta. Zwote Lektion. In: Hyperboreische Briefe 5 (1789), S. 305–316.
Quellen- und Literaturverzeichnis
551
[– ]: Lindor an Araminthe. Etwas aus dem sapphischen Zirkel. In: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 299–215. [– ]: Ob der Ackerbau wirklich den Grund des Reichthums der Staaten ausmacht? Ein Dialog. In: Der Teutsche Merkur 3 (1789), S. 139–151. [– ]: Palemon an Evander. Etwas aus den lezten Stunden eines sterbenden Geometers. In: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 248–256. [– ]: Phädon an Kallias. Salech und der große Stein. In: Hyperboreische Briefe 5 (1789), S. 183–185. [– ]: Skizze eines künftigen größeren Werks über Wunder. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 12,3 (1789), S. 35–37. [– ]: Theophron an Paulin. Antwort. In: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 197–203. [– ]: Wahrmund an Wißlieb. Eine historische Lektion. In: Hyperboreische Briefe 5 (1789), S. 109–113. [– ]: Xiphilin an Damöt. Den 23 Eismond. In: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 111–114. [– ]: Anti-Spectrologie: oder Beweis, daß es außer der Einbildung keine Gespenster giebt. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 13,4 (1790), S. 41–48. [– ]: Belinde an Phaon. Gartengespräch. In: Hyperboreische Briefe 6 (1790), S. 226–235. [– ]: Crates an Hippias über Mirakel. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 13,1 (1790), S. 41–44. [– ]: Klindor an Aramintha. Eine Lection vom Abbee Palmerin. In: Hyperboreische Briefe 6 (1790), S. 171–186. – Politisch philosophische Gespräche. Achtes Gespräch. Das Recht zu strafen und Endzweck der Strafen. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1790), S. 217–232. – Politisch philosophische Gespräche. Erstes Gespräch. Die Wälder. In: Der neue Teutsche Merkur 1 (1790), S. 297–307. – Politisch philosophische Gespräche. Fünftes Gespräch. Gesetzgebung. Moral. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1790), S. 180–211. – Politisch philosophische Gespräche. Viertes Gespräch. Die stehende Miliz. In: Der neue Teutsche Merkur 2 (1790), S. 298–309. [– ]: Theophron an Xiphilin. Ueber den Phädonism. In: Hyperboreische Briefe 6 (1790), S. 55–63. [– ]: Ueber Feerei. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 13,4 (1790), S. 56–62. [– ]: Ueber reelle und persönliche Majestät. In: Der neue Teutsche Merkur 1 (1790), S. 48–58. [– ]: Anzeige. In: Braunschweigisches Journal 4.12 (1791), S. 490–491. [– ]: Beschluß des Artikels von unglaublichen Dingen. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 14,1 (1791), S. 17–24. [– ]: Da liegt der Apfel. In: Paragrafen 1 (1791), S. 228–240. – Eine Anekdote die bekannt zu werden verdient. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1791), S. 443–446. – Etwas über das Recht eines Staats, Briefe, die an ihn nicht geschrieben sind, zu erbrechen und zu unterschlagen. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1791), S. 139–142. [– ]: Fliegende Drachen. In: Paragrafen 1 (1791), S. 206–209. [– ]: Nerine’ns Abendgesellschaft. In: Paragrafen 1 (1791), S. 244–249. [– ]: Von den Ursachen der Liebe der Eltern zu ihren Kindern. In: Olla potrida: Eine Quartalschrift 14,2 (1791), S. 60–67.
552
Quellen- und Literaturverzeichnis
Knoblauch, Karl von: An die Herren Herausgeber der Deutschen Monatsschrift. In: Deutsche Monatsschrift 1 (1792), S. 339–342. [– ]: Anfang des Ersten Buches des Lukrez, von der Natur der Dinge. In: Der neue Teutsche Merkur 3 (1792), S. 44–49. [– ]: Ein Gespräch. In: Philosophisches Archiv 1,2 (1792), S. 99–108. – Erklärung des Justizraths von Knoblauch, über den Aufsatz im ersten St. der Wiener Zeitschrift, betitelt: über das Recht und Nichtrecht, Briefe zu erbrechen und zu unterschlagen. In: Schleswigsches ehem. Braunschweigisches Journal 2 (1792), S. 110– 114. – Gibt es wirklich Rechte der Menschheit? und sind die Menschen in Ansehung derselben völlig gleich? In: Philosophisches Magazin 4.4 (1792), S. 424–446. – Politisch philosophische Gespräche. Beschluß des Gesprächs: Die Wälder. In: Der neue Teutsche Merkur 2 (1792), S. 329–340. – Politisch philosophische Gespräche. Fortsetzung des Gespräches: Die Wälder. In: Der neue Teutsche Merkur 2 (1792), S. 306–319. [– ]: Versuch eines konzentrirten Beweises für die Substantialität und Einfachheit des Ich. In: Philosophisches Archiv 1,3 (1792), S. 114–120. [– ]: Etwas über stehende Heere. In: Minerva 8 (1793), S. 257–266. [– ]: Nachricht von dem merkwürdigen Proceß des Professor Werners der Universität Gießen, wegen seiner herausgegebenen Aetiologie. In: Minerva 8 (1793), S. 477–511. – Reise in die Rheinländer im Frühling des Jahres 1793. In: Minerva 7 (1793), S. 17–31. [– ]: Skizze meiner Wundertheorie. In: Schleswigsches ehem. Braunschweigisches Journal 1 (1793), S. 272–278, 3 (1793), S. 499–505. [– ]: Ueber körperliche und unkörperliche Substanz. In: Schleswigsches ehem. Braunschweigisches Journal 3 (1793), S. 495–499. [– ]: Zufällige Gedanken über die Frage: kann ein Fürst, ohne Einwilligung der Nazion, einen Krieg anfangen? In: Der neue Teutsche Merkur 1 (1793), S. 167–174. – Beytrag zur Gelehrten-Geschichte. In: Minerva 2 (1794), S. 366–371. Andreas Riem
Selbstständige Publikationen
[Riem, Andreas]: Dorset und Julie. Eine Geschichte der neuern Zeiten. Bd. 1. Leipzig 1773. [– ]: Timoclea und Charitides, eine Geschichte von A*** R***. Leipzig 1773. [– ]: Von dem Einfluße der Religion auf das Staatssystem der Völker. Wie muß die christliche Religion beschaffen seyn? wenn sie einen guten Einfluß auf Staat, Staatssystem und Moralität haben soll. Berlin u. Leipzig 1776. – Verträglichkeit der Religion mit der Politik der Staaten. Nebst Entwurf eines Werks: Clima, – Staatsverfassung, – Nationalgeist, – Religion und Wissenschaften; Welches ist ihr wechselseitiges Verhältniß? Berlin 1779. [– ]: Geschichte eines Landpredigers in Westphalen. Wie sie im Gange des Lebens aufstößt. Berlin u. Leipzig 1780. [– ]: Geschichte einiger Esel oder Fortsetzung des Lebens und der Meynungen des Weltberühmten John Bunkels. Drei Bände. Hamburg u. Leipzig [=Berlin] 1782, 1783.
Quellen- und Literaturverzeichnis
553
[– ]: Philosophische und kritische Untersuchungen über das Alte Testament und dessen Göttlichkeit, besonders über die mosaische Religion. London [Dessau] 1785. – Gedächtnißrede auf Friedrich den Einzigen. Berlin 1786. [– ]: Beyträge zu Berichtigung der Wahrheiten der christlichen Religion. Erstes Stück. Ueber Glauben und Ueberzeugung. 1787. – Über die Malerei der Alten. Ein Beitrag zur Geschichte der Kunst. Veranlaßt von B. Rode. Verfaßt von A. Riem, Pr. zu Berlin. Berlin 1787. [– ]: Ueber Aufklärung. Ob sie dem Staate – der Religion – oder überhaupt gefährlich sey, und seyn könne? Ein Wort zu Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester. Ein Fragment. 3. unv. Aufl. Berlin 1788. [– ]: Ueber Aufklärung. Was hat der Staat zu erwarten – was die Wissenschaften, wo man sie unterdrückt? – Wie formt sich der Volkscharakter? – und was für Einflüsse hat die Religion, wenn man sie um Jahrhunderte zurückrückt, und an die symbolischen Bücher schmiedet? Ein Wort zu Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester. Zweytes Fragment, ein Commentar des Ersten. Berlin 1788. [– ]: Das reinere Christenthum oder die Religion der Kinder des Lichts. Fortgesetzte Betrachtungen über die eigentlichen Wahrheiten der Religion oder Fortgang da, wo Herr Abt Jerusalem stillstand. Erster Theil. Berlin 1789. [– ]: Christus und die Vernunft oder Prüfung der Wahrheit und Göttlichkeit der Lehre Jesu Christi des christlichen Lehrbegrifs und der symbolischen Bücher. Erster Theil. [Braunschweig] 1792. – Neues System der Natur. Über Gott, Welt, Intelligenzen, und Moralität. Dreßden u.a. 1792. [– ]: Reines System der Religion für Vernünftige. Berlin 1793. – Ueber Religion als Gegenstand der verschiedenen Staatsverfassungen. Mit Rücksicht auf die gegenwärtige Lage von Politik und Religion. Berlin 1793. [– ]: Politische Lage und Staatsintresse des Königreichs Preußen. Von einem Staatsbürger desselben. 2. Auflage. [Berlin] 1795. [– ]: Behemoth. Der Roman über alle Romane. Oder Leben, Thaten und Meynungen des irrenden Ritters Orthodox welcher gegen 2000 Jahre lebte und jetzo an der Auszehrung gar jämmerlich und gefährlich darnieder liegt. Eine Feen- und Popanzen-Geschichte fürs ganze Volk. [Hamburg] 1796. [– ]: Der Substitut des Behemoth oder Leben, Thaten und Meinungen des kleinen Ritters Tobias Rosemond. Eine Geschichte aus uralten Zeiten. Erster und zweiter Theil. Bagdad [Hamburg] 1796. [– ]: Europens politische Lage und Staats-Interesse. Hg. v. dems. Bd. 2. 1796. – Reisen durch Deutschland, Frankreich, England und Holland in verschiedener, besonders politischer Hinsicht. In den Jahren 1785 und 1795. [Leipzig] 1796 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 1). [– ]: An den Congreß zu Rastadt. Von einem Staatsmanne. [Leipzig] 1797. – Reise durch Holland in den Jahren 1796 und 1797 in Beziehung auf die Geschichte der Republik und ihre gegenwärtige Lage. Bd. 1. Frankfurt u. Leipzig 1797 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 2).
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Riem, Andreas: Reise durch Holland in den Jahren 1796 und 1797 in Beziehung auf die Geschichte der Republik und ihre gegenwärtige Lage. Bd. 2. Frankfurt u. Leipzig 1797 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 3). [– ]: Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland. An den Congreß in Rastadt gerichtet. Zwei Teile. [ohne Ort] 1798. [– ]: Infernale. Eine Geschichte aus Neu-Sodom dramatisiert. West-Indien [Hamburg] 1798. – Reise durch England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht. Bd. 1. [Leipzig] 1798 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 4). [– ]: Supplement zu der Schrift: An den Congreß zu Rastadt. Von einem Staatsmanne. [ohne Ort] 1798. – Reise durch England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht. Bd. 2. [Leipzig] 1799 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 5). – Reise durch Frankreich vor und nach der Revolution. Bd. 1. [Leipzig] 1799 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 6). – Reise durch Frankreich vor und nach der Revolution. Bd. 2. [Leipzig] 1800 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 7). [– ]: Leviathan oder Rabbinen und Juden. Mehr als komischer Roman und doch Wahrheit. Voll der kurzweiligsten Erzählungen und doch Ernst. Vom Verfasser des Behemoth. Erste, zweyte und dritte Parascha. Jerusalem, Im Jahre nach der kleinen Zeitrechnung 561. Der Christlichen 1801. Der Republikanischen 9. [Leipzig] 1801. – Reise durch Frankreich vor und nach der Revolution. Bd. 3. [Leipzig] 1801 (Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht 8). – Uiber [sic] Schrift-Sprache und Pasigraphie. Erstes Stück. Mannheim 1809. – Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland. Mit einer Einleitung zum Leben und Werk des Autors von Walter Grab. Hg. v. Georg Bürger. Tübingen 1998.
Artikel und Aufsätze
Riem, Andreas: Ueber die Arabeske. In: Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin 1 (1788), S. 276–285, 2 (1788), S. 22–37, 119– 13. – Vom Einfluss der schönen Künste auf Staaten und Charakteristik der Völker. In: Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin 1 (1788), S. 216–232. [– ]: Wenn ein reformirter Prediger des Königreichs Preußen die Confessio Sigismundi unterschreibt; folgt daraus, daß er nach derselben lehren müsse? Und verbindet ihn wirklich dieses symbolische Buch dazu? In: Berlinisches Journal für Aufklärung 1.2 (1788), S. 156–159. [– ]: Verdient der geistliche Stand mehrere Achtung, als ein andrer? In: Berlinisches Journal für Aufklärung 2 (1789), S. 155–172, 244–256.
Quellen- und Literaturverzeichnis
555
– Geschichte des fiscalischen Prozesses gegen den Herausgeber dieses Journals, die Fragmente über Aufklärung betreffend. In: Neues Berlinisches Journal über Gegenstände der Geschichte, Philosophie, Gesetzgebung und Politik 1 (1791), S. 26–80. – Kurze Nachricht über die Niederlegung meines geistlichen Amtes, bey der großen Friedrichs-Hospitalkirche in Berlin. Aus Aktenstücken bestehend. In: Ders. (Hg.): Neues Berlinisches Journal über Gegenstände der Geschichte, Philosophie, Gesetzgebung und Politik 1 (1791), S. 81–112. [– ]: Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland – An den Congreß in Rastadt gerichtet. In: Europens Politische Lage und Staats-Interesse 7 (1798), S. 99–144. [– ]: Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland – An den Congreß in Rastadt gerichtet. Fortsetzung. In: Europens Politische Lage und Staats-Interesse 8 (1798), S. 3–43.
Edition
Riem, Andreas u. Friedrich Justin Bertuch: Berliner Kunstakademie und Weimarer Freye Zeichenschule: Andreas Riems Briefe an Friedrich Justin Bertuch 1788/89. Hg. v. Anneliese Klingenberg u. Alexander Rosenbaum. Göttingen 2012. Johann Christian Schmohl
Selbstständige Publikationen
Schmohl, Johann Christian (Hg.): Johann Jakob Mochels Reliquien verschiedener philosophischen, pädagogischen, poetischen und anderer Aufsätze. Halle 1780. – Urne Johann Jacob Mochels, ehemaligen Lehrers am Philanthropin zu Dessau. Leipzig 1780. – (Hg.): Sammlung von Aufsätzen verschiedener Verfasser, besonders für Freunde der Cameralwissenschaften und der Staatswirthschaft. Leipzig 1781. [– ]: Ueber Nordamerika und Demokratie. Ein Brief aus England. Koppenhagen [= Königsberg] 1782. Schmohl, Johann Christian u. a.: Einiger vom Dessauischen Philanthropin abgegangenen Lehrer Gedanken über die wichtigsten Grundsätze der Erziehung und die darauf gegründete Einrichtung einer Erziehungsanstalt. Leipzig 1779.
Artikel und Aufsätze
Schmohl, Johann Christian: An Simon und Schweighäuser. In: Deutsches Museum 2 (1780), S. 566–570. – Ueber die neue Klopstocksche Rechtschreibung nach der Aussprache der sächsischen oder sogenannten hochdeutschen Mundart, die wohl auch die Schrift- und Nazionalsprache heißt. In: Deutsches Museum 2 (1780), S. 154–175. – Anmerkungen zu Oesfelds Topographie von Magdeburg. In: Ders. (Hg.): Sammlung, S. 435–488. – Antiphysiokratische Briefe an Herrn Rathsschreiber Iselin über Mauvillons physiokratische Briefe an Herrn Kriegsrath Dohm. In: Ders. (Hg.): Sammlung, S. 105–181. – Anzeige: Sammlung von Aufsätzen verschiedener Verfasser. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten 1 (1781), S. 237–245.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Schmohl, Johann Christian: Briefe an Herrn Pstlzz. zu Neuhof bey Brugg im Bernergebiet. Über den Zustand der Landwirthschaft und des Bauernstandes im Fürstenthum Az. Ein Roman für Landesregierungen Consisorien und Rentkammern. In: Ders. (Hg.): Sammlung, S. 199–340. – Die Erziehungsanstalten von der Finanzseite betrachtet. In: Ders. (Hg.): Sammlung, S. 25–39. – Eines gescheiden Mannes Bevölkerungsplan für die neueroberten Rußischen Provinzen, in der Crimm, am schwarzen Meer und am Dnepr; mit Anmerkungen von fremder Hand. In: Ders. (Hg.): Sammlung, S. 183–198. – Fragment aus der Lebensgeschichte eines Elsaßer Wiedertäufers, von ihm selbst beschrieben. Die Untersuchung enthaltend: ,Ob und in welchen Umständen man den Juden nicht nur freyes Religionsexerzizium, sondern selbst gleiche Rechte des Menschen und Bürgers mit den Christen einräumen könne und zum Vortheil des Staats müsse.‘ In: Ders. (Hg.): Sammlung, S. 41–103. – Kameralistische Reise durch das Fürstenthum Anhalt oder auch Ritt von H. nach P. und von P. nach H. S. In: Ders. (Hg.): Sammlung, S. 355–418. – Rezension: Sammlung von Aufsätzen verschiedener Verfasser. In: Hallische gelehrte Zeitungen 16.33 (1781), S. 261–264. – Vermischte land- und staatswirtschaftliche Ideen. In: Deutsches Museum 1 (1781), S. 37–53. – Vom Dorf- und Bauernrecht. Eine Rezension. In: Ders. (Hg.): Sammlung, S. 421–433. – Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Berlinische Monatschrift 1 (1783), S. 336–347. – Von dem Ursprunge der Knechtschaft in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Jahrbücher des Geschmacks und der Aufklärung. Bd. 2. 6. Stück, Juni 1783. Leipzig 1783, S. 339– 348. [– ]: Bemerkungen auf verschiedenen Reisen durch Elsaß, Wasgau, nach Lothringen und den obern Rhein entlang. In: Journal von und für Deutschland 10 (1784), S. 237– 242, 11 (1784), S. 331–337, 12 (1784), S. 365–372, 2 (1785), S. 137–147, 3 (1785), S. 223– 232. – Om Oprindelsen til Trœldom i det borgerlige Selskab. In: Ditlev Flindt Staal (Hg.): Samling af Oversættelser i Prosa til Nytte og Fornøielse. Bd. 1–2. Kisbenhavn 1788, S. 73–86.
Gedichte
Schmohl, Johann Christian: An Bodmer. In: Der Teutsche Merkur 3 (1775), S. 14–15. – Der Liederwürdige. In: Leipziger Musenalmanach 1776, S. 84–87. – Der Menschenfreund. In: Leipziger Musenalmanach 1776, S. 32–34. – Die Grazien. In: Leipziger Musenalmanach 1776, S. 196–198. – Himmelflug. In: Leipziger Musenalmanach 1776, S. 247–249. – Alt Deutsche Fabel. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 15. – An Basedow. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 131–133. – An Str––b–. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 17–20. – Dichterlob. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 69–71. – Lebensregel. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 116. – Selbstgefühl. In: Leipziger Musenalmanach 1777, S. 184–186.
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Personenverzeichnis Adams, John 39 f., 432 Alvensleben, Philipp Karl Graf von 89–92, 421 Anakreon 274, 276 Anières, Jean Frédéric Benjamin d’ 84 Apollonios von Tyana 151–153 Archenholz, Johann Wilhelm von 62 Ascher, Saul 338, 354 Asseburg, Achatz Ferdinand von der 60 Bahrdt, Carl Friedrich 10 f., 19, 26, 36, 45, 49, 52 f., 56, 64, 124 f., 159 Baldinger, Ernst Gottfried 54 Basedow, Johann Bernhard 18, 22 f., 26, 36, 140, 184, 215, 238, 245, 321 Baumgarten, Alexander Gottlieb 184–186 Baumgarten, Siegmund Jakob 179 Beccaria, Cesare 222, 224, 409, 413, 415, 514 Becher, Johann Philipp 248 Becker, Rudolph Zacharias 282 f., 285, 310 Becker, Wilhelm Gottlieb 28 Beltz, Henriette Rahelena 96, 100 Bembridge, Charles 420 Berckel, Engelbert François van 39 f. Bertuch, Friedrich Justin 71, 78 f., 86 f. Biester, Johann Erich 41 Bodel, Jan Daniel (von) 54 Bodmer, Johann Jakob 23, 27 f., 37, 41 Bodé, Caroline von 63, 103, 319 Bodé, Wilhelmine von 59 f., 64 Bonaparte, Napoleon 71, 98, 412, 418, 465 f., 508–510, 520, 536, 539, 544 Bonnet, Charles 210, 251 f., 277, 359 Boulanger, Nicolas Antoine 256 Bošković, Rugjer Josip 186–188, 206 f., 523
https://doi.org/10.1515/9783110693102-015
Brandenstein, Ludwig Heinrich Friedrich von 58, 64, 223, 249, 414, 440 Brockhausen, Karl Christian von 92 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 76 Burchardi, Wolrad 48 f., 541 Böhme, Friedrich Amadeus 73 Böhme, Johann Daniel 72 f. Böhme, Johannes 73 Böhme, Sara Johanna 72 Böttiger, Karl August 496 Büsch, Johann Georg 41, 293–295 Caesar, Gaius Iulius 294 Calvin, Johannes 75 Cambacérès, Jean-Jacques Régis de 412 Campe, Joachim Heinrich 18, 24, 486 Carmer, Johann Heinrich Casimir von 84, 290 Carrier, Jean-Baptiste 506 Cetti, Francesco 254, 526 Chodowiecki, Daniel 65, 79, 250 Cicero, Marcus Tullius 429 Comenius, Johann Amos 199 Cook, James 255 Cosmar, Carl Wilhelm 92 Cosmar, Sidonie Ernestine Sophie 76, 92, 100 Crome, August Friedrich Wilhelm 63, 103 Cromwell, Oliver 480 Dabuz, Florin 113 Danton, Georges Jacques 457 Dapping, Heinrich Carl 53 f. Dapping, Johann Christian 53 Darwin, Charles 169, 251, 526 Decker, Georg Jacob 32 f., 67, 75 f. Descartes, René 132, 179, 523 Diderot, Denis 105, 143, 145, 525 Didot, François Ambroise 67, 78
580 Dohm, Christian Konrad Wilhelm 36, 320 f., 323, 333–339, 347, 356 f., 366, 368, 528, 536 Dryden, John 250 Dschingis Khan, Ghengis Khan 274 f. Du Pont de Nemours, Pierre Samuel 366 Ehrmann, Johann Christian 24, 30, 283 Eleonore von Aquitanien 318 Elisabeth I. Tudor 317 Erthal, Friedrich Karl Joseph von 61 f., 448 Fabre, Pierre 214 Faraday, Michael 187 Ferguson, Adam 256 f., 276 Fichte, Johann Gottlieb 102 Finck von Finckenstein, Karl Wilhelm Graf 35 Firmas-Périés, Armand-Charles-Daniel de 99 Fischer, Gottlob Nathanael 79 Fliesen, Johann Ludwig von 87 Fontenelle, Bernard le Bovier de 216, 227 Forster, Georg 1, 497 Forster, Johann Reinhold 255 Franklin, Benjamin 41 Frey, Johann Rudolf 366 Friederike Auguste Sophie von AnhaltBernburg 27 Friedländer, David 111 Friedrich August von Anhalt-Zerbst 20, 27, 34 f. Friedrich August I. von Sachsen 16 Friedrich Wilhelm I. (Preußen) 478 Friedrich Wilhelm II. (Preußen) 77, 79, 83 f., 86, 89, 103, 352 f., 451 Friedrich II. (Preußen) 3, 35 f., 75, 77, 83, 103, 133, 274, 352, 451, 453, 467, 469, 478 f., 491, 499 Frölich, Carl Wilhelm 428, 512 Gabcke, Ludwig Friedrich 289–291 Gaßner, Johann Joseph 130, 135 Gellert, Christian Fürchtegott 22
Personenverzeichnis Gellius, Aulus 413 Georg I. (Großbritannien) 388 Goethe, Johann Wolfgang von 75, 79, 221 Goeze, Johann Melchior 124 Goldhagen, Hermann 123 f. Greineisen, Johann Ludwig Justus 63, 103 Grolman, Ludwig Adolf Christian von 52, 56–58, 101–103, 123 f. Gustav II. Adolf (Schweden) 469 Göldi, Anna 129 Görres, Joseph 71 Haas, Wilhelm 27 Hahn, Jacob George Hieronymus 95, 97, 344–347, 357, 532 Hamann, Johann Georg 16 f., 22, 35–41, 511 Haren, Carolina Wilhelmina van 39 f. Hartley, David 210 Haën, Anton van 129 Heinrich, Prinz von Preußen 77 Hell, François 323 Helvétius, Claude Adrien 106, 143, 218, 223, 227, 497, 525 Herbois, Jean-Marie Collot d’ 506 Herder, Johann Gottfried 22, 35 f., 39, 41, 79, 263, 341 Hertzberg, Ewald Graf von 35, 80 Herz, Henriette 76, 92, 340, 357 Heynitz, Friedrich Anton von 78 f., 86 f. Hißmann, Michael 50, 150 f., 209 f. Hobbes, Thomas 272 Hoffmann, Leopold Alois 102 Hogendorp, Gijsbert Karel van 39 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 88, 106, 167, 221, 249, 525 Home, Henry (Lord Kames) 256 Horaz 2, 470 Hume, David 9, 116, 144, 147, 150, 153 f., 157, 163, 221, 239, 269, 341, 501 Hutcheson, Francis 218 Irlbeck, Michael 292 f.
Personenverzeichnis Iselin, Isaak 27, 30–32, 255–259, 261 f., 264 f., 269, 272 f., 275 f., 296, 321, 323, 358, 366–368, 526 f. Jacobi, Friedrich Heinrich 215 Jefferson, Thomas 434 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 163 Jesus von Nazaret 87, 109, 135, 151–156, 160–163, 329, 347, 522 Johann Sigismund (Brandenburg) 84 Joseph II. (Österreich) 274, 339, 357, 444 f., 469 Jourdan, Jean-Baptiste 94, 349 Jung, Franz Wilhelm 95 Justin (Marcus Iunianus Iustinus) 271 Jäger, Johann Andreas 22 Kant, Immanuel 1–3, 5 f., 38 f., 41, 82, 104, 108, 145, 160, 163, 165, 178, 188, 206 f., 341, 402, 478, 518 Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 79 Karl Friedrich (Baden) 63, 366 Karl I. (England) 437, 480 Karl Theodor (Pfalz und Bayern) 62 Karl X. Philipp (Frankreich), Graf von Artois 62 Katharina II. (Russland) 33, 472 Kaufmann, Christoph 25, 37, 240 f., 283 Keate, George 497 Klein, Ernst Ferdinand 290 Kleist, Ewald Christian von 273 Knigge, Adolph Freiherr 101, 428 f., 512 Knoblauch, Auguste Wilhelmine Henriette Sophie von (verh. von Brandenstein) 48, 319 Knoblauch, Georg Philipp Reinhard von 48, 51, 58, 319 Knoblauch, Heinrich Ludwig Wilhelm von 64, 541 Knoblauch, Karl August Wilhelm Achaz von 63 Knoblauch, Karl von 12–15, 43–67, 101–106, 108 f., 111–133, 135 f., 143–154, 156–158, 163–175, 182–190,
581 198–214, 216–227, 233–235, 246, 248–254, 257, 271–277, 310–314, 317–319, 359–364, 390, 392–395, 398–408, 410–416, 418 f., 423, 425, 429 f., 432, 438–451, 468–479, 485, 495–500, 507, 511–517, 519, 521–526, 530, 532, 537–545 Kraus, Georg Melchior 79 Krieger, Johann Christian Konrad 53 Kästner, Abraham Gotthelf 185 Köster, Heinrich Martin Gottfried 101 f., 123 f. La Mettrie, Julien Offray de 168, 227 Laurens, Henry 37 f., 432 Lavater, Johann Caspar 23, 27, 128, 135, 240, 329 Leibniz, Gottfried Wilhelm 88, 174, 184 f., 251, 341 Lenz, Jakob Michael Reinhold 19, 236 Lenz, Karl Gotthold 70 Leopold III. Friedrich Franz von AnhaltDessau 19, 321, 343 Less, Gottfried 148, 153 Lessing, Gotthold Ephraim 22, 78, 103, 216, 321, 328, 343 Leuchsenring, Franz Michael 63 Leuchsenring, Johann Ludwig 63 Lichtenberg, Georg Christoph 49 f., 64, 119, 194, 201, 253, 257 Linné, Carl von 255 Linschoten, Paul Strick van 96 Locke, John 144, 399 f., 402, 411, 415 Louis Philippe II., Herzog von Orléans 441 Ludwig VII. (Frankreich) 318 Ludwig XIV. (Frankreich) 471, 498, 510 Ludwig XVI. (Frankreich) 418, 448, 467, 516, 540 Ludwig X. von Hessen-Darmstadt 57 Luise Henriette Karoline von HessenDarmstadt 63 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 118, 525 Lusi, Spiridion Graf von 77 Luther, Martin 75, 302, 323, 325 Léry, Jean de 263
582 Macpherson, James 263 Maimieux, Joseph de 99 Maimon, Salomon 111, 340 f., 355, 357 Manteuffel, Ernst Christoph von 2 Marat, Jean Paul 457, 464, 506 Maria I. Tudor 317 Marie-Antoinette von Österreich-Lothringen 319, 456 Mauvillon, Jakob 43, 48 f., 51, 56, 59, 63 f., 66, 102, 224, 257, 367–370, 372, 376 f., 396, 404, 444–448, 477, 516, 541 Meiners, Christoph 50 Mendelssohn, Moses 1, 5, 82, 111, 214, 280, 320 f., 329, 337, 341 Mercier, Louis-Sébastien 10, 471 Meyer, Johann Heinrich 79 Michaelis, Johann David 329 Mirabeau, Honoré-Gabriel de Riquetti de 366 f. Mochel, Johann Jakob 24 f., 36, 137, 190, 235–238, 240, 245, 283 f., 367, 481, 530 f. Montaigne, Michel de 115, 149, 263, 273, 318 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 76, 112, 221 f., 304, 360, 429, 452, 475 Moritz, Karl Philipp 70 f., 86 f. Moser, Johann Jakob 366 Moses 154 f., 161, 347 Necker, Jacques 452 Nettelbladt, Daniel 290 Newton, Isaac 186 Nicolai, Christoph Friedrich 67, 76 f., 102 f. Oberlin, Johann Friedrich 26 Origines 328 Paul, Jean 67 Paulus von Tarsus 155, 322 Pauw, Cornelius de 114 Pestalozzi, Johann Heinrich 27 f., 31 f., 238 f., 280, 325, 481 Pfeffel, Gottlieb Konrad 26, 322
Personenverzeichnis Philadelphia, Jacob 274 Philostratos, Flavius 152 Pinto, Isaac de 345 Pitt, William (der Jüngere) 142, 397, 460 Pott, Degenhard 10 Priestley, Joseph 210 Pufendorf, Samuel 405 Pythagoras von Samos 194 Qianlong 274 f. Quesnay, François 365 f. Rabener, Gottlieb Wilhelm 22 Raynal, Guillaume-Thomas François 143, 471 Rebmann, Georg Friedrich 94, 96 Rehberg, August Wilhelm 49 f. Reichardt, Johann Friedrich 16, 36, 38–40, 511 Reinhold, Carl Leonhard 280 Riem, Abdias Theodatus 72 Riem, Andreas 12–15, 68–101, 103 f., 108–111, 116, 132–136, 139, 141–143, 154–163, 166, 170 f., 175–183, 194–198, 209, 227–235, 246, 300–310, 313 f., 316 f., 319, 340–344, 346–364, 384–390, 393, 395–398, 416–423, 429 f., 450–468, 478–480, 484, 500–510, 512–515, 517–525, 530, 532–537, 539, 541–545 Riem, Johann 69, 72, 74–76, 87, 89, 100, 307 f., 421 Riem, Johann August Friedrich Ludwig 100 Riem, Johann Daniel 72 Riem, Johann Philipp 72 f. Riem, Maria Elisabeth Wilhelmina 72 Riem, Philipp Konrad 72–74 Robespierre, Maximilien de 404, 419, 457, 459–461, 464 f., 480, 506, 518 Robinet, Jean-Baptiste-René 251 f., 277, 359 Rochefoucauld, Louis-Alexandre de La 218 Rode, Christian Bernhard 78
583
Personenverzeichnis Rousseau, Jean-Jacques 75, 143, 251, 255 f., 262, 264, 276, 315, 345, 402, 404, 425, 427, 452, 487, 497, 518 Röder, Auguste Johanette Friederike von 48 f., 51, 54, 58 f., 319, 541 Röder, Viktor August Wilhelm von 51, 58 f., 224 Rüdiger, Johann Christian Christoph 20, 28, 339 Sack, August Friedrich Wilhelm 163 Sander, Christian Lävin 33, 41 f. Sappho 317 Scheffner, Johann George 40 Schlettwein, Johann August 258, 366, 371 Schlosser, Johann Georg 282 Schlözer, August Ludwig von 50 Schlüter, Joachim Andreas 84 Schmid, Carl Christian Erhard 102 Schmohl, Johann Christian 12–42, 101, 103 f., 106, 108, 130 f., 136–141, 143, 157 f., 190–193, 196, 235–245, 247, 257–266, 268–272, 275–280, 283–299, 301, 307–310, 314–316, 321–340, 346 f., 354, 356–361, 363 f., 366–385, 389, 393, 395 f., 398, 423–438, 478, 481–495, 501, 504, 507, 510–512, 514, 517–520, 522, 526–532, 534, 537, 541–543, 545, 548 Schulz, Johann Heinrich 124 Schweighäuser, Johannes 24 f., 27, 30, 283 f., 323, 367 Seel, Wilhelm Heinrich 52 Segner, Johann Andreas (seit 1755: von) 185 Seligmann, David (ab 1814: Eichthal, David Freiherr von) 111 Selle, Christian Gottlieb 210 Semler, Johann Salomo 163 Shakespeare, William 250, 328 Sieyès, Emmanuel Joseph 71, 465 f., 508 Simon, Johann Friedrich 24 f., 27, 30, 283 f., 323, 367 Smith, Adam 256 f., 372 f., 375–377, 381, 387, 395 f., 528 f., 534
Spalding, Johann Joachim 163 Spinoza, Baruch de 7, 9, 147, 177 f., 182, 185, 189, 199, 206–208, 210, 215, 341, 523–525 St. John, Henry, 1. Viscount Bolingbroke 159 Stenzel, Gustav Adolf Harald 16 Sterne, Lawrence 74 Stuart, Anne 317 Svarez, Carl Gottlieb 290 Swedenborg, Emanuel 165 Teller, Wilhelm Abraham 163 Theokrit 274, 276 Thurneysen, Johann Jakob, der Jüngere 27 f. Timur/Tamerlan 274 Toland, John 320 Traut, Maria Elisabeth 72 Unger, Johann Friedrich 67 Vanini, Lucilio 216 Vattel, Emer de 432, 436, 530 Voltaire (Arouet, François-Marie) 55, 131, 143, 159, 318, 345, 413, 452 Wachter, Johann Georg 2, 159 Weber, August Gottlob 10 Weikard, Melchior Adam 210 Weishaupt, Adam 101, 179 Weißenborn, Georg Friedrich Christian 315 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 44, 46, 51, 66, 94, 129, 167, 169, 174, 251 Wendeborn, Gebhard Friedrich August 387 Werner, Georg Friedrich 45 f., 50, 55–58, 65 f., 102, 185 f., 188–190, 199, 203, 208, 211, 516, 541 Wieland, Christoph Martin 18, 23, 30, 49, 65, 67, 76 f., 79, 223, 414, 429, 439, 441, 443, 449, 475, 496 Wilhelm IX. (Hessen-Kassel) 58 Wilhelm V. (Oranien) 58, 450 f. Wilson, Henry 497
584 Winz, Johann Philipp Jacob 124 Wisseler, Johann Ernst 54 Wolf, (Lazarus) Christian Wilhelm Christlieb 111 Wolff, Christian 168, 189 Wolke, Christian Heinrich 22 f. Wollstonecraft, Mary 315 Wurmser, Dagobert Sigmund Graf von 63
Personenverzeichnis Wöllner, Johann Christoph von 80–84, 87 Wünsch, Christian Ernst 154 Xaver, Franz 152 Ziegenhagen, Franz Heinrich 19 Zinzendorf, Nicolaus Graf von 112 Zwingli, Huldrych 75 Zöllner, Johann Friedrich 1