Johann Andreas Schmeller und der Beginn der Germanistik [Reprint 2018 ed.] 9783486825268, 9783486545517


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German Pages 235 [236] Year 1988

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Wissenschaftsgeschichte
Johann Andreas Schindlers und Jacob Grimms Literaturauffassung
Schmellers ,Bayerisches Wörterbuch' am Beginn der Germanistik
Die unparteiische Zulassung aller Ausdrücke
Schmellers dialektologisches Erkenntnisinteresse und die heutige Dialektforschung
Schmeller, Graff und die Germanistik ihrer Zeit
Sprachlehre oder Grammatik?
Von der Bedeutung der Mundarten
II. Zur Biographie
Der Briefwechsel J. A. Schmellers als biographische und wissenschaftsgeschichtliche Quelle
Zur Arbeit mit Schmellers Nachlaß
III. Zu dialektologischen Einzelproblemen
Mundartliche Enklisen bei Schmeller und heute
Schmellers dialektologische Arbeiten als Quelle für die moderne Dialektologie
Johann Andreas Schmellers Beschäftigung mit dem Zimbrischen
IV. Zum Umfeld
Dialekt in bayerischen Presseerzeugnissen zur Zeit Schmellers
Hoffmann von Fallersleben und die Anfänge einer westeuropäischen Germanistik
Heimat und Geschichte bei Johann Andreas Schmeller
Schmeller und das Elsaß
Verzeichnis der in den Beiträgen zitierten Schriften Schmellers
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Johann Andreas Schmeller und der Beginn der Germanistik [Reprint 2018 ed.]
 9783486825268, 9783486545517

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Johann Andreas Schmeller und der Beginn der Germanistik Herausgegeben von Ludwig M. Eichinger und Bernd Naumann

R. Oldenbourg Verlag München 1988

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Johann Andreas Schmeller und der Beginn der Germanistik/ hrsg. von L u d w i g M. Eichinger u. Bernd Naumann. - München: Oldenbourg, 1988 ISBN 3-486-54551-5 N E : Eichinger, Ludwig M. [ H r s g . ]

© 1988 R . Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Satz: Text-, Druck- und Verlags-GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: R . Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-54551-5

Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber

7

I. Wissenschaftsgeschichte ULRICH WYSS (Erlangen)

Johann Andreas Schindlers und J a c o b Grimms Literaturauffassung

11

NORBERT RICHARD W O L F ( W ü r z b u r g ) ,

Schmellers BAYERISCHES WÖRTERBUCH am Beginn der Germanistik

35

ROBERT HINDERLING ( B a y r e u t h ) ,

Die unparteiische Zulassung aller Ausdrücke. Vom

BAYERISCHEN WÖRTERBUCH S c h m e l l e r s z u m DEUTSCHEN

WÖRTER-

BUCH der Brüder Grimm

43

KLAUS J . M A T T H E I E R ( H e i d e l b e r g ) ,

Schmellers dialektologisches Erkenntnisinteresse und die heutige Dialektforschung

57

HANS W E R N E R E R O M S ( P a s s a u ) ,

Schmeller, G r a f f und die Germanistik ihrer Zeit

65

BERND NAUMANN ( E r l a n g e n ) ,

Sprachlehre oder Grammatik? - J a c o b Grimms Einfluß auf das sprachwissenschaftliche D e n k e n Johann Andreas Schmellers

83

LUDWIG M . EICHINGER ( B a y r e u t h ) ,

Von der Bedeutung der Mundarten. Ein weiterer Entwurf zum Vorwort von Schmellers Mundartgrammatik

95

II. Zur Biographie WERNER WINKLER (Tirschenreuth),

D e r Briefwechsel Johann Andreas Schmellers als biographische und wissenschaftsgeschichtliche Quelle

107

RICHARD J . BRUNNER ( U l m ) ,

Zur Arbeit mit Schmellers Nachlaß

117

III. Zu dialektologischen Einzelproblemen OTMAR WERNER

(Freiburg i. Br.),

Mundartliche Enklisen bei Schmeller und heute

127

ANTHONY R O W L E Y ( B a y r e u t h ) ,

Schmellers dialektologische Arbeiten als Quelle für die moderne Dialektologie

149

6

Inhaltsverzeichnis

MARIA HORNUNG (Wien),

Johann Andreas Schmellers Beschäftigung mit dem Zimbrischen

161

IV. Zum Umfeld E R I C H STRASSNER ( T ü b i n g e n ) ,

Dialekt in bayerischen Presseerzeugnissen zur Zeit Schmellers

171

PETER H A N S N E L D E ( B r ü s s e l ) ,

H o f f m a n n von Fallersleben und die Anfänge einer westeuropäischen Germanistik

183

EBERHARD DÜNNINGER ( M ü n c h e n ) ,

Heimat und Geschichte bei Johann Andreas Schmeller

197

CLAUDE OTTO (Straßburg),

Schmeller und das Elsaß

209

Verzeichnis der in den Beiträgen zitierten SchriftenSchmellers

233

Vorwort Im „Schmellerjahr 1985", dem Jahr seines 200. Geburtstages, wurde der große oberpfälzische Gelehrte durch Ausstellungen, Festakte, Sonderbeilagen in Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsendungen und durch Tagungen geehrt. Es erschienen auch, wie üblich in „ r u n d e n " Gedenkjahren, wichtige Arbeiten von und über ihn in neuer Auflage: Der Oldenbourg Verlag brachte Schmellers „Bayerisches Wörterbuch" in einer vierbändigen Taschenbuchausgabe heraus, das Jahrbuch 1985 der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft kam als „Lesebuch aus seinen Schriften" heraus, Robert Hinderling gab Rockingers Sammelband von 1886 mit wichtigen Zusätzen neu heraus. Die „Gedenkschrift zum 200. Geburtstag von Johann Andreas Schmeller" (Bayreuth 1985) enthält eine Reihe neuer Forschungsbeiträge. Auch der hier vorliegende Band ist eine Frucht des Gedenkjahres, er enthält - mit einer Ausnahme, dem Beitrag von Ludwig Eichinger - die Vorträge, die vom 2 6 . 29. September 1985 auf einer internationalen Fachtagung in Tirschenreuth, dem Geburtsort Schmellers, gehalten wurden. W i r haben die Arbeiten in vier Abteilungen gegliedert: Wissenschaftsgeschichte, Biographie, Dialektologie und zeitgeschichtliches Umfeld. Den Vortrag von Maria Hornung, die wegen Krankheit verhindert war, an der Tagung teilzunehmen, hat Ferdinand Schellenbacher gelesen und in der Diskussion vertreten, wofür wir ihm auch an dieser Stelle noch einmal danken möchten. Wir danken der DFG, der Universität Bayreuth und der Stadtsparkasse Tirschenreuth für Druckkostenzuschüsse, ohne die eine Veröffentlichung in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Noch ein Hinweis zur technischen Einrichtung des Bandes: Jedem Beitrag folgt ein eigenes Literaturverzeichnis. Die Arbeiten Schmellers, aus denen zitiert wurde, sind jedoch aus Platzgründen am Schluß des Bandes in einem gesonderten Literaturverzeichnis zusammengestellt. Bayreuth/Erlangen im September 1987

Ludwig M. Eichinger/Bernd Naumann

I. Wissenschaftsgeschichte

Johann Andreas Schindlers und Jacob Grimms Literaturauffassung Ulrich Wyss (Erlangen)

I. Auf GRIMM kommt JOHANN ANDREAS SCHMELLER immer wieder zurück. N o c h in späten Jahren, etwa in jenem September 1849, als er drei Wochen mit seiner Tochter in Gastein zubringt. Ins Tagebuch notiert er sich, nachdem wieder einmal ein hoher H e r r nicht von ihm N o t i z genommen hat: , , E r hatte wol Recht; kommt mir doch selber alles was ich gethan, thue und thun werde so durchaus unbedeutend v o r " . Diese kleinmütige Einschätzung seiner selbst evoziert den Vergleich mit JACOB GRIMM. Den bairischen G r i m m nannte mich gerne der selige H o r m a y r . J a wohl, in dem Sinne, in dem das bairische M e e r (der Chiemsee) mit dem deutschen (der Nordsee) mag verglichen werden. A b e r wozu das alberne Vergleichen? Es soll eben Jeder nur seyn was er seyn kann ( T B , I I : 510).

Der Vergleich gilt und gilt nicht. SCHMELLERS N o t i z verkürzt die Zweideutigkeit des Vorgangs in keiner Weise. Einerseits: was ist der Binnensee am Alpenrand, der nur in der Metapher ein Meer heißen kann, im Vergleich mit der Nordsee? Anderseits: jenes metaphorische Meer darf immerhin das Bayrische genannt werden, während die N o r d see das schlechthin deutsche Meer ist. Das eine ist provinziell, klein, partikular; das andere unermeßlich groß und mit einem universalen Namen zu bezeichnen. N u r eben: ist das ein eindeutig hierarchisches Verhältnis? Hat Schmeller nicht Recht, wenn er fortfährt, im Grund führe alles Vergleichen zu nichts? Was bayrisch ist und was deutsch, es ist das Eine nicht ein für alle Mal etwas Größeres und Besseres als das Andere; ihr Verhältnis bleibt vielmehr inkommensurabel. Gerade wenn SCHMELLER sich eine bayrische Identität zuschreibt, entzieht er sich dem Vergleich mit JACOB GRIMM, der für das Deutsche überhaupt zuständig ist. Im Deutschen läßt sich das Bayrische nicht einfach aufheben. Insofern behauptet SCHMELLERS Leben und W e r k einen eigenen Wert unabhängig von allen Maßstäben, die GRIMM und SCHMELLER ZU vergleichen erlauben würden. Mit anderen W o r t e n : SCHMELLER ist „der bayrische G r i m m " , und er ist es auch nicht. Des öfteren allerdings stellt er GRIMM ohne jene Ambivalenz über sich. „Meister J a c o b " nennt er ihn dann ( T B , I I : 295), oder ,,Archigrammateus" ( T B , I: 451) und „ P r o t o g r a m m i k e r " ( T B , I: 442). Als er an Ostern 1845 anfängt, an der Edition der Lieder aus dem Benediktbeurer Codex zu arbeiten, erklärt er, GRIMM habe ihn „ g e stupft" ( T B , I I : 409), in Briefen und durch seine Berliner Akademieabhandlung über G E D I C H T E DES MITTELALTERS AUF K Ö N I G F R I E D R I C H I DEN STAUFEN UND AUS SEINER UND DER NÄCHSTFOLGENDEN Z E I T ( K l e i n e r e S c h r i f t e n , I I I : 1 f f . ) - D a IST G R I M M d e r

12

Ulrich Wyss

Lehrer, der Anreger, das Vorbild, welches S C H M E L L E R nie erreichen wird. Sein Gefühl der Inferiorität geht schließlich soweit, daß er sich G R I M M gegenüber sogar seines eignen Ichs beraubt. Als G R I M M im Oktober 1842, auf dem Rückweg aus Italien, in München zu Besuch kommt, findet ein Bankett mit zwei Dutzend prominenter Gelehrter, Politiker und Staatsbeamten statt. J O S E P H G Ö R R E S bringt den Toast auf J A C O B G R I M M aus, „den höchsten im Werthe als Mensch, als deutscher Mann, als Forscher" (TB, II: 360). S C H M E L L E R , der J A C O B G R I M M am nächsten stehende Fachgenosse, läßt daraufhin fahren, „ w a s ich selbst zu sagen vorgehabt". Dann, notiert er im Tagebuch, „stand Jacob selber auf, mit einem Lobspruch auf einen braunen Rock, der mich so überraschte und verblüffte, daß ich mich der Formalien nicht mehr erinnere und nicht weiß, ob der Berichterstatter in der Allg. Zeitung vom 12t. oder 13t. recht gehört haben m a g " . . . „Ein brauner R o c k " umschreibt hier S C H M E L L E R selber. Und an seinem 66. Geburtstag, dem 6. August 1851, entwirft er einen Brief an Grimm, in dem er von sich nur noch als dem „ L a h m e n " spricht. Seit dem Unfall in Tirol im September 1847 ist er nicht mehr gut zu Fuß. Er schreibt: „unser aller Jacob lebt und befindet sich wohl und findet wie immer und immer. . . . Anders steht es Jacob gegenüber mit dem Lahmen. Jacob darf zweifeln, ob dieser überhaupt noch unter den Lebenden sei" (TB, II: 536). S C H M E L L E R hatte kein volles Jahr mehr zu leben, während G R I M M noch zwölf Jahre rastloser Arbeit beschieden waren. Wer sich mit S C H M E L L E R S Leben beschäftigt, wird fragen: hat er an solchen Stellen nicht einfach recht? Von Anbeginn, und bis zum Schluß, hinderten ihn widrige U m stände, Schicksalsschläge und eigenes Ungeschick immer wieder an der Entfaltung seiner Begabungen. Sein Altersgenosse G R I M M hatte es immer leichter, auch wenn er seinerseits nicht von Mißerfolgen und Rückschlägen verschont blieb. Aber ein Pech wie jener Unfall auf dem Jaufen, bei dem der zweiundsechzigjährige S C H M E L L E R sich den Schenkelhalsknochen brach! Waren da nicht böse Mächte im Spiel? Mit anderen Worten: vielleicht sind die Leistungen J A C O B G R I M M S gar nicht so viel bedeutender als jene SCHMELLERS, wenn wir die so ganz unglücklichen Umstände seines Lebens in Betracht ziehen. S C H M E L L E R wäre also gegen seine eigene Selbsteinschätzung zu verteidigen . . . Ohne weiteres allerdings sollten wir die biographischen Tatsachen nicht in wissenschaftsgeschichtliche Konstellationen umdeuten; und erst recht nicht aus der Biographie die Argumente holen, wenn es uns darum zu tun ist, die Wissenschaftsgeschichte neu zu schreiben. Das Bewußtsein von sich selbst, das keine akademische Disziplin entbehren kann, ist nie ganz frei von mythischen Elementen. Dabei spielen Lebenstatsachen oft eine beträchtliche Rolle. J A C O B G R I M M hat einen Ursprung der deutschen Philologie auf Jahr und Tag genau festzulegen versucht, als er, in der Widmung seiner Schrift D A S W O R T DES B E S I T Z E S an den alten Lehrer SAVIGNY ZU dessen goldenem Doktorjubiläum, die Szene heraufbeschwor, wie er zum ersten Mal Bodmers Sammlung der Minnelieder aufschlug. „Da bekamen meine äugen zu schauen was sie noch nie erblickt hatten. . . . da stand zu lesen ,her Jacob von Warte' und ,her Kristan von Hamle', mit gedichten in seltsamen, halb unverständlichem deutsch, das erfüllte mich mit eigner ahnung, wer hätte mir damals gesagt, ich würde dies buch vielleicht zwanzigmal von von vornen bis hinten durchlesen, und nimmer entbehren" (Kleinere Schriften, I: 115f.)- An einem Sommertag des Jahres 1803 in Marburg also begab es sich, daß der junge Jurastudent G R I M M mit dem deutschen Altertum in Berührung kam, und von diesem Augenblick datiert die Wissenschaft, der sich Jacob für sein Leben verschreiben

Schmellers und J a c o b G r i m m s Literaturauffassung

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sollte. GRIMM mußte nur das geschichtliche Denken, das er bei SAVIGNY gelernt hatte, auf diesen neuen Gegenstandsbereich anwenden. . . So will es die Legende, so hat es SCHERER in seiner lange kanonischen Grimmbiographie beschrieben. Daß GRIMMS Selbstzeugnis von unterschwelligen Ambivalenzen nicht frei ist, haben viele Leser übersehen. Dabei sagt es GRIMMS Gratulationsartikel deutlich genug: er bekennt sich als Schüler SAVIGNYS - „und doch ist der schüler seinem lehrer ungleich geblieben, fast in allem ungleich geworden" (Kleinere Schriften, I : 114). Man wollte es nicht zur Kenntnis nehmen, weil es die Vorstellung vom Ursprung der Germanistik kompliziert hätte. Die Lebenstatsachen wurden einerseits als epochemachend interpretiert, zugleich aber ihrer Komplexität beraubt, und das sogar entgegen dem, was in GRIMMS eignen Worten zu lesen gewesen w ä r e . . . Heute sind sich zumindest die Grimmforscher darin einig, daß Jacob gerade in der Ambivalenz seiner Darstellung das Richtige traf. Es gibt neben SAVIGNY andere Quellen für das Interesse an der älteren deutschen Literatur und Sprache: etwa LUDWIG WACHLERS Vorlesungen, die die Brüder GRIMM in Marburg hörten. Oder ADELUNG, der dem historischen Verständnis der Sprache nahekam. Nur: was ist mit dieser Feststellung gewonnen? (Vgl. WYSS 1979: 54ff.) Reicht es aus, um den Ursprungsmythos der Germanistik zu entzaubern? Wer an die Stelle des Ereignisses, welches die epoche bildete, ein Bündel von Kontinuitäten setzt, verliert das Faktum aus dem Auge, daß es einen Anfang eben doch gegeben hat. Irgendwie sind die Tendenzen des Zeitalters zu jener Konfiguration von Erkenntnisinteressen und Forschungsstrategien zusammengeschossen, die wir nachträglich als die deutsche Philologie bezeichnen können. Dieses im Detail der F o r schungsgeschichte nicht faßbare strukturale Ereignis wenigstens an einem Namen festzumachen, liegt nahe. Der Name dient dann als Abbreviatur für die Konstellation, die als solche schwer zu beschreiben wäre. So gesehen, bleibt der Gründervater im Amt. Leicht durchschauen wir die mythologische Herkunft der Figur: immer hat es Reichsgründer gegeben, Entdecker ungeahnter Kontinente und die Heroen der Zivilisation. Und es versteht sich von selber, daß es den Gründervater nur einzeln geben kann. Seine ganz und gar mythische Autorität darf er nicht mit anderen teilen, schon gar nicht mit den Fachgenossen: in diesem Fall wäre die verwirrende Pluralität der Meinungen und Ansätze, die der Ursprung erst aus sich entläßt, in diesen hineinverlegt, und das Bild des Anfangs verlöre seine Prägnanz. KONRAD BURDACH hatte seinerzeit versucht, den Kanon der Germanistik für alle Zeit e n a u s d e m „ D r e i b u n d " ( i n LEITZMANN: L X I V ) h e r z u l e i t e n , d e n d i e B r ü d e r G R I M M

und KARL LACHMANN bildeten. Im Briefwechsel der Brüder mit ihrem Kollegen und Freund sah er so etwas wie das Alte Testament der deutschen Philologie. Doch gerade darin liegt sein Fehler: indem er den Ursprung aufspaltet, kann er nicht verhindern, daß lauter historische Zufälligkeiten und individuelle Idiosynkrasien zutagetreten. Der Anfang nimmt dann nur die Streitigkeiten zwischen gelehrten Schulen vorweg, die in der Wissenschaftsgeschichte tagtäglich begegnen. Inwiefern aber damit etwas Neues angefangen hat, ist nicht mehr zu erkennen.. . Das Alte Testament der Heiligen Schrift macht uns vor, wie ein Ursprungsmythos zu gestalten wäre. Entzweiung ist der Einheit immer nachgeordnet; im idealen Fall ergibt sie sich aus der Genealogie, wenn die Aste des Stammbaums aus einer einzigen Wurzel entsprungen sind. Wie steht es nun mit SCHMELLER? Wenn es um die mythische Komponente im Beginn der Germanistik geht, so kann er keinesfalls an der Stelle JACOB GRIMMS als

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Ulrich Wyss

Gründervater auftreten. E r selber wird das ebenso gesehen haben, und er ist damit in bester Gesellschaft. Erinnern wir uns daran, daß am allerersten Germanistentag, der 1846 in Frankfurt stattfand, JACOB GRIMM selbstverständlich zum Vorsitzenden gewählt wurde. UHLAND hatte ihn vorgeschlagen - SCHMELLERS Tagebuch hält das fest - : „ m i t kurzen Worten den Mann bezeichnend, der wie Allen bewußt gleich Großes für Geschichte, Recht und Sprache geleistet, ja selbst das Recht mit der Poesie in Verbindung zu setzen gewußt habe. Ihn möge man ohne Scrutinium zum Vorsitzenden ausrufen. Das geschah" ( T B , I I : 432). Als Kriterium für GRIMMS Einzigartigkeit erscheint hier, daß er in allen an der Versammlung beteiligten Wissenschaften kompetent sei. Daß insbesondere seine Auffassung von der Poesie im Recht alles andere als selbstverständlich war und heute als edler Irrtum gilt (SONDEREGGER 1962: 259ff.), änderte daran nichts. Indessen: auch SCHMELLER war alles andere als einseitig. Das Verzeichnis seiner Schriften enthält historische, volkskundliche, bibliographische Arbeiten, deren Vielfalt nur staunen machen kann. Dennoch, es erhob sich kein Widerspruch, als JACOB GRIMM auf der Germanistenversammlung SCHMELLER zum Vorsitzenden der linguistischen Sektion vorschlug ( T B , II: 433). SCHMELLER galt damals schon lange als Spezialist für die Sprachwissenschaft, und insbesondere für deren mundartkundliche Unterabteilung. Können wir es dabei bewenden lassen? JACOB GRIMM hat in der Vorrede zum DEUTSCHEN W Ö R T E R B U C H h e r v o r g e h o b e n ,

d a ß SCHMELLERS BAIRISCHES

WÖRTER-

BUCH von keinem anderen Idiotikon übertroffen werde, auch nicht von dem schweizerischen STALDERS, obwohl der Reichtum und Gehalt der schweizerischen Volkssprache den der bayrischen weit übertreffe ( D W B , I : X V I I ) . Damit scheint er SCHMELLER seinen Platz in der Wissenschaftsgeschichte anzuweisen: als desjenigen, der einerseits für den bayrischen Dialekt, anderseits für die Methode der Mundartlexikographie maßgeblich war. Ich denke, man wird am Ende SCHMELLERS Verdienst tatsächlich auf diesem Gebiet finden. Nichtsdestoweniger ist das ebenso richtig wie mythologisch g e s p r o c h e n . . . Denn in concreto stellt sich das Verhältnis zu Grimm viel weniger einfach dar. Es ist ja nicht von vornherein klar, warum sich aus der deutschen Philologie eine dialektologische Spezialdisziplin ausgliederte, und erst recht nicht, warum gerade JOHANN ANDREAS SCHMELLER deren erster Protagonist wurde. In der Mythologie des Ursprungs repräsentiert JACOB GRIMM die Totalität dessen, was sich dann in der Praxis des Wissenschaftsbetriebs ausdifferenzierte. GRIMM praktizierte in der Wirklichkeit natürlich nicht alle Spezialitäten gleichermaßen; sie werden aber als virtuell in seiner Philologie anwesend gedacht. Das ist eine Folge seiner Ernennung zum Gründerheros. Davon ist der reale Universalismus seiner Arbeit zu trennen. Für SCHMELLER gilt analog, daß seine mundartkundlichen Präferenzen auf dem Feld der gesamten deutschen Philologie am Beginn des X I X . Jahrhunderts zu lokalisieren sind, bevor man ihn zum Experten für den Dialekt Bayerns erklärt.

II Aber ist es sinnvoll, von der Literaturauffassung auszugehn? Hat SCHMELLER überhaupt eine eigene Auffassung von der Literatur? Ähnliches ist im Falle JACOB GRIMMS

Schmellers u n d Jacob G r i m m s Literaturauffassung

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auch schon gefragt worden. Ein Klassiker sei er nie gewesen, und schon gar nicht ein Klassiker der Literaturtheorie, habe ich einmal angemerkt - um dann nichtsdestoweniger das Porträt G R I M M S für eine Galerie von „Klassikern der Literaturtheorie" zu entwerfen. Dieses scheinbare Paradox läßt sich auflösen, wenn wir bedenken, daß Philologie um 1800 Sprache und Literatur noch k a u m auseinanderdividiert hat. Als Beispiel möge A D E L U N G S M A G A Z I N FÜR DIE D E U T S C H E S P R A C H E aus den Jahren 1 7 8 2 und 83 dienen. Darin werden rein linguistische Fragen ebenso abgehandelt wie literarische; insbesondere erörtert A D E L U N G e t w a M Y L L E R S Ausgabe mittelhochdeutscher Dichter. Wer sich für die deutsche Sprache interessiert, kann nicht umhin, sich mit der Literatur zu befassen. Nicht anders verhält es sich, eine Generation später, bei den Brüdern SCHLEGEL. Ü B E R S P R A C H E UND W E I S H E I T DER INDIER schreibt F R I E D R I C H SCHLEGEL 1 8 0 8 - er verknüpft die bahnbrechende Untersuchung des Sanskrit sogleich mit literarhistorischen und philosophischen Überlegungen. A U G U S T W I L H E L M S C H L E GEL ließ zehn Jahre später O B S E R V A T I O N S SUR LA LANGUE ET LA LITTÉRATURE P R O V E N ÇALES erscheinen (vgl. W Y S S 1 9 7 9 : 96ff.). J A C O B G R I M M seinerseits befaßte sich erst 1 8 1 2 mit linguistischen Fragen im engeren Sinn: Als er R A S K S V E J L E D N I N G TIL DET ISLANDSKE ELLER G A M L E NORDISKE S P R O G rezensierte (Kleinere Schriften, IV: 65ff. und VII: 515ff.). In der kurzlebigen Zeitschrift A L T D E U T S C H E W Ä L D E R sodann steht eine erste Abhandlung Ü B E R EINEN V O R Z Ü G L I C H DER ÄLTEREN DEUTSCHEN S P R A C H E EIGENEN G E B R A U C H DES U M L A U T E S , gefolgt von ein paar Seiten mit G R A M M A T I S C H E N ANSICHTEN ( 1 6 8 f f . und 179ff.). Das war 1 8 1 3 ; vorausgegangen waren, schon seit 1 8 0 6 , Aufsätze über mythologische und literarische Fragen; das Büchlein Ü B E R DEN A L T DEUTSCHEN M E I S T E R G E S A N G k a m 1 8 1 1 heraus, die Edition des H I L D E B R A N D S L I E D E S 1 8 1 2 , im gleichen J a h r der erste Band der K I N D E R - UND H A U S M Ä R C H E N . W I L H E L M G R I M M begann in der selben Zeit mit der Reihe seiner Editionen älterer Denkmäler der germanischen Literatur. A m A R M E N H E I N R I C H und an der E D D A von 1815 w a r auch J a c o b beteiligt, der später diese A r t von Arbeit ganz dem Bruder überließ. Deutsche Altertumskunde und deutsche Sprachwissenschaft: das war in jenen Jahren zu einem guten Teil identisch mit dem Bemühen, die Literatur der älteren Sprachstufen überhaupt zugänglich zu machen. Darin treffen auch G R I M M S Vorarbeiten zu der DEUTSCHEN G R A M M A T I K , die 1819 zu erscheinen begann, und L A C H M A N N S Vorbereitungen seiner kritischen Texte der mittelhochdeutschen Klassiker zusammen. Reimgrammatiken, für die Textkritik unentbehrlich, waren auch dem Grammatiker zu Diensten, welcher seinerseits Einblicke ins Sprachsystem ermöglichte, die dem herzustellenden möglichst originalgetreuen Wortlaut der Dichtwerke zugutekamen. Es ist deshalb richtig, wenn neuerdings gesagt w i r d , die Textedition bilde das Zentrum der frühen deutschen Philologie (vgl. SONDEREGGER 1985: 43ff. u. bes. 50ff.).

Das allein aber begründet noch keine spezifische Literaturauffassung J A C O B G R I M M S oder S C H M E L L E R S . Sehen wir näher zu, wie sie sich mit Literatur beschäftigen. S C H M E L LER tritt zuerst als Editor des H E L I A N D hervor: 1830 erscheint seine Wiedergabe des Textes der M ü n c h n e r Handschrift, die aus Bamberg in die Königliche Bibliothek gekommen war. S C H M E L L E R druckt diesen Text diplomatisch getreu nach - ohne R ü c k sicht auf die Versgrenzen, ohne Kennzeichnung auch der Stabreime. Lücken und prekäre Stellen werden durch den Text des Cottoniensis aus dem Britischen Museum ergänzt. Dazu kommt, zehn J a h r e später, das Glossar, in welchem die Lemmata lateinisch erklärt werden. Überhaupt ist die ganze Ausgabe lateinisch gearbeitet: Titel, Vorrede,

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Ulrich Wyss

Erläuterungen. Sie wirkt wenig einladend - außer für jenen, der sich seine eigenen Gedanken über den Text machen will. Was der HELIAND als sprachliches Kunstwerk überhaupt gewesen sein könnte, bleibt in dieser Gestalt des Texts unsichtbar. Weiter ließ sich die Askese gegenüber aller literarischen Ästhetik nicht treiben. Daß SCHMELLER von der Gestalt eines altgermanischen Dichtwerkes keine Vorstellung sich zu bilden vermochte, bedeutet das indessen nicht. 1832 erschien sein MUSPILLI: BRUCHSTÜCK EINER ALLITERIRENDEN DICHTUNG VOM E N D E DER W E L T . H i e r ist

zunächst die Courage des Textkritikers zu bewundern. Kein Denkmal der althochdeutschen Literatur ist in einem so jämmerlich zerrütteten Zustand auf uns gekommen: an den Rand eines lateinischen Textes geschrieben, vielfach unleserlich; außerdem sind die Pergamentblätter einem „Prokrustes von Buchbinder" anheimgefallen (9), der manches abschnitt. SCHMELLER zählt sorgfältig die nicht mehr identifizierbaren Buchstaben nach und ergänzt dann die fehlenden und entstellten Wörter. Dabei muß er sich ein genaues Bild von der metrischen Gestalt des Ganzen machen. Er stellt sich den Stabreim als hoch entwickeltes künstlerisches Prinzip vor, das wahrscheinlich eine Rezitation mit „tonkünstlerischen Mitteln" ergänzte. Jedenfalls ist die Alliteration im I X . Jahrhundert seiner Meinung nach dem Endreim der sich erst auszubilden beginnt, weit überlegen (7). Schließlich galt es, die Wörter zu erklären. Viele von ihnen waren nicht nur kaum noch zu lesen, sondern auch nirgendwo sonst belegt. Hier kommt SCHMELLER sein BAYERISCHES WÖRTERBUCH ZU Hilfe; es liefert mehrfach Hinweise auf die Bedeutung von Wörtern, die unserer Hochsprache längst entfallen sind. Sogar heikle Stellen eines anderen heillosen Denkmals ältester deutscher Poesie vermag Schmeller en passant zu klären. Das Glossarium zum MUSIPII.LI liest zum ersten Mal ik mi de odre uuet und untar heriun tuem (BRUNNER: 95f.) im HILDEBRANDSLIED. SCHMELLERS Ausgabe enthält den diplomatischen Abdruck der Handschrift, darunter einen rekonstruierten Text, dessen Übersetzung in neuhochdeutsche Prosa und Worterklärungen; schließlich ein vollständiges Wörterbuch. Sie macht den sinnlosen Buchstabenhaufen in der Handschrift überhaupt erst zu einem Stück Literatur. Ganz war der Fragmentcharakter des Werkes natürlich nicht aufzuheben: weder der Anfang noch der Schluß ist erhalten. Aber „der Kenner weiß", schreibt SCHMELLER, „daß auch so ein Fragment seinen Werth haben, viel sagen, viel errathen lassen kann" (9). Um es zum Sprechen zu bringen, bedarf es, neben der Fähigkeit, grammatische Fakten zu kombinieren, ausgreifender Kenntnisse der altgermanischen Literatur. Sie liefert Parallelstellen, wo der Text der Handschrift ausfällt. An der angelsächsischen und altsächsischen Bibelepik hat SCHMELLER sein Gehör für den Tonfall alliterierender Phrasen geschärft. In Vers 57 heißt es: Dar ni mac denne mak andremo helfan• uora demo muspille. Was ist dieses muspille, ein im Dativ stehendes Substantiv offenbar? Schmeller kennt die Parallelen in der Edda (Vglospd 51, 2; Locasenna 105, 5) und im HELIAND (2591; 4358). Er faßt es als Personifikation einer zerstörerischen Kraft auf: „die dem höchsten oder Licht-Himmel nächste oder Feuer-Welt, deren Söhne am Ende der Tage unsere Welt zerstören und auflösen werden" (23). Erklären kann er das Wort aber nicht; alle mythologische und etymologische Spekulation spart er aus. Dafür leistet er sich eine kodikologische Spekulation. Da ein Dedikationsgedicht in der Handschrift sagt, daß diese von dem Bischof Adalram von Salzburg dem König Ludwig dem Deutschen geschenkt worden sei, vermutet SCHMELLER, dieser selbst habe dann die deutschen

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S c h i n d l e r s und J a c o b G r i m m s Literaturauffassung

Verse auf deren Rand eingetragen (6). Warum sollte der junge Fürst, dem Otfried später seine Evangelienharmonie zueignete, nicht ein frommes Gedicht in altheimischer Form gekannt und kopiert haben? (6) Hier ist SCHMELLER der Bibliothekar am Werk, der sich auf Schreiberhände und auf das Schicksal immer wieder neu gebundener Pergamente versteht. Daß der König selber das MUSPILLI aufzeichnete, glaubt heute allerdings niemand mehr. Immerhin erkennen wir, daß SCHMELLER immer auch die Geschichte der Überlieferung, die Text- und Buchgeschichte ins Auge faßte, wenn er sich mit einem älteren Literaturdenkmal einließ. Wieder anders verfuhr SCHMELLER mit dem TATIAN. Schon 1827 veröffentlichte er die aus dem Matthäusevangelium stammenden Teile der althochdeutschen Prosa, zusammen mit den Resten der gotischen Bibelübersetzung: EVANGELII SECUNDUM MATTHAEUM VERSIO FRANCICA SAECULI I X , NEC NON G O T H I C A SAEC. I V QUOAD S U P E -

REST. Diese Edition war, wie das Titelblatt ferner kundgibt, „ z u m Gebrauche bei Vorlesungen"

bestimmt.

Hier

überwiegt

das

sprachhistorische

Interesse,

denn

SCHMELLER nahm keine Rücksicht darauf, daß der Tatian eben keine vollständige Wiedergabe der Evangelien bot, sondern eine Kompilation, die manches ausließ. Das Matthäusevangelium zeigte also Lücken - SCHMELLER füllte sie, indem er kurzerhand den althochdeutschen Text, wie er hätte lauten können, rekonstruierte. Das hat gerade JACOB GRIMMS Beifall nicht gefunden, wie dessen Rezension in den GÖTTINGISCHEN GELEHRTEN A N Z E I G E N d e u t l i c h m a c h t ( K l e i n e r e S c h r i f t e n , V : 3 5 f f . ) . J A C O B G R I M M

hielt sich lieber ans tatsächlich überlieferte Sprachmaterial. Problematisch ist das Verfahren aber noch aus einem zweiten Grund: indem SCHMELLER das eine Evangelium aus dem Kontext des TATIAN löste, zerstörte er den literarischen und den theologischen Zusammenhang. Das verrät eine seltsame Unempfindlichkeit gegenüber der geistlichen Tradition; man ist versucht, sie protestantisch zu nennen. . . Im J a h r 1841 dann ließ SCHMELLER eine vollständige Ausgabe des TATIAN mit althochdeutschem und lateinischem Text folgen, in welcher der Zusammenhang der Evangelienharmonie gewahrt blieb. Weitere editorische Leistungen betreffen lateinische Texte aus der Münchner Bibliothek. Einmal der RUODLIEB, der in dem gemeinsam mit J A C O B G R I M M e d i e r t e n B a n d LATEINISCHE G E D I C H T E DES X . UND X I . JAHRHUNDERTS

das Licht der philologischen Welt erblickte. Wieder handelt es sich um einen verzweifelt schlecht erhaltenen T e x t : auf 34 Pergamentblättern der Münchner Bibliothek, die aus dem Kloster Tegernsee kamen, sowie einem Doppelblatt aus St. Florian, sind die Trümmer einer teils märchenhaften, teils heroischen Handlung zu lesen, wobei einige wenige Eigennamen im Text auf einen germanischen Sagenstoff deuten. SCHMELLER sammelt alle Indizien und die, allerdings nebelhaften, Vergleichsmöglichkeiten im EKKENLIED und der THIDREKSSAGA, und versucht, die Blätter so zu ordnen, daß sich ein plausibler Handlungsverlauf ergibt. Neuere Herausgeber sind ihm darin nicht immer gefolgt. Problematisch war auch die Ausgabe der CARMINA BURANA aus dem Jahr 1847. Da der umfangreiche Benediktbeurer Codex offensichtlich verbunden war, ergab die Anordnung der Lieder keinen Sinn. Schmeller unterteilte daher das ganze Corpus in SERIA und AMATORIA. POTATORIA. LUSURIOSA, wobei ihm allerdings mehrfach Irrtümer unterliefen (vgl. HILKA/SCHUMANN: 3 f . ) . Diese Ausgabe zeichnet sich wieder durch starke Zurückhaltung aus; SCHMELLERS Eingriffe in die Überlieferung beziehen sich nur auf die Reihenfolge der Lieder. Das Strophenverzeichnis schlüsselt er nach themati-

Ulrich Wyss

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sehen Gruppen auf, die mit Siglen bezeichnet sind, also z.B. ,,A. Aestatis, veris et amorum laudes", was in sechs Untergruppen zerfällt. a. c. g. q. t. v.

amicae laudes. amantium curae et cruciatus. amantium gaudia et ovatus. querela Cupidinis. turpis amor, Veneris templum (263)

Wie man sieht, keine sehr bequeme Klassifikationsmethode. Es hat den Anschein, als habe Schmeller sich nur mit Widerwillen auf die Arbeit an den C A R M I N A eingelassen. Als recht saure Pflicht hat er auch die Edition der J A G D des H A D A M A R V O N LABER aufgefaßt. Dieses Gedicht, eine manierierte Minneallegorie aus dem XIV. Jahrhundert entsprach nicht mehr den Leistungen etwa W O L F R A M S VON E S C H E N B A C H oder W A L THERS VON DER V O G E L W E I D E ; vor allem aber scheint ihm „die Art von Allegorie, in der es durchgeführt ist, obschon damals auch bei anderen Nationen beliebt, nicht eben geeignet ( . . . ) , unserm heutigen, wenigstens in dieser Hinsicht geläuterten Geschmacke sonderlich zuzusagen" (Vf.). D a f ü r interessiert ihn, wer der Autor war: ein Landsmann offenbar, von dem ,,Bergschloss mit einem Flecken an der ihnen den N a m e n gebenden Laber in der O b e r p f a l z " (IX, Fn. 2). Und überhaupt: „ E s war eben auch seinerseits", wie S C H M E L L E R über sich selber sagt, „ein heimathliches Interesse, welches in ihm alle gerechten Bedenken überwog" (XII). Ähnlich ist auch S C H M E L L E R S Beitrag zur WOLFRAM-Philologie zu erklären. Allerdings liefen S C H M E L L E R S Nachforschungen darauf hinaus, den größten Epiker des deutschen Mittelalters aus dem mittelfränkischen Eschenbach gebürtig sein zu lassen, statt aus einem der gleichnamigen Orte, deren es in Altbayern und in der Oberpfalz mehrere gibt. S C H M E L L E R hatte die Angaben im E H R E N B R I E F des Püterich von Reichertshausen wörtlich genommen. „Vollends nach Ober-Eschenbach", notiert S C H M E L L E R am 19. X. 1836 ins Tagebuch, „einem Städtchen, an oder in dessen Kirche ich den Beweis finden wollte, daß der gefeyerte W o l f r a m . . . von keinem andern als diesem Eschenbach den Namen führe" (TB, II: 236). Es geht also nicht darum, eines der Werke W O L F R A M S ZU interpretieren, wie es K A R L bereits unternommen hatte oder auch der Hegelianer R O S E N K R A N Z ; für S C H M E L L E R stellt sich der fränkische Dichter als Anlaß zu archivalischen und archäologischen Recherchen dar. G R I M M dagegen ließ 1 8 4 2 Frau Aventiure an BENECKES Tür klopfen: in einer weitausgreifenden Wortuntersuchung zu Aventüre/Abenteuer, die hinüberführte auf mythologisches Terrain. LACHMANN

Als sorgfältigem Philologen wiederum begegnen wir S C H M E L L E R in der Akademieabhandlung von 1 8 3 9 U E B E R DEN VERSBAU IN DER ALLITERIRENDEN P O E S I E BESONDERS D E R A L T S A C H S E N . Hier macht er seine Erfahrungen mit dem H E I . I A N D und dem M u SPILLI fruchtbar für die Anfangsgründe der altsächsischen Metrik. Er erkennt bereits deren Prinzipien, die man bis heute nicht anders einschätzt. Da die Handschriften den Stabreim und die Versgrenzen nicht markieren, hat sich der Metriker auf sein Gehör zu verlassen - Ohrenmetrik ist gefragt statt Augenphilologie, wie E D U A R D SIEVERS sagen wird (vgl. 210f.). Daß der Vers auch im H E L I A N D taktierte, takthaltige Rede sei, ist S C H M E L L E R klar ( 2 1 4 ) , ebenso wie der Grundsatz, daß von der Akzentuierung der

Schmellers und Jacob Grimms Literaturauffassung

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Silben statt v o n d e r e n L ä n g e a u s z u g e h e n w a r (214). D a r a u s f o l g t , d a ß die V e r s g r e n z e s o w o h l nach d e r V e r t e i l u n g der Alliteration als a u c h mithilfe d e s R h y t h m u s f e s t z u l e g e n ist. D i e H e l i a n d v e r s e erweisen sich als „ a c c e n t i s c h e T e t r a m e t e r " (216), will sagen L a n g zeilen m i t jeweils z w e i mal z w e i H a u p t t o n s i l b e n , deren erste drei den S t a b r e i m t r a g e n . I m ü b r i g e n herrscht w e i t g e h e n d e Freiheit der F ü l l u n g dieses T a k t r a h m e n s

(217).

SCHMELLER e r k a n n t e a u c h , daß s o l c h e L a n g z e i l e n a m ehesten in ihrem letzten T e i l den strengen R h y t h m u s , wie er aus der EDDA o d e r den ältesten a n g e l s ä c h s i s c h e n G e d i c h t e n vertraut ist, b e w a h r e n : hier setzte sich die T e n d e n z z u r A u f s c h w e l l u n g , der Z u g in „ p r o s a i s c h e B r e i t e " (217), a m w e n i g s t e n d u r c h , s o daß SCHMELLER sagen k a n n , d a s „ a l t e G e s e t z " h a b e sich „ g e w i s s e r m a ß e n in d e n R e s t des V e r s e s u n d seine S c h l u ß w o r t e , seine C a d e n z g e r e t t e t " (218). In seiner DEUTSCHEN VERSGESCHICHTE m u ß t e ANDREAS HEUSLER fast h u n d e r t J a h r e später a n e r k e n n e n , d a ß „ s c h o n S c h m e l l e r " die K a d e n z r e geln e r k a n n t h a b e , u n d seine „ Z w e i t a k t l e h r e " richtigem V e r s g e f ü h l „ e n t s p r u n g e n " sei ( § 5 1 , A n m . v. § 154). S o w e i t SCHMELLERS B e i t r ä g e zur f r ü h e n d e u t s c h e n L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t . O r i g i n e l l w i r d m a n sie nicht f i n d e n k ö n n e n , i m G e g e n t e i l . Sie bestechen indessen g e r a d e d a d u r c h , daß SCHMELLER n o t w e n d i g e K ä r r n e r a r b e i t e n a u s f ü h r t - u n d d a ß er sich ihrer entledigt, o h n e viel U m s t ä n d e z u m a c h e n . Seine E d i t i o n e n k o m m e n m i t w e n i g k o m m e n t i e r e n d e m B e i w e r k a u s ; seine A b h a n d l u n g e n sind k u r z , k n a p p u n d klar f o r m u l i e r t .

III JACOB GRIMM d a g e g e n treffen wir selten b e i m E r l e d i g e n d r i n g e n d e r D e s i d e r a t a der L i t e r a t u r g e s c h i c h t e an. Z w a r v e r d a n k e n w i r ihm d i e E d i t i o n e n der G e d i c h t e des A R CHIPOETA u n d WALTHF.RS VON CHÄTILLON auf B a r b a r o s s a , ferner die E r s t a u s g a b e n d e s WALTHARIUS, der ECBASIS CAPTIVI, des REINHART FUCHS; a b e r g e r a d e seine B e m ü h u n g e n u m die mittellateinische L i t e r a t u r z e i g e n , w i e w e n i g es i h m d a r u m z u tun w a r , alte D e n k m ä l e r e i n f a c h zu erschließen. A m WALTHARIUS w a r ihm die g e r m a n i s c h e H e l d e n s a g e w i c h t i g , die anders als in d e r m ö n c h i s c h - k l a s s i z i s t i s c h e n G e s t a l t nicht m e h r g r e i f b a r z u sein schien. A n den T i e r e p e n f a s z i n i e r t e ihn ein eigenartiges V e r h ä l t n i s der M e n s c h e n w e l t z u den T i e r e n . A n d e r s als alle s p ä t e r e P h i l o l o g i e betrachtet GRIMM den REINHART FUCHS u n d die v e r w a n d t e n D e n k m ä l e r nicht als G e s e l l s c h a f t s s a t i r e , s o n d e r n als Z e u g n i s f ü r ein verschollenes K o m m u n i z i e r e n v o n M e n s c h u n d T i e r . P o e s i e ist d a a u c h f ü r die T i e r w e l t z u s t ä n d i g : „ D i e p o e s i e , nicht z u f r i e d e n schicksale, h a n d l u n g e n u n d g e d a n k e n der m e n s c h e n zu u m f a s s e n , hat auch das v e r b o r g e n e leben der thiere b e w ä l t i g e n u n d u n t e r ihre einflüsse u n d g e s e t z e b r i n g e n w o l l e n " (I). S o hebt die U n t e r s u c h u n g an, die in GRIMMS REINHART F u c H S - B u c h v o n 1834 fast gleichviel P l a t z e i n n i m m t wie die A u s g a b e der u m f a n g r e i c h s t e n T i e r e p e n u n d einer R e i h e k u r z e r F a beln u n d S c h w a n k e . E s geht u m das W e s e n d e r T i e r f a b e l , das die T e x t e d a n n illustrieren. In der V o r z e i t m u ß es viel engere B e z i e h u n g e n z w i s c h e n M e n s c h e n u n d T i e r e n g e g e b e n h a b e n . N i c h t n u r v o n V i e h z u c h t u n d J a g d s o w i e d e r Z ä h m u n g von H a u s t i e r e n ist z u r e d e n , also F o r m e n der U n t e r w e r f u n g u n d A n e i g n u n g tierischer N a t u r d u r c h die m e n s c h l i c h e Zivilisation, s o n d e r n a u c h v o n „ e i n e m u n e i g e n n ü t z i g e n ,

unfeindlichen

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verkehr" (II), und gerade dieser war der Ausbildung des Tierepos besonders günstig. Pflegen nicht Kinder bis heute die Tiere fast als ihresgleichen anzusehen? In frühen Stadien der Menschengeschichte verhielt es sich, GRIMM zufolge, insgesamt ähnlich. Das Tierepos gibt den Tieren zwar die menschliche Sprache, aber es treibt die Anthropomorphisierung der Tierwelt nicht allzuweit; immer behält es die Eigenart der jeweiligen Tiernatur im Auge. So geht die Reihung von Episoden im REINHART FUCHS auf die Lebensweise dieses Tieres zurück, das „keinen guten tag hat und gleichsam durch hunger gezwungen wird seinen gevatter auszuführen" ( C C L X V I I I , Anm.); die Katze will Mäuse fangen und der Bär Honig schlecken .. . Außerdem gibt es Tiere, die so ganz menschenunähnlich anmuten, daß sie fürs Epos nicht in Frage kommen: die Vögel vor allem, „die uns weniger gleichen und durch ihr flugvermögen aus der reihe treten, in die wir mit jenen (seil, den Säugetieren) gestellt sind, den vögeln ist eine geisterhafte unruhe eigen, die dem epos nicht zusagt, desto mehr dem aristophanischen drama"(IX). Exotische Tiere wie Elephant und Kamel dürfen in unseren Breiten keine Hauptrollen übernehmen; Haustiere wiederum sind zu zahm und prosaisch geworden und taugen daher ebenfalls nicht mehr für das Epos. Allenfalls kommen Hahn und Katze in Betracht, weil sie „grössere Unabhängigkeit behauptet haben" (X). GRIMMS Hermeneutik zielt nicht auf den historischen Sinn, den ein Text gestaltet haben kann. Sie will vielmehr die archaischen Energien freisetzen, die sich in den epischen Überlieferungen abgelagert haben. Das Tierepos erweist sich demnach keineswegs als raffiniertes Produkt einer literarischen Hochkultur, sondern bahnt den Weg zurück in die Vorgeschichte von Kultur überhaupt. Bis heute hat diese Lesart des REINHART FUCHS oder des YSENGRINUS durchaus nicht Schule gemacht. Auch GRIMMS Deutung des Meistersangs hat wenig Freunde gefunden. In seinen ersten Aufsätzen und in seiner ersten monographischen Publikation setzte er sich insbesondere mit den Anschauungen von BERNHARD JOSEPH DOCEN auseinander: SCHMELLERS V o r g ä n g e r an

der M ü n c h e n e r B i b l i o t h e k . In dem Büchlein UEBER DEN ALTDEUTSCHEN MEISTERGE-

SANG von 1811 will GRIMM, wie er sagt, „das 14te, 15te und 16te Jahrhundert aus dem 13ten verstehen" (172). Was soll das heißen, wie soll das möglich sein? Es funktioniert nur insofern, als GRIMM die literarischen Phänomene einzig und allein unter formalem Aspekt betrachtet. Der höfische Minnesang und die Meisterlieder der städtischen Handwerker haben oft Strophenformen gemein, vor allem die dreiteilige sogenannte Barform - darauf kommt es GRIMM vor allem an. Er hat natürlich Recht, darin einen Zusammenhang zu sehen, weil die Meistersänger sich ausdrücklich auf die Vorbilder aus dem Hochmittelalter berufen; die „alten Meister" bilden, wie auch immer mißverstanden, den Kanon ihrer biederen Kunstübung. GRIMM unterstreicht das mit dem Hinweis darauf, daß die Lyriker immer in schul- oder zunftmäßiger Korporation gedichtet haben müssen. Im JÜNGEREN TITUREI., den man um 1810 ja noch WOLFRAM VON ESCHENBACH zuschrieb, ist einmal die Rede von meistersanges orden... (133, Hinweisstrophe A)... Die Regeln waren also von Anbeginn kodifiziert, und alle Tradition beruhte auf institutionell gesicherter „Lehre und Nachahmung" (172). Daß dennoch Unterschiede zwischen einem Gedicht sagen wir WALTHERS VON DER VOGELWEIDE und des HANS SACHS nicht zu übersehen sind, tut GRIMM als „natürliche Folge der veränderten Sitten und Zeitumstände" ab (Kleinere Schriften, IV: 8). Damit ist immerhin nicht weniger gemeint als die Tatsache, daß der eine an einem mittelalterlichen Fürstenhof dichtete, der andere als Bürger in einer großen Stadt der frühen Neuzeit.

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S c h i n d l e r s und J a c o b G r i m m s Literaturauffassung

Jede literarhistorische Erörterung wird von dieser Differenz ausgehen - GRIMM erklärt sie zur nicht weiter interessanten Selbstverständlichkeit. ,,Natürliche Folge der veränderten Sitten und Zeitumstände", sagt er: als wäre das, was den historischen Wandel ausmacht, reine Äußerlichkeit, indifferente Natur, deren Gesetzmäßigkeiten für die geistige Produktion belanglos sind. GRIMMS Literaturhermeneutik zeigt, daß er nicht eigentlich zum Historismus des X I X . Jahrhunderts gehört. Statt alle Erscheinungsformen des menschlichen Lebens in den Zusammenhang der Geschichte einzuordnen, eliminiert er die Geschichte aus dem Zentrum seiner Erkenntnis. Was ihn fasziniert, ist gerade die Grenze von Geschichte und dem, was ihr Jenseits wäre: die Grenze von Natur und Kultur also. In der Abhandlung zum Tierepos ist das explizit; anhand des Meistersangs wird dieses Fascinosum nur ex negativa sichtbar. Meistersang und Minnesang historisch auseinanderzudividieren lohnt sich deswegen nicht, weil beide innerhalb der Kultur zu lokalisieren sind. In der romantischen Terminologie J A C O B G R I M M S heißt das: sie gehören zur Kunstpoesie; deren Widerpart aber ist die Naturpoesie. Dieser Begriff, den die meisten Literaturtheoretiker seiner Generation verwenden, wird bei GRIMM in ungeahnter Weise philologisch produktiv. GRIMM benutzt ihn in den meisten Fällen nicht dazu, die Anstrengung der philologischen Erkenntnis zu sabotieren wie im Falle der Erstlingsschrift; vielmehr dient er ihm als Leitfaden ins Zentrum der philologischen Arbeit. Er half GRIMM, den weiten Bereich der volkstümlichen Uberlieferung zu erschließen: in den Märchen vor allem, aber auch in den Volksliedern, die nicht nur BRENTANO und ARNIM sammelten, und dann in den weiteren Bereichen seines Interesses: den Rechtsaltertümern, den Zeugnissen der Mythologie, schließlich in der Sprache s e l b s t . . . Seit seinen Anfängen treibt GRIMMS Denken immer dort über den Horizont der Geschichte hinaus, wo die Poesie ins Spiel kommt, die mehr als eine historische Größe s e i n m u ß . G E D A N K E N : W I E SICH DIE SAGEN ZUR P O S I E UND G E S C H I C H T E VERHALTEN,

hieß ein früher Aufsatz, den ARNIM in seiner ZEITSCHRIFT FÜR EINSIEDLER veröffentlichte (in DENECKE: 3 9 f f . ) . anderer

aus

FRIEDRICH

GEDANKEN ÜBER M Y T H O S ,

SCHLEGELS

DEUTSCHEM

E P O S UND G E S C H I C H T E

MUSEUM

(in W Y S S

1984:

ein

93ff.).

Hauptgattung des Poetischen ist in diesen Überlegungen regelmäßig das Epos: in ihm vermittelt sich das Heilige mit dem Profanen, Natur mit Kultur in einer Weise, die den Menschen sonst unerreichbar bleibt. Insofern ist es sinnvoll, die alten Epen nicht der individuellen Intelligenz einzelner Autoren zuzuschreiben, sondern sie aus der Dynamik kollektiver Kräfte im Volk hervorgewachsen zu denken. GRIMM hat sich noch 1 8 3 5 , a l s e r d e n e r s t e n B a n d v o n G E R V I N U S ' G E S C H I C H T E D E R POETISCHEN N A T I O N A L -

LITERATUR DER DEUTSCHEN anzeigte, nicht genug darüber wundern mögen, daß die höfischen Klassiker und das NIBELUNGENLIED in der überlieferten Gestalt in die gleiche Zeit fallen: „man möchte die Nibelungen in eine ganz andere Zeit setzen als den Parzifal und Tristan, und doch sah sie Deutschland beinahe zugleich erscheinen" (Kleinere Schriften, V : 185). Diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen war für JACOB GRIMM selber kein methodisches Problem: er schrieb ja auch keine Literaturgeschichte wie GERVINUS . . . Vielmehr geht er davon aus, daß Geschichte und Vorgeschichte immer sowohl als synchrones wie als diachrones Faktum zu behandeln sind. Die Differenz von Geschichte und Vorgeschichte vertritt dabei auch den Unterschied von Natur und Kultur; er erscheint gewissermaßen als dessen mildere Form in den Randzonen der historisch-kulturellen Wirklichkeit. Ein Beispiel dafür bot uns das Tierepos, welches

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Ulrich Wyss

einerseits direkt die Kulturwelt der Menschen mit dem natürlichen Dasein der Tiere ins Verhältnis setzt, zugleich aber auch innerhalb der literarischen Kultur des Mittelalters die Erinnerung an eine archaische Stufe der Gesellschaftsentwicklung festhält. Der Gegensatz von Natur und Kultur bricht in GRIMMS Denken immer wieder auf, und mit ihm die Entzweiung von Geschichte und Vorzeit, die es verhindert, daß ein homogenes Bild der Geschichte zustandekommt. Das hat zur Folge, daß GRIMM immer und überall auf archaische Tatbestände stößt: und sei es in einem so kunstvoll elaborierten Literaturwerk wie dem PARZIVAL, WO die personifizierte Aventiure im Prolog zum IX. Buch in unabsehbare mythische Bezüge rückt (Kleinere Schriften, I: 83ff.). Oder wenn der in mittelhochdeutschen Epen des öfteren personifizierte Wunsch sich als der germanische Gott Wuotan zu erkennen gibt (Kleinere Schriften, I: 125ff.). Doch GRIMMS dynamische Auffassung von der Poesie bewährt sich auch in neuerer Zeit. Das zeigt sich dann, wenn der alte GRIMM von der Berliner Akademie die Gedenkrede zu SCHILLERS hundertstem Geburtstag hält (Kleinere Schriften, I: 374ff.). Zwar gehört es zu den Dogmen der Lehre von der Naturpoesie, daß die ganz große Dichtung eigentlich keinen Autor habe - das Epos dichtet sich sozusagen von selber (s. DENECKE: 39). GRIMM hatte es in einem seiner ersten Aufsätze proklamiert. Nun, mehr als ein halbes Jahrhundert später, führt er vor, daß er nichtsdestoweniger auch eine große Dichterpersönlichkeit im Sinn seiner Prinzipien aufzufassen weiß. Da ist, wie im Meistersangbuch, die Abneigung gegen alle schulmäßige Poeterei: „dichterschulen entspringen, sind aber stets ohne nachhaltigen einflusz und nach überstandener langeweile fast unschädlich geblieben" (386). Die großen Dichter dagegen bewiesen ihre Größe nicht zuletzt dadurch, daß sie „gerades weges auf das gemüth des einzelnen los gehen" (386) - das aber deswegen, weil es der einzelne Dichter ist, ,,in dem sich die volle natur des volks, welchem er angehört, ausdrückt, gleichsam einfleischt" (375). Dichtung ist also auf der einen Seite ganz und gar spontan, unvordenkliche Kreativität - als solche aber nur zu würdigen, weil sie die Natur des Volkes nicht nur ausdrückt, sondern geradezu inkarniert. Der Dichter wirkt unmittelbar zur Natur seines Volks, „plötzlich hebt er seine stimme", „ihm mag das erste, zweite und alsobald das dritte examen geschenkt werden" ( 3 8 5 ) . . . Diese Wirkung ist im Verhältnis von Sprache und Dichtung verankert. Bildet die Sprache den Stamm, an dem sich die natürlichen Eigenarten eines Volkes dartun, „so geht ihm erst in der dichtung die blüte s e i n e s W a c h s t u m s u n d g e d e i h e n s a u f " ( 3 7 5 ) . S p r a c h e r e i c h t h i n a b in den n a t ü r l i c h e n

Wurzelgrund allen Seins, auch des historischen; und als Sprachwerk kommuniziert die große Poesie mit dieser Natur. Das wird für SCHILLER konkret erläutert, und zwar im Verhältnis zu GOETHE. SCHILLER, der Schwabe, war zunächst vor allem im Süden Deutschlands erfolgreich, während GOETHE, der Franke, vor allem im Norden Gehör fand; in Thüringen, mitteninne in Deutschland, trafen sie zusammen und entfalteten die Wirkung, die über alle regionale Partikularität hinausreicht. GRIMM versucht also, die Poesie mit dem Boden zusammenzudenken, auf dem sie gedichtet und gelesen wird. Sie hat bei ihm aber und vor allem auch mit dem Sexus und der Entzweiung der Geschlechter zu tun. GRIMM erklärt, literarhistorische Topoi geschlechtsspezifisch deutend: „vorhin wurde in Schiller der sentimentale, in Göthe der naive zug angenommen, womit zusammenhängen dürfte, dasz jenem im voraus die darstellung von männern, diesem der frauen gelingt, eben weil die frau gern naiv oder nach Kants ausdruck empfindlich bleibt, der mann leicht empfindsam wird. . . . daher rührt, dasz frauen

Schmellers und J a c o b G r i m m s Literaturauffassung

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stärker von Schillers männern, männer von Göthes frauen sich angezogen f ü h l e n " (383). Eine verblüffende B e g r ü n d u n g der Rezeptionsästhetik! - Ein letztes M o t i v der N a t u r p o e s i e in den modernen Dichterindividualitäten k o m m t am Schluß z u r Sprache. „ K a n n denn ein dichter geadelt w e r d e n ? " fragt J A C O B G R I M M (393) - als ob T a l e n t e sich fortpflanzten „ w i e adel oder k r a n k h e i t e n " ! SCHILLERS N a m e , „ s c h o n dem w o r t sinn nach glänz streuend", w u r d e durch „ e i n sprachwidrig vorgeschobnes von verd e r b t " . H i e r vermischt sich die Spekulation auf N a t u r jenseits der Gesellschaft m i t d e m Stolz des citoyen, der seine politische Emanzipation im Einklang mit dem natürlichen Recht w e i ß . JACOB GRIMM hatte im übrigen schon 1848 in der F r a n k f u r t e r Paulskirche die Abschaffung des Adels vorgeschlagen (Kleinere Schriften, I: 374 ff.). Zweierlei lehrt J A C O B G R I M M S Schillerrede. Einmal, daß er den Intentionen seiner J u g e n d bis z u l e t z t die T r e u e hielt; seine Idee der Naturpoesie w u ß t e er mit der L e k t ü r e auch der neuen Literatur zu vereinbaren. D e r Gegensatz von Naturpoesie und Kunstpoesie fällt bei ihm nicht mit dem Unterschied zwischen alter und neuer Literatur z u s a m m e n . G e w i ß , Schillers beste W e r k e sind nicht einfach mit d e m NIBELUNGENLIED gleichzusetzen; sie k o m m u n i z i e r e n dennoch stärker mit der N a t u r als die P r o d u k t e aller z u n f t m ä ß i g e n K u n s t ü b u n g . F ü r J A C O B G R I M M ist alle w i r k l i c h große Dichtung Naturpoesie. Die Schillerrede lehrt aber auch, daß G R I M M S Literaturauffassung von seiner Sprachtheorie nicht zu trennen ist. Im sprachlichen Material, das der Dichter formt, ist von jeher ein unversiegliches Potential poetischer Energien enthalten. U n d w e i l die Sprache, vor allem Reden der vergesellschafteten Menschen, selber N a t u r ist, m u ß N a t u r p o e s i e im reinen Sprachlaut die höchste Stufe ihrer Intensität erreichen. A l s L a u t haben die Elemente der Sprache keinen Sinn und keine B e d e u t u n g ; sie sind zunächst nichts als reine, asignifikante D y n a m i k , „ d e r vocal ruht, der consonant s c h w e b t und ergreift j e n e n " , heißt es einmal (Gesch. d. dt. S p r . : 191): alle Elemente der P h o n e t i k haben ein eigenes Leben, u n a b h ä n g i g von den W ö r t e r n , in denen sie uns entgegentreten. J A C O B G R I M M hat dann auch im D E U T S C H E N W Ö R T E R B U C H die Buchstaben des Alphabets wie eigenständige W ö r t e r behandelt: es gibt den A r t i k e l A, B u n d so w e i t e r . Die Sprache ist aber nicht n u r selber N a t u r ; in ihren Formen vertritt sie a u ß e r d e m die N a t u r im S y s t e m der symbolischen O r d n u n g , welches unsere K u l t u r erst als solche zu sich k o m m e n läßt. M a n denke daran, welchen Platz G R I M M der Genuslehre in einer DEUTSCHEN G R A M M A T I K einräumt (vgl. W Y S S 1979: 160ff.)! Die Polarität von m ä n n lich und weiblich waltet im S y s t e m der D e k l i n a t i o n e n ; sie prägt aber auch deshalb das ganze Sprachsystem, weil alle N o m i n a ihr grammatisches Geschlecht haben. Dieses aber erklärt sich für G R I M M als „ e i n e in der phantasie der menschen entstandene a u s d e h n u n g des natürlichen auf alle und jede gegenstände" ( G r a m m a t i k III: 345). Allerdings läßt sich das nicht i m m e r ohne weiteres nachweisen. H a n d e l t es sich u m Lebewesen, so mag man es noch verstehen, obgleich auch hier A u s n a h m e n die Regel bestätigen müssen. Bei Artefakten ist schon schwieriger einzusehen, w e l c h e m N a t u r g e setz sie ihr Geschlecht verdanken; und erst recht abstrakte Begriffe fügen sich nicht in dieses Schema. G R I M M läßt jedoch nichts unversucht, u m die natürliche E r k l ä r u n g des grammatischen Genus so weit w i e möglich in die Kultur hinein zu verschieben. So ordnet er eine Reihe von N a m e n für Geräte der Landwirtschaft in die Liste jener Substantiva ein, die ihr Genus natürlichen U r s a c h e n verdanken sollen. Die frühe Zivilisation stand der N a t u r noch so nah, daß auch f ü r Artefakte natürliche Assoziationen bereitlagen, sobald das Sprachsystem morphologische und syntaktische Z u s a m m e n h ä n -

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Ulrich Wyss

ge erforderlich machte. Der Kulturzustand, in welchem die Nomina ohne aus der Natur herzuleitendes Genus überhandnehmen, markiert den Ubergang von der Vorgeschichte in die eigentliche Geschichtszeit. Die Sprache erinnert aber immer an die frühere Epoche: als Statthalterin der Natur im Kulturgefüge.

IV JACOB GRIMMS Philologie entfesselt eine Dynamik, die alle Objektivationen dessen, was in der Geschichte „eigentlich gewesen ist", zersetzt; fertige, in sich geschlossene Epochentableaux kommen so nicht zustande, und erst recht keine in sich selber seligen Kunstgebilde. Die zuallererst ästhetisch interessierte Textkritik KARL LACHMANNS lehnte JACOB GRIMM, wie man weiß, ausdrücklich ab. Er wollte nicht die Sachen um der Wörter willen treiben, sondern umgekehrt, die Wörter erforschen, weil sie Sachen bezeichnen (s. WYSS 1984: 82) - und weil sie selber Sachen sind, Residuen der Vorgeschichte . . . So ist denn auch GRIMMS Literaturauffassung nicht in Textausgaben produktiv geworden; dies Geschäft überließ er LACHMANN, seinem Bruder Wilhelm: und SCHMELLER. Sein Literaturbegriff trieb ihn über die vereinzelten Texte hinaus. Weil alles Vorgeschichtliche essentiell poetisch war, fand er ästhetische Reize auch jenseits dessen, was wir Literatur nennen. Er praktizierte so etwas wie die progressive Universalpoesie FRIEDRICH SCHLEGELS - als rückwärtsgewandter Poetolog, der aus dem Schutt der sprachlichen Überlieferung ungeahnte ästhetische Reize zutage förderte. SCHMELLER dagegen hielt zeitlebens an einem streng konventionellen Literaturbegriff fest. In der MuspiLLi-Ausgabe bewährte er sich als genialer Konjekturalkritiker. JACOB GRIMMS Konjekturen dagegen pflegten nicht Verse zu heilen, sondern das Sprachsystem zu erweitern. So war das Wort muspilli im ersten Band der DEUTSCHEN GRAMMATIK Anlaß zum Ansetzen eines verloren gegangenen Verbums: aus dem müt-spelli, das GRIMM als Grundform der altnordischen und altsächsischen Belege rekonstruierte, folgerte er 1822 den Infinitiv mütön ,mutare'; muspilli würde dann ,actus mutationis' bedeuten (Grammatik, 2 I : 207 v. Anm.). Als er das von SCHMELLER betreute althochdeutsche Denkmal zu Gesicht bekam, änderte GRIMM seine Erklärung: Muspilli ist nunmehr der „Holzvernichter" (Mythologie I : 500; II: 674f.). SCHMELLER beschäftigte sich auch, wie wir gesehen haben, mit Versgeschichte. Dieses Gebiet ist gleichfalls LACHMANNS und WILHELM GRIMMS D o m ä n e , während JACOB GRIMM sich m e t r i s c h e r

und reimgeschichtlicher Fragen zeitlebens enthielt. Das bedeutet allerdings nicht, daß er keinen Sinn für die Ästhetik von Versen gehabt hätte. Noch in der Schillerrede weiß er Schillers Blankverse gegenüber jenen Lessings zu würdigen, und in der BRAUT VON MESSINA scheinen ihm die Verse flüssiger als im CARLOS (Kleinere Schriften, I: 381). SCHMELLERS Literaturauffassung hält nicht nur einen traditionellen Begriff vom Sprachkunstwerk fest; sie entspricht außerdem exakt seinem Verständnis der Sprache. Das geht aus den wenigen programmatischen Äußerungen über Sprache und Poesie unmißverständlich hervor, die uns seine Schriften überliefern. In der Münchener Antrittsvorlesung von 1 8 2 7 : Ü B E R DAS STUDIUM DER ALTDEUTSCHEN SRACHE UND IHRER DENKMÄLER teilt er die ältere deutsche Literatur in drei Perioden ein: die althochdeut-

Schindlers und Jacob Grimms Literaturauffassung s e h e L i t e r a t u r k ö n n t e d e r grammatische,

die m i t t e l h o c h d e u t s c h e der poetische

h e i ß e n , g e f o l g t v o n d e m practisch-prosaischen,

der das X I V .

25 Zeitraum

bis X V I I . J a h r h u n d e r t

u m f a ß t ( 1 6 f . ) • D a s ist eine E p o c h e n g l i e d e r u n g n a c h p o e t o l o g i s c h e n K r i t e r i e n ;

und

d a b e i fällt die älteste L i t e r a t u r aus d e m K a n o n des P o e t i s c h e n h e r a u s . „ D a s S t u d i u m d e r d e u t s c h e n L i t t e r a t u r aus der f ü r u n s ältesten d. h . f r ä n k i s c h e n u n d g o t h i s c h e n Z e i t b i e t e t w e n i g o b j e c t i v e B e f r i e d i g u n g , a b e r d e s t o m e h r s u b j e c t i v e für j e d e n D e u t s c h e n

dar,

w e l c h e r ü b e r seine S p r a c h e n a c h z u d e n k e n ein B e d ü r f n i s f ü h l t , u n d n i c h t o h n e S i n n f ü r G r a m m a t i k ü b e r h a u p t ist. W e m d i e s e r S i n n , dieses B e d ü r f n i s f e h l t e , - er w ü r d e s e h r u n r e c h t t h u n , a u c h n u r eine S t u n d e u n t e r den h i e r a n g e k ü n d i g t e n U e b u n g e n z u v e r l i e r e n , die i h m o h n e N u t z e n n u r L a n g e w e i l e m a c h e n k ö n n t e n " ( 1 2 ) . D i e a l t h o c h d e u t s c h e n D e n k m ä l e r z ä h l e n auch d e s w e g e n n i c h t z u r P o e s i e , weil sie v o r a l l e m g e i s t l i c h e n I n h a l t s sind ( 1 1 ) : SCHMELLERS K u n s t b e g r i f f m a g sich mit T e x t e n n i c h t a n f r e u n d e n , d i e d e m Z w e c k r e l i g i ö s e r V e r k ü n d i g u n g , B e l e h r u n g u n d E r b a u u n g d i e n e n , statt in d e r p r o f a n e n W e l t f ü r sich s e l b e r e i n z u s t e h n . A u f f ä l l i g a u c h , w i e er d e n s u b j e k t i v e n S t a n d p u n k t betont. „ F ü r u n s " m u ß der grammtische v o m poetischen Zeitraum unterschied e n w e r d e n ; das g r a m m a t i s c h e I n t e r e s s e ist ein s u b j e k t i v e s . D a g i b t es k e i n K o m m u n i z i e r e n der p h i l o l o g i s c h e n I n t u i t i o n mit der T r a d i t i o n , d e r e n S t r o m d i e s e I n t u i t i o n s e l b e r m i t sich f o r t r e i ß t . D i e E r k e n n t n i s d e s P h i l o l o g e n ist v o m P r o g r e s s d e r U n i v e r s a l p o e s i e a b g e s c h n i t t e n . I m ü b r i g e n - e r k l ä r t SCHMELLER des w e i t e r e n - v e r d i e n e n d i e a l t d e u t s c h e n T e x t e , als Z e u g n i s s e f ü r die K u l t u r g e s c h i c h t e des e i g n e n V o l k s s t u d i e r t z u w e r d e n . A u c h das ein „ s u b j e k t i v e r " W e r t ( 1 5 ) : „ L i e g t uns d o c h d a r a n , z u w i s s e n , w i e u n s e r e V o r ä l t e r n sich k l e i d e t e n , s i c h b e w a f f n e t e n , w i e sie w o h n t e n , s i c h u n t e r h i e l t e n , k ä m p f t e n u . s . w . S o l l t e es uns g l e i c h g ü l t i g e r sein, zu w i s s e n , w i e sie s p r a c h e n , w i e sie d a c h t e n ? " ( 1 5 ) . A u c h h i e r t r e n n t SCHMELLER das j e z u w e i l e n b e l i e b i g e E r k e n n t n i s i n t e r esse v o n der O b j e k t i v i t ä t des ä s t h e t i s c h e n W e r t e s a b , der p a r t i k u l a r e s u b j e k t i v e B e d ü r f nisse i m m e r s c h o n ü b e r s c h r i t t e n h a t . Sein V e r s t ä n d n i s von P o e s i e , m i t e i n e m W o r t , ist s t r i k t k l a s s i z i s t i s c h , u n d er hält es aus s e i n e r p h i l o l o g i s c h e n A r b e i t h e r a u s . D e m k l a s s i z i s t i s c h e n K u n s t b e g r i f f e n t s p r i c h t die r a t i o n a l i s t i s c h e S p r a c h a u f f a s s u n g . S c h o n die A n t r i t t s v o r l e s u n g h e b t d i e geistige N a t u r der S p r a c h e h e r v o r : „ D e r

Glanz

d e r F a m i l i e n , g a n z e G e s c h l e c h t e r s e l b s t s c h w i n d e n d a h i n , I n s t i t u t i o n e n gehen u n t e r , B u r g e n u n d T h ü r m e u n d S t ä d t e fallen in T r ü m m e r ; a b e r die G e b ä u d e , die der G e i s t a u f g e b a u t m i t den e w i g e n W e r k s t ü c k e n d e r S p r a c h e , sie ü b e r d a u e r n alles d i e s e s " ( 5 ) . W i e a n d e r s k l i n g t die g l e i c h e M e l o d i e b e i JACOB GRIMM: „ E s gibt ein l e b e n d i g e r e s Zeugnis ü b e r die v ö l k e r als k n o c h e n , w a f f e n u n d g r ä b e r , u n d das s i n d ihre s p r a c h e n . S p r a c h e ist d e r v o l l e a t h e m m e n s c h l i c h e r seele, w o sie e r s c h a l l t o d e r in d e n k m ä l e r n g e b o r g e n ist, s c h w i n d e t alle U n s i c h e r h e i t ü b e r die Verhältnisse des v o l k s , das sie r e d e t e , z u s e i n e n n a c h b a r n . " ( G e s c h . d. d t . S p r . : 4 ) . E s ist die g l e i c h e M e l o d i e : S p r a c h e als p r i v i l e g i e r t e s G e s c h i c h t s z e u g n i s - a b e r t r a n s p o n i e r t in eine a n d e r e T o n a r t , u n d in ü p p i g e r I n s t r u m e n t a t i o n . S p r a c h e n i c h t als d e r in Z e i c h e n g e r o n n e n e G e i s t , s o n d e r n als O d e m d e r S e e l e . S p r a c h e als L e b e n ü b e r die G r a b s t ä t t e n h i n w e g , n i c h t als

mentum aere

monu-

perennius.

D a s w i r d n o c h d e u t l i c h e r in der A b h a n d l u n g ü b e r die A l l i t e r a t i o n . H i e r s c h e i n t sich SCHMELLER m i t GRIMMS P o e t i s i e r u n g d e r ä l t e r e n S p r a c h s t u f e n

auseinanderzusetzen.

D i e S p r a c h e w i r d „ z u r W e r k s t ä t t e k l e i n e r i n n e r e r F r e u d e n " , h e i ß t es da, „ i n d e m sie b a l d d u r c h v e r s c h i e d e n e Z e i c h e n einerlei D i n g e , b a l d vielerlei D i n g e d u r c h e i n e r l e i Z e i c h e n f a ß t , u n d s o d e m v e r g l e i c h e n d e n V e r s t ä n d e ein stätiges Spiel m i t e r g ö t z l i c h e n

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Ulrich W y s s

Aufgaben eröffnet. Das, was man witzig, geistvoll, genial nennt, ist nur ein höherer Grad dessen, was schon mit der Sprache überhaupt auch der gemeinsten Zunge gegeben ist" (1839: 207f.). Auch SCHMELLER sucht einen Reiz, der in der Sprache selber, noch vor aller poetischen Gestaltung der Rede, wirksam wäre. Aber schon die Wortwahl fällt auf: witzig, geistvoll, genial sollen die in der Sprache angelegten Kräfte heißen. Es sind intellektuelle Reize. Und sie erwachsen aus dem Zeichencharakter der Sprache. Weil das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem variiert, ergeben sich vielfältige Spielmöglichkeiten. Wahrscheinlich hat SCHMELLER, als er darauf zu sprechen kam, an den Variationsstil der germanischen Epik gedacht, für den ja gerade der HELIAND unzählige Beispiele enthält. Aber er macht aus dem theoretischen Schmuckmittel ein zeichentheoretisches Problem, wie er denn überhaupt oft über das Verhältnis von Wort und Gedanken nachgegrübelt hat. Am „Andreastag" des Jahres 1823 schrieb er ins Tagebuch: „mein Kopfzerbrechen über Denken und Bezeichnung des Denkens dauert nun schon einige Wochen fort. Im Grunde hatte ich seit meinem 18t. Jahre nie ganz vergessen, hierüber Befriedigung in mir selbst zu suchen. Ich glaube in der bestimmten Scheidung dessen, was dem Denken selbst, und dessen was blos der Bezeichnung gehört - lichte, weitführende Blicke gewonnen zu haben" (TB, I: 484). Am Tag darauf referiert er Eindrücke v o m D u r c h b l ä t t e r n d e r K R I T I K DER REINEN VERNUNFT u n d d i e E r k e n n t n i s , d a ß er m i t

HUMF. „auf beynahe gleiche Einsichten gerathen sey" (TB, I: 484). Das kommentiert er mit dem Satz: „Immer ein Grund, mich für fähig zum Selbstdenken zu halten". Analog im Alliterations-Aufsatz: Die Variationsfähigkeit des Zeichensystems begabt jeden, auch den gemeinen Mann, mit einem unverlierbaren Ansatz zu intellektueller Kultur. Von der Poesie, die mit der Sprache selber gegeben sein soll, ist nirgends die Rede. SCHMELLER erklärt vielmehr: „Und wie in unsern Tagen die Hausmannssprache des wilden Americaners, die er im Versammlungshause des hochcivilisirten zu Washington führt, diesem, der seinigen gegenüber, in welcher alle Bilder längst zu abgezogenen Begriffen verbleicht sind, hochpoetisch klingt, so erscheint jedem Volke einer spätem Zeit seine Sprache einer frühern als eine naive, kindliche, und würde ihm die der entferntesten, wenn er sie erreichen könnte, als eine poetische erscheinen". Das Poetische an der alten Sprache also als subjektiver Eindruck, als Sinnestäuschung, als Illusion. „In diesem Sinne hat es überall früher Poesie als das gegeben, was wir, abgesehen von äusserer Form, Prosa nennen". Poesie und Prosa hat, so wie wir sie unterscheiden, nicht in erster Linie mit der Sprachform zu tun: auch ungebundene Rede kann uns, aus dem Munde eines Wilden zum Beispiel, durch und durch poetisch anmuten. Poesie und Prosa sind in diesem Zusammenhang bloße Reflexionsbegriffe, die nichts daran zu ändern vermögen, daß die poetische Qualität einer Rede aus dem Spielraum des Zeichens stammt. Das arbitraire du signe, welches nie ganz aufzulösen sein wird, eröffnet die Möglichkeit kognitiver Spielereien, und zwar auf jeder Stufe der Sprachentwicklung. SCHMELLER macht erst am Ende dieses Raisonnements eine Konzession an GRIMMS Grammatik. „Aber nicht nur durch ihre Worte, insoferne sie Zeichen von Bildern und Begriffen sind, gewährt die Sprache solch geistiges Spiel; sie bietet es auch durch die Wörter in ihrer blossen äussern Erscheinung". Schon „die blosse Zahl ihrer Bestandt e i l e " kann eine poetische Wirkung hervorrufen. Prosaischer läßt sich nicht ausdrükken, was im Zentrum von GRIMMS Anschauungen gestanden hat (Ursprung d. Spr.:

Schmellers und J a c o b G r i m m s Literaturauffassung

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1 5 5 f f . , bes: 1 8 2 f f . ) . V o n einer V o l l k o m m e n h e i t der ersten Sprache redet SCHMELLER nie; eher defensiv hört es sich an, wenn er meint, auch die „äussere F o r m der P o e s i e " reiche „ ü b e r a l l in die Jugend der Sprachen h i n a u f " . In der T a t : wer die Sprachgeschichte auf eine zeichentheoretische Folie projiziert, wird sich mit der Materialität der W ö r ter schwertun, die in der Frühzeit sich so viel eindrücklicher manifestiert hat als heute. So redet SCHMELLER, als m ü ß t e er sich immer noch gegen einen Sprachkritiker wie ADELUNG verteidigen, der die klangvollen N e b e n t o n s i l b e n des älteren Deutsch barbarisch gefunden hatte. N i e bringt SCHMELLER die Natur ins Spiel - und schon gar nicht die romantische Naturpoesie. E r beschränkt sich darauf festzustellen, daß die ältere Sprache, wie jene des Wilden im Repräsentantenhaus, bilderreicher und anschaulicher gewesen sei als die Sprache der modern Zivilisierten. Poesie ist unter diesen Umständen „ m e h r oder weniger ein Ringen nach der R ü c k k e h r in den Paradiesgarten der noch jugendlichen, ganz anschaulichen S p r a c h e " (208). D e r Unterschied zu GRIMM ist hier in doppelter H i n sicht zu fassen. Einmal postuliert SCHMELLER wieder einen traditionellen Poesiebegriff, der die D i c h t u n g von der begrifflichen Rede scheidet, welche alle Anschaulichkeit sich verbieten m u ß ; nicht anders hat es, in einem elaborierten System der Ästhetik, auch HEGEL gesehen. Z u m andern rekurriert SCHMELLER an dieser Stelle auf ein geschichtsphilosophisches Motiv, das GRIMM immer wieder zurückgewiesen hat. D e r Urzustand der Sprache hat für ihn nichts mit dem Paradies zu tun. „ D e n stand der spräche im ersten Zeitraum kann man keinen paradiesischen nennen in dem gewöhnlich mit diesem ausdruck verknüpften sinn irdischer Vollkommenheit; denn sie durchlebt fast ein pflanzenleben, in dem hohe gaben des geistes noch schlummern, oder nur halb erwacht s i n d " . S o in d e r A k a d e m i e a b h a n d l u n g Ü B E R DEN U R S P R U N G DER S P R A C H E v o n

1854

(182). W e n n GRIMMS historische F o r s c h u n g die Vorstellung homogener Geschichtszustände auflöst, kann ein k o m p a k t paradiesischer Zustand auch am Anfang nicht in den Blick k o m m e n ; Paradies war und ist immer und überall, aber auch nie und nirgendwo. W i e GRIMM besteht SCHMELLER anderseits darauf, daß es den Gegensatz von archaischer und moderner Zivilisation nicht nur als diachronen Sachverhalt gibt. Weil er aber N a t u r und die universalisierenden Energien der Naturpoesie aus diesem Gegensatz fernhält, bleibt die Sprache für ihn ein ganz und gar kulturelles P h ä n o m e n . D a s gilt auch und gerade für SCHMELLER als Dialektolog. Man m ö c h t e wünschen, daß sich die deutschsprachige Mundartforschung in dieser Hinsicht ihres ersten Meisters immer entsonnen hätte. Schmeller war nie versucht, die Sprache des Volkes zu verklären, im Gegenteil. E r war überzeugt, daß die Ausbildung einer H o c h s p r a c h e einen politischen Fortschritt darstellt, an dem vor allem die bisher nicht Gebildeten interessiert sein m ü ß t e n (vgl. KUNISCH: 230). W e n n die Sprache das einzige E r b e der A r m e n ist, wie SCHMELLER zu betonen nicht müde wird, so ist das eben eine kulturelle Errungenschaft, die sie nicht aufs Spiel setzen dürften. G a r nicht können sie die Schwärmerei bourgeoiser Mundartenthusiasten aus den Städten gebrauchen, die in der Volkssprache der N a t u r auf den Pelz rücken m ö c h t e n . Als wären die L a n d b e w o h n e r eine besonders exotische Spezies halbdomestizierter T i e r e . . . Gerade als Mundartforscher also weiß SCHMELLER um die G r e n z e n der R e d e im Dialekt. E r beurteilt sie ganz nüchtern, während JACOB GRIMM gelegentlich der Versuchung erliegt, in der Volkssprache eine besondere Intimität mit Naturdingen zu vermuten. Als er in der Vorrede zum DEUTSCHEN WÖRTERBUCH über den W o r t s c h a t z der ältesten Berufsstände spricht, heißt es,

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Ulrich Wyss

die „redensarten" des Weidmanns, Falkners und Voglers würden sich durch „frische und natürlichkeit" auszeichnen; „ärmer scheint die spräche des fischers, der etwas von der stummheit der thiere angenommen hat, denen er nachstellt" (DWB, I: XXX). Da führt die Vertrautheit mit dem Tierepos auf eine gefährliche Spur. S C H M E L L E R argumentiert immer von der Erfahrung der Dialektforschung her, G R I M M als Leser der alten und neuen Literatur. In der Antrittsrede von 1827 hat S C H M E L L E R auch das ausgeführt. „Was ich aus den mannichfaltigen, vielfach versiegten oder trüben Bächen des wirklichen Volkslebens in mancherley Gauen deutscher Zunge auf die nicht bequemste Weise zusammentrug, das schöpfte er bequemer und reiner aus den schriftlichen Quellen selbst, die dem gemeinsamen Ursprung, von welchem alle diese weitzertheilten Bäche ausgegangen sind, um zehn bis fünfzehn Jahrhunderte näher liegen" (1827: 9). S C H M E L L E R S Deutungen sind daher stärker pragmatisch orientiert, machmal vielleicht ein wenig trivial; G R I M M dagegen, der die Sprache von Anbeginn als Literatur studiert und poetische Potenzen in ihr aufspürt, entwickelte mehr systematische Kraft und spekulativen Wagemut. S C H M E L L E R S Stärke ist der philologische bon sens, G R I M M vermag seine Phantasmen und Faszinationen in der philologischen Arbeit zur Geltung zu bringen, ohne sie der Zensur seiner Methode zu unterwerfen. Fassen w i r die Differenz zwischen G R I M M und S C H M E L L E R zusammen. Für G R I M M wurzelt die Sprache in der Natur, um ihrer Materialität als Klang willen und als somatische Äußerung; sie hat außerdem in der Entfaltung ihrer Morphologie an der Logik alles Lebendigen teil. Und schließlich verwahrt sie in ihren Wörtern ein Gedächtnis, das weiter in die Vorgeschichte zurückreicht als jeder Diskurs und alle anderen Geschichtszeugnisse. Sie ist Statthalterin der Natur in der Geschichte. Für S C H M E L L E R dagegen ist sie die Statthalterin der Kultur, immer und überall, auch beim Wilden. J A C O B G R I M M untersuchte die Grammatik mithilfe eines romantischen Literaturbegriffs, der die Zuständigkeit der Poesie ins Unendliche entgrenzte. S C H M E L L E R ergänzt sein rationalistisches Sprachverständnis durch eine klassizistische Literaturauffassung.

V Das gilt nicht nur für die Theorie, sondern auch für S C H M E L L E R S literarische Arbeiten. „Einen Zweig vom Lorber der literarischen Zelebrität" wünscht er sich als Zwanzigjähriger, wie das Tagebuch vermeldet (I, 128). Dabei hält er sich von dem Avantgardismus seiner Zeit durchaus fern - wie hätte er in Scheyern, dann in Ingolstadt und in München von dem Treiben der genialischen Intellektuellen F R I E D R I C H SCHLEGEL und N O V A L I S oder von der fröhlichen Philologie C L E M E N S B R E N T A N O S und des A C H I M VON A R N I M hören sollen? Stattdessen lesen wir unter dem 30. Januar 1802 im Tagebuch: „ D i a - N a Sore, o welch ein herrliches, göttliches Buch, so hoch, so voll Wahrheit! noch nie kam mir ein ähnliches in die Hand - " (TB, I: 53). Der dreibändige Roman jenes M E Y E R aus Ansbach, der sich von M E Y E R N nannte, ein mittlerweile berüchtigtes Stück deutscher Trivialliteratur, schildert die Erneuerung der Welt in einem fernen Reich, irgendwo im Himalaya. A R N O S C H M I D T hat es in unseren Tagen ausgegraben; er sieht die Sozialuto-

Schmellers und Jacob Grimms Literaturauffassung

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pie MEYERNS als einen militanten M ä n n e r b u n d , in welchem die verklemmte H o m o sexualität in die Greuel elitären T e r r o r s umschlägt: Ziel MEYERNscher Pädagogik sei „ d i e blondeste der B e s t i e n " , eine Antizipation der SS. D e m Leser heute kann das Angst und Bange machen. GÜNTER DE BRUYN hat den Casus gleichfalls untersucht und ist zu dem Schluß g e k o m m e n , daß zumindest die erste Auflage von 1787/91 auch eine andere Lesart zuläßt. D e r Aufbruch der jungen Krieger geschieht, weil überlebte Herrschaftsverhältnisse umgestürzt werden sollen: u m der Volkssouveränität willen (SCHMIDT: 1 5 f f . ; DE BRUYN: 9 3 5 f f . ) . Wie dem auch sei, das Buch war für den sechzehnjährigen SCHMELLER ein Pubertätserlebnis ohnegleichen. Später kamen andere Leseerfahrungen hinzu. ROUSSEAUS CONFESSIONS, FENELON, der VICAR OF WAKEFIELD, MATTHISSON und WIELAND . . . SCHMELLERS U m g e b u n g war kein literarisches Reizklima, wie ja überhaupt der katholische Südosten an der literarischen Kultur des X V I I . und X V I I I . Jahrhunderts in Deutschland kaum teilgehabt hat. G a n z anders stand es u m den jungen JACOB GRIMM. E r entstammte jener Gesellschaftsschicht, die wie keine andere für die deutsche Literatur tätig war. Ein Viertel der seit der Mitte des X V I . J a h r h u n derts in der ALLGEMEINEN DEUTSCHEN BIOGRAPHIE nachgewiesenen Schriftsteller sind Pfarrersöhne (vgl. SCHÖNE: 17). GRIMMS Vater war zwar Jurist, es gab aber seit m e h r e ren Generationen reformierte Pfarrherren in der Familie. Z w a r kannte man im GRIMMschen Elternhaus keinen Wohlstand - wohl aber das Bedürfnis nach Bildung und Lektüre. J a c o b s Sozialisation war die des gebildeten Bürgers, wie man sie klassischer nicht sich vorstellen könnte. In Marburg, wo er 1802 die Universität bezog, lernte GRIMM FRIEDRICH KARL SAVIGNY kennen und durch ihn dessen Schwägerin BETTINA BRENTANO, CLEMENS BRENTANO, ACHIM VON ARNIM. WILHELM GRIMM machte schon 1809 GOETHE in Weimar seine Aufwartung, J a c o b trat 1810 in Briefwechsel mit GOETHE (vgl. STEIG). In den Jahren um 1815 stritt er sich mit Wilhelm und mit seinen romantischen Freunden über die Möglichkeit, altdeutsche Literatur für die G e g e n w a r t zu adaptieren (vgl. GINSCHEL: 71 ff.). Als er zum ersten Mal ins Ausland reiste, begleitete JACOB GRIMM den Lehrer SAVIGNY z u m Studium von Handschriften in der Pariser B i b l i o t h e k . . . GRIMM war ein romantischer Philolog, ja, der Philolog schlechthin des romantischen Zeitalters. Als erster und im G r u n d als einziger übersetzte er die progressive Universalpoesie in professionelle Philologentätigkeit. Daneben muten die B r ü d e r SCHLEGEL wie kultivierte Dilettanten an, auch wenn nicht zu leugnen ist, daß eine Zeit lang AUGUST WILHELM SCHLEGEL dem jungen JACOB GRIMM in linguistischen Fragen überlegen war. D i e berühmte und berüchtigte Rezension der ALTDEUTSCHEN WÄLDER durch WILHELM SCHLEGEL trifft die Schwächen von GRIMMS A s s o z i a t i o n s - E t y m o l o gien im Mythenvergleich genau. N u r erkannte SCHLEGEL damals nicht, daß GRIMM im Begriffe war, seine unvergleichliche philologische Phantasie der Disziplin der neuen Sprachwissenschaft zu unterwerfen. D i e DEUTSCHE GRAMMATIK führt uns GRIMM als einen der modernsten und methodensichersten Linguisten seiner Zeit vor - und zugleich belegt sie, wie GRIMM trotzdem an seinen frühen Intuitionen festhält. D i e „ v o r grammatische" Periode in GRIMMS W e r k wird man heute nicht mehr als Zeit jugendlichen Irrens abtun wie WILHELM SCHERER in seiner Biographie von 1 8 6 3 ; vielmehr haben wir inzwischen sehen gelernt, daß GRIMM sowohl der N o r m a l f o r m des neuen Paradigmas wissenschaftlicher Sprachbetrachtung sich einpaßt als auch in signifikanter Weise von dieser abweicht. Sprachwissenschaft,

um es kurz zu sagen, wird nach 1800

historisch, weil sie ihren Gegenstand im Sinne der Naturgeschichte bestimmt. Sie be-

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handelt die Sprache wie einen Organismus, und immer wieder treffen wir auf die Parallele der vergleichenden Grammatik mit der vergleichenden Anatomie CUVIERS. In der Folge führte das dazu, daß die Frage des Zeichens aus der Grammatik eliminiert wurde. Sprache war ein Organismus, der natürlichen Gesetzen folgt wie alles Lebendige. GRIMMS spezifische Abweichung bestand darin, daß er dennoch nach den Namen fragte und die Zeichen nicht einfach in undurchsichtiger Materialität stehenließ. Literaturwissenschaft

wurde historisch vermittels der Geschichtsphilosophie.

SCHILLER,

F R I E D R I C H SCHLEGEL, H E G E L , SCHELLING: s i e h i s t o r i s i e r t e n d i e ä s t h e t i s c h e n

Katego-

rien, indem sie diese auf die spekulativ erfaßte Universalgeschichte bezogen. Das war die Voraussetzung für alle Lektüre von Dichtwerken, die sich der Autorität normativer Poetik entzog. Hier besteht GRIMMS Abweichung darin, daß er die Geschichtsspekulation unterläuft: an die Stelle der Explikation historischen Sinnes setzt er eine Hermeneutik der Natur. Das Tierepos ist dafür nur das deutlichste Beispiel, wenn es statt einer Metapher der menschlichen Gesellschaft so etwas wie die Anthropologie der Tiere zu bieten hat. Beide Abweichungen ergeben zusammen die romantische Philologie. Ihr gelingt es, die Intention auf Poetisierung der Welt in konkrete Forschungsprogramme zu übersetzen, ohne sie zum ästhetischen Klassizismus zu verkürzen. Die Brüder SCHLEGEL dagegen zogen sich nach 1800 auf eine restaurative Hermeneutik zurück, die bald vom Historismus nicht mehr zu unterscheiden war. GRIMM jedoch setzt, womit er sich auch beschäftigt, immer seine Literaturauffassung ins Werk. U n d SCHMELLER? Seine Jugend begünstigte nicht die literarischen Erfahrungen. Er hielt zeitlebens an einer herkömmlichen Ästhetik fest - als Leser wie als Autor von Poesie. Seine Gedichte lesen sich des öfteren recht holprig. Seine Dramen, soweit sie zugänglich sind, machen einen verzweifelten Eindruck. Werfen wir einen Blick auf das W e r k , welches er für sein gelungenstes hielt: das Herostratdrama, dem er schließlich den Titel DIE EPHESIF.R gab. Die ersten Entwürfe gehen auf das J a h r 1811 zurück, die letzte Überarbeitung datiert von 1822. Als er es am 9. August 1823 einigen Freunden vorlas, hatte er keinen Erfolg. Nichtsdestoweniger fand er das Sujet „hochtragisch": die „Verdammung durch Geburt zur Nichtigkeit" ( T B , I: 484) nämlich, sein eignes Lebensschicksal. Es wird als ganz und gar ausweglose Situation in Szene gesetzt, aber nicht im Sinn eines tragischen Dilemmas. Artemidor - so der Name jenes ephesischen Jünglings, der den Dianatempel in Brand setzt - hat nie die Chance, der Determination seines Lebens durch die niedere Geburt zu entkommen. Als er sich der hochgeborenen Priesterin näherte, wurde er verbannt. In Syrakus hat er als Dichter Erfolg - doch wendet sich sein Publikum ab: „alles eilte, das Gepräng' zu schaun / Der Wagen, die ein König hergesandt / Zum Griechenfest" (13). W o immer Artemidor sich hinwendet, er entkommt dem Trauma nicht, das die Vertreibung aus Ephesus für ihn bedeutet. So bleibt ihm nur die nihilistische Revolte, die ihn selber vernichtet. Das Bewußtsein seiner selbst - „ E s ist ein angsterfüllter Traum des Seins" (24); daraus zu erwachen gelingt nur um den Preis von Mord und Selbstmord. „Unsterblichkeit er-morden", heißt es im Text (26). . . Das Pathos dieser Handlung wollte SCHMELLER dadurch steigern, daß er ihr Chöre beigab. Und zwar sollte das Publikum im Theater selber seine Anteilnahme bekunden: „ E s müßte erhebend sein, wenn nach jedem bedeutenden Vorkommnis auf der Bühne, statt des Chores bei den Alten, die ganze Zuschauerschaft ihre Gefühle und Ansichten

Schmellers und J a c o b G r i m m s Literaturauffassung

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im Gesangs a u s s p r ä c h e . . . G r o ß e Massen von Saiten- und Blasetönen könnten jede solche Äußerung des schauenden Volkes einleiten und fortführen, einzelne Stimmen mit einander wetteifern, allgemein leichte Chöre oder vielmehr Choräle, wozu jedem eintretenden Singfähigen Worte und Noten gegeben würden, könnten sie schließen" (1822: V I . ) . Ein seltsames Projekt! Vielleicht der einzige romantische Einfall im Leben des JOHANN ANDREAS SCHMELLER. . . Seine depressive Grundstimmung verwandelt sich für einen Augenblick in ästhetischen Größenwahn und produziert das Phantasma eines Gesamtkunstwerks, in welchem dem Publikum die Freiheit des Urteils abgeschnitten werden soll. Dabei greift SCHMELLER - wie sollte es anders sein? - auf liturgische Praktiken zurück, wenn er Choräle singen lassen will. Aber das Theater ist kein Gottesdienst, und sogar der größte Theatrarch des Jahrhunderts wäre nicht auf den Gedanken gekommen, sein Publikum an der rituellen Handlung des „Bühnenweihfestspiels" zu beteiligen. Im Gegenteil, RICHARD WAGNER war alle ritualisierte Ergriffenheit im Bayreuther Gralstempel zuwider. SCHMELLERS Chöre dagegen sollen auch die Zuschauer in den Abgrund der Verzweiflung reißen, in welchem der Held des Trauerspiels versinkt. Entgrenzung der Poesie wird als Terror gegen das Publikum geplant: als wollte SCHMELLER mit Gewalt aus dem Kerker seiner Depression ausbrechen, indem er alle Welt zwingt, nach deren Partitur zu singen. SCHMELLERS Fähigkeit, Subjektivität im Diskurs zu symbolisieren, war in mehr als einer Hinsicht gehemmt. Dazu trug nicht nur seine Herkunft bei, sondern auch die philosophischen Lehrjahre bei den bayrischen Aufklärern um KAJETAN WEILLER. D o r t lernte der junge SCHMELLER, Subjekt und O b j e k t so exakt wie möglich zu scheiden gelegentlich vielleicht exakter als es gut für ihn war. Während GRIMM mit verblüffender Unbefangenheit immer wieder sich selber in seinen Schriften zu Wort kommen läßt, spaltet SCHMELLER die gelehrten Äußerungen strikt von den anderen ab: den poetischen, in welchen die Seele hätte reden sollen, und dem intimen Tagebuch. GRIMM hat nicht gedichtet und kein Tagebuch geführt. Die persönlichen Worte, die noch heute dem Leser ans Herz greifen, stehen in den Büchern, die er zu Lebzeiten hat drucken lassen, oder er hat sie Briefen anvertraut. F ü r SCHMELLER aber brachte das Tagebuch keine Erleichterung; auch im Selbstgespräch löste sich seine Zunge nicht. Viel eher zwangen ihn die leeren Seiten seiner Notizbücher, über ein Unglück zu grübeln und trübe „Jahresabrechnungen" vozunehmen ( T B , I: 36*) Immer wieder hält er Jahrestage fest, vor allem den 4. Juni 1804, den Tag, an dem er einst die Heimat verließ. D a ß seine Tochter vierzehn Jahre später am gleichen Tag geboren wurde, muß ihn fasziniert und zugleich verstört haben. Die wiederkehrenden Jahrestage bestärkten ihn in seiner Hilflosigkeit. Sie bewiesen ihm, wie sehr er der Determination durch finstere Mächte ausgeliefert war, die nicht mit sich reden ließen. So verzeichnet das Tagebuch Schicksalsschläge nur in dürren, bitteren Worten. Als er die Nachricht von der Entlassung und Vertreibung der Göttinger Sieben erhält, notiert er: „ M a n meint, der Boden wanke unter einem" ( T B , I I : 254). Und als er die Mutter seiner Tochter schließlich heiratet, heißt es: „ D e k a n Boeckh kam zur Trauung vom Gottesacker her, wo er eben einen jedenfalls G l ü c k l i c h e r n . . . ins ewige Brautbett gelegt hatte" ( T B , I I : 207). Kaum je ist, von pubertärem Schwärmen in der Frühzeit abgesehen, von literarischen Erfahrungen die Rede. Goethezitate finden sich vor allem deshalb, weil SCHMELLER den Tic kultiviert, am Pfingstsonntag jeweils „Pfingsten, das

32

Ulrich W y s s

liebliche Fest

" einzutragen, wobei oft unerfreuliche Abwandlungen des Verses

nötig werden, wenn das W e t t e r nicht mitspielt. U n t e r GOETHES Schriften scheint ihn die Autobiographie am meisten zu fesseln ( T B , I : 189; 2 5 9 ; 355). Im Elsaß ( T B , I : 3 5 5 ; T B , I I : 353) und in Leipzig stellen sich, wenn SCHMELLER auf Reisen vorbeikommt, die üblichen touristischen Reminiszenzen ein. Als SCHMELLER 1840 Weimar besucht, läßt er sich die Bibliothek zeigen und kann der z u m Teil von GOETHE veranlaßten Einrichtung ein kollegiales L o b nicht versagen ( T B , I I : 299); vor allem aber interessiert ihn der M a l e r JOHANN J O S E P H SCHMELLER ( T B , I : 4 7 9 ; T B , I I : 2 9 9 ) , d e r GOETHE g e m a l t h a t :

war er am Ende ein Verwandter? Der Ausdruck Naturpoesie,

der den Romantikern so

teuer war, er begegnet im Tagebuch ein einziges M a l . . . auf einem Zeitungsausschnitt, den SCHMELLER eingeklebt hat ( T B , I: 452). E s handelt sich um ein Gstanzl, zu dem die Redaktion der DRESDNER ABENDZEITUNG anmerkt, sein Verständnis würde durch SCHMELLERS MUNDARTEN BAIERNS e r l e i c h t e r t .

D a s Tagebuch hilft nicht weiter, wenn wir SCHMELLERS Literaturauffassung besser kennenlernen wollen, als es seine gedruckten Schriften erlauben. Dafür zeigt es, wie sehr SCHMELLER die Musik liebte. GRIMM verstand davon nichts und hatte kein V e r gnügen daran. SCHMELLER dagegen verzeichnet Konzerte, etwa von LISZT oder MENDELSSOHN; e r b e s u c h t e o f t d i e O p e r - Z E L M I R A v o n ROSSINI ( T B , I : 4 5 4 ) , L E P R O P H E TE v o n M E Y E R B E E R ( I I , 5 3 2 ) , WEBERS FREISCHÜTZ ( T B , I : 5 3 4 ) . E r b e w u n d e r t die P r i m a d o n n a HENRIETTE SONNTAG ( T B , I I : 5 4 8 ) , JENNY L I N D h ö r t er in LA SONNAMBU-

LA und im FIDELIO ( T B , I I : 4 3 1 ; 434; 442) - einmal sogar während der Frankfurter Germanistenversammlung. D i e schwedische Nachtigall zog er für einen A b e n d der Gesellschaft seiner Fachgenossen vor. K u r z darauf traf er sie in der Münchner B i b l i o thek und richtete einige W o r t e auf schwedisch an sie ( T B , I I : 4 4 7 ) . Als SCHMELLER im J a h r 1840 in Kassel die Brüder GRIMM aufsuchte, erkundigte er sich, o b es zu empfehlen sei, in die O p e r zu gehn. JACOB GRIMM, wen wundert's, riet ab und SCHMELLER blieb zum Abendessen im H a u s e GRIMM ( T B , I I : 296). W e r J A C O B G R I M M u n d JOHANN ANDREAS SCHMELLER n e b e n e i n a n d e r h ä l t , e r f ä h r t es

i m m e r wieder: daß bei SCHMELLER ins Leben und ins W e r k zerfällt, was bei GRIMM im philologischen Diskurs unentzweit gegenwärtig ist. SCHMELLER liebte die Musik

-

GRIMMS Prosa kennt melodische Kadenzen, die unseren O h r e n klingen wie Musik. SCHMELLER versucht sich ernsthaft als D i c h t e r - GRIMMS Abhandlungen sind selber Literatur. SCHMELLER verstrickt sich in erotische Leidenschaften - GRIMM, der J u n g geselle, beschwört den Zauber des anderen Geschlechts in zarten Leistungen philologischer Empirie. Ist es also doch sinnvoll, SCHMELLERS Leben wissenschaftsgeschichtlich auszudeuten? D e n n GRIMMS W e r k e sind in einer Hinsicht untypisch für die Germanistik ihrer Zeit. MICHEL FOUCAULT ( 3 1 0 f f . ; vgl. WYSS 1979: 167) hat daran erinnert, daß die Philologie des X I X . Jahrhunderts für ihre entscheidende Errungenschaft einen hohen Preis zu zahlen hatte. Sie machte die Sprache z u m O b j e k t unter O b j e k t e n ; um das in ihr sedimentierte geschichtliche Leben zu explizieren, mußte neben die Linguistik die H e r meneutik alter T e x t e treten. U n d um die W ö r t e r in dem beziehungsreichen Glanz ihres Seins, den die Grammatik gelöscht hatte, wieder glitzern zu machen, entstand die moderne L i t e r a t u r . . . GRIMMS Philologie definiert sich dadurch, daß sie diese K o m pensationen nicht nötig hat. In SCHMELLERS Leben zeigt sich, daß es ohne sie nicht geht. Insofern ist SCHMELLER die emblematische Figur der frühen deutschen Philologie,

Schmellers und Jacob Grimms Literaturauffassung

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einer i h r e r g r o ß e n alten M ä n n e r . JACOB G R I M M dagegen, der vielen als der m y t h i s c h e G r ü n d e r v a t e r galt, erweist sich d o c h eher als ein e w i g e r älterer B r u d e r , den wir lieben dürfen.

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Schmellers ,Bayerisches Wörterbuch' am Beginn der Germanistik. Norbert Riebard Wolf

(Würzburg)

Am 14. Februar 1816 stellte der Ober-Lieutenant im königlichen I.Jäger-Bataillon J . A . SCHMELLER d e m M ü n c h n e r B i b l i o t h e k a r JOSEF SCHERER ein K o n z e p t „ ü b e r e i n

zu bearbeitendes baierisches Idiotikon, oder Sammlung des Eigentümlichen der baierischen Volkssprache" mit der Uberschrift „Sprache der Baiern" zu. Darin heißt es: Ist die Sprache überhaupt der Abdruck des äußern und innern Lebens eines Volkes, so zeichnet die allgemeine Büchersprache zunächst nur das Leben der höhern in angelernten Formen sich bewegenden Stände; in das vielsinnige Naturleben des Volkes vermag die vornehme, glatte selten recht einzugreifen, sollte sie auch von der Furcht, sich gemein zu machen, nicht zurückgehalten werden. Dieses Volksleben drückt sich nur in der Volkssprache aus - und in soferne das Eigenthümliche derselben in der A b k u n f t dieses Volkes, seinen Schicksalen und Verhältnissen mit andern Völkern - so wie in der vorwaltenden Beschaffenheit seines Landes in Hinsicht des Bodens, der Witterung, der Nahrungsmittel, der Krankheiten, und in seiner Lebensart und Beschäfftigung - geschichtliche Entstehungsgründe haben kann, muß die Beleuchtung desselben zu manchem, sonst nicht w o h l möglichen Rückschluß auf die Geschichte dieses Volkes und andere merkwürdige Umstände einen nicht zu verachtenden Weg bereiten, (in: ROCKINGER: 70). I n e i n e r ANZEIGE, DIE GRAMMATICALE UND LEXICALE BEARBEITUNG DER BAIERISCHEN UND OBERPFÄLZISCHEN MUNDART BETR. i m

KUNST- UND LITERATURBLATT

EOS

(Nr. 4, 1819; jetzt auch abgedruckt in: Rockinger/Hinderling: 314) gibt SCHMELLER den „in- und ausländischen SprachFreunden" bekannt, daß „das Werk über die Munda r t . . . aus einem grammaticalen und einem lexicalen Theile bestehen" werde (314). Im Vorwort zur Mundartgrammatik sagt SCHMELLER ausdrücklich: „Von dem seit längerer Zeit angekündigten Versuche über die Mundarten Bayerns erscheint nun der erste Theil, oder die grammatische Darstellung derselben." Das Wörterbuch wird als zweiter Teil bezeichnet (1821: V). Schmeller hat also seine beiden großen Werke „als eine Einheit verstanden". (TYROLLER: 47) Diese Einheit von Grammatik und Wörterb u c h k a n n - d a s sei h i e r a m R a n d e b e m e r k t - i h r V o r b i l d in FRANZ JOSEPH STALDERS

SCHWEIZERISCHEM IDIOTIKON haben, das dem Wörterbuch ebenfalls eine grammatische Einleitung mit einer rein synchronen Laut- und Flexionslehre und verschiedenen S p r a c h p r o b e n v o r a n s t e l l t , u n d SCHMELLER h a t s e l b s t auf d e n E i n f l u ß STALDERS auf

seine dailektologischen Interessen hingewiesen (vgl. HINDERLING: bes. 14ff.). Wichtiger in unserem Zusammenhang indes ist, daß die einleitenden Kapitel der Grammatik auch für das Wörterbuch Gültigkeit haben, ja zu dessen angemessener historischer Beschreibung herangezogen werden müssen. Zugleich ist von Bedeutung, daß SCHMELLERS „gleich zu Beginn der Arbeit entwickelte^] Grundlagen", wie sie bereits im Konzept vom Februar 1816 entgegentreten, . . . „,gehalten'" haben, (REIFFENSTEIN 1985: 20) so daß SCHMELLER sie im Laufe seiner Arbeiten nicht grundlegend revidieren mußte und wir alle seine Äußerungen gleichermaßen beiziehen können.

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Norbert Richard W o l f

Bereits im Konzept begegnet eine - nicht nur für SCHMELLER - grundlegende sprachsoziologische Unterscheidung: der „allgemeinen Büchersprache", die von den „höhern in angelernten Formen sich bewegenden Ständen" verwendet wird, wird die „ V o l k s s p r a c h e " gegenübergestellt. I n den MUNDARTEN BAYERNS w i r d diese S c h i c h t u n g n o c h d i f f e r e n z i e r t ( 1 8 2 1 : 2 1 , vgl. WIESINGER: 5 9 5 ) :

gemeine landliche Aussprache

= Dialekt

Aussprache der Burgerclasse in Städten

= Umgangssprache

Aussprache der Gebildeten

= Hochsprache

SCHMELLERS O b j e k t ist die „landliche Aussprache" des „ V o l k s " , denn nur „ b e y m gemeinen M a n n e " haben sich die dialektalen Kennzeichen, die , , A u s s p r a c h = A n a l o gien", „rein und lebendig erhalten", während die städtische Umgangssprache „durch Vermengungen aller Art, besonders mit dem Schrifthochdeutschen" gekennzeichnet ist (1821:21). D o c h von Anfang an fällt auf, daß die Sprachbeschreibung des „ V o l k s " nicht SCHMELLERS letztes, fast m ö c h t e ich s a g e n : eigentliches Ziel ist. F ü r SCHMELLER ist

schon im Konzept von 1816 „die Sprache überhaupt der Abdruck des äußern und innern Lebens eines V o l k e s " (hier wird „ V o l k " in einer weiteren Bedeutung verwendet, während es bei SCHMELLER sonst, wie auch die obigen Zitate zeigen, ein soziologischer Begriff ist). Dementsprechend bewegen sich die „Gebildeten", die höheren Stände „ i n angelernten F o r m e n " , während das „ V o l k " durch ein „vielsinniges Naturleben" ausgezeichnet ist. Die Beschreibung der „Volkssprache", der Mundart somit, ermöglicht also einen „Rückschluß auf die Geschichte dieses Volks und andere merkwürdige Umständ e " . Die zahlreichen sachkundlichen Hinweise im Wörterbuch sind demnach nicht mehr und nicht weniger als eine konsequente Folge dieser (sprach-)theoretischen Ü b e r legungen. Dazu kommt, daß die Mundart Verbalisierungsmöglichkeiten kennt, die der H o c h sprache unbekannt sind: Wie viele Dinge giebt es nicht zu sagen, die nicht bündiger, treffender, eindringender, lieblicher gesagt werden können als eben in einer Volkssprache? Sollten wir uns dieses Mittels berauben, sollte sich nicht jeder F r e u n d seines Volkes s c h o n deswegen mit der Sprache desselben ernstlich beschäftigen? E s giebt in Deutschland ansehnliche Länder, die sich z. B. noch keines nahmhaften Dichters r ü h m e n können. Sollte das in der verschiedenem Landessprache liegen? So viel ist gewiß, selten wird das V o l k solcher L ä n d e r , u m in unbefangener Lebenslustigkeit seine Freude, seinen M u t h willen so recht auszuströmen e t w a zu einem hochdeutschen Liede seine Zuflucht nehmen. Vielleicht steht in diesen Gegenden erst in der Sprache des Volkes eine lebendige nicht nachgeahmte N a t u r - P o e s i e auf. W a s giebt es herrlichers in seiner Art, als Hebels allemanische Gedichte? (in ROCKINGER:

72).

Aufgrund dieser Einsichten lehnt SCHMELLER in seinem Konzept die Anordnung der Lemmata nach dem Alphabet als „nach einem ganz unwesentlichen M e r k m a l " ab (in ROCKINGER: 75): Die eigenthümlichen W ö r t e r einer Mundart, eben weil sie diese sind, können selten d u r c h blosse Beisetzung eines entsprechenden W o r t e s aus der Büchersprache erklärt w e r d e n ; sie fordern gewöhnlich eine weitläufige Sach-Erklärung, weil in der Regel die Sache dem Volke eben so sehr als der A u s d r u c k dem Dialekt eigenthümlich ist. Diese Erklärung ist aber für viele Fälle dadurch

Schmellers Bayerisches W ö r t e r b u c h

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entbehrlich zu machen, daß die W ö r t e r nach der O r d n u n g sich ähnlicher Sachen aufgeführt werden.

Deshalb plant SCHMELLER eine „ I . Abtheilung des Werkes nach der Ordnung der Sachen, und mit Erklärung der Sachen" und eine „ I I . Abtheilung nach der alphabetischen Ordnung der Wörter und mit Erklärung und Ableitung der W ö r t e r " (in ROCKINGER: 75 f.).

INGO REIFFENSTEIN hat jüngst darauf a u f m e r k s a m gemacht, daß die theoretischen Postulate SCHMELLERS zumindest Parallelen zu G e d a n k e n v o n LEIBNIZ aufweisen, d e r

als einen Teil einer umfassenden lexikographischen Erfassung der deutschen Sprache auch Wörterbücher „von den Kunst- und Landworten" (womit Fachwörter und Regionalismen gemeint sind) fordert (LEIBNIZ: 18, § 3 3 vgl. REIFENSTEIN 1 9 8 5 : 2 2 f . ) : D e r G r u n d und Boden einer Sprache sind die W o r t e , worauf die Redensarten gleichsam als Früchte hervorwachsen, woher denn folgt, daß eine der Hauptarbeiten, deren die deutsche H a u p t sprache bedarf, sein würde eine Musterung und Untersuchung aller deutschen Worte, welche dafern sie vollkommen, nicht nur auf diejenigen gehen soll, die jedermann braucht, sondern auch auf die, so gewissen Lebensarten und Künsten eignen. U n d nicht nur auf die, so man Hochdeutsch nennt und die im Schreiben jetzt allein herrschen, sondern auch auf Plattdeutsch, Märkisch, Obersächsisch, Fränkisch, Bayrisch, Österreichisch, Schlesisch, Schwäbisch oder was sonst hin und wieder bei dem Landmann m e h r als in den Städten bräuchlich. (LEIBNIZ: 17, § 32).

Auch Leibniz kennt die semasiologische und onomasiologische Darstellung des W o r t schatzes einer Sprache: E h e ich den P u n k t des Reichtums der Sprache beschließe, will ich erwähnen, daß die W o r t e oder die Benennungen aller Dinge und Verrichtungen auf zweierlei Weise in ein Register zu bringen sind: nach dem Alphabet und nach der Natur. D i e erste Weise ist die der Lexika oder Deutungsbücher und am meisten gebräuchlich. Die andere Weise ist die der Nomenklatoren oder N a m e n b ü cher und geht nach den Sorten der Dinge. (LEIBNIZ: 3 3 f . , § 77).

Die semasiologischen Wörterbücher, die „Deutungsbücher dienen eigentlich, wenn man wissen will, was ein vorgegebenes Wort bedeute, und die Bennenungsbücher, wie eine vorgegebene Sache zu nennen. Jene gehen von dem Worte zur Sache, diese von der Sache z u m W o r t e . " (LEIBNIZ: 34, § 77). A u c h LEIBNIZ spricht von unterschiedlichen

Strukturen lexikalischer Felder in verschiedenen Sprachen: „ N u n glaube ich zwar nicht, daß eine Sprache in der Welt sei, die anderer Sprachen Worte jedesmal mit gleichem Nachdruck und auch mit einem Worte geben könne." (LEIBNIZ: 28, § 61). SCHMELLER hat diese Ansicht auf verschiedene Varietäten einer Sprache übertragen. Schließlich enthält das Programm LEIBNIZENS auch einen historischen Teil, ein „Glossarium Etymologicum oder Sprachquell", und zwar „nicht zum menschlichen Gebrauch", sondern „ z u r Zierde und Ruhm unserer Nation und Erklärung des Altertums u n d der H i s t o r i e n " (LEIBNIZ: 2 1 , § 4 1 ) ; u n d : Ferner wäre auf die Wiederbringung vergessener und verlegener, aber an sich selbst guter W o r t e und Redensarten zu denken, zu welchem Ende die Schriften des vorigen Säculums, die W e r k e Luthers und anderer Theologen, die alten Reichshandlungen, die Landesordnungen und Willküre der Städte, die alten Notariatbücher und allerhand geistliche und weltliche Schriften, sogar der Reineke V o ß , die Froschmäuseier, der deutsche Rabelais, der übersetzte Amadis, der österreichische Theuerdank, der bayrische Aventin, der schweizerische Stumpf und Paracelsus, der nürnbergische Hans Sachs und andere Landsleute nützlich zu gebrauchen. (LEIBNIZ: 30, § 66).

Für das historische Wörterbuch empfiehlt LEIBNIZ eine besondere Darstellungsweise nach dem Stammwortprinzip:

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Norbert Richard Wolf

U n d s o l l t e ich d a f ü r h a l t e n , es w ü r d e z w a r d a s G l o s s a r i u m E t y m o l o g i c u m o d e r der S p r a c h q u e l l n a c h d e n B u c h s t a b e n z u o r d n e n sein, es k ö n n t e a b e r a u c h s o l c h e s auf z w e i e r l e i W e i s e g e s c h e h e n : nach der jetzigen A u s s p r a c h e o d e r nach dem U r s p r u n g , w e n n m a n nämlich nach den G r u n d w u r z e l n g e h e n u n d j e d e r W u r z e l o d e r j e d e m S t a m m s e i n e S p r o s s e n a n f ü g e n w o l l t e ; w e l c h e s in g e w i s s e m M a ß e s e h r d i e n l i c h . ( L E I B N I Z : 3 4 , § 78).

Möglicherweise liegt neben den praktischen Erfordernissen auch in dieser Äußerung ein G r u n d dafür, daß SCHMELLER seine „etymologisch-alphabetische" O r d n u n g gewählt hat. Wir sehen, alle grundlegenden Überlegungen SCHMELLERS finden sich schon im richtungsweisenden P r o g r a m m von LEIBNIZ. Diese Fülle von Ubereinstimmungen macht so die Vermutung, SCHMELLER habe LEIBNIZENS Schrift gekannt, nahezu zur Gewißheit. D a ß SCHMELLER sich mit LEIBNIZ beschäftigt hat, läßt sich nachweisen. 1 E s ist letztlich nicht von allzu großem Belang, welche Schrift(en) von LEIBNIZ SCHMELLER gelesen hat; in den obigen Zitaten kristallisiert sich eine Reihe von Meinungen, die sich eben bei SCHMELLER wiederfinden. LEIBNIZ nun versteht seine Schrift geradezu als eine sprachpolitische Arbeit, ihm geht es um „ d e r deutschen Sprache Reichtum, Reinigkeit und G l a n z " (LEIBNIZ: 27, § 56), denn es „ i s t bekannt, daß die Sprache ein Spiegel des Verstandes ist und daß die Völker, wenn sie den Verstand hochschwingen, auch zugleich die Sprache wohl ausüben, welches der Griechen, R ö m e r und Araber Beispiele z e i g e n " (LEIBNIZ: 5, § 1). A u c h in diesem Punkt trifft sich SCHMELLER mit LEIBNIZ: D i e Sprache ist „Spiegel des Verstandes" (LEIBNIZ) oder „ A b d r u c k des äußern und innern Lebens eines V o l k e s " (SCHMELLER). D i e Sprache eines Volkes z u beschreiben, heißt also ganz wesentlich, den „Bildersaal des, in der Sprache abgedruckten, manigfaltigsten Volkslebens jedem Menschenbeobachter" ( W B ; 2. A u f l . : XV) z u öffnen. Deshalb kann SCHMELLER sein Werk in der Widmung an den K ö n i g einen „ V e r s u c h " nicht nur über die Sprache, sondern vielmehr über „ S p r a c h e , A r t und Sitte" eines Volkes bezeichnen. F ü r SCHMELLER geht die politische Bedeutung seines Wörterbuchs noch weiter: U n t e r dem 10. Juni 1837 aus Anlaß der letzten Korrektur notiert er die bekannten Worte in sein T a g e b u c h : N i c h t g a n z u m s o n s t h a b ' ich g e l e b t , w e n n g l e i c h a u s d e m G e s e t z g e b e r , W e l t v e r b e s s e r e r , D i c h t e r etc. d e r J ü n g l i n g s t r ä u m e n u r ein W o r t k l a u b e r , ein P e d a n t g e w o r d e n ist. - U n d es i s t d o c h a u c h n e n n e n s w e r t h , a u s f a s t n i c h t s o d e r w e n i g s t e n s d e m s c h l e c h t e s t e n etwas

gemacht, und die Sprache

d e s b a y r i s c h e n B a u e r s in d i e S t u b e h o c h g e l e h r t e r L e u t e an d e r N o r d - u n d O s t s e e , ja in d i e eleganten Cabinete hoher H e r r n gebracht zu h a b e n . ( T B , II: 244).

Wir finden in dieser N o t i z sofort SCHMELLERS sprachsoziologische Schichtung wieder. D o c h SCHMELLER ist nicht stolz auf seine sprachwissenschaftliche Leistung, sondern auf seine emanzipatorische. Mit dem Hinweis auf seine eigene Biographie fährt SCHMELLER in seinem Tagebucheintrag fort: 1

REIFFENSTEIN: 2 3 , A n m . 14, e r w ä h n t einen H i n w e i s R O B E R T HINDERLINGS auf e i n e n b i s l a n g u n g e d r u c k t e n B e r i c h t SCHMELLERS an die M ü n c h e n e r A k a d e m i e , in d e m SCHMELLER sich auf L E I B N I Z b e z i e h t . I n s e i n e m . W u n s c h , die S a m m l u n g d e r e i g e n e n b a y e r i s c h e n A u s d r ü c k e u n d B e n e n n u n g e n in d e n K ü n s t e n , H a n d w e r k e n u n d G e w e r b e n b e t r e f f e n d ' ( n u n m e h r w i e d e r a b g e d r u c k t in R O C K I N G E R / H I N D E R L I N G : S. 312 f . , 3 1 2 ) f ü h r t S c h m e l l e r z w e i L E i B N i z - Z i t a t e an, d i e d e n hier g e b r a c h t e n in v i e l e m ähneln. A u ß e r d e m w i r d der „ g r o ß e L e i b n i t z " (!) a u c h in d e r , N o t h w e n d i g e [ n ] V o r e r i n e r u n g ' z u m , B a y r i s c h e n W ö r t e r b u c h ' ( e r s t m a l s v e r ö f f e n t l i c h t in R O K KINGER/HINDERLING: 3 3 3 ) als W ö r t e r b u c h t h e o r e t i k e r e r w ä h n t .

Schmellers Bayerisches Wörterbuch

39

Konnte der unter den Ärmsten seines Landes G e b o r n e nichts anders thun für seine erbelosen Genossen, so hat er doch das Einzige, was sie nebst der Luft vom Mutterlande besitzen, ihre Sprache, zu einigen Ehren gebracht. Allmählig muß doch eine Zeit kommen, w o man es für himmelschreyend halten wird, irgend jemand schon vor der Geburt von Rechtswegen aller übrigen Güter des Lebens für enterbt zu halten. ( T B , I I : 244). P a r a l l e l e n zu LEIBNIZ liegen w i e d e r u m auf der H a n d : LEIBNIZ will m i t s e i n e m P r o g r a m m die d e u t s c h e S p r a c h e d e n a n d e r e n S p r a c h e n auch n a c h a u ß e n s i c h t b a r g l e i c h w e r tig, e b e n b ü r t i g m a c h e n .

SCHMELLER will den h o h e n W e r t d e r S p r a c h e des V o l k e s

d e u t l i c h d e m o n s t r i e r e n . W a s a b e r f ü r LEIBNIZ das P r o g r a m m z u r „ G r ü n d u n g einer D e u t s c h e n A k a d e m i e " (PÖRKSEN in LEIBNIZ: 8 5 , A n m . 2 3 ) ist, w i r d für SCHMELLER z u m M o v e n s seiner eigenen s p r a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e n A r b e i t . D a r a u s erklären sich die z a h l r e i c h e n s o z i a l k r i t i s c h e n B e m e r k u n g e n in s e i n e m W ö r t e r b u c h ( s o w i e ,

strukturell

v e r g l e i c h b a r , in o b i g e r T a g e b u c h n o t i z ) . SCHMELLERS s o z i a l k r i t i s c h e r I m p e t u s ist z u g l e i c h A n s t o ß für ( s o z i a l - ) p ä d a g o g i s c h e B e s t r e b u n g e n , v o r a l l e m auf s p r a c h l i c h e r Basis. D i e s e sind s c h o n m e h r f a c h dargestellt w o r d e n (vgl. bes. REIFFENSTEIN 1 9 8 1 , REIN U. NICKLIS). D e r s o z i a l p ä d a g o g i s c h e A n s t o ß trifft sich dabei m i t d e m s p r a c h p o l i t i s c h e n . SCHMELLER sieht deutlich, d a ß G r a m m a t i k u n d W ö r t e r b u c h einen D i a l e k t z u einer S c h r i f t s p r a c h e m a c h e n : Man ist gewöhnt, auf jede Mundart, die nicht mit der einmal angenommenen Schriftsprache übereinstimmt, mit Verachtung herabzusehen. Darinn geht das Streben nach Einheit wahrlich zu weit. Was in Vergleichung mit einem angenommenen Muster abweichend und fehlerhaft ist, kann auch für sich selbst bestehend und als einzig rechtmäßiges Muster gedacht werden. Es braucht weiter nichts, als daß der Wörter-Vorrath einer Mundart gesammelt, ihre Regeln wissenschaftlich aufgestellt, und in ihr geschrieben werde, um sie selbstständig in die Reihe der Sprachen zu setzen, wie wir z. B. an der portugiesischen hinsichtlich der spanischen, und an der holländischen sehen, die sich stolz neben die hochdeutsche Stammhalterin hinstellt, (in ROCKINGER: 71). A u c h in diesem Sinn bilden G r a m m a t i k u n d W ö r t e r b u c h eine E i n h e i t . D a b e i fällt auf, d a ß der s p r a c h p o l i t i s c h e

A n s a t z s c h o n in SCHMELLERS p ä d a g o g i s c h e n

Frühschrift

Ü B E R SCHRIFT UND SCHRIFTUNTERRRICHT. EIN A B C - B Ü C H L E I N IN DIE HÄNDE L E H RENDER ( 1 8 0 3 ) b e g e g n e t : Mit der Sprache verhält es sich wie mit allen Gegenständen der Konvenienz; das was der Beurtheiler selbst hat, ist ihm das vollkomenste, alles übrige ein Ziel seines Spottes oder seiner Verachtung. Menschen, die verschiedne Provinzialsprachen reden, können sich übereinander nicht statt witzeln; der welcher sich der Schriftsprache bedient, sieht mit Verachtung auf jenen nieder, der dieß nicht thut; und er hat auch Recht, wenn dieser unter die Klasse der Gebildeten gerechnet seyn will, und einem so wesentlichen Stücke nach, wie die Sprache ist, unter den Ungebildeten bleibt. Gilt aber der verachtende Blick jene[!] Sprachart, die nicht Schriftsprachart ist, an sich, so ist er die lächerlichste unter den Lächerlichkeiten; denn was braucht es, um jede dieser Spracharten auch zur Schriftsprachart zu machen mehr, als in ihr zu schreiben, zu dichten, in ihr zu predigen, zu philosophiren, und die Geringschätzung die sie traf - weil nur R o h e sie gebrauchten, dadurch zu aboliren, daß sie auch der Zunge Gebildeter gewöhnlich wird? - Würde man einmal einen solchen Versuch mach, so ist vorauszusetzen, daß vielleicht keine der bestehenden Schriftsprachart an irgend einer gramatikalischen Spracheigenschaft etwas nachgeben, daß vielmehr manche an Manigfaltigkeit und Reitz für das O h r sie übertreffen dürfte. (1803: 41). S p r a c h w i s s e n s c h a f t , d a r u n t e r a u c h die L e x i k o g r a p h i e , h a t in der F o r m d e r D i a l e k t o l o gie a u c h p o l i t i s c h e F u n k t i o n ;

SCHMELLER hat h i e r z u ein w i c h t i g e s F a k t u m

jeder

,Sprachplanung' gesehen: D i e Neuverschriftung von Sprachen ist in mehrfacher Hinsicht ein Politikum. In dem Kanon der Schriftsprachen eines Staates wird ein weiterer Kandidat hinzugefügt, wodurch eine weitere

40

N o r b e r t Richard W o l f

sprachliche definierte G r u p p e buchstäblich sichtbar ihren A n s p r u c h auf Eigenständigkeit artikulieren kann. (COULMAS: 2 2 1 ) .

A u c h die Einbeziehung der Sprachgeschichte in das Wörterbuch ist in diesem Zusammenhang zu sehen. W i r wissen, daß SCHMELLER in vielem Standpunkte der rationalistischen Grammatiktheorie des 17. und 18. Jahrhunderts vertrat (vgl. HERMISCH: bes. 7 4 f f . ) . Die historischen Belege im Wörterbuch sollen auch beweisen, daß Dialekte nicht regellose Deprivationen sind, daß somit auch Dialekte der sprachwissenschaftlichen Betrachtung würdig sind: Als solcher, als Sammler eines neuen vollständigen .bayrisch-deutschen Sprachbuches (Idiotikon, Dialektologie u. s. w . ) ' wende ich mich an Männer meines Landes, v o n denen ich durch den Ruf, o d e r aus persönlicher Bekanntschaft wissen kann, daß sie es nicht unter ihrer W ü r d e halten, das V o l k , mit dem und für das sie leben, in seiner ganzen A r t zu sehn und sich zu äußern, also auch in seiner Sprache zu beobachten - daß sie die Wichtigkeit solcher B e o b a c h t u n g e n nicht in Zweifel ziehen und aus - w e n n auch nur flüchtiger - Vergleichung älterer U r k u n d e n , wissen werden, daß die eigenen A u s d r ü c k e und W e n d u n g e n unsers gemeinen Mannes nicht i m m e r regellose Verdrehungen oder träge . V e r h u n z u n g e n ' der einmal angenommenen gesetzmäßigen Schriftsprache, sondern daß sie viel öfter, ja meistentheils eben so alt als seine ältesten Kirchen und Schlösser, und m a n c h m a l an sich gesetzmäßiger, consequenter als die entsprechenden der Büchersprache sind, und daß demnach eine geschichtlich begründete G r a m m a t i k , so wie ein vollständiges W ö r t e r b u c h der deutschen B ü c h e r s p r a c h e erst aus der Bearbeitung der einzelnen Mundarten hervorgehen kann, (in ROCKINGER: 83).

In diesem Punkt geht SCHMELLER über LEIBNIZ hinaus. Es ist sicherlich kein Zufall, daß am Beginn der Germanistik, so wie wir ihn verstehen, zwei G r a m m a t i k - und zwei Wörterbuchunternehmen aufscheinen: W i r verbinden damit die N a m e n der Brüder GRIMM und SCHMELLERS. Ein kurzer B l i c k auf die Intentionen der B r ü d e r GRIMM kann die eigenständige Leistung SCHMELLERS noch deutlicher machen. A u c h für die Brüder GRIMM dient das W ö r t e r b u c h dazu, den Sprachteilhabern den W e r t ihrer Sprache bewußt zu machen. D i e Zuwendung zur Sprache „ s t e h t mit den Wünschen und Forderungen des deutschen Bürgertums nach nationaler Würde, Ansehen und E i n h e i t " in unmittelbarem Zusammenhang (BONDZIO: 469). Wenngleich die GRIMMS „ d i e Produktivität des Nationalgedankens sichtbar" (SPREU: 473) machen, bleibt die Sprache Ziel der sprachwissenschaftlichen Bemühungen. D e n n „völlig entscheidend ist die Gleichstellung und Vergleichung des Rechts mit der Sitte und Sprache . . . Das R e c h t ist wie die Sprache und Sitte volkmäßig, dem Ursprung und der organisch lebendigen Fortbewegung n a c h " (JACOB GRIMM in einem Brief vom 29. O k t o b e r 1 8 1 4 a n F R I E D R I C H C A R L VON SAVIGNY) ( S C H O O F : 1 7 2 ) . S p r a c h e ist a l s o n i c h t

Ausdruck der Kultur, sondern im Rahmen mehrerer Normensysteme ein gleichwertiges Gebilde. , V o l k ' kann, anders als bei SCHMELLER, m i t , N a t i o n ' gleichgesetzt werden. In ihm wirkt „ d e r unbewußt schaffende Volksgeist im Herderschen S i n n e " (SONDEREGGER: 47) und sorgt für die „organisch lebendige F o r t b e w e g u n g " . Im Sinne von SAVIGNYS R e c h t s l e h r e

ist f ü r JACOB G R I M M ( u n d a u c h f ü r W I L H E L M ) d i e

Sprache

historisch gewachsen und entzieht sich deshalb jeder normativen Kodifikation. In diesem Zusammenhang sind nun die historischen Belege im DEUTSCHEN WÖRTERBUCH der Brüder GRIMM ZU sehen. N a c h der Ankündigung des Wörterbuchprojekts in der LEIPZIGER ALLGEMEINEN ZEITUNG v o m 2 9 . 8. 1 8 3 8 s o l l e n die T e x t z i t a t e „ v o n

Luther

bis auf Goethe den unendlichen Reichthum unserer vaterländischen S p r a c h e . . . in sich

41

Schmellers Bayerisches Wörterbuch

begreifen" (zitiert nach KIRKNESS 1 9 8 0 : 69). Schließlich hat „ k e i n V o l k auf E r d e n . . . eine solche G e s c h i c h t e für seine Sprache, wie das d e u t s c h e " (GRIMM: X V I I ) . D i e Belege im GRiMMschen W ö r t e r b u c h , dies gilt natürlich in erster Linie für die frühen Bände, sind vor allem der schöngeistigen Literatur entnommen. D e n n ein „ H a u p t z i e l des W ö r t e r b u c h s war, zur Beschäftigung mit Sprache und Literatur anzuregen und u. a. die L i e b e zu den älteren vielfach vergessenen Schriftstellern wiederzuerw e c k e n " (KIRKNESS 1 9 8 5 : 68). Für die Brüder GRIMM ist zudem die romantische Auffassung maßgebend, „ m i t der Sprache und vor allem mit ihrer historischen F r ü h z e i t stehe ein Mittel zur Verfügung, in die , authentische Frühzeit' der V ö l k e r einzudringen und dem ursprünglichen, unverdorbenen C h a r a k t e r der Menschheit n ä h e r z u k o m m e n " (BONDZIO:

468).

Diese notgedrungenen knappen Andeutungen machen die

wissenschaftstheoreti-

schen Unterschiede zwischen den Brüdern GRIMM und SCHMELLER offenbar. SCHMELLER schließt im Gegensatz zu den GRIMMS b e w u ß t an sprachwissenschaftliche T r a d i tion an, in denen es um die Schaffung einer einheitlichen schriftsprachlichen N o r m im Deutschen, um die Gleichberechtigung des Deutschen mit dem Lateinischen und mit den anderen europäischen Kultursprachen geht. SCHMELLER will den Dialekt, die Sprache des „ V o l k e s " , als der Standardvarietät ebenbürtig erweisen. Vielleicht ist dies auch ein G r u n d , warum er in der Darbietung des W o r t s c h a t z e s an den Traditionstrang SCHOTTELIUS - STIELER anknüpft. SCHMELLERS sozialpädagogischer A n s t o ß hat überdies zur Folge, daß „ n e b e n dem W ö r t e r b u c h m a c h e r . . . sich nicht selten der M e n s c h hervor drängte, welchem es hinwieder oft genug eine A r t T r o s t e s war, sich so viel als möglich über jenem vergessen zu k ö n n e n " ( W B : X V ) .

Literaturverzeichnis BONDZIO, W.: Probleme und Positionen bei der wissenschaftlichen Einordnung Wilhelm von Humboldts und Jacob Grimms, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschaftswiss. Reihe, Bd. 33 (1984): 4 6 5 ^ 7 0 BRUNNER, R. J. u.a. (Hg.): Nach Volksworten jagend. Gedenkschrift zum 200. Geburtstag von Johann Andreas Schmeller. ( = Heft 1 von Band 48 (1985) der Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte; gleichzeitig: Jahrbuch der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft 1984. Bayreuth 1985). COULMAS, F.: Sprache und Staat. Studien zur Sprachplanung und Sprachpolitik, Berlin/New York 1985 GRIMM, J . : Deutsche Grammatik, 4 Bde., Göttingen Bd. 1 1819( 2 1822), Bd. II 1826, Bd. III 1831, Bd. IV 1837 HARNISCH, R.: Die ,Natur der Sprache' und die ,Formen' der,Mundarten Bayerns'. Zu Schmellers universalistischer Sprachtheorie und ihrer komparativen Anwendung, in: BRUNNER U. a. (Hg.): 49-78 HINDERLING, R . : Johann Andreas Schmeller und die Schweiz, in Jahrbuch der Johann-AndreasSchmeller-Gesellschaft 1981: 1-20 KIRKNESS, A . : G e s c h i c h t e des d e u t s c h e n W ö r t e r b u c h s 1 8 3 8 - 1 8 6 3 , Stuttgart 1 9 8 0

KIRKNESS, A.: Jacob und Wilhelm Grimm als Lexikographen, in: Die Brüder Grimm. Dokumente ihres L e b e n s u n d W i r k e n s , hg. v o n D . H E N N I G / B . LAUER, Kassel 1 9 8 5 : 6 3 - 7 5 ( =

Ausstellungs-

katalog im Auftrag der Veranstaltungsgesellschaft 200 Jahre Brüder Grimm, Bd. I) LEIBNIZ, G. W.: Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache, hg. von U. PÖRKSEN, Stuttgart 1983

42

Norbert Richard Wolf

NICKLIS, W . S . : Schmeller, der Pädagoge, in: BRUNNER U. a. ( H g . ) : 115-144 REIFFENSTEIN, I . : J o h a n n A n d r e a s Schmeller und d i e heutige Dialektforschung, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 48 (1981): 2 8 9 - 2 9 8 ( = Jahrbuch der J o h a n n - A n d r e a s - S c h m e l l e r Gesellschaft 1983, B a y r e u t h 1984: 14-25) REIFFENSTEIN, I.: Zur Geschichte, Anlage und Bedeutung des Bayerischen Wörterbuchs, in: BRUNNER U. a. ( H g . ) : 17-39 REIN, K . : Schmeller als Soziolinguist, in: BRUNNER u . a . ( H g . ) : 9 7 - 1 1 3 ROCKINGER, L . : An der W i e g e der baierischen M u n d a r t g r a m m a t i k und des bairischen W ö r t e r b u ches, M ü n c h e n 1886 ( = O b e r b a y e r . Archiv für vaterländ. Geschichte, Bd. 43), neu hg. und erweitert von R. HINDERUNG, Aalen 1985 SCHOOF, W . ( H g . , in Verb, m i t I. SCHNACK): Briefe der Brüder G r i m m an Savigny, Berlin/ Bielefeld 1953 SONDEREGGER, ST. : Die B r ü d e r G r i m m - Philologie, historische Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte, in: D i e B r ü d e r Grimm, D o k u m e n t e ihres Lebens und W i r k e n s , Hg. von D. HENNIG/B. LAUER, Kassel 1985: 4 3 - 6 1 ( = Ausstellungskatalog im A u f t r a g der Veranstaltungsgesellschaft 200 J a h r e B r ü d e r G r i m m , Bd. I) SPREU, A . : Z u m heuristischen Wert von antizipatorischen Begriffen und zusammenfassendem G e s a m t k o n z e p t in der Sprachwissenschaft zwischen 1800 und 1830, i n : Wissenschaftliche Zeitschrift der H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t zu Berlin, Gesellschaftswiss. Reihe, Bd. 33 (1984): 471—477 STALDER, F. J . : Versuch eines Schweizerischen Idiotikons, Basel/Arau 1806 TYROLLER, H . : Das Bayerische Wörterbuch von J o h a n n Andreas Schmeller, in: J a h r b u c h der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft 1981: 4 3 - 5 2 WIESINGER, P . : J o h a n n A n d r e a s Schmeller als Sprachsoziologe, in: R. RAUCH/G. F. CARR ( H g . ) : Linguistic method. Essays in honor of Herbert Penzl, Den Haag/Paris/New Y o r k 1979: 5 8 5 599

Die unparteiische Zulassung aller Ausdrücke. 1 Vom B A Y E R I S C H E N W Ö R T E R B U C H Schindlers zum W Ö R T E R B U C H der Brüder Grimm. Robert Hinderling

DEUTSCHEN

(Bayreuth)

1. „ Z u m Lobe der Baiern" D a s BAYERISCHE WÖRTERBUCH a u s d e r Sicht JACOB G R I M M S

Man hat sich oft über das hohe L o b gefreut, das JACOB GRIMM im Vorwort zum DEUTSCHEN WÖRTERBUCH d e m BAYERISCHEN WÖRTERBUCH u n d s e i n e m V e r f a s s e r

gezollt hat: F ü r s deutsche Wörterbuch behauptet die kenntnis aller hochdeutschen volksmundarten hohen werth, u n d ich m u s z sogleich z u m lobe der Baiern hinzusetzen, d a s z kein andrer unsrer Stämme ein Wörterbuch aufzuweisen hat, das dem von Schmeller irgend gleichkäme, s o meisterhaft ist hier die spräche selbst u n d ihr lebendiger Zusammenhang mit sitten und brauchen dargestellt. (GRIMM, V o r w o r t z u m Deutschen W ö r t e r b u c h : X V I I )

Nun hat anderseits INGO REIFFENSTEIN darauf hingewiesen, daß SCHMELLER nicht nur ein Wörterbuch, sondern einen Wörterbuchtyp und zwar „ohne Vorbild neu geschaffen" habe (REIFFENSTEIN: 23). Wenn dem so ist, so vermißt man in GRIMMS Vorwort einen entscheidenden Hinweis, den nämlich, der Aufschluß erbrächte über das Verhältnis, in dem GRIMM sein Wörterbuch zu demjenigen SCHMELLERS sah. GRIMM setzt sich im Vorwort zum DEUTSCHEN WÖRTERBUCH von 1854 [im folgenden „ V o r w o r t " ] mit seinen „Vorgängern" ausführlich auseinander: vor allem mit ADELUNG, den er überraschend differenziert sieht. Einerseits lobt er ihn und nimmt ihn sogar vor dem Tadel eines V O S S in Schutz, grenzt sich andrerseits aber doch deutlich von ihm ab. 2 Indem er den Verfasser des BAYERISCHEN WÖRTERBUCHS an dieser Stelle mit Stillschweigen übergeht, scheint GRIMM ihn nicht als seinen Vorgänger anzuerkennen. Sind ihm dabei offensichtliche Zusammenhänge nicht bewußt oder will er sich

1

2

Frühere Fassungen dieses Versuchs wurden a m 25. April 1985 in Zürich und am 16. Juli 1985 in M ü n c h e n vorgetragen. GRIMMS Kritik betrifft hauptsächlich die folgenden P u n k t e : a. D a s „ e r s t e gebot eines Wörterbuchs, die unaprteiische Zulassung und pflege aller a u s d r ü c k e " werde verletzt, da ADELUNG nur das obersächsische H o c h d e u t s c h gelten lassen wolle, b. D i e „ u n e m p f ä n g l i c h k e i t ADELUNGS f ü r den v o n ihm voll erlebten aufschwung deutscher p o e s i e " . c. D i e fehlende Kenntnis sprachgeschichtlicher Zusammenhänge, d. D a s „ g e s c h l e p p langweiliger definitionen" ( V o r w o r t : XXIIIf., XL).

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Robert Hinderling

dadurch unausgesprochen, aber umso deutlicher von SCHMELLER absetzen? Diese Frage soll im folgenden zu beantworten gesucht werden.

2 . „ A L S O : EIN BAIERISCHER I D I O T I K O N " Die Anfänge der beiden Wörterbücher Wenn wir die Entstehungeschichte der beiden Wörterbücher vergleichen, so ist zunächst auf eine überraschende Ähnlichkeit hinzuweisen: Weder die GRIMMS noch SCHMELLER haben den Plan zur Abfassung eines Wörterbuchs von sich aus gefaßt. Beide werden dazu vielmehr in einer Krise ihrer Existenz von Drittpersonen aufgefordert. SCHMELLER war im Dezember 1815 vom Frankreichfeldzug zurückgekehrt, an dem er als Oberleutnant eines Freiwilligen Jägerbataillons teilgenommen hatte. A m 17. D e z e m b e r wird er in München auf dem Durchmarsch nach Salzburg mit dem ganz in seinem Sinn „ S p r a c h forschenden Bibliothekar" SCHERER bekannt gemacht, der ihn mit „ P l a n e n und H o f f n u n g e n " erfüllt. „ I c h werde versuchen", so schreibt SCHMELLER in sein Tagebuch, „ U r l a u b hierher zu bekommen um einmal recht zu arbeiten" ( T b , I: 365). Dies gelingt dann auch, und am 25. Januar 1816 ist er wieder in München. Man darf annehmen, daß er in täglichem Kontakt mit SCHERER stand, der ihm in diesen Tagen - der genaue Termin steht nicht fest - den Vorschlag macht, als „ostensibles Z e i c h e n " seines Strebens sich „ein baierisches Idiotiken vorzunehmen". „ I c h schlug e i n " , schreibt SCHMELLER und scheint damit anzudeuten, daß es keines langen Besinnens bedurfte ( T b , I: 372). D i e Umsetzung des Plans in die T a t erfolgte dann ungemein schnell. Schon am 14. Februar legt SCHMELLER einen Arbeitsplan vor, der von der Akademie angenommen wird. E r bekommt Urlaub und beginnt seine Arbeit am 1. April. D e r Plan, ein großes Wörterbuch zu verfassen, ist von den Brüdern GRIMM ebenfalls nicht selbständig gefaßt, sondern im März 1838 an sie herangetragen worden durch MORITZ HAUPT, damals D o z e n t für Klassische Philologie an der Universität Leipzig, und KARL REIMER, den Inhaber der Weidmannschen Buchhandlung in Leipzig (KIRKNESS: 5 3 f f . ) . Gerade JACOB GRIMM konnte sich für den Gedanken zunächst nur zögernd erwärmen. A n LACHMANN, der schon frühzeitig miteingeschaltet wurde, schreibt er so am 12. März, er halte den Plan von HAUPT und REIMER für „ z w a r ausführbar doch langsam" und fügte hinzu: „ i c h spüre eigentlich keine lust und wenig beruf dazu, solange ich in viel anderes verwickelt b i n " (KLRKNESS: 5 5 f . ) . D i e Ermunterung von Seiten LACHMANNS und ein Besuch der Leipziger in Kassel, dem ein ebensolcher GRIMMS in Leipzig folgte, brachte dann aber den U m s c h w u n g : schon im Juli 1838 war GRIMM für sofortigen Beginn. SCHMELLER und GRIMM - wir sprechen im folgenden meist nur von JACOB GRIMM - sind so zur Wörterbucharbeit berufen worden, aber es scheint, daß nur der eine voll berufen war: SCHMELLER. Das mag mit den unterschiedlichen Voraussetzungen zusammenhängen, die sie zum Zeitpunkt des „ R u f e s " mit sich brachten. D e r eine war 30, der andere schon 53, der eine suchte ein Arbeitsgebiet, in dem er sich bewähren wollte, der andere faßte das Wörterbuch zunächst als Behinderung anderer Arbeiten auf, die ihm näher am Herzen lagen.

Die unparteiische Zulassung aller Ausdrücke

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3. Eine „Genealogie des germanischen Wortschatzes" Wenn wir uns nun den tragenden Prinzipien der beiden Unternehmen zuwenden, so liegt es nahe, mit der historischen Dimension anzufangen, die als das eigentliche Novu m des DEUTSCHEN WÖRTERBUCHS gilt. Ü b e r r a s c h e n d f ü r ein W e r k d e r GRIMMS w a r

dieser Gesichtspunkt natürlich nicht; er ergab sich folgerichtig aus JACOB GRIMMS DEUTSCHER GRAMMATIK. M a n k ö n n t e sie als Ü b e r t r a g u n g des s p r a c h g e s c h i c h t l i c h e n

Denkens von der Grammatik aufs Lexikon auffassen. Es ist hier jedoch mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß diese Betrachtungsweise zum ersten Mal in einem deutschen Wörterbuch von SCHMELLER verwirklicht wurde, 3 der sie schon lange vor dem Erscheinen seines Wörterbuchs (Band 1: 1827) entwickelt hatte, wie sich aus einem am 9. Juli 1819 datierten ungedruckten Vorwort zum Wörterbuch ergibt. Darin wird deutlich, d a ß er sein BAYERISCHES WÖRTERBUCH d u r c h a u s in e i n e m g e s a m t g e r m a n i s c h e n Z u -

sammenhang sieht. 4 Erst wenn alle „germanischen Mundarten" in ähnlicher Weise bearbeitet seien, werde es möglich, „die Geschichte & Genealogie des gesammten germanischen Wörter-Vorraths, ohne Mühe zu überschauen". Es geht ihm dabei um „eine strenghistorische Darstellung der Wörter" oder kurz „eine Wörter-Geschichte". Diese Wörtergeschichte müsse außerdem „beurkundet" werden. Eine solche Wörtergeschichte ist nach SCHMELLER seit LEIBNIZ schon öfters versucht worden (er erwähnt FULDA): Allein wie ist es möglich, ohne vorliegende hinlängliche U r k u n d e n s a m m l u n g eine beurkundete Geschichte zu schreiben (ROCKINGER: 3 3 3 ) .

4. „ D i e unparteiische Zulassung und Pflege aller Ausdrücke" Quellenauswahl Der Lexikograph ist damit auf die Quellen verwiesen, und SCHMELLER macht sich entsprechend darüber viel Gedanken, wie sich vor allem aus seinem Schreiben an die Akademie für die erste Berichterstattung an den Kronprinzen von 1816 ergibt. Dabei versucht er „die bayrische Litteratur, nach ihrem Gehalt für die Volkssprache in gewisse Klassen abzutheilen": 1) die deutschen H a n d - und Druckschriften, „ d i e in B a y e r n vor dem Zeitpunkt verfaßt w o r d e n 3

Dies z u r Kenntnis zu nehmen, w ü r d e auch der in M ü n c h e n erscheinenden SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG keine Nachteile bringen. Vgl. dazu den Artikel über das DEUTSCHE WÖRTERBUCH vom Dez. 1984.

4

So schon in seinem programmatischen Aufsatz v o m 1 4 . Februar 1 8 1 6 : „ M ö g e der baierischen A k a d e m i e ein baierisches W ö r t e r b u c h verdankt werden, bis einst aus den mehrbearbeiteten Mundarten ein erschöpfendes deutsches zu T a g e gefördert werden k ö n n e " (ROCKINGER: 80). D a ß es sich hierbei u m einen festen Bestandteil ScHMELLERschen Denkens handelt, ergibt sich auch aus dem im Juni 1986 von R . HORN (Bayerische Staatsbibilothek M ü n c h e n ) aufgefundenen A k a d e m i e v o r t r a g SCHMELLERS v o m 10. April 1824, w o n a c h SCHMELLER den bairischen W o r t schatz „als einen integrierenden Bestandteil des deutschen Gesamtsprachschatzes der vergleichenden F o r s c h u n g [. . .] zugänglich m a c h e n " wollte (Schmelleriana I 10).

R o b e r t Hinderling

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sind, in welchem sich unsere heutige allgemeindeutsche Schrift-Sprache festgesetzt h a t " , d. h. praktisch alle Schriften vor M i t t e des 18. Jahrhunderts, 2 ) Schriften, die seither erschienen sind und „entweder ganz in der Mundart verfaßt sind oder absichtliche Einmengungen von Idiotismen enthalten", 3) „alle neuern, zunächst für Bayern verfaßte Schriften über technische und lócale Gegenstände, bei welchen es, wenn nicht unmöglich, so doch [ . . .] überflüssig wäre, den Gebrauch der landesüblichem Ausdrücke zu umgehen". 4 ) „Schriften allgemeinern philosophischen, moralischen, ästhetischen Inhalts, welche durchaus n u r die allgemeinverstandene deutsche Büchersprache reden können und sollen. Diese Klasse der bayrischen Litteratur ist die unbedeutendste für den Idiotismen-Sammler" (ROCKINGER: 99f.).

D a m i t deutet SCHMELLER an, daß im Prinzip uneingeschränkt die ganze Literatur für sein Wörterbuch einschlägig ist, daß aber der engere Z w e c k des Dialektwörterbuchs eine Rangordnung notwendig macht, eine Rangordnung, die sich nach der Ergiebigkeit der Quellen für den bairischen Sonderwortschatz richtet, d. h. nach dem Maß der Abweichungen gegenüber dem „ H o c h d e u t s c h e n " , das SCHMELLER pragmatisch als die Sprache des ADELUNGschen Wörterbuchs festlegt. Darin, daß er „ n u r " die Abweichungen gegenüber einem feststehenden Maßstab zu berücksichtigen hatte, war seine Aufgabe sicher leichter als die GRIMMS, der einen innern Maßstab dafür finden mußte, was in sein W ö r t e r b u c h aufzunehmen sei und was nicht. Es zeigt sich nun, daß von einer „unparteiischen Zulassung aller ausdrücke" ( V o r w o r t : X X X V I ) bei GRIMM keine Rede sein konnte. Warf er ADELUNG U n e m p findlichkeit gegenüber dem Poetischen vor, so steht bei GRIMM das Poetisch-Literarische zu sehr im Vordergrund: D i e gewalt der poesie, die in jeder spräche das meiste vermag, sollte das Wörterbuch vor äugen stellen, und w o man es aufschlage zeigt es deutliche und abgesetzte verse ( V o r w o r t : X X X V I ) .

Die Berücksichtigung der Fachsprachen tritt demgegenüber stark zurück; schon die Uberschrift „Sprache der hirten, jäger, Vogelsteller, fischer u. s . w . " ( V o r w o r t : X X X ) ist da symptomatisch: Fachsprache ist nicht an sich gefragt, sondern allenfalls, w o sie „ d u r c h frische und natürlichkeit" anzieht - d. h. wieder quasi poetisch ist - und das tun nicht alle im gleichen Maße. D e r Fischer z. B . hat nach GRIMM „etwas von der stummheit der thiere angenommen [ . . . ] , denen er nachstellt", und die „gegenwärtige rechtssprache" wird gar „ungesund und saftlos" genannt ( V o r w o r t : X X X I ) . Dieselbe subjektive Wertung trifft aber auch die Auswahl der Dichter, wie sich besonders deutlich aus e i n e m Brief GRIMMS an LACHMANN ergibt: Viele neuere schriftsteiler, z. b. Schiller (nicht G ö t h e , auch Lessing nicht) erscheinen mir in gewiß e m betracht, und abgesehn von ihren neuen erfindungen, wortarm und unsrer spräche nicht recht mächtig [!]; das gilt auch von einem gedankenreichen Autor wie Jean Paul, der sich so ziemlich mit den gewöhnlichen Wörtern behilft. Neubackene ausdrücke, wie bei Schiller, Voß, K l o p s t o c k in menge, sind weit m e h r Zusammensetzungen und ableitungen, als seltne Simplicia oder seltne bedeutungen. So wird sich auch bei den Schlegels oder T i e k kaum viel darbieten, was nicht schon die conversation hätte. [ . . .] A b e r das 17 und 16 jahrhundert liefern ungeheuer viel, sogar ungenießbare autoren, die nie wieder gelesen werden, wie Lohenstein können sehr gute Wörter h a b e n " (zit. nach KIRKNESS: 7 0 f . ) .

Während also SCHMELLER seinen Stoff nach funktional-sachlichen Geschichtspunkten zu begrenzen sucht, legt GRIMM ohne erkennbare Skrupel seinen höchst persönlichen, z. T . stark subjektiven Geschmack zugrunde.

D i e unparteiische Z u l a s s u n g aller A u s d r ü c k e

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5. „Verknöcherte" Komposita Die berücksichtigten Lemmata im Hinblick auf ihre morphologische Struktur Eine entsprechende subjektive Wertung läßt sich bei der Auswahl der Stichwörter erkennen. Wie wir soeben gesehen haben, sind GRIMM in erster Linie Simplizia willkommen, weniger dagegen Komposita und Ableitungen, die er „neubackene W ö r t e r " nennt und bei denen er sich oft auf bloße Aufzählungen beschränkt. Ein gutes Beispiel zum Nachweis ist das Wort Aderlaß, das sich bei GRIMM mit den folgenden drei Zeilen begnügen muß, die übrigens fast wörtlich aus ADELUNG übernommen sind: ADERLASZ, m.

phlebotomia. dem k r a n k e n den aderlasz v e r o r d n e n ; und weil der d o c t o r i h r den

aderlasz b e f o h l e n . GELLERT. ( D W b I : 180).

Ein weiterer, bei ADELUNG nicht verzeichneter Beleg wird unter dem Lemma ADERLÄSSE f („was aderlasz") nach Schiller verzeichnet. Demgegenüber wird das Grundwort ADER sehr ausführlich und völlig unabhängig von ADELUNG abgehandelt, mit starkem Gewicht auf der - äußerst spekulativen - Etymologie. Dieses Desinteresse gegenüber Komposita hat bei GRIMM durchaus System: blieben die einem folgenden w o r t sich anhängenden partikeln u n d genitive los und frei, wie sie die ältere syntax betrachtet, an d e m p l a t z , den sie in d e r rede e i n n e h m e n ; so hätte das Wörterbuch ihrer n u r bei d e n einfachen Wörtern zu g e d e n k e n anlasz, nicht aber c o m p o s i t a a n z u s e t z e n , zu denen sie d e r Sprachgebrauch allmählich v e r k n ö c h e r t . [. . .] die a u f z ä h l u n g s o l c h e r Zusammensetzung i m W ö r t e r b u c h zeugt v o n k e i n e m r e i c h t h u m unserer spräche, b l o s z v o n einem z w a n g , d e r ihrer syntax angethan wird ( V o r w o r t : X X V ) .

Die Stelle scheint mir zu zeigen, daß GRIMM die Komposition rein ausdrucksseitig betrachtete und damit im Grunde das Wesen der Wortbildung verkennt, wenn auch eine gewisse Berechtigung von GRIMMS Kritik am bloßen Anhäufen von Stichwörtern anzuerkennen ist. Im konkreten Fall {Aderlaß/Ader) löst GRIMM zudem sein Versprechen, der Zusammensetzungen beim einfachen Wort gedenken zu wollen, kaum ein: unter dem Stichwort Ader findet sich ein einziger zusätzlicher Beleg zum Aderlassen. Man vergleiche dazu, wie sehr es SCHMELLER gelungen ist, unter lassen [!] die ganze Technik des Aderlassens und die sprachliche Vielfalt, die sie hervorgerufen hat, zusammen mit Belegen und Redensarten abzuhandeln. Die Gleichgültigkeit gegenüber Komposita schlägt jedoch bei GRIMM in lebhaftes Interesse um, wo es sich um einen seiner Lieblinge handelt. Das Wort ahn(d)ungsvoll wird z. B . als „lieblingsausdruck Göthes" sehr breit dargestellt, auf mehr als einer Spalte mit über 40 Belegen. Angesichts der Beschränkung auf den allernotwendigsten Zeilenraum in anderen Fällen (etwa bei Aderlaß) scheint es mir darum bis zu einem gewissen Grad berechtigt, „ G l ü c k und Ungefähr" (WURM, zit. nach KIRKNESS: 191) bei der Auswahl und Bearbeitung der Stichwörter am Spiel zu sehen. Aber noch entscheidender: die 40 ahnungsvoll-Be\ege werden einzig nach der aufsteigenden Zahl der Bände, in dem sie sich finden, geordnet. Dabei wären, wie wiederum Wurm gezeigt hat, durchaus semantische Feinheiten zu beobachten gewesen. Die Auswahl der Quellen und der Stichwörter, die Zuteilung des Zeilenraums auf die einzelnen Stichwörter und das Interesse und die Sorgfalt, mit denen sie abgehandelt

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Robert Hinderling

werden, sind mithin bei GRIMM keineswegs sachlich begründet, sondern folgen einem Konzept, das man hierarchisch nennen könnte. Oben in der Hierarchie stehen die früheren Sprachstufen, die Simplizia, Luther und Goethe, die Poesie; unten dagegen die Gegenwart, Komposita und Ableitungen, Klopstock und Schiller, die Fachsprache. Eine derart starke Befangenheit in subjektiven Wertungen - man könnten den Begriff der Ideologie darauf ausdehnen5 - ist bei SCHMELLER nicht zu belegen. Möglicherweise läßt sich bei ihm eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Fremdwörtern belegen, ein schwacher Punkt bekanntlich auch in GRIMMS Wörterbuch. Jedenfalls sind bei SCHMELLER die wohl schon zu seiner Zeit volkstümlichen bairischen Wörter Bagage und Potschamper(l) < pot de chambre nicht verzeichnet, während andere - z. B. Pacem, Pact, Passion - immerhin berücksichtigt sind.

6. Das Geschlepp langweiliger Definitionen Das „Problem der Bedeutungsangaben Einer der verhängnisvollsten Irrtümer bei GRIMM scheint mir die (teilweise) Verwechslung von Bedeutung und Definition. Das Problem der Bedeutungsangaben wird entsprechend unter der Uberschrift „Definition" behandelt. Die bis dahin übliche Praxis karikiert G R I M M mit der folgenden Bedeutungsbeschreibung für Tisch-. ein erhöhtes blatt, vor dem man steht oder sitzt, u m allerhand geschäfte darauf vorzunehmen

oder alternativ: eine auf füszen erhobne oder ruhende Scheibe, vor der oder wobei man verschiedne Verrichtungen vornimmt. 6

Statt dessen meint GRIMM: wenn ich zu dem worte tisch das lat. mensa setze, so ist vorläufig genug gethan und was weiter zu sagen ist, ergibt die folgende abhandlung (alle Zitate Vorwort: X L ) .

Da mag ja für das Wort Tisch schön und recht sein. Wie aber, wenn es einen entsprechenden Ausdruck im Lateinischen nicht zu geben scheint wie bei Altwasser, das durch diverticulum [ = Nebenweg] ßuminis schwerlich als zutreffend beschrieben gelten kann, woran - wie WURM (s. KIRKNESS: 190f.) mit Recht kritisiert - auch die deutsche Erläuterung „eigentlich das alte nicht völlig abgetrocknete bett" wenig bessert. Wie, wenn es mehrere Wörter ähnlicher Bedeutung gibt und man in erster Linie die spezifische Bedeutung des aktuellen Wortes kennen möchte wie bei Birsch, das von G R I M M genau wie das - freilich erst nach ihm bearbeitete - Jagd schlicht mit ,venatio' übersetzt wird? Was an präziser Bedeutungsangabe zu der Zeit möglich war, zeigt gerade das SCHMELLERsche Wörterbuch. Bei ihm lesen wir unter Birsch: Jagd durch Umhersuchen, Schleichen etc. Einzelner im Gegensatz der Jagd auf dem Anstand, durch Treiber, durch Gerichte, Fallen etc., oder jener Art, da der Jäger stehen bleibt und durch einen Hund sich das Wild heran jagen läßt. 5

Vgl. dazu BAHR: 392ff.

6

Vgl. ADELUNG Bd. 4 : 606: „ein erhöhetes Blatt oder ebene Fläche, vor derselben stehend oder sitzend allerhand Geschäfte darauf vorzunehmen".

Die unparteiische Zulassung aller Ausdrücke

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W a s man sicher nicht als „geschlepp von d e f i n i t i o n e n " bezeichnen kann, sondern als präzise Bedeutungsangabe, die die intensionale D i m e n s i o n ebenso berücksichtigt wie die extensionale.

7. Die „freundliche Güte der gewährsmänner" und der Fleiß der Ausziehenden D e r Anteil der Mitarbeiter Eine Arbeit, „ d e r e n Gegenstände sich in tausend örtliche und andere Verhältnisse verlieren, und die nur durch Anknüpfung von vielfach zuführenden Fäden eine A r t von Vollständigkeit erlangen k a n n " , dies sieht SCHMELLER deutlich, „ i s t wol über die K r ä f t e eines Einzelnen. N u r wenn alle Beobachtenden im Lande, besonders Beamte, Geistliche, Lehrer veranlaßt werden, [. . . ] mit H a n d an zu legen und Beiträge zu liefern, ist Gelingen zu h o f f e n " ( R o c k i n g e r : 7 9 f . ) . SCHMELLERS erste Aufgabe war es darum, diese Mitarbeiter zu finden bzw. zu aktivieren. Zu diesem Z w e c k e publizierte er in B r i e f f o r m einen Aufruf, der mögliche Interessenten auf das geplante Unternehmen aufmerksam machte und zur Mitarbeit einlud. In seiner praktischen A r t ließ er von dem Artikel auf eigene Kosten gleich 500 Sonderdurcke herstellen, die er gezielt bestimmten, ihm b e kannten oder genannten Personen z u k o m m e n ließ. Aufgrund eines Briefjournals, das Schmeller führt, läßt sich der U m f a n g des Briefwechsels gut verfolgen. D e r E r f o l g des U n t e r n e h m e n s war offenbar zufriedenstellend, wenn natürlich auch längst nicht jeder Angeschriebene antwortete, von den ersten 10 des Briefjournals zum Beispiel lediglich 2. D a f ü r setzten sich auch zahlreiche Personen mit SCHMELLER in Verbindung, die nur aus der Publikation oder von Dritten über die Pläne erfahren hatten. Bisweilen hält SCHMELLER in seinem J o u r n a l unter der R u b r i k „ E i n l a u f " auch konkrete A n g a b e n fest, zum Beispiel Herr Commandantschafts-Auditor Obermayr in Passau mit einer kl. Sammlung

oder v. H r . P[ro]fess[or] Siebenkees mit Eichstätt. Augsburgischen, Staufener - u. Obr. Pfälzischen Idiotismen Sammlungen

oder Von H e r r Pfarrer Thomas Mayer zu Buch bei Hohenlinden - eine Sammlung von 4 5 0 Ausdrücken ( W I N K L E R : 2 3 9 & 243).

A u c h SCHMELLERS Tagebücher werfen manches L i c h t auf die Art der Zusammenarbeit mit seinen Gewährsleuten. A m 19. August 1822 schreibt er. Ich gieng [. . . ] nach Hohenwart, um Herrn Pfarrer Hauser wegen seines Stamm-Wörterbuchs, das auch einige Ausbeute für mich versprach, zu begrüßen. [ . . . ] Pfarrer Hauser gab mir, da ich nicht bleiben wollte, sein Manuscript mit.

D r e i T a g e später schreibt er: [ich] excerpierte [ . . . ] Herrn Pfarrer Hausers bis Hand gehendes Stammwörterbuch (Tb I: 4 4 9 f . )

Zu diesen gleichsam professionellen Gewährsleuten treten, w o sie sich anbieten, andere, die in Einzelfällen Auskunft geben, so zum Beispiel SCHMELLERS Freund und Schüler

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Robert Hinderling

der unter dem Stichwort katholisch träger verewigt ist. Wir lesen da: CLEASBY,

im

BAYERISCHEN W Ö R T E R B U C H

als Zu-

Wärt, I will di katolisch machng! so hörte Freund Cleasby bei Amberg einen Landmann seinem vor dem Pflug störrischen Ochsen drohen (BW I: 1310).

Der Dichter lesen:

JEAN PAUL

wird unter dem Stichwort Das Zifer, Gezifer erwähnt. Wir

O . Pf., 6 Ä m t e r nach mündlicher Versicherung Jean Paul's.

Die Tagebücher ermöglichen übrigens eine exakte Datierung dieser „Versicherung". S C H M E L L E R hatte den Dichter am 21. Juni 1817 in Bayreuth besucht und notierte sich lediglich stichwortartig „Gezifer - Hafelä" (Tb, I: 401). Was damit gemeint ist, ergibt sich mindestens für das erste Wort aus einem späteren Eintrag ganz klar. Im Jahr 1820 war J E A N P A U L in München, wo S C H M E L L E R ihn in einer Gesellschaft wieder traf, die zu des Dichters Ehren gegeben wurde. Er notiert: Mit Jean Paul wechselte ich nur wenige Worte. E r erinnerte sich noch meines ihm in Bayreuth gemachten Besuches, sogar bemerkte er, daß er mich damals auf das W o r t : Gezifer aufmerksam gemacht" (Tb, I: 420).

Diese Arbeit mit den Gewährsleuten macht deutlich, wie sehr S C H M E L L E R gewissermaßen generalstabsmäßig vorging, mit welcher Sorgfalt die Belege aufgehoben und verwertet wurden. 7 Er dürfte einer der ersten sein, der auf diese Weise sich für eine die Kräfte eines einzelnen übersteigende Arbeit einen Mitarbeiterstab heranzog und organisierte. In der Vorrede des Wörterbuchs werden diese Gewährsleute wie folgt erwähnt: Bey allen Ausdrücken des lebenden Dialektes, bey welchen sich der Verfasser nicht auf die Zeugschaft seines eignen O h r e s berufen kann, hat er die Gewährsmänner nennen zu müssen geglaubt, deren freundlicher Güte er die schriftliche Mittheilung derselben schuldig ist. Er zählt sichs zur Pflicht, die geehrten N a m e n dieser Männer mit der nähern Anzeige, auf welche Gegenden ihre Beyträge treffen, in alphabetischer O r d n u n g anzuführen.

Es braucht nicht betont zu werden, daß die „Ergiebigkeit" der so angezapften Quellen natürlich sehr ungleich ist. Ein besonders häufig zitierter Gewährsmann ist der ,,k.Regiments-Auditor" O B E R M A Y R aus Passau, der in drei Stichproben von je 1 0 0 Spalten Text nicht weniger als zusammen 57 mal genannt wird mit Belegen aus dem Bayerischen Wald 7a . S C H M E L L E R scheint sich in diesem Gebiet nie aufgehalten zu haben und war hier auf Mitarbeit besonders angewiesen. Die Zahl der in beiden Vorreden aufgeführten Mitarbeiter beträgt 59 und läßt sich damit durchaus sehen neben den 88, die G R I M M einige Jahrzehnte später für sein Wörterbuch nennt. 8 Es ist nur nicht ohne Reiz, S C H M E L L E R S Art der Erwähnung seiner 7

Dies ergibt sich auch aus den handschriftlichen Bemerkungen auf den SCHMELLER z u r Verfügung g e s t e l l t e n M a n u s k r i p t e n . A u f d e m E x e m p l a r d e s V E R S U C H S EINES N Ü R N B E R G I S C H E N KONS v o n J O H A N N H E I N R I C H H Ä S S L E I N , d a s e r „ d e n 2 8 . J u l .

IDIOTI-

1820" von Schlichtegroll'

zur

Benutzung erhalten hatte - es befindet sich unter der Signatur Schmelleriana XII 26 auf der Bayerischen Staatsbibliothek in München - vermerkt er: „Eingetragen im Januar 1822". Uber d i e B e z i e h u n g e n z w i s c h e n SCHMELLER u n d H Ä S S L E I N v g l . G . O S W A L D ( 1 9 8 7 ) . 7a 8

Genaueres zu OBERMAYR bietet jetzt die Passauer Zulassungsarbeit von Th. Siwik (1987). Mit den nur gelegentlich angeführten Gewährsleuten zusammen beträgt die Zahl der Leute, auf die sich SCHMELLER beruft, weit über 100. N i c h t berücksichtigt sind dabei anonyme Gewährs-

Die unparteiische Zulassung aller Ausdrücke

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H e l f e r mit der „ B e h a n d l u n g " zu vergleichen, die GRIMM im V o r w o r t seines W ö r t e r buchs unter der Uberschrift „ B e i s t a n d " seinen Helfern angedeihen läßt. E r erwähnt z u n ä c h s t z w e i H a n d e x e m p l a r e der W ö r t e r b ü c h e r von FRISCH und ADELUNG, in die JOHANN HEINRICH VOSS „ m i t fester u n d r e i n l i c h e r hand w e r t h v o l l e z u s ä t z e b e i g e -

schrieben h a t t e " und die ihm ebenso zugänglich gemacht wurden wie das durchschossene E x e m p l a r eines „ C A M P E " aus d e m B e s i t z MEUSEBACHS: N e b e n diesen beiden, unserm Wörterbuch vorausgehenden und gar nicht für es angelegten samlungen k o m m t nun der weit ansehnlichere vorrat von mannigfalten auszügen in betracht, die ihm unmittelbar zur grundlage gereichen sollten, zum theil aus unsrer eignen, unablassenden lesung der quellen hervorgiengen, zum groszen theil aber durch andere abgefaszt wurden, die wir damit beauftragt hatten, oder die sie von freien stücken [. . •] anboten, der folgenden angabe ihrer namen kann jedoch, aus begreiflichen Ursachen, die der einzelnen, von jedem ausgezognen Schriften nicht beigefügt werden.

D a r a u f folgen 83 N a m e n - fünf weitere Mitarbeiter sind im V o r w o r t von B a n d 2 genannt - und GRIMM fährt wie folgt f o r t : unter den 83 genannten ist ein dutzend professoren, ein paar prediger, alle übrigen sind philologen, sonst keine Juristen und ärzte, wodurch sich wiederum bestätigt, was sp. X X X I gesagt wurde.

U n d jetzt erwarten wir den D a n k für diese Mitarbeiter. GRIMM stattet ihn wie folgt a b : nicht allen ausziehenden hat gleich volle einsieht in das ziel der aufgabe vorgeschwebt, nicht allen ist derselbe beharrliche fleisz eigen gewesen, so dasz einige der wichtigen Schriftsteller dem Wörterbuch fast über die hälfte noch entzogen scheinen, von den fleiszigsten die fleiszigsten waren FALLENSTEIN, HARTENSTEIN, RIEDEL, SCHRÄDER, WEIGAND, doch den allerfleiszigsten und einsichtigsten musz ich nennen: es ist KLEE V o r w o r t : L X V - L X V I I )

M i r scheint, daß GRIMM hier mehr tadelt als dankt. Zwar lobt er die „ F l e i ß i g s t e n " und v o r allem den „allerfeißigsten" DR. KLEE über den grünen Klee, wenn der A u s d r u c k gestattet ist. D i e übrigen 77 können sich durch diese merkwürdige Art des D a n k e s kaum entschädigt fühlen für die Arbeit, die sie ja schließlich auch geleistet haben - sonst wären sie nicht verzeichnet. Dieses G e i z e n mit d e m D a n k und das ständige J a m m e r n über versprochene, aber nicht abgelieferte Beiträge muß den Verdacht w e c k e n , daß auch das Verschweigen „ d e r einzelnen, von jedem ausgezognen Schriften" nicht aus den nur vage angedeuteten „begreiflichen Ursachen" erfolgte, vielmehr möglicherweise recht egoistische G r ü n d e hatte. Wichtiger aber scheint mir, daß diese G e h e i m n i s k r ä m e rei nicht sachdienlich ist. H ä t t e GRIMM erwähnt, w o f ü r jeder „ A u s z i e h e n d e " zuständig war, so hätte sich die Zuverlässigkeit des Materials leichter überprüfen lassen und ein Teil der Verantwortung für L ü c k e n und andere Mängel hätten von vorneherein gar nicht den GRIMMS angelastet werden k ö n n e n . Aus dem erwähnten Stichwort dungsvoll,

ahn-

für das ausschließlich Belege aus G o e t h e zitiert werden, ist, wie WURM

gezeigt hat, nicht der Schluß zu ziehen, daß das W o r t wirklich auf G o e t h e beschränkt ist. Es ergibt sich daraus lediglich einige G e w i ß h e i t für den Sprachgebrauch G o e t h e s , der durch KLEE sehr zuverlässig gesammelt worden zu sein scheint.

leute: eine „ F r a u bei M i e s b a c h " , eine „ T a g l ö h n e r s f r a u " , eine „ a l t e B ä u e r i n " , ein „alter Lenggrieser" usw. ( B W , I : 1089, 1153, 885, 1158). Ich verdanke diese Angaben sowie die von A n m . 13 meiner Frau, ANNA MARIE HINDERLING-ELIASSON.

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8. Der Eingang zum Schacht Abschließende Würdigung Es wäre verlockend, den Vergleich der beiden Wörterbücher auch auf die Art des Etymologisierens auszudehnen, was hier aber nicht mehr geleistet werden kann. Wir wollen uns damit begnügen, festzustellen, daß das ScHMELLERsche Wörterbuch einen Vergleich mit den ersten - d . h . von den Brüdern GRIMM verfaßten - Bänden des DEUTSCHEN WÖRTERBUCHS b e s t e n s bestehen k a n n . 9 D a s BAYERISCHE WÖRTERBUCH

ist planvoll angelegt und sorgfältig, liebevoll und mit viel Gespür ausgearbeitet worden, während man sich beim DEUTSCHEN WÖRTERBUCH des Eindrucks nicht erwehren kann, daß es mit einer gewissen Hektik begründet wurde und daß Zufälligkeiten, auch eine gewisse Willkür, das Bild über weite Strecken bestimmen. In GRIMMS Metaphorik hatte SCHMELLER dagegen ohne Zweifel „ d e n eingang zum Schacht" (Vorwort: X X V I ) gefunden. D a s scheint gerade GRIMM klar erkannt zu haben, wie sich aus einer Äußerung fünf Jahre nach GRIMMS Vorwort (1854) ergibt: I h m stand ein G e n i u s zur Seite, der ihm zuraunte u n d eingab, w a s er unternehmen sollte und w a s er a u s g e f ü h r t hat. Sein baierisches W ö r t e r b u c h ist das beste, das v o n irgend einem d e u t s c h e n D i a l e k t besteht, ein M e i s t e r w e r k ausgezeichnet d u r c h philologischen Scharfsinn wie d u r c h reiche, nach allen Seiten h i n s t r ö m e n d e Sacherläuterung, ein M u s t e r für solche A r b e i t e n , von d e m u n w a n d e l b a r e n T r i e b e seines e m s i g e n , liebenden G e i s t e s d u r c h d r u n g e n und belebt (zit. n a c h ROCKINGER: 60).

In diesem kompetenten Urteil kommt GRIMMS ungeheuchelte Bewunderung, vielleicht sogar ein bißchen Neid zum Vorschein. Diese Erkenntnis GRIMMS verlangt nun aber umso dringlicher eine Antwort auf die Frage nach dem Traditionszusammenhang.

9. „ D a s große deutsche Wörterbuch hat ohne Zweifel seinen guten F o r t g a n g " K o n t a k t e G R I M M S m i t SCHMELLER bei d e r P l a n u n g des DEUTSCHEN WÖRTERBUCHS

Diese überschwenglichen Worte, die freilich erst spät geäußert wurden - als JACOB GRIMM selber sich Erfahrungen im Wörterbuchschreiben erworben hatte - , stehen in innerem Widerspruch zu der Tatsache, daß in der ersten Planungsphase des DEUTSCHEN WÖRTERBUCHS ( F r ü h l i n g - S o m m e r 1938) d e r N a m e SCHMELLERS n a c h den v o n

KIRKNESS in so verdienstvoller Weise zugänglich gemachten Dokumenten nicht auftaucht. Erst als es daraum ging, Mitarbeiter zu finden, wandte sich GRIMM am 2. September 1938 in nicht erhaltenen Briefen an die Kollegen MASSMANN und SCHMELLER in München. Am 18. Oktober antwortete SCHMELLER wie folgt. D i e H e r b s t f e r i e n mit einer k u r z e n A b w e s e n h e i t v o n meiner Seite, einer längeren M a ß m a n n ' s sind S c h u l d , daß ich so spät z u r A n t w o r t k o m m e auf Ihren lieben v o m 2. des v o r . M . W a s ich s a g e zu d e m gefaßten Entschluß eines großen nhd. W ö r t e r b u c h s ? 9

N a t ü r l i c h ist mir klar, daß die beiden W ö r t e r b ü c h e r w e g e n ihrer unterschiedlichen Z i e l s e t z u n g n u r bis z u einem gewissen G r a d vergleichbar sind.

Die unparteiische Zulassung aller Ausdrücke

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Seine Erfüllung ist anerkanntes Bedürfniß. Aber, wenn ich ihn nach meinen Kräften, meinen Jahren messen sollte, wäre er ein übergroßer, ein erschreckender. Ihr Maß u. das der Männer, die mit an der Spitze stehen, ist ein anderes. Sie werden ihn durchführen. Ob ich meinestheils Lust habe, das eine oder andere Buch zu Ihrem Zwecke zu durchgehen? Von Herzen gerne will ich es. Aber Hauptschriftsteller sind bereits vertheilt. Es wird also, damit keine Arbeit doppelt geschehe, den Mithelfenden irgend Eine Ubersicht dessen, was in die Wahl fällt, und dessen was noch offen steht, gegeben werden müssen. Von Luther bis auf Göthe ist wol die Zeit von L.'s erster bis auf G.'s letzte Schrift. (Ich würde, in der Meinung Luther'n so wenig als der Tatsache einer vor ihm schon ziemlich ausgeprägten hchd. (oberdeutschen, wenn Sie wollen) Reichssprache zu nahe zu treten, sagen: von der Zeit Kaiser Maximilian's I an bis etwa 1840). Sollen außer den Dichtern, Rednern, Historikern, kurz den Redekünstlern, auf die man im gemeinen Leben oft den Ausdruck Litteratur beschränkt, auch Werke über einzelne Wissenschaften u. ihre Zweige, über Künste u. Gewerbe, müssen auch Staats- & RegierungsActen, periodische Schriften und Blätter etc., etc. mit in den Bereich gezogen werden? Eine Masse, vor deren Gewältigung Einem grauen dürfte. Oder soll blos ausgewählt werden, etwa nach der Geltung (Classicität) der Verfasser und der Ausgaben? Auch über solche Auswahl ist den Mitarbeitern eine leitende Richtschnur sehr nöthig. Nicht minder wird Mancher nähere Andeutung wünschen, was es wol eigentlich sey, das ihn bestimmen soll, einen Ausdruck, eine Phrase vorzumerken. Leicht kann was dem Einen auffallend ist, es dem Andern minder seyn. In einer als MS. gedruckten Art Instruction ließen sich, dächt ich, über all dieses die Theilnehmer hinlänglich belehren. Justus Moser, Johannes Müller sind wol schon beschlagen? [. . . ] (zit. nach WINKLER: 9 2 9 - 9 3 1 )

Die wesentlichen Punkte dieses Briefes können wie folgt zusammengefaßt werden: 1) SCHMELLER begrüßt GRIMMS Plan. 2) Es scheint hinter der Demutsfloskel eine gewisse Skepsis deutlich zu werden in bezug auf die Realisierbarkeit des Plans. 3) SCHMELLER stimmt einer Mitarbeit zu. 4) Er erbittet sich genauere Instruktionen und vor allem eine Bestätigung der von ihm vorgeschlagenen Autoren. D e r nächste Brief an SCHMELLER geht erst 5 Monate später an GRIMM ab und bezieht sich auf einen Brief von GRIMM vom 6. März, der aber, wie sich aus SCHMELLERS Antwortschreiben ergibt, das Thema Wörterbuch nicht berührt zu haben scheint. Erst am 18. September 1839, fast ein J a h r später, kommt SCHMELLER in einem Brief an GRIMM wie beiläufig nochmals aufs DEUTSCHE WÖRTERBUCH zurück: „ D a s große deutsche Wörterbuch hat ohne Zweifel seinen guten F o r t g a n g " (WINKLER: 951), lesen wir da, ein Aussagesatz, der aber für den, der SCHMELLER kennt, nur zu deutlich eine Frage, ja ein Signal ist. GRIMM hatte sich offensichtlich zu dem Angebot SCHMELLERS vom 18. Oktober 1838 gar nicht geäußert, obgleich der Briefwechsel zwischen SCHMELLER und GRIMM in diesen Jahren durchaus lebhaft war, in beide Richtungen. 1 0 N a c h dieser Anfrage taucht das DEUTSCHE WÖRTERBUCH bei SCHMELLER nicht mehr auf, weder in seinen Briefen, noch in den Tagebüchern. 1 1 Besonders auffällig ist das Still-

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Der - für GRIMMS Briefe rekonstruierte - Briefwechsel zwischen den zwei Briefen SCHMELLERS vom 18. Oktober 1838 und dem 18. September 1839 sieht so aus: GRIMM an SCHMELLER: Februar 1839 und 6. März 1839 SCHMELLER an G R I M M : 11. M ä r z 1 8 3 9

G R I M M an SCHMELLER: A p r i l 1 8 3 9 SCHMELLER an G R I M M : 19. A p r i l und 3 0 . M a i 1 8 3 9

GRIMM an SCHMELLER: 1. Juli und 15. September 1839. " Auf eine Ausnahme komme ich unten zurück.

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Robert Hinderling

schweigen, mit dem die beiden das Thema Wörterbuch bei S C H M E L L E R S Besuch in Kassel vom 3. bis 5. Oktober 1840 zu umgehen scheinen. S C H M E L L E R bringt im Tagebuch einen ausführlichen Bericht über den Besuch, GRIMMS Verwandte, die stattgehabten Gespräche. Übers Wörterbuch: kein Wort (Tb, II: 295-297). Es ist also sicher nicht richtig, S C H M E L L E R S Brief vom 18. Oktober 1838 als Beleg für ein nicht gehaltenes Versprechen an GRIMM ZU nehmen, wie dies KIRKNESS (76) tut. Vielmehr spricht alles dafür, daß GRIMM - aus welchen Gründen auch immer S C H M E L L E R S Wörterbuch-Brief nie beantwortet hat. Verletztlich wie S C H M E L L E R war, muß er dies als bewußte Brüskierung aufgefaßt haben. Er reagierte mit seinem „bewährten" Mittel des Schweigens. 12 Auch G R I M M scheint über S C H M E L L E R enttäuscht gewesen zu sein, wie sich aus einem nicht veröffentlichten Passus des Vorworts ergibt. Er schreibt da wie folgt: Z u r zeit des erst gegründeten Unternehmens, als in alle weit beiträge ausgeschrieben u n d a u s z ü g e bestellt w u r d e n (Sp. X X X V I ) , freute ich mich der stillen hofnung, dasz nah befreundete Sprachforscher, die d a s werk mit jubel u n d beifall b e g r ü s z t e n und mitten in allen quellen d a z u täglich verkehrten, auch unaufgefordert mitwirken w ü r d e n und d a s z ihrem auge kein seltnes, gelegentlich a u f s t o s z e n d e s wort entschlüpfen könnte, von allen sechsen, deren drei schon gestorben sind, drei mich überleben werden, ist aber kein zettelchen eingelaufen [ . . . ] (nach KIRKNESS: 99)

KIRKNESS (100, Anm. 239) meint zu der Stelle: D i e sechs waren wohl L a c h m a n n , H a u p t , H o f f m a n n , Wackernagel, Meusebach und M a ß m a n n .

Zur Zeit der Abfassung dieser Zeilen (1854) waren aber nur LACHMANN (tl851) und M E U S E B A C H (TL847) tot. Mit dem dritten Toten, auf den G R I M M hier anspielt, kann da B E N E C K E S Tod schon zu lange zurücklag (TL844) - eigentlich nur S C H M E L L E R gemeint sein. Es scheint also in erster Linie ein Mißverständnis gewesen zu sein, was eine Mitarbeit S C H M E L L E R S verhinderte, eine Mitarbeit, die nach G R I M M S Vorstellung freilich ohnehin nur im Zutragen von „zettelchen" bestanden hätte. So ganz zufällig kann das Mißverständnis aber auch wieder nicht gewesen sein. Vermutlich waren schon die konstruktiven Vorschläge und Zweifel in S C H M E L L E R S Brief für G R I M M zuviel. In dem zitierten Urteil G R I M M S über das B A Y E R I S C H E W Ö R T E R B U C H von 1859 fällt ferner auf, daß G R I M M offensichtlich bemüht ist, S C H M E L L E R S Wörterbuch „ n u r " als ein Dialektwörterbuch zu loben, nicht als ein Wörterbuch schlechthin. Dies dürfte weiter mit einer von der ScHMELLERschen völlig verschiedenen Auffassung der Mundart zusammenhängen. Interessanterweise kommt dieser Gegensatz schon im allerersten Brief S C H M E L L E R S an G R I M M vom 2 5 . Januar 1 8 2 2 ( W I N K L E R : 4 6 5 - 4 7 0 ) zum Vorschein. S C H M E L L E R geht auf eine Stelle in G R I M M S Grammatik Band 1 ein, an der den Mundarten fehlende Folgerichtigkeit vorgeworfen wird. SCHMELLER äußert sich dazu wie folgt. Seite 452 ist den jetzigen lebenden Mundarten denn doch gewiß ein Bißchen zu nahe getreten. Mir scheinen sie einen G r a d von Folgerichtigkeit bewahrt zu haben, der aller Ehren werth ist. Sie haben, o b w o h l mit manichfaltiger Modificierung des Materiellen nach Zeit & O r t , wol alle H a u p t Analogien & Parallelismen treu fortgeführt & zeugen für die innere, von keiner K u n s t b i l d u n g abhängige Herrlichkeit des natürlichen Menschenverstandes.

Es ist kein Zweifel, daß GRIMM an der monierten Stelle die Mundarten hierarchisch wesentlich tiefer einstufte als die Schriftsprache. Unter den verschiedenen Mundarten 12

Z u SCHMELLERS Empfindlichkeit vgl. noch HINDERLING/WINKLER.

D i e unparteiische Zulassung aller A u s d r ü c k e

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gab es dabei für GRIMM offensichtlich wiederum eine Rangordnung. Im Vorwort zum W ö r t e r b u c h schreibt GRIMM im A n s c h l u ß an das z u Anfang zitierte L o b über SCHMEL-

LER wie folgt: STALDERS schweizerisches idioticon w ü r d e eine treffliche arbeit heiszen, wäre nicht die v o n SCHMELLER ihr n a c h g e f o l g t , m i t dessen gelehrsamkeit u n d Sprachtalent der L u z e r n e r sich eben so wenig m e s s e n darf, als an r e i c h t h u m und gehalt die bairische Volkssprache mit der s c h w e i z e r i schen. ( V o r w o r t : X V I I )

Dieser Vorrang des Schweizerdeutschen vor dem Bairischen wird u. a. politisch begründet. Man wird in der Annahme aber kaum fehlgehen, daß es in erster Linie sprachgeschichtliche Gründe sind, die zu dieser relativen Hochschätzung führen. Die alemannischen Dialekte haben ja die neuhochdeutsche Diphtongierung nicht mitgemacht und stehen in diesem und anderen Merkmalen noch näher beim Mhd. als andere Dialekte. Wie emotional GRIMM bisweilen aber über Mundarten argumentieren konnte, möge noch die folgende Stelle veranschaulichen: D i e l i e b h a b e r der niederdeutschen spräche sind wie f r a u e n , die w e n n man sie längst widerlegt z u haben glaubt, i m m e r mit den vorigen gründen und a n s p r ä c h e n hervortreten (nach DENECKE: 4 4 )

SCHMELLER dagegen erkennt, und das scheint mir zum Erstaunlichsten zu gehören, daß jede faktisch vorkommende Sprachvarietät eigentlich gleichberechtigt ist. In seinem Entwurf „über ein zu bearbeitendes baierisches Idiotikon", das der Ober-Lieutenant im k. I. Jäger-Bataillon nur wenige Wochen nach seiner Rückkehr vom Frankreichfeldzug geschrieben hat, findet sich die folgende Stelle: M a n ist g e w ö h n t , auf jede M u n d a r t , die n i c h t mit d e r einmal a n g e n o m m e n e n

Schriftsprache

ü b e r e i n s t i m m t , m i t V e r a c h t u n g h e r a b z u s e h e n . D a r i n n geht das Streben nach E i n h e i t wahrlich z u weit. W a s in V e r g l e i c h u n g mit einem a n g e n o m m e n e n M u s t e r a b w e i c h e n d und fehlerhaft ist, k a n n auch für sich selbst bestehend und als einzig r e c h t m ä ß i g e s M u s t e r gedacht w e r d e n . E s b r a u c h t w e i t e r n i c h t s , als daß der W ö r t e r - V o r r a t h einer M u n d a r t gesammelt, ihre Regeln wissenschaftlich aufgestellt, und in ihr geschrieben werde, um sie selbständig in die R e i h e der Sprachen z u s e t z e n , wie w i r z. B . an der portugiesischen hinsichtlich der spanischen, und an der holländischen s e h e n , die sich stolz n e b e n die h o c h d e u t s c h e S t a m m h a l t e r i n n hinstellt.

Es gibt also keine wesensmäßigen Unterschiede zwischen Mundart und Schriftsprache. Jede Mundart ist eine potentielle (Schrift-)Sprache. Daß die Positionen der beiden zu verschieden waren und man also froh sein muß, daß es zum Versuch einer Zusammenarbeit gar nicht gekommen ist, läßt sich auch von SCHMELLER her zeigen. In seinem Todesjahr 1852 nahm er sich als letzte Arbeit den N a c h t r a g s b a n d z u m BAYERISCHEN WÖRTERBUCH vor, im gleichen J a h r also, in d e m das DEUTSCHE WÖRTERBUCH ZU erscheinen begann. SCHMELLER konnte sich d a r u m über das DEUTSCHE WÖRTERBUCH wenigstens n o c h ein Urteil bilden: E b e n r e c h t k o m m t m i r der W e i d m a n n ' s c h e n B u c h h a n d l u n g P r o s p e c t über das endlich d r u c k b e g o n n e n e deutsche W ö r t e r b u c h von J . und W . G r i m m . 5 0 0 B o g e n in Lieferungen v o n 15 B o g e n z u 2 0 N e u g r o s c h e n . Lästig w a r m i r dieser T a g e d e r Z w e i f e l gewesen, o b sich, da d o c h die G r i m m ' sche A r b e i t b e v o r s t e h e , ein N a c h t r a g zu m e i n e m W ö r t e r b u c h überhaupt der M ü h e lohnen k ö n n e ? ( T B , I I : 545).

Dann fügt er - mit offensichtlicher Befriedigung - hinzu: Es s c h e i n t m i r n a c h dem v o n W e i d m a n n gegebenen M u s t e r , daß dies denn d o c h der Fall sein werde.13 13

SCHMELLERS K e n n t n i s des D e u t s c h e n W ö r t e r b u c h s U r t e i l stützt sich übrigens nicht n u r auf den

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Robert Hinderling

Literaturverzeichnis: ADELUNG, J. CH. : Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart [ . . . ] , Bd. 1-5. Leipzig 1774-1786. BAHR, J . : Zur Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuches. Von der Exzerption zur Elektion, in: Zfdt. Wortforschung 18, 1962: 141-150. DENECKE, L.: Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm, Stuttgart 1972 ( = SM100). GRIMM, J . : Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen 1819, 21822. GRIMM, J./GRIMM, W.: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854-1971. HINDERLING, R./WINKLER, W.: Johann Andreas Schmeller und Wilhelm Grimm, in: Brüder Grimm Gedenken 6, 1986: 28-33. KIRKNESS, A.: Geschichte des deutschen Wörterbuchs. 1838-1863. Dokumente zu den Lexikographen Grimm, Stuttgart 1980. OSWALD, G . : J. A. Schmeller und der Nürnberger Lexikograph Häßlein, in: N. R. WOLF (Hg.), Akten der 3. Arbeitstagung der Bayr.-Ost. Dialektologen, erscheint Würzburg 1987 REIFFENSTEIN, I.: Zur Geschichte, Anlage und Bedeutung des Bayerischen Wörterbuches, in: R. BRUNNER u.a. (Hg.), Nach Volksworten jagend. Gedenkschrift zum 200. Geburtstag von Johann Andreas Schmeller, Bayreuth 1985 ( = Jahrbuch 1984 der Johann-Andreas-SchmellerGesellschaft: gleichzeitig Heft 1 von Jahrgang 48 (1985) die Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte): 17-39. ROCKINGER, L.: An der Wiege der baierischen Mundartgrammatik und des baierischen Wörterbuches, München 1886 ( = Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte 43. Nachdruck, neu hg. u. erw. v. R. HINDERLING. Aalen 1985). SIWIK, Th.: Johann Nepomuk Obermayr, ein Gewährsmann Schmellers. Sein Lebensweg und seine Beiträge zum Bayerischen Wörterbuch. Zul.masch. Universität Passau. WINKLER, W.: Der Briefwechsel von Johann Andreas Schmeller, (Diss. masch.) Bayreuth 1985. WURM, CH. F. L.: Wörterbuch der deutschen Sprache von der Drucklegung bis zum heutigen Tage, Bd. 1. Freiburg 1858. genannten Prospekt zum Wörterbuch. Vielmehr hat er die erste Lieferung des DEUTSCHEN WÖRTERBUCHS noch erlebt. Außer bei der FROMMANN (WB II: XIII) genannten Stelle belegt dies auch die unter dem Stichwort Wandel (WB II: 937).

Schmellers dialektologisches Erkenntnisinteresse und die heutige Dialektforschung. Klaus J. Mattheier

(Heidelberg)

In den letzten Jahren haben sich drei der führenden bairischen Dialektologen mit dem theoretischen Ansatz der Dialektologie SCHMELLERS und mit seiner Bedeutung für die neuesten Forschungsansätze unserer Wissenschaft beschäftigt: 1979 schreibt PETER W I E S I N G E R ü b e r JOHANN ANDREAS SCHMELLER ALS SPRACHSOZIOLOGE, 1 9 8 1 INGO R E I F F E N S T E I N ü b e r JOHANN ANDREAS SCHMELLER UND DIE HEUTIGE D I A L E K T O L O G I E u n d 1 9 8 5 K U R T R E I N ü b e r SCHMELLER ALS SOZIOLINGUIST.

Ich stehe der in diesen Beiträgen explizit oder implizit zutage tretenden Auffassung kritisch gegenüber, der Auffassung nämlich, daß es sich bei JOHANN ANDREAS SCHMELLER um einen Dialektologen handelt, der moderne und modernste Fragestellungen etwa der Dialektsoziologie oder der dialektologischen Methodologie vorwegnahm, dessen Bedeutung in dieser Beziehung man bisher nur noch nicht erkannt hat. Es mag unklug sein, auf einer Tagung zu Ehren des 200. Geburtstags von JOHANN ANDREAS SCHMELLER an dieser Seite seines wissenschaftlichen Standbildes zu kratzen. Ich bin jedoch erstens der Meinung, daß dadurch die eigentliche Bedeutung SCHMELLERS sowohl in der Philologie als auch in der Dialektologie nicht geschmälert wird. Und zweitens glaube ich, daß man dem wahren Bild des hier zu Ehrenden näher kommt, wenn man auch seine theoretischen und methodischen Anschauungen zur Dialektologie aus der Einbettung in die zeitgenössische Wissenschaftsgeschichte deutet. Ich will bei meinem Versuch, das Bild des Dialektologen hinsichtlich seiner vermeintlichen Modernität zurechtzurücken, in zwei Schritten vorgehen. Zuerst werde ich die Position der drei Kollegen, die ich oben genannt habe, kurz skizzieren. Dann werde ich versuchen, SCHMELLERS Erkenntnisinteresse an der Dialektologie zu umreißen, weil man von da her wohl am besten seine wissenschaftshistorische Position fassen kann. KURT REIN stellt, die Ergebnisse seiner Untersuchungen zusammenfassend, fest, daß „Schmeller als Soziolinguist bezeichnet werden darf, ( . . . ) wenn man die leitenden Interessen und das pragmatisch sozialerzieherische Engagement einbezieht, die heute mit dem Begriff Soziolinguistik verbunden werden." Rein schreibt weiter: „Keineswegs aber darf man unterschlagen, daß der Altmeister der bairischen und deutschen Dialektologie von der sozialen und sozialerzieherischen Sicht her zu seinem Mundartverständnis kam - den modernen soziolinguistischen Ansatz gewissermaßen vorwegnehmend." (REIN: 113). Auch REIFFENSTEIN resümiert seine Untersuchungen: „In fast allen genannten Punkten war Schmeller seiner Zeit erheblich voraus ( . . . ) und in einem nicht unerheblichen Ausmaß bestehen methodische Affinitäten zwischen der Arbeitsweise Schmellers und der der modernen Sprachwissenschaft." (REIFFENSTEIN: 295).

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Klaus J. Mattheier U n d WIESINGER b e t o n t ebenfalls „ V o n den gegenwärtigen Bemühungen der S o z i o -

linguistik und ihrer praktischen Anwendung aus muß Schmeller als ein höchst modern e r F o r s c h e r g e l t e n . " (WIESINGER: 5 9 7 ) . Alle drei stützen diese Position mit unterschiedlicher G e w i c h t u n g auf eine Reihe von Äußerungen, die von JOHANN ANDREAS SCHMELLER aus verschiedenen Phasen seines Lebens überliefert sind, in erster Linie auf die erst posthum herausgegebene Jugendschrift über Schrift und Schrifterziehung von 1 8 0 3 , auf die Schriften im Zusammenhang mit der Arbeit an der Dialektologie und dem W ö r t e r b u c h sowie auf Tagebuchäußerungen, (hg. von ROCKINGER u. ROCKINGER/ HINDERLING) ( T B , I, I I , I I I ) .

M a n kann diese Äußerungen unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen: Dialekt u n d Sprachtheorie; Dialekt als soziale Varietät; Dialekt als Sprachbarriere. B e i m K o m p l e x Dialekt

und Sprachtheorie

vertritt SCHMELLER neuartige Auffassungen über das

W e s e n der Sprache. E r hebt die Bedeutung des Primats der Sprechsprache v o r dem der Schreibsprache hervor und reflektiert die Beziehungen zwischen dem Laut und den Schriftzeichen, wobei er eine etymologische

Orthographie

entwickelt. E r erarbeitet, wie

REIFFENSTEIN feststellt, „ d i e erste umfassende Sprachbeschreibung in deutscher Sprac h e ( . . . ) " (REIFFENSTEIN: 2 9 4 ) . D i e Sprachenvielfalt erklärt SCHMELLER aus ,der N a t u r ihrer produzierenden U m s t ä n d e ' , d. h. aus den geographischen, historischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. D e r Rang der Mundarten wird auch historisch begründet, indem SCHMELLER sie am jeweiligen E n d p u n k t der organischen E n t w i c k lungskontinuität sieht und damit sogar noch über die Schriftsprachen erhebt. Dialekt wird dadurch frei von dem Makel, nur eine verderbte Schriftsprache zu sein. Z u m T h e m a Dialekt als soziale Varietät läßt sich die Position SCHMELLERS folgendermaßen zusammenfassen: D e r Dialekt ist ein Teil eines vertikalen wie auch h o r i z o n talen Gefüges von Varietäten und als solcher linguistisch gleichwertig m i t anderen Varietäten, etwa auch mit der Schriftsprache. D a s vertikale Varietätengefüge besteht aus drei auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen verteilte Varietäten, „ d e r gemeinen ländlichen A u s s p r a c h e " , „ d e r Aussprache der Bürgerklasse in den S t ä d t e n " und „ d e r Aussprache der Gebildeteren, oder der provinziellen A r t und Weise das Schriftdeutsche zu lesen". (S. 1 8 1 2 : 2 1 ) D a s Verhältnis zwischen den Varietäten ist sprachsoziologisch definiert und basiert auf unterschiedlichen Bewertungen, ist aber auch veränderbar, etwa durch E r h ö h u n g des Ranges einer Varietät bei Uberleitung in eine Schriftsprache. Bewertungsdifferenzen bestimmten auch das Verhältnis verschiedener regionaler Varietäten oder „ P r o v i n z i a l s p r a c h e n " zueinander. Das Prestige einer Sprachform ist nicht linguistisch begründet, sondern Ergebnis eines komplexen sozialhistorischen Prozesses. D e r soziale Aufstieg ist dabei fest und unumstößlich mit dem E r w e r b der Schriftsprac h e verbunden. D u r c h die unterschiedliche sprachliche Prägung der verschiedenen B e völkerungsgruppen über unterschiedliche Varietäten kann es keine „ G e i s t e s - G e m e i n s c h a f t " , kein einheitliches Weltbild innerhalb einer staatlichen Gemeinschaft geben. Es k o m m t zu K o m m u n i k a t i o n s - und Verständigungsbarrieren in beiden Richtungen. D e r K o m p l e x Dialekt

als Sprachbarriere,

der sich in dem letzten Satz schon andeute-

te, läßt sich folgendermaßen umreißen: D i e Aufgabe des Dialektologen wie des Wissenschaftlers überhaupt ist eng verbunden mit gesellschaftlichen Zielsetzungen, ist stark sozialpädagogisch orientiert. Sie kann das sein, weil der Aufklärungswissenschaftler von der prinzipiellen Bildsamkeit des M e n s c h e n ausgeht. D u r c h seine sprachwissenschaftliche Tätigkeit kann und m u ß der Wissenschaftler deshalb zur geistigen Bildung

S c h m e l l e r und die heutige D i a l e k t f o r s c h u n g

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und zur sozialen Hebung des Volkes beitragen. Das kann auf zwei Wegen geschehen. Erstens müssen die gebildeten höheren Bevölkerungsschichten für die Sprache des Volkes und ihre Bedeutung sensibilisiert werden. Nur dadurch kann die Verachtung der Mundart in diesen Schichten abgebaut werden. Zugleich wird durch einen Aufklärungsprozeß über das Wesen der Mundart in diesen Kreisen auch die Mundart selbst sprachlich zugänglich, da die Bereitschaft zum Erlernen der Mundart wächst. Dadurch werden die Verständigungsbarrieren zwischen den gesellschaftlichen Gruppen abgebaut. Zweitens müssen die dialektal geprägten Gruppen des Volkes zur Schriftsprache geführt werden, damit sie an der Kultur Anteil nehmen können und gleiche Chancen in ihrem sozialen Fortkommen haben, wie die schon mit der Hochsprache Geborenen. Das kann am zweckmäßigsten durch eine kontrastiv vorgehende Sprachdidaktik geschehen, bei der man von der Kenntnis der Mundart ausgeht und von diesen bekannten sprachlichen Grundlagen zur unbekannten Schriftsprache fortschreitet. Soweit der kurze Abriß der dialektologischen Position SCHMELLERS, wie er sich aus den Arbeiten von WIESINGER, REIFFENSTEIN und REIN ergibt. Die einzelnen Fakten sind dabei jeweils gut belegt und auch nicht zu bezweifeln. 1 Es stellt sich jedoch die Frage, ob man daraus die oben zitierten Thesen von der erstaunlichen Modernität des Sprachwissenschaftlers und Dialektologen SCHMELLER begründet ableiten kann. Handelt es sich nicht viel eher um die Position eines Wissenschaftlers, der - geprägt durch die wissenschaftlichen Traditionen der Spätaufklärung und des beginnenden 19. Jahrhunderts sowie durch politische und soziale Erfahrungen in seinem Heimatland Bayern und im Rahmen des gesellschaftlichen Aufstiegs, den er sich erkämpft hat - Thesen formuliert, die teils aus der rationalistischen Tradition stammten, teils auch von anderen Wissenschaftlern und Schulmännern der Zeit so oder ähnlich entwickelt wurden. Je genauer man sich mit den vielfältigen geistigen und sozialen Strömungen der Zeit um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert beschäftigt, desto deutlicher stellt man fest, daß die geistige Landschaft wesentlich komplexer war als die positivistischen Wissenschaftsgeschichten des folgenden Jahrhunderts uns glauben lassen wollen. Erst jüngst hat WERNER NEUMANN von der Akademie der Wissenschaften der D D R auf dem Internationalen Germanistentag 1985 eine bisher weitgehend unbekannte sprachsoziologische Tradition in der romantischen Sprachwissenschaft der Zeit herausgearbeitet, von der etwa auch GRIMM zeitweise deutlich geprägt war. Erst das Vordringen des naturwissenschaftlich-positivistischen Paradigmas um die Jahrhundertmitte des 19. Jahrhunderts hat diese Ansätze verschüttet. Ich möchte nun an einigen Stellen auf die Traditionen hinweisen, die SCHMELLER zwar als auf der Höhe der Zeit zeigen, aber wohl nicht als einsamen Vorreiter einer modernen Dialektologie oder Dialektsoziologie. Wenden wir uns zuerst der Sprachauffassung SCHMELLERS ZU. Hier werden SCHMELLER neuartige Auffassungen über das Wesen der Sprache unterstellt. Doch Überlegungen zur Lauttherorie, zu dem Verhältnis zwischen Laut und Zeichen/Buchstabe und zur Abbildbarkeit von Lauten durch Lautschriften sind kontinuierliche Themen der linguistischen und orthographischen Abhandlungen, an denen die Spätaufklärung so überreich ist (S. z. B. BAUDUSCH-WAL1

Vgl. z u weiteren F o r s c h u n g e n über die wissenschaftshistorische Position SCHMELLERS das H e f t 1 der Zeitschrift für b a y e r i s c h e Landesgeschichte B d . 4 8 ( 1 9 8 5 ) .

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Klaus J . Mattheier

KER).Hier wird besonders auf den Einfluß der französischen Sprachtheorie in der Nachfolge der Port Royal-Grammatik zu achten sein, die etwa KLOPSTOCK und auch den Pfälzer Grammtiker JOHANN JAKOB HEMMER bis in die Formulierung hinein geprägt hat. 2 Allenfalls die Verbindung dieser Traditionen mit den PESTALOZZischen Prinzipien der Kindererziehung, unter deren massivem Einfluß Schmeller 1802/03 steht, gibt den Überlegungen in der Frühschrift einen neuartigen Akzent, der jedoch schon aus Uberlieferungsgründen keinerlei Wirkungen haben konnte. Andererseits wird gerade in der Frühschrift die starke Bindung des Sprachtheoretikers SCHMELLER an seine eigenen bairischen Aussprachegewohnheiten erkennbar, wenn er etwa bei der Behandlung der ihm in seiner Aussprache fehlenden Umlaute [y] und [oy] ohne weitere Diskussion die Lautwerte der entrundeten Parallel-Laute einsetzt (1803: 32ff.). Hier verhält sich SCHMELLER übrigens nicht anders als der bairische Grammatiker HEINRICH BRAUN, nach dessen Schulgrammatik SCHMELLER vielleicht unterrichtet worden ist. Auch von der ersten synchronen Sprachbeschreibung, die SCHMELLER vorgelegt haben soll, kann nicht die Rede sein. Vielmehr sind alle Sprachbeschreibungen des 18. Jahrhunderts ausschließlich synchron und etwa wie die ADELUNGsche am gegenwärtigen Gebrauch orientiert. Auch die Dialektbeschreibungen, die sich in der Regel in den Einleitungen zu den Idiotika des 18. Jahrhunderts finden, (vgl. KNOOP 1982J und die - wie bei SCHMELLER - Dialektologien genannt werden, sind synchron und gegenwartsorientiert. SCHMELLER hat seine , Dialektologie' ganz entsprechend der Tradition der Idiotika als Einleitung zu seinem Wörterbuch konzipiert, sie dann aber vorab gesondert publiziert und ihr einen für die früheren ,Dialektologien' ungewöhnlich großen Umfang gegeben. Die Auffassung von der Bindung der Sprachen und der Sprachenvielfalt wie auch der Vielfalt der Dialekte an die gesellschaftlichen Umstände, unter denen sie funktionieren, diese so modern anmutende Konzeption findet sich ähnlich etwa auch bei ADELUNG, und sie hat wahrscheinlich schon eine viel ältere Tradition, die etwa in dem Werk von ARNO BORST erkennbar wird.

Das gilt auch für die Rangerhöhung der Mundart als eigenständiger Teil der Gesamtsprache. KNOOP hat gezeigt, daß die im 18. Jahrhundert aufkommende Wertschätzung der Mundart auf Ideen von MONTESQUIEU und dann von HERDER zurückgreift. Hier knüpft auch SCHMELLER an. Der Organismusgedanke, durch den die Mundart als allein unverfälschter Endpunkt der sprachhistorischen Entwicklung angesehen wird und dabei sogar eine Vorzugsstellung gegenüber der künstlichen Schriftsprache einnimmt, ist wohl erst nach der Rezeption der GRiMMschen Grammatik entstanden, da er erst 1821 auftaucht. SCHMELLERS Überlegungen zum Themenkomplex Dialekt als soziale Varietät erscheinen uns in besonderem Maße modern. Wir müssen uns jedoch fragen, ob das nicht bis zum gewissen Grad eine Selbsttäuschung ist. Wir alle haben als Dialektologen einen Emanzipationsprozeß durchlaufen oder durchlaufen ihn derzeit - wie etwa die Diskussion in der Dialektologie-Sektion auf dem Internationalen Germanistentag wieder gezeigt hat - einem Emanzipationsprozeß von der strikten Einengung der Dialektologie

2

Vgl. hier etwa D u MARSAIS, CESAR: (Art. .Conconne'. In: M . DIDEROT/M. D. 'ALEMBERT ( H g . ) , Encyclopédie ( . . .). Paris 1754, T o m e IV, 53 sowie CHARLES-PINOT DUCLOS: Remarques sur la Grammaire generale. Paris 1754. Neuerdings vgl. auch HARNISCH 1985.

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Schmeller und die heutige Dialektforschung

auf die Diatopie der Laute und F o r m e n , o h n e Berücksichtigung des Dialekts als gesellschaftliches K o m m u n i k a t i o n s m i t t e l zu einem erweiterten Dialektbegriff, in dem der Dialekt als räumlich, gesellschaftlich und situativ bestimmte Varietät unterhalb einer überdachenden Standardsprache aufgefaßt wird. Aus dieser Perspektive vergessen wir leicht, daß auch die eingeschränkte Dialektauffassung der Dialektgeographen seit WENKER und WREDE erst Ergebnis bestimmter wissenschaftshistorischer Entwicklungen war, die etwa mit der Lautgesetz-Diskussion nach 1876 zusammenhingen (vgl. u . a . WIEGAND). Z u der Vor-Junggrammatischen Dialektauffassung müssen wir erst wieder vordringen. Wichtige Vorarbeiten dazu liefern die Beiträge von KNOOP, STEGER und LÖFFLER im H a n d b u c h der Dialektologie. Danach ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild von Dialekt und Dialektologie im 18. und 19. Jahrhundert, in das sich die Auffassungen SCHMELLF.RS durchaus eingliedern lassen. D a b e i findet sich bei SCHMELLER durchaus Neuartiges, das in der voraufgehenden Diskussion nicht in der Klarheit auftaucht. So hat es den Anschein, als o b SCHMELLER als erster den G e d a n k e n der Gleichwertigkeit von Mundart und Schriftsprache im Linguistischen und der U b e r f ü h r b a r k e i t

von

M u n d a r t in Schriftsprache sowie der allein durch unterschiedliche Bewertung bedingten gesellschaftlichen Differenz zwischen ihnen formuliert, obgleich der natürlich in den HERDERschen und BoDMERschen Überlegungen von der Entstehung und G e schichte der Sprachen der einzelnen V ö l k e r angelegt ist. A u c h die Überlegungen SCHMELLERS zur gesellschaftlichen Schichtung des Varietätenspektrums zwischen Mundart und H o c h s p r a c h e ist vor SCHMELLER m . W .

noch

nicht mit dieser Deutlichkeit vorgetragen w o r d e n . Dabei ist interessant, wie SCHMELLER die H o c h s p r a c h e - n ä c h s t e Varietät charakterisiert. E r schreibt, sie sei: „ d i e Aussprache der Gebildeten, oder die provinzielle A r t und Weise, das Schriftdeutsche zu lesen ( . . . ) D i e Aussprache der Gebildeten ist gewöhnlich ganz passiv nach dem Buchstaben der einmal zum G e s e t z gewordenen O r t h o g r a p h i e gemodelt, doch so, daß fast überall die Hauptfarben des Provinzial-Dialektes d u r c h s c h e i n e n " ( 1 8 2 1 : 21). H i e r bestätigt SCHMELLER indirekt das Fehlen einer überregionalen und im ganzen deutschen Sprachraum anerkannten A u s s p r a c h e n o r m , wie sie sich erst nach 1900 langsam durchsetzt (vgl. KURKA). Sein Bezugspunkt auch für die Überlegungen zur bairischen Lautlehre ist nicht die Schriftsprache, sondern eine Schriftsprache mit bairischem Regionalakzent, was etwa seine kritischen Bemerkungen zu der hochdeutschen O r t h o graphie, die überhaupt nicht vorfindliche L a u t n o r m e n abbilde, verständlich macht. Abschließend nun zu SCHMELLER als erstem Dialektdidaktiker und als Erfinder der kontrastiven G r a m m a t i k e n , D i a l e k t - H o c h s p r a c h e ' . Obgleich ich mich als M i t a u t o r der R e i h e DIALEKT/HOCHSPRACHE - KONTRASTIV geehrt fühlen müßte, meine Ü b e r l e g u n gen auf einen so renommierten Urvater zurückgeführt zu sehen, wird man w o h l hier einige Abstriche machen müssen. D i e Überlegungen SCHMELLERS ZU der R o l l e des Dialekts im Sprachunterricht finden sich an zwei Stellen seines W e r k e s , in seiner F r ü h schrift von 1803 und in einer Reihe von Schriften, mit denen er seine Dialektologie und sein W ö r t e r b u c h ankündigt bzw. Mitarbeiter werben will. Dabei ist der G r u n d g e d a n k e schon 1803 formuliert. D e r Lehrer soll getreu der PESTALOZZischen Pädagogik vom B e k a n n t e n und Vertrauten ausgehen und die Eigenkräfte des zu Lehrenden zur selbständigen Tätigkeit anregen, wodurch ein maximaler Lernerfolg sichergestellt ist. D a s kann für den Sprachunterricht an bairischen Schulen zwei Konsequenzen haben. E i n -

62

Klaus J . M a t t h e i e r

mal sollten - und hiermit beschäftigt sich SCHMELLER besonders 1803 - die orthographischen Regeln, nach denen die Schriftsprache gelehrt wird, nicht von den Baiern fremden Aussprachegewohnheiten ausgehen. Und zweitens soll der Lehrer für die deutsche Sprache die dialektale Muttersprache seiner bairischen Schüler ihnen selbst im Unterricht bewußt machen und sie zu Kontrastierungen mit der Hochsprache anregen, wodurch sie zu einem vertieften Verständnis beider Varietäten gelangen sollen - und, das ist ein Hintergedanke SCHMELLERS, er selbst zu weit gestreuten Mundartmaterial über die Mitarbeit der Schulen. Beide Gedanken sind jedoch durchaus nicht neuartig, sondern finden sich um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert häufig. So stellen etwa MATZEL/PENZL als Ergebnis einer Analyse der Ansichten des bairischen Grammatikers und Schulmanns HEINRICH BRAUN ( 1 7 3 2 - 1 7 9 2 ) fest: „ D a s Besondere der ,nach hiesigem Geschmacke' eingerichteten Sprachkunst besteht ( . . ) darin, daß der Bayer H . Braun den aus der Andersartigkeit des Dialekts seiner Landsleute resultierenden Schwierigkeiten bei der Erlernung und Verwendung der Hoch- und Schriftsprache Rechnung getragen h a t . " (MATZEL/PENZL: 148). O b SCHMELLER von BRAUN vielleicht direkt beeinflußt wurde, kann ich nicht sagen. 3 In jedem Fall ist das Problem der mundartlichen Grundlage beim Schriftsprachenerwerb seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Interessenbereich der entstehenden Dialektologie, der erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit gerät, so daß wir Dialektdidaktiker ihn 1974 neu entdecken konnten. Ich konnte in dieser kurzen Zeit die meisten Probleme nur anreißen und bin SCHMELLER dadurch sicherlich nicht immer gerecht geworden. Als Fazit möchte ich jedoch festhalten, daß mit einem vordergründigen Postulat von der Modernität unseres J u b i lars nichts gewonnen ist. Erst wenn die Traditionen, in denen SCHMELLER stand, deutlicher als bisher herausgearbeitet sind, wird man die eigentliche Bedeutung JOHANN ANDREAS SCHMELLERS für die Dialektologie seiner Zeit und die Entwicklung der Dialektologie als Wissenschaft erkennen können.

Literaturverzeichnis BAUDUSCH-WALKER, R . : K l o p s t o c k als Sprachwissenschaftler und O r t h o g r a p h i e f o r m e r . E i n B e i trag zur G e s c h i c h t e der d e u t s c h e n G r a m m a t i k im 18. J a h r h u n d e r t . Berlin 1 9 5 8 . BESCH u . a . ( H g . ) : D i a l e k t o l o g i e . E i n H a n d b u c h zur d e u t s c h e n und allgemeinen D i a l e k t f o r s c h u n g . Berlin/New Y o r k 1982. BRUNNER, R . J . u. a. ( H g . ) : N a c h V o l k s w o r t e n jagend. G e d e n k s c h r i f t z u m 2 0 0 . G e b u r t s t a g von J o h a n n Andreas Schmeller. Landesgeschichte;

(=

H e f t 1 v o n B a n d 48 ( 1 9 8 5 ) der Zeitschrift f ü r

gleichzeitig: J a h r b u c h

Bayerische

der J o h a n n - A n d r e a s - S c h m e l l e r - G e s e l l s c h a f t

1984.

Bayreuth 1985). HARNISCH, R . : D i e , N a t u r der S p r a c h e ' und . F o r m e n ' d e r , M u n d a r t e n B a y e r n s ' . Z u S c h m e l l e r s universalistischer S p r a c h t h e o r i e und ihrer k o m p a r a t i v e n A n w e n d u n g , in: BRUNNER u . a . ( H g . ) (1985): 49-78. KNOOP, U . : D a s Interesse an den Mundarten und die G r u n d l e g u n g der D i a l e k t o l o g i e , in: B e s c h u.a. (Hg.) 1982: 1-23.

3

V g l . dazu MATZEL/PENZL 1 9 8 2 und die dort angegebene Literatur.

Schmeller und die heutige Dialektforschung

63

KURKA, E.: Die deutsche Aussprachenorm im 19. Jahrhundert. Entwicklungstendenzen und Probleme ihrer Kodifizierung vor 1898, in: Studien zur Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts (= Ling. Stud. A, 66/11) Berlin 1980. LÖFFLER, H . : Gegenstandskonstitution in der Dialektologie. Sprache und ihre Differnzierungen, in: Besch, u.a. (Hg.) 1982: 441^(62. MATZEL, K./PENZL, H . : Heinrich Braun (1732-1792) und die deutsche Hochsprache in Bayern, in: Sprachwissenschaft 7 (1982): 120-148.

NEUMANN, W . : Sprache zwischen Sozialgeschichte und Naturgesetz. Gegensätzliche Auffassungen in der frühen Germanistik, in: Schöne, A. (Hg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Kongresses der IVG. Bd. 1. Tübingen 1986: 71-83. REIFFEINSTEIN, I.: Johann Andreas Schmeller und die heutige Dialektforschung, in: Z D L 48 (1981): 289-298. R E I N , K . : S c h m e l l e r als S o z i o l i n g u i s t , i n : BRUNNER u . a . ( H g . ) , ( 1 9 8 5 ) : 9 7 - 1 1 3 .

ROCKINGER, L., 1866: An der Wiege der bayerischen Mundart-Grammatik und des bairischen Wörterbuches, neu hg. und erweitert von ROBERT HINDERUNG, Aalen 1985. STEGER, H . : Erkenntnisinteresse und Zielorientierung in der Dialektologie, in: BESCH u. a. (Hg.) 1982: 397-424. WIEGAND, H . : Zur wissenschaftshistorischen Einordnung und linguistischen Beurteilung des Deutschen Wortatlas, in: Germ. Ling. 1-2, 1971, Hildesheim 1971. WIESINGER, P.: Johann Andreas Schmeller als Sprachsoziologe, in: R. RAUCH/G. F. CARR (Hg.), Linguistic Method. Essays in Honor of Herbert Penzl. Den Haag/Paris/New York 1978: 585599.

Schmeller, Graff und die Germanistik ihrer Zeit Hans-Werner

Eroms (Passau) I

Man darf es eine glückliche Fügung nennen, daß JOHANN ANDREAS SCHMELLER und JACOB GRIMM Jahrgangsgenossen sind, ist dadurch doch das Grimmjahr 1985 auch ein Schmellerjahr und gibt Gelegenheit, GRiMMsche Perspektiven aus der SCHMELLERschen Sicht zu beleuchten oder zumindest doch damit zu vergleichen. Das betrifft weniger JACOB GRIMM und seinen Bruder WILHELM, als die Frühgeschichte der G e r manistik insgesamt. In der Tat sind wir geneigt, den Beginn der deutschen Philologie gerade in diesem markanten Jahr auf die Brüder GRIMM zu zentrieren. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß bei der überragenden Bedeutung ihres Werkes und ihres persönlichen Wirkens und durch ihren alles beherrschenden Einfluß anders geartete wissenschaftliche Persönlichkeiten allzu leicht bis heute so gesehen werden, wie sie in der Grimm-Nachfolge erscheinen, d. h. so wie man meinte, daß sie aus der Sicht JACOB und WILHELM GRIMMS ZU beurteilen wären 1 . Mit anderen W o r t e n : Wissenschaftsgeschichtliche Traditionsstränge in der Germanistik gilt es in ihrer Fokussierung auf die Brüder GRIMM zumindest zu erkennen. EBERHARD GOTTLIEB GRAFF ist ein Musterfall dafür 2 . Es wird gleich zu zeigen sein, daß seine Ausgerichtetheit auf JACOB GRIMM einen Großteil seiner Beurteilung bei den nachfolgenden Generationen verursacht hat. GRIMM selber schätzte ihn durchaus, fand aber später manches an ihm zu kritisieren. Wer GRAFF aber vorbehaltlos anerkannt hat, war SCHMELLER. Das Verhältnis dieser beiden Männer wird zunächst zu charakterisieren sein. Wir haben eine Erklärung dafür zu suchen, warum SCHMELLER GRAFF so außerordentlich positiv beurteilt hat. In sein Tagebuch hat SCHMELLER sogar ein Bildnis GRAFFS eingeklebt mit der Unterschrift , , E . G . Graff 1 8 2 6 " , das er mit der Bemerkung „ D e r gute alte K e r l ! " versehen hat 3 . Wenn wir dabei ein wenig genauer in die Biographie GRAFFS Einblick nehmen, so weit sie erschließbar ist, so soll doch letztlich SCHMELLERS Persönlichkeit die Leitlinie sein. Gerade am Verhältnis zu seinen Fachgenossen läßt sich seine wissenschaftliche und auch seine politische' Haltung im weitesten Sinne genauer erkennen. Daß diese beiden Aspekte in der Frühgeschichte der Germanistik durchaus zusammengehen, wird an SCHMELLER, an GRAFF und wieder an JACOB GRIMM deutlich. Daneben gilt es, ein mehr anekdotisches biographisches Faktum zu erhellen, das die drei Männer betrifft. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf vielfach mit Stillschweigen übergangene, bei JACOB ' D a s hat i n s b e s o n d e r e U . WYSS, D i e wilde Philologie, herausgearbeitet. 2

Ü b e r G R A F F S L e b e n u n t e r r i c h t e n VON D E R H A G E N , V O N R A U M E R : 5 9 3 - 5 9 5 , S C H E R E R ( 1 8 7 9 ) , KARG-GASTERSTÄDT und NEUMANN: 75.

3

Sign. C g m . 6 3 4 1 / 2 9 . Vgl. T B I I I : 4 0 R . HINDERLING n i m m t an, daß es von Schmellers S t i e f s o h n , MAX AUER, gezeichnet sei (vgl. R . HINDERUNG, Ausstellungskatalog T i r s c h e n r e u t h : 78).

66

Hans W e r n e r Eroms

GRIMM g a r tabuisierte Sachverhalte. N a c h d e m E i n g e h e n a u f die b i o g r a p h i s c h e n ten sollen einige B e m e r k u n g e n z u m wissenschaftlich vergleichbaren O e u v r e

Fak-

GRAFFS

u n d SCHMELLERS f o l g e n , z u i h r e n W ö r t e r b ü c h e r n 4 .

II 1. Ü b e r d i e p e r s ö n l i c h e n B e z i e h u n g e n v o n SCHMELLER u n d G R A F F w i s s e n w i r SCHMELLERS T a g e b ü c h e r n

und

GRAFFS

Briefen

an GRIMM5.

A l s SCHMELLER

aus und

G R A F F s i c h z u m e r s t e n m a l b e g e g n e n , i s t i h r L e b e n s w e r k in v o l l e r A r b e i t , b e i S C H M E L LER j e d o c h s c h o n in k o n k r e t e r A u s f ü h r u n g , G R A F F s a m m e l t n o c h M a t e r i a l . E r b e f i n d e t sich auf einer B i b l i o t h e k s r e i s e . O b SCHMELLER u n d GRAFF v o r h e r s c h o n

korrespon-

d i e r t h a t t e n , ist n i c h t b e k a n n t . O f f e n b a r h a t G R I M M G R A F F a n SCHMELLER e m p f o h l e n 6 . S C H M E L L E R h a t d i e B e g r ü ß u n g s s z e n e in e i n d r u c k s v o l l e r W e i s e f e s t g e h a l t e n : Ich saß d e n M o r g e n , wie seit acht Tagen auf der B i b l i o t h e k um die T e g e r n s e e r G l o s s e n ü b e r die B i b e l und C a n o n e s , so wie die des C o d e x H e r m a n n i C o n t r a c t i in meine S a m m l u n g einzutragen. D a h ö r ich im C u s t o d e n z i m m e r eine schallende p r e u ß i s c h e S t i m m e mit D o c e n s w e s t p h ä l i s c h e r im C o n c e r t , und v o n Zeit z u Zeit wie K a n o n e n s c h ü ß e unter K l e i n g e w e h r f e u e r die W o r t e Paris, G r i m m , G l o s s e n . U b e r eine W e i l e k o m m t D o c e n an mir v o r b e y g e s t r i c h e n , k o m m e n Sie ein wenig. G r a f f ist da. Ich gehe D o c e n nach in den g r o ß e n Bibliotheksaal. W o ist d e r H e r r ? f r a g ' ich. D a ist er! ruft ein nicht m e h r j u n g e r und eleganter M a n n mit Brillen auf der N a s e , mich r e c h t natürlichf r e u n d l i c h u m a r m e n d z u . U n d so stunden w i r d e n n da, die drey M ä n n e r mit B r i l l e n in diesem G r ü t l i , F o l i a n t e n um und über uns, und s c h w u r e n E r r e t t u n g und B e f r e y u n g von den K e t t e n der P u o h g o u m i l s den Z u n g e n unsrer Vorväter i m z w e y und dreyhundertsten G l i e d e . ( T B I : 5 5 2

=

3. 1 2 . 1 8 2 5 ) D e r puohgoumil

für den bibliothecarius,

b e l e g t in d e n S t . E m m e r a n e r

Glossen,

ist

s i c h e r e i n e r v o n SCHMELLERS B e i t r ä g e n f ü r d e n A L T H O C H D E U T S C H E N SPRACHSCHATZ 7 . SCHMELLER hilft „ d e m g e m ü t h l i c h e n P r e u ß e n " ( T B I: 5 5 2 =

3 . 12. 1 8 2 5 ) ein P r i v a t -

q u a r t i e r s u c h e n , e r m ö g l i c h t i h m die A u s l e i h e v o n H a n d s c h r i f t e n , w i e d e n W i n d b e r g e r Psalter ( T B I: 5 5 4 =

16. 12. 1 8 2 5 ) ; m a n vergleicht Glossen ( T B II: 2 =

5 . 1. 1 8 2 6 ) u n d

* S e h r h e r z l i c h m ö c h t e ich für die Hilfe d a n k e n , die ich von verschiedenen Seiten b e k o m m e n h a b e : P r o f . D r . ROBERT HINDERLING für vielerlei Ratschläge und für das N a c h p r ü f e n schwierig e r Stellen aus GRAFFS B r i e f e n an den A u t o g r a p h e n , D r . WERNER WINKLER für die Bereitstell u n g aller ermittelten B r i e f e von und an SCHMELLER, in denen GRAFF e r w ä h n t w i r d , F r a u INGE W O J T K E , B e r l i n , Staatsbibliothek P r e u ß i s c h e r K u l t u r b e s i t z , und D r . MANFRED VON STOSCH, D ü s s e l d o r f , für wertvolle H i n w e i s e auf den N a c h l a ß GRAFFS, der Staatsbibliothek P r e u ß i s c h e r K u l t u r b e s i t z , B e r l i n , für die Überlassung v o n M i k r o f i l m e n der B r i e f e GRAFFS an JACOB GRIMM u n d die E r l a u b n i s z u m A b d r u c k daraus, d e m S c h i l l e r - N a t i o n a l m u s e u m M a r b a c h a . N . , C o t t a A r c h i v (Stiftung der Stuttgarter Zeitung) f ü r die Ü b e r l a s s u n g v o n K o p i e n der B r i e f e GRAFFS an COTTA u n d die E r l a u b n i s , Stellen daraus a n z u f ü h r e n , D r . DIETER KUDORFER, M ü n c h e n , B a y e rische S t a a t s b i b l i o t h e k , für bereitwillige A u s k ü n f t e ü b e r T a g e b u c h s t e l l e n SCHMELLERS. F ü r die H i l f e b e i m Lesen der B r i e f e GRAFFS und bei der Ü b e r p r ü f u n g des M a n u s k r i p t s d a n k e ich Frau MARIA BÖCK, Frau D r . KARIN DONHAUSER, F r a u SIGRID GRASSL, F r a u ELFRIEDE HOI.ZER, F r a u ROSEMARIF. SPANNBAUER-POLLMANN, ALLE PASSAU, UND BESONDERS FRAU THERF.SIA SIWIK, Passau. 5

V e r w a h r t in d e r Staatsbibliothek P r e u ß i s c h e r K u l t u r b e s i t z , B e r l i n , N a c h l a ß G r i m m 1 0 6 1 . D e r g r ö ß t e T e i l der B r i e f e ist a b g e d r u c k t bei RAVEN/KING.

' J A C O B GRIMM m u ß GRAFF „ d e m S c h m e l l e r nachdrücklich e m p f o h l e n " haben, wie w i r aus e i n e m B r i e f v o n ihm an K . LACHMANN wissen. (LEITZMANN: 4 9 1 , vgl. RAVEN/KING: 173). 7

H a p a x l e g o m e n o n , ( G l . 3 , 6 5 5 , 5 4 aus clm 1 4 6 8 9 ) , vgl. KARG-GASTERSTÄDT/FRINGS B d . 1: 1500.

Schmeller, Graff und die Germanistik ihrer Zeit trifft sich auf Gesellschaften ( T B I I : 2 =

67

1 4 . 1. 1 8 2 6 ) . G a n z b e s o n d e r s eng w i r d die

Z u s a m m e n a r b e i t der beiden ü b e r der H e r a u s g a b e der v o n GRAFF w ä h r e n d seiner B i bliotheksreise

gesammelten

altdeutschen

Texte.

Sie

sollen

bei

Cotta

erscheinen.

SCHMELLER schlägt den Titel für die „ H e f t e ü b e r n e u e altdeutsche F u n d e " v o r : DIUTISCA ( T B I I : 2 =

2 4 . 1. 1 8 2 6 8 ) . H a u p t s ä c h l i c h weil G r a f f seine Bibliotheksreise n o c h

f o r t z u s e t z e n beabsichtigt, erbieten sich SCHMELLER u n d DOCEN, die K o r r e k t u r d e r D r u c k f a h n e n z u ü b e r n e h m e n 9 . D i e A r b e i t bleibt fast g a n z an SCHMELLER h ä n g e n , w i e sich aus d e m B r i e f w e c h s e l SCHMELLERS mit d e m V e r l a g (vgl. WINKI.F.R: 5 9 7 , 6 1 3 , 6 6 0 f . ) e n t n e h m e n läßt. SCHMELLER schreibt auch eine „ e m p f e h l e n d e A n z e i g e des W e r k e s " 1 0 . Auf dem

Fasnachtsball

1826

spielt SCHMELLER d e m n o r d d e u t s c h e n

Gast

einen

Streich, i n d e m er ihm d u r c h eine M a s k e G r ü ß e v o n dessen T o c h t e r T h u s n e l d e bestellen läßt ( T B I I : 2 = 2 4 . 1. 1 8 2 6 ) . D e r T o c h t e r k o m m t in GRAFFS Plänen, w i e w i r n o c h sehen w e r d e n , eine b e d e u t e n d e R o l l e zu. A m 2 7 . M ä r z trinken SCHMELLER und GRAFF Brüderschaft ( T B II: 6 = Gast sehr ( T B II: 7 =

3 1 . 3. 1 8 2 6 ) . N a c h seiner A b r e i s e v e r m i ß t SCHMELLER d e n

1.4.

1 8 2 6 ) . GRAFF m u ß SCHMELLER viel aus seinem

Leben

erzählt h a b e n , u . a . daß er 1 8 1 3 bei G o e t h e w a r , u m ihn a u f z u f o r d e r n , „ d a ß er d u r c h irgend e t w a s aus seiner F e d e r die heilige Sache u n t e r s t ü t z e n m ö g e " ( T B I I : 7 =

1.4.

1 8 2 6 ) , w a r d a m i t aber nicht a n g e k o m m e n . G o e t h e e r w ä h n t G r a f f übrigens in e i n e m B r i e f v o m 2 2 . / 2 5 . 4 . 1 8 1 2 an C h r i s t i a n e 1 1 . D e r f o l g e n d e G e b u r t s t a g s b r i e f GRAFFS an SCHMELLER ist das einzige erhaltene schriftliche D o k u m e n t der F r e u n d s c h a f t d e r beiden M ä n n e r . SCHMELLER hat es in sein T a g e b u c h e i n g e r ü c k t . E s soll hier w i e d e r g e g e b e n w e r d e n , u m z u belegen, w i e die - sicher z e i t g e b u n d e n e - F o r m der wissenschaftlichen Männerfreundschaft

in der ersten H ä l f t e des 1 9 . J a h r h u n d e r t s sich in schriftlichen

Zeugnissen offenbart. 6t. August 1826 Herrn Oberlieutenant Schmeller Wohlgeboren zu München. Dieser Brief soll zum 6. August in Deine Hände kommen, mein treuster, treuster Schmeller und Dich, wenn D u an dem Tage auf Deine Vergangenheit zurückblickst und zunächst auf Dein letzterlebtes Jahr, erinnern, daß, auch ohne Selbstsucht - D u denkst doch noch unsres Spazierganges nach Sendlingen? - Du sowohl Liebe gegeben als Liebe empfangen hast und auch wohl schon früher zwischen Dir und Andern ein reines Verhältniß inniger Zuneigung, der das Glück des Andern eben so theuer als das eigne ist, stattgefunden hat. Und ist Dir, wie ich fest glaube, eben weil ich Dich von ganzer Seele liebe, mein Herz ein so lieber Besitz als mir das Deinige ist, so sollen diese Zeilen Dir bei Deinem Rückblick auf den vorigen Winter neben dem Verlust einer geliebten Mutter den Gewinn eines redlichen Freundes vor die Seele führen. Du guter, lieber Sohn! Du kindlicher, freier, thätiger Mann! Du geistreicher, herzlicher Freund, wie sollte ich Dich nicht lieben und ohne Wandel und zur eignen Lust und eigner Freude bei vielfach zerrissenem H e r z e n ! Ich bitte Dich erhalte mir Deine Liebe - denn Du bist treu, wie Wenige, und ich lasse nie von Dir. Ich habe, wenn ich mich betrachte, nichts worauf ich stolz sejn kann, ausgenommen ein treues

GRAFF schreibt in der Vorrede, S. V I : „ D e s leichtern Absatzes wegen erscheint das W e r k , das ich nach dem Rathe eines gelehrten Freundes Diutiska betitelt habe, in H e f t e n " . ' V g l . GRAFFS Brief an COTTA vom 7. 12. 1825 im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N . , Cotta-Archiv (Stiftung der Stuttgarter Zeitung). 10 Vgl. den Brief GRAFFS an COTTA vom 29. März 1826 und SCHMELLERS an den Verlag vom 15. August 1826 (Winkler: 573). " „Regierungsrat Graff von Königsberg, dessen sich August erinnern wird, ist hier bei der Verwaltungskommission angestellt. E r hatte sehr große Freude mich zu sehn". (Goethes Briefe: 8

233).

68

Hans W e r n e r Eroms

H e r z , wie ich es seit meiner Kindheit erprobt habe - ach mitunter zum tiefsten Schmerze für mich! - aber es ist mein ganzes Wesen und meine ganze N a t u r darin contentiert, daß es von dem, dem es sich einmal hingab, nicht lassen kann und, wie jeder seine Hoffnung auf Unsterblichkeit nach seiner Art sich begründet, so steht meine H o f f n u n g darauf fest durch das Bewußtsejn meiner unvergänglichen Liebe zu Freunden und Freundinnen meiner Jugend und meines spätem Alters. A b e r was ich Dich bitten und was ich D i r wünschen will zu Deinem Geburtstage das ist: nimm ein W e i b ! Ich kenne wenige Männer, die ein W e i b so glücklich machen und wieder durch dasselbe so glücklich werden könnten, als D u ! - U n d damit D u es nehmen kannst, thue entschiedene Schritte zu einer festen, sichern Anstellung und hast D u sie, sie sei groß oder klein, so heirathe und beglücke D i c h , wie D u es verdienst und ein W e i b , wie die Weiber es verdienen und so selten erlangen! Willst D u in kurzem an mich schreiben, so addressiere Deinen Brief an die preußische Gesandtschaft in B e r n , w o ich bis gegen das Ende August zu finden sejn werde. - G o t t mit D i r und allen D e i n e m Wollen und W ü n s c h e n ! ( T B I I : 16).

Dieser Brief zeigt, daß GRAFF, ganz anders als SCHMELLER, seine Zuneigung spontan, überschwenglich zum Ausdruck bringt. SCHMELLER ist, wie auch sonst, sicher der bei weitem Zurückhaltendere. Auch rein stilistisch liegen Welten zwischen den beiden. GRAFF wäre hier in seiner Stilhaltung der Romantik, vielleicht gar der Empfindsamkeit zuzuordnen, womit dem Dokument keineswegs die Aufrichtigkeit abgesprochen werden soll. N u r ist SCHMELLERS Ausdrucksweise über ihre Verhaltenheit, ihr kritisches Raisonnement hinaus, die modernere. In seinen Stil mischen sich bereits einige der die deutsche literarische Tradition des 19. Jahrhunderts bestimmenden Züge, wie wir sie bei Jean Paul und Wilhelm Raabe finden, andererseits realistische Schilderungen. SCHMELLERS Prosastil in seiner Ironie und seiner Prägnanz, die gerade auch die Skurrilitäten erfaßt, harrt noch der genaueren Untersuchung 1 2 . Was den Inhalt des Briefes betrifft, so darf der Rat zur Heirat, den GRAFF erteilt, nicht als Floskel überlesen werden. Dazu gleich mehr! Aufschlußreich über SCHMELLERS Charakter und zum Gesagten stimmend ist, daß er GRAFF über seine Verbindung mit Juliane Auer nichts gesagt haben kann. Die Tochter Emma ist ja 1825 immerhin schon acht Jahre alt. Bis zu SCHMELLERS Besuch bei GRAFF in Berlin erfahren wir noch von mehreren Briefen, die zwischen den beiden gewechselt wurden (vgl. T B I I : 39 = 2 7 . 3 . 1 8 2 7 ; I I : 1 4 6 = 6 . 8 . 1 8 3 2 u n d W I N K L E R : 6 3 0 , 6 4 1 , 6 6 0 ) . SCHMELLER n o t i e r t , d a ß G R A F F S ALTHOCHDEUTSCHER SPRACHSCHATZ ZU e r s c h e i n e n b e g i n n t ( T B I I : 2 0 6

=

6. 12. 1834), daß er Lieferungen des dritten Teils seines Wörterbuchs an GRAFF geschickt hat ( T B I I : 218 = 11. 2. 1836) und daß GRAFF (korrespondierendes) Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften geworden ist ( T B II : 267 = 15. 1. 1839). Die Berichte über SCHMELLERS Besuch in Berlin 1840 füllen mehrere Tagebuchseiten. GRAFF macht mit SCHMELLER eine große Berlin-Tour, hält ihn überall frei und lädt ihn mehrmals zu sich nach Hause ein ( T B I I : 2 8 7 f f . = 22. 9. 1840ff.). Man achte nun auf die folgende Eintragung: „Mittag bei Graffs. Seine Frau recht angenehm. So die T o c h ter Thusnelde, die mich an der Seite ihres jungen Gemahles aufzog, daß der Papa sie weiland mir zugedacht." ( T B I I : 288 = 23. 9. 1840). Hier würde man sicher nicht mehr als einen unverbindlichen Scherz heraushören, wenn es den angeführten Brief GRAFFS an SCHMELLER nicht gäbe - und einen anderen Brief GRAFFS, nämlich an JACOB GRIMM, der das Gesagte genauer erklärt. 12

Vgl. auch DÜNNINGER: 10. In seinen literarischen Arbeiten ist SCHMELLERS Sprache dagegen, trotz mancher treffenden Wortbildung, teilweise altertümelnd. (Vgl. BIGLER-MARSCHALI.: 160 ff.).

69

S c h m e l l e r , G r a f f und die G e r m a n i s t i k ihrer Zeit

2. D e n

Beziehungen

GRAFFS ZU GRIMM ist nun, bevor die Freundschaft

SCHMELLER zusammenfassend gewürdigt wird, etwas genauer nachzugehen.

mit

Einige

biographische Details zu GRAFFS Entwicklungsgang sind dazu anzuführen. Auf Parallelen, aber auch auf Unterschiede zu SCHMELLERS Lebensweg sei dabei hingewiesen. 1780 in Elbing geboren, also nur fünf J a h r e älter als SCHMELLER, will er diesem später doch als der merklich ältere v o r k o m m e n . GRAFFS Vater war Arzt, sein H e r k o m m e n also ganz anders als das SCHMELLERS. So studiert er auch seit seinem 17. Lebensjahr an seiner Landesuniversität, in Königsberg. D a ß er schon als Student geheiratet hat, wissen w i r n u r d u r c h SCHMELLER ( T B I I : 7 =

1.4.

1 8 2 6 ) . W i e SCHMELLER h a t er z u n ä c h s t

ausgesprochen starke reformpädagogische Interessen (vgl. NICKLIS und BORMANN). Während SCHMELLER auf PESTALOZZIS Erziehungsmethoden setzt, verfaßt GRAFF eine S c h r i f t m i t d e m T i t e l D I E FÜR DIE E I N F Ü H R U N G EINES ERZIEHENDEN

UNTERRICHTS

NOTHWENDIGE U M W A N D L U N G DER S C H U L E N ( 1 8 1 7 ) 1 3 . S e i n V o r s c h l a g , d i e G l i e d e r u n g

nach Jahrgangsklassen vollständig aufzugeben, kann natürlich niemanden überzeugen, obwohl seine angeführten Argumente sich streckenweise sehr modern lesen, wenn er z. B . auf die Konstanz der Lehrperson oder auf die Verantwortung des Lehrers für die Entwicklung der Zöglinge über die ganze Schulzeit hinweg hinweist. Die Freiheitskriege bringen ihn nicht, wie SCHMELLER, nach Frankreich, sondern halten ihn als Mitglied des Verwaltungsrats unter dem Freiherrn vom Stein im Lande. Von ihm stammt der Aufruf zu den Waffen an die Mecklenburger, worin Aufhebung der Leibeigenschaft versprochen wurde. Also auch bei ihm mit der vaterländischen Begeisterung H o f f n u n g auf Veränderung der innenpolitischen Verhältnisse! - D e n A n stoß zur Philologie und zu seinem Lebenswerk gibt ihm neben KARL LACHMANN JACOB G R I M M S DEUTSCHE GRAMMATIK, in d e r ein u m f a s s e n d e s G l o s s a r d e s A l t h o c h -

deutschen gefordert wurde 1 4 . Wie SCHMELLER m u ß er sich dazu auf die Materialsuche begeben, die ihn in die großen Bibliotheken des Kontinents führt. Ahnlich SCHMELLER mit seinen MUNDARTEN BAYERNS veröffentlicht er zunächst ein bedeutendes N e b e n W e r k , bevor er an das eigentliche W ö r t e r b u c h geht. Es sind dies DIE ALTHOCHDEUTSCHEN PRÄPOSITIONEN, die ihm sogleich eine gesicherte Anstellung als Professor in Königsberg und eben die ausgedehnte Bibliotheksreise eintragen (Scherer 1879: 566). D i e Arbeit wurde von BENECKE ( 1 8 2 4 ) und JACOB GRIMM 15 sehr positiv besprochen, wofür GRAFF den beiden zeitlebens dankbar geblieben ist. Auf die T r ü b u n g seines Verhältnisses zu JACOB GRIMM ist gleich noch näher einzugehen. Weitere Parallelen zu SCHMELLERS Lebensgang finden wir darin, daß auch ihm der Kronprinz seines Landes Unterstützung gewährt 1 6 und daß er eine größere Zahl von Texten ähnlich SCHMELLER zurückhaltend ediert 1 7 . U b e r Vergleichbarkeiten in der Anlage des Wörterbuches wird noch zu sprechen sein. 13

Ü b e r die beiden Auflagen des W e r k e s N ä h e r e s bei BORMANN: 6 8 .

" GRIMM, DEUTSCHE GRAMMATIK: 7 7 f . GRAFF beruft sich auf die Stelle im V o r w o r t zu seiner A b h a n d l u n g D I E ALTHOCHDEUTSCHEN PRÄPOSITIONEN: ULF. 15

W i e n e r J a h r b ü c h e r der Literatur, B d . 28 ( 1 8 2 4 ) , S. 1 - 4 4 . A b g e d r u c k t in GRIMM,

Kleinere

Schriften I V : 2 2 9 - 2 7 0 . " Vgl. GRAFF, ALTHOCHDEUTSCHER SPRACHSCHATZ, B d . 1 : 1 . F ü r SCHMELLER vgl. z . B . E R O M S : 185 f. 17

N e b e n den T e x t e n , die in der DIUTISKA veröffentlicht werden (vgl. o b e n und A n m . 8), sind es vor allem die A u s g a b e n O t f r i d s von W e i ß e n b u r g unter dem Titel KRIST, des a l t h o c h d e u t s c h e n Isidor und N o t k e r s von St. Gallen.

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Hans Werner Eroms

GRAFFS gesamtes Schaffen ist dem Althochdeutschen gewidmet, es ist also viel einheitlicher als SCHMELLERS. Sein Biograph SCHERER wollte darin nur eine äußerliche E i n h e i t erkennen, die „ i n n e r e V o l l e n d u n g " (SCHERER 1 8 7 9 : 567) gehe ihm ab. D i e Begründung suchte SCHERER in den überall bei GRAFF sich zeigenden „ p r a k t i s c h e n T e n d e n z e n eines unpraktischen M e n s c h e n " , (SCHERER 1 8 7 9 : 568) der den E m p f ä n g e r kreis seiner W e r k e völlig falsch eingeschätzt, weltfremde pädagogische Ideen verkündet und vor allem merkwürdige politische Auffassungen vertreten habe. In der T a t ist mit dieser romantischen Zerrissenheit bei GRAFF etwas Richtiges gesehen. Allerdings geht das Bild des unsteten Romantikers auch ein wenig auf LACHMANN zurück. In einem B r i e f an J . GRIMM v o m 9. 9. 1825 beschreibt LACHMANN GRAFF wie den E i c h e n d o r f f schen Taugenichts, den nichts zu Hause halten kann. „ W o er eigentlich hin wollte und was er holen wollte, außer alles, wüste er gar n i c h t . . . . A b e r da hats ihm im P o p o gebrannt und nun hat er O s t e r n fortgemust auf Teufel hole. G e h t ihm nun was nicht nach Sinne oder verliebt er sich (wie ers auf Reisen pflegt) irgendwo sterblich, so sitzt er da fest und schmeißt wohl alles über B o r d und legt eine Bierbrauerei an oder sonst was g u t s " (LEITZMANN: 4 6 1 ; abgedruckt bei RAVEN/KING: 168). Vergleicht man GRAFFS vielleicht n u r vermeintliche - Unstetigkeit mit SCHMELLERS Lebenskonstanz, fällt sie n o c h stärker ins A u g e : V o n ganz anderem Ausgangspunkt, schon in materieller H i n sicht, sucht er bedingungslose Bindung und H i n g a b e , wissenschaftlich durch die H i n wendung an JACOB GRIMM und seine Ideale, privat durch seine für die Zeit überraschend frühe H e i r a t , politisch durch seine frühen und späten Aktivitäten, von denen n o c h die R e d e sein wird. SCHMELLER dagegen zeigt ein unbedingtes Streben nur in der J u g e n d , später ist er gehemmt, bindet sich nur widerwillig und ist politisch, so aufmerksam er die Zeitereignisse verfolgt, resignativ. Seine wahre Haltung k ö n n e n wir gut beurteilen, GRAFFS jedoch ist uns vor allem durch seine Biographen, insbesondere SCHERER, gefiltert überliefert, bei dem die Philologen der ersten Hälfte d».--; neunzehnten J a h r h u n d e r t s , die bei R . VON RAUMER n o c h „ M i t f o r s c h e r " d a GRIMMS genannt werden (RAUMER: 5 4 0 f f . ) , gerade noch „ M i t a r b e i t e r " sind (S< IH RER 1 9 2 1 : 145). W i e diese Beurteilung durchschlägt, zeigt sich dann bei FRIEDRICH NEUMANN, der GRAFF zu den „ G e l e h r t e n mittlerer K r a f t " im U m k r e i s GRIMMS rechnet (NEUMANN: 75). O b nicht GRAFFS G e s a m t w e r k eine einheitliche Leistung darstellt und ob SCHMELLER mit seiner H o c h s c h ä t z u n g des Kollegen nicht vielleicht doch mehr recht hat, dürfen wir zumindest vermuten. D o c h zunächst ist auf das Verhältnis GRAFFS ZU JACOB GRIMM einzugehen.

3. Aus den erhaltenen Briefen von GRAFF an JACOB G R I M M wissen wir, daß GRAFF

s c h o n zwei J a h r e an seinem Sprachschatz arbeitete, ehe er sich an den Veranlasser mit der Bitte u m n o c h nicht ediertes Material wandte (17. 6. 1 8 2 2 ; vgl. RAVEN/KING: 153). GRIMM schreibt nun an LACHMANN, der ja GRAFFS Königsberger Kollege ist, und bittet ihn um A u s k u n f t über den ihm unbekannten „regierungs rath G r a f f " (30. 6. 1822; vgl. RAVEN/KING: 155).

LACHMANN a n t w o r t e t s e h r s k e p t i s c h ( 1 1 . 9 .

1 8 2 2 ; vgl.

RAVEN/

KING: 158). D o c h J . GRIMM tritt mit GRAFF in einen für beide Seiten fruchtbaren Briefwechsel ein und schreibt z. B . an BENECKE: „ V o n dem glossographus regiomontanus müssen Sie, nach allem was ich höre und sehe . . . bessere meinung fassen" (25. 9. 1 8 2 2 ; vgl. MÜLLER: 154 und RAVEN/KING: 159). Allerdings zweifelt auch er,

ob

GRAFFS ins Auge gefaßte Anordnung des SPRACHSCHATZES nach W o r t w u r z e l n emp-

Schmeller, Graff und die Germanistik ihrer Zeit

71

fehlenswert sei' 8 . GRAFF sperrt sich auch offensichtlich gegen GRIMMS Einsichten in die Abiautgesetze (ebd.). Dagegen bittet er GRIMM ganz ausdrücklich, schon einmal auf den Sprachschatz hinzuweisen (28. 7. 1822; vgl. RAVEN/KING: 158), und er widmet GRIMM sein Buch über die Präpositionen, das GRIMM dann sehr lobend bespricht (vgl. Anm. 15). Auch LACHMANN schätzt die Schrift 19 . Nicht zuletzt aufgrund der günstigen Rezensionen erhält GRAFF sein Reisestipendium und kann 1825 die GRIMMS in Kassel besuchen. GRAFF schreibt JACOB GRIMM einen überschwenglichen Dankesbrief 2 0 .

Von der Reise nun schreibt er aus Stuttgart einen langen Brief an GRIMM, bei dem er, plötzlich vom Sie zum Du wechselnd, in geradezu wertherscher Manier folgendes äußert: O laßt mich Eurer seyn und unter Euch in Euren Freuden und euren kleinen Sorgen; und, wenn größere Schmerzen Euch quälen, klagt sie mir, als wäre ich bei Euch. . . . Gott! wenn ich einmal so Euch alle bei mir haben oder mein Weib und Kind zu Euch führen könnte! Gedenke ich lache mir nur nicht - und noch öfter träume ich davon, als wäre es geschehen - könnte ich doch meine Thusnelde, mein herzliches, einfaches Kind, das nur Wenige erkennen und nur Wenige glücklich zu machen wüßten, dir zur Gattin zuführen und so mit dir durch die nächsten Bande, die nur möglich sind, vereinigt werden und wäre es nicht gar zu toll, so schickte ich sie gerade zu dir hin und, wenn ich heimkehrte, holte ich Euch als Gatten herüber zu mir und überschüttete Dich in meiner kleinen Hütte mit allen Freuden der Liebe und Freundschaft. Lache mir nicht und laß mich. Wenn ich so schwatze, so ists immer ein Zeichen, daß es mir wohl ums Herz und das kommt eben nicht zu oft. 2 1

Dieses Angebot ist aber durchaus ernst gemeint gewesen, denn Thusnelde mußte selber einen Brief an GRIMM schreiben und ihm Weihnachtsgebäck schicken 22 . Und nun dürfen wir schließen, daß auch SCHMELLER ein ernsthafter Kandidat auf die Schwiegersohnstelle bei GRAFF gewesen ist! Nach diesem hymnischen Erguß ist es nicht verwunderlich, daß GRIMM, dem schon GRAFFS panegyrische Widmung des Präpositionenbuches aufdringlich erschienen war 23 , merklich kühler wurde. Seine Charakterisierung GRAFFS, die er in einem Brief an LACHMANN ausspricht, enthält den Satz: „ D a s empfindsam angespannte wesen schon in seinem ersten briefe war nicht meine sache" ( 2 5 . 2 . 1826; vgl. RAVEN/KING: 173), womit er ihn, vor allem mit dem negativen Beiklang des Adjektivs empfindsam, den sein eigener Wörterbuchartikel (Bd. 3: 431 f.) kaum erkennen läßt, wohl treffend charakterisiert. Etwas später nennt er ihn „wortgefühlvoll" 2 4 . GRIMM irritiert es, daß GRAFF ihn an seiner Glossenausbeute nicht sogleich teilhaben läßt 2 5 , wofür sich GRAFF in einem Brief aus München zu rechtfertigen sucht (vom 12. 3. 1826). SCHMELLER lobt er darin sehr. Nachdem er sich etwas kritisch über SCHERER und DOCEN geäußert hat, schreibt er: „ D e s t o wackrer ist Schmeller, ein wahrer Ehrenmann, redlich, fleißig, geistreich, gutmüthig, der ein reiches, vielseitiges Leben geführt hat und rein durchgekommen ist. Ich freue mich, sein Freund zu seyn" . 18

J . GRIMM an LACHMANN, 1 5 . - 2 1 . 11. 1822; LEITZMANN: 3 7 0 f . ; vgl. RAVEN/KING: 159.

19

Brief an J . GRIMM 25. 5. 1823, LEITZMANN: 398, RAVEN/KING: 161 f. Aus Frankfurt, 29. 6. 1825; vgl. RAVEN/KING: 167. Aus Stuttgart, 30. 10. 1825; vgl. RAVEN/KING: 170f. Aus Königsberg, 6. 12. 1825. Dieser reizende Brief soll in anderem Zusammenhang veröffentlicht werden. An LACHMANN, 10. 6. 1823, vgl. RAVEN/KING: 162. Brief an LACHMANN, 25. 2. 1826; vgl. RAVEN/KING: 173. Vgl. die Vorrede zu Bd. 2 der DEUTSCHEN GRAMMATIK: I X .

20 21 22

23 24 25

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Hans Werner Eroms

SCHMELLER vermittelt in der F o l g e z e i t B r i e f e z w i s c h e n GRAFF u n d GRIMM (vgl. R A VEN/KING: 1 7 6 ) . A l s GRAFF auf seiner w e i t e r e n Reise lange nichts v o n sich h ö r e n läßt, v e r s u c h t m a n , ihn a u f z u s p ü r e n (vgl. WINKLER: 5 9 5 u n d 6 0 6 ) . A m 15. Mai 1 8 2 7 s c h r e i b t SCHMELLER an GRIMM: „SO sehr ich den M a n n l i e b g e w o n n e n h a b e , k a n n ich m i c h d e n n o c h k a u m e r w e h r e n , dieses B e n e h m e n etwas prätios zu f i n d e n " (WINKLER: 6 1 5 ) . GRAFF k o m m t dann tatsächlich n o c h einmal auf seine H e i r a t s p l ä n e für JACOB GRIMM z u r ü c k u n d e r w ä h n t dabei auch SCHMELLER. D i e s e r Brief ist b e s o n d e r s a u f s c h l u ß r e i c h . D a e r v o n F . A . RAVEN u n d J . C . KING n u r in A u s z ü g e n veröffentlicht w o r d e n ist ( 1 7 7 f . ) u n d gerade die SCHMELLER b e t r e f f e n d e Stelle weggelassen w o r d e n ist, soll er hier vollständig a b g e d r u c k t w e r d e n : Königsberg d. 17. Febr. 1829. Zum neuen Jahr war dir, geliebter Freund, ein Brieflein nebst einem kleinen Angebinde bestimmt; aber am Sylvester Abend, als ich an dich schreiben wollte, überfiel mich ein völliges Unvermögen, das am 2. Januar in eine Geisteszerrüttung überging, die mich schon 8 Tage vor Weihnachten, doch nur 2 Tage lang, ergriffen und die Meinigen in Schrecken gesetzt hatte. Acht Tage lang sah mein Arzt die Sache hier an und suchte durch Medizin zu helfen. Ich versank immer tiefer und man brachte mich auf ein 4 Meilen von hier entferntes Dörfchen zu einem Bauer, wo mich Abgeschiedenheit, fremde, friedliche Umgebung, körperliche Anstrengung und Bibergeilpulver in den Augenblicken krampfhafter Betrübung heilen sollten. Seit 8 Tagen bin ich von dort zurückgekehrt, zwar noch Verstandes 26 und vorzüglich Gedächtnisschwäche verspürend und ab und zu von plötzlichen heftigen Kopfschmerzen gequält, aber doch so weit genesen, daß ich morgen wieder meine Untersuchungen anzufangen gedenke. Ein meine Kräfte übersteigendes Arbeiten, der damit verbundene Mangel an Genuß frischer Luft und an Bewegung, vielfache Sorgen und Gram und Kränkung, hatten mich so weit gebracht und bringen mich Unglücklichen vielleicht wieder in diesen Zustand, der schrecklicher als der T o d ist. Soviel ich meine Lage und meinen Zustand übersehen kann, bin ich vielleicht nur durch gänzliche Veränderung des Ortes und der Verhältnisse und durch Befreiung von den ängstigenden Sorgen theils über die Vollendung meines Werkes, dem hier, zumal für die Herausgabe und den Druck fast unüberwindliche Schwierigkeiten und zeitraubende Hemmungen entgegenstehen, theils für mein Auskommen und den Unterhalt meiner Familie nach meinem Tode, noch zu retten und meinem Werk zu erhalten. Zu dieser Veränderung meiner Lage fehlt es mir aber an aller Aussicht und gänzlich an allem Muthe, einen Schritt dafür zu thun. Ich kann nichts als mich vertrauend und betend den Händen meines Schöpfers übergeben; von ihm hoffe ich gnädiges Erbarmen und Rettung und Heilung. Dein endlicher Brief vom O k t o b e r hat mir herzinnige Freude durch dein freundliches Andenken an mich gemacht, aber auch durch die Nachricht von deiner Kränklichkeit aufs höchste mich beunruhigt. U m Gottes Willen thue bei Zeiten, was bald vielleicht zu spät ist. Wirf Feder und Bücher von dir und lebe eine Zeitlang geistiger Ruhe und körperlicher Anstrengung, aber wenigstens einen Sommer hindurch - und heirathe. Lebten wir an einem Orte, so müßtest du nolens volens mein Schwiegersohn werden, wenn ich keine bessere Parthie für dich auffinden könnte. U n d wenn dann so ein kleiner Hermann, als dein eignes Kind, auf deinen Knien spielte oder dich in die Aue hinaus lockte, sollten dir schon deine Uebel weichen. Wilhelm gedeiht, obgleich ich ihn für schwächlicher 2 7 als dich halte, gewiß viel besser als du und hats Dortchen und dem Kleinen zu danken. Bestelle du meine Bitte an alle 3 - Hermann wird Kauderwelsch genug vorbringen - , daß sie Dich zum Altar treiben sollen. Ja, lieber Grimm, hätte ich nicht Frau und Kind, ich wäre längst untergegangen. - Wilhelm hat mich durch sein Geschenk sehr erfreut, danke ihm herzlich dafür, mit der Bitte, es mir nicht übel zu deuten, daß mein Dank so spät kommt und nur mittelbar durch dich. Könnt er nur Vi Stündchen in meiner Brust sich aufhalten, er verargte mir keines von beiden. Deine Rechtsalterthümer, für deren Uebersendung ich dir sehr dankbar bin, gewähren mir nicht bloß vielfache Belehrung, sondern auch, so oft ich darin lese, die wohltuendste Freude an Geist und Fleiß meines

26

Vgl. J. G R I M M / W .

17

Vgl. J . G R I M M / W . G R I M M , DEUTSCHES WÖRTERBUCH, Bd. 9 : 2 1 6 5 .

G R I M M , DEUTSCHES WÖRTERBUCH, Bd. 12,1:

1566.

73

Schmeller, Graff und die Germanistik ihrer Zeit

liebsten, herrlichen Grimms. Ich denk an Absatz wird es ihm nicht fehlen; die arme Diutiska ist leider zur Ladenhüterin verdammt, wenn nicht von irgend woher wieder einmal eine Anzeige sie unter die Leute bringt. - Auch Schmellers Wörterbuch scheint nicht viel Abgang zu finden und ist doch ein treffliches Werk. Meine flüchtige, mir abgedrungene Recension 28 scheint wenigstens von einer anderen Seite Wirkung gethan zu haben und ihm die Professur näher gebracht zu haben. Welch ein Mensch ist unser Schmeller! O daß du ihn persönlich kenntest, den unschuldigen, liebenswürdigen, redlichsten Menschen voll Talent und einer ihm unbewußten Masse an Kenntnissen! und dabei sein Herz voll inniger, treuer Freundschaft, seine ruhige Demuth und seine stille Kraft im Entsagen und Vergessen! - Du und Er - bessere Menschen giebt es nicht und Euch gab mir Gott zu Freunden und doch verliere ich mich so oft in Jammer! - Was heißt das in deinem Briefe, daß ich Schmeller durch das N N oder etc. einmal in Verlegenheit gebracht habe? Ich verstehe das nicht, wenn du an mich schreibst, so erkläre mir das; es quält mich. - Von Lachmann habe ich seit ich von Berlin zurück bin, kein Wort gehört oder gelesen. Er scheint mich vergessen zu haben, was er nicht sollte. Ich und die Meinigen hatten ihn hier so herzlich lieb und er war fast jeden Abend unser lieber, befreundetster Gast. - Der hiesigen deutschen Gesellschaft hast du nicht nöthig, deine Rechtsalterthümer zu schicken. Aber die Herausgabe der Adjektiva erwartet sie, wie ich glaube, obgleich sie sie in deiner Grammatik finden kann und noch finden wird. Regierungsrath Dr. Lukas ist jetzt Sekretair. Wie erklärst du bitifredum in Muratori Script, rer. ital. t. x. p. 374 2 9 : Speculam, quam langobardi bitifredum appellant? Hast du Hoffmanns Erklärung des ialachenes im Stilleren30 gebilligt? - In ab obana hat er mir mit Recht einen Irrthum nachgewiesen; oder hast du es gethan? Hast du nicht Freude gehabt an Kobersteins Grammatik zu Suchenwirth - der Gewinn dieses Mannes für unsere Sache ist mir von hohem Werth, weil Pforta uns wohl nun mehrere Jünger senden wird 31 . Ich habe angefangen, Otfrid zu einer kritischen Ausgabe zu bearbeiten. Anfangs wollte ich die 3 erfindl. Texte abdrucken lassen; aber ich hoffe mit einem kritisch bearbeiteten Texte fortzukommen, obgleich die Feststellung des ihm zukommenden Lautsystems große Schwierigkeiten hat 32 . Wenn ich nur diesen Sommer das Eintragen aller meiner Glossen beendigen und mit dem folgenden Winter an die Ausarbeitung meines Sprachschatzes gehen könnte! Scherer 33 in München! wäre doch der Tod das Beste. Aber freilich nicht mir, der ich ihn so oft ersehnt habe, käme er doch jetzt etwas ungelegen. Ich bitte dich, den lieben, lieben Wilhelm - kein Wunder, daß du den Jungen so liebst und nicht von ihm lassen kannst - und sein bestes Dortchen aufs herzlichste und viel freundlicher als ich es selbst jetzt thun könnte, zu grüßen und dem kleinen Hermann in meinem Namen ein Bonbon zu geben, damit der Schelm nicht einmal böse wird, wenn ich plötzlich zu Euch komme und Euch umhalse. - Guter Gott, wer das könnte! - Es steht so fern, so unmöglich vor mir und doch sagt mir eine unklare Ahnung, daß ich Euch noch einmal sehen werde - vielleicht wägt34 sie ein Himmel. Bewahrt mir nur Eure Liebe auf! Euer Graff

29

Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik 1825, Nr. 53-56; 428-441. Rerum italicarum Scriptores. Ludovicus Antonius Muratorius collegit, ordinavit, et Prxtationibus auxit, Bd. 10, Mailand 1727: 374.

30

V g l . G R A F F , ALTHOCHDEUTSCHER SPRACHSCHATZ, B d . 2 : 1 5 9 , z u inlachenes

31

AUGUST KOBERSTEIN war seit 1824 Professor an der Landesschule zu Pforta. Vgl. RAUMER: 661. Die Ausgabe erschien unter dem Titel KRIST 1831 in Königsberg. JOSEPH SCHERER (1776-1829), der Direktor der Hofbibliothek in München, war unheilbar erkrankt. SCHMELLER, der SCHERER viel zu verdanken hatte, war einer der wenigen, die sich um ihn kümmerten. (Vgl. T B I: 74*, und Bayerische Staatsbibliothek, J . A. Schmeller [Katalog der] Gedächtnisausstellung: 17f.). Hier verwendet GRAFF ein Wort in einer Bedeutung, die ihm aus seiner Glossenarbeit bekannt

28

32 33

34

,intrinsecus'.

w a r . A u f d i e v o n G R A F F , A L T H O C H D E U T S C H E R SPRACHSCHATZ, B d . 1: 6 6 1 , a n g e f ü h r t e n B e l e g e

wird bei J . GRIMM/W. GRIMM, DEUTSCHES WÖRTERBUCH, Bd. 13: 3089, unter wegen verwiesen. Bei der Etymologie sei an wägen anzuknüpfen. Die Bedeutung ist etwa .behilflich sein'.

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Hans Werner E r o m s

In diesem B r i e f steht GRAFF mit allen Facetten seiner Persönlichkeit vor uns. A b e r diese ist es auch, die sich allzu stark in den V o r d e r g r u n d drängt. So mußte es jedenfalls GRIMM erscheinen. Zudem war er verstimmt, daß GRAFF in der DIUTISKA „ e i g e n e a n m e r k u n g e n macht, die auch schon in der grammatik s t e h e n " 3 5 , daß er ihm den O t f r i d vorenthalten hat 3 6 und ganz besonders wegen seiner OTFRID-Ausgabe. SCHMELLERS HELIAND l o b t GRIMM dagegen sehr 3 7 . H i e r nun macht sich die für die Germanisten der ersten Generation in ihrer A r b e i t s haltung so besonders wichtige Einstellung zu politischen Fragen bemerkbar. GRIMM stößt sich nämlich an der unterwürfigen W i d m u n g GRAFFS an den K r o n p r i n z e n , die noch dazu auf die Zeitereignisse Bezug n i m m t (LEITZMANN: 560). U n d GRAFF hatte in einem B r i e f an GRIMM durchblicken lassen, d a ß er von den Ereignissen, die sich in D e u t s c h l a n d nach der Julirevolution 1 8 3 0 zutrugen, nichts hielt 3 8 . V o n SCHMELLER wissen wir, daß er darüber ganz anders dachte (vgl. EROMS: 183F.). Seine G r u n d h a l t u n g war durchgehend freiheitlich-liberal, wenn er auch nicht wie JACOB GRIMM ZU tätiger Teilnahme a m politischen Leben durchdrang. B e i GRAFF nun überlagert in den dreißiger Jahren die Dankbarkeit dem preußischen Staate und seinem Königshause gegenüber, die i h m in Berlin als ordentliches Akademiemitglied eine ungestörte Arbeit an seinem W ö r t e r b u c h und zugleich eine Lehrtätigkeit an der Universität ermöglichten, die kritische Beurteilung der Zeitereignisse. S o kann er auch die T a t der G ö t t i n g e r Sieben nicht verstehen und äußert sich negativ darüber. U n d das muß GRIMM zu O h r e n g e k o m m e n sein. B e v o r es zu diesen Ereignissen kam, belästigte er GRIMM mit der B i t t e , Subskribenten seines W ö r t e r b u c h s beizubringen (30. 3. 1 8 3 2 : vgl. RAVEN/KING: 185). Anders als LACHMANN, der aus seiner R e s e r v e gegenüber GRAFF immer weniger ein H e h l m a c h t e und ihn offensichtlich links liegen ließ 3 9 und auch WILHELM GRIMM, der sich sehr abfällig über den SPRACHSCHATZ äußerte 4 0 , erkannte GRIMM die Leistung an, wenn er auch in deutlichen W o r t e n Kritik an des „verfs jammerndefn] k l a g e n " in seinem V o r w o r t und an manchen sachlichen Fragen äußert (Kleinere Schriften, B d . 5 : 2 9 2 f . ) . Allerdings muß er einen deutlichen B r i e f an GRAFF geschrieben haben, wie man dessen betroffener A n t w o r t entnehmen kann ( 1 2 . 9. 1836: vgl. RAVEN/KING: 191 f.). W a s nun den Protest der Göttinger Sieben betrifft, so registriert ihn SCHMELLER in seinem T a g e b u c h respektvoll ( T B II: 2 5 4 =

30. 11. 1837, I I : 255 = 25. 12. 1 8 3 7 ) .

GRAFF aber muß sich in einer Gesellschaft übertrieben königstreu geäußert h a b e n . J . GRIMM, in dieser Sache äußerst empfindlich, erkundigt sich bei LACHMANN darüber (12. 3 . 1 8 3 8 ; LEITZMANN: 6 7 9 ; vgl. RAVEN/KING: 1 9 3 f . ) . D e r kann die Angelegenheit einigermaßen aufklären (18. 3. 1838; vgl. RAVEN/KING: 194). D o c h die V e r s t i m m u n g JACOB GRIMMS, die, das m u ß man hinzufügen, auch von GRAFFS wissenschaftlicher K r i t i k an GRIMMS Ablautlehre und v o n seiner Abhandlung ÜBER DIE DEUTSCHE SCHWACHE DEKLINATION herrührt (3. 10. 1 8 3 6 ; LEITZMANN: 6 7 4 ) , änderte sich o f f e n bar auch nicht mehr, nachdem die GRIMMS nach Berlin umgezogen waren. Aus einem

35

J . G R I M M a n K . LACHMANN, 3 0 . 5. 1 8 2 7 , LEITZMANN: 5 1 3 f . ; vgl. RAVEN/KING:

36

A n LACHMANN, 8. 2. 1 8 3 0 , LEITZMANN: 5 4 6 . V g l . R A V E N / K I N G :

37

A n LACHMANN, 2 1 . 2 .

38

A u s B e r l i n , 17. 1 0 . 1 8 3 0 . Vgl. RAVEN/KING:

1 8 3 1 , LEITZMANN: 5 6 0 . V g l . RAVF.N/KING:

177.

180. 183.

182.

39

V g l . d e n B r i e f LACHMANNS an J . G R I M M v o m 8. 2 .

40

U n d a t i e r t e r B r i e f W I L H E L M S AN J A C O B G R I M M , L E I T Z M A N N : 6 4 0 . V g l . R A V E N / K I N G :

1836, LEITZMANN: 6 6 0 , RAVEN/KING:

190f.

191.

Schmeller, G r a f f und die Germanistik ihrer Zeit

75

Brief an BENECKE vom 26. Juli 1841 spricht die tiefe Enttäuschung GRAFFS darüber, daß die GRIMMS in Berlin den Kontakt mit ihm meiden (abgedruckt bei BAIER: 100). 4. GRAFF starb am 18. 10. 1841. Die Nachrufe können noch einmal zeigen, in welcher Weise die damalige Germanistik in die politischen Diskussionen, die immer auch als kollegial-kontroverse erscheinen, eingebunden war. Der ERINNERUNG AN E . G. GRAFF, d i e FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN, GRIMMS u n g e l i e b t e r B e r l i n e r

Kollege,

verfaßte und in der GRAFF gerecht gewürdigt wird, folgt eine .Nachschrift' (VON DER HAGEN: 64—66), die auf einen, GRAFF ganz für die liberale Seite vereinnahmenden Artikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung Bezug nimmt. Diesen letzteren Artikel hat nun SCHMELLER, allerdings kommentarlos, in sein Tagebuch eingeklebt ( T B I I : 319 = 27. 10. 1841). Hierin wird zunächst auf GRAFFS Tätigkeit in der Zeit der Freiheitskriege eingegangen und, nach kurzer Würdigung seiner philologischen Arbeiten, auf seinen 1840 gemachten Vorschlag, ein „Disputatorium" einzurichten, in dem u. a. über Volksvertretung und Pressefreiheit offen diskutiert werden solle. Dazu hatte GRAFF sich mit jüngeren Berliner Schriftstellern zusammengetan. Das Disputatorium wurde natürlich nicht erlaubt. Bei seiner Beerdigung, heißt es, fehlten „die jüngern Schriftsteller, welche Graffs Freunde geworden", „natürlich auch nicht" ( T B II: 320 = 27. 10. 1841). Der Tendenz dieses Artikels steuert die angeführte ,Nachschrift' vehement entgegen. GRAFF wird dort unverblümt als ein treuer Untertan „ m i t der hingehendsten Verehrung des angestammten Fürstenhauses, sowie der bestehenden Staatsordnung" (VON DER HAGEN: 64) hingestellt. Mit Zitaten aus GRAFFS Vorreden zu von ihm herausgegebenen Werken, besonders aus dem NoTKERschen BOETHIUS, in der GRAFF sehr gegen die , , . i m m e r wieder um sich greifende lugathmende, hassesheiße Pest selbstsüchtiger Umwälzungswuth'" (ebd.: 66) zu Felde zieht, wird er hier nun wieder ganz für die staatstreue Partei vereinnahmt. Volksvertretung und Pressefreiheit, „die beiden T u m melplätze des Tages", seien von ihm sicher nur als Redeübungen gemeint gewesen. GRAFF sei in erster Linie Gelehrter gewesen, der mit seinem ALTHOCHDEUTSCHEN SPRACHSCHATZ ein Vermächtnis hinterlassen habe, welches das Deutsche Volk treu zu bewahren habe (ebd.). So weit, so gut. D a aber der Bericht auch den folgenden Passus enthält, nämlich daß GRAFF „die Julirevolution, und Alles was sich daran hängte, was näher oder ferner daraus folgte (selbst die Ausschreitung der Sieben)" kritisch beurteilt habe (ebd.: 64), ist wegen der verdeckten Attacke auch gegen die GRIMMS wohl der wissenschaftspolitische Zweck, vor allem JACOB GRIMM zu treffen, der eigentliche. Wenn v. D. HAGEN Verfasser auch dieser Nachschrift ist, was zu vermuten ist, bedarf es keines Kommentars! GRAFF als Royalisten daraus erkennen zu wollen, wäre jedenfalls unberechtigt. Es wäre auch verwunderlich, wenn SCHMELLER, der so etwas stets aufmerksam registriert, GRAFF SO falsch eingeschätzt haben sollte.

III Die bleibenden Werke SCHMELLERS und GRAFFS sind ihre Wörterbücher. Sicher ist es auch diese Gemeinsamkeit in der Lebensarbeit, die sie besonders verbunden hat. Von SCHMELLER gibt es nämlich, außer seinem fertiggestellten Wörterbuch, eine umfangrei-

Hans Werner Eroms

76

che Sammlung althochdeutscher Glossen, die sich in seinem Nachlaß befindet 4 1 und den Plan für ein „ e r s c h ö p f e n d e s deutsches W ö r t e r b u c h " (vgl. HINDERUNG, Baierischer G r i m m : A 421). In der Anlage des ALTHOCHDEUTSCHEN SPRACHSCHATZES (GRAFF) und des BAYERISCHEN WÖRTERBUCHES (SCHMELLER) zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Beide sind bedeutend. Zweifellos hat SCHMELLER den glücklicheren G r i f f in der A n o r d n u n g seines Materials getan. In der kommentierenden

Literatur

k o m m t er erheblich besser weg als GRAFF. D i e Beurteilungen schwanken zwischen B e w e r t u n g e n wie „ d a s absonderliche W e r k " (NEUMANN: 75) und: „ D a s W e r k dient nun schon über hundert J a h r e der germanistischen F o r s c h u n g : eines ihrer H a u p t w e r k e " (STROH: 404). A b e r vor einer endgültigen Bewertung sollten einige Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die aus der wissenschaftlichen Auffassung der Zeit ihrer A b f a s sung zu verstehen sind. Zunächst ist die uns vertraute alphabetische A n o r d n u n g des W o r t s c h a t z e s für die Zeit der Konzeption der beiden W ö r t e r b ü c h e r nicht selbstverständlich. M o r p h o l o g i s c h angeordnete, die W o r t w u r z e l n erkennen lassende sind die stärker bestimmende T r a d i t i o n . JACOB GRIMM, auf den sich sowohl GRAFF als auch BENECKE berufen, hatte für die historischen deutschen W ö r t e r b ü c h e r die etymologische A n o r d n u n g gefordert (GRIMM 1819: 7 7 f . ) . D i e ältere Tradition der A n o r d n u n g nach W u r z e l w ö r t e r n k o n n t e durch die Entdeckung der Lautverschiebungsgesetze ja nun auf eine ganz andere, sehr viel sicherere Grundlage gestellt werden. Das mußte die E n t scheidung, den W o r t s c h a t z nach Gesichtspunkten der Zusammengehörigkeit anzuordnen, außerordentlich beflügeln. Sowohl GRAFF als auch W . MÜLLER, der BENECKES W ö r t e r b u c h fortführte und mit ZARNCKE z u m D r u c k beförderte, planten obendrein alphabetische Erschließungsindices. Für das GRAFFsche W ö r t e r b u c h wurde er bekanntlich von F . MASSMANN erstellt, für das MITTELHOCHDEUTSCHE HANDWÖRTERBUCH, in anderer Weise,

durch

M . LEXER und für das BAYERISCHE WÖRTERBUCH

durch

K . FROMMANN, wobei aber nicht lückenlos alle W ö r t e r aufgenommen wurden (vgl. RFJFFENSTEIN: 32). D a man neuerdings den W e r t etymologischer W ö r t e r b ü c h e r wieder erkennt (vgl. z. B . SCHLAEFER), verwundert es nicht, wenn F. MASSMANN im V o r w o r t z u m sechsten Band des GRAFFSchen Sprachschatzes in einem die sachliche Anerkennung der GRAFFschen Leistung durch die umständliche stilistische Präsentation sicher auch gleich wieder ein wenig einschränkenden Passus - es ist ein einziger Satz - folgendes schreibt: Ich kann aber nicht schließen, ohne grade aus Anlaß dieses Hauptregisters, so wie jenes dem s. Verfasser nun einmal eigenthümlichen Ansatzes der Wurzeln, der, so weit er mit der Anordnung in Schmeller's bayrischem Wörterbuche übereinstimmt, ganz dem Zwecke solcher zugleich einer tieferen etymologischen Uebersichtlichkeit dienenden Werke angemessen, wie gesagt, nur wegen jener sanskritischen Grundfärbung an nicht wenigen Gebrauchslustigen starke Gegner gefunden hat, dessen ungeachtet, ja um so mehr meine Bewunderung für das durchaus lexikalische Anordnungs-Talent des Seeligen auszusprechen, das ich bei jener genauen Durchlesung und Umstellung des Werkes gewiß erneut zu erkennen Gelegenheit hatte und das er schon durch seinen ersten Versuch über die althochdeutschen Präpositionen an den Tag legte. (GRÄFE 1834ff., Bd. 6: VII). SCHMELI.ERS Sammlungen hat MASSMANN benutzen können, was er dankbar erwähnt ( e b d . : VI).

41

Vgl. Bayerische Staatsbibliothek, J . A. Schmeller, [Katalog der] Gedächtnisausstellung: 125, und HINDERLING, Bairischer Grimm: A 421.

Schmeller, Graff und die Germanistik ihrer Zeit

77

D i e e t y m o l o g i s c h e A n o r d n u n g des W o r t s c h a t z e s bei GRAFF an sich ist es w o h l a u c h n i c h t , die K r i t i k e i n g e t r a g e n hat. D e n n die a l p h a b e t i s c h e A n o r d n u n g ist ja n u r ein p r a k t i k a b l e r r a s c h e r Z u g r i f f a u f den W o r t s c h a t z in F ä l l e n , w o ü b e r ein e i n z e l n e s W o r t A u s k u n f t b e n ö t i g t w i r d . D e r E h r g e i z der W ö r t e r b u c h m a c h e r g e h t a b e r n a t ü r l i c h a u f die D a r s t e l l u n g d e r F ü l l e des W o r t m a t e r i a l s , das in s e i n e r Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t u n d O r d n u n g z u p r ä s e n t i e r e n ist. K r i t i k , v o r allem an GRAFFS A n o r d n u n g s p r i n z i p , ist s o a u c h h a u p t s ä c h l i c h n u r d e s w e g e n g e ä u ß e r t w o r d e n , als e r sich, b e g e i s t e r t v o n BOPPS A r b e i t e n , auf e i n e das S a n s k r i t z u g r u n d e l e g e n d e W u r z e l a n o r d n u n g e i n g e l a s s e n hat. W a r e n derartige W u r z e l a n s ä t z e o h n e h i n s c h o n o f t n u r h y p o t h e t i s c h z u b e g r ü n d e n , s o läßt s i c h GRAFF h ä u f i g z u S p e k u l a t i o n e n h i n r e i ß e n , die n i c h t h a l t b a r sein k ö n n e n . D i e G r o ß g l i e d e r u n g des ALTHOCHDEUTSCHEN SPRACHSCHATZES ist d a g e g e n a u c h u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t der A u f f i n d b a r k e i t d e r W ö r t e r s o u n g e s c h i c k t

eigentlich

nicht: B a n d 1 : D i e m i t V o k a l e n u n d den H a l b v o k a l e n J u n d W a n l a u t e n d e n W ö r t e r B a n d 2 : D i e m i t den L i q u i d e n L , R , M u n d N a n l a u t e n d e n W ö r t e r B a n d 3 : D i e m i t den L a b i a l e n B , P ( P H ) , F a n l a u t e n d e n W ö r t e r B a n d 4 : D i e m i t den G u t t u r a l e n G , K ( C , C H ) , Q u n d H a n l a u t e n d e n W ö r t e r B a n d 5 : D i e mit den Dentalen D ( D T ) , T und Z anlautenden W ö r t e r Band 6 : D i e mit S anlautenden W ö r t e r D i e e i n z e l n e n W o r t a r t i k e l o r d n e t GRAFF a n g e n o m m e n e n W u r z e l n z u . O f f e n b a r w a r e r d e r A u f f a s s u n g , d a ß im S a n s k r i t v o r f i n d b a r e z w e i o d e r drei P h o n e m e

enthaltende

G r u n d - E t y m a den A u s g a n g a u c h f ü r die g e r m a n i s c h e n u n d a l t h o c h d e u t s c h e n

Wörter

d a r s t e l l t e n . D a ß dieser A n s a t z s p e k u l a t i v ist, b r a u c h t n i c h t eigens b e t o n t zu w e r d e n . A b e r h i e r sind z w e i D i n g e zu b e d e n k e n : E i n e r s e i t s ist e t y m o l o g i s c h e F o r s c h u n g i m m e r a u f den F o r s c h u n g s s t a n d ihrer Z e i t z u b e z i e h e n , z u m a l w e n n sie, w i e hier, n i c h t p r i m ä r u m d e r e t y m o l o g i s c h e n E r k l ä r u n g e i n z e l n e r W ö r t e r , s o n d e r n w e g e n der O r d n u n g d e s gesamten erreichbaren W o r t s c h a t z e s v o r g e n o m m e n wird. D a s m u ß einen

Großteil

m ö g l i c h e r K r i t i k a b f a n g e n . GRAFF e t y m o l o g i s i e r t andererseits a u c h n u r b e i den W u r z e l n s e l b s t , i m ü b r i g e n v e r s u c h t er, d e n W u r z e l n m ö g l i c h s t viel W o r t m a t e r i a l z u z u o r d n e n . E r l ä ß t das m e i s t u n k o m m e n t i e r t , b r i n g t a b e r e r r e i c h b a r e Parallelen aus v e r w a n d ten S p r a c h e n , w o f ü r s e l b s t v e r s t ä n d l i c h die o b e n a n g e f ü h r t e E i n s c h r ä n k u n g g i l t , d a ß h i e r n i c h t das e t y m o l o g i s c h e W i s s e n des 2 0 . J a h r h u n d e r t s e r w a r t e t w e r d e n darf. A l s B e i s p i e l f ü r GRAFFS V o r g e h e n s w e i s e sei manön, z w a r u n t e r d e r W u r z e l MAN

manen

( I I : 7 6 7 f f . ) a n g e f ü h r t , das

aufgeführt wird, aber nicht etymologisch genauer be-

s t i m m t w i r d . D i e W u r z e l z u o r d n u n g , bei GRAFF m i t , c o g i t a r e ' a n g e g e b e n , ( I I : 7 3 2 ) ist r i c h t i g 4 2 . E s f o l g e n , w i e i m m e r , alle e r r e i c h b a r e n A b l e i t u n g e n des W o r t e s -en, armanen, kimanoter, manida,

farmanön, manunga

firmanidi).

dazu w i e d e r firmanontlibe, m i t farmanunga,

zuomanunga,

farmanenti, farmana,

zuomanön, farmano,

(gamanon, dazu

framano,

zuafar-

Ist sich GRAFF n i c h t s i c h e r , o b ein W o r t m i t s e i n e r S i p p e d e r

W u r z e l z u z u o r d n e n sei, setzt er ein F r a g e z e i c h e n , so b e i den b e i d e n , den eben a n g e f ü h r t e n f o l g e n d e n L e m m a t a menjan

und minna.

F ü r W u r z e l n , die ein P h o n e m m e h r

u m f a s s e n , h a t er die B e z e i c h n u n g „ S e k u n d ä r w u r z e l n " , w o m i t er z w a r m e i s t d e m e i -

42

Vgl. WAI.DK, Bd. 2 : 265 zu men - .denken, geistig erregt sein' (264).

78

Hans Werner Eroms

gentlichen etymologischen Problem ausweicht, aber die praktische Benutzbarkeit des Sprachschatzes erheblich stärkt. So steht etwas weiter im angeführten Abschnitt MANDjan ( „ z u MAN? oder ist N eingeschoben? cf. auch muntar") ,gaudere' (808) mit seiner Wortfamilie, MUND (,Mund l ) u n d MUND, MUNT, MUNTI ,Schutz' (813). F r e m d w ö r t e r wie MONASTERI, M U N I Z A oder MANDAL sind dazwischengeschoben und durch ihre Schreibweise leicht erkenntlich. Bei der nächsten Wurzel, MAR (819), finden sich zwar größere etymologische Irrtümer, indem z . B . MARI ,Meer' (819) und M A R I , b e r ü h m t ' (821) als zusammengehörig angenommen werden. Aber auch hier gilt, daß die etymologische Bestimmung allein die Wurzel betrifft. G R A F F versieht seine Einträge auch mit Fragezeichen. Die Lemmata selber sind etymologisch dann sozusagen unbelastet und enthalten nicht nur alle Komposita, in denen das Lemma Determinatum ist, sondern es werden auch die Wortbildungen angeführt, in denen es Determinans ist. Ich halte also den Schaden, den der Benutzer des A L T H O C H D E U T S C H E N S P R A C H hat, f ü r nicht so schlimm, wenn er auf falsche etymologische Entscheidungen o d e r besser Vermutungen G R A F F S stößt. Die von G R A F F in der Vorrede angeführte Begründung für seine A n o r d n u n g müssen w i r ernstnehmen und dürfen nicht unser Wörterbuchinteresse herantragen: „ D a der Gebrauch eines althochdeutschen W ö r t e r b u c h s " schreibt er, „sich nicht auf die Aufsuchung einzelner, der Erklärung bedürftiger, Wörter beschränkt, sondern dasselbe auch, und vorzüglich, z u m Studium der Sprache, z u r Uebersicht ihres Gebietes u n d Organismus und zur Vergleichung mit den Schwestersprachen dienen soll, so habe ich einem rein alphabetischen Verzeichnisse der W ö r t e r eine A n o r d n u n g derselben nach den einfachen W o r t s t ä m m e n vorgezogen und diesen nicht allein ihre composita und derivata untergeordnet, sondern ihnen auch, w o es m i r durch Vergleichung mit dem Sanskrit und den späteren verwandten Sprachen möglich war, ihre Wurzeln vorgesetzt" ( G R A F F 1834ff., Bd. 1: VII). Der A L T H O C H D E U T S C H E S P R A C H S C H A T Z also weniger ein Nachschlagewerk, sondern in erster Linie ein Thesaurus des Althochdeutschen im Kreis seiner „älteren Schwestern". „ F o r t g e setzte etymologische F o r s c h u n g e n " hätten Entscheidungen zu korrigieren (ebd.). SCHATZES

D a s ist dann doch im G r u n d e die gleiche Begründung, die S C H M E L L E R f ü r seine A n o r d n u n g heranzieht. U n d in seiner ausführlichen, die Materialfülle des Werkes und die sprachvergleichende Arbeit in den Artikeln gerecht würdigenden Rezension der ersten Lieferung von G R A F F S Sprachschatz schreibt S C H M E L L E R : „ D e r Verf. des alth o c h d . Sprachschatzes hat eine Anordnungsweise gewählt, welche, abgesehen von ihren bedeutenden Erweiterungen, zu tadeln, der Verfasser des bayerischen W ö r t e r b u c h s am allerletzten berufen seyn k a n n " (SCHMELLER 1835:11). D e m GRAFFschen Etymologisieren allerdings steht er wohl etwas reserviert gegenüber 4 3 ; und es gibt auch sonst einen entscheidenden Unterschied: S C H M E L L E R spricht davon, daß „ d e r innere wissenschaftliche Zweck eines solchen Wörterbuchs, über welchen kein Freund der Sprachvergleichung und Sprachforschung im Zweifel seyn k a n n " , die etymologisch-alphabetische O r d n u n g rechtfertige. Aber die „ ä u ß e r e praktische Brauchbarkeit" des Ganzen hat zur alphabetischen A n o r d n u n g innerhalb des Konsonantengerüstes geführt ( S C H M E L L E R 1872, 1: VII). I. R E I F F E N S T E I N hat gerade herausgearbeitet, wie S C H M E L I.FR hiermit und dnnn doch auch wieder in seinen etymologischen Z u o r d n u n g e n fast 43

In einem Brief an BARTHOLOMÄUS KOPITAR v o m 7. Mai 1841 lesen wir, daß j e m a n d G r a f f i s c h e r K ü h n h e i t " eine W o r t w u r z e l b e s t i m m t habe (WINKLER: 977).

„mit

Schmeller, Graff und die Germanistik ihrer Zeit

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immer das Richtige getroffen hat (REIFFENSTEIN: 3 0 f f . ) D e n n er ging offensichtlich davon aus, daß man ein W o r t in seinem W ö r t e r b u c h nachschlägt (SCHMELLER 1872, Bd. 1: V I I I ) . GRAFF dachte bei der praktischen Benutzbarkeit seines W ö r t e r b u c h e s mehr an ein „ H i l f s m i t t e l " für das durch GRIMM begründete und eingeleitete „ h i s t o r i sche Studium der deutschen S p r a c h e " (GRAFF 1 8 3 4 f f . , Bd. 1: X X X I ) . In solchen Fragen zeigt sich der Unterschied zwischen SCHMELLER und GRAFF deutlich: SCHMELLER ist der Realistische', GRAFF der ,romantische' Gelehrtentyp. D a d u r c h unterliegt seine Beurteilung schon bei den Zeitgenossen auch so starken Schwankungen. Es spricht für die Objektivität und für die Bereitschaft zur Anteilnahme an ganz anders gearteten Persönlichkeiten bei SCHMELLER, daß sich zwischen GRAFF und ihm eine echte Freundschaft entwickeln konnte.

Literaturverzeichnis BAIER, R. (Hg.): Briefe aus der Frühzeit der deutschen Philologie an Georg Friedrich Benecke, Leipzig 1901 (Wiesbaden 1966). BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK: Johann Andreas Schmeller 1785-1852. [Katalog der] Gedächtnisausstellung zum 200. Geburtsjahr, München 1985. BENECKE, G. F . : Rezension von E. G. Graff, Die althochdeutschen Präpositionen, in: Göttingische gelehrte Anzeigen. Bd. 2 (1824): 721-726. BENECKE, G . F . / M Ü L L E R , W . / Z A R N C K E , F . : M i t t e l h o c h d e u t s c h e s W ö r t e r b u c h , L e i p z i g

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80

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Andreas

S c h m e l l e r 1 7 8 5 - 1 8 5 2 ' in der Bayerischen S t a a t s b i b l i o t h e k , in: B ö r s e n b l a t t für den D e u t s c h e n B u c h h a n d e l , F r a n k f u r t e r Ausgabe. Aus dem A n t i q u a r i a t II ( 1 9 8 5 ) : A 4 1 9 - 4 2 4 . KARG-GASTERSTÄDT, E . : E b e r h a r d G o t t l i e b G r a f f , in: N e u e deutsche B i o g r a p h i e , B d . 6, B e r l i n 1964:730-731. KARG-GASTERSTÄDT, E . , FRINGS, T H . : A l t h o c h d e u t s c h e s W ö r t e r b u c h , Berlin 1952 ff. LEITZMANN, A . ( H g . ) : B r i e f w e c h s e l der B r ü d e r J a c o b und W i l h e l m G r i m m mit Karl L a c h m a n n , B d . 1, 2, J e n a 1 9 2 7 . LEXER, M . : M i t t e l h o c h d e u t s c h e s H a n d w ö r t e r b u c h . Zugleich als Supplement und a l p h a b e t i s c h e r Index

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Sprachlehre oder Grammatik? Jacob Grimms Einfluß auf das sprachwissenschaftliche Denken Johann Andreas Schmellers Bernd Naumann

(Erlangen)

I

VERSUCH EINER GRAMMATISCHEN DARSTELLUNG DER BAYERISCHEN &

OBERPFÄLZI-

SCHEN M U N D A R T ; ALS BEYTRAG ZUR VERGLEICHENDEN DEUTSCHEN SPRACHLEHRE h a t te JOHANN ANDREAS SCHMELLER a m 1 2 . M a i 1 8 1 8 s e i n e G r a m m a t i k ü b e r s c h r i e b e n , d i e

uns in dieser frühen Fassung nicht erhalten ist. D a s V o r w o r t dazu umfaßte 16 handgeschriebene Blätter, von denen heute noch vier existieren, die beiden ersten und die beiden letzten. Auch die detaillierte Gliederung des Inhalts ist noch erhalten, sie besteht aus acht Blättern. D a s Manuskriptfragment wird heute zusammen mit SCHMELLERS handschriftlichem N a c h l a ß unter dem Stichwort „ S c h m e l l e r i a n a " in der Bayerischen Staatsbibliothek M ü n c h e n aufbewahrt. Es ist inzwischen auch veröffentlicht worden, in der v o n

ROBERT HINDERLING b e s o r g t e n

Neuausgabe

der Arbeit von

ROCKINGER

(1985: 322-331).

SCHMELLER hat seinen „ V e r s u c h " in veränderter F o r m und unter anderem Titel erst drei J a h r e nach der U n t e r z e i c h n u n g des V o r w o r t s veröffentlicht, weil er unter dem Eindruck der GRiMMschen G r a m m a t i k , deren V o r w o r t JACOB GRIMM ebenfalls 1818 (in Kassel) unterzeichnet hatte, und die 1819 im D r u c k erschienen war, seine eigene Arbeit noch einmal überdenken wollte. „ G r i m m s historisch begründete D e u t s c h e G r a m m a t i k , die manches meiner Hirngespinste auseinanderbläst, beschäftigt mich s e h r " , schrieb er am 16. J u l i 1819 in sein Tagebuch. N a c h dem, was SCHMELLER in seiner Antrittsvorlesung am 8. Mai 1827 im R ü c k b l i c k auf diese Zeit erinnernd vortrug, waren diese „ H i r n g e s p i n s t e " Ideen zur Sprachgeschichte: Ich sah, wie sehr ich die organische Natur der Sprache darin verkannt hatte, daß ich glaubte, das, was war, müsse durch das, was ist, erklärt und gemeistert werden, statt das ewige Gesetz alles Organismus's zu bedenken, nach welchem alles, was ist, nur aus dem, was war, hervorgegangen seyn kann. - A u f diesem Standpunkt befand ich mich, als Jac. G r i m m ' s deutsche Grammatik erschien (1827: 8 f . ) .

Hier vertauscht SCHMELLER im R ü c k b l i c k wohl Ursache und Wirkung, denn wenn er 1819 wirklich schon Erkenntnisse gehabt hätte, für die GRIMMS G r a m m a t i k nur noch die nachträgliche Bestätigung gewesen wäre, hätte GRIMM ja wohl keine „ H i r n g e s p i n s t e " m e h r auseinanderblasen müssen. Auch die handschriftliche Eintragung in S c h m e l lers eigenes Exemplar der MUNDARTEN BAYERNS bestätigt diese A n n a h m e :

84

Bernd Naumann

Schon im M a y 1818 legte ich der philologisch-philosophischen Classe der K. Akademie der Wissenschaften eine grammatische Darstellung der bayerisch-oberpfälzischen Mundart vor. Später gewann ich über Manches umfassendere Ansichten. Es erschien J . G r i m m s deutsche Grammatik. Es wurden mir im Sommer 1820 vom K. Grenadier-Garderegiment auch Leute aus Franken, Schwaben und dem Rhein zugeschickt. Das bestimmte mich die Arbeit von 1818 ( ) ganz umzuschmelzen und dieselbe über alle Dialekte des gegenwärtigen Bayerischen Staates auszudehnen ( ) Als ich den ersten Abschnitt über die Aussprache in die Druckerei schickte, hatte ich vom zweiten oder eigentlichen grammatischen nur erst die Idee im K o p f (abgedruckt in HINDERUNG 1985: 243).

JACOB GRIMMS Grammatik war also offenbar für SCHMELLER in der Tat der Anstoß zur Umarbeitung seiner eigenen. Auch die Ausweitung seines Belegmaterials über ganz Bayern hat das Beispiel GRIMMS wohl zumindest mitveranlaßt, denn dessen historischvergleichende Arbeit behandelte ja auch die ganze Germania, nicht nur Ausschnitte daraus. (Man kann auch durchaus SCHMELLERS letzten hier zitierten Satz ernst nehmen, daß er „vom zweiten oder eigentlichen grammatischen (Abschnitt) nur erst die Idee im Kopf" hatte, als er die ersten Kapitel über die Aussprache schon zum Drucker schickte. Diese „Idee im Kopf" bestand in der Umordnung seines Belegmaterials nach den Prinzipien der historischen Grammatik GRIMMS.)

II SCHMELLERS Grammatik erschien dann 1821 unter dem neuen Titel DIE MUNDARTEN BAYERNS GRAMMATISCH DARGESTELLT VON JOHANN ANDREAS SCHMELLER.

„Sprach-

lehre" mag er sein Buch jetzt nicht mehr nennen, er kann es auch nicht, wenn er GRIMMS kategorische Worte im Ohr hat: „Auch kann man Sprache nicht lehren, sondern nur daran lernen" (1819: X X I I ) , hatte jener mit Bezug auf Adelungs Sprachlehren geschrieben. Auf die Formulierung des Titels also hat GRIMM wohl Einfluß gehabt; wie steht es mit diesem Einfluß auf die Grammatik selbst? Aus SCHMELLERS handschriftlichem Inhaltsverzeichnis von 1818 läßt sich die ursprüngliche Anlage seiner Grammatik gut erkennen. „In der gramaticalen Verknüpfung des Wörter Vorraths einer Sprache stellen sich die wunderbaren Operationen unseres Denkens gleichsam äußerlich dar. Sie verdienen also schon an & für sich alle Aufmerksamkeit des Beobachters", heißt es im Vorwort: Die damals noch zeitübliche aufgeklärte Überzeugung, daß in der Struktur der Sprache unser Denken sichtbaren und hörbaren Ausdruck gefunden hat. Die ersten 134 Paragraphen sollten „Eigenheiten der bayerischen & oberpfälzischen Aussprache" beschreiben, ihnen sollten 85 Paragraphen „Wortbildung" folgen, dann das Kernstück jeder traditionellen Grammatik, die Darstellung von Deklination und Konjugation (§ 221-296), dann ein Abschnitt über die „Unveränderlichen Redetheile" (§ 297-321), einige Bemerkungen zur Syntax: „Verschiedene Eigenheiten in der Construction" (§ 322—327) und gewissermaßen als Anhang oder Ausklang ein Paragraph (328) über „Figürliche und sprichwörtliche Redensarten". Dies ist die traditionelle Anlage jeder auf die systematische Behandlung der Partes orationis gegründeten Wortartengrammatik, wie sie lange vor und lange nach SCHMELLER mit kleinen Variationen üblich war. Ungewöhnlich an SCHMELLERS Anlage ist nur die sehr ausgedehnte Behandlung von Prosodie, also Lautlehre, ungewöhnlich aber wiederum nicht, wenn man bedenkt, daß es sich bei SCHMELLERS Grammatik ja

85

Sprachlehre o d e r G r a m m a t i k

um eine Mundartgrammatik handelt, in der der Lautstand der verschiedenen, in Bayern gesprochenen Dialekte dargestellt werden sollte. Unter dem Einfluß der GRiMMschen Grammatik verändert sich diese Anlage in einzelnen Punkten, es verändert sich dabei aber auch die Gesamtkonzeption der Formenlehre. GRIMM behandelt im ersten Band der ersten Auflage nur die Flexion der germanischen Sprachen; erst in der zweiten Auflage von 1822 liefert er gewissermaßen die Lautlehre nach. In weiteren Bänden sollte dann die Wortbildung folgen (1826 und 1831), an Syntax war zunächst nicht gedacht, sie folgte etwas lustlos und fast widerwillig erst nach vielen Jahren (1837) - und vermehrte seinen wissenschaftlichen Ruf nicht sonderlich. Die historisch-systematische Darstellung der Formen stand für GRIMM im Mittelpunkt der Grammatik und Sprachgeschichte. Reichtum an synthetischen Formen, an Flexiven, war für ihn gleichbedeutend mit Vitalität und Ursprünglichkeit. Über die Morphologie der Sprache wurde von ihm „die innere Stärke der alten Sprache mit dem scharfen Gesicht, Gehör, Geruch des Wilden, ja unserer Hirten und Jäger, die einfach in der Natur leben" (1819: X X V I I ) sinnlich imaginiert. Die Formen, Wurzeln und Endungen, waren für ihn der Ausweis der kulturellen Entwicklung einer Sprache und eines Volkes. SCHMELLER kann sich dieser suggestiven Wertschätzung der Morphologie nicht entziehen. Er behandelt Deklination und Konjugation jetzt unmittelbar nach der Lautlehre. Der Syntax-Teil fehlt jetzt ganz, ebenso die separate Behandlung d e r , , Unveränderlichen Redetheile". Die Wortbildung ist stark zusammengestrichen und rangiert nun, wie bei GRIMM erst nach der Darstellung der Deklination und Konjugation. Wortbildung, so meint SCHMELLER jetzt, gehöre nicht mehr zur eigentlichen Grammatik, sondern zum lexikalischen Teil der Sprache; sie erhält deshalb auch einen entsprechenden Terminus: „ N a c h Abhandlung der Deklination und Konjugation oder der eigentlichen Grammaticalformen, als des Beweglichen und Lebenden in der Sprache, folgen hier noch einige übersichtliche Bemerkungen über solche Formen, die als bleibende Wörter und Bestandtheile von Wörtern in der Sprache dastehen und zunächst eine Aufgabe des Lexicon sind" (1821: 401) heißt es jetzt in der Einleitung der Darstellung der Wortbildung. Das durch GRIMM sehr verstärkte Interesse an der Morphologie zeigt sich deutlich in SCHMELLERS ausführlichen, an dieser Stelle ungewöhnlichen „Vorbemerkungen" (1821: 177-184) zur Formenlehre. Zunächst lesen sich seine Ausführungen wie die zu einer Allgemeinen Grammatik, mit der SCHMELLER ja gut vertraut war (er erwähnt JOHANN SEVERIN VATER u n d J O S E P H KASPAR SCHMID i m V o r w o r t ) .

E s ist die

Rede

vom Wahrnehmen, vom Sein, von der Erkenntnis und von der Rolle der Sprache beim Erkenntnisvorgang und bei der Kommunikation. In der Tat steckt in diesen Seiten ein vollständiges sprachtheoretisches Programm, das hat RÜDIGER HARNISCH in einem ausführlichen Aufsatz deutlich gemacht 1 . Man würde danach eine Klassifikation der

1

HARNISCH geht es in seinem A u f s a t z v o r allem u m SCHMELLER als universalistischen G r a m m a t i ker. E r diskutiert und evaluiert daneben alle wichtigen neueren A r b e i t e n zu SCHMELLERS s p r a c h wissenschaftlicher P o s i t i o n , also die A r b e i t e n v o n BRUNNER ( 1 9 7 1 ) , REIFFENSTEIN ( 1 9 8 1 ) , W I E SINGER ( 1 9 7 9 ) und WISSMANN ( 1 9 5 8 ) . - D i e meisten sprachtheoretischen Schriften SCHMELLERS sind n o c h unveröffentlicht. U n t e r der Ü b e r s c h r i f t „ Z u r Philosophie der Sprache und S p r a c h v e r g l e i c h u n g " liegen 22 H e f t e mit s p r a c h t h e o r e t i s c h e n Aufsätzen (etwa über „ G e n u s " , „ W o r t b i l d u n g " , „ N u m e r u s " , „ V e r h ä l t n i s des D e n k e n s z u r B e z e i c h n u n g des D e n k e n s " , „ U r t h e i l e n und

86

Bernd Naumann

Partes orationis nach den Teilen des Urteils erwarten, also nach Subjekt, Prädikat und K o p u l a , s o e t w a w i e dies b e i VATER ( 1 8 0 1 : 1 6 3 - 1 7 3 ) o d e r S C H M I D ( 1 8 0 7 : 5 0 - 5 9 )

zu

lesen ist. Stattdessen argumentiert SCHMELLER mit dem Abstraktionsgrad der verschiedenen Wortarten. Verben seien das Abstrakteste in der Sprache, die „abgezogenste und selbstständigste Mittheilungsweise" (1821: 179). Benütze man Nomina zur Bezeichnung von Gegenständen, so könne man zugleich auf jene hindeuten; Verben als Ausdruck „des Bewegens oder Bleibens" (1821: 178) könne man allenfalls pantomimisch darstellen, deshalb seien Verben abstrakter, „abgezogener" als Nomina, im eigentlichen Sinne Sprache, die insgesamt ja auch Abstraktion sei. Deshalb auch, so meint Schmeller, die lateinischen und griechischen Bezeichnungen verbum und gf|na für Wort schlechthin. Verba und Nomina bilden also mit abnehmender Tendenz in der Abstraktion die Klassen eins und zwei der Redeteile. Die dritte Klasse bilden all jene Wortarten, die der grammatischen Organisation der beiden ersten Klassen dienen. Dazu gehören also, wie üblich, alle Wortarten der geschlossenen Klasse, bei SCHMELLER aber auch alle Flexive. Er begründet diese zunächst überraschende Klassifizierung universalgrammatisch am Beispiel der Kasusflexive, die sämtlich „Complementbegriffe zum Verbum" (1821:181) seien. Diese Complementbegriffe könnten in verschiedenen Sprachen ganz unterschiedlich realisiert sein, im Deutschen z. T. durch Flexive, z. T . durch Adverbien und Präpositionen. „ D a ß in unserer Declination kein besonderer Casus für das Zeitverhältniß (Casus temporalis) aufgeführt wird, ist nur zufällig" (1821:182), sagt er, und: „ F ü r den Complementbegriff des Ortes ist keine Flexion des Verbs üblich. Er muß also durch eigne Deut- oder durch Nennwörter angegeben werden. Wo in der Declination kein eigner Casus localis vorkommt, ist dies ebenfalls zufällig" (1821: 182). Und ebenso seien ein „Casus modalis, conditionalis, causalis, consequentialis" etc. als synthetische Formen denkbar, aber nicht notwendig. Deshalb müßten Flexive und alle zur grammatischen Organisation gehörenden Wortklassen, also Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen, aus logisch-semantischen Gründen als Einheit beschrieben werden. An sich ist SCHMELLERS Klassifizierung nichts anderes als die klassische, von der Morphologie bestimmte, voradelungsche Klassifizierung in I. Declinabilia, II. Conjugabilia und III. Particulae. Diese Klassifizierung wurde etwa seit GOTTSCHED kategorialsemantisch interpretiert, als Dreiheit aus Sein ( = Declinabilia), Werden ( = Conjugabilia) und der Relation ( = Particulae). In der ADELUNG-Tradition wurde sie dann z . T . durch stärker semantisch orientierte Einteilungen verdrängt, oder zumindest überlagert. Was SCHMELLER von dieser Tradition unterscheidet, ist das viel größere Gewicht, das die Morphologie bei ihm erhält. Dadurch daß der gesamte Formenbestand der Grammatik seinen kategorial-semantischen O r t in diesem klassischen Dreierschema der Partes orationis erhält, reduziert es sich in der Darstellung auf ein Zweierschema, auf Deklination und Konjugation. Die dritte Klasse, die Particulae, muß in diese beiden Klassen integriert werden, weil ja auch alle Flexive hier behandelt werden. Damit wird die „Logik der Morphologie" zum Motor der Sprache überhaupt, erhält ähnliches Gewicht wie bei GRIMM, aber nicht mit historisch-diachronischer, sondern mit universalistisch-synchronischer Begründung.

S c h l i e ß e n " , „ S o g e n a n n t e B e g r i f f e a p r i o r i " , „ D e i x i s " , „ D a s D e n k e n verglichen mit der M u s i k " ) in der B a y e r i s c h e n S t a a t s b i b l i o t h e k . Es handelt sich dabei überwiegend um f r ü h e A r b e i t e n SCHMELLERS.

Sprachlehre o d e r G r a m m a t i k

87

In der ausführlichen Rezension der ScHMEi.LERschen Grammatik, die am 5. Februar 1822 in der „Münchener allgemeinen Literatur-Zeitung" erschien (81-85), und die, wie wir wissen, weitestgehend von SCHMELLER selbst stammt (siehe dazu ROCKINGER 1886: 22-24), heißt es nach der Besprechung der Lautlehre: „ I n der weit wichtigern D a r s t e l l u n g der SPRACHFORMEN, einer Darstellung, welche, als eine vorzüglich gelungene Arbeit, keinem teutschen G r a m m a t i k e r unbekannt bleiben sollte, legt der Verf. z u f ö r d e r s t einen, gegründeten, Werth auf die vorangeschickte einfache E n t w i c k l u n g der sogenannten Redetheile ( ), welche E n t w i c k e l u n g ( ) zur B e a n t w o r t u n g der Frage über die E n t s t e h u n g der Sprache, und in die allgemeine G r a m m a t i k g e h ö r t " (1822: 82).

Traditionell ist die rationalistische Begründung der Partes orationis in der Phylogenese der Sprache, traditionell ist auch ihre universalsprachliche Explikation, neu, und kaum anders als mit dem Einfluß GRIMMS zu erklären, ist die Rolle der Morphologie in diesem K o n z e p t : Bei den Allgemeinen Grammatikern und bei ADELUNG war die Morphologie als sekundäres Element in die alles dominierende kategorial-semantische Darstellung der Partes orationis integriert. Jetzt ist die Morphologie das Zentrum der Sprache, alle Formen und alle Wortarten werden unter den Überschriften „ F o r m e n der Declination" und „ F o r m e n der C o n j u g a t i o n " dargestellt, auch die, bei denen es nichts zu deklinieren oder zu konjugieren gibt.

III GRIMMS Einfluß zeigt sich auch im Detail, vor allem bei der Behandlung der Deklination. N a c h dem Plan von 1818 wollte SCHMELI.ER die Flexion der Adjektive so darstellen, wie dies synchronisch verfahrende Grammatiken seiner Zeit üblicherweise taten (etwa im Anschluß an ADELUNG 1782 I: 617-627), und wie dies noch heute Grammatiken der deutschen Gegenwartssprache tun, als 1) „Adjectiv ohne davorgehendes DeutW o r t " und 2) „Adjectiv mit davorgehendem D e u t W o r t " (§ 247-251). Die Substantive wollte er in „adjectivisch" und „nichtadjectivisch" deklinierte Klassen gliedern ( § 2 5 2 f . ) . Vor allem wollte er den komplizierten Verhältnissen der Pluralbildung viel Raum widmen (§ 254-262). N u n hatte GRIMM das die gesamte Morphologie kennzeichnende Begriffspaar „ s t a r k / s c h w a c h " geprägt und die Benennung der Deklination des Substantivs nach dem Adjektiv als „ v e r w e r f l i c h " bezeichnet (1819:137), zusammen mit allen anderen Bezeichnungen, die zu seiner Zeit dafür benutzt wurden. SCHMELLER schließt sich bei der Anordnung der Deklination an GRIMM an, d. h. er ordnet alle Nominalformen (Pronomen, Artikel, Adjektiv und Substantiv) unter diese Dichotomie. Er betont jedoch, daß etwa FULDAS gegenwartssprachliche Bezeichnungen „ s c h e matisch" oder „ a b s t r a c t " ( = stark) und „ e m p h a t i s c h " oder „ c o n c r e t " ( = schwach) genauso gut oder schlecht seien und wählt dann die unverbindlichen Siglen „ e r s t e " ( = starke) und „ z w e i t e " ( = schwache) Deklination (1821: 185). Wie schon bei der Gewichtung der Morphologie insgesamt, wertet er auch hier im Detail GRIMMS historische Argumente rationalistisch-gegenwartssprachlich um: „ D a diese letztere ( d . h . GRIMMS „ s c h w a c h e " ) , was die äußere F o r m betrifft, meistens v o n jener ersteren ( d . h . GRIMMS „ s t a r k e r " ) bestimmt o d e r regiert wird, und in soferne von derselben abhängig ist, und da nicht selten auch ein gewisser innerer logischer Unterschied zwischen b e y d e n

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Bernd N a u m a n n

statt hat, indem durch jene ein bereits zuerkanntes Prädicat, ein schon ergangenes Verstandes= U r t h e i l , also etwas schon Bestimmtes ausdrückt, durch diese aber ein Prädicat wirklich zugesprochen, ein Urtheil erst gefällt, also eben erst etwas bestimmt wird - könnte die erste auch die bestimmende oder selbständige die zweyte die bestimmte oder abhängige, jene die active, diese die passive; jene die hindeutende oder pronominale, diese die benennende oder substantivische u. dgl. genannt werden, wenn überhaupt durch neue, die Sache doch nie erschöpfend bezeichnende N a m e n etwas gewonnen w ä r e " (1821: 185F.; vgl. dazu auch HARNISCH 1985: 66f.).

In seiner Selbstrezension weist SCHMELLER noch einmal ausdrücklich auf seine rationalistische Interpretation der von GRIMM historisch intendierten Unterscheidung stark/ schwach hin: „Ferner ist ganz neu und sehr vortheilhaft die Ordnung, in welcher die declinablen Redetheile aufgeführt sind. Was die Eintheilung in zwey Declinationsarten betrifft, ist der Verfasser Fulda'n und J . Grimm gefolgt ihm aber gehört der gelungene Versuch einer logischen Begründung dieser Verschiedenheit" (1822: 82). (Bei der Anordnung aller N o m i n a nach diesen beiden Deklinationsklassen behält SCHMELLER die schon 1818 geplante Reihenfolge bei, d.h. er beginnt mit den Pronomina, weil sich hier der größte Formenreichtum zeigt, und behandelt erst danach Adjektive und Substantive - GRIMM ordnet genau umgekehrt!). Die Anordnung nach Deklinationsklassen, anstatt wie üblich (auch bei GRIMM) nach Wortklassen hat zur Folge, daß Zusammengehörendes in der Grammatik sehr weit auseinandergerissen wird, (zwischen der Darstellung der starken und schwachen Substantive liegen 22 Paragraphen!). GRIMMS Unterscheidung stark/schwach ist bei SCHMELLER zwar oberstes Gliederungsprinzip, wird aber nicht konsequent weitergeführt. Er müßte ja jetzt systematisch der Reihe nach alle starken, d. h. vokalischen Klassen behandeln und danach alle schwachen, d. h. konsonantischen. D a SCHMELLER aber im Gegensatz zu GRIMM immer noch eine Grammatik der Gegenwartssprache seiner Zeit schreiben möchte, verwendet er auf allen weiteren Gliederungsebenen gegenwartssprachliche Kriterien, d. h. die Form des Genitivs Singular für die Einteilung der starken Substantive, das Genus für die schwachen, was schon damals hochsprachlich unvertretbar, im Hinblick auf die bayerischen Dialekte aber durchaus akzeptabel war, denn hier gab und gibt es in allen drei Genera noch schwache Formen (hochsprachlich nur noch bei Maskulina). Die für die Gegenwartssprache, auch für die Dialekte wichtige systematische Darstellung der Pluralformen, deren Klassen ja mit denen des Singulars nicht zusammenfallen, fällt unter dem Einfluß GRIMMS ganz aus der Beschreibung heraus. 2 2

ROBERT HINDERLING verdanke ich den Hinweis, daß sich unter den „Schmelleriana" unter der N r . VIII/19 „ E x z e r p t e aus G r i m m s Grammatik 229 e B l " befinden. SCHMELLER hat diese umfangreichen Exzerpte dazu benützt, seine gegenwartssprachlichen Beispiele durch parallele Belege aus älteren Sprachstufen des Deutschen anzureichern, was er allgemein ja auch im Vorwort festgehalten hat. Ein genauer Vergleich der Exzerpte mit der Grammatik von 1821 würde zeigen, welche Belege von GRIMM stammen, also das Ausmaß des GRiMMschen Vorbildes im Detail belegen.

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Sprachlehre oder Grammatik 1818 Dritter Abschnitt. Declination der Mundart (§§ 2 2 1 - 2 6 2 )

1821 Zweyter Abschnitt. Formen Vorbemerkungen Formen der Declination (S. 185-304)

Betrachtungen über das Pronomen (DeutWort) überhaupt. Das Pronomen personale der 3ten Person Typus der deutschen Declination. Declination der Pronomina.

Erste oder selbstständige Declinationsart Pronomina der ersten, zweyten und dritten Person. Pronomina reciproca Pronomina possessiva Pronomen und Artikel: der, die, das P r o n o m e n interrogativum P r o n o m i n a l = F o r m e n : diu, wiu, da, wä, et, icht, nicht, nichts Zahlwort und Artikel: ein Zahlwörter: zwei, drei u. s. w.

Declination des Adjectivs, ohne vorangehendes DeutWort. Declination des Adjectivs, mit vorangehendem DeutWort.

N o m i n a adjectiva

Declination des Substantivs, adjectivische Declination nicht=adjectivische Declination. PluralFlexion lte, 2te und 3te Art der PluralFlexion

N o m i n a substantiva

Zweite oder abhängige

Vierter Abschnitt. Einfache ConjugationsForrnen (§§ 2 6 3 - 2 9 6 ) Nicht beumlautende (reguläre) Conjugation Verba, welche in der hochdeutschen Conjugation beumlautet werden, in der baierischen aber nicht. Eigenheiten der Verba, deren Wurzel auf Vokal endet. Beumlautende (irreguläre) Conjugation Verba, die im baierischen Dialekt, nicht aber im hochdeutschen beumlautet werden. Verschiedene abweichende Verba des Dialekts. Transitive und intransitive Form. Bemerkungen über einfache ConjugationsFormen: Präsens, Conditionalis, Infinitiv, Particip präsens und präterii.

Declinationsart

Pronomina Adjectiva Substantiva Masculina, Feminina, N e u t r a Dialektischer Gebrauch der Casus G e n u s der Substantiva Diminutiva Comparation Formen der Conjugation (S. 305—392) Einfache Conjugationsformen U m e n d u n g der Verba Beumlautung der Verba Aufzählung der U m l a u t = V e r b a Uebergang der Verba aus der umlautenden in die blos umendende Conjugation

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Bernd N a u m a n n

Zusammengesetzte ConjugationsFormen

Zusammengesetzte Conjugationsformen

Präteritum mit Seyn, mit H a b e n . F u t u r u m . Passivum.

Supinum der Verba in V e r b i n d u n g mit H i l f s = oder anderen Verben Infinitiv oder Particip Präsens der V e r b a verbunden mit H i l f s = oder anderen Verben Bemerkungen über die N e n n f o r m e n des Verb u m insbesondere V e r b a l = S u b s t a n t i v a oder S u p i n u m und Infinitiv V e r b a l = A d j e c t i v a oder Participia

B e m e r k u n g e n und Ansichten über das deutsche V e r b u m überhaupt.

SCHMELLERS U m o r d n u n g der Deklination war also für seine Grammatik nicht gerade förderlich, bei der Beschreibung entstanden Inkonsequenzen und für die Gegenwartssprache wichtige Fragen wurden nicht mehr behandelt. Vielleicht hat SCHMELLER dies auch selber empfunden, denn bei der Darstellung der Konjugation übernimmt er nichts von GRIMM. „ D i e von der in den bisherigen teutschen Grammatiken üblichen sehr abweichende Darstellungsweise der Conjugation hat der Verf. sich nur auf vieljähriges N a c h d e n k e n über diesen Gegenstand e r l a u b t " (1822: 83), sagt er zutreffend in seiner Selbstrezension. Er behält seine ursprüngliche Anordnung von 1818 voll und ganz bei und läßt sich auch terminologisch nicht von GRIMM beeinflussen, obgleich ihm GRIMM hier den treffenden T e r m i n u s „ A b l a u t " angeboten hat, anstelle der traditionellen, aber unschärferen Bezeichnung „ U m l a u t " . SCHMELLER nennt auch 1821 die starken Verben noch „ u m l a u t e n d e " . Auf den Einfluß GRIMMS gehen nur die Schlußkapitel über die N o m i n a l f o r m e n der Verben zurück, die es in der Fassung von 1818 noch nicht gegeben hat und mit denen auch GRIMM seine Formenlehre abschließt. D a ß SCHMELLER über die unter dem Einfluß der GRiMMschen Grammatik nur halbherzig veränderte Anlage seiner eigenen nicht glücklich war, geht aus dem Begleitbrief h e r v o r , d e n er s e i n e m B u c h an s e i n e n F r e u n d F R A N Z VON PAULA H O H E N E I C H E R a m

28. September 1821 beilegte: Endlich bin ich einmal im Stande, E w . H o c h w o h l g e b o r n den A n f a n g und das Ende des Büchleins zu übersenden, das mich wahrlich weit mehr M ü h e und z u m Theil auch Verdruß gekostet hat, als ich je glauben konnte, ohne d a ß ich annehmen darf, daß es in diesem Maße auch an Werth gewonnen habe (ROCKINGER 1886: 21).

IV Ergebnis dieser skizzenhaften Gegenüberstellung von SCHMELLERS und GRIMMS G r a m m a t i k - K o n z e p t i o n e n scheint also im wesentlichen zu sein, daß SCHMELLER auch unter dem Einfluß GRIMMS Rationalist in der Tradition des 18. Jahrhunderts blieb. Dieses Ergebnis w ü r d e sich auch gut in die gängigen Auffassungen über die wissenschaftsgeschichtlichen Positionen beider einpassen, die man seit dem Aufsatz von HERMANN KUNISCH (1949) in Handbüchern lesen kann. Auch SCHMELLER selber verstand offenbar seine G r a m m a t i k in erster Linie als Beitrag zur Allgemeinen Sprachlehre (siehe seine Selbstrezension 1822: 84) und wollte trotz GRIMM Sprach lehrer sein. In seiner G r a m m a t i k gibt er sich nüchtern und manchmal im Gegensatz zu GRIMMS poetischen Schwärmereien bewußt prosaisch, etwa bei seiner rationalistischen Begründung der

Sprachlehre o d e r G r a m m a t i k

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Partes orationis, wo er, wohl in Anspielung auf GRIMMS viele poetische Biologismen, in einer Anmerkung sagt: „ M i t dieser allerdings etwas p r o s a i s c h e n E r k l ä r u n g s a r t ist übrigens wohl vereinbar e i n e m e h r p o e t i s c h e - z . B . aus einem innern Z e u g e n und E m p f a n g e n und unaufhaltbaren H e r v o r t r e t e n d e r geistigen F r u c h t d u r c h den s y m b o l i s c h e n H a u c h - in L a u t e und W o r t e e t c . " ( 1 8 2 1 : 180).

Aber so glatt läßt sich SCHMELLER m. E . nicht charakterisieren. Natürlich stand er aufgrund seiner Schulbildung, seiner Tätigkeit als Lehrer und der Art seiner frühen Beschäftigung mit der Sprache den Ideen der Aufklärung nahe. Auch die Mitglieder der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die noch 1807, wie viele andere vorher, einen Preis für eine philosophische deutsche Grammatik ausschrieb, (der allerdings dann nicht vergeben wurde!), waren zu dieser Zeit noch Anhänger der Aufklärung. Bei SCHMELLER waren aber immer auch andere Elemente vorhanden, die ihn empfänglich für JACOB GRIMMS Sprachauffassung machten, weil sie Wesensmerkmale in ihm sensibilisierten, die immer vorhanden waren und die im Einklang mit der sich verändernden Zeit standen. Da ist etwa SCHMELLERS Interesse am konkreten Detail, an den vielen verschiedenen, einzelnen Sprachformen, die er zeit seines Lebens mit Eifer gesammelt hat, die ihn zum „Wortklauber", zum Wörterbuchschreiber, aber nicht zum Enzyklopädisten machten. Im 18. Jahrhundert und vorher bildeten diese vielen Unterschiede der sprechenden Individuen das Material für die Suche nach dem „Richtigen" und nach dem Allgemeinen, nach der allen Deutschen gemeinsamen Hochsprache und nach dem Universalen in der Sprache überhaupt. Bei SCHMELLER werden die vielen verschiedenen Sprachformen zunächst einmal als solche geographisch und zeitlich dokumentiert. „ N e u ist diese Art von Grammatik, und vielleicht Manchem, selbst Gelehrten, auffallend; aber sie ist, abgesehen von ihrem wesentlich großen Werthe, der jetzigen Literatur-Epoche angemessen, welche sich gefällt, alle Theile des Wissens mit der Fackel der Kritik zu beleuchten, überall nach Zeit und Ort zu fragen" (1822: 84), schreibt er hellsichtig in seiner Selbstrezension. Mit diesem an den konkreten Gegenstand gebundenen Fragen nach Zeit und Ort erhalten für Schmeller die Idiome der Gegenden, die er bereist hat, auf die er genau hingehört und die er akribisch aufgezeichnet hat, ihre eigentliche Berechtigung als Gegenstand sprachwissenschaftlichen Arbeitens. Diese Einstellung findet er bei GRIMM bestätigt, für den ebenfalls feststand, „daß die Volksmundarten als Gegenstand der linguistischen Forschung der Literatursprache gleichwertig werden; als Quelle für die Betrachtung historischer Vorgänge erhalten sie aufgrund ihrer vielschichtigen Variabilität sogar den Vorrang. Die Bewertungshierarchie wird umgestürzt. J . A. Schmeller geht daran, diesen Umbruch zu dokumentieren", wie WERNER NEUMANN schreibt (1984: 94f.). Man kann dies noch differenzierter formulieren: Bei GRIMM findet SCHMELLER die Bestätigung der Uberzeugungen, die er durch viele eigene Erfahrungen entwickelt hatte. Diese Bestätigung legitimiert seine eigene Tätigkeit, der gegenüber er zeitlebens Komplexe und Zweifel behielt, und sie wertet sie auf. So verstanden hatte SCHMELLER schon recht mit seiner eingangs zitierten Rückerinnerung in seiner Antrittsvorlesung, die den tiefen Eindruck des GRiMMschen Werkes auf seine eigene Arbeit bekundet: Den Wert der Mundart hat ihm GRIMM nur bestätigt, historische Arbeitsweise hat er erst von ihm gelernt, in seine Grammatik hat er sie nur ansatzweise integriert. Das Interesse am Detail ist bei SCHMELLER fast ein naturwissenschaftliches Interesse. Wir wissen aus seinen Tagebüchern, daß er nach seiner Schulzeit zunächst erwog,

Bernd Naumann

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Maschinen zu konstruieren und daß ihn technische Erfindungen zeit seines L e b e n s besonders fasziniert haben, etwa die Erfindung der Eisenbahn. I m V o r w o r t zur G r a m m a t i k von 1821 findet sich eine interessante A n m e r k u n g : Wenn wir zwar, wie unsere Gebirge mit ihren Erzen, wie unsere Thierwelt, unsere Pflanzenwelt, so auch unsere Sprachen selten mehr im Werden, sondern, was ihren innern Organismus betrifft, fast überall, selbst bey den wildesten Binnenvölkern Africas und Americas in der wunderbarsten Vollendung fertig, ja die meisten schon seit Jahrtausenden in vielartiger Vermengung und Abschleifung begriffen sehen: so kann dieses nur ein Grund dazu seyn, den großen Maßstab in der Zeitrechnung der Geologen auch auf dem Felde der Sprachen bewährt zu finden (1821: 4). D i e s ist eine aus den sich zu SCHMELLERS Zeit gerade entwickelnden (historischen) Naturwissenschaften gewonnene B e m e r k u n g , wie man sie etwa bei JACOB GRIMM selbst in seinem späten, berühmt gewordenen V o r t r a g UBER DEN URSPRUNG DER SPRACHE (1851) nicht findet. In mancher H i n s i c h t war Schmeller für das, was man „ d e n G e i s t der Z e i t " zu nennen pflegt, hier für den Beginn der empirisch arbeitenden N a t u r wissenschaften, empfänglicher als GRIMM. I m Gegensatz zu SCHMELLER wußte GRIMM früher und genauer, was und wie er arbeiten wollte, deshalb erscheint uns sein W e r k geschlossener. SCHMELLER mußte sich dieses Wissen erst nach und nach mühsam „ e r l e b e n " und hat gegenüber seinen eigenen Arbeiten nie die Sicherheit und Uberzeugung erreicht, die JACOB GRIMM i m m e r hatte und die ihn auch überzeugend für andere machten. In SCHMELLER wird die sich verändernde Sprachwissenschaft deutlich, in seinen Arbeiten und in seinem beruflichen W e r degang: D e r junge SCHMELLER war Lehrer und schrieb Arbeiten zur Allgemeinen G r a m m a t i k . U n t e r dem Einfluß GRIMMS und anderer historisch arbeitender Sprachwissenschaftler identifizierte er sich m e h r und m e h r mit deren Anschauungen. Erst gegen Ende seines Lebens wurde er Universitätsprofessor für deutsche Sprache und Literatur, z u einer Zeit, wo Sprachwissenschaft nicht mehr von Gymnasiallehrern und G r a m m a t i k s c h r e i b e r n betrieben wurde, sondern Universitätsdisziplin war, dort nicht m e h r als Allgemeine G r a m m a t i k innerhalb des Faches Philosophie gelehrt wurde, s o n dern jetzt und in den folgenden Jahrzehnten ausschließlich als Historische Sprachwissenschaft. D i e beiden K o n z e p t i o n e n seiner G r a m m a t i k von 1818 und 1821 dokumentieren den A n f a n g dieser Entwicklung. Sie machen zugleich deutlich, daß Wissenschaftsgeschichte niemals ein geradlinig verlaufender P r o z e ß mit festen Zäsuren ist, sondern ein differenziertes Zusammenspiel nachwirkender und vorgreifender Ideen und deren Manifestationen.

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Sprachlehre oder Grammatik

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Von der Bedeutung der Mundarten Ein weiterer Entwurf zum Vorwort von Schmellers Mundartgrammatik Ludwig M. Eichinger

(Bayreuth)

1. Vorbemerkung In der Sammlung Schmelleriana, die in der Bayerischen Staatsbibliothek München liegt, befinden sich drei als M.S. 329 gekennzeichnete Konzeptzettel etwa von Postkartengröße. Zwei sind vor- und rückseitig, der dritte nur auf der Vorderseite von SCHMELLERS H a n d beschrieben. Bei dem darauf erhaltenen Text handelt es sich um einen an vielen Stellen durchgestrichenen und korrigierten E n t w u r f , in dem Überlegungen zu Wert u n d Einschätzung des Dialekts und seiner Sprecher sowie zur Begründung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Dialekten zu finden sind. Diese Skizze SCHMELLERS soll hier im folgenden vorgestellt werden, da sie einerseits von SCHMELLER zwar nicht benutzt, aber offenbar f ü r wichtig genug gehalten wurde, daß er sie als eigene N u m m e r unter seine Manuskripte aufnahm, andrerseits im Zusammenhang mit anderen inhaltlich vergleichbaren Texten SCHMELLERS eine genauere Einsicht in die Entstehung und Ausformulierung von Fragen, die Schmeller bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Dialekten f ü r entscheidend hielt, gewährt. 1 Dabei ist insbesondere interessant, wie sich der vorliegende Text zu entsprechenden Passagen des endgültig gedruckten Vorwortes verhält, ob sich hier in irgendeiner sprachwissenschaftsgeschichtlich sinnvollen Weise interpretierbare Ähnlichkeiten und Unterschiede finden.

2. Der Text

1 Es sei d e m Verfasser dieses W e r k e s erlaubt, dasselbe mit einer B e t r a c h t u n g zu e r ö f f n e n , die vielleicht an diesem O r t e etwas feyerlich scheinen d ü r f t e , die er aber nicht unterlassen k a n n , weil er sie sich selbst schuldig 1

In der Zwischenzeit w u r d e der Text mit einer k u r z e n Z u s a t z b e m e r k u n g im Schmeller-Jahrbuch 1986 publiziert (s. EICHINGER 1986). W e g e n der leichteren B e z u g n a h m e schien es aber sinnvoll, auch hier nicht n u r den Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen K o m m e n t i e r u n g , s o n d e r n auch den Text selbst mit a u f z u n e h m e n .

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Ludwig M. Eichinger

5 zu seyn glaubt. Nie hat er, schon aus dem trifftigen Grunde seiner eignen Abkunft, das vornehme oder mitleidige Herabschauen recht begreifen können, mit welchem sich Leute der höhern oder gebildeten Stände ausländische oder heimische dem gemeinen Mann 10 unsres Volkes nicht selten gegenüberzustellen pflegen.

1 Er für seine Person hat immer gefunden, daß in den Hütten des Landmanns & in den Werkstätten des Handwerkers ein Fonds von Seelengüte, & v. gesundem Menschenverstand 5 vertheilt ist, den er wahrlich nicht geringer nennen (?) möchte als der ist, dessen die obern Regionen 7 sich rühmen.

1 Bey diesem Glauben an das Gute der menschlichen Natur auch in der übergroßen Mehrheit könnt ich ebensowenig je die Art & Weise billigen, mit welcher Leute der gebildeten Klasse das Eigenthümliche in der Sprache des 5 großen Haufens zu beurtheilen pflegen, als ob gerade da, wo in jeder Rücksicht die geringste Spur ist von einer Herrschaft der Mode, & gerade in der wesentlichsten Form des 9 menschlichen Seyns alles nur grundloses Gewirr, gedankenlose (willkürliche) Verhunzung sey.

1 Ich meinte im Gegentheil, gerade im großen Haufen, der nicht grübelt & krittelt, müsse sich in unbewußter Wirksamkeit von Generation zu Generation der wahre 5 Sprachgeist in dem bewundernswürdigen consequenten Durchführen seiner Analogien am ungetrübtesten forterhalten haben. Diese Meinung gab mir Lust & Kraft zu diesen Forschungen, deren Ergebnisse dieses Werk erhält & nach fünfjähriger Beobachtung 10 hab ich meine Meinung bewährt gefunden.

1 Wer könnte ihms verargen, wenn er glaubte, daß seine Arbeit ihrer Tendenz nach so wichtig sey, als irgend eine im Fache der lateinischen, griechischen oder indischen Litteratur 5-ja wenn er sie sogar für noch wichtiger hielte, weil sie etwas wirklich lebendes betrifft, wie auch die Griechen wohl nur dadurch daß sie des wirklich lebenden«!> mehr als das Todte einer fernen (?) Vor10 weit zu erkunden suchten das geworden sind, was sie so nachahmens12 würdig macht.

V o n der Bedeutung der Mundarten

97

3. Z u r E i n o r d n u n g des T e x t s 3.1. Formale

Kriterien

Wie die einleitenden Zeilen zweifelsfrei ausweisen, waren diese Gedanken für das Vorwort eines größeren Werks gedacht. Sie sollten ihren Platz zwischen wohl eher technischen Anmerkungen finden, wenn man die Entschuldigungsformel in , Z. 2/3 nicht nur als rhetorische Figur verstehen will. Neben diesem Hinweis zu der Stelle, für die unser Text gedacht war, haben wir Inhalt und Argumentation, die den Platz genauer als das Vorwort eines dialektologischen Werks ausweisen und haben letztlich noch eine relative Zeitangabe „nach fünfjähriger Beobachtung" (, Z. 9). Die Kombination dieser drei Angaben läßt den Schluß zu, daß die auf diesen Zetteln erhaltene Passage für das Vorwort seiner Mundartgrammatik D I E MUNDARTEN BAYERNS gedacht war. Denn SCHMELLER hat im Jahre 1 8 1 6 mit seiner offiziellen dialektologischen Arbeit begonnen: 2 „ A l s genaues Datum, an dem der Plan klarere Form annahm, kann der 3. 2. 1816 angegeben werden ( . . . ) . An diesem Tag machte Joseph Scherer, Hofbibliothekar und seit dem Vorjahr Akademiemitglied (. . .) ,den Vorschlag. . . ein baierisches Idiotokon vorzunehmen' und stellte dazu eine Unterstützung seitens der Akademie und des Kronprinzen in Aussicht." (Katalog München: 44) Die Zusage kam am 8. März 1816. Ein erster Tätigkeitsbericht datiert vom 1. 10. 1816. Im Mai 1818 liegt eine erste Fassung der Mundartgrammatik vor, sie kommt aber nicht zum Druck, sondern wird, nicht zuletzt unter dem Eindruck der in der Zwischenzeit erschienenen DEUTSCHEN G R A M M A T I K JACOB G R I M M S nochmals gründlich überarbeitet. (Vgl. NAUMANN 1 9 8 8 : 84.) Im Frühjahr 1821 kommt es dann zur Drucklegung der endgültigen Fassung: „ A m 28. Januar 1821 fährt Schmeller für fast fünf Monate nach Augsburg, um selber den Druck zu überwachen. Am 12. Februar erscheinen die ersten Druckbögen. Die ersten Exemplare erhielt er am 8. September 1821". (Katalog Tirschenreuth: 63) Im September 1821 also - nach den genannten fünf Jahren Arbeit — erschienen als erstes großes Ergebnis von Schmellers dialektologischer Arbeit D I E MUNDARTEN BAYERNS im Druck. (Vgl. TB I: 434, Eintrag vom 8. 9. 1821.) Weder von den zeitlichen Verhältnissen noch von dem Pathos der Rede, das eigentlich nur einem ersten Werk zu diesem Thema angemessen erscheint, paßt unser Text zu Schmellers anderm großen dialektologischen Werk, dem BAYERISCHEN WÖRTERBUCH. Nach den genannten Indizien kann unser Text nur für das Vorwort der Mundartgrammatik gedacht gewesen sein. Zu keinem der sonstigen dialektologischen Werke Schmellers paßt vor allem der Fünf-Jahres-Zeitraum. Damit läßt sich der Entstehungszeitraum dieses Fragments auf das Jahr 1821 - und eher die erste Hälfte oder Mitte dieses Jahres - festlegen. 3

2

3

Z u m genauen zeitlichen A b l a u f , wie er sich nach SCHMELLERS Aufzeichnungen und Publikationen usw. ergibt, vgl. Katalog M ü n c h e n : 4 4 f f . und Katalog Tirschenreuth: 5 5 f f . Damit handelt es sich auch nicht um einen anderen Teil des V o r w o r t s zu der bereits f r ü h e r ( 1 8 1 8 ) z u r Drucklegung vorbereiteten Fassung; vgl. dazu Katalog München: 4 9 f f . und den A b d r u c k der Fragmente dieser Fassung durch HINDERLING in der Neuausgabe v o n ROCKINGER ( 1 9 8 5 : 322 ff.).

Ludwig M . Eichinger

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3.2. Inhaltliche

Kriterien

Es finden sich aber auch inhaltliche Hinweise, die für die vorgeschlagene Zuordnung sprechen: auch in der im Jahre 1821 zum D r u c k gelangten Fassung des Vorworts finden sich Passagen, die eine im Prinzip ganz ähnliche Argumentation zeigen ( V I - I X ) . Auch die dortigen Überlegungen allgemeiner Art sind übrigens mit demselben rhetorischen Stilmittel, einer Art abgefangener Präteritio, eingeleitet, die auch den Beginn unseres Textes kennzeichnet: „ A u c h wäre es wohl wenig an seinem Orte, w e n n ich mich hier über den W e r t h solcher F o r s c h u n gen und ü b e r die Bedeutung der Mundarten überhaupt erst weitläufig herauslassen w o l l t e . " (Mundarten 1821: V I / V I I ) 4 .

4. Zum Status dieses Vorworts 4.1. Ähnlichkeiten

und Unterschiede der beiden Fassungen

Allerdings gibt SCHMELLER unterschiedliche Gründe dafür, warum die jeweils folgende allgemeine Passage zum Wert der Mundarten überflüssig bzw. unangemessen sei. In der Druckfassung gibt SCHMELLER an, daß er den einen, den ,,[d]enkenden Sprachfreund e n " (VII) damit nichts neues sagen, die anderen, die Verächter ,,d[es] Wortfes] und d[es] geistigefn] Lebens von neun Zehntheilen eines V o l k e s " (VII) ohnehin nicht eines besseren belehren könne. In unserem T e x t setzt er sich mit dem Interesse dessen, der durch seine niedere Herkunft selbst davon betroffen ist, mit der Haltung gerade jener Verächter der Mundart geschichtsphilosophisch, sprachphilosophisch und ethisch auseinander. D e r hier abgedruckte Text ist sowohl „sozialkritischer" als auch weitaus persönlicher als die entsprechende Partie der Druckfassung. Als ein zusätzlicher Beleg dafür kann schon der Unterschied zwischen den in der Struktur so ähnlichen Einführungssätzen gelten. Denn wenn er in der Druckfassung von 1821 den Verzicht auf weitläufigere Ausführungen damit begründet, daß damit kein vernünftiger Zweck zu erreichen sei - um dann doch fortzufahren - , so weist er in unsrem Text darauf hin, daß er diese Ausführungen nicht unterlassen könne, „weil er sie sich selbst schuldig zu seyn glaubt" ( < l r > , Z. 4/5). N o c h deutlicher wird das aber an den Stellen, wo er über die unangemessene Einstellung der Oberschicht und der Gebildeten zum Dialekt und seinen Sprechern schreibt. Spricht die gedruckte Fassung von denjenigen, „die nun einmal gewohnt sind, das W o r t und das geistige Leben von neun Zehntheilen eines Volkes neben dem eines Zehntels als gleichgültiges Nichts zu betrachten" (VII), so die hier vorgestellte direkt von dem „vornehmefn] oder mitleidigefn] Herabschauen", „ m i t welchem sich Leute der höhern oder gebildeten Stände ( . . . ) dem gemeinen Manne unsres Volkes nicht selten gegenüberzustellen pflegen" ( < l r > , Z. 6 - 1 0 ) . D i e Geringschätzung der Mundarten wird als direkter Affront gegen den Mundartsprecher formuliert. Auch der in der hier vorgestellten Fassung enthaltene Hinweis auf seine eigene Erfahrung der niederen Geburt (, Z. 5/6) fehlt in der endgültigen Ausgabe. Eine 4

Dagegen enthalten die F r a g m e n t e der Fassung von 1 8 1 8 / 1 8 1 9 nur die eher technischen Teile des V o r w o r t s - eine entsprechende räsonierende Partie ist dort nicht erhalten.

V o n der B e d e u t u n g der M u n d a r t e n

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entsprechende Argumentation taucht dort verwissenschaftlicht und verallgemeinert als eine Überlegung „in Hinsicht auf V o l k s = B i l d u n g und V o l k s = E r z i e h u n g " ( V I I I ) auf. (Vgl. dazu REIN (104ff.), WIESINGER, auch HARNISCH (54).) Man kann in dieser Wendung hin zu einer sprachlehrenden Didaktisierung in der endgültigen Fassung auch eine pragmatische Korrektur gegenüber dem Grimmschen Verdikt solchen Tuns verstehen. 5 Auf jeden Fall verändert die unterschiedliche Ausgangslage der Argumentation bei aller Ähnlichkeit doch ihren T o n und auch ihren Aufbau entscheidend. Unser T e x t geht aus von der eigenen Betroffenheit über die Verachtung der Mundart durch den größten Teil der Gebildeten ( < l r > ) und versucht anschließend eine Wiederlegung dieser Position, die zunächst von der „Seelengüte" und dem „gesunden Menschenverstand", der sich bei einfachen wie gebildeten Leuten zumindest gleichermaßen finde, ausgeht ( < l v > ) , daraus den Schluß zieht, daß auch das „ G u t e der menschlichen N a t u r " bei beiden Schichten gleichermaßen ausgeprägt sei, und daraus nun wieder schließt, daß diese Äquivalenz auch für die Sprachform gelten müsse. () Verstärkend fügt dann SCHMELLER noch dazu, daß im Gegenteil das fehlende Raisonnement und die U n a b hängigkeit von modischen Einflüssen für eine direktere Einwirkung der „Sprachgeistes" garantiere. Das daraus folgende analogischere Wesen habe er nun bei seiner Arbeit bestätigt gefunden (): q. e. d. Der letzte Teil des oben abgedruckten Textstücks ist argumentativ weithin selbständig, in ihm () wird diese Art von Forschung als Beschäftigung mit lebendigen Sprachen gleichrangig mit der ja gerade modern werdenden Untersuchungen „ i m Fache der lateinischen, griechischen oder indischen Litterat u r " dargestellt: eine Behauptung, die doch gegen den Hauptstrom des wissenschaftlichen Interesses der beginnenden historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft geht. Demgegenüber geht das gedruckte Vorwort zwar auch von der Frage nach der „ B e d e u tung der Mundarten" (VII) aus, aber diese Frage wird weitaus weniger grundsätzlich verstanden, sondern zielt von Anfang an eher darauf, ob die Dialekte ein der wissenschaftlichen Beschäftigung würdiges O b j e k t sind. So ist die Frage auch weitaus unverfänglicher und zumindest seit LEIBNIZ im Prinzip positiv beantwortet. Damit ist es auch wirklich nicht mehr nur captatio benevolentiae, wenn das Einverständnis der ,,[d]enkende[n] Sprachfreunde" (VII) damit vorausgesetzt wird. Gegen die Verächter der Mundart wird nun nicht wie oben ihre objektive Würdigkeit, sondern ihr Wert als Geschichtsquelle für das Leben des Volkes betont. Anschließend springt die Argumentation: gegen die Vertreter einer Volksaufklärung, die meinen, zur allgemeinen V o l k s bildung sei es nötig, die regionalen Eigenheiten zu beseitigen, betont SCHMELLER, man müsse die „Eigenheiten als Fundamente benutzen, um Besseres darauf zu b a u e n " (VIII). Sehr deutlich sieht man hier die Nachklänge von SCHMELLERS pädagogischer V e r g a n g e n h e i t i n d e r S c h u l e PESTALOZZIS ( v g l . M A T T H E I E R : 1 9 8 8 : 6 0 ) . U n d als l e t z t e s

Argument bringt er dann, eigentlich zur gerade verlassenen Linie zurückkehrend, eines, das das spätaufklärerische Interesse an Fragen des Sprachursprungs mit sprachorganischen Vorstellungen der aufkommenden romantischen Sprachwissenschaft verbindet: es wird betont, daß die Mundarten eine altertümlichere, ursprünglichere, von daher auch verehrungswürdigere Form der Sprache darstellten als die modernen Schriftsprachen: man vermeint hier nicht nur den historisch-vergleichenden Sprachwissenschaftler

5

Vgl. d a z u die A u s f ü h r u n g e n in NAUMANN ( 1 9 8 8 : 84); s. GRIMMS A u s f ü h r u n g e n in der V o r r e d e z u m ersten B a n d seiner DEUTSCHEN GRAMMATIK (JANOTA: 1 0 7 f f . ) .

100

Ludwig M. Eichinger

19-jahrhundertlicher Prägung zu hören, sondern auch den Adepten eines HERDER, den Schüler eines Theoretikers des Sprachursprungs wie F . C . FULDA, der sowohl in seinem WURZELWÖRTERBUCH wie in seiner IDIOTIKENSAMMLUNG ganz ähnliche A r g u m e n t e aufnimmt. U n d SCHMELLERS eigene Verbindung zu seinem T h e m a liegt auch nicht m e h r in der persönlichen Betroffenheit, sondern hier: (. . . ) so können sie [die Mundarten/L. E.] auch anders, ja mit einem Anklänge von jenem Hochgefühle betrachtet werden, mit welchem die Reste einer grauen Vorzeit, freilich nur den, ergreifen, der von einer andern Seite her mit denselben bekannt ist. Und ich gestehe, daß es etwas ähnliches war, was mir Vorliebe für diese Art von Forschungen und Geduld gab zum Fortfahren in denselben. (VIII/IX) Pauschalierend k ö n n t e man sagen, daß der unveröffentlichte T e x t ausgehend von SCHMELLERS eigener E r f a h r u n g den objektiven W e r t der Volkssprache Dialekt zu beweisen sucht, und in seinem objektiven W e r t und dem Interesse an ihm als etwas L e b e n d i g e m die Begründung sieht, sich damit zu beschäftigen; demgegenüber b e t o n t der veröffentlichte V o r w o r t t e x t den W e r t der Mundart als Geschichtsquelle, als pädagogisches Hilfsmittel und als D o k u m e n t einer urtümlicheren, romantisch gesehenen V o r z e i t : dieser im Interesse der historisch-vergleichenden Sprachforschung liegende G e s i c h t s p u n k t wird von SCHMELLER auch als der für ihn selbst wichtige bezeichnet.

4.2. Die Stellung

in der sprachwissenschaftlichen

Diskussion

der Zeit

W e n n man sich fragt, warum nun SCHMELLER das V o r w o r t so z u m D r u c k hat k o m m e n lassen, wie wir es kennen und warum er nicht die vorliegende oder eine ähnliche Partie eingefügt hat, dann ist eine eindeutige A n t w o r t darauf w o h l nicht zu geben. Verschiedenes scheint eine R o l l e gespielt zu haben. Man kann w o h l annehmen, daß sich SCHMELLER letztlich aufgrund des hohen Öffentlichkeitsgrades und des öffentlichen Status seiner von der A k a d e m i e geförderten Arbeit für die unpersönlichere Variante entschieden hat, um damit den Textsortenerwartungen zu entsprechen. Man kann sich aber auch fragen, o b und inwieweit die beiden Fassungen unterschiedliche oder auch n u r unterschiedlich akzentuierte Positionen i n der wissenschaftlichen Auseinandersetzung markieren. D a m i t wären wir überhaupt bei der Frage, o b die verglichenen beiden T e x t e Unterschiede im H i n b l i c k auf die Verarbeitung der zeitgenössischen sprachwissenschaftlichen D i s k u s s i o n , die ja stark durch JACOB GRIMM geprägt wurde, erkennen lassen. D a s Erscheinen der GRiMMschen G r a m m a t i k im J a h r e 1819, also kurz v o r der geplanten Drucklegung der ersten Fassung der ScHMELLERschen Mundartgrammatik, hat ja, wie gesagt, wesentliche Auswirkungen auf die von Schmeller durchgeführten Änderungen bis zur endgültigen Drucklegung im J a h r e 1821 gehabt. 6 Man fragt sich, o b etwas entsprechendes auch in der Entwicklung der V o r w ö r t e r zu beobachten ist. A u f jeden Fall erscheint das endgültig in das B u c h aufgenommenen V o r w o r t als vorsichtiger in der Argumentation. W e n n auch in zwei Partien auf die historische Bedeutung der Mundarten verwiesen wird, s o doch in einer Weise, die kaum W i d e r spruch erregen durfte. Das volkskundlich-historische Interesse, das an der ersten Stelle ausgesprochen wurde, läßt sich in durchaus analoger Weise in den Begründungen für 6

Die entsprechenden Verhältnisse sind ausführlich geschildert im Katalog München: 49ff. und im Katalog Tirschenreuth: 60ff.; zu einer Deutung s. NAUMANN (1988), s. auch BRUNNER (129).

Von der Bedeutung der Mundarten

101

das Anlegen von Mundartwörterbüchern finden. N u r der Hinweis auf den historischen Erkenntniswert der Erfassung ursprünglicherer Sprachzustände ( V I I I ) erinnert hier direkt an die aktuelle Diskussion. E r spielt allerdings auf ein T h e m a an, w o zumindest für die Zeitgenossen der Ubergang von spätaufklärerischen Auffassungen wie der H E R DERS zu Auffassungen der historischen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts fließend gewesen sein dürfte. Anders steht es mit dem dazwischengeschobenen pädagogischen A r g u m e n t : es gehört ganz eindeutig der spätaufklärerischen Pädagogik an. D i e im gedruckten T e x t relativ zurückhaltend dokumentierten Übergänge zwischen aufklärerischer und romantischer Sprachwissenschaft, die man ja als typisch für die Stellung SCHMELLERS ansehen kann, treten dagegen in dem hier vorliegenden T e x t auch terminologisch sehr viel klarer hervor. D e n n wenn es in der gedruckten Fassung heißt, daß in der Sprache des V o l k e s „ d a s körperliche Seyn und T h u n des V o l k e s und der Z e i t " ( V I I ) gespiegelt sei, und daß sie zudem den R e i z des U r t ü m l i c h e r e n besitze, so heißt es in unserem T e x t daß sich in der Mundart der „ S p r a c h g e i s t " (, Z . 5) direkter darstelle als die H o c h s p r a c h e . D e r Terminus „ S p r a c h g e i s t " nun liegt zwar inhaltlich zu der Zeit der beginnenden „ r o m a n t i s c h e n " Sprachwissenschaft GRiMMscher Prägung in der Luft (vgl. Historisches W ö r t e r b u c h der Philosophie: 1 8 4 f f . ) , das D W B ( X , l : 2 7 5 3 / 2 7 5 4 ) beginnt seine Einträge zu diesem Stichwort mit einem Beleg aus dem V o r w o r t des ersten Bandes der GRiMMschen G r a m m a t i k und bringt auch sonst weithin Belege von GRIMM selbst. S o liegt der G e d a n k e nahe, d a ß SCHMELLER z u dieser A r t d e r F o r m u l i e -

rung durch die Beschäftigung mit den Gedanken GRIMMS bewogen wurde. Allerdings bleibt dabei natürlich zu beachten, daß ein T e r m i n u s wie dieser in einigen Strömungen der Zeit eine R o l l e spielte. So spricht einer der sprachwissenschaftlichen V o r d e n k e r der Z e i t , W I L H E L M VON H U M B O L D T , in s e i n e r S c h r i f t v o n 1 8 2 0 Ü B E R DAS VERGLEICHENDE SPRACHSTUDIUM IN BEZIEHUNG AUF DIE VERSCHIEDENEN EPOCHEN DER SPRACHENT-

WICKLUNG v o m „ S p r a c h c h a r a k t e r der N a t i o n e n " (HUMBOLDT ( 1 8 2 0 / 1 9 7 9 : 9 ) und

führt in diesem Zusammenhange aus: „ A b e r auch die Mundart der rohesten Nation ist ein zu edles Werk der Natur, um, in so zufällige Stücke zerschlagen, der Betrachtung dargestellt zu werden. Sie ist ein organisches Wesen, und man muß sie, also solches, behandeln. Die erste Regel ist daher, zuvörderst jede bekannte Sprache in ihrem inneren Zusammenhange zu studiren, alle darin aufzufindenden Analogien zu verfolgen, und systematisch zu ordnen, um dadurch die anschauliche Kenntnis der grammatischen Ideenverknüpfung in ihr, des Umfangs der bezeichneten Begriffe, der Natur dieser Bezeichnung, und des ihr beiwohnenden, mehr, oder minder lebendigen geistigen Triebes nach Erweiterung und Verfeinerung, zu gewinnen. Ausser diesen Monographien der ganzen Sprachen, fordert aber die vergleichende Sprachkunde andre einzelner Theile des Sprachbaues, z. B. des Verbum durch alle Sprachen hindurch. Denn alle Fäden des Zusammenhanges sollen durch sie aufgesucht und verknüpft werden, und es gehen von diesen einige, gleichsam in der Breite, durch die gleicharthigen Theile aller Sprachen, und andre, gleichsam in der Länge, durch die verschiedenen Theile jeder Sprache. Die ersten erhalten ihre Richtung durch die Gleichheit des Sprachbedürfnisses und Sprachvermögens aller Nationen, die letzten durch die Individualität jeder einzelnen. Durch diesen doppelten Zusammenhang erst wird erkannt, in welchem Umfang der Verschiedenheiten das Menschengeschlecht, und in welcher Consequenz ein einzelnes Volk seine Sprache bildet, und beide, die Sprache, und der Sprachcharakter der Nationen, treten in ein helleres Licht, wenn man die Idee jener in so mannigfaltigen individuellen Formen ausgeführt, diesen zugleich der Allgemeinheit, und seinen Nebengattungen gegenübergestellt erblickt." ( a . a . O . : 8 / 9 )

In diesem Zitat, das in überzeugender Weise klarzumachen vermag, warum WILHELM VON HUMBOLDT ein idealer Anreger seiner Zeit w a r : als Zusammendenker von unverbunden G e s e h e n e m , findet sich nun einiges b e k a n n t e im H i n b l i c k auf unseren SCHMEL-

Ludwig M. Eichinger

102

LER-Text. W e n n auch noch nicht vom Sprachgeist, so ist doch die Rede von der G l e i c h heit des Sprachbedürfnisses, und von der „ I d e e jener [der S p r a c h e ] " , sowie von der jeweils unterschiedlichen grammatischen Ideenverknüpfung in den einzelnen Sprachen. In Verbindung mit dem von ihm vorgeschlagenen beiden W e g e n der Sprachuntersuc h u n g sind allerdings von hier aus noch verschiedene Entwicklungen möglich. GRIMMS Sprachgeist ist nur eine davon. D e r HuMBOLDTsche Integrationsansatz setzt allerdings auch schon Einiges voraus, in Sonderheit die Überlegungen HERDERS zu Sprache und N a t i o n , die er im „ G e n i u s der Sprache" (HERDER: 177) faßt. In diesem Zusammenhang werden für die deutsche Diskussion auch die Gedanken über die Sprachalter perzipiert, die ja für GRIMMS D e n k e n so typisch ist, bei ihm aber auch eine spezielle F o r m findet, die in eigenwilliger Weise positive und negative Einschätzung des Sprachwandels verbindet (vgl. BAHNER/NEUMANN: 1 3 5 f f . ) - nicht zuletzt hierin auch eine B r ü c k e zu den V o r g ä n g e r n schlagend. D e n n wie nicht nur der B e z u g auf HERDER zeigt, haben auch die Überlegungen z u m „ S p r a c h g e i s t " , mag er auch durch GRIMM zu einem K e r n t e r m i nus der romantisch-historischen Schule werden, eine aufklärerische und eine romantische Seite. BAHNER/NEUMANN (138/39) weisen zurecht darauf hin, daß „ d i e auf M o n tesquieu, Condillac und H e r d e r zurückweisende Idee des , Volksgeistes', die oft auch als ,Sprachgeist' e r s c h e i n t " ,

bei J . GRIMM in Verbindung mit dem „ b e s o n d e r s

von

F . Schlegel vertretenen und auf Rousseau zurückweisenden W e r t e s y s t e m " als I d e o l o gem der „ n e u e n " historischen Lehre aufgebaut wird. T r o t z seiner offenkundigen A m bivalenz, die in der umsichtigen Deutung eines am Rande der historischen Schule stehenden Forschers wie WILHELM VON HUMBOLDT besonders deutlich wird, werden so Überlegungen zum Sprachgeist zu einem Kernmerkmal der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft der eher romantischen Prägung - also eher eines GRIMM als z. B . eines BOPP. SCHMELLERS Verwendung dieses Terminus liegt so durchaus im T r e n d der zeitgenössischen D i s k u s s i o n . 7 D e n n auch der Hinweis auf die „ A n a l o g i e n " (, Z. 6), die der Sprachgeist hier forterhalten habe, - auch dieser Terminus findet sich überdies in dem obigen H U M BOLDT-Zitat -

m u ß sich, u m konsequent zu sein, im HERDERSCHEN, U. d. h. für

SCHMELLERS Zeit im „ r o m a n t i s c h e n " Sinne verstanden werden, im Sinne eines ungeb r o c h e n e n Verhältnisses von Inhalt und Ausdruck. (Vgl. dazu z. B . ARENS ( 1 2 6 ) . ) D a ß „ A n a l o g i e " daneben durchaus auch im aufklärerischen Sinne der Regelhaftigkeit in den normativen Grammatiken verstanden werden kann, muß hier terminologiekritisch aber im A u g e behalten werden. N e b e n diesen Hinweisen auf den B e z u g SCHMELLERS auf K o n z e p t e der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft sei aber auch darauf verwiesen, daß auch in diesem T e x t durchaus Gedankengut aus der aufklärerischen T r a d i tion durchschimmert. A n zwei Punkten mag das deutlich werden. Z u m ersten ist die W e n d u n g vom „gesunden Menschenverstand" eine der Aufklärungszeit und ihrem G e d a n k e n g u t zuzurechnende Lehnbildung: „KANT selbst fügt einem deutschen Ausdruck oftmals in der Klammer die lateinische (oder französische) Entsprechung bei, und diese Gepflogenheit liefert dem Wortgeschichtier wichtige Hinweise darauf, welche Worte damals noch als erläuterungsbedürftig empfunden wurden: ( . . .) gesunder

Menschenverstand

7

(,bon sens')."

Von dieser Ambivalenz zeugt auch die spätere Diskussion des Begriffs bei v. D. GABELENTZ (9, 63, 90), w o er doch wieder deutlich einer synchronen Ebene zugeordnet wird.

V o n der Bedeutung der Mundarten

103

schreibt KAINZ (327) zu dieser Wendung. Genauer noch äußert er zur dezidiert aufklärerischen Tradition dieser Fügung: „ D i e s e Fügung gesunder Menschenverstand ist u.a. bei LESSING (.Hamburgische Dramaturgie') belegt, vorbereitet ist sie durch CH. WOLFF (gesunde Vernunft)." (a. a. O . : 339).

Die von SCHMELLER danebengestellte „Seelengüte" scheint dagegen nach Ausweis des DWB (X, 1:15) eher empfindsamer Herkunft zu sein. Sprachwissenschaftlich in aufklärerischer Tradition dagegen scheinen Fügungen wie die vom ,,Gute[n] der menschlichen N a t u r " (Z. 1/2) sowie die ganze Stelle auf zu stehen: ungeachtet der vorher aufgebauten historischen Argumentation wird hier das Interesse an der Mundart als einer gegenwartssprachlichen Form betont, die Z. 3-6 dieser Partie können als eine Absage an den Alleinanspruch der historisch-vergleichenden Vorgehensweise verstanden werden. Außer dem bereits besprochenen pädagogischen Hinweis im gedruckten Vorwort, der in einem ähnlichen Sinne verstanden werden könnte, ist auch diese Argumentation dort zurückgenommen. Es wird auf historische, archivalische und nur ungenau und so allgemein benannte sprachwissenschaftliche Erkenntnisse, die man sich von der Erforschung der Mundarten verspreche, Bezug genommen. 8

5. Schluß Wenn man versucht, die beiden Texte insgesamt zu charakterisieren, so ist in dem ungedruckten Vorwort der Eindruck stärker, die für SCHMELLER typische Zwischenstellung zwischen Aufklärung und romantischer Sprachwissenschaft zu erleben. Sehr stark sind die auch terminologischen Anlehnungen an die Tendenzen der späten Aufklärung, allerdings merkt man im einzelnen auch deutlich den Einfluß der neuen Historisierung, wenn auch am Ende noch gegen ihrem Alleinvertretungsanspruch polemisiert wird. Im gedruckten Vorwort zieht er sich dagegen eher auf Unstrittiges zurück, vermeidet auch eine provokante Terminologie. Allerdings bleibt der volkserzieherische Impetus, der in dieser Form der Grimmschen Sprachwissenschaft fremd ist— wenn auch in verwissenschaftlichter Form - erhalten.

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Wenn hier v o n der „historisch-vergleichenden" Methode die Rede ist, s o sei allerdings darauf verwiesen, daß in doch noch recht großer N ä h e zu Sprachwissenschaftlern wie Adelung und Vater vergleichend dieser Begriff auch noch nicht so eindeutig auf sein neues Verständnis festgelegt zu sein braucht; vgl. dazu auch HARNISCH (59), w o diese terminologiehistorische Seite allerdings nicht expliziert wird.

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Ludwig M. Eichinger

EICHINGER, L. M . : Bayer, Deutscher, Europäer - Johann Andreas Schmeller und die sprachliche Lage in Europa, in: Oberpfälzer Heimat 27, (1983): 47-64. EICHINGER, L. M . : Der „Sprachgeist" und die „Mundarten Bayerns". Ein ungedrucktes Vorwort von Johann Andreas Schmeller, in: Jahrbuch der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft 1986, Bayreuth 1986: 121-123. FULDA, F. C . : Sammlung und Abstammung Germanischer Wurzel-Wörter ( . . . ) , Halle 1776 [Nachdruck Hildesheim 1977], FULDA, F. C . : Versuch einer allgemeinen teutschen Idiotikensammlung ( . . . ) , Berlin und Stettin 1788 [Nachdruck Leipzig 1975], GABELENTZ, G. VON DER: Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, 2. Aufl. Leipzig 1891 [Nachdruck Tübingen 1984]. HARNISCH, R . : Die „Natur der Sprache" und die „Formen" der „Mundarten Bayerns". Zu Schmellers universalistischer Sprachtheorie und ihrer komparativen Anwendung, in: Nach Volksworten jagend. Gedenkschrift zum 200. Geburtstag von Johann Andreas Schmeller, herausgegeben von R. J . BRUNNER, U. a. Bayreuth 1985 ( = Jahrbuch der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft 1984; gleichzeitig Heft 1 von Band 48 (1985) der Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte): 49-78. HERDER, J . G . : Frühe Schriften 1764-1772, herausgegeben von ULRICH GAIER, Frankfurt/M. 1985. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J . RITTER, Band 3: G - H , Basel/Stuttgart 1974. H U M B O L D T , W . VON: S c h r i f t e n z u r S p r a c h p h i l o s o p h i e . H e r a u s g e g e b e n v o n ANDREAS FLITNER

und KLAUS GIEL, 5. Aufl. Darmstadt 1979 ( = Werke in fünf Bänden III). JANOTA, J . (Hg.): Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810-1870. Wissenschaftsgeschichte der Germanistik III, Tübingen 1980 ( = Deutsche Texte 53). KAINZ, F.: Klassik und Romantik, in: Deutsche Wortgeschichte, herausgegeben von FRIEDRICH MAURER und HEINZ RUPP. Dritte, Neubearbeitete Auflage. Bd. II. Berlin/New York 1974: 245-492.

Bayerische Staatsbibliothek, Johann Andreas Schmeller 1785-1852. Gedächtnisausstellung zum 200. Geburtstag, München 1985. CKATALOG TIRSCHENREUTH Johann Andreas Schmeller (1785-1852). Der Mann und sein Wirken. Ausstellung anläßlich des 200. Geburtstages am 6. August 1985 arrangiert von der JOHANNANDREAS-SCHMELLER-GESELLSCHAFT, Bayreuth und Tirschenreuth 1985. MATTHEIER, K. J . : Schmellers dialektologisches Erkenntnisinteresse und die heutige Dialektforschung, in: L. M. EICHINGER/B. NAUMANN (Hg.): Johann Andreas Schmeller und der Beginn der Germanistik, München 1988: 57-63. NAUMANN, B . : Grammatik der deutschen Sprache zwischen 1781 und 1856. Die Kategorien der deutschen Grammatik in der Tradition von Johann Werner Meiner und Johann Christoph Adelung, Berlin 1986 ( = Philologische Studien und Quellen 114). NAUMANN, B . : Sprachlehre oder Grammatik? - Jacob Grimms Einfluß auf das sprachwissenschaftliche Denken Johann Andreas Schmellers, in: L. M. EICHINGER/B. NAUMANN (Hg.): J o hann Andreas Schmeller und der Beginn der Germanistik, München 1988: 83-93. NICKLIS, W. S.: Schmeller, der Pädagoge, in: Nach Volksworten jagend. ( . . . sf), die SCHMELLER selbst sieht, und wegen der besseren Rekonstruktionsmöglichkeiten (idg. -£[/>]«) heute aufgegeben werden.

SCHMELLER begnügt'sich weitgehend damit, die suffigierten Subjekte vorzuführen. Die im Pronominalteil isoliert genannten Suffixformen der obliquen Kasus werden bei der Verbflexion nicht mehr direkt ins Spiel gebracht; so könnte man z. B. nach SCHMELLER konstruieren (vgl. 186-88). für ,ich sage mir/dir . . o d e r ,er kennt mich/dich . . . ' : ich sagmor sagdsr sagsm, sagsr

sagoss sagsch sag(s)n

er kenntme kenntde kennten,

kennts(s)

kenntsss kenntsch kennts(a)

1.3 SCHMELLER gibt auch nur en passant (192) Beispiele zu der Möglichkeit, mehrere Pronomina nacheinander zu suffigieren, im Extremfall Subjektspronomen und Akkusativ-, Dativpronomina, etwa in dem Kontext ,da habe ich es ihm gesagt'. Da nun jede der drei Positionen nach Person und Numerus flektiert werden kann, also je 6 mal, ergeben

10

Zwar „ m i t affgirtem Pronomen" (315), aber trotzdem getrennt geschrieben. Im Ganzen werden hier im Verbalteil eher orthographische statt phonetische Formen geschrieben, wie sie sich aus den gen. Suffix-Varianten ergeben würden, also lebich statt lebi, lebstu statt lebsts), daher auch die Getrennt-Schreibung. Diese typographische Inkonsequenz hat wohl nicht zu tun mit U n gleichmäßigkeiten in der Entwicklung, auf die wir noch treffen (1.7).

132

O t m a r Werner

sich sehr viele Möglichkeiten, Suffixketten zu bilden, theoretisch 6 • 6 • 6 • = 216; wegen der verschiedenen Suffix-Homophonien sind es allerdings weniger distinkte Ausdrücke. Wir können hier einige (ostfränk.) Beispiele solcher Paradigmen bilden: habisn hastesn hatersn hamersn habtersn hamsisn

,[da] habe ich es ihm [gesagt]' usw.

babisra hastesra batersra

, . . . habe ich es ihr . . .' usw.

babisader bastsader batersader

bamersene habtersene bamsisene

. . . haben wir es ihnen . . .' usw.

bamersana babtersana bamsisana

,...

habe ich sie dir [gegeben]' usw. , . . . haben wir sie ihm usw.

Mit diesen unüberschaubar vielen Suffigierungskombinationen stellen unsere M u n d arten einen Sprachtyp dar, wie man ihn sonst nur aus hochgradig suffigierenden/agglutinierenden Sprachen, etwa des Vorderen Orients, kennt (vgl. 2.1). Insofern erweisen sich unsere ostfränk.-bair. Dialekte, wenn man so will, als sehr „exotische" Sprachen. Jedenfalls lohnt es sich, von S C H M E L L E R S Angaben her diese Konsequenzen aufzuzeigen und sich klar zu machen, wieweit hier tiefgreifende morphologische Verschiebungen stattgefunden haben, die man von der Hochsprache und ihrer Orthographie her allzu leicht übersieht und die man auch bisher unter typologischen Gesichtspunkten kaum gewürdigt hat. 1.4 Diese Enklisen haben aber nicht nur zur phonologischen Reduktionen und morphologischen Integrationen geführt. S C H M E L L E R zeigt auch, wie diese Enklisen die Voraussetzung darstellen f ü r morphologische Uminterpretationen auf dem Weg über sog. falsche Trennung. Dadurch entstehen - wenn man so will: paradoxerweise phonologisch verstärkte Pronominalformen. Bereits im „Abschnitt Aussprache" behandelt er im Rahmen von KonsonantenAssimilationen solche morphologische Neuerungen. Unter „ w nach n wird ebenfalls zu m" erscheinen auch Verbformen „Statt: sollen wir [...] haben wir ... hört man allenthalben . . . : sollmar [.. ,]habm3r . . . " (156). U n d dann als „ A n m e r k u n g " : „ E s ist höchst wahrscheinlich, daß die in ganz Hochdeutschland übliche Form mir statt wir zunächst diesem Zusammenstoßen und Verschmelzen des w mit dem n in den angeführten Verbum-Personen seine Entstehung zu verdanken habe" (156f.). Er geht dann sogar soweit, das idg. Verbalsuffix - m e s aus dem ^ - P e r s o n a l p r o n o m e n abzuleiten: „Selbst das noch ältere mes in der ersten Person plur. stimmt auf dieselbe Art zum weis (wir) des Ulfila" (157). Die spätere Indogermanistik kann dies allerdings nicht gut übernehmen, da es vor allem keine Grundlagen f ü r ein - n gibt, dem das w - P r o n o m e n (idg. ueies) hätte folgen sollen.

„ A u f gleiche Weise dürfte das an der N a b und Schwarzach übliche tiz (ihr) aus dem ostlechischen iz (eß, es) und das westländische tir aus ir (ihr) durch Annahme des t vor [von?] der Endung der zweyten Person plur. der Verba - entstanden seyn" (157). SCHMELLER verweist dann auch - im Pronomina-Abschnitt - auf die Parallele von an. er ,ihr, PI.' nisl. per, färöisch tttr und an. it ,ihr, Dual' - nisl. JDJÖ, fär. tit; in seinem W o r t l a u t , , . . . für ir auch bey den Isländern: thier, bey den Einwohnern der Faröer: tear-, und für i j t , ¿3, i ß , bey diesen t i j t , bey jenen thid" (189). SCHMELLER wußte also auch vom Färöischen - dies hat HINDERLING (1985: 253) übersehen - und zwar aus RASK (1811: 277) („teär tiit"), wo auch die H e r k u n f t des t- von der Verbendung angedeutet ist.

M u n d a r t l i c h e E n k l i s e n bei S c h m e l l e r und heute

Die von

SCHMELLER

Ursprünglich haben/ham wir habt ir habt iß haben sie

133

behandelten Fälle ließen sich im Uberblick so darstellen:

mit Enklise hamir habtir habtiß habens

Enklise neu interpretiert ham — mir habt=tir habt=tiß hab=ens

neue Vollform mir tir

Die ursprünglichen zugrundeliegenden Formen, z. B. haben wir, ergeben bei Enklise an der Oberfläche hamsr. Diese Form wird offenbar so frequent, daß sich der Zusammenhang zu haben wir/wir haben löst; das Enklitikon hat eine eigene Existenz erlangt. Nach einer neuen Interpretation liegt dem hamor ein ham=mer < haben mir zugrunde, das weniger Ableitung braucht und zum gleichen Oberflächen-Ergebnis führt; die jetzt angenommenen beiden Konsonanten -m-m- führen in der Enklise, bei geschlossener Junktur, zum gleichen einfachen —m—. Bei Enklisen wird also einerseits Komplexes reduziert; andererseits können aber gerade deshalb zu den Reduktionsformen komplexere Ausgangsformen konstruiert werden, als sie ursprünglich vorhanden waren (tir statt ir). Und die Konstruktion einer neuen Vollform mir aus hamor zeigt, daß wir es nicht nur mit Oberflächenvarianten zu tun haben, die sich von einander ableiten lassen, sondern daß zu hamsr tatsächlich erst einmal eine neue zugrundeliegende Form mental geschaffen wurde. Ein häufiger Vorgang, daß die zugrundeliegende Form näher an die Oberfläche hin verschoben wird, ist hier insofern ungewöhnlich, als auch die Vollform des Pronomens von der EnklisenNeuinterpretation her neu festgelegt wird; so wird also nicht mehr die Enkliseform auf Dauer von der Vollform, sondern die Vollform (einmalig) von der Enkliseform her neu abgeleitet. Dies ist wohl am ehesten durch die Hochfrequenz der Enklisenform und die Niederfrequenz der Vollform verstehbar zu machen. Es würde in die Syntax und Textlinguistik der gesprochenen Sprache führen, wollte man genauer klären, wie es zu einer solchen Dominanz der Wortstellung haben wir > hamsr gegenüber wir haben kommt. Dieser Vorgang läßt sich auch in die für den Sprachwandel zentrale Polarität Schwächung - Stärkung' stellen, wie sie vor allem L Ü D T K E 1980 detailliert entwickelt hat. Die Vollformen werden zunehmend nur betonte und damit markierte Sonderformen gegenüber den zumeist unbetonten Pronomina, die in unmarkierten Enklisen erscheinen; die Vollformen erfahren deshalb eher Stärkung. Als „Anreicherungsprozeduren" (LÜDTKE 1980: 205ff.) gibt es neben syntaktischen Zusätzen also auch diese „falsche Trennung"; die vielen Parallelen, z. B. schwed. ni < i ,ihr', zeigen das Universelle dieses Verfahrens. SCHMELLER geht mit seinen anschließenden S p e k u l a t i o n e n allerdings n o c h einen Schritt w e i t e r , indem er sich E r w ä g u n g e n anschließt, daß P r o n o m i n a u. ä. F u n k t i o n s w ö r t e r ihren U r s p r u n g insgesamt in ursprünglichen A f f i x e n hätten ( o h n e allerdings zu erklären, wie diese Affixe ihrerseits entstanden sein k ö n n t e n ) : „ D i e s e nicht sehr alten T h a t s a c h e n würden in ihrer A r t z u derjenigen M e y n u n g s t i m m e n , nach welcher sich auch b e y der ersten [!] S p r a c h b i l d u n g die P r o n o m i n a , A r t i k e l , P r ä p o s i t i o n e n u. dergl., s o w o h l was ihre I n t e n t i o n und B e d e u t u n g , als was ihr Materielles betrifft, anfangs am K ö r p e r des V e r b u m s und N o m e n s ausgebildet, und erst nach und nach von demselben abgelöst, und zu selbstständigen W ö r t e r n e r h o b e n h ä t t e n " ( 1 5 7 ) . B e m e r k e n s w e r t bleibt in j e d e m Falle, wie SCHMELLER an der D i s k u s s i o n um die U r s p r a c h e mit seinen E r f a h r u n g e n aus j u n g e n M u n d a r t e n t w i c k l u n g e n t e i l n i m m t ; für ihn ist bereits deutlich, was in der g r o ß e n D i s k u s -

Otmar Werner

134

sion erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts anerkannt wurde: daß sich die gleichen Prozesse, wie sie für die Ursprache angenommen wurden, immer wieder, bis in die Gegenwart hinein, abspielen können. 1.5

Diese neu analysierten Verbformen ergeben aber nicht nur neue V o l l f o r m e n ,

s o n d e r n auch etymologisch abweichende Enklitika, die nun auch auf verschiedene W o r t a r t e n ausgebreitet werden: „st (du), mer (wir), er, ter, tß (ihr), ns (sie), die auch h i n t e r andern als Zeitwörtern v o r k o m m e n " (190). U n d dann folgen zahlreiche Beispiele, die wir hier zunächst etwas weiter systematisieren und diskutieren: (a) Suffigiert an F r a g e p r o n o m e n : SCHMELLER bringt hier Fälle mit wo +

Personal-

p r o n o m e n im N o m . + seyn, die wir zu einem Paradigma zusammenstellen und auffüllen (mit * ) ; sie könnten etwa v o r k o m m e n innerhalb von sag mir, wo ich bin, *wö-i

bin (statt wo

wö-st *'wo-(r)-eru

bist (wo du) is (wo er)

*wö-s is (wo sie/es)

seyn seyd/wö-tß seits san

(wo wir/mir) (wo ir/tir/tiß) (wo sie/ins)

wö-mer wo-ter wö-ns

usw.:

ich/i)

D a b e i ist folgendes zu beachten: Im Falle von mirl-mer,

(t)ir/-(t)er

k ö n n t e man zu-

nächst annehmen, daß aus den Verbformen neue V o l l f o r m - P r o n o m i n a entwickelt w u r den, die nun ihrerseits hinter andere W ö r t e r treten und dort enklitisch w e r d e n ; dies k ö n n t e man auch bei tißl-tß,

insl-ns

m i t Vokalschwund vermuten (falls es tatsächlich

selbständiges ins ,sie' geben sollte). D e r Fall -st (du) zeigt aber, daß hier direkt Enklitika von den V e r b f o r m e n auf andere W o r t f o r m e n übertragen werden; denn eine F o r m

wö-st

ist ja phonologisch nicht aus wo du ableitbar, und eine neue, andere V o l l f o r m für ,du' gibt es nicht. Das Besondere an dieser 2. Sg. ist, daß bei der Verbenklise, z. B. bei hast du —> hast(s), die enklitische Form meist mit der einfachen Verform (hast) zusammenfällt, daß dann kein eigenes segmentierbares Pronomial-Suffix mehr erscheint (wie etwa bei habt-ir). So wurde gegenüber der schon vorhandenen Vollform du keine weitere, anderslautende Vollform gebildet (wie etwa zu ir ein tir). Der Ausgang -st wird aber trotzdem nicht nur als bloßes (altes) Verbalflexiv interpretiert, sondern auch als enklitisches Personalpronomen ,du', das nun parallel zu den anderen Pronominalenklisen übertragen werden kann. Es zeigt zugleich, daß auch in den anderen Fällen der Weg nicht unbedingt über die neuen Vollformen gelaufen sein muß. Wir haben bei alledem davon abgesehen, daß bereits im -st das ~t durch „falsche Trennung" von du stammt; dies ist aber ein bereits ahd. Vorgang, der auch für die Mundarten als abgeschlossen gelten kann, da es auch hier kein bloßes Flexiv -s mehr gibt. Austausch zwischen Verbalsuffix und Pronominalenklise kann es also zu unterschiedlichen Zeiten und in beiden Richtungen geben. D i e Enklitika sind also damit als Enklitika direkt übertragbar und beweglich geworden - die Enklisen sind nicht mehr nur jeweilige phonologisch reduzierte Syntagmen; der Zusammenhang zwischen Vollformen und Enklisen (du - =st) ist weiter gelockert, auch der zwischen V o l l f o r m e n , die aus Enklisen regeneriert wurden, und den neu movierbaren Enklisen (sie - =ns).

Anstelle der Zusammengehörigkeit und Ableitbar-

keit von V o l l f o r m und Enklitikon ist die Einheitlichkeit des Enklitikon wichtiger gew o r d e n ; diese selbständigen Enklitika haben sich damit eine Stufe weiter in Richtung Agglutination bewegt. " Zum - (r) - vgl. unten (d) und 1.7.

135

M u n d a r t l i c h e Enklisen bei Schmeller u n d h e u t e

N u n gäbe es auch dazu zahlreiche weitere Möglichkeiten der Enklise: oblique Kasus und Verkettungen aus alledem, z . B . wo=der=s gfällt , w o es dir gefällt', wo=st=s=n zeigst , w o du es ihm zeigst', wo=ter=s=ena zeigt ,wo ihr es ihnen zeigt', usw. (b) Schon das wo kann als Relativpronomen fungieren; SCHMELLER bringt weitere Basen f ü r Enklisen, die vor allem als Relativpronomina auftreten (190): dem-st gehörst (dem du . . )

dem-tß

den-st willst (den du . . )

den-tß wölltß

gehörtß

(dem eß gehört, d e m ihr gehört) (den eß wollt, den ihr wollet)

A u c h hier sind weitere Enklise-Ketten möglich, wie z . B . dem=st—s sagst', dem=ter=sa

sagst ,dem du es

geht ,dem ihr sie gebt'.

(c) Dieselben Enklisen k ö n n e n auch bei K o n j u n k t i o n e n erscheinen, zu

denen

SCHMELLER B e i s p i e l e g i b t ( 1 9 0 ) :

daß-st kannst (daß du . . )

daß-tß kUnntß

(daß eß kiinnt,

p h o n e t . eher [dast]

daß-ns künnen

(daß sie können)

wenn-st

wenn-tß

(wenn eß mügt, w e n n ihr möget)

magst (wenn du . . )

mügtß

Auch hier k ö n n t e man mit Enklise-Ketten ergänzen wenn=st=s magst', daß=ter=sa

daß ihr könnet)

magst , w e n n du es

fragt ,daß ihr sie fragt', usw. U n d man k ö n n t e weitere K o n j u n k -

tionen als Basen a n f ü h r e n : ob=st kommst,

wal=ter=n

fragt ,weil ihr ihn fragt',

bis=i-

=sa frag ,bis ich sie frage'. (d) Als letzten Bereich nennt SCHMELLER die gebietsweisen ,,Pronominal-Suffixa auch hinter A u s r u f - P a r t i k e l n " (191); am bekanntesten d ü r f t e wohl sein: gel 3' nicht wahr, Er?

gel ts nicht w a h r , Ihr?

gel s• nicht wahr, Sie?

gel ns- nicht w a h r , Sie?

Es ist verständlich, daß hier nur die 2. Pers. infrage k o m m t b z w . als A n r e d e b e n u t z t e grammatische 3. Pers. ¡eigenartig ist aber, daß die 2. Sg. hier fehlt. Ahnliche Teilparadigmen erscheinen f ü r die Interjektionen hd~-, sè-, w 'vs- und „ a u c h w o h l : nâ~-ts! nein, i h r " (191). Das r in der 3. Sg. hâ -r-s!, sè-r-s'!, wh-r-s'!

dürfte wohl

rein lautlich Hiatusfüllend sein; t r o t z d e m k ö n n t e man auch die Enklise-Variante -rs ansetzen. SCHMELLER (191) vergleicht d a m i t die got. I n t e r j e k t i o n hin, die ebenfalls m i t Verbalsuffixen versehen sein k a n n als ,,hirith! her, i h r ! " u n d ,,hirjats! h e r , ihr b e y d e ! " ; hier, d ü r f e n wir jedoch h i n z u f ü g e n , h a n d e l t es sich aber u m reguläre V e r b - S u f f i x e (2. P I . / D u a l mit identischem I m p . ) , nicht u m Verbausgänge m i t P r o n o m i n a l e n k l i s e n .

1.6 Sodann verweist SCHMELLER zunächst k u r z auf die Möglichkeit, daß „ d a s P r o n o men in einem und demselben Falle doppelt, nemlich selbständig u n d affigirt vork o m m t ] " (191); z . B . in Wart! i sàg da' s glei' dar! ... Wen ms' miar dés thasn: so thästs és dés ands'. Schon diese Beispiele zeigen vielerlei Möglichkeiten: verschiedene Kasus (Dat., N o m . ) , suffigiert an V e r b f o r m e n und an eine K o n j u n k t i o n , mehrfache Suffigierungen (sàg=d3'=s); suffigierte und volle F o r m unmittelbar hinter einander oder auch d u r c h anderes getrennt. Wir wollen hier nicht den Versuch machen, eine vollere Systematik der Möglichkeiten und Regularitäten zu erstellen, etwa in Bezug auf die Syntax. U n d wir k ö n n e n nur vermuten, daß die vollen P r o n o m i n a nur fakultativ bei B e t o n u n g stehen; SCHMELLER schreibt nur, daß sie „ s e h r gerne" in gewissen Gebieten v o r k o m men.

Otmar Werner

136

Wir wollen aber das weitere Entwicklungsstadium beachten, das die Suffixe damit in Richtung auf Flexion erreicht haben: Die Pronominalenklise ist hier nicht mehr eine unbetonte Alternative z u r (zugrundeliegenden) betonten Vollform, sondern ein obligatorisches Suffix, unabhängig davon, o b eine selbständige Vollform - aus H e r v o r h e b u n g s g r ü n d e n - hinzutritt oder nicht. Etwas schematisiert: Vollform Enklise (Vollform) Enklise

PAUL (1880/1968; 311 u. 349) sieht gerade in diesen bair. Doppelungen, die er unter K o n g r u e n z abhandelt und auf die er bei der „ E n t s t e h u n g der . . . Flexion" verweist, bereits eine Wiederholung zur Entwicklung der Verbsuffixe aus Pronomina im Idg.; wenn nun noch die Vollform des P r o n o m e n s obligatorisch wird, dann büßten die Suffixe ihre „ S u b j e k t s n a t u r " ein und zeigen „ n u r durch die Kongruenz die Beziehung auf das Subj.". Bei genauerem Zusehen zeigen sich allerdings bei diesen bair. F o r m e n noch deutliche Merkmale des Enklise-Stadiums: Z u m einen erscheint das Pronominalsuffix noch an mehreren Wortart-Basen je nach Syntagma (wen ms'); u n d wenn es bereits an einer anderen Wortart erscheint, dann fehlt es beim Verbum finitum ( . . . thasn). Ahnlich d ü r f t e das Suffix auch dann entfallen, wenn in der 3. Pers. eine größere N o m i n p h r a s e , u n d nicht nur ein Pronomen, erscheint (Die Leut kommen und nicht *... kommens). Es ist also weder ein obligatorisches noch ein ausschließliches Verbalflexiv. Z u m anderen erscheinen solche Enklisen und ihre parallelen fakultativen Vollf o r m e n nicht nur im N o m . , sondern auch bei anderen Kasus (sag da's ... disr!), die ja nur von Fall zu Fall auftreten; diese Suffixe sind damit insgesamt also auch am V e r b u m fakultativ u n d damit noch keine volle/obligatorische Verbflexion. SCHMELLER verweist auch auf s p a n . / f r z . Parallelen m i t d o p p e l t e m - stark und schwach b e t o n t e m P r o n o m e n : I n telo diré a ti (192) ist aber das s c h w a c h e te keineswegs Verb-suffigiert, es ist eher die Basis f ü r suffigiertes lo. U n d in moije te le dirai ä toi h a b e n wir z w a r zwei D o p p e l u n g e n ; in moije [ m w a 3 ] h a b e n wir P r o n o m i n a l - B a s i s mit -Suffix (vgl. 1.9), u n d in te ... toi ist das te sicher keine Verbenklise, w e n n ü b e r h a u p t Enklitikon. D i e Parallelität b e t r i f f t also n u r die D o p p e l u n g selbst. In quiero decírtelo a ti z. B. hätten w i r wie in d e n M u n d a r t f ä l l e n Verbenklise u n d V o l l f o r m .

1.7

Sodann n e n n t SCHMELLER kurz die Möglichkeit, daß Präpositionen die Basis f ü r

P r o n o m i n a l e n k l i s e n b i l d e n : ,,beymsr,

beydsr

. . . zuamsr,

zuador,

zua-n-urts,

zus-n-is"

(192). H i e r werden von SCHMELLER nun auch die suffigierten obliquen Kasus, hier vom D a t . , in vollen W o r t f o r m e n vorgeführt, wenn auch leider nicht durch volle Paradigmen. D i e gen. Fälle lassen zunächst direkte Reduktionen zu den Vollformen erkennen: mir - msr, dir - dar. Zu uns nennt SCHMELI.ER im Paradigma (187) „suffigirt: iss, oss", verwendet aber hier zws-n-uns mit einem offensichtlich Hiatus-füllenden -n-, wie dies auch vor -is erscheint. (Es wäre eine eigene Aufgabe, diese Hiatus-Füllungen wie - r [1.6], -n- zu studieren: wieweit sie phonologisch determiniert sind, wieweit nicht, und dann zur Enklisebildung mitzurechnen sind.) Die F o r m zu-n-is ist vor allem aber wegen des -is erklärungsbedürftig; denn SCHMELLERS Pronominal-Paradigmen enthalten kein Dat.-Suffix -is o. ä.

M u n d a r t l i c h e E n k l i s e n bei S c h m e l l e r und heute

137

S C H M E L L E R hat die Enklisen bei Präpositionen nur fragmentarisch angedeutet; wie so oft, werden hier weitreichende Tatbestände und Probleme auf knappstem Raum genannt und mit Beispielen angedeutet, wir könnten auch sagen: der weiteren Forschung empfohlen. So müßte man hier volle Paradigmen ergänzen und durchprüfen, wieweit bei den verschiedenen Präpositionen - außer mit Dat. auch mit Akk. - diese Enklisen möglich sind. Vom Ostfränk. her zeichnet sich etwa folgendes - phonetisch transkribiert - ab (in den Kontexten bleib' bei mir; er macht es für mich):

'baima 'baida 'baine, 'bai(a)r

ba(i) 'uns ba(i) 'oix 'baianß

fa 'mix fs 'dix 'fene, 'fere

'uns fs 'aix 'feamj/'fesB

Wir treffen hier auf wenig einheitliche Verhältnisse: Nur in einem Teil der Pers./Num.Positionen erscheinen Enklisen; in anderen liegen selbständige, betonte Pronomina vor mit der Folge, daß es dann eher bei den Präpositionen Reduktionsformen (Präklisen?) gibt. Der Anteil der Enklisen ist zudem je nach Kasus verschieden: Beim Dat. sind nur die 1./2. PI. Vollformen, beim Akk. auch die des Sg. - nur die 3. Sg./Pl. sind hier enklitisch. Die Staffelung ist offensichtlich von den Frequenzstufen abhängig. Weitere Stufungen würden sich sicher im sprachgeographischen Raum ergeben. Es läßt sich jedenfalls feststellen, daß die Pronominalenklisen nach Präpositionen weniger weit fortgeschritten sind als die am Verbum und daß sie hier eigenständig entwickelt werden; es gibt keine Spuren einer Übertragung spezieller Verbenklisen, wie wir sie z . B . bei den Konjunktionen hatten. Für genauere Klärungen eröffnet sich ein weites Arbeitsfeld. U n e i n h e i t l i c h k e i t e n , unterschiedliche E n t w i c k l u n g s s t a d i e n im Paradigma gibt es offensichtlich in m e h r e r e n B e r e i c h e n . ALTMANN 1984, 2 0 2 , z. B . zeigt, d a ß in seinem D i a l e k t gerade die 2 . Sg./Pl. und z. T . die 1. PI. beim V e r b u m zu Flexiven g e w o r d e n sind, w ä h r e n d sonst n o c h E n k l i t i k a vorliegen. W i e s o ist gerade im B e r e i c h der 1./2. P e r s o n einmal die E n t w i c k l u n g b e s o n d e r s weit fortgeschritten (obligatorisches Suffix am V e r b ) und einmal besonders weit z u r ü c k g e b l i e b e n (keine E n k l i s e an der P r ä p . , am wenigsten beim A k k . ) ?

1.8 Bei S C H M E L L E R folgen nun Fälle, bei denen enklitische Pronomina an VollformPronomina als Basis treten: „Dieses Suffixum [en] kommt im Ostlech. u. Nab-Dialekt auch nach den Dativen: uns, enk, im, in, vor uns-n, enk'n (ihn uns, ihn euch); imen, inen (ihn ihm, ihn ihnen)" ( 1 9 2 ) . Für diese Kombinationen von Dat. + Akk. muß man sich Syntagmen konstruieren, offenbar wie: Er gibt uns-n/enk-n/imen/inen - statt z. B. ostfränk. Er gibtn uns/ euch/gibtnna/gibtnena. Auch hier scheint es regionale Unterschiede zu geben in Bezug darauf, was wo auf welche Weise suffigiert wird; und dabei kommt es dann auch zu syntaktischen Unterschieden in der Satzgliedfolge.

„So wird diesen Dativen auch das sie, s-, und eß, •ß suffigirt: /uns s', uns ß; enk s, enk ß (sie uns, es uns; sie euch, es euch); ims-, imß; inens-, inenß (sie ihm, es ihm; sie ihnen, es ihnen)" ( 1 9 2 ) . Wir müssen hier darauf verzichten, die Paradigmen ergänzen und vergleichen zu wollen; wir stellen aber fest, daß offenbar nur Akkusative der 3. Pers. so suffigiert werden können. Von hier ist es nur ein weiterer Schritt, wenn S C H M E L L E R kurz die Möglichkeiten nennt, daß beide Pronomina zusammen an einer Verbform enklitisch erscheinen (vgl. 1 . 3 ) : , , . . . hinter Verben das Doppelpräfix [recte -suffix]: ns-, nß (sie ihm, sie ihnen; es

138

O t m a r Werner

ihm, es ihnen); an der Pegnitz hingegen umgekehrt: sn, ßn" ( 1 9 2 ) . Damit macht S C H M E L L E R darauf aufmerksam, daß sich Unterschiede in der Satzgliedstellung bis zur Enkliseabfolge hin bemerkbar machen. (Näheres dazu auch bei A L T M A N N 1 9 8 4 : 2 0 5 ) . Eine solche Folge von Basispronomen + Enklisepronomen kann sich aber auch in anderer Richtung entwickeln: Sie kann in eine einheitliche, phonologisch verstärkte und morphologisch stärker differenzierte Pronominalform übergehen; das zweite, suffigierte Pronomen wird dabei zur Flexionsendung für K a s u s / N u m . / G e n u s : der Weg von der Pronominal-Vollform über die Pronominalenklise zum bloßen Flexiv (eines anderen Pronomens) ist damit am weitesten gegangen. S C H M E L L E R nennt solche Fälle zunächst beim Possessivpronomen: ,,. . . iner statt ir (d. h. illorum, illarum, ital. loro, franz. leur) ist ohne Zweifel nur eine Zusammensetzung aus in und ir (ihnen ihr)" (194). Aus ,Pers. Pron. 3. Dat. + Poss. Pron. 3. N o m . ' (vgl. umg. dem sein/ihnen ihr Haus) wird ein neues erweitertes und flektiertes Possessivpronomen. Aus der endungslosen Suppletivform ihr wurde über das Syntagma ihnen ihr ein flektiertes ihner - ein Musterbeispiel für den A u f - / A b - und U m b a u , wie er sich vielfach im Pronominalbereich abspielt: ein Element (ihr) wird durch ein weiteres Element (ihnen) verstärkt; die Schwächung des einen Elements (ihr) f ü h r t dann zur Stärkung des anderen (ihner). S C H M E L L E R k o m m t dann auch auf den funktionalen Ertrag zu sprechen: „ D a s ostlechische C o m p o s i t u m in-ir (ihnen, ihr) iner . . . ist wohl eine neuere aber sehr gerathene Bildung, welcher eine größere Ausbreitung gewünscht werden dürfte. Denn da sie bestimmt nur auf den Plural weiset, so ist darneben das ir blos auf ein Feminin sing, bezüglich: eine Unterscheidung, die nach dem schriftdeutschen Gebrauch des ihr nicht gemacht werden kann, w o z. B. sowohl: iner Land . . . als: ir Land ... durch „ i h r L a n d " gegeben werden m u ß " ( 1 9 9 ) .

Fälle, bei denen es auf d e m W e g über die Enklise zur Stärkung von Vollformen k o m m t , sind

vielfach in der älteren Sprachgeschichte zu beobachten (z. B. me-» me+ik —> mik > mich)-, und wir hatten ähnliche Fälle, w e n n auch mit anderem Mechanismus bei der „falschen T r e n n u n g " der P e r s o n a l p r o n o m i n a ir —» tir, ¿3 —» te'3. Einen U m b a u , w e n n auch o h n e merklichen Stärkungseffekt, behandelt SCHMELLER bei sie, si^> is u n d es—» si: „ D a bey nachlässiger Aussprache [und d. h. eben bei Enklise] s o w o h l sie als eß wie s gehört werden, so erklärt sich leicht die fehlerhafte, verwechselnde Wiederergänzung si statt es, is, und is statt sie, si. Auf ähnliche Weise ist die alte N e g a t i o n ni, ne zu n- u n d endlich gar zu en g e w o r d e n " (192). 1.9 N u r kurz verweisen wollen wir hier schließlich auf zwei weitere von S C H M E L L E R angeführte Enklise-Fälle, die im Nordischen gewisse stärker fortgeführte Entsprechungen haben: (a) Zum einen kann auch das Reflexivum in den Mundarten enklitisch erscheinen: „ A c c . sich, suffigirt: si', se'" ( 1 9 6 ) , z . T . auch f ü r den Dat. - allerdings gibt S C H M E L L E R keine Beispiele dafür (ostfränk. er machtsi[ch]). Bemerkenswert für die Enklise-Diskussion ist die Ausbreitung einer Einheitsform: „Hingegen wird der Accusativ sich besonders an der Nab und Pegniz als Reciprocum nicht blos für die dritte Person sing, und plur., sondern auch für die erste (und zweyte?) plur. gebraucht. Mir bedanken sich ..." (197).

Beides, der Ubergang von selbständigen flektierten Wortformen zu Enklitika und die Vereinheitlichung auf ein einziges Suffix hin, liegt auf der Linie von der Syntax zur Morphologie, bei der die Enklisen ein Zwischenstadium bilden. SCHMELLER selbst macht auf die Parallele zum nord. Passiv aufmerksam, wo der Weg vom selbständigen

Mundartliche Enklisen bei Schmeller und heute

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Reflexivpronomen über die Enklise zur grammatischen Kategorie voll genommen w u r de: „ S o ist wohl auch das 5 an den skandinavischen Passiven . . . nur ein sich, das für alle 3 Personen gilt" (197). Daß in den Mda. diese Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten ist wie etwa im Schwed., kann man an folgenden Vergleichsbeispielen sehen: i habmi fragt, mir frangsi, mir hamsi fragt, da hamersi fragt... - jag har (till-)frägats, vi {tili) fragas, vi har (tili) frägats, da har vi (tili) frägats ... In der dt. Mundart wechselt das Enklitikon noch z . T . nach Pers./Num.; im Schwed. ist das Flexionssuffix -s (< sik) einheitlich, unabhängig von den Vollformen sig, mig, oss usw. Das mda. Suffix verschiebt seinen Platz je nach Syntagma: es erscheint am Hilfs- oder Hauptverb, direkt am Verbum finitum oder nach dem suffigierten Subjektspronomen; im Schwed. ist es immer direkt am Hauptverb. In der Mundart liegt wie bei den Vollformen nur , Reflexiv' vor, das Suffix ist nur eine Ausdrucksvariante; im Schwed. fand beim Suffix auch eine semantische Verschiebung zum ,Passiv' statt, während die Vollform , Reflexiv' geblieben ist (jagfrägar mig). (b) N i c h t so deutlich ist zum andern die teilweise Parallelität zum nord. suffigierten bestimmten Artikel. SCHMELLER nennt beim Artikel neben den Vollformen immer auch reduzierte F o r m e n , ohne sie allerdings eigens als affigiert/präfigiert zu bezeichnen, was sie dann tatsächlich sind: „ D i e F o r m der erscheint also in der Aussprache als: der, dar, ds', die als: di, de, d-, '• (vor S c h l a g l a u t e n ) ; . . . daß als: 'is, 's...

dem,

dar,

den als: 'im,

'in; 'am, '3«, '-m, '•«" (206). In der G r a m m a t i k werden dazu zwar keine Beispiele gegeben, wir können sie aber den M u n d a r t - P r o b e n Zwif-'ln,

d- Weibs',

aber De gast

Frau

entnehmen; z . B .

D-Frau,

d-

( 4 9 7 f . ) , man vgl. auch HINDERLING ( 1 9 8 4 ; 53)

mit „ d a B e s n / d ' B e s n . . . s F ö l d / d ' F ö l d a " . Parallel zum nord. suffigierten best. Artikel könnte man hier versucht sein, von einem präfigierten best. Artikel zu sprechen; da der mda. Artikel aber keineswegs regelmäßig präfigiert auftritt (nur bei bestimmten Artikelformen, in bestimmten S y n tagmen usw.), haben wir es noch mit rein phonologischen, syntaxgebundenen Enklisen primitiver A r t zu tun, weit entfernt von einer Flexionskategorie ,definit'. - Es sei hier aber n o c h darauf verwiesen, daß mit diesen Proklisen offenbar auch Änderungen des phontaktischen Systems verbunden sind: Anlautverbände wie / d f r - , dv/, die es sonst nicht gibt, entstehen hier neu. A u f der anderen Seite ergeben sich nach SCHMELLER auch beim unbest. A r t i k e l ähnliche reduzierte und damit auch präfigierte Varianten: „ S t a t t ain, aine v o r Vocalen h ö r t m a n : sn, vor C o n s o n a n t e n : 3 Busss,

...

3 n Zwif-l"

. . s t a t t ainer...

3 r, s r s r , 3 ' . . . " ( 2 1 9 ) , z. B . „ 3

(498). V o n daher hätten der best, wie der unbest. Artikel die

gleichen Ausgangsbedingungen, zu flexivischen Kategorien zu werden. D e r best. Artikel wird aber nicht nur beim folgenden Substantiv präfigiert, sondern auch - ähnlich wie in der H o c h s p r a c h e , aber in weiterem U m f a n g - nach Präpositionen affigiert: ,,'im Herrn,

'in Herrn,

mi'n Herrn

. . . " (206). E s sind aber w o h l auch V e r b i n -

dungen von Präpositionen plus enklitischem unbest. Artikel möglich: „von

3 n

Mä~"

(498) ist wohl so zu verstehen. Wir brechen die Diskussion dieser vielerlei, m. W. noch weitgehend ungeklärten Möglichkeiten ab und verweisen nur darauf, daß es sicher noch zahlreiche weitere pro- und enklitische Möglichkeiten gibt (z. B. z'Amd ,zu Abend', als proklitische Präposition, was hastn gmacht ,was hast du denn gemacht', also enklitische Modalpartikel), die bei SCHMELLER nicht eigens abgehandelt werden; oder es gibt Fälle, deren - möglicherweise enklitischen - Ursprung SCHMELLER selbst nicht erklären kann (z.B. beim erweiterten Demonstrativum ,,dea'l(dieser), de-l(diese), ¿¿JSS/(dieses)" (204) und ähnlich ,,wo-l? (wo?), da-l (dort), sossl (so) . . ." (204). All das sind weite Felder für die dialektologische Forschung.

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Otmar Werner

2. Zusammenfassende und weiterführende Gesichtspunkte zu den Enklisen 2.1

W i r sind m i t SCHMELLER auf eine Vielzahl v o n d e n Enklisen in den M u n d a r t e n

g e s t o ß e n . W i r k ö n n e n nun an SCHMELLERS eigenen universalistischen I n t e r e s s e n 1 2 ank n ü p f e n u n d fragen, w i e w e i t w i r es hier mit einer b e s o n d e r e n Situation z u tun h a b e n , o d e r o b s o l c h e E n k l i s e n in vielen S p r a c h e n verbreitet sind, o b auch d o r t ähnliche K a t e g o r i e n an ähnlichen B a s e n suffigiert a u s g e d r ü c k t w e r d e n . N u n gibt SCHMELLER selbst i m m e r w i e d e r einzelne H i n w e i s e auf Parallelen in n o r d . , r o m a n . u n d slaw. S p r a c h e n ; es kann aber n i c h t unsere A u f g a b e sein, m ö g l i c h s t vielen s o l c h e r F ä l l e n a c h z u g e h e n , z u m a l es h i e r z u s c h o n einiges an L i t e r a t u r gibt 1 3 . S t a t t d e s sen w o l l e n w i r hier eine Sprache zu einer V e r g l e i c h s s k i z z e h e r a n z i e h e n , die in b e s o n ders h o h e m M a ß e Ä h n l i c h k e i t e n zeigt: die ä g y p t i s c h - a r a b i s c h e U m g a n g s s p r a c h e (die Sprache von Kairo) ( z . B .

nach MITCHELL1975: 5 2 - 5 6 ,

ABDEL-MASSIH u . a . :

1979:

2 1 5 f f . ) , in die ich zufällig E i n b l i c k g e n o m m e n h a b e ; das Klassische A r a b i s c h e w ü r d e w o h l A h n l i c h e s , w e n n auch nicht in so w e i t e m U m f a n g zeigen. D i e E n k l i s e - S y s t e m e h a b e n sich in d e n semitischen Sprachen über J a h r t a u s e n d e erhalten u n d w u r d e n s o g a r n o c h v e r s t ä r k t . V o n SCHMELLER wissen w i r aus seinen T a g e b ü c h e r n , daß er sich auch m i t H e b r ä i s c h u n d A r a b i s c h beschäftigt h a t 1 4 ; a u c h i h m hätten diese Ä h n l i c h k e i t e n auffallen k ö n n e n , die w i r hier jeweils m i t einigen Beispielen a n d e u t e n : (a) P e r s o n a l p r o n o m i n a a m V e r b u m als Subjekt u n d O b j e k t e : ich sage es

isag=s

[dna]

a-

da sage ich es

...sag=i=s

,ich'

, i c h ' , s a g - ' ,es'

pül=

(h)u

[hüwwa] ,es'

Wir wollen jeweils auf die Unterschiede hinweisen: das Subj.-Pron. ist stets präfigiert, das O b j . Pron. suffigiert. Wenn wegen der Akzentuierung die Vollformen (in eckiger Klammer) stehen, so werden sie zu den Enklisen hinzugefügt, es wird also „gedoppelt"; eine phonologische Ähnlichkeit zwischen den Vollformen und dem Affix ist zumeist erkennbar. ich sage es ihnen

i sag=s=3na ...

sag = i=s = ona

[dna]

a - pul=hü

= I =

hum

,es',zu',sie PL'

fhümma] ,sie P L '

Beim „ D a t i v " steht eine ebenfalls enklitisch gewordene Präp. mit der Vollform Ii. Die Einheit der enklitisch erweiterten Wortform ist vor allem durch den Akzent (zumeist vorletzte Silbe) gegeben

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Wie sie vor allem R. HARNISCH 1985 herausgearbeitet hat; „universalistisch" verwenden wir hier undifferenziert für ,allen Sprachen zugrunde liegend/notwendig' und ,in allen Sprachen vorhanden/möglich', weil erst noch zu klären ist, ob Enklisen fakultative oder für den Sprachwandel notwendige Erscheinungen darstellen, und ob Sprachwandel ein „Universale" darstelltich neige dazu, beidemale J a zu sagen.

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Vgl. Anm. 3. Auffallenden Ähnlichkeiten zwischen dem Bair. und roman. Sprachen bei enklitischen Subjektspronomina geht KÖRNER 1983 nach. Auf seine spezielle Frage, wieweit in der 2. Sg./Pl. Null-Enklisen systematisch und nicht nur phonologisch bedingt seien, können wir hier nicht näher eingehen. Sicher ist es aber ein Mißverständnis, in , , g ä d d s midd ( = ,geht ihr mit?')" (S. 39) das „ s " als Null gegenüber der Vollform „ i h r " zu erklären, wo es doch die Reduktionsform zu eß ,ihr' darstellt. Und daß -st (bei KÖRNER in „ k i m s d " ) nicht nur Verbalendung, sondern zugleich suffigiertes Pronomen ist, geht aus Übertragungen wie wo-st,wo du' (vgl. 1.5) klar hervor.

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Vgl. BRUNNER 1971: 75 und hier in diesem Band, S. 117-124.

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Mundartliche Enklisen bei Schmeller und heute

mit evt. Kürzung des nicht-akzentuierten zugrunde liegenden Langvokals (pül —> pul). Enklitika können hier folglich trotz ihrer (diachron gesehenen) Reduktionsform u. U . zu Akzentträgern werden. du sagst es ihr

du sagts=s=sra

[intd]

... sagst=3=s=sra

,du'

ti-pul

= hü=l=ha

,du'

[hiyya] ,sie, fem. S g . '

(b) Personalpronomina an der K o n j u n k t i o n : daß sie sagen

ddß=ns

sang

?inn

= ü =

,daß'

hurny^^ül^u ,sie,

3. P L '

Zwischen den Konj. und dem Suffix erscheint ein Einschubvokal, der aus phonotaktischen Gründen den Akzent erhält; das Subj.-Pron. erscheint enklitisch an der Konj. und als diskontinuierliches Verbalsuffix, also doppelt - ähnlich der mda. Personalendung. pinn

weil sie es vergessen

•wal=sa=s...

lipann=d=ba ,weil'

hat

nisy-it

(=u)

,sie, fem. Sg.'

,es'

Nur das Subj. wird an die Konj. suffigiert, das Objekt wird - falls hier überhaupt - an die Verbform suffigiert. (c) Personalpronomina an der Präposition: bei mir

baimar

[bai mis]

ednd ,bei'

zu ihnen

zü=3na/ze-na

l

[zu denaJ

,zu'

= i

[dna]

,ich'

,ich, betont'

=ü = hum ,sie'

[humma] ,sie'

Bei Akzentuierung des Pron. erscheint es enklitisch und dazu als Vollform. In l-ü-hum Einschubvokal das Zentrum für die proklitische Präp. Ii—* 1= und enklitisches =hum. (d) B e s t i m m t e r Arikel proklitisch am Substantiv: das Haus

s'Haus

il=bet

die Füße

d'Feiß

ir=riglen

ist der

Der Artikel il wird z. T. an den Anlaut des Subst. assimiliert. (e) D e r Artikel enklitisch an der Präposition: in dem!im zu dem/zum

Haus Fuß

im Haus

f=il=bet

zem Fuß

l=ir=rigl

Die Vollformen der Präpositionen wären/f, Ii; beide, Präp. + Art., werden am Subst. präfigiert. A u ß e r diesen gemeinsamen Enklisen haben beide Sprachformen jeweils n o c h Enklisen, die o h n e Entsprechung in der anderen Sprache sind: Zu unseren Enklisen nach dem Frage-/Relativpronomen ( w ö - s t , dem-st),

nach den Interjektionen ( g e l - n s ) gibt es keine

äg.-arab. Pendants. U n d im A g . - A r a b . gibt es suffigierte Possessiva ( b e t = i / ,mein, ihr Haus'), diskontinuierliche Verbalnegationen (ma=tiyul=(h)ü=s

bet=ha

,sie sagt es

nicht') u . ä . ; Negationsenklisen (etwas einfacherer Art) hatten wir aber n o c h bis zum M h d . (sie ez

ensaget).

Reichlicher Gebrauch von Enklisen kann also für bestimmte Sprachen oder b e s t i m m te Stufen einer Sprachentwicklung charakteristisch sein. Es ist bemerkenswert, d a ß das D e u t s c h e derzeit offenbar solche Schübe von Enklisen erfährt. Gewisse D i a l e k t e sind dabei schon weiter vorangegangen als die Standardsprache, sowohl in Bezug auf die A r t

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der Enklisen als auch auf die Fortentwicklung zur Flexion hin. Die gesprochene U m gangs-/Standardsprache hat bereits mehr Enklisen als die Bühnen-/Schreibsprache, die immerhin auch Fälle wie vom, zur als obligatorisch standardisiert hat und die bei gemäßigter Hochlautung sicher viel mehr fakultative Enklisen zeigt, als es das orthographische Bild verrät, wo sozusagen Tiefenstruktur geschrieben wird. Die Neigung zu Enklisen macht sich z. B . bemerkbar, wenn man die Sprech-/Umgangssprache schriftlich wiedergeben will (er hat'n, weil's so is\ mit'm). Und wenn man in einer literarischen Ubersetzung die Umgangssprache nachzuahmen versucht, so zeigt sich, daß es in der anderen Sprache u. U . ganz andere Eigenschaften sind, denen dann bei uns vorwiegend Enklisen entsprechen (vgl. WERNER 1987, Übersetzungsprobleme...: 315). Nun könnte man generell vermuten, daß in allen gesprochenen Sprachformen immer Enklisen auftreten; auch in älteren dt. Texten lassen sich ständig Enklisen nachweisen: z. B. in den PARISER GESPRÄCHEN des 10. J h . : ,,Guaz guildo? (quid uis tu?)", „ G i m e r min ros. (da mihi meum equum)" (zitiert nach BRAUNE u.a. 1979: 10), im Mhd. dö kuster, aldd erz hörte, zir friunde, sine gerten (Beispiele aus Parzival 97-99). Eine weitere Frage ist jedoch, wieweit diese Enklisen zu festen systematischen Einheiten werden (dt. zum), in reguläre Flexion übergehen (runisch Pan-si, ahd. desan, nhd. diesen), ihre bleibenden Spuren hinterlassen (ahd. frages du —> fragest \dü\), oder wieweit sie im Spannungsfeld zwischen Synthese und Analyse bald wieder aufgelöst werden, wieweit daneben eine analytische Form erhalten bleibt oder als alleinige Form wiederhergestellt wird aus dem Nebeneinander von isolierten und enklitischen Varianten. Von der Hochsprache mit ihren geschriebenen Normen dürfen wir prinzipiell vermuten, daß sie eher zugunsten einer Auflösung von Enklisen wirkt; es bleibt umso bemerkenswerter, was durch diesen Filter schließlich doch noch hindurch kommt und sogar zur orthographischen N o r m wird oder schon geworden ist. In den Mundarten SCHMELLERS scheint sich jedenfalls ein relativ stabiles Enklisesystem etabliert zu haben, das sich eher verbreitert und stellenweise auf Flexion hin verschiebt, als daß es sich zur Isolation zurückentwickelt. Es fragt sich, ob es - ähnlich etwa wie im Arab. - lange als Enklisesystem stabil bleibt und möglicherweise zunehmend auch die Standardsprache erfaßt. 2.2 Man hat zurecht festgestellt, daß SCHMELLER „von den lebenden Mundarten aus in die Sprachgeschichte zurückblicke" (HARNISCH 1985: 52) - anders als die epochemachenden Sprachhistoriker seiner Zeit, die sich vor allem mit den Alt- und „Ursprachen" und ihrer Rekonstruktion beschäftigt haben. Den ersten konsequenten Vorstoß in dieser Richtung hatte BOPP 1816 mit dem CONJUGATIONSSYSTEM unternommen, gleichzeitig war Schmeller mit seiner Grammatik beschäftigt, die 5 Jahre danach gedruckt vorlag. Die Entdeckung, daß bereits die idg. Ursprache ein reiches Flexionssystem gehabt haben muß, brachte zwar auch BOPP zu der Annahme, daß diese Flexion aus einst selbständigen, dann aber enklitischen Einheiten entstanden sein muß. Diese Einsicht wurde übrigens damals erleichtert durch die Kenntnis der semitischen Sprachen, wo der Zusammenhang zwischen Enklisen und Vollformen meist deutlich zu erkennen ist. Nun haben philosophierende, systematisierende Denker von W . v. HUMBOLDT (hier bes. posthum 1836) bis SCHLEICHER (1850) aus diesem idg. Sprachbefund Schlüsse gezogen zur Entwicklung der Menschheit und des menschlichen Geistes: von einer kindlichen Frühphase des isolierenden Sprechens über die blühende Jugendzeit mit

M u n d a r t l i c h e E n k l i s e n bei S c h m e l l e r und h e u t e

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einem reichen Flexionssystem bis hin zu der späteren Reife/dem Altern mit seinem Flexionsverfall. Hätten diese Denker SCHMELLERS Mundart-Studien mit ihren EnkliseBeobachtungen aufmerksam verarbeitet, oder hätte sich SCHMELLER selbst stärker an der Debatte der „ G r o ß e n " beteiligt, so wäre man schon vor STEINTHAL ( 1 8 5 0 , 1 8 6 0 ) , S C H E R E R ( 1 8 6 8 ) und P A U L ( 1 8 8 0 ) zu der Einsicht gelangt, daß morphologische Entwicklungen jeglicher Art im Prinzip in jeder Sprache und zu jeder Zeit stattfinden können; daß es immer wieder zu Enklisen kommt, aus denen sich neue Flexion entwikkeln kann; daß wir die erneute Entstehung von Flexion auch in historischer Zeit (z.B. nord. 5-Passiv) und bis in die Gegenwart hinein beobachten können. Freilich bleibt die weitere Frage, weshalb solche verstärkte Enklise-Schübe bis hin zur Flexion bei uns nur begrenzt eingetreten sind. Weder SCHMELLER selbst noch Spätere scheinen darüber nachgedacht zu haben, was diese verbreiteten bair.-ostfränk. Enklisen und ihre unterschiedlichen Weiterentwicklungen begründet hat und wie die Chancen stehen, daß sie zunehmend auch in die Standardsprache weiter (über vom u. ä. hinaus) eindringen. Steht uns im Dt. eine Phase starken flexivischen Aufbaus bevor, während in anderen Bereichen (z. B. beim Genitiv, beim synthetischen Konjunktiv) der Abbau gleichzeitig weiter voranschreitet? Oder sind wir doch mehrheitlich stillschweigend der Auffassung, daß ein komplexes Flexionssystem nicht zu einer modernen Kultur- und Schriftsprache paßt, daß all diese Enklisen früher oder später wieder aufgelöst werden, ehe sie sich als Flexion in der Hochsprache weiter ausbreiten können? Glauben wir doch auch an eine Art Menschheits- und Geistesgeschichte bei den Möglichkeiten des morphologischen Sprachwandels? 2.3 Auch SCHMELLERS logisch-funktionalistische Sicht der Sprache (HARNISCH 1985: 74f.) - damals ein „veraltetes" Erbe, heute von „wieder aktuellem" Interesse - ließe sich auf seine eigenen Befunde verstärkt anwenden. SCHMELLER hat, die Dependenztheorie gewissermaßen vorwegnehmend, den engen Zusammenhang zwischen dem Verbum und seinen (notwendigen/möglichen) nominalen Ergänzungen gesehen. Diese universelle semantische Verbindung kann auch in der einzelsprachigen Morphosyntax mehr oder weniger zum Ausdruck kommen: Am extremsten bei den sog. inkorporierenden Sprachen, in denen das Verbum mit seinen Objekten eine einzige Wortform bilden kann' in denen Wortform und Satz oft zusammenfallen. Von diesem Prinzip können unsere Sprachen auch gewisse, unterschiedlich starke Anteile zeigen: etwa, wenn das Subjektspronomen als bloßes Verbsuffix erscheint (lat. habe-o, habe-t, bair. hab—i, hat=zr). Es entspricht einem ökonomischen Prinzip, daß man die sehr frequenten, begrenzt wenigen und kurzen Pronomina in die Verbalform integriert, während die vielfältigen und umfangreichen Nominalphrasen ihren eigenständigen und u. U. in sich segmentierbaren Ausdruck haben (meus frater habe-t, hat mai Bruder), sei es anstelle, sei es zusätzlich zum Verbsuffix. Was dem Subjekt recht ist, könnte nun auch den Objekten billig sein: auch hier können die Objektspronomina als boße Verbsuffixe erscheinen, wie die mda., roman., arab. Enkliseformen zeigen (ich sag=s, [quiero] decir=lo,